Obsession der Gegenwart: Zeit im 20. Jahrhundert 9783666364259, 9783647364254, 9783525364253

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Obsession der Gegenwart: Zeit im 20. Jahrhundert
 9783666364259, 9783647364254, 9783525364253

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Geschichte und Gesellschaft Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft

Herausgegeben von Jens Beckert / Christoph Conrad / Sebastian Conrad / Ulrike Freitag  Ute Frevert / Svenja Goltermann / Dagmar Herzog / Wolfgang Kaschuba  Simone Lässig / Paul Nolte / Jürgen Osterhammel / Margrit Pernau  Sven Reichardt / Stefan Rinke / Rudolf Schlögl / Martin Schulze Wessel  Adam Tooze / Hans-Peter Ullmann

Sonderheft 25:

Obsession der Gegenwart. Zeit im 20. Jahrhundert

Vandenhoeck & Ruprecht

Obsession der Gegenwart Zeit im 20. Jahrhundert

Herausgegeben von Alexander C. T. Geppert und Till Kössler

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 15 Abbildungen, 9 Diagrammen und 1 Tabelle Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-36425-4 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de. Umschlagabbildung: Metropolis, Regie: Fritz Lang, Universum-Film AG (UFA), Deutschland 1925/1926; hier Szenenfoto mit Gustav Fröhlich. © bpk / Stiftung Deutsche Kinemathek / Horst von Harbou © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen

Inhalt

Alexander C. T. Geppert und Till Kössler Zeit-Geschichte als Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Lucian Hölscher Von leeren und gefüllten Zeiten. Zum Wandel historischer Zeitkonzepte seit dem 18. Jahrhundert . . . . . 37 Penelope J. Corfield Time and the Historians in the Age of Relativity . . . . . . . . . . . . . . 71 Tom Reichard Die Zeit der Zigarette. Rauchen und Temporalität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . 92 Katja Schmidtpott Die Propagierung moderner Zeitdisziplin in Japan, 1906–1931 . . . . . . 123 Christopher Clark Time of the Nazis. Past and Present in the Third Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Till Kössler Von der Nacht in den Tag. Zeit und Diktatur in Spanien, 1939–1975 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Alexander C. T. Geppert Die Zeit des Weltraumzeitalters, 1942–1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Jonathan Gershuny Time Use and Social Inequality Since the 1960s. The Gender Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Zeit-Geschichte. Eine Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Alexander C. T. Geppert und Till Kössler

Zeit-Geschichte als Aufgabe*

Abstract: Contemporary society seems obsessed with time, yet current debates on tem­porality have rarely taken its history into account. Given that the twentieth century was characterized by frequent ruptures and numerous supersessions of competing régimes d’historicité, it is remarkable that time has not played a more central role in its analysis. This article surveys, first, the role of time in the writing of history. Second, it discusses the history of time along three poles: standardization vs. pluralization, discipline vs. flexibility, and acceleration vs. Eigen­zeit (one’s own time). Third, it sketches three concepts – temporalization, rhythm and simultaneity – as building blocks for a »time-history« of the twentieth ­century. Gilt das neunzehnte Jahrhundert als das Jahrhundert der Geschichte, so könnte man das zwanzigste Jahrhundert als das der Gegenwart bezeichnen. Ulrich Raulff 1 Die Antinomie im Innersten der Zeit ist unauflösbar. Siegfried Kracauer 2

Zeit hat sich in der Gegenwart zu einem Problem besonderer Art, wenn nicht gar zu einer Obsession entwickelt. Dass die Zeit so vertraut wie fremd ist und man ihr trotz allem nicht entkommen kann, ist häufig festgestellt worden. Zeit-Beobachter glauben jedoch, im Zeitalter des global-digitalen Echtzeit-Kapitalismus eine neue Pathologie von Zeitlichkeit ausmachen zu können. Sie beschreiben die moderne Gesellschaft als eine »high-speed society«, in * Für Hinweise, Kritik und Kommentare danken wir Friedrich Jaeger, Alf Lüdtke, Tom Reichard, den Mitgliedern des Arbeitskreises Geschichte + Theorie (AG+T), den anonymen Gutachtern sowie – stellvertretend für das Herausgebergremium von Geschichte und Gesellschaft – Christoph Conrad und Paul Nolte. Ruth Haake, Magdalena Stotter und Laura Martena sind wir für ihre ausgezeichnete Redaktionsarbeit ebenfalls zu Dank verpflichtet. 1 Ulrich Raulff, Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte, Göttingen 1999, S. 10. 2 Siegfried Kracauer, History. The Last Things Before the Last, New York 1969, S. 163 (dt.: Geschichte. Vor den letzten Dingen, Frankfurt 1971, S. 154); siehe auch ders., Time and History, in: History and Theory 5. 1966, Beiheft 6, S. 65–78, hier S. 77.

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der ständig zunehmender »Zeitdruck« herrsche, »alles jetzt« passieren müsse und »schnelles Kapital« jeden Lebensbereich durchdringe. Entsprechend sei die Gegenwart am treffendsten über temporale Kategorien wie »24/7 Kapitalismus« oder »fast capitalism« zu begreifen.3 Zugleich beschäftigt sich eine wachsende Ratgeberliteratur mit den negativen Folgen der allenthalben beobachteten Beschleunigung für das Individuum, fragt nach »Zeitnot«, »burn out« und »entleerten« Zeiten und offeriert im Umkehrschluss den Weg zurück zu einer sinnvollen, erfüllten oder guten alten Zeit, sei es qua »Entschleunigung«, »slow food« oder effizienterem Ressourcenmanagement. »Zeit« ist in der medial verfassten Öffentlichkeit genauso omnipräsent wie in den Sozialwissenschaften und hat sich zu einem Zentralbegriff gegenwärtiger Gesellschaftsbeschreibung entwickelt. Viele meinen zudem, dass sich in den vergangenen Jahren das überkommene Zusammenspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschoben habe. Eine emphatisch grundierte Zukunftsorientierung sei einer Übermacht des Vergangenen gewichen oder habe sich in einer »erstreckten«, wenn nicht gar »ewigen Gegenwart« aufgelöst. Ähnlich wie die Soziologin Helga Nowotny bereits Ende der 1980er Jahre und der Medientheoretiker Paul Virilio in den 1990er Jahren hat unlängst auch der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht einen Zerfall des seit dem 19. Jahrhundert vorherrschenden Zeitverständnisses ausmachen wollen. In der Gegenwart gelinge es immer weniger, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, während sich die Zukunft zusehends verjünge. Die Gegenwart schlucke beides, Vergangenes wie Zukünftiges, und Geschichte gehe nicht länger »nach vorne«, sondern immer weiter in die Breite. Pointiert hat der französische Historiker François Hartog diese Zeitordnung einer omnipräsenten Gegenwart als »Präsentismus« bezeichnet.4

3 Judith Wajcman, Pressed for Time. The Acceleration of Life in Digital Capitalism, Chicago 2015, S. 13 u. S. 17; Douglas Rushkoff, Present Shock. When Everything Happens Now, London 2013 (dt.: Present Shock. Wenn alles jetzt passiert, Freiburg 2014); Jonathan Crary, 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep, London 2014 (dt.: 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus, Berlin 2014); Ben Agger, Fast Capitalism. A Critical Theory of Significance, Urbana 1989; ders., Speeding Up Fast Capitalism. Cultures, Jobs, Families, Schools, Bodies, Boulder 2004; John Tomlinson, The Culture of Speed. The Coming of Immediacy, Los Angeles 2007. Weitere Beschreibungen finden sich in: Robin Mackay u. Armen Avanessian (Hg.), #Accelerate. The Accelerationist Reader, Falmouth 2014 (dt.: #Akzeleration, Berlin 2013). 4 Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt 1989, S. 9 u. S. 53; Paul Virilio, La vitesse de libération. Essai, Paris 1995, S. 166 (dt.: Fluchtgeschwindigkeit. Essay, Frankfurt 2001, S. 187); Hans Ulrich Gumbrecht, Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010, S.  15 f.; François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003, hier S.  18 u. S.  119–127 (engl.: Regimes of Historicity. Presentism and Experiences of Time, New York 2015, S.  XIV–XIX, S.  8 u. S.  107–114); Rushkoff, Present Shock. Siehe auch Wolfgang Ernsts medientheoretische Kritik eines linearen Geschichts­begriffs: Signale aus der Vergangenheit. Eine kleine Geschichtskritik, München 2013.

Zeit-Geschichte als Aufgabe

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Bei allen Unterschieden zeichnen sich solche soziologischen, medien- und kulturwissenschaftlichen Positionen durch die Annahme eines fundamentalen Bruchs moderner Zeitregime in der jüngsten Vergangenheit aus. Ob die Zeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts wirklich »aus den Fugen« geraten ist, wie ein E ­ ssay kürzlich insinuiert hat, ist zumindest fragwürdig. Krisen der gesellschaftlichen Zeitordnung sind seit der Französischen Revolution immer wieder neu diagnostiziert worden, und die Erfahrung von Beschleunigung gilt seit Beginn des 19. Jahrhunderts als Ausweis von Modernität schlechthin.5 Die historische Zeit-Forschung im engeren Sinne hat sich lange auf den Übergang von der Frühen Neuzeit zum 19.  Jahrhundert konzentriert und diese zeitgenössischen Debatten kaum zur Kenntnis genommen.6 »Der Zeithistoriker«, haben Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael demgegenüber gefordert, »muß sich  […] mit einer Veränderung der historischen Zeit auseinandersetzen.«7 Ähnlich hat Lynn Hunt gerade Historikerinnen und Historiker des 20.  Jahrhunderts dazu aufgerufen, sich intensiver mit Zeit zu beschäftigen, sei deren grundlegende Bedeutung doch offenkundig.8 5 Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, hier S.  21 f. u. S.  280. Siehe auch die Dokumentarfilme The End of Time, Grimthorpe, Schweiz 2012 und Speed. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Dreamer Joint Venture, Deutschland 2012. 6 Etwa Alain Corbin, L’arithmétique des jours au XIXe siècle, in: Traverses 35. 1985, S. ­91–97 (dt.: Die Zeit und ihre Berechnung im 19.  Jahrhundert, in: ders., Wunde Sinne. Über das Begehren, den Schrecken und die Ordnung der Zeit im 19.  Jahrhundert, Stuttgart 1993, S. 9–21); Ferdinand Seibt, Die Zeit als Kategorie der Geschichte und als Kondition des historischen Sinns, in: Die Zeit, München 1983, S.  145–188; Trude Ehlert (Hg.), Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, Paderborn 1997; Martina Kessel, Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Göttingen 2001; Arndt Brendecke u. a. (Hg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, Berlin 2007; Michael J. Sauter, Clockwatchers and Stargazers. Time Discipline in Early Modern Berlin, in: American Historical Review 112. 2007, S. 685–709; Achim Landwehr (Hg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, sowie ders., Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt 2014. Für einen Überblick siehe Peter Burke, Reflec­ tions on the Cultural History of Time, in: Viator 35. 2004, S. 617–626; für eine materialreiche tour de force durch die Geschichte des Zeitbewusstseins vom altbabylonischen Reich bis ins 20. Jahrhundert siehe Rudolf Wendorff, Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980. 7 Anselm Doering-Manteuffel u. Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeit­ geschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 31. Siehe auch Pierre Dubuis u. Jakob Messerli (Hg.), Autour de l’histoire sociale du temps/Zur Sozialgeschichte der Zeit, Zürich 1997 (= Traverse 4, H. 3); Angela Schwarz, »Wie uns die Stunde schlägt«. Zeitbewußtsein und Zeiterfahrungen im Industriezeitalter als Gegenstand der Mentalitätsgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 83. 2001, S. 451–479, hier S. 459; sowie zuletzt Katja Patzel-Mattern u. Albrecht Franz (Hg.), Der Faktor Zeit. Perspektiven kulturwissenschaftlicher Zeitforschung, Stuttgart 2015. 8 Lynn Hunt, Measuring Time, Making History, Budapest 2008, S. 5.

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Erst in jüngster Zeit zeichnet sich eine konzertierte historiographische Hinwendung zur »Zeit« ab,9 welche in ihrem Ausmaß an die »Wiederkehr des Raumes« um die Jahrtausendwende erinnert. Galt vor dieser schnell als spatial turn etikettierten Wendung zur Geographie die topographische Dimension vergangenen Geschehens als unterschätzt, bemühte sich die Geschichtswissenschaft fortan um ihre eigene »Verräumlichung«.10 Trotz weitreichender Debatten um Topographien und Orte der Erinnerung spielten in diesem Kontext Fragen nach Zeit und Zeitlichkeit kaum eine Rolle. Dass es räumlicher Metaphern bedarf, um von der Zeit zu sprechen, ist immer wieder konstatiert worden, und so ist dies einerseits erstaunlich, können Raum und Zeit doch in der Tat nur zusammen gedacht werden.11 Andererseits ist es auch kein Zufall, dass die Wiederkehr des Raumes dem neuen Interesse an der Zeit vorausging, unterliegt letztere im Vergleich doch einem strategischen Nachteil. Für gewöhnlich, hat Hans Blumenberg argumentiert, wird der Raum der Zeit deshalb vorgezogen, weil 9 Siehe unter anderem Penelope J. Corfield, Time and the Shape of History, New Haven 2007; Alexandre Escudier u. Ingrid Holtey (Hg.), Vitesse et existence. La multiplicité des temps historiques/Das Tempo des Lebens. Zeit und Zeitwahrnehmungen, in: Trivium 9.  2011, http://trivium.revues.org/4027; Peter Gendolla u. Dietmar Schulte (Hg.), Was ist die Zeit?, Paderborn 2012; Martin Sabrow, Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012; Johannes Myssok u. Ludger Schwarte (Hg.), Zeitstrukturen. Techniken der Vergegenwärtigung in Wissenschaft und Kunst, Berlin 2013; Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?; sowie Chris Lorenz u. Berber Bevernage (Hg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders Between Present, Past and ­Future, Göttingen 2013. Seinen Festvortrag zum 60. Geburtstag der Bundeskanzlerin Angela Merkel am 17.7.2014 widmete Jürgen Osterhammel dem Thema »Zeithorizonte« (veröffentlicht als ders., Vergangenheiten. Über die Zeithorizonte der Geschichte, in: FAZ, 19.7.2014, S. 11), während der am 5.7.2014 verstorbene Hans-­U lrich­ Wehler für den 14.7.2014 noch einen Vortrag in der Universität Bielefeld über »Zeitliche Strukturierungen der Geschichte. Epochen« angekündigt hatte, als Teil einer Vorlesungsreihe »Tempus  – oder Tempo? Unsere Gesellschaft zwischen Beschleunigung und Entschleunigung«; Aushang gesehen in der Universität Bielefeld am 18.7.2014. 10 Stellvertretend für eine längst nicht mehr zu überschauende Literatur zum spatial turn nur in der Geschichtswissenschaft: Jürgen Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes. Geo­ politik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43. 1998, S. 374–397; David Blackbourn, A Sense of Place. New Directions in German History, London 1999; Alexander C. T. Geppert u. a. (Hg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, sowie Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012. Zu Genese und Kritik solcher häufig eher proklamierten als realisierten turns: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006; Christoph Conrad, Die Dynamik der Wenden. Von der neuen Sozialgeschichte zum cultural turn, in: GG. Sonderheft 22: Wege der Gesellschaftsgeschichte 2006, S. 133–160; sowie das AHR Forum »Historiographic ›Turns‹ in Critical Perspective«, in: American Historical Review 117. 2012, S. 698–813. 11 Zum Zusammenhang von spatial und temporal turn: Robert Hassan, Globalization and the »Temporal Turn«. Recent Trends and Issues in Time Studies, in: Korean Journal of P ­ olicy Studies 25. 2010, S. 83–102, hier S. 85–89. Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000, S. 9; Hunt, Measuring Time, S. 3.

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letztere schlicht »weniger spektakulär, weniger affektiv wirksam« sei. Das von manchen analog als temporal turn apostrophierte neue Interesse an der »Zeit« stellt so keine direkte Konsequenz, wohl aber eine Entsprechung der vorangegangenen Hinwendung zum Raum dar.12 Im Rahmen einer solchen Wieder­ entdeckung der »vierten Dimension« erweist es sich als ebenso vielversprechende wie reizvolle Aufgabe, genauer nach der Bedeutung und dem Wan­del von Zeit in der Zeitgeschichte zu fragen, dabei Anregungen und Argumente aus der Sozio­logie, Ethnographie und Kulturwissenschaft aufzugreifen und die Gegenwartsdiagnosen einer historischen Überprüfung zu unterziehen. Das 20. Jahrhundert war – so die Ausgangshypothese dieses Bandes – in besonderer Weise von tief greifenden Zeitbrüchen sowie durch zahlreiche Versuche der Formung und Gestaltung von Zeit charakterisiert. Um 1900 wurde sie zum Problem und Politikum sui generis. Experten erkannten die Notwendigkeit internationaler Koordinierung und globaler Synchronisierung. Auf Konferenzen in Washington (1884) und Paris (1912, 1913) sowie durch die Einrichtung des Bureau International de l’Heure (BIH) in Paris wurden existierende Zeitnormen vereinheitlicht und universal gültige Standards geschaffen.13 Zugleich erschütterte die Relativitätstheorie die Vorstellung von der Existenz einer singulären, universal gültigen Zeit. »Wir haben zu berücksichtigen«, stellte Albert Einstein 1905 fest, »daß alle unsere Urteile, in welchen die Zeit eine Rolle spielt, immer Urteile über gleichzeitige Ereignisse sind« – und verwies damit auf die Abhängigkeit jedweder Zeit vom Standort des Beobachters.14 Drei Jahre später veröffentlichte der englische Philosoph John Ellis McTaggart einen einflussreichen Aufsatz über die »Unwirklichkeit« der Zeit. Mit dem Argument, dass ein einzelnes Ereignis nicht ohne Widerspruch als gegenwärtig, vergangen oder zukünftig und zugleich als früher oder später in Bezug auf ein anderes Ereig12 Hans Blumenberg, Die Genesis der kopernikanischen Welt, Frankfurt 1975, S.  505. Forschungsüberblicke finden sich bei Werner Bergmann, Das Problem der Zeit in der Soziologie. Ein Literaturüberblick zum Stand der »zeitsoziologischen« Theorie und Forschung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 35. 1983, S. 462–504; Nancy Munn, The Cultural Anthropology of Time. A Critical Essay, in: Annual Review of Anthropology 21. 1992, S. 93–123; Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http://docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen; Berber Bevernage u. Chris Lorenz, Breaking up Time. Negotiating the Borders Between Present, Past and Future. An Introduction, in: dies., Breaking up Time, S. 7–35, sowie Günter Warsewa, Die Zeit der Gesellschaft, in: Soziologische Revue 37. 2014, S. 273–282. Siehe darüber hinaus die Beiträge in Zeitschriften wie Time and Society (seit 1992), KronoScope. Journal for the Study of Time (seit 2001) sowie Temporalités. Revue de sciences sociales et humaines (seit 2004). 13 B. Wanach, Bericht über eine internationale Zeitkonferenz in Paris im Oktober 1912, in: Die Naturwissenschaften 1. 1913, S. 35–38; Allen W. Palmer, Negotiation and Resistance in­ Global Networks. The 1884 International Meridian Conference, in: Mass Communication and Society 5. 2002, S. 7–24. 14 Albert Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, in: Annalen der Physik 322. 1905, S. 891–921, hier S. 893 (Herv. i. O.); siehe auch den Beitrag von Penelope Corfield im vorliegenden Band.

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nis beschrieben werden könne, bestritt er rundheraus ihre Existenz.15 »Es steckt ein Problem im Zeitbegriff der Geschichtswissenschaft«, diagnostizierte auch Martin Heidegger in seinem Freiburger Habilitationsvortrag vom Juli 1915.16 Wie diese unterschiedlichen Beobachtungen zeigen, wurde spätestens mit Beginn des Ersten Weltkriegs die Vorstellung brüchig, in einer linearen, steuerbaren Zeit des Fortschritts und der stetigen Verbesserung zu leben. Das Erleben radikaler Zeitumschwünge, der Revolutionierung herkömmlicher Zeitvorstellungen und eines Auseinanderklaffens von politischer, öffentlicher und persönlicher Zeit wurde zur modernen Grunderfahrung. In dem Maße, in dem sie selbst als unsicher begriffen wurde, entwickelte sich Zeit zur politisch umkämpften Ressource und zugleich zum Gegenstand intensiver theoretischer Reflexion.17 Umfassende Geschichten der Zeit im 20.  Jahrhundert gibt es kaum. Eine Ausnahme stellt ein bereits Mitte der 1980er Jahre von Charles Maier entwickeltes Modell dar. Maier skizziert in dieser »stage theory of temporal consciousness« den Übergang von einer liberal-linearen über eine kollektivistische hin zu einer plastisch-pluralen Zeitordnung und unterteilt so die Geschichte der modernen Zeitpolitik in drei Abschnitte: In einer ersten »liberal-bürgerlichen« Phase im 19.  Jahrhundert trennten sich private und öffentliche Zeitordnungen voneinander. Galt Zeit zuvor als linear, konstant und intuitiv verstehbar, wurde sie zunehmend gemessen, unterteilt und »verpackt« – und damit als aktiv form- und gestaltbar begriffen. In einer zweiten, »faschistischen« Etappe initiierten die totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts großangelegte Vorhaben, um die Differenz zwischen öffentlicher und privater Zeit wieder einzuebnen; Zeit sollte entsubjektiviert, zentral kontrolliert und so zu politischen Zwecken instrumentalisiert werden. In bewusster Abkehr davon wurden in den »postliberalen« Demokratien der Nachkriegszeit öffentliche und private Zeitordnungen schließlich wieder stärker voneinander geschieden, etwa bei der Einführung der 40-Stunden-Woche in den 1960er oder der Lockerung der westdeutschen Ladenöffnungszeiten in den 1990er Jahren. Folgt man Maier, ist die Zeit der 15 John Ellis McTaggart, The Unreality of Time, in: Mind 17. 1908, S. 457–474; für einen ausführlichen Widerlegungsversuch siehe Doris Gerber, Was heißt »vergangene Zukunft«? Über die zeitliche Dimension der Geschichte und die geschichtliche Dimension der Zeit, in: GG 32. 2006, S. 176–200, hier S. 181–186. 16 Martin Heidegger, Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 161. 1916, S. 173–188; zitiert nach ders., Gesamtausgabe. Bd. 1: Frühe Schriften, Frankfurt 1978, S. 413–433, hier S. 425. 17 Siehe Stephen Kern, The Culture of Time and Space, 1880–1918, Cambridge, MA 1983; jetzt auch ders., Changing Concepts and Experiences of Time and Space, in: Michael T.­ Saler (Hg.), The Fin-de-Siècle World, London 2015, S. 74–90. Martin Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914–1924, Göttingen 1998, insb. S.  379– 382; siehe auch ders., »Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«. Zeitsemantik und die Suche nach Gegenwart in der Weimarer Republik, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933, München 2007, S. 165–187.

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Gegenwart durch eine widersprüchliche Koexistenz von individuell-relativistischen Zeitsystemen einerseits, hochgradig standardisierten und durchrationalisierten Zeitordnungen andererseits charakterisiert.18

I. Die Zeit der Geschichtswissenschaft So wenig fassbar die Zeit, so anspruchsvoll ist ihre Verzeitlichung. Zeit ist sowohl gegeben als auch geworden. Sie stellt nicht nur eine natürliche, unüberwindbare Grunddimension menschlicher Existenz, sondern auch ein kollektiv gestaltetes, symbolisch geprägtes Orientierungs- und Ordnungssystem dar, das individuelle Beziehungen auf vielfältige Weise strukturiert. Als soziales Produkt ist Zeit politisch und kann damit zum Gegenstand einer eigenen ZeitGeschichte werden. In der Zeit, so Norbert Elias, scheiden sich »Mensch« und »Natur«, und es bedarf einer klaren Grundvorstellung dieses gemeinsamen Verhältnisses vom »Menschen in der Natur«, um Zeit sinnvoll untersuchen zu können.19 Zeit wird nicht nur wahr- und hingenommen, sondern ebenfalls gemacht, gestaltet und modifiziert. Verständnis, Bedeutung und der Umgang mit Zeit unterliegen ebenso historischem Wandel wie ihr Erfahren und Erleben. Zeit, argumentiert Elias, ist mehr als nur ein soziokulturelles Produkt; sie stellt vielmehr einen »Regulierungsmechanismus von zwingender Kraft« dar, welcher »einen überaus starken Zwang« ausüben kann«.20 Um den konzeptionellen Problemen zu entgehen, die durch die substantivische Form des Fetischbegriffs »Zeit« entstehen, hat Elias den Begriff des »Zeitens« eingeführt, analog dem englischen Verb »to time«. Beim Bestimmen von Zeit werden nicht nur Beziehungen aufgezeigt, sondern selbst hergestellt. Mit dieser eingängigen Merkformel weist Elias darauf hin, dass Zeit aktiv gemacht wird. Entsprechend ist der historische Umgang mit ihr an der Schnittstelle zwischen Natur und Mensch zu untersuchen, und zwar individuell wie gesellschaftlich, ohne zugleich zu unterschlagen, dass Zeit letztlich immer noch etwas anderes darstellt als »nur« ein hochabstraktes soziales Orientierungssystem.21 Selbst wenn er immerzu von ihrer Überwindung träumen sollte, kann gerade der Historiker der Zeit nicht entkommen. Sie »klebt an seinem Den18 Charles S. Maier, The Politics of Time. Changing Paradigms of Collective Time and Private Time in the Modern Era, in: ders. (Hg.), Changing Boundaries of the Political. Essays on the Evolving Balance Between the State and Society, Public and Private in Europe, Cambridge 1987, S. 151–175, insb. S. 154–166, hier S. 166. 19 Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt 1984, S. XV u. S. 72. 20 Ebd., S. 10. 21 Ebd., S. 7 f., S. 11 u. S. 43 f.; siehe dazu Carmen Leccardi, The Sociological Concept of Time, in: Traverse 3. 1997, S. 11–22, sowie Simonetta Tabboni, The Idea of Social Time in Norbert Elias, in: Time and Society 10. 2001, S. 5–27.

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ken wie die Erde am Spaten des Gärtners«, hat Fernand Braudel formuliert.22 Folgt man dem Mediävisten Ferdinand Seibt, ist Zeit »das wichtigste Instrument des Historikers, sein geistiges Rüstzeug, die Gedankenelle [sic], mit der er Ordnung schafft im Chaos der Erinnerung; das analytische Skalpell, mit dem er in der breiten Masse des Geschehens nach dem roten Faden sucht; und paradoxerweise ist die Zeit sowohl das eigentliche Maß als auch das eigentliche Thema der Geschichte.«23 Obwohl – oder gerade weil – ihre Beziehung zur Zeit ebenso komplex wie zentral ist, hat die Geschichtswissenschaft ihr Verhältnis zur grund­legendsten Kategorie des historischen Denkens bislang nicht systematisch klären können. Auch als in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre intensiv über die Integration poststrukturalistischer und sogenannter postmoderner Ansätze in die Geschichtswissenschaft diskutiert und dabei deren epistemische Grund­lagen intensiv und vielleicht bis dato zum letzten Mal einer kritischen Überprüfung unterzogen wurden, galt der Streit vorrangig Problemen der Darstellung und Narrativität, dem Status von »Fakten«, Wahrheitsansprüchen und Objektivitätsannahmen. Zeit und Zeitlichkeit waren nicht Gegenstand der heftigen Auseinandersetzungen.24 Während die einen der Geschichtswissenschaft zugutehalten, dass sie sich »mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen [habe] als mit Periodisierungsfragen«, werfen andere ihren Historikerkolleginnen und -kollegen konzeptionelle Nachlässigkeit vor, wenn sie diese als »temporale Angsthasen« und »hoffnungslose Dilettanten« in Sachen »Zeit« bezeichnen oder ihnen »keine besondere Affinität« zum »Zeitproblem« bescheinigen.25 Worin genau das von Heidegger bereits 1915 diagnostizierte »Problem im Zeitbegriff der Geschichtswissenschaft« besteht, ist im Verlauf der vergange­ nen hundert Jahre immer wieder neu diskutiert worden. Zu unterscheiden sind zwei entgegengesetzte Blickwinkel; gemeinsam sollen sie hier mit Sieg22 Fernand Braudel, Histoire et sciences sociales. La longue durée, in: Annales 13.  1958, S. ­725–753, hier S. 748: »En fait, l’historien ne sort jamais du temps de l’histoire: le temps colle à sa pensée comme la terre à la bêche du jardinier« (dt.: Geschichte und Sozialwissenschaften. Die lange Dauer, in: Theodor Schieder und Kurt Gräubig (Hg.), Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft, Darmstadt 1977, S. 164–204, hier S. 197). 23 Seibt, Zeit als Kategorie, hier S. 147. 24 So hat die 1997 gegründete Zeitschrift Rethinking History dem Thema »Time and History« nicht vor 2010 ein eigenes Heft gewidmet; ebd., 14. 2003, S. 317–440, insb. das Editorial von William Gallois, in dem dieser Zeit als »the great unsaid in historical thinking« bezeichnet; ebd., S. 317–320, hier S. 317. 25 Paul Nolte, 1900. Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: GWU 47. 1996, S. 281–300, hier S. 281; Jürgen Osterhammel, Zeit, in: Merkur 66. 2012, S. 618–624, hier S. 618; Max Silberschmidt, Der Mensch und seine Geschichte im 20. Jahrhundert, in: Rudolf W. Meyer (Hg.), Das Zeitproblem im 20. Jahrhundert, Bern 1964, S. 247–267, hier S. 247. Ähnlich wunderte sich der Autor einer umfangreichen Abhandlung zur Geschichte des Zeitbegriffs von 1934, dass gerade Historikerinnen und Historiker so wenig zu seiner konzeptionellen Ausgestaltung beigetragen hätten; siehe Werner Gent, Das Problem der Zeit. Eine historische und systematische Unter­suchung, Frankfurt 1934, hier S. 156–158.

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fried Kracauer als die innere Antinomie der Zeit-Geschichte bezeichnet werden. Die Geschichtswissenschaft operiert beständig mit und in der Zeit (»die Zeit der Geschichtswissenschaft«), kann diese aber auch zu ihrem eigenen Untersuchungsgegenstand machen (»die Geschichtswissenschaft der Zeit«). Den Gebrauch temporaler Erklärungsmodelle in der Geschichtswissenschaft zu problematisieren und zugleich den Wandel von Zeitregimen in der Zeitgeschichte zu verfolgen, stellt eine Herausforderung besonderer Art dar.26 Die eine Seite dieser Antinomie ist ein Problem untheoretisierter Praxis. So sehr Zeit am historischen Denken »klebt«, so schwer fällt es, etwas über ihre Beschaffenheit zu sagen. Zeit stellt den Rahmen dar, innerhalb dessen die historische Forschung ihre analytischen Geschichten platziert. Mit einem chronologisch angeordneten Davor/Danach gibt Zeit eine sequentielle/lineare Richtung vor und liefert damit das allen geschichtswissenschaftlichen Darstellungen zugrunde liegende Ordnungs- und Gliederungsprinzip. Historikerinnen und Historiker beschäftigen sich mit Wandel »in« der Zeit, aber weder die Zeit, in der sich dieser Wandel abspielt, noch die sich wandelnde Zeit selbst gelten per se als problematisch. Beständig operieren sie mit temporalen Hilfskonstruktionen, um Ausschnitte des vergangenen Zeitflusses analytisch-erzählerisch beherrschbar zu machen. Blumenberg hat das als »Phrasierung der Zeit« bezeichnet.27 Historikerinnen und Historiker portionieren vergangene Zeiten, indem sie Gewesenes in »Phasen«, »Perioden«, »Epochen« oder »Zeitalter« unterteilen. Sie setzen den Zeitfluss unterbrechende »Zäsuren«, widmen sich Phänomenen von »kurzer« oder »langer Dauer« und streiten über Fragen von Kontinuität oder Diskontinuität. Vergangene Zeit in Einheiten zu unterteilen, ist Teil des historiographischen Alltagsgeschäfts, zumal sich konkurrierende Portionierungsvorschläge regelmäßig zum Ausgangspunkt neuer, selbst forschungsbefördernder Debatten entwickeln. Gerne als Selbstzweck verspottet, ist die praktische Bedeutung von Zeitportionierungsdisputen keineswegs zu unterschätzen, gelten Periodisierungsvorstellungen doch zu Recht als »sinngebende, aber verborgene Auffassungsformen«, welche es immer neu zu überprüfen gilt.28 26 Peter Hüttenberger, Zeit als Kategorie historischen Denkens und der historischen Darstellung, in: Bernd Mütter u. Siegfried Quandt (Hg.), Historie – Didaktik – Kommunikation. Wissenschaftsgeschichte und aktuelle Herausforderungen, Marburg 1988, S.  81–96, hier S. 83. Zur klassischen Formulierung dieser Antinomie in der Philosophie des 20. Jahrhunderts siehe auch Eugen Fink, Operative Begriffe in Husserls Phänomenologie, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 11. 1957, S. 321–337, hier S. 326 f. 27 Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt 1986, S. 99. 28 Jürgen Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte, in: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 10.  2002, S. 45–64, hier S. 47 f.; Jürgen Kaube, Lang, kurz, lang, die Zeitgeschichte, in: FAZ, 21.9.2011, S.  N3. Darüber hinaus Arnold Esch, Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: HZ 239. 1984, 309–351; William A. Green, Periodization in European and World History, in: Journal of World History 3. 1992, S. 13–53; Jerry H. Bentley, Cross-Cultural Interaction and Periodization in World History, in: American Historical Review 101. 1996, S.  749–770; Birgitta Bader-Zaar u. Christa Hämmerle (Hg.),

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Für eine klassische Geschichtsschreibung, die sich darauf konzentriert, die von ihr berichteten Ereignisse korrekt zu datieren und chronologisch richtig anzuordnen, reichen solche temporalen Hilfskonstruktionen vollkommen aus. Doch hat die Vernachlässigung der Komplexität des Phänomens Zeit ihren konzeptionellen Preis. Vergleichsweise einfache narrative Strukturen und kausale Erklärungsmuster, lineare Vorstellungen von geschichtlichem Wandel und die Illusion einer »natürlich« voranschreitenden Entwicklung entlang einer einheitlichen Zeitachse gehören dazu. »Zeit scheint gemeinhin eine Bedingung zu sein, unter welcher Geschichte stattfindet, sie kann aber selbst durch die Geschichte nicht bedingt sein. Zeit lässt sich nicht erzählen: Sie ist die Bedingung dafür, dass man erzählen kann«, hat ein Rechtshistoriker das Problem zusammengefasst und damit auf die eine Seite der inneren Antinomie der Zeit-Geschichte aufmerksam gemacht.29 Gerade für eine Geschichte des zeit-fragmentierten und zeit-kritischen 20. Jahrhunderts stellen sich diese Fragen von Linearität, Kausalität und der narrativen Verfügbarkeit von Geschichte in besonderer Weise. Die andere Seite der Antinomie ist kein Problem untheoretisierter Praxis, sondern eines unpraktizierter Theorie. Dass Zeit und Zeitlichkeit historio­ graphische Grundprobleme par excellence darstellen, wird länger diskutiert als es im Schwung der gegenwärtigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatten den Anschein hat. Bei genauerem Hinsehen findet sich im geschichtstheoretischen Denken des 20.  Jahrhunderts sehr wohl ein zeit-bezogener Diskussionsstrang, der jedoch kaum in die historiographische Praxis überführt worden ist. In der französischen Geschichtsschreibung etwa setzte bereits während des Zweiten Weltkriegs ein intensives Nachdenken über die historische Zeit ein. Marc Bloch unterschied zwischen der kulturell gedeuteten Zeit der Historiker und derjenigen der Physiker und widmete ein knappes, indes Fragment gebliebenes Unterkapitel seiner »Apologie pour l’histoire« dem Problem der »historischen Zeit«. 1949 veröffentlichte Fernand Braudel sein vielzitiertes Dreischichtenanalogon der Meeres-Zeit, ohne dabei bereits den inzwischen häufig überstrapazierten Begriff der »langen Dauer« zu verwenden. Und ähnlich empfahl auch Philippe Ariès 1954 in »Le temps de l’histoire« insbesondere dem »l’historien du présent« aus seiner eigenen Zeit herauszutreten, »nicht um ein Mensch keiner Zeit zu sein, sondern um der einer anderen Zeit zu

NeuZeit?, Innsbruck 2001 (= Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 1, H. 2), sowie Friedrich Jaeger, Epochen als Sinnkonzepte historischer Entwicklung und die Kategorie der Neuzeit, in: Jörn Rüsen (Hg.), Zeit deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen, Bielefeld 2003, S. 313–354. Jaeger definiert Epochen als »methodische Instrumente des historischen Denkens […], mit denen eine diachrone Unterscheidung vorgenommen wird und ein temporaler Zusammenhang oder auch eine historische Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart als unterscheidbaren Aggregatzuständen des Zeitflusses hergestellt wird«; ebd., S. 316 (Herv. i. O.). 29 Jani Kirov, Eine andere Geschichte der Zeit, in: Rechtsgeschichte 11.  2007, S.  12–15, hier S. 12.

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sein«. Aufgabe der Historikerinnen und Histo­riker sei es, aus unterschiedlichen Strukturen in Zeit und Raum Geschichte entstehen zu lassen.30 Bloch, Braudel und Ariès war gemein, dass sie Zeit als historisch und historisierbar zugleich begriffen und damit das vorbereiteten, was Reinhart Koselleck pointiert die »Denaturalisierung der alten Zeiterfahrung« nannte, als er Anfang der 1970er Jahre ihr Verhältnis zur Zeit als das Zentralproblem jedweder Geschichtswissenschaft identifizierte. In einem seiner Schlüsseltexte »Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft« kam Koselleck 1972 zu dem Schluss, dass Geschichte als Wissenschaft nur dann bestehen könne, »wenn sie eine Theorie der geschichtlichen Zeiten entwickelt, ohne die sich die Historie als Allesfragerin ins Uferlose verlieren müßte.« »Was geschichtliche Zeit sei, gehört zu den schwer beantwortbaren Fragen der historischen Wissenschaft«, lautet der erste Satz seiner einflussreichen Essaysammlung »Vergangene Zukunft«. Ähnlich erklärte sein Münsteraner Kollege Karl-Georg Faber zwei Jahre später die »Frage nach der Bedeutung der Zeit in der Geschichte und in der Historie« zu einer der »weitreichendsten, weil die übrigen umgreifenden« Fragestellungen.31 Ein Jahrzehnt zuvor war bereits die Geschichte der Zukunft als vielversprechendes Themenfeld historischer Forschung entdeckt worden. Nicht nur 30 Fernand Braudel, La méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II, 3 Bde., Paris 1949 (dt.: Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt 1990); Marc Bloch, Apologie pour l’histoire. Ou métier d’historien, Paris 1949 (dt.: Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers, Stuttgart 2002); Philippe Ariès, Le temps de l’histoire, Monaco 1954, S. 309 f. (dt.: Zeit und Geschichte, Frankfurt 1988, S. 249). Zu Braudel insb. Lennart Lundmark, The Historian’s Time, in: Time and Society 2. 1993, S. 61–74, hier S. 62 f.; Ulrich Raulff, Ein Historiker im 20.  Jahrhundert. Marc Bloch, Frankfurt 1995, S.  148; ders., Augenblick, S.  13–49; sowie Alain Maillard, Les temps de l’historien et du sociologue. Retour sur la dispute Braudel-Gurvitch, in: Cahiers internationaux de Sociologie 19. 2005, S. 197–222 (dt.: Die Zeiten des Historikers und die Zeiten des Soziologen. Der Streit zwischen Braudel und Gurvitch – wiederbetrachtet, in: Trivium 9. 2011, http://trivium.revues.org/4048). Im Umfeld der A ­ nnales sind weitere einschlägige Arbeiten zum Thema entstanden, so Braudel, Longue durée; Jacques Le Goff, Au Moyen Age. Temps de l’église et temps du marchand, in: Annales 15. 1960, S. 417–433 (dt.: Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter, in: Claudia Honegger [Hg.], Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt 1977, S. 393–414) sowie, aus einer späteren Phase, Krzysztof Pomian, L’ordre du temps, Paris 1984, und Jean-Claude Schmitt, Le temps. »Impensé« de l’histoire ou double objet de l’historien, in: Cahiers de civilisation médiéval 48. 2005, S. 31–52. 31 Reinhart Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 10–28; zitiert nach Koselleck, Zeitschichten, S. 298–316, hier S. 303; ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 9. Bezeichnenderweise sollte der Untertitel von Kosellecks Aufsatzsammlung zunächst »Studien zur geschichtlichen Zeit« heißen; siehe Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975, S. 75, Anm. 41. Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, München 19743, S. 227–233, hier S. 227.

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»Beschleunigung«, sondern auch »Zukunft« wurde damit genau in dem Moment als historisch bedeutsam erkannt, als sich die Begriffe selbst als brüchig erwiesen hatten und ihre Existenz nicht länger unstreitig angenommen wurde. Offenkundig war es jeweils der Eindruck einer drohenden Verlusterfahrung, welche ihre Historisierung relevant werden ließ und vorantrieb.32 Bei allem Sinn oder Unsinn derartiger Etikettierungen birgt die hinter dem sogenannten temporal turn aufscheinende Wiederkehr der Zeit demnach eine doppelte Chance.33 Eine systematische Klärung von Status, Funktion und Bedeutung der Zeit im und für das Schreiben von Geschichte trägt einmal zur Selbstreflexion und -verständigung bei und stellt insofern Grundlagenforschung dar. Zum anderen eröffnet der Versuch ihrer Verzeitlichung eine Vielzahl neuer Forschungsperspektiven für die Geschichtswissenschaft, gerade im Hinblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Dessen Brüche und Zersplitterungen fordern die Zeit-Historikerinnen und Zeit-Historiker dazu auf, den schnellen Wandel und die rasche Abfolge konkurrierender Zeitordnungen zu untersuchen und damit einer bisher weniger beachteten Dimension der jüngsten Geschichte Aufmerksamkeit zu schenken. Da Zeit – ihre Organisation und Beschleunigung, ihre Verfügbarkeit und ihr Mangel – in der Gegenwart als ein grundlegendes gesellschaftliches Problem begriffen wird, ist es die Aufgabe der historischen Wissenschaften, die Genese dieses Problems zu erhellen und solche Gegenwartsdiagnosen kritisch zu überprüfen, zumal es sich um die Historisierung einer menschlichen Grunderfahrung par excellence handelt.34

32 Zur Geschichte der Zukunft siehe nur die einschlägigen Vorträge auf dem 25. Deutschen Historikertag 1962 in Duisburg, insb. von Karl Dietrich Erdmann (veröffentlicht als ders., Die Zukunft als Kategorie der Geschichte, in: HZ 198. 1964, S. 44–61) und Reinhart Wittram (ders., Zukunft in der Geschichte. Zu Grenzfragen zwischen Geschichts­w issenschaft und Theologie, Göttingen 1966). Siehe auch Ernst Schulin, Die Zukunft im historisch-politischen Denken des 20.  Jahrhunderts, in: Heinz Löwe (Hg.), Geschichte und Zukunft. Fünf Vorträge, Berlin 1978, S. 91–110; Joseph J. Corn (Hg.), Imagining Tomorrow. History, Technology, and the American Future, Cambridge, MA 1986; Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt 1999; Daniel Rosenberg u. Susan Friend Harding (Hg.), Histories of the Future, Durham 2005; sowie das AHR Forum »Histories of the Future«, in: American Historical Review 117. 2012, S. 1402–1485. Siehe auch den Beitrag von Alexander Geppert im vorliegenden Band. 33 Hassan, Globalization and the »Temporal Turn«, S. 83, datiert eine solche Wiederkehr der Zeit bereits auf die frühen 1990er Jahre; ähnlich kritisch Achim Landwehr, Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in ders., Frühe Neue Zeiten, S. 9–40, hier S. 15 f. Zum temporal turn siehe zudem die Beiträge von Lucian Hölscher, Penelope Corfield und Christopher Clark im vorliegenden Band. 34 Zu Akteursperspektiven: Heidrun Friese, Die Konstruktionen von Zeit. Zum prekären Verhältnis von akademischer Theorie und lokaler Praxis, in: Zeitschrift für Soziologie 27. 1993, S. 323–337, hier S. 329–333.

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II. Die Geschichtswissenschaft der Zeit Im Laufe der Zeit haben Historikerinnen und Historiker »Zeit« auf unterschiedliche Art und Weise zu historisieren versucht. Drei thematische Schwerpunkte dieser Untersuchungen lassen sich unterscheiden: erstens die Entwicklung und Verbreitung von Techniken des Messens von Zeit sowie ihre Normierung, Koordination und Synchronisation; zweitens die Genese und gesellschaftliche Durchsetzung spezifischer rationaler und kapitalistischer Zeitregime, etwa im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz, im Militär oder in der Schule; sowie drittens die Dynamisierung individueller Zeiterfahrungen. In allen drei Bereichen können die existierenden Arbeiten und Ansätze jeweils zwischen zwei diametral entgegengesetzten Polen situiert werden: Standardisierung vs. Pluralisierung für den ersten Strang, Disziplinierung vs. Flexibilisierung für den zweiten und Beschleunigung vs. Eigenzeiten für den dritten. Eine Anordnung anhand dieser drei Leitdichotomien erlaubt es, einen umfassenden Überblick über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Zeit-Geschichtsforschung zu gewinnen.35 1. Standardisierung vs. Pluralisierung Sich einer Geschichte der Zeit indirekt über die Techniken und Praktiken ihres Messens zu nähern, ist der klassische und am häufigsten praktizierte Ansatz der Zeit-Geschichte. Die Geschichte der Chronometrie und Chronologie, das heißt die Geschichte der Zeitmessung und Zeitrechnung mithilfe von Uhren und Kalendersystemen, ist vergleichsweise gut erforscht. Für gewöhnlich wird sie als Prozess der zunehmenden Präzisierung, Normierung, Standardisierung und weltweiten Synchronisierung geschrieben, in deren Verlauf Zeit nicht nur immer akkurater gemessen, sondern auch immer stärker in den Alltag der Menschen integriert wurde. Eine große zeit-geschichtliche Brücke schlagend, von der Erfindung der ersten mechanischen Uhren im Spätmittelalter bis zur physikalisch bestimmten Atomzeit des 20. Jahrhunderts, kann die Normierung von Alltagszeit, insbesondere durch Besitz und Nutzung von Uhren, innerhalb einer solchen Lesart als Indikator von Modernität und zugleich als Ausweis, aber auch als Katalysator eines zugrunde liegenden Modernisierungsprozesses herhalten. Mit der Einführung der Coordinated Universal Time (UTC) als Nachfolgerin der Greenwich Mean Time (GMT) am 1. Januar 1972 und dem Verkauf 35 Peter Burke (Reflections on the Cultural History of Time) teilt primär frühneuzeitliche Arbeiten in drei andere Gruppen ein: »Times and Cultures« (Durkheim, Mauss, Hubert, aber auch Bloch, Febvre und Koselleck), »Times and Groups« (Le Goff, Gurvitch, Thompson, Schivelbusch) und »Times and Occasions« (Birth), wobei die dritte Kategorie merkwürdig leer bleibt. Mit Chronometrie (Zeitmessung), Chronologie (Zeitrechnung), Chronographie (Erzählen von Ereignissen in der Zeit) und Chronosophie (Nachdenken über Zeit) entwirft Krzysztof Pomian (L’ordre du temps) vier grundsätzliche Kategorien des Umgangs mit Zeit, die er je unterschiedlich in Beziehung zueinander setzt.

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der ersten Quarzuhr durch die Firma Seiko zum Weihnachtsfest 1969 wurde ein vorläufiger Höhepunkt erreicht. Präzisionszeit war jetzt überall leicht und individuell konsumierbar.36 Die verwendeten Messapparaturen sind dabei älter als die zum Einsatz kommenden Messeinheiten oder überhaupt die Nachfrage nach kollektiven Zeitordnungen. Existierten erste mechanische Uhren bereits um 1300, wurde ihre soziale Koordinationsfähigkeit mit der Einrichtung von Turmuhren entdeckt. Spätmittelalterliche Städte entwickelten sich zu untereinander unverbundenen Inseln abstrakter Zeitlichkeit, deren dominierendes Zeitregime – die gleichmäßige Stunde – so weit reichte, wie das Signal der Glocken akustisch trug. Noch um 1600 verfügten die meisten Städte nur über eine einzige öffentliche Uhr, die entweder am Kirchturm oder am Rathaus angebracht war, dafür aber längst über ein hochgradig differenziertes Signalsystem qua Geläut.37 Mit der Massenproduktion preiswerter Taschenuhren im 19.  Jahrhundert und dem Erfolg der Armbanduhren ein Jahrhundert später konnte individuelle Zeit präzise an vorherrschende Normzeiten angepasst werden. Die seit 1850 rapide zunehmenden Verkehrsgeschwindigkeiten erforderten und beförderten Standardisierung und Synchronisierung. »The railroads introduced standard time«, lautet die entsprechende Formel des amerikanischen Zeit-Historikers Ian Bartky.38 Eisenbahngesellschaften wie -reisende propagierten überregionale 36 So etwa Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, München 1992, hier S. 9–11. Aus der Fülle der Arbeiten zur Chronometrie, insb. zu Uhren, in chronologischer Reihenfolge: Carlo M. Cipolla, Le macchine del tempo. L’orologio e la società ­(1300–1700), Bologna 1967 (dt.: Gezählte Zeit. Wie die mechanische Uhr das Leben veränderte, Berlin 1997); David S. Landes, Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World, Cambridge, MA 1983; Daniel J. Boorstin, The Discoverers, New York 1983, S. 26–78; Corbin, L’arithmétique des jours; Carlene E. Stephens, On Time. How America Has Learned to Live by the Clock, Boston 2002; Peter Galison, Einstein’s Clocks, Poincaré’s Maps. Empires of Time, New York 2003 (dt.: Einsteins Uhren, Poincarés Karten. Die Arbeit an der Ordnung der Zeit, Frankfurt 2003); Alexis McCrossen, Marking Modern Times. A History of Clocks, Watches, and Other Timekeepers in American Life, Chicago 2013; sowie zuletzt Andrew K. Johnston u. a., Time and Navigation, Washington, DC 2015. Zur Geschichte von Kalendern siehe insb. Eviatar Zerubavel, Hidden Rhythms. Schedules and Calendars in Social Life, Chicago 1981; Bronislaw Baczko, Le calendrier républicain. Décréter l’éternité in: Pierre Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bd. 1: La République, Paris 1984, S. 37–83; Robert Poole, »Give Us Our Eleven Days!« Calendar Reform in Eighteenth-Century England, in: Past & Present 149. 1995, S. 95–139; ders., Time’s Alteration. Calendar Reform in Early Modern England, London 1998; Duncan Steel, Marking Time. The Epic Quest to Invent the Perfect Calendar, New York 2000; Leofranc Holford-Strevens, A History of Time, Oxford 2005 (dt.: Kleine Geschichte der Zeitrechnung und des Kalenders, Stuttgart 2008); Sanja Perovic, The Calendar in Revolutionary France. Percep­tions of Time in Literature, Culture, Politics, Cambridge 2012; sowie zuletzt Landwehr, G ­ eburt der Gegenwart. 37 Dohrn-van Rossum, Geschichte der Stunde, S. 263–280. 38 Ian R. Bartky, The Adoption of Standard Time, in: Technology and Culture 30.  1989, S. 25–56, hier S. 25; ders., Selling the True Time. Nineteenth-Century Timekeeping in Ame-

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Koordination und internationale Vereinheitlichung der existierenden Lokal­ zeiten. Ebenso erkannten die Militärstrategen der imperialen Mächte die Vorteile einheitlicher Zeitordnungen für die Kriegsführung. Bereits in den 1870er Jahren initiierte der kanadische Ingenieur Sir Sandford Fleming (1827–1915) die sogenannte Standardzeit-Bewegung, deren Aktivitäten im Oktober 1884 in der dreiwöchigen International Meridian Conference in Washington, DC kulminierten. Dort einigten sich Vertreter von 27 Staaten auf das noch heute gültige System von 24 Zeitzonen, mit dem Nullmeridian in Greenwich als Ausgangspunkt eines die Erde umspannenden unsichtbaren Zeitrasters.39 Nachdem sich der frühere Chef des Generalstabs Graf Helmuth von Moltke (1800–1891) vor dem Deutschen Reichstag vehement dafür ausgesprochen hatte, die existierenden fünf deutschen Regionalzeiten durch eine einzige Zeitzone zu ersetzen, wurde im März 1893  – fast fünfzig Jahre später als in Großbritannien und ein knappes Jahrzehnt nach der Washingtoner Konferenz – auch im Deutschen Reich eine verbindliche Normalzeit eingeführt, nicht zuletzt auf Druck der Eisenbahngesellschaften. »Die gesetzliche Zeit in Deutschland«, legte das Reichsgesetzblatt lapidar fest, »ist die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnten Längengrades östlich von Greenwich.«40

rica, Stanford 2000; sowie ders., One Time Fits All. The Campaigns for Global Uniformity, Stanford 2007. Zur Standardisierung siehe Eviatar Zerubavel, The Standardization of Time. A Sociohistorical Perspective, in: American Journal of Sociology 88. 1982, S.  1–23; ders., The Seven Day Circle. The History and Meaning of the Week, New York 1985; ­Carlene E. S­ tephens, The Most Reliable Time. William Bond, the New England Railroads, and Time Awareness in 19th-Century America, in: Technology and Culture 30. 1989, S. 1–24; ­Jakob Messerli, Gleichmässig, pünktlich, schnell. Zeiteinteilung und Zeitgebrauch in der Schweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 1995; Mike Esbester, Designing Time. The Design and Use of Nineteenth-Century Transport Timetables, in: Journal of Design History 22. 2009, S. 91–113; David Rooney u. James Nye, »Greenwich Observatory Time for the Public Benefit«. Standard Time and Victorian Networks of Regulation, in: British Journal for the History of Science 42. 2009, S. 5–30. 39 Siehe William Frederick Allen, Short History of Standard Time and its Adoption in North America in 1883, Philadelphia 1904; John S. Allen, Standard Time in America. Why and How it Came About and the Part Taken by the Railroads and William Frederick Allen, New York 1951; sowie Clark Blaise, Time Lord. Sir Sandford Fleming and the Creation of Standard Time, New York 2001 (dt.: Die Zähmung der Zeit. Sir Sandford Fleming und die Erfindung der Weltzeit, Frankfurt 2001). 40 Gesetz, betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung, vom 12. März 1893, in: Deutsches Reichsgesetzblatt Nr. 7, 16.3.1893, S. 93. Moltke zitiert nach Kern, Culture of Time and Space, S. 12; Bartky, One Time Fits All, S. 120–127. Das Deutsche Reich bewegte sich damit im Mittelfeld. Die entsprechende Resolution der Washingtoner Konferenz wurde in Japan bereits 1888 ratifiziert und umgesetzt, in Frankreich jedoch erst 1911 und in den Niederlanden nicht vor 1940. Nachdem es im Deutschen Reich bereits zwischen 1916 und 1919 eine eigene, um eine Stunde vorgestellte Sommerzeit gegeben hatte, wurde diese zur besseren Ausnutzung des Sonnenlichtes 1980 erneut eingeführt. Seit 1996 sind alle euro­ päischen Sommerzeiten vereinheitlicht.

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Gegenüber einer derartigen »Meistererzählung« der fortschreitenden Präzisierung, Normierung und Standardisierung betonen neuere Arbeiten die Heterogenität und Vielgestaltigkeit gleichzeitig existierender Zeiten, welche begrifflich als »Pluritemporalität«, oder besser: Polychronie gefasst werden können.41 Uhrzeiten und Zeitordnungen waren nicht lediglich Gegenstand abstrakter Synchronisierungsprozesse, welche umfassende technische Anpassungen erforderlich machten, sondern zugleich tief in lokalen Milieus und deren sozialen Praktiken verankert. Hinzu kamen symbolische Aufladungen: Das Läuten von Kirchenglocken im Frankreich des 19. Jahrhunderts diente ebenso der praktischen Synchronisation menschlicher Aktivitäten wie es im Kampf um gesellschaftliche Deutungsmacht ein nicht zu überhörendes Zeichen katholischer Selbstvergewisserung gegenüber republikanisch-laizistischen Kräften darstellte.42 Auch die Durchsetzung der »Eisenbahnzeit« verlief alles andere als konfliktfrei. Selbst in einer Vorreiternation der Zeitstandardisierung wie den USA verschwanden die älteren lokalen Zeitordnungen nicht über Nacht, nachdem die über einhundert Zeitzonen 1883 durch nur vier ersetzt worden waren. Angleichungsbestrebungen führten so nicht zwingend zur Vereinheitlichung, sondern konnten paradoxerweise auch eine Vervielfältigung von Temporalstrukturen zur Folge haben und so die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Zeiten befördern. Allen internationalen Koordinationsbestrebungen zum Trotz bestanden überkommene Zeitordnungen und -praktiken bis weit ins 20. Jahrhundert lokal fort, und das weltweit.43 Ein globalgeschichtlich erweiterter Blick hat zu einer noch weitergehenden Differenzierung des Standardisierungstheorems geführt. Widerstand gegen die Einführung zentral geregelter Zeitordnungen lässt sich nicht nur in den USA oder in Japan, sondern auch in allen in dieser Hinsicht erforschten europäischen Kolonien finden. Einerseits hielten es die Kolonisatoren für einen zentralen Bestandteil ihrer »zivilisierenden Mission«, dem vor Ort vermeintlich vorherrschenden anarchischen Zeit-Chaos ein Ende zu setzen und den als »zeitlos« wahrgenommenen indigenen Bevölkerungen solides euro­päisches Zeit­ bewusstsein zu vermitteln, inklusive entsprechender Pünktlichkeitskonven­ tionen. Symbolträchtig signalisierte in Kapstadt ein Schuss aus der sogenannten

41 Zum Begriff der Pluritemporalität: Landwehr, Alte Zeiten, Neue Zeiten, S. 25–29. Aufgrund seiner Nähe zu weniger sperrigen und zugleich andernorts etablierten Termini wie Dia- und Synchronität wird hier dem Begriff der Polychronie Vorzug gegeben. 42 Alain Corbin, Les cloches de la terre. Paysage sonore et culture sensible dans les campagnes au XIXe siècle, Paris 1994 (dt.: Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Frankfurt 1995); Hannah Gay, Clock Synchrony, Time Distribution and Electrical Timekeeping in Britain 1880–1925, in: Past & Present 181. 2003, S. 107–140; Sauter, Clockwatchers and Stargazers. 43 Allen, Standard Time in America, S. 1; Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977, S. 43; Bartky, Adoption of Standard Time, S. 26 f.

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»noon gun« tagtäglich die Mittagszeit in Greenwich.44 Andererseits ersetzte auch hier die neue globale Zeitordnung nicht schlicht die präexistierenden Lokalzeiten, sondern führte zu Überlappungen und Überlagerungen. Die neue Standardzeit etablierte sich als Zeit kolonialer Herrschaft und ihrer Institutionen, während die lokalen politischen, sozialen und religiösen Einrichtungen ihre eigenen temporalen Strukturen bewahrten. Die Bewohner der Kolonien waren sich der unterschiedlichen Anforderungen bewusst und entwickelten Geschick darin, sich zwischen konkurrierenden Zeitregimen zu bewegen. Dadurch, dass sich vielfältige Zeitordnungen überlagerten und durchdrangen, entwickelten sich zeitgenössische Gesellschaften zu »zeit-gesättigten Kulturen«, zu hochgradig heterogenen régimes d’historicité  – und damit die Synchronisation unterschiedlicher temporaler Gefüge zu einer gesellschaftlichen Haupt­aufgabe.45 Während gegenwartsdiagnostische Großthesen häufig auf der Annahme homogener und dominierender Zeitregime basieren, müssen Historikerinnen und Historiker gerade bei der Heterogenität und gleichzeitigen Existenz unterschiedlicher Zeitbegriffe, -ordnungen und -erfahrungen ansetzen.

44 Zum Fall Kapstadt siehe Giordano Nanni, The Colonisation of Time. Ritual, Routine and Resistance in the British Empire, Manchester 2012, S. 219. Siehe darüber hinaus Johannes Fabian, Time and the Other. How Anthropology Makes its Object, New York 1983; Frederick Cooper, Colonizing Time. Work Rhythms and Labor Conflict in Colonial Mombasa, in: Nicholas B. Dirks (Hg.), Colonialism and Culture, Ann Arbor 1992, S. 209–245; ­Willem van Schendel u. Henk Schulte Nordholt (Hg.), Time Matters. Global and Local Times in Asian Societies, Amsterdam 2001; Luchien Karsten, Globalization and Time, London 2013; Lynn Hunt, Globalisation and Time, in: Lorenz, Breaking up Time, S.  199–216; Vanessa Ogle, Whose Time Is It? The Pluralization of Time and the Global Condition, 1870s–1940s, in: American Historical Review 118. 2013, S.  1376–1402. Zu Japan siehe George Macklin Wilson, Time and History in Japan, in: American Historical Review 55. 1980, S. 557–571; Thomas C. Smith, Peasant Time and Factory Time in Japan, in: Past & Present 111. 1986, S. 165–197; Sebastian Conrad, What Time is Japan? Problems of Comparative (Intercultural) Historiography, in: History and Theory 38. 1999, S. 67–83; Reinhard Zöllner, Zeit und die Konstruktion der Moderne – im Japan des 19. Jahrhunderts, in: Historische Anthro­ pologie 11.  2003, S.  47–71; Stefan Tanaka, New Times in Modern Japan, Princeton 2004;­ Yulia Frumer, Translating Time. Habits of Western-Style Timekeeping in Late Edo Japan, in: Technology and Culture 55. 2014, S. 785–820. Siehe auch den Beitrag von Katja Schmidtpott im vorliegenden Band. 45 Stephen E. Hanson, Time and Revolution. Marxism and the Design of Soviet Institutions, Chapel Hill 1997, S. 1. Wie présentisme wurde auch der Begriff der régimes d’historicité von François Hartog geprägt; siehe ders., Time, History and the Writing of History. The Order of Time, in: Rolf Torstendahl u. Irmline Veit-Brause (Hg.), History Making. The Intellectual and Social Formation of  a Discipline, Stockholm 1996, S.  95–113, hier S.  96, sowie ders., Régimes d’historicité, S. 17–22 (engl.: Regimes of Historicity, S. XIV–XVIII u. S. 8–11).

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2. Disziplinierung vs. Flexibilisierung Den zweiten Ausgangspunkt einer Historisierung von Zeit stellte die Beschäftigung mit der Durchsetzung einer neuen kapitalistischen Zeitordnung im Zuge der Industrialisierung Europas dar. Der konkurrenzbedingte Zwang zu Effizienzsteigerungen führte zu einem dauerhaften Ringen um Rationalisierung und Optimierung von Zeitabläufen, einer besseren Synchronisation von Produktionsprozessen und einer effizienteren Nutzung der Arbeitszeit der Beschäftigten.46 Die Uhr, nicht die Dampfmaschine, sei die Schlüsselmaschine des Industriezeitalters, lautet ein bekanntes Diktum des amerikanischen Historikers Lewis Mumford.47 Bereits Ende der 1960er Jahre hat der britische Sozialhistoriker Edward P. Thompson gezeigt, wie das neue Fabriksystem des 19.  Jahrhunderts neue Zeitstrukturen zur Folge hatte. Vormoderne, unregelmäßige Arbeitsrhythmen wurden durchbrochen und die Arbeiter einer neuen, auf Pünktlichkeit und Regelmäßigkeit basierenden Zeitdisziplin unterworfen. Auch außerhalb der Fabrik entwickelte sich diese Verbindung von Arbeits- und Zeitdisziplin zu einem zentralen Charakteristikum moderner Gesellschaften.48 Trotz Kritik und entsprechender Modifikationen an Thompsons klassisch gewordener These einer mechanischen Zeitdisziplin in der Fabrik stellt die Verbindung von Zeit mit Themen sozialer Kontrolle seitdem ein einflussreiches Deutungsmuster dar, insbesondere im Kontext der Herausbildung einer kapitalistischen Disziplinargesellschaft.49 Für das 20. Jahrhundert hat vor allem Alf Lüdtke frühzeitig auf die Bedeutung von Pausen und Pausenregelungen am Arbeitsplatz aufmerksam gemacht, als Ausdruck konfligierender Zeitregime zwischen Fabrikbesitzern und Arbeitern, bei denen immer auch um Autonomie und Selbstbestimmung gerungen wurde. Lüdtke sieht in den Aushandlungen um Zeit und in den Versuchen ihrer »Rückaneignung« ein wesentliches Moment innerbetrieblicher Konflikte, wobei paradoxerweise gerade betriebliche Optimierungsbemühungen seit den 1920er Jahren aufgrund der Fehleranfälligkeit komplexer Steuerungsprogramme den Arbeitern neue zeitliche Freiräume verschafften.50 46 Nowotny, Eigenzeit, S. 111–114. 47 Lewis Mumford, Technics and Civilization, New York 1934, S. 14. 48 Edward P. Thompson, Time, Work-Discipline, and Industrial Capitalism, in: Past & Present 38. 1967, S. 56–97 (dt.: Zeit, Arbeitsdisziplin und Industriekapitalismus, in: Rudolf Braun u. a. [Hg.], Gesellschaft in der industriellen Revolution, Köln 1973, S. 81–112). 49 So ist insbesondere Thompsons Unterscheidung zwischen traditionalen und modernen Gesellschaften kritisiert sowie auf die Koexistenz unterschiedlicher sozialer Zeitordnungen sowohl vor als auch nach der Industrialisierung hingewiesen worden. Siehe Paul Glennie u. Nigel Thrift, Reworking E. P. Thompson’s »Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism«, in: Time and Society 5. 1996, S. 275–299, sowie dies., Shaping the Day. A History of Timekeeping in England and Wales 1300–1800, Oxford 2002. 50 Alf Lüdtke, Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende. Skizzen zur Bedürfnisbefriedigung und Industriearbeit im 19.  und frühen 20.  Jahrhundert, in: Gerhard Huck (Hg.), Sozial­ geschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland,

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Der These einer Disziplinierung individueller und gesellschaftlicher Zeitordnungen steht die Beobachtung zunehmender Flexibilisierung und Auflösung von Zeitzwängen gegenüber. Vorschriften, die gesamte Bevölkerung auf eine einheitliche Zeitgestaltung zu verpflichten, traten seit den 1970er Jahren in den Hintergrund, während individuellen Wünschen alternativer Zeitgestaltung vermehrt Platz eingeräumt und Arbeitszeiten flexibilisiert wurden. Stech­uhren wurden abgeschafft, Gleitarbeitszeiten eingeführt. Einerseits galt es, durch Berücksichtigung individueller Zeitwünsche die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter enger an sich zu binden, andererseits versprachen sich die Unternehmen Effizienzgewinne von einem Mehr an Zeitfreiheit.51 In den Industrienationen eröffneten sich durch die Reduzierung der Arbeitszeit für eine Mehrheit der Bevölkerung seit dem Ende des 19.  Jahrhunderts neue Zeitoptionen im Rahmen der sogenannten »Freizeit«. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Industriearbeitern war auf dem Gebiet des späteren Deutschen Reichs bis in die 1850er Jahre zunächst stark bis auf 14–16 Stunden angestiegen, fiel in den darauffolgenden Jahrzehnten jedoch wieder deutlich ab, parallel zu einer Intensivierung der Arbeitsleistung und der Kontrolle über die geleistete Arbeit. Die Wochenarbeitszeit sank zwischen 1871 und 1913 von 72 auf 55,5 Stunden. Mit Unterbrechungen während der beiden Weltkriege setzte sich diese Entwicklung im Verlauf des 20. Jahrhunderts fort. Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die bezahlte Arbeitszeit pro Kopf der Bevölkerung etwa um die Hälfte reduziert.52 Freilich gilt dieser Entwicklungstrend nicht für alle Länder, Bevölkerungsund Berufsgruppen gleichermaßen und sagt zudem nur wenig über die indiWuppertal 1980, S. 95–122 (besser greifbar in Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 85– 119); darüber hinaus Gary Cross (Hg.), Worktime and Industrialization. An International History, Philadelphia 1988, sowie Paul R. Gregory, Productivity, Slack and Time Theft in the Soviet Economy, in: James R. Millar (Hg.), Politics, Work, and Daily Life in the USSR. A Survey of Former Soviet Citizens, Cambridge 1987, S. 241–276. Siehe auch den Beitrag von Tom Reichard im vorliegenden Band. 51 Dietmar Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen. Überlegungen zu einer Ideen- und Sozialgeschichte der »Flexibilisierung« 1970–1990, in: AfS 52. 2012, S. 139–162; Richard Whipp, A Time to Every Purpose. An Essay on Time and Work, in: Patrick Joyce (Hg.), The Historical Meanings of Work, Cambridge 1987, S.  210–237. Die zeitgenössische Literatur ist umfangreich; siehe nur Oskar Negt, Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit, Frankfurt 1984 sowie Jürgen P. Rinderspacher, Gesellschaft ohne Zeit. Individuelle Zeitverwendung und soziale Organisation der Arbeit, Frankfurt 1985. Zur aktuellen Debatte siehe Anna Arlinghaus, Chancen und Risiken flexibler Arbeitszeitformen, in: WISO. Wirtschafts- und sozialpolitische Zeitschrift 36. 2013, S. 55–70. 52 Gerhard A. Ritter u. Klaus Tenfelde, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871 bis 1914, Bonn 1992, S. 360–367; Mark Spoerer u. Jochen Sreb, Leben, um zu arbeiten, oder arbeiten, um zu leben? Warum uns der Rückgang der Arbeitszeit in den letzten 125 Jahren nicht beunruhigen sollte, in: GG 34. 2008, S. 116–128, hier S. 118.

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viduelle Zeitbelastung wie das subjektive Zeitempfinden aus. Ungleichheiten der Zeitgestaltung von Männern und Frauen im Spannungsfeld von bezahlter und unbezahlter, familiärer Arbeit sind weitgehend erhalten geblieben.53 Seit den 1970er Jahren hat sich in vielen Ländern der Trend zu einer Reduzierung der Wochen- und Lebensarbeitszeit unter dem Vorzeichen einer Ideologie der Vollzeit und Vollbeschäftigung wiederum umgekehrt und zu einer neuen Diskussion über Arbeitsüberlastung, Stress und den Verlust an Lebensqualität geführt. In manchen, besonders gesellschaftlich höhergestellten Berufen, aber auch in prekären Beschäftigungsverhältnissen ist inzwischen eine Zunahme der Arbeitszeit zu beobachten.54 Disziplinierung und Rationalisierung einerseits, Flexibilisierung und Freisetzung andererseits bedeuten für unterschiedliche Individuen und soziale Gruppen Unterschiedliches und lassen sich offenbar nicht klar voneinander trennen. Die Flexibilisierung der Arbeitszeit konnte einerseits als Chance und Verheißung einer neuen, individuelle Bedürfnisse stärker berücksichtigenden Zeitordnung jenseits von Stechuhr und Fabriksirene begriffen, andererseits als problematische Entgrenzung von Arbeit, als Übergreifen der Arbeitszeit auf die arbeitsfreie Zeit und somit als neue Form der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft verstanden werden. Eine schlichte Gegenüberstellung von Zeit­ disziplin und Zeitfreiheit greift zu kurz. 3. Beschleunigung vs. Eigenzeiten Als besonders wirkmächtig hat sich drittens und letztens das Deutungsmuster einer umfassenden und weitreichenden »Beschleunigung der Geschichte« erwiesen. Akzeleration wurde bereits von Soziologen der Jahrhundertwende wie Georg Simmel und Werner Sombart als Signum moderner Gesellschaften beschrieben. Der »Drange nach Beschleunigung des Lebenstempos« sei für das Zeitalter des Hochkapitalismus charakteristisch, heißt es etwa bei Sombart, und drücke sich nicht nur in einem gesteigerten Wert der Zeit, der Perfektionierung der Zeitmessung und der Verbreitung entsprechender Messinstrumente, sondern auch in einem, immer weitere Kreise umfassenden »Streben nach Beschleunigung der Lebensführung« aus: »Mit Vorliebe setzt man das Wort

53 Siehe hierzu: Nowotny, Eigenzeit, S.  105–133; Julia Kristeva, Women’s Time, in: Signs 7. 1981, S. 13–35; Frieda Johles Forman u. Caoran Sowton (Hg.), Taking Our Time. Feminist Perspectives on Temporality, Oxford 1989; Martina Kessel (Hg.), Zwischen Abwasch und Verlangen. Zeiterfahrungen von Frauen im 19. und 20. Jahrhundert, München 1995; Wajcman, Pressed for Time, S. 111–135; sowie insb. den Beitrag von Jonathan ­Gershuny im vorliegenden Band. 54 Siehe für die USA Benjamin Hunnicutt, Free Time. The Forgotten American Dream, Philadelphia 2013.

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›Schnell‹ vor alle möglichen Vorgänge und Vornahmen: Schnellzug, Schnelldampfer, Schnellpresse, Schnellbleiche, Schnellphotographie.«55 Die Annahme einer stetig zunehmenden Geschwindigkeit der Welt gehörte während des »Raum- und Zeitrausches« der langen Jahrhundertwende zum Selbstverständnis gesellschaftlicher Eliten.56 Demgegenüber wurde das Konzept der Beschleunigung erst in den 1970er Jahren von der Geschichtswissenschaft aufgegriffen, allen voran Reinhart Koselleck. Zur gleichen Zeit wie Historikerinnen und Historiker begannen sich auch Medientheoretiker wie V ­ irilio und Kulturwissenschaftler wie Wolfgang Schivelbusch für Formen und Folgen technischer Beschleunigung zu interessieren. Virilio schlug vor, neben der Chronologie eine eigene Wissenschaft der Geschwindigkeit zu begründen, die »Dromologie«. Deren Aufgabe sei es, die gesellschaftlichen Auswirkungen der technischen Akzeleration sowie die daraus resultierende Bedrohung der menschlichen Lebenswelt zu untersuchen. Ähnlich räsonierte Schivelbusch 1980, Beschleunigung stelle »vielleicht das Phänomen der Moderne überhaupt« dar.57 Seit den 1970er Jahren hat sich das Konzept zu einer zentralen Kategorie gegenwärtiger Gesellschaftsdeutung entwickelt. Der Soziologe Harmut Rosa etwa hat zeitliche Verdichtung zur Grundtatsache gesellschaftlichen Wandels im 20.  Jahrhundert schlechthin erklärt. Technische Beschleunigung, Beschleunigung des sozialen Wandels und Beschleunigung des Lebenstempos würden sich gegenseitig verstärken und trieben auf diese Weise die Beschleunigungsspirale unaufhörlich voran. Folgt man Rosa, emanzipiert sich Zeit vom Raum: »Die Erfahrung von Modernisierung ist eine Erfahrung der Beschleunigung.« Ein Ausweg eröffne sich nur dann, wenn man bereit sei, die Moderne als Projekt und Prozess gleichermaßen aufzugeben. Alle Forderungen nach »Entschleunigung« erweisen sich als utopisch.58

55 Georg Simmel, Die Bedeutung des Geldes für das Tempo des Lebens [1897], in: HeinzJürgen Dahme u. David Frisby (Hg.), Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900, Frankfurt 1992, S. 215–234; ders., Das Problem der historischen Zeit [1916], in: ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1957/1984, S. 48–60; Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, München, Bd. 2 (1902), S. 86 u. Bd. 3 (1927), S. 23 f. 56 Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt 2004, hier S. 342. Siehe auch Nowotny, Eigenzeit, S. 21. 57 Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? [1976], in: ders., Zeitschichten, S.  150–176; Paul Virilio, Vitesse et politique. Essai de dromologie, Paris 1977 (dt.: Geschwindigkeit und Politik. Ein Essay zur Dromologie, Berlin 1980); ders., Vitesse de libération; Wolfgang Schivelbusch, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, München 1980, hier S. 123. Siehe auch die Beiträge von Tom Reichard und Alexander Geppert im vorliegenden Band. 58 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt 2005, S.  51, S.  61, S.  124–138 u. S.  488–490. Zur Rezeption siehe etwa Sabrow, Zeit der Zeitgeschichte, S.  17 f., sowie die Kritik bei Mike Crang, The Calculus of Speed.­ Accelerated Worlds, Worlds of Acceleration, in: Time and Society 19. 2010, S. 404–410. Siehe

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»Beschleunigung« wird dabei als allumfassendes Strukturmerkmal zeitgenössischer Gesellschaften begriffen, das den Einzelnen unter Zeitdruck setzt und eine neue soziale Ungleichheit zwischen »fast« und »slow classes« erzeugt.59 Akzelerationseffekte sind in Prozessen politischer Entscheidungsfindung beschrieben und für Veränderungen demokratischer Verfahrensweisen verantwortlich gemacht worden. Politologen wie William E. Scheuerman und Medienwissenschaftlern wie Robert Hassan zufolge zeigen sich etablierte, auf Partizipation der Bürger basierende politische Strukturen den Geschwindigkeiten moderner Kommunikationsmittel und ökonomischer Transaktionen nicht länger gewachsen. Das legislative Verfahren moderner Demokratien erweist sich als übermäßig zeitintensiv und damit als dysfunktional, was umgekehrt die Bedeutung einer mit Dekreten regierenden Exekutive stärkt.60 Innerhalb der Geschichtswissenschaft ist dieses Deutungsmuster bisher vor allem von der Technik- und Kommunikationsgeschichte sowie der Diktaturforschung aufgegriffen worden. Einen weiten Bogen vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart schlagend, hat etwa der Sozial- und Wirtschaftshistoriker ­Peter Borscheid die Geschichte der Geschwindigkeitssteigerung nachgezeichnet. Um 1900 zum Selbstzweck und zur zentralen Fortschrittskomponente erhoben, wirkt der Beschleunigungsimperativ seitdem als Hauptmovens der wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Entwicklung der westlichen Welt, mit durchaus ungewissem Ausgang. Politische Regime werden als Zeit-Regime interpretiert; die totalitären Staaten des vergangenen Jahrhunderts sind als »Beschleunigungsdiktaturen« zu charakterisieren.61 Während die Faszination des Faschismus für Geschwindigkeit und Tempo gut bekannt ist, haben jüngere Arbeiten eine spezifisch faschistische Zeitlichkeit mitsamt eines eigenen »Zeitkults« auszumachen versucht. Be- und Entschleunigung sollten im Faschismus verschmolzen, die vermeintlich »tote« Zeit des normalen Zeitflusses auf­ gehoben und die Trennung von individueller und kollektiver Zeit überwunden werden. Ähnlich haben Historikerinnen und Historiker der Sowjetunion die darüber hinaus Schwarz, »Wie uns die Stunde schlägt«, S. 471; Barbara Adam, Time, Cambridge 2004, S. 128–136; Alexandre Escudier, Le sentiment d’accélération de l’histoire moderne. Eléments pour une histoire, in: Esprit 6. 2008, S. 165–191 (dt.: Das Gefühl der Beschleunigung der modernen Geschichte. Bausteine für eine Geschichte, in: Trivium 9. 2011, http://trivium.revues.org/4034); sowie als populäre Darstellung James Gleick, Faster. The Acceleration of Just About Everything, New York 1999. 59 Siehe Anm. 3. 60 William E. Scheuerman, Liberal Democracy and the Social Acceleration of Time, Baltimore 2004; Robert Hassan, Empires of Speed. Time and the Acceleration of Politics and Society, Leiden 2009; Kimberly Hutchings, Time and World Politics. Thinking the Present, Manchester 2008. 61 Borscheid, Tempo-Virus, S.  10 f. und S.  356; Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S.  228 f. Siehe auch Andreas Braun, Tempo, Tempo! Eine Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt 2000.

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»temporale Oberflächenstruktur« des Regimes, das heißt die Zeitvorstellungen und Zeitprojekte der kommunistischen Eliten, untersucht und dort ebenfalls eine eigene Zeitpolitik im Zeichen der Beschleunigung identifizieren können. Sinnbildlich für diese Politik steht eine Kampagne von 1928, die darauf abzielte, den ersten Fünf-Jahres-Plan innerhalb von vier Jahren zu erfüllen, um so die Zukunft einzuholen.62 Sich gegen einen solchen »Akzelerationismus« positionierende Arbeiten sind auf deutlich weniger Resonanz gestoßen. Lynn Hunt hat die von Koselleck, ­Virilio, Rosa und anderen ins Feld geführten Belege für eine Beschleunigung des Lebenstempos als kaum zwingend beschrieben, auf die Relativität jedweder Geschwindigkeit verwiesen und die kulturkritische Färbung des Konzepts kritisiert. Eine vermeintlich neue Hast und Zerstückelung von Zeit werde mit der statischen Vorstellung von erfüllter und sinnvoll verbrachter Zeit kontrastiert.63 Widersprochen wird dem Beschleunigungstheorem auch von Studien zur individuellen Zeiterfahrung und Zeitgestaltung. Individuen nehmen Zeit oft nicht als gerichteten Strom, als stetig zunehmende Zeitknappheit und unaufhörliche Beschleunigung, sondern in Form unterschiedlicher, sich überlappender Rhythmen und in Wellen wahr. Technische Innovationen haben nicht notwendig Beschleunigungseffekte zur Folge. Sie generieren ihren eigenen Zeitbedarf und prägen neue materielle und kulturelle Praktiken von unterschiedlicher zeitlicher Dauer.64 In einem eindrucksvollen Essay hat Helga ­Nowotny argumentiert, dass in der bürgerlichen Gesellschaft individuelle Zeit aus der gemeinsam verbrachten, sozialen Zeit herausgelöst und so neben der Normierung kollektiver Zeit eine weitere, stärker subjektiv geprägte Zeitform entstanden sei, die sie als »Eigenzeit« bezeichnet. In historischer Perspektive hat Alf Lüdtke gezeigt, dass sich im Leben von Individuen im 20. Jahrhundert unterschiedliche Zeitzyklen überlagerten, von den Jahreszeiten über einmalige und wiederkehrende biographische und politische Ereignisse bis hin zu den Rhythmen des Familien- und Arbeitslebens. Gerade in Umbruch- und Krisenzeiten wechselten sich intensive Zeit-

62 Sabrow, Zeit der Zeitgeschichte, S.  20–26; Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning Under Mussolini and Hitler, Basingstoke 2007, S. 180; sowie die Beiträge in Fernando Esposito u. Sven Reichardt (Hg.), Fascist Temporalities, München 2015 (= Journal of Modern European History 13, H.  1). Zur Sowjetunion vor allem Hanson, Time and Revolution und Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt 2006, S. 81–97, hier S. 81: »Die gesamte Sowjetunion hatte ein Zeitproblem, ja, es war eines ihrer zentralen Probleme.« Siehe auch die Beiträge von Christopher Clark und Till Kössler im vorliegenden Band. 63 Hunt, Measuring Time, S.  13 f. u. S.  76–82. Scharfe Kritik findet sich zudem bei Judy Wajcman, Life in the Fast Lane? Towards a Sociology of Technology and Time, in: British Journal of Sociology 59. 2008, S.  59–77, und Byung-Chul Han, Transparenzgesellschaft, Berlin 2012, S. 49–56; siehe auch Crang, Calculus of Speed. 64 Wajcman, Life in the Fast Lane, S. 66.

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erfahrungsphasen mit ereignisarmen, »leeren« Zeiten ab.65 Solche Eigenzeiten individueller Leben stehen in einem Spannungsverhältnis zum Deutungsmuster eines übergreifenden, allumfassenden und vor nichts Halt machenden Beschleunigungsprozesses »der Moderne«. Die Ethnologin Sarah Sharma hat jüngst argumentiert, dass die Annahme einer allgemeinen Akzeleration – sowie auch der Möglichkeit von Individuen sich dieser zu verweigern – die machtgeprägten Relationen zwischen den sehr unterschiedlichen Zeitordnungen einzelner sozialer Gruppen übersehe: »[N]ot everyone is equally out of time [and] keeping people in and out of time is a form of social control«. Zugespitzt formuliert: Nicht jeder fühlt permanente Zeitnot, und die Putzkräfte eines Slow-Food Restaurants unterliegen anderen Zeitzwängen als deren oft wohlhabende Gäste.66 Unterschiede im individuellen Zeitverhalten dürfen bei der Historisierung von Zeit nicht unberücksichtigt bleiben, nicht zuletzt im Hinblick auf unterschiedliche Lebensabschnitte und im Genera­tionenvergleich.67 Kurzum: Die Geschichte der Zeit im 20. Jahrhundert hat bislang weitgehend zwischen diesen drei Leitdichotomien oszilliert. Zusammengenommen legen es die Ansätze nahe, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein grundlegender Wandel des Zeitdenkens und der gesellschaftlichen Zeitverhältnisse erfolgte, in dem sich ein neues Zeitregime herausbildete, das unsere Gegenwart bestimmt. Als Elemente dieses Wandels werden neben einer Potenzierung von Beschleunigungsprozessen die Zersplitterung eines linearen Geschichts- und Fortschrittsdenkens, die Eintrübung des Zukunftshorizonts sowie die Übermacht einer ausufernden Gegenwart angeführt. Aller Kritik zum Trotz ist

65 Nowotny, Eigenzeit, S. 7 u. S. 13; Alf Lüdtke, Writing Time – Using Space. The Notebook of  a Worker at Krupp’s Steel Mill and Manufacturing. An Example from the 1920s, in: Historical Social Research 38. 2013, S.  216–228. Siehe darüber hinaus Otthein Rammstedt, Alltagsbewußtsein von Zeit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho­ logie 27.  1975, S.  47–63, und August Nitschke, Dankbar, zerstörend und fordernd. Die Zeit, in: Herwarth Röttgen (Hg.), Beiträge zur Zeit. Vorträge gehalten am 8.  November 1991 aus Anlass des 65. Geburtstages von August Nitschke, Stuttgart 1992, S. 46–56. Zum Wandel von Zeitvorstellungen, der Reflexion von Zeit-Brüchen und »Epochenbewußtsein« in Politikerautobiographien siehe auch Volker Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20.  Jahrhunderts, München 2007, S. 129–253. 66 Sarah Sharma, In the Meantime. Temporality and Cultural Politics, Durham 2014, S. 25. 67 Über dieses Spannungsverhältnis lässt sich die Zeit-Geschichte an etablierte Forschungsfelder wie die Alters- und Lebenslaufforschung bzw. die Generationengeschichte anschließen. Siehe dafür stellvertretend Peter Borscheid, Geschichte des Alters, Münster 19872; Christoph Conrad, Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930, Göttingen 1992; Pat Thane (Hg.), A History of Old Age, Los Angeles 2005; Toni Pierenkemper, Arbeit und Alter in der Geschichte, Wiesbaden 2006; Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der neueren Geschichte, in: APuZ 8. 2005, S. 3–9, insb. S. 9, sowie die von ihm herausgegebenen Göttinger Studien zur Generationsforschung (Göttingen 2009–2014).

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die Popularität vor allem des Beschleunigungstheorems ungebrochen, zumal es sich – wie eingangs ausgeführt – zum Kern unzähliger populärer Gegenwartsdiagnosen entwickelt hat.

III. Fluchtlinien einer Zeit-Geschichte der Zeitgeschichte Wie lässt sich eine Zeit-Geschichte der Zeitgeschichte entwerfen, die die gegenwärtige Obsession mit »Zeit« zum Ausgangspunkt nimmt und zugleich jenseits dieser drei Leitdichotomien operiert? Mit Verzeitlichung, Rhythmus und Gleichzeitigkeit sollen zuletzt drei Ansatzpunkte eines solchen historiographischen Projekts skizziert und jeweils anhand kurzer Beispiele erläutert werden. 1. Verzeitlichung Der Geschichtswissenschaft die eigene Verzeitlichung anzutragen, stellt nur auf den ersten Blick einen Pleonasmus dar. Vielmehr plädiert die hier analog zur »Verräumlichung« vorgeschlagene Verzeitlichung dafür, die Historizität der Zeit als eigenen Faktor zu berücksichtigen und insbesondere die spezifischen Zeithorizonte und -deutungen zu thematisieren, welche den jeweiligen Untersuchungsgegenständen und -ansätzen eigen sind.68 Verzeitlichung meint hier nicht diejenige Art von Temporalisierung, die für die Naturwissenschaften ab Ende des 18. Jahrhunderts beschrieben worden ist, als der Niedergang der Chronologie und die Abkehr von naturalen Zeitvorstellungen mit dem Aufstieg linear-historischen Denkens einherging.69 Vielmehr wird das Konzept grundsätzlicher gefasst und auf den Wandel derjenigen Zeitbegriffe bezogen, welche sowohl in den historischen Untersuchungsgegenständen selbst angelegt sind als auch an diese Gegenstände von außen herangetragen werden. Die Zeitdifferenz der Historikerinnen und Historiker zum Gegenstand stellt sich auch als Differenz unterschiedlicher Zeitmodelle dar, und die Zeitkategorien ihrer Darstellungen entsprechen nicht notwendig denjenigen der historischen Akteure. Verdeutlichen lässt sich diese erste der drei Fluchtlinien einer Zeit-­Geschichte der Zeitgeschichte am Wandel moralischer Bewertungen von Zeitkonzepten. Während »Entschleunigung« heute als Heilsvision für eine beständig über 68 Zu Begriff und Programm der »Verräumlichung«: Alexander C. T. Geppert u. a., Verräum­ lichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840–1930, in: dies., Ortsgespräche, S. 15–49, hier S. 28 u. S. 47–49. Siehe auch Landwehr, Geburt der Gegenwart, S. 37–40; und ders., Alte Zeiten, Neue Zeiten, S. 15–23. 69 Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Verzeitlichung und Enthistorisierung in der Wissenschaftsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, in: ders., Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1976, S. 7–130, hier S. 16.

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Zeitnot klagende Gesellschaft gepriesen wird, bezeichneten die Autoren der legendären soziographischen Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« die unverhoffte »Freizeit« der 1930 plötzlich erwerbslos gewordenen Textilarbeiter in Niederösterreich als »tragisches Geschenk«. Jahoda und Lazarsfeld beobachteten, wie der Verlust von Arbeit die temporale Ordnung des Tagesablaufs zusammenbrechen ließ und einen »Zerfall des Zeitbewußtseins« zur Folge hatte. Jedwede Hast erschien den Arbeitern sinnlos: »Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere.« Zeit wird zugleich als unweigerlich »vorwärtsschreitend« konzipiert, kann aber doch individuell ausgedeutet werden. Entschleunigte Zeit wird als sinnentleert begriffen und mit der Auflösung sozialer Beziehungen gleichgesetzt.70 Umgekehrt sind auch auf Historikerseite die zur Verfügung stehenden ana­ lytischen Temporalkonzepte alles andere als überzeitlich, sondern verhalten sich relativ zu ihren jeweiligen Zeithorizonten. Ulrich Raulff zufolge waren es Fotografie und Film, die nach 1900 das Zeitdenken der Historikerinnen und Historiker prägten, welches seitdem zwischen den Polen »Augenblick« und »langer Dauer« changiere. Ähnlich ließen sich auch für Zeitkonzepte wie »­A ktualität«, »Präsenz«, »Latenz« oder »Wiederkehr« je eigene Geschichten schreiben.71 Ein Verständnis dieser doppelten Zeitgebundenheiten erfordert dann eine anspruchsvolle Operation. Ähnlich wie beim Raum gilt es, den prozessualen Aspekt einer Verzeitlichung »mitlaufen« zu lassen und die Historizität sowohl der beobachteten als auch der angewandten Temporalkategorien zu berücksichtigen. Historikerinnen und Historikern obliegt es, nicht nur ihre Objekte sorgfältig in Raum und Zeit zu positionieren, sondern sich selbst ebenfalls entsprechend zu verorten.72

70 Marie Jahoda u. a., Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit [1933], Frankfurt 1975, S. 17, S. 83, S. 92 f. u. S. 101. 71 Raulff, Augenblick, S. 9 f. Siehe darüber hinaus etwa Heidrun Friese (Hg.), The Moment. Time and Rupture in Modern Thought, Liverpool 2001; Hans Ulrich Gumbrecht, Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012; sowie ders., Präsenz, Berlin 2012. 72 Dies ist das Anliegen solcher Konzepte wie »Timescape« oder »Timespace«. Siehe Barbara Adam, Timescapes of Modernity. The Environment and Invisible Hazards, London 1998; dies., Naturzeiten, Kulturzeiten und Gender. Zum Konzept »Timescape«, in: Sabine Hofmeister u. Meike Spitzner (Hg.), Zeitlandschaften. Perspektiven öko-sozialer Zeitpolitik, Stuttgart 1999, S. 35–57; Jon May u. Nigel Thrift (Hg.), Timespace. Geographies of Tem­ porality, London 2001; sowie Corfield, Time and the Shape of History, S. 15–18. Siehe auch Penelope Corfields Beitrag im vorliegenden Band.

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2. Rhythmus »Jede Zeit hat ihre eigene Zeit und ihre eigenen Zeiten«, hat der Zeithistoriker Martin Sabrow argumentiert; gesellschaftliche Ordnungen sind immer auch Ordnungen von Zeit. Zur Analyse solcher Ordnungen bietet sich zweitens der Begriff des Rhythmus an, den Marc Bloch 1941 prominent in die Geschichtswissenschaft eingeführt hat, um die spezifische Zeit von Gruppen, Generationen oder Gesellschaften erfassen zu können.73 Anders als die Verlaufskonzepte Standardisierung, Disziplinierung und Beschleunigung bietet Rhythmus für eine Verzeitlichung der Zeit des 20. Jahrhunderts den Vorteil, Konjunkturen und Entwicklungen ergebnisoffener zu fassen und die drei diskutierten Leitdichotomien zu überwinden. Zu erklären sind nicht vermeintlich gradlinige und ohnehin niemals zu einem Abschluss kommende Kumulationsprozesse von Normierungen, Kontrollmaßnahmen oder Geschwindigkeiten, sondern die Art und Weise, wie Gruppen oder Gesellschaften ihre je eigenen Zeiten generieren und strukturieren, und wie sie miteinander um die Ordnung von Zeit ringen. Die Polychronie des 20. Jahrhunderts lässt sich weder auf lineare Verlaufsprozesse reduzieren noch als eine Kakophonie unabhängig nebeneinander bestehender Zeitregime begreifen. Vielmehr zeigt sie sich gerade in der Koexistenz einer Vielzahl einander überlagernder Rhythmen. Aus einer solchen Perspektive geraten etwa die fundamentale Bedeutung von Sitzungskalendern, Wahl­zyklen und Legislaturperioden für das Planungshandeln moderner Demokratien in das analytische Blickfeld.74 Ähnlich findet sich bereits in der Marienthalstudie von 1933 die Beobachtung, dass der »alle zwei Wochen wiederkehrende Tag der Unterstützungszahlung« den Lebenstakt der Arbeiterinnen und Arbeiter bestimme: »Das gesamte Wirtschaftsleben schwingt in diesem zweiwöchentlichen Rhythmus«. Wiederkehrende Rhythmen strukturieren den Alltag des Einzelnen genauso wie das Institutionengefüge moderner Demokratien, die Beziehungsgeflechte ganzer Wirtschaftssysteme oder internationaler Organisationen. Sie überlagern, durchdringen und verschränken sich und bilden komplexe, aber nicht willkürliche politische, ökonomische und kulturelle Routinen aus, die menschliches Handeln zugleich ermöglichen und begrenzen.75 Diese zweite der drei hier skizzierten zeit-geschichtlichen Fluchtlinien lenkt zudem die Aufmerksamkeit auf das Problem der Synchronisation unterschiedlicher Zeittaktungen und -phrasierungen.76 Wie geschildert lassen sich in der historischen Rückschau zwei gegenläufige Prozesse ausmachen: Einer Objek73 Sabrow, Zeit der Zeitgeschichte, S. 17 f.; Raulff, Historiker im 20. Jahrhundert, S. 150–155. 74 Siehe etwa Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: GG 34. 2008, S. 305–326, hier S. 319 f. 75 Jahoda, Arbeitslosen von Marienthal, S. 37. Darüber hinaus Aleida Assmann, Zeit und Tradition. Kulturelle Strategien der Dauer, Köln 1999, S. 1; Lüdtke, Writing Time – Using Space, S. 223–226; George Kubler, The Shape of Time. Remarks on the History of Things, New Haven 1962 (dt.: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt 1982). 76 Siehe Hassan, Globalization and the »Temporal Turn«, S. 91.

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tivierung der Zeitmessung und globalen Angleichung der Zeitordnungen steht eine Subjektivierung der Zeiterfahrung und die Herausbildung von »Eigen­ zeiten« gegenüber. Nowotny hat beide Prozesse als kausal verknüpft beschrieben. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung ist nicht nur durch Produktionszeiten gekennzeichnet, sondern benötigt auch Zeiträume, in denen die Konsumenten die produzierten Güter verzehren. Rationalisierung von Zeit in der Wirtschaft findet ihr Korrelat in einer Neugestaltung von privater und »freier« Zeit. Konsumgütern  – seien es Autos, Ferienreisen, Kinofilme oder Fertig­pizzen  – sind je eigene Zeitordnungen und Zeitrhythmen »eingebaut«, welche die Zeitgestaltung der Konsumentinnen und Konsumenten prägen. Zugleich entsteht an dieser Schnittstelle von Arbeits- und privater Zeit eine Vielzahl von Zeit-Konflikten. Ob und inwieweit deren Moderation und Regulierung dem Individuum überlassen werden kann oder besser dem Wohlfahrtsstaat zu überantworten ist, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem viel­ diskutierten Problem moderner Zeit-Politik entwickelt.77 3. Gleichzeitigkeit Neben Verzeitlichung und Rhythmus soll mit Gleichzeitigkeit die dritte und letzte Fluchtlinie einer Zeit-Geschichte des 20.  Jahrhunderts konturiert werden. Trotz entsprechender physikalisch-philosophischer Vorbehalte gegen die Möglichkeit von Gleichzeitigkeit überhaupt ist der Begriff in der Geschichtswissenschaft vor allem in der vielzitierten Formel der »Gleichzeitigkeit des Un­ gleichzeitigen« geläufig. Ursprünglich auf Hans Freyers Formulierung »Gleichzeitigkeit des Nicht-Gleichzeitigen« von 1955 zurückgehend, ist diese von Reinhart Koselleck seit den 1970er Jahren erfolgreich popularisiert worden, in jüngster Zeit jedoch in die Kritik geraten. »Alles in der Geschichte ist ungleichzeitig«, hat etwa Wolfgang Hardtwig neben vielen anderen den Gedanken aufgegriffen, um auf die Koexistenz von Überresten unterschiedlicher Zeitepochen zu jedem gegebenen Zeitpunkt hinzuweisen. Demgegenüber hat Achim Landwehr einen Verzicht auf die Formel gefordert, da sie normative Annahmen über die Entwicklung der westlichen Moderne enthalte und den Blick auf die »Kultur pluraler Gleichzeitigkeiten« als Kennzeichen historischer Zeiten verstelle.78 77 Nowotny, Eigenzeit, S. 24–26, S. 40–45 u. S. 105–115. 78 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 7; Koselleck, Theoriebedürftigkeit, S. 307; Wolfgang Hardtwig, Der deutsche Weg in die Moderne. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen als Grundproblem der deutschen Geschichte 1789–1871, in: ders. u. Harm-Hinrich Brandt (Hg.), Deutschlands Weg in die Moderne, München 1993, S.  9–31, hier S.  9; Achim Landwehr, Von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, in: HZ 295. 2012, S. 1–34, hier S. 34; ders., Über den Anachronismus, in: ZfG 61. 2013, S. 5–29, hier S. 15. Darüber hinaus Paul Nolte, Art. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 134–137, und Geyer, »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«.

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Der Fokus hier ist indes wiederum ein anderer. Gleichzeitigkeit lässt sich in dreifacher Hinsicht für die Zeit-Geschichte historiographisch fruchtbar machen. Erstens war und ist Gleichzeitigkeit selbst ein historisches Projekt, eine handlungsleitende Utopie und wirkmächtige Verheißung. Viele politische, soziale und religiöse Bewegungen versprachen ihren Anhängern den Weg in eine neue Zeitordnung jenseits der Zerwürfnisse historischer Zeiten zu weisen. Ähnlich erwarteten die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts von einer Synchronisierung der Menschen Unmittelbarkeit, kollektive Dynamik und gesellschaftliche Harmonie.79 Doch auch in Demokratien spielte die Verheißung von Gleichzeitigkeit eine bedeutende Rolle, wie das größten TV-Ereignis aller Zeiten, die erste Mondlandung am 20.  Juli 1969, nahelegt. Zeitgleich von geschätzten 650 Millionen Menschen live verfolgt, das heißt einem Sechstel der damaligen Welt­bevölkerung, produzierte das Fernsehen einen viel erinnerten Augenblick globaler Gleichzeitigkeit, dem die kurzlebige Hoffnung auf eine künftige Weltgemeinschaft innewohnte. »Noch nie hat ein so großer Teil der Erdbevölkerung zur gleichen Zeit in solcher Spannung den gleichen Bildern zugesehen«, kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Noch nie […] gab es ein so ›gemeinsames Erlebnis der Menschheit‹«.80 Zweitens hat sich Gleichzeitigkeit als Synchronisation von Kommunikation, Wahrnehmung und Handlungen im 20.  Jahrhundert zu einem historischen Faktor ersten Ranges entwickelt. Pierre Bourdieu hat etwa auf die Bedeutung medialer Echtzeitkommunikation für die Ausbreitung von Protestbewegungen und Revolutionen hingewiesen. Die neuartige audio-visuelle Live-Berichterstattung führte 1968 zu einer Synchronisierung der Zeitwahrnehmung zwischen Metropole und Provinz, ohne die die Dynamik der Pariser Mai-Ereignisse nicht zu erklären ist.81 Und drittens bedeutet die Polychronie der Gegenwart nicht nur eine histo­ rische, sondern auch eine historiographische Herausforderung. Wenn der Befund zutrifft, dass sich im Zeitalter »weltumspannender Gleichzeitigkeit« die 79 Siehe hierzu auch die Beiträge von Christopher Clark und Till Kössler im vorliegenden Band. 80 NASA HQ, Washington, DC, Historical Reference Collection, 7350, Hearing on NASA Autho­rization for Fiscal Year 1971, Enclosure 6, S. 1013–1015, hier S. 1015, 11.3.1970; Mit­ erlebt, in: FAZ, 21.7.1969, S. 1. Siehe dazu nur Michael L. Smith, Selling the Moon. The U. S. Manned Space Program and the Triumph of Commodity Scientism, in: Richard Wightman Fox u. T. J. Jackson Lears (Hg.), The Culture of Consumption. Critical Essays in American History, 1880–1980, New York 1983, S.  175–209, hier S.  177; sowie aus medienwissenschaftlicher Perspektive Lorenz Engell, Das Mondprogramm. Wie das Fernsehen das größte Ereignis aller Zeiten erzeugte und wieder auflöste, um zu seiner Geschichte zu finden, in: Friedrich Lenger u. Ansgar Nünning (Hg.), Medienereignisse der Moderne, Darmstadt 2008, S. 150–171, hier S. 160. 81 Pierre Bourdieu, Homo academicus, Paris 1984, insb. Kap.: »La synchronisation«, S. 226– 233; siehe auch: Ingrid Gilcher-Holtey, »Kritische Ereignisse« und »kritischer Moment«. Bourdieus Modell der Vermittlung von Ereignis und Struktur, in: Manfred Hettling u. Andreas Suter (Hg.), Struktur und Ereignis (= GG. Sonderheft 19), Göttingen 2001, S. 120–137.

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Gegenwart immer weiter ausdehnt und Vergangenheit wie Zukunft unterschiedslos aufsaugt, stellt das für die auf einem zeitlichen Nacheinander von Ereignissen aufbauende Geschichtswissenschaft ein schwerwiegendes Problem dar. Selbstverständlich steht jedwede Art von Geschichtsschreibung vor der Aufgabe, Vergangenes in analytische Narration zu überführen und damit in eine Perspektive des Nacheinander zu bringen, doch trifft diese Herausforderung für das 20.  Jahrhundert besonders zu, da sich die auf einer wechselseitigen Wahrnehmung beruhenden Bezüge zwischen zeitgleich verlaufenden Handlungsketten vervielfachten. Es gilt, neue Analyseformen und Erzählmodi zu entwickeln, um Simultanität in Abfolgen und Parallelität in Linearität zu übersetzen. Auch wenn sie die Gegenwart sicherlich nicht von ihrer Obsession zu befreien vermag, könnte die hier skizzierte Zeit-Geschichte des 20. Jahrhunderts einen vielversprechenden Ausweg eröffnen.82

IV. Anliegen und Anlage Indem sie an ausgewählten Beispielen aus der Vorgeschichte der Gegenwart Genese und Wandel von gedachten Zeitordnungen und gelebten Zeitpraktiken untersuchen, befassen sich die acht Beiträge des vorliegenden Bandes mit beiden hier diskutierten Perspektiven auf Zeit-Geschichte, dem konzeptionellen Nachdenken über Funktion, Rolle und Bedeutung von Zeit in der Geschichtsschreibung einerseits, empirisch zu untersuchenden Zeitregimen und Zeitkonflikten des 20. Jahrhunderts andererseits. Die Aufsätze möchten zu einem besseren, da historisch perspektivierten Verständnis der aktuellen Debatten beitragen. Auf zwei historiographisch-konzeptionelle Beiträge (Lucian Hölscher, Penelope Corfield)  folgen sechs historisch-empirische Fallanalysen. Diese fragen nach der Bedeutung von Zeitpolitik in autoritären Systemen in Japan, Deutschland und Spanien (Katja Schmidtpott, Christopher Clark, Till Kössler), unterziehen das vielzitierte Beschleunigungstheorem der Fortschrittsmoderne einer Über­prüfung (Tom Reichard, Alexander Geppert) und verfolgen den gesellschaftlichen Umgang mit Zeit anhand der Allokation unterschiedlicher Zeitbudgets seit den 1960er Jahren (Jonathan Gershuny). Gemeinsam loten die Aufsätze die konkreten Möglichkeiten und praktischen Grenzen der Historisierung von »Zeit« als grundlegender, nur über Umwege zu fassender Kategorie historischen Denkens aus. Als Baustein einer neuen Zeit-Geschichte des 20.  Jahrhunderts nimmt dieses Sonderheft nicht für sich in Anspruch, die Antinomie im Innersten der Zeit aufzulösen, wohl aber deren Historisierung gezielt zu befördern. 82 Nowotny, Eigenzeit, S. 11 u. S. 19 f. Siehe auch Karl Schlögel, Narrative der Gleichzeitigkeit oder Die Grenzen der Erzählbarkeit von Geschichte, in: Merkur 65. 2011, S. 583–595, hier S. 591.

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Von leeren und gefüllten Zeiten Zum Wandel historischer Zeitkonzepte seit dem 18. Jahrhundert

Abstract: Historical time is a concept of modern historiography deeply structured in two dimensions: the empty, mathematical time of the calendar on the one hand, and the embodied time of historical subjects such as nations, classes, ages and ideas on the other. Starting from the dispute between Leibniz and Clarke, Newton’s defender in 1715/1716, this article discusses key concepts of historical time and strategies of modern Western historiography to conceptualize history. Divided into three sections, it analyzes the making of »time gardens« in the eighteenth century, the elaboration of historical »panoramas« in the nineteenth century, and the fragmentation of universal time in the twentieth century, closing with a commitment to the endangered idea of a universal time throughout history.

I. Der doppelte Zeitbegriff der Historiker 1. Die Leibniz-Clarke-Kontroverse Im November 1715 erhielt Caroline, die Gattin des englischen Thronfolgers, in London einen brisanten Brief von ihrem vormaligen Lehrer und Mentor in Hannover, Gottfried Wilhelm Leibniz. Darin bezichtigte dieser Isaak Newton, seinen angesehensten Konkurrenten in der internationalen Gelehrtenwelt, der Verbreitung atheistischer Lehren und der Untergrabung der Religion. Die Anklage war für Newton umso gefährlicher, als sie nicht ganz unberechtigt erfolgte. Stand Newton doch seit langem im Verdacht, pantheistische Positionen zu vertreten, also in der Gleichsetzung von Gott und Natur die Existenz eines von der Welt unabhängigen Gottes zu leugnen.1 Baruch Spinoza, der holländische Freigeist, war dafür in den 1670er Jahren von seiner jüdischen Heimat­gemeinde in Amsterdam als Häretiker ausgeschlossen worden. Und auch Newton konnte seine Regius-Professur für Mathematik in Cambridge nur antreten, weil ihm der König den sonst üblichen Eid auf die Religionsverfassung des Landes erlassen hatte. 1 Siehe James Gleick, Isaak Newton. Die Geburt des modernen Denkens, Zürich 2004, S. 114 f.

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Sollte die Anklage zutreffen, so bedeutete dies für Newton über die kirchliche Verdammung seiner Ansichten hinaus auch die Gefährdung seiner persönlichen Stellung als öffentlicher Professor, als Präsident der Royal Society in London und als Direktor der königlichen Münze, mithin seiner ganzen bürgerlichen Existenz. Die Prinzessin von Wales ging daher behutsam vor, als sie Samuel Clarke, den Hofprediger in London und engen Vertrauten Newtons, bat, Newton in einer Gegendarstellung gegen die Vorwürfe in Schutz zu nehmen.2 Daraus entwickelte sich in der Folge eine öffentliche Brief-Kontroverse, an der mittels Abschriften große Teile der gelehrten Welt Europas Anteil nahmen und die zu den wichtigsten philosophischen Kontroversen der Neuzeit gerechnet werden kann. Sie zog sich in je fünf Briefen von beiden Seiten über fast ein Jahr hin und endete mit einem offenen Patt – nicht nur bedingt durch Leibniz’ Tod im November 1716, sondern auch weil sich die widerstreitenden Positionen zunehmend verhärteten. Wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis soll mit ihr die folgende Erörterung historischer Zeitkonzepte seit dem 18. Jahrhundert einsetzen. Die Kontroverse berührte viele Themen, im Kern aber stritten Leibniz und Newton beziehungsweise sein Verteidiger Clarke um das Wesen von Raum und Zeit, genauer gesagt darum, ob Raum und Zeit Wesen beziehungsweise Substanzen seien, die unabhängig von den realen Dingen dieser Welt existierten oder nicht.3 Existierten Raum und Zeit auch dann, wenn es, wie im absoluten Vakuum, keine Dinge gab, die in ihnen vorhanden waren? Newton behauptete dies, er schrieb Raum und Zeit damit allerdings Eigenschaften wie Ewigkeit, Allpräsenz und Unwandelbarkeit zu, die auch Gott zukamen. Seine Theorie setzte sich dadurch der Kritik aus, Gott mit Raum und Zeit gleichzusetzen, Gott also als weltimmanentes Wesen zu begreifen. Gegen solche damals von den großen Religionsgemeinschaften als häretisch verworfenen Thesen suchte er sich zwar zu verteidigen, indem er Raum und Zeit mal als Organ, mal als Eigenschaft beziehungsweise Merkmal Gottes, dann auch wieder als Folge von Gottes Existenz beschrieb, doch blieben solche Beschreibungen stets recht unanschaulich und daher auch für Leibniz unglaubwürdig. Leibniz, der Newtons Theorie von der Absolutheit von Raum und Zeit ablehnte, beschrieb diese stattdessen als reine Relationsbegriffe: Raum nannte er die Ordnung dessen, was gleichzeitig existiert, Zeit die Ordnung dessen, was aufeinanderfolgt. Dinge, die solchermaßen zusammenhingen, galten ihm als Lebenseinheiten. Solche Lebenseinheiten, in denen eine bestimmte raum-zeitliche Ordnung herrschte, nannte Leibniz Monaden. Einen Raum und eine Zeit jenseits solcher Monaden, in dem sie sich bewegten, gab es für ihn nicht: Eine solche Vorstellung, wie sie Newton behaupte, sei eine rein abstrakte Einbildung 2 Samuel Clarke, Der Briefwechsel mit Gottfried Wilhelm Leibniz von 1715/16, hg. v. Ed­ Dellian, Hamburg 1990, S. XIII–XV. 3 Gernot Böhme, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt 1974, S. 195.

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von Philosophen ohne Realitätsgehalt.4 Doch damit setzte er sich seinerseits der nur schwer zu beantwortenden Frage aus, wie die vielen Zeit- und Raumordnungen zwischen den Dingen nun wiederum ihrerseits verflochten waren. Leibniz’ Lösung dieses Problems war nicht weniger spekulativ und unanschaulich als diejenige von Newton. Sie lief auf die Lehre von einer in allen Dingen waltenden prästabilierten Harmonie hinaus: der Annahme einer göttlichen analogia entis, die garantiere, dass alle Monaden, neben und ineinander geschachtelt, nach dem gleichen Bauprinzip konstruiert seien, die kleinste Monade also schon das Lebensprinzip der größten und umfassendsten in sich enthalte. Indem er eine größte, allumfassende Monade, die Welt, annahm, konnte er nun zwar die Existenz eines externen absoluten Raumes und einer eben solchen Zeit außerhalb aller Monaden ausschließen. Er musste aber für die Dar­ legung des raum-zeitlichen Bauprinzips innerhalb dieser umfassenden Monade auf das schwache Erklärungsmuster einer Analogie zurückgreifen. Dem Streit zwischen Newton und Leibniz fehlte es nicht an Versuchen, dem Gegner Widersprüche nachzuweisen. Die meisten Invektiven kamen von Leibniz und richteten sich gegen das von Newton postulierte Verhältnis von Gott und Welt: Wenn Newton etwa den Raum als »Organ« Gottes bezeichne, schrieb Leibniz, so behaupte er, dass Gott zur Wahrnehmung der Dinge eines Mittels bedürfe, die Dinge also von ihm unabhängig und mithin auch nicht von ihm erschaffen seien; wenn Raum und Zeit »absolute Wesenheiten« wären, wie Newton behaupte, so wären sie Dinge, die keinen hinreichenden Grund hätten, was dem (von Leibniz aufgestellten) Satz vom hinreichenden Grund aller Dinge widerspräche; wenn Raum und Zeit schließlich »Eigenschaften« oder »Merkmale« Gottes seien, so müssten sie doch Eigenschaften irgendeiner Substanz sein. Von welcher Substanz aber wäre der leere Raum eine Eigenschaft?5 Clarke als Verteidiger Newtons ging indessen seltener zum Gegenangriff über: so etwa wenn er argumentierte, Raum und Zeit könnten keine bloßen »Relationen« zwischen den Dingen sein, weil sie Mengen seien, die eine absolute Größe auszudrücken erlaubten; oder wenn er auf den möglichen Widerspruch in Leibniz’ Theorie hinwies, dass zwei völlig gleiche Dinge in Raum und Zeit doch zwei verschiedene Lagen einnehmen könnten, was in Leibniz’ Theorie aber nicht vor­ gesehen sei.6 4 »Bloße Mathematiker, die sich mit dem Spiel der Einbildung begnügen, sind im Stande solche Begriffe auszuhecken; aber diese haben vor höheren Vernunftgründen keinen Bestand.« Leibniz, 5. Brief, § 29. Clarke, Briefwechsel, S. 72 f. 5 Leibniz, 1.  Brief, Abs.  3; 3.  Brief, Abs.  5; 4.  Brief, Abs.  8–10. Clarke entgegnete dem, Gott nehme die Dinge nicht durch ein Organ im Sinne eines Hilfsmittels, sondern »durch seine unmittelbare Gegenwart« wahr (1. Brief, Abs. 3); Raum und Zeit seien auch nicht »absolute Wesen«, sondern »Merkmale« bzw. »Eigenschaften« Gottes (3. Brief, Abs. 3); der leere Raum schließlich sei keine Eigenschaft ohne Subjekt, vielmehr sei er nur leer von Körpern, während auch in ihm stets Gott gegenwärtig sei (4. Brief, Abs. 8). 6 Clarke, 3.  Brief, Abs.  4. Leibniz entgegnete dem, auch Relationen könnten Mengen aus­ drücken; und zwei völlig gleiche Dinge gebe es in der Natur nicht. Brief 4, Abs. 4–6.

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In einem allerdings waren sich Newton und Leibniz einig: Raum und Zeit mussten in Zusammenhang mit der Existenz Gottes gedacht werden. Gott war das Prinzip, das allen Dingen allererst ihr Leben und damit ihren Zusammenhang gab.7 Raum und Zeit waren nicht als abstrakte Kategorien, als begriffliche Abstraktionen zu denken, sondern nur als konkreter Lebenszusammenhang. Für Newton zeigte sich dieser Zusammenhang darin, dass Gott in allen Dingen anwesend war: nicht, wie Leibniz ihm vorwarf, indem er in ihnen aufging, sich in seiner Existenz von der räumlichen und zeitlichen Existenz der Dinge abhängig machte; wohl aber darin, dass er als belebendes, Verbindung stiftendes Wesen in und zwischen ihnen wirkte. Für Leibniz bestand der Zusammenhang dagegen darin, dass Gott eine prästabilierte Harmonie zwischen allen Monaden, einen grundsätzlichen Zusammenhang des Abbilds des Großen im Kleinen und des Kleinen im Großen gestiftet hatte. Ohne Gott verlor die gesamte Monadenwelt auch bei ihm ihre innere Ordnung, ihr Lebensprinzip. 2. Der doppelte Zeitbegriff in der Geschichte Die Kontroverse zwischen Leibniz und Clarke ist für die moderne Geschichtswissenschaft von grundlegender Bedeutung. Anders nämlich, als manche Interpreten meinten, folgte diese nicht allein Leibniz’ Raum- und Zeit-Konzeption.8 Vielmehr stützt sie sich in ihren historischen Zeitmodellen seit dem 18. Jahrhundert auf beide Theorien: auf Newtons Konzept der abstrakten, von allen Dingen leeren und sie doch durchwaltenden Zeit vor allem bei der Konstruktion des neuzeitlichen Weltkalenders; auf Leibniz’ Konzept der inhaltlich strukturierten Zeit bei der Konstruktion unzähliger historischer Individuen. Darunter fiel alles, was in seiner zeitlichen Ausdehnung einen einheitlichen Charakter annimmt. Newtons Theorie begründete die leere, rein mathematische (und doch von Gottes Anwesenheit durchwaltete) Zeit, Leibniz’ Theorie hingegen die gefüllte, sich in Individuen verkörpernde Zeit.9 Die neuzeitliche Geschichtsschreibung kommt seither ohne keine von beiden aus: ohne das Konzept einer inhaltlichen, sich verkörpernden Zeit nicht, weil sie sonst keine historischen Subjekte und Sinneinheiten hätte, die sich in der Zeit entfalten könnten.10 Sie kommt aber auch ohne das Konzept der leeren, mathematischen Zeit nicht aus, weil diese, 7 »Da Gott allgegenwärtig ist, so ist er in jedem Ding gegenwärtig, wesentlich und substantiell.« Clarke, 3. Brief, Abs. 12. 8 Siehe etwa Ed Dellian in Clarke, Briefwechsel, S. XXIII f. 9 Zur ähnlich gelagerten Antinomie von leerer und geformter Zeit siehe Siegfried Kracauer, Geschichte. Vor den letzten Dingen, Frankfurt 1971, S. 162–188 (Kap. 6: »Ahasver oder das Rätsel der Zeit«). 10 Dabei ging es nicht allein um soziale Subjekte wie Menschen, Völker und Klassen, sondern auch um Ideen und Zeitabschnitte: Epochen, Jahrhunderte oder Zeitalter wie das Zeitalter des Humanismus oder der Renaissance. Siehe dazu auch George Kubler, The Shape of Time.

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etwa im Datierungsprinzip des Kalenders, die Dimension vorgibt, in der sich alle historischen Individuen begegnen und miteinander verbinden können.11 Neuzeitliche Geschichtsschreibung vollzieht sich seit dem 18.  Jahrhundert immer im Zusammenspiel von leerer und gefüllter Zeit. Das gilt heute ebenso wie im 18. Jahrhundert. Allerdings zeigte die neuere Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung ein auffallend geringes Interesse für die Leistungen von Newtons Konzept der leeren Zeit und konzentrierte sich weit mehr auf Leibniz’ Konzept der gefüllten Zeit. Dabei liegt dessen Bedeutung nicht allein in der Konstruktion einer homogenen, unendlichen und universalen Weltzeit, wie sie sich heute im abstrakten Weltkalender präsentiert, sondern auch in der Etablierung eines historischen Wirklichkeitsverständnisses, das alle Dinge und Ereignisse, sofern sie ihren festen Ort in Raum und Zeit haben, miteinander in Beziehung setzt.12 Die Unterscheidung zwischen leerer und gefüllter Zeit durchzieht in der neuzeitlichen Geschichtsschreibung seit dem 18.  Jahrhundert auch formale Zeitkategorien, etwa die Kategorien der Folge und der Gleichzeitigkeit. Mit ihnen hatte Leibniz die Ordnungen von Raum und Zeit unterschieden, sie haben aber auch in Newtons Zeit- und Raumtheorie ihre Bedeutung. »Folge« etwa bezeichnet als leere Zeitkategorie nichts weiter als das zeitliche Aufeinanderfolgen zweier Zustände oder Ereignisse, als Kategorie gefüllter Zeit dagegen einen inhaltlichen, in der Regel kausalen Zusammenhang zwischen ihnen; ebenso bezeichnet »Gleichzeitigkeit« als leere Zeitkategorie nichts weiter als die Tat­sache, dass zwei Ereignisse zur selben Zeit stattfinden, als Kategorie gefüllter Zeit dagegen die Tatsache, dass sie eben, weil sie gleichzeitig stattfinden, auch inhaltlich etwas miteinander gemein haben. Die leeren Zeitkategorien versehen einen Ereigniszusammenhang mit potentiellem Sinn, in den gefüllten Zeit­kategorien verbinden sich die leeren Zeitbestimmungen mit bestimmtem Sinn.13 Dasselbe gilt auch für das Konzept der »Dauer«.14 Als leere Zeitkategorie verwenden dieses Historikerinnen und Historiker bis heute, wenn sie einen bestimmten Zeitabschnitt thematisieren, in dem sich viele Ereignisse oder auch Zeitabläufe zugetragen haben mögen; als gefüllte Zeit dagegen, wenn sie dieser Zeitspanne einen einheitlichen Charakter zuschreiben. Als Beispiel kann etwa die Diskussion um die Periode 1914 bis 1945 dienen. Als leere Zeit verstanden enthält sie eine Fülle disparater Ereignisse in Deutschland: neben den beiden Weltkriegen zum Beispiel auch die Zeit der Weimarer Republik, des Dritten Reiches und vieles andere, was sich mit deren Dauer wiederum überRemarks on the History of Things, New Haven 1962, S. 167 (dt.: Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge, Frankfurt 1982). 11 Günther Dux, Die Zeit in der Geschichte. Ihre Entwicklungslogik vom Mythos zur Weltzeit, Frankfurt 1989. 12 Siehe Abschnitt V. 13 Zum Zusammenhang von Zeit und Sinn siehe Jörn Rüsen, Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt 1990. 14 Siehe Wolfgang Wieland, Art. Dauer, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel 1972, S. 26 f.

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lagerte. Als gefüllte Zeit kann man sie dagegen auch als zusammenhängende Ereignisabfolge mit gemeinsamer Signatur verstehen, wie dies etwa in der Bezeichnung als »Zweiter Dreißigjähriger Krieg« oder, bezogen auf die Periode 1918 bis 1939, als »Zwischenkriegszeit« zum Ausdruck kommt.15 Ähnliche Umdeutungen einer leeren Zeitdauer zwischen zwei Eckdaten zu einer gefüllten Zeitdauer mit einheitlichem Charakter begegnen auch schon in der älteren historischen Literatur, etwa in Droysens Hellenismus-Konzeption oder in der Mittelalter-Forschung des 19. Jahrhunderts. Leere Zeitdauer bietet einen Raum für die ganze Mannigfaltigkeit des historischen Lebens, lässt deren Zusammenhang aber zunächst weitgehend offen. Gefüllte Zeitdauer dagegen stellt den zeitlichen Wandel entweder still, sodass alles in ihm gleichzeitig zu sein scheint, oder sie gibt ihm eine ganzheitliche Gestalt in Form eines inneren Gestaltwandels, etwa in der individuellen Lebensmetapher der Zusammenhang von Jugend und Alter oder in der organischen Einteilung von Epochen wie der Renaissance in eine Früh-, Hoch- und Spätrenaissance.

II. Historische Zeitgärten des 18. Jahrhunderts An der 1737 neu gegründeten Universität Göttingen rief der 1759 berufene Historiker Johann Christoph Gatterer (1727–1799) 1764 eine Historische Akademie ins Leben, die sich der systematischen Erforschung der theoretischen und methodologischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft widmete.16 Unter den zahlreichen Kollegen, die er in den folgenden Jahren nach Göttingen ziehen konnte, trat vor allem August Ludwig Schlözer (1735–1809) als überaus erfolgreicher Lehrer und Weiterentwickler von Gatterers Wissenschaftskonzeption an dessen Seite. Beide setzten sich zum Ziel, in der Folge des philosophischen Programms von Christian Wolff (1679–1754) more geometrico die Welt der Geschichte neu zu vermessen und damit in der Geschichte gewissermaßen historische Zeitgärten anzulegen.17 15 Siehe Arno J. Mayer, Der Krieg als Kreuzzug. Das Deutsche Reich, Hitlers Wehrmacht und die »Endlösung«, Reinbek 1989; Hans-Ulrich Wehler, Der zweite Dreißigjährige Krieg. Der Erste Weltkrieg als Auftakt und Vorbild für den Zweiten Weltkrieg, in: Die Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts (= Spiegel Special, H. 1), Hamburg 2004, S. 138–143. 16 Zum Folgenden siehe Gérard Laudin, L’histoire comme science de l’homme chez Gatterer et Schlözer, in: Philippe Büttgen u. a. (Hg.), Göttingen vers 1800. L’Europe des sciences de l’homme, Paris 2010, S.  483–514; Martin Gierl, Geschichte als präzisierte Wissenschaft.­ Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts im ganzen Umfang, Stuttgart 2012. 17 Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Frankfurt 1733. Siehe Werner Schneiders, Aufklärung durch Geschichte. Zwischen Geschichtstheologie und Geschichtsphilosophie. Leibniz, Thomasius, Wolff, in: Albert Heinekamp (Hg.), Leibniz als Geschichtsforscher, Stuttgart 1982, S. 79–99. Zum Konzept des Zeitgartens siehe Abschnitt II.3, Anm. 45.

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1. Geographie und Geschichte Schon in seiner Zeit als Lehrer der Geographie und Geschichte in Nürnberg griff Gatterer seit 1752 auf die neuesten Entwicklungen in den geographischen Wissenschaften zurück.18 Dort hatte sich seit Ende des 17. Jahrhunderts die Vermessung der Erdoberfläche mithilfe von Längen- und Breitengraden durch­ gesetzt: Ausgehend von einem willkürlich gewählten Nullpunkt  – zunächst wurden dafür verschiedene markante Hauptstädte wie Paris und Rom, schließlich aber die britische Sternwarte Greenwich bei London gewählt  – gliederte man die Weltkugel in regelmäßig verteilte Längen- und Breitengrade und entwickelte so ein globales Orientierungsraster, innerhalb dessen jeder Punkt auf der Erde durch die Angabe des jeweiligen Längen- und Breitengrades theoretisch exakt angegeben werden konnte.19 Die Anwendung dieses einfachen Systems der Vermessung wurde allerdings noch längere Zeit behindert, zunächst dadurch, dass man die Erdkugel als vollkommene Kugel angesehen hatte. Erst seit den Forschungen von Picard, R ­ icher, Huygens und Newton im letzten Drittel des 17.  Jahrhunderts erkannte man, dass die Erde tatsächlich eine plattgedrückte Kugel ist, die Breitengrade im Norden und Süden der Erde daher näher beieinander liegen als am Äquator.20 Doch auch in der Folge gab es noch Schwierigkeiten bei der praktischen Berechnung des Längengrades, denn diese war nur mithilfe einer exakten Angabe des Mond- und Sonnenstandes möglich. Dafür aber fehlten vor allem auf See bis in die 1770er Jahre die technischen Hilfsmittel. Gatterer nahm selbst durch seinen Göttinger Kollegen, den Mathematiker und Kartographen Tobias Mayer (1723–1762), an den neuesten Entwicklungen teil. Von den neuen Bestimmungsmöglichkeiten geographischer Orte und Ausdehnungen machte er in seinen geographischen Lehrbüchern, vor allem dem »Abriss der Geographie« (1775), sofort und ausgiebig Gebrauch, indem er neben bestimmten Orten auch Gebirge, Flussläufe und ganze Länder und Kontinente in ihrer genauen geographischen Ausdehnung angab.21 Das war seinem

18 Siehe Werner Wilhelm Schnabel, Johann Christoph Gatterer in Nürnberg. Über die Frühzeit des Göttinger Historikers, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für Mittelfranken 96. 1992/1993, S. 61–109. 19 Siehe Isabelle Surun, Le blanc de la carte, matrice de nouvelles répresentations des espaces africains, in: Isabelle Laboulais-Lesage (Hg.), Combler les blancs de la carte. Modalités et enjeux de la construction des savoirs géographiques, XVIe-XXe siècle, Straßburg 2004, S. 117–144. 20 Diese Entwicklung schilderte Johann Christoph Gatterer selbst in seinem Abriss der Geographie, Göttingen 1775, S. 28–32. 21 »Zu jeder Begebenheit gehört, ihrem Wesen nach, Zeit und Ort, wenn und wo sie geschehen ist.« Ebd. S. 4. »Wer die Länge eines geographischen Gegenstandes nebst der Polhöhe oder geographischen Breite derselben weiß, kann die Lage eines solchen Gegenstandes pünktlich angeben.« Ebd. S. 7.

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Geschichtsentwurf zufolge nun aber auch für die Geschichtswissenschaft von großer Bedeutung.22 Dieselbe Methode der Rasteridentifizierung übertrug Gatterer dann auch auf die historischen Zeitangaben. Was in der Geographie die Längen- und Breitengrade, das sollten in der Geschichte die Jahres- und Jahrhundertangaben leisten. Sie stellten ein universelles Raster bereit, das unabhängig von allen kulturellen Vorgaben, regionalen Kalendern und religiösen Bindungen jedes Ereignis und jeden Zeitraum auf dem Globus und zu allen Zeiten in ihrer Ausdehnung exakt datieren ließ. Gatterers »Abriss der Chronologie« von 1777, in dem er die allermeisten damals bekannten Kalender in den christlichen Weltkalender überführte, bildete so gerade im Kontext seiner Arbeiten zur Universalgeschichte einen großen Fortschritt bei der Vermessung der Welt. Er trug damit allerdings auch erheblich zur Europa-Zentrierung der neuen »universalistischen« Geschichtsschreibung bei.23 Newtons Konzept der leeren Zeit fand hier seine bislang stringenteste Umsetzung. Gatterers Chronologie erlaubte nicht nur, jedes Einzelereignis, wo immer es auch stattgefunden hatte, genau zu datieren, sondern auch, verschiedene Ereignisse und Zeitläufte miteinander in Beziehung zu setzen und so im Medium der Zeit historische Verknüpfungen herzustellen, die eben gerade in ihrer zeitlichen Erstreckung ihr wesentliches Bestimmungsmerkmal fanden. Die Zeit wurde damit zum historischen Argument, zum Medium eines potenziellen universalen Sinnzusammenhangs aller wirklichen Dinge. Zusammen mit dem Raum begründete sie eine für das neuzeitliche Wirklichkeitsverständnis grundlegende Dimension.24 Gatterers Wissenschaftskonzeption zielte auf eine vollständige Durchdringung von Geographie und Geschichte. Sein Bestreben sei es, hieß es 1775 im »Abriss der Geographie«, »die wahre Gestalt der Erde und ihrer Bewohner in jedem Zeitalter« kennenzulernen.25 So dehnte er nicht allein das Feld der Geschichtswissenschaft durch Einbezug von Regionen der Erde wie Ostasien aus, die in der Geschichtsschreibung bislang nur selten und unsystematisch berücksichtigt worden waren, sondern er verlieh auch umgekehrt der Geographie eine historische Dimension. Sie solle, so Gatterers Anspruch, nicht allein den gegenwärtigen Zustand der Erde, sondern auch frühere Stationen ihres Wandels ge-

22 »Besonders wichtig ist, nicht nur dem Geschichtskundigen, sondern auch jedem Geschichts­ liebhaber, die Kenntnis von Graden der Länge und Breite: aus deren Vereinigung die Netze der Landkarten, das ist die Bestimmungslinien der Lagen bestehen.« Johann Christoph Gatterer, Einleitung in die synchronistische Universalhistorie zur Erläuterung seiner synchronistischen Tabellen, Göttingen 1771, S. 12. 23 Siehe stellvertretend für eine breite Literatur Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, hier S. 129–180. 24 Siehe hierzu etwa Georg Simmel, Das Problem der historischen Zeit [1916/1922], in: ders., Das Individuum und die Freiheit. Essais, Berlin 1957/1984, S. 48–60. 25 Gatterer, Geographie, S. 3.

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nau dokumentieren.26 Selbst die Messinstrumente des Wandels, Zeit- und Längenmaße, unterwarf Gatterer einer konsequenten Historisierung.27 Allerdings diente ihm die Historisierung der Kategorien menschlicher Welterfassung noch nicht wie der modernen Mentalitätsgeschichte dazu, zur Entwicklung einer Darstellung multipler Wirklichkeiten einzuladen; und ebenso wenig nutzte er seine Methode zur konsequenten Erforschung historisch leerer Räume, wie die Geographen dies mittlerweile durch die Eingrenzung »weißer Flecken« auf dem Globus begonnen hatten.28 Ein bekanntes Beispiel hierfür hatte 1749 der französische Kartograph JeanBaptiste d’Anville mit seiner berühmten Afrikakarte geliefert. In ihr war zum Beispiel der Verlauf des Niger nur in seinen damals schon erforschten Teilen, das heißt ohne Ergänzungen über seinen vermutlichen weiteren Verlauf verzeichnet. Nicht erkennbar war aus ihr unter anderem, wo der Niger in den Atlantik mündete. Die Beschränkung der Darstellung auf das bislang bekannte Wissen eröffnete neue geographische und epistemische Räume für weitere Erkundungen, markierte in Leerräumen also genau, wohin sich die Forschung künftig zu bewegen habe. Eine analoge Markierung leerer Zeiten wäre im Prinzip auch in der Geschichtswissenschaft möglich gewesen. Gatterer und mit ihm auch die folgenden Historikergenerationen vermieden sie jedoch, vermutlich weil dafür die Erhebung zusätzlicher Informationen nötig gewesen wäre, an deren Beschaffungsmöglichkeit sie nicht glauben mochten. Sie legten dafür aber den Grund, indem sie die Historiker dazu anleiteten, in der Geschichte nur noch das zu verzeichnen, was quellenkritisch abgesichert oder als historisch wahrscheinlich ausgewiesen war. Legenden, Mythen und andere unsichere Überlieferungen wurden dagegen seither aus der Geschichtserzählung ausgegrenzt. 2. Das Konzept der Gleichzeitigkeit Im universalgeschichtlichen Entwurf der Göttinger Historiker hatte schon früh das Konzept der Gleichzeitigkeit eine zentrale Rolle gespielt.29 Die Vorstellung gleichzeitiger Ereignisse war auch schon in der älteren Geschichtsschreibung keineswegs unbekannt gewesen, etwa wenn Ereignisse aus verschiedenen 26 »Auch die Menschen haben keinen geringen Anteil an der Veränderung des Erdbodens […]. Mit diesen bald schnell, bald langsam erfolgenden Veränderungen sollte die Geographie immer in gleichförmigen Schritten fortgehen.« Gatterer, Einleitung, S. 14. 27 »In den ersten Zeiten des Menschengeschlechts und in den rohen Zeiten aller, auch späterer Völker, selbst noch in unseren Tagen findet man Abstand und Umfang der Länder, Örter, Wälder etc. […] nur nach Tagereisen angegeben. Erst mit dem Fortgang der Aufklärung kamen einige alte Völker auf Stadien und andere Arten von Meilen.« Ders., Geographie, S. 12. 28 Siehe hierzu Surun, Le blanc. 29 Ebenso wie das Konzept entstand auch das Wort »Gleichzeitigkeit« erst um die Mitte des 18.  Jahrhunderts; siehe Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch [1854–1954], München 1984, Bd. 7, Sp. 8280–8282.

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Kulturkreisen dadurch aufeinander bezogen wurden, dass man sie demselben Zeitpunkt zuwies. Berühmt geworden ist zum Beispiel die von Titus Livius vorgenommene zeitliche Gleichsetzung des Sturzes des letzten römischen Königs Tarquinius Superbus mit dem Tyrannenmord der Brüder Harmodios und Aristogeiton in Athen im Jahre 510 vor Christus. Die chronologische Gleichzeitigkeit stand für die Gleichartigkeit des Geschehens in unterschiedlichen Kulturen. Auch bei späteren Historikern finden sich immer wieder Beispiele für solche Synchronisationen von historischen Ereignissen, welche auf die innere Verwandtschaft zweier Ereignisse verwiesen.30 Seit alters vertraut war auch die Anlage sogenannter synchronistischer Tabellen nach dem Vorbild des chronologischen Kanons des Eusebius von Caesarea, der solche Tabellen schon im 4. Jahrhundert nach Christus angelegt hatte. Darin waren in der Folge der Jahrhunderte und Jahrzehnte die Namen der antiken Herrscher aller von ihm berücksichtigten Reiche mit allen bedeutenden Ereignissen ihrer Zeit »synchronistisch«, das heißt in parallelen Spalten auf gleicher Höhe verzeichnet. Auch andere Autoren legten in der Folge ähnliche synchronistische Tabellen an.31 Anders als ihnen dienten Gatterer und den ihm folgenden Historikern diese Tabellen aber nicht mehr dazu, gleichartige und heilsgeschichtlich relevante Ereignisse aufeinander zu beziehen, sondern um mit ihrer Hilfe die gesamte Weltgeschichte in einen allgemeinen Sinn­ zusammenhang zu bringen. Angeregt wurde er durch das von Christian Wolff propagierte Wissenschaftskonzept einer »geometrischen« Darstellung der Welt, welche die Verkettung allen Lebens aufwies.32 Bei der historiographischen Umsetzung dieses Konzepts lief Gatterer allerdings bald sein jüngerer Kollege August Ludwig Schlözer den Rang ab. In seinem universalgeschichtlichen Entwurf von 1772 arbeitete er das Konzept der historischen Verkettung allen Lebens weiter aus, indem er vom diachronen »Realzusammenhang« der Dinge, die »als Ursachen und Wirkungen in einander gegründet sind«, den synchronen »Zeitzusammenhang« alles dessen unterschied, was gleichzeitig geschah.33 Diese synchronistische Lesart der Geschichte 30 Siehe z. B. Jacob Benignus Bossuet, Einleitung in die allgemeine Geschichte der Welt bis auf Kaiser Carln den Großen, Leipzig 1757, S. 34 f. 31 So z. B. Jacques Barbeu du Bourg, Chronographie, ou description des tems, contenant toute la suite des souverains de l’univers et des principaux événements de chaque siècle, Paris 1753; Gatterer, Einleitung. Siehe Catherine Colliot-Thélène, Chronologie und Universalgeschichte, in: Johannes Rohbeck u. Herta Nagl-Docekal (Hg.), Geschichtsphilosophie und Kulturkritik. Historische und systematische Studien, Darmstadt 2003, S. 21–48, hier S. 22. 32 Siehe Arthur Oncken Lovejoy, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea [1936], Cambridge, MA 1957. 33 August Ludwig Schlözer, Vorstellung seiner Universal-Historie [1772], Göttingen 1997, S. 46. »Der bloße Realzusammenhang hat unter Begebenheiten statt, die nicht in einander gegründet, aber doch gleichzeitig sind: das ist unter Factis, die in ganz verschiedenen Ländern oder in verschiedenen Weltteilen, aber doch zu einerlei Zeit geschehen sind. So hängen Confucius und Anakreaon, Daniel und Tarquin der Alte, der Mongolische Timur und die Skandinavische Margaretha zusammen. Diese Personen lebten zu einerlei Zeit, sie wussten

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stellte sich den Göttinger Historikern als ebenso schwierig dar wie die Berechnung des Längengrades in der Geographie.34 Um die Schwierigkeiten einer synchronistischen Lesart der Geschichte zu meistern, griff Schlözer auf ein Konzept zurück, das im theologischen Diskurs schon seit langem für alle übersinnlichen, metaphysischen Zusammenhänge bereit stand, bei ihm nun aber eine neue, säkulare Bedeutung annahm: das Konzept des Geistes. Schon Leibniz hatte es nach dem Vorbild von Henry More und anderen ins Spiel gebracht, als er den Zusammenhang der Dinge in Raum und Zeit erläuterte:35 Dinge, die zur gleichen Zeit existieren, sind durch einen gemeinsamen Geist verbunden. Diese Denkfigur machte im 18. Jahrhundert Schule. Montesquieus »Lettres persanes« (1721) und seine berühmte Schrift »De l’esprit des lois« (1748), auch Voltaires »Essay sur les mœurs et l’esprit des nations« (1756) sorgten dafür, dass Nationen als Gemeinschaften verstanden wurden, die in ihrem Leben und Handeln von einem je eigenen »Geist« (esprit) bestimmt wurden. Wie sah das konkret aus? Montesquieu ging davon aus, dass Nationen auf der Grundlage allgemeiner Vernunftgesetze der Menschen durch national verschiedene Einflüsse geprägt seien, etwa vom Klima und der Bodenbeschaffenheit des Landes, in dem sie lebten. »Wenn ich auf die Antike zurückgegriffen habe«, schrieb er 1748 im Vorwort zum »Geist der Gesetze«, »habe ich mich bemüht, ihren Geist zu treffen, um nicht Dinge für ähnlich zu halten, die in Wirklichkeit verschieden sind, und nicht die Unterschiede unter den ähnlich erscheinenden zu verfehlen.«36 Voltaire entwarf die Weltgeschichte als erster unter dem Begriff einer philosophie de l’histoire als ein System, in dem alle Teile wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen. In ganz Europa, auch in Deutschland, wurde diese Vorstellung schnell aufgegriffen; der damals neu entstandene,

aber nichts von einander: unter ihnen ist also ein bloßer Zeitzusammenhang, wenigstens nach unserm beschränkten Begriffe; denn ein höherer Geist, der die Verkettung aller Dinge unseres Erdbodens durchschaut, würde auch unter ihnen eine entweder spätere oder frühere Realverbindung finden. Hier ist die Forderung der Universalgeschichte, alle gleichzeitige[n] Facta zu kombinieren, sich die Tage der Welt in jedem gegebenen Zeitalter auf einmal vorzustellen, und solchergestalt jede einzelne Begebenheit synchronistisch zu denken.« Ebd., S. 48 f. 34 »Begebenheiten, die von Natur in einander verflochten sind, lassen sich eben dadurch leicht als gleichzeitig denken: aber Begebenheiten ohne allen merklichen Realzusammenhang, die Siege des Timurs und die Intrigen der Margaretha, wie lassen sich diese als koexistent behalten? Sie haben keine Verbindungspunkte, sie verhalten sich eben so willkürlich wie Wörter und Ideen zusammen, und die systematische Weltgeschichte scheint dadurch eine eben so lästige Memoriensache wie das Sprachenlernen zu werden.« Ebd., S. 50. 35 Gottfried Wilhelm Leibniz, Betrachtungen über die Lehre von einem einzigen allumfassenden Geist, in: ders., Fünf Schriften zur Metaphysik, hg. v. Herbert Herring, Stuttgart 1966, S. 51–65. 36 Charles de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze [1748], hg. v. Ernst Forsthoff, Tübingen 1992, S. 5 f.

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vor allem von Herder im Deutschen eingeführte Begriff des Volksgeists zeugt davon bis heute.37 Zur selben Zeit, gegen Ende des 18.  Jahrhunderts, entstand im Deutschen aber auch der Begriff des Zeitgeists.38 Ebenso wie die Begriffe Zeitgenosse, Zeitbedürfnis, Zeitgemäßheit und andere verdankte er im 18. Jahrhundert der damals neuen Kategorie der Gleichzeitigkeit seine Entstehung. Anders als der Volks- beziehungsweise der Nationalgeist fasste der Zeitgeist den Geist allerdings nicht diachron über die Zeiten hinweg, sondern synchron in einer bestimmten Epoche. Das Wörterbuch der Brüder Grimm definiert ihn, mit Erstbeleg in Goethes »Wilhelm Meister«, als »die zu einer Zeit geltenden Meinungen, Geschmack, Wille«.39 Obwohl neuerdings gelegentlich eine gewisse Skepsis gegenüber dem metaphysisch angelegten Begriff zu hören ist, kann doch auch die neuere Geschichtsschreibung nicht auf die Argumentationsfigur verzichten, dass, was gleichzeitig stattfindet, auch inhaltlich zusammengehört.40 Alle Geist-Konzepte spiegeln zentrale Elemente der Geschichtsphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Teils verweisen sie auf den diachronen, teils auf den synchronen Zusammenhang der Welt- beziehungsweise der Universalgeschichte jenseits aller empirischen Einwirkungen menschlicher Handlungen aufeinander. Seither bilden die synchrone und die diachrone Lesart der Geschichte methodische Alternativen, deren Gebrauch stark die narrative Struktur jedweder Einzelgeschichte bestimmt.41 Für Schlözer bildeten sie, zumindest ana­lytisch gesehen, geradezu alternative Geschichtsentwürfe, welche beide ihre Berechtigung hätten, aber nicht wirklich kombinierbar seien.42 Die Annahme eines Geistes in und über allen empirischen Fakten war eine wichtige konzeptuelle Hilfe bei der Transformation der Geschichte zur Wissen37 Erhard Wiersing, Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte, Paderborn 2007, S. 259. Ein ganz ähnliches Anliegen verfolgte z. B. auch Lessing im Streit mit Pastor Goetze, wenn er den »Geist«, nicht den »Buchstaben« der biblischen Schriften zu erfassen suchte. 38 Werner Conze u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 8.2 (Register), Stuttgart 1997, S. 1275; Joachim Ritter u. a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 20012, Sp. 2011. 39 Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 31, S. 558 f. 40 Siehe hierzu die weitere Diskussion dieses Konzepts im Abschnitt IV. 4. 41 Dabei kann es allerdings auch zu kunstvollen Ineinanderblendungen synchroner und diachroner Erzählstränge kommen, etwa wenn Heinrich von Treitschke in seiner Darstellung der Vorgänge zur Zeit der Juli-Revolution von 1830 jeweils diachron dem Gang der Ereignisse in einzelnen europäischen Ländern folgt, die chronologische Folge dann aber nach einigen Jahren abbricht, um zur Darstellung desselben Zeitabschnitts in einem anderen Land überzugehen. Siehe Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert [1889], 4. Teil, Königstein 1981, S. 3–97. Ein Beispiel für die synchronistische Zusammenstellung diachroner Darstellungen einzelner gesellschaftlicher Teilbereiche bietet Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987–2008. 42 Daher forderte Schlözer: »Jede Reihe von Begebenheiten muss auf eine doppelte Art gelesen werden: einmal in die Länge, vor- und rückwärts; und dann in die Breite, seitwärts oder synchronistisch.« Schlözer, Universal-Historie, S. 46.

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schaft.43 Sie erhob den Historiker über den Zeitgenossen und stellte ihn gewissermaßen an die Stelle Gottes. Damit stützte sich das Konzept zwar auf eine metaphysische Ausgangshypothese, die sich aus keiner historischen Quelle, keiner Erfahrung ableiten ließ. Aber sie begründete damit einen Begriff von historischer Wirklichkeit und der Einheit der Geschichte, der seine Gültigkeit bis heute nicht eingebüßt hat. Nur Ereignisse, die potentiell miteinander in raumzeitlicher Beziehung stehen können, so lautet das Axiom moderner Geschichtswissenschaft, sind real. Für fiktive, zum Beispiel literarische Ereignisse, gilt dies nicht, so sehr es auch eine ideelle Beziehung zwischen den dort fingierten Ereignissen geben mag. Deshalb müssen fiktive Ereignisse auch von realen Ereignissen unterschieden werden.44 3. Epochenbegriffe Aufgrund ihrer systematischen zeitlichen Anlage lassen sich Geschichtswerke der Aufklärung, dem Vorbild der zeitgenössischen Analogisierung von Raumund Zeitverhältnissen folgend, mit barocken Gartenanlagen vergleichen. Charakteristisch für sie ist, dass sie sich nach außen durch einen Zaun scharf von der wilden Natur abheben. Im Innern sind sie vor allem an ihrer oft symmetrischen Anlage, ihrer Einteilung in proportionierte Flächen von oft ähnlicher Größe und je eigener einheitlicher Bepflanzung zu erkennen. Auch wollen sie aus einer bestimmten Perspektive, im Idealfall von der Beletage des Schlosses aus betrachtet werden. Sie weisen dadurch eine bestimmte Zentralperspektive auf, eine Grundlinie und einen Fluchtpunkt des Blicks, auf den die ganze Anlage zuläuft. All dies lässt sich auch in dem klassischen Geschichtswerk des Barockzeit­ alters, dem »Discours sur l’histoire universelle« (1681) des französischen Kardinals und Hauslehrers Ludwig XV. Jacques Benigne Bossuet (1627–1704), beobachten. Vor allem im ersten Teil besteht der »Discours« aus einem diachronen Durchgang durch die Geschichte, der bis zur Zeit Karls des Großen reicht. Er teilt sich, in Anlehnung an Augustins Gliederung der Weltgeschichte, in sieben Zeitalter, erweitert diese jedoch, um auch die säkulare Geschichte der antiken Mittelmeerwelt einzubeziehen, um weitere fünf Kapitel auf zwölf Perioden. 43 Wie selbstverständlich die Annahme und historische Deutung von Gleichzeitigkeiten im 19.  Jahrhundert geworden war, belegt etwa Johann Gustav Droysen in seiner Historik [1868], hg. v. Rudolf Huebner, Stuttgart 1972, S. 167: »In der Geschichte verläuft natürlich alles unter der Einwirkung von Gleichzeitigkeiten.« 44 Siehe hierzu unten Abschnitt V. Ob die postmoderne Infragestellung dieses Axioms zu einem kohärenten neuen Geschichtsentwurf führen wird, bleibt abzuwarten. Zur Einschätzung ihres theoretischen Potentials siehe etwa Michael Bentley, Modern Historiography. An Introduction, London 1999, S. X f. u. S. 140 f. Zum Verhältnis von fiktiven und realen Ereignissen siehe Lucian Hölscher, Neue Annalistik. Umrisse einer Theorie der Geschichte, Göttingen 2003, S. 30–34.

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So entstand ein historischer »Zeitgarten«, das heißt eine klassische Zeitanlage, welche, dem damaligen Wissensstand entsprechend, gerade noch beanspruchen konnte, die Geschichte der Welt insgesamt zu repräsentieren. Begrenzt wurde sie durch Gottes Heilsplan, von dem die Völker außerhalb Europas und Vorderasiens, also vor allem die Völker Amerikas und Ostasiens, in dieser frühen Zeit noch ausgeschlossen waren.45 Die Begriffe, mit denen Bossuet seine Zeitalter und Zeitperioden bezeichnete, les temps, l’époque, l’ère, le siècle, verhielten sich semantisch noch neutral gegenüber der Unterscheidung von leerer und gefüllter Zeit. Das heißt, sie konnten sowohl im Sinne der abstrakten chronologischen Datierung als auch im Sinne einer inhaltlich gefüllten Zeit gelesen werden: l’époque zum Beispiel bezeichnete noch in erster Linie den kalendarischen Zeitpunkt eines Ereignisses, dann aber auch schon die spätere Sinneinheit eines Zeitraums zwischen zwei epochalen Daten.46 Zeitalter wurden von Bossuet noch im Wesentlichen durch das Auftreten großer historischer Persönlichkeiten und durch große historische Ereignisse bestimmt, nicht wie in Voltaires »Zeitalter Ludwig XIV.« zwei Generationen später durch charakteristische kulturelle Merkmale der Zeit zwischen solchen weltgeschichtlichen Zäsuren.47 Zur Veranschaulichung seiner Geschichtskonzeptionen nutzte Bossuet nicht die Metapher des Zeitgartens, sondern die der geographischen Karte, indem er etwa zwischen allgemeinen und Spezialkarten unterschied und so auf die Notwendigkeit und Möglichkeit einer Distanznahme von den speziellen Eigenheiten jeder partiellen Nationalgeschichte hinwies.48 Eine solche Distanznahme sah er gerade für seinen Zögling, den Dauphin von Frankreich, als ebenso lehrreich wie aben­ teuerlich an.49 45 Der Begriff »Zeitgarten« ist noch nicht zeitgenössisch belegt, sondern von mir gebildet worden, um die eigentümliche Konstruktion einer konkreten historischen Zeitordnung zu veranschaulichen, die sich an das Vorbild konkreter Raumordnungen anlehnt, wie sie damals in der Geographie entworfen wurden. 46 Siehe Reinhart Herzog (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987. 47 Siehe Bossuet, Einleitung, S. 6: »Diese sind Adam oder die Schöpfung; Noah oder die Sündflut; der Beruf Abrahams oder der Anfang des Bundes Gottes mit den Menschen; Moses oder das geschriebene Gesetz; die Einnahme der Stadt Troja; Salomon oder der Bau des Tempels; Romulus oder die Erbauung der Stadt Rom; Kyrus oder das aus der babylonischen Gefangenschaft befreite Volk Gottes; Scipio oder die Überwindung der Stadt Karthago; die Geburt Jesu Christi; Constantin oder der Friede in der Kirche; Karl der Große oder die Aufrichtung eines neuen Kaisertums.« 48 Ebd., S. 4: »Diese Art einer allgemeinen Geschichte ist in Vergleichung mit den Geschichten eines jeden Landes und eines jeden Volkes nichts anderes als was eine allgemeine Landkarte gegen Spezialkarten ist. In den Spezialkarten sehen Sie alle Abteilungen eines Königreiches oder einer Provinz besonders; in den allgemeinen Karten sehen Sie, wie diese Teile der Welt im Ganzen liegen müssen: Sie sehen, was Paris oder die Isle de France im Königreich ist, was das Königreich in Europa und Europa in der ganzen Welt bedeutet.« 49 Ebd., S.  5: »Wenn Sie eine Universalkarte betrachten, so verlassen Sie das Land, wo Sie geboren worden sind, und den Ort der Sie einschließt, um die ganze bewohnte Erde durch-

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Dem kartographischen, an den zeitgenössischen Idealen einer Vermessung der Welt orientierten Interesse von Universalhistorikern kam die Veranschaulichung der Geschichte in räumlichen Kategorien sehr entgegen. Sie erschöpfte sich allerdings gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit dem wachsenden Einfluss poetologischer Konzepte auf die Geschichtsschreibung. Weit wichtiger wurde jetzt die Metapher des Theaters, welche den Gang der historischen Handlung, etwa bei Schiller oder später bei Treitschke, nach dem Vorbild eines Dramas inszenierte. Der Paradigmenwechsel von der Raumvermessung zur Inszenierung der Geschichte nach Art eines Dramas vollzog sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts langsam. Auch die Geschichtswerke der Göttinger Schule waren noch wesentlich vom Ziel der weltgeschichtlichen Zeiteinteilung bestimmt. Sie gingen dabei aber immer mehr zur Darstellung von Gemälden einzelner historischer Epochen über: Um der didaktischen Einfachheit willen gliederte Schlözer seine UniversalHistorie 1772 möglichst in Zeiteinheiten von 400 Jahren oder dem Mehrfachen von ihnen. Ebenso teilte Gatterer seine Universal-Historie 1773 in Großeinheiten von je 1800 Jahren ein, deren Zäsuren beim Turmbau zu Babel, Alexander dem Großen und der Eroberung Konstantinopels lagen.50 Dabei spielten nicht zuletzt didaktische Gesichtspunkte der leichteren Fassbarkeit der Geschichte eine entscheidende Rolle. Um die Weltgeschichte überschaubar darzustellen, schlug Schlözer deshalb weiterhin vor, zunächst einmal die »wüsten Räume« der Zeit vor der Gründung Roms und nach der Eroberung Konstantinopels als Vorund Nachgeschichte auszusparen, mit der Begründung: von der älteren Zeit wisse man zu wenig, von der neueren hingegen zu viel.51 In den verbleibenden 2.300 Jahren allerdings, welche die klassische Geschichte des römischen Reichs von seiner Gründung im 8.  Jahrhundert vor Christi Geburt bis zu seinem Untergang im Osten im 15.  Jahrhundert umfasste, bemühten sich die Göttinger Historiker um eine synchronistische, das heißt epochal integrative Perspektive. Gatterer arbeitete dazu für jede Periode aus der Fülle gleichzeitiger Nationalgeschichten jeweils eine weltgeschichtlich führende Nation heraus und betonte deren weltgeschichtliche Bedeutung für den ganzen Erdkreis. Vom Aufstieg des Islam im 7. Jahrhundert etwa heißt es bei ihm: »Wenn Mohammed hundert Jahre früher erschienen wäre, so hätte er allen­falls eine vorübergehende kleine Sekte in Arabien errichten können; aber der Stifter einer Hauptreligion und einer Monarchie, die mit der Zeit von Samarkand bis Lissabon reichte, wäre er ohne Zweifel nicht geworden.« Und von den Mon­golen: »Hätten ihre Gewalttaten nicht Veränderungen in der Welt herzugehen, die Sie in Gedanken mit allen ihren Meeren und Ländern fassen. Eben so be­geben Sie sich, wenn Sie einen chronologischen Abriss der Historie betrachten, aus den engen Grenzen ihrer Jahre, und breiten sich in alle Jahrhunderte aus.« 50 Johann Christoph Gatterer, Abriss der Universal-Historie, Göttingen 1773. 51 Schlözer, Universal-Historie, S. 62 u. S. 40: »Der Historiker aber kann von Gegenständen nur in einer bestimmten Entfernung, wie das Auge richtig urteilen: allzu nah täuscht ihn ebenso leicht, als allzu weit.«

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vorgebracht, die noch jetzt andauern, so verdiente ihre Geschichte, zur Ehre der Menschheit, in ewiger Vergessenheit vergraben zu liegen. Durch die Eroberung gesitteter Menschen wurden sie erst zu Menschen, besonders in China.«52 Wenigstens in der klassischen Zeit zwischen der dunklen Früh- und der noch unabgeschlossenen Zeitgeschichte entstanden so temporale Einheiten, in denen sich das Ideal des allseitigen Zusammenhangs von allem mit allem rea­lisieren ließ. Begriffe wie Zeitalter, Jahrhundert und Epoche wandelten sich so aus leeren Zeithülsen Schritt für Schritt zu Zeitkörpern, das heißt zu Konzepten einer inhaltlich gefüllten, verkörperten Zeit. Voltaires epochales Werk »Das Zeit­a lter Ludwigs des XIV.« (im Original eigentlich: das Jahrhundert, le siècle de Louis XIV) von 1751 erhob diesen Anspruch schon im Vorwort mit besonderer Deutlichkeit: »Bei dem, was hier beschrieben werden soll, handelt es sich nicht allein um das Leben Ludwigs des XIV., es geht um eine größere Aufgabe: Versucht werden soll, für die Nachwelt ein Bild nicht allein der Taten eines Menschen, sondern des Geistes der Menschen in dem aufgeklärtesten aller Zeit­a lter zu malen.«53 Die Geschichtsschreibung wandte sich damit, in der Metapher eines Barockgartens gesprochen, gewissermaßen von der äußeren Einteilung des Gartens der besonderen Bepflanzung jedes ihrer Teile zu. So entstanden in den folgenden Jahrzehnten immer mehr Epochenbezeichnungen, welche nicht mehr die zeitliche Erstreckung der Epoche als solche, sondern deren innere Verfasstheit zum Thema machten: Epochenbezeichnungen wie Renaissance und Humanismus, Aufklärung und Hellenismus entstanden als Epochenbezeichnungen alle erst nach 1750, die meisten sogar erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, auch wenn sie sich auf weit ältere Zeiträume bezogen. Es war ein eigentümlich widersprüchliches Merkmal solcher Epochen­ begriffe, dass sie den Fluss der Zeit gewissermaßen still zu stellen vermochten und damit Newtons Vorstellung vom kontinuierlichen Verlauf der Zeit konterkarierten.54 Alle Ereignisse, die etwa dem Zeitalter der Aufklärung zugerechnet wurden, geschahen so historiographisch gesehen gewissermaßen gleich­zeitig, selbst wenn hundert Jahre zwischen ihnen lagen. Erst an ihren Grenzen, im Übergang von einer Epoche zur nächsten, kam die Zeit, jetzt aber nur sprunghaft, wieder in Fluss. Das lässt sich in historischen Darstellungen bis heute beobachten: Die zeitliche Dauer spielt, so lange es nur darum geht, Ereignisse einer bestimmten historischen Epoche zuzuordnen, argumentativ keine Rolle, lediglich ihre inhaltliche Beziehung zueinander stehen zur Debatte. So werden zum Beispiel häufig die Französische Revolution von 1789 und die europäische Revolution von 1848 epochal aufeinander bezogen, ohne dass der zeitliche Ab52 Gatterer, Geographie, S. 622 u. S. 719. 53 Voltaire, Le siècle de Louis XIV, Paris 1792, S. 13: »Ce n’est pas seulement la vie de Louis XIV qu’on prétend écrire; on se propose un plus grand objet. On veut essayer de peindre à la­ postérité, non les actions d’un seul homme, mais l’esprit des hommes dans le siècle le plus éclairé qui fut jamais.« 54 Siehe dazu Simmel, Problem der historischen Zeit.

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stand von sechzig Jahren oder zwei Generationen dabei eine argumentative Rolle spielt.55 Es bedarf dann einer besonderen Anstrengung, der Bildung eines übergeordneten Begriffs, etwa dem der Generationenabfolge, um sie in ihrer zeitlichen Erstreckung wieder zu thematisieren.56 Zu den Epochenbezeichnungen kamen im ausgehenden 18.  Jahrhundert neue historische Handlungseinheiten hinzu, Konzepte wie das des Volkes, der Nation und der Klasse, ferner ideelle Handlungsträger wie Freiheit und Gleichheit. Auch ihnen wurde ein historisches Eigenleben zugeschrieben. Sie durchliefen in ihrer historischen Entfaltung und ihrem Niedergang biographische Zyklen und glichen auch darin den Blumen eines Gartens, der sich im Wechsel der Zeiten immer wieder erneuert. Sie alle folgten dabei dem Leibniz’schen Konzept einer verkörperten, organisch-monadischen Zeit, das weniger an einer systematischen Vermessung der Welt als vielmehr an der Vielfalt kultureller Individuen (Monaden) in der Geschichte interessiert war.

III. Die Zeit als Panorama im 19. Jahrhundert 1. Schillers Paradigmenwechsel In seiner Antrittsvorlesung als Geschichtsprofessor an der Universität Jena »Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?« gab Friedrich Schiller seinen Studenten am 26. Mai 1789 eine Anleitung zum »philosophischen« Studium der Universalgeschichte, die einen Paradigmenwechsel in der deutschen Geschichtswissenschaft einleitete. Da ihre Quellen, argumentierte Schiller, immer begrenzt und lückenhaft seien, könne die Geschichtswissenschaft auf dem bisher eingeschlagenen Weg der Vermessung der Welt niemals einen systematischen Charakter annehmen.57 Leider verfolgte Schiller die Möglichkeit der Identifizierung solcher systematischer Wissenslücken nicht weiter, sondern versuchte stattdessen, einen anderen Weg einzuschlagen, damit die Geschichte, wie man dies damals ausdrückte, aus einem bloßen »Aggre­gat« von Fakten zu einem »System« historischen Wissens werde. Ein solcher Übergang, so Schillers Überzeugung, könne nur gelingen, wenn die Geschichts­ 55 Siehe z. B. Beatrix Bouvier, Französische Revolution und deutsche Arbeiterbewegung. Die Rezeption des revolutionären Frankreich in der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung von den 1830er Jahren bis 1905, Bonn 1982. 56 So etwa Reinhart Koselleck, Die Restauration und ihre Ereigniszusammenhänge 1­ 815–1830, in: Louis Bergeron u. a. (Hg.), Das Zeitalter der europäischen Revolutionen 1780–1848, Frankfurt 1969, S. 296 f. 57 Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? [1789], in: Golo Mann (Hg.), Schillers Schriften, Bd.  4, Frankfurt 1966, S.  421–438, hier S. 434: »Weil die Weltgeschichte von dem Reichtum und der Armut an Quellen abhängig ist, so müssen ebenso viele Lücken in der Weltgeschichte entstehen, als es leere Strecken in der Überlieferung gibt.«

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betrachtung ihren Ausgangspunkt ganz von der Gegenwart nehme und danach frage, was vorausgegangen sein müsse, damit es zum gegenwärtigen Zustand habe kommen können: »Selbst dass wir uns in diesem Augenblicke hier zusammenfanden, uns mit diesem Grad von Nationalkultur, mit dieser Sprache, diesen Sitten, diesen bürgerlichen Vorteilen, diesem Maß von Gewissensfreiheit zusammenfanden, ist das Resultat vielleicht aller vorangegangenen Welt­ begebenheiten: Die ganze Weltgeschichte würde wenigstens nötig sein, diesen einzigen Moment zu erklären.«58 Zu einem systematischen Zusammenhang sollte die Geschichte Schiller zufolge dadurch werden, dass man sie einer fundamentalen Perspektivierung aussetzte. Nur aus dem Blickwinkel eines betrachtenden Subjekts gewann sie, als Vorgeschichte der Gegenwart, ihre einheitliche Gestalt. Das war neu. Zwar hatte schon Johann Martin Chladenius 1752 eine Lehre vom »Sehepunkt« vorgestellt, welche alle historische Beobachtung unter den Vorbehalt des Blick­ winkels stellte, unter dem zeitgenössische Beobachter ihren jeweiligen Gegenstand betrachteten.59 Doch bei Chladenius bot sich dem Historiker immer noch die Möglichkeit, in der abwägenden Zusammenschau aller subjektiven Ein­ drücke ein objektives Bild seines historischen Gegenstands zu gewinnen. Chladenius’ Geschichtstheorie zielte weiterhin auf Objektivität, allgemeine Gültigkeit der historischen Darstellung. Für Schiller hingegen verbot sich eine solche Hoffnung auf objektive historische Erkenntnis. Ihm ging es bei seiner historischen Perspektivenlehre auch gar nicht um das einzelne historische Ereignis, sondern um die Verknüpfung aller historischen Ereignisse im Rahmen der Geschichte überhaupt. Damit wurde das Ideal einer lückenlosen Kartierung der Geschichte, das der geographischen Erforschung des Erdraums nachgebildet war, insgesamt fallen gelassen. Historisch relevant war Schiller zufolge nur noch, was »auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprechlichen Einfluss« hat. Daraus ergab sich seine historio­graphische Anweisung: »Das Verhältnis eines historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf gesehen werden muss, um Materialien für die Weltgeschichte zu sammeln.« Was sich diesem Kriterium nicht fügte, wurde dem Vergessen anheimgestellt. Aber nicht nur dies: Auch die Suche nach Ausfüllung der »weißen Flecken« im Geschichtsverlauf nahm nun eine andere Wende. Gefragt waren nicht mehr neue Einzelheiten über jene bislang noch unzureichend bekannten Räume und Zeiten (an deren Auffindbarkeit Schiller nicht mehr glaubte). Gefragt waren vielmehr philosophische Ideen, die geeignet seien, die schon bekannten »Bruchstücke durch künstliche Bindeglieder« zu verketten.60 Dadurch nahm die Geschichte eine teleologisch auf die 58 Ebd., S. 430. 59 Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft [1752], Weimar 1985, S. 91–115. 60 Schiller, Universalgeschichte, S. 435.

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Gegenwart zulaufende, von Schiller als »philosophisch« aufgewertete Richtung an. Und dies wiederum galt nicht nur für die Vergangenheit, selbst das zukünftige Geschehen ließ sich, wie Schiller postulierte, im Prinzip aus dem vergangenen schon jetzt prognostisch ablesen. Die Geschichte konnte damit insgesamt als Symbol einer höheren, ewigen Weisheit gelesen werden, gewissermaßen als Analogie zur Einsicht Gottes in den Gang aller menschlichen Dinge.61 2. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Im Kontext seiner Geschichtstheologie führte Schiller nun auch erstmals die Begriffe Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in die Geschichtswissenschaft ein.62 Sie scheinen, ebenso wie die formalen Epochenbegriffe Jahrhundert und Epoche, auf den ersten Blick nur eine formale Einteilung der leeren Zeit – wenn auch jetzt aus dem Blickwinkel des jeweiligen historischen Betrachters – vorzunehmen. Tatsächlich handelt es sich jedoch zugleich um inhaltlich gefüllte Zeitbegriffe, welche die historische Zeit als Zeitgemälde oder Panoramen zur Sprache bringen. Mit ihnen setzte sich die Verdrängung der leeren chronologischen Universalzeit weiter fort, die im 20. Jahrhundert zur Auflösung des universalhistorischen Kosmos in der Geschichtsschreibung führte. Die Substantive Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren im Deutschen um 1790 noch neu und wenig gebräuchlich, in historischen Werken kamen sie überhaupt noch nicht vor. Das mag heutige Historikerinnen und Historiker überraschen, die sich fragen, wie man ohne solche Begriffe bis dahin überhaupt von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hatte sprechen und schreiben können. Denn schließlich war die Erforschung und Darstellung der Vergangenheit schon immer das zentrale Geschäft des Historikers gewesen. Tatsächlich war in deutschen historischen Werken bislang aber immer nur von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignissen die Rede gewe61 Ebd., S.  437: »Der Mensch verwandelt sich und flieht von der Bühne; seine Meinungen fliehen und verwandeln sich mit ihm: Die Geschichte allein bleibt unausgesetzt auf dem Schauplatz, eine unsterbliche Bürgerin aller Nationen und Zeiten.« Entschiedener noch als Schiller war Johann Gottfried Herder (1744–1803) zur gleichen Zeit davon überzeugt, dass eine Zeit kommen werde, »da es eine Wissenschaft der Zukunft wie der Vergangenheit gibt, da kraft dieser Wissenschaft die edelsten Menschen so gut für die Nachwelt als für sich rechnen. Siehe ders., Vom Wissen und Nichtwissen der Zukunft, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Johann von Müller, 2. Abt.: Zur Philosophie und Geschichte, Bd. 7, Stuttgart 1828, S. 53. Siehe dazu auch Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt 1999, S. 43 f. 62 Indem das Studium der Weltgeschichte nämlich den Menschen daran gewöhne, »sich mit der ganzen Vergangenheit zusammenzufassen, und mit seinen Schlüssen in die ferne Zukunft vorauszueilen; so verbirgt sie die Grenzen von Geburt und Tod, die das Leben des Menschen so eng und so drückend umschließen, so breitet sie optisch täuschend sein kurzes Dasein in einem unendlichen Raume aus, und führt das Individuum unvermerkt in die Gattung hinüber.« Schiller, Universalgeschichte, S. 437.

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sen, nie von der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlechthin. Anders im Englischen und Französischen: Dort waren substantivische Bezeichnungen wie the past oder le passé schon seit dem 16. Jahrhundert gebräuchlich, der adjektivische und substantivische Gebrauch aber von der Wortform nicht zu unterscheiden.63 Deshalb beschränkt sich die Erörterung der historiographischen Zeitbegriffe hier auch zunächst auf die deutsche Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung. Der semantische Unterschied zwischen der adjektivischen und der substantivischen Form wird deutlich, wenn man deren lateinische Äquivalente in älteren Quellen aufsucht. Augustin zum Beispiel hatte schon zu Beginn des 5. Jahrhunderts in seinen »Bekenntnissen« die Frage nach dem, was Zeit ist, an die aus der lateinischen Grammatik vertrauten Begriffe praeteritum, praesens und futurum gebunden. Sie bezeichneten bei ihm wie bei allen späteren Autoren aber niemals Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Zeiträume, sondern immer nur einzelne Dinge beziehungsweise Ereignisse, die in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft lagen, also gewissermaßen Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges. Darauf deutet schon die Tatsache hin, dass diese Ausdrücke immer schon auch im Plural gebräuchlich waren.64 Die Substantive Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begegnen in deutschen Texten erst seit den 1730er Jahren und hier auch zunächst nicht in der Bedeutung von Zeiträumen.65 Der Sprachgebrauch schwankte vielmehr anfangs, vor allem bei den Ausdrücken Gegenwart und Zukunft, zwischen einer schon länger geläufigen räumlichen Bedeutung und der Bezeichnung der Eigenschaft von Dingen, zugegen, vergangen oder zukünftig zu sein. Er bezog sich dabei aber – vor allem in der poetischen Sprache, wo sich die ersten Belege finden  – zunächst noch in der Regel nur auf einzelne Dinge.66 Als Zeitbegriffe finden sich die Ausdrücke Vergangenheit und Zukunft erst seit den späten 1760er Jahren.67 63 Oxford English Dictionary, Bd. 7, Oxford 1933, S. 538, Art. »the past«; Le Grand Robert de la langue française, Bd. 7, Paris 1992, S. 146 f., Art. »passé«. 64 Siehe Hölscher, Entdeckung der Zukunft, S. 20. 65 Bei ihrer Einführung spielten vermutlich in einem bislang noch nicht hinreichend erforschten Ausmaß französische Begriffe wie avenir eine Rolle. Auch Parallelbegriffe wie Vorwelt, Mitwelt und Nachwelt müssen in ihrer Bedeutung für die Konzeption der neuen Zeitraumbegriffe noch näher untersucht werden. 66 So etwa in dem »Unvollkommenen Gedicht über die Ewigkeit« des Schweizer Mediziners Albrecht von Haller aus dem Jahr 1736: »Beständigs Reich der Gegenwärtigkeit! Die Asche der Vergangenheit / Ist dir ein Keim von Künftigkeiten«; siehe ders., Gedichte, hg. v. Ludwig Hirzel, Bd.  2, Leipzig 1917, S.  151. Ebenso bezog sich der Ausdruck »Künftigkeiten«, noch im Plural gesetzt, hier auf einzelne Dinge, so vermutlich auch der noch neue Ausdruck Vergangenheit, welcher dann entsprechend im Sinne von »Asche des Vergangenen« zu verstehen wäre. 67 Zu einem temporalen Paar poetisch vereint finden sie sich erstmals in einem Gedicht Herders von 1769, das den Titel »Der Genius der Zukunft« trägt: »Flamm auf, du Licht der Zeiten, Gesang! Du strahlst / Vom Angesicht der Vergangenheit, und bist / Mir Fackel,

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Dem Dichter Schiller waren die neuen Zeitbegriffe spätestens seit den frühen 1780er Jahren bekannt.68 In dem sogenannten philosophischen Gespräch aus dem »Geisterseher« von 1787 titulierte er sie als Reiche beziehungsweise Räume, die für ihn als Zeiträume eine je spezifische Qualität besaßen: »Wenn alles vor mir und hinter mir versinkt – die Vergangenheit im traurigen Einerlei wie ein Reich der Versteinerung hinter mir liegt – wenn die Zukunft mir nichts bietet – wenn ich meines Daseins ganzen Kreis im schmalen Raume der Gegenwart beschlossen sehe – wer verargt es mir, dass ich dieses magere Geschenk der Zeit, feurig und unersättlich wie ein Freund, den ich zum letzten Male sehe, in meine Arme schließe?«69 Im Wunsch, sich aus dem Gefängnis der Gegenwart zu befreien, setzte auch Novalis um 1800 seine Hoffnung auf eine Verknüpfung und wechselseitige Durchdringung der historischen Zeiten.70 Zukunft und Vergangenheit wurden in der romantischen Literatur vielfach als innere Welten thematisiert und standen darin der Welt der Träume und der Mythen nah. Sie dienten damit einer Erweiterung der Gegenwart zu einem umfassenden Konzept sich historisch entfaltender Wirklichkeit, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wechselseitig aufeinander verwiesen.71

meinen Gang dort fürder / Zu leiten! Dort wo die Zukunft graut / Wo ihr Haupt der Saum der Wolke verhüllt, wo Erd’ und Himmel / Sich weben, als wär’ es eins! / […] – Mit Flammenzügen glänzt / In der Seelen Abgründen der Vorwelt Bild / Und schießt weit über weissagend starkes Geschoß / In das Herz der Zukunft. Siehe, da steigen / Der Mitternacht Gestalten hervor! Wie Götter aus Gräbern empor […] Dann liest der Geist in seines Meers Zauberspiegel die Ewigkeit«. Johann Gottlieb Herder, Sämtliche Werke in vierzig Bänden, Bd. 13, Stuttgart 1852, S. 110 f. 68 Der bislang früheste Beleg findet sich 1781 in den »Räubern«: »Freilich steht’s nun in meiner Macht nicht mehr, die Vergangenheit einzuholen«. Friedrich Schiller, Werke (Nationalausgabe), Bd. 3, Weimar 1953, S. 135. Auch hier ist die Lesart »vergangene Ereignisse« noch nicht auszuschließen. 69 Ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Benno von Wiese, Bd. 4, Köln 1959, S. 345. Ganz im gleichen Sinne qualitativ unterschiedlicher Zeiträume beschrieb Schiller die historischen Zeiten 1796 in den »Sprüchen des Confucius«: »Dreifach ist der Schritt der Zeit: / Zögernd kommt die Zukunft hergezogen, / Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen, / Ewig still steht die Vergangenheit.« Ebd., S. 80. 70 So etwa in der »Vermählung der Jahreszeiten«, einem aus dem unabgeschlossenen zweiten Teil des »Heinrich von Ofterdingen« übrig gebliebenes Fragment aus der Zeit um 1800: »Wären die Zeiten nicht so ungesellig, verbände Zukunft mit der Gegenwart und Vergangenheit sich; schlösse Frühling an Herbst sich, und Sommer an Winter«. Novalis, Schriften, hg. v. Ludwig Tieck u. Friedrich Schlegel, 1. Teil, Berlin 18153, S. 256; und an anderer Stelle im selben Roman: »Zukunft und Vergangenheit hatten sich in ihm berührt und einen innigen Verein geschlossen; er stand wie außer der Gegenwart, und die Welt ward ihm erst teuer, als er sie verloren hatte, und sich nur als Fremdling in ihr fand«. Heinrich von Ofterdingen, zweiter Teil, ebd., S. 219. 71 So z. B. schon öfter in den erstmals 1808 publizierten »Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft« des Naturforschers Gotthilf Heinrich von Schubert (1780–1860).

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Erst seit den 1820er Jahren setzten sich die neuen Zeitbegriffe in Deutschland allgemein in der Geschichtsschreibung durch. Ihre Herkunft aus der poetischen Welt klingt noch in Rankes berühmter Abgrenzung seines Erstlingswerks, der »Geschichte der romanischen und germanischen Völker« (1825), gegenüber den Ansprüchen eines philosophisch-literarischen Bezugs auf die Geschichte nach: »Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen; so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen.«72 Rankes Geschichtswissenschaft wollte einen wissenschaftlich nüchternen Bericht, keine poetischen Bilder von der »Vergangenheit« liefern. In der populären historischen Literatur war es gleichwohl genau dies, was Geschichtswerke auch im 19. Jahrhundert schon zu Bestsellern machen konnte. Um das jetzt um sich greifende Bestreben zu veranschaulichen, die Vergangenheit ebenso wie die Gegenwart als einen synchronen Gesamtzusammenhang zu entwerfen, können Gustav Freytags »Bilder aus der deutschen Vergangenheit« (4 Bände, 1859–1867) als Beispiel dienen.73 Freytags historische Studien waren Zeitgemälde, vergleichbar den damals so beliebten Panoramen von großen Städten wie London oder den Bildern der C ­ amera obscura von fernen exotischen Ländern und vergangenen idyllischen Szenen des Lebens. Man konnte sie um 1860 schon seit einigen Jahrzehnten in einer Art früher Dia-Show an sich vorüberziehen lassen.74 Dasselbe wie für die Vergangenheit galt bald auch für die Zukunft. Zukunftsromane wie etwa der gegen Ende des 19.  Jahrhunderts beliebte Roman des amerikanischen Bodenreformers Edward Bellamy »Looking Backward 2000 to 1887« (1888) verzückten die Zeitgenossen mit Bildern einer Zukunftsgesellschaft, die auf die gegenwärtige Gesellschaft folgen würde. Wissenschaftliche Genauigkeit und künstlerische Ausgestaltung standen hier in keinem Widerspruch, vielmehr zeigten die literarischen Gattungen, wonach eigentlich auch die historische Literatur strebte: nach einer Vergegenwärtigung des Vergangenen und Zukünftigen in Form anschaulicher Zeitgemälde. Dabei war in den Zeitbegriffen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Anfang an ein Moment der Illusionierung des Lesers angelegt, das sich streng genommen methodisch nicht einlösen ließ. Was hier unter den Begriffen Vergangenheit und Zukunft als Zeitlandschaft vorgestellt wurde, war nämlich tatsächlich nur aus einer begrenzten Anzahl gegenwärtig bekannter – und damit unlösbar mit dem gegenwärtigen Wissensstand verbundener – Tatbestände er72 Leopold Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker, Leipzig 1824, S. 5. 73 Bis 1909 erschienen davon an die dreißig Auflagen, das Werk zählte zu den beliebtesten deutschen Geschichtswerken des 19. Jahrhunderts überhaupt. Der moderne Leser werde in seinem Werk, so setzte Freytag in der Einleitung ein, »in eins der früheren Jahrhunderte zurückversetzt, zuerst ein maßloses Staunen, zuletzt einen Schauder vor ihrer Umgebung empfinden.« Gustav Freytag, Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 1, Leipzig 1892, S. 1, S. 7 u. S. 11. 74 Zur Geschichte und Popularität von Panoramen im 19. Jahrhundert: Stephan Oettermann, Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt 1980.

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hoben worden, zwischen denen oft kein aus den Quellen ableitbarer Zusammenhang bestand. Die Begriffe suggerierten zwar, es könne dem künstlerisch geschickten Wissenschaftler gelingen, aus ihnen Gesamtbilder von fernen Lebenswelten zu entwerfen, die in sich ebenso konsistent sind wie die Welt, in der sich der Leser gegenwärtig bewegte. Doch dazu bedurfte es einer poetischen Verknüpfung der Einzeldaten, welche methodisch sauber niemals wirklich gelingen konnte. Die Auswirkungen solcher historisch-prognostischen Illusionskunst lassen sich bis heute verfolgen. Methodisch abgesichert sind in allen Zukunfts- und Vergangenheitsentwürfen immer nur die einzelnen Tatbestände. Deren Verknüpfung zu zukünftigen beziehungsweise vergangenen Lebenswelten bleibt ein Geschäft der Poesie, dessen Zeitgebundenheit sich dem Leser schnell erschließt, wenn die Entstehung solcher Zukunfts- und Vergangenheitsentwürfe schon einige Zeit zurück liegt.

IV. Die Fragmentierung der Zeit im 20. Jahrhundert Wie zuletzt an den Zeitkonzepten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gezeigt, war der Zerfall des historischen Kosmos, der in der Geschichtstheorie des 18. Jahrhunderts als universale Zeiteinheit angelegt war, schon in der historistischen Geschichtsschreibung des 19.  Jahrhunderts in vollem Gange. Seit Ende des 19.  Jahrhunderts beschleunigte sich dieser Zerfall gleichwohl noch einmal in bedeutendem Maße. Bis dahin hatten qualitative Zeitmodelle die Geschichtsschreibung nur mit immer neuen Modellen bereichert, das Konzept der Geschichte aber nicht als solches aufgelöst. Nun aber begannen neue Zeitkonzeptionen, den Gesamtzusammenhang der Geschichte als solchen infrage zu stellen. Der Angriff auf den klassischen historischen Zeitbegriff richtete sich gegen das Konzept der leeren Zeit selbst. Dieses in der Geschichtsschreibung des 19.  Jahrhunderts im Grund nicht über Newton und Kant hinaus weiter entwickelte Konzept hatte in der Form des Kalenders bislang ja nicht allein das Nacheinander der geschichtlichen Ereignisse geregelt, sondern zugleich auch ihren – sei es potentiellen, sei es aktuellen – inneren Zusammenhang garantiert. Die Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts interessierte sich jedoch weit mehr für den Zeitzusammenhang innerhalb kultureller Einheiten, etwa innerhalb des Zeitgeistes einer Epoche oder einer bestimmten Kulturstufe der Wirtschaft und Gesellschaft. In der Vorstellung von der Materialität, anders gesagt: der empirischen Gebundenheit aller Zeitverhältnisse an die Dinge, an denen man zeitliche Veränderungen beobachtete, wurde sie dabei unterstützt von der philosophischen Zeittheorie, wie sie etwa in der materialistischen Theorie von Friedrich Albert Lange (1828–1875) und in der Theorie der symbolischen Formen von Ernst Cassirer (1874–1945), aber auch in der phänomenolo-

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gischen Analyse der Zeit bei Henri Bergson (1859–1941) und Edmund Husserl (1859–1938) entwickelt wurde. Ihr zufolge waren nicht mehr die Dinge in der Zeit, sondern umgekehrt die Zeit in den Dingen aufzusuchen.75 So hatte zwar in gewissem Sinne auch schon Leibniz gegen Newton, später Herder gegen Kant argumentiert.76 Doch die phänomenologische Betrachtung der Welt folgte nicht mehr Leibniz’ theologischem Konzept einer prästabilierten Harmonie, das bei ihm dann doch immer noch zur Idee eines einheitlichen Weltzusammenhangs geführt hatte. Das Zeitverständnis der Neukantianer und Phänomenologen rechnete vielmehr mit einer Fülle ganz unterschiedlicher und nicht aufein­ander abgestimmter Zeitverläufe in den »Phänomenen« selbst. Nach dem Ersten Weltkrieg begannen vor allem Historiker, die sich mit den Denk- und Lebensweisen ferner Epochen beschäftigten, die historische Zeit selbst zu historisieren, indem sie diese in ihre jeweilige Gesellschaft einbanden.77 Lucien Febvre und Johan Huizinga etwa arbeiteten schon in den 1920er Jahren das von der modernen Gesellschaft abweichende Zeitempfinden mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gesellschaften heraus, Bernhard Groethuysens Studien reichten bis ins 18.  Jahrhundert.78 Nachfolgende Historikergenerationen, unter ihnen Jaques Le Goff, Carlo Ginzburg, Reinhart Koselleck und Peter Burke, setzten diese Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg fort.79 Gemeinsam 75 Siehe Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, Iserlohn 1866; Ernst Cassirer, Schriften zur Philosophie der symbolischen Formen, Hamburg 2009; Henri Bergson, Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit [1896], Gütersloh 1982; Edmund Husserl, Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, hg. v. Martin­ Heidegger, Halle 1928. 76 Siehe Johann Gottfried Herder, Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, in: ders., Werke, Bd. 8: Schriften zur Literatur und Philosophie 1792–1800, hg. v. Dietrich Emscher, Frankfurt 1998, S. 303–640, hier S. 360 f. Dazu Wolfgang von Leyden, History and the Concept of Relative Time, in: History and Theory 2. 1963, S. 263–285, hier S. 279 f. 77 Zur Krise des historischen Zeit-Bewusstsein im Ersten Weltkrieg liegt bislang noch keine umfassende Studie vor. Verwiesen sei deshalb nur auf die vielfachen Symptome dieser Krise im Werk von Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen [1919], München 1983; Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung [1921], Frankfurt 1988; Martin Heidegger, Sein und Zeit [1927], Tübingen 1967; und Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte [1939], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Herrmann Schweppen­ häuser, Bd. I. 2, Frankfurt 1980, S. 691–704. Siehe dazu auch die Einleitung zum vorliegenden Sonderheft. 78 Lucien Febvre, Pour une histoire à part entière, Paris 1962 (dt.: Der neugierige Blick. Leben in der französischen Renaissance, Berlin 1989); Johan Huizinga, Herfsttij der Middele­ euwen. Studie over levens- en gedachtenvormen der veertiende en vijftiende eeuw in Frankrijk en de Nederlanden, Haarlem 1919 (dt.: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und den Niederlanden, Stuttgart 200612); Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich [1927/1930], Frankfurt 1978. 79 Jacques Le Goff, La naissance du purgatoire, Paris 1981 (dt.: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter, Stuttgart 1984); Carlo Ginzburg, Il formaggio e

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war ihnen allen, dass sie die Zeit als gesellschaftsabhängiges, als kulturelles Phänomen beschrieben, das sich im Laufe der Zeiten wandelte. Da der formale Zeitbegriff des Kalenders aber zugleich doch noch immer beibehalten wurde, entstand so ein mehrbödiges System sich überlagernder Zeitschichten. 1. Zeitschichten in der Sozialgeschichte Ähnliche Zeitrevolutionen wie in der Geschichtswissenschaft lassen sich seit dem Ersten Weltkrieg auch in vielen anderen Wissenschaften beobachten: etwa in der Physik, wo Einsteins allgemeine Relativitätstheorie von 1916 die Zeit als abhängige Variable der Materie beschrieb; ebenso in der Wirtschaftstheorie mit Kondratjews Entdeckung der Wirtschaftszyklen in den 1920er Jahren; in der Chronobiologie mit der Entdeckung der »inneren Uhr« natürlicher Organismen; auch in der Entwicklungspsychologie mit Jean Piagets Untersuchungen zum kindlichen Zeitempfinden. Sie alle wurden bestimmt von der Vorstellung, dass Zeit ein den menschlichen Gesellschaften, den biologischen Organismen, ja der Materie überhaupt eingeschriebenes Maß des Wandels sei, dass sie sich in Rhythmen und Entwicklungsprozessen äußere, die den Lebewesen vorgegeben sind, über die sie nicht unmittelbar verfügen.80 Innerhalb einer systematischen Betrachtung materieller, sozialer und bio­ logischer Prozesse bildete die Zeit dabei eine akzidentielle Bestimmung der Gegenstände wie jede andere auch. Nur in der Geschichtswissenschaft musste die Analyse der historischen Zeit im Medium dieser historischen Zeit selbst betrieben werden. Deren je nach Gegenstand unterschiedliche Strukturierung rückte allmählich immer weiter ins Zentrum des Geschichtsentwurfs selbst. So schlug der Leiter der französischen Annales-Schule in den 1950er und 1960er Jahren, Fernand Braudel, 1958 als erster in seinem großen Essay über die longue durée vor, die Zeit zur gemeinsamen Projektionsfläche aller Humanwissenschaften zu machen, auf der deren je unterschiedliche Zeitmodelle miteinander kommunizieren könnten.81 Wie dies im Rahmen einer sozialgeschichtlich erweiterten Geschichtswissenschaft geschehen könnte, hatte Braudel schon 1949 in seinem großen Werk »La méditerranée et le monde méditerranéen a l’époque de Philippe II« vorgeführt. i vermi. Il cosmo di un mugnaio del’500, Turin 1976 (dt.: Der Käse und die Würmer, Frankfurt 1979); Koselleck, Vergangene Zukunft; Peter Burke, Popular Culture in Early Modern Europe, London 1978 (dt.: Helden, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1981); Dux, Zeit in der Geschichte. 80 Siehe dazu etwa Marc Bloch u. a., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. v. Claudia Honegger, Frankfurt 1977. 81 Fernand Braudel, Histoire et sciences sociales. La longue durée, in: Annales 13.  1958, S. ­725–753 (dt.: Geschichte und Sozialwissenschaften. Die lange Dauer, in: Theodor Schieder und Kurt Gräubig (Hg.), Theorieprobleme der Geschichtswissenschaft, Darmstadt 1977, S. 164–204).

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Darin gliederte er den Stoff nach drei Zeitebenen: erstens der Zeit der langen Dauer (longue durée), dem langsamen Tiefenstrom der Geschichte, auf dem sich die mediterrane Welt des 16. Jahrhunderts, etwa in deren geographischen Formationen und dem Klima, nur sehr langsam gewandelt hatte; zweitens der Zeit der Konjunkturen, dem mittleren Zeitstrom, auf dem sich in Zeitrhythmen mittlerer Dauer zum Beispiel die Entstehung sozialer Klassen und Wirtschafts­ zyklen abbilden ließen; und drittens der Zeit der kurzlebigen historischen Ereignisse (l’histoire évènementielle), welche sich gewissermaßen an der Oberfläche des historischen Prozesses abspielten und deshalb auch nur von temporärer Bedeutung waren. Für die Sozialgeschichtsschreibung begründete Braudels Dreischichtenmodell der Zeit eine neue Form historischer Bedeutungszuschreibung. Statt wie im klassischen Zeitmodell der Göttinger Schule jedem Ereignis seine historische Bedeutung durch einen eindeutigen Ort im Zeit- und Raumkontinuum der Geschichte zuzuweisen, bestimmte sich die Bedeutung historischer Ereignisse nun durch die Überlagerung verschiedener Zeitschichten im Augenblick ihres historischen Auftretens. Eine politische Wahl zum Beispiel nahm eine andere historische Bedeutung an, wenn das Ende des Regierungszyklus in die Zeit eines Auf- als wenn sie in die eines Abschwungs der Wirtschaft fiel. Die Tiefenströme des langsameren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandels wurden so zu Determinanten politischer Ereignisse erklärt. Braudels Modell der geschichteten Zeit wurde in den 1960er Jahren auch in Deutschland vorbildhaft. Theoretisch weiter entwickelt wurde es damals vor allem von dem Historiker Reinhart Koselleck (1923–2006). Braudel folgend forderte Koselleck auf dem Kölner Historikertag 1970 eine »Theorie der historischen Zeiten«, welche den historischen Wandel im Medium ihrer je unterschiedlichen Zeitstrukturen untersuche: Es gibt mehrschichtige Zeitabfolgen, die alle für sich ein Vorher und Nachher kennen, die aber auf dem Raster der naturalen Chronologie in ihrer linearen Sequenz nicht zur Deckung zu bringen sind. Daher kommt es darauf an, Temporalstrukturen freizulegen, die den mannigfachen geschichtlichen Bewegungsweisen angemessen sind.82

Unter den von Koselleck untersuchten Zeitstrukturen finden sich so unterschiedliche Zeitmodelle wie die naturale und die vom Menschen künstlich errichtete Zeit, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont, Einmaligkeit und Wiederholung, Bruch und Dauer, Aufstieg und Niedergang, Beschleunigung und Verlangsamung.83 Als leitende Fragestellung ist in diesen Analysen immer wieder das Bemühen zu erkennen, die Eigenart moderner gegenüber vor­ modernen Gesellschaften herauszuarbeiten. Charakteristisch für Kosellecks 82 Reinhart Koselleck, Wozu noch Historie? [1971], in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Frankfurt 2010, S. 48 f. 83 Siehe ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000.

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Kategorienbildung ist jedoch vor allem die begriffliche Aufwertung subjektiver Erfahrungen zu objektiven historischen Tatbeständen. Dies soll im Folgenden am Beispiel des Konzepts der Beschleunigung dargestellt und kritisch kommentiert werden. 2. Beschleunigung als Signatur der Neuzeit Nicht nur von Reinhart Koselleck wird die Neuzeit heute häufig als Epoche der Beschleunigung beschrieben.84 Zahlreiche historische Prozesse weisen dieser Hypothese zufolge die exponentielle Form einer sich nach oben krümmenden Kurve auf: Waren- und Personenströme, Energieverbrauch, die Kommunikationsdichte der Menschen und viele andere Indikatoren des gesellschaftlichen Wandels folgen dem immer selben Verlauf eines exponentiellen Wachstums.85 Selbst der politische Erfahrungshaushalt der Zeitgenossen, so behauptete K ­ oselleck gelegentlich, einem Diktum Friedrich Schlegels folgend, sei seit der Französischen Revolution einem beschleunigten Wandel ausgesetzt.86 Gegen diese These lässt sich auf die subjektiven Anteile solcher Beobachtungen verweisen, welche in deren kategorialen Parametern liegen. Das demographische Wachstum, das Statistiker spätestens seit Beginn der industriellen Revolution im 18.  Jahrhundert beobachten, konnte erst zu einem Zeitpunkt als solches wahrgenommen werden, als die allgemeine Kategorie der »Bevölkerung« bereit stand. Zur Diagnose eines wachsenden Energieverbrauchs bedurfte es der Kategorie der Energie, in der verschiedene Energieformen wie Holz-, Kohle-, Öl- und Stromverbrauch zusammengefasst werden konnten. Sie stand aber erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bereit. Noch jüngeren Datums ist die Kategorie der Kommunikation, in der die verschiedenen Formen des Transports von Waren, Menschen und Nachrichten zusammengefasst werden. Im Aufkommen neuer statistischer Kategorien spiegelt sich der Aufmerksamkeitswandel einer Gesellschaft für bestimmte Veränderungen ihrer Umwelt. Diese Veränderungen mögen quantitativ schon seit langem begonnen haben und statistisch auch bis in eine ferne Vergangenheit hinein nachweisbar sein, sie wurden qualitativ aber meist erst zu einem weit späteren Zeitpunkt 84 Siehe Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt 2005. 85 Ein prominentes angewandtes Beispiel bieten die Wachstumskurven von Donella H. Meadows Studie »Die Grenzen des Wachstums«; siehe dies. u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, New York 1972 (dt.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbek 1973). 86 Reinhart Koselleck, Neuzeit. Zur Semantik neuzeitlicher Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt 1979, S.  330; ders., Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: ders., Zeitschichten, S. 150–176; ders., Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisierung, in: ebd., S. 177–202.

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politisch und wissenschaftlich relevant. Statistische Befunde sind daher an ein je gegenwärtiges gesellschaftliches Bewusstsein gebunden, sie sind Ausdruck einer zeit-perspektivischen Wahrnehmung und daher nicht einfach nur objektiv im Sinne eines epochenübergreifenden Sachverhalts anzusetzen. Dies zeigt sich schon daran, dass statistische Befunde ihre Evidenz für die Zeitgenossen in aller Regel aus dem Erfahrungsraum ihrer je eigenen Generation beziehen: Wer noch miterlebt hat, wie ein Brief einen oder mehrere Tage brauchte, bis er die Empfänger erreichte, wird die Beschleunigung der Kommunikation durch das Internet als sozial relevante Tatsache verbuchen und dann als Historiker oder Historikerin auch nach früheren Beschleunigungen der Nachrichtenkommunikation Ausschau halten. An älteren Prognosen über das Wachstum der nationalen Bevölkerung in den 1930er Jahren oder der Weltbevölkerung um 1900 lässt sich zeigen, wie sich im Laufe der Zeit auch die statistischen Kriterien, nach denen gezählt wurde, verschoben haben. Begriffliche Gegensätze wie der zwischen gesundem und degeneriertem Nachwuchs oder der zwischen der weißen und den nicht-weißen »Rassen« spielen heute bei weitem keine ebenso große Rolle mehr wie noch vor einem halben beziehungsweise einem ganzen Jahrhundert.87 Auch statistische Befunde wandeln sich also im Laufe der Zeit je nach dem, worauf die Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit richtet. Das relativiert den statistischen Befund einer Beschleunigung als rein objektiver, aller Erfahrung vorgegebener Tatsache. Charakteristisch für die Nutzung der Zeitkategorie Beschleunigung in historischen und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen ist heute allerdings, dass subjektive, an Generationen und spezifische kulturelle Räume gebundene Erfahrungen mit objektiven historischen Tatbeständen ineinander geblendet und dadurch zu Interpretamenten neuzeitlicher Gesellschaften aufgebaut werden. Die subjektive Dimension historischer Erfahrung wird dabei nicht geleugnet, sondern in den objektiven Befund selbst mit hineingenommen. Die darin vollzogene Verknüpfung sozialer und naturaler Zeiten lässt sich auch an einem weiteren Konstrukt heutiger Zeittheorien beobachten: der Kombination subjektiver und objektiver Zeitmodelle im Begriff einer vergangenen Zukunft. 3. Vergangene Zukunft und vergangene Vergangenheit Zeitgleich auf dem Berliner Historikertag von 1964 brachten die Historiker Reinhart Wittram (1902–1973) und Reinhart Koselleck den Begriff einer vergangenen Zukunft in die Diskussion und wiesen damit auf die Zukunftsvorstellungen vergangener Zeiten als eigenes, bislang noch wenig beachtetes For87 Vgl. etwa die demographischen Parameter bei Charlotte Höhn, Demographische Probleme des 21. Jahrhunderts aus deutscher Sicht, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 25. 2000, S. 375–398, mit denjenigen von Friedrich Burgdörfer, Bevölkerungsentwicklung im Dritten Reich. Tatsachen und Kritik, Heidelberg 1935.

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schungsfeld hin. Die auf den ersten Blick unsinnig erscheinende Kombination zweier konkurrierender Bezeichnungen für historische Zeiträume nutzte eine alte abendländische Ambivalenz des Zeit-Begriffs. Im Rückgriff auf Aristoteles konnte Zeit dabei immer schon als objektive Bewegung, nämlich als Maß der Wiederholung einer immer gleich bleibenden Kreisbewegung wie der der Erde um die Sonne (Jahr) oder um sich selbst (Tag), im Rückgriff auf Augustin hingegen auch als subjektive Zeiterfahrung eines Beobachters beschrieben werden, der seine Aufmerksamkeit aus seiner eigenen Gegenwart heraus erwartend der Zukunft beziehungsweise der Vergangenheit erinnernd zuwendete. Im Begriff der vergangenen Zukunft verknüpften sich die subjektiven Perspektiven eines zeitgenössischen und eines heutigen Betrachters auf dem Hintergrund eines objektiven geschichtlichen Zeitbegriffs. Was der Zeitgenosse noch als Zukunft vor sich hatte (vergangene Zukunft), war für den späteren Historiker schon zur Vergangenheit geworden (gegenwärtige Vergangenheit). Die Pointe der Begriffsbildung lag jedoch gerade darin, dass beides, vergangene Zukunft und gegenwärtige Vergangenheit, subjektiv (und damit auch für den Mentalitätshistoriker, der sich mit den Denk- und Wahrnehmungsformen beschäftigte) nicht mehr zusammenfiel – obwohl sie in denselben Wirklichkeitshorizont der sich kalendarisch entfaltenden Geschichte projiziert wurden. Daraus entstand eine neue Forschungsrichtung, die Historische Zukunftsforschung, die Reinhart Koselleck selbst auch historiographisch mit seiner Heidelberger Antrittsvorlesung von 1969 zur »Vergangenen Zukunft der frühen Neuzeit« einleitete.88 Ebenso wie schon die älteren Arbeiten von Lucien Febvre und Marc Bloch eignete sie sich besonders dazu, den gegenwärtigen Blick auf die Vergangenheit durch zeitgenössische Zeiterfahrungen zu relativieren und damit den historischen Blick für die Andersartigkeit der Vergangenheit zu schärfen. Darüber hinaus zeigte sie jedoch zugleich auch, dass die vergangene Zukunft nicht in der gegenwärtigen Vergangenheit aufging, wie es die klassische Geschichtsphilosophie spätestens seit Schiller intendiert hatte. Das Verfahren der begrifflichen Auffächerung historischer Zeiten in deren je eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wurde Ende der 1960er Jahre von dem Soziologen Niklas Luhmann zur Konfiguration von neun möglichen historischen Zeiten erweitert: der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Seither richten sich soziologische und historische Fragestellungen auch auf andere Zeiten neben der vergangenen Zukunft, in der neueren Erinnerungsgeschichte von Jan Assmann etwa auf die vergangene Vergangenheit Ägyptens, so wie sie uns im Diskurs der Freimaurer des 18. Jahrhunderts begegnet. Ebenso wie die vergangene Zukunft der frühen Neuzeit mit der heutigen Vergangenheit moderner Geschichtsbilder lässt sich auch 88 Siehe Lucian Hölscher, Zukunft und Historische Zukunftsforschung, in: Friedrich Jaeger u. a. (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd.  1, Stuttgart 2004, S.  401–416; ders., Entdeckung der Zukunft; Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 17–27.

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diese »erinnerte« Vergangenheit der Freimaurer des 18. Jahrhunderts mit dem heutigen Bild vom alten Ägypten kontrastieren.89 Das Verfahren der kontrastierenden begrifflichen Kombination unterschiedlicher Zeiträume ließe sich im Prinzip auch auf die Zukunft als Forschungsfeld erweitern. Dort könnte es dazu einladen, über die Differenz zwischen der gegenwärtigen Praxis, prognostisch-programmatisch Zukünfte zu entwerfen, und einer zukünftigen Gegenwart oder gar einer möglichen Wahrnehmung unserer Gegenwart als zukünftige Vergangenheit nachzudenken.90 Die Geschichtstheorie ist hier gegenwärtig dabei, die Grenzen zwischen den historischen Zeiten neu auszuloten und die pragmatische Dimension ihrer Festlegung durch eine neu reflektierte Zeitpolitik in der Gegenwart herauszuarbeiten.91 4. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Eine andere Variante des mehrbödigen Systems sich überlagernder Zeitschichten stellte der Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) schon 1935 in seiner Schrift »Erbschaft dieser Zeit« mit dem Konzept einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« vor. Darin schrieb er den Sieg des Faschismus in Deutschland dessen Fähigkeit zu, »ungleichzeitige« Konflikte und gesellschaftliche Widersprüche, die aus älteren Zeiten noch liegen geblieben waren, in einen modern anmutenden nationalsozialistischen Zukunftsentwurf zu integrieren und so die Illusion einer Modernität zu erzeugen, die er doch nie werde ein­lösen können.92 Der Sache nach war die Argumentation mit ungleichzeitigen Entwicklungen, die in der Gegenwart gleichzeitig zu beobachten sind, schon wesentlich älter.93 Sie reichte bis in die geschichtsphilosophische Konstruktion der Göttinger Universalhistoriker im späten 18.  Jahrhundert zurück. Schon Johann Christoph Gatterer und August Ludwig Schlözer forderten in der Nachfolge Voltaires, wie oben beschrieben, dass der Historiker ebenso wie jedes Zeitalter so auch jedes Volk als eine Einheit betrachten solle, in der alle Begebenheiten wechsel89 Niklas Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Soziologie und Sozialgeschichte, Opladen 1973, S. 81–115; Jan Assmann, Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2005. 90 Ein erster Ansatz hierzu findet sich bei Isabel Kranz, Die Ruinen der Zukunft. (Fehl)Archä­ ologie und kulturelles Selbstverständnis bei Alfred Franklin, Léo Claretie und Albert Speer, in: Marion Herz u. a. (Hg.), Goofy History. Fehler machen Geschichte, Köln 2009, S. 107–129. 91 Zum Einstieg in dieses noch neue Forschungsfeld siehe Alexander C. T. Geppert und Till Kössler, Zeit-Geschichte als Aufgabe, im vorliegenden Band, sowie Chris Lorenz u. Berber Bevernages (Hg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders Between Present, Past and Future, Göttingen 2013. 92 Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit [1935], Frankfurt 1962. 93 Siehe Achim Landwehr, Von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, in: HZ 295. 2012, S. 1–34.

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seitig aufeinander verwiesen. Aus solchen Analysen gingen die seither geläufigen Beschreibungen des kulturellen Niveaus eines Volkes und seiner relativen Alterungsstufe hervor. Wo man deshalb, wie zum Beispiel Herder in seinen »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit« (1784–1791) oder Schiller in seiner Jenaer Antrittsvorlesung von 1789, »junge« und »alte«, »noch wilde« und »schon kultivierte« Völker gleichzeitig beobachtete, da war der Sache nach immer auch schon von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen die Rede. Die Denkfigur verknüpfte schon damals eine morphologische, auf einzelne historische Subjekte wie Völker und Klassen bezogene Betrachtungsweise mit einer universalistischen, auf die ganze Menschheit bezogenen Geschichtsbetrachtung; anders ausgedrückt: ein Konzept der inhaltlich gefüllten, verkörperten Zeit mit dem einer leeren, chronologischen Zeit. Doch die Formel der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« entstand erst im 20. Jahrhundert und hatte unter Annahme unterschiedlicher Zeitschichten auch andere zeittheoretische Implikationen. Für den Marxisten Ernst Bloch, der den Ausdruck erstmals bildete, schwang das Kapital noch den Taktstock der Geschichte. Ihm zufolge zwang das Kapital auf die Dauer alle »ungleichzeitigen« Entwicklungen in das Prokrustesbett der kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung. Er folgte damit immer noch dem Konzept eines letztlich einheitlichen und konvergierenden Geschichtsverlaufs.94 Im Zuge der Auflösung des einheitlichen historischen Zeitbegriffs in den Sozialwissenschaften verwies der Topos dagegen bei Reinhart Koselleck in den 1960er Jahren auf einen ganz anderen Befund, nämlich auf die temporale Vielschichtigkeit historischer Lagen und Prozesse. Koselleck zufolge lassen sich diese heute kaum noch auf einem einheitlichen Maßstab weltgeschichtlicher Entwicklung abbilden, sie erscheinen daher verschiedenen Beobachtern auch nur noch als ungleichzeitig, ohne es tatsächlich zu sein.95 In solchem neuen Kontext nimmt die Analyse von Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen eine Differenzbestimmung zwischen der morphologischen (gefüllte Zeit) und der universalistischen Betrachtung der Geschichte (leere Zeit) vor, die niemals aufhebbar, sondern nur historisch an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt neu auslotbar ist.

V. Plädoyer für eine Wiederentdeckung der leeren Zeit Der hier bis in die 1990er Jahre skizzierte Abriss historischer Zeitkonzepte seit dem 18. Jahrhundert zeigt, wie sehr die Geschichtsschreibung seither von spezifischen Zeitbegriffen und Zeitkonzepten geprägt und gelenkt wird, die nicht vollständig aufeinander abbildbar und schon gar nicht innerhalb eines einheit94 Ebd. sowie Paul Nolte, Art. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 134–137. 95 Siehe Koselleck, Zeitschichten; Kracauer, Geschichte, S. 171–173.

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lichen Zeitbegriffs homogenisierbar sind. Es wäre daher wohl durchaus möglich, anhand des Wandels ihrer Zeitkonzepte eine Geschichte der neuzeitlichen Geschichtsschreibung zu entwerfen, die zum Kern ihrer jeweiligen Anliegen vorstoßen kann. Zeitkonzepte sind die Bedingung jeder möglichen Geschichtsschreibung. Mit diesem Bekenntnis schließt sich dieser Aufsatz der Forderung von Braudel und Koselleck an, eine Theorie historischer Zeiten zu konzipieren. Eine solche Theorie scheint jedoch weniger konsistent auszu­fallen als Braudel und Koselleck wohl noch hofften. Die Zahl möglicher Zeitkonzepte ist weiterhin offen, ein systematischer Zusammenhang unter ihnen wie etwa der der Kantischen Kategorientafel nicht abzusehen. Das muss kein Nachteil sein, im Gegenteil: Man kann darin auch ein Zeichen historiographischer Produk­ tivität sehen. Gleichzeitig deutet sich in der neuzeitlichen Expansion historischer Zeitmodelle aber auch eine Gefahr an. Im Zuge des Zerfalls eines einheitlichen historischen Kosmos droht sich der moderne Wirklichkeitsbegriff selbst aufzulösen.96 Konzepte der inhaltlich gefüllten, materiell gebundenen und verkörperten Zeit haben den Siegeszug über das Konzept der leeren Zeit angetreten, die nur noch als abstrakte kalendarische Folie für formale zeitliche Relationen dient. Die kalendarische Datierung ist vielfach zur akzidentiellen Zugabe historischer Fakten geworden, die ihre historische Bedeutung erst im Kontext materiell gebundener Zeitkonzepte gewinnen. Der Zusammenhang zwischen den von ihnen verkörperten Zeitwelten wird zunehmend uneinsichtig. Die historische Wirklichkeit verflüchtigt sich dadurch zu einem metaphysischen Konstrukt, einer mathematischen Abstraktion, wie es Leibniz nannte. Die Stärke des historischen Wirklichkeitsbegriffs liegt aber darin, dass er Realität von Fiktion zu unterscheiden erlaubt und bei konkurrierenden historischen Deutungen über ein und denselben historischen Gegenstand zur Entscheidung drängt, welche Deutung der Wirklichkeit näherkommt.97 Im historischen Wirklichkeitsbegriff hängt alles Wirkliche mit allem Wirklichen zusammen, der historische Wirklichkeitsbegriff ist grenzenlos. Das gilt für fiktive Ereignisse, wie sie in der schönen Literatur erzählt werden, nicht. Der Kosmos ihrer Wirklichkeit ist immer begrenzt, er reicht immer nur so weit wie das Kunstwerk, in dem die Ereignisse, Personen und Geschichten erzählt werden.98 96 Stefan Haas u. Clemens Wischermann (Hg.), Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffs in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 2015. 97 Siehe Richard J. Evans, In Defence of History, London 1997 (dt.: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frankfurt 1998). 98 Siehe hierzu die weitläufige Diskussion zum Verhältnis von Realität und Fiktion in der Geschichtswissenschaft, wie sie etwa im Anschluss an Hayden White diskutiert wird. Hayden White, Tropics of Discourse. Essays on Cultural Criticism, Baltimore 1978 (dt.: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986); Stephan Jaeger, Performative Geschichtsschreibung. Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel, Berlin 2011, S. 59–70.

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Zur Konstruktion eines offenen, prinzipiell universalen Wirklichkeitskonzepts ist die Geschichtswissenschaft aber auf das Konzept einer leeren Zeit, wie sie Newton entwarf, angewiesen. Ohne ein solches Konzept zerfällt die Welt in Teil-Wirklichkeiten, welche die materiellen Zeitkonzepte der Akteure nicht mehr überschreiten, sondern in ihnen aufgehen. Die Transzendierung des bestehenden Zustands wird dann zu einer Frage des Orts oder sozialen Zusammenhangs, wenn nicht gar des Zufalls oder bloßer Machtsetzung. Solche Tendenzen sind in der Auseinandersetzung um die postmoderne Geschichtstheorie kontrovers diskutiert worden.99 Sie können jedoch nicht im Interesse einer Geschichtswissenschaft liegen, der an der radikalen Offenheit menschlicher Kommunikation liegt, einer Offenheit, die mehr umfasst als die Ausschöpfung bestehender Spielräume der Kommunikation. Nur in Anerkennung einer allumfassenden Wirklichkeit lässt die Geschichtswissenschaft auch die Perspektive auf eine das Bestehende transzendierende Zukunft offen. Es bedarf zur Anerkennung einer solchen Wirklichkeit der Wiederentdeckung eines Konzepts von leerer Zeit, allerdings einer leeren Zeit, welche die Existenz bestehender Zeitkörper nicht aus-, sondern einschließt. Im Vorgriff auf eine künftige historische Zeittheorie, die solches leistet, sollen hier abschließend einige Anregungen formuliert werden. Im 18. Jahrhundert wurde das Problem der Zeit nicht nur unter erkenntnistheoretischen und naturalistischen, sondern, wie oben gezeigt, auch unter ethischen Gesichtspunkten diskutiert. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte ging diese Dimension allerdings zunehmend verloren. Um sie wiederzugewinnen, mag eine Rück­ besinnung auf die theologische Dimension des Zeitbegriffs bei Newton hilfreich sein. Newton beschrieb die Zeit als ein Organon, eine Eigenschaft, ein Merkmal beziehungsweise als Folge der Existenz Gottes. Übersetzt man den Gottesbegriff als Lebensprinzip, so verweist er auf ein Charakteristikum historischer Zeit, das in der post-metaphysischen Debatte um den Zeitbegriff immer weiter in den Hintergrund gerückt ist: Die Zeit Newtons ist eine Zeit, in der sich das Leben entfaltet, die dem Leben dient und dieses in seiner Ganzheit erhalten will. Newtons Zeitkonzept wohnt so eine normative Dimension der Sorge um die Erhaltung und Entfaltung des Lebens inne. Wenn Zeiträume allerdings als Lebensräume verstanden werden, dann folgt daraus zweierlei. Zum einen strukturiert Zeit bestehende Lebensräume, die ihre je eigene Zeitordnung aufweisen. Diese Zeitordnungen müssen jedoch offen für Übergänge, Verschmelzungen, Mutationen und vollständige Revisionen sein, 99 Siehe etwa die Kontroverse zwischen Frank Ankersmit (Historiography and Postmodernism, in: History and Theory 28. 1989, S. 137–153) und Perez Zagorin (Historiography and Postmodernism. Reconsiderations, in: ebd. 29. 1990, S. 263–274). Dazu Christoph Conrad u. Martina Kessel, Einleitung, in: dies. (Hg.), Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 9–36; sowie Stephan Jaeger, Geschichte als Wahrnehmungsraum. Ihr selbstreflexiver Vollzug in der Geschichtsschreibung, in: Stefan Deines u. a. (Hg.), Historisierte Subjekte – Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, S. 123–140.

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sonst werden sie zu Gefängnissen einer konservativen Zeitpolitik. Das aber ist nur im Horizont einer Konzeption von leerer Zeit möglich. Zeitleere bezeichnet nach dieser Seite also die Potentialität offener Lebensvollzüge. Zum andern bieten die unterschiedlichen Zeitordnungen den Menschen, die in ihnen leben, auch einen Schutz, der nicht einfach aufgegeben werden kann: Junge Menschen leben mit Recht in einer anderen Zeitordnung als alte Menschen  – sie haben zum Beispiel weniger den Tod als ihre Karriere vor Augen. Die nachträgliche Einbeziehung von Menschen früherer Zeiten in unsere moderne Zeitordnung tut ihnen unter Umständen auch Unrecht  – wenn etwa die Mormonen Nichtchristen früherer Zeiten nachträglich und ohne deren Zustimmung durch christliche Patenschaften adoptieren; oder wenn die Taten mittelalterlicher Akteure nachträglich in eine kulturelle Fortschrittsgeschichte eingezeichnet werden. Nach dieser Seite zielt Zeitleere also auf die Zeitautonomie der Menschen. Zeitordnungen sind ein wesentliches Medium sozialer und historischer Gerechtigkeit.100 Diese Gerechtigkeit kann jedoch nur im Medium eines Konzepts von leerer Zeit hergestellt werden. Dabei gilt es schließlich auch noch einen dritten Begriff von Zeitleere zu bedenken, nämlich die Abwesenheit von zeitlichen Relationen überhaupt. Nicht alle Dinge in der Zeit stehen in zeitlicher Relation zueinander. Bei dem Buch, das ich lese, dem Bild, das ich anschaue, dem philosophischen Argument, das ich in einer Diskussion verwende, spielt das historische Zeitverhältnis zwischen mir und meinem Gegenüber meist überhaupt keine Rolle. Gleiches gilt zukunftsgerichtet etwa auch für wirtschaftliche und politische Planungsprozesse. Wie lange ein Bauvorhaben bis zur Fertigstellung braucht, steht meist noch im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit; wie lange der Bau halten wird, oft schon weit weniger; danach, wie lange absehbare Folgeschäden, die durch die Errichtung der Bauanlage entstehen, bis zu ihrer Beseitigung anhalten, wird aber oft gar nicht erst gefragt. Eine künftige Theorie historischer Zeit und Zeiten müsste daher auch eine Dimension ethisch verant­ worteter Zeit­ökonomie enthalten, welche neben positiven Zeitordnungen auch Konzepte der Zeitleere umfasst.

100 Siehe hierzu Herwig Unnerstall, Rechte zukünftiger Generationen, Würzburg 1999, sowie dies., Intertemporale Gerechtigkeit, in: Marcus Düwell u. Klaus Steigleder (Hg.), Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt 2003, S. 422–434.

Penelope J. Corfield

Time and the Historians in the Age of Relativity*

Abstract: Historians study the long-term workings of time as evidenced in the past. Hence the discipline was shaken by Einstein’s radical new physics of relativity (1905/1916), which denied time’s independent reality. Three phases of response are analysed: First, old grand narratives were undercut by  a new cultural relativism and an analytical prioritisation of space and synchronic structures. Second, there was  a revived interest in time as  a cultural variable in its own right. Third, historians rebutted a frontal challenge from postmodern scepticism and theories of atemporalism. Now  a restored awareness of the power of time within the space-time continuum is fostering  a significant “temporal turn”. Historians study, not Time in the abstract, but the long-term workings of Time as evidenced in the past.1 Such a great canvas gives historians a lot to analyse, along with the practitioners of other longitudinal disciplines, including actu­ aries, anthropologists, archaeologists, astro-physicists, biologists, demographers, geographers, geologists, and zoologists. Most specialise in one way or another. Yet they are aware that the synchronic moment is always part of a diachronic process, just as long-term legacies always contribute to the immediate moment. Furthermore, the past is constantly expanding, as Time passes daily, nano­ second by nanosecond. It is a mysterious, restless force, which bounds the cosmos. And there is no simple definition of Time in terms of T=. Instead, it is aptly described as the “familiar stranger”.2 Needless to say, empirical historians do not devote much effort to worrying about its nature. They leave that quest to physicists and philosophers. Yet those who study the past cannot but be affected, even unwittingly, by changing cultural and scientific ideas about temporality. The greatest challenge during the last century has come from the ramifications, both direct and indirect, of the concept of relativity. In Paris in the 1910s, as the historian Lucien Febvre later * The author expresses heartfelt thanks to Tony Belton, Alexander Geppert, Amanda Good­ rich, Till Kössler and the anonymous assessors, for their critical readings of the text; to Sue Morgan for timely bibliographical references; and to Guy Wilson for (sceptically) checking the physics. 1 Note that the capital letter for Time indicates a generic temporality or state of timefulness, rather than specific dates or periods. Space with a capital S also refers to an abstract spatiality or rather than to specific spaces and places. 2 Julius T. Fraser, Time, the Familiar Stranger, Amherst 1987.

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recalled, the first circulation of Einstein’s ideas caused an intellectual furore. Scholars from many disciplines gathered in informal seminars “to delimit, settle and measure precisely the ravages made in our theories by the great advances of modern physics”.3 One immediate challenge was to traditional assumptions that Time was quietly providing an immutable framework, moving existence along in a smooth and unproblematic manner. Relativity theory, however, envisaged both temporality and spatiality in a new way. “Henceforth Space by itself, and Time by itself, are doomed to fade away into mere shadows,” wrote the mathematician Hermann Minkowski, ominously enough, in 1908. He was highlighting the implications of the new physics first introduced in 1905 by his friend and former pupil, Albert Einstein.4 Far from being separate forces, lateral Space and longitudinal Time are inextricably intertwined. Again it was Minkowski who provided a pithy explanation. “Henceforth”, he continued: “Space by itself, and Time by itself, are doomed to fade away into mere shadows, and only a kind of union of the two will preserve an independent reality.” The duality formed a seamless composite, which he named as Space-Time. That portmanteau word has become a commonplace – although a minority of analysts, myself included, prefer TimeSpace, as giving linguistic priority to the dynamic force of unidirectional Time.5 The reverberations of Einstein’s reformulations are still being felt across all fields of knowledge. It is not too much to say that Einstein began a new “Age of Relativity”, which still holds sway. To be sure, there are other potential appellations for the bellicose and inventive twentieth century. Eric Hobsbawm’s “Age of Extremes” is one plausible example that readily springs to mind. Nonetheless, the theoretical and practical impact of relativity not only within the pure and applied sciences but also across the humanities, social sciences, and the wider culture is so pervasive that Einstein’s formulation has a serious claim to being one of the most apt definitions. In that context, it is worth noting that the appropriately named Time Magazine concurs. On 31 December 1999, it nominated Einstein as the outstanding “person of the twentieth century”.6 3 Undated written account by Lucien Febvre, as quoted in Fernand Braudel, Personal Testimony, in: Journal of Modern History 44. 1972, pp. 448–467, here p. 460. 4 Hermann Minkowski, Space and Time, 1908, in: John J. C. Smart (ed.), Problems of Space and Time. Readings, New York 1964, p. 297. For Albert Einstein, see Paul Davies, About Time. Einstein’s Unfinished Revolution, London 1995, p. 15, pp. 31 f. and pp. 44–77; and Germany’s Max Planck Institute for Gravitational Physics website: http://www.einstein-online.info. 5 Penelope J. Corfield, Time and the Shape of History, London 2007, p. 16 (added emphasis). I chose this usage independently but, upon further research, was pleased to find fellow revisionists: Milič Čapek, Time-Space Rather than Space-Time, in: id., The New Aspects of Time. Its Continuity and Novelties, Dordrecht 1991, pp.  324–342; Erik Christiansen, The Musical Timespace. A Theory of Music Listening, Aalborg 1996; Jon May and Nigel Thrift (eds.), Timespace. ­Geographies of Temporality, London 2001; Lu Cheng-Ming, Behind Civilization and History. Towards Understanding Man in Time-Space, London 2001. 6 Eric Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century, 1914–1991, London 1994. Time Magazine, 31.12.1999, front-cover.

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For historians, a number of puzzling questions were raised by Einstein’s new physics. If Time in the era of relativity is fading into a shadow, then should the discipline of history fade too? In the new physics, temporality can be understood, in certain specific circumstances, as curved or warped. Does that concept abolish any chance of finding a coherent narrative running from past to pre­ sent? In fact, no. It should not and has not. Yet it has taken a circuitous route for historians to respond. Without going into all the ramifications of all the global debates, this essay explores schematically: relativity and the dethroning of ab­ solute Time; the analytical rise of Space; the exploration of “lived Time” as a cultural variable; the challenge of atemporalism and postmodern scepticism; and, eventually in the early twenty-first century, the coming “temporal turn”, with a refreshed understanding of Time in Space (and, naturally, vice versa).

I. Relativity and the Dethroning of Absolute Time Einstein’s great intellectual breakthrough managed both to demonstrate and to explain how time measurements, when made by observers moving at vastly different speeds, will not appear constant. Such an outcome appears to contradict everyday expectations. But time measurements actually vary in relation to the differential mobility of the observing agent. That is, people travelling in space at very different speeds would experience the passing of time at different rates. In one sense, it was a theoretical point, since in practice all humans live on or (in the case of astronauts) very close to Planet Earth. But practical understandings were also transformed. Einstein argued that Energy and Mass are not separate but complexly linked. He provided the famous formula E=mc2. It calculated the energy content (E) of a mass at rest, in terms of its mass (m) multiplied by the speed of light (c from the Latin celeritas) squared. Einstein himself agreed that the implications of relativity theory were epic. “Time is no longer absolute”, he declared. This new formulation, which eventually swept the board, was named initially as Special Relativity (1905) and then broadened into General Relativity (1916). The earlier view, promulgated by Isaac Newton in the later seventeenth century, had stated clearly that: “Absolute, True, and Mathematical Time, of itself, and from its own nature flows equably without regard to any thing external, and by another name is called Duration.”7 It seemed an unassailable bedrock. In fact, Newton did distinguish this formulation from mere “Relative, Apparent, and Common Time”, which was locally applicable. Yet it was the absolute principle that informed the study of physics and, by extension, that same absolute principle seemed amply confirmed by all other longitudinal subjects, including history, geology, geography, and (importantly 7 Isaac Newton, Principia Mathematica, London 1686, liber primus, pp.  35 f. (engl.: The ­Mathematical Principles of Natural Philosophy, London 1729, vol. 1, p. 9).

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for the devoutly if unorthodoxly Christian Isaac Newton) theology. It was this consensus on Time that Einstein’s relativity undermined, causing the intellectual “ravages” which Lucien Febvre witnessed in prewar France. Before going further, however, two key qualifications should be noted. In the first place, neither Einstein nor Minkowski believed that they had abolished Time. Their views do not, therefore, give comfort to those heretics in physics and social philosophy who reject the very concept of temporality. Instead, ­Einsteinian relativity was based upon the integral links between Time and Space. Thus the theory should really have been defined as “relationality”, since that is what it expressed. A second qualification is also important. Relativity as a theory of physics was hard to comprehend, but its terminology was culturally accessible. It appeared to imply, in  a way that Einstein had not specified, that absolutes were everywhere to be thrown into doubt. Catch-phrases such as “Everything’s relative” or “Anything goes” began to circulate, especially in liberal western circles. Such declarations acted as antidotes to dogma. They also expressed a tolerant humility, which fitted with Einstein’s own personality. He reportedly defined his new science in playful terms for popular consumption: “When you are courting a nice girl, an hour seems like a second. When you sit on a red-hot cinder, a second seems like an hour. That’s relativity.”8 His dictum cleverly caught the subjective/perspectival aspect of people’s responses to temporality, while allowing his audience to assume (wrongly) that there were no other absolutes. If that were so, than anything indeed might go. Thus an advertisement in Time Magazine in 1979, celebrating the centenary of Einstein’s birth, declared resoundingly that: “In the cool, beautiful language of mathematics, Einstein demonstrates that we live in a world of relative ­values.”9 However, not so. The success of relativity (or relationality) as a better form of understanding the physical universe did not banish all philosophical or physical absolutes, either in theory or practice. Indeed, there is a paradox in asserting positively that nothing can be known. Surely a true belief-in-doubt could only plausibly be formulated with a hesitant question mark? In fact, a statement like “Everything is relative” is itself an absolute claim. As for Einstein, he specifically rejected a complete relativism whether in physics or in morals. He had no intention of endorsing either scepticism or subjectivism. Indeed, he reacted angrily to a colleague’s suggestion that individual electrons chose how to react when exposed to radiation.10 There had to be some absolute yardsticks in the cosmos, 8 News Chronicle, 14.3.1949; quoted in Simpson’s Contemporary Quotations, Boston 1988, p. 208. His explanation also appears, with slight variations, in many websites of Einstein quotations (usually cited without a source). 9 Time Magazine, 24.9.1979, opposite p. 64. 10 Einstein’s letter of 29.4.1924, in: Max Born (ed.), The Born-Einstein Letters. Correspondence Between Albert Einstein and Max and Hedwig Born, London 1971, p. 82.

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in order to be able to measure change. Thus Einstein’s already-cited formula E=mc² contains a constant that remains so by definition. The speed of light in a vacuum (c) constitutes the invariant yardstick, measured at 299,792,458 metres per second. Similarly, within quantum physics, which paralleled and then augmented the Einsteinian breakthrough, there remains an irreducible core value within the sub-atomic fluidity. That is Planck’s constant (h), against which all other fluc­ tuations are measured. The advent of quantum physics – a term coined in 1931 – undoubtedly added to the lay sense of wonder at the mysteries of the universe. It was discovered that some physical quantities change only in discrete amounts (in Latin: quanta), and not in a continuous way. That discovery also seemed to militate against any simple view of a steadily unfolding Time. Nonetheless Max Planck, one of the best-known founders of this new field, also strenuously rejected a complete relativism. Without some invariant unit of measurement, it would be impossible to estimate the tiniest leaps and mutations at sub-atomic level. Thus, even though quantum mechanics relies upon probabilistic calculations of momentum, it still needs a yardstick which is provided by Planck’s constant, calculated at 4.2 thousand-trillionth of an electron-volt second.11 Such ideas were startling enough, even for physicists, who still debate how best to synthesise relativity theory with quantum physics. Naturally, the effects were even more mystifying for laypeople. The physical universe was emerging as dramatically much more complicated than it immediately appears (which anyway is far from simple). Such complications made it intellectually comprehensible to take a precautionary view, murmuring that: “everything is relative”, even though few if any people actually manage to live without believing in one or two fundamental points. Notwithstanding the doubters, generations of human effort have demonstrated that the great cosmos and its local manifestations are neither completely immeasurable nor entirely unknowable. After all, neither Time nor Space has actually dwindled into a shadow (or, from  a Platonic viewpoint, those concepts are no more or less shadowy than they were before Einstein). Humans still walk firmly on the ground and still continue to count the passing minutes, hours, days, weeks, years, centuries and millennia; but the new scientific knowledge, complete with the wider cultural simplifications, gave scope for new approaches in the arts and social sciences. Above all, longitudinal Time seemed dethroned from its old absolute status. Henceforth, it was humbly yoked in its relativistic relation to the lateral co-­ extensiveness of Space, which accordingly became the first conceptual beneficiary of Einsteinian physics.

11 For Max Planck and his formula, engraved on his simple gravestone in Göttingen, see John D. Barrow, The Constants of Nature. From Alpha to Omega, London 2002, pp. 23–26.

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II. The Analytical Rise of Space At the start of the twentieth century, history as  a discipline was becoming  a large, well-established and ecumenical subject, ballasted by in-depth empirical research into original sources. It was developing many sub-disciplines, ensconced in different national traditions, and all about to become professionalised in universities across the world. The classic concerns of historians were with long-term trends, causes, and effects. This tradition was not one for rapid turning. But gradually rival approaches began to encroach, via innovations in neighbouring subjects in the social sciences. These were stirred not only by new scientific theories but also by applied technologies which in the later nineteenth and early twentieth centuries were producing the motorcar, the airplane, the steamship, the telephone, the telegraph and the radio. Travel times were slashed and people across the world could communicate instantly. The globe ­itself seemed to be shrinking: a practical invocation of the relativity of spatial relationships. Synchronicity became  a matter of particular fascination, as the advent of the telephone, radio and later television generated the new phenomenon of secondary (non face-to-face)  orality.12 In that context, it was not surprising that linguistics provided the first case of a subject that switched its emphasis from the diachronic (through-time)  to the synchronic (at-one-moment). Traditionally, scholars had focused upon the provenance of words, in a rather antiquarian style. In 1917, however, that approach was subverted by Saussure’s “Course in General Linguistics”. He was not interested in word-origins and long-term trends but in how language conveyed meanings at any given point in time.13 His focus was upon words in use: the meshing of word/meaning within the contemporaneous spatiality of speakers and listeners (rather than their specific physical location). Strikingly, both Saussure and Einstein shared  a similar intellectual background in the cultural ferment of later nineteenth/early twentieth-century central Europe. That multi-ethnic and multi-national region, between East and West, was a hub of diversity, interaction, and simmering conflict. Saussure, who was Swiss-born, was Professor of Linguistics in Geneva, whilst the German-­ born Einstein studied at Zurich and worked in Bern as a young man. The two men had a common contact in the form of another Swiss linguist, Jost Winteler. He was especially well known to Einstein, who acknowledged him as an inspi12 Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Munich 1977; Stephen Kern, The Culture of Time and Space, 1880–1918, Cambridge, MA 1983; John Stokes (ed.), Fin de siècle, fin du globe. Fears and Fantasies of the Late Nineteenth Century, Basingstoke 1992; Walter J. Ong, Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London 1982. 13 Ferdinand de Saussure, Cours de linguistique générale, Lausanne 1916 (engl.: Course in General Linguistics, Glasgow 1977); Jonathan Culler, Saussure, Glasgow 1976; Roy Harris, Reading Saussure, London 1987; John E. Joseph, Saussure, Oxford 2012.

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rational figure. Winteler was a pioneer analyst of linguistic sound patterns. For him, they made their meanings within a “configurational or situational relativity” (Relativität der Verhältnisse).14 Saussure’s approach to linguistics became known as semiotics or structural linguistics. It quickly became predominant within the relatively small and homo­geneous discipline, thanks especially to support in the 1920s from scientific linguists like Roman Jakobson. (Only later and modestly did historical linguistics start to reassert its complementary validity.) Structural linguistics was thus the pioneer subject to become influenced by a timeless “structuralism”. That term became pressed into service to define a mode or style of enquiry rather than a single ideology, privileging synchronic meanings over diachronic trends, causes and effects.15 Another significant case, learning from linguistics, was cultural anthro­ pology. Particularly in the early years of the subject, there was an assumption that the so-called “primitive” societies in different parts of the world were somehow timeless and immune to change. Closely studied, these apparently “uncontaminated” humans – by some still called “savages” – would reveal the essence of human nature, unblemished by twentieth-century technology and economic materialism. Thus Claude Lévi-Strauss (once widely revered but now in deep intellectual eclipse) sought to reveal “The Elemental Structures of Kinship” (1949) and to found the subject of “Structural Anthropology” (1958).16 These findings were presented as fundamental and timeless, although in fact change became apparent when later anthropologists returned to these societies and got different results. In the case of Margaret Mead in Samoa, there were claims that she had been hoaxed.17 Either way, the first findings could not be freeze-framed. Other fields that were sooner or later attracted to structuralist approaches were social philosophy, cultural studies, literary theory, and Althusserian Marxism. Many historians at this stage remained aloof. Nonetheless, there were some signs of cross-over and intellectual fertilization. One came from Lucien Febvre, who was one of the founders of France’s influential Annales school of historians. His study of “La terre et l’évolution humaine” (1922) constituted a limpid call 14 For Jost Winteler, see Walter Isaacson, Einstein. His Life and Universe, London 2007, p. 27, p. 29, p. 38 and p. 67; and Roman Jakobson, Verbal Communication, in: Selected Writings, vol. 2: Word and Language, The Hague 1985, pp. 81–92. 15 For Roman Jakobson, see Linda R. Waugh, Roman Jakobson’s Science of Language, Lisse 1976. Theodora Bynon, Historical Linguistics, Cambridge, 1977; Raimo Anttila, Historical and Comparative Linguistics, Amsterdam, 1989. Jonathan Culler (ed.), Structuralism, London 2006. 16 See Claude Lévi-Strauss, Les structures élémentaires de la parenté, Paris 1949 (engl.: The Elementary Structures of Kinship, London 1969); and id., Anthropologie structurale, Paris 1958 (engl.: Structural Anthropology, Harmondsworth 1963). 17 Lowell D. Holmes, Quest for the Real Samoa. The Mead/Freeman Controversy and Beyond, South Hadley, MA 1987; Peter Mandler, Return from the Natives. How Margaret Mead Won the Second World War and Lost the Cold War, New Haven 2013.

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for a geographical history, stressing the “rapport” between human culture and its local environment.18 It proved to be a prescient programme call for countless local and regional studies. Febvre thus provided an intellectual link – onwards to the twentieth-century’s foremost analyst of geo-history, his younger friend Fernand Braudel – and backwards to the first excited reception in Paris of relativity theory. Yet another contribution focused not upon physical geography but upon simultaneous political linkages in one time and place. In 1929 Lewis Namier, an Anglicised Polish Jew with a Central European education, made converts and stirred disputes in equal measure with his radically novel study entitled “The Structure of Politics at the Accession of George III”.19 He had been influenced by the theories of Vilfredo Pareto, who saw power as circulating between rival elites rather than changing Marxist-style from social class to social class. Accordingly, Namier’s title revealed his synchronic focus, as he investigated not great trends but the short-term mechanics of political horse-trading among Britain’s ruling aristocrats in the 1750s. Namier’s technique of group biography has became known as prosopography.20 It attracted immediate attention and, in Britain by the 1950s, was being applied to many other periods by a dedicated group of Namierite historians. Over time, however, it has transpired that this method of enquiry works best for studying close-knit groups within stable systems but is much less helpful for explaining conflicts and revolutionary upheavals. One unimpressed critic ­denounced the whole endeavour as ignoring both the power of ideas and the influence of wider social groups. Thus the Namierites’ pointilliste gathering of biographical details about political insiders was creating nothing but “a rope of sand, a series of non-sequiturs.”21 Nonetheless, Namier’s methodology was absorbed into historians’ research repertoire. It found later applications in social and demographic history, and also in social-scientific studies of power networks – a “sleeping” legacy from continental structuralism. Meanwhile, throughout the early twentieth century, big bold surveys of global history over many centuries continued to appear, although the majority of specialist historians stuck to relatively finite periods of (say) no more than two to three centuries. Those big panoramic accounts, which attracted much public attention, could not be more different from Namier’s close focus upon one decade and one political milieu. Leading examples were Oswald Spengler’s “Decline of the West” (1922) and, later, Arnold Toynbee’s multi-volume “Study 18 Lucien Febvre, La terre et l’évolution humaine. Introduction géographique à l’histoire, Paris 1922; J. H. Paxton, A Geographical Introduction to History [1925], London 2003. 19 Lewis B. Namier, The Structure of Politics at the Accession of George III, London 1929; see also Linda Colley, Lewis Namier, London 1989. 20 Lawrence Stone, Prosopography, in: Daedalus 100. 1971, pp. 46–71; reprinted in id., The Past and the Present Revisited, London 1987, pp. 45–73. 21 Herbert Butterfield, George III. and the Historians, London 1957, pp.  10 f., pp.  204–215, p. 293, pp. 297–329, esp. p. 214.

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of History” (1931–1965).22 Both offered visions of cyclical history which sapiently warned of the fall as well as the rise of world powers. Yet by the 1950s their reputations began to nosedive and their style of history went decidedly out of fashion. The mid-twentieth-century wars and associated upheavals fostered  a reaction against big apocalyptic end-time visions on the one hand and histories of endless sunlit progress on the other. Correspondingly, the exploration of Space remained much more promising than the conceptual murkiness and unpredictability of Time’s unfolding in history. There were many literary, filmic and science fiction speculations, in post-Einsteinian vein, about temporal crossovers, variations, feedbacks and loops.23 Jorge Luis Borges’s short story “The Garden of Forking Paths” (1941) was an example of an intellectual play with the concept of infinite options within history-as-a-labyrinth. His theme is often taken as a literary cogitation on the “many worlds” hypothesis in quantum physics (even though, at the conclusion of Borges’s intricate story, there was a finite physical encounter and a finite murder to end the tale). Given these uncertainties – both playful and intently serious – attention in the 1950s turned to Space as the potential brave new frontier. The new rocket technology would lead the way, turning war-honed expertise from destruction into exploration. Humanity would be lifted out of the close confines of Planet Earth. Colonies on the moon were envisaged, which were to be followed, somewhat later, by regreening strategies for the nearest planets (Mars being a favourite). Bullish tracts enthused about a new Space Age, and promised, with some hubris, the “Conquest” of Space.24

III. The Exploration of “Lived Time” From the 1960s onwards, this compound of political, economic, intellectual, cultural and scientific trends began to have  a perceptible impact upon mainstream history. There was  a long-term seismic shift, which is only now coming to the end of its cycle. Prolonged narratives began to give way to in-depth probes. Old-style longitudinal studies of political, constitutional, and diplo22 For Oswald Spengler, see John Farrenkopf, Prophet of Decline. Spengler on World History and Politics, Baton Rouge 2001; for Arnold J. Toynbee, see Corfield, Time and the Shape of History, pp. 55 f.; and contemporary responses in M. F. Ashley Montagu (ed.), Toynbee and History. Critical Essays and Reviews, Boston 1956. 23 Hans Meyerhoff, Time in Literature, Berkeley 1955; and Gary Westfahl et al. (eds.), World Enough and Time. Explorations of Time in Science Fiction and Fantasy, Westport 2002. 24 Among many studies with this title, see Harry Harper, The Dawn of the Space Age, London 1946; see also the companion-essay by Alexander C. T. Geppert, Die Zeit des Weltraumzeitalters, 1942–1972, in this volume. Patrick Moore, The Conquest of Space, London 1959; Francis Dréer, Space Conquest. The Complete History of Manned Spaceflight, Sparkford 2009.

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matic history did not disappear. Yet such approaches became relatively sidelined, not so much in examination papers as in the activities of young researchers. Even economic history, which began in the early twentieth century as the insurgent rival to “stuffy” old political history, found itself in the intellectual doldrums. It moved suddenly from a “high noon” of popularity to relative eclipse in the 1970s, especially as new quantitative methodologies turned the subject into a dry and highly technical area of expertise.25 Instead, the new fashions encouraged from the 1960s onwards an eclectic mix of urban history, social history, gender history, the history of sexuality, and, especially in the 1980s and 1990s, cultural history. The new characteristic style became that of “synchronic immersion” (latitudinal, in-depth, colourful) rather than “diachronic sweep” (longitudinal, narrative, cool-toned). Favoured themes included identities (group or individual), mind-sets (French: mentalités), or “meanings” (whether symbolic or literal). Inspiration was found in a range of ideas – not from physics directly, but indirectly from anthropology, literary theory and social philosophy. One instance in the latter category took the form of explosive debates in the 1970s and 1980s over Michel Foucault’s claims for the hegemonic power of language and “discourse”.26 There was also, in terms of temporal focus, a strengthened willingness to focus on micro-histories. One widely read example was “Montaillou” by Emmanuel Le Roy Ladurie, a prominent Annaliste, who was updating his colleagues’ earlier emphasis upon longitudinal analysis.27 Everywhere, the process of change was visible in new courses, new research projects, new publications, new academic societies, new journals and new terms of art, like “discourse”, all with distinctive fluctuations in their popularity. “Lived Time” now entered the historians’ research agenda not as the dominant master force but as a relevant cultural variable in its own right. There was no expectation that all would respond to or understand temporality in the same way. Instead, relativity was accommodated by explorations of: firstly, changing ways of measuring Time; secondly, changing communal experiences of Time; and thirdly, changing ways of thinking about Time. The themes had the further merit of being cross-disciplinary, linking to the history of technology, intellectual history, and social-cultural history. With that breadth, Time studies have begun slowly to multiply. It is notable, however, that their approaches are so var25 Donald C. Coleman, History and the Economic Past. An Account of the Rise and Decline of Economic History in Britain, Oxford 1987. 26 Michel Foucault, Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings, 1972–1977, Brighton 1980. See also James P. Gee, An Introduction to Discourse Analysis. Theory and Method, London 2005. 27 Emmanuel Le Roy Ladurie, Montaillou, village occitan de 1294 à 1324, Paris 1975 (engl.: Montaillou, Cathars and Catholics in a French Village, 1294–1324, London 1978). See also Peter Burke, The French Historical Revolution. The Annales School, 1929–1989, Cambridge 1990; and Sigurôur G. Magnússon and István M. Szíjártó, What is Microhistory? Theory and Practice, Abingdon 2013.

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iegated that they have not established a specialist sub-field with separate journals and conferences. Such is the embeddedness of the concept that temporality may be examined in any guise – yielding rich research data but tending to restrict twentieth-century historians’ interest in theorising on the subject. Changing technologies of Time measurement and their cultural impact form one obvious subject for contextual exploration. Classics in the genre include Carlo Cipolla’s “Clocks and Culture” (1967); David Landes’s “Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World” (1983); and Gerhard Dohrn-van Rossum’s “Die Geschichte der Stunde” (1992).28 Older technologies of time measurement often continued alongside newer ones too. Thus the regular ringing of the church bells remained part of the sensory landscape in ­ eople nineteenth-century rural France, as Alain Corbin has demonstrated.29 P were nudged into awareness of the diurnal round without any special effort on their part. Indeed, cultural embeddedness remains a feature of communal understandings of temporality, since the passing of Time is not constantly at the forefront of human consciousness. To aid awareness, key moments of the annual cycle, such as New Year or midsummer, are often commemorated by popular festivals. For example, one affectionate study has highlighted the rich variety of local celebrations of the “Seasons of the Sun” in seventeenth-century Britain.30 Moreover, some of these enjoyable popular traditions, albeit subject to change in d ­ etails, survive to this day. Communal attitudes to the timetabling of daily life have thus proved a second great theme for Time studies in social and cultural history. Particularly im­ portant here was the scintillating 1967 essay by the heterodox English Marxist historian, Edward (E. P.) Thompson.31 In his “Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism”, he acknowledged a specific debt to anthropology, with its quest to understand the daily “lived experience” of ordinary people. For Thompson, a wide array of evidence, including poems and songs, suggested to him there was a great break in British history with the coming of factory discipline. Thereafter industrial workers toiled in an externally timetabled system, 28 Carlo M. Cipolla, Clocks and Culture, London 1967; David S. Landes, Revolution in Time. Clocks and the Making of the Modern World, Cambridge, MA 1983; Gerhard Dohrn-van Rossum, Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, Munich 1992. 29 Alain Corbin, Les cloches de la terre. Paysage sonore et culture sensible dans les campagnes au XIXe siècle, Paris 1998 (engl.: Village Bells. Sound and Meaning in the Nineteenth-­ Century French Countryside, London 1999). 30 Ronald Hutton, The Stations of the Sun. A History of the Ritual Year in Britain, Oxford 1991. 31 Edward P. Thompson, Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism, in: Past & Present 38. 1967, pp. 56–97; also in: id., Customs in Common, London 1991, pp. 352–403. See also Bryan D. Palmer, The Making of E. P. Thompson. Marxism, Humanism and History, Toronto 1981; Harvey J. Kaye, The British Marxist Historians. An Introductory Analysis, Cambridge 1984; and Scott Hamilton, The Crisis of Theory. E. P. Thompson, the New Left, and Postwar British Politics, Manchester 2011.

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under close supervision, with “work” divorced from the rest of “life”. It was a fate which he contrasted unfavourably with the task-oriented lifestyles of pre-­ industrial times, clearly implying that the repressive force of industrial capitalism should be rejected. This interpretation was an activist one, incorporating change (and resistance to change), which matched with Thompson’s rejection of all forms of innate structuralism.32 His unorthodox Marxism here chimed with the individualist attitudes found in 1970s hippy counter-culture: “do your own thing”. Gradually, an array of studies took up the challenge to discover exactly what people historically did with their time all day. Generally the result has been to find more and more complexities, hence rejecting interpretations which focus upon single short periods of universal transformation. In explicit opposition to E. P. Thomson, Nigel Thrift and Paul Glennie argued that the manu­ facture and use of clocks and watches had developed in England well before the later eighteenth century.33 Accordingly, they found no single watershed between “pre-­industrial” and “industrial” times. Timetabled lives were to be found long before the 1790s, just as they dominate today among many urban-industrial populations around the world of whom only a minority actually work on the factory floor. All these studies are immersed in relevant historical detail, taking ever deeper the historians’ creed of loyalty to the original sources. The aim is not to supply new theories of history – and still less definitions of Time – but to apply the test of evidence within a longitudinal context to all generalisations. Provocative universals thus do not get sympathetic hearings. The suggestion, made in 1981 by the Bulgarian-French feminist Julia Kristeva, that  a fluid, cyclical “women’s time” eternally contrasts with an inflexible male linearity, has not ultimately found much support, even from fellow-feminists.34 Such an essentialist view not only underplays historic variations between different cultures and different epochs but also ignores the equally crucial areas of congruent experiences between men and women. As such remarks indicate, Time remains a great topic for dramatic dicta and summary sayings. After all, like sex and death, it is ubiquitous and unavoidable sooner or later. Hence a third fascinating theme is the analysis of historical attitudes to Time. Changing viewpoints among scientists provide one way into understanding the history of science itself. Similarly, philosophical ideas about 32 For Thompson’s polemic against Louis Althusser and structural Marxism, see id., The Poverty of Theory and Other Essays, London 1978. 33 Nigel Thrift and Paul Glennie, Shaping the Day. A History of Timekeeping in England and Wales, 1300–1800, Oxford 2009. Other studies include Hans-Joachim Voth, Time and Work in England, 1750–1830, Oxford 2001; and Tamara K. Hareven, Family Time and Industrial Time. The Relationship Between the Family and Work in a New England Industrial Community, Cambridge 1982. 34 Julia Kristeva, Women’s Time, in: Signs 7. 1981, pp. 13–35. See Karlyn Crowley, Feminism’s New Age. Gender, Appropriation and the Afterlife of Essentialism, Albany 2011.

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Time can illuminate not just the history of philosophy but also wider cultural attitudes.35 There are some seismic eras when people think that they are living in the eye of change. Apocalyptic visions of the end of the world come into this category. But sometimes change may be viewed more benevolently. In intellectual circles in later eighteenth-century Germany and Western Europe more generally, many came to express an optimistic sense of a “new time” or “Neuzeit”. Instead of the imminent End of the World and the Last Judgment, history began to seem not pre-set but open-ended and full of options. This shift was analysed particularly by Reinhart Koselleck, who was one of the founders of the German Begriffs­geschichte, studying historical concepts in historical context. He himself expressed some doubt as to whether “there actually is something called historical time.”36 The concept of relativity lurked in the background. But his research proceeded to analyse the eighteenth-century advent of linear views of Time, and highly optimistic ones at that. The Victorian belief in “Progress” was in the offing. Two powerful models vying for support were Whiggish views of a steady process of betterment or a Marxist-Hegelian belief in advancement via a series of revolutionary breaks, although it is worth remembering that older models of history as a great cycle (or series of cycles) had by no means disappeared.37 Notably, even while most social and cultural historians of Time eschew simple longitudinal narratives, they generally incorporate some element of change. Often it took the binary form of “before” and “after”. In Thompson’s case, it was  a shift from pre-industrial to industrial times. For Koselleck, it was the transition from a traditional cyclicality to a linear “Modernity”. These changes might arguably be aligned as different definitions of the same process; but other historians have found other turning points for other trends in many other periods. Cumulatively, the effect has generated not a new long-term narrative but a widespread confusion. “Modernity” in particular has become, via over-use, a fuzzy and problematic concept. People in more than one era have seen themselves as in the vanguard 35 See variously Stephen Toulmin, The Discovery of Time, London 1965; Robert DiSalle, Under­standing Space-Time. The Philosophical Development of Physics from Newton to Einstein, Cambridge 2006; Jon Agar, Science in the Twentieth Century and Beyond, Cambridge 2012; Adrian Bardon, A Brief History of the Philosophy of Time, Oxford 2013, and Jon Whitman (ed.), Romance and History. Imagining Time from the Medieval to the Early Modern Period, Cambridge 2015. 36 See Reinhart Koselleck, Neuzeit. Remarks on the Semantics of the Modern Concepts of Movement; and id., Space of Experience and Horizon of Expectation. Two Historical ­Categories, both in: id., Futures Past. On the Semantics of Historical Time, Cambridge, MA 1985, pp. 250–253 and pp. 276–282, here p. XXI f. See also Niklas Olsen, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012. 37 John B. Bury, The Idea of Progress. An Enquiry into its Origin and Growth, London 1920; Christopher Lasch, The True and Only Heaven. Progress and its Critics, New York 1991; Gerald A. Cohen, Karl Marx’s Theory of History, Princeton 1978; David McLellan, Marxism after Marx, Basingstoke 2007.

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of history. A great variety of studies have detected the “birth of the new” in periods ranging from classical antiquity via the fourteenth century to the twentieth-­ century postwar world. Yet those accounts cannot all be talking accurately about the same concept of “modernity”. What exactly does it mean? Jürgen Habermas intervened magisterially from Germany to argue that modernity remains an “unfinished project” (1981). Yet, for Bruno Latour, the French sociologist of science, the epic moment is yet to come: “we have never been modern” (1993).38 The problems of labelling past ages indicated the areas of interpretation that remain subjective. Are historians overly projecting their own views onto scrappy and imperfect evidence? Can the past really be recovered by later generations? By the 1990s, that lurking challenge to all historians was coming into the open, fostered by relativistic doubts at a moment of cultural flux and millennial anxiety.

IV. The Challenge of Atemporality and Postmodern Scepticism By the later twentieth century, historians collectively were able to research, explain, and analyse the past in an impressive set of specialist categories. Yet their marked eclecticism in terms of their choice of themes and periods, and their collective stress upon complexities, were not providing clear messages to one another, let alone to the wider public. In that context, there was scope for intellectual challenge from outside the discipline. Professional history had become modest and realistic in its claims. It had long become divorced from prophecy, even if in troubled times people might hope that the past would offer guidance for the future. All the old Grand Narratives – giving a big picture of everything, seamlessly from start to finish – had run into the sands. Linear “progress”, after two world wars and the revelations of the Holocaust, had lost its plausibility as an across-the-board scenario. There are still enthusiasts for technological utopias, with or without the help of robots or cyborgs. Yet, alongside them, sober analysts equally warn of global population overload and/or ecological degradation and/or doomsday climate change. Equally, the confident Marxist expectation of progressive change through dialectical (revolutionary) leaps from one system to another, culminating in the world-side success of communism, has not turned out as predicted. The system has been overthrown in many countries; in those still technically professing communism, the all-powerful central state has not “withered away” as prom-

38 Corfield, Time and the Shape of History, pp. 122–149, esp. pp. 134–139. See also Antoine Compagnon, Five Paradoxes of Modernity, New York 1994. Jürgen Habermas, Modernity. An Unfinished Project [1981], in: Maurizio Passerin d’Entrèves and Seyla Benhabib (eds.), Habermas and the Unfinished Project of Modernity. Critical Essays, Cambridge 1996, pp. 38–55; Bruno Latour, We Have Never been Modern, New York 1993.

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ised, nor has social and cultural equality been achieved.39 No clear pathway, whether steadily linear or via successive class-revolutions, holds sway. Similarly, cyclical models of history, with their stress upon the regularity of change, also faced problems. They could incorporate failures and reverses. Yet radical changes do not fit easily into patterns of cyclical repetition. Hence unprecedented developments, such as the detonation of the atom bomb (1945), manned moon-landings (1969–1972), the advent of the world wide web (1991), and the growth of human population to an all-time high, are hard to interpret plausibly as just “more of the same”. These changes do incorporate familiar ­features (warfare, technological innovation, human reproduction), but not in ­familiar ways or with familiar outcomes. Alongside these theories, the twentieth-century historians did provide one genuinely novel interpretation, which was propounded by Fernand Braudel in the late 1950s. He followed his friend and mentor, Lucien Febvre, in stressing the importance of geography; but in a new multi-layered way. Braudel’s model saw the physical world as permanently calibrated at a glacial pace of change, verging on the static. This deep continuity he termed la longue durée. On the surface of history, he allowed that there was an animated “froth” of events; and below that, another intermediate layer of long-term trends. But these were, relatively speaking, ephemera. Real history moved at a glacial pace: with “a slower tempo which sometimes almost borders on the motionless.” It was a formulation which justly pointed to elements of deep continuity which are too often overlooked.40 Nonetheless, the Braudelian model underplayed the importance of events and trends, while it equally overestimated the stability of geographical factors. As a result, Braudelian geo-history was also unable to explain twentieth-century ­political, military, social, economic, technological and environmental upheavals, let alone radical transformations in earlier eras. Despairingly, one cry was recirculated to the effect that “history is no more than one damn thing after another”. A historian first coined that remark in 1935, in a moment of analytical vexation.41 It updated the old Henry Ford dictum that “history is bunk”. These claims hardly disproved the value of studying the past systematically; but they tended to be reiterated in face of complications. By the 1990s particularly there was a recrudescence of serious doubt in many (but not all) western intellectual circles, especially among disillusioned or dis­appointed Marxists. The certainties of a regularly unfolding Time and, with 39 For critiques, see Stephen F. Kissin, Farewell to Revolution. Marxist Philosophy and the Modern World, London 1978; and David Conway, A Farewell to Marx. An Outline and Appraisal of his Theories, Harmondsworth 1987. 40 Fernand Braudel, Écrits sur l’histoire, Paris 1977, p. 33 (engl.: On History, London 1980). See also id., History and the Social Sciences [1960], and History and Sociology [1958–1960], both available in: ibid., esp. pp. 27–33 and pp. 74–78. See Corfield, Time and the Shape of History, pp.  26–48; and id., Why is the Formidable Power of Continuity so often Overlooked?, November 2010, http://www.penelopejcorfield.co.uk/BLOG/Archive_Blogs/1. 41 H. A. L. Fisher, A History of Europe, London 1935, vol. 1, p. VII.

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that, a regularly unfolding history, were once again put under critical scrutiny. Perhaps there are “many worlds” in parallel, not just one, even if humans have no access to such speculative universes. Alongside the endless flux of quantum mechanics at the micro-level, some scientists and mathematicians turned to study “chaotic” systems in the macro-world. In fact, the outcome enabled probabilistic scenarios of non-linear factors to be modelled, in order to understand the potential consequences of unpredictable conjunctions. As popularised, however, “chaos theory” seemed to legitimise  a generalised doubt: “everything is chaos”. Specifically, too, it made fashionable  a focus upon the role of contingency in history rather than systematic long-term trends or deep continuities.42 Once again a minority of physicists reiterated doubts about the very existence of Time. Some literary scholars followed suit. One detected a crisis in old-fashioned views of linearity and urged instead a “new construction of temporality”, which would be flexible and circuitous rather than unvarying and direct.43 Time seemed “broken”. Above all, it was Jacques Derrida, the Algerian-­French literary scholar with a following on the USA campus circuit, who gained the most publicity for a thorough-going scepticism. For him, Time had no independent reality, being a concept which “belongs entirely to metaphysics” (clearly, not intended as a compliment). Instead, he evoked an atemporal spatiality, which he named as khôra (Greek: space or site).44 It constituted an eternal present which was able to absorb apparent temporality. But, alas, a sympathetic architect’s plan to build a public representation of the Derridean khôra in a Parisian public garden was never realised; and the concept remained, as it began, nebulous and unconvincing. Most historians remained coolly unimpressed. However, when a determined minority within the discipline declared their support for a theoretical formulation of scepticism, known as postmodernism, then the lurking debates at last came into the mainstream.45 The critics saw themselves as representing a new Zeitgeist, challenging the claimed certainties of a departing “modernity”. They 42 Neill Graham and Bryce DeWitt (eds.), The Many-Worlds Interpretation of Quantum Mechanics, Princeton 1973; James Gleick, Chaos. Making a New Science, New York 1987; John Briggs and F. David Peat, Turbulent Mirror. An Illustrated Guide to Chaos Theory and the Science of Wholeness, New York 1990; Gary Itzkowitz, Contingency Theory. Rethinking the Boundaries of Social Thought, Lanham 1996; and a popular survey, Erik Durschmeid, The Hinge Factor. How Chance and Stupidity Have Changed History, London 1999. 43 Julian Barbour, The End of Time. The Next Revolution in our Understanding of the Universe, London 1999; Elizabeth D. Ermarth, Sequel to History. Postmodernism and the Crisis of Representational Time, Princeton 1992, p. 14. 44 For Jacques Derrida, see Christopher Norris, Deconstruction. Theory and Practice, London 2002; and Benoît Peeters, Derrida. A Biography, Cambridge 2013. Jacques Derrida, Khôra, Paris 1993, pp. 58, pp. 75 f. and p. 96 (engl.: Khôra, in: T. Dutoit [ed.], On the Name. Jacques Derrida, Stanford 1995, p. 89–131). Earlier philosophic users of this concept were ­Martin Heidegger and Julia Kristeva. See also Joanna Hodge, Derrida on Time, London 2007, pp. IX–X, pp. 196–206 and pp. 213 f. 45 Keith Jenkins, Re-Thinking History, London 1991; id. (ed.), The Postmodern History Reader, London 1997; Callum G. Brown, Postmodernism for Historians, Harlow 2005.

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took their name from the revival of vernacular architecture in the 1970s, which opposed stark, brutalist “modernist” buildings in glass-steel-and-concrete. Emboldened postmodern theorists did not deny some role for Time. But they incorporated an undertow of Derridean scepticism and Nietzschean nihilism to generate an approach which was analytically present-minded.46 It privileged the critic over the text, the historian over the evidence. And since historical researchers not only work with fallible, incomplete evidence, but are themselves fallible and biased, it seemed logical to argue that their historical output must equally fail to be authoritative. As a result, history-writing should be viewed as a sub-genre of literature, as the literary critic Hayden White argued.47 Histories can thus be classified in a range from tragedy to comedy, although unsurprisingly not many studies of the past qualify in the latter category. In effect, postmodernist scepticism posed  a frontal challenge to the truth claims made by historians. Then at last robust polemics followed on behalf of the discipline.48 Historians were already well aware of the many difficulties in assessing evidence, and the risks of distorting bias on the part of the researcher. Such problems have long been and still remain the stock-in-trade of history induction courses. But the subject depends upon more than the say-so of any one individual or the accuracy of any single piece of evidence. The study of the past is a patient and cumulative project, which over time tries to transcend individual imperfections and errors. It is an endeavour which is shared not only geographically but also across successive generations. Thus, on the strength of intensive research and debate by many scholars, conclusions of greater or lesser degrees of certainty do emerge. On that basis, it is possible – indeed imperative – for historians to refute (say) Holocaust deniers.49 As a result, while it remains true that humans cannot ever discover everything about the past, that sobering fact does not mean that nothing can be known. On the contrary, the

46 See variously Jean-François Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979 (engl.: The Postmodern Condition. A Report on Knowledge, Minneapolis 1984); Charles Jencks, What is Postmodernism? London 1986; David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry Into the Origins of Cultural Change, Oxford 1989; Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989 (engl.: Posthistoire. Has History Come to an End? London 1992); Fredric Jameson, Postmodernism. Or, the Cultural Logic of Late Capitalism, London 1991; Zygmunt Bauman, Intimations of Postmodernity, London 1992; Michael ­Drolet (ed.), The Postmodernism Reader. Foundational Texts, London 2003. 47 Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1983; id., The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987; and overview in: Herman Paul and Hayden White. The Historical Imagination, Cambridge 2011. 48 Richard J. Evans, In Defence of History, London 1997; Joyce O. Appleby et al., Telling the Truth About History, New York 1994; John Tosh, Why History Matters, Basingstoke 2008. 49 Deborah E. Lipstadt, Denying the Holocaust. The Growing Assault on Truth and Memory, Glencoe, IL 1993; Richard J. Evans, Lying About Hitler. History, Holocaust, and the David ­Irving Trial, New York 2001.

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difficulties constitute a spur to more and better historical research, interpretation and debate. Paradoxically, meanwhile, the postmodernist critics, who disparaged history, invoked a very schematic model of historical change in their own support. For them, the so-called quest for truth was simply an elite power-broking project. It allegedly began as an ideology of “modernity”, which was held to be the counterpart of the classic eighteenth-century Enlightenment. In the eyes of its postmodernist critics, this cultural/intellectual movement inaugurated a long-­ running “project” which has tried (in vain) to impose cool, rationalist, scientistic and universalist values upon a pluralist world. For good measure, these characteristics were deemed to be not only “bad” but also typically “male”. Instead, for the postmodernist critics, the alternative principles to be cultivated, in lieu of certainty and order, were the virtues of scepticism, doubt, irony, playfulness and eclecticism. These rival qualities – claimed as warm, intuitive, “good” and c­haracteristically “female”  – were said to have constituted  a new later twentieth-­century Zeitgeist and thus to have proved the critics’ case by overthrowing the old ways.50 Nonetheless, the case for such a schematic switch in ideas did not itself withstand critical scrutiny. For a start, the characterisation of a male modernity and a female postmodernity seemed to incorporate a crude gender essentialism which is both empirically and theoretically questionable.51 Furthermore, the quest for truth in many fields of human endeavour not only preceded the eighteenth-­ century Enlightenment, which was not a uniform (and humourless) movement, but also continues to the present day. Equally, scepticism, doubt, irony and intellectual playfulness were by no means inventions of the twentieth century.52 It is implausible to envisage cultural and intellectual life as proceeding by binary discontinuities overnight. Often there are overlapping, intertwined and sometimes rival views – and indeed architectural styles – at the same time.

50 For rival lists itemising the cultural components of these alleged binaries, see Penelope J. Corfield, POST-Medievalism/Modernity/Postmodernity?, in: Rethinking History 14. 2010, pp.  379–404, here pp.  383–388, citing postmodernist pundits Ihab Hassan, Toward  a ­Concept of Postmodernism, in: id., The Dismemberment of Orpheus. Toward a Postmodern Literature, Madison 1982, pp. 267 f.; and Charles Jencks, The Post-Modern Agenda, in: id., The Post-Modern Reader, London 1992, p. 34. 51 After some initial support, many feminists rejected the postmodernist philosophy of doubt, which would undermine allegiance to feminism; see, for example, Somer Brodribb, Nothing Matters. A Feminist Critique of Postmodernism, Melbourne 1992; and Marysia Zalewski, Feminism after Postmodernism. Theorising through Practice, London 2000. ­ eich 52 For debates over the nature and legacy of Enlightenment, see Roy Porter and Mikuláŝ T (eds.), The Enlightenment in National Context, Cambridge 1981; Margaret Jacob, The Radical Enlightenment. Pantheists, Freemasons and Republicans, New York 1981; Gertrude Himmelfarb, The Roads to Modernity. The British, French and American Enlightenments, New York 2004; and Jonathan Israel, A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy, Princeton 2010.

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Viewed retrospectively, it seems that the alleged postmodernist moment peaked in the prelude to 2000. It marked  a mood of not merely fin-de-siècle doubt but positively fin-de-millennium intellectual exhaustion. Yet, even then, it had not carried all before it; and it waned fairly rapidly thereafter. As if constituting  a sign, the whimsical retro-style of architecture of the 1970s, once dubbed the postmodernist style of late capitalism, is being overtaken by the renewed dominance of glass-and-steel. As the mood changes, so does the terminology. Books with postmodernism in their title are disappearing. Rather than naming a new age, the concept is “slipping into the strange history of those futures that did not materialise”. Faint echoes survive, for example in references to Post-Postmodernism.53 But intellectual doubt, which is  a perennially valid stance, does not now constitute the universal Zeitgeist. Belief in  a pervasive atemporality, beyond Time and its entire works, is hard to sustain, particularly in epochs of great change.

V. The Coming Temporal Turn Today there are signs, across many disciplines, of  a coming temporal turn. That phrase acknowledges a fresh focus of intellectual attention. One physicist, speculating in 2002 about “undiscovered ideas”, forecasts: “I think Time still holds some surprises”. Others in different disciplines have suggested the same. A philosopher in 2004 comments: “My recommendation is to watch Time closely.” Certainly the world’s physicists take that literally. They cooperate to measure time via a special cold caesium atomic clock in Switzerland, which has the startlingly small error rate of no more than one second astray per thirty million years. The result is a globally shared resource, which constitutes a cultural as well as a technological marvel.54 Among the reasons for a renewed interest in the diachronic among historians and policy-makers are the pressures of big long-term issues, which will take time to become resolved. History has bitten back. Climate change is ob­v iously one major question, especially now that geologists are debating whether to name (and when to date) a new era in Earth history as the Anthropocene to re53 George Myerson, Ecology and the End of Postmodernity, Cambridge 2001, p. 74. See also Corfield, POST-Medievalism/Modernity/Postmodernity?; Charles Jencks, Critical Modernism. Where is Postmodernism Going?, Chichester 2007, pp. 214 f.; and Jeffrey T. Nealon, Post-Postmodernism. Or, the Cultural Logic of Just-in-Time Capitalism, Stanford 2012. 54 Tom Siegfried, Strange Matters. Undiscovered Ideas at the Frontiers of Space and Time, Washington, DC 2002, p.  245. Jim Baggott, Beyond Measure. Modern Physics, Philosophy and the Meaning of Quantum Theory, Oxford 2004, p. 288. For Coordinated Universal Time (UTC), which is adjustable to allow for slight unpredictable variations in the Earth’s rotation, see Claude Audoin and Bernard Guinot, The Measurement of Time. Time, Frequency and the Atomic Clock, New York 2001.

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cord the impact of human interventions. The many conflicts over political and religious issues world-wide are another. And the unexpected 2008/2009 global economic recession, whose ramifications are still unfolding, is a third.55 Despite the present-mindedness of much contemporary culture, the need to understand the long-term workings of Time, as evidenced in human and Earth history, cannot be gainsaid. To historians, this recognition comes not as a surprise but as a welcome justification. Time, for them, has never gone away. So the discipline is busy updating itself in response to the new intellectual climate. The recent research reign of the micro-study is being counter-balanced by a return to macro-sweep. There are campaigns to incorporate more long-span courses into teaching programmes. Global history is a fast-growing field.56 Short-termism among today’s policy-makers is rousingly attacked; and policy-makers are urged to consult the longitudinal expertise of the historians. Past maps and models of temporal change are being re-evaluated. Historians are being updated on the range of Time studies. And a new lobby-group has emerged in the form of the International Big History Association, founded in 2010.57 Its practitioners take the longest view possible. They may start with the birth of the cosmos or merely with the advent of the human species.58 But historical studies are encouraged to reach back into Deep Time – covering the eons of pre-human geological Time – if the analysis so requires, cross-linking with all the other disciplines which also undertake longitudinal studies.

55 See Mark Levene et al. (eds.), History at the End of the World? History, Climate Change and the Possibility of Closure, Penrith 2010; Paul Dukes, Minutes to Midnight. History and the Anthropocene Era from 1763, London 2011; John L. Brooke, Climate Change and the Course of Global History. A Rough History, New York 2014. For calls for economists to study economic history, see Thomas Piketty, Le capital au XXIe siècle, Paris 2013, pp. 57–61 and pp. 945–947 (engl.: Capital in the Twenty-First Century, Cambridge, MA 2014, pp. 31– 33 and pp. 573–577); David North, The Economic Crisis and the Return of History, Oak Park 2011; and the students at Manchester University’s Post-Crash Economics Society, http://www.post-crasheconomics.com. 56 Penelope J. Corfield, Historians and the Return to the Diachronic, in: Gelina Harlaftis et al. (eds.), New Ways History. Developments in Historiography, London 2010, pp. 1–32 and pp. 187–192; also posted on: http://www.penelopejcorfield.co.uk/What_is_History?/pdf27. Robert B. Bain, Challenges of Teaching and Learning World History, in: Douglas Northrop (ed.), A Companion to World History, Chichester 2012, pp. 111–127. 57 Jo Guldi and David Armitage, The History Manifesto, Cambridge 2014; Eviatar Zerubavel, Time Maps. Collective Memory and the Social Shape of the Past, Chicago 2003; Robert ­Hassan, Globalisation and the “Temporal Turn”. Recent Trends and Issues in Time Studies, in: Korean Journal of Policy Studies 25. 2010, pp. 83–102. International Big History Association, http://www.ibhanet.org. 58 Examples include David Christian, Maps of Time. An Introduction to Big History, Berkeley 2004; Cynthia S. Brown, Big History. From the Big Bang to the Present, New York 2007; ­David L. Smail, On Deep History and the Brain, Berkeley 2008; Fred Spier, Big History and the Future of Humanity, Oxford 2010.

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Such changes within the discipline will entail  a reconsideration of histori­ cal periodisation, or how historians divide up the past. But there is no need to seek general agreement for  a universally defined set of stages or  a common set of names for different eras. (Happily, since historians profoundly disagree). Instead, what is needed is a better understanding of how continuities and changes of different kinds and degrees continually interlock and interact, in an ever-varying format. My own formulation of this dynamic system identifies a three-dimensional or “trialectical” through-Time perspective. The key components are: continuity (persistence); evolution (momentum) and revolution (turbulence).59 So considered, Time has three dimensions, as does Space. Lastly, then, the coming temporal turn does not envisage a return to an absolute and stand-alone temporality. The work of Einstein holds good. Relativity theory retains its place in the physics textbooks, even if cultural relativity needs to be qualified in a world that still contains absolutes. There are universals and there are contingencies, challenging observers and participants to determine where the boundaries lie. The new temporal turn also takes as given that Time and Space are integrally linked. There is no need to choose between an inde­ pendent temporality and a separate spatiality. Historians and geographers can work in concord.60 Whether the chosen nomenclature is Space-Time or TimeSpace is less important than accepting their relative interconnections or relationality, as Einstein might have named their link. Crucially, the key is to reject Time nihilism. That realisation provides the momentum for renewal. To conclude with my own speculative thought: temporality seems to be something akin to a unique and dynamic form of super-­ energy, holding and unfolding everything together in Time-Space. Perhaps that is too fanciful from a mere historian. But anyway Time is now emerging from the conceptual shadows to partner Space, as jointly framing cosmic and human history. Adieu to atemporality. Welcome to a full appreciation and application of the logical consequences of Einstein and Minkowski. And about time too.

59 Corfield, Time and the Shape of History, pp. 122 f., pp. 211–216, pp. 248–252. 60 Peter Merriman et al., Space and Spatiality in Theory, in: Dialogues in Human Geography 2. 2012, pp. 3–22.

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Die Zeit der Zigarette*1 Rauchen und Temporalität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Abstract: The rise of the cigarette at the turn of the nineteenth to the twen­tieth century caused a profound change in temporal consumption practices in Imperial Germany. Whereas pipes and cigars signified leisure and slowness, the ephemeral cigarette came to be known as the characteristic tobacco product in an age of increasing speed. By investigating temporal aspects of smoking in the metropolis, the factory and the industrial battlefield up to the mid-century, this article examines the widely held observation of an ever-accelerating modernity in the twentieth century. It argues that the triumph of the cigarette, reaching nearly ubiquity in everyday life in the 1950s, was due not least to its accelerating character. Als der Reichstag im Frühjahr 1916 eine kriegsbedingte Erhöhung der Tabaksteuer diskutierte, forderten die deutschen Zigarren-Hersteller, dass die sich seit der Jahrhundertwende immer größerer Beliebtheit erfreuende Zigarette ungleich höher besteuert werden müsse als alle anderen Rauchwaren. Bereits zu Kriegsanfang 1914 waren in Deutschland erstmals mehr Zigaretten als Zigarren verkauft worden, und ihr ungebremster Aufstieg stellte aus Sicht von Zigarrenund Rauchtabak-Produzenten eine existenzielle Bedrohung der Branche dar. Der nationalliberale Reichstagsabgeordnete Gustav Stresemann (1878–1929) wollte allerdings nichts von einer solchen protektionistischen Steuerpolitik wissen. Nicht die Zigarre, sondern die Zigarette, so Stresemann vor dem versammelten Parlament, sei der »Tabakkonsumartikel der Zukunft« und ihr Siegeszug so unaufhaltsam, dass er nur jedem Zigarren-Fabrikanten raten könne, im Nebenbetrieb auch noch Zigaretten zu produzieren; ansonsten, so Stresemann, würden sie in wenigen Jahrzehnten überhaupt nichts mehr herstellen. Die treibende Kraft hinter dem Siegeszug der Zigarette sah er nicht allein in der zunehmenden Technisierung des Herstellungsverfahrens, sondern in einem der Gesellschaft inhärenten Beschleunigungsprozess: »Es ist auch ein Stück* Für Hinweise, Ergänzungen und Kritik danke ich Alexander Geppert, Till Kössler, den Mitgliedern der Emmy Noether-Forschergruppe »Die Zukunft in den Sternen: Europäischer­ Astrofuturismus und außerirdisches Leben im 20. Jahrhundert« an der Freien Universität Berlin sowie den beiden anonymen Gutachtern.

Die Zeit der Zigarette

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chen Psychologie des deutschen Volkes«, so Stresemann, »die da im Übergang von der Pfeife zur Zigarre und von der Zigarre zur Zigarette zum Ausdruck kommt: der Übergang eines Lebens der Beschaulichkeit in ein Leben von Hast und Unruhe.«1 Bemerkenswert an Stresemanns Deutung ist der Zusammenhang von Zeiterfahrung und Konsumverhalten, die Wechselbeziehung von beschleunigter Lebenswirklichkeit und der Wahl unterschiedlicher Rauchprodukte, die der Zigarette zur Dominanz verholfen haben sollte. Während die Zigarre für ein beschauliches Leben stand, galt die Zigarette in einer immer schneller werdenden Zeit als die adäquatere Art zu rauchen. Stresemann stand mit dieser Annahme nicht alleine. In den ersten Jahrzehnten des 20.  Jahrhunderts gehörte es in Deutschland zur gängigen Epochendiagnose, dass sich mit einer als immer schneller und effizienter wahrgenommenen Arbeits- und Lebenswelt ohne lange Pausen und Ruhezeiten geradezu zwangsläufig eine zeitliche Verkürzung des Rauchkonsums einstellen müsse. Als zeitgenössische Beobachtung lässt sich dieser Zusammenhang zwischen der Beschleunigung des Lebenstempos und der Zunahme des Zigarettenkonsums für nahezu alle gesellschaftlichen Milieus nachweisen: Schriftstellern, Medizinern, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Industriellen galt die Zigarette gleichermaßen als Signum der Moderne. Während der Tabakkonsum bereits über Jahrhunderte hinweg soziale Zugehörigkeit, Geschlechterrollen und Geschmäcker definierte, wurde mit der Zigarette nun auch ein modernes Zeiterleben verbunden, das sich durch eine Eigenschaft grundsätzlich von anderen Genussmitteln unterschied: Beschleunigung.2 Das schnelle Rauchen reihte sich in eine lange Abfolge sozialer Beschleunigungen ein, die bereits im 19. Jahrhundert in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bedeutsam geworden waren. Reinhart Koselleck hat argumentiert, dass Beschleunigung vor allem durch den »Überschritt von der naturgebundenen Zeit der Fortbewegung zur technisch verfügbar gemachten Zeit« des Eisenbahnverkehrs und der daraus folgenden »Denaturalisierung der bis dahin überkommenen Zeiterfahrung« zu einer allgemeinen Erfahrung 1 Gustav Stresemann, Rede zur ersten Beratung des Reichshaushaltsetats und Haushaltsetats für die Schutzgebiete am 22.3.1916, in: Verhandlungen des Reichstages. Stenographische Berichte. 13. Legislaturperiode, 2. Session, Bd. 307, Berlin 1916, S. 809–818, hier S. 812. Erste Überlegungen zum Verhältnis von Zeitlichkeit und Konsum hielt Stresemann bereits in seiner Dissertation aus dem Jahre 1900 fest; siehe ders., Die Entwicklung des Berliner Flaschenbier­geschäfts, Berlin 1902, S. 21–23. 2 Siehe jeweils stellvertretend für den literarischen Betrieb: Stephan Dirk, Die Cigarette. Ein Vademecum für Raucher, Leipzig 1924, S. 70 f.; für die Medizin: Johannes Bresler, Die Einwirkung des Tabakgenusses auf den menschlichen Körper, in: Jacob Wolf (Hg.), Der Tabak und die Tabakfabrikate, Leipzig 1922, S. 225–238, hier S. 226; für die Soziologie: Georg Simmel, Die Mode [1911], in: ders., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, Berlin 1983, S. 26–51, hier S. 35; für die Wirtschaftswissenschaften: Kurt Bormann, Die deutsche Zigarettenindustrie, Tübingen 1910, S.  1 f.; und für die Tabakindustrie: Haus Neuerburg, Vom Tabakblatt zur Zigarette, Leipzig 1926, S. 41 f.

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wurde.3 Die Verkürzung von Transport-, Technik-, Kommunikations- und Tätigkeitsvorgängen, die nach und nach alle Bereiche des alltäglichen Lebens ergriff, wurde immer häufiger als epochale Eigenheit wahrgenommen, die sich im Topos des zunehmenden »Tempos« manifestierte und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur globalen Menschheitserfahrung entwickelte.4 Zeitsoziologische Studien wie die von Hartmut Rosa haben diese historische Beobachtung zur Grundlage einer Konzeptualisierung der Moderne über das Phänomen der allgemeinen sozialen Beschleunigung gemacht. Rosa unterscheidet dabei drei Formen der Beschleunigung: die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos, welche in der Spätmoderne in einem Beschleunigungszirkel zu einem sich selbst antreibenden System der Akzeleration geworden seien. Beschleunigung, so Rosa, sei damit als »irreduzibles und tendenziell dominantes Grundprinzip von Moderne und Modernisierung zugleich zu verstehen«.5 Für den beispiellosen Erfolg der Zigarette im 20.  Jahrhundert scheint sich diese Erklärung der selbstantreibenden Beschleunigung geradezu aufzudrängen. Die Verkürzung der effektiven Rauchzeit von bis zu dreißig Minuten (Zigarre/Pfeife) auf unter sieben Minuten (Zigarette) bei gleichzeitiger Steigerung der Anzahl an gerauchten Zigaretten pro Tag bildete bereits in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Grundlage für immer häufigere Diagnosen einer Beschleunigung des Konsums, deren sozio-kulturelle Folgen auch Eingang in die historische Forschung fanden. »Die Ruhe und Konzentration, die ein Zigarettenraucher im 20. Jahrhundert empfindet,« wie Wolfgang Schivelbusch schon frühzeitig festhielt, »ist eine andere als die des Zigarren- oder Pfeifen­ rauchers im 19. Jahrhundert.«6 Aber lässt sich die Beschleunigungsrhetorik apologetischer Zigaretten-Aficionados wie auch dezidierter Kritiker des schnellen 3 Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? [1976], in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000, S. 150–176, hier S. 151 u. S. 153; Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München 1977; und Wolfgang Kaschuba, Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne, Frankfurt 2004. Für einen umfassenderen Zugang zur gesellschaftlichen Beschleunigung siehe Peter Borscheid, Das Tempo-Virus. Eine Kultur­geschichte der Beschleunigung, Frankfurt 2004. 4 Michael Bienert, Die eingebildete Metropole. Berlin im Feuilleton der Weimarer Republik, Stuttgart 1992, Kap. 3: »Topos Tempo«, S. 59–92. Siehe auch Knut Hickethier, Beschleunigte Wahrnehmung, in: Jochen Boberg u. a. (Hg.), Die Metropole. Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, München 1986, S. 144–155. Zu den globalen Dimensionen der Beschleunigung siehe Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 127. 5 Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt 20129; zu den Formen der Beschleunigung: S. 161–198, zur Dynamik der Spätmoderne: S. 243–255; Zitat: S. 441 (Herv. i. O.). Siehe auch ders., Beschleunigung und Entfremdung, Frankfurt 2013, insb. Kap. 1: »Eine Theorie der sozialen Beschleunigung«, S. 13–67. 6 Wolfgang Schivelbusch, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft. Eine Geschichte der Genußmittel, München 1980, S. 127.

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Rauchgenusses empirisch nachweisen? Und trug das Zigarettenrauchen selbst zum Empfinden einer beschleunigten Lebenswelt bei? Oder übernahm die Zigarette lediglich eine symbolische Funktion für temporale Entwicklungen, die vielmehr in anderen sozialen Kontexten wie dem motorisierten Reisen, der industriellen Produktion oder der technisierten Kommunikation stattfanden? Anhand der frühen Geschichte der Zigarette soll im Folgenden der eigentliche Erfahrungswert der Beschleunigung untersucht werden. Dabei wird das in der historischen Forschung immer wieder bemühte Beschleunigungstheorem hinsichtlich des alltäglichen Zeitempfindens im Kontext des aufkommenden (Massen-)Konsums einer kritischen Prüfung unterzogen. Zur Temporalität des Zigarettenrauchens werden hierbei sowohl ihre zeitlichen Eigenschaften als auch die technischen Bedingungen ihrer Produktion und Distribution sowie die sozialen Kontexte ihres Konsums und die damit einhergehenden Deutungen gezählt. Es sind vor allem drei Kontexte, in denen der Aufstieg der Zigarette zeitgenössisch mit der spezifisch temporalen Qualität des Rauchens in Verbindung gebracht wurde: die Stadt, als Labor der Moderne und Ort des gesteigerten Lebenstempos; die Fabrik, mit ihrem strikten industriellen Zeitregime aus langer Arbeitszeit und kurzen Pausen; sowie der Frontalltag in den beiden Weltkriegen. Sie alle trugen maßgeblich zur gesellschaftlichen Popularisierung und Verbreitung der Zigarette in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei.

I. Die Zigarette und das Großstadt-Tempo Der Aufstieg der Zigarette zur meistkonsumierten Rauchware des vergangenen Jahrhunderts begann in der Stadt. Urbane Räume dienten ab der Jahrhundertwende nicht nur als primärer Konsum-, sondern auch als wichtigster Produktionsstandort der Zigarettenbranche. Aus den beschaulichen Anfängen der ersten deutschen Zigarettenfabrik in Dresden (Compaigne Laferme, gegründet 1862), die zunächst ausschließlich für den Export produzierte, entwickelte sich um 1900 ein ökonomisch bedeutender Industriezweig der deutschen Tabak- und Genussmittelbranche.7 Aus zunächst kleinen Familienbetrieben waren im ganzen Deutschen Reich bekannte Unternehmen hervorgegangen, die andere Hersteller aufkauften, um ihre Zigaretten zusehends überregional zu vertreiben und somit eine geographische Expansion der gesamten Branche anstießen. Nun etablierte sich auch Berlin als Zentrum der Zigarettenindustrie mit Herstellern wie Garbáty (gegründet 1881), Josetti (1888) und Manoli (1894), die sich in 7 Als Indikator hierfür können auch die ersten beiden Dissertationen zur Entwicklung der deutschen Zigarettenindustrie gelten, die im Jahr 1910 an den Universitäten Leipzig und Tübingen eingereicht wurden: Bormann, Zigarettenindustrie, und Ludwig Heyde, Die Volkswirtschaftliche Bedeutung der technischen Entwicklung in der deutschen Zigarren- und­ Zigarettenindustrie, Stuttgart 1910.

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der Reichshauptstadt einen eigenen regionalen Absatzmarkt erschließen konnten.8 Mit der 1918 erfolgten Verlagerung des ursprünglich in Trier beheimateten Haus Neuerburg (1873) nach Köln entstand neben Dresden und Berlin ein drittes industrielles Zentrum der Zigarettenfabrikation.9 Im darauffolgenden Jahrzehnt kam es dann zur wichtigsten industriellen Konzentration der Branche: dem Aufstieg des thüringischen Familienunternehmens Reemtsma (gegründet 1894 in Erfurt) zum bedeutendsten Zigarettenhersteller innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches. Nach dem Krieg zog das Werk nach Bahrenfeld bei Hamburg. Bis 1929 trieben die Brüder Hermann (1892–1961), Philipp (1893–1959) und Alwin Reemtsma (1895–1970) eine Kartellierung der deutschen Zigarettenindustrie voran, die ihnen die Marktführerschaft im Deutschen Reich einbrachte. Durch den Verkauf qualitativ hochwertiger Zigaretten, die konsequente Mechanisierung und Rationalisierung der Produktion sowie eine geschickte Übernahme- und Aufkaufpolitik produzierte das Unternehmen Ende der zwanziger Jahre zusammen mit Haus Neuerburg nach einem nur sechs Jahre währenden Aufstieg gut zwei Drittel aller in Deutschland versteuerten Zigaretten.10 Damit waren Reemtsma und Haus Neuerburg mit Abstand die beiden erfolgreichsten Konzerne; dahingegen deckten Firmen wie Batschari (gegründet 1908), Greiling (1919) oder Haus Bergmann (1923) zusammen lediglich ein Viertel des Marktes ab.11 Die Branche hatte damit zu Beginn der dreißiger Jahre eine industrielle und geographische Ausprägung erreicht, die für die nächsten beiden Jahrzehnte maßgeblich sein sollte. Neben die städtische trat die betriebliche Konzentration als zweites ökonomisches Merkmal, das die Zigaretten­ industrie grundsätzlich von der übrigen Rauch- und Zigarrenbranche unterschied. Vor allem der von deutschen Herstellern gegen den Markteintritt des ausländischen Zigarettentrusts aus US-amerikanischen und britischen Her­ stellern geführte »Trustkampf« (1901–1915) und die brancheninternen Preiskämpfe der Infla­tionszeit nach dem Ersten Weltkrieg hatten in zunehmendem Maße zu betrieblichen Zusammenschlüssen beigetragen.12 Die Urbanität der Zigarettenindustrie förderte nicht nur den direkten Verkauf auf dem Hauptabsatzmarkt, sondern prägte in den 1920er und 1930er Jah8 Karl-Peter Ellerbrock, Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genußmittelindustrie 1750–1914, Stuttgart 1993, S. 343. 9 Zur Unternehmensgeschichte von Haus Neuerburg siehe JTI Germany (Hg.), Ein Tabakunternehmen in Deutschland. Von Haus Neuerburg zu Japan Tobacco (1908–2008), Köln 2008. 10 Erik Lindner, Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie, München 2008, S. 59 f. Schätzungen zufolge deckten Reemtsma und Haus Neuerburg 1928 85–87 % des deutschen Marktes ab; siehe Wilhelm Blase, Die Rohtabakversorgung Deutschlands, Bottrop 1933, S. 29. 11 Lindner, Die Reemtsmas, S. 57. 12 Vgl. Fritz Blaich, Der Trustkampf (1901–1915). Ein Beitrag zum Verhalten der Ministerialbürokratie gegenüber Verbandsinteressen im Wilhelminischen Deutschland, Berlin 1975, sowie Die Zigarettenkrise. Ein Schulfall, in: Magazin der Wirtschaft 1. 1925, S. 1155–1158, hier S. 1157 f.

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ren auch nachhaltig das Bild der Zigarette unter den Konsumenten. Der Berliner Schriftsteller und Feuilletonist Fritz Heinz Chelius (1890–1960) hielt die Großstadt, die den neuen Rhythmus angäbe, für den Ursprungsort eines Übergangs von der langen Pfeife zur Zigarette: »die Formen ändern sich dort zuerst, und die gewohnten Erscheinungen«, insbesondere die langen Pfeifen, »rücken immer mehr von der Großstadt ab«, hielten sich noch für einige Zeit in ländlichen Gebieten, »bis sie schließlich auch dort zur Kuriosität werden.« Dabei sei die Grundlage dieses konzentrischen Verbreitungsweges die Beschleunigung des großstädtischen Lebens selbst. Man sähe »kaum mehr eine Pfeife auf der Straße«, so Chelius 1930: »Raucht man in Berlin eine Pfeife auf der Straße, so wird man als dunkelster Provinzler angesehen.«13 Das populäre Konzept eines Ablöseprozesses folgte somit einem geografischen Erklärungsmuster, das den städtisch-ländlichen Unterschied zwischen Zigarettenindustrie und übriger Tabakbranche mit dem temporalen Regime des jeweiligen Ortes verschränkte. Hierbei wurde dieser Prozess als evolutionäre Weiterentwicklung interpretiert: Die Zigarette löste die veraltetet Zigarre nach der Jahrhundertwende als dominierende Rauchware ab, nachdem diese ihrerseits Mitte des 19. Jahrhunderts die Pfeife, genauer gesagt den Rauchtabak, abgelöst hatte. In Verbindung mit der Konsumzeit bedeutete dies: Je schneller sich das Leben in der Stadt entwickelte, desto stärker verkürzte sich auch die Rauchzeit. Zeitliche Unterschiede im Rauchkonsum waren bereits um 1900 ein häufiges Erklärungsmuster für das Aufkommen der Zigarette. Im Falle des Wechsels von der Zigarre zur Zigarette kam hinzu, dass die Verkürzung der Produktionszeit bei gleichzeitiger Erhöhung der hergestellten Stückzahl eine Beschleunigung des Produktionsprozesses verursachte und der Ablöseprozess deshalb exponentiell zu verlaufen schien.14 Bereits 1897 schrieb Gustav Lewinstein (1830–1902), Redakteur der einflussreichen Deutschen Tabak-Zeitung, dass die Zigarette, wie die anderen Formen des Tabakkonsums vor ihr, »siegreich alle gegen sie gerichteten Angriffe zurückschlagen« werde. Angesichts der Tatsache, dass die Pfeife unlängst von der Zigarre als Marktführerin abgelöst worden war, sprach Lewinstein davon, dass diese nunmehr »den Kampf gegen die Cigarre« eröffne.15 Allerdings erwies sich diese Interpretation in zweierlei Hinsicht als voreilig: Erstens war der Aufstieg der Zigarette um die Jahrhundertwende alles andere als zwangsläufig; Zigaretten machten im Jahre 1900 noch nicht einmal ein Prozent des gesamtdeutschen Tabakverbrauchs aus. Und zweitens erwies sich Lewinsteins Annahme, dass die Zigarette ebenso lange wie die Zigarre brauchen würde, um zur vorherrschenden Rauchware in Deutschland zu werden, 13 Fritz Heinz Chelius, Von der Tabakpfeife zur Zigarette, in: Der Raucher 2. 1930, H. 5, S. 1 f. 14 Reinhart Koselleck spricht in diesem Zusammenhang von »exponentiellen Zeitkurven«, die er als »Verkürzung unserer Erfahrungsfristen« versteht; ders., Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation [1985], in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2003, S. 177–202, hier S. 200 f. 15 Gustav Lewinstein, Die deutsche Tabak-Industrie. Eine Skizze ihrer Entwickelung und ihrer wirthschaftlichen Bedeutung, Berlin 1897, S. 40.

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nämlich etwa einhundert Jahre, als naive Zukunftsprojektion vorindustrieller Marktdynamiken. Das Konzept eines evolutionären Ablöseprozesses existierte demzufolge bereits, bevor der eigentliche Aufstieg der Zigarette begann – und er verlief viel schneller als erahnt. Gemessen an der absoluten Stückzahl hatte die Zigarette die Zigarre, deren Verkauf 1914 schätzungsweise bei knapp siebeneinhalb Milliarden Stück lag, bereits bei Anbruch des Ersten Weltkriegs überholt (Abb. 1).16 Prozentual gesehen war die Zigarette erstmals 1922 mit einem Anteil von knapp 37 Prozent am deutschen Tabakgesamtverbrauch die am häufigsten konsumierte Tabakware. 1929 machten Zigaretten 56 Prozent aller Einnahmen aus dem Tabak­ warenhandel aus, Zigarren lediglich 33 und Pfeifentabak nur acht Prozent.17 Wirtschaftlich gesehen war die Zigarette damit bereits Ende der zwanziger Jahre die profitabelste aller Tabakwaren. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs war das Rauchen schließlich zum »sozialen Totalphänomen« geworden; 1949 rauchten 88 Prozent aller Männer, 63 Prozent davon ausschließlich Zigaretten. In den 1970er Jahren verdrängte die Zigarette dann Zigarre und Pfeife nahezu vollständig.18 Die Ausweitung der Produktion und der vermehrte Einsatz von Maschinen in der Herstellung führten folglich in wenigen Jahrzehnten zum praktischen Aufschluss an die klassischen Tabakwarenprodukte Pfeife und Zigarre: Zigaretten waren schlicht maschinenfähiger als die Konkurrenzprodukte der Tabakbranche. Während die Zigarette nur aus geschnittenem Tabak und einer Papierhülse hergestellt wurde, benötigte es zur Fertigung einer Zigarre gleich 16 Ernst Pietschmann, Die Verschiebungen in der Art des Tabakkonsums und ihr Einfluß auf die deutsche Steuerpolitik, Lauban 1929, S. 17 f. u. S. 21. Kau- und Schnupftabak machten 1920 zusammen lediglich 6,4 %, 1925 sogar nur noch 3,4 % des Gesamt-Rohtabakverbrauchs in Deutschland aus. Sie werden aufgrund der Dominanz des Rauchtabaks im Folgenden nicht diskutiert. Datengrundlage: Max Zentz, Die Konzentration der Zigarettenindustrie und die Zigarettensteuer, München 1927, Anlage X. 17 Carl Hausberg, Die deutsche Zigaretten-Industrie und die Entwicklung zum ReemtsmaKonzern, unter besonderer Berücksichtigung der Reemtsma-Werke, Würzburg 1938; zum Jahr 1922: S. 12; zum Jahr 1929: Tabelle X B im Anhang. 18 Gesamtzahl von männlichen Rauchern nach einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach (IFD) von 1950, siehe Klaus-Dietrich Stumpfe, Die Ausbreitung des Suchtstoffes Nikotin, in: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.), Jahrbuch zur Frage der Suchtgefahren 1989, Hamburg 1988, S. 111–129, hier S. 123. Thomas Hengartner und Christoph Maria Merki sprechen angesichts der Verbreitung der Zigarette von einem »sozialen Totalphänomen«, siehe Vorwort, in: dies. (Hg.), Tabakfragen. Rauchen aus kulturwissenschaftlicher Sicht, Zürich 1996, S.  7–11, hier S.  8. Geschlechterspezifische Zahlen für das Jahr 1949: Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.), Der Cigaretten-Konsum in Westdeutschland 1949. Zum Vergleich: 2013 rauchten nur noch 24,5 % der deutschen Bevölkerung (Mikrozensus 2013). Höhepunkte des Zigarettenverkaufs in Westdeutschland waren die Jahre 1976 und 1981 mit jeweils mehr als 129 Milliarden versteuerten Zigaretten. Seit der Wiedervereinigung hat sich der Zigarettenkonsum in Deutschland von knapp 153 Milliarden Stück im Jahr 1991 auf 80 Milliarden im Jahr 2013 fast halbiert. Alle Daten: Statistisches Bundesamt.

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Die Zeit der Zigarette 80

71,4 70

Zigaretten

60

61,8

Zigarren

50

47,3

40

37,7

30 20

16,8

10 5,8 0

30,5

27,2 18,6

32,9

28,5

23,8 21,6

9,8 5,7

7

6,2

7,8

9,2 9 9,4

1907 1909 1911 1913 1915 1917 1919 1921 1923 1925 1927 1929 1931 1933 1935 1937 1939

Abb. 1: Versteuerte Zigaretten und Zigarren in Milliarden Stück in Deutschland, 1907–1940. Quelle: Datengrundlage bis 1929: Adolf Flügler, Tabakindustrie und Tabaksteuer unter besonderer Berücksichtigung der Zigarette, Jena 1931, S. 243. 1930 bis 1939: Aribert Heilmann, Entwicklungstendenzen im deutschen Tabakwarenmarkt in den Jahren 1930 bis 1955, Heidelberg 1956, Anhang: Tabelle 1. 1940: Peter Eckelmann, Werbung und Werbewettbewerb auf dem deutschen Zigarettenmarkt, Diss. Rheinisch-West­ fälische Technische Hochschule Aachen 1970, S. 140.

drei Tabakbestandteile, die auf komplexe Weise ineinander gerollt werden mussten: Deckblatt, Umblatt und Einlage. Aus letzteren beiden wurde der Wickel gedreht und mit dem Deckblatt, auch »Decke« genannt, umrollt. Beide Arbeitsschritte waren maschinell nur schwierig durchführbar, da sie hohe Präzision erforderten. Wegen des hohen Tabakpreises mussten aus den Blättern möglichst viele Decken herausgeschnitten werden, die wiederum nicht zu fest gewickelt werden durften, sonst brannte die Zigarre nicht. Beide Arbeitsschritte waren besser per Hand als mit der Maschine zu erledigen, und so blieb die Zigarrenindustrie handwerklich geprägt.19 Die Zigarettenindustrie war hingegen seit den frühen 1880er Jahren in der Lage, ihr Produkt vollautomatisch herzustellen. Hierzu wurde ein Strang Papierhülsen mit Tabak gestopft und in Ziga19 Hans Uhlmann, Die Entwicklung von Unternehmung und Betrieb in der deutschen ZigarrenIndustrie unter besonderer Berücksichtigung der Tabakbesteuerung, Halle 1934, S. 10 f. u. S. 14. Siehe auch Erich Bertram, Volkswirtschaftliche Probleme der Zigarrenindustrie unter besonderer Berücksichtigung der Verbreitung und Wanderungen der Zigarrenindustrie, Greifswald 1931, S. 15.

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rettenlänge zerschnitten. Je nachdem ob mit oder ohne Mundstück musste anschließend noch einmal manuell nach­gearbeitet werden, aber auch das wurde bald maschinell erledigt. Während die Zigarre mithin ein Produkt der Handarbeit war und blieb, entwickelte sich die Zigarettenbranche damit vom anfänglichen Restebetrieb, der lediglich die Abfälle der Zigarrenherstellung verarbeitete, zur modernen, hochtechnisierten Industrie.20 Parallel zur ökonomischen Beschleunigung der Zigarettenproduktion ergab sich aus den Charakteristiken des Zigaretten-Aufbaus eine Flüchtigkeit der Tabak-Frische, die Rohtabak und Zigarren in dieser Art nicht hatten. Vor allem im ersten Jahrzehnt der Zwischenkriegszeit konnte ein markenspezifischer Qualitätsstandard nur sehr mühevoll gehalten werden. Die Zigarette war besonders von Qualitätsschwankungen betroffen, da die zum Teil sehr aufwendig zusammengestellten Mischverhältnisse unterschiedlicher Geschmackssorten wesentlich schneller an Qualität einbüßten, als die meist nur aus einer Sorte bestehenden Zigarren oder der deutlich länger haltbare Rauchtabak. Dabei konnten Phasen verminderter Tabakqualität mitunter den Ruf klassischer Marken wie beispielsweise den der Salem (von Manoli) nachhaltig schädigen, wenn nicht gar vollständig ruinieren.21 Deutsche Hersteller verfolgten verschiedene Strategien, um dem flüchtigen Charakter der Zigarettenfrische ent­ gegenzuwirken. Die Einführung sogenannter Tropen-Packungen aus Blech mit Verschlussstreifen in den dreißiger Jahren war beispielsweise einer dieser Versuche, Zigaretten länger als gewöhnlich frisch zu halten. Die schnelle Vergänglichkeit der Zigarette wurde auch selbst zum Thema ausgedehnter Werbezyklen, die auf die kurze Frische aufmerksam machten und neue innovative Methoden zur Qualitätssicherung präsentierten. Haus Neuerburg beispielsweise schaltete in den 1930er Jahren Werbeanzeigen für die Marken Güldenring und Overstolz mit dem Vermerk: »Unheimlich rasch verliert die Zigarette ihre Frische!«22 Neben luftundurchlässigen Verpackungen war es insbesondere die schnellere Auslieferung der fertigen Zigaretten, von der sich die Produzenten Abhilfe versprachen. Reemtsma und Haus Neuerburg gründeten 1931 eine gemeinschaft­ liche Vertriebsgesellschaft, die Frischdienst GmbH, die durch ein dichtes Lagerund LKW-Netz in ganz Deutschland die Zigaretten so schnell wie möglich von den Produktionsstätten zum Konsumenten brachte. 1937 zählte der Dienst insgesamt über siebzig Lager, von denen aus die Ware innerhalb weniger Stunden

20 Hans-Georg Friedrich, Entwicklung, Aufbau und Lage des deutschen Zigarettengewerbes, Opladen 1937, S. 26. Erste Zigarettenmaschinen gab es bereits zu Beginn des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Die wohl einflussreichste war die nach ihrem US-amerikanischen Erfinder James Albert Bonsack (1859–1924) benannte Bonsack-Maschine von 1880, die die Branche mit einer Stückzahl von 150.000 pro Tag produzierten Zigaretten revolutionierte. Siehe Heyde, Die Volkswirtschaftliche Bedeutung der technischen Entwicklung in der deutschen Zigarren- und Zigarettenindustrie, S. 56. 21 Lindner, Die Reemtsmas, S. 36. 22 Illustrierter Beobachter, 1937, H. 24, S. 316.

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in das gesamte Reich ausgeliefert wurde.23 Bereits binnen kurzer Zeit hatte sich der Dienst bewährt und entwickelte sich gleichsam zum »Synonym für Reemtsma«.24 Für den Verkaufserfolg von Reemtsma-Neuerburg sei damit auch das »psychologische Moment« nicht zu unterschätzen, so der Wirtschaftswissenschaftler Karlheinz Hassel 1934, das die Werbung des Frischdienstes auf den Kunden habe, »durch die Gewißheit, daß jederzeit die gewünschte Ware auf Anruf am Platz in frischem Zustand zugesandt werden kann.«25 Dabei wurde der Frischdienst ganz konkret auch mit der üblichen Markenwerbung verbunden, wie beispielsweise im Fall der Marke Ernte 23. Die Symbiose, die Qualität, Frische und Geschwindigkeit hierbei eingingen, war bei der ReemtsmaMarke von 1924 ganz besonders augenfällig (Abb. 2), spielte der Name doch auf die ausgezeichnete Qualität der Makedonien-Ernte aus dem Jahre 1923 an, die fortan als Standard dieser Zigarettenmarke gelten sollte. Frische wurde mit Schnelligkeit beworben, die zudem zu einem eigenständigen Qualitätsmerkmal avancierte. Damit wurde ein Markenbild geschaffen, das die Beschleunigung jenseits der kurzen Rauchzeit der Zigarette zum Thema machte und die Qualität der Zigarette maßgeblich definierte. Nicht nur Produktions- und Belieferungsverfahren standen im Zeichen der Beschleunigung; auch das Rauchen selbst wurde in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einfacher und damit schneller. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts erklärte der bayrische Zoologe Friedrich Tiedemann (1781–1861) den Aufstieg der Zigarre damit, dass sie einfacher mitgenommen werden könne als die Tabakpfeife. Deshalb, so Tiedemann 1854, erblicke man an allen öffentlichen Orten, »auf den Strassen, Plätzen und Spaziergängen, in den Gasthöfen und Schenken, auf den Dampfbooten und Eisenbahnen, viel mehr Raucher, als in früherer Zeit.«26 Die Zigarette sollte im Vergleich zur Zigarre diese Entwicklung noch weiter steigern. Es war vor allem die Kleinstückpackung, die den Umgang mit der Zigarette zeitlich neu justierte. Zunächst blieb allerdings der lose Verkauf bis in die zwanziger Jahre gängige Verkaufspraxis. Noch 1910 wurden im Einzel- und Fachhandel etwa die Hälfte des deutschen Zigarettenumsatzes in Form loser Zigaretten aus Packungsgrößen von hundert bis eintausend Zigaretten verkauft. Billige Preislagen wurden an Arbeiter in kleinen Tüten herausgegeben, teure Zigaretten zum Umfüllen in das eigene Etui verkauft. Lediglich mittlere Preislagen wurden in Zehner-­ 23 Hausberg, Die deutsche Zigaretten-Industrie, S. 95 f. Tino Jacobs, Zwischen Intuition und Experiment. Hans Domizlaff und der Aufstieg Reemtsmas, 1921 bis 1932, in: Hartmut Berghoff (Hg.), Marketinggeschichte. Die Genese einer modernen Sozialtechnik, Frankfurt 2007, S. 148–176, hier S. 165. 24 Lindner, Die Reemtsmas, S. 42. 25 Karlheinz Hassel, Absatz und Herstellung von Zigaretten im Deutschen Reich nach der Stabilisierung unter besonderer Berücksichtigung der tabaksteuerlichen Wirkungen, Quakenbrück 1934, S. 38. 26 Friedrich Tiedemann, Geschichte des Tabaks und anderer ähnlicher Genußmittel, Frankfurt 1854, S. 377.

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Abb. 2: »Das Äußerste an Geschwindigkeit in der Belieferung«, Reemtsma-Werbeanzeige, 1932. Quelle: Werbemittelarchiv Reemtsma/Museum der Arbeit.

Packungen angeboten. Zunächst hatte es teure, harte Kappenschachteln zum Aufklappen gegeben; später auch preiswertere, weiche Schiebeschachteln. In den 1920er Jahren kamen aus Aroma- und Frischhaltegründen Blechschachteln in Mode.27 Grundlage für die Proliferation der Kleinverkaufsschachtel war ein finanzpolitisch motivierter staatlicher Eingriff, der die Verpackung 1906 zur Pflicht gemacht hatte. Paragraph 5 des erstmals erlassenen Deutschen Zigaret­ 27 Gustaf Nils Dorén, Die Cigarettenpackung im Laufe der Reemtsma-Firmengeschichte, Hamburg 1976.

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tensteuergesetzes regelte den sogenannten Verpackungszwang. Auf dem Äuße­ ren der Packung mussten fortan verbindliche Hinweise zu Art, Menge und Preis der Zigaretten angebracht werden.28 Die Zigarettenschachtelkosten wurden durch die allgemeine Mechanisierung geringer und damit für eine steigende Anzahl an Kunden erschwinglicher. So schrieb der Werbefachmann Hermann Schmidt 1919: »Die heutige Zigarettenschachtel wird, bis sie leer ist, mit herumgetragen und herumgereicht.«29 1930 wurde der Verkauf loser Zigaretten gänzlich verboten, was in der Folge zur Einführung kleinerer preiswerter Schachteln führte und längerfristig die Dreier-, Vierer-, Fünfer- und Sechser-Schachteln auf dem Markt etablierte.30 Auch die Werbung hatte sich nun der schnelleren Verfügbarkeit und des kürzeren Gebrauchs der Einwegschachteln angepasst. Die vor 1900 beliebten orientalischen Bildmotive wurden in den zehner und zwanziger Jahren auf kürzere Werbebotschaften und den Markennamen reduziert; Bilder wurden nun fast ganz weggelassen.31 Der schnellere Konsum wurde also nicht nur durch die Einführung der Pappschachtel ge­fördert; auch Werbung und Design passten sich den beschleunigten Rauchpraktiken an. Die schnelle Verfügbarkeit der Zigarette wurde außerdem durch ein neues Verkaufssystem ermöglicht, das für die Zigarette wie für kaum ein anderes Produkt gemacht war: der Warenautomat. Aus simplen ökonomischen Gründen war es für den Zigarettenhersteller »besonders wichtig, dass sie [die Zigarette, T. R.] an möglichst vielen Orten zu jeder Zeit angeboten« wird, »um den augenblicklich auftretenden Bedarf zu befriedigen.« Zentral war diese Omnipräsenz vor allem, weil Tabakwaren zu jenen Gütern gehören, »bei denen ein augenblicklicher Konsumverzicht nicht nachgeholt zu werden pflegt.« Hinzu kam, dass Zigaretten in materieller und sozialpraktischer Hinsicht als »automatenfähiger« galten als andere Produkte. Sie gehören »zum Güterkreis des problemlosen, kurzfristigen, periodisch wiederkehrenden Konsumbedarfs.«32 Trotz an­fäng­ licher Sorgen der deutschen Zigarettenhersteller, die jeweils eigenen Marken könnten sich in der Zusammenschau mit der Konkurrenz nicht ausreichend profilieren oder der Qualitätserhalt sei bei schwankenden Witterungsverhältnissen nicht zu garantieren, setzte sich der Zigarettenautomat in den dreißiger 28 Deutsches Zigarettensteuergesetz vom 3. Juni 1906/15. Juli 1909, in: Finanz-Archiv 27. 1910, H. 1, S. 317–325, hier S. 318 f. 29 E. E. Hermann Schmidt, Tabak und Reklame, Berlin 1919, S. 40. 30 Zur Tabaksteuer-Durchführungsverordnung vom 20.12.1930 siehe Uhlmann, Unternehmung und Betrieb, S. 106 f. Zu den Folgen für die Größe der Schachteln siehe Gustaf Nils Dorén, Die Herstellung der Cigarette im Laufe der Reemtsma-Firmengeschichte, Bd. 1: Die Orientcigarette 1862–1939, Hamburg 1979. Die für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristische Zwanziger-Packung wurde erst in den 1950er Jahren in Deutschland eingeführt; ders., Die Herstellung der Cigarette im Laufe der Reemtsma-Firmengeschichte, Bd. 2: Die Blend-Cigarette 1945–1979, Hamburg 1980. 31 Dorothea Eichenauer, Verpackungsdesign des 20. Jahrhunderts. Hülle in Fülle, München 1994, S. 29. 32 Rolf Helmut Wagner, Der Warenverkauf durch Automaten, Tübingen 1968, S. 83 f.

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Jahren auch in Deutschland durch. Mit dem Automatengesetz von 1934 war es dem Tabakwarenhandel fortan sogar gestattet, Außenautomaten für den Verkauf über die eigenen Ladenöffnungszeiten hinaus aufzustellen, die in der Regel um 19:00 Uhr endeten. War es zuvor bereits möglich gewesen, Zigaretten nach Ladenschluss des Tabakhandels an Gaststättenautomaten zu erstehen, so wurde mit der Installation von Außenautomaten der Kauf von Zigaretten rund um die Uhr möglich.33 Bereits 1938 betrug die Anzahl aller in Deutschland aufgestellten Tabakwarenautomaten etwa 100.000; insgesamt machten diese schätzungsweise 13 Prozent des Gesamtumsatzes des Tabakverkaufs aus. Eine Umfrage unter Automatenbesitzern ein Jahr zuvor ergab, dass 82 Prozent aller Automatenverkäufe außerhalb der Ladenöffnungszeiten stattfanden. Dieser Trend sollte sich in den kommenden Jahrzehnten verstärken: In den 1950er Jahren wurde schließlich knapp die Hälfte des Zigarettenverkaufs über Zigarettenautomaten abgewickelt.34 Eine weitere Innovation, die das Rauchen unterwegs und zu jeder Zeit erleichterte, wurde um 1900 populär und beschleunigte das Anstecken der Zigarette: das Streichholz. Auch wenn die Erfindung des Phosphorzündholzes auf die 1830er Jahre zurück geht, blieb der wirtschaftliche Erfolg bei diesem Vorgänger des modernen Streichholzes aufgrund seiner leichten Entflammbarkeit zunächst aus. Zum Massenphänomen wurden erst die seit 1852 in Deutschland hergestellten Sicherheitsstreichhölzer. Doch die Zündhölzer bekamen schnell Konkurrenz durch die sich immer größerer Beliebtheit erfreuenden trag­baren Taschenfeuerzeuge. Mit dem noch heute gängigen Reibradfeuerzeug, welches kurz nach der Jahrhundertwende erfunden wurde, bedurfte es schließlich keiner größeren Gerätschaft mehr, um sich eine Zigarette anzustecken.35 33 Zu den Bedenken der Zigarettenhersteller in Bezug auf den Automatenverkauf ihrer Ware siehe ebd., S. 84, und Franz Weyer, Entwicklung und Struktur des deutschen Tabakwareneinzelhandels, Stuttgart 1940, S. 180. Zum Automatengesetz von 1934 siehe Friedrich, Entwicklung, Aufbau und Lage des deutschen Zigarettengewerbes, S.  108, und Georg Metz, Die Warenautomaten-Gesetzgebung ab 1934, in: Cornelia Kemp u. Ulrike Gierlinger (Hg.), Wenn der Groschen fällt. Münzautomaten gestern und heute, München 1989, S.  34–40. Zur Verbreitung von Zigarettenautomaten siehe Weyer, Entwicklung und Struktur des deutschen Tabakwareneinzelhandels, S.  185–187. Angelika Epple hat die Überschreitung der Öffnungszeiten durch Warenautomaten in den USA bereits für die Zeit um 1900 fest­ gestellt; siehe dies., Automatic Trade. Self-Service and the Polycentric Early History of Slot Machines, in: Ralph Jessen u. Lydia Langer (Hg.), Transformations of Retailing in Europe After 1945, A ­ ldershot 2012, S. 103–114, hier S. 113 f. 34 Zur Umfrage unter Automatenbesitzern siehe Weyer, Entwicklung und Struktur des deutschen Tabakwareneinzelhandels, S.  181. Auch stieg der Umsatz an Zigaretten durch den Automateneinsatz insgesamt: Friedrich, Entwicklung, Aufbau und Lage des deutschen Zigarettengewerbes, S. 110 f. Zu den 1950er Jahren siehe Dorén, Blend-Cigarette. 35 Zur frühen Geschichte des Streichholzes siehe Hermann Pilz, Ueber den Tabak und das Rauchen. Ernstes und Heiteres aus der Culturgeschichte, Leipzig 1899, S. 206–211. Zu Sicherheitshölzern siehe Helmuth Aschenbrenner u. Günther Stahl, Handbuch des Handels mit Tabakwaren [1939], Oldenburg 1950, S. 477. Zum Taschenfeuerzeug siehe: Die Geschichte

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In den 1920er und 1930er Jahren änderten sich somit die zeitlichen Rahmenbedingungen des Rauchens im Privaten wie im Öffentlichen grundlegend. Rauchen war mit dem Ende der Zwischenkriegszeit unter jeden Umständen möglich geworden, und die neuen Distributionsstrategien der Zigarettenkonzerne verstärkten die seit Ende des Ersten Weltkrieges augenscheinliche Omnipräsenz des Rauchens im öffentlichen Leben. Nun konnte nicht nur im räumlich ab­ getrennten Zimmer in der eigenen Wohnung oder dem eigenen Haus, dem Herren- oder Raucherzimmer geraucht werden, sondern auch unterwegs, auf dem Weg zur Arbeit, auf der Straße und in Parks. Von der Ruhe des Tabakgenusses, die vor allem mit der allgemein verbreiteten Praxis des Rauchens nach dem Essen in einem extra hierfür vorgesehenen Zimmer verbunden wurde, war zu Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht mehr viel übrig: Die Zigarette war zur überall und jederzeit erwerb- und rauchbaren Tabakware geworden.36 Insbesondere die Infrastruktur der Großstadt machte das Rauchen zu jedem Zeitpunkt und bei jeder Gelegenheit möglich. Ohne Stadt – keine Zigarette, so ließe sich die gängige Interpretation des frühen 20.  Jahrhunderts zusammenfassen. Dabei wurde der Beschleunigung des Rauchens eine geradezu unumkehrbare Faktizität nachgesagt: »Die Zigarette ist das Symbol der Zeit«, argumentierte Chelius 1930, »einer Zeit der Zivilisation mit ihrem atemraubenden Rhythmus. […] Sie negieren, hieße die Zeit zu negieren, und wer sich bemüßigt fühlt, gegen dieses Zeitsymbol Sturm zu laufen«, so Chelius, »müßte erst die ganze Zeit umkrempeln, ehe es ihm gelänge, einen sichtbaren Erfolg zu verzeichnen.«37

II. Die Zigarette und die Raucherpause im Fabrikalltag Neben dem beschleunigten Lebenstempo der Großstadt bot auch der industri­ elle Arbeitsalltag in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen zeit­genös­ sischen Erklärungsansatz für den deutlichen Anstieg des Zigarettenkonsums. Der Erfolg der Zigarette wurde von Tabakindustrie und Zigaretten-Advokaten nicht nur auf einen spezifisch metropolitanen Zeitrhythmus, sondern auch auf ein neuartiges industrielles Arbeitszeitregime zurückgeführt, welches sich im Kontrast zur vorindustriellen Zeitordnung unter anderem durch kürzere Pausenzeiten in städtischen und stadtnahen Fabriken auszeichnete. Man habe, so beispielsweise der Rechtswissenschaftler Albert Manicke in einem Tabaksteuer­ gutachten von 1906, in der »gemächlichen Zeit, in der von dem heutigen ruhedes Zündholzes, in: Berliner Kolonialwaren-Zeitung, 25.5.1913, S. 359. Zum Aufkommen des Reibradfeuerzeugs siehe Aschenbrenner u. Stahl, Handbuch des Handels mit Tabak­waren, S. 478 f. 36 Zum Raucherzimmer siehe Matthew Hilton, Smoking in British Popular Culture ­1800–2000. Perfect Pleasures, Manchester 2000, S. 34 f. u. S. 52. 37 Chelius, Von der Tabakpfeife zur Zigarette, S. 2.

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losen Hasten und Jagen auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit noch kaum eine Spur sich zeigte«, noch Muße für das Rauchen einer Pfeife oder einer Zigarre gehabt. »Heute ist das anders, heute findet sich nur die Zeit zu einem ­kurzen Genuss, zum Pausenrauchen! Intensive Arbeit – intensiver kurzer Genuss!« Aus der modernen Arbeitswelt, so Manicke weiter, ergebe sich das Bedürfnis, »in den kurzen Pausen, die angestrengte geistige und industrielle Tätig­ keit lassen, durch ein paar kurze und kräftige Züge dem Geist eine schnelle Erholung und Anregung zu bieten.« Kurzum: »Diesem Bedürfnis entspricht die Zigarette.«38 Das von Manicke beobachtete moderne Arbeitszeitregime, dem die Zigarette in ihrer Eigenschaft des schnellen Genusses ideal entsprach, gründete in der Annahme, dass alle industriellen Arbeitsabläufe immer effizienter gestaltet werden könnten. Nicht nur die Arbeitsabläufe selbst, sondern auch Ruhe- und Pausenzeiten würden dem Prinzip der effizienteren Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Zeit folgen. In den 1960er Jahren charakterisierte E. P. Thompson diesen Zusammenhang von Zeitordnung und Arbeitsdisziplin mit der These einer durchdringenden Rhythmisierung der Arbeitswelt in der industriellen Moderne. Die puritanisch-kapitalistische Ideologie einer effizienten Nutzung der individuell verfügbaren Zeit habe, so Thompson, eine Zeitordnung der strikten Trennung von Arbeit und Leben hervorgebracht, die alle anderen Konzepte gesellschaftlicher Zeitordnungen überlagere.39 Ähnlich wie Stresemanns Beobachtung, dass sich die zeitlichen Umstände der Großstadt letztendlich im Konsum widerspiegelten, so mussten sich auch die zeitlichen Umstände des Arbeitslebens auf die Konsum- und Genussgewohnheiten der Arbeiter niederschlagen. Für viele verkörperte die Zigarette diesen temporalen Wandel der Industrialisierung. Sie fügte sich in den effizienten Herstellungsprozess des Industriezeitalters ein, als wäre sie speziell für die kurzen Pausen der industriellen Produktion erfunden worden. Der Einfluss des Tabaks auf die Leistungsfähigkeit des menschlichen Körpers war seit Ende des 19. Jahrhunderts immer häufiger Gegenstand medizinischer Untersuchungen. Bereits 1901 hatte der französische Physiker Charles Samson Féré (1852–1907) experimentell festgestellt, dass der Tabak die Muskelleistung vor allem bei Ermüdung kurzfristig steigern konnte. Das Forschungsinteresse konzentrierte sich zumeist auf die Leistungssteigerung im Kampf gegen Mü38 Albert Manicke, Die Tabaksteuervorlagen, in: Finanz-Archiv 23. 1906, H. 2, S. 289–331, hier S. 309. Eine noch frühere Verbindung von Pausenrauchen und Fabrikarbeit findet sich bei Julius Stettenheim, Gentlemans Rauch-Brevier, Stuttgart 1880, S. 10 f.: »Rauchen und Arbeiten sind Gegensätze, deshalb sollte man auch […] das Schmauchen während der Thätigkeit am Arbeitspulte, im Felde oder in den Fabriken meiden. […] Wem aber bei einer kleinen Pause der Arbeit, bei vorübergehenden Besuchen, auch zu sonst unumgänglichen kleinen Gängen, der Duft des Tabaks ein Bedürfnis ist, der greife zum eleganten Etui und rolle sich ein kleines türkisches Lockköpfchen zur Ausfüllung der flüchtigen Minuten.« 39 E. P. Thompson, Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism, in: Past & Present 38. 1967, S. 56–97, hier S. 94 f.

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digkeit und Erschlaffung.40 Der Tabak galt vielen Ärzten dabei als im Grundsatz von anderen Genuss- und Rauschpharmaka verschieden. Der deutsche Arzt ­Johannes Bresler (1866–1942) befand das Tabakrauchen, etwa anders als den Alkohol, für förderlich im Kontext ökonomischer Leistungsaufrechterhaltung: »Tabak beansprucht nur, uns zur Überwindung von Müdigkeit, zur Vollführung von Leistungen soweit behilflich zu sein, als mit unserem Kräftebudget, mit unserer seelischen Harmonie verträglich ist.« Der Alkohol hingegen lasse »uns Kräfte vergeuden und drückt die Beschaffenheit der Leistung herab!« Ihrer Wirkung nach sei die Zigarette – ganz ähnlich wie im Kontext der Großstadt bei Chelius – »weniger oder wenigstens nicht in erster Reihe als Genußmittel anzusehen […], sondern im wesentlichen als geistiges und Nerven-­Sparmittel, bei dem die Hervorrufung angenehmer Empfindungen ein Nebenerfolg ist, indem mit der Beseitigung der Ermüdung ein Schwinden des Ermüdungsgefühls, also eines Unlustgefühls einhergeht, nicht aber ein rauschartiges Lustgefühl erzeugt wird.«41 Auch die Zigarettenhersteller griffen diese Vorstellungen auf und propagierten in gezielten Reklamezyklen die schnelle Regeneration bei harter körperlicher Arbeit. Reemtsma bewarb beispielsweise 1932 seine Zigaretten mit einem mehrteiligen Plakatzyklus, der den Vorteil der Zigarette für geistige und körperliche Arbeit hervorhob. Ein Bauarbeiter wurde mit dem Satz zitiert: »Zur Beruhigung meiner Nerven rauche ich doch lieber erst mal eine Reemtsma Cigarette Ernte 23«, Ingenieure und Techniker erhielten den Rat: »Die Cigarette 23 hilft bei der Arbeit! Sie verschafft Ruhe, Geduld und Entspannung«, und Architekten und Bauzeichnern riet die Werbung: »Bei wichtigen Entscheidungen hilft eine gute Zigarette oft über Schwierigkeiten der Lösung hinweg.« Vor allem bei Herstellern, die wie das Unternehmen Eckstein ausschließlich für die Niedrigpreisklassen produzierten, sollten diese Konnotationen bis in die zweite Hälfte des 20.  Jahrhunderts beibehalten werden. Der rauchende Kumpel wurde für Eckstein zum wiederkehrenden Symbol für die Hauptzielgruppe.42 Im Vergleich zu anderen Genussmitteln blieb das Tabakrauchen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein wenig verbreitetes Phänomen während der Fabrikarbeit. Was dem großstädtischen Bohemien nach 1900 Haschisch und Kokain waren, war dem industriellen Arbeiter bis weit in die erste Hälfte des

40 Charles Féré, Travail et plaisir. Nouvelles études expérimentales de psycho-mécanique, Paris 1904, S.  316–323. Zu geistiger Arbeit und Tabakkonsum siehe Carl Ferdinand van Vleuten, ­Tabakgenuß und geistige Arbeit. Eine Umfrage, in: Nord und Süd 34. 1909, S. 135–144, S. 232–241 u. S. 360–368. 41 Bresler, Einwirkung des Tabakgenusses auf den menschlichen Körper, S. 226 f., u. S. 229. 42 Alle Beispiele finden sich in: Stefan Rahner u. Museum der Arbeit (Hg.), Werbewelten made in Hamburg. 100 Jahre Reemtsma, Hamburg 2010, S. 168 u. S. 171. Das Familienunternehmen Eckstein wurde 1923 von Haus Neuerburg und 1929 von Reemtsma übernommen. Der Ruf der Zigarettenmarke Eckstein No. 5 als Fabrikarbeiterzigarette des Ruhrgebiets wurde in den 1920er und 1930er Jahren zum eigentlichen Markenkern und bis in die 1950er Jahre auch in der Produktwerbung eingesetzt.

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20.  Jahrhunderts der Alkohol.43 Schon frühzeitig hatten Unternehmen aller Branchen Alkoholverbote auf den Weg gebracht und Strategien entwickelt, die notorische Trunkenheit bei der Arbeit zu verringern. Mit der Bereitstellung von Kaffee, Tee, Mineralwasser und Milch sollte der Alkoholkonsum in der Fabrik minimiert werden. Die Reihe von Maßnahmen zur Alkoholverringerung wurden sogar auf das Leben der Werksangestellten jenseits der Arbeitszeit aus­ gedehnt; so gab es Versuche, den Arbeitern Alternativen zum Wirtshaus zu bieten und sie von diesem fernzuhalten, beispielsweise durch vom Werk angebotene Sportmöglichkeiten.44 Erst mit dem späten 19. Jahrhundert etablierte sich am Arbeitsplatz auch das Tabakrauchen neben dem Trinken von Branntwein und Bier. Zunächst war es allerdings nicht die Zigarette, sondern die Pfeife, die sich unter den Arbeitern  – nicht zuletzt aus Kostengründen  – großer Beliebtheit erfreute.45 Erst nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Zahl der Zigarettenraucher rasch an. Trotz aller Marketingstrategien der Hersteller, Zigaretten als geistig anregend und unter dem Gesichtspunkt der Erholung der Nerven zu verkaufen, wurde das Rauchen während der Arbeitszeit von Fabrikanten ähnlich dem Alkoholkonsum von Anfang an zu unterbinden versucht. Im Falle der Zigarette wurden von Arbeitgeberseite sowohl Sicherheitsgründe als auch praktische Gründe, wie etwa das Arbeiten mit beiden Händen, als Argument gegen die Zigarette angeführt. Gleichwohl spielten auch temporale Aspekte des Konsums eine ernst zu nehmende Rolle: Eine unerlaubte Verlängerung oder Ausweitung von Arbeitspausen wurde seitens der Arbeitgeber als Störung der Arbeitsabläufe bewertet. Selbst die schnelle Zigarette konnte an dieser grund­ legenden Ablehnung von Arbeitsunterbrechungen nichts ändern.

43 Walter Benjamin, Über Haschisch. Novellistisches, Berichte, Materialien, Frankfurt 1972, S.  95–97 u. S.  101. Die Liste überlieferter Drogenexperimente ließe sich mit Namen wie Hans Fallada (1893–1947), Ernst Jünger (1895–1998) und Klaus Mann (1906–1949) fortführen. Siehe hierzu Werner Pieper (Hg.), Nazis on Speed. Drogen im 3. Reich, 2 Bde., Löhrbach 2009. Zum Alkoholkonsum unter Industriearbeitern siehe Hasso Spode, Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland, Opladen 1993, S. 248 f. Der starke Alkoholkonsum war bis weit ins 20. Jahrhundert ungebrochen. Davon zeugen beispielsweise Rundschreiben des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Adolf Wermuth (1855–1927) und seines Stellvertreters Georg Reicke (1863–1923) aus den Jahren 1914 und 1917, in denen der weiterhin ungebrochene Alkoholkonsum vor und während der Arbeitszeit in den Berliner Verwaltungsbehörden beklagt wurde; siehe Landesarchiv Berlin [im Folgenden LAB], A Rep. 001-02 Nr. 3326. 44 Albert Mandel, Soziale Abteilung. Wohlfahrts-Einrichtungen, in: Friedrich Bayer u. Carl Duisburg (Hg.), Geschichte und Entwicklung der Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co. Elberfeld in den ersten 50 Jahren, München 1918, S. 565–575, hier S. 573. 45 Alf Lüdtke, Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende. Skizzen zu Bedürfnisbefriedigung und Industriearbeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: ders., Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, S. 85–119, hier S. 100. Für Österreich siehe Roman Sandgruber, Bittersüße Genüsse. Kulturgeschichte der Genußmittel, Wien 1986, S. 112.

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Wie in den meisten Betrieben seit geraumer Zeit ein Alkoholverbot bestand, erfolgte mit der Zunahme des Tabakkonsums auch ein Rauchverbot oder zumindest eine starke Limitierung des Rauchens während der Arbeitszeit und auf dem Werksgelände.46 Nun wurden für viele Fabriken auch spezielle Rauch­ ordnungen erlassen, die reglementierten, wer wann und wo rauchen durfte. Einen gut überlieferten Entscheidungsprozess zur Genese der innerbetrieblichen Rauchordnung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bieten die Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co. in Leverkusen, in denen bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein allgemeines Rauchverbot eingeführt wurde.47 Ein eingeschränktes Verbot aus dem Jahre 1911 wurde zu Beginn des Jahres 1913 in ein absolutes Rauchverbot abgeändert, welches bis Ende des Ersten Weltkriegs fast unverändert Bestand hatte. Die räumliche Grenze zwischen dem Rauchverbot auf dem Fabrikgelände und der allgemeinen Raucherlaubnis in der umgebenden städtischen Öffentlichkeit markierten nun Zigarren- und Pfeifenanzünder bei den Pförtnern an den Werkstoren.48 Während des Krieges häuften sich die Verstöße gegen die strikte räumliche Trennung und wurden mit »Rücksicht auf die zur Zeit erhöhte Feuergefährlichkeit der Fabrik« ab April 1916 mit einer Geldstrafe von mindestens sechs Reichsmark geahndet.49 Das Rauchen hatte mittlerweile durch den Krieg eine ausgesprochen weite Verbreitung gefunden. In der Rückschau erklärte ein Vertreter der Werksleitung, dass unmittelbar nach Kriegsende ausnahmslos jeder geraucht habe.50 Angesicht dieser neuen Umstände sah sich die Werksleitung gezwungen, das strikte Rauchverbot zu lockern. Dieses Novum wurde unter ausdrücklicher Zustimmung des Arbeiter- und Angestelltenausschusses beschlossen und trat im Frühjahr 1919 in Kraft. Auf den Vorschlag der Werksleitung hin stimmte der Arbeiterausschuss zu, das »Rauchen in der freien Zeit in den Kaffeestuben […], in den Laboratorien, Kesselhäusern, im Ofenhaus der S. O.3-Fabrik und an den Feuerschmieden« zu erlauben.51 Die Werksleitung war zuvor am Versuch gescheitert, im Gegenzug 46 Nicht so in der öffentlichen Verwaltung, wo Rauchverbote, wie beispielsweise in Berlin, nur in Büros mit Publikumsverkehr erlassen wurden; siehe LAB, A Rep. 005-04 Nr. 36. 47 Während historische Rauchordnungen von Unternehmen nicht selten überliefert sind, fehlen zumeist Nachweise über deren Entstehungsprozess. Die Farbenfabriken Bayer stellen in dieser Hinsicht eine günstige Ausnahme dar. 48 Bayer Archiv, Leverkusen [im Folgenden BAL], 338–023, Abschrift des Gutachtens von Regierungsrat Kirchner vom 16.10.1921, S. 2. 49 BAL, 10–15 (Vol. 2), Schreiben des Direktoriums an das Sekretariat des Generaldirektoriums vom 29.4.1916. 50 BAL, 338–023, Mitschrift der Besprechung über den neuen Entwurf der Rauchordnung vom 23.9.1921, S.  2 f. Auf diese Aussage bezieht sich wohl auch das Kirchner-Gutachten, wenn es dort heißt, dass nach der Novemberrevolution von 1918 »anscheinend überall geraucht worden« sei; siehe Abschrift des Gutachtens von Regierungsrat Kirchner vom 16.10.1921, S. 2 f. 51 BAL, 214–11, Niederschrift über die Sitzung des Arbeiterausschusses vom 5.6.1919 (Beschlussprotokoll), S. 150 f., hier S. 150. SO₃ steht hier für die chemische Verbindung Schwefel­trioxid.

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zu einer lokalen Einschränkung des Rauchverbots, die Mittagspause der Werksangestellten von einer halben Stunde zu verdoppeln; auch einen Kompromissvorschlag, die Hauptpause auf eine Dreiviertelstunde zu erhöhen, lehnte die Arbeitervertretung ab. Die Unternehmensleitung befürchtete, dass sich durch die Rücknahme des Rauchverbots, beispielsweise in den Kaffeestuben die Überschreitungen der Mittagspause, die bereits die Einführung einer Mittagskontrolle notwendig gemacht hatten, noch weiter verschlimmerten.52 Stattdessen wurden die Arbeitervertreter dazu verpflichtet, »mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass die Arbeitszeiten pünktlich innegehalten würden.«53 Bei den Verhandlungen um das Rauchverbot schwang aus der Sicht der Werksleitung die zeitliche Implikation des Rauchvorgangs immer mit: Wenn das Rauchen generell erlaubt würde, käme es dadurch zu Arbeitszeitverkürzungen und konter­kariere folglich die Produktionsleistung. Die Mitarbeiter übertraten selbst das neue, gelockerte Rauchverbot, das eine Fülle von Ausnahmen beinhaltete  – Hauptstraßen auf dem Firmengelände, Anorganische Abteilung, Metallwerkstätten, Kesselhäuser, Maschinenhäuser, Aufenthaltsräume, Lagerplätze, Branddirektion und Pförtnerstuben, Laboratorien, Büros und Schreibstuben –, in den folgenden beiden Jahren in zunehmendem Maße.54 Insbesondere während Übergangsphasen im alltäglichen Arbeitsprozess, beispielsweise zwischen verschiedenen Arbeitsschritten, wurde keine Rücksicht auf Raucheinschränkungen genommen. Die Firmenleitung plante deshalb die Verabschiedung einer wesentlich strikteren Rauchordnung, die zum 11. Mai 1921 in Kraft treten sollte. Da die Arbeitnehmervertreter allerdings auf der Beibehaltung der alten, nachlässigeren Rauchordnung bestanden, wurde die Anrufung des Schlichtungsausschusses für den Landkreis Solingen notwendig.55 In einer etwa zweistündigen Besprechung mit anschließender Werksbesichtigung kamen so am 23.  September 1921 sieben Vertreter der Werksleitung und fünf Gesandte der Betriebsvertretung mit dem Düsseldorfer Oberregierungsrat Kirchner zusammen, der ein Gutachten zu dem Entwurf der neuen Rauchordnung verfassen sollte. Gegenstand der konkreten Erwägungen für das Leverkusener Werksgelände waren dabei auch die Rauchordnungen vergleichbarer Fabriken und Partner-Unternehmen. Generelles Rauchverbot galt für die Unternehmen BASF (Ludwigshafen), die Cassella Farbwerke 52 BAL, 214–11, Niederschrift über die Sitzung des Arbeiterausschusses vom 5.6.1919, S. 137–145, hier S. 139 f. 53 BAL, 214–11, Niederschrift über die Sitzung des Arbeiterausschusses vom 5.6.1919 (Beschlussprotokoll), S. 150 f., hier S. 150. 54 BAL, 338–023, Abschrift des Gutachtens bzgl. der sog. »neuen Rauchordnung« vom 16.10.1921, S. 3. 55 BAL, 338–023, Mitschrift der Besprechung über den neuen Entwurf der Rauchordnung vom 23.9.1921. Abschrift des Gutachtens von Regierungsrat Kirchner vom 16.10.1921, S. 4. Leverkusen gehörte bis 1929 zum Landkreis Solingen, welcher seinerzeit Teil  des Regierungsbezirks Düsseldorf in der Rheinprovinz war.

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Mainkur AG (Frankfurt), Agfa (Wolfen), Weiler ter Meer (Uerdingen), AEG (Hennigsdorf)  und die Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb (Düsseldorf). In der Chemischen Fabrik Kalle & Co. (Wiesbaden-Biebrich) und bei den Siemens-Schuckert- und Siemens-Halske-Werken (Berlin) war das Rauchen hingegen in Pausen, einzelnen Büros oder in Höfen gestattet. Teilweise erlaubt war es in der Maschinenbau­anstalt Humboldt AG und Van der Zypen & Charlier (beide Köln). Die Eisenbahnwerkstätten Opladen (Leverkusen) und die Deutz AG (Köln) hingegen hatten das Rauchverbot bezüglich der unterschiedlichen Rauchwaren beschränkt und gestatteten lediglich das Rauchen kurzer Pfeifen.56 Weder die chemische Industrie im Allgemeinen noch Bayer im Speziellen stellten eine Ausnahme von der Regel der Rauchverbote dar. Es handelte sich hierbei vielmehr um ein branchenübergreifendes Phänomen der industriellen Produktion. In der Akkumulatorenfabrik AG, die in Berlin-Kreuzberg vor allem elektrisch betriebene Nutzfahrzeuge herstellte, wurde das allgemeine Rauchverbot erst während des Krieges 1942 eingeschränkt und das Rauchen fortan in Büroräumen erlaubt. Im übrigen Werk blieb Rauchen jedoch weiterhin verboten. Selbst als die Berliner Osram GmbH KG 1934 nach einem Brand in einer Männergarderobe ankündigte, mehr Raucherräume einzurichten, wurde das Rauchen im Betrieb dem Brandschutz weiterhin untergeordnet.57 Die Sonderstellung der Pfeife, die ihr in den Eisenbahnwerkstätten Opladen und der Deutz AG in Köln zugesprochen wurde, zeugt darüber hinaus von einem weiteren Charakteristikum im Umgang mit dem Rauchen im Fabrikalltag in den 1920er Jahren: Die Zigarette wurde von der Werksleitung nicht als Möglichkeit der schnellen Regeneration nach erschöpfender körperlicher Arbeit, sondern in erster Linie als besonderes Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Im Vergleich zur Pfeife galt sie als besonders gefährlich, weil sie einfach weg­geworfen oder weggeschnipst werden konnte. Der Entwurf für eine neue Rauchordnung sah folglich eine stark limitierte Raucherlaubnis nach Rauchmaterialien vor: Zigaretten wurden gänzlich verboten, Zigarren und kurze Pfeifen durften nur in bestimmten Räumen während der Pausen und während der Nachtzeit geraucht werden. Im Kontext des industriellen Fabrikalltags spielte die verkürzte Rauchzeit der Zigarette und ihre stimulierende Wirkung in den offiziellen Verhandlungen zwischen Fabrikleitung und Arbeitervertretern folglich nur eine untergeordnete Rolle. Das von der Werksleitung geforderte allgemeine und ausnahmslose Rauchverbot wurde in Folge der Empfehlung des Schlichtungsausschusses vom Betriebsrat Ende 1921 angenommen und trat 56 BAL, 338–023, Mitschrift der Besprechung über den neuen Entwurf der Rauchordnung vom 23.9.1921, S. 1–3. 57 LAB, A Rep. 250–03–04 Nr.  11–01, Rundschreiben der Akkumulatorenfabrik AG Berlin (AfA) an alle Abteilungsleiter betreffend »Raucherlaubnis« vom 18. April 1942, sowie LAB, A Rep. 231 Nr. 412, Verwaltungsvorschrift der Osram GmbH KG betreffend »Rauchverbot« vom 8.5.1934.

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zum 1. Januar 1922 in Kraft. Kompensationen zeitlicher oder anderer Art konnten die Arbeitnehmer letztlich nicht durchsetzen.58 Allerdings kam es auch nach der Einführung des allgemeinen Rauchverbots weiterhin zu Ordnungsverstößen. 1923 hielt das Direktorium die Werksbeamten zu mehr Disziplin hinsichtlich der Durchsetzung des Verbots an und verwies erneut darauf, dass das Rauchverbot »sowohl für die Arbeitsräume als auch für die Bäder, die Aufenthaltsräume und die Bedürfnisanstalten« zu gelten habe. Ein Jahr später erfolgte ein abermaliger Hinweis an die Belegschaft, dass Übertretungen des Rauchverbots auch zur Betriebsentlassung führen könnten. Letztendlich blieben alle Versuche, das Rauchen auf dem Fabrikgelände und während der Arbeitszeit einzudämmen, erfolglos. Bereits 1925 wurde auch diese Rauchordnung modifiziert.59 Gestattet war das Rauchen fortan wieder für Arbeiter während der Pause in den Aufenthaltsräumen und für die Werksfeuerwehr während des Bereitschaftsdienstes auf der Brandinspektion. Eine ein­geschränkte Erlaubnis wurde auch für Laboratorien und Büros erteilt. Die lange Liste der Disziplinarmaßnahmen und zum Teil sogar Entlassungen wegen der Übertretung des Rauchverbots zeugen allerdings von der schlussendlichen Unfähigkeit der Werksleitung, das Rauchen der Belegschaft lokal wie temporär gänzlich zu verbieten.60 Infolge des Zweiten Weltkrieges hatte sich die Zigarette schließlich vollends als alles beherrschende Rauchware durchgesetzt. Die Frage, ob das Rauchen von Zigarren, Zigaretten oder Pfeifen gleichermaßen erlaubt sein sollte, wurde wie schon dreißig Jahre zuvor mit der Präferenz für Pfeifen beantwortet. In einer entsprechenden Anweisung für den Cs-Betrieb im Bayerwerk Dormagen hieß es im Oktober 1950: »Das Rauchen von Zigaretten ist dabei unerwünscht, da hierdurch das Arbeiten mit 2 freien Händen unmöglich ist.« Wer rauchen wolle, so die Anweisung, könne sich eine Pfeife zulegen.61 Das Rauchen wurde in den Teilen des Firmengeländes zugelassen, in denen mit Feuer gearbeitet wurde, oder die durch Nässe kein erhöhtes Brandrisiko aufwiesen.62 Zwar löste die Zigarette den Alkohol als das am stärksten verbreitete Genussmittel schon mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ab; dass der Zigaretten­ konsum jedoch per se auf eine zeitliche Beschleunigung des Produktionspro­ 58 BAL, 10–15 (Vol. 2), Bekanntmachung des Direktoriums betreffend Einführung des all­ gemeinen Rauchverbots innerhalb der ganzen Fabrik vom 17.10.1921. 59 BAL, 10–14 (Vol. 2), Bekanntmachung des Direktoriums vom 18.4.1923 u. 10.6.1924. Die Modifizierung erfolgte noch vor dem Zusammenschluss deutscher Farbenhersteller zur I. G. Farbenindustrie AG im selben Jahr. 60 BAL, 10–15 (Vol. 2), Rauchordnung und Bekanntmachung der Rauchordnung für die I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft Leverkusen vom 11.12.1925. Seit Einführung des Rauchverbots 1922 kam es bis in die dreißiger Jahre wegen Übertretung des Verbots jährlich zu durchschnittlich über 120 Strafen. 61 BAL, 375–73, Notiz zum Rauchverbot im Cs-Betrieb vom 20.10.1950. Cs steht hier für das chemische Element Cäsium. 62 BAL, 375–73, Rundschreiben zum Rauchverbot vom 16.10.1950 und Vorschlag zum Rauchverbot im Borsten-Technikum vom 24.10.1950.

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zesses zurückzuführen ist, wird aus dem Arbeitsalltag in den Farbenfabriken Bayer und den angeführten Beispielen zunächst nicht ersichtlich. Das nahtlose Eingliedern der Zigarette in den minutiös durchgeplanten und nur kurze Pausen zulassenden Alltag der industriellen Fabrikarbeit war und blieb in erster ­Linie das Narrativ der Zigarettenhersteller zur Vermarktung ihres eigenen Produkts. Zumindest von Seiten der Werksleitung wurde das Tabakrauchen weder als eine der Leistungsfähigkeit dienliche oder gar notwendige körperliche beziehungsweise geistige Erholung angesehen, noch galt ihr die Zigarette als maximal kurzfristige Regenerationsmöglichkeit der im Laufe des Tages nachlassenden Arbeitskraft. Stattdessen bewertete die Werksleitung das Rauchen im Allgemeinen und die Zigarette im Besonderen vorwiegend unter den Gesichtspunkten Arbeitszeitverlust und Sicherheitsrisiko. Konzessionen an die Werksangestellten erfolgten widerwillig und wurden alsbald wieder rückgängig gemacht. Gleichzeitig versuchten die Arbeitnehmer die Verhandlungen zur Ausweitung ihrer Rauchmöglichkeiten zu nutzen. Der Verkürzung offiziell gewährter Pausen stimmte die Firmenleitung angesichts der sich ausweitenden Übertretungen der Pausenzeiten allerdings nicht zu. Die Vehemenz, mit der die Forderung nach Raucherpausen gestellt wurde, zeugt allerdings von der besonderen Bedeutung des Rauchens für den Alltag der Fabrikarbeit. Diese Bedeutung kann nicht alleine auf eine allgemeine Auflehnung gegen die strengen Zeitvorgaben der Fabrikleitung zurückgeführt werden, wie sie Alf Lüdtke für die Krupp-Werke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachgewiesen hat.63 Bei den Verhandlungen über die Raucherpausen ging es ebenso um die Möglichkeit des Ausruhens und der Regeneration; die Pausenreglung für das Rauchen während der Dienstzeit war folglich mehr als nur das Mittel zum Zweck einer temporären Arbeitsverkürzung. Das Verbot solcher Arbeitsunterbrechungen konnte insofern auch nichts daran ändern, dass die Zigarette im Fabrikalltag immer gegenwärtiger wurde. Demnach waren es gerade nicht die Pausenzeiten im Arbeitsalltag der industriellen Moderne, die letztlich zur weiteren Verbreitung der Zigarette beitrugen; vielmehr lässt sich vermuten, dass es gerade das Rauchverbot auf dem Werksgelände war, das den Wechsel von den länger brennenden Pfeifen und Zigarren zur Zigarette forcierte. Die häufige Widersetzung gegen das Verbot, von der die interne Statistik der Verstöße zeugt, konnte immerhin mit der schnellen Zigarette eher heimlich passieren als durch das längere Rauchen einer Pfeife oder Zigarre.

63 Vgl. Lüdtke, Arbeitsbeginn, Arbeitspausen, Arbeitsende.

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III. Die Zigarette und das Rauchen im Krieg Neben der leistungsfördernden Wirkung im Arbeitsalltag der industriellen Moderne wurde dem Tabak seit seinem Durchbruch in Europa im 17.  Jahrhundert in Militärkreisen auch eine wichtige Unterstützungsfunktion für Soldaten in Kriegszeiten zugesprochen.64 Was für den Aufstieg der Zigarre die napoleonischen Kriege (1792–1815) bedeuteten, war für den Aufstieg der Zigarette der Krimkrieg (1853–1856). Englische Offiziere sollen von russischen und osmanischen Soldaten das Selbstdrehen von Zigaretten gelernt und daraufhin in Londoner Clubs eingeführt haben.65 Zur gesamtgesellschaftlichen Verbreitung der Zigarette kam es allerdings erst mit den Weltkriegen, die die Funktion gewaltiger Katalysatoren übernahmen. Aufgrund der weitreichenden gesellschaftlichen Mobilisierung der beteiligten Nationen erlangte die Ausbreitung der Zigarette eine bis dato in Europa ungekannte Durchdringung aller gesellschaftlichen Schichten und Gruppen. Tabak galt über die Jahrhunderte als bedeutend für die Aufrechterhaltung der Moral und Motivation der kämpfenden Truppen. Vor allem die Pfeife hatte sich im 19. Jahrhundert als weitverbreitetes Attribut des Soldaten im Felde etabliert und blieb bis zum frühen 20. Jahrhundert beliebt.66 Erst die beiden Weltkriege popularisierten die Zigarette als typisch soldatisches Kennzeichen, bis schließlich die Virginia-Blend-Zigarette, die Anfang 1945 mit den amerikanischen Besatzungstruppen Einzug in Deutschland hielt, vollends zum Charakteristikum des Soldaten in der zweiten Nachkriegszeit wurde.67 Die militärische Führung sprach dem Tabak vor allem aus psychologischen Gründen Bedeutung für die im Kampfe stehenden Truppen zu. Generaloberst Hans Hartwig von Beseler (1850–1921), Generalgouverneur des Generalgouvernement Warschau, erklärte 1915 angesichts einer öffentlichen Befragung ranghoher Militärs zur Rolle des Tabaks im Kriege: »Wenn es die größte aller Aufgaben im Felde ist, einen frischen und fröhlichen Sinn zu beleben und zu erhalten, so ist uns Führern für diese Aufgabe der Tabak der teuerste Helfer […]. Der Tabak«, so von Beseler weiter, »ist für uns alle ein wackerer und teurer Mitkämpfer geworden.«68 64 Annerose Menninger, Genuss im kulturellen Wandel. Tabak, Kaffee, Tee und Schokolade in Europa (16.–19. Jahrhundert), Stuttgart 2008, S. 283. Vor allem trug der Dreißigjährige Krieg zur Verbreitung des Rauchens in Europa bei: Egon Caesar Conte Corti, Die Geschichte des Rauchens. »Die trockene Trunkenheit«. Ursprung, Kampf und Triumph des Rauchens [1930], Frankfurt 1986, S. 295 f. 65 Corti, Geschichte des Rauchens, zur napoleonischen Zeit: S. 244 f., zum Krimkrieg: S. 283. 66 Fritz Hansen, Die Tabakpfeife des Soldaten, in: Die Wochenschau 8. 1916, S. 597–599. 67 Vgl. Christoph Maria Merki, Die amerikanische Zigarette – das Maß aller Dinge. Rauchen in Deutschland zur Zeit der Zigarettenwährung (1945–1948), in: Thomas Hengartner u. Christoph Maria Merki (Hg.), Tabakfragen. Rauchen aus kulturwissenschaftlicher Sicht, Zürich 1996, S. 57–82. Vgl. auch Tino Jacobs u. Sandra Schürmann, Rauchsignale. Struktureller Wandel und visuelle Strategien auf dem deutschen Zigarettenmarkt im 20. Jahrhundert, in: Werkstatt Geschichte 16. 2007, H. 45, S. 33–52. 68 Das Rauchen im Felde. Eine Umfrage bei den Heerführern, in: Berliner Tageblatt, 4.1.1916.

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Diskussionen um den Status des Tabakrauchens als lebensnotwendige Verpflegungsergänzung während des Ersten Weltkriegs zeugen ebenfalls von der Bedeutung, die dem Tabak für die Aufrechterhaltung der Kampfmoral zugeschrieben wurde.69 Die Dauer des Kriegs verschärfte die Spannung zwischen der für die Aufrechterhaltung der Kampfbereitschaft als Notwendigkeit begriffenen Tabak­verteilung und der gleichzeitigen Abhängigkeit von Tabakimporten. Eine Antwort hierauf suchte die Reichsregierung in der Schaffung von Kriegsgesellschaften, die den freien Handel teilweise unterbanden und den bestehenden Wirtschaftsbetrieb durch Steuerung, Beschlagnahmung und Kontingentierung erhalten sollte. Am 6. Dezember 1915 erfolgte die Gründung der Zigaretten-Tabak-Einkaufsgesellschaft (Zitag) mit Sitz in Berlin, die insbesondere für kleinere Unternehmen der Branchen den Ankauf von Rohtabak aus Bulgarien und der Türkei sicherstellen sollte. Für die Zigarrenbranche wurde zum gleichen Zweck am 10.  Oktober 1916 die Deutsche Tabakhandelsgesellschaft (Detag) mit Sitz in Bremen (Überseetabak) und Mannheim (Inlandstabak) gegründet. Beide Gesellschaften dienten primär dem gesteigerten Heeresbedarf in Kriegszeiten.70 Soldaten standen ab Februar 1915 täglich jeweils zwei Zigarren und zwei Zigaretten zu, Anfang 1918 wurden mangels Zigarren nur noch eine Zigarre und vier Zigaretten via Feldpost versandt. Noch in den letzten Monaten des Krieges lieferte die Reichswehr monatlich eine Milliarde Zigaretten und knapp 240 Millionen Zigarren aus. Der allgemeine Tabakkonsum unter den Soldaten wird dennoch weit höher gelegen haben. Eine wichtige Bezugsquelle waren betriebliche und familiäre Liebesgaben, deren Reichweite und Ausmaße allerdings quantitativ nirgendwo erfasst wurden. Der Anteil der Raucher im Kriegsdienst war dementsprechend hoch. Schätzungen zufolge kam bereits Ende 1916 lediglich ein Nichtraucher auf hundert Raucher, wobei die Nachfrage der Soldaten nach Zigaretten, die von Zigarren bereits überstieg.71 69 Das bekannteste Beispiel stammt von General Pershing, Oberkommandierender der USamerikanischen Streitkräfte in Frankreich, der 1917 nach Washington meldete: »Tobacco is as indispensable as the daily ration; we must have thousands of tons without delay«, zit. n. Albert Edward Hamilton, This Smoking World, New York 1927, S. 11. 70 Fritz Leistner, Der deutsche Zigarren- und Zigarettenhandel, Diss. Universität Frankfurt 1922, S. 79 f. u. S. 82. Zur staatlichen Steuerung des Tabakmarktes im Ersten Weltkrieg siehe auch B. Zimmern, Die Tabakbewirtschaftung in Deutschland während des Krieges und der Übergangszeit, in: Jacob Wolf (Hg.), Der Tabak und die Tabakfabrikate, Leipzig 1922, S. 261–272. 71 Konrad Lau, Die Heeresverpflegung, in: Max Schwarte (Hg.), Der Große Krieg 1914–1918, Bd.  9: Die Organisation der Kriegsführung, Zweiter Teil: Die Organisation für die Versorgung des Heeres, Leipzig 1923, S. 1–96, hier S. 64 f. Exemplarisch für die Liebesgaben seien hier genannt Saul Bail Kahane (Hg.), Die Firma Zigarettenfabrik »Stambul« J. Borg G.m.b.H. Danzig im Liebesgabendienst des Kriegsjahres 1914 – 1.  August  – 1915, Danzig 1915, und Sammelstelle für Zigarren und Zigaretten (Hg.), Die Zigarre im Felde! Liebes­ gaben-Zigarren-Verteilung hinter der Front, München 1915. Zum Raucheranteil unter deutschen Soldaten siehe: Der Tabak an der Front. Auf hundert Raucher ein Nichtraucher, in: Offizielle Zeitung der Deutschen Zigarren-Laden-Inhaber, 15.10.1916, S. 9.

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Im Zweiten Weltkrieg wurde der Tabak auch offiziell nicht mehr als Genussmittel, sondern als Lebensmittel und existenziell wichtiges Verpflegungsgut der Wehrmacht eingestuft. Der Reichskommissar für Aus- und Einfuhrbewilligung Hermann Landwehr (1884–1955) erklärte 1942, dass ihm zu Kriegsbeginn ein höherer Offizier gesagt habe, dass es viel wichtiger sei, Zigaretten zu haben als Butter.72 War während des Ersten Weltkriegs noch häufig ganz all­ gemein die Rede von der Versorgung der Truppe mit Tabaknachschub, so hatte sich im Zweiten Weltkrieg ein grundlegender Wandel in der Versorgungsstrategie der Wehrmacht vollzogen. Der Zigarettenkonsum war in den dreißiger Jahren bereits so stark angestiegen (vgl. Abb. 1), dass die Zigarette der Reichswehr bei ihren Verpflegungsplanungen als wichtigstes Tabakprodukt galt. Kurz nach Beginn der Kampfhandlungen wurden bereits zwanzig Prozent mehr Zigaretten als in Friedenszeiten produziert, die Rauchtabakindustrie steigerte ebenfalls ihre Produktion, wenn auch nur um fünf Prozent, während die Zigarrenhersteller ihre Fabrikation bereits Mitte 1941 deutlich um bis zu zwanzig Prozent im Vergleich zur Vorkriegszeit verringerten.73 Wie lässt sich dieser Wechsel zur Zigarette in den Weltkriegen erklären? Als Grund für die allgemeine Bedeutung des Tabakkonsums in Kriegszeiten wird gewöhnlich seine vielseitige Verwendungsmöglichkeit bemüht; er galt in den Kriegen des 19. und 20. Jahrhunderts schlichtweg als wirkungsvolles und schier universell einsetzbares Substitutionsmittel gegen Hunger, Einsamkeit, Langeweile und Anspannung.74 Eine überzeugende Erklärung für den kriegsbedingten Aufstieg der Zigarette zur meistgerauchten Tabakvariante kann diese auf alle Tabakwaren gleichermaßen zutreffende Interpretation allerdings nicht liefern – zumal ausgerechnet der Erste Weltkrieg eine temporäre Rückkehr der kurzen Pfeife erkennen ließ. Insbesondere die Zigarre konnte sich zu Kriegszeiten nicht halten. Dabei sind es erneut die zeitlichen Eigenschaften der Zigarette, die ihren speziellen Vorteil gegenüber der Zigarre und der Pfeife im Krieg ausmachten. Zum einen kann ihr Erfolg auf den einstweiligen Verlust der Zeitautonomie in Kampfhandlungen zurückgeführt werden, den die Soldaten in Extremsituationen an der Front erfuhren und der den Genuss anderer Rauchwaren erschwerte. Der Konsum von Zigarren beispielsweise setzte eine gewisse freie Verfügung über die eigene Zeit voraus, die aber dem unkalkulierbaren Fronteinsatz anheimfiel.75 72 Siehe hierzu Heinz Habedank, Zur Eingliederung des deutsch-bulgarischen Waren- und Zahlungsverkehrs in die wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen und in die Kriegswirtschaft des deutschen Imperialismus (1931–1941), in: Bulletin des Arbeitskreises »Zweiter Weltkrieg« 1978, H. 3/4, S. 88–116, hier S. 98. 73 Christoph Maria Merki, Die nationalsozialistische Tabakpolitik, in: VfZ 46. 1998, S. 19–42, hier S. 34, Anm. 78. 74 Siehe hierzu jüngst Dirk Schindelbeck u. a., Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs, Marburg 2015, insb. Kap. »Gebrauch und Begegnung«, S. 103–160. 75 Bernd Kölling, Das Öl im Kompaß. Zur Geschichte der Zigarre in Deutschland (1850–1920), ZfG 45.1997, S. 219–240, hier S. 240.

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Im Vergleich zur Zigarette genügten Pfeife und Zigarre diesem temporalen Strukturwandel nur unzureichend. Als Erfahrungskategorie des Fronteinsatzes wird dieser Widerspruch zwischen zeitintensivem Genuss und Kriegsalltag in einem Soldatenwitz greifbar, der im zweiten Kriegsjahr weite Verbreitung fand: »Zigarrenmarke Handgranate: Wenn man sie angezündet hat, muss sie gleich weggeworfen werden.«76 Neben der Verkürzung der Rauchzeit, die unter den Bedingungen des Massen­ krieges eine adäquatere temporale Eigenschaft darstellte, war es zum anderen die beschleunigte Wirkung der Zigarette, die ihr einen Vorteil gegenüber der Zigarre verschaffte. Der Neurologe und Psychiater Kurt Pohlisch (1883–1955) folgerte 1954, dass die Nikotinzufuhr der verschiedenen Rauchwaren entscheidend auf die Präferenz der Soldaten hinsichtlich Pfeife, Zigarre und Zigarette eingewirkt habe. Die Nikotinzufuhr beim Paffen einer Zigarre unterscheidet sich nämlich erheblich von dem des inhalierten Zigarettenrauchs.77 Die Zigarre, so Pohlisch, bleibe zunächst auch nach minutenlanger »Zufuhr ohne spürbare Wirkung«. Erst allmählich setze eine »stetige Steigerung der Zufuhr bis zum Ende des Rauchens nach etwa 10 bis 30 oder mehr Minuten« ein. Dagegen erfolgt die Nikotinzufuhr beim Zigarettenrauchen durch die gängige Inhalation intensiver und auf der Stelle: »die Kurve der Nikotinresorption und der spürbaren Wirkung steigt nach mehreren Zügen, etwa nach 3–5, also in ca. 30–60 Sekunden, steil an und hält sich in großer Höhe bis zum Ende des Rauchens nach ca. 5 Minuten.« Bereits ihre materielle Charakteristik »kommandiert flottes Rauchtempo und eine dementsprechende Motorik. Relativ einheitliche Form, Größe, Tabakmenge. Mehrfach tagsüber rasche, kurze Nikotinsättigung mit etwa 5 Minuten Geschmacksgenuß.« Damit ist der Wirkungsunterschied von Zigarre und Zigarette ein zeitlicher: »jede Zigarre eine Phase, jede Zigarette eine Attacke«. Auch das psychische Tempo, so Pohlisch, habe einen gewissen Einfluss auf die Wahl der Rauchware: »die Behäbigkeit des [pyknischen, T. R.] Zyklothemen neigt zur Zigarre, die Sprunghaftigkeit des [leptosomen, T. R.] Schizothemen zur Zigarette.« Warum neben der Zigarette nicht die Zigarre, sondern die kurze Pfeife eine Renaissance im Ersten Weltkrieg erlebte, ist zu einem gewissen Grad auch auf den temporalen Kontext ihres Gebrauchs zurückzuführen, weil sie maximale Tabakverwertung garantierte und gleichmäßige Nikotinzufuhr beim

76 Schützengraben-Humor, in: Offizielle Zeitung der Deutschen Zigarren-Laden-­Inhaber, 14.5.1916, S. 21. Dieser Scherz ist in verschiedenen Variationen überliefert: Handgranaten, in: Offizielle Zeitung der Deutschen Zigarren-Laden-Inhaber, 5.11.1916, S. 10. 77 Die hieraus abgeleiteten Schlussfolgerungen erhalten ein noch viel größeres Ausmaß, da es sich beim Tabak in den fünfziger Jahren um das am meisten verbreitete Genussmittel überhaupt handelte. Kurt Pohlisch, Tabak. Betrachtungen über Genuß- und Rauschpharmaka, Stuttgart 1954, S.  2: »Gemessen an der Häufigkeit des einzelnen Genußaktes, z. B. dem­ Rauchen einer Zigarette, hat der Tabak alle Genuß- und Rauschpharmaka überflügelt, auch den weit verbreiteten Kaffee und Tee (als koffeinhaltige Genußpharmaka) und den Alkohol (als Genuß- und Rauschpharmakon).«

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Rauchen verhieß. Ähnlich wie die Zigarette wirkte die Pfeife umgehend, aber eben nicht genauso stark. Sie war das Mittel, zu dem man in Situationen der Ruhe und Langeweile griff.78 Neben den diversen Substitutionsfunktionen, die der Tabak in Zeiten des Krieges übernahm, war es die schnellere Nikotinzufuhr als eigentliches Charakteristikum der Zigarette, die zu ihrer Popularität in Kriegszeiten beitrug. Nur sie gewährleistete unter höchster physischer und mentaler Anstrengung schnellstmögliche Stimulation. Anders als Zigarre und Pfeife ermöglichten ihre Eigenschaften hinsichtlich Beschaffenheit (materielle Beschleunigung) und Rauchpraxis (habituelle Beschleunigung) eine intensivere, schnellere und damit die insgesamt »›rationellste‹ Auswertung des Nikotins«.79 Auf diese Weise war die Zigarette insbesondere an der kämpfenden Front den anderen Rauchwaren überlegen. Hinzu kommt, dass sie bereits in den dreißiger Jahren einen solchen Aufschwung erlebte, dass sie sich im Zweiten Weltkrieg unter der nun für den Krieg eingezogenen Generation weitgehend durchgesetzt hatte. Die Zeitlogik der industriellen Rationalisierung, die auch im Fabrikalltag eine wichtige Rolle spielte, wurde so unter einer anderen, aber mit ihr mittelbar zusammenhängenden temporalen Strukturveränderung des frühen 20. Jahrhunderts wirksam: dem neuen Zeitregime des industriellen Massenkrieges. Die Auswirkungen, die der Zweite Weltkrieg auf die mit dem Rauchverhalten in Verbindung stehende Zeitwahrnehmung der frühen Bonner Republik hatte, zeigen sich in einer Umfrage der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) aus dem Frühjahr 1950. Ein Befragter berichtete beispielsweise von der militärdienstbedingten Umstellung zur Zigarette: »Habe vor dem Krieg in allen Mußestunden Zigarren geraucht, mich aber beim Barras auf Zigaretten umgestellt.« Ein anderer Kommentar wiederum zeugt von dem sich selbst­ ständig steigernden Rauchrhythmus durch die Zigarette, bei dem es schwer fiel, wieder zur Zigarre zurückzukehren: »Ich selbst rauche sehr gerne Zigarren. Leider darf ich sie nicht rauchen, weil mein Rauchtempo zu schnell ist. Das bekommt mir dann nicht, und so bleibe ich halt bei einer Zigarette.« Ein weiterer Raucher beschrieb das Zigarettenrauchen in der modernen Arbeitswelt, die »ein dauerndes Auf-dem-Sprung-Sein« verlange: »für eine Zigarettenpause langt’s schon mal, aber die Zigarre hat eine zu lange Brenndauer.« Auch die beschleunigte Wirkung wurde als Grund für die Zigarette angegeben: »Ich selbst rauche die Zigarette zu bestimmten Zeiten, um mich zu beruhigen, was meist schon nach ein paar Zügen gelingt. Eine Zigarre kann ich erst dann anzünden, wenn ich ruhig bin, Muße und Zeit habe.« Auf den Punkt brachte diesen Umstand noch ein weiterer Raucher: »Zigaretten raucht man, wenn man Ruhe braucht. Zigarren wenn man Ruhe hat.«80 Was Gustav Stresemann noch zu Be78 Ebd., S. 159–161. 79 Ebd., S. 160. 80 Wilhelm Vershofen, Tabak, Mensch und Gesellung. Psychologische und sozialpsychologische Untersuchung, in: Süddeutsche Tabakzeitung (Hg.), Ernte des Jahres. Almanach der

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ginn des Jahrhunderts als die grundlegende Eigenschaft der Zigarette beschrieben hatte, die sie zum Symbol einer temporal neu formierten Zeit machte, war mit ihrer schieren Omnipräsenz in Folge des Zweiten Weltkriegs tatsächlich zur vertrauten Konsumpraxis geworden: Mit dem Rauchen der Zigarette wurde die Beschleunigung zum unmittelbaren, persönlichen Erfahrungswert des alltäglichen Massenkonsums.

IV. Zur Zeit-Geschichte der Zigarette oder die Beschleunigung des Rauchkonsums Als Symbol einer beschleunigten Epoche wurde die Zigarette ähnlich wie andere Beschleunigungsphänomene sowohl apologetisch als auch kritisch gesehen. Im Gegensatz zum heute oft beschworenen Beschleunigungs-Imperativ stand die Zigarette anfangs vor allem im Kontext einer emphatischen Beschleunigungsbegeisterung.81 Unter Anhängern wie Gegnern bestand gleichermaßen Einigkeit über ihren kontemporären Charakter: Die Zigarette galt als ein in die eigene Zeit passendes Konsumgut. Als Symbol eines forcierten Lebenstempos wurde in ihr die Komplexität der sich auf diverse Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erstreckenden temporalen Strukturveränderungen erkannt. Und weil die Zigarette mit der Verkürzung der Rauchzeit im Vergleich zu Pfeife und Zigarre die Beschleunigung des Lebenstempos insgesamt zu verkörpern schien, galt sie vielen bereits vor ihrem Aufstieg zur meistkonsumierten Tabakware des 20. Jahrhunderts als Signum der Moderne. Mit der zunehmenden Mechanisierung der Zigarettenindustrie ab den 1880er Jahren wurde sie schließlich selbst zum Produkt der allgemeinen technischen Beschleunigung. Dabei verstärkte sich mit dem Zigarettenrauchen im Laufe der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts ein beschleunigtes Zeitempfinden, welches spätestens zur Mitte des Jahrhunderts zu einer neuen, realen und allgemeinen Zeit-Erfahrung geworden war und schließlich selbst zur weiteren Verbreitung der Zigarette in der industriSüddeutschen Tabakzeitung, Mainz 1951, S. 191–235, hier S. 205, S. 211 u. S. 213. »Barras« ist Soldatenjargon für Militär; hier steht er für die Wehrmacht. Die Original-Umfrage liegt der GfK nicht mehr vor. 81 Zum imperativen Charakter heutiger Beschleunigungsprozesse siehe Jens Lönneker, Die Verknappung der Zeit. Vom Konsumieren in neuen Zeitrhythmen, in: Berliner Debatte Initial 20. 2009, S. 4–9, hier S. 4. Der für die Gegenwart festgestellte Imperativ der Zeitknappheit habe sich, so Lönneker, in Folge grundlegender Individualisierungstendenzen seit den 1970er Jahren steigernd auf die Beschleunigung des Konsums ausgewirkt. Siehe auch Vera King, Beschleunigte Lebensführung. Ewiger Aufbruch. Neue kulturelle Muster der Ver­a rbeitung und Abwehr von Vergänglichkeit in Lebenslauf und Generationen­ beziehungen, in: Psyche 65. 2011, H.  11, S.  1061–1088. Hartmut Rosa spricht in diesem Zusammenhang von »Beschleunigungstotalitarismus«: ders., Beschleunigung und Entfremdung, S. 59.

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ellen Massengesellschaft beitrug. Ihre größere Verfügbarkeit und die erhöhte Bequemlichkeit des Konsums führten dazu, dass die Zigarette seit den 1920er und 1930er Jahren zu jeder Zeit und überall geraucht werden konnte. Auch ihre materielle Beschaffenheit als standardisierte Rauchware trug erheblich dazu bei. Die industriellen Massenkriege der ersten Jahrhunderthälfte haben die Verbreitung der Zigarette noch weiter gefördert. Vor allem die schnellere Nikotinzufuhr im Vergleich zu Zigarre und Pfeife ließen Soldaten immer häufiger zur Zigarette greifen. Die beschleunigte Wirkung der Zigarette war hierbei ihr Alleinstellungsmerkmal gegenüber anderen Tabakwaren. Begann die Beschleunigung des Rauchens durch die Zigarette um 1900 im großstädtischen Konsum zu einem tatsächlichen Erfahrungswert zu werden, so galt die Zigarette anfangs in erster Linie als Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Akzeleration der sozialen Umstände. Im Laufe der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts wandelte sich die Diagnose jedoch von der eines reinen Produkts des schnelleren Lebenstempos zum selbstständigen Motor eines beschleunigenden Prozesses. Ein in der Fabrikarbeit etabliertes industrielles Zeitregime, welches unter Zeitgenossen als ebenfalls ursächlich für den Aufstieg der Zigarette galt, war hingegen nebensächlich. Wie die soziokulturellen Facetten des Zigarettenrauchens nicht alleine auf den Faktor Beschleunigung gebracht werden können, so war sie als generelles Phänomen vieler Teilbereiche gesellschaftlichen Lebens kein der Zigarette allein vorbehaltenes Erfahrungsgut. Gleichfalls dynamisierend wirkten beispielsweise schnellere Verkehrsmittel und Nachrichtenübermittlung. Neben der Akzelerations-Rhetorik um Produktion und Konsum ließ sie sich mit der Zigarette allerdings konkret und direkt durch die Praktiken des Rauchens erfahren; durch die Zigarette wurde Beschleunigung im Bereich des Konsums zur sozialen Realität. Veränderungen im Konsumverhalten gehen unter anderem auf eine wahrnehmbare temporale Anpassung von Abläufen und Vorgängen an andere alltägliche Gegebenheiten, Bedingungen und Tagesstrukturierungen wie Arbeitsbeginn, Arbeitspause und Arbeitsende, aber auch räumliche Beschränkungen wie Verbote zurück, die den Konsum zeitlich beschränken oder gar eine bestimmte Zeit lang unterbinden. Die Geschichte der Zigarette lässt sowohl einen Blick in die temporalen Veränderungen der Umstände des Konsumverhaltens zu als auch auf die Auswirkungen, die das Rauchen selbst auf die Wahrnehmung von zeitlichen Abläufen hatte. Für Genussmittel im Allgemeinen war die Pause, oder Auszeit, die bestimmende temporale Einheit im Arbeits- und Freizeitalltag der vorindustriellen Moderne. Genuss wurde nicht ausschließlich über Geschmack definiert, sondern auch über die zeitlichen Implikationen des Genussvorgangs, dessen temporale Praxis sich im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte grundlegend gewandelt hat. Der Genuss selbst wurde mit dem Zigarettenrauchen beschleunigt; die mit ihm in vorhe­ rigen Jahrhunderten verbundenen Eigenschaften Ruhe, Entspannung und Zerstreuung unterliefen eine Transformation, welche die grundlegende ZeitVorstellung der herkömmlichen Genuss-­Praktiken infrage stellte und letztlich

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erneuerte.82 Die Intensität des Genusses verstärkte sich, während sich die Genusszeit selbst verkürzte. Das sollte sich erst wieder mit der völligen Umstrukturierung des Zigarettenmarktes nach dem Zweiten Weltkrieg ändern, als die starke Orient-Zigarette alsbald von der milden Virginia-Blend-Zigarette USamerikanischen Vorbilds verdrängt wurde.83 Nachdem sich die Zigarette allerdings als meistverbreitete Rauchware durchgesetzt hatte, ging ihre Symbolkraft für die wahrgenommene soziale Beschleunigung verloren. Bestand hatten hingegen andere kulturelle Facetten des Rauchens. In der Übernahme der amerikanischen Zigarette durch die Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg meinte der Schriftsteller und Kritiker Hanns Braun (1893–1966) beispielsweise ein Mittel zu erkennen, den Besiegten-­Status zu überwinden und ein Stück weit an der Siegerkultur zu partizipieren.84 War das Rauchen von Zigaretten bereits in den 1920er Jahren eine Art emanzipatorisches Statement der Frauenbewegung gewesen, so wurde es in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch tatsächlich zu einer weitverbreiteten Gewohnheit. Was die Anzahl der Raucherinnen und Raucher angeht, haben sich die Geschlechter bis in die 1980er Jahre immer weiter angenähert. Auf 2,5 Raucher kam schließlich im Jahre 1985 eine Raucherin.85 Zunehmend rückten ab den 1950er Jahren auch die gesundheitsschädliche und krebserregende Wirkung des Tabakrauch-Inhalierens in den Fokus öffentlicher Auseinandersetzungen, die sich ab den 1980er Jahren um Diskussionen über die Schädlichkeit des Passivrauchens erweiterte. Die wahrgenommene Rauch-Beschleunigung blieb somit ein Erfahrungswert der ersten Jahrhunderthälfte, der in dem Maße an Bedeutung verlor, wie das Zigarettenrauchen zum sozialen Totalphänomen wurde.86 Als modernes Phänomen wurde die Beschleunigung des Lebenstempos im­mer dann erfahren, wenn sie vor dem Hintergrund einer traditionellen Erfahrungswelt auftrat, die gleichzeitig als Folie für Zukunftseuphorie und Zukunftsangst diente. Was im 19.  Jahrhundert die Eisenbahn in Bezug auf Raumüberwindung und Zeitwahrnehmung für die Kutsche bedeutete, stellte im 20.  Jahrhundert die Zigarette für Zigarre und Pfeife hinsichtlich Konsum und Zeitwahrnehmung dar. Das Nebeneinander aller drei Rauchwaren in den ersten fünfzig Jahren des 20. Jahrhunderts machte ihre unterschiedlichen zeit-

82 Vgl. Schivelbusch, Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft, S. 121–142. 83 Jacobs u. Schürmann, Rauchsignale. 84 Hanns Braun, Die Zigarette, in: Die Zeit, 26.6.1947, S. 3. 85 Burckhard Junge u. a., Bestandsaufnahme. Tabakkonsum in der Bundesrepublik Deutschland, in: Prävention 12. 1989, H. 2, S. 35–40, hier S. 39. 86 Vgl. hierzu Kosellecks Feststellung, dass auch »beschleunigende Abläufe zur Gewohnheit werden« können: ders., Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, S. 152 f. Zur Risikogeschichte des Rauchens: Claus-Marco Dieterich, Dicke Luft um Blauen Dunst. Geschichte und Gegenwart des Raucher/Nichtraucher-Konflikts, Marburg 1998; zur Entdeckung des Passivrauchens insb. S. 76–80.

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lichen Eigenschaften vor allem in der Großstadt zur weitverbreiteten Alltagserfahrung. Während die Zigarette für die Beschleunigung des neuen Jahrhunderts stand, wurden Pfeife und Zigarre mit der Behäbigkeit des Vergangenen in Verbindung gebracht. So lange sie neben der Zigarette existierten, erschien ihre Gleichzeitigkeit als Anachronismus. Mit dem nahezu vollständigen Verschwinden von Pfeife und Zigarre aus dem öffentlichen Leben seit den 1950er Jahren ging mit dieser Negativfolie auch allmählich die unmittelbare Erfahrung der Beschleunigung des Rauchens verloren.

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Die Propagierung moderner Zeitdisziplin in Japan, 1906–1931*

Abstract: By the beginning of the twentieth century, the rule of modern time discipline had made little inroad in Japan. Seeking to bring the country into line with Euroamerican standards, Japan’s government began promoting punctuality and efficient time use. This article focuses on the motives behind its campaigns and the argumentative strategies that bureaucrats employed. It argues that time discipline became  a tool to strengthen Japan’s position in the global competition against Euroamerican imperialist powers. While time modernity was conceived as a Euroamerican concept, in the aftermath of the First World War more and more indigenous models were used in time education. The article contends that this transition reflects the ambiguity of the political and intellectual landscape of interwar Japan, which oscillated between nationalism and internationalism. Wie die Französische Revolution und die Oktoberrevolution gehört auch die Meiji-Restauration, die 1868 die Feudalherrschaft in Japan beendete und eine moderne, ab 1889 dann konstitutionelle Monarchie an ihre Stelle setzte, in die Reihe fundamentaler Umwälzungen von politischen Systemen, die die Einführung neuer Zeitordnungen nach sich zogen.1 Die Meiji-Regierung betrieb eine rigide Politik der Umgestaltung aller Bereiche von Staat und Gesellschaft nach europäisch-nordamerikanischen Vorbildern, um Japan getreu dem Motto­ »fukoku kyōhei« (reiches Land, starke Armee) in die Lage zu versetzen, angesichts der Bedrohung durch den europäischen Kolonialismus seine Unabhängigkeit zu bewahren. Ein Teil dieses umfassenden Modernisierungsprogramms * Für ihre Kommentare danke ich Gerhard Leinss, Jan Schmidt und den beiden Gutachtern. Alle japanischen Namen werden in der Reihenfolge wiedergegeben, die in Ostasien üblich ist, d. h. der Familienname steht vor dem Personennamen. Für die Übertragung japanischer Begriffe ins lateinische Alphabet wird die revidierte Hepburn-Umschrift verwendet. Sofern nicht anders gekennzeichnet, stammen alle Übersetzungen von der Verfasserin. 1 Gemäß den zeitsoziologischen Überlegungen von Andrea Maurer besteht die Zeitordnung aus den Formen der Zeiteinteilung und -messung, etwa dem Kalender und der Uhr, und aus Zeitinstitutionen, die eine starke normative Wirkung entfalten und so das Zeitverhalten der Gesellschaft strukturieren, etwa dem Arbeitstag, dem Feierabend oder dem Wochenende; siehe dies., Alles eine Frage der Zeit? Die Zweckrationalisierung von Arbeitszeit und Lebenszeit, Berlin 1992, S. 88.

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war die Kalender- und Uhrzeitreform vom 1.  Januar 1873, durch die das in Europa und den USA gebräuchliche System der Zeiteinteilung, bestehend aus dem Sonnenkalender und der Unterteilung des Tages in 24 gleich lange Stunden (Äquinoktialstunden), in Japan eingeführt wurde.2 Während zunächst weiterhin überall im Land unterschiedliche Lokalzeiten (chihōji) galten, die anhand des jeweiligen Sonnenstandes ermittelt wurden, weckte auch in Japan die Ausdehnung des Eisenbahnnetzes den Bedarf nach einer Synchronisierung der Regionen, um die Fahrplanabstimmung zu erleichtern. Übergangsweise galt eine nationale Eisenbahnzeit, bis 1888 die japanische Standardzeit eingeführt wurde, die auf der Washingtoner Meridiankonferenz von 1884 festgelegt worden war.3 Diese neuerliche Zeitreform war nicht nur für Japan selbst von Bedeutung, sondern ebenso ein wichtiger Schritt für die globale Verbreitung der auf dem Greenwich-Meridian basierenden Zeitordnung, da die japanische Regierung als erste weltweit die Beschlüsse der Meridiankonferenz umsetzte.4 Nachdem die Standardisierung von Zeit zunächst für einzelne euroamerikanische Nationalstaaten untersucht wurde, werden im Zuge des Aufstiegs der Globalgeschichte in jüngster Zeit auch die Ende des 19.  Jahrhunderts einsetzende globale Vereinheitlichung und die verschiedenen Formen ihrer lokalen Aneignung in den Blick genommen.5 In Bezug auf Japan wurde die Kalenderund Uhrzeitreform von 1873 aus ideen- beziehungsweise kulturgeschichtlicher Perspektive in den Diskurs über den Aufbau des japanischen Nationalstaats eingebettet und als wichtige Maßnahme zur nationalen Integration gedeutet.6 2 Ein Standardwerk zur Kalender- und Uhrzeitreform ist Okada Yoshirō, Meiji kaireki. »Toki« no bunmei kaika (Die Kalender- und Uhrzeitreform der Meiji-Zeit. Die zivilisatorische Erneuerung der Zeit), Tokyo 1994. Zum vormodernen Kalender, der durch die Reform abgelöst wurde, siehe Gerhard Leinss, Japanische Lunisolarkalender der Jahre Jōkyō 2 (1685) bis Meiji 6 (1873). Aufbau und inhaltliche Bestandsaufnahme, in: Japonica Humboldtiana 10. 2006, S. 5−89; sowie ders., Eine Dynastie, zahlreiche Herrscher und Ären. Japans Chronologie im historischen Überblick, in: Harry Falk (Hg.), Vom Herrscher zur Dynastie. Zum Wesen kontinuierlicher Zeitrechnung in Antike und Gegenwart, Bremen 2002, S.  240−254. Zur vormodernen Einteilung und Messung der Tageszeit siehe Brigitte Steger, (Keine)  Zeit zum Schlafen? Kulturhistorische und sozialanthropologische Erkundungen japanischer Schlafgewohnheiten, Münster 2004, hier S. 61−106. 3 Nakamura Naofumi, Railway Systems and Time Consciousness in Modern Japan, in: Hashimoto Takehiko u. Kuriyama Shigehisa (Hg.), The Birth of Tardiness. The Formation of Time Consciousness in Modern Japan (= Japan Review. Journal of the International Research Center for Japanese Studies, special issue 14), Kyoto 2002, S. 13–38, hier S. 20 f. 4 Ian R. Bartky, One Time Fits All. The Campaigns for Global Uniformity, Stanford 2007, S. 94. Siehe dazu auch die Einleitung von Alexander Geppert und Till Kössler im vorliegenden Band. 5 Vanessa Ogle, Whose Time Is It? The Pluralization of Time and the Global Condition, 1870s–1940s, in: American Historical Review 118. 2013, S. 1376–1402. 6 Siehe u. a. Shimada Shingo, Social Time and Modernity in Japan. An Exploration of Concepts and a Cultural Comparison, in: Time and Society 2. 1995, S. 251–260; Jeffrey Hanes, Contesting Centralization? Space, Time, and Hegemony in Meiji Japan, in: Helen Hardacre u. Adam L. Kern (Hg.), New Directions in the Study of Meiji Japan, Leiden 1997, S. 485–495; Naru-

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Dabei wurde die Dimension der sozialen Zeit und somit die Frage nach dem gesellschaftlichen Wirksamwerden dieser Reform jedoch weitgehend außer Acht gelassen. Der Sonnenkalender setzte sich nur langsam durch und löste den alten Lunisolarkalender niemals vollständig ab, da seine chronomantischen Informationen notwendig sind, um dem Volksbrauch entsprechend günstige Tage für bestimmte Unternehmungen wählen zu können. Weder liegen allerdings zu diesem Thema noch zur Akzeptanz des Äquinoktialstundensystems oder zur Verdrängung der Lokalzeiten durch die japanische Standardzeit systematische, empirisch untermauerte Studien vor, die Aufschluss über die Entstehung eines Bewusstseins nationaler Synchronität und damit über die tatsächliche Bedeutung der Kalender- und Uhrzeitreform für die Integration des Nationalstaats geben könnten.7 Eine fundamentale Voraussetzung dafür, dass die Zeitordnung des Nationalstaats das Alltagsleben der Bevölkerung durchdringen konnte, war die Verbreitung des ökonomisch-rationalen Zeitbewusstseins, das sich in der Einhaltung der modernen Zeitdisziplin (jikan kiritsu) ausdrückte, das heißt in der Ausrichtung des Alltagshandelns an der Uhrzeit und in einer ökonomisch begründeten, effizienten Zeitnutzung.8 Dies wiederum hing eng mit der Modernisierung zusammen. In traditionalen Gesellschaften ist die mechanische Zeitmessung kaum von Bedeutung, da Zeit als »qualitativ« und »organisch« verstanden wird, das heißt als im Lokalen verhaftet und konkret im Sinne einer Orientierung an im Jahresverlauf wiederkehrenden Tätigkeiten oder an natürlichen oder politischen Ereignissen. Nach modernem Verständnis ist Zeit hingegen »quantitativ« und »mechanisch«, abstrakt, gleichförmig und exakt messbar durch Uhren, an-

sawa Akira, The Social Order of Modern Japan, in: Banno Junji (Hg.), The Political Economy of Japanese Society, Bd. 1: The State or the Market?, Oxford 1997, S. 193–236; Narita Ryūichi, Sōsetsu. Jikan no kindai. Kokumin kokka no jikan (Allgemeine Einführung. Die Moderne der Zeit. Die Zeit des Nationalstaats), in: Ōtsuka Shinichi (Hg.), Kindai Nihon no bunkashi (Kulturgeschichte des modernen Japans), Bd. 3: Kindai chi no seiritsu (Die Entstehung des modernen Wissens), Tokyo 2002, S. 1–51; Reinhard Zöllner, Zeit und die Konstruktion der Moderne im Japan des 19.  Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 1.  2003, S.  47–71; Stefan Tanaka, New Times in Modern Japan, Princeton 2004. Für ein deutschsprachiges Überblickswerk über die Entwicklung von Zeitempfinden und Zeitmessung in Japan von der Antike bis in die Gegenwart siehe Florian Coulmas, Japanische Zeiten. Eine Ethnografie der Vergänglichkeit, Reinbek 2000. 7 Narusawa Akira, Gendai Nihon no shakai chitsujo. Rekishiteki kigen o motomete (Die soziale Ordnung im gegenwärtigen Japan. Auf der Suche nach den historischen Ursprüngen), Tokyo 1997, S. 34–36; Narita Ryūichi, Kindai Nihon no »toki« ishiki (Das Zeitbewusstsein im modernen Japan), in: Satō Tsugitaka u. Fukui Norihiko (Hg.), Chiiki no sekaishi (Welt­ geschichte der Regionen), Bd. 6: Toki no chiikishi (Regionalgeschichte der Zeit), Tokyo 1999, S. 352–385, hier S. 360; Meishin Chōsa Kyōgikai (Hg.), Meishin no jittai. Nihon no zokushin (Zur Lage des Aberglaubens. Japanischer Volksglaube), Bd. 1, Tokyo 1979, S. 3 f. 8 Hashimoto Takehiko, Japanese Clocks and the History of Punctuality in Modern Japan, in: East Asian Science, Technology and Society 2. 2008, S. 123–133, hier S. 126.

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gepasst an die Bedürfnisse von Gesellschaften, die durch Industrie und Handel geprägt sind.9 Der Wandel von Zeitbewusstsein und Zeitverhalten wurde bisher kaum mit der Entstehung des japanischen Nationalstaats in Verbindung gebracht. Forschungen zur sozialen Zeit kreisten vielmehr um die Genese des japanischen Kapitalismus, die ein zentrales Problem der japanbezogenen Modernisierungsdiskussion darstellte. Vor allem die US-amerikanische Sozial- und Geschichtswissenschaft konzentrierte sich in den 1950er Jahren darauf, in Anlehnung an Max Weber eine spezifisch japanische Arbeitsethik als funktionales Äquivalent zum Protestantismus als religiöser Grundlage der ökonomischen Rationalisierung herauszuarbeiten. Dieser Argumentationsstrang wurde in den 1980er und 1990er Jahren zu einem breit rezipierten kulturalistischen Interpretationsansatz ausgebaut, der eine traditionelle, im Konfuzianismus wurzelnde Arbeitsethik als einen der Schlüsselfaktoren nicht nur der japanischen Industrialisierung im 19. Jahrhundert, sondern auch des japanischen Wirtschaftserfolgs nach 1945 betrachtete.10 Spätere sozial- und wirtschaftshistorische Forschungen setzten sich mit dem Modell von Edward P. Thompson auseinander. Dieses unterscheidet im frühindustriellen Europa ein agrarisches, an den Rhythmen der Natur und den im Jahresverlauf zu erledigenden Arbeitsaufgaben orientiertes Zeitbewusstsein von einem »modernen«, industriellen Zeitbewusstsein, das sich mit der Verbreitung der industriekapitalistischen Produktionsweise in einem konflikthaften Prozess allmählich auf die gesamte Gesellschaft ausdehnte.11 Obwohl vielfach nachgewiesen wurde, dass die Einführung der modernen Zeitdisziplin in industriellen Produktionsstätten in Japan die gleichen Anpassungsprobleme hervorrief, wie sie unter anderem Thompson für europäische Industrialisierungsprozesse beschrieb, dominiert in der euroamerikanischen Literatur die gegenteilige These des Japanhistorikers Thomas C. Smith, der zufolge das Zeitbewusstsein der japanischen Arbeitskräfte dem Zeitregime der Fabrik bereits zu Beginn der Industrialisierung entsprochen habe, da bereits in der vormodernen Agrargesellschaft Zeitökonomie betrieben worden sei.12 9 Peter Burke, Reflections on the Cultural History of Time, in: Viator 35. 2004, S. 617–626, hier S. 618–620. 10 Zusammengefasst bei Wolfgang Schwentker, Der »Geist« des japanischen Kapitalismus: Die Geschichte einer Debatte, in: Wolfgang J. Mommsen u. Wolfgang Schwentker (Hg.), Max Weber und das moderne Japan, Göttingen 1999, S.  270–298, hier S.  272–292; siehe auch Nishimoto, Jikan ishiki no kindai, S. 105 f. Der bedeutendste Vertreter dieser Strömung war Robert Bellah, Tokugawa Religion. The Cultural Roots of Modern Japan, New York 1957. 11 E. P. Thompson, Time, Work-Discipline, and Industrial Capitalism, in: Past & Present 38. 1967, S. 57–97. 12 Siehe u. a. Erich Pauer, Arbeit und Unternehmen in historischer Sicht, in: Peter Hanau u. a. (Hg.), Die Arbeitswelt in Japan und in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Vergleich, Darmstadt 1985, S. 117–133; Andrew Gordon, The Evolution of Labor Relations in Japan Heavy Industry, 1853–1955, Cambridge, MA 1985, S. 27; Narusawa, Gendai Nihon no shakai chitsujo, S. 28 u. S. 175–177; Tsunoyama Sakae, Jikan kakumei (Revolution der Zeit), ­Tokyo 1998, S. 116 f. u. S. 126 f.; Janet Hunter, Women and the Labour Market in Japan’s Industria-

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Dies wiederum stützte eine Kernthese der japanbezogenen Modernisierungsdiskussion, wonach der Industrialisierungsprozess in Japan reibungsloser verlaufen sei als in Europa. Neuere, differenziertere Arbeiten japanischer Sozial-, Wirtschafts- und Technikhistorikerinnen und -historiker lassen die Konturen einer multiplicity of social times (Peter Burke)  und damit eines Nebeneinanders unterschiedlicher­ traditionaler und moderner Zeitvorstellungen in einer Gesellschaft, die etwa von der Berufs- oder Religionszugehörigkeit oder von der Eingebundenheit in bestimmte Institutionen mit je spezifischen Zeitregimes abhingen, auch für Japan sichtbar werden.13 Ansätze moderner Zeitdisziplin wurden in den vormodernen Großstädten erkannt, wo sich die adelige Verwaltungselite der Samurai, aber auch Handwerker und Kaufleute an der Uhrzeit orientierten, die durch Stundenglocken flächendeckend wahrnehmbar verkündet wurde. Vorstellungen von Zeitökonomie lassen sich in vertraglichen Regelungen von Lohnarbeit nachweisen und Arbeitsfleiß galt als Tugend.14 Diese Voraussetzungen mögen die spätere Internalisierung und Umsetzung der modernen Zeitdisziplin im privaten und lising Economy. The Textile Industry Before the Pacific War, London 2003, S. 89. Zu Thomas C. Smith siehe ders., Peasant Time and Factory Time in Japan, in: Past & Present 111. 1986, S. 165–197. Seine These wurde in jüngster Zeit z. B. noch von Jürgen Osterhammel aufgegriffen; siehe ders., Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 125. Siehe auch Steven J. Ericson, The Sound of the Whistle. Railroads and the State in Meiji Japan, Cambridge, MA 1996, S. 70; Coulmas, Japanische Zeiten, S. 274; ­Zöllner, Zeit und die Konstruktion der Moderne, S. 70 f. Problematisch an Smiths Argumentation ist erstens, dass er Anzahl und Gewicht der Quellen unterschätzte, die von der allgemeinen Dis­ziplinlosigkeit japanischer Arbeitskräfte noch bis in die 1920er und 1930er Jahre hinein zeugen. Zweitens führte er die von ihm festgestellte vergleichsweise geringe Anzahl an Arbeitszeitkonflikten während der japanischen Industrialisierung auf eine in der Tradition verwurzelte kollektivistische Einstellung der Arbeitskräfte zurück, die zeitliche Fremd­bestimmung akzeptabel erschienen gelassen habe, sofern sie mit wohlwollender Behandlung vergolten wurde. Andere mögliche Erklärungen blendete er jedoch aus, insbesondere das Vorherrschen handwerklicher Produktionstechnik, die lange Arbeitszeiten durchaus erträglich machte. Drittens basierte Smiths These auf der Analyse vormoderner Agrarratgeber, also normativer Quellen. Er räumte selbst ein, dass man nicht wissen könne, in welchem Umfang die darin propagierte Zeitökonomie internalisiert und in die Praxis umgesetzt wurde. 13 Nishimoto Ikuko, The »Civilization« of Time. Japan and the Adoption of the Western Time System, in: Time and Society 6. 1997, S. 237–259; Tsunoyama, Jikan kakumei; Hashimoto Takehiko u. Kuriyama Shigehisa (Hg.), Chikoku no tanjō. Kindai Nihon ni okeru jikan ishiki no keisei (Die Entstehung der Verspätung. Die Formierung des Zeitbewusstseins im modernen Japan), Tokyo 2001 (Hashimoto u. Kuriyama, The Birth of Tardiness ist eine leicht gekürzte englische Übersetzung); Nishimoto Ikuko, Jikan ishiki no kindai. »Toki wa kane nari« no shakaishi (Die Moderne des Zeitbewusstseins. Die Sozialgeschichte von »Zeit ist Geld«), Tokyo 2006; Hashimoto, Japanese Clocks; Burke, Reflections on the Cultural History of Time, S. 620–624. 14 Yulia Frumer, Translating Time. Habits of Western-Style Timekeeping in Late Edo Japan, in: Technology and Culture 55. 2014, S. 785–820, hier S. 790 f.

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öffentlichen Alltagsleben auf gesamtgesellschaftlicher Ebene begünstigt haben. Es war dies jedoch ein langwieriger, komplizierter Prozess, dessen zeitliche Eingrenzung noch unscharf ist und dessen Triebkräfte wenig erforscht sind. Zwar wurden die Zeitnormen Pünktlichkeit und Effizienz bereits seit den 1870er Jahren in den modernen Institutionen Grundschule, Militär und Fabrik eingefordert. Der Betrieb und die Benutzung des neuen Verkehrsmittels Eisenbahn setzten die Beachtung der Uhrzeit ebenso voraus. Auch stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts im privaten Leben und im öffentlichen Raum eine ausreichende temporale Infrastruktur zur Verfügung, da Uhren bis dahin in städtischen und ländlichen Haushalten allgemein verbreitet waren und in den ländlichen Regionen zumindest an Grundschulen, in den Städten auch an anderen öffentlichen Gebäuden wie Bahnhöfen oder Post- und Telegrafenämtern Uhren angebracht waren.15 Dennoch fehlte es in Teilen der Gesellschaft noch bis nach 1945 am Verständnis für die Notwendigkeit, das Alltagsleben an der Uhrzeit auszurichten. Anfänglich wurde vermutet, dass die moderne Zeitdisziplin bis 1945 allenfalls innerhalb der »Zeitinseln« der genannten Institutionen galt und anschließend auch im privaten und gesellschaftlichen Alltagsleben praktiziert wurde. Allerdings sieht die Sozialhistorikerin Nishimoto Ikuko unter Berücksichtigung des Stadt-Land-Unterschieds Anzeichen dafür, dass bereits die 1920er und 1930er Jahre eine Schlüsselperiode waren, in der die Uhrzeit in den Städten flächendeckend alltagsstrukturierende Kraft gewann, während dies in den ländlichen Regionen erst nach 1945 geschah.16 Zur Erklärung dieses Wandels ist der wachsende Einfluss der modernen Institutionen durch die Ausweitung der Wehrpflicht, steigende Schulbesuchsraten und den Ausbau weiterführender Bildungsangebote, die Zunahme von Arbeitsplätzen in der Industrie und die Entwicklung der Eisenbahn zum Massentransportmittel zu untersuchen. Ein weiterer Einflussfaktor, der in Japan eine wichtige Rolle spielte, ist die staatliche Zeiterziehungspolitik.

I. Kampagnen als Mittel der Zeiterziehung in Japan Japan gehört mit China und der Sowjetunion zur einer Gruppe von Gesellschaften, in denen moderne Verhaltensnormen in Form staatlich initiierter Aufklärungskampagnen propagiert wurden. Die japanische Ministerialbürokratie setzte im Verlauf des 20. Jahrhunderts ungeachtet der Veränderungen des politischen Systems Kampagnen zur Mobilisierung individueller Ressourcen – ins-

15 Uchida Hoshimi, The Spread of Timepieces in the Meiji Period, in: Hashimoto u. Kuriyama, Birth of Tardiness, S. 173–192. 16 Hashimoto u. Kuriyama, Chikoku no tanjō; Hashimoto, Japanese Clocks, S. 127 f. u. S. 130; Nishimoto, Jikan ishiki no kindai, S. 210 f.

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besondere Zeit, Geld und Arbeitskraft – kontinuierlich dazu ein, in Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Akteuren das Alltagsverhalten der Bevölkerung zu beeinflussen.17 Auf diesem Wege sollten zumeist wirtschaftspolitische Ziele erreicht werden, etwa die Steigerung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktivität, die Erhöhung der Sparquote oder die Verbesserung der Steuer­ moral. Die größten und dauerhaftesten Kampagnen der Vorkriegszeit waren die vom Innenministerium (Naimushō) angestoßene »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen« (chihō kairyō undō, 1906–1918), die gleichzeitig die erste Kampagne überhaupt war, und die »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« (seikatsu kaizen undō, 1920–1943), die vom Erziehungs­ministerium (Monbushō) ausging. Die erste Kampagne sollte die Wirtschaftsleistung der ländlichen Regionen erhöhen und darüber hinaus die Identifikation der dörflichen und kleinstädtischen Bevölkerung mit dem Nationalstaat stärken sowie dem »moralischen Verfall« entgegenwirken, der im Zusammenhang mit Verstädterung und Industrialisierung auch auf dem Lande wahrgenommen wurde. Die zweite sollte hingegen eine vollumfängliche Rationalisierung der privaten Lebensführung nach dem Vorbild der euroamerikanischen Mittelschicht erreichen.18 Die Protagonisten beider Kampagnen waren jeweils in einem zentralen Lenkungsgremium vereint, das landesweit Untergruppen einrichtete und ein Mitteilungsorgan veröffentlichte. Im Fall der »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen« war dies die Chūō Hōtokukai (Zentralvereinigung für dankbare Tugenderwiderung), die die Zeitschrift Shimin (Dieses Volk) herausgab, im Fall der »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung die Liga zur Verbesserung der Lebensführung« (Seikatsu Kaizen Dōmeikai) mit der Zeitschrift­ 17 Zu China siehe Federica Ferlati, The New Life Movement in Jiangxi Province, 1934–1938, in: Modern Asian Studies 44. 2010, S. 961–1000; Liu Wennan, Redefining the Moral and Legal Roles of the State in Everyday Life. The New Life Movement in China in the Mid-1930s, in: Cross-Currents. East Asian History and Culture Review 7. 2013, S. 30–59. Zur Sowjetunion siehe Jutta Scherrer, »Einholen und überholen«. Amerikanische Technologie aus sowjetrussischer Sicht, Die zwanziger und frühen dreißiger Jahre, in: Martin Aust u. Daniel Schönpflug (Hg.), Vom Gegner lernen. Feindschaften und Kulturtransfers im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt 2007, S. 179–208, hier S. 188–202; Stephen E. Hanson, Time and Revolution. Marxism and the Design of Soviet Institutions, Chapel Hill 1997, S.  123–128; Rene Fülöp-Miller, The Mind and Face of Bolshevism. An Examination of Cultural Life in Soviet Russia, London 1927, S. 207–216. Siehe u. a. Sheldon Garon, Molding Japanese Minds. The State in Everyday Life, Princeton 1997; Andrew Gordon, Managing the Japanese House­ hold. The New Life Movement in Postwar Japan, in: Social Policies. International Studies in Gender, State and Society 40. 1997, S. 245–283; Simon Partner, Taming the Wilderness. The Lifestyle Improvement Movement in Rural Japan, 1925–1965, in: Monumenta Nipponica 56. 2001, S. 487–520. 18 Siehe Sheldon Garon, Beyond Our Means. Why America Spends While the World Saves, Princeton 2013; sowie Kenneth Pyle, The Technology of Japanese Nationalism. The Local Improvement Movement, 1900–1918, in: Journal of Asian Studies 1. 1973, S. 51–65; Pyle, Technology of Japanese Nationalism, S. 52.

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Seikatsu (Die Lebensführung).19 Die nationale Ausbreitung dieser wie auch anderer Kampagnen wurde durch ein Netz staatlicher und zivilgesellschaftlicher Intermediäre ermöglicht, das am Vorabend des Ersten Weltkriegs bereits weit aus­gedehnt war und ab den 1920er Jahren ganz Japan überspannte.20 Die wichtigsten staatlichen Intermediäre waren Bürgermeister und Grundschulrektoren, die von zentralstaatlicher Ebene aus zur Mobilisierung der Bevölkerung angewiesen wurden. Auf lokaler Ebene arbeiteten sie jeweils mit einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Organisationen wie insbesondere den Jungmännervereinen (seinendan), Reservistenvereinen und Frauenvereinen zusammen.21 Zur Ausbreitung der Kampagnen trugen schließlich auch die Massenmedien in Form von Tageszeitungen und Zeitschriften bei, von denen einige zu Beginn der 1920er Jahre bereits eine tägliche Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren aufwiesen sowie ab 1925 auch der Rundfunk.22 Auf diesen Wegen wurden die Botschaften der Kampagnen der Bevölkerung flächendeckend und nachhaltig bewusst gemacht. Der Beitrag der Kampagnen zur Verbreitung moderner Zeitdisziplin ist bislang kaum erforscht. Dies gilt insbesondere für die »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen«. Auf die große Bedeutung der Zeitdisziplin in der 19 Gemäß dem von Jarol B. Manheim postulierten Idealtypus sind an einer Kampagne drei Gruppen von Akteuren beteiligt: die Protagonisten, die die Botschaften der Kampagne formulieren, die Intermediäre, die die Botschaften der Kampagne an die Zielgruppe weiterleiten, und die Zielgruppe; siehe ders., Strategy in Information and Influence Campaigns. How Policy Advocates, Social Movements, Insurgent Groups, Corporations, Governments and Others Get What They Want, New York 2011, S. 22. Der Begriff der Tugenderwiderung bezieht sich auf die Morallehre von Ninomiya Sontoku (1787–1856), der die ländliche Bevölkerung zur Befolgung bestimmter Tugenden wie Sparsamkeit und Fleiß angehalten hatte, um ihre Lebensumstände zu verbessern. Seine Anhänger gründeten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine quasi-religiöse, agrarreformerische Bewegung, die 1906 durch die Gründung der Zentralvereinigung unter staatliche Ägide gestellt wurde. Inoue Tomoichi (1871–1919), der Staatssekretär im Innenministerium, der die Kampagne koordinierte und der Zeitschrift ihren Namen gab, wollte den Titel offenbar auch im Sinne von jichi minsei ni shisuru (wörtl.: »Selbstverwaltung und nationale Regierung unterstützen«) verstanden wissen. Siehe Ōshima Mitsuko, Dai1ji taisenki no chihō tōgō seisaku (Maßnahmen zur regionalen Integration während des Ersten Weltkriegs), in: Senshū shigaku 29. 1998, S. 1–49, hier S. 4. Die Erstausgabe der Zeitschrift kam im April 1921 unter dem Titel Seikatsu ­kaizen (»Verbesserung der Lebensführung«) heraus. 1925 wurde der Titel in Seikatsu geändert, bevor die Zeitschrift ab 1935 bis zu ihrer letzten Ausgabe vom Juni 1943 wieder unter dem­ alten Titel Seikatsu kaizen erschien. 20 Garon, Molding Japanese Minds, S. 7–12. 21 Die wichtigsten Intermediäre, die Reservisten- und Jungmännervereine, waren freilich so eng an den Verwaltungsapparat angebunden, dass sie als semi-staatlich bezeichnet werden können. Es handelte sich dabei um landesweit verbreitete, hierarchisch aufgebaute Organisationen, deren jeweilige Spitze mit einem Ministerium oder mehreren Ministerien kooperierte. Dadurch waren sie besonders leicht zu mobilisieren. 22 Zur Verbreitung der Massenmedien und der von ihnen getragenen Massenkultur der 1920er Jahre siehe u. a. Sandra Wilson, Enthroning Hirohito. Culture and Nation in 1920s Japan, in: Journal of Japanese Studies 37. 2011, S. 289–323, hier S. 295–297.

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»Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« haben hingegen die Sozialhistorikerinnen Hirade Yūko und Nishimoto Ikuko hingewiesen.23 Sie äußerte sich vor allem darin, dass im Jahr 1920 eine sogenannte »Zeitausstellung« (toki no tenrankai) ausgerichtet und der »Tag der Zeit« (toki no kinenbi, wörtl.: »ZeitGedenktag«) eingeführt wurde. Mit diesem nationalen Aktionstag setzte unter dem Dach der »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« eine eigene Kampagne für Pünktlichkeit und effiziente Zeitnutzung ein, deren aktivste Phase mit landesweiten Aktionen zum Tag der Zeit und permanenten Aktivitäten der Intermediäre auf lokaler Ebene bis in den Zweiten Weltkrieg hineinreichte. Anschließend wurde im Rahmen anderer Kampagnen, die sich auf den ländlichen Raum konzentrierten, die gesellschaftliche Zeiterziehung ungefähr zwei Jahrzehnte lang fortgesetzt. Als ferner Nachklang der Zeitkampagne wird der Tag der Zeit heute noch in einigen Kindergärten und Grundschulen ­begangen. Im Folgenden wird anhand der zwei Kampagnen erstens gezeigt, dass die Verbreitung moderner Zeitdisziplin wesentlich dazu diente, außenpolitische Ziele zu erreichen. Dies wirft ein neues Licht auf die »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung«, die in der älteren Forschung als Reaktion auf innenpolitische Probleme erklärt wurde.24 Demnach hätte die japanische Regierung sie als Mittel dazu eingesetzt, den sozialen Frieden wiederherzustellen, 23 Hirade Yūko, »Toki no kinenbi« no setsuritsu (Die Einführung des Tags der Zeit), in: Nihon rekishi 725. 2008, S. 69–84; Nishimoto Ikuko, Jikan ishiki no kindai, S. 267–279; Nishimoto Ikuko, Kodomo ni jikan genshu o oshieru. Shōgakkō no uchi to soto (Den Kindern Pünktlichkeit beibringen. Inner- und außerhalb der Grundschule), in: Hashimoto u. Kuriyama, Chikoku no tanjō, S. 157–187, hier S. 179–181. 24 Zur »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« siehe Kobayashi Yoshihiro, Taishōki ni okeru shakai kyōiku seisaku no shintenkai. Seikatsu kaizen undō o chūshin ni (Neue Entwicklungen in der Volksbildung während der Taishō-Zeit. Unter besonderer Berücksichtigung der Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung), in: Kōza Nihon Kyōikushi Henshū Iinkai (Hg.), Kindai II/Kindai III (Moderne 2/3), Kōza Nihon kyōikushi (Vorlesungen zur Bildungsgeschichte Japans), Bd. 3, Tokyo 1984, S. 308–331; Garon, Molding Japanese Minds; Nakajima Kuni, Taishōki ni okeru »Seikatsu kaizen undō« (Die Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung in der Taishō-Zeit), in: Sōgō Joseishi Kenkyūkai (Hg.),­ Josei no kurashi to rōdō (Leben und Arbeit der Frauen), Nihon joseishi ronshū (Aufsätze zur japanischen Frauengeschichte), Bd. 6, Tokyo 1998, S. 230–263; Hisai Eisuke, Senzen no seikatsu kaizen undō ni okeru »chishiki« to »jikkō«. Seikatsu Kaizen Dōmeikai/Chūōkai no seikaku to sono hen’yō ni kansuru ikkōsatsu (»Wissen« und »praktische Umsetzung« in der Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung während der Vorkriegszeit. Eine Betrachtung des Charakters und des Wandels der Liga zur Verbesserung der Lebensführung/ des Zentralvereins zur Verbesserung der Lebensführung), in: Nihon Shakai Kyōiku Gakkai kiyō 42. 2006, S. 65–76; Hirade Yūko, Kokka no seikatsu kaizen no torikumi. Seikatsu Kaizen Dōmeikai setsuritsu made (Staatliche Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensführung. Bis zur Gründung der Liga zur Verbesserung der Lebensführung), in: Seikatsu bunkashi 49. 2006, S. 65–76; Ōba Nobutaka: Kindai Nihon no jikan chitsujo to shakai kyōiku (Zeitordnung und Volksbildung im modernen Japan), in: Uesugi Takamichi u. Ōba Nobutaka (Hg.), Shakai kyōiku no kindai (Volksbildung in der Moderne), Kyoto 1996, S. 80–113.

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der durch die gewalttätigen Reisunruhen von 1918 – hervorgerufen durch einen massiven Anstieg der Verbraucherpreise  – in Gefahr geraten war. Die Kampagne sollte die Bevölkerung dazu befähigen, die im Alltagsleben zur Verfügung stehenden Ressourcen einschließlich der Zeit effizienter zu nutzen, um individuelle Lebensbedingungen zu verbessern und dadurch Staat und Gesellschaft zu stabilisieren.25 Neuere Forschungen stellen die Kampagnen von 1906 bis 1945 jedoch in den Kontext der schon seit den 1880er Jahren andauernden Bestrebungen von Ministerialbürokraten, Intellektuellen und lokalen Eliten, die Unterstützung der Bevölkerung für die Modernisierungspolitik der Regierung zu erlangen, deren Ziel darin bestand, Japan in der Auseinandersetzung mit den imperialistischen Großmächten zu stärken. Bereits die erste Kampagne von 1906 war unter diesen Vorzeichen mit dem Ziel lanciert worden, Japans wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als Basis seiner militärischen Stärke zu steigern. Die »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« diente abermals dazu, die Wirtschaftsleistung zu erhöhen, um den Status als Weltgroßmacht zu festigen, den Japan als Siegernation des Ersten Weltkriegs erlangt hatte. 26 Der Faktor Zeit spielte dabei jeweils eine zentrale Rolle. Zweitens erlaubt die Betrachtung der Zeiterziehung im Rahmen der Kampagnen Rückschlüsse auf Japans kulturelles Selbstbewusstsein gegenüber den euroamerikanischen Nationen zu ziehen, aus deren Zivilisation die Zeitnormen Pünktlichkeit und Effizienz stammten. Ihre Propagierung war eingebettet in den breitangelegten Kulturtransfer, der Japans Modernisierung seit Mitte des 19. Jahrhunderts zugrunde lag. Der Erste Weltkrieg gilt als Wendepunkt in diesem Transferprozess, da Japan durch den damit verbundenen Aufstieg in die Gruppe der fünf Weltgroßmächte so viel Selbstbewusstsein gegenüber dem Westen gewonnen habe, dass die Bereitschaft, die kulturelle und moralische Überlegenheit der westlichen Nationen anzuerkennen, im Laufe der 1920er und 1930er Jahre zurückgegangen sei und einer Rückbesinnung auf die vermeintliche Essenz der japanischen Kultur Platz gemacht habe, die es vor äußeren Einflüssen zu schützen galt.27 Diese Sichtweise greift einerseits mit der globalhistorischen These ineinander, dass der Krieg, der das Ende der politischen Vormachtstellung Europas in der Welt einläutete, auch das Vertrauen in die Segnungen der westlichen Zivilisation erschüttert habe und in vielen Ländern kulturelle Gegenbewegungen entstehen ließ, die eigene Wertetraditionen in den Vordergrund rückten. Andererseits widerspricht sie deren Relativierung, ins­ besondere in Teilen Ostasiens sei der Glaube an die europäische Zivilisation er-

25 Nakajima, Taishōki ni okeru »Seikatsu kaizen undō«, S. 256. 26 Garon, Molding Japanese Minds, S. 5–10 u. S. 13; Hirade, Kokka no seikatsu kaizen no torikumi, S. 70. 27 Bob Tadashi Wakabayashi, Introduction, in: ders. (Hg.), Modern Japanese Thought, Cambridge 1998, S. 1–29, hier S. 15; Najita Tetsuo u. H. D. Harootunian, Japan’s Revolt Against the West, in: ebd., S. 207–272.

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halten geblieben.28 Anhand der Zeitkampagne wird gezeigt, dass in Japan beides, die Rückbesinnung auf vermeintlich einheimische Traditionen, welche nicht selten invented traditions waren, sowie die fortgesetzte intensive Orientierung an den euroamerikanischen Nationen, welche zugleich als Bedrohung und als Vorbild, als Gegner und als Partner verstanden wurden, miteinander vereinbar war.

II. Die Verknüpfung von individueller Zeitdisziplin und nationalem Interesse in der »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen«, 1906–1918 Bis um die Jahrhundertwende wurde die Notwendigkeit individueller Zeitdisziplin in Japan selten mit einem nationalen Interesse verknüpft und kaum anhand von internationalen Vergleichen begründet. Zeitdisziplin wurde in Schulen, Kasernen, Fabriken und im Eisenbahnverkehr vielmehr eingefordert und eingeübt, um das Funktionieren dieser Institutionen zu gewährleisten. In der Zeiterziehung im Schulunterricht wurde hervorgehoben, dass es im individuellen Interesse der Schülerinnen und Schüler lag, durch Pünktlichkeit und produktive Zeitnutzung Gesundheit und Wohlstand zu erlangen.29 Sowohl im Schulunterricht als auch in der gesellschaftlichen Vermittlung dieser Zeitnormen wurde einerseits an einheimische Tugendtraditionen angeknüpft, worunter vor allem frühes Aufstehen und frühmorgendlicher Arbeitsbeginn fielen, während andererseits Persönlichkeiten aus der euroamerikanischen Geschichte als Vorbilder präsentiert wurden.30 Diese entstammten zumeist dem Ratgeber »Self-Help« des schottischen Moralschriftstellers Samuel Smiles (1812–1904), der 1859 erstmals erschienen war und sich im letzten Viertel des 19.  Jahrhunderts zu einem globalen Bestseller entwickelte, welcher von heraus­ragender Bedeutung für die Verbreitung von Verhaltensnormen wie Ausdauer, Sparsamkeit, Fleiß oder Genauigkeit war, die den Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entsprachen. Unter dem Titel Saikoku risshihen (»Edition ehrgeiziger Bestrebungen in westlichen Ländern«) 1871 ins Japanische übersetzt, wurde »Self-Help« eines der einflussreichsten Bücher der Meiji-Zeit, das im Schulunterricht ebenso verwendet wurde wie als Textgrundlage für Theaterstücke und das der jungen, aufstrebenden Führungsschicht des 28 Sebastian Conrad u. Dominic Sachsenmaier, Introduction, in: dies., (Hg.), Competing Vi­ sions of World Order. Global Moments and Movements, 1880s–1930s, New York 2007, S. 1–25, hier S. 12; Dominic Sachsenmaier, Alternative Visions of World Order in the Aftermath of World War I. Global Perspectives on Chinese Approaches, in: ebd., S. 151–178, hier S. 153. 29 Yamamoto Takinosuke, Hayaoki (Frühes Aufstehen), Tokyo 1918, S. 140–149. 30 Zur Geschichte und Gegenwart des frühen Aufstehens als Verhaltensvorschrift siehe Steger, (Keine) Zeit zum Schlafen?, S. 294–315; Nishimoto, Jikan ishiki no kindai, S. 167–171.

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modernen Japans zur moralischen Orientierung diente.31 Unter den in »SelfHelp« zusammengetragenen rund dreihundert Erfolgsgeschichten wird Zeitdisziplin anhand von erstens Ludwig XIV., der die Maxime »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige« vertrat, zweitens Lord Nelson, der die Angewohnheit besaß, stets eine Viertelstunde zu früh zu Verabredungen zu erscheinen, und drittens George Washington verdeutlicht, der seinem Sekretär mit Entlassung drohte, als dieser zu spät zum Dienst erschien. Zahlreiche Beispiele weiterer berühmter Personen, deren Erfolgsrezept darin bestand, selbst kleinste Zeitspannen produktiv zu nutzen, versinnbildlichten den ökonomischen Wert der Zeit. »Self-Help« war an Ideen von John Stuart Mill angelehnt, wonach das Schicksal der Nation vom Verhalten eines jeden Einzelnen abhing, da sich individuelle Anstrengungen zu Fortschritt und Zivilisation addierten, während individueller Müßiggang zum allgemeinen Verfall führte. Das Buch wurde jedoch vor allem als Wegweiser für persönlichen Erfolg und Verbesserung der eigenen Lebensumstände gelesen.32 In den 1890er Jahren begann die militärische und bürokratische Elite Japans, einen Zusammenhang zwischen dem individuellen Zeitverhalten und der nationalen militärischen und wirtschaftlichen Entwicklung herzustellen. Zeit­ disziplin wurde von nun an als Schlüsselfaktor im Wettstreit der imperialistischen Mächte betrachtet, zu denen Japan seit seinem Sieg über China 1895 gehörte, durch den es erste Kolonialgebiete in Asien erwarb. 1897 erläuterte Oberst Tōjō Hidenori (1855–1913), Mitglied im Generalstab der Kaiserlichen Japanischen Armee und Dozent an der Japanischen Militärakademie, in einer Rede vor dem japanischen Lehrerverband den Einfluss von individueller Zeitdisziplin auf Japans militärische Stärke. Tōjō hatte von 1888 bis 1891 einen Studienaufenthalt in Deutschland absolviert und dort die Abhängigkeit der Wehrfähigkeit von gesellschaftlichen Voraussetzungen, insbesondere von einem disziplinierten Alltagsverhalten, erkannt.33 In seiner Rede führte er Japans Sieg über China auf die überlegene Zeitdisziplin der japanischen Soldaten zurück, warnte jedoch, dass das japanische Militär noch weit von der Diszipliniertheit westlicher Armeen entfernt und Japan daher noch nicht bereit für einen Krieg gegen eine euro­amerikanische Großmacht war. Die Ursache dafür sah er darin, dass die japanische Bevölkerung immer noch zu nachlässig mit der Zeit um31 Ogle, Whose Time Is It?, S. 1396 f. Zur Rezeptionsgeschichte siehe Earl Kinmonth, The SelfMade Man in Meiji Japanese Thought. From Samurai to Salary Man, Berkeley 1981. 32 Samuel Smiles, Self-Help. With Illustrations of Conduct and Perseverance, London 1911, S. 322–325; Nishimoto, Jikan ishiki no kindai, S. 167–169. 33 Rudolf Hartmann, Japanische Offiziere im Deutschen Kaiserreich 1870–1914, in: Japonica Humboldtiana 11. 2007, S. 93–158, hier S. 140 f. Tōjō Hidenori war der Vater von Tōjō Hideki (1884–1948), der 1937 Generalstabschef der Kwantung-Armee wurde, die de facto den japanischen Marionettenstaat Mandschukuo beherrschte, und der während des Pazifischen Kriegs von 1941 bis 1944 japanischer Premierminister war. Yoshida Yutaka, Nihon no­ guntai. Heishitachi no kindaishi (Das japanische Militär. Die moderne Geschichte der Soldaten), Tokyo 2003, S. 9 f.

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ging, da die jungen Rekruten in dieser Hinsicht von ihren Familien nicht ausreichend vorbereitet wurden. Um Abhilfe zu schaffen, forderte er von den Lehrern, Pünktlichkeit in den Schulen durchzusetzen.34 Nach Japans Sieg über Russland 1905 wurde individuelle Zeitdisziplin auch mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Japans diskursiv verknüpft und in der »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen«, mit der die Bemühungen zur permanenten Mobilisierung der Bevölkerung begannen, erstmals in systematischer Weise landesweit propagiert. Während sich Japan wegen seines beispiellosen Kriegserfolgs einer nicht-westlichen Nation über eine imperialistische Großmacht aus euroamerikanischer Perspektive zu einer ernstzu­ nehmenden Konkurrenz entwickelte und einerseits als »Gelbe Gefahr«, andererseits als Vorbild für nationale Effizienz wahrgenommen wurde, war man sich in Japan selbst der eigenen fortgesetzten militärischen und wirtschaftlichen Unterlegenheit nur allzu bewusst.35 In weltpolitischer Hinsicht besaß Japan nun den Status einer regionalen Großmacht, in wirtschaftlicher Hinsicht blieb es jedoch ein Agrarstaat, dessen Staatskasse durch hohe Auslandsschulden infolge der Kriegskosten sowie die Verwaltung seiner Kolonien und Pachtgebiete, den Import von Rüstungsgütern und den Ausbau der industriellen Infrastruktur, der nötig war, um die noch junge Schwerindustrie zu fördern, langfristig stark belastet sein würde. Die politischen, militärischen und bürokratischen Eliten fürchteten, dass Japan ohne das Fundament eines substantiellen Wirtschaftswachstums die anstehenden Aufgaben nicht bewältigen und im internationalen Konkurrenzkampf wieder zurückfallen könnte. Mit der »Kampagne zur Re34 Zitiert in Theodore F. Cook, Making Japanese Solders, in: Barbara Molony u. Kathleen Uno (Hg.), Gendering Modern Japanese History, Cambridge, MA 2005, S.  259–294, hier S. 279. 35 Vgl. insb. die 1906 in London erschienene Abhandlung Great Japan. A Study of National Efficiency von Alfred Stead (1877–1933), in der dieser Japan als »effizienteste Nation auf der Welt« (S. XVI) darstellte. Andere Autoren priesen Japans vermeintlich über­ragende Organisationsfähigkeit und die praktische Anwendung wissenschaftlicher Methoden in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Die kritischen Stimmen derjenigen, die die tatsächlich vergleichsweise geringe Produktivität und hohe Importabhängigkeit der Industrie sowie die stockende Entwicklung der Wissenschaften in Japan aus eigener Anschauung kannten, gingen im Konzert eines kurzlebigen Japan-Kults unter, der Japans Vergangenheit glorifizierte, um seine gegenwärtigen Erfolge zu erklären. Ein Teil dessen war das im Jahr 1900 erschienene Buch Bushido. The Soul of Japan von Nitobe Inazō (1862–1933), das den Ehren­ kodex der Samurai (bushidō) als eine wichtige geistige Grundlage der gesellschaftlichen Organisation Japans darstellte. Die Japan-Verehrung jener Zeit drückte sich auch in dem Roman A Modern Utopia (1905) von H. G. Wells aus, der die utopische Gesellschaft, die er darin beschrieb, von einer Herrschaftselite regieren ließ, die er Samurai nannte. Ihre Angehörigen zeichneten sich durch strenge Disziplin, Askese und Orientierung an einer puritanischen Ethik aus. Siehe Geoffrey Russell Searle, The Quest for National Efficiency. A Study in British Politics and Political Thought, 1899–1914, Berkeley 1971, S. 57 f. Ironischerweise waren es gerade diese Wesenszüge, die die japanischen Eliten an ihren Lands­ leuten schmerzlich vermissten.

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form der ländlichen Regionen« rief das Innenministerium daher die bäuerliche Bevölkerung zu Fleiß und Sparsamkeit sowie zur korrekten Entrichtung der Steuern auf.36 Unter dem Imperativ der Produktivitätssteigerung wurden in der Kampagne auch Pünktlichkeit und Zeitökonomie propagiert. Der einflussreiche Agrarwissenschaftler Yamazaki Enkichi (1873–1954) kritisierte in einem Vortrag über die Verantwortung der Gemeinderäte für die Förderung der Landwirtschaft, den er vor der Generalversammlung der Gemeinderäte des Landkreises Hidaka in der Präfektur Wakayama 1917 hielt und den das Innenministerium für so bedeutend erachtete, dass es ihn ein Jahr später in gedruckter Form landesweit verbreiten ließ, die japanische Unpünktlichkeit als ein »allgemeines Übel« (tsūhei), das den wirtschaftlichen Fortschritt hemme. Im ländlichen Raum richte sich allein der Schulbetrieb nach der Uhrzeit – unter der vielerorts freilich noch die alte Lokalzeit verstanden wurde – während die Gemeinderäte und Rathausbeamten für gewöhnlich zu spät zur Arbeit und zu Terminen erschienen und daher ihrer Vorbildfunktion für die Verbesserung der Volkssitten (minpū no kaizen) nicht gerecht würden.37 Äußerungen wie diese unterstreichen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur die allgemeine Bevölkerung, sondern auch die dörflich-kleinstädtische Verwaltungselite in der Alltagspraxis noch wenig diszipliniert mit der Zeit umging und Pünktlichkeitsappelle neben der militärischen und wirtschaftlichen Stärkung Japans auch auf das Funktionieren des sich ausdehnenden Verwaltungsapparates gerichtet waren. Tatsächlich wurde die Behinderung von Verwaltungsvorgängen aufgrund mangelnder Zeitdisziplin in der Kampagne immer wieder als Problem angesprochen, was dazu führte, dass Pünktlichkeit in zahlreiche Dorfregularien (sonze) aufgenommen wurde, die im Rahmen der Kampagne erstellt wurden, um das Alltagsverhalten der ländlichen Bevölkerung zu steuern.38 Auch Yamazaki berief sich auf euroamerikanische Verhaltensvorbilder, indem er sich in seinem Vortrag auf die Washington-Anekdote aus »Self-Help« bezog, wonach dieser, um der »nationalen Disziplin« (kuni no kiritsu) Genüge zu tun, während des Unabhängigkeitskrieges einen einflussreichen Freund und Unterstützer seines Amtes enthoben habe, als dieser 15 Minuten zu spät zu einer Verabredung erschienen sei.39 Yamazaki verwandelte den im Original erwähnten Sekretär von George Washington somit in einen einfluss­reichen Freund, um hervorzuheben, dass ein disziplinierter Umgang mit der Zeit höher zu bewerten war als persönliche Loyalität, da von individueller Disziplin letztlich das Staatswohl abhing, das über dem Wohl des Einzelnen stand. 36 Pyle, Technology of Japanese Nationalism, S. 52, S. 57 u. S. 61; Garon, Molding Japanese Minds, S. 8 f. 37 Eine alternative Lesung seines Vornamens lautet Nobuyoshi; Yamazaki Enkichi, Yūryō chōson no kensetsu (Der Aufbau hervorragender Gemeinden), Tokyo 1918, S. 97–100. 38 Yoshida, Nihon no guntai, S. 46 f. 39 Yamazaki, Yūryō chōson no kensetsu, S. 97 f.

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In der Kampagne griff man jedoch auch nach wie vor auf einheimische Tugendtraditionen zurück, wozu vor allem frühes Aufstehen gehörte. In zahlreichen Veröffentlichungen wurden Empfehlungen zur zeitlichen Regulierung des Tagesablaufs ausgesprochen, die insbesondere die Schlafenszeiten betrafen.40 Der Begründer der Jungmännervereine, die zu den wichtigsten Intermediären der Kampagne gehörten, der Lehrer Yamamoto Takinosuke (1873–1931), hatte frühes Aufstehen bereits 1909 in seinem Buch Chihō seinen dantai (»Die Organisationen der jungen Männer auf dem Land«), das den Jungmännervereinen als programmatische Grundlage dienen sollte, als Verhaltensvorschrift aufgenommen. 1918 verfasste er ein spezielles Brevier mit dem Titel Hayaoki (»Frühes Aufstehen«), in dem er erklärte, dass vom frühen Aufstehen und dem damit verbundenen frühen Arbeitsbeginn nicht nur das individuelle Schicksal und das der eigenen Familie abhinge, sondern dass dadurch auch ein wichtiger Beitrag für Gesellschaft und Nation geleistet würde.41 Es sollte sowohl zur wirtschaftlichen Selbsthilfe verarmter Familien auf dem Land beitragen als auch Japan im internationalen Konkurrenzkampf stärken. Zur Legitimierung dieser Verhaltensvorschrift berief sich Yamamoto auf Vorbilder aus allen drei Kultursphären, die Japans Entwicklung geprägt hatten: die feudalzeitliche Tradition der Samurai, das alte China und die euroamerikanische Moderne. Seine Beispiele, die er aus japanischen Moralschriften des 17. und 18. Jahrhunderts, aus den Überlieferungen von Konfuzius und Menzius und aus »Self-Help« bezog, wurden gleichgewichtig behandelt, sodass der Eindruck entstand, dass frühes Aufstehen eine universal geschätzte Verhaltensnorm sei.42 Von den euroamerikanischen Industrienationen wurden auch Ansätze wissenschaftlicher Konzepte individuellen Zeitmanagements übernommen, die dort angesichts der entstehenden Trennung von Arbeitszeit und Freizeit entwickelt wurden. Der Koordinator der Kampagne, der Staatssekretär im Innenministerium Inoue Tomoichi, wies 1909 in einem Vortrag darauf hin, dass produktive Zeitnutzung nicht nur bedeute, dass die Arbeitszeit intensiver genutzt, sondern auch, dass die freie Zeit sinnvoller verwendet werden müsse. Reine Feiertage ­(matsuri) seien nutzlos verbrachte Tage. Vielmehr solle rekueeshon (vom englischen recreation) im Sinne einer aktiven Freizeitgestaltung betrieben werden, um sich für die Arbeit zu regenerieren, oder um sich für die lokale Selbstverwaltung und für die Verbesserung der öffentlichen Moral zu engagieren.43 Somit sollte individuelles Zeitmanagement nicht nur dazu dienen, die 40 Brigitte Steger, »Early to Rise«. Making the Japanese Healthy, Wealthy, Wise, Virtuous, and Beautiful, in: Lodewijk Brunt u. Brigitte Steger (Hg.), Worlds of Sleep, Berlin 2008, S. 211–236. Ōba Nobutaka, Kindai Nihon no jikan chitsujo to shakai kyōiku (Zeitordnung und Volksbildung im modernen Japan), in: Uesugi Takamichi u. Ōba Nobutaka (Hg.),­ Shakai kyōiku no kindai (Volksbildung in der Moderne), Kyoto 1996, S. 80–113, hier S. 84. 41 Yamamoto, Hayaoki, S. 45 u. S. 331. 42 Ebd., S. 52–55 u. S. 62–68. 43 Ōba, Kindai Nihon no jikan chitsujo to shakai kyōiku, S. 85; Hirade, »Toki no kinenbi« no setsuritsu, S. 79.

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wirtschaftlichen Ziele der Kampagne zu erreichen, sondern auch ihr politischideologisches, das darin bestand, eine breitere Identifikation mit dem Nationalstaat zu erzeugen. Die gesellschaftliche Wirkung der »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen« wurde bislang zurückhaltend beurteilt. Sie habe allenfalls dazu geführt, die lokale Verwaltungselite für die Unterstützung der Regierungsziele zu gewinnen, die Masse der ländlichen Bevölkerung jedoch eher unberührt gelassen.44 Die Quellen, die im Umfeld der Kampagne entstanden, etwa die bereits erwähnte Zeitschrift Shimin sowie Senyū (Der Kriegskamerad), letztere das zentrale Mitteilungsorgan des Reichsreservistenverbands, lassen jedoch erkennen, dass die Kampagne zumindest in Teilen bis auf die Mikroebene der Dorfbewohner durchgedrungen sein muss. Kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs begründeten die Reservisten- und Jungmännervereine unter dem Dach der Kampagne eine Bewegung für frühes Aufstehen. In den Dörfern, in denen die Bewegung Fuß fasste, fand sich die männliche Jugend an bestimmten Tagen im Monat gegen vier oder fünf Uhr morgens zu Frühaufsteherversammlungen (hayaokikai) ein, die etwa eine Stunde dauerten und eine Mischung aus körperlicher Ertüchtigung, geistiger Erbauung und staatsbürgerlicher Belehrung darstellten. Ihre genaue Häufigkeit und Verbreitung sind unbekannt, jedoch werden Frühaufsteherversammlungen auch in Quellen zur »Kampagne der Verbesserung der Lebensführung« in den 1920er und 1930er Jahren noch erwähnt, die ihre landesweite Verteilung belegen. Angepasst an die Vorstellungen und Bedürfnisse der jeweiligen Dorfgemeinschaft bestand das Programm dieser Versammlungen beispielsweise aus Sport, Wehrübungen, Vorträgen über Landwirtschaft, Nebenerwerbstätigkeiten, Gebeten am Shintō-Schrein, Verehrung des Kaisers durch eine Verbeugung in Richtung seines Palastes in Tokyo, Lesungen aus konfuzianischen Moralschriften oder Aufklärung über die Ziele der Kampagne.45 Auf diese Weise wurde der männlichen Landjugend der Zusammenhang zwischen individuellem Zeitverhalten und nationalem Wohl wiederholt verdeutlicht. Wenn auch nicht anzunehmen ist, dass dies zu nachhaltigen Effekten in der Alltagspraxis geführt hat, da andernfalls die in den 1920er Jahren folgende Zeitkampagne kaum nötig gewesen wäre, hat die Bewegung für frühes Aufstehen doch dazu beigetragen, auch in den ländlichen Regionen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein kollektives Bewusstsein für die Notwendigkeit moderner Zeitdisziplin zu schaffen.

44 Pyle, Technology of Japanese Nationalism. 45 Beispiele u. a. in Yamamoto, Hayaoki; Tanaka Giichi, Futatabi hayaoki o shōrei su (Zum wiederholten Male frühes Aufstehen empfehlen), in: Sen’yū 85. 1917, S. 2–6; Asaokikai no jikkō (Die Ausführung von Morgentreffen), in: ebd. 82. 1917, S. 78–80.

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III. Der Erste Weltkrieg und der Beginn der »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« Der Erste Weltkrieg bestärkte die japanische Ministerialbürokratie in ihrer Auffassung, dass die Zukunft Japans vom Alltagsverhalten aller Staatsbürger abhing, und er ließ die gesellschaftliche Mobilisierung der Ressource Zeit noch dringlicher erscheinen. Als Konsequenz daraus stieß das Erziehungsministerium 1920 die »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« an, in der die Verbreitung der modernen Zeitdisziplin eine wichtige Rolle spielte. Obwohl Japan gestärkt aus dem Ersten Weltkrieg hervorging, da es auf Seiten der Sieger in die Gruppe der fünf Weltgroßmächte aufstieg und einen Wirtschaftsboom erlebte, der die Entwicklung vom Agrarstaat zur Industrienation um 1920 abschloss, hielt dieser »totale« Krieg der japanischen Bürokratie- und Militärelite die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit der euro­ameri­ ka­nischen Staaten abermals eindrücklich vor Augen, etwa durch den Einsatz mächtiger neuer Waffen oder die Fähigkeit zur Mobilisierung ganzer Gesellschaften. Die meisten Kommentatoren aller Professionen und politischen Schattierungen teilten die aus der imperialistischen Dynamik herrührende Vorstellung, dass Japan früher oder später unausweichlich in einen Krieg gegen euroamerikanische Großmächte verwickelt werden würde. Die Beobachtung sowohl des Kriegsgeschehens auf dem Schlachtfeld als auch der Organisation der Heimatfront in den kriegführenden euro­päischen Staaten und in den USA floss in Überlegungen der eigenen Kriegsvorbereitung ein.46 Dabei war die Kriegserwartung nicht auf militärische Auseinandersetzungen beschränkt, sondern bezog sich ebenso auf eine Zuspitzung des permanenten »Wirtschaftskriegs« (keizaisen), der zwischen den Industrie­nationen herrschte.47 Man befürchtete, dass der Entwicklungsvorsprung, den die Volkswirtschaften der Konkurrenten ohnehin besaßen, infolge der zahlreichen Rationalisierungsmaßnahmen, die unter Kriegsbedingungen eingeführt wurden, ungeachtet der immensen materiellen und menschlichen Verluste nach dem Krieg noch weiter anwachsen würde. Um 1920 entbrannte daher eine breite politische, gesell46 Siehe Jan Schmidt, Der Erste Weltkrieg als vermittelte Kriegserfahrung in Japan. Mediale Aneignungen und Studien durch Militär und Ministerialbürokratie, in: GG 40. 2014, S. 239–265 sowie speziell zu japanischen Zukunftsvorstellungen während des Ersten Weltkriegs ders., Daiichiji sekai taisenki Nihon ni okeru »sengoron«. Miraizō no tairyō seisan (Der »Nachkriegsdiskurs« in Japan während des Ersten Weltkriegs. Eine Massenproduktion von Zukunftsvorstellungen), in: Yamamuro Shinichi u. a. (Hg.), Gendai no kiten. Daiichiji sekai taisen (Ursprung der Gegenwart. Der Erste Weltkrieg), Bd. 1: Sekai sensō (Weltkrieg), Tokyo 2014, S. 155–178. 47 Yamamuro Shin’ichi, Der Erste Weltkrieg und das japanische Empire, in: Bochumer Jahrbuch zur Ostasienforschung 34. 2010, S.  21–51, hier S.  21–24, und ausführlicher ders.,­ Fukugō sensō to sōryokusen no dansō. Nihon ni totte no dai-ichiji sekai taisen (Im Spannungsverhältnis zwischen sich überlagernden Kriegen und totalem Krieg. Der Erste Weltkrieg für Japan), Kyoto 2011, S. 15–28.

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schaftliche und wissenschaftliche Diskussion darüber, wie die Produktivität Japans zu steigern wäre. Sie kreiste um die Schlüsselbegriffe Effizienz (nōritsu) und Rationalisierung (gōrika), die nicht nur auf die Industrie, sondern auf alle Bereiche des privaten und gesellschaftlichen Lebens bezogen wurden.48 In der »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung«, die die Bevölkerung über Methoden zur Rationalisierung des Alltagslebens aufklären sollte, verbanden sich theoretische und praktische Aspekte dieser Diskussion. Ihre Initiatoren waren die Beamten Tanahashi Gentarō (1869–1961), der Direktor des Pädagogischen Museums (Kyōiku Hakubutsukan) in Tokyo, und­ Norisugi Kaju (1878–1947), der erste Leiter der im Juni 1919 neu eingerichteten Abteilung für Volksbildung im Erziehungsministerium.49 Zusammen gründeten sie am 25.  Januar 1920 die Liga zur Verbesserung der Lebensführung (Seikatsu Kaizen Dōmeikai).50 In dieser halbstaatlichen Volksbildungsorganisation schlossen sich die Protagonistinnen und Protagonisten der gleichnamigen Kampagne zusammen, hauptsächlich Wissenschaftler, public intellectuals, Künstler und Rektoren von Privatschulen, darunter viele Frauen, die ehrenamtlich auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse praktische Anleitungen zur Reform der vier Kernbereiche Ernährung, Wohnung, Kleidung und gesellschaftliche Umgangsformen entwarfen. Unter Federführung ihres Vordenkers Tanahashi gab die Liga als zentrales Lenkungsgremium die pro48 Der Begriff Effizienz (nōritsu) wurde in Japan im Zusammenhang mit der von Frederick W. Taylor (1856–1915) in den 1890er Jahren entwickelten wissenschaftlichen Betriebsführung (scientific management, jap. kagakuteki kanrihō) eingeführt. Schon in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg waren einige der damit verbundenen Methoden einer Fachöffentlichkeit vorgestellt und vereinzelt in der Praxis erprobt worden. 1912/13 wurde das Taylor’sche Standardwerk Principles of Scientific Management (1911) ins Japanische übersetzt. Anfang der 1920er Jahre entspann sich eine breite Diskussion über die Methoden wissenschaftlicher Betriebsführung, eine Reihe von »Effizienzforschungsanstalten« und Fachzeitschriften wurde gegründet. Methoden der Effizienzsteigerung (nōritsu zōshin) wurden von immer mehr Unternehmen und Behörden in Produktion und Verwaltung eingesetzt. Vgl. Nishimoto, Jikan ishiki no kindai, S. 215–218 u. S. 236; William M. Tsutsui, Manufacturing Ideology. Scientific Management in Twentieth-Century Japan, Princeton 1998, S. 14–57. 49 Hirade, Kokka no seikatsu kaizen no torikumi, S. 69. Das Museum ist der Vorläufer des heutigen Nationalen Wissenschaftsmuseums Kokuritsu Kagaku Hakubutsukan (engl.: National Museum of Nature and Science). Zur Gründungsgeschichte des Museums vgl. Morris Low, Promoting Scientific and Technological Change in Tokyo, 1870–1930. Museums, Industrial Exhibitions, and the City, in: Miriam R. Levin u. a. (Hg.), Urban Modernity. Cultural Innovation in the Second Industrial Revolution, Cambridge, MA 2010, S. 205–253, hier: S. 218–221. 50 Aochi Chūzō, »Toki« no kinenbi (Der Tag der Zeit), in: Naigai Kyōiku Shiryō Chōsakai (Hg.), Shijō toki tenrankai (Die Zeitschrift zur Zeitausstellung). Saishin hendō kyōzai shūroku rinjigō daikan dai10gō (Sammlung allerneuester Lehrmaterialien, Sonderausgabe, Bd. 9 Nr. 10), Tokyo 1920, S. 110–130, hier S. 114; Hirade, »Toki no kinenbi« no setsuritsu, S. 73. Die Organisation wurde 1933 in Zentralvereinigung zur Verbesserung der Lebens­ führung (Seikatsu Kaizen Chūōkai) umbenannt und 1943 aufgelöst.

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grammatische Richtung der Kampagne vor und koordinierte ihre Aktivitäten. Dabei handelte es sich vor allem um Vorträge, Publikationen, Ausstellungen, Verbraucherberatung per Post und den Vertrieb geeigneter Produkte, hauptsächlich elektrischer Haushaltsgeräte.51 Das Thema des Zeitsparens durchzog die gesamte Rationalisierungskampagne, da Verbesserungsvorschläge in allen Bereichen auf eine effizientere Zeitnutzung hinausliefen. So sollte beispielsweise die Einführung westlicher Sitzmöbel die unproduktiven »Nickerchen« verhindern, zu denen das traditionelle Sitzen auf dem Fußboden angeblich verleitete, und der Konsum von Brot sollte dazu verhelfen, die Zeit einzusparen, die das tägliche Reiskochen erforderte. Die Umsetzung solcher Vorschläge setzte jedoch eine Reform des Zeitverständnisses voraus, da ein ökonomisch-rationales Zeitbewusstsein ungeachtet der vorausgegangenen »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen« in der Bevölkerung immer noch kaum verbreitet war. Für Tanahashi war »kaum etwas so dringend wie die Einführung der guten Sitte, die Zeit wertzuschätzen;« in der Satzung der Liga wurde die Einführung der Pünktlichkeit (jikan o seikaku ni mamoru koto) als vornehmstes Ziel genannt.52 Die Priorität, mit der die Verbreitung der modernen Zeitdisziplin behandelt wurde, drückte sich jedoch insbesondere darin aus, dass ein halbes Jahr nach Beginn der Kampagne eine spezielle Aufklärungskampagne für Pünktlichkeit und effiziente Zeitnutzung aus ihr hervorging, die in kurzer Zeit ganz Japan einschließlich der Kolonialgebiete erfasste. Die Zeitkampagne begann mit der Zeitausstellung von 1920, der ersten Ausstellung, die diesem Thema in Japan gewidmet war. Mit der Zielsetzung, »die schönen Sitten der Wertschätzung der Zeit (jikan sonchō) und der Pünktlichkeit (teiji reikō) in der Bevölkerung auszubilden und sie zu einer angespannteren, disziplinierten Lebensführung anzuhalten«, wurde sie von Tanahashi und den Mitgliedern der Liga zur Verbesserung der Lebensführung organisiert und vom 16. Mai bis zum 4. Juli im Pädagogischen Museum in Tokyo gezeigt. Währenddessen wurde am 10. Juni 1920 der Tag der Zeit eingeführt, um ihre Botschaft aus dem Museum hinaus in die Öffentlichkeit zu tragen und dauerhaft im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern. In den folgenden Jahrzehnten bildete dieser Aktionstag, der schon im ersten Jahr außer in der Hauptstadt Tokyo auch in den Großstädten Osaka, Nagoya und Fukuoka begangen wurde, den Mittelpunkt der Zeitkampagne.53 51 Hirade, »Toki no kinenbi« no setsuritsu, S.  73. Aochi, »Toki« no kinenbi, S.  114; Hirade, Kokka no seikatsu kaizen no torikumi, S. 65 u. S. 73. 52 Tanahashi Gentarō, Jikan sonchō no bifū o yōsei subeshi (Die gute Sitte, die Zeit wertzuschätzen, ist einzuführen), in: Kyōiku jiron 1262. 1920, S. 5–8, hier S. 5; zitiert bei Hirade, »Toki no kinenbi« no setsuritsu, S. 74. 53 Tanahashi Gentarō, Jo (Vorwort), in: Naigai Kyōiku Shiryō Chōsakai (Hg.), Shijō toki tenrankai. Osaka Asahi Shinbun, 10.6.1920; Aochi, »Toki« no kinenbi, S. 125; Kawai Shōjirō, Toki no kinenbi (Der Tag der Zeit), in: Tenmon geppō 7. 1920, S. 97–102; hier S. 101. Als Ergebnis strömten am darauffolgenden Sonntag, dem 13.6.1920, knapp 23.000 Besucher in

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Der Ablauf des ersten Tags der Zeit gab ein Muster für die Aktivitäten vor, die die Mitglieder der Liga zur Verbesserung der Lebensführung und die Intermediäre der Kampagne, hauptsächlich Schülerinnen und Schüler, Frauenorga­ nisationen, Jungmänner- und Reservistenvereine, in den folgenden Jahren an diesem Tag entfalteten. In den Städten kontrollierten sie üblicherweise die Ganggenauigkeit öffentlicher Uhren mithilfe von Präzisionschronometern, verteilten Flugblätter an belebten Orten und boten Passantinnen und Passanten an, ihre Taschen- oder Armbanduhren nach der korrekten Uhrzeit zu stellen. Die Liga lud Schulleiter zu Weiterbildungen ein, bei denen auch Lehrmaterialien zum Thema Zeit verteilt wurden und entsandte Dozenten in Schulen, Fabriken sowie zu Unternehmerverbänden. Uhrenhersteller und Uhrengeschäfte, aber auch andere Unternehmen veranstalteten besondere Werbeaktionen. Landesweit ließen Tempel, Schreine, Kirchen und Fabriken um Punkt 12 Uhr mittags ihre Glocken, Trommeln oder Sirenen ertönen, um ein flächendeckendes akustisches Zeitsignal zu erzeugen, nach dem die Bevölkerung ihre häuslichen Uhren stellen konnte. Zum Abschluss des Tags der Zeit fand abends eine zentrale Feierstunde in einer Konzerthalle in Tokyo statt, bei der Grußworte des Innen- und des Erziehungsministers sowie anderer hochrangiger Politiker verlesen wurden, um die nationale Bedeutung der Kampagne zu unterstreichen.54 Drei Vorträge, die im Rahmenprogramm der Ausstellung gehalten wurden, zeugen von der Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg. Die Redner – der Astronom Hirayama Kiyotsugu (1874–1943), der Historiker Mikami Sanji (1865–1939) von der Reichsuniversität Tokyo, der bedeutendsten Universität Japans, und der Schulleiter und Lokalpolitiker Imai Kanehiro (1868–1941), ein Sonderbeauftragter des Innenministeriums  – erwähnten darin die Sommerzeit, die während des Kriegs ab 1916 in vielen europäischen Ländern, darunter das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, Großbritannien, Italien, Frankreich und die USA, als Rationalisierungsmaßnahme eingeführt worden war, um den Brennstoffverbrauch für die abendliche Beleuchtung zu reduzieren. Sie zeigten sich stark beeindruckt von dieser bewussten Manipulation der Zeit­ordnung, die sie als Ausdruck des ausgeprägten Verständnisses der Menschen in den westlichen Industrienationen für den ökonomischen Wert der Zeit interpretierten.55 die Zeitausstellung, was einem Zehntel ihrer Gesamtbesucherzahl entsprach. Dies war die größte Menge an Besuchern, die das Museum bis dahin an einem einzelnen Tag verzeichnen konnte und ist daher ein beredtes Zeugnis für die Breitenwirksamkeit dieses Aktionstags. Toki tenrankai raikanshasū (Die Besucherzahl der Zeitausstellung), in: Tenmon geppō 7. 1920, S. 105. 54 Tokyo Asahi Shinbun, 11.6.1920, Morgenausgabe; Osaka Asahi Shinbun, 11.6.1920; Aochi, »Toki« no kinenbi, S. 115, S. 117 u. S. 123 f.; Kawai, Toki no kinenbi, S. 98 f.; Toki kinenbi gaikyō (Allgemeines zum Tag der Zeit), in: Seikatsu 7. 1929, S. 27–43, hier S. 28. 55 Tōkyō Teikoku Daigaku, heute: Tōkyō Daigaku (Universität Tokyo); Bartky, One Time Fits All, S.  162–200; Mikami Sanji, »Toki« ni tsuite kojin yori ukubeki kyōkun (Was von den Menschen im Altertum über die Zeit zu lernen ist), in: Naigai Kyōiku Shiryō Chōsakai (Hg.), Shijō toki tenrankai, S.1–16, hier S. 1.

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Der Astronom Hirayama rechnete vor, dass Deutschland dadurch jährlich Brennstoffe im Wert von 200 Millionen Mark eingespart habe. Daran anschließend behauptete der Historiker Mikami, dass die USA und einige europäische Länder die Sommerzeit aufgrund ihres großen Erfolgs auch in Friedenszeiten beibehielten, und warnte, dass dies den euroamerikanischen Ländern einen Vorsprung im globalen wirtschaftlichen Wettbewerb beschere, was sich im Kriegsfall als nachteilig für Japan erweisen würde. Dies widersprach der Tatsache, dass viele Staaten die Sommerzeit unmittelbar nach Kriegsende wieder abgeschafft hatten, da ihre Effektivität schon damals umstritten war und sich in den Bevölkerungen Widerstand gegen die Zeitumstellung regte, vor allem auf dem Land.56 Die übertriebene Darstellung des Erfolgs der Sommerzeit steigerte jedoch das Gefühl der Bedrohung durch die euroamerikanischen Konkurrenten, zumal Japan dieses angeblich so wirkungsvolle Instrument verwehrt blieb. Obwohl technisch betrachtet leicht möglich, rieten alle drei Redner davon ab, die Sommerzeit in Japan einzuführen, da die praktische Umsetzung vermutlich am mangelnden Verständnis für die Uhrzeit scheitern würde. Die Zeitausstellung zeigte jedoch, wie sich auf alternativem Wege, nämlich durch mehr Effizienz in der privaten Lebensführung, »zum Fortschritt der Nation beitragen« ließe.57 Individuelles Zeitsparen wurde somit in Japan auch als funktionales Äquivalent zur Sommerzeit mit dem Ziel propagiert, die Nation im­ globalen wirtschaftlichen Wettbewerb zu stärken und dadurch auf künftige Kriege vorzubereiten.

IV. Die »Japanisierung« der euroamerikanischen Disziplinvorbilder In der Zeitkampagne behielt man die Methode der Verwendung von Vorbildern bei, die auch in der vorangegangenen »Kampagne zur Reform der ländlichen Gegenden« vielfach eingesetzt worden war. Nur noch selten berief man sich jedoch, wie bisher üblich, auf die euroamerikanische Moderne, das antike China oder die japanische Feudalzeit. Obwohl Euroamerika nach wie vor als Modernisierungsvorbild anerkannt wurde, dem es nachzueifern galt, und der Erste Weltkrieg das Bestreben, von diesen »Gegnern zu lernen«, noch angeheizt hatte, 56 Hirayama Kiyotsugu, Nikkō riyōan ni tsuite (Über den Vorschlag zur Einführung der Sommerzeit), in: Naigai Kyōiku Shiryō Chōsakai (Hg.), Shijō toki tenrankai, S. 17–28, hier S. 22; Mikami, »Toki« ni tsuite kojin yori ukubeki kyōkun, S.  14 f.; Bartky, One Time Fits All, S. 162–200. 57 Hirayama, Nikkō riyōan ni tsuite, S.  24; Imai Kanehiro, »Toki« ni kansuru kokuminteki kunren to sono shisetsu (Die Zeitschulung der Nation und die zeitliche Infrastruktur), in: Naigai Kyōiku Shiryō Chōsakai (Hg.), Shijō toki tenrankai, S. 29–47, hier S. 35; Mikami, »Toki« ni tsuite kojin yori ukubeki kyōkun, S. 1. Tanahashi, Jikan sonchō no bifū o yōsei subeshi, S. 5.

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wurden konkrete euroamerikanische Beispiele in der gesellschaftlichen Zeiterziehung immer seltener verwendet.58 Stattdessen ging man bereits zu Beginn der Zeitkampagne, in der Gestaltung der Zeitausstellung, dazu über, die euroamerikanischen Zeitnormen zu »japanisieren« und damit in einheimische Vorbilder zu kleiden. Tanahashi, der Kurator der Ausstellung, leitete seine Vorschläge für gute Zeitnutzung aus Beobachtungen ab, die er während eines Studienaufenthalts von 1909 bis 1911 in Europa und den USA gemacht hatte.59 In einem Artikel für die erziehungswissenschaftliche Zeitschrift Kyōiku jiron, in dem er das Konzept der Zeitausstellung erläuterte, fasste er diese 1920 zusammen. Dabei benutzte er Übertreibungen und Verallgemeinerungen als gängige Stilmittel, um einem fortschrittlichen, euroamerikanischen Alltagsverhalten ein ebenso konstruiertes rückständiges, japanisches Alltagsverhalten holzschnittartig gegenüberzustellen. Laut Tanahashi achteten Europäer und US-Amerikaner den Wert der Zeit. Im Gegensatz zu den Japanern verschwendeten sie weder die eigene noch die Zeit anderer Leute. Die Menschen in Europa und den USA teilten sich nicht nur die Arbeitszeit, sondern auch die Zeit für Erholung, Bildung und Vergnügen sorgsam ein, um jeden noch so kleinen Moment produktiv zu nutzen. Die Frauen häkelten oder strickten, während sie in der Kirche die Predigt hörten und nähten, während sie Gäste empfingen. Im Zug zur Arbeit läsen die Leute Zeitungen, Magazine oder Bücher und nach der Arbeit trieben sie Sport oder beschäftigten sich mit ihren Gemüsegärten. Man sähe fast niemanden, der, wie in Japan üblich, mit seiner Zeit nichts anzufangen wisse. In Krankenhäusern gebe es keine Wartezeit. Sitzungen in Politik und Verwaltung würden pünktlich eröffnet, während in Japan Besprechungen und private Feiern nicht selten mit einer Verspätung von zwei bis drei Stunden begönnen, wobei als Ausrede für diese Verzögerungen angegeben werde, dass man sich noch immer nach den alten Lokalzeiten richte, von denen jedoch effektiv keine eine solch große Differenz zur nationalen Standardzeit aufwies. Obwohl Tanahashi Europa und die USA somit klar als Vorbilder betrachtete, war dies in der Ausstellung kaum erkennbar, da die Darstellung der Zeitnormen Pünktlichkeit und Effizienz in Texten und Bildmedien überwiegend in rein japanische Kontexte eingebettet wurde.60 Die Ausstellung bestand zum einen aus einer naturwissenschaftlich-technischen Abteilung, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Zeit sowie Techniken der Zeitmessung und Zeitübermittlung anhand entsprechender Vorrichtungen und Geräte aus verschiedenen Epochen und Kulturen vermittelte, und zum anderen aus einer Abteilung, die den Sinn von Pünktlichkeit und effizienter Zeitnutzung anhand gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und biologischer Dimensionen der Zeit behandelte. Diese war in drei Themenbereiche 58 So der Titel von Aust u. Schönpflug, Vom Gegner lernen. 59 Hirade, Kokka no seikatsu kaizen no torikumi, S. 69. 60 Tanahashi, Jikan sonchō no bifū o yōsei subeshi, S. 7 f.

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gegliedert, deren erster, Beschäftigung, Erholung, gesellschaftlicher Umgang und Zeit, das Ziel der Bewusstseins- und Verhaltensänderung am klarsten verfolgte.61 Auf den ersten Blick waren auf den meisten der insgesamt 37 Schaubilder in diesem Themenbereich gewöhnliche japanische Alltagsszenen abgebildet. Ein Vergleich der Bildinhalte mit dem Inhalt des Artikels von Tanahashi in Kyōiku jiron zeigt jedoch, dass sie tatsächlich das Zeitverhalten illustrierten, das dieser in Europa und den USA beobachtet haben wollte. Lediglich drei Schautafeln stellten »gutes« Zeitverhalten in Europa und den USA »schlechtem« Zeitverhalten in Japan im offenen Vergleich gegenüber. Hierzu gehörte beispielsweise ein Poster, das zur Einführung der Zeitinstitution »Termin« in Japan anregte, um Zeitverschwendung durch Warten zu vermeiden. Es bildete die Methoden der Zeitorganisation in einer japanischen und in einer US-amerikanischen Zahnarztpraxis ab (Abb. 1). Im Wartezimmer der japanischen Praxis ist eine größere Anzahl von Patienten versammelt, die von stundenlangem Warten ermüdet sind. In der US-amerikanischen Praxis be­ findet sich hingegen gar kein Wartezimmer, sondern, wie von Tanahashi beobachtet, ein Terminplan. Weitere sechs Schautafeln zeigen rein japanische Szenen, betten jedoch Attribute westlicher Kultur darin ein, um in symbolhafter Weise »gute« Zeitverwendung zu kennzeichnen. So warb ein Poster mit dem Titel: »Werden wir die Sitzung heute wieder verschieben müssen?« (Abb. 2) für Pünktlichkeit in der Verwaltung, wie sie bereits in der »Kampagne zur Reform der ländlichen Re­ gionen« angemahnt worden war. In der abgebildeten Sitzung eines Organs der Lokalverwaltung ist ein Teil der Politiker oder Beamten pünktlich erschienen, während ihre Kollegen bereits fast zwei Stunden auf sich warten lassen. Im Hintergrund frönen sie unbekümmert ihrem Bedürfnis nach Geselligkeit und Unterhaltung beim Brettspiel Go. Auffällig ist, dass die Pünktlichen nach westlicher Art am Tisch auf Stühlen sitzen und einige von ihnen westliche Kleidung tragen. Die Unpünktlichen hingegen sitzen nach japanischer Art auf dem Fußboden, alle sind traditionell gekleidet und sie gehen einem traditionellen Freizeitvergnügen nach. Das Poster kritisiert das notorische Zuspätkommen der lokalen Verwaltungselite als doppelt egoistisch, da dadurch nicht nur die individuelle Zeit der pünktlichen Kollegen verschwendet wurde, sondern auch die Zeit der Nation, da oftmals Sitzungen verschoben werden mussten und das Verwaltungshandeln dadurch behindert wurde. Die größte Gruppe der Schaubilder, die aus 28 Postern bestand, zeigte rein japanische Alltagsszenen ohne symbolhafte Verwendung von Attributen euroamerikanischer Kultur, wobei das dargestellte Verhalten jedoch ausschließlich westlichen Zeitnormen entsprach. Ein Poster über »Gute, sparsame Zeitnutzung von Frauen« zeigte zum Beispiel eine Hausfrau der oberen Mittelschicht, die in ihrer Wohnung eine Besucherin empfängt (Abb. 3). Es fällt auf, dass beide Frauen sich mit Handarbeiten beschäftigen, während sie sich unterhalten, 61 Die zwei anderen Themenbereiche hießen »Arbeit und Zeit« und »Natur und Zeit«.

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Abb. 1: Vergleich der Zeitorganisation in einer japanischen (oben) und einer US-ameri­ kanischen Zahnarzt­praxis (unten). Poster der Zeitausstellung in Tokyo, 1920. Quelle: Naigai Kyōiku Shiryō Chōsakai (Hg.), Shijō toki tenrankai, S. 207.

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Abb. 2: »Werden wir die Sitzung heute wieder verschieben müssen?«, Poster der Zeitausstellung in Tokyo, 1920. Quelle: Naigai Kyōiku Shiryō Chōsakai (Hg.), Shijō toki ten­ ran­kai, S. 204.

obwohl dies gegen die tradierten Höflichkeitsregeln verstieß. Das Poster rief somit dazu auf, auch im privaten Leben überkommene Umgangsformen an den modernen Effizienzimperativ anzupassen, um, wie von Tanahashi in Europa und den USA beobachtet, jeden noch so kleinen Moment produktiv zu nutzen. Es ist außerdem ein Beispiel dafür, dass in dieser Kam­pagne erstmals auch Frauen dazu aufgefordert wurden, durch effiziente Zeitnutzung ihren Beitrag zum Fortschritt der Nation zu leisten. Wie die Besucher der Zeitausstellung ihre Botschaft aufnahmen, ist unklar. Mit ihren 222.845 Besuchern reichte sie zwar nicht an das Millionenpublikum heran, das die großen Industrie- und Landesausstellungen in Japan bereits um

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Abb. 3: »Gute, sparsame Zeitnutzung von Frauen«, Poster der Zeitausstellung in­ Tokyo, 1920 (Ausschnitt zum Thema »Besuch«). Quelle: Naigai Kyōiku Shiryō Chōsakai (Hg.), Shijō toki tenrankai, S. 212.

die Jahrhundertwende für sich reklamieren konnten, für eine monothematische Ausstellung mit aufklärerisch-­erzieherischem Anspruch war sie jedoch ungewöhnlich erfolgreich. Obwohl ursprünglich nur für einen Monat geplant, wurde sie wegen des unerwartet großen Interesses um drei Wochen verlängert, bevor sie auch in Osaka und vermutlich noch in anderen Städten gezeigt wurde. Das Besucherinteresse konzentrierte sich einer Rezension in Kyōiku­ jiron zufolge freilich auf die präsentierten Kuriositäten, was zumindest teilweise auf die amateurhafte Gestaltung der edukativen Schaubilder zurückgeführt wurde, welche zumeist von Schülerinnen in Handarbeit angefertigt worden waren.62

62 Kokuritsu Kagaku Hakubutsukan, Kokuritsu Kagaku Hakubutsukan 100nenshi (100 Jahre Nationales Wissenschaftsmuseum), Tokyo 1977, S.  197. Siehe auch Daniel Hedinger, Im Wettstreit mit dem Westen. Japans Zeitalter der Ausstellungen 1854–1941, Frankfurt 2011; Hirade, »Toki no kinenbi« no setsuritsu, S. 70, und Ōsaka ni okeru toki tenrankai (Die Zeitausstellung in Osaka), in: Tenmon geppō 7. 1920, S. 106. Laut Imai, »Toki« ni kansuru kokuminteki kunren to sono shisetsu, S. 47, waren weitere Präsentationen in Nagoya, Okayama, Kagoshima und Kanazawa geplant. Über ihre Verwirklichung ist jedoch nichts bekannt. Kanbe Takashi, »Toki no tenrankai« o mite (Eine Betrachtung der »Zeitausstellung«), in: Kyōiku jiron 1265. 1920, S. 25–28, hier S. 25 u. S. 28.

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V. Antike Vorbilder für moderne Zeitdisziplin: Kaiser Tenchi und die Zeitpreisträger Während in der Zeiterziehung euroamerikanische Einflüsse in den Hintergrund traten, wurden neue Vorbilder in den Vordergrund gerückt, die zum einen aus der antiken Geschichte des japanischen Kaiserhauses und zum anderen aus der zeitgenössischen japanischen Gesellschaft stammten. Die zentrale Figur der Zeitkampagne war Kaiser Tenchi (626–672, r. 661–671), der als Urahn der Pünktlichkeit in Japan popularisiert wurde. Der antiken Reichsgeschichte Nihongi (720) zufolge nahm Kaiser Tenchi am 10. Juni 671 in seinem Palast eine Wasseruhr in Betrieb und verkündete mithilfe von Trommeln und Glocken erstmals in Japan die Uhrzeit. Dieses Datum wurde von der Liga zur Verbesserung der Lebensführung als Ursprung der einheimischen Zeitmessung und -verkündung gedeutet und auf ihre Anregung hin unter der Be­zeichnung »Tag der Zeit« als nationaler Aktionstag in den japanischen Kalender eingetragen.63 Kaiser Tenchi zählte zu den bekannteren Persönlichkeiten des japanischen Altertums, da er mit den Taika-Reformen der Jahre 645/646, einer wesentlichen Weichenstellung im Prozess der Umgestaltung des japanischen Staatswesens in einen zentralisierten Beamtenstaat nach chinesischem Vorbild, verbunden ist. Als Reformer ließ er sich gut in die 1920er Jahre einpassen, die die Zeitgenossen in verschiedener Hinsicht ebenfalls als eine Zeit der Reformen (kaizō) wahrnahmen.64 Der Regisseur Aochi Chūzō (1885–1970), der einen Lehrfilm für die Zeitausstellung produziert hatte, in der dem Kaiser und der Wasseruhr ein Raum mit entsprechenden Abbildungen und historischen Aufzeichnungen gewidmet war, deutete die Anekdote so, dass der Kaiser ein Bewusstsein für den Wert der Zeit habe schaffen wollen, da er dieses als unverzichtbare Voraussetzung für den Aufbau der neuen Zivilisation betrachtete.65 Auf diese Weise ließ sich die Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpfen, in der die »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« ebenfalls dazu beitrug, in Form der stets 63 Kawai, Toki no kinenbi, S. 97, hier in gregorianischer Zeitrechnung. In der deutschen Übersetzung des Nihongi ist dieses Ereignis auf den 7.6.671 datiert, da für die Umrechnung der julianische Kalender verwendet wurde. Vgl. Karl Florenz, Japanische Annalen A. D. 5­ 92–697. Nihongi. Von Suiko-Tennō bis Jitō-Tennō (Buch VVII – XXX), Tokyo 19032, S. 217. 64 Auf der politischen Bühne brach eine Zeit des Liberalismus und der Demokratisierung (Taishō demokurashii) an, in der Parteienkabinette die Oligarchenherrschaft der Meiji-Zeit ablösten und ein breites Spektrum sozialer Bewegungen entstand, die sich für die Verbesserung der rechtlichen Situation und der Lebens- und Arbeitsverhältnisse einzelner Bevölkerungsgruppen einsetzten. Auch die »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« war Ausdruck des Reformklimas jener Zeit. Vgl. einführend Regine Mathias, Das Entstehen einer modernen städtischen Gesellschaft und Kultur, 1900/1905–1932, in: Josef Kreiner (Hg.), Kleine Geschichte Japans, Stuttgart 2010, S. 332–380. Zum Begriff der Reform (kaizō) in Politik und Geisteswelt der Taishō-Zeit (1912–1926) siehe den Sammelband von Suetake Yoshiya (Hg.), Taishō shakai to kaizō no chōryū (Die Gesellschaft der Taishō-Zeit und die geistige Strömung der »Reform«), Tokyo 2004. 65 Osaka Asahi Shinbun, 11.6.1920; Aochi, »Toki« no kinenbi, S. 111.

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als rational und effizient etikettierten Lebensweise der euroamerikanischen Mittelschicht eine neue Zivilisation in Japan einzuführen. Die Erinnerung an Kaiser Tenchi diente somit dazu, die aus Europa und den USA übernommenen Zeitnormen Pünktlichkeit und effiziente Zeitnutzung durch die eigene Geschichte historisch zu legitimieren und zu nationalisieren, um ihre Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhöhen. Diese Vorgehensweise knüpfte an die Praxis der Traditionserfindung an, die seit dem 19. Jahrhundert dazu eingesetzt wurde, die Restauration der Kaiserherrschaft zu begründen und den Spagat zwischen der Orientierung an westlichen Vorbildern und der Bewahrung der einheimischen Kultur zu bewältigen, der die japanische Modernisierung insgesamt kennzeichnete.66 Die Erinnerung an Kaiser Tenchi und seine Inbetriebnahme der Wasseruhr prägte fortan den Tag der Zeit. Alljährlich wiederholten Presse und Rundfunk die Geschichte, um der Bevölkerung die Herleitung dieses nationalen Aktionstages zu erklären. Auch die Protagonisten der Liga zur Verbesserung der Lebensführung gingen in Vorträgen, auf Flugblättern oder im Schulunterricht darauf ein. Schließlich wurden zur Erinnerung an Kaiser Tenchi an verschiedenen Orten in Japan spezielle öffentliche Shintō-Zeremonien eingeführt, die jeweils am Tag der Zeit stattfanden, und über die Presse und Rundfunk landesweit berichteten. Die ersten beiden wurden bereits ab dem ersten Jahr 1920 in den Schreinen Iwai Jinja in der Stadt Ōtsu und Sumeozu Jinja in der Stadt Moriyama (beide Präf. Shiga) nahe Kyoto abgehalten, in denen Kaiser Tenchi als Shintō-Gottheit (kami) verehrt wurde.67 Eine dritte Zeremonie fand ab 1923 am Grabhügel von Kaiser Tenchi (Yamashina Goryō) im Stadtbezirk Higa­shi­ yama in Kyoto statt. Hier informierte eine Delegation der Liga zur Verbesserung der Lebensführung den Kaiser symbolisch im Rahmen einer Unterrichtungszeremonie (hōkokusai) über die Fortschritte, die bei der Durchsetzung der Pünktlichkeit in Japan erzielt worden waren.68 Eine weitere Zeremonie wurde am Tag der Zeit 1930 in Osaka eingeführt, obwohl dort kein lokaler Bezug zu Tenchi gegeben war. Sie fand daher in einem Festzelt statt, das der Zeitungsverlag des Japanischen Juwelier- und Uhrmacherverbandes mitten im modernen Geschäftsviertel der Millionenstadt, die bis in die 1930er Jahre hinein das wirtschaftliche Zentrum Japans war, errichten ließ.69 In Osaka wurden demnach nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch Religiöses und Profanes sowie nationales und lokales Wirtschaftsinteresse miteinander ­verbunden. 66 Stephen Vlastos (Hg.), Mirror of Modernity. Invented Traditions of Modern Japan, Berkeley 1998. 67 Aochi, »Toki« no kinenbi, S. 128. Siehe auch die entsprechenden Einträge zum Sumeozu Jinja auf den Websites der Schreinbehörde der Präfektur Shiga: http://shiga-jinjacho.jp/ycBBS/ Board.cgi/02_jinja_db/db/ycDB_02jinja-pcdetail.html und der Stadt Moriyama: http://www2. city.moriyama.shiga.jp/koho/070901/index16.html. 68 Toki no kinenbi (Der Tag der Zeit), in: Tenmon geppō 6. 1923, S. 93 f. 69 Osaka Asahi Shinbun, 11.6.1930.

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Obwohl zu vermuten wäre, dass die Zeitkampagne sich infolge der zunehmenden Verbreitung ihrer Botschaft allmählich abgeschwächt hätte, gewann das zeremonielle Gedenken an Kaiser Tenchi vor dem Hintergrund des wachsenden Nationalismus der 1930er Jahre im Gegenteil immer mehr an Bedeutung. Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts galt die Verehrung des amtierenden Kaisers als zentraler Identifikationsfigur des modernen Nationalstaates zu bestimmten Gelegenheiten als staatsbürgerliche Pflicht. Nach der Invasion in der Mandschurei 1931, die eine Phase des Ultranationalismus in Japan einläutete, nahm die Kaiserverehrung jedoch schließlich den Charakter einer Massenbewegung an, die das Alltagsleben der Bevölkerung immer stärker durchdrang. Von dieser Entwicklung wurde auch die Erinnerung an Kaiser Tenchi erfasst: 1931 begannen alle Schulen, Bildungsorganisationen und Unternehmerverbände am Tag der Zeit eigene Gedenkzeremonien für den Kaiser abzuhalten.70 Neben der Person des Kaisers nahm die Kampagne auch Bezug auf die Zeitordnung seines Hofstaats. Während der Kaiser mit der Beachtung der Uhrzeit und dadurch mit der Zeitnorm Pünktlichkeit in Verbindung gebracht wurde, ließ sich aus Regularien für den Kaiserhof des 7.  Jahrhunderts, in denen der Dienstbeginn für die Hofbeamten auf vier beziehungsweise sechs Uhr morgens festgelegt wurde, frühes Aufstehen als japanische Tradition effizienter Zeitnutzung konstruieren und zum indigenen Pendant der euroamerikanischen Sommerzeit stilisieren.71 Der Historiker Mikami bezeichnete in seinem Vortrag zur Zeitausstellung frühes Aufstehen als »eine althergebrachte Sitte unseres Landes«, die im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen sei. Eine Rückbesinnung auf die Zeitnutzung »unserer Vorfahren« könne jedoch die gleichen Ergebnisse erbringen wie die Sommerzeit.72 Der Lokalpolitiker Imai behauptete zudem, dass die Dienstvorschriften am antiken Kaiserhof vom Hofbeamten bis hinab zum einfachen Bauern für jede und jeden gegolten und dazu beigetragen hätten, dass die Bevölkerung sich an eine disziplinierte Lebensweise gewöhnt hätte, was sich als Versuch interpretieren lässt, beim Publikum ungeachtet der sozialen Schichtzugehörigkeit Identifikation mit dem historischen Vorbild zu erzeugen. Schließlich appellierte er an das Nationalgefühl, indem er hinzufügte, dass man nicht umhinkönne, stolz darauf zu sein, dass in Japan bereits vor 1.250 Jahren gängige Praxis gewesen sei, was in Europa erst während des Ersten Weltkriegs in Form der Sommerzeit eingeführt wurde.73 So konnte er die verbreitete Vorstellung der Rückständigkeit Japans in ihr Gegenteil wenden. 70 Ebd., 11.6.1931. 71 Mikami, »Toki« ni tsuite kojin yori ukubeki kyōkun, S. 2 f. Allerdings endete der Dienst für die hohen Beamten bereits vor Mittag, während niedere Beamte und einfache Dienstleute wahrscheinlich von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten mussten. Siehe Tanaka Gen, Das Zeitbewusstsein der Japaner im Altertum. Struktur und Entwicklung, Wiesbaden 1993, S. 6. 72 Mikami, »Toki« ni tsuite kojin yori ukubeki kyōkun, S. 4; ebd., S. 1. 73 Imai, »Toki« ni kansuru kokuminteki kunren to sono shisetsu, S. 32.

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In der Zeitkampagne wurden jedoch nicht nur erfundene Traditionen als neue Vorbilder eingesetzt, sondern auch Personen aus dem Volk, die sich um das Anliegen der Kampagne in besonderer Weise verdient gemacht hatten (toki no kōrōsha). Sie wurden ab 1921 mit Urkunden, Medaillen oder Nickeluhren ausgezeichnet.74 Bei diesen Zeitpreisträgern, deren Zahl jedes Jahr für gewöhnlich mehrere Dutzend erreichte, handelte es sich um Einzelpersonen und lokale Organisationen wie Jungmännervereine, Frauengruppen oder Reservistenvereine aus allen Präfekturen Japans sowie den Kolonialgebieten in Asien, das heißt Sachalin, Korea, der Mandschurei und Taiwan. Die große Mehrheit lebte in ländlichen Regionen, und ihre Adressen belegen, dass die Kampagne schon Mitte der 1920er Jahre im gesamten Empire verbreitet war.75 In ihrer Berichterstattung über den Tag der Zeit hob die nationale Presse alljährlich einige Preisträger aus der Anonymität hervor, um sie einem Millionenpublikum vorzustellen. Typischerweise wurden sie dafür ausgezeichnet, dass sie mit Glocken, Trommeln, Sirenen oder Schlaghölzern täglich akustische Zeitsignale erzeugten, um der lokalen Bevölkerung die Uhrzeit mitzuteilen. Unter ihnen befanden sich beispielsweise die Glöckner der großen Tempel Sensōji und Kan’eiji in Tokyo, die mithilfe der Tempelglocken die Uhrzeit verkündeten, der Oberstleutnant, der seit 1922 die Mittagskanone von Tokyo abfeuerte oder der Leiter der Uhrenreparaturstelle der Eisenbahndirektion Tokyo, der für die Wartung von rund 1.500 Bahnhofsuhren und rund 10.000 Personal­uhren zuständig war.76 Da die Preisträger zumeist aus der gewöhnlichen Bevölkerung kamen, konnten sich die meisten Japanerinnen und Japaner leicht mit ihnen identifizieren, was die Nachahmung ihres vorbildlichen Zeitverhaltens gefördert haben mag.

VI. Fazit Die staatliche Propagierung moderner Zeitdisziplin in Japan ist ein prägnantes Beispiel für die soziale Konstruktion von Zeitordnungen. Anders als in Europa und den USA versuchte die japanische Ministerialbürokratie, den Wandel von Zeitbewusstsein und Zeitverhalten der breiten Bevölkerung durch die gezielte Setzung der Zeitnormen Pünktlichkeit und effizienter Zeitnutzung und deren Verbreitung in Form von Kampagnen zu steuern und voranzutreiben. Das prägende Motiv dahinter war eine Zukunftsangst der Ministerialbürokratie, 74 Ebd., S. 28. 75 Laut den Adresslisten, die jeweils in der Juni-Ausgabe der Zeitschrift Seikatsu veröffentlicht wurden. Erhalten und öffentlich zugänglich sind die entsprechenden Hefte der Jahrgänge 1924, 1929, 1933, 1938, 1939, 1941 und 1942. 76 Asahi Shinbun, Tokyo, 3.6.1926, Morgenausgabe; 11.6.1927, Abendausgabe; 10.6.1928, Abendausgabe.

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die von vielen Intellektuellen geteilt wurde. Das Gefühl der Bedrohung durch den europäischen Kolonialismus war zwar nach Japans Sieg über China 1895, durch den Japan selbst zur Kolonialmacht wurde, abgewendet. An seine Stelle trat jedoch die Befürchtung, Japan könne nicht stark genug sein, um im Wettstreit der imperialistischen Mächte zu bestehen. Zeitdisziplin wurde als einer der Schlüsselfaktoren der militärischen und wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens erkannt, die die eigenen Großmachtambitionen gefährdete. Eine Besonderheit der zeitlichen Disziplinierung der japanischen Bevölkerung ist daher, dass sie vor allem eine Reaktion auf externe Einflüsse darstellte. Die Einbeziehung der »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen« in die Betrachtung der staatlichen Propagierung von Zeitdisziplin zeigt, dass die ländlichen Gegenden schon seit 1906 im Fokus staatlicher Zeiterziehungsbemühungen standen. Es ist zwar nicht anzunehmen, dass sich das Zeitverhalten der Landbevölkerung dadurch wesentlich veränderte, da auch die nach dem Ersten Weltkrieg folgende Zeitkampagne sich noch auf die ländlichen Gegenden konzentrierte, während sie andererseits auch die Städte erfasste. Dennoch zeigt die Bewegung für frühes Aufstehen, die sich unter dem Dach der »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen« entfaltete, dass ein Bewusstsein für Pünktlichkeit und effiziente Zeitnutzung sowie für den Zusammenhang von individuellem Zeitverhalten und nationaler Stärke geschaffen wurde, das bis auf die Mikroebene einzelner Dörfer und ihrer Bewohner hinabreichte. Wie groß der Unterschied im Zeitbewusstsein zwischen Japan und den euroamerikanischen Nationen um 1920 noch war, lässt sich daran ablesen, dass man in Japan eine Manipulation der Zeitordnung, wie sie die Sommerzeit be­ deutete, aufgrund der mangelnden Zeitdisziplin der Bevölkerung für nicht umsetzbar hielt. Stattdessen galt es, in Form der »Kampagne zur Verbesserung der Lebensführung« an die Bemühungen der »Kampagne zur Reform der ländlichen Regionen« anzuknüpfen und weiterhin Grundlagenarbeit zu leisten, indem in den Städten und auf dem Land Verständnis für den ökonomischen Wert der Zeit sowie für die Notwendigkeit geschaffen werden sollte, die Uhrzeit im Sinne der nationalen Standardzeit zu beachten. Die Zeitausstellung von 1920 kann in diesem Sinne als idealtypischer Entwurf für das erhoffte künftige Zeitverhalten aufgefasst werden. Anhand zahlreicher alltagspraktischer Beispiele wurde ein locker zusammenhängendes Erziehungsprogramm formuliert, welches in den folgenden Jahren und Jahrzehnten am Tag der Zeit unablässig wiederholt wurde. Die Zeitkampagne zeigt, dass die Orientierung an der europäischen Zivilisation, die sich aus japanischer Sicht mit der US-amerikanischen in der Kultursphäre Euroamerika (Ō-Bei) vermischte, auch nach dem Ersten Weltkrieg anhielt. Insofern ist sie Ausdruck einer ungebrochenen kulturellen Rezeptionsbereitschaft der japanischen Ministerialbürokratie und der übrigen Protagonisten der Kampagne, einer Gruppe international erfahrener Intellektueller, gegenüber den euroamerikanischen Nationen. Diese wurde durch die Beobachtung der kriegführenden Gesellschaften Europas und der USA eher noch ver-

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stärkt, wobei im Kontext der Zeitkampagne die Sommerzeit eine besondere Rolle spielte, da sie den Produktivitätsvorsprung der euroamerikanischen Industrienationen weiter zu vergrößern schien. Dass Japan aus dem Ersten Weltkrieg selbst als Weltgroßmacht und Industrienation hervorging, beruhigte die japanische Bürokratieelite nicht, sondern schien die wahrgenommene Fallhöhe im Gegenteil vergrößert zu haben. Das Ziel, die wirtschaftliche und militärische Leistungsfähigkeit Japans zu steigern, blieb bestehen, und damit auch die Notwendigkeit, von den euroamerikanischen Nationen zu lernen. Auf der anderen Seite ist in der Kampagne auch die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzende Rückbesinnung auf einheimische Traditionen erkennbar. Wurden vor dem Krieg häufig euroamerikanische Vorbilder in der Vermittlung moderner Verhaltensnormen verwendet, so fanden diese in der Zeitkampagne kaum noch Erwähnung. Im Zuge einer »Japanisierung« der Zeitnormen Pünktlichkeit und Effizienz wurde die westliche Herkunft dieser Normen weitgehend im Hintergrund gehalten, während die gesamte Kampagne gleichzeitig stark national überhöht wurde. Dies wurde dadurch erreicht, dass einheimische Vorbilder in den Vordergrund gerückt wurden, die zum einen der antiken Geschichte des japanischen Kaiserhauses entnommen wurden, bei denen es sich zum anderen jedoch um einfache Menschen aus der Mitte der Gesellschaft handelte, die für ihre vorbildliche Einhaltung der modernen Zeitdisziplin Auszeichnungen erhielten. Insbesondere die öffentlichkeitswirksame, zeremonielle Verehrung von Kaiser Tenchi, die von Jahr zu Jahr größere Ausmaße annahm, trug wesentlich zur Überhöhung der Kampagne bei. Die Grußadressen von Spitzenpolitikern, die während der Abendveranstaltung zum Tag der Zeit verlesen wurden, unterstrichen ebenfalls die nationale Bedeutung der Kampagne. So veränderte das Spannungsverhältnis zwischen der Notwendigkeit, weiterhin vom Westen zu lernen, und dem anwachsenden Kulturalismusdiskurs die Art und Weise, wie die euroamerikanischen Zeitnormen vermittelt wurden. »Nostrifikationsstrategien« wurden eingesetzt, die »die Quellen der Inspiration« mehr und mehr verdeckten und gleichzeitig die Kampagne von höchster Stelle legitimierten, um ihre Akzeptanz in der Bevölkerung zu fördern.77 Die neuen Vorbilder trugen überdies zur nationalen Integration bei, da sie eine besondere Verbindung zwischen Kaiserhaus und Volk suggerierten, die sich in der gemeinsamen Anstrengung ausdrückte, durch diszipliniertes Zeitverhalten zur Stärkung der japanischen Nation beizutragen. Die alljährliche Synchronisierung der Nation durch flächendeckende akustische Signale um 12 Uhr mittags am Tag der Zeit machte die nationale Gemeinschaft schließlich auch sinnlich erfahrbar. Die Vielfalt der propagierten Vorbilder bot darüber hinaus vielfältige Identifikationsmöglichkeiten mit den Zielen der Kampagne. Durch deren parallele 77 Martin Aust u. Daniel Schönpflug, Vom Gegner lernen. Einführende Überlegungen zu einer Interpretationsfigur der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert, in: dies., Vom Gegner lernen, S. 9–35, hier S. 31.

Die Propagierung moderner Zeitdisziplin in Japan

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Verankerung in Vergangenheit und Gegenwart wurden sowohl konserva­tive als auch progressiv eingestellte Bevölkerungsteile angesprochen. Die Verknüpfung mit dem Kaiserhaus sprach nationalistisch gesinnte Personen besonders an, während andere sich von den sozial ähnlichen Vorbildern aus der Mitte der Bevölkerung zur Nachahmung anregen lassen konnten. Die Frage, welchen Einfluss diese Kampagne ebenso wie ihre Vorläuferin auf den Wandel des Zeitverhaltens der Bevölkerung ausgeübt hat, muss mangels entsprechender Rezep­tionsanalysen jedoch vorerst offen bleiben. Künftige Forschungen müssen zeigen, wie die Durchsetzung der Zeitnormen Pünktlichkeit und effiziente Zeitnutzung in Japan verlief, welche regional-, schicht- oder gender-spezifischen Effekte dabei auftraten und welches Gewicht anderen Einflussfaktoren zukam.

Christopher Clark

Time of the Nazis Past and Present in the Third Reich

Abstract: That regimes of power may transform the collective experience and understanding of time is clear, and it has long been recognised that the totalitarian regimes of twentieth-century Europe did so in a consistent and aggressive way. This article suggests that the temporality projected by the National Socialist regime in Germany was highly distinctive, even in the context of the contemporary European totalitarian experiments. It thus swims against the current of those recent studies that view the German and Italian regimes as expressions of a generic “fascist” temporality, subsume Nazism under the rubric of the “modern”, or bracket the three totalitarian dictatorships together as variations on a single eschatological theme. Underlying the dictatorship’s vision of its place in time, the article suggests instead, was a radical rejection of “history” and a flight into deep continuity with a remote past and a remote future. Did the National Socialist regime inaugurate  a specific form of temporality? That regimes of power may seek to transform the collective experience and understanding of time is clear. Reinhart Koselleck, one of the founding figures of the current “temporal turn” in historical studies, argued that the aspiration to restructure calendar time was one of the defining novelties of the French Revolution.1 Since then, studies of ancien régime, revolutionary and Napoleonic policy in France have illuminated in more detail the relationship between state power, secularisation and the management of time, while nuancing Koselleck’s claim that the revolution inaugurated a fundamental rupture in European time-awareness.2 1 Reinhart Koselleck, Anmerkungen zum Revolutionskalender und zur “Neuen Zeit”, in: id. and Rolf Reichardt (eds.), Die französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins, Munich, 1988, pp.  61–64 (engl.: The Practice of Conceptual History. Timing History, Spacing Concepts, Stanford 2002, pp. 148–153); on the “temporal turn” in the human sciences generally, see Robert Hassan, Globalization and the “Temporal Turn”. Recent Trends and Issues in Time Studies, in: Korean Journal of Policy Studies 25. 2010, pp. 83–102. See also Alexander Geppert’s and Till Kössler’s introduction to this volume, and the contributions by Lucian Hölscher and Penelope Corfield. 2 See for example Noah Shusterman, Religion and the Politics of Time. Holidays in France from Louis XIV through Napoleon, Washington, DC 2010; Sonja Perovic, The Calendar in Revolutionary France. Perceptions of Time in Literature, Culture, Politics, Cambridge 2012; Matthew Shaw, Time and the French Revolution. The Republican Calendar, 1789–Year XIV, Woodbridge 2011.

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Historians of empire have noted the “intimate connection” between time and imperial power – especially as manifested in the imposition of standardised regimes of clock-discipline on labour and production processes.3 And there have been many studies focusing on how disruptions in the continuity of power can generate shifts in time-sense.4 It has long been recognised that the totalitarian regimes of twentieth-century Europe intervened in the temporal order. The Soviet Union, Stephen E. Hanson has argued, launched a revolutionary experiment in re-ordering the human relationship with time; it aspired to inaugurate a totalitarian temporality, in which the vanguard party overcame the constraints of conventional “bourgeois” linear time through the infinite intensification of work. Recent studies of Italian fascism have focused on the efforts of fascist intellectuals and propaganda to establish a new temporality centred around the party itself as the ultimate historical agent.5 3 Giordano Nanni, The Colonisation of Time. Ritual, Routine and Resistance in the British Empire, Manchester 2012, p. 4. There is now a huge literature, but the classic study is: E. P. Thompson, Time, Work-Discipline, and Industrial Capitalism, in: Past & Present 38. 1967, pp. 56–97; see also Frederick Cooper, Colonizing Time. Work Rhythms and Labour Conflict in Colonial Mombasa, in: Nicholas B. Dirks (ed.), Colonialism and Culture, Ann Arbor 1992, pp. 209–245; Keletso E. Atkins, ­“Kafir Time”. Preindustrial Temporal Concepts and Labour Discipline in Nineteenth-­Century Colonial Natal, in: Journal of African History 29. 1988, pp. 229–244; Mark M. Smith, Mastered by the Clock. Time, Slavery and Freedom in the American South, Chapel Hill 1997; U. Kalpagam, Temporalities, History and Routines of Rule in Colonial India, in: Time and Society 8. 1999, pp. 141–159; Mike Donaldson, The End of Time? Aboriginal Temporality and the British Invasion of Australia, in: Time and Society 5. 1996, pp. 187–207; Alamin Mazrui and Lupenga Mphande, Time and Labour in Colonial Africa. The Case of Kenya and Malawi, in: Joseph K. Adjaye (ed.), Time in the Black Experience, Westport 1994, pp. 97–120; Dan Thu Nguyen, The Spa­tialization of Metric Time. The Conquest of Land and Labour in Europe and the United States, in: Time and Society 1. 1992, pp. 29–50. 4 Particularly interesting work has been done on the impact of political upheaval on the fracturing of traditional time orders and the ascendancy of linear temporalities, see Luke S. Kwong, The Rise of the Linear Perspective on History and Time in Late Qing China c. 1860–1911, in: Past & Present 173. 2001, pp. 157–190; Chang-tze Hu, Historical Time Pressure. An Analysis of Min Pao (1905–1908), in: Chun-chieh Huang and Erik Zürcher (eds.), Time and Space in Chinese Culture, Leiden 1995, pp. 329–341; Q. Edward Wang, Modernity Inside Tradition. The Transformation of Historical Consciousness in Modern China, Bloomington 1996. 5 Stephen E. Hanson, Time and Revolution. Marxism and the Design of Soviet Institutions, Chapel Hill 1997, pp. VIII f. and pp. 180 f. On the stark linearity of Marxist-Leninist time and its relationship with Stalinist praxis, see also Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt 2006, esp. pp. 80–105; on the transition from the Taylorist romanticism of the early Soviet Union to the “machine utopia” of the Stalinist era, see Richard Stites, Revolutionary Dreams. Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York 1989, here pp. 161–164; Claudio Fogu, The Historic Imaginary. The Politics of History in Fascist Italy, Toronto 2003, here p. 34; Jeffrey T. Schnapp, Fascism’s Museum in Motion, in: Journal of Architecture Education 45. 1992, pp. 87–97; id., Fascinating Fascism, in: Journal of Contemporary History 31. 1996, pp. 235–244; Marla Stone, Staging Fascism. The Exhibition of the Fascist Revolution, in: Journal of Contemporary History 28. 1993, pp. 215–243.

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And the historian of transnational fascism Roger Griffin has characterised the advent of National Socialist government in Germany as a “temporal revolution”. Eric Michaud’s exploration of the “Nazi myth” focused on the paradoxical relationship between “motion” and “motionlessness” in Nazi visual imagery and related this to the logic of Christian eschatology, in which the subject is suspended between the memory of a past redemption (in the form of Christ’s incarnation) and the anticipation of a future collective salvation.6 Emilio Gentile has spoken of a fascist “sacralisation of politics” through which the rites and usages of the Christian tradition were adapted to the purposes of the Mussolini regime, creating an “internal symbolic universe” in which timeless universality of liturgical performance was transferred to the collective experience of politics. All three totalitarian dictatorships, Charles Maier and Martin Sabrow have suggested, represented far-reaching interventions, not only in the social and political, but also in the temporal order.7 This article builds on these threads in what is now a substantial literature, focusing in particular on the temporal dimension of National Socialism. But first it is important to note some conceptual and methodological difficulties. Rather than producing  a toolkit of stable and widely used hermeneutical categories, recent writing on modern temporalities has generated an increasingly diverse repertoire of metaphor. The transition from ancien régime to “modern” temporalities is variously conceptualised as a process of acceleration, expansion, narrowing, regeneration, compression, distanciation, splitting, fracturing, emptying, annihilation and liquefaction.8 And the category “temporality” has been 6 Roger Griffin, Party Time. The Temporal Revolution of the Third Reich, in: History Today 49. 1999, pp. 43–49; id., “I Am No Longer Human. I Am a Titan. A God!” The Fascist Quest to Regenerate Time, Electronic Seminars in History, Institute of Historical Research, http:// www.ihrinfo.ac.uk/esh/quest.html (May 1998); Eric Michaud, The Cult of Art in Nazi Germany, Stanford 2004, here p. 184, p. 196, p. 202 and p. 204. Michaud’s concept of the “Nazi myth” is inspired by the enigmatic reflections in Philippe Lacoue-Labarthe and Jean-Luc Nancy, The Nazi Myth, in: Critical Inquiry 16. 1990, pp. 291–312. 7 Emilio Gentile, Il culto del littorio. La sacralizzazione della politica nell’Italia fascista, Rome 1993. On the “denial of time” by the three totalitarian regimes, see Charles S. Maier, The Poli­ tics of Time. Changing Paradigms of Collective Time and Private Time in the Modern Era, in: id. (ed.), Changing Boundaries of the Political. Essays on the Evolving Balance Between the State and Society, Public and Private in Europe, Cambridge 1987, pp.  151–175; on the “eschatological self-image” that united the dictatorships of left and right, notwithstanding differences in their “temporal codes”, see Martin Sabrow, Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012, p. 21 and p. 23. 8 For  a discussion of these problems, see Alexander C. T. Geppert and Till Kössler, Zeit-­ Geschichte als Aufgabe, in this volume, and Allegra Fryxell, Models of Time in European Modernism. A Historiographical Review, unpublished manuscript, Cambridge 2013; on “acceleration”, see above all Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt 2005; on the “emptying” of time and “time-space distanciation”, see Anthony Giddens, Consequences of Modernity, Stanford 1990, pp. 37–40; and id., A Contemporary Critique of Historical Materialism, Berkeley 1981, pp. 90–97; on splitting and fracturing, see David Harvey, The Condition of Postmodernity. An Enquiry into the Origins

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deployed in a number of different ways. In some studies, the term denotes an experiential or praxeological domain  –  a tendency on the part of individuals or communities to orient themselves towards cyclical markers such as the seasons or liturgical celebrations, fluctuations in the experienced duration of specific events, a tension between experience and expectation, a divergence in the rhythms of private and public life or a pattern of time-management practices associated with certain occupational cultures.9 Other studies focus on “chrono­ sophies” or philosophical reflections on time and their relationship with history or with human existence more generally.10 We cannot speak, in the case of the “Third Reich”, of a conscious or coordinated effort to restructure formal temporal frameworks. There was no attempt to redesign the calendar, as occurred under the French Republic, and the aspiration to replace Judaeo-Christian liturgical calendars with “pagan” or “Germanic” substitutes remained confined to marginal groups.11 Nor was there a single coherent “temporal dogma”. One can work around this problem, of course, by tracing influential tropes through a wide range of sources ranging from spee of Cultural Change, London 1989, pp. 260–307, and Richard Terdiman, Present Past. Modernity and the Memory Crisis, Ithaca 1993, p. 9 and p. 23; on the “annihilation” of time (and space), see Stephen Kern, The Culture of Time and Space, 1880–1918, Cambridge, MA 2003, p. XIII; Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Munich 1977, p. 30; Iwan R. Morus, The Nervous System of Britain. Space, Time and the Electric Telegraph in the Victorian Age, in: British Journal for the History of Science 33. 2000, pp. 455–475; and Jeremy Stein, Annihilating Time and Space. The Modernization of Firefighting in Late Nineteenth-Century Cornwall, Ontario, in: Urban History Review 24.  1996, pp.  3–11; on “compression”, see Jeremy Stein, Reflections on Time, Time-Space Compression and Technology in the Nineteenth Century, in: Jon May and Nigel Thrift (eds.), Timespace. Geographies of Temporality, London 2001, pp. 106–119; for a critique of the annihilation metaphor, see Roland Wenzlhuemer, “Less Than No Time”. Zum Verhältnis von Telegrafie und Zeit, in: GG 37. 2011, pp. 592–613; and on “liquefaction” see Roger Griffin, Fixing Solutions. Fascist Temporalities as Remedies for Liquid Modernity, in: Journal of Modern European History 13. 2015, pp. 5–23. 9 On the experience of time as “simultaneous”, “atomistic” and “heterogeneous”, see Kern, Culture of Time and Space, p. 20 and pp. 68–70; on the psychology of time as experienced through memory, see Terdiman, Present Past, esp. pp. 344–359; for a study that combines philosophical, experiential and psychological approaches, see Charles M. Sherover, Are We in Time? And Other Essays on Time and Temporality, Evanston 2003; on the Durkheimian roots of temporal studies that focus on patterns of social action and interaction, see Michael A. Katovich, Durkheim’s Macrofoundations of Time. An Assessment and Critique, in: Sociological Quarterly 28.3. 1987, pp. 367–385; on methodological and conceptual problems more generally, see Nancy Munn, The Cultural Anthropology of Time. A Critical Essay, in: Annual Review of Anthropology 21. 1992, pp. 93–123. 10 For chronosophically focused studies, see Charles M. Sherover, The Human Experience of Time. The Development of its Philosophic Meaning, New York 1975, and Kern, Culture of Time and Space, esp. chapter 3. 11 Richard Steigmann-Gall, The Holy Reich. Nazi Conceptions of Christianity, 1919–1945, Cambridge 2003, esp. pp. 86–113.

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ches, printed texts, images and the built environment to relevant strands of regime practice and inferring from these a shared “period awareness”. But proceeding in this way raises further questions about which sources and utterances should be regarded as characteristic of the regime as a whole – a problem exacerbated by the competition between different cultural agencies that was characteristic of the Hitler regime. Bearing these challenges in mind, this article builds a case for the distinctiveness of National Socialist temporality even within the context of the twentieth-century totalitarian experiments. It thus swims against the current of those recent studies that have viewed the German and Italian regimes as expressions of a generic “fascist” temporality or have bracketed the three totalitarian dictatorships together as “political religions”.12 By “temporality” I do not mean a philosophically coherent view of time, or a specific mode of historical understanding or writing. Nor do I mean a species of collective experience. Rather I have in mind a set of informal and often implicit claims about the relationship between the present and the past, claims that also have implications for the status of the future. In this respect I follow François Hartog, who has defined a ­régime d’historicité (temporal order) in terms of the conditions for the possibility of the production of histories, in other words as something more fundamental than an historical theory or a mode of historiographical practice. Depending on the relationship between past, present and future, Hartog observes, some types of history are possible and others are not. And as Niklas Luhmann has pointed out, the temporalities generated by particular social systems are marked by “specific interpretations of what is temporally relevant”. From this it follows 12 The literature on National Socialism and its totalitarian contemporaries as “political religions” is now vast. For landmark contributions and useful discussions, see Philippe Burrin, Political Religion. The Relevance of  a Concept, in: History and Memory 9.  1997, pp.  321–349; Emilio Gentile, Fascism as Political Religion, in: Journal of Contemporary History 25. 1990, pp. 229–251; Stanley Stowers, The Concepts of “Religion”, “Political Religion” and the Study of Nazism, in: Journal of Contemporary History 42. 2007, pp. 9–24; David D. Roberts, “Political Religion” and the Totalitarian Departures of Inter-War Europe. On the Uses and Disadvantages of an Analytical Category, in: Contemporary European History 18. 2009, pp. 381–414; and Hans Maier, Political Religion. The Potentialities and Limitations of a Concept, in: id. (ed.), Totalitarianism and Political Religion, London 2007, pp.  272–282. Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Cologne 1996, is an excellent example of an empirical study driven by the political religion paradigm. For a recent exposition of the generic fascism approach (which tends now to overlap considerably with the political religion school), see Fernando Esposito and Sven Reichardt, Revolution and Eternity. Introductory Remarks on Fascist Temporalities, in: Journal of Modern European History 13. 2015, pp.  24–43. Studies in this mould have done much to illuminate “family resemblances” among the totalitarian regimes by highlighting the liturgical character of public ceremonial or focusing on common themes, such as rebirth, acceleration, the glorification of an idealised past and the ­appeal to myth and ideas of eternity. This article, by contrast, is interested in exploring what may have been distinctive in National Socialism’s intuitions of its place in time.

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that the configuration of this relationship in turn gives rise to a sense of time that possesses an intuited shape (chronoscape), depending upon which parts of the past are felt to be near and related intimately with the present and which are perceived as alien and remote.13 This article is concerned, to borrow the words of Charles Maier, with “the question of how politics is about time” and of what kind of time is “presupposed by politics”. It opens with some reflections on the Revolutionsmuseen established after the seizure of power to “commemorate” the formation of the Hitler government. It interrogates the temporal textures of the commemorative exhibitions on show in these rather makeshift institutions and compares them with efforts to musealise the past in Fascist Italy and the Soviet Union. The contrasts, it suggests, are symptomatic of larger idiosyncrasies in the temporal orientation of the National Socialist regime. The last part of the article pursues this intuition across a broader range of the regime’s cultural and political expression.

I. The Revolution Museums On 15 September 1933, a new museum opened in Berlin. Its purpose was to lend visible form to the momentous events that had recently transformed the politi­ cal fortunes of Germany. The Berlin Revolutionsmuseum was initially housed in one of the new regime’s lieux de mémoire, the apartment block of the fallen Nazi activist and SA-Mann Horst Wessel on the corner of Jüden- and Parochialstraße, though it later re-located to a more impressive venue, on the Neue ­Friedrichstraße (Fig. 1).14 The museum’s founder was Willi Markus (1907–1969), a friend and sometime comrade of Horst Wessel and commanding officer of the 6th Regiment of the Berlin SA. Guests at the modest opening ceremony included friends of the Wessel family and a gathering of the local SA, including Brigadeführer August Wilhelm, fourth son of Germany’s last Kaiser, Wilhelm II. In time, the museum established itself as one of the cultural fixtures of an emerging “National Socialist Berlin”.15 13 François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003, p. 28; Niklas Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizon­ ten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: id., Soziologische Aufklärung, vol. 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1986, pp. 103–133, here pp. 103 f.; see also id., Temporalisierung von Komplexität. Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: id., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, vol. 1, Frankfurt 1980, pp. 235–300. On historical “distance” as constructed and manipulable, see Mark Salber Phillips, Rethinking Historical Distance. From Doctrine to Heuristic, in: History and Theory 50. 2011, pp. 11–23. 14 Crawford Photographs Collection, Institute of Archaeology, Oxford University. 15 There is some uncertainty about the location of the Berlin Revolutionsmuseum. In a review of the exhibition dated 25.11.1933, the party organ Der S. A.-Mann described the museum as

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The Revolutionsmuseum in Berlin was not the only institution of its type. There were similar foundations in Halle, Kassel and Düsseldorf – not to mention Ehren­ hallen established in various other locations to commemorate the “achievements” and “sacrifice” of the National Socialist movement. These were not the consequence of directives from the regime, but local initiatives driven by regional or district SA leaderships, often in collaboration with the Gau authorities.16 The SA appears to have founded these institutions as a means of advertising its role in the Nazi seizure of power. Local SA leaderships were also involved in the Museum der Deutschen Erhebung in Halle, figured prominently in the Revolutionsschau in Düsseldorf and collaborated in the establishment of Ehrenhallen. The area around the Revolutionsmuseum in Berlin was one in which SA units had faced occupying a house on the corner of Jüden- and Parochialstraße (Horst and Werner ­Wessel had grown up in Jüdenstraße 51/52). The photographs taken of the museum by O. G. S. Crawford in September 1934, however, show an entrance on Neue Friedrichstraße 83, near the corner with Königstraße. An article by Joseph Goebbels (Der Spiegel des Grauens. In der Schreckenskammer der Hochtage des Kommunistenterrors, in: Völkischer Beobachter [North German edition], 12.12.1933, feature page: Aus der Bewegung) confirms this location and reports that the museum had been founded on 15 September. It may well be that the museum was in fact re-founded in  a larger and more ambitious format at that time; this would explain an early reference by the Social Democrat exile journalist in Paris Hermann Wendel, who reported on 30.7.1933 that a “Museum der nationalen Revolution” had just been opened in Berlin (see Hermann Wendel, Revolutionsmuseum, in: Lutz ­Winckler [ed.], Unter der “Coupole”. Die Paris-Feuilletons Hermann Wendels 1933–36, Tübingen 1995, pp.  116–119). A lengthy commentary in the Märkische SA of 10.4.1937, pp.  1 f., reports on the recent re-opening of the museum (“Erstes NS-Revolutionsmuseum der Standarte 6 neu eröffnet”) and situates it in Taubenstraße 6.  It may be that the museum was moved, possibly after a travelling show of the exhibits, because its earlier premises had been turned over to another use. There is some confusion on these matters in the secondary literature. Eva Zwach, Deutsche und englische Militärmuseen im 20. Jahrhundert. Eine kultur­ geschichtliche Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit Krieg, Münster 1999, p.  116, suggests that the Revolutionsmuseum was installed in the premises of what had previously been Ernst Friedrich’s pacifist Anti-Kriegs-Museum at Parochialstraße 29; but this claim appears to be based on an article in the NSDAP party organ Der Angriff (see “Sul.”, Vom Antikriegsmuseum zum S.-A. Heim, in: Der Angriff, 25.3.1933, p. 4) which describes the sacking of the Anti-Kriegs-Museum and its conversion into a locale for the SA, but does not place the Revolutionsmuseum at that location. Martin Roth, Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution, Berlin 1990, p. 159, also states that the Anti-Kriegs-­Museum was attacked and renamed “Erstes Revolutions-Museum der SA-Standarte 6 Berlin” in 1932, a claim for which I can find no other supporting evidence. For references to the museum as a NS tourist destination, see: Berlin und Umgebung. Kleine Ausgabe mit Angaben für Auto­mobilisten, Berlin 1936, p. 60; and Julek Karl von Engelbrechten and Hans Volz, Wir wandern durch das nationalsozialistische Berlin. Ein Führer durch die Gedenkstätten des Kampfes um die Reichshauptstadt, Munich 1937, p. 59. 16 The Ehrenhalle at Buchholz in der Nordheide, for example, was the work of Gauleiter for Osthannover Otto Telschow, in collaboration with the local SA; see Thomas Clausen, “Otto Telschow. Hitlers Gauleiter in Osthannover”, unpublished manuscript. I am grateful to Thomas Clausen for letting me see this document.

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Fig. 1: Photograph by the British archaeologist O. G. S. Crawford of the entrance to the Berlin Revolutionsmuseum. Source: Institute of Archaeology, Oxford University.

especially determined resistance from the communists. At Parochialstraße 29, just around the corner, were the premises of what had once been the Berlin Anti-­ Kriegs-Museum, a crowded and rather chaotic installation founded by the pacifist Ernst Friedrich (1894–1967) that used images and objects – including photographs of maimed invalids – to invoke the horror of military violence. In March 1933, the local SA had seized and ransacked the museum, before transforming it into an “SA-Heim” and torture chamber.17 The choice of the term Revolutionsmuseum is noteworthy, reflecting as it does the SA’s preoccupation with the revolutionary character of the takeover and the imminence of a “second revolution”, in which the political achievements of January 1933 would be followed up with  a far-reaching social transformation. The choice of objects and the mode of their exhibition reflected the petty resentments and hatred fanned by the “years of struggle” for the Reichshaupt-

17 On Ernst Friedrich as a “renewer of the museum” and a critic of conventional museum prac­ tice, see Zwach, Militärmuseen, p. 113; on the SA seizure of power, see Martin Schuster, Die SA in der nationalsozialistischen “Machtergreifung” in Berlin und Brandenburg 1926–1934, Ph.D. Diss., Technische Universität Berlin, Berlin 2004, p.  237 (http://edocs.tu-berlin.de/ diss/2004/schuster_martin.pdf).

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stadt. Among the exhibits was a framed photograph from an illustrated supplement of 1932, showing the spacious apartment of the Jewish former Vice President of Berlin’s police department, Bernhard Weiß (1880–1951), onto which has been mashed a pair of broken spectacles. Weiß had been a determined defender of the Weimar republican order and  – under the mocking sobriquet “Isidor Weiß” – the foremost hate figure of the Goebbels press in the capital. Nazi cari­ catures regularly focused their loathing on the police chief’s round “Jewish” spectacles. A review of the exhibition written by Joseph Goebbels and published in the party daily Völkischer Beobachter described this item as “a cheerful and tragic-comical reminder: Herr Isidor Weiß in person, [in the form of] the spectacles he left behind as he fled in the greatest haste [from his home]”.18 Clearly, one of the objectives of the Revolutionsmuseum was to advertise the victory of the regime (or at least of its armed shock troops) over the forces that had opposed its coming into existence. A “rote Ecke” (red corner), in which captured communist weapons and insignia were displayed, was a feature common to several museums of this type.19 This flaunting of trophies was not insignificant at a time when the danger of a Communist retaliation was still presented in official propaganda as a genuine threat – throughout the autumn of 1933 and the spring and summer of 1934, the party press continued to cover alleged “red plots” and incidents of “red terror” against policemen, Nazi officials and members of the Hitler Youth, and there were widely publicised trials against supposed communist rings, in which the description of confiscated weapons played a prominent role.20 The museum was, one commentator put it, a “chamber of horrors” (Schreckenskammer) whose purpose was to impart a frisson of dread at the thought of what might have been if the National Socialists had not come to power. “It’s hot at the moment in Berlin”, wrote the conservative satirist Adolf Stein in the summer of 1935, “but an ice-cold shudder runs down one’s back in the Revolutionsmuseum”.21

18 Dietz Bering, Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag, 1812–1933, Stuttgart 1988; Goebbels, Spiegel des Grauens. 19 See, for example, Revolutionsaustellung in Karlsruhe, in: Völkischer Beobachter (North German edition), 14.9.1933, Zweites Beiblatt, which speaks of “a piled up magazine of revolvers, pistols, carbines, daggers, knuckle-dusters, machine-guns, explosive cartridges, hand grenades etc.” 20 See, for example, Hochverratsprozeß gegen 111 Kommunisten in Breslau, in: Völkischer Beobachter, 31.5.1934, p. 1; Geständnisse und Lügen der Mörder vom Bülowplatz, in: ibid., 6.6.1934, p. 2; Kommunistische Bombenanfertiger vor dem Volksgericht, in: ibid., 4.9.1934, p. 4; Gift als politisches Kampfmittel in den Händen der Kommunisten (reports that cyanide has been founds in the hands of a communist group in quantities sufficient to kill ­100–150 people), in: ibid., 14.9.1934, p.  2; Kommunistische Enthüllungen vor dem Dortmunder Gericht. Zechen, Eisenbahn und Brücken sollten gesprengt werden, in: ibid., 22.9.1934, p. 8. 21 Adolf Stein, Im Revolutionsmuseum, in: Rumpelstilzchen: Nee aber sowas! (= Rumpelstilzchen Bd. 15), 11.7.1935, p. 273.

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To the student of temporalities, the Revolutionsmuseen are of interest above all because the museum as an institution was, among other things, an instrument for the manipulation of temporal awareness: the apparatus of the museum could be used both to distance the viewer from the epoch or phenomena on display and to establish a sense of immediacy. As Martin Roth has shown, the years 1924–1932 saw a massive growth in museum foundations, an elevation in the cultural authority of the institution and a dramatic “actualisation” of museum content – several features of the Revolutionsmuseum were borrowed from the left-leaning “social museums” of the early Weimar Republic, whose exhibits were almost entirely contemporary in orientation.22 In deploying the idiom of the museum – with its labelled exhibits and glass cabinets – the founders of the Revolutionsmuseum aimed to connect the visitor with the actuality of the National Socialist transformation, while confining the Weimar Republic, whose history extended to within eight months of the moment at which the exhibition was opened, to a bygone past. “The Revolutionsmuseum”, said the posters on the newspaper columns in central Berlin: “shows the symbols of a superseded era” (Fig. 2).23 In his commentary on the exhibition, Goebbels observed that the objects on display were mere remnants, reminders of a bygone epoch. “Only in the memory”, he wrote, “do those days of bloodthirsty [communist] terror once again rise up”.24 The purpose of these “symbols” of the conquered left, another party journalist observed in 1937, was to serve as a reminder of “times that will never return”. The leftist posters that hung from the walls were “dead rags, as dead as the mottos they were emblazoned with”.25 Laid out and labelled in their glass cases, the paraphernalia of the Weimar communists resembled the mute pottery shards and metal ornaments that adorned so many museums of eth­ nography and Germanic pre-history. This effort to confine the Weimar years to the past and to posit a fundamental rupture between the events of the Weimar era and those of the Nazi present was entirely in accordance with the priorities set by the public utterances of  a regime that defined itself as marking  a caesura between epochs and in­ augurating a new epoch.26 “It is not merely that a new government was constituted on the 30 January 1933,” Hitler declared in a speech of July 1934: “Rather, a new regime extirpated an old and sickly era.” The transition between the pol­ itical history of Weimar and the Nazi seizure of power was to be seen as a radical

22 Martin Roth, Heimatmuseum. Zur Geschichte einer deutschen Institution, Berlin 1990, here p. 35, p. 64, p. 157 and p. 162. 23 “Das Revolutions-Museum zeigt die Symbole einer überwundenen Zeit”; see figure 2. 24 Goebbels, Spiegel des Grauens. 25 Erstes NS-Revolutionsmuseum der Standarte 6 neu eröffnet, in: Märkische SA, 10.4.1937, p. 1 (supplement to the SA-Mann of the same date). 26 Karsten Fischer, “Systemzeit” und Weltgeschichte. Zum Motiv der Epochenwende in der NS-Ideologie, in: id. (ed.), Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitwende, Frankfurt 1999, pp. 184–202.

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Fig. 2: Photograph by the British archaeologist O. G. S. Crawford of a poster advertising the Berlin Revolutions­ museum. Source: Institute of Archaeology, Oxford University.

temporal disconnect: “We National Socialists have the right to refuse that we be integrated into that line”, Hitler insisted, referring to the “miserable” sequence of Weimar Chancellors between 1919 and 1932.27 Restructuring the relation­ ship between the present and the past in this way allowed the vanquished “system” of the recent past to be evacuated from the present. But what is striking in the case of the Revolutionsmuseen is the sense that what had been accomplished was not merely a complete break with the immediate past, but the inauguration of a new kind of time. 27 Hitler speech of 13 July 1934, quoted in Völkischer Beobachter (North German edition), 15./16.7.1934, p. 1.

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Fig. 3: The Museum der nationalsozialistischen Erhebung, Halle. Source: Kreisleitung der NSDAP Halle (ed.), Führer durch das NS-­Museum des Gaues Halle-Merseburg der NSDAP. Ehrenhalle der nationalsozialistischen Erhebung, Revolutionsmuseum, NS-Archiv, Halle 1934.

We can see this more clearly if we examine another National Socialist Revolutionsmuseum in the city of Halle, a much more imposing foundation than its Berlin counterpart, which opened on 14 June 1934 before formations of SA, SS, Reichswehr and Police, flanked by members of the public and local party offi­ cials. The Halle Museum der nationalsozialistischen Erhebung was  a foundation of the Gau leadership and was intended to project the regional identity of the party in the Halle-Merseburg region (Fig. 3). Situated in a converted water tower, it was divided into two parts. A lower section offered a spectacle similar to the one on show in Berlin: this was, as one press commentator put it, “no paper museum with bare statistical tables”, but a collection of “tangible pieces

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Fig. 4: Lower floor of the Museum der nationalsozialistischen Erhebung, Halle. Source: Kreisleitung der NSDAP Halle (ed.), Führer durch das NS-Museum des Gaues Halle-­Merseburg der NSDAP. Ehrenhalle der nationalsozialistischen Erhebung, Revo­ lutionsmuseum, NS-Archiv, Halle 1934.

from the days of most bitter struggle”, including “political stickers, armbands, membership books, clubs of iron and wood”.28 Here one wandered through a disorienting space densely packed with posters, documents, photographs and telling objects, such as  a Litfaßsäule peppered with bullet holes, or caches of confiscated weapons and bombs (Fig. 4). The upper storey, by contrast, housed a Hall of Honour (Ehrenhalle) for fallen Nazis from the region. This was – in the words of the official guide to the museum – “a place of memory for the blood witnesses of the national and National Socialist revolution, a place of meditation to celebrate the new Germany”.29 Here there were no exhibits, just a large darkened space occupying the entire upper floor of the building and lined with “memorial niches and windows” bearing the names of fallen comrades and of units that had distinguished themselves in the struggle (Fig. 5). This juxta­ position of memory on the one hand and remembrance on the other was entirely 28 Das erste nationalsozialistische Museum in Halle eröffnet, in: Völkischer Beobachter (North German edition), 15.6.1934, p. 7. 29 Kreisleitung der NSDAP Halle (ed.), Führer durch das NS-Museum des Gaues Halle-Merseburg der NSDAP. Ehrenhalle der nationalsozialistischen Erhebung, Revolutionsmuseum, NS-Archiv, Halle 1934, p. 33.

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Fig. 5: Upper floor of the Museum der nationalsozialistischen Erhebung, Halle. Source: Kreisleitung der NSDAP Halle (ed.), Führer durch das NS-Museum des Gaues Halle-­Merseburg der NSDAP. Ehrenhalle der nationalsozialistischen Erhebung, Revo­ lutionsmuseum, NS-Archiv, Halle 1934.

deliberate. On the one hand, as Gauleiter Rudolf Jordan put it in a speech for the opening of the museum, there was the “timeless struggle” (der zeitlose Kampf) of the National Socialist movement; on the other, the “parliaments, with all the blabbering of day-to-day politics”.30 A number of the revolution museums combined memory and remembrance in this way. Even the relatively modest Berlin museum incorporated a simple shrine room with inscriptions, insignia and lists of names. The Revolutions­ schau in Düsseldorf combined a triumphal process of party flags and side gal­ leries exhibiting objects from the Weimar years with  a large chamber for the purpose of meditation and remembrance, in which the lights were dimmed and the Horst-Wessel-Lied could perpetually be heard at low volume in the background. But nowhere was this juxtaposition more trenchantly articulated than in Halle, where the visitor could ascend directly from the chaos of the lower story into the stillness of the memorial chamber above. In his speech at the opening ceremony, the director and creator of the Halle Museum, Professor Hans Hahne (1875–1935), gave an account of the thinking behind the dual structure of the installation. The museum, he wrote, had not 30 Aufruf des Gauleiters Staatsrat Jordan, in: ibid., p. 4.

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been planned as a “depot for more or less valuable objects”, but rather as “a vis­ ible extension of the Hall of Honour using the medium of the museum” (ins Museale). The museum, Hahne suggested, served two kinds of memory. On the one hand, the many exhibits downstairs would awaken many “inconspicuous ‘recollections’ of the time of struggle and victory”, restoring the totality of a past experience: “Holes in letter boxes and poster columns once again become whistling gunshots, garish colours become highpitched screams”. But in its “formal totality” (Gesamtformung), Hahne explained, “our museum is also  a memorial for the dead.” The roots of this form of remembrance, he claimed, lay deep in the history of Nordic man. And it was a feature of Nordic memorials for the dead that they did not confine the deceased to a world beyond or below, but integrated them into the world of the living: “The kingdom of the dead is part of the total domain of existence (Gesamt-Daseinsbereiches) of the human community to which the dead continue to belong.”31 In short, the upstairs-downstairs structure of the Halle Museum invoked two kinds of temporality: the stochastic history of events, of conflict, disruption and discontinuity on the one hand, and the smooth longue durée of Germanic memory on the other.

II. Totalitarian Contrasts A comparison of these exhibitions with analogous efforts by the Italian fascists to celebrate the establishment of their regime reveals a suggestive contrast. The fascist super-exhibition La Mostra della Rivoluzione Fascista, which went on show in Rome in 1932–1934 and attracted over three and a half million visitors, was no conventional exhibition, but rather a highly charged space in which one could experience “history in action”. The exhibition, a vast complex of carefully sequenced halls and rooms, instilled a sense of “perpetual movement and instability”, of “agitation, compression and disorientation”.32 The contrast with Nazi temporal sensibilities is best captured in Giuseppe Terragni’s spectacular “Room O”, an immense chamber on the left side of the exhibition (Fig. 6). This space was dominated by a vast photo-montage extending high into a non-symmetrical space. On the bottom right of the image could be seen thronging crowds of individual heads surging wavelike towards two immense turbines; rushing away from the turbines towards the upper left were masses of stylised hands outstretched as if in the fascist salute, a feature that may have been borrowed from a 1927 Soviet poster by the Bolshevik constructivist 31 Vorspruch vom Leiter des Museums Universitäts-Professor Dr. Dr. Hahne, in: Führer durch das NS-Museum, here pp. 9–11. 32 Schnapp, Fascism’s Museum in Motion, esp. p. 88 and p. 93; on the Mostra, see also Susanne von Falkenhausen, Der zweite Futurismus und die Kunstpolitik des Faschismus in Italien von 1922–1943, Frankfurt 1979; and Stone, Staging Fascism.

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Fig. 6: Giuseppe Terragni, “Room O” of the Mostra della Rivoluzione Fascista. Source: Dino Alfieri and Luigi Freddi, Mostra della Rivoluzione Fascista, Rome 1933, p. 189.

Gustav Klutsis.33 The turbines collaged along the faultline between the massed heads and the massed hands rendered explicit the historical dynamism suggested by the composition. They were aligned with the image of a letter written by Mussolini to the mother of a fascist martyr, as if Terragni wanted the viewer to understand not just that it was the party (and above all the Duce) who transformed masses of individuals into fascists animated by a collective will, but also that this transformation was achieved through a process of turbine-like acceler33 Ibid., p. 223.

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ation.34 There was, to be sure, a memorial chamber in the Mostra, the “shrine of the martyrs” (sacrario dei martiri), a darkened space centred on a simple cross inscribed with the words “For the immortal Fatherland!” and ringed by bands of dark metal into which was cut, thousands of times over, the luminous word “Presente!”. Here, as in the “memorial niches” of the Nazi revolution museums, the dead were remembered within a perpetual present. But the structural relationship between the memorial chamber and the rest of the exhibition was fundamentally different. The visitor to the Mostra had no choice but to approach the shrine chamber through a “gallery of fasci” lined with stone columns bearing a sequence of dates: 1918, 1919, 1920 and so forth; and the only way out of the sacrario led back down the gallery of the years and into the kinetic historical trajectory of the museum. There was, to be sure, a tension between the cool modernism of the memorial chambers and the hot modernism of the other rooms, but their purpose was above all to “reinscribe” the diachronic sequence of history “within a ritual order”, and to present the fascist seizure of power as the completion of an historical process, not to undermine the legitimacy of history as such.35 The imposing modernist armature of the exhibition, as a reviewer in the daily magazine Il Popolo d’Italia put it, “signified the enormous weight of fascism, which throws itself onto the paths of history”.36 To put it another way, in the fascist museum, history in the form of  a chronological sequence surrounds and incorporates the space of memory; in the National Socialist “revolution-museum”, the continuum-time of memory trumps and stifles history. This helps to explain the curious remark by a French visitor that the ­Mostra was “so thoroughly Bolshevist” in spirit that “with  a change of emblems, the piece would bring applauses in Moscow”.37 For all the differences between them, both the Fascist and the Soviet revolutionary temporalities were based upon  a kind of turbo-charged Hegelianism. As Stephen E. Hanson has suggested, Marxism-Leninism was based on the Marxist idea that “effective revo­ lutionary praxis depends upon utilising rational time discipline to master time itself”. What resulted was an amalgam that Hanson describes as a “charismatic-rational conception of time”.38 And Francine Hirsch has shown that Soviet ethnographers responded to the essentialism of Nazi race theory with an insistence that “national cultures” did not express primordial traits, but were rather artefacts of a “sociohistorical process” that could be accelerated by the 34 On Room O as the dramatization of a “moment of transformation”, see Falkenhausen, Der zweite Futurismus, p. 206. 35 Schnapp, Fascism’s Museum, p. 94; Gigliola Fioravanti, La Mostra della Rivoluzione Fascista, Rome 1992, p. 32; Claudi Fogu, The Fascist Stylisation of Time, in: Journal of Modern European History 13. 2015, pp. 98–114, here p. 109. 36 Ottavio Dinale, La Mostra della Rivoluzione. Visioni d’Arte, in: Rivista Illustrata del Popolo d’Italia, 11.6.1933, quoted in Stone, Staging Fascism, p. 220. 37 Louis Gillet, Rome Nouvelle, in: Revue des deux Mondes, 15.12.1932, pp.  792–826, here p. 810. 38 Hanson, Time and Revolution, pp. VIII f., pp. 180 f.

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intervention of the vanguard party. The notion that the Tajiks, for example, should be musealised by means of displays highlighting the abiding and timeless strands of Tajik culture – the Tajik tea ceremony, for example – fell sharply out of favour, to be replaced by exhibitions depicting Tajiks on the historical road towards Soviet peoplehood, their progress accelerated by the interventions of the communist party.39 Soviet thinking on time was founded upon  a collapsing of theory and praxis into a model in which progress and history were essentially the same thing. For both the Soviet and Fascist regimes, it was the party that represented the apotheosis of history,  a history still conceived as  a forwards-driving machine of progress. The fascist intellectual Giovanni Gentile saw his “actualist” philosophy of revolution as an elaboration of Hegelian dialectics aimed at affirming the “absolute immanence of theory and practice in the ‘pure act’”.40 For the Nazis, by contrast, the idea of history as an unstoppable forwards career of transformation had much less appeal. “Every people has its own rhythm”, wrote the poet and publicist Carl Maria Holzapfel (1890–1945) in an op-ed reflection on “The Rhythm of Time” for the Völkischer Beobachter, a newspaper in which reflections on the nature of time are surprisingly frequent. For the German people, it was the pattern of seasonal renewal and death, “the polarities of the solstice in nature”, that set the “pulse-beat” of existence. Time, in this sense, was just “a portion of eternity”, the great revolutions – including the putative revolution of 1933 –, were not just moments in high politics, but “hours of renewal” for all members of the ethnic community, “hours in which every one of us experiences God in the most extraordinary way”.41 The National Socialist regime did not seek to revolutionise the paradigm of linear history from within, powering it up for the needs of an all-transforming party, but rather sought to evade history altogether, to slip out of it into the racial continuum-time of  a trans-historical memory. They resembled Mircea Eliade’s archaic man, who “sets himself in opposition to history, regarded as a succession of events that are irreversible, unforeseeable, possessed of no autonomous value” and can apprehend past events and individuals only in the form of timeless archetypes.42 We find this same repatterning of time in the major German mass-audience mega-exhibitions of the 1930s. Ewiges Deutschland, for example, curated in Ber39 Francine Hirsch, Empire of Nations. Ethnographic Knowledge and the Making of the Soviet Union, Ithaca 2005, here pp. 264–272. 40 Fogu, Historic Imaginary, p.  13. Stefan Plaggenborg’s interesting reflections on the “historylessness” (Geschichtslosigkeit) of the Soviet regime in: id., Experiment Moderne, pp. 105–119, do not contradict this observation, since Plaggenborg uses this term to denote a temporal order in which the forwards momentum of history has become inseparable from the regime itself. The “disappearance” of history thus amounts to an absorption of history into the present, rather than signifying the rejection of linear history as a temporal logic. 41 Carl Maria Holzapfel, Vom Rhythmus der Zeit, in: Völkischer Beobachter (North German edition), 10./11.5.1934, Beiblatt Volkstum, Kunst, Wissenschaft, Unterhaltung. 42 Mircea Eliade, The Myth of the Eternal Return or, Cosmos and History, London 1989, p. 95.

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lin by the Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums and the Prussian State Library in 1934, aimed to awaken in the minds of visitors an awareness of “the eternal” (das Unvergängliche) in German literature, in order to “bring German present and German future into new relationships with German ethnicity (Volkstum) in the past”.43 Das deutsche Antlitz im Spiegel der Jahrhunderte, which opened in Frankfurt in 1937 under the curatorship of the City of Frankfurt and the Rassenpolitisches Amt of the NSDAP argued that the foundations of all culture lay in the “inherited powers of race”; it aspired to expose “the unchangeable and constant blood-values of our people” that had been obscured by the “vicissitudes of its history” (Wechselfälle seiner Geschichte).44 Here, too, history was mere contingency, a sequence of more or less random divergences from an underlying pattern that bestowed meaning on the past, the present and the future. The mega-exhibition Deutsche Größe, which opened in Munich on 8 November 1940 and then toured the country attracting a total of 657,000 visitors, was more emphatically historical in its content and far less focused on racial themes. But even here, the linear sequences of “history” were folded into  a millennial chronoscape. The Germans of 1940 appeared in this exhibition as the direct heirs and executors of the Ur-Germans of pre-history; the re-energised “history” of the present culminated in an encounter with the distant past.45 “Eventually the steel bow of the German armies extended from the Baltic to Alsace, from Flanders to the Crimea”, the Munich historian Karl ­A lexander von Müller declared in the catalogue of the exhibition. “And in almost every place where their boots struck the ground, old memories rang like echoes of our past.”46 What struck and moved the visitor to this exhibition, one anonymous reviewer observed, was not the momentum of history unfolding, but “a frisson of awe at the prospect of that which is immortal and transcends the centuries”.47 43 Alfred Rosenberg, Vorwort, in: Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums u. Preußische Staatsbibliothek (ed.), Ewiges Deutschland. Deutsches Schrifttum aus fünf­zehn Jahrhunderten, Berlin 1934. For a discussion of the mega-exhibitions of the “Third ­Reich”, see Hans-Ulrich Thamer, Geschichte und Propaganda. Kulturhistorische Ausstellungen in der NS-Zeit, in: GG 24.1998, pp. 349–381. 44 Das deutsche Antlitz im Spiegel der Jahrhunderte. Große Ausstellung der Stadt Frankfurt am Main unter Mitwirkung des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP, Frankfurt 1937, p. VI. 45 Brigitte Zuber, Großmachttraum im Andachtsraum. Welche Ausstellungen Münchner Schü­ lerinnen und Schüler 1933–1943 klassenweise besuchten, in: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte 2. 2009, pp. 128–151. 46 Hans Georg Otto (ed.), Deutsche Größe, Munich 1940, p. 12. 47 “Die Schauer der Ehrfurcht […] vor dem, was unsterblich wirkt und waltet über die Jahr­ hunderte hinweg”, in: Deutsche Größe im Schritt von zwei Jahrtausenden. Heute Er­öffnung der eindrucksvollen Ausstellung im Bibliotheksbau des Deutschen Museums, in: Münchner Neueste Nachrichten, 8.11.1940, quoted in Christof Kivelitz, Die Propaganda­ausstellung in europäischen Diktaturen. Konfrontation und Vergleich. Nationalsozialismus in Deutschland, Faschismus in Italien und die UdSSR der Stalinzeit, Bochum 1999, p. 205.

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Even the exhibition “Gebt mir vier Jahre Zeit!”, which opened amidst a storm of publicity on 30 April 1937 and was intended to advertise the transformation of Germany over the four years since the seizure of power, subordinated the developmental logic of history to a temporally flat ontological opposition between the new time and the old. As Joseph Goebbels reminded visitors in his opening speech, the only way to show what the National Socialists had achieved since the seizure of power was to juxtapose the present with the “hopelessly devastated time” whose legacy the Nazis had inherited in 1933. This exhibition, he announced, would take the form of a “spectacle of oppositions” (Schau der Gegensätze), for the contrasts between then and now were as profound as “between day and night”.48 There was no attempt here to “re-actualise history” or to “involve the observer in a sequence of actions”; this was revelation, not history.49

III. The Nearness of the Remote Past Germanic pre-history was another area of special interest to the temporal activists of the regime. The Reichsbund für deutsche Vorzeit, a pressure group with close links to the Amt Rosenberg, coordinated efforts to raise the profile of Germanic archaeology by developing a more attractive, informative and accessible mode of exhibition.50 The aim was to depict the millennial evolution of Germanic life both as a self-enclosed and autochthonous phenomenon capable of warding off alien influences and as something vivid and proximate to contemporary experience.51 The early years of the Nazi dictatorship witnessed a sharp growth in archaeology and pre-history at the universities and the subject expanded dramatically across research institutes and in the teaching training sector as well, encouraged by a public endorsements from Hermann Göring.52 48 Quoted in Gianluca Falanga, Berlin 1937. Die Ruhe vor dem Sturm, Berlin 2007, p. 122. 49 Kivelitz, Propagandaausstellung, p. 67. 50 Reinhard Bollmus, Das “Amt Rosenberg”, das “Ahnenerbe” und die Prähistoriker, in: Achim Leube (ed.), Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933–1945, Heidelberg 2002, pp.  21–48; see also id., Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im National­ sozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, pp. 69 f., pp. 161 f. and p. 226 f. 51 See, for example, Max Wegner, Museen für die Volksgemeinschaft!, in: Völkischer Beobach­ter (North German edition), 13.4.1934, Beiblatt Volkstum, Kunst, Wissenschaft, Unterhaltung; Deutsche Vorgeschichte ist Ehrensache des ganzen deutschen Volkes, in: ibid., 16.10.1934, p. 1. 52 Wolfgang Pape, Zur Entwicklung des Faches Ur- und Frühgeschichte bis 1945, in Leube, Prähistorie und Nationalsozialismus, pp. 163–226, esp. p. 167, p. 188, p. 206 and pp. 215 f.; Uta Halle, Wichtige Ausgrabungen der NS-Zeit, in: Focke-Museum Bremen (ed.), Graben für Germanien. Archäologie unterm Hakenkreuz, Darmstadt 2013, pp.  65–73; Marion Bertram, Zur Situation der deutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung während der Zeit der faschistischen Diktatur, in: Staatliche Museen zu Berlin. Forschungen und Berichte 31. 1991, pp. 23–42.

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Archaeological and prehistorical themes were prominent in schoolbooks and attracted much attention in novels, cinema, collecting cards and so on, to the extent that one could speak of prehistory as a propagandistic “advertisement” for the regime.53 Here, too, we can discern the imprint of National Socialist timescaping, in the sense that the activists involved aspired to situate the present not at the coalface of “history”, imagined as a sequence of unforeordained events, stochastic and disruptive – but rather within the all-encompassing envelope of the Germanic time of the Third Empire. Not everyone in the regime shared this enthusiasm for Germanic pre-history. Hitler at times expressed scepticism about Himmler’s enthusiasm for Germanic archaeology. “It’s bad enough”, Alfred Speer recalled him saying, “that the Romans were erecting great buildings when our forefathers were still living in mud huts; now Himmler is starting to dig up these villages of mud huts and enthusing over every potsherd and stone axe he finds.”54 Hitler’s own awareness of Germanic racial continuity was less geographically specific than Himmler’s. His racial history was a millennial narrative in which the achievements of the Third Reich were foreordained to “re-enact” those of the Roman Empire at the height of its power, a viewpoint reflected in his strong preference for neo-classical forms in the public architecture built and planned for the present and future National Socialist Germany. In this respect Hitler differed from those enthusiasts of deutsche Vorgeschichte (such as Hahne) who celebrated the Nordic and the Germanic in opposition to Rome. Whichever of these variations one ­adopted, the novelty of the resulting chronoscape was evident: The recent pol­ itical history of Weimar would become astronomically remote, while the millennial antecedents of the new regime – either Greek and Roman antiquity or the long and obscure history of Germanic settlement in central and northern ­Europe, or both – came to seem (or were supposed to seem) very near. This was the vision that was institutionalised in the cultural work of the SS-Ahnenerbe.55 There was a connection here with the efforts to musealise the Nazi seizure of power, because the director and designer of the Museum der Deutschen Er­ hebung in Halle, Hans Hahne, had been an important exponent of  a new discipline in which the study of pre-historic Germanic settlement and the methodology of ethnography blended with völkisch racial ideas to produce an ultra-essentialist and biologistic account of the genesis and evolution of German life in ­Europe. For this mode of studying the remote past, Hahne popularised 53 Hanning Hassmann, Archäologie und Jugend im “Dritten Reich”. Ur- und Frühgeschichte als Mittel der politisch-ideologischen Indoktrination von Kindern und Jugendlichen, in: Leube, Prähistorie und Nationalsozialismus, pp. 107–146. 54 Quoted in Bettina Arnold, Archaeology in Nazi Germany, in: Tim Murray and Christopher Evans (eds.), Histories of Archaeology. A Reader in the History of Archaeology, Oxford 2008, pp. 120–143, here pp. 129 f. Goebbels shared this scepticism; see Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland, Stuttgart 1966, p. 256. 55 The classic study is Michael Kater, Das “Ahnenerbe” der SS 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Munich 1997.

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the term Volkheitskunde. In 1912, he was appointed director of the Provinzialmuseum zu Halle, a rather dusty institution founded in 1884 that housed the collection of the “Thuringian-Saxon Association for History and Antiquities”. Under Hahne’s supervision, the provincial museum was transformed; under its new name, the Landesanstalt für Volkheitskunde acquired a monumental main building for the purpose of exhibiting the collection and hosting conferences and colloquia. Hahne took the lead in developing a mode of exhibition practice that would render visible the continuities between the present and the pre-historic past of the Germanic peoples. Maps, models and illustrations were used to bring alive the scattered remnants of ancient settlements. The aim, Hahne wrote in 1914, was to “lay bare the threads that connect us who live in the present with the [world] of prehistory […], for our culture of today and the culture of the prehistory of our country is linked above all by the identity of our blood with that of our forebears”.56 This implied, among other things, working against the contemporary pre-eminence of classical archaeology, and against the tendency to ascribe the more sophisticated archaeological discoveries to Roman workmanship or influence – a number of Hahne’s early works focused on refuting various “Roman hypotheses” in defence of an autonomous “German archaeology” concerned with “self-contained existential groups and cultural circles” whose identity was shaped by a harmonious relationship with a specific natural landscape.57 Hahne’s understanding of his discipline had always been völkisch in orientation, but it was only in the tumultuous years following the end of the First World War that biological and racist perspectives began to dominate his thinking. It was in these years that he became an exponent of a “politically applied biology” for which “racial science is the foundation and key to world history”.58 Hahne’s idea of history was not about disruption, conflict and change, but about the eternal return of a cyclical existence marked out by the seasons. He was enthralled, for example, by the various seasonal rituals that could still be observed in the rural and small-town communities of Thuringia. An example was the Questenfest, a communal ritual of allegedly ancient Germanic origin associated with the little town of Questenburg in the Harz mountains in which a wreath possibly signifying the sun was hung from a ten-meter high pole, to be burnt and replaced amidst singing and celebrations on the Whit Monday of each year. Hahne and his collaborators became practitioners of Brauchtumsforschung – the study of custom – and documented a range of local seasonal rituals. So fond was Hahne of these observances that he invented sunfeasts and Jahresspiele of his own,

56 Quoted in Irene Ziehe, Hans Hahne (1875 bis 1935), sein Leben und Wirken. Biographie eines völkischen Wissenschaftlers, Halle 1996, pp. 28 f. 57 Johannes Wiegelt, Hans Hahne, ­1875–1935, in: Walter Schulz (ed.), Hans Hahne zum Gedächtnis, Halle 1937, p. 7. 58 Gerhard Heberer, Hans Hahne und die rassenkundliche Forschung, in: ibid., p. 11.

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scripted with passages from the Edda and performed by bands of local children and adolescents. Hahne’s deepening engagement with the traces of a cyclical time that possessed intimations of temporal depth and continuity was more than an intellectual preoccupation; it was a refuge from the predicaments of history. For Hahne personally, it was clearly connected with the trauma of the First World War – or more precisely of the war’s traumatic close, amidst defeat, social dislocation, ­political unrest and uncertainty about the country’s future. In a letter of May 1919 to his mother, Hahne gave expression to a sense of dislocation: The thoughts of every waking and sleeping hour, indeed of every hour, are a motley, wild confusion. These days, everything one ‘thinks’ is built on mood, physical condition and random influences, in fact one doesn’t really think any thought through to its conclusion, because everywhere there are barbed wires of ifs and buts. So one does, step by step, what the day, what the hour demands, absorbing nothing and hoping, as appearances warrant, for much, little or nothing.

In a curious passage from this letter, Hahne appears to fuse his misery with the idea of history itself. The printing press, he wrote, has turned out to be the work of the devil: I can’t love Gutenberg any more, I would almost like to erase him – was [the invention of print] really a kind of progress? The whole idea of progress seems more dubious to me than ever.59

One is reminded here of what Mircea Eliade called the “terror of history”  – the sense that one is at the mercy of forces beyond one’s control, forced to respond to the random agitations of an environment rocked by upheavals whose outcome is utterly unforeseeable. The historian Hans Rothfels put the same point in a different way when he observed that the “shock to German historical consciousness” caused by the First World War launched historians on a quest for “the exemplary” in German history.60 But the enthroning of archetypes inevitably suppresses contingency, in the manner of Eliade’s “man of archaic culture” who “tolerates ‘history’ with difficulty and attempts periodically to abolish it”.61

59 Hans Hahne to his mother, 23 May 1919, quoted in Ziehe, Hans Hahne, p. 36. 60 Hans Rothfels, Bismarck und der Staat. Ausgewählte Dokumente, Stuttgart 19532, p. IX. 61 Eliade, Myth of the Eternal Return, p.  38. On the value of Eliade’s diagnosis of “archaic” temporalities for an understanding of fascism, see Raul Carstocea, Breaking the Teeth of Time. Mythical Time and the “Terror of History” in the Rhetoric of the Legionary Movement in Interwar Romania, in: Journal of Modern European History 13. 2015, pp. 79–97, esp. pp. 80–83.

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IV. The Flight from History This is not a problem unique to the German experience of defeat and revolution – it may apply more generally to the relationship between trauma and temporality, especially when the trauma in question involves a violent disruption of the structures of power. We can discern signs of such a linkage in the work of Fernand Braudel, the illustrious exponent of the Annales school associated with the ascendancy of the longue durée in postwar French historical studies.62 The longue durée was imagined in contrast to an “event-based” or political history that privileges “a short time span, proportionate to individuals, to daily life, to our illusions, to our hasty awareness – above all the time of the chronicle and the journalist”. But it was also a refuge from the agitations of history in this sense: “It is a ‘semi-stillness’ around which all of history gravitates.” The problem with the presumption that time was fragmented and discontinuous, Braudel observed in a critique of the Russian-born sociologist Georges Gurvitch, was that it effectively imprisoned the contemporary individual in a “brief living moment” in which he was “cloistered, a prisoner” and unable to “make use of the past or be nourished by it”.63 For Braudel, the insistence on continuity thus possessed thera­peutic potential, for the traumatic events of (French) history, recalled as a list of calendrical markers signifying defeat and invasion  – 1815, 1871, 1914, 1940 – merely signified a sequence of “monstrous wounds” that would scar over and be forgotten. The quest for continuity was a flight from history: “Rejecting events and the time in which events take place”, he wrote, “was a way of placing oneself to one side, sheltered, so as to get some sort of perspective, to be able to evaluate them better, and not wholly to believe in them”.64 Nor is this  a specifically European or western causal nexus. Mahatma ­Gandhi’s Hind Swaraj, written in 1910 to counter the terrorist politics of expatri­ ate Indian radicals, was similarly dismissive of history as a mere “record of the wars of the world” in which there could be no place for the trans-generational continuity of soul-force. History, by his reading, was “a record of every interruption of the even working of the force of love” and thus of the “force of nature”. It was the instrument with which the English sought to maintain the Indians in an awareness of their own cultural inferiority.65 The conditions that produced Gandhi’s rejection of “history” were radically different from those that prevailed in Germany after the First World War. But common to all of these cases 62 These reflections on Braudel draw on the important article by Olivia Harris, Braudel, Historical Time and the Horror of Discontinuity, in: History Workshop Journal 57. 2004, pp. 161–174. 63 Fernand Braudel, Georges Gurvitch ou la discontinuité du social, in: Annales 8. 1953, pp. 347– 361, quoted in Harris, Braudel, p. 173. 64 Fernand Braudel, Histoire et sciences sociales. La longue durée, in: Annales 13. 1958, S. 725– 753, here p. 748. 65 Mohandas Karamchand Gandhi, Hind Swaraj and Other Writings, Cambridge 1997, p. 56 and pp. 89 f.

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was a sense that history involved a radical curtailment of autonomy, a loss of power and a consequently disturbed relationship with the past. What was distinctive about the National Socialist case was the adoption of a counter-historical temporality by the regime itself as the platform on which the ultimate ends of state power could be imagined and legitimated. Once we become attuned to this repatterning of temporality, we find it almost everywhere we look in the world fashioned by the National Socialists. It was already implicit in the substitution of the Volk for the state as a central organising concept for politics. Since Samuel Pufendorf, the state had been associated with the idea of a rationalising project that extended forward in time. In Pufendorf’s theoretical justification for the concentration of power in the hands of the territorial sovereign, the state was a history machine, tearing through the fabric of tradition, triumphing over custom and entrenched privilege to establish new realities. In Hegel’s writings, the term underwent an unprecedented discursive escalation. Its majesty resonated more compellingly than ever before, at least within the milieu of academia and senior officialdom. The state, Hegel argued, was an organism possessing will, rationality and purpose. Its destiny – like that of any living thing – was to change, grow, and progressively develop. The state was “the power of reason actualising itself as will”.66 Hegel’s was not a liberal vision, but the progressive orientation of his vision was undeniable. For all his misgivings about the Jacobin experiment, Hegel celebrated the French Revolution as a “splendid dawn” that had been greeted with joy by “all thinking people”. Hegel’s Berlin students were told that the Revolution represented an “irreversible achievement of the world spirit” whose consequences were still unfolding.67 The centrality of reason and a sense of forward momentum suffuse his reflections on the state at every point. And by elevating the state above the plane of partisan strife, Hegel brought into view the exhilarating possibility that progress – in the sense of a beneficent rationalisation of the political and social order  – might simply be  a property of the unfolding of history, as embodied in the Prussian state.68 Throughout the nineteenth and well into the twentieth century, the “Prussian school” of history would remain overwhelmingly focused on the state as the vehicle and agent of ­historical change.69 By contrast,  a temporality focused on the Volk  – not as  a population, but as a trans-historical racial essence – was likely by nature to be non-progressive and non-developmental. The history of the Volk could only be a chronicle of its identity with itself, of its immalleability and refusal to succumb to alien power 66 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Berlin 1821, § 258A. 67 Quoted in Horst Althaus, Hegel. An Intellectual Biography, Oxford 2000, p. 186. 68 See the introduction by Gareth Stedman Jones to Karl Marx and Friedrich Engels, The Communist Manifesto, edited by Gareth Stedman Jones, London 2002, pp. 74–82. 69 George G. Iggers, The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, Middletown 1968, p. 82 and pp. 88 f.

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and influence. This is not to say that historical writing under the Nazi dictatorship aligned itself overnight with the logic of a Volk-centred temporality. The “folk history” (Volksgeschichte) that flourished in the Weimar and Nazi years was marked, to be sure, by a tendency to idealise the rural past and to stigma­ tise modernisation (in the form, for example, of urbanisation and “proletarianisation”) as a negative counterfoil to pre-industrial harmony, but it also tended to merge the emphasis on racial continuity with other approaches, including progressive and developmentalist forms of social history, producing a range of historiographical modes that varied in the intensity of their commitment to racial thinking.70 Nor did the regime ever get around to prescribing a specific agreed mode of historical writing, beyond calls for an approach more firmly centred on race and Volkstum.71 Even the Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands run by the historian Walter Frank (1905–1945) was riven by professional rivalries and competence struggles with and between the Rosenberg office, the Interior Ministry, the SS-Ahnenerbe and the education ministry of Bernhard Rust. To this one could add that this short-lived regime collapsed before the ideas of the new leadership could converge into  a shared outlook or work their way with any consistency into historiographical practice.72 Yet the underlying logic of a truly völkisch understanding of the past was by nature at odds with the statist paradigm that had dominated German histori70 Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Stefan Schweizer, “Unserer Weltanschauung sichtbaren Ausdruck geben”. Nationalsozialistische Geschichtsbilder in historischen Festzügen, Göttingen 2007, p.  47; on the penetration of Volks­ geschichte by biological and racist language and arguments, see Ingo Haar, Ostforschung im Nationalsozialismus. Die Genesis der Endlösung aus dem Geiste der Wissenschaften, in: Rainer Mackensen (ed.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im Dritten R ­ eich, Opladen 2004, pp. 219–240; on the emergent “matrix” of racist “population discourse”, see Thomas Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang. Der apokalyptische Bevölkerungs­ diskurs im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2007, esp. pp. 37–40; on the combination of “tradition” and “innovation” in one prominent practitioner, see Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010. 71 That the historiography of the “new” Germany should be focused on race and Volkstum was agreed at the 19. Historikertag in Erfurt in 1937; see Jürgen Elvert, Geschichtswissenschaft, in: Franz-Rutger Hausmann (ed.), Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich, 1933–1945, Munich 2002, pp. 87–135, here p. 123. 72 Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut, pp. 636–937. There already exists a substantial literature on the discipline of history under the dictatorship; see, for example, ­Michael Salewski, Geschichte als Waffe. Der nationalsozialistische Mißbrauch, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte 15.  1985, pp.  289–310; Adam Wandruszka, National­ sozialistische und “Gesamtdeutsche” Geschichtsauffassung, in: Karl Dietrich Bracher and Leo Valiani (eds.), Faschismus und Nationalsozialismus, Berlin 1991, pp. 137–150; W ­ infried Schulze and Otto Gerhard Oexle (eds.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt 1999; Ursula Wiggershaus-Müller, Nationalsozialismus und Geschichtswissenschaft. Die Geschichte der Historischen Zeitschrift und des Historischen Jahrbuchs von 1933–1945, Hamburg 1998.

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cal writing since the early nineteenth century. And as Frank-Lothar Kroll has shown, more or less elaborate “philosophies” of history were an important ingredient in the political thought and praxis of many leading National Socialists.73 Adam Tooze’s thought-provoking juxtaposition of Gustav Stresemann with Adolf Hitler illuminates how stark the contrast between a conventionally “historical” understanding of the past and one centred on racial destiny could be.74 Hitler and Stresemann were exponents, as Tooze shows, of diametrically opposed understandings of what history, and specifically economic history, meant. Stresemann, the author of a doctoral dissertation on the Berlin beer industry, embraced the idea of an economic history driven by the heterogeneous stresses of  a globalised economy.75 Even an industry as localised in its sourcing as beer brewing was susceptible, he argued, to the fluctuations of the global system. For Stresemann, an annexationist during the First World War, Germany’s interest lay in securing dependable access to a continental market large enough to allow it to compete in terms of economies of scale with the United States. By contrast, Hitler visualised an economy sufficient unto itself, securing by conquest the resources it needed, autarchic, immune to international pressures. While Stresemann sought access to markets and consumers, in order, as it were, to insert Germany under the most advantageous terms in the “history” of the economic future, Hitler wanted (in the east) to exterminate the consumers and to populate their evacuated lands with Germans. Far from being the objects (or even the subjects) of international market forces, the Germans would create a history-proof self-sustaining millennial production system of their own. The völkisch ideologue Hermann Wirth (1885–1981), founder of the SS-Ahnen­ erbe, wrote in 1928 of how  a reawakening Nordic racial consciousness would lead to “a redemption from the otherwise inexorably encroaching total mechanisation and materialisation, from the mammonism with its cult of the moment, which we know as ‘world economy’”.76 What we see here is a violent rejection of heteronomy, of an order in which the nation is forced to live within someone – or something – else’s time. For the Germans under Hitler, the road out of history was to lie in the virtually limitless expansion of biological space, the conquest of Lebens­raum. The Volk would flow out across the European plain, suspending the operations of Weltwirtschaftsgeschichte, precipitating the Germans at the end of history and the beginning of the unruffled, ethnographic, millennial time of the Third Empire.77 73 Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1991. 74 Adam Tooze, The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006, pp. 3–12. 75 On Stresemann, see also Tom Reichard’s article in this volume. 76 Hermann Wirth, Vom Mythos und magischen Denken, Jena 1928, p. 22. 77 For some interesting reflections on the relationship between National Socialist spatiality and the regime’s temporality, see Alon Confino, Why Did the Nazis Burn the Hebrew ­Bible?, in: Journal of Modern History 84. 2012, pp. 369–400, esp. pp. 381 f.

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V. Back to the Future Traces of the same re-patterning in temporalities can be seen in Hitler’s modus operandi as  a politician. He did not work in the incremental manner we associate with modern statesmen, weighing up options and working with what appeared feasible in a given situation; instead he oriented himself towards endstates, vanishing points at which all the demands of the present could be presumed to have resolved themselves. Hitler’s political calculus was not founded on probabilistic predictions  – which operate around the categories of contingency and presume factors beyond the control of the calculator – but on prophecy. Whereas prediction represents the projection into the future of a noncyclical, stochastic historical time in which numerous possible risks and gains have to be weighed up, prophecy, as Reinhart Koselleck observed, draws no fundamental distinction between past, present and future; it anticipates an end that is already given; it is posited upon the projection of millennial time into a foreordained future.78 Hitler often referred to himself as a prophet, most famously on 30 January 1939, when he “prophesied” the extermination of European Jewry in the event that the Jews were to plunge the states of Europe into “another world war”, by which he meant a war involving the United States. This promise, to which Hitler repeatedly returned, has drawn much attention from historians of the Holocaust, because it appears to account for the escalation in mass murder from ­August 1941, when Churchill and Roosevelt signed the Atlantic Charter and the subsequent transition to a policy of continental extermination after December, when the United States entered the war. There was, of course, an element of primitive blackmail in Hitler’s formulation. But the fact that he chose to articulate the threat through “prophecy” is striking nonetheless. By framing the matter in this way, Hitler aspired to make it possible to experience the future as something ordained and inherited.79 The “redemptive antisemitism” of the Nazi regime was itself  a form of inverted prophecy operating in a millennial time frame.80 The promise given in Paul’s Letter to the Romans that the Jews would ultimately be restored to Christ 78 On prognosis and prophecy and the difference between their implicit temporalities, see for example Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: id., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, pp. 17–38. 79 On the significance of this prophecy for Hitler’s decision to embark on the extermination of European Jewry, see Tobias Jersak, Kriegsverlauf und Judenvernichtung. Ein Blick auf Hitlers Strategie im Spätsommer 1941, in: Historische Zeitschrift 268. 1999, pp. 311–374, esp. pp. 339 f. and p. 373. 80 The term was coined in Saul Friedländer, The Years of Persecution. Nazi Germany and the Jews, 1933–1939, New York 1998; for a useful discussion, see A. Dirk Moses, Redemptive Antisemitism and the Imperialist Imaginary, in: Christian Wiese and Paul Betts (eds.), Years of Persecution, Years of Extermination. Saul Friedländer and the Future of Holocaust Studies, London 2010, pp. 233–254. On antisemitism as the inversion of Pauline prophecy, see

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had long been taken to support the millenarian expectation that a Jewish conversion en masse would usher in the end of days. But this presumption of an intimacy between the Jews and salvation, a highly influential theme in seventeenth and eighteenth-century German theology, was secularised and in­verted in the nineteenth, when the view gained ground that the Jews would bring about the end of days only in a secular and negative sense – hence Treitschke’s in­verted Pauline slogan: “Die Juden sind unser Unglück.” In general, the Nazi movement exhibited prophecy’s traditional preference for final states of affairs, for the painting and realisation of Endzeit scenarios  – Endkampf, Endlösung, Endsieg.

VI. Supersessions It is striking that Goebbels chose 14 July 1933 to announce that the NSDAP was now the only legally constituted party in Germany. In a radio speech announcing the anti-Jewish boycott on 1 April, he had declared that “the year 1789” could now be “expunged from the history books”.81 His confidence that one could empty out and substitute the meaning of a date, thereby unmaking the past, was characteristic of the supersessionist temporality of a regime obsessed with anniversaries, the recurring markers of its own brief history. By investing the red-letter day 14 July with new meanings, Goebbels implied, one could overcome, supersede, an abandoned past. And it is interesting in this connection to recall  a comment from Goebbels’ commentary on the Berlin Revolutionsmuseum. The “most interesting and valuable object of all [those on display]”, he observed, “priceless for any collector, was a laissez-passer from Paris to Nice dated 25 Ventose of Year 5 (1794) of the French Republic and bearing the signature of Robespierre”.82 This document had been pillaged by the SA from the Communist headquarters at the Liebknecht House. Overcoming the French Revolution meant not only breaking with the idea of rights, individual liberty and political citizenship associated with the great Revolution in its opening phase, it also meant escaping from a kind of time – a

Christopher Clark, “The Hope of Better Times”. Pietism and the Jews, in: J­ onathan Strom et al. (eds.), Pietism in Germany and North America, 1680–1820, Farnham 2009, pp. 251–270, esp. pp. 269 f. 81 Joseph Goebbels, Radio speech on the anti-Jewish boycott, 1.4.1933, transcribed in Wolfgang von Hippel (ed.), Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die Französische Revolution im deutschen Urteil von 1789 bis 1945, Munich 1989, pp. 344 f. Goebbels would make the same claim again on 2 September at the Nuremberg Party Rally, see Karl Dietrich Bracher et al., Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Cologne 1960, p. 7. 82 Goebbels, Spiegel des Grauens.

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régime d’historicité – that had been inaugurated, or at least whose advent had been accelerated, by the events in France. More than any other event in modern times, Peter Fritzsche has argued, drawing on the arguments of Reinhart Koselleck, the French Revolution made possible the idea of history as a “continual iteration of the new”, as a runaway train, as a sequence of non-foreordained “moments” or “events” that, because they are not anchored in a cyclical temporal structure, can play through at any speed.83 One can argue about the extent to which the foundations for this transition had already been laid down before the revolution, but the place of the revolution in accelerating it seems beyond question. In the context of the three totalitarian regimes, then, National Socialist temporal awareness appears rather distinctive. Underlying the dictatorship’s vision of its place in time was a radical rejection of “history” and a flight into deep continuity with a remote past and a remote future. It would be ludicrous to suggest that this amounted to a homogeneous period temporality or that the temporal awareness we have been exploring was equally valid at all times and for all groups and individuals. Recent research on temporality has stressed the plurality of contemporaneous chronoscapes and the difficulties elites faced in attempting to suffuse societies with their own temporal awareness.84 It may well be, moreover, that the attachment to continuum time was more forcefully articu­ lated at some moments than at others (the opening phase of the Hitler dictatorship, for example, or the apocalyptic years after Stalingrad).85 But even a very cursory survey suggests that the regime’s rather diverse efforts to project its location in time – notwithstanding the “ideological polycentrism” of its leadership – reflected an intuitive grasp of the same fundamental chronoscape.86 To be sure, the regime derived some of its charisma from its ability to align itself with “themes of modernization and industrial progress”.87 There was no fundamental break with modernity; it was rather that the linear energies of pro­ ductivization and force maximisation were projected into a larger, non-linear temporality. And this was the chronoscape that in turn endowed what came 83 Peter Fritzsche, Stranded in the Present. Modern Time and the Melancholy of History, Cambridge, MA 2004, esp. p. 201 and p. 212. 84 Paul Glennie and Nigel Thrift, Reworking E. P. Thompson’s “Time, Work-Discipline and Industrial Capitalism”, in: Time and Society 5.  1996, pp.  275–299; Dieter Langewiesche, “Postmoderne” als Ende der Moderne?, in: Wolfram Pyta and Ludwig Richter (eds.), Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, Berlin 1998, pp. 331–347, here p. 336; Ernst Wolfgang Becker, Zeit der Revolution! Revolution der Zeit? Zeiterfahrungen in Deutschland in der Ära der Revolution 1789–1848/49, Göttingen 1999. 85 I am grateful to Ulrich Herbert for a suggestion to this effect in response to an earlier version of this article presented at the Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) in 2010. 86 Kroll, Utopie als Ideologie, p. 19. 87 Maier, Politics of Time, p. 162. On the complex issue of the relationship between National Socialism and modernity there is now a vast literature but see Riccardo Bavaj, Die Ambivalenz der Moderne im Nationalsozialismus. Eine Bilanz der Forschung, Munich 2004.

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to be the ultimate and definitive objectives of the regime – the destruction of ­European Jewry, the murder and enslavement of Slavs, the biologisation of poli­ tics, the extirpation of the socially and sexually deviant, the construction of vast neo-classical edifices and the acquisition of continental Lebensraum – with “meaning and legitimacy”.88 Herein lies the most fundamental difference between the German and the Italian dictatorships. Italian Fascism, like National Socialism, aimed to transform the lived relationship between past and present. As Joshua Arthurs has shown, the excavation of ancient structures in the Italian capital was intended not to preserve  a bygone past, but rather to “blur the spatial and temporal boundaries between Roman antiquity and fascist modernity”. The antique and renaissance pasts were to be mobilised in the service of fascist counter-modernism, with ancient Rome as “a dynamic vital force, to be enacted in the pres­ ent”.89 The analogies between the “hybrid” temporalities of National Socialism and Italian Fascism are undeniable, but the difference is surely more important, namely, that whereas the fascist regime projected these chronopolitical manipulations onto a temporality whose logic remained essentially historical, linear and modernist, the German regime adorned itself with modern attributes but articulated its ultimate and defining claims in terms of an ahistorical, racial continuum-time. An exploration of the deeper reasons for this difference must lie beyond the margins of this essay, but its traces can be seen in virtually every sphere of the two regimes’ activities.90 One closing thought on the images reproduced above of the Berlin Revolutionsmuseum, the only ones ever to have surfaced that show us the exterior and interior of the institution: The postcards on sale within the museum itself 88 See the question posed by Alon Confino: “What was the imagination of time and history that gave meaning and legitimacy to this radical spatial policy?”, in: id., Why Did the Nazis Burn the Hebrew Bible?, p. 381. 89 For  a brilliant discussion of the place of Roman antiquity in fascist chronopolitics, see Joshua Arthurs, The Excavatory Intervention. Archaeology and the Chronopolitics of Roman Antiquity in Fascist Italy, in: Journal of Modern European History 13. 2015, pp. 44–58, here p. 47 and p. 53. 90 Possible reasons include divergent attitudes to the era of nation-building: whereas the ­Italian fascists seem to have been reluctant to jettison the historicist romance of the Risor­ gimento, the Nazis denigrated the nineteenth century as  a liberal “epoch of decline”. On this contrast, see Esposito and Reichardt, Revolution and Eternity, p. 40. Defeat and political unrest in 1918–1919 may have disturbed traditional historicist assumptions to an extent that was never quite matched in Italy. The special place of the Catholic church in fascist ­Italy (and Rome in particular) may be another factor. For illuminating reflections on the rivalry between Catholic liturgical and fascist public representations in early 1930s Rome, see Richard J. B. Bosworth, L’Anno Santo (Holy Year) in Fascist Italy 1933–1934, in: European History Quarterly 40. 2010, pp. 436–457. Fascist chronopolitics were not static, and the “racial turn” of 1938 may have brought about a partial convergence with National Socialism; see Joshua Arthurs, Excavating Modernity. The Roman Past in Fascist Italy, Ithaca 2012, pp. 125–150.

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were collected and archived by the British archaeologist Osbert G. S. Crawford (1886–1957), who visited Berlin in September 1934.91 Crawford also took several photographs that allow us to reconstruct the environment around the museum. Sadly, Crawford’s papers were largely destroyed by fire during the Southampton Blitz, so that we lack any commentary or journal entries that might tell us about his motivations in making and archiving these images. Yet there is reason to suppose that Crawford was alert to the nuances of these efforts by the SA to discipline time. Crawford had been an observer in the Royal Flying Corps during the First World War, when it was his task to photograph enemy lines from the exposed rear seat of a Bristol fighter. While he was engaged in this work, he noticed the faint lines etched into the landscape behind the entrenchments whose systematic study by means of aerial photography would revolutionise British archaeology in the interwar period. It was to present the results of his work to German archaeologists that Crawford travelled to Berlin in 1934. Crawford had no sympathy for National Socialism as a regime, but he was interested in the efforts of men like Hahne to capture and catalogue the remnants of the deep past and he viewed everything with the archaeologist’s interest in layers. Among the photos he took in Berlin that year are poignant images of painted communist graffiti peeping irrepressibly through Nazi whitewash on the walls and fences of the city’s working-class districts. Perhaps the temporal manipulations of the Revolutionsmuseum caught his eye. Why else would a visiting British archaeolo­ gist have photographed for his archive a bill-poster urging Berliners to attend the exhibition of a “superseded era”?

91 On O. G. S. Crawford, see Kitty Hauser’s superb study Bloody Old Britain. O. G. S. Crawford and the Archaeology of Modern British Life, London 2008. I am grateful to Dr. Hauser for drawing my attention to Crawford’s visual archive and for stimulating conversations about the significance of the images in his German albums.

Till Kössler

Von der Nacht in den Tag Zeit und Diktatur in Spanien, 1939–1975

Abstract: In the early 1960s, the Franco dictatorship undertook considerable efforts to reform and to synchronize public and private time use in Spain. It prescribed a more rational usage of time that would allow Spain to catch up with economically more advanced countries and improve public morals. However, the vocal opposition from a variety of social and interest groups as well as the failure to understand the complexity of social time ultimately forced the regime to abandon its far-flung vision. The Francoist campaign was part of larger transnational attempts to rationalize time use and its study suggests a new understanding of political authoritarianism after 1945. Im Frühjahr des Jahres 1961 ließ die politische Führung der Franco-Diktatur in der Presse eine Reihe von Bestimmungen publizieren, mit denen die Zeitstruktur des spanischen Lebens grundlegend umgestaltet werden sollte. Das Regime legte zum 1. Juni 1961 für Arbeiter und Angestellte einen früheren Arbeits­anfang und eine deutliche Verkürzung der zu diesem Zeitpunkt meist sehr langen Mittagspause fest. Parallel verfügte es eine Vorverlegung der Ladenschlusszeiten auf 18:30 Uhr und des Beginns der abendlichen Theater- und Kinovorstellungen. Neu war schließlich die Einführung einer Sperrstunde für Restaurants und Bars um 1:00 Uhr nachts. Die Spanier sollten ihre Arbeit einige Stunden zeitiger beginnen und ihren Arbeitsplatz eher als bisher verlassen, sie sollten freie Zeit am Abend gewinnen und früher zu Bett gehen. Der spanische Alltag sollte sich nach dem Willen der politischen Führung mehr am Tag und weniger in der Nacht abspielen.1 Die Bestimmungen waren das Ergebnis eines mehrjährigen politischen Ringens. Ihre Veröffentlichung entfachte sofort eine intensive öffentliche Debatte, die Zeitreformen stellten im Frühjahr 1961 das alles beherrschende innenpolitische Gesprächsthema dar. Die Reformpläne wurden »im Friseursalon, im Restaurant, in der Bar, im Café, vor dem Kino, im Bus, in den eigenen vier Wänden« kontrovers diskutiert und waren Gegenstand zahlloser Zeitungs­berichte,

1 Erste detaillierte Regelungen gelangten im Januar an die Presse, am 19. April verabschiedete der Ministerrat als formal höchstes Entscheidungsgremium der Diktatur die endgültigen Bestimmungen und am 1. Juni traten die neuen Regeln in Kraft: El horario laboral, en todas las actividades del país, es posible que se modifique en breve plazo, in: Pueblo, 12.1.1961.

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Kommentare, Leserbriefe und satirischer Darstellungen.2 Einen besonderen Akzent setzte in der Nacht zum 1. Juni 1961 eine Gruppe von Künstlern, Journalisten und bekennenden Nachtschwärmern in der spanischen Hauptstadt, die emblematische Stätten des städtischen Nachtlebens wie berühmte Brunnen, Plätze und Nachtlokale aufsuchte, um sich öffentlichkeitswirksam »von den Madrider Nächten« zu verabschieden.3 Anhaltende Proteste wichtiger Bevölkerungsgruppen sowie eine Vielzahl von unerwarteten praktischen Problemen erschwerten und verzögerten jedoch immer wieder die Umsetzung wichtiger Teile der hochgesteckten Pläne und ließen im Frühjahr 1962 den Reformelan, der sich auch in medialen Werbekampagnen niedergeschlagen hatte, erlahmen. Zwar blieb die politische Regulierung von Zeit in den verschiedenen Gesellschaftsfeldern weiterhin ein wichtiges Thema, doch die weitreichenden Hoffnungen, über eine umfassende Rationalisierung und Synchronisation öffentlicher wie individueller Zeit die spanische Gesellschaft zu erneuern, traten in den Hintergrund. Die Franco-Diktatur war nicht das erste politische Regime, das öffentliche und private Zeit umgestalten wollte. Seit dem Hochmittelalter finden sich Versuche, Menschen zu einer zeitbewussten Lebensführung anzuhalten und durch den Einsatz von Uhren in die gesellschaftliche Zeitgestaltung einzugreifen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde nicht nur die Zeitmessung weiter verfeinert, sondern Zeit wurde auch auf neue Weise als form- und beherrschbare Ressource von Gesellschaften begriffen. Soziale und politische Eliten begannen Pläne einer umfassenden Rationalisierung öffentlicher und privater Zeit zu formulieren.4 Diese Bemühungen machten sich früh in der industriellen Arbeitswelt bemerkbar, fanden ihren Ausdruck aber auch in der internationalen Bewegung zur Standardisierung von Zeit. Immer mehr griffen Regierungen auch politisch in die öffentliche Zeitgestaltung ein, etwa durch die Festsetzung von Arbeitszeiten und arbeitsfreien Tagen, Schulzeiten oder die Bestimmung der Dauer des Wehrdienstes. Die Gestaltung von Zeit wurde zu einem Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Dies trifft in besonderem Maße auch auf die Kolonialgesellschaften zu, in denen die Durchsetzung einer »europäischen« Zeitordnung ein wesentliches Ziel und Mittel kolonialer Herrschaft darstellte.5

2 Madrid al dia, in: ABC, 26.4.1961. 3 El adios a las noches de Madrid, in: Pueblo, 1.6.1961, S. XX. 4 Charles S. Maier, The Politics of Time. Changing Paradigms of Collective Time and Private Time in the Modern Era, in: ders. (Hg.), Changing Boundaries of the Political. Essays on the Evolving Balance Between the State and Society, Public and Private in Europe, Cambridge 1987, S. 151–175, hier S. 156–160. 5 Siehe nur: Vanessa Ogle, Whose Time is it? The Pluralization of Time and the Global Condition, 1870s–1940s, in: American Historical Review 118. 2013, S. 1376–1402; Giordano Nanni, The Colonisation of Time. Ritual, Routine and Resistance in the British Empire, Manchester 2012; Lynn Hunt, Globalisation and Time, in: Chris Lorenz u. Berber Bevernage (Hg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders Between Present, Past and Future, Göttingen 2013, S. 199–216.

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Im 20. Jahrhundert waren es dann zunächst die neuen Diktaturen, die individuelle und kollektive Zeit einem umfassenden politischen Zugriff unterwarfen und oft in »Jahresplänen« organisierten. Diese totalitäre Gestaltung von Zeit hat in den vergangenen Jahren neue Aufmerksamkeit erfahren. Martin ­Sabrow hat etwa einen »Kult der Zeit« und den Glauben an die Beherrschbarkeit von Zeit als wesentliche Elemente totalitärer Ideologien und als eine grundlegende Gemeinsamkeit von Nationalsozialismus und Stalinismus herausgestellt, auch wenn diese im Einzelnen dann sehr unterschiedliche Zeitkulturen und Zeitcodes entwickelten.6 In ähnlicher Weise hat Roger Griffin den zentralen Stellenwert temporaler Konzepte und Metaphern im Nationalsozialismus und italienischen Faschismus herausgearbeitet. Die Faschisten wollten gegen die dekadente Zeit der liberalen Ära einen neuen historischen Anfang setzen, in dem individuelle und kollektive Zeit, Vergangenheit und Zukunft miteinander verschmelzen und die »tote« Zeit des normalen Zeitflusses aufgehoben werden würde.7 Für die Sowjetunion haben insbesondere Steven E. Hanson und Stefan Plaggenborg sehr differenziert das Ringen der Bolschewisten mit der Zeit und die Konkurrenz und Abfolge unterschiedlicher politischer Zeitmodelle analysiert. Die Bolschewisten bemühten sich nach 1917 intensiv, die ihnen durch die Zeit auferlegten Beschränkungen zu überwinden. In ihrer Herrschaftspraxis versuchten sie seit den späten 1920er Jahren ein voluntaristisches, »charismatisches« Zeitverständnis, nach dem der revolutionäre Wille in der Lage sei, sich über jegliche zeitliche Begrenzungen hinwegzusetzen, mit einer »rationalen«, tayloristischen Konzeption von Zeit als einer abstrakten, gleichmäßig verfließenden Ordnung zu versöhnen, die möglichst effizient zu nutzen sei.8 Auch in den Nachkriegsdemokratien, die bisher nur punktuell zum Gegenstand historischer Zeit­ forschung geworden sind, blieb die Regulierung von Zeit ein wichtiges Thema, wie die Debatten über Arbeitszeiten, Ladenöffnungszeiten oder jüngst über Elternzeit und Ganztagsschulen zeigen. Die These von Charles Maier, dass es, gerade auch in Abgrenzung zu den Großdiktaturen, im Verlauf der Nachkriegsjahrzehnte zu einer Entkoppelung und Flexibilisierung von öffentlicher und privater Zeit kam, stellt einen ersten Versuch dar, Entwicklungen in einzelnen Gesellschaftsbereichen aufeinander zu beziehen.9 6 Martin Sabrow, Die Zeit der Zeitgeschichte, Göttingen 2012, S. 20–26. 7 Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of  a Beginning Under Mussolini and Hitler, Basingstoke 2007, S. 180. Siehe auch Claudio Fogu, The Historic Imaginary. Politics of History in Fascist Italy, Toronto 2003, sowie Fernando Esposito u. Sven Reichardt (Hg.),­ Fascist Temporalities, München 2015 (= Journal of Modern European History 13, H. 1). 8 Stephen E. Hanson, Time and Revolution. Marxism and the Design of Soviet Institutions, Chapel Hill 1997; Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt 2006, S. 81–97. Weiterhin: Claudia Verhoeven, Time of Terror, Terror of Time. On the Impatience of Russian Revolutionary Terrorism, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 58. 2010, S. 254–273. 9 Siehe nur: Maier, Politics of Time, S. 164–171; Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt 1989, S. 103–133; Dietmar Süß, Stempeln, Stechen,

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Wie fügt sich nun die Zeitpolitik der Franco-Diktatur in diese Geschichte politischer Zeitgestaltung ein und welche weitergehenden Erkenntnisse lassen sich aus ihrer Analyse gewinnen? Im Folgenden wird argumentiert, dass eine Untersuchung der Zeitreformen der frühen 1960er Jahre etablierte Topoi der historischen Autoritarismusforschung infrage stellt und nahelegt, das Bild des Spätfranquismus als einer politisch immobilen, vergangenheitszentrierten politischen Ordnung zu modifizieren. In einer weiteren, transnationalen Perspektive gibt die franquistische Zeitpolitik Aufschlüsse über den politischen Umgang mit Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und insbesondere über die Wirkmacht, aber auch die Grenzen einer Politik der Zeitrationalisierung unter diktatorischen Vorzeichen. Damit eröffnet sich eine neue vergleichende Perspektive auf die Geschichte autoritärer Regime und liberaler Demokratien nach 1945. Es sind in besonderer Weise temporale Kategorien, die in der wissenschaftlichen Debatte autoritäre Herrschaft sowohl von totalitären wie auch von demokratischen Gesellschaftsordnungen abgrenzen. Gerade ihre radikale Ausrichtung auf die Zukunft sowie eine damit in Verbindung stehende Dauermobilisierung der Bevölkerung im Zeichen einer epochalen Knappheit an Zeit wird als ein definierendes Merkmal der totalitären Großordnungen des 20.  Jahrhunderts ins Feld geführt. Lutz Raphael hat Nationalsozialismus, italienischen Faschismus und Sowjetkommunismus in diesem Sinne als »Beschleunigungsdiktaturen« beschrieben, die sich und ihre Bevölkerungen unter einen enormen Zeitdruck setzten und »geradezu in einen Wettlauf mit der Zeit« eintraten.10 Demgegenüber zeichnen sich nach der einflussreichen Definition des Politologen Juan Linz autoritäre Regime, als deren Paradebeispiel die Franco-Diktatur gelten kann, gerade durch eine fehlende temporale Dynamik aus, durch eine Vergangenheitsfixierung und den Versuch, gesellschaftlichen Wandel zu unterbinden. Linz charakterisiert autoritäre Staaten als statische und erstarrte Gebilde, deren »Mentalitäten« anders als die utopischen, auf die Zukunft gerichteten »Ideologien« der totalitären Staaten »näher an der Gegenwart und der Vergangenheit« angelagert seien. Autoritäre Regime entwickelten nur einen »begrenzten Utopismus«, da weitreichende Zukunftsvisionen die Integration der unterschiedlichen politischen »Familien« erschwere. Gleichzeitig begrenze die Abwesenheit eines Zukunftsprogramms den gesellschaftspolitischen Ehrgeiz der Diktaturen. Ihnen gehe es weder um die Formung »neuer Menschen« noch um die Aktivierung von Staatsbürgern, sondern um eine Entpolitisierung der Bevölkerung als Mittel der Stabilisierung traditioneller Herrschafts­strukturen.11 Zeit erfassen. Überlegungen zu einer Ideen- und Sozialgeschichte der »Flexibilisierung« 1970–1990, in: AfS 52. 2012, S. 139–162. 10 Lutz Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914–1945, München 2011, S. 228 f. 11 Juan Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes [1975], London 2000, S. 159–262, hier insb. S. 162–168. Zur Debatte um den Franquismus als autoritäres Regime immer noch lesenswert: Walther L. Bernecker, Spaniens »verspäteter« Faschismus und der autoritäre »Neue Staat« Francos, in: GG 12. 1986, S. 183–211.

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Die maßgeblichen historischen Darstellungen der Diktatur Francos (1936– 1975) schließen an diese Deutungen an.12 Spätestens nach dem Ende einer ersten schwach totalitären Phase des Regimes, die mit dem alliierten Sieg im Zweiten Weltkrieg endete, sei die politische Agenda Francos vorrangig auf die Verhinderung sozialen Wandels, die Bewahrung sozialer Hierarchien und die Stabilisierung überkommener autoritärer Werte und Normen ausgerichtet gewesen. Eine begrenzte gesellschaftspolitische Innovationskraft wird lediglich einer kleinen Gruppe von »Reformern« zugeschrieben, die in den 1960er Jahren zu Zugeständnissen gegenüber Forderungen aus der Bevölkerung etwa in Hinblick auf die Pressezensur und das Vereinsrecht bereit war, um die politische Ordnung zu stabilisieren.13 Vor diesem Hintergrund hat sich die Forschung bislang vor allem für die Konflikte zwischen dem erstarrten Regime und einer sich seit den 1950er Jahren rasch in Richtung einer urbanen Massenkonsum­ gesellschaft verändernden Gesellschaft sowie neuen zivilgesellschaftlichen Oppositionsbewegungen interessiert. In eine solche Sichtweise auf die Franco-Diktatur lassen sich die Zeitkampagne und die Zeitreformen der späten 1950er und frühen 1960er Jahre allerdings nur schwer integrieren und müssen unverständlich bleiben. Wieso investierte die franquistische Führung so viel Energie in ein politisches Projekt, das die traditionelle Gesellschaftsordnung grundlegend transformieren wollte und sich dabei mit dem Widerstand auch von wichtigen Unterstützerkreisen des Regimes konfrontiert sah? In einer weiteren Perspektive legen nicht nur diese Widersprüche, sondern auch Tendenzen der neueren politologischen Autoritarismusforschung eine erneute Beschäftigung mit dem Franquismus nahe. Angesichts der anhaltenden Erfolge autoritär verfasster Regime in vielen Ländern und Weltregionen der Gegenwart und ihres oft bedeutenden Rückhalts in der Bevölkerung hat die Forschung die einseitige Identifizierung von Autoritarismus mit Traditionalismus und Stagnation fallen gelassen und versteht autoritäre Regime nicht länger als einen historischen Anachronismus, sondern als eigenständige Variante moderner Staatlichkeit.14 In dieser Perspektive gewinnt die Frage nach der Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Franco-Diktatur, ihrer Zukunftsentwürfe und Gesellschaftspolitik ein neues Interesse. 12 Raymond Carr u. Juan Pablo Fusi, España, de la dictadura a la democracia, Barcelona 1979; Stanley Payne, The Franco Regime 1936–1975, Madison 1987; Borja de Riquer, La dictadura de Franco, Barcelona 2010; Antonio Cazorla Sánchez, Fear and Progress. Ordinary Lives in Franco’s Spain, 1939–1975, Oxford 2010; Walther L. Bernecker, Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert, München 2011, S. 177–267; Michael Richards, After the Civil War. Making Memory and Re-Making Spain since 1936, Cambridge 2013. 13 Carme Molinero u. Pere Ysás, La anatomía del franquismo. De la supervivencia a la agonía, 1945–1977, Barcelona 2008; Antonio Cazorla Sánchez, Order, Progress, and Syndicalism? How the Francoist Authorities Saw Socio-Economic Change, in: Nigel Townson (Hg.), Spain Transformed. The Late Franco Dictatorship, 1959–1975, Basingstoke 2007, S. 97–117. 14 Siehe nur: Holger Albrecht u. Rolf Frankenberger, Autoritäre Systeme im 21. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Autoritarismus Reloaded. Neuere Ansätze und Erkenntnisse der Autokratie­

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I. Stilllegen und Aufholen Zeitliche Deutungsschemata prägten seit dem 18. Jahrhundert die Selbst- und Fremdwahrnehmung Spaniens. Spanien zeichnete nach Meinung in- wie ausländischer Beobachter nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Distanz zu den fortgeschrittenen Ländern Nordwesteuropas aus. Das einflussreiche Deutungsmuster der sogenannten »schwarzen Legende« kondensierte diese Auffassung: Spanien habe in der Zeit der Gegenreformation den Anschluss an die europäische Entwicklung verloren und verharre seitdem in einem Zustand des zeitlosen Stillstands. Die einflussreichen Bilder eines archaischen Spaniens konnten positiv wie negativ besetzt werden. Während Autoren der Romantik wie Washington Irving Spanien als ein ursprünglicheres, von der industriellen Moderne unverdorbenes Land feierten, beklagten liberale und progressive Denker die vermeintliche wirtschaftliche, politische und kulturelle Rückschrittlichkeit Spaniens.15 Mit der Niederlage im spanisch-amerikanischen Krieg von 1898, in dem das Land seine letzten überseeischen Kolonien verlor, rückten die Zeitdeutungen in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Reformbewegungen. Einerseits formulierten liberale Politiker und Intellektuelle Programme des Aufholens, der beschleunigten »Europäisierung« des Landes. Durch grundlegende politische und gesellschaftliche Reformen sollte Spanien zu den industriell fortgeschrittenen Nationen Nordwesteuropas aufschließen. Andererseits bildete sich auf der katholisch geprägten konservativen Rechten eine Gegenposition heraus, die eine Rückbesinnung auf die eigenen nationalen Traditionen und eine Abwendung von liberalen und der spanischen Nation vermeintlich fremden Fortschrittsmodellen forderte.16 Eine Zuspitzung erfuhren diese Konflikte in den Jahren der Zweiten Republik, in denen wechselnde Re-

forschung, Baden-Baden 2010, S. 11–17; Samuel Salzborn, Autokratie, Autoritarismus – und Demokratie? Konzeptionelle Anmerkungen zum Stand der Autokratieforschung, in: Neue Politische Literatur 57. 2012, S. 253–267; Susanne Rippl (Hg.), Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung, Opladen 2000. 15 Martin Baumeister, Diesseits von Afrika? Konzepte des europäischen Südens, in: Frithjof Benjamin Schenk u. Martina Winkler (Hg.), Der Süden. Neue Perspektiven auf eine europäische Geschichtsregion, Frankfurt 2007, S. 23–48, insb. S. 38–42; Richard L. Kagan, Prescott’s Paradigm. American Scholarship and the Decline of Spain, in: American Historical Review 101. 1996, S. 423–446; Frank Graue, Schönes Land, verderbtes Volk. Das Spanienbild britischer Reisender zwischen 1750 und 1850, Trier 1991. Als Überblick über die spanischen Debatten: Ricardo García Cárcel, La leyenda negra. Historia y opinión, Madrid 1992. Vgl. auch: José Álvarez Junco, Mater dolorosa. La idea de españa en el siglo XIX, Madrid 2003. 16 Als Überblick: Javier Moreno-Luzón, Modernizing the Nation. Spain During the Reign of Alfonso XIII, 1902–1931, Brighton 2012 [span.: Alfonso XIII. Un político en el trono,­ Madrid 2003]; Santos Juliá, Historia de las dos Españas, Madrid 2004; Antonio Moreno Juste, Las relaciones España-Europa en el siglo XX. Notas para una interpretación, in:­ Cuadernos de Historia Contemporánea 22. 2000, S. 95–133.

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gierungen der republikanisch-sozialistischen Linken ein forciertes Programm des Fortschritts (progreso) und der Modernisierung Spaniens gegen erbitterte Widerstände der katholischen und reaktionären Opposition durchzusetzen versuchten.17 Die Franco-Diktatur stand in der Tradition dieser Auseinandersetzungen, doch führte sie die alten Kämpfe nicht einfach fort. Obwohl die Vertreter des Regimes die Kritik der republikanischen Modernisierungspolitik über die Jahre des Bürgerkriegs hinweg fortsetzten, waren die Zeitdebatten der Diktatur keineswegs statisch und von Anfang an komplexer, als es das einseitige Schema von Tradition und Moderne nahelegte. Zunächst war das Regime nach der unmittelbaren Stabilisierung seiner Herrschaft bemüht, sich als neuartiges historisches Gebilde darzustellen und den Putsch Francos von den vielen Militäraufständen in der spanischen Geschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert deutlich zu unterscheiden. Francos Sieg habe in einem weltgeschichtlichen revolutionären Akt das zyklische Bewegungsmodell von Aufstieg und Dekadenz der spanischen Geschichte seit der Frühen Neuzeit durchbrochen und eine »neue Zeit« geschaffen.18 In den Jahren des Bürgerkriegs und der Frühphase der Diktatur gewannen auch eschatologische Deutungen ein gewisses Gewicht in der Selbstdarstellung des Regimes. Franco entwarf in öffentlichen Reden vielfach eine heilsgeschichtliche Deutung des Krieges und stellte seine militärischen Erfolge als ein Ergebnis göttlicher Intervention dar: wichtige Siege seien häufig an hohen kirchlichen Feiertagen errungen worden. Mit dem Aufstand gegen die Republik habe ein neuer »Heilszyklus« (ciclo de salvación) begonnen.19 Diese Deutungen bestimmten die frühen Eingriffe des Regimes in die Gestaltung gesellschaftlicher Zeit, wobei es an die seit der Französischen Revolution etablierten Muster der Umgestaltung des Kalenders und der Einführung einer neuen Zeitrechnung anknüpfte.20 Die neuen Machthaber entfernten re17 Den besten neueren Überblick bietet: Nigel Townson, The Spanish Second Republic Revisited. From Democratic Hopes to the Civil War (1931–1936), Brighton 2012. 18 J. Miquelarena, Los que no entendieron, in: ABC, 18.7.1940; W. Fernández Flores, Los forjadores del futuro, in: ABC, 18.7.1940; BOCE No. 2 de 17.3.1943, in: José Maunel Sabín Rodríguez, La Dictadura Franquista (1936–1975). Textos y Documentos, Madrid 1997, S. 26; Rede Franco, 1.4.1947, in: Fernando Díaz-Plaja, La Posguerra española en sus documentos, Barcelona 1970, S. 233. Siehe weiterhin nur zwei Reden Francos der Jahre 1942 und 1943: Franco habla al Consejo Nacional del Movimiento, 18.7.1942, in: Díaz-Plaja, La posguerra española, S. 132–138, hier S. 132; BOCE No. 2 de 17.3.1943, in: Sabín Rodríguez, Dictadura franquista (1936–1975), S. 26 f. 19 Discurso de Franco a los componentes del Frente de Juventudes, 4.10.1942, in: Díaz-Plaja, La posguerra española, S. 142–146, hier S. 143. Siehe bereits: 18 de Julio, in: ABC, 18.7.1939. Zur katholischen Mobilisierung: Mary Vincent, The Spanish Civil War as a War of Religion, in: Martin Baumeister u. Stefanie Schüler-Springorum (Hg.), »If You Tolerate This …« The Spanish Civil War in the Age of Total War, Frankfurt 2008, S. 74–89. 20 Sanja Perovic, Calendar in Revolutionary France. Perceptions of Time in Literature, Culture, Politics, Cambridge 2012; Noah Shusterman, Religion and the Politics of Time. Holidays in France from Louis XIV through Napoleon, Washington, DC 2010.

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publikanische Feiertage aus dem Jahreskalender, nahmen traditionelle christliche Festtage wieder auf und führten eine ganze Anzahl neuer Feiertage ein. Zu nennen sind hier insbesondere der Jahrestag des Kriegsbeginns, der 18. Juli, und der »Siegestag« des 1. April (Día de la Victoria). Auch der 20. November als Todestag des Gründers der spanischen faschistischen Partei, José Antonio Primo de Rivera, sowie der »Tag des Führers« (Día del Caudillo) am 1. Oktober prägten ab 1939 das spanische Kalenderjahr. Darüber hinaus etablierte die Diktatur für einige Jahre eine alternative Jahreszählung. Offizielle Briefe führten neben der überkommenen Jahreszahl Kennzeichnungen wie »Erstes Triumphjahr« (Primer Año Triunfal) 1936 oder »Siegesjahr« (Año de la Victoria) 1939.21 Schließlich löste das Regime als Teil seiner Annäherungspolitik an die faschistischen Mächte Spanien Anfang der 1940er Jahre aus einer Zeitzone mit Großbritannien und übernahm die Mitteleuropäische Zeit.22 Diese einzelnen frühen Entscheidungen grenzten das neue Regime symbolisch von der vorangegangenen republikanischen Epoche ab und präsentierten die neue franquistische Ordnung als ein sowohl in christlichen Traditionen verankertes als auch aus dem Bürgerkrieg hervorgegangenes revolutionäres Regime. Sie zeigten, dass Franco und seine Mitstreiter von Anfang an der Ordnung von Zeit politische Bedeutung beimaßen. Allerdings griffen die Maßnahmen noch nicht in die Gestaltung von Arbeitswelt und Lebensalltag ein, sie zielten nicht auf eine grundlegende Umgestaltung gesellschaftlicher Zeit. Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete einen wichtigen Einschnitt in der Selbstverortung der Franco-Diktatur in der Zeit. Neue außen- wie innenpolitische Herausforderungen legten eine temporale Neuorientierung des Regimes nahe, die den Hintergrund für die Zeitreformen der frühen 1960er Jahre bildete. Zunächst drängte die außenpolitische Lage Franco und seine Gefolgsleute zu einer neuen Thematisierung der Frage von Rückstand und Fortschritt. Nach dem Sieg der Alliierten über die faschistischen Regime in Deutschland und Italien erschien der Franco-Staat einer weltweiten Öffentlichkeit als Anachronismus, ein Umstand, der dem international geächteten Regime schmerzlich bewusst war. Angesichts von Kritik und Isolierung sah sich das Regime

21 18 de Julio, in: ABC, 18.7.1939; BOCE No. 2 de 17.3.1943, in: Sabín Rodríguez, Dictadura franquista, S. 26 f.; Bernecker u. Brinkmann, Kampf der Erinnerung, S. 152–155. Paloma Aguilar Fernández u. ­Carsten Humlebaek, Collective Memory and National Identity in the Spanish Democracy. The Legacies of Francoism and the Civil War, in: History and Memory 14. 2002, S. 121–164; Paloma Aguilar Fernández, Memory and Amnesia. The Role of the Spanish Civil War in the Transition to Democracy, New York 2002 [span.: Memoria y olvido de la guerra civil espanñola, Madrid 1996], S. 71–73. 22 Zum genauen Zeitpunkt der Einführung der Mitteleuropäischen Zeit liegen widersprüchliche Angaben in den Quellen vor. Siehe die Hinweise: Franco desfasó el horario español para sintonizar con los nazis, in: Público, 2.4.2013, http://publico.es/culturas/francodesfaso-horario-espanol-sintonizar.html; Raquel Vidales, En España, siempre con »jet lag«, in: El País, 26.9.2013.

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genötigt, der Weltöffentlichkeit seine Zeitgemäßheit zu demonstrieren und dadurch seine Existenz zu rechtfertigen.23 Weiterhin sahen sich Franco und seine Mitstreiter nach der Ausnahmesituation von Bürgerkrieg und Weltkrieg innenpolitisch einem erhöhten Druck konkurrierender Regimeflügel ausgesetzt, die zukünftige Ordnung des Staats festzulegen, zumal die Möglichkeit eines plötzlichen Todes des 1892 geborenen Franco mittelfristig eine Regelung der Nachfolge geraten erscheinen ließ. Welche Bedeutung das Thema besaß, zeigen interne Analysen am Ende der 1950er Jahre, die selbst in regimenahen Kreisen eine »exzessive Sorge um die Zukunft« feststellten.24 Die Frage nach der Zukunft der Diktatur war politisch heikel, da es innerhalb der die Diktatur tragenden Gruppen einen grundlegenden Dissens darüber gab, ob das Regime in eine konstitutionelle Monarchie einmünden oder, wie es wichtige Teile der faschistischen Falange forderten, als eine sozialrevolutionäre Diktatur ausgestaltet werden sollte.25 Schließlich legte der drohende Staatsbankrott am Ende der 1950er Jahre, der auf eine rigide Autarkiepolitik zurückgeführt werden kann, eine temporale Neuerfindung der Diktatur nahe. In dem Maße, in dem eine neue Gruppe ökonomischer Experten um den Reformer Laureano López Rodó eine grundlegende Liberalisierung der Wirtschaftsordnung für unausweichlich hielten, erwies sich die bisherige Verklärung der Diktatur als einem Endpunkt der wechselhaften spanischen Geschichte als hinderlich, da sie die Vorstellung von Veränderung und Entwicklung zumindest in der Theorie nicht zuließ. Im Angesicht der ökonomischen Krise wuchs jedoch die Dringlichkeit, Wandel auf neue Weise konzeptionell zu denken und zu begründen.26 Die ökonomische Entwicklung und der Druck seitens der neuen Wirtschaftsfachleute und auch von Unternehmern, die sich zunehmend an US-amerikanischen Vorbildern und Wirtschaftskonzeptionen orientierten, bewegten die Regimeführung in den 1950er Jahren zu einer diskursiven Neuausrichtung.27 Unter Rückgriff auf das Vokabular westlicher Modernisierungstheorien ent23 Molinero u. Ysàs, Anatomía del Franquismo, S.  3; Bernecker, Geschichte Spaniens, S. 228–235. 24 Direción general de prensa, consigna a los diarios ABC e Informaciones, 9.3.1957, in: Sevil­ lano Calero, Ecos des papel, S. 190. Siehe allgemein: Antonio Cazorla Sánchez, Order, Progress, and Syndicalism?, S.  104; ders., Fear and Progress, S.  174 f.; Franciscio Sevillano Calero, Ecos de papel. La opinión de los españoles en la época de Franco, Madrid 2000, S. 189 f.; Borja de Riquer, La dictadura de Franco, Barcelona 2010, S. 413–472. 25 Molinero u. Ysàs, Anatomía del Franquismo, S. 18–27. 26 Mary Vincent, Spain, 1833–2002. People and State, London 2007, S. 180. Vgl. auch die zeitgenössische regimenahe Darstellung: José L. Sureda, Función del estado en el desarrollo económico de España, in: Raymond Aron u. a. (Hg.), España en el desarrollo mediterráneo, Madrid 1964, S. 93–111, hier S. 111. 27 Vgl. auch: Núria Puig, La ayuda económica de Estados Unidos y la americanización de los empresarios españoles, in: Lorenzo Delgado u. María Dolores Elizalde (Hg.), España y Estados Unidos en el siglo XX, Madrid 2005, S. 181–206.

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warf sich das Regime offensiv als modellhafte Entwicklungsdiktatur. Die autoritäre Staatsordnung wurde mit der vermeintlichen Rückständigkeit Spaniens historisch begründet und damit gerechtfertigt. Das Ziel des Regimes sei es von Anfang an gewesen, so lautete nun die offizielle Darstellung, ein rückständiges Land zu Fortschritt und Wohlstand zu führen. Dynamische Zeitbegriffe wie Fortschritt (progreso), Entwicklung (desarrollo) und Transformation (transformación) fanden einen neuen prominenten Platz in Reden und Texten der franquistischen Größen. Franco argumentierte etwa im April 1964, dass »sich die­ jenigen irren, die glauben, wir seien Anhänger eines politischen Stillstands«. Und wenige Monate später erklärte er zum Jahrestag des Beginns des Bürgerkriegs: »Kein materieller und geistiger Fortschritt ist mit [dem Regime, T. K.] unvereinbar. Der Horizont der konkreten Möglichkeiten ist unbegrenzt«.28 Gerade die Rückständigkeit Spaniens erfordere es, »einen hohen Rhythmus beizubehalten, um Spanien zu erneuern«. Dazu sei auch der »Umbau (renovación) und die Verjüngung (rejuvenecimiento)« der Staatsorgane unausweichlich. Es gelte sich »dem Rhythmus, den die Gegenwart verlangt«, anzupassen.29 In einer Umkehr der politischen Zuordnungen der Vorbürgerkriegszeit, in denen die Begriffe eindeutig mit der republikanischen und sozialistischen Linken in Verbindung standen, wurden Fortschritt und Entwicklung im Verlauf der 1950er Jahre zu Projekten der Rechts-Diktatur.

II. Zeit und Gesellschaft Im Jahr 1957 verabschiedete sich das franquistische Regime von seiner langjährigen Politik der Autarkie und leitete eine Phase wirtschaftlicher Liberalisierung und Öffnung ein. Die Maßnahmen stellten eine wichtige Zäsur in der Geschichte des Franquismus dar, auch wenn neuere Studien die Grenzen und Widersprüche der ökonomischen Erneuerungspolitik betonen.30 Die Wirtschaftsreformen, das hat die historische Forschung bislang weitgehend übersehen, waren jedoch nur ein Teil  einer umfassenderen gesellschaftlichen Modernisierungspolitik. Die Regimeeliten drangen auf eine grundlegende Rationalisierung des gesellschaftlichen Lebens, durch die Spanien in die Lage versetzt werden sollte, sowohl ökonomisch wie auch politisch mit den führenden Industrienationen zu konkurrieren. Nicht nur die Wirtschaft sollte moderni28 Discurso de Franco ante el Consejo Nacional (10.4.1964), in: Díaz-Plaja, La posguerra española, S. 333–346, hier S. 344; Historia Viva, in: ABC, 18.7.1964. Siehe auch: Molinero u. Ysàs, Anatomía del Franquismo, S. 39. 29 Discurso de Franco ante el Consejo Nacional (10.4.1964), in: Díaz-Plaja, La Posguerra española, S. 344–346. Siehe auch die Hinweise in: Vincent, Spain, S. 183. 30 Die beste Studie der Entscheidungsprozesse innerhalb der Regimeelite ist die Arbeit von Molinero u. Ysás, Anatomía del Franquismo, hier S. 39–67.

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siert werden, sondern auch die gesamte Lebensführung. Die Spanier sollten die ihnen zur Verfügung stehende Zeit zum eigenen wie zum gesellschaftlichen Wohl effizienter und sinnvoller als in der Vergangenheit nutzen. Erste Forderungen, den spanischen Tagesablauf umzugestalten und eine neue Zeitordnung einzuführen, finden sich im Jahr 1953. Ein Leitartikel der führenden spanischen Tageszeitung ABC vom Oktober 1953 referierte ausführlich die grundlegende Kritik eines US-amerikanischen Ökonomen an der spanischen Arbeits- und Lebensgestaltung. Zeitung und Wirtschaftsfachmann waren sich insbesondere in der Ablehnung der mehrstündigen Mittagspause einig. Diese verringere die Produktivität der Beschäftigten, belaste in den größeren Städten den öffentlichen Nahverkehr über Gebühr, da sie täglich einen doppelten Weg zur Arbeit notwendig mache, und raube den Spaniern insgesamt wertvolle Zeit, die ihnen am Abend als Freizeit fehle.31 In den folgenden Jahren wurden die hier entwickelten Reformpläne immer wieder publizistisch erörtert und propagiert. Die vom Regime überwachten Tageszeitungen boten dabei immer auch kritischen Stimmen Raum, gerade auch auf den Leserbriefseiten, doch standen sie im Ganzen eindeutig hinter den Reformplänen. Es steht deshalb außer Frage, dass die Kampagne von Anfang an von der franquistischen Führung geleitet und von einer Mehrheit der maßgeblichen Kräfte an der Regimespitze unterstützt wurde. Daneben zählten jedoch auch große Wirtschaftsunternehmen und deren Interessenorganisationen zu den Protagonisten der Zeitreform. Industrieunternehmen wie die Madrider Textilfirma Palao plädierten ebenfalls schon 1953 in Werbeanzeigen für die Einführung einer durchgängigen Arbeitszeit (jornada continua) mit einer auf eine halbe Stunde verkürzten Mittagspause. Es sei eine »soziale Notwendigkeit« des modernen Lebens, zunächst in den urbanen Zentren »eine rationalere und gerechtere Zeitordnung« in der Wirtschaft einzuführen. Dazu gehörten im Verständnis des Unternehmens eine deutliche Trennung von Arbeitszeit und Freizeit und eine frühere Bettruhe, die durch eine Vorverlegung der Theater- und Kinoprogramme am Abend erreicht werden sollte. Das spanische Leben sollte sich weniger in der Nacht und mehr am Tag abspielen.32 In den folgenden Jahren warben insbesondere auch die einflussreichen Industrie- und Handelskammern (Cámaras Oficial de Industria) der Großstädte Barcelona und Madrid in Anzeigen und Informationsveranstaltungen für eine »Modernisierung der gegenwärtigen Arbeitszeitgestaltung« als – wie ein wohl wollender Zeitungskommentar notierte – Mittel eines »grundlegenden Wandels in der Gestaltung des Gemeinwesens«.33 Auch in den späteren Jahren gehörten

31 José María Massip, ABC en Washington. Observaciones de un Economista Norteamericano sobre ciertos aspectos de la Vidas Española, in: ABC, 23.10.1953. 32 Werbung Palao (Textil), A año nuevo ¡horario nuevo!, in: ABC, 10.1.1954. 33 Horario de trabajo, in: ABC, 7.4.1955; J. M., Crónica de Barcelona, in: ABC, 24.4.1955. Siehe weiterhin: Hacia la jornada de trabajo ininterrumpida, in: ebd., 7.2.1957; Coloquio ­sobre

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die Großindustrie sowie große Handelsketten zu den wichtigsten Unterstützergruppen der Zeitreformen. Für den Unternehmer José Fernández Rodríguez, der die große Kaufhauskette Galerías Preciados leitete, war die neue Zeitordnung zum Beispiel »logischer, rationaler und humaner« als die gegenwärtige und auch der Leiter der wichtigsten spanischen Automobilfirma SEAT, José­ Ortiz de Echagüe, sah in den Reformen »nur Vorteile«.34 Neben einer höheren Arbeitsproduktivität versprachen sie sich von ihnen eine engere wirtschaftliche Verflechtung des Landes mit den nord- und westeuropäischen Staaten. Die Frage einer Rationalisierung der Tagesgestaltung stieg in den 1950er Jahren allmählich zu einem ebenso wichtigen wie umkämpften Thema der innenund wirtschaftspolitischen Debatten auf. Einen ersten Höhepunkt erreichte die Kampagne im Sommer 1956 in einer großangelegten Artikelserie der Zeitung ABC. Unter dem Motto »Durch eine neue Zeitgestaltung zu neuen Gewohnheiten« (Nuevo Horario para Nuevas Costumbres) warb sie zwischen Juli und September für eine grundlegende Rationalisierung des spanischen Lebens. Die Zeitungskampagne ließ unter anderem Unternehmer, Wirtschaftswissenschaftler und Psychologen zu Wort kommen und kämpfte wortgewaltig für eine »rationale Zeitordnung«, um ein »aktives, aufgewecktes und in seinen Gebräuchen gesundes Spanien« zu schaffen.35 Ein wichtiges Element der Kampagne war der ständige Kontrast einer anachronistischen spanischen Lebensweise, die allein »der Faulheit und dem Müßiggang diene«, mit der effizienten und gesunden Tagesgestaltung in den USA und in Nordwesteuropa.36 Diese Gegenüberstellung findet sich auch in den folgenden Jahren immer wieder. Die der katholischen Kirche nahestehende Zeitung Ya beklagte etwa im April 1961, »dass wir uns vom Lebensrhythmus der anderen Länder Europas und unserer eigenen Tradition entkoppelt haben. Die arbeitsamen Nationen sind Nationen von Früh­ aufstehern.«37 In der Bevölkerung riefen die Vorschläge von Anfang an ein ebenso breites wie widersprüchliches Echo hervor. In einer Flut von Leserbriefen nahmen Spanier in den 1950er und frühen 1960er Jahren in häufig hitzigen Worten für oder gegen eine Reform Stellung und die führende Satirezeitschrift La Codorniz räumte der Reflektion über die neue »nordamerikanischen Zeit« (horario norteamericano) bereits in ihrem Jahresrückblick 1953 einen prominenten Platz ein. Sie entwarf das humoristische Bild eines modernisierten, amerikanisierten

horarios de apertura y cierre del Comercio, in: ebd., 2.7.1958; La reforma del h ­ orario del Comercio en Madrid, in: ebd., 16.11.1958; La reforma del horario laboral, in: ebd., 3.8.1960; Jornada laboral y horario, in: ebd., 8.12.1960. 34 Encuesta sobre el nuevo horario (1). Los Españoles, en torno a la reforma del horario, in: Arriba, 27.5.1961. Weiterhin: Encuesta sobre el nuevo horario (2), in: Arriba, 28.5.1961; Stellungnahme: Don Eduardo Barreiros, in: Sí o no al nuevo horario, Blanco y Negro, 20.5.1961. 35 Nuevo horario para nuevas costumbres, in: ABC, 1.8.1956. 36 Ebd.; Nuevo horario para nuevas costumbres, in: ebd., 3.8.1956. 37 Nuevo horario de trabajo (Kommentar), in: Ya, 27.4.1961.

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Tagesablaufs, der ein ausgiebiges Frühstück mit Toast und Rührei am frühen Morgen, aber keine Mittagspause enthielt.38 Das Interesse an einer Reform der spanischen Lebensweise war eng mit Fragen wirtschaftlichen Wohlstands sowie dem rapiden Wachstum der Großstädte verbunden. Unternehmer wie ökonomische Experten gewannen die Überzeugung, dass die spanische Wirtschaft nur dann im internationalen Wettbewerb bestehen könne, wenn es gelänge, die Arbeitsproduktivität der spanischen Beschäftigten zu steigern. Zugleich reagierten die Reformvorschläge auf die Ausdehnung der großen Metropolen aufgrund einer massiven Landflucht. Die Expansion der Vor- und Satellitenstädte verlängerte für viele Spanier die Fahrten zur Arbeitsstelle, die aufwendiger und kostenintensiver wurden, und stellte zugleich den öffentlichen Nahverkehr vor gewaltige Herausforderungen.39 Jenseits dieser ökonomischen Beweggründe für eine Neugestaltung des Tagesablaufs waren die Reformpläne aber auch in einen breiten, politisch nicht eindeutig zuzuordnenden populärkulturellen Diskurs der Beschleunigung des Lebenstempos eingebettet. Dass sich der und die Einzelne dem modernen Leben mit seinem beschleunigten Lebensrhythmus anzupassen habe und aus dieser Anpassung Befriedigung ziehen könne, war Ende der 1950er Jahre und Anfang der 1960er  Jahre ein verbreiteter Topos in Reportagen, Kommentaren und der Werbung. Werbeanzeigen hielten ihre Leserinnen und Leser dazu an, den »Rhythmus des modernen Lebens« zu übernehmen und offerierten zeitsparende Produkte wie bügelfreie Hemden oder Schnellgerichte, die auch dann, wenn »Sie Überstunden machen müssen« einen »maximalen Ertrag Ihrer Arbeitskraft« versprachen.40 Kochseiten in populären Zeitschriften offerierten Tipps für schnelle Gerichte, wie etwa den »funktionalen Salat« (ensalada funcional), die sich zeitsparend zubereiten ließen, und Reportagen und Anzeigen stellten Schauspieler und andere Prominente als Vorbilder dar, die ihre Lebenszeit effizient nutzten und die Zwänge eines engen Zeitplans zu beherrschen und zu bewältigen verstanden.41 Die populären Massenmedien vermittelten den Spaniern die Vorstellung, an der Schwelle einer modernen Welt zu stehen, die sich nicht zuletzt durch eine beschleunigte Lebensweise auszeichnete. Die neue Lebensweise sei in den fortgeschrittenen Industrienationen bereits Wirklich38 Horario español, in: ABC, 25.11.1953; Nuevo horario para nuevas costumbres, in: ABC, 3.8.1956; Auch in den folgenden Jahren stellten Artikel immer wieder die große Zahl an­ Leserbriefen und Meinungsäußerungen zum Thema heraus: La reforma del horario, in: Arriba, 17.2.1961; Resumen del año pasado, in: La Codorniz, 10.1.1954. Ähnlich schon: La­ oficina es un invento antipático y cruento, in: ebd., 3.1.1954. 39 Als anschauliche Beschreibung: Nuevo horario para nuevas costumbres, in: ABC, 3.8.1956. 40 Für die verschiedenen Werbeanzeigen siehe Parker 45, in: Blanco y Negro, 18.11.1961; Fosgluten, Reconstituyente ­Cerebral, in: Gaceta Ilustrada, 28.5.1961. Ähnlich: Fosglutén, in: Blanco y ­Negro, 16.11.1957; Duward Uhren, in: La Vanguardia Española, 11.5.1957; Nuevos Tiempos, Nuevas Profesiones, in: Blanco y Negro, 29.9.1962; Viladomin, in: ebd., 28.10.1963. 41 Ensalada funcional, in: ebd., 15.7.1961; Reportage Paquita Rico, in: ebd., 6.12.1958; Werbung Pond’s Cold Cream, in: Gaceta Ilustrada, 21.1.1961.

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keit geworden und verlange vom Einzelnen eine effiziente Gestaltung seiner Zeitressourcen. In diesem Punkt überschnitten sich die populärkulturellen Repräsentationen mit den Vorschlägen einer Neugestaltung von Arbeit und Freizeit durch das Regime, Expertengruppen und Unternehmer. In der Forschung ist Beschleunigung immer wieder als eine Grunderfahrung der Moderne und in jüngster Zeit auch als Grundstruktur moderner Gesellschaften identifiziert worden.42 Jenseits der umstrittenen Frage, inwieweit jenseits einer technischen Beschleunigung und einer Akzeleration von Kommunikation auch eine Beschleunigung sozialer Praktiken festgestellt werden kann, zeigt das spanische Beispiel sehr deutlich, dass Beschleunigung den Menschen der Nachkriegsjahrzehnte auch als kulturelle Repräsentation, als Angebot und Anforderung gegenübertrat, das eigene Leben neu zu organisieren. Die Pressekampagnen sowie die Lobbyarbeit der Wirtschaftsverbände verzeichneten bereits in den 1950er Jahren einen politischen Erfolg. Im August 1956 verfügte der Arbeitsminister nach einer Eingabe des Syndikats für das Versicherungswesen, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer zwangsweise gemeinsam organisiert waren, tatsächlich eine Neuordnung der Arbeitszeiten in dieser Branche, die unter anderem die Einführung einer durchgehenden Tagesarbeitszeit und eine gleichmäßige Verteilung der Arbeitsstunden auf die Tage im Jahresverlauf beinhaltete. Die in vielen Branchen übliche Regelung, in den Wintermonaten mehr und im Sommer weniger zu arbeiten, sollte abgeschafft werden. Das Versicherungswesen folgte damit dem Vorbild des Baugewerbes und der Praxis vieler ausländischer Firmen, in denen eine durchgängige Arbeitszeit mit nur kurzen Pausen die Regel war.43 Im September 1956 wurden zudem der Regimeführung erste Pläne vorgelegt, die Arbeitszeiten im wichtigen Bank­gewerbe zu reformieren. Diese sahen nicht nur eine zusammenhängende Arbeitszeit, sondern auch kundenfreundliche Öffnungszeiten am Nachmittag vor.44 Insgesamt kamen die Reforminitiativen vor dem Frühjahr 1961 jedoch über vereinzelte Erfolge nicht hinaus. Wie noch zu zeigen ist, hatte dies einerseits mit Widerständen in der Bevölkerung und in einzelnen Wirtschaftsbereichen zu tun. Andererseits erkannten die Reformer am Ende der 1950er Jahre zunehmend die Komplexität ihres Vorhabens, die eine übereilte Umsetzung wenig sinnvoll erscheinen ließ.45 Je intensiver sich die Reformer der Formulierung konkreter Maßnahmen zuwendeten, desto deutlicher wurde es, dass eine Zeit42 Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte? [1976], in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000, S.  150–176; Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt 2005; sowie die Einleitung zu diesem Sonderheft. 43 Nuevo horario para nuevas costumbres, in: ABC, 11.8.1956. Siehe zur Reaktion der Politik auch: J. M., Crónica de Barcelona, in: ebd., 24.4.1955; Nuevo horario para nuevas costumbres, in: ebd., 1.8.1956. 44 Nuevo Horario para nuevas costumbres, in: ebd., 6.9.1956; Nuevo Horario para nuevas­ costumbres, in: ebd., 7.9.1956. 45 Siehe La Reforma del horario del Comercio en Madrid, in: ebd., 16.11.1958.

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reform sich schwerlich auf einen oder wenige Wirtschaftsbereiche begrenzen ließ, sondern unweigerlich weitergehende, das gesamte öffentliche Leben betreffende Maßnahmen erforderte. Jede Reformanstrengung musste nicht nur die spezifischen Arbeitsbedingungen der unterschiedlichen Industriezweige berücksichtigen, sondern auch die Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsbetriebe, die Ladenöffnungszeiten des Einzelhandels, die Anfangs- und Schließzeiten der Schulen und Bildungseinrichtungen und die Zeitgestaltung von Theatern und Kinos sowie die Programmgestaltung des Radios. Ein früherer Arbeitsschluss legte beispielsweise nicht nur einen kürzeren Schultag, sondern auch eine Vorverlegung der Anfangszeiten der Kino- und Theateraufführungen nahe. Zusätzlich erschwert wurden die Reformpläne durch Überlegungen, die Arbeitszeiten je nach Branche auf solch eine Weise miteinander zu koordinieren, dass Stoßzeiten im Berufsverkehr möglichst verhindert würden. Neben diese grundlegenden Fragen trat eine Reihe praktischer Probleme, von denen das Massenphänomen der Mehrfachbeschäftigungen (multiempleos) eine besondere Bedeutung besaß. Da die Gehälter in vielen Branchen auch nach den von Hunger und Mangel geprägten Nachkriegsjahren nicht zur Versorgung einer Familie ausreichten, sahen sich viele Spanier gezwungen, mehreren Beschäftigungen gleichzeitig nachzugehen. Sie waren dabei auf eine lange Mittagspause angewiesen, um pünktlich von einer Arbeitsstelle zur anderen zu gelangen. Jeder Eingriff in die Struktur der Arbeitszeiten und des Tages­ablaufs musste diese zeitlich fein abgestimmten Arrangements jedoch notwendigerweise durcheinander bringen.46 Welche Tücken im Detail der Umgestaltung steckten, zeigte schon die Neugestaltung der Arbeitszeiten im Versicherungswesen. Bei der Einführung des durchgängigen Arbeitstages hatten die Reformer schlicht vergessen, überhaupt Pausenzeiten einzuplanen, was sofort zu heftigen Protesten der betroffenen Angestellten führte.47 Es ist angesichts des Vorbehalts in der Bevölkerung und der zahlreichen praktischen Probleme, die mit einer Zeitreform verbunden waren, wenig erstaunlich, dass die Reform­forderungen zunächst kaum praktische Konsequenzen nach sich zogen. Erst die tiefgreifende ökonomische Krise der späten 1950er Jahre und der radikale wirtschaftspolitische Schwenk des Regimes schufen eine Situation, in der die radikalen Umgestaltungspläne politisch durchsetzbar wurden.

46 J. M., Crónica de Barcelona, in: ebd., 24.4.1955; Cartas al Director. Joaquín Merino, Horario, in: Arriba, 29.1.1961. 47 Siehe die Wiedergabe eines Leserbriefs in: Nuevo horario para nuevas costumbres, in: ABC, 6.9.1956.

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III. Zeitreformen Im Februar 1957 nahm nach einer Phase interner Machtkämpfe Franco eine umfangreiche Regierungsumbildung vor und setzte eine Gruppe von TechnokratenReformern um López Rodó in Machtpositionen ein, die in den folgenden Jahren ein Programm grundlegender wirtschaftlicher Modernisierung entwarfen.48 Am 21. Juli 1959 implantierten sie mit dem Stabilisationsplan (Plan de Estabilización) ein umfassendes wirtschaftliches Reformprogramm, das unter anderem eine Währungsabwertung, eine Reduzierung des öffentlichen Defizits und eine Erhöhung der Leitzinsen zur Bekämpfung der hohen Infla­tions­rate beinhaltete. Die Politik strikter staatlicher Kontrollen der Wirtschaft wurde aufgegeben und insbesondere der Außenhandel liberalisiert. Im vorliegenden Kontext ist wichtig, dass der Eliten- und Politikwechsel seit 1957 für einige Jahre einen politischen Möglichkeitsraum öffnete, in dem die weitgreifenden Umgestaltungspläne von Wirtschaft und Gesellschaft vorangetrieben werden konnten. Vor diesem Hintergrund erarbeitete die Regimespitze im Verlauf des Jahres 1960 ein konkretes Bündel von Maßnahmen der Zeitreform, die sie zusammen mit einem detaillierten Zeitplan ihrer Umsetzung im Januar 1961 der Öffentlichkeit vorstellte. Es handelte sich um ein höchst ambitioniertes Gesamtpaket von Reformen, das alle Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche betraf und auf einen Schlag die spanische Arbeits- und Lebensordnung umgestalten wollte. Die weitreichende Absicht zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der Entwurf zumeist sehr genaue Zeitvorgaben machte und sich nur in wenigen Fällen mit der Angabe allgemeiner zeitlicher Ober- oder Untergrenzen begnügte. So sollte etwa in der Bauindustrie die Arbeitszeit generell von 8:00 bis 17:00 Uhr betragen mit einer einstündigen Mittagspause zwischen 12:00 und 13:00 Uhr. Der Unterricht an den Primarschulen hatte von 9:00 bis 13:00 Uhr und von 15:00 bis 18:00 Uhr zu erfolgen und Theater mussten die erste Abendvorstellung vor 20:30 Uhr beenden und die zweite Vorstellung vor Mitternacht. Cafés und Bars hatten um spätestens 0:45 Uhr zu schließen und der öffentliche Nahverkehr sollte um 1:15 Uhr in allen Städten seinen Verkehr einstellen.49 Das der Öffentlichkeit präsentierte Rahmenregelwerk, das Vorgaben, die detailliert aufeinander abgestimmt waren, mit einigen Elementen von Wahlfreiheit kombinierte, folgte in sehr weitgehender Weise den seit 1953 erhobenen Forderungen der Reformer. Nur hinsichtlich der Einführung einer durchgängigen Arbeitszeit, die in den 1950er Jahren den Ausgangspunkt der Debatten gebildet hatte, kam das Regime den Kritikern entgegen, indem sie den Arbeitgebern lediglich 48 Als Überblick: Bernecker, Geschichte Spaniens, S. 228–245; Molinero u. Ysàs, Anatomía del Franquismo, S. 34–39. Weiterhin: Pablo Martín Aceña u. Elena Martínez Ruiz, The Golden Age of Spanish Capitalism. Economic Growth Without Political Freedom, in: Townson, Spain Transformed, S. 30–46. 49 El horario laboral, en todas las actividades del país, es posible que se modifique en breve plazo, in: Pueblo, 12.1.1961.

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empfohlen wurde. Doch dieses Zugeständnis und auch die sachlich-bürokratische Sprache der Verlautbarungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich insgesamt um einen radikalen Entwurf gesellschaftlicher Neuordnung handelte. Mit diesen Maßnahmen knüpften die franquistischen Eliten an allgemeine Bildungsprojekte seit der Frühen Neuzeit an, die in der Gewöhnung an Zeitdisziplin und Pünktlichkeit eine wesentliche Grundlage einer autonomen, moralischen und wirtschaftlich erfolgreichen Lebensführung sahen. Dieses Programm einer Zivilisierung durch Zeitmanagement hatte im 19.  und frühen 20.  Jahrhundert besonders in kolonialen Kontexten eine herausragende Rolle gespielt.50 Franco und seine ökonomischen Experten traten mit ihren Neuordnungsplänen in Vielem in die Fußstapfen der Kolonisatoren. Im Unterschied zu früheren kolonialen Zeitprojekten ging es im Spanien der Nachkriegsjahrzehnte aber nicht länger primär um die Durchsetzung einer abstrakten Uhrenzeit und eine Gewöhnung an industrielle Arbeitsrhythmen, sondern um eine weiterreichende Optimierung und Synchronisierung gesellschaftlicher Zeit­ abläufe und Zeitpraktiken. Die Zeit-Bestimmungen wurden in der kontrollierten Medienöffentlichkeit kontrovers debattiert. Wenn die Entscheidungsträger erwartet hatten, dass der detaillierte Entwurf der öffentlichen Debatte ein Ende setzen würde, so sahen sie sich schnell getäuscht. Im Gegenteil, die Diskussionen begannen nun erst recht und machten die Zeitreform zu einem der beherrschenden, von weiten Bevölkerungskreisen intensiv diskutierten innenpolitischen Themen des Frühjahrs 1961. Eine ausführliche Berichterstattung mit zahlreichen »Meinungsumfragen« sowie eine Vielzahl von Leserbriefen, satirischen Darstellungen, Karikaturen und öffentlichen Stellungnahmen weist darauf hin, dass die Zeit­reform eine Projektionsfläche vielfältiger und widerstreitender Interessen, Hoffnungen und Befürchtungen bildete und sowohl heftige Zustimmung als auch eine grundsätzliche Ablehnung hervorrief.51 Zwar folgten Kommentatoren in der Regel der Regimelinie und sprachen sich eindeutig für die Reformmaßnahmen aus, doch berichteten die Zeitungen und Zeitschriften ebenso über abweichende Meinungen und druckten Leserbriefe ab, die die Reformen in heftigen Worten kritisierten. Die der Falange nahestehende Zeitung Pueblo publizierte beispielsweise schon am selben Tag, an dem die Pläne einer weiteren Öffentlichkeit vorgestellt wurden, einen Aufruf des Syndikats der Bankangestellten von Madrid, in dem es eine Revision der Reformpläne forderte. Weitere kritische Stellungnah­men folgten.52 Die beschränkte Pluralität der veröffentlichten 50 Siehe Nanni, Colonisation of Time; sowie die Einleitung zu diesem Sonderheft. 51 Siehe neben der Behandlung des Themas in La Codorniz etwa: Exclusivo »G. I.«. Nuevo­ horario de trabajo, in: Gaceta Ilustrada, 21.1.1961; Enrique Herreros, Nuevo horario de­ verano, in: ebd., 3.6.1961. 52 Los empleados de banca piden una revisión del nuevo horario, in: Pueblo, 12.1.1961. Auch die Zeitung selbst sah die Reformpläne kritisch: El nuevo horario, in: ebd., 14.1.1961.

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Meinung – regimekritische Stellungnahmen blieben ausgeschlossen – spiegelt die selbst in regimenahen Kreisen sehr unterschiedlichen Interessen und Erwartungen in Hinblick auf die Organisation der Zeit wider. Das Ringen um eine Neugestaltung sozialer Zeit gibt damit auch einen Einblick in die politische Stärke und Durchsetzungsfähigkeit einzelner gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Gruppen. Die Bestimmungen fanden zunächst eine ganze Reihe von Befürwortern, die in ihnen wie das Regime selbst einen Schritt zur wirtschaftlichen Leistungs­ fähigkeit, zur Förderung öffentlicher Moral und zu einer allgemeinen Verbesserung des spanischen Lebens sahen. Zwar ist der Umfang der Zustimmung angesichts der Regimeeingriffe in die Medien schwer zu quantifizieren, doch deutet eine Auswertung der vielen Leserbriefe darauf hin, dass viele Menschen sich von der Zeitreform sowohl eine bessere Gesellschaft als auch eine Verbesserung ihres eigenen Lebens versprachen. Einige konkrete Motive der Unterstützung lassen sich erkennen. Neben den bereits erörterten ökonomischen und verkehrsbezogenen Argumenten führten viele Kommentatoren ältere Topoi bürgerlicher Sozialreform ins Feld und verstanden die Reformkampagne als einen regelrechten Kreuzzug gegen die Faulheit. Ein Kommentar äußerte »die Hoffnung, dass der Spanier nach einigen Jahrhunderten des Niedergangs und der Arbeitsscheu in der nahen Zukunft eine ertragreiche Aktivität entfalten« werde und die Kolumnistin Angela C. Ionescu sah Müßiggänger, die ihre Tage »mit leerem Blick und ausdrucksloser Miene« in Cafés vergeudeten, als entmenschlicht und krank und als Symptome der spanischen Krise an.53 Die Befürworter hofften auch, durch die Zeitreformen den nächtlichen Umtrieben jugendlicher Halbstarker (gamberros) Einhalt gebieten und diese zu einer geregelten Lebensführung erziehen zu können.54 Sozialreformerische Gründe lagen auch der Unterstützung eines wichtigen Teils der katholischen Kirche für die neue Zeitordnung zugrunde. Katholische Intellektuelle versprachen sich von den Reformen vor allem segensreiche familienpolitische Wirkungen. Sie hofften, dass die arbeitenden Männer nach einem frühen Arbeitsschluss mehr Zeit mit ihren Familien verbringen und auf diese Weise das Familienleben stabilisieren würden. Zugleich würde die bessere Trennung von Arbeit und Freizeit den Spaniern mehr Zeit zur spirituellen Besinnung und Einkehr ermöglichen.55 Verfechter einer neuen Organisation gesellschaftlicher Zeit fanden sich weiterhin auch unter Akademikern, die sich von einer Rationalisierung der Lebensgestaltung zivilisatorische Fortschritte erhofften. Der Professor Alfonso García Valdecasas hielt es beispielsweise für begrüßenswert, die »in einigen Aspekten 53 Lucas Jaen, ¿Perezoso e español?, in: La Actualidad Española, 12.1.1961; Angela C. Ionescu, Los Ociosos, in: Solidaridad Nacional, 26.2.1961. 54 Cartas al Director: Horario, in: Arriba, 3.2.1961; Cartas al Director: Horario, in: ebd., 18.2.1961; El nuevo horario, in: Hoja de Lunes (Madrid), 29.5.1961. 55 La reforma del horario, in: Arriba, 17.2.1961; Un paso adelante, in: Arriba, 26.4.1961; Stellungnahme: Mario González Simancas, Sí o no al nuevo horario (II.), in: Blanco y Negro, 27.5.1961; P. Federico Sopeña, Religión. Horario y moral, in: ebd., 17.2.1962.

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irrationale« herrschende Zeitordnung zu reformieren und ein Madrider Student wurde in einer großen Reportage wie folgt zitiert: »Ich stimme den Reformmaßnahmen zu. Die neue Zeitordnung stimmt mehr mit denjenigen überein, die im Ausland herrschen und rationaler sind. […] Ich glaube zutiefst, dass [die Reformen, T. K.] zu einer besseren Nutzung der Zeit führen.«56 Die freien Abendstunden würden den Spaniern nicht zuletzt die Möglichkeit der individuellen Weiterbildung geben und insgesamt das Bildungsniveau des Landes steigern. Zustimmung fand sich auch unter Medizinern und Gesundheitsexperten, die sich von den Maßnahmen einen Beitrag zur Verbesserung der Volksgesundheit versprachen und bereits seit längerer Zeit auf die vermeintlichen gesundheitlichen Nachteile der vorherrschenden spanischen Lebensgestaltung mit einem späten Abendessen und einer geringen Schlafdauer hingewiesen hatten.57 Diesem heterogenen Lager der Befürworter standen Gruppen gegenüber, die die Reformmaßnahmen in Gänze oder aber in wichtigen Teilen vor allem aus national-kulturellen oder klimatischen Gründen ablehnten. Viele Menschen, die in den Zeitungen zu Wort kamen, befürchteten einen Verlust spanischer Eigenart durch die Anpassung an die neuen Zeitvorgaben. Ein Beispiel hierfür ist die Schauspielerin Nati Mistral, die befürchtete, dass die neue Zeitordnung »Spanien seines Charmes und seiner Persönlichkeit« berauben werde. In die Ablehnung mischten sich oft auch xenophobe Töne. Eine Leserbriefschreiberin beklagte etwa den »Eifer alles nach ausländischem Vorbild zu kopieren«.58 Jenseits einer solch allgemeinen Reformkritik lassen sich spezifische Interessengruppen identifizieren, die sich gegen die Zeitumstellung positionierten. Einhellige Ablehnung kam neben dem Einzelhandel zunächst von den Betreibern von Kinos, Theatern und Restaurants, die schwindende Besucherzahlen und damit sinkende Einnahmen befürchteten. Der Besitzer des traditionsreichen Madrider Theaters Lara, Conrado Blanco, sagte sogar den »Tod des Theaters« voraus, da die neuen Zeitvorschriften die ökonomisch notwendigen zwei aufeinander folgenden Vorstellungen am Abend unmöglich machten.59 Den vielleicht erbittertsten Widerstand gegen die Reformmaßnahmen leistete der Einzelhandel, da kleine Kaufleute und Geschäftsinhaber befürchteten, mit dem vorhandenen Personal keine durchgehenden Öffnungszeiten gewährleisten zu können und dadurch gegenüber den großen Handelsketten an 56 Stellungnahme: Alfonso García Valdecasas, Sí o no al nuevo horario (II.), in: Blanco y­ Negro, 27.5.1961. Stellungnahme: Don Cristóbal Herrero García, in: Sí o no al nuevo horario, in: ebd., 20.5.1961. Auch der Rektor der Madrider Universität, Segismundo RoyoVillanova, befand sich unter den Befürwortern: Encuesta sobre el nuevo horario (1). Los españoles, en torno a la reforma del horario, in: Arriba, 27.5.1961. 57 Stellungnahme: Don Conrado Blanco, Sí o no al nuevo horario, in: Blanco y Negro, 20.5.1961. Siehe auch: Encuesta sobre el nuevo horario (2), in: Arriba, 28.5.1961; Cartas, Más sobre el nuevo horario, in: La Actualidad Española, 8.6.1961 58 Stellungnahme: Nati Mistral, Sí o no al nuevo horario in:, Blanco y Negro, 20.5.1961; ­María del Mar Recas de González, Cartas al Director. El nuevo horario, in: ebd., 17.6.1961. 59 Sí y no al nuevo horario. Encuesta de Blanco y Negro, in: Blanco y Negro, 20.5.1961.

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Wett­bewerbsfähigkeit einzubüßen. In ihrer Wahrnehmung verschafften die Reformen Großunternehmen, großen Handelsketten und Kaufhäusern einen unlauteren Wettbewerbsvorteil.60 Ein Sprachrohr fand dieser Protest in der Falange, die mit der Reorientierung der Wirtschaftspolitik seit 1957 deutlich an politischem Einfluss verloren hatte, sich jedoch vehement gegen den ökonomischen Kurswechsel wehrte und versuchte, sich als sozialpolitisches Gewissen der Diktatur Gehör zu verschaffen.61 Die Falange griff in den Zeit-Debatten auch Befürchtungen aus Arbeiterkreisen auf, dass die neue Zeitordnung in der Praxis auf zusätzliche Arbeitsbelastung und ein höheres Arbeitstempo und damit zu einer Veränderung der Arbeitsbedingungen zugunsten der Unternehmer hinauslaufen werde. Hinzu traten weitere Bedenken, die vor allem die Frage von Überstunden und Nebenverdiensten betrafen.62 Schließlich schwangen in vielen Stellungnahmen Sorgen vor einer zeitpolitischen Privilegierung der oberen Gesellschaftsklassen mit. Eine Angestellte beklagte beispielsweise, dass sie aufgrund der neuen Arbeitszeiten im Winter ihr Haus im Dunkeln verlassen müsse, während es für die Chefs, die oft erst am späten Vormittag im Büro erschienen, »keine Zeitordnung geben würde« (para estos no hay horario).63 Und auch der Chefredakteur von Pueblo befürchtete, »dass wir für die Vermögenden Privilegien schaffen, während wir uns damit begnügen, die Übrigen [früh, T. K.] ins Bett zu schicken.«64 Zu den Gegnern der Reform zählten weiterhin Hausfrauen, die angesichts der frühen Ladenschließzeiten einen neuen Zeitdruck und einen Verlust freier, selbstbestimmter Zeit während des Tages verspürten.65 Aufmerksame Beobachter kritisierten schließlich, dass die Reformeliten vor ­a llem auf die großen Metropolen Barcelona und Madrid sähen, während sie die gänzlich anders gelagerten Probleme ländlicher Zeitgestaltung völlig ausklammerten.66 Insgesamt wurden in den Zeitdebatten immer auch Konsumenten- und Beschäftigteninteressen gegeneinander abgewogen. Erstere wurden sehr deutlich von La Codorniz formuliert, die als Sprachrohr urbaner Mittelschichten und Intellektueller wiederholt längere Ladenöffnungszeiten, einen späteren Betriebsschluss des öffentlichen Nahverkehrs sowie eine Liberalisierung der Öffnungs60 Encuesta sobre el nuevo horario (1). Los españoles, en torno a la reforma del horario, in: Arriba, 27.5.1961; La Camera de Comercio de Madrid propone que se aplace hasta octubre la implantación del nuevo horario, in: ABC, 12.5.1961. Diese Kritik wurde bereits in den vorangegangenen Jahren mehrfach öffentlich geäußert, so bei einer Anhörung in Madrid im Sommer 1958: Coloquio sobre horarios de apertura y cierre del Comercio, in: ebd., 2.7.1958. 61 Molinero u. Ysàs, Anatomía del Franquismo, S. 95–106. 62 Zusammenfassend: Loable Flexibilidad, in: Pueblo, 7.6.1961. 63 Carmen Hernández, Cartas al Director. Horario femenino, in: Arriba, 25.5.1961. Ähnlich: Cartas de los lectores: Responsabilidad y puntualidad, in: La Actualidad Española, 23.3.1961. 64 Stellungnahme: Emilio Romero, Sío no al nuevo horario, in: Blanco y Negro, 20.5.1961. 65 María del Mar Recas de González, Cartas al Director. El nuevo horario, in: Blanco y Negro, 17.6.1961. Ähnlich: Teresa Pérez, Cartas al Director. Horario, in: Arriba, 26.1.1961. 66 Remigio Perez; Cartas al Director. Más sobre el nuevo horario, in: La Actualidad Española, 8.6.1961.

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zeiten von Kinos, Theatern und Restaurants forderte. Demgegenüber stellten Zeitungen, die der Kirche oder der Falange nahestanden, eher die Rechte der Beschäftigten auf Ruhezeiten in den Vordergrund.67 Im Kern ging es um die Frage, inwieweit sich Spanien auf neue Weise als Konsumgesellschaft definieren sollte. Das hier gezeichnete Bild klar umrissener, wenn auch stark binnendifferenzierter Lager muss jedoch in einem nächsten Schritt korrigiert werden. Die­ Fronten zwischen Befürwortern und Gegnern, zwischen vermeintlich progressiven und traditionalistischen Positionen waren oft wenig eindeutig. Das Beispiel der Tourismusbranche, die gerade in den frühen 1960er Jahren eine spektakuläre Expansion erlebte und zu einem der wichtigsten neuen Wirtschaftszweige des Landes aufstieg, vermag dies zu verdeutlichen. Die Branchenvertreter sprachen sich vehement für eine Beibehaltung der überkommenen Zeitgestaltung aus, da das exotisch wirkende spanische Nachtleben für Nordwesteuropäer einen nicht zu unterschätzenden Reiz des Urlaubs auf der iberischen Halbinsel darstellte und die Touristen in Spanien gleichsam eine andere Zeitgestaltung erwarteten. Die Tourismuslobbyisten traten im Namen britischer und deutscher Touristen als Bewahrer von vermeintlichen spanischen kulturellen Traditionen auf.68 Auch einzelne Argumente für oder gegen die Zeitreformen lassen sich nicht eindeutig festen Lagern zuordnen. Wie gezeigt, sahen viele Kommentatoren in der Förderung des Familienlebens ein wichtiges Argument für eine Neugestaltung der Arbeitszeiten. Das Familienleben konnte jedoch auch umgekehrt gegen die Reformen in Stellung gebracht werden. Ein Leserbriefschreiber befürchtete etwa eine Schwächung familiären Miteinanders, da die Reformen keine Zeit mehr für ein gemeinsames Mittagessen vorsahen.69 Ähnlich widersprüchlich fiel die Bewertung der Reformpläne hinsichtlich ihrer Folgen für die ab­ hängig Beschäftigten aus. Neben der Ablehnung der Pläne als Schritt zu einer Steigerung des Leistungsdrucks am Arbeitsplatz gab es aus dem Umfeld der Falange auch Stimmen, die neue Freiheitschancen für die Arbeiter erkannten. Der freie Abend biete erstmals der Masse der Bevölkerung Raum und Zeit für die i­ndividuelle Selbstentfaltung durch Kultur und Bildung. Zudem bedeuteten frühe Anfangszeiten von Theatern und Kinos eine Demokratisierung des Nachtlebens. Abhängig Beschäftigte, die stets früher als andere Gesellschaftsgruppen mit der Arbeit beginnen müssten, würde es erstmals unter der Woche 67 Horario Disparatado, in: La Codorniz, 12.6.1955; Un problema: El del pequeño comercio, in: ebd., 25.6.1961; Horario. El de los bancos, in: ebd., 16.7.1961; Un servicio: El del »Metro«, in: ebd., 27.5.1962. Dagegen siehe F. J. Martín Abril, Horas de oficina, in: La Familia Cristiana, Juni 1961. 68 El nuevo horario, in: Pueblo, 14.1.1961; Una charla. La del nuevo horario, in: La Codorniz, 18.6.1961. Das Argument abschwächend: El nuevo horario, in: Hoja de Lunes (Madrid), 29.5.1961. 69 España habla del nuevo horario, in: La Actualidad Española, 23.2.1961. Siehe auch F. J. Martín Abril, Horas de oficina, in: La Familia Cristiana, Juni 1961.

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möglich sein, kulturellen Veranstaltungen beizuwohnen.70 Schließlich war auch die kirchliche Position nicht einheitlich. Einige Geistliche argumentierten gegen ihre Glaubensgenossen für eine Beibehaltung der bestehenden Tagesgestaltung, da sie den Menschen mehr Ruhepausen im Tagesverlauf ermögliche und damit den Alltag entschleunige.71

IV. Widerstände und Kompromisse Die intensiven Auseinandersetzungen des Frühjahrs 1961 führten im Ergebnis zu einem unausgesprochenen Kompromiss in der Umsetzung der Reformgesetzgebung. Einerseits traten die Reformen wie geplant am 1. Juni in Kraft, andererseits machte das Regime den Gegnern einer Neuordnung deutliche Zugeständnisse. Schon im endgültigen Erlass des Innenministers vom 19. April 1961 modifizierte das Regime seine ursprünglichen Pläne leicht im Sinne größerer Wahlfreiheit. So nahm es etwa für den Bankensektor die verpflichtenden Anfangszeiten am Morgen und nach der Mittagspause zurück und ließ entgegen der ursprünglichen Absicht auch unterschiedliche zeitliche Regelungen in der Unterhaltungsindustrie für die Sommer- und Wintermonate zu. Zudem rückten die Machthaber allmählich von ihrer Forderung einer flächendeckenden Einführung des durchgehenden Arbeitstags ab. Die wichtigste Änderung des Erlasses vom April bestand jedoch in der Eröffnung der Möglichkeit, durch die Berufssyndikate bei den Zivilgouverneuren der Provinzen als obersten zivilen Verwaltungsinstanzen Ausnahmen von den neuen Regelungen zu beantragen. Tatsächlich genehmigte die Regimeführung in Reaktion auf zahlreiche Änderungsforderungen im Laufe des Mai recht großzügige Ausnahmeregelungen. So wurde die Implementierung wichtiger Teile der Reformen bis in den Herbst 1961 beziehungsweise – dies betraf die Regelungen für das Abend- und Nachtleben – den Februar 1962 ausgesetzt.72 Zugleich bemühte sich die Diktaturspitze um eine rhetorische Beschwichtigung der Bevölkerung. Eine Erklärung des Presseund Informationsamtes des Ministerrats recht­fertigte am Vorabend des 1. Juni in ausgesprochen defensiven Tönen die verschiedenen Maßnahmen noch einmal mit den vermeintlichen »Anomalien« des spanischen Lebens und behauptete, dass der 1.  Juni lediglich einen ersten sachten Reformschritt, nicht aber eine »totale, gewaltsame und singuläre Umgestaltung des spanischen Lebens« bedeute. Die Reformmaßnahmen seien keine »Zwangsjacke«, sondern lediglich 70 Evaristo Acevedo, Relojes para todos, in: Pueblo, 2.5.1961; Régimen de horario, in: Arriba, 31.5.1961. 71 F. J. Martín Abril, Horas de oficina, in: La Familia Cristiana, Juni 1961. 72 Nuevo horario de trabajo. Entrará en vigor el próximo 1 de junio, in: Pueblo, 25.4.1961; Nuevos horarios de trabajo, in: ABC, 26.4.1961; Nuevo horario de trabajo y espectáculos. Se busca la concentración de las horas de descanso, in: Arriba, 26.4.1961; Los nuevos horarios serán respetado en todo el territorio nacional. in: El Alcázar, 27.4.1961.

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»Leitlinien«.73 Wie schwach das Regime seine eigene Position in Hinblick auf die Reformen einschätzte, zeigen die offenen Appelle an die Bevölkerung, freiwillig und selbstständig an der Umsetzung der Bestimmungen mitzuwirken.74 Die Zugeständnisse gegenüber den Kritikern bedeuteten jedoch keine grundsätzliche Abkehr von den weitreichenden Plänen. Nach dem ersten Reformschritt am 1. Juni ging die Diktatur in zwei Schritten daran, auch die zunächst ausgesetzten Maßnahmen zu implementieren. Zum 1.  November 1961 wurde ein neuer Arbeitstag für die Banken eingeführt, der eine durchgängige Arbeitszeit sowie längere, über die Mittagszeit hinausreichende Öffnungszeiten der Schalter umfasste. Und zum 1. Februar traten tatsächlich die neuen Öffnungszeiten für Theater und Kinos in Kraft.75 Es gelang dem Regime jedoch trotz aller politischen und rhetorischen Bemühungen weder die Kritik an den Reformmaßnahmen zum Erliegen zu bringen, noch seine Reformpläne dauerhaft umzusetzen. Blickt man auf die tatsächlichen Veränderungen, so muss von einem weitgehenden Scheitern der hochgesteckten Reformziele gesprochen werden. In den meisten Bereichen kam es nach einiger Zeit zu einer stillschweigenden partiellen oder gänzlichen Rücknahme der Neuordnung, nachdem die häufig dysfunktionalen praktischen Folgen der Reformen deutlich wurden. Die sichtbarsten Auswirkungen auf das ­spanische Alltagsleben hatten zunächst die verkürzten Ladenöffnungszeiten. Im Dezember 1961 berichtete ein Reporter von ABC über die durch die Zeit­reformen notwendige Anpassung des vorweihnachtlichen Konsumverhaltens. Die Weihnachtseinkäufe mussten in diesem Jahr zeitlich gedrängter stattfinden, was auf deutlichen Unmut seitens der Bevölkerung stieß.76 Es ist deshalb wenig erstaunlich, dass sich die Proteste gegen die neue Zeitordnung seit dem Herbst 1961 wesentlich gegen die frühen Ladenschlusszeiten wendeten.77 Die massive Kritik veranlasste das Regime, bereits nach wenigen Wochen in begrenztem Umfang einer erneuten Ausweitung der Öffnungszeiten zuzustimmen. Mittelfristig erlaubte es dann stillschweigend, zu der alten Zeitordnung zurückzukehren. Die wichtige Kaufhauskette El Corte Inglés stellte zu Weihnachten 1965 beispielsweise wieder auf die alten Öffnungszeiten mit einer langen Mittagspause und einer spä-

73 Zitate: No variará el horario de los cafés, bares y cafeterías, in: Arriba, 30.5.1961; El nuevo horario, in: ebd., 6.6.1961. Zur Verteidigungsstrategie siehe: El cambio de horario no significa una violenta mutación de la vida española, in: Pueblo, 30.5.1961; Razones, Propósitos y aplicación del nuevo régimen horario, in: ABC, 31.5.1961. Ähnlich: Régimen de horario, in: Arriba, 31.5.1961; Razones del nuevo horario de trabajo, in: ebd., 3.6.1961. 74 El Cambio de horario no significa una violenta mutación de la vida española, in: Pueblo, 30.5.1961. 75 A causa del nuevo horario, in: ABC, 4.11.1961, En los teatros no oficiales seguirán las dos funciones diarias, in: ebd., 7.2.1962. 76 Madrid al día, in: ABC, 12.12.1961. Zur Umsetzung siehe auch schon: El nuevo horario. Un paso mas de la libertad, de acuerdo con el interés general, in: ebd., 15.6.1961. 77 Ebd.; Un Problema. El del pequeño comercio, in: La Codorniz, 25.6.1961.

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ten Schließzeit um 21:00 Uhr um.78 Es bleibt unklar, wer genau die Entscheidung zur Rücknahme traf. Doch ist zu vermuten, dass sowohl der Unmut der Verbraucher als auch eine hartnäckige Lobbyarbeit des Einzelhandels zu dem Ergebnis beitrugen. Auch im Kulturbereich bewirkten die Änderungen keinen dauerhaften Wandel. Zwar verlegten die Madrider Theater und Kinos im Februar 1962 den Aufführungsbeginn des Spätprogramms zunächst von 23:00 Uhr um eine halbe bis eineinhalb Stunden nach vorne. Diese Veränderungen wurden aber schon nach wenigen Monaten von den meisten Unternehmen zurückgenommen. Bereits nach einem Jahr war ein Großteil der Theater wieder zu den alten Anfangs­ zeiten zurückgekehrt, während sich in den Kinos eine nur geringfügig frühere Anfangszeit um 22:30 Uhr etablierte.79 Im Bankensektor zeigten sich vielleicht am anschaulichsten die von den Verantwortlichen oft nicht einkalkulierten Probleme der Umsetzung. Bereits kurz nach der Einführung der neuen Arbeitszeiten Anfang Dezember 1961 stellte La Vanguardia Española aus Barcelona ein irritierendes Nebeneinander von mindestens drei unterschiedlichen Formen der Arbeitszeitgestaltung in den Banken fest.80 Einige Institute hatten die neue Zeitordnung vollständig übernommen, andere hatten sich auf einen »intensiven«, das heißt lediglich halbtägigen Arbeitstag verständigt, während schließlich eine dritte Gruppe, darunter die wichtigen baskischen Banken, bereits nach wenigen Wochen wieder vollständig zur alten Zeitordnung zurückgekehrt war. Am 10. Dezember stellte die gleiche Zeitung fest, dass in Barcelona die Zeitreform »praktisch gescheitert [sei], aber ohne dass dies [offen, T. K.] ausgesprochen wird«.81 Ein wesentlicher Grund für dieses Scheitern lag darin, dass weder das Regime noch die Banken selbst Vorkehrungen hinsichtlich der Verpflegung der Angestellten in der verkürzten Mittagspause getroffen hatten. Es existierten keine Kantinen, und die meisten Arbeitnehmer scheuten die Kosten eines Essens in Restaurants oder Bars. Die katalanische Zeitung sprach unverhüllt ein Phänomen an, das die gesamte Umsetzung der Zeitreform gerade auch außerhalb der Hauptstadt Madrid kennzeichnete: Von Anfang an wurden die Vorgaben stillschweigend umgangen. Es fehlten dem Regime der Wille und die Mittel, die Umsetzung der Maßnahmen flächendeckend zu kontrollieren. Noch im Jahr 1967 beschwerte sich ein Leserbriefschreiber aus der Region La Mancha darüber, dass in seiner Heimatstadt »geregelte Ladenöffnungszeiten nicht existieren«. Im Sommer hätten viele Geschäfte bis 22:00 Uhr und später geöffnet, Kontrollen seitens der 78 Werbung El Corte Inglés. Nuevo horario, in: ABC, 23.12.1965; Se prorroga …, in: La Van­ guardia Española, 30.9.1961. 79 Alle Angaben basieren auf der Auswertung der Theater- und Kinoprogramme in Hoja de Lunes (Madrid). 80 Banca madrileña. Variedad de horarios, in: La Vanguardia Española, 13.12.1961. 81 La semana económica, in: ebd., 10.12.1961.

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Arbeitsverwaltung der Provinz fanden nur äußerst selten statt.82 Die Missachtung der Vorschriften war jedoch nicht nur ein Phänomen der Provinz oder von Regionen wie Katalonien, in denen es starke anti-zentralistische Bewegungen gab. Selbst das Madrider Arbeitsministerium schenkte 1964 den Vorgaben, nach denen die Angestellten der öffentlichen Verwaltungen nicht länger als bis 19:00 Uhr arbeiten sollten, wenig Aufmerksamkeit und erklärte zum Ärger vieler Beschäftigter Arbeitszeiten bis 22:00 Uhr für zulässig.83 Insgesamt lässt sich nach dem Frühjahr 1962 ein deutliches Abflauen der Reformenphase und gleichzeitig eine Verlagerung der Zeitdebatten erkennen. Stimmen in den Medien forderten in der Mitte der 1960er Jahre, nicht länger ausschließlich über abstrakte Arbeits- und Schließzeiten zu diskutieren, sondern sich vermehrt Fragen der Arbeits- und Zeitproduktivität zuzuwenden. Ein Zeitungskommentar beklagte 1965 beispielsweise bissig: »In einem spanischen Büro zählt es mehr, pünktlich um neun Uhr den Raum zu betreten und bis zwei Uhr nachmittags die weiße Wand anzustarren, als später zu kommen und wirklich etwas zu leisten.«84 Das Abrücken des Regimes von einer grundlegenden Zeitreform muss auch vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen verstanden werden, die die Ressourcen der Diktatur seit dem Frühjahr 1962 in hohem Maße fesselten. Zunächst entwickelte sich im April eine Streikbewegung im ­asturischen Bergbau zu einem der längsten und erbittertsten Arbeitskämpfe in der Geschichte des Franquismus, dessen Bedeutung weit über die Region hinausging.85 Kurze Zeit später, Anfang Juni, demonstrierte die exilierte Regimeopposition auf einem Kongress in München eine neue Einigkeit und erreichte ein breites Echo in der internationalen Presse. Beide Ereignisse stellten die politische Legitimität der Diktatur infrage, bewirkten eine Regierungsumbildung und lenkten die politischen Energien des Regimes weg von den gesellschafts­ reformerischen Projekten. Die Zeitfragen blieben zwar dauerhaft ein Thema der öffentlichen Auseinandersetzungen, doch konzentrierten sich die Debatten seit 1962 immer mehr auf Einzelfragen. Zu unterschiedlichen Zeitpunkten der 1960er Jahre stritten Experten und Interessenvertreter etwa über die abendlichen Schließzeiten von Mietshäusern und die Arbeitszeiten von Hausmeistern (porteros) und Haus­ angestellten (empleadas de hogar). Zudem rückte immer mehr das Fernsehen als zeitgestaltender Akteur in das öffentliche Bewusstsein und Bildungsfachleute diskutierten über eine Verkürzung der langen Sommerferien der Schulen. Auch die Ladenöffnungszeiten blieben ein wichtiges Thema der öffentlichen 82 P. de A. C. Daimiel (Ciudad Real), Cartas al Director. Los horarios comerciales de Daimiel, in: Blanco y Negro, 22.4.1967. Berichte über einen Verstoß gegen die gesetzlichen Arbeitszeitbestimmungen liefen in Madrid bereits vor den Zeitreformen ein. Vgl. Archivo General de Administración, Alcalá de Henares, (14) 1.16 74/18850, Delegación Provincial de Trabajo de Ciudad Real, Memoria correspondiente al año 1960, 28.2.1961. 83 Breverías, El horario del ministro de trabajo, in: ABC, 27.5.1964. 84 José María Sanjuan, Los relojes de Europa, in: ebd., 12.9.1965. 85 Ramón García Piñeiro, Los mineros asturianos bajo el Franquismo, 1937–1962, Madrid 1990.

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Diskussion.86 Doch schreckte das Regime in allen Fällen vor einschneidenden Maßnahmen zurück. Ende der 1960er Jahre ließ es beispielsweise schnell Gerüchte dementieren, dass eine neuerliche Reform der Ladenöffnungszeiten geplant sei.87 Es liegt somit ein Bündel von Ursachen für das weitgehende Scheitern der Zeitreformen vor. Zwei Gründe für den Misserfolg der Rationalisierungspolitik stechen dabei hervor. Zunächst standen den Reformbefürwortern auch innerhalb der Trägergruppen der Diktatur einflussreiche Gegner gegenüber, die in der Regimeführung Gehör fanden und die Reformen in ihrem Sinn zu beeinflussen und einzuschränken verstanden. Darüber hinaus zeichneten sich die Reformkräfte jedoch auch durch ein völliges Unverständnis für die Komplexität gesellschaftlicher Zeitarrangements aus, wie sie sich beispielhaft in der fein abgestimmten individuellen und familialen Organisation der Mehrfachbeschäftigungen erkennen lässt. Diese Ignoranz kontrastierte merkwürdig mit den äußerst weitreichenden Neuordnungsplänen und führte zu den zahlreichen gravierenden Defiziten und Widersprüchen in der Implementierung einer neuen Zeit. Vor diesem Hintergrund schwand der Reformwille in der Praxis rasch, auch wenn die franquistische Führung ihre Ziele nie offiziell aufgab. Noch in einer anderen Hinsicht markieren die Auseinandersetzungen der frühen 1960er Jahre eine Zäsur. Parallel zu der Reformkampagne des Regimes verschafften sich kritische Stimmen Gehör, die einer Rationalisierung des individuellen Lebens wie der Gesellschaft kritisch gegenüber standen und eine neue Art der Fortschrittskritik formulierten. Sie stellten die vom Regime propagierte Verbindung von Fortschritt, Beschleunigung und Effizienz radikal infrage. Das »Tempo des modernen Lebens« wurde von ihnen nicht mehr als Verheißung intensivierten, erfüllten Lebens begrüßt, sondern mit einem Verlust an Lebensqualität gleichgesetzt. Ein Kommentar in La Vanguardia Española gedachte beispielsweise schon 1960 der »Gemächlichkeit häuslicher Gebräuche früherer Tage« und argumentierte: »Moderne heißt rennen. Aber es wäre vielleicht nützlich, den Schritt etwas zu verlangsamen. Dies wäre kein Zeichen von Müdigkeit, sondern ein Beleg von Ernsthaftigkeit«. Fünf Jahre später forderte auch Blanco y Negro in einer Überschrift, Kinder nicht dem »höllischen Tempo des modernen Lebens« auszusetzen und sie in der Kunst des Zeit-Verlierens zu unterweisen. Andere Zeitungen veröffentlichten Ratschläge, in der Hektik des Lebens »Entspannung zu lernen« und dem Leben ohne Hast und mit Geduld entgegenzutreten. Es lässt sich in der Medienöffentlichkeit auch eine neue positive Wertung eines langsamen 86 José Limón Vozmediano, Cartas al Director: Opina un portero, in: Blanco y Negro, 26.6.1965; Augusti García, Cartas al Director. Los porteros piden, in: ebd., 31.7.1965; Tele­v isión, La­ increíble competencia, in: ABC, 20.11.1966; Damián Carrillero, Cartas al Director, in: Blanco y Negro, 22.4.1967; Se estudie el nuevo horario comercial, in: ABC, 4.10.1968; Antonio Hidalgo Alarcón, Cartas al Director. Jornada laboral del servicio ­doméstico, in: Blanco y Negro, 14.12.1968. 87 No habrá, por ahora, nuevo horario comercial, in: ABC, 20.6.1968; Desmentido al rumor­ sobre nuevo horario comercial, in: ebd., 7.9.1969.

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Lebensrhythmus auf dem Land feststellen. Dort habe die »rasende Bewegung des Motorrads oder des Autos noch nicht den schläfrigen und gelassenen Trott des Esels verdrängt«.88 Die Landflucht und die Prozesse der Urbanisierung und Motorisierung, die die spanische Gesellschaft in den Nachkriegsjahrzehnten grundlegend veränderten, erschienen in dieser Perspektive als Teil einer Geschichte des Verlusts intensiv erlebter Zeit, als Abschied von Stille und Besinnung. Es ist bezeichnend, dass die Kritik nicht nur von vermeintlich traditionellen Zirkeln im Umkreis etwa der katholischen Kirche vertreten wurde, sondern auch von Gegnern der Diktatur.89 Eine Anklage der vermeintlich leeren Beschleunigung des großstädtischen Lebens und eine Feier mythischer, zeitenthobener Orte in der Stadt finden sich sowohl in Reportagen des dem Regime nahe stehenden Literaten Agustín de Foxa (1906–1959) in den 1950er Jahren wie auch in Essays des kritischen Schriftstellers Francisco Umbral (1932–2007) in den 1970er und 1980er Jahren.90 In einer längerfristigen Perspektive lässt sich an diesen Schriften ein erstaunlicher Positionswechsel feststellen. Waren »Fortschritt« und das Projekt der Europäisierung in den 1930er Jahren noch eindeutig mit dem politischen Republikanismus sowie der sozialistischen Linken identifiziert worden, so verfocht nun gerade die Rechtsdiktatur gegen Widerstände in der Bevölkerung eine Gesellschafts- und Zeitreform im Zeichen des euro­päischen Fortschritts. Demgegenüber wandelte sich die Verteidigung von Tradition, traditionellen Zeitrhythmen und der Eigenlogik von ländlichen Zeit­abläufen, ehemals ein der nationalen Rechten zugeschriebener Programmpunkt, immer mehr zu einem herrschaftskritischen Projekt, das politisch zwar nicht eindeutig zugeordnet, aber zunehmend auch mit der anti-franquistischen Opposition in Verbindung gebracht werden konnte.

V. Schluss: Zeit der Diktatur und Diktatur der Zeit Nicht nur die totalitären Regime des 20.  Jahrhunderts, auch der autoritäre Staat Francos betrachtete Zeit als eine wichtige gesellschaftliche Ressource, deren Einsatz kontrolliert und deren Ertrag optimiert werden musste. Die Diktatur versuchte aktiv die öffentliche Zeitgestaltung wie auch den privaten Zeit­gebrauch im Sinne größerer Rationalität und Effizienz zu verändern. Beein88 Prisa en esto, prisa en lo otro …, in: La Vanguardia Española, 19.2.1960; Las »Baby-Sitter« llegan a Italia, in: Blanco y Negro, 11.4.1964; André Maurois, Aprenda a descansar, in: Ya, 9.4.1961; André Maurois, No trate de ir demasiado aprisa, in: ebd., 29.4.1961; Pedro Bernardo, Un pueblo intacto, in: Blanco y Negro, 9.10.1965. 89 José del Río Sainz, La fuga del campo y el tiempo, in: La Vanguardia Española, 5.3.1955. Ähnlich: Trifon Aicua, Porqué tantos matrimonios fracasan, in: La Familia Cristiana, Juli 1961; Alfredo Merino, Domingo es siempre domingo, in: ebd., August 1961. 90 Agustín de Foxa, Madrid Aldea, in: ABC, 30.5.1954; Francisco Umbral, Teoría de Madrid, Madrid 1981.

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flusst durch Appelle der Großindustrie und von Wirtschaftsexperten machte sich die franquistische Führungsclique in den 1950er Jahren die weitreichende Zukunftsvision einer modernen, rationalen Gesellschaft zu eigen. Die spanische Gesellschaft sollte auf einen gemeinsamen, rational entwickelten Rhythmus eingeschworen werden, der das Land und seine Bewohner produktiver, gesünder, zufriedener und erfolgreicher und dadurch auch »europäischer« machen sollte. Die Zeitreformen der frühen 1960er Jahren stellten als Versuch einer umfassenden und plötzlichen Synchronisation kollektiver wie individueller Zeit den Höhepunkt, aber gleichzeitig auch den Wendepunkt einer neuen Gesellschaftspolitik im Zeichen von Rationalität und Effizienz dar. Anders als es das Konzept autoritärer Herrschaft in der Nachfolge von Linz nahelegt, war die Gesellschaftspolitik des Regimes seit den 1950er Jahren keineswegs ausschließlich auf die Verteidigung einer vormodernen politischen Herrschaftsordnung gerichtet. Das Franco-Regime verfolgte ab 1957 nicht nur eine ökonomische Modernisierung, sondern auch das Projekt einer gesellschaftlichen Modernisierung, in der westlich-demokratische Vorbilder unter autoritären Vorzeichen angeeignet wurden. In diesem Punkt lassen sich deutliche Ähnlichkeiten zu anderen diktatorischen Gesellschaftsreformprojekten des 20. Jahrhunderts erkennen, die sich gerade von einer Verschmelzung kollektiver und individueller Zeit eine bessere Gesellschaft versprachen. Das Beispiel der Franco-Diktatur zeigt, dass diese Projekte keineswegs nur auf die klassischen totalitären Regime beschränkt waren, sondern als Politik autoritärer Modernisierung verstanden werden müssen. Der von Linz eingeführte Begriff des »begrenzten Utopismus« erscheint in diesem Kontext irreführend, da es die utopische Aufladung des Projekts mit einer grundlegenden Rationalisierung von Gesellschaft verkennt und die politischen und sozialen Energien, die dieses Projekt beförderten und die es weckte, unterschätzt. Dass diese Energien politisch keineswegs eindeutig waren und sich politisch sehr unterschiedlich auf­ laden ließen, widerspricht dieser Einsicht nicht. Auch die These, Franco und seine Mitstreiter hätten es allein auf eine politische Demobilisierung der Bevölkerung abgesehen, trifft nur bedingt zu. Sicherlich wollte das Regime keine unmittelbare politische Partizipation der Bürge­rin­ nen und Bürger und unterdrückte jegliche politische Opposition entschlossen und brutal. Doch unternahm es deutliche Anstrengungen, die Spanier zu einer aktiven Teilnahme an dem Projekt einer Rationalisierung der Lebensführung zu bewegen. Gleichzeitig darf die Unterstützung nicht unterschätzt werden, die die Zeitreformen in bestimmten sozialen und politischen Milieus erhielten. In der Unterstützung spielten auch populärkulturelle Bilder beschleunigten, erfüllten Lebens eine wichtige Rolle, die über Ländergrenzen hinweg zirkulierten und als Verheißung eines besseren Lebens gelesen werden konnten. Ähnlichkeiten wies der franquistische Staat in seiner Zeitpolitik nicht nur mit den totalitären Diktaturen, sondern auch mit kolonialen und postkolonialen Gesellschaften auf, in denen zunächst die kolonialen Machthaber, später dann die postkolonialen Eliten durch eine forcierte »Europäisierung« von Zeit,

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durch die Einführung von Zeitdisziplin und Pünktlichkeit, einen zivilisatorischen Fortschritt erreichen und eine in temporalen Kategorien gedachte »Rückständigkeit« beseitigen wollten. Mit diesen politischen Führern teilten die Franco-Eliten den Glauben an die unbegrenzten Möglichkeiten einer rationalen Umgestaltung gesellschaftlicher Zeit, aber auch die Verbindung von ökonomischen Kalkülen einer Produktivitätssteigerung mit bürgerlich-sozialreformerischen Positionen, die sich von der Einführung eines rationalen Zeit- und Lebensrhythmus eine Hebung öffentlicher Moralität versprachen. In diesem Sinne nahmen die franquistischen Eliten die Rolle von Kolonisatoren des eigenen Landes ein. Anders als in den Kolonialgesellschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war die Implementierung einer einheitlichen Standardzeit im Franquismus allerdings kein herausragendes Thema mehr. Es ging nicht länger um die durch Uhren symbolisierte Durchsetzung einer abstrakten, »leeren« Zeit und auch nicht primär um die Zurückdrängung alternativer, lokaler oder milieugebundener Zeitordnungen. Und es ging auch nicht in erster Linie um die Gewöhnung der Spanier an einen industriellen Lebensrhythmus, auch wenn die massive Landflucht die neuen Stadtbewohner auch zu einer Umstellung ihrer Zeitgestaltung zwang. Vielmehr beabsichtigten die Reformen vor allem eine möglichst weitreichende, durch wissenschaftliche Expertisen unterstützte Optimierung und Synchronisation kollektiver und individueller Zeitabläufe. Die Problemlagen, denen sich die Zeitreformer gegenübersahen, waren diejenigen einer fortgeschrittenen Industriegesellschaft mit einer Vielzahl differenzierter Zeitrhythmen in unterschiedlichen Gesellschaftsfeldern. Die Zeitpolitik des Franco-Regimes reagierte auf Probleme und Herausforderungen, mit denen auch demokratische Staaten nach 1945 konfrontiert waren. Dazu zählten ein explosives Städtewachstum, ein Wandel in der Organisation industrieller Arbeit, der Durchbruch zu einer Massenkonsum- und Mediengesellschaft und die mit ihnen einhergehenden neuen Möglichkeiten der Gestaltung freier Zeit. Die einzelnen Wandlungsprozesse legten gerade im urbanen Raum eine neue politische Steuerung von Zeitabläufen nahe, etwa im Bereich des Nah- und Fernverkehrs, des Konsums, später dann auch im Bereich der staatlichen Medien. In dieser Hinsicht lassen sich deutliche Ähnlichkeiten zwischen den franquistischen Debatten und den zur gleichen Zeit diskutierten politischen Regelungen in demokratischen Staaten vermuten. Das Spezifikum der spanischen Politik bestand dabei weniger in den Gegenständen der Regulierung als in der umfassenden, radikalen Zugriffsabsicht und dem Gefühl der Dringlichkeit, mit der die Neugestaltung von Zeit für etwa ein Jahrzehnt betrieben wurde. Die franquistischen Planer wollten Spanien gleichsam über Nacht in eine Zukunft katapultieren, die sie in den demokratischen Nachbarländern bereits zu einem großen Teil verwirklicht sahen. Angesichts dieser Befunde werden die Frage des Austausches zwischen den Staaten und die Rolle transnationaler Experten – der erste Stichwortgeber der Reformen im Jahr 1953 war bezeichnenderweise ein amerika­nischer Ökonom – in Zukunft noch genauer zu bestimmen sein. Doch kann schon jetzt gefolgert werden, dass eine vergleichende Untersuchung von Zeitreformen die spanische Entwicklung

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nach 1945 näher an parallele Prozesse in westlichen Demokratien heranrückt, als dies bisherige Definitionen des Autoritarismus getan haben. Die Befunde lassen es lohnend erscheinen, die spanische Entwicklung unter dem Franquismus auf neue Weise als einen alternativen, autoritären Pfad einer gemeinsamen europäischen Nachkriegsgeschichte in den Blick zu nehmen und das Regime nicht länger als eine anachronistische Herrschaftsordnung historisch zu exotisieren. Im Rahmen einer politischen Geschichte der Zeit lassen sich anhand der franquistischen Zeitreformen die Probleme politischer Zeitgestaltung in differenzierten Industriegesellschaften erkennen. Die Implementierungsversuche machten die unterschiedlichen, in der Alltagspraxis fein austarierten gesellschaftlichen Zeitarrangements und Zeitlogiken sichtbar, deren Bedeutung und Beharrungsvermögen die Zeitplaner maßlos unterschätzt hatten. Die Reformpolitik deckte die Schwächen der Diktatur schonungslos auf, die sich als kaum in der Lage erwies, zentral gefasste Beschlüsse in eine kohärente Praxis zu überführen. Allerdings blieb die Politik des Regimes und der mit ihm verbundenen Expertengruppen nicht folgenlos. Sie bildeten vielmehr einen neuen Ausgangspunkt einer breit geführten Debatte über die Rückständigkeit, Modernisierung und Europäisierung Spaniens und des spanischen Lebens, die bis in die Gegenwart reicht und in der Wirtschaftskrise seit 2008 neue Aktualität gewonnen hat.91 Die einzelnen Elemente der Debatte zeigen eine erstaunliche Beständigkeit über die Jahrzehnte hinweg und werfen die Frage nach bisher wenig thematisierten Kontinuitäten der spanischen Geschichte über die tiefgreifende politische Zäsur der Demokratiegründung Mitte der 1970er Jahre auf. Schließlich weisen die franquistischen Zeitreformen auf einen allgemeinen Umbruch der Betrachtungsweisen von gesellschaftlicher Zeit hin. In der Abwehr der Regimepolitik gerieten allmählich die grundlegenden Ziele einer Synchronisation und Rationalisierung von Zeit in die Kritik. Seit den 1960er Jahren verlief die Frontstellung nicht mehr nur zwischen den Verteidigern traditionaler und Verfechtern »moderner« und vermeintlich rationaler Zeitkulturen, sondern immer mehr auch zwischen Rationalisierern und Verfechtern einer gesellschaftlichen Entschleunigung, die nun als ein neuer Wert in den Debatten entwickelt wurde. Die 1960er Jahre erweisen sich zumindest im spanischen Fall damit nicht nur als Jahrzehnt von Beschleunigungsverheißungen, sondern auch als Ausgangspunkt einer neuen Beschleunigungskritik, die immer auch eine Herrschaftskritik beinhaltete. Die Opposition gegen die Franco-Diktatur entzündete sich in den 1960er Jahren nicht nur an der Klassenpolitik und Repressivität des Regimes, seiner politischen Korruption und Borniertheit, sondern auch an seiner autoritären Modernisierungspolitik im Zeichen von Rationalität und Effizienz. 91 Siehe José Luis Barbería, El debate horario, in: El País, 14.12.2014; Raquel Vidales, En España, siempre con »jet lag«, in: ebd., 26.9.2013; Spain, Land of 10 P. M. Dinners, Asks if It’s Time to Reset Clock, in: New York Times, 21.2.2014; Spain Considers Time Zone Change to Boost Productivity, in: BBC News, 27.9.2013; Adiós, siesta? Spain Considers Ending Franco’s Change to Working Hours, in: The Guardian, 26.9.2013.

Alexander C. T. Geppert

Die Zeit des Weltraumzeitalters, 1942–1972*

Abstract: Through the twentieth century, the continual exploration of outer space and its imaginary colonization in science and fiction has led to a new understanding of the space-time continuum. While the physical space surrounding planet Earth was conceptualized ever more precisely, the encounter with the immensity of time has provoked less resonance. This article analyzes the temporal dimension of the Age of Space in three steps. First, it juxtaposes various ways of conceptualizing the so-called Space Age as a significant period in human history. Second, it examines orders of time inherent in West-European space thought, in particular the widespread appeal of time dilatation as seen in Eugen Sänger’s popular 1950s photon rocket scenario. Third, it charts the experience of time on board spaceships, as detailed in astronauts’ autobiographies. This article argues that the appeal of the Space Age lay not only in the promise of continued physical expansion but also in the total control over the fourth dimension envisioned for the future. L’astronautique nous fait prendre magistralement conscience de »l’espace-temps«. Albert Ducrocq, 19611

Am 26.  Februar 1958 kamen in der niedersächsischen Provinz Wissenschaftler, Politiker und Diplomaten zusammen, um in der Evangelischen Akademie in Loccum vier Tage lang über ein aktuelles Thema von weltanschaulicher * Dank gebührt den Mitgliedern der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Emmy Noether-Forschergruppe »Die Zukunft in den Sternen: Europäischer Astrofuturismus und außerirdisches Leben im 20.  Jahrhundert« am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin: Daniel Brandau, Jana Bruggmann, Ruth Haake, Tom Reichard, Tilmann Siebeneichner, Magdalena Stotter sowie – und in diesem Fall ganz besonders – Katja Rippert. Für Kritik und Kommentare bin ich zudem Thore Bjørnvig, Ralf Bülow, Paul E. Ceruzzi, ­Colin A. Fries, Till Kössler, Michael J. Neufeld und Anna Kathryn Kendrick zu Dank verpflichtet. Der Aufsatz wurde während eines einjährigen Forschungsaufenthaltes als Alfred V. Verville Fellow am Smithsonian National Air and Space Museum in Washington, DC abgeschlossen und ist Teil einer größeren Studie zur Kulturgeschichte des westeuropäischen Space Age. 1 Albert Ducrocq, L’homme dans l’espace. Les engins spatiaux de seconde génération, Paris 1961, S. 254 (dt.: Der Mensch im Weltall. Die zweite Entwicklungsstufe der Raumflugkörper, Reinbek 1963, S. 209: »Die Astronautik drängt unserem […] Bewußtsein die über­ragende Bedeutung der ›Weltraum-Zeit‹ auf.«).

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wie geopolitischer Brisanz zu verhandeln. Zum »Platzen substanzreich« sei die Konferenz gewesen, befand das Sonntagsblatt später, obwohl sie einer Sache galt, die es noch nicht gab: den »Menschen im Weltraum«. Unter den etwa 130 Teilnehmerinnen und Teilnehmern fanden sich nicht nur Theologen, darunter der Hannoveraner Landesbischof Hanns Lilje (1899–1977), sondern auch führende Raketen- und Weltraumexperten aus dem In- und Ausland. Einer der Redner, Andrew G. Haley (1904–1966), war Präsident der International Astronautical Federation (IAF) und stand damit derjenigen Organisation vor, zu der sich Aktivisten und Enthusiasten der jungen Weltraumbewegung – die sogenannten space personae – auf Betreiben der verschiedenen nationalen Amateur- und Lobbygruppen zusammengeschlossen hatten.2 Fünf Monate zuvor, am 4. Oktober 1957, hatte die Sowjetunion den ersten künstlichen Satelliten, Sputnik I, drei Monate lang im Erdorbit stationiert. Vier Monate später, am 31. Januar 1958, waren die Vereinigten Staaten mit Explorer I nachgezogen. Beide Großmächte hatten einen entsprechenden Start als Teil  des Internationalen Geophysikalischen Jahres zuvor angekündigt. »Das planetarische Zeitalter hat begonnen«, verkündete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, und auch Die Welt befand, dass durch den sowjetischen Erdsatelliten eine »neue Epoche der Menschheit« ein­ geleitet worden sei.3 Nur wenige Monate später setzte es sich die Loccumer Konferenz zum Ziel, die hereinbrechende Zeit in all ihren gesellschaftspolitischen Implikationen zu reflektieren. Im Vordergrund stehe nicht die neue Technik, sondern die »Frage nach dem Menschen«, erklärte das Tagungsprogramm: Der Flug in den Weltraum [wird] für alle Menschen auf der Erde eine tiefgreifende Veränderung bedeuten […], auch wenn vielleicht nur wenige eine solche Reise mitmachen werden. Die Auseinandersetzung mit dem Problem ist notwendig, da diese Phase des technischen Zeitalters in ethische und religiöse Bereiche hineingreift. Die Möglichkeit eines Vordringens in den Weltraum kann den geistigen Standort des Menschen in erheblichem Maße verschieben. In dieser Richtung können die Veränderungen sogar größer sein als vom Sachlichen her.4

Offenkundig erwartete man, dass die kulturellen Rückwirkungen der Raumfahrt den Zuwachs an technisch-naturwissenschaftlichem Wissen bei weitem übersteigen würden. Unter den zehn Vorträgen ragten zwei heraus und führten zu einem handfesten Streit. Dieser sorgte dafür, dass die Tagung in der umfangreichen Presse­ 2 Wolfgang Berkefeld, Die Zeit ist nicht leer, in: Sonntagsblatt, 9.3.1958, S.  7. Zum Begriff: Alexander C. T. Geppert, Space Personae. Cosmopolitan Networks of Peripheral Knowledge, 1927–1957, in: Journal of Modern European History 6. 2008, S. 262–286, hier S. 281 f. 3 Das planetarische Zeitalter hat begonnen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung [im Folgenden FAZ], 7.10.1957, S. 1; Der Erdsatellit erregt die Welt, in: Die Welt, 7.10.1957, S. 1. 4 Landeskirchliches Archiv Hannover [im Folgenden LkAH], E 46, Nr.  185; Tagungsprogramm zitiert nach Werner Schulz, Der Mensch im Weltraum. Bericht über eine Tagung der Evangelischen Akademie Loccum, in: Zeitschrift für Flugwissenschaften 6. 1958, S. 117–123, hier S. 117.

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berichterstattung einhellig als »aufsehenerregend« beschrieben wurde.5 Der Ingenieur und führende Vertreter der westdeutschen Raumfahrt Eugen Sänger (1905–1964), zu diesem Zeitpunkt Direktor des Forschungsinstituts für Physik der Strahlantriebe in Stuttgart, pries die »Weltraumfahrt« als Schlüsseltechnologie der Zukunft, skizzierte, wie mit ihrer Hilfe der Krieg überwunden und der Weltfrieden gesichert werde, und kündigte für das Jahr 1980 die erste bemannte Raumstation im Erdorbit an.6 Solchen optimistischen Prognosen widersprach einer der anwesenden scientific celebrities, der Physiker, Nobelpreisträger und Mitunterzeichner der Göttinger Erklärung Max Born (1882–1970), mit einer derartigen Schärfe, dass er sich später zum Verfassen von Entschul­digungsschreiben veranlasst sah. Born warnte vehement vor einer »ungehemmten Fortschrittsjagd« und brandmarkte die Weltraumeroberung als »extravaganten Luxus«. Die Raumfahrt rechtfertige nicht die erforderlichen hohen Kosten: »Ich gehöre zu der Generation, die noch zwischen Verstand und Vernunft unterscheidet. Von diesem Standpunkt aus ist die Raumfahrt ein Triumph des Verstandes, aber ein tragisches Versagen der Vernunft«, lautete der noch Jahre später zitierte Kernsatz der »Raumfahrt und Zeitbegriff« betitelten Philippika Borns.7

5 Aus den etwa zwei Dutzend Tagungsberichten siehe nur: Adalbert Bärwolf, Was wollen wir eigentlich im Weltraum?, in: Die Welt, 4.3.1958, S. 3 f.; Erste bemannte Raumstation 1980, in: FAZ, 1.3.1958, S. 4; Kurz vor oder kurz nach Zwölf?, in: Die Zeit, 6.3.1958, S. 3; Hermann Laupsien, Weltraumfahrt zwischen Tat und Furcht, in: Handelsblatt, 5.3.1958; Alexander von Cube, Versagt im Weltraum die Vernunft?, in: Vorwärts, 23.5.1958, S.  19; zahlreiche weitere Berichte in LkAH, E 46, Nr. 185. Im Juni 1959 organisierte die Loccumer Akademie eine Nachfolgetagung zum Thema »Mensch – Atom – Rakete«. Eine Auswahl überarbeiteter Vorträge erschien Ende 1959 unter dem Titel »Der Weltenraum in Menschenhand« (Stuttgart 1959) und wurde von dem langjährigen Akademieleiter Hans Bolewski (1912–2003) gemeinsam mit dem Ingenieur, Raketentechniker und Ex-»Peenemünder« Helmut Gröttrup (1916–1981) herausgegeben. 6 An anderer Stelle (etwa ders., Die Zukunft der Raumfahrt, in: FAZ, 24.11.1956, S. BuZ1) gab Sänger zu Protokoll, dass man bereits »kurz nach 1970« mit den ersten kleinen bemannten Raumstationen zu rechnen habe, was sich in der Rückschau bestätigt (Saljut 1, 19.4.–11.10.1971). Als Überblick zur Raumfahrtwissenschaft in der BRD: Helmuth Trischler, Die bundesdeutsche Raumfahrt der 60er Jahre. Forschungs- und technologiepolitische Weichenstellungen, in: Johannes Weyer (Hg.), Technische Visionen – politische Kompromisse. Geschichte und Perspektiven der deutschen Raumfahrt, Berlin 1993, S. 59–72, hier S. 60 f., sowie Niklas Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik. Konzepte, Einflußfaktoren und Interdependenzen, 1923–2002, München 2004, S. 48–54. 7 Max Born, Der Sinn der Weltraumfahrt, in: Physikalische Blätter 14. 1958, S. 238; LkAH, E 46, Nr. 185, Born an Bolewski, 5.3.1958: »Es tut mir leid, daß ich gezwungen war, so etwas wie ein Enfant terrible zu spielen und einen scharfen Ton in die Debatte zu bringen. Aber Sie werden verstanden haben, daß ich das nicht aus Bosheit tat, sondern von meinem Gewissen gestachelt [sic].« Ders., Ein Besuch bei den Raumfahrern und das Uhrenparadoxon, in: Physikalische Blätter 14. 1958, S. 207–212; ders., Vom Segen und Unsegen der Weltraumfahrt [Vortrag im Hessischen Rundfunk, 1960], in: ders., Von der Verantwortung des Naturwissenschaftlers. Gesammelte Vorträge, München 1965, S. 131–139, hier S. 134.

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In einem Punkt waren sich die Antagonisten indes einig: ihrem Interesse an der Weltraumzeit, insbesondere dem sogenannten Uhren- oder Zwillings­ paradoxon. Heute für gewöhnlich unter dem Begriff der »Zeitdilatation« diskutiert, besagt dieses zum ersten Mal 1905 in Einsteins spezieller Relativitätstheorie formulierte Paradoxon, dass die Zeit mit zunehmender Geschwindigkeit langsamer vergeht. So könnten noch viele Lichtjahre entfernte Sterne innerhalb der Lebenszeit eines Menschen erreicht werden, wenn sich das Raumschiff mit entsprechend hoher Geschwindigkeit bewegt. Da die Zeit an Bord im Verhältnis zur Zeit auf der Erde langsamer verstreicht, würden Weltraumreisende bei ihrer Rückkehr auf deutlich später Geborene stoßen. Diese »scheinbar verrückteste, schier unvorstellbare Konsequenz« der Relativitätstheorie, kommentierte der Spiegel nach der Loccumer Tagung verblüfft, würde es »der Menschheit gestatten, den anscheinend unabänderlichen ehernen Ablauf der Zeit zu durchbrechen«.8 »Zeit«, »Zeitalter«, »Zukunft«, »Zeitbegriff«, »Zeitdilatation«: Unterschiedliche Begriffe, Formen und Vorstellungen von Temporalität spielten eine zentrale Rolle in der nicht erst Ende der 1950er Jahre, sondern bereits in der Zwischenkriegszeit einsetzenden, von Beginn an transnationalen und zusehends breitenwirksamer geführten Diskussion um die fortschreitende Erschließung des Weltraums und seiner imaginären Kolonialisierung in Science und Fiction.9 Zu einem Zeitpunkt, an dem nach konventioneller Lesart das sogenannte Space Age gerade erst eingesetzt hatte, waren die Debatten um seine Deutung längst im Gange.10 Wie sich angesichts des bevorstehenden Ausgreifens in den 8 Albert Einstein, Zur Elektrodynamik bewegter Körper, in: Annalen der Physik 322. 1905, S. 891–921; Die letzte Reise, in: Der Spiegel 26.3.1958, S. 54–56, hier S. 54. Eine vom U. S. Naval Research Laboratory veröffentlichte Bibliographie listete 1959 bereits über 240 Ver­ öffentlichungen ausschließlich zu diesem Problem; siehe Mildred Catherine Benton (Hg.), The Clock Problem (Clock Paradox) in Relativity. Theories, Both Pro and Con, Recorded in the Literature. An Annotated Bibliography, Washington, DC 1959. Mitunter wird das Uhrenparadoxon auch als »Zeitparadoxon« oder »space-time-dilemma« bezeichnet; K ­ enneth F. Gantz (Hg.), Man in Space. Principles and Practice of Space Flight as Developed by the United States Air Force, London 1959, S. 277. 9 Geppert, Space Personae; Michael J. Neufeld, Weimar Culture and Futuristic Technology. The Rocketry and Spaceflight Fad in Germany, 1923–1933, in: Technology and Culture 31. 1990, S. 725–752. 10 Etwa William E. Burrows, This New Ocean. The Story of the First Space Age, New York 1998. Selbst ein Produkt des Kalten Krieges, hat sich die sogenannte Space History erst in den letzten Jahren sozial- und kulturhistorischen Fragestellungen gegenüber geöffnet, dabei ihre stark bipolare Ausrichtung indes weitgehend beibehalten. Ein aktueller Forschungsbericht, der sowohl nicht-amerikanische als auch nicht-sowjetische Perspektiven berücksichtigen und systematisch die Bedeutung der Weltraumgeschichte für die Wissens-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhundert herausarbeiten würde, existiert nicht; siehe aber Roger D. Launius, The Historical Dimension of Space Exploration. Reflections and Possibilities, in: Space Policy 16. 2000, S. 23–38, und Asif A. Siddiqi, American Space History. Legacies, Questions, and Opportunities for Future Research, in: Steven J. Dick u.

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Weltraum Fragen nach Zeitlichkeit auf radikale Weise neu stellten, war ein entscheidendes Erkenntnisinteresse der Tagungsorganisatoren. Natürlich mache er sich Gedanken über die »Zukunft bezüglich der Erschließung des Weltraumes und die für uns Menschen auf unserer kleinen Erde entstehenden Konsequenzen«, hatte Mitinitiator Prinz Welf Heinrich von Hannover (1923–1997), promovierter Jurist und Enkel Wilhelms II., im Vorfeld formuliert. Zu erwarten stehe »die Außerkraftsetzung einer Fülle von Maßstäben und Grundlagen unseres menschlichen Daseins, unserer Rechtsbegriffe, unserer sittlichen Normen, nicht zuletzt auch unseres religiösen Glaubens« – und zu diesen Grund­ lagen zählte eben auch »die Frage der verschiedenen Zeiten von der Welt und in der Rakete«.11 Aus der umgekehrten, nicht weltraum-, sondern zeithistorischen Perspektive führt der Versuch, »Raumfahrt und Zeitbegriff« zueinander in Beziehung zu setzen, direkt ins Zentrum einer bislang ungeschriebenen Zeit-Geschichte des 20. Jahrhunderts. Insbesondere Reinhart Koselleck hat immer wieder darauf hingewiesen, dass von der Zeit vornehmlich in Metaphern gesprochen wird, welche der räumlichen Vorstellung entlehnt sind. Das Vergehen der Zeit ist bekanntlich nicht direkt, sondern nur relational zu erfahren und kann lediglich an der Positionsveränderung eines sich im Raum bewegenden Gegenstandes abgelesen werden.12 Im Weltraumzeitalter verschränkten sich Raum- und Zeitdenken wie niemals zuvor, galt es doch, Entfernungen ganz neuen Ausmaßes und räumliche Ausdehnungen bislang unbekannter Dimensionen zu bedenken. Wenn das Argument zutrifft, dass irdische Raumvorstellungen vom imaginierten, aber auch faktisch erfolgten Ausgreifen in den die Welt umgebenden Raum Roger D. Launius (Hg.), Critical Issues in the History of Spaceflight, Washington, DC 2006, S. 433–480. Historiographisch-theoretisch am avanciertesten innerhalb dieses Feldes sind die Arbeiten von ­Martin Collins, etwa ders., Afterword. Community and Explanation in Space History (?) [sic], in: Dick, Critical Issues, S. 603–613; ders., Production and Culture Together. Space History and the Problem of Periodization in the Postwar Era, in: Steven J.  Dick u. Roger D. Launius (Hg.), Societal Impact of Spaceflight, Washington, DC 2007, S.  615–629; sowie ders., The 1970s. Spaceflight and Historically Interpreting the In-between Decade, in: Alexander C. T. Geppert (Hg.), Limiting Outer Space. Astroculture After Apollo, London [2016]. Jüngst Peter Dickens u. James S. Ormrod, The Production of Outer Space, in: dies. (Hg.), The ­Palgrave Handbook of Society, Culture and Outer Space, London [2016]. Siehe auch Alexander C. T. Geppert, European Astrofuturism, Cosmic Provincialism. Historicizing the Space Age, in: ders. (Hg.), Imagining Outer Space. European Astroculture in the Twentieth Century, Basingstoke 2012, S. 3–24. 11 LkAH, E 46, Nr. 185, Prinz Welf Heinrich von Hannover an Uta von Kardoff, 5.7.1957. Welf Heinrich hatte 1953 mit einer »Luftrecht und Weltraum« betitelten Arbeit an der Georg-­ August-Universität in Göttingen zum Dr. jur. promoviert, der weltweiten ersten Dissertation zum Weltraumrecht überhaupt. 12 Etwa Reinhart Koselleck, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000, S. 9; Norbert Elias, Über die Zeit, Frankfurt 1984, S. 12 u. S. 74. Siehe auch Peter Hüttenberger, Zeit als Kategorie historischen Denkens und der historischen Darstellung, in: Bernd Mütter u. Siegfried Quandt (Hg.), Historie – Didaktik – Kommunikation. Wissenschaftsgeschichte und aktuelle Herausforderungen, Marburg 1988, S. 81–96, hier S. 87.

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geprägt wurden – von Christoph Asendorf mit Carl Schmitt als »Raumrevolution« bezeichnet – liegt es nahe, nach solchen Querverbindungen, Rückbezügen und Wechselwirkungen zwischen Weltraum- und Zeitdenken zu fragen. Da die Rechnung, die jeder Kalender und jede Uhrzeit darstellt, auf der Beobachtung von regelmäßigen Bewegungen der Himmelskörper basiert, ist letztlich alle irdische Zeit ohnehin eine Art von »Weltraumzeit«.13 Der vorliegende Aufsatz geht in drei, chronologisch aufeinanderfolgenden Schritten vor, um eine solche Problemstellung buchstäblich kosmischer Dimensionen operationalisierbar zu machen und Weltraum- in Zeit-Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuschreiben. Die erste der gewählten Perspektiven ist ein klassisch begriffshistorischer Zugang, mit dem zugleich die Frage nach denkbaren Periodisierungen verbunden ist: Seit wann gibt es die Rede vom Space Age, wie wurde es charakterisiert und wann könnte ein solches Weltraumzeit­a lter stattgefunden haben? In einem zweiten Schritt gilt es, die dem westeuropäischen Weltraumdenken inhärenten Formen von Zeit, Zeitlichkeit und – vor allem  – Zukunftsdenken nachzuzeichnen. Seit einigen Jahren wird dieser enge Konnex zwischen Weltraumbegeisterung und der weitverbreiteten Vorstellung einer bevorstehenden »Zukunft in den Sternen« unter dem assoziationsreichen Begriff »Astrofuturismus« diskutiert, indes nahezu ausschließlich auf die Vereinigten Staaten beschränkt.14 Drittens und letztens wird, komplementär dazu und im Sinne des eingangs zitierten französischen Wissenschaftspopularisators Albert Ducrocq (1921–2001), nach Rückwirkungen der Astronautik auf das westliche Zeitbewusstsein gefragt, insbesondere seit Beginn der bemannten Raumfahrt am 12. April 1961. Letzten Endes bestätigt sich hier eine Beobachtung Norbert Elias’: Zeit ist ein vom Menschen geschaffenes Orientierungssystem irdischen Charakters. Dass dieses jenseits der Erdgrenzen nicht funktioniert und bereits auf dem Mond nicht mehr sinnvoll anzuwenden ist, stellt eine genuine Erfahrung des Weltraumzeitalters dar. »Ich habe gesehen, wie die Zeit auf der Erde verstrich«, gab Apollo 17-Astronaut Eugene Cernan (1934–), der bis dato letzte Mensch auf dem Mond, nach seiner Rückkehr im Dezember 1972 13 Christoph Asendorf, Super Constellation  – Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur in der Moderne, Wien 1997, S. 260; Carl Schmitt, Gespräch über den Neuen Raum [1955], in: ders., Gespräche über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Berlin 1994, etwa S. 59: »Heute öffnen sich uns die unendlichen Räume des ganzen Kosmos.« 14 Dieser Begriff ist nicht der Quellensprache entnommen, sondern wurde von dem Literaturwissenschaftler De Witt Douglas Kilgore Ende der 1990er Jahre in die Debatte eingeführt; siehe ders., Engineers’ Dreams. Wernher von Braun, Willy Ley, and Astrofuturism in the 1950s, in: Canadian Review of American Studies 27. 1997, S. 103–131, sowie ders., Astro­ futurism. Science, Race, and Visions of Utopia in Space, Philadelphia 2003. Zuvor hatten schon andere auf den engen Konnex von Weltraum- und Zukunftsdenken auch jenseits der Science Fiction aufmerksam gemacht, etwa Brian Horrigan, Popular Culture and Visions of the Future in Space, 1901–2001, in: Bruce Sinclair (Hg.), New Perspectives on Technology and American Culture, Philadelphia 1986, S. 49–67.

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zu Protokoll: »Doch so, wie wir sie verstehen, hat Zeit uns auf dem Mond überhaupt nicht berührt.«15

I. Wann war das Space Age? Obwohl das Ein- und Unterteilen vergangener Zeit in unterschiedliche Phasen kürzerer oder längerer Dauer ein Standardverfahren jedweden historischen Arbeitens darstellt, werden Sinn und Nutzen des Periodisierens selten meta­ historisch reflektiert. Jürgen Osterhammel hat Periodisierung als eine »ungeliebte Notwendigkeit« bezeichnet und ihre Geringschätzung auf ein unter Historikern nur wenig verbreitetem Interesse an der Zeit zurückgeführt.16 Über das Ordnen vergangener Zeit hinaus bieten Periodisierungsfragen indes die Chance historischen Erkenntnisgewinns. Jeder Periodisierungsentscheidung liegt die Annahme zugrunde, dass der als »Phase«, »Periode«, »Epoche« oder gar »Zeitalter« bezeichnete Zeitabschnitt durchgängig von einem gemeinsamen Strukturmerkmal charakterisiert wird, welches ihn von anderen Einteilungsmöglichkeiten abhebt und die zusammengefasste Zeit zu einer Sinneinheit macht. Verdichtende Zuschreibungen dieser Art können sowohl historisch-prospektiv als auch historiographisch-retrospektiv erfolgen. Der Umgang mit der ersten Kategorie von Periodisierungen – denjenigen »in der Zeit« beziehungsweise innerhalb des zusammenzufassenden Zeitraums und damit noch vor dessen Ende entworfenen  – stellt eine besondere Herausforderung dar, sind solchen historischen Gegenwartsdiagnosen doch stets Annahmen über zukünftig zu erwartende Entwicklungen inhärent, welche sich in der Rückschau vollständig anders ausnehmen mögen. Der Begriff des »Weltraumzeitalters« beziehungsweise des »Space Age« stellt einen solchen, zeitgenössisch geprägten Neologismus mit einem besonders großen Anteil prospektiver Annahmen dar. Seinem analytisch-gegenwartsdiagnostischen Nutzen stehen beträchtliche prognostisch-politische Bedeutungsanteile gegenüber. Für eine Geschichte des Weltraumdenkens ist der Begriff allen ideologischen Komplikationen zum Trotz indes unverzichtbar. Einmal 15 Elias, Über die Zeit, hier S. XXI u. S. 34; Cernan zitiert nach Frank White, The Overview Effect. Space Exploration and Human Evolution, Boston 1987, S.  21 f. (dt.: Der Overview Effekt. Die erste interdisziplinäre Auswertung von 20 Jahren Weltraumfahrt, Bern 1989, S. 42 f.). Kritisch zum religiös-kolonialistischen Impetus dieses weltraumhistorischen Klassikers Thore Bjørnvig, Outer Space Religion and the Overview Effect. A Critical Inquiry into a Classic of the Pro-Space Movement, in: Astropolitics 11. 2013, S. 4–24. 16 Jürgen Osterhammel, Über die Periodisierung der neueren Geschichte, in: Berichte und­ Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 10.  2002, S. 45–64, hier S. 45–48 u. S. 50. Siehe aber Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit [1966], Frankfurt 19882, S. 531–557, demzufolge die Neuzeit das erste und einzige Zeitalter war, das sich selbst als eine eigene Epoche begriff und zur Abgrenzung dementsprechend andere Epochen erfand. Ausführlicher dazu die Einleitung zum vorliegenden Band.

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handelt es sich um den weltraumhistorischen Oberbegriff schlechthin. Auf vage, aber wirkmächtige Art und Weise bündelte er die gesamte Programmatik, die Mitte des 20.  Jahrhunderts der unmittelbar bevorstehenden »Eroberung« des Weltraums und seiner unendlichen Weiten zugeschrieben wurden, inklusive technizistischer Zukunftsversprechungen, fantastischen Expansionsszenarien und transzendenten Heilserwartungen. Zum anderen dient er zur präziseren Einordnung der Geschichte des Weltraums in den größeren zeithistorischen Kontext des 20. Jahrhunderts, ähnlich dem »Atomzeitalter«, das sich ebenso wenig wie das Space Age auf ein Unterkapitel des Kalten Krieges beschränkt.17 Gleichwohl ist der Begriff alles andere als unproblematisch. Trotz seiner unverkenn­baren Zeitgebundenheit wird er weiterhin verwendet, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern ebenfalls von Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, ohne dass seine analytische Eignung jemals diskutiert oder eine Verständigung über seine gegenwartsbezogenen, politischen und technoszientistischen Implikationen erzielt worden wäre.18 Was war also dieses Space Age, wann setzte es ein und wie lange dauerte es an? Als am 4. Oktober 1957 der erste künstliche, zunächst noch namenlose Satellit die Erde umkreiste, wurde dies gemeinhin als der Moment gewertet, an dem das ebenso lang erwartete wie häufig prognostizierte Weltraumzeitalter begann. »Space Age is Here« titelte der Londoner Daily Express, die New York Times erklärte das Space Age für »eröffnet«, und auch der Figaro feierte das neue »l’âge de l’astronautique«, welches das »l’âge de l’aviation« abgelöst habe und »la première station du voyage interplanétaire« darstelle.19 »Es ist von entscheidender Wichtigkeit«, kommentierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Beginn des neuen Zeitalters, 17 Dazu essayistisch Harald Bluhm, Das Atomzeitalter. Varianten einer Epochenbestimmung, in: Karsten Fischer (Hg.), Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitwende, Frankfurt 1999, S. 203–224; Trischler, Bundesdeutsche Raumfahrt, S. 62. 18 Aus der politik- oder geschichtswissenschaftlichen Forschung zum Space Age im engeren Sinne: Walter A. McDougall, Technocracy and Statecraft in the Space Age. Toward the History of a Saltation, in: American Historical Review 87. 1982, S. 1010–1040; ders., …the Heavens and the Earth. A Political History of the Space Age, New York 1985; David Lavery, Late for the Sky. The Mentality of the Space Age, Carbondale 1992; Burrows, New Ocean; Svetlana Boym, Kosmos. Remembrances of the Future, in: Adam Bartos u. dies., Kosmos. A Portrait of the Russian Space Age, New York 2001, S. 83–99; Roger D. Launius, Historical Dimensions of the Space Age, in: Eligar Sadeh (Hg.), Space Politics and Policy. An Evolutionary Perspective, Dordrecht 2002, S. 3–25; Marina Benjamin, Rocket Dreams. How the Space Age Shaped Our Vision of a World Beyond, New York 2003; Steven J. Dick (Hg.), Remembering the Space Age, Washington, DC 2008 (insb. der Beitrag der früheren NASAChefhistorikerin Sylvia Kraemer, Has There Been  a Space Age?, ebd., S.  405–407); sowie Alexander C. T. Geppert, Rethinking the Space Age. Astroculture and Technoscience, in: History and Technology 28. 2012, S. 219–223. 19 Space Age is Here, in: Daily Express, 5.10.1957, S. 1; I. M. Levitt, Now the Space Age Opens, in: New York Times Magazine, 13.10.1957, S. 19 u. S. 82–84, hier S. 19; André George, Une date, in: Le Figaro, 7.10.1957, S. 1; Pierre de Latil, L’ère de l’astronautique a commencé, in: ebd. 5./6.10.1957, S. 4.

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daß das Gefühl, dabeigewesen zu sein, als aus dem vertrauten Rundfunkkasten in unserer vertrauten Wohnung plötzlich ein summender Laut erklang, ein Zeichen aus dem Weltraum – daß dieses Gefühl, Augen- und Ohrenzeugen eines weltgeschicht­ lichen Wendepunktes zu sein, uns in träumerische Meditation versetze, uns den Atem stocken mache. Die Perspektiven dessen, was auf diesen ersten Satel­liten nun alles f­ olgen wird, sind ungeheuer. Da wir seit Jahrzehnten mit technischen Wundern vertrauten alltäglichen Umgang haben, ist anzunehmen, daß wir bald gedankenlos in den Sog dessen, was nun Schlag auf Schlag folgen muß, gerissen werden.20

An der Zwangsläufigkeit, Folgerichtigkeit und Unabwendbarkeit der nach einem solchen »weltgeschichtlichen Wendepunkt« nunmehr »Schlag auf Schlag« einsetzenden Entwicklung hegte Herausgeber Karl Korn keinen Zweifel, wohl aber an der moralischen Reife einer Menschheit, die trunken vom »Rausch ihrer Größe« nun in den Weltraum aufzubrechen ansetze.21 Indes war der mitunter so bezeichnete »Tag Null der Weltraumfahrt« kein solcher. Genau wie der lange zuvor angekündigte und nun endlich vollzogene »Drang in den Raum« weder eine komplette Überraschung darstellte noch im Westen einen »Schock« auslöste, standen die entsprechenden Worte längst bereit, um diese »neue Epoche der Weltgeschichte« zu diskutieren.22 Der Luftfahrt-Journalist Harry Harper (1880–1960) hatte den Begriff »Space Age« am 19.  Januar 1946 in der Überschrift zu einem Artikel in der britischen Boulevardzeitschrift Everybody’s Weekly eingeführt. Detaillierter noch arbeitete er die Konturen des nun einsetzenden Abschnittes der Menschheitsgeschichte in einem im selben Jahr erschienenen Band »The Dawn of the Space Age« heraus. Harper zufolge müsse die historische Genese des neuen Zeitalters direkt aus den bislang erzielten Fortschritten von Wissenschaft und Technik abgeleitet werden, die sich in der Zukunft noch exponentiell fortsetzen und im interplanetarischen Reisen, zwischen den Planeten, kulminieren würden: »We have had an age of steam-power, an age of electricity and of the petrol engine, and an age of the air«, stellte Harper fest, »and now with the coming of atomic power the world should, in due course, find itself in the space age. And this should be the greatest age of all.«23 Bemerkenswert an dieser sich als Gegenwartsdiagnose 20 Karl Korn, Wir sind dabei gewesen, in: FAZ, 7.10.1957, S. 1; siehe auch Heinz Gartmann, Und morgen – die Sterne?, in: ebd., 28.12.1957, S. BuZ1. 21 Korn, Wir sind dabei gewesen. 22 Ebd.; Heinz Gartmann, Sonst stünde die Welt still. Das große Ringen um das Neue, Düsseldorf 1957, S. 344. Detaillierter zum Mythos des weit überschätzten »Sputnikschock«: Alexander C. T. Geppert, Anfang – oder Ende des planetarischen Zeitalters? Der Sputnikschock als Realitätseffekt, 1945–1957, in: Igor J. Polianski u. Matthias Schwartz (Hg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt 2009, S. 74–94. 23 Harry Harper, The Space Age, in: Everybody’s Weekly, 19.1.1946, S. 1 u. S. 8 f.; ders., Dawn of the Space Age, London 1946, hier S.  5. Siehe auch Art.  Space Age, in: Oxford English Dictionary, Bd.  16, Oxford 19892, S.  90. In anderen einschlägigen Texten aus der Frühphase des Weltraumdenkens vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Begriff »Space Age« nicht nachzuweisen; siehe etwa Hermann Oberth, Die Rakete zu den Planetenräumen,

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gerierenden Zukunftsprognose war nicht nur ihre britische  – und eben nicht nordamerikanische – Provenienz, sondern vor allem der frühe Zeitpunkt mehr als elf Jahre vor Sputnik. Bereits bei der allerersten Begriffsverwendung wurde ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Weltraum- und dem Atomzeitalter hergestellt, selbst Inbegriff der Fortschrittsmoderne. Unmittelbar nach Kriegsende geprägt, ist der Signifikant »Space Age« über eine Dekade älter als sein Signifikat und stellt keinen begrifflichen Niederschlag, sondern eine terminologische Vorbedingung dessen Eintretens dar. Durch Harpers Band in die USA exportiert, entwickelte sich der Terminus »Space Age« ab den frühen 1950er Jahren zu einem populären zeitdiagnostischen Schlagwort mit deutlich normativ-prognostischen Komponenten.24 Es stand für eine spezifische Version technoszientistischer Modernität, deren erste Vorboten man in der Gegenwart auszumachen glaubte und die durch den Glauben an größtmögliche Kontrollier- und Beherrschbarkeit des die Erde umgebenden Raumes charakterisiert war. Dass sich im Deutschen nicht ein einzelnes Hauptbegriffspendant durchsetzen konnte – zusätzlich zur »interplanetarischen Ära« finden sich unter anderem »Weltraumzeitalter«, »Raumfahrtzeitalter«, »Raketenzeitalter«, »kosmisches Zeitalter« und »Epoche der Raumfahrt«  – tat der Popularität einer Zeitdiagnose keinen Abbruch, welche das für die Zukunft erwartete Ausgreifen in den Raum zum Signum der Gegenwart erhob.25 In seinen im Herbst 1952 abgeschlossenen Erinnerungen an die Entwicklung von A4/V-2-Raketen in Peenemünde versuchte Walter R. Dornberger (1895–1980), München 1923; David Lasser, The Conquest of Space, New York 1931; Philip Ellaby Cleator, Rockets Through Space. The Dawn of Interplanetary Travel, London 1936; Willy Ley, Rockets, Missiles, and Space Travel [1944], New York 19524 und öfter; Arthur C. Clarke, The Challenge of the Spaceship. Astronautics and its Impact upon Human Society, in: Journal of the British Interplanetary Society 6. 1946, S. 66–81; ders., The Exploration of Space, New York 1951. Sowohl Ley als auch der zeitgenössisch schon als »Prophet of the Space Age« titulierte Clarke scheinen sich den Begriff relativ spät angeeignet, ihm dann aber zu großer Popularität verholfen zu haben; siehe ders., The Challenge of the Spaceship, New York 1961, S. 7, bzw. ders. (Hg.), The Coming of the Space Age. Famous Accounts of Man’s Probing of the Universe, New York 1967. John Reddy, Arthur Clarke. Prophet of the Space Age, in: Reader’s Digest, November 1969, S. 74–78. 24 Ein kurzer Hinweis auf Harpers Band stellt die erste Verwendung des Begriffs in der New York Times dar; siehe Other Books of the Week, in: ebd., 30.7.1950, S. BR8. Die zweite Verwendung ist ein Zitat Wernher von Brauns, der 1955 Eisenhowers Entscheidung, im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahres einen Satelliten im Weltraum zu platzieren, als »introducing mankind to the space age« lobte; ders., Man to Fly Space, Scientists Expects, in: ebd., 6.8.1955, S. 32. 25 Ähnlich wie diese Begriffe im Deutschen miteinander konkurrieren, finden sich im Französischen neben »l’âge de l’astronautique« auch »l’âge du cosmos«, »l’ère spatiale«, »l’ère­ astronautique« oder »l’ère interplanétaire« gleichermaßen verwendet; siehe Louis Guilbert, Le vocabulaire de l’astronautique. Enquête linguistique à travers la presse d’information à l’occasion de cinq exploits de cosmonautes, Paris 1967, S. 48, S. 64 u. S. 217.

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ehemaliger Generalmajor der Wehrmacht und Kommandeur der dortigen Heeresversuchsanstalt, die Verbindung von Signifikant und Signifikat um zehn Jahre rückzudatieren und seine »Mittäterschaft« an der aufscheinenden neuen Epoche der Menschheitsgeschichte auch begrifflich zu sichern. Als am 3. Oktober 1942 eine der ersten A4/V-2-Raketen die Höhe von 84,5 Kilometern erreichte und damit als erstes Artefakt an die 100-Kilometer-Grenze zum Weltraum stieß, so Dornberger 1952 in seiner Autobiographie »V-2: Der Schuß ins Weltall«, hätten die anderen Peenemünder und er selbst diesen historischen Moment als den »ersten Tag eines Zeitalters neuer Verkehrstechnik, dem der Raumschiffahrt« gefeiert (Abb. 1). In der zwei Jahre später erschienenen eng­ lischen Übersetzung wurde daraus: »a new era […], that of space travel…«.26 Damit stehen bereits drei mögliche Anfangsdaten des Weltraumzeitalters zur Debatte: der 3. Oktober 1942 mit dem ersten Überschreiten der Grenze zum Weltraum durch ein menschengemachtes Objekt, der 19.  Januar 1946 als Datum der Begriffsprägung und der 4. Oktober 1957 als Tag der Stationierung des ersten künstlichen Satelliten im Erdorbit. Abhängig von den angelegten Kriterien sind freilich andere, sowohl deutlich frühere als auch deutlich spätere Zeitpunkte vorstellbar.27 Als im weiteren Verlauf in schneller Abfolge immer neue

26 Walter Dornberger, V2 – Der Schuß ins Weltall, Esslingen 1952 (engl.: V-2, New York 1954, S. 17), S. 23: »Neben Erde, Wasser und Luft wird nunmehr auch der unendliche leere Raum Schauplatz kommenden, kontinentenverbindenden Verkehrs werden und als solcher politische Bedeutung erlangen können. Dieser 3.  Oktober 1942 ist der erste Tag eines Zeit­ alters neuer Verkehrstechnik, dem der Raumschiffahrt!…« In dem dieser Rede vermutlich zugrunde liegenden Vortragsmanuskript vom 6.  Juni 1942 findet sich das entsprechende historische Verlaufsargument (»Auf dem dermaleinst mit unbedingter Sicherheit kommenden Raumschiff ist die Peenemünder Entwicklung ein erster Schritt.«), nicht aber der Begriff selbst; siehe Vortrag des Abteilungschefs Wa Prüf 11 [Waffenamt Prüfwesen, Abteilung 11 »Sondergeräte«] gelegentlich des ersten Versuchsschiessens mit A 4 am 12. Juni 1942 in Peene­münde (Dornberger), Smithsonian National Air and Space Museum Archives, Washing­ton, DC [im Folgenden NASM], Captured German Documents (World War II), Fort Eustis (FE) Files 358, hier S.  1 f. Siehe auch Michael J. Neufeld, The Rocket and the Reich. Peenemünde and the Coming of the Ballistic Missile Era, Cambridge, MA 1995, S. 164 f. u. S. 315. 27 Etwa Rüdiger Proske, Zum Mond und weiter, Bergisch Gladbach 1966, S. 80; Ulrich Doerfel, Die Landung im Mondstaub. Geschichte, Theorie und Zukunft der bemannten Raumfahrt, Zürich 1969, S. 41–44. Zu den möglichen Endzeitpunkten des Weltraumzeitalters zählen u. a. der 20.7.1969 (erstmaliges Betreten eines fremden Himmelskörpers durch einen Menschen und damit Erreichen des Höhepunktes), der 14.12.1972 (bislang letztmaliges Betreten und damit Abschluss des »First« oder »Classical Space Age«) sowie, insbesondere aus amerikanischer Perspektive, der 28.1.1986 (Challenger-Unglück). In einem brillanten, bereits Ende der 1980er Jahre veröffentlichten Aufsatz hat etwa der Militärhistoriker Alex Roland diese dritte Möglichkeit stark gemacht; ders., Barnstorming in Space. The Rise and Fall of the Romantic Era of Spaceflight, 1957–1986, in: Radford Byerly Jr. (Hg.), Space Policy Reconsidered, Boulder 1989, S. 33–52, hier S. 33–38. Auf die Erfolge der unbemannten Raumfahrt verweisend, halten Vertreterinnen und Vertreter einer vierten, »open end«-Position dem entgegen,

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Zwischenziele erreicht wurden, wurde das menschliche Ausgreifen in den – im Übrigen nur im Deutschen so bezeichneten  – »Weltraum« zusehends zur all­ täglichen Realität. Sogenannte space firsts  – das erste Lebewesen (3. November 1957) und der erste Mensch im Erdorbit (12. April 1961), der erste Ausstieg außerhalb der schützenden Kapsel (28. März 1965), das erste Andockmanöver (16. März 1966), die erste Mondumkreisung (24. Dezember 1968) und der erste Mensch auf der Mondoberfläche (20. Juli 1969) – schienen retrospektiv sowohl die Validität früherer Voraussagen zu bestätigen als auch die unentrinnbare Logik der für das Space Race prognostizierten zukünftigen Entwicklung zu belegen. »Satel­liten, Weltraumstationen, Flug nach dem Mond – das sind die aktuellen, jetzt schon fast ›offiziellen‹ Schritte zur Weltraumfahrt«, beschrieb Heinz Gartmann (1917–1960), der produktivste westdeutsche Weltraumpopularisator der Nachkriegszeit, diese Art in die Zukunft projizierter Pfadabhängigkeit, während das Technikmagazin Hobby den peu à peu umgesetzten »Weltraumfahrplan« als »Abenteuer nach Kursbuch« pries.28 Der engen Abfolge von Ereignissen entsprach die Wahrnehmung einer ungeheuer beschleunigten Entwicklung, vergingen doch vom Sputnikstart bis zur ersten Mondlandung nicht einmal zwölf Jahre. Im Space Age wurde die Raum- zur Zeitdiagnose. Der Weltraum wurde zum Hauptmerkmal eines Zeitalters erklärt, der Glaube an seine unmittelbar bevorstehende »Eroberung« zum Definiens einer Gegenwart, deren Zukunft unweigerlich im räumlichen Jenseits stattfinden werde. Weil die Zukunft schon heute, im Jetzt, begann, stand die Gegenwart vollständig im Modus des Zukünftigen, in dessen »Sog« sie bald gezogen werden würde. Der Weltraum galt als das Signum eines auf Unendlichkeit angelegten, vom Vertrauen auf die fortschreitende Beschleunigung aller Innovationsprozesse gekennzeichneten und von der Plan- wie Realisierbarkeit solcher Großunternehmungen zutiefst überzeugten Zeit­a lters. Grundlage der interstellaren Expansionsfantasien und kosmischen Kolonialisierungsträume der Nachkriegszeit waren die beiden wichtigsten technischen Innovationen, die während des Zweiten Weltkriegs entwickelt worden waren, die Atombombe und die Rakete. Beide, das Atom- wie das Weltraumzeitalter, speisten sich aus demselben militärischen Entstehungszusammenhang, lösten sich jedoch zusehends voneinander ab, insbesondere hinsichtlich der jeweils assoziierten Zukunftsvorstellungen. Erlösungshoffnungen und Heilserwar­tungen

dass das Zeitalter der Raumfahrt bislang überhaupt zu keinem Ende gekommen sei, sondern den technischen Alltag der Gegenwart längst mit einer solchen Selbst­verständlichkeit dominiere, dass das Bewusstsein dafür verloren gegangen sei. Siehe in diesem Kontext Roger D.­ Launius, What Are Turning Points in History, and What Were They for the Space Age?, in: Dick u. Launius, Societal Impact of Spaceflight, S. 19–39, sowie Abschnitt IV. 28 Heinz Gartmann, Dr. Sängers Flugmechanik der Photonenstrahlantriebe. Betrachtungen zu einem aktuellen Thema, in: Weltraumfahrt 7. 1956, H. 3, S. 76–78, hier S. 76; Abenteuer nach Kursbuch. Der Weltraumfahrplan, in: Hobby 10.  1963, S.  56–61; NASM, Willy Ley Collection 01/05, Willy Ley, Time Table for Space Conquest, ca. 1955.

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Abb. 1: Start einer A4/V-2-Rakete vom Prüfstand VII in Peenemünde am 3. Oktober 1942. Quelle: Smithsonian National Air and Space Museum, Washington, DC, NASM ­83–13847.

wurden im unendlichen Weltraum platziert, während die ursprünglich ebenfalls utopistische Atomenergie schon bald für Angst, Schrecken und Zerstörung stand, in der Öffentlichkeit deutlich früher als unter den Experten.29

29 Claus Koch, Kritik der Futurologie, in: Kursbuch 14. 1968, S. 1–17, hier S. 13. Siehe Peggy Renger-Berka, Atome spalten. Transzendenz und Gemeinsinn im Diskurs um die Kern­ spaltung in Deutschland in Theologie und Politik in den 1950er Jahren, in: Katharina Neumeister u. a. (Hg.), Technik und Transzendenz. Zum Verhältnis von Technik, Religion und Gesellschaft, Stuttgart 2012, S. 129–145, hier S. 129, sowie die Beiträge in Dick van Lente (Hg.), The Nuclear Age in Popular Media. A Transnational History, 1945–1965, Basingstoke 2012, und Jonathan Hogg u. Christoph Laucht (Hg.), British Nuclear Culture, Cambridge 2012 (= British Journal for the History of Science, Special Issue 4). Zu den »atomic cross­ roads« ausführlich: Robert Poole, The Myth of Progress. 2001: A Space Odyssey, in: Geppert, Limiting Outer Space.

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II. Die Zukunft in den Sternen Mit Beginn des Weltraumzeitalters schienen sich die Visionen einer Zukunft in den Sternen zu bestätigen, die die etwa einhundert space personae und Weltraum-­ Experten um Willy Ley, Arthur C. Clarke, Wernher von Braun und andere auf Grundlage älterer, utopisch-literarischer Szenarien seit den späten 1920er Jahren im transnationalen Austausch entwickelt, mediengerecht aufbereitet und international propagiert hatten.30 In ungebrochener, doch nur selten ausgesprochener Kontinuität zu den großen imperialen Expansionsprojekten des 19. Jahrhunderts hielten sie es für ausgemacht, dass der die Welt umgebende Raum in naher Zukunft »erobert« und bald die Kolonialisierung des Sonnensystems einsetzen werde. Glaubte man den Experten, werde die Zukunft nicht nur im Weltraum stattfinden, sondern auch dort entschieden werden. Für etwa ein halbes Jahrhundert, bis in die frühen 1970er Jahre, der sogenannten Post-Apollo-Ära, avancierte der Weltraum zum Fluchtpunkt des Zukunftsdenkens und zum utopischen Sehnsuchtsort schlechthin  – und das, obwohl ein Raum bekanntlich keinen Ort darstellt, sondern erst durch Bewegung entsteht, und der Begriff »Utopia« lange genau dadurch charakterisiert war, keine existierende Örtlichkeit, sondern ein dezidiert unlokalisiertes Irgendwo zu bezeichnen, ein unspezifiziertes »Wo­anders« des gesellschaftlichen Idealzustandes. Als sich jetzt, nach Ende des Zweiten Weltkriegs, der Kalte Krieg auch als Krieg um die Zukunft erwies, fanden solche Fantasien räumlicher Expansion den Weg in die breite Öffentlichkeit.31 Im Verlauf dieses Prozesses entstand der Weltraum als gedachter Raum. Von einer reinen Projektionsfläche und einem ursprünglich toten Ort – dem religiös konnotierten Jenseits – entwickelte er sich zu einem tiefgestaffelten, die Erde umgebenden räumlichen Gebilde inklusive spezifischer Ortsmarkierungen. Indem der Mensch in den Weltraum ausgriff, eignete er sich seine Um-Welt an und gestaltete sie kurzerhand neu. Mit imperialer Rhetorik vorgetragene Zukunftsversprechungen menschlichen Lebens jenseits der Erde stießen auf breite Resonanz in einer Öffentlichkeit, die im Krieg die Leistungsfähigkeit neuer Großtechnologien hatte erfahren müssen und für die jetzt, nach Kriegsende, eine Neujustierung der künftigen gesellschaftlichen Entwicklungen überlebensnotwendig war. Die Parallelität ihrer Konjunkturen darf indes nicht dazu verleiten, die Popularität des Weltraumdenkens lediglich als Funk30 Diese Schätzung bei William Sims Bainbridge, The Spaceflight Revolution. A Sociological Study, New York 1976, S. 36. 31 David C. Engerman, Histories of the Future and the Futures of History, in: American Historical Review 117. 2012, S. 1402–1410, hier S. 1407. Nicht viel später begannen Historiker sich ebenfalls für die Zukunft zu interessieren; siehe Robert L. Heilbroner, The Future as History, New York 1959 bzw. die Vorträge auf dem 25.  Deutschen Historikertag 1962 in Duisburg zum Thema »Zukunft«, insb. von Karl Dietrich Erdmann, Die Zukunft als Kategorie der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 198. 1964, S. 44–61 und Reinhart Wittram, Zukunft in der Geschichte. Zu Grenzfragen zwischen Geschichtswissenschaft und Theologie, Göttingen 1966.

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tion einer zukunftsschwangeren Nachkriegszeit zu begreifen. Raumfahrtenthusiasmus und Zukunftsoptimismus gingen nicht ineinander auf, sondern bedingten und stimulierten sich gegenseitig. Die von Hermann Lübbe so bezeichnete »Zukunftsexpansion« des 20. Jahrhunderts korrelierte mit einer Raumausdehnung, in d ­ eren Verlauf die Utopie so radikal verräumlicht wurde wie nie zuvor.32 Dass die prognostizierten Zukunftsentwicklungen für realistisch gehalten wurden und die propagierten Expansionsszenarien als plausibel galten, lässt sich an Meinungsumfragen ablesen. Ging im Juli 1950 noch ein Viertel der Befragten in der Bundesrepublik davon aus, dass die Menschen spätestens um die Jahrtausendwende »andere Sterne oder den Mond besuchen« könnten, rechneten im August 1955 bereits 39 Prozent, im Mai 1964 sogar 58 Prozent mit einer solchen Entwicklung. Nachdem Ende der 1950er Jahre die sowjetischen und amerikanischen Raumfahrtprogramme eingesetzt hatten, verdoppelte sich die Anzahl derjenigen, die die »immer größeren Erfolge im Weltraum« als »Fortschritt der Technik« begrüßten, von 34 Prozent (Januar 1963) auf 66 Prozent (Januar 1969). Dass sich interplanetarische Reisen im Jahr 2000 bereits so weit demokratisiert hätten, dass jeder, der dazu Lust habe, eine Reise zum Mond unternehmen könne, nahm Anfang 1969 indes nur ein Zehntel der Befragten an. Auch wenn bereits nach der ersten der insgesamt sechs Mondlandungen die öffentliche Begeisterung rapide zurückging, erhöhte alleine der Nachweis technischer Machbarkeit die Plausibilität des Gesamtunterfangens »Eroberung des Weltraums« und validierte die damit verbundenen Zukunftsversprechungen.33 Wie aber sahen diese Zukünfte aus, und welche Rolle spielten Zeit und Zeitlichkeit im Weltraumdenken des 20. Jahrhunderts? Nirgends sonst lassen sich die Erwartungen, aber auch die Erfahrungshaushalte des Weltraumzeitalters so gut studieren wie an der Vielzahl der propagierten Expansionsszenarien, ihrer konjunkturellen Verläufe und der entsprechenden Zukunftstechniken. Seit den frühen 1950er Jahren basierten viele dieser Projekte auf der Annahme, dass das Raumschiff der Zukunft nicht länger chemisch, sondern nuklear angetrieben 32 »Verzeitlichung der Utopie« ist Reinhart Kosellecks Begriff, »Zukunftsexpansion« von­ Hermann Lübbe geprägt. Siehe Reinhart Koselleck, Die Verzeitlichung der Utopie, in:­ Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 1–14 bzw. Hermann Lübbe, Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik, Stuttgart 1996, hier S. 16–19. 33 Institut für Demoskopie Allensbach (Hg.) [im Folgenden IDA], Jahrbuch der öffentlichen Meinung, Bd. 4, 1965–1967, Allensbach 1967, S. 487 u. S. 489; IDA, Der Blick in die Zukunft, Allensbach 1967, S. 4; IDA, Allensbacher Berichte. Die Deutschen und der Mond, Allensbach 1969, S. 2. Das Bielefelder Meinungsforschungsinstitut EMNID kam im Januar 1958 zu ähnlichen Ergebnissen: 64 % der Befragten gingen davon aus, dass der Mond in absehbarer Zeit erreicht werde. Siehe Archiv des Deutschen Museums München [im Folgenden DM], NL 185, vorl. Nr. 034, Einstellung zur Problematik der Weltraumfahrt. Eine Befragungsreihe innerhalb des Bundesgebietes, Bielefeld 1958, S. 1; Karl-Georg von Stackelberg, Weltraumfahrt, Atom und öffentliche Meinung, in: Bolewski, Weltenraum in Menschenhand, S. 153–160, hier S. 155. Für die USA siehe Roger D. Launius, Public Opinion Polls and Perceptions of US Human Spaceflight, in: Space Policy 19. 2003, S. 163–175.

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sein werde und so größere Distanzen, etwa zum Jupiter, innerhalb einer vertretbaren Zeit überwunden werden könnten.34 In Expertenzirkeln wie in der Öffentlichkeit wurde immer wieder betont, dass es sich bei der Vielzahl der propagierten, bemannten wie unbemannten Satellitensysteme, Weltraumspiegel, Raumstationen und Mondkolonien nicht um Science Fiction, sondern lediglich um das Einsetzen der Zukunft in der Gegenwart handele. Dass, wenn überhaupt, sich letztlich nur ein Bruchteil der Versprechungen als einlösbar erwies, tat der weitverbreiteten Begeisterung über den beginnenden Aufbruch in die interplanetare Unendlichkeit in den 1950er und 1960er Jahren keinen Abbruch. Unter den Expansionsvisionen der Prä-Sputnik-Dekade, des »Golden Age of Space Travel«, ragt Eugen Sängers fantastisch-realistisches Projekt einer Photonenrakete heraus.35 Diese sollte die technische Grundlage jedweder interstellaren Raumfahrt darstellen und ein Vordringen in den intergalaktischen Raum ermöglichen. In Fachkreisen wie der Gesellschaft für Weltraumforschung und der British Interplanetary Society bereits seit Anfang der 1950er Jahre intensiv diskutiert, wurde dieses Projekt Gegenstand einer erbitterten, national wie international geführten Auseinandersetzung. Im Vergleich zum amerikanischen Project Orion (1957–1965) oder dem britischen Project Daedalus (1973–1978) wurde Sängers Photonenrakete nicht nur deutlich früher, sondern auch gesellschaftlich breiter debattiert und erwies sich damit als ungleich wirkmächtiger.36 Während zu diesem Zeitpunkt manche Ingenieure bemannten Raumflug noch immer grundsätzlich für unmöglich hielten, arbeitete Sänger an seiner Lieblingsidee einer »relativistischen Raketenmechanik« und propagierte sie über einen Zeitraum von knapp 14 Jahren, vom Sommer 1950 bis zu seinem plötzlichen Tod im Februar 1964. Im Herbst 1950 publizierte er eine erste, dreiseitige Skizze in der kurzlebigen französischen Zeitschrift L’Astronef, deren 34 Arthur C. Clarke, Interplanetary Flight. An Introduction to Astronautics, London 1950, hier S. 76 f. u. S. 91 f., sowie ders., About Time, in: ders., Profiles of the Future. An Enquiry into the Limits of the Possible, London 1962, S. 123–140 (dt.: Einiges über die Zeit, in: ders., Im höchsten Grade phantastisch. Ausblicke in die Zukunft der Technik, Düsseldorf 1967, S. 187–212). 35 Frederick I. Ordway III. u. Randy Liebermann (Hg.), Blueprint for Space. Science Fiction to Science Fact, Washington, DC 1992, hier S. 12. Zu Sänger vor allem: Johannes Weyer, Akteurstrategien und strukturelle Eigendynamiken. Raumfahrt in Westdeutschland 1945– 1965, Göttingen 1993, S. 86–100, hier S. 86–89. 36 Eugen Sänger, Was kostet Weltraumfahrt?, in: Weltraumfahrt 2. 1951, S. 49–55; Clarke, Exploration of Space, S. 174–182; ders., Challenge of the Spaceship [1961], S. 62; Leslie R. Shepherd, Interstellar Flight, in: Journal of the British Interplanetary Society 11. 1952, S. 149–167, insb. S. 157–163. Project Orion hatte die Entwicklung eines interplanetarischen, durch Atombombenexplosionen angetriebenen Raumschiffes zum Ziel, während Project Daedalus die Planung eines unbemannten Raumschiffes vorsah, welches innerhalb der Lebenszeit eines Menschen den 5,9 Lichtjahre entfernten Barnards Stern erreichen könnte. Alle drei Großtechnologieprojekte wurden nicht realisiert. Siehe George Dyson, Project Orion. The Atomic Spaceship 1957–1965, London 2002; Alan Bond (Hg.), Project Daedalus. The Final Report on the BIS Starship Study (= Journal of the British Interplanetary Society: Supplement), London 1978.

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Herausgeber Alexandre Ananoff (1910–1992) er im Jahr zuvor in Paris getroffen hatte, und präsentierte eine erweiterte Fassung einem größeren Expertenkreis auf dem IV. Internationalen Astronautischen Kongreß im August 1953 in Zürich.37 Als »Bombe mit Zeitzünder«, die erst langsam ihren Weg in eine breitere Öffentlichkeit fand, entpuppte sich schließlich eine nochmals überarbeitete Version, die er wiederum zweieinhalb Jahre später, am 8. Februar 1956, auf einer Konferenz in Freudenstadt vorstellte.38 Zeitgleich erschien in der eher abgelegenen Mitteilungsreihe seines Institutes unter dem alles andere als effekt­ hascherischen Titel »Zur Mechanik der Photonen-Strahlantriebe« Sängers erste Hauptveröffentlichung zum Thema. Aufgrund ihres zugleich grundlegenden wie weit ausgreifenden Charakters verglichen seine Kritiker die nicht einmal hundert Seiten umfassende Schrift mit dem raumfahrttechnischen Klassiker schlechthin, Hermann Oberths schmalem Bändchen »Die Rakete zu den Planetenräumen« von 1923, das ebenfalls im Münchener Oldenbourg-Verlag erschienen war.39 Ähnlich wie Oberths Buch schien Sängers Schrift auf den ersten Blick kein revolutionäres Programm zu formulieren, zumal es die Vielzahl an Berechnungen, Formeln und Diagrammen zur weder massentauglichen noch konsumentenfreundlichen Lektüre machten. Bevor die »Bombe« in der Öffentlichkeit platzen konnte, waren zunächst umfangreiche journalistische Übersetzungsarbeiten durch Wissenschaftsvermittler, Popularisierer und Übersetzer 37 Rudolf H. Reichel, Die heutigen Grenzen des Raketenantriebes und ihre Bedeutung für den Raumfahrtgedanken, in: Zeitschrift des Vereines deutscher Ingenieure 92. 1950, S.  873– 882, hier S. 882; Eugen Sänger, A propos des limites de l’astronautique, in: L’Astronef 1. 1950, S.  8–10; Photon-Rakete, in: FAZ, 6.8.1953, S.  10. Zu Ananoff: Pierre-François Mouriaux u. Philippe Varnoteaux, Alexandre Ananoff (1910–1992). 30 Years to Promote Astronautics before Sputnik, in: Acta Astronautica 93. 2013, S. 266–278. Den internationalen Verflechtungen und Resonanzen dieser futuristischen Technikkonzepte kann hier nur bedingt nachgegangen werden; siehe aber Olaf Stapledon, Interplanetary Man?, in: Journal of the British Interplanetary Society 7. 1948, S. 213–233; Arthur C. Clarke, The Planets Are Not Enough, in: Saturday Review of Literature, 26.11.1955, S. 11 f. u. S. 34–36; Levitt, Now the Space Age Opens, S. 84; sowie Eugen Sänger u. William R. Brewster Jr., Time and the Space Traveler, in: Atlantic Monthly 200. 1957, S.  153–158. Sängers Konzept war zudem Teil  eines umfangreichen Berichts, der 1959 dem amerikanischen Kongress vorlag; siehe ders., The Future of Space Flight, in: Select Committee on Astronautics and Space Exploration (Hg.), The Next Ten Years in Space, 1959–1969, Washington, DC 1959, S. 158–172. 38 Alle drei Vortragsmanuskripte finden sich in Sängers Nachlass im Archiv des Deutschen Museums in München; siehe DM, NL 230, vorl. Nr. 1205, Eugen Sänger, Zur Theorie der Photonenrakete; ebd., NL 230/0797, Sänger, Zur Flugmechanik der Photonenraketen; sowie ebd., NL 230/0720 und NL 230/0795, Sänger, Die Erreichbarkeit der Fixsterne. Vortrag auf dem VII. Internationalen Astronautischen Kongreß in Rom, September 1956. Die ausführlichsten Darstellungen des »Streits um die Sterne« finden sich bei Gartmann, Sonst stünde die Welt still, S. 379–402, hier S. 391, und Josef Pointner, Das 1×1 der Weltraumfahrt, Düsseldorf 1966, S. 418–430. 39 Eugen Sänger, Zur Mechanik der Photonen-Strahlantriebe, München 1956; Oberth, Rakete zu den Planetenräumen. Siehe auch Wilfried Berger, Photonenraketen im relativistischen Weltraum, in: Naturwissenschaftliche Rundschau 1956, S. 223–227.

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wie Ley, Clarke und Gartmann erforderlich, die sich seit den späten 1920er Jahren als die Hauptpublizisten des Space Age verstanden.40 Hinter Sängers sperriger »Mechanik der Photonen-Strahlantriebe« verbarg sich das unkonventionelle, indes kühl durchgerechnete Projekt einer nuklearen Raketentechnik der Zukunft. Hatte Oberth »nur« die grundsätzliche Möglichkeit des Ausgreifens in die »Planetenräume« nachzuweisen versucht, postulierte Sänger gleich die Erreichbarkeit mehrerer Lichtjahre entfernter Sterne. Um die Jahrtausendwende, so Sänger, würden riesige Raumschiffe von zwischenzeitlich im Erdorbit errichteten Raumstationen abheben, um sich von dort den Weg durch das Universum zu bahnen. Ähnlich einer Wasserstoffbombe, deren Explosion in Zeitlupentempo verläuft, werde ihr Antrieb auf dem Rückstoß von Photonen basieren, dem sogenannten Lichtdruck, der durch Zerstrahlung des an Bord mitgeführten Uranplasmas erzeugt werde. Auf diese Weise ließen sich außergewöhnlich hohe Reisegeschwindigkeiten von knapp 300.000 Kilometern in der Sekunde, das heißt annähernder Lichtgeschwindigkeit erzielen.41 Zumindest in der zeitgenössischen Selbstwahrnehmung der historischen Akteure in den 1950er Jahren bestätigt sich hier das Beschleunigungsparadigma, unter dem jüngere soziologische Arbeiten den Zeit-Wandel des 20.  Jahrhunderts zusammengefasst wissen wollen. Weltraumexperten wie Sänger abstrahierten von der »atemberaubenden Geschwindigkeitsentwicklung«, die sie während ihrer eigenen Lebenszeit erfahren hatten, und erklärten diese zur Folge der deterministischen Eigendynamik jeder Technik. Wenn die Raumfahrt der Gegenwart die logische Konsequenz der Luftfahrt darstellte, würden in Zukunft chemische Raketentriebwerkssysteme zunächst von thermischen Atomraketen, dann von elektrostatischen Ionenraketen und elektromagnetischen Plasmaraketen und schließlich von photonischen Atomraketen abgelöst. Weltgeschichte war über die erzielten Geschwindigkeiten zu definieren, die unaufhörlich zunehmende Beschleunigung der Vergangenheit werde sich in der Zukunft fortsetzen und im Space Age ihren Höhepunkt finden (Abb. 2 und 3).42 Der eigentliche Clou dieses Beschleunigungs-Expansions-Szenarios bestand indes darin, dass Sänger die Verkehrstechnik der Zukunft mit der speziellen 40 Zusätzlich zu den angeführten Publikationen und Radiosendungen siehe auch Gartmanns 1956 und 1957 in der FAZ und in Christ und Welt erschienene Artikel, in denen er immer wieder aufs Neue erläuterte, wie Sängers relativistische Flugmechanik an die »letzten Dinge der Raumfahrt und der Menschheit« rührte. Siehe Heinz Gartmann, Vom Staustrahl zur Photonenrakete, in: FAZ, 14.2.1956, S. 8; ders., Der Flug durch Einsteins Wunderland, in: ebd., 24.2.1956, S. 12.; ders., Und morgen – die Sterne?; ders., Der Sprung aus unserer Welt, in: Christ und Welt, 16.2.1956, S. 2; sowie ders., Kühnes Spiel mit Raum und Zeit, in: ebd., 8.3.1956, S. 9. 41 Eugen Sänger, Raumfahrt  – technische Überwindung des Krieges. Aktuelle Aspekte der Überschall-Luftfahrt und Raumfahrt, Reinbek 1958, insb. S. 15–17 u. S. 31. 42 Ebd., S. 24; ders., Vorwort zu Werner Wehr [Pseud. Heinz Gartmann], Ich lebte im Jahr 3000. Roman einer möglichen Reise, Stuttgart 1959, S. 5; Raumfahrt mit 100000 km Geschwindigkeit, in: FAZ, 6.11.1957, S. 4; John William Klotz, The Challenge of the Space Age, Saint Louis 1961, S. 87 f. Siehe auch Weyer, Akteurstrategien, S. 89 f., sowie zur Genese, Reichweite und Kritik des Beschleunigungstheorems die Einleitung zum vorliegenden Band.

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Abb. 2: Für diese im Sommer 1951 als Titelbild der Zeitschrift Weltraumfahrt ver­ öffentlichten Grafik wurden die kollektiv geleistete Arbeitszeit (links unten) und die erreichten Geschwindigkeiten (rechts unten) logarithmisch zueinander in Bezug gesetzt und mit den Kosten für den Bau eines Flugzeugträgers, des amerikanischen Verteidigungshaushalts und des Zweiten Weltkrieges verglichen (links oben). Die in Zukunft erreichten Geschwindigkeiten würden exponentiell zunehmen, was sich in der Entwicklung des Antipoden-Flugzeuges, einer bemannten Raumstation, Mond­ raketen und der ersten Marsumfahrung niederschlagen werde (oben rechts). Die hier noch nicht verzeichnete interstellare Raumfahrt galt als der letzte Schritt in dieser naturgesetzlichen Abfolge technischer Entwicklungen. Quelle: Eugen Sänger, Was kostet Weltraumfahrt?, in: Weltraumfahrt 2. 1951, H. 3, Titelbild.

Abb. 3: Diagramm, auf dem Eugen Sänger die zeitliche Entwicklung der (logarithmisch zu lesenden) erreichten Spitzengeschwindigkeiten fliegender Maschinen bis zum Jahr 2000 abtrug, 22. November 1956. Quelle: Deutsches Museum, Archiv, NL 230, vorl. Nr. 0721.

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Relativitätstheorie verknüpfte. Einstein zufolge sind Zeit, Länge und Masse keine absoluten Größen, sondern vom jeweiligen Bezugssystem abhängig. Anfang des 20.  Jahrhunderts zum ersten Mal formuliert, war dieses Theorem Mitte der 1950er Jahre in der Physik lange bekannt. Weil an Bord eines der­ artig schnellen Raumschiffes eine andere, technisch induzierte »Eigenzeit« als auf der Erde herrscht, altern die Raumfahrer langsamer als ihre zurückgebliebenen Zeit­genossen. Da sich dieser Zeitdilatationseffekt mit zunehmender Geschwindigkeit potenziert, werde es die Photonenrakete ermöglichen, innerhalb der ­Lebensdauer eines einzelnen Menschen »jede beliebige astronomische Distanz im Kosmos zurückzulegen«. Innerhalb von nur elf Lebensjahren, rechnete Sänger vor, ließen sich alle der Erde am nächsten gelegenen Sterne bereisen, innerhalb eines ­einzigen Lebensalters sogar das gesamte Universum. Sollten die Raumfahrer allerdings eines Tages, von Sehnsucht übermannt, zu ihrem Heimatplaneten zurückkehren wollen, würden die kosmischen »Spätheimkehrer« dort nicht auf ihre ursprünglichen Zeitgenossen, sondern auf viele Jahre später geborene Generationen stoßen. Nach 26,4 Jahren an Bord – einmal mit »lichtnaher Geschwindigkeit« durch das Universum und retour – wären auf der Erde etwa zwei Jahrtausende vergangen, und die zurückgekehrten Raumfahrer fänden sich in eine andere Zeit versetzt. Kurzum: Die Beschleunigung der technischen Entwicklung auf der Erde führte aufgrund der dortigen Geschwindigkeiten letztlich zu einer Ausdehnung der Zeit im Weltraum – und zwar umso ausgeprägter, je genauer die Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit gelänge.43 Die physikalisch nachgewiesene Möglichkeit der prinzipiellen Befahrbarkeit des gesamten Universums zusammen mit der Vorstellung eines fast nach Belieben stauch- oder dehnbaren Ablaufs der Zeit jenseits der Erdgrenzen riefen Empörung und scharfen Widerspruch hervor, da sie nur schwer mit dem alltäglichen Zeitwissen in Übereinstimmung zu bringen waren. Einmal in der Öffentlichkeit angekommen, sorgte die »zeitliche und räumliche Verzerrung des Kosmos« im Frühjahr und Sommer 1956 für großes Aufsehen. Sängers »mit Überzeugungskraft vorgetragene Thesen über Photonenrakete und ›technische Überwindung des Krieges‹ durch die Raumfahrt [fanden] beim breiten Publikum […] großen Widerhall«, bemerkte der Journalist Werner Büdeler (1928– 2004), »während sie in den Fachkreisen zu heftigen Debatten führten.« Während der Spiegel von einem »erbitterten Disput« schrieb, »wie ihn die Geschichte der Wissenschaft seit Jahrzehnten nicht mehr registriert hat«, beklagten Pädagogen die durch die Relativierung von Zeitvorstellungen eingetretene »Verwirrung der Öffentlichkeit« und befürchteten eine »Erschütterung des Vertrauens der Schul43 Sänger, Raumfahrt – technische Überwindung, S. 16 u. S. 115–118; Berkefeld, Zeit ist nicht leer; Levitt, Now the Space Age Opens, S. 84. Für den Begriff der »Eigenzeit« siehe Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt 1989, hier S. 13 f. u. S. 37–45; für eine umfassende Geschichte des Zeitreisens siehe Paul J. Nahin, Time Machines. Time Travel in Physics, Metaphysics, and Science Fiction, New York 19992, hier S. 423–428; zur Zeitdilatation: Penelope J. Corfield, Time and the Shape of History, New Haven 2007, S. 19–25, insb. S. 24 f. Siehe auch ihren Beitrag im vorliegenden Band.

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Abb. 4: Mit dieser Abbildung vermittelte das Hamburger Abendblatt 1958 die zukünftigen Möglichkeiten interstellarer Raumfahrt. Eine mit annähernder Lichtgeschwindigkeit fliegende Photonenrakete hat das Sonnensystem hinter sich gelassen und durchpflügt die Milchstraße auf dem Weg zu einem unbestimmten Stern. Dabei stößt sie einen mehr als 5.000 Kilometer langen Feuerstrahl aus. »Die Strecke von zehn Trillionen Kilometer [sic] zwischen der Erde und dem Stern X weit draußen in der Milchstraße soll die Photonenrakete der Zukunft in elf Jahren zurücklegen«, hieß es in der Bildunterschrift: »Sie kann jeden beliebigen Stern am Himmel umfliegen, und ihre Besatzung wird, wie Professor Sänger behauptet, noch zu Lebzeiten zurückkehren.« Quelle: Herbert L. Schrader, Ausflug in die Milchstraße, in: Hamburger Abendblatt, 12.2.1958, S. 9.

jugend in die Ergebnisse der physikalischen Forschung«.44 Radiosender wie der Norddeutsche und der Hessische Rundfunk, aber auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung reagierten auf die in zahlreichen Zuschriften geäußerten Vorwürfe mit Aufklärungssendungen, Interviews und Artikeln, in denen Gartmann und andere Sängers Überlegungen einer relativistischen Zeit- und Längenverkürzung immer wieder aufs Neue allgemeinverständlich darlegten. Alleine in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien 1956 etwa ein halbes Dutzend Artikel zum Thema, und auch die New York Times versuchte ihrer Leserschaft die ­»slowing 44 Gartmann, Flug durch Einsteins Wunderland; Werner Büdeler, Professor Eugen Sänger – ein Lebensbild, in: Weltraumfahrt 15. 1964, S. 36 f.; Die letzte Reise, S. 55; DM, NL 230, vorl. Nr. 1740, Photonenraketen, Norddeutscher Rundfunk, 17.4.1956, 17:05–17:25 Uhr; ebd., NL 230, vorl. Nr. 1068/1, Heinz Gartmann an Eugen Sänger, 8.4.1956; Ad Astra oder das Uhrenparadoxon, in: Physikalische Blätter 14. 1958, S. 192. Zu den Protesten siehe Notiz der FAZRedaktion, FAZ, 11.7.1956, S. 5. Gartmann selbst verarbeitete seine Erfahrungen in einem unter Pseudonym veröffentlichten Roman zur interstellaren Raumfahrt der Zukunft, zu dem Sänger ein Vorwort beisteuerte. »Raketen von Stern zu Stern sind ein Wunschtraum unserer Zeit«, hieß es lapidar auf dem Klappentext, »der morgen Tatsache sein wird«; siehe Wehr, Ich lebte im Jahr 3000.

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of time theory« nahezubringen.45 Ein kurz vor der Loccumer Tagung im Februar 1958 veröffentlichter und nur in der Überschrift ironischer Artikel im Hamburger Abendblatt schlug einen Ausflug in die Milchstraße als »Verjüngungs­rezept« vor, hielt sich indes ansonsten streng an das immer wieder propagierte Szenario (Abb. 4). Mit der Zukunftsrakete bis in die fernsten Winkel des Weltalls zu reisen sei die letzte Konsequenz der bemannten Raumfahrt und werde den »Erdenmenschen neue Siedlungsmöglichkeiten« jenseits ihres Heimatplaneten erschließen: »Der Kolumbus der Zukunft wird statt neuer Erdteile neue Sterne für die Menschheit entdecken.« Mit dem Start des ersten Menschen an Bord einer Weltraumrakete werde eine solche Entwicklung binnen kurzem einsetzen. Die totale Schrumpfung des Raumes und die Verzerrung der Zeit galten als verbürgtes Faktum der Welt von morgen, was die Photonenrakete zu weit mehr als einem sorgfältig durchgerechneten und auf Realisierbarkeit geprüften Gedankenexperiment machte, das es zugleich ins Feuilleton und auf den Boulevard geschafft hatte.46 Für Sänger selbst waren die zu erwartenden soziokulturellen Auswirkungen zwingender und begrüßenswerter als für seine ungläubigen Kritiker. Für den Einsatz bei irdischen Konflikten würden die neu entwickelten Raketensysteme schlicht zu schnell und zu kostspielig sein, sodass die Raumfahrt zur technischen Überwindung des Krieges und zur Errichtung eines Weltstaates führen werde, was wiederum die Einigung der Menschheit zur Folge haben müsse. »Weltfriede durch Weltraumfahrt« lautete die vielfach kolportierte Formel. Darüber hinaus stellten die mit der Technik der Zukunft erzielten Geschwindigkeiten den Schlüssel zum Erreichen der »letzten und äußersten Welten« in den Tiefen der Galaxis bereit, wo es »mit endlicher Wahrscheinlichkeit zur Begegnung mit außerirdischen Intelligenzwesen« kommen werde. Das Space Age war für Sänger das heilbringende Endzeitalter einer »raumreifen Menschheit«, die erst und nur in den Sternen Erlösung und göttliche Unsterblichkeit finden werde.47 Vielen erschloss sich indes die Logik dieses Arguments nicht, und ähnlich finden sich bei Sänger keinerlei Überlegungen zur lebensweltlichen Situation an Bord der Rakete oder zu den persönlichen wie gesellschaftlichen Auswirkungen zweitausend Jahre währender Abwesenheit auf existierende Sozialbeziehungen 45 Gartmann, Vom Staustrahl zur Photonenrakete; ders., Flug durch Einsteins Wunderland; Wilfried Berger, Können Menschen dem Ablauf der Zeit entrinnen?, in: FAZ, 11.7.1956, S. 5; Sänger, Zukunft der Raumfahrt; Heinrich Faust, Künstliche Satelliten und Weltraumfahrt, in: FAZ, 27.11.1956, S. 10; Jutta Schulze, Friedliche Eroberung des Weltalls, in: ebd., 7.12.1956, S. 2. Slow Time Called Space-Travel Key, in: New York Times, 9.3.1958, S. 45. 46 Herbert L. Schrader, Ausflug in die Milchstraße, in: Hamburger Abendblatt, 12.2.1958, S. 9; ders., In 2 Stunden um die Erde, in: ebd., 8./9.2.1958, S. 14; Jünger durch Weltraumfahrt, in: ebd., 12.4.1958, S. 40. Exemplarisch: Robert Gerwin, Menschen – schneller als das Licht, in: Hobby 5. 1956, S. 9–15 u. S. 140–142. 47 Eugen Sänger, Die Raumfahrt und die Erschließung fremder Welten, in: Universitas 12. 1957, S. 967–976, hier S. 969; ders., Mechanik der Photonen-Strahlantriebe, S. 4 u. S. 8.

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und Familienstrukturen angestellt. Kritiker wie Born bezeichneten Sängers Vision entsprechend als »Märchen« und wandten zu Recht ein, dass es keinen Grund gebe, warum die Existenz der neuen Photonenraketen zwingend zur Abschaffung älterer, deutlich langsamerer Waffensysteme führen müsse. Zudem werde die staatliche Investitionsbereitschaft schlagartig zurückgehen, wenn konventionelle Raketen als Waffenträger ausfielen und Raumfahrt nicht länger von militärischem Interesse sei.48 Bis in die frühen 1960er Jahre, als die Aufmerksamkeit sowohl der internationalen Medienöffentlichkeit als auch der transnational agierenden Weltraum­ experten zusehends auf das von Präsident John F. Kennedy im Mai 1961 noch für dasselbe Jahrzehnt – »before this decade is out« – angekündigte Apollo-Mondlandungsprogramm fokussierte, wurde diese, in keinem Schulkurrikulum vorgesehene »Überwindung von Raum und Zeit« immer wieder diskutiert. Zusehends mehrten sich jedoch Stimmen, die die technische Machbarkeit des Unterfangens grundsätzlich infrage stellten.49 Sängers kurz vor seinem Tod im Februar 1964 erschienenes Hauptwerk »Raumfahrt: heute – morgen – übermorgen« gab der Debatte kurzfristig noch einmal neuen Schub. Die große Resonanz des Buches – über fünfzig Besprechungen in überregionalen Zeitungen – konnte indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Photonenrakete als friedensbringendes Movens der Zukunft ihre prägende Zeit hinter sich hatte.50 Als sich die NASA 1962 mit der lunar-orbit rendezvous-Methode (LOR) für den direkten Weg zum Mond entschied, welcher die zuvor lange geplante Errichtung einer Außenstation im Erdorbit nicht länger zur Grundvoraussetzung hatte, fiel damit eines der zentralen Infrastrukturprojekte weg, ohne das an einen Start von Photonenraketen nicht zu denken war. Physiker kamen gleichzeitig zu dem Schluss, dass die von Sänger errechneten Geschwindigkeiten niemals zu erreichen wären, weder mit chemischen Raketentreibstoffen noch mit nuklearen Antrieben. Ein vielbeachteter Vortrag auf der 11. Jahrestagung der Deutschen Raketengesellschaft in Koblenz im Herbst 1962 deklassierte das Sängersche Projekt dann auch als »prak48 So der Titel seines im Herbst 1958 in »Rowohlts Deutscher Enzyklopädie« erschienenen­ Buches; siehe Sänger, Raumfahrt – technische Überwindung des Krieges, hier S. 24. Kurz vor oder kurz nach Zwölf?; Sängers »Märchen«, in: Rheinischer Merkur, 28.3.1958. Weyer, Akteurstrategien, S. 91–96. 49 DM, NL 230, vorl. Nr.  0589, Heinz Gartmann, Überwindung von Raum und Zeit. Galaxis und Kalender  – manipuliert, Hessischer Rundfunk, 26.3.1959. President John F. Kennedy, Special Message to the Congress on Urgent National Needs, Washington, DC, 25.5.1961, http://nasa.gov/vision/space/features/jfk_speech_text.html: »I believe that this nation should commit itself to achieving the goal, before this decade is out, of landing a man on the moon and returning him safely to the earth.« Dazu John M. Logsdon, John F. Kennedy and the Race to the Moon, Basingstoke 2010, S. 245, Anm. 1. 50 Eugen Sänger, Raumfahrt. Heute – morgen – übermorgen, Düsseldorf 1963, hier S. 343–417. Unter den Besprechungen siehe nur Richard Kaufmann, Die Pyramiden des 20. Jahrhunderts, in: Christ und Welt, 25.10.1963, S. 24; Deutsche Kolonien auf fremden Sternen?, in: TV Hören und Sehen, 21.3.1964, S. 6 u. S. 9; zahlreiche weitere in DM, NL 230, vorl. Nr. 0864.

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tisch undurchführbar« und wies auf die Ironie hin, dass es nicht zwingend zum Weltfrieden führen müsse, von der Lagerung des labilen Uranplasmas wohl aber eine Todesgefahr für die gesamte Menschheit ausgehen würde.51 Ob realisierbar, fantastisch oder überhaupt wünschenswert, Weltraumfahrt war hier »Zeitraumfahrt«. Die Raumfahrttechnik der Zukunft werde »unserer heutigen Erkenntnis undenkbare Wege zur Überwindung von Gravitation, Raum und Zeit« eröffnen, lautete das Versprechen. Über die zumindest theoretische Möglichkeit der Zeitdilatation wurde der relativistische Charakter der Zeit in die Öffentlichkeit getragen und dort kontrovers diskutiert. »Damit wird der Begriff der ›absoluten Zeit‹, die für das ganze Weltall ohne Rücksicht auf den Bewegungszustand des Beobachters gilt, unbrauchbar«, stellte etwa der Physiker und Sachbuchautor Werner Braunbek (1901–1977) fest. Was die einen schmerzhaft an Freuds »kosmologische Kränkung« erinnerte, war für die anderen ein weiterer Beleg für den Unsinn jedweden Geozentrismus.52 Die Popularität solcher Großprojekte verdeutlicht den zutiefst imperialen Charakter des auf unbegrenzte räumliche Expansion angelegten Space Age. Wie die Raumschiffe der Zukunft immer höhere Geschwindigkeiten erreichten und immer mehr Starts in immer kürzerer Zeit erfolgten, sollte das Ausgreifen in den unendlichen Raum nicht nur das langfristige Überleben der Menschheit zur Folge haben, sondern auch, fast im Vorübergehen, zur Kontrolle über die Zeit führen. Zeitdehnung war ebenso Voraussetzung wie Ergebnis der Raumverkürzung im Weltraumzeitalter. Zeitliche Unendlichkeit erwies sich als Nebenprodukt der räumlichen; war der Weltraum erobert, würde die Zeit beherrscht. Dass an Bord alles möglich werden sollte, machte das hyperbeschleunigte Raumschiff zum utopischen Ort par excellence und zum Signum einer technoszientistisch geprägten Fortschrittsmoderne auf ihrem Höhepunkt. Es war dieses, lange zuvor versprochene und immer wieder erneuerte »Schema des Weltraumfahrt-Traumes«, das Versprechen eines schrittweisen, letztlich als unausweichlich verstandenen Ausgreifens in die raumzeitliche Unendlichkeit, auf das Neil Armstrong im Juli 1969 beim Ausstieg aus der Mondlandefähre Eagle so elegant, wenngleich nicht ganz so spontan anspielte, wie es viele gerne gehabt 51 Alfred Schack, Weltraumfahrt und Zeitdilatation, in: Physikalische Blätter 15. 1959, S. 131– 135; Werner Braunbek, Kommt die Reaktor-Rakete?, in: Kosmos 56. 1960, S. 549–552; Kurt Rudzinski, Atomenergie und Weltraumfahrt, in: FAZ, 2.5.1961, S. 11; ders., Still zu Grabe getragen, in: ebd., 12.2.1963, S. 9. Zur Diskussion innerhalb der NASA und zum Ende des sogenannten »von Braun-Paradigma« Michael J. Neufeld, Von Braun and the Lunar-Orbit Rendezvous Decision. Finding a Way to Go to the Moon, in: Acta Astronautica 63. 2008, S. 540–550. 52 Gerd Heinz-Mohr, Der Wind voller Weltraum. Bemerkungen zum Wandel dichterischen Weltbewußtseins, in: Bolewski, Weltenraum in Menschenhand, S. 194–207, hier S. 207; Sänger, Mechanik der Photonen-Strahlantriebe, S. 8; ders., Forschung zwischen Luftfahrt und Raumfahrt, in: Weltraumfahrt 6. 1955, S. 12–21, hier S. 21; Werner Braunbek, Bleibe jung durch Weltraumreisen, in: Kosmos 54. 1958, S. 194; Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse [1917], in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Frankfurt 1999, S. 3–26, hier S. 7.

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hätten.53 »Mitten in einem Jahrhundert hat ein neues Jahrtausend begonnen«, kommentierte die Bild-Zeitung diese »Sternstunde« der Menschheit und lieferte so ihren eigenen Beitrag zur Periodisierung des Weltraumzeitalters.54

III. Raumschiffzeit Es gehört zu den wenigen Standardargumenten innerhalb des wenig etablierten Forschungsfeldes Space History, dass nicht das menschliche Ausgreifen in zuvor unbekannte Räume als das Hauptergebnis der bemannten Raumfahrt anzusehen sei. Vielmehr habe der Blick zurück zu einer Art globaler Neuerfindung des Heimatplaneten geführt, möglicherweise der größtmöglichen ­imagined community (Benedict Anderson) schlechthin. Die Ansicht der Erde aus einer kosmischen Perspektive, deren Vorbedingung die nie zuvor (und seitdem nicht wieder) erreichte räumliche Distanz darstellte, so das Argument, hatte eine Rückbesinnung und Re-Fokussierung auf die Erde zur Folge, welche entscheidend zur Genese der Ökologie- und Umweltbewegung in den frühen 1970er Jahren beitrugen. Als Gewährsmann für dieses Argument wird im deutschsprachigen Raum für gewöhnlich der österreichische Philosoph G ­ ünther Anders (1902–1992) angeführt. Anders zufolge habe die Erde durch den Blick vom Mond zum ersten Mal die Chance bekommen, »sich selbst zu sehen, sich selbst zu begegnen, wie sich bisher nur der im Spiegel sich reflektierende Mensch hatte begegnen können«.55 Metonymisch für die (Wieder-)Ent­deckung der Erde, des »blauen Planeten«, stehen gemeinhin die beiden Fotografien Earth­rise, am Heiligen Abend 1968 von Apollo 8-Astronaut Bill Anders aufgenommen, und Blue Marble, welche sein Apollo 17-Kollege Harrison Schmitt während der letzten Mondmission am 7. Dezember 1972 machte. Fast genau im Abstand von vier Jahren fotografiert, 53 Joseph Meurers, Das Universum und das Problem des Menschen, in: Bolewski, Weltenraum in Menschenhand, S. 55–71, hier S. 70. Apollo 11 Mission Logs, Washington, DC 20.7.1969, 109:24:48 (Ground Elapsed Time)/22:56 (Eastern Standard Time): »That’s one small step for [a] man; one giant leap for mankind.« Zur Frage der Spontaneität von Armstrongs berühmt gewordener Äußerung und des offenkundig verschluckten indefiniten Artikels James R. Hansen, First Man. The Life of Neil A. Armstrong, New York 2005, S. 493–496; siehe auch Roland, Barnstorming in Space, hier S. 40. Für eine Übersicht über die bei der NASA gebräuchlichen Datums- und Zeitangaben am Beispiel von Apollo 11 siehe http://history.nasa. gov/ap11–35ann/ap11events.html. 54 Peter Boenisch, Ein neues Jahrtausend, in: Bild, 21.7.1969, S. 1; National Archives, College Park, MD, Record Group 0306: U. S. Information Agency 1958–1972, 21, INF 7–6 Apollo 11 Space Reports, Foreign Media Reaction: Apollo 11, 21.7.1969, S. 6. 55 Günther Anders, Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge [1970], München 1994, S. 12. Das wohl einflussreichere amerikanische Äquivalent ist ein kurzer Kommentar, den der Schriftsteller Archibald MacLeish (1892–1982) am Weihnachtstag 1968 in der New York Times veröffentlichte; ders., A Reflection. Riders on Earth Together, Brothers in Eternal Cold, in: New York Times, 25.12.1968, S. 1.

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rahmen Earthrise und Blue Marble nicht nur die neun Missionen des amerikanischen Apollo-Programms ein und stellen vielleicht dessen eigentliches Vermächtnis dar, sondern haben selbst längst ikonischen Status erreicht. Im Vergleich zu den Originalaufnahmen überarbeitete und an irdische Seherwartungen angepasste Versionen dieser Fotografien gehören heute zu den am häufigsten reproduzierten Abbildungen überhaupt.56 Ob dieses genuin globalisierende, durch stetes Wiederholen mitunter etwas abgestandene (und darin dem sogenannten Sputnikschock nicht unähnliche) one worldism-Argument auch dann noch Gültigkeit besäße, wenn man es aus globalgeschichtlicher Perspektive einer sorgfältigen Rezeptionsanalyse und weltweiten Wirkungsprüfung unterzöge, ist durchaus ungewiss. Argumentiert man jedoch, dass der die Erde umgebende Raum, der Welt-Raum, im Laufe des 20. Jahrhunderts zusehends plastischer gedacht wurde, liegt es nahe, in einem dritten und letzten Schritt nicht nach Annahmen über Zeitlichkeit innerhalb des Weltraumdenkens, sondern umgekehrt nach Auswirkungen der Weltraumerschließung auf das individuelle wie das kollektive Zeitdenken zu fragen. Neu ist diese Frage nicht. Bereits Ende der 1940er Jahre hatten sich Philosophen und Science-Fiction-Autoren Gedanken über Rückwirkungen der Raumfahrt auf zukünftiges Zeitdenken gemacht. In einem berühmt gewordenen Vortrag vor der British Interplanetary Society in London 1948 argumentierte der von der BBC als »historian of the future« bezeichnete Schriftsteller Olaf Stapledon (1886–1950) etwa, dass sich das gegenwärtig vorherrschende Verständnis von Zeit angesichts der für die Zukunft zu erwartenden Veränderungen als »sehr inkohärent und oberflächlich« erweisen werde.57 Wie aber ist die erwartete »Weltraum-Zeit« beschrieben worden, nachdem sie einmal erlebt worden war? Seit dem Beginn der bemannten Raumfahrt am 12. April 1961 haben sich knapp 550 Menschen mehr als 100 Kilometer von der 56 Aus der umfangreichen Literatur zur Vorgeschichte, Genese und Wirkung von Earthrise (Apollo 8, 24.12.1968, NASA AS8–14–2383HR) und Blue Marble (Apollo 1972, 7.12.1972, NASA AS17–148–22727; beide unter http://visibleearth.nasa.gov) siehe nur: Denis ­Cosgrove, Contested Global Visions. One-World, Whole-Earth, and the Apollo Space Photographs, in: Annals of the Association of American Geographers 84. 1994, S. 270–294; Wolfgang Sachs, Satellitenblick. Die Ikone vom blauen Planeten und ihre Folgen für die Wissenschaft, in: Ingo Braun u. Bernward Joerges (Hg.), Technik ohne Grenzen, Frankfurt 1994, S. 305–346; Robert Poole, Earthrise. How Man First Saw the Earth, New Haven 2008; Benjamin Lazier, Earthrise. Or, the Globalization of the World Picture, in: American Historical Review 116. 2011, S. 602–630; Horst Bredekamp, Blue Marble. Der Blaue Planet, in: Christoph­ Markschies u. a. (Hg.), Atlas der Weltbilder, Berlin 2011, S. 367–375. 57 Olaf Stapledon, Interplanetary Man, hier S. 231; ders., The Re-Making of Man, in: The Listener, 8.4.1931, S. 575. »Man and the Planets« und »New Worlds to Conquer?« standen als alternative Titel für Stapledons auch international breit diskutierten und schnell einschlägig gewordenen Aufsatz zur Wahl; vgl., University of Liverpool Library, Special Collections and Archives, Olaf Stapledon Collection [im Folgenden OS], H6/A1–16, Randnotiz auf einem Schreiben des Sekretärs der BIS, Leonard J. Carter, 16.4.1948 bzw. ebd., I9: Press Cuttings (1929–1973), für eine Vielzahl an in- und ausländischen Reaktionen.

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Erdoberfläche entfernt und damit die – willkürlich definierte und völkerrechtlich nicht bindende – Grenze zum Weltraum überschritten. Lediglich 24 Astro­ nauten haben den Low Earth Orbit (LEO) in Höhe von 200 bis 2.000 Kilometern hinter sich gelassen. Von diesen haben wiederum nur zwölf Menschen einen fremden Himmelskörper betreten, und dies ausschließlich zwischen dem 20. Juli 1969 und dem 14. Dezember 1972. Alleine innerhalb dieser elf Jahre, von 1961 bis 1972, hat sich die im Weltraum verbrachte Zeit von 1 Stunde, 48 Minuten (Wostok 1) auf über 300 Stunden (Apollo 17) vervielfacht.58 In einer unüberschaubaren Plethora von Vorträgen und Interviews haben sich nahezu alle Raumfahrerinnen und Raumfahrer zu ihren während des Fluges gemachten Erfahrungen geäußert. Mindestens fünfzig haben entsprechende Ego-Dokumente, zumeist Autobiographien verfasst, nicht alle ohne fremde Hilfe, manche dafür gleich mehrfach und in unterschiedlichen Versionen.59 Der Faktor »Zeit« spielt in nahezu allen untersuchten Raumfahrertexten eine zentrale Rolle.60 Juri Gagarin (1934–1968) räsonierte bereits über die veränderte Zeitwahrnehmung und den Verlust jedweden »Zeitgefühls«. Ohne einen »Zeitgeber« sei keine Orientierung möglich, und so fielen, ähnlich den irdischen Zeitzonen, an Bord seines Raumschiffes gleich zwei unterschiedliche Zeitordnungen zusammen, Bord- und Erdzeit. Alan Shepard (1923–1998) zufolge be58 Astronaut/Cosmonaut Statistics, http://worldspaceflight.com/bios/stats.php (Stand: 22.7.2015); Richard W. Orloff, Apollo by the Numbers. A Statistical Reference, Washington, DC 2000, S. 264. 59 Für eine umfangreiche Liste von Raumfahrerautobiographien siehe Astronaut Biographies, http://hq.nasa.gov/office/hqlibrary/pathfinders/astrobio.htm. Es versteht sich von selbst, dass der Autoren­status bei manchen dieser Texte unklar ist und es sich bei Autobiographien um keine unproblematische Quellengattung handelt. Mit Fokus auf Überlebensstrategien in »extreme environments« scheinen sich bislang lediglich Psychologen und Anthropologen mit diesen Texten beschäftigt zu haben, nicht aber Literaturwissenschaftler oder Historiker. Für eine kursorische Inhaltsanalyse von vier »frühen« Astronautenautobiographien (John Glenn, Gordon Cooper, Edwin »Buzz« Aldrin, Michael Collins) siehe Peter Suedfeld u. Tara W ­ eiszbeck, The Impact of Outer Space on Inner Space, in: Aviation, Space, and Environmental Medicine 75. 2004, S. C6–C9; für ein close reading des Tagebuchs, das Kosmonaut Walentin Lebedew 1982 während seines 211-tägigen Aufenthaltes an Bord der sowjetischen Raumstation Salyut 7 verfasst hat (ders., Moë izmerenie, Moskau 1994 [engl.: Diary of a Cosmonaut. 211 Days in Space, College Station 1988]) siehe Debbora Battaglia, Coming in at an Unusual Angle. Exo-Surprise and the Fieldworking Cosmonaut, in: Anthropological Quarterly 85. 2012, S. 1089–1106. Nach der Wahrnehmung und Bedeutung von Zeit wird in beiden Fällen nicht gefragt. 60 Diese Analyse basiert auf der Auswertung von zwei Dutzend zwischen April 1962 und Mai 1991 veröffentlichten Autobiographien von Raumfahrerinnen und Raumfahrern. Dazu zählen u. a. Juri Gagarin, Alan Shepard, John Glenn, Alexei Leonow, Edwin Aldrin, Eugene­ Cernan, Neil Armstrong, David Scott, Michael Collins, Harrison Schmitt, Sigmund Jähn, Walentin Lebedew, Jean-Loup Chrétien, Ulf Merbold und Helen Sharman. Stichproben­ artig wurden zusätzlich die Mission Transcripts der amerikanischen Apollo-Missionen 8–17 durchgesehen; siehe Communications Transcripts. Mercury Through Apollo, http:// jsc.nasa.gov/history/mission_trans/mission_transcripts.htm.

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zeichneten die Mercury-Astronauten nur letztere als »echte Zeit«.61 John Glenn (1921–) schilderte hingegen, wie im Februar 1962 an Bord seiner »Friendship 7«-Raumkapsel gleich sechs unterschiedliche Instrumente mehr als vier verschiedene Zeiten anzeigten: Greenwich Mean Time (GMT) zur Kommunikation mit den über die Erde verteilten Kontrollstationen; die seit dem Start in Cape Canaveral vergangene Zeit (Ground Elapsed Time, GET); die noch bis zur Landung verbleibende Zeit (Remaining Operating Time, ROT); die bis zur Zündung der Bremsstoßraketen vergehende Zeit (Time to Retrofire, TR); zudem eine Stopp- und zusätzlich seine berühmte Heuer-Armbanduhr. »Wir sind«, kommentierte Glenn diese Polychronie auf eng begrenztem Raumschiffraum, »außerordentlich zeitbewußt während unserer Fahrt«. Ähnlich berichtete der erste deutsche Raumfahrer Sigmund Jähn (1937–), während seines Fluges im August 1978 jedwedes »Zeitempfinden« verloren zu haben und vollständig auf die Borduhr mit ihrem 24-Stunden-Zifferblatt angewiesen gewesen zu sein; in einem speziellen Zeitexperiment wurde eigens die Veränderung des Zeitgefühls in der Schwerelosigkeit untersucht.62 Auch Space Shuttle-Astronaut und Weltraumspaziergänger Jeffrey A. Hoffman (1944–) blendete die Erdzeit vollständig aus, fokussierte auf die Bordzeit und orientierte sich dazu an den regelmäßigen, jeweils etwa neunzig Minuten dauernden Erdumrundungen der Raumfähre: I quickly stopped carrying any ground clock in my mind. It became irrelevant. […] Everything went by our orbit clock, Mission Elapsed Time, because all our activities were scheduled in its terms. For my internal planning activities, I tended to use the orbit as the basic unit of time.63

Diese erste technisch-praktische Antinomie Erdzeit vs. Bordzeit ist ein gängiger Topos in Astronauten- und Kosmonautenautobiographien. Sie bezeichnet zwei kontrastierende Zeitordnungen, die jeweils örtlich induziert sind. 61 Juri A. Gagarin, Ich war der erste Mensch im Weltall. Psychologie und Kosmos, München 1970, S. 188 u. S. 190 (russ.: Psichologija i kosmos, Moskau 1968). M. Scott Carpenter u. a., We Seven. By the Astronauts Themselves. New York, 1962, S. 264 (dt.: Das Astronautenbuch. Sieben amerikanische Weltraumfahrer berichten, Berlin 1962, hier S. 302). 62 Ebd., S. 106 (dt.: S. 128); Clocks in Orbit. Astronauts to Use 3 Kinds of Time, in: Washington Star, 29.5.1965; Sigmund Jähn, Erlebnis im Weltraum, Berlin (Ost) 1983, S. 193 u. S. 241. Als Ko-Autor einer der ersten naturwissenschaftlichen Studien zur Wahrnehmung von Zeit und Raum fungierte 1968 der Kosmonaut Alexei Leonow (1934–), der drei Jahre zuvor als erster Mensch die schützende Raumkapsel verlassen und einen sogenannten Weltraum­ spaziergang unternommen hatte. Siehe Alexei A. Leonow u. Wladimir I. Lebedew, Wosprijatie prostranstwa i wremeni w kosmos, Moskau 1968 (engl.: Perception of Space and Time in Outer Space, Washington, DC 1969; dt.: Der Mensch im Weltall. Die Wahrnehmung von Raum und Zeit im Kosmos. Leipzig 1969) sowie seine Autobiographie: ders., Spaziergänger im All. Erinnerungen, Stuttgart 1971. 63 Hoffman zitiert nach White, Overview Effect, S. 21 f. Bis zum vorzeitigen Ende des ApolloProgramms 1972 hielt die NASA die Unterscheidung zwischen GMT und GET aufrecht. Um Verwechselungen zu vermeiden, wurde mit dem ersten Launch eines Space Shuttle im April 1981 GET durch MET (Mission Elapsed Time) ersetzt; Orloff, Apollo by the Numbers, S. IV.

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Die individuelle Zeitwahrnehmung von Raumfahrern ist zweitens durch die Diskrepanz zwischen enormem Zeitdruck einerseits, drohendem Zeitverlust an Bord des Raumschiffs andererseits gekennzeichnet. »Während ich durch den Weltraum flog«, beschrieb etwa Mercury-Astronaut Scott Carpenter (1925–2013) sein Zeitempfinden 1962, empfand ich eine seltsame Zusammendrängung der Zeit. Es war, als ob die Geschwindigkeit, mit der ich flog, eine Wirkung auf die Dauer der Augenblicke hätte, die ich dort verbrachte, und sie, einen nach dem anderen, zusammenraffte. Ich schien immer in einer ungeheuren Eile zu sein, von einem Ereignis zum nächsten zu kommen, weil jeder neue Vorgang so plötzlich auftauchte wie Enten auf einem Schießstand. […] Ich hatte die ganze Zeit immer irgend etwas zu tun.64

Leonow sah sich während seines 12-minütigen Ausstieges aus der schützenden Kapsel drei Jahre später mit demselben Problem konfrontiert. Durch den »höchst gedrängten Zeitplan« fühlte er sich solchem Druck ausgesetzt, dass die Zeit stillzustehen schien. In seiner Autobiographie »Spaziergänger im All« (1971) heißt es: In jenen Augenblicken, da ich im Weltraum schwebte, war mir der Begriff der Zeit, dieser Eindruck eines Flusses, der unbeirrbar und unwiederbringlich seiner Mündung entgegenfließt, fremd. Ich spürte nicht Sekunde um Sekunde mit jener Schicksalshaftigkeit verstreichen, die uns manchmal das Herz zusammenschnürt. Ich war vollkommen damit beschäftigt, meine Aufgaben zu erfüllen. […] Ich war ein Spaziergänger im All, aber keineswegs ein Müßiggänger.65

Zur Beschreibung der ähnlich dicht getakteten Beschäftigungsroutinen während seines 211-tägigen Aufenthaltes an Bord von Saljut 7 wählte Kosmonaut Walentin Lebedew (1972–) in seinem Tagebucheintrag vom 29.  Mai 1982 ein ungewöhnliches Wort: den deutschen Begriff »Zeitnot«.66 Andererseits klagten Gemini 5-Astronauten Gordon Cooper (1927–2004) und Charles »Pete« Conrad (1930–1999) während ihres achttägigen Aufenthaltes 1965 über die Stille an Bord des Raumschiffs und verlangten, dass ihre Kollegen zukünftig Musik mitnehmen dürften, um Langeweile und Sprachlosigkeit zu vertreiben. »Kinda boring«, beschrieb ­Conrad seinen dreitägigen Hinweg zum Mond im November 1969 als Apollo 12-Astronaut: »Everything was automated until we got to the Moon, so there wasn’t a lot to do other than shave and brush your teeth.« Zeit ist hier nicht örtlich induziert, sondern wird von der das Überleben sichernden Maschine bestimmt. Die vorgegebene Taktung zu übernehmen und die geforderten Routinen durch­zuführen, wird zur individuellen Herausforderung des

64 Carpenter, We Seven, S. 337 (dt.: Astronautenbuch, S. 384). 65 Leonow, Spaziergänger im All, S. 105 u. S. 177. 66 Lebedew, Moe izmerenie, Eintrag vom 29. Mai 1982, 15:41 Uhr. In der englischen Übersetzung (Diary of a Cosmonaut, S. 67) ist der Begriff ausgelassen worden.

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Raumfahrers, der persönliche Zeitbedürfnisse zurückzustellen und der Raumschiffzeit unterzuordnen hat, um den Erfolg der Mission nicht zu gefährden.67 Während von entsprechenden Konflikten und Erfahrungen im Umgang mit Zeit auch auf abgeschiedenen Forschungsstationen am Meeresboden, auf hoher See oder in den Polarregionen berichtet wird und diese beiden Zeit-Anti­ nomien – Erdzeit vs. Bordzeit und Zeitdruck vs. Zeitverlust – auch unter anderen extremen Umweltbedingungen beschrieben worden sind, ist eine dritte und letzte Antinomie weltraumspezifisch. Eigenzeit vs. Weltraumzeit bezeichnet den kaum zu begreifenden und noch schwieriger zu formulierenden Bedeutungsverlust jeder irdischen Zeitordnung angesichts tiefer, schwarzer Grenzenlosigkeit und kosmischer Stille. »Time is a dimension measured only within the mind«, wird Apollo 15-Astronaut Deke Slayton (1924–1993) zitiert.68 Ähnlich sah sich Eugene Cernan während seiner Apollo 10-Mission im Mai 1969 mit raumzeitlicher Unendlichkeit konfrontiert: Out where I was dashing through space, I was wrapped in infinity. Even the word ›infinity‹ lost meaning, because I couldn’t measure it, and without sunsets and sunrises, time meant nothing more than performing some checklist function at a specific point in the mission. […] There is no end. […] I have been out there and I have seen the endlessness of space and time with my own eyes.69

Cernans Eindruck unbegreiflicher Unermesslichkeit bestätigte sich noch, als er als Apollo 17-Kommandant dreieinhalb Jahre später den Mond betrat und feststellen musste, dass mit jeder auf der Oberfläche verbrachten Stunde »the sense of absolute nothingness« wuchs.70 Einerseits erweist sich die mithilfe unterschiedlicher technischer Systeme hergestellte und durch Kommunikation mit den Bodenstationen aufrecht erhaltene irdische Zeitordnung an Bord des Raumschiffes von zentraler psychologischer Bedeutung, als eines der wenigen verbleibenden Bezugssysteme zum Heimatplaneten und bedeutsamer Anker angesichts drohenden Zeit- und Orientierungsverlustes. Dazu dient ebenfalls der »wakeup call«, ein täglich variierter Musikgruß, der im amerikanischen Raumfahrtprogramm seit Apollo 10 üblich ist, um allmorgendlich die Crew zu wecken und so Erd- und Bordzeit auch individualpsychologisch zu synchroni-

67 L. Gordon Cooper Jr., Leap of Faith. An Astronaut’s Journey into the Unknown, New York 2000, S. 120; Nancy Conrad u. Howard A. Klausner, Rocketman. Astronaut Pete Conrad’s Incredible Ride to the Moon and Beyond, New York 2005, S. 170. Siehe auch Gagarin, Ich war der erste Mensch, S.  209 f. Zur Mensch-Maschine-Interaktion an Bord der ApolloRaumschiffe David A. Mindell, Digital Apollo. Human and Machine in Spaceflight, Cambridge, MA 2008, hier S. 91–94 u. 158–160. 68 Alan Shepard u. Deke Slayton, Moon Shot. The Inside Story of America’s Race to the Moon, Atlanta 1994, S. 364. 69 Eugene Cernan u. Don Davis, The Last Man on the Moon. Astronaut Eugene Cernan and America’s Race in Space, New York 1999, S. 208 f. (Herv. i. O.). 70 Ebd., S. 330.

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sieren.71 Andererseits zeigt sich, wie irdisch geprägt, kaum sinnvoll anzuwenden und alles andere als »universell« das gedachte Ordnungssystem Zeit ist. Jenseits seiner terrestrischen Grenzen ist Sprachlosigkeit die einzig mögliche Reaktion auf die dort vorherrschende Bedeutungslosigkeit der Zeit.

IV. Astronautik und Zeitbewusstsein Das Auseinanderklaffen von Weltraum und Weltzeit findet in der globalen Ausdehnung der Gegenwart über den irdischen Raum seine Entsprechung. Zu Beginn des 21.  Jahrhunderts ermöglichen satellitengestützte Navigations- und Kommunikationssysteme ein nie zuvor gesehenes Ausmaß an Gleichzeitigkeit und erlauben zum ersten Mal eine permanente Selbst- und Fremdverortung im Raum. Die Orientierung zu verlieren oder gänzlich verloren zu gehen, wird zur vielbeachteten Ausnahme.72 Dass es einen historischen Zusammenhang zwischen Weltraumerschließung, Zeitverständnis und denjenigen internationalen Verflechtungs- und Vernetzungsprozessen geben könnte, die gemeinhin als »Globalisierung« bezeichnet werden, scheint indes nur selten beobachtet worden zu sein, trotz Albert Ducroqs eingangs zitiertem Diktum, demzufolge die Astronautik unserem Bewusstsein die überragende Bedeutung der WeltraumZeit aufgedrängt habe. Auch wenn unterschiedliche Konfigurationen von »Zeit« Kernbestandteil der bemannten Raumfahrt als einem technoszientistischen Schlüsselprojekt des 20. Jahrhunderts und der damit verbundenen weitreichenden Versprechungen waren, haben sich diese nicht als zentral für dessen soziokulturelle Rückwirkungen erwiesen und so im Zeitalltag nur mittelbar zur Genese der imagined community des Planeten Erde beigetragen. Als einer von wenigen hat der französische Philosoph Paul Virilio über mögliche kulturelle Rückwirkungen des Ausgreifens in den Weltraum für das ir­ dische Zeitverständnis nachgedacht. Gegen das one worldism-Argument will er in »La vitesse de libération« (1995) zeigen, dass mit voranschreitender Erschließung des extra-terrestrischen Raumes die Bedeutung der Erde nicht etwa zu-, sondern abgenommen habe. Der Raum sei verschwunden und auf Zeit reduziert worden. »Jenseits der Erdanziehung gibt es keinen Raum mehr, der diesen Namen verdient, sondern nur noch Zeit! Eine Zeit, die ganz allein die kosmische Realität ausmacht«, heißt es dort. Als Gewährsmann fungiert Apollo 11-Astronaut Buzz Aldrin (1930–), der in seiner Autobiographie »Men from Earth« ähnlich wie Cernan die auf dem Mond vorherrschende Zeitlosigkeit kommentiert hat. 71 Für eine akribische Auflistung aller jemals gespielten Musikstücke siehe Colin A. Fries, Chronology of Wakeup Calls, NASA History Division, Washington, DC, http://history. nasa.gov/wakeup.htm. 72 Fraser MacDonald, Anti-Astropolitik. Outer Space and the Orbit of Geography, in: Progress in Human Geography 31. 2007, S. 592–615, hier S. 602.

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Für Virilio hat die weiteste jemals von einem Menschen überwundene Distanz nicht zur Wiederentdeckung der Erde geführt, sondern die Unermesslichkeit der Zeit aufgedeckt.73 Während seine Verwunderung zu teilen ist, dass eine solche Beobachtung nicht mehr zeitgenössische Kommentatorinnen und Kommentatoren auf den Plan gerufen hat, verfehlt er dennoch den entscheidenden Punkt. Zeit mag unermesslich sein, zunächst einmal ist sie jedoch ebenso menschlich wie irdisch – und damit weder universell noch unendlich. Jenseits der Erde bestätigt sich Elias’ Einsicht, dass ihre Existenz von der des Menschen abhängt: »In einer Welt ohne Menschen oder ohne Lebewesen ähnlicher Art gäbe es auch keine Zeit.« Anthropo- und Geozentrismus sind dem historischen Denken ebenso tief eingeschrieben wie dieses einem kaum irritablen linearen wie durch und durch irdischen Zeitverständnis unterliegt.74 Letztlich lässt sich die Zeit des Weltraumzeitalters ungewöhnlich genau bestimmen. Als sich in der Post-Apollo-Ära der 1970er Jahre zeitgleich mit der Re-Fokussierung auf den Heimatplaneten der lange gepriesene »Weltraumfahrplan« als nicht realisierbar erwies und dafür die Grenzen des »Schemas des Weltraumfahrt-Traumes« in den Vordergrund traten, wurde auch das Gesamtversprechen eines schrittweisen Ausgreifens in die raumzeitliche Unendlichkeit unglaubwürdig. Sobald die Zukunft nicht länger zwingend in den Sternen stattfand, war nicht die Zeit der Raumfahrt, wohl aber die des Weltraumzeitalters vorüber. Dessen Zeitraum kann somit präzise datiert werden: Es dauerte drei Jahrzehnte an und reichte vom 3. Oktober 1942, 15:58 Uhr (MEZ), bis zum 14. Dezember 1972, 21:54 Uhr (GMT), vom ersten Artefakt, das die Grenze zum Weltraum überschritt, bis zu dem Moment, als der letzte Mensch den Mond verließ.75

73 Paul Virilio, La vitesse de libération. Essai, Paris 1995, S. 13, S. 57 und S. 149 (dt.: Flucht­ geschwindigkeit. Essay, Frankfurt 2001, S.  12, S.  63 f. u. S.  167 f.) (Herv. i. O.); siehe aber Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt 1986. Buzz Aldrin, Men from Earth, New York 1989, S. 238 u. S. 243. 74 Virilio, Vitesse, S. 163 (dt.: Fluchtgeschwindigkeit, S. 184); Elias, Über die Zeit, S. XX. 75 Dieser Moment wurde von einer auf dem Mond zurückgelassenen Filmkamera aufgezeichnet; siehe Apollo 17 Lunar Liftoff, 14.12.1972, https://youtu.be/g9Zys0Bs4UU.

Jonathan Gershuny

Time Use and Social Inequality Since the 1960s The Gender Dimension

Abstract: Time devoted to the total of paid plus unpaid work has hardly changed since the middle of the twentieth century. But while there is little gender difference in this total, and the paid/unpaid balance has narrowed substantially over the period, men still do a higher proportion of paid work. This remaining differential contravenes John Rawls’ “Principle of Fairness” in a gender context: it leads to an unjustifiable divergence in earnings capabilities on a scale that might, for example, explain the “gender wage gap”. This paper is based on analysis of a collection of 522,000 days of time-diary evidence covering adults aged 20–59 from 52 nationally representative surveys from 13 developed countries between 1961 and 2011. Everyday time – the short-term perspective of daily life – differs, in its implications for social justice or fairness, from the long-term perspective of the life course. In particular, the perspectives have differing implications for gender equality. The analysis that follows, primarily sociological but also economic, based on large national samples of daily (and sometimes weekly) “time diaries” provides evidence of more than 50 years of historical change in time use across the developed world.1 It shows, first, that the burden of the total of paid and unpaid work on men and women is approximately equal; second, that despite the widespread expectation that work declines with economic development, time devoted to work overall has hardly changed, in the developed world, since the middle of the last century; and, third, paradoxically, the approximate gender equality in the day-by-day distribution of work has substantially unfair consequences for women. It also briefly considers national differences in the extent of gender inequality in time use, and its systematic association with types of national regulatory systems or “regime types”.2 1 Laurent Lesnard, Cost Setting in Optimal Matching to Uncover Contemporaneous ­Socio-Temporal Patterns, in: Sociological Methods and Research 38. 2010, pp.  389–419; Man Yee Kan and Laurent Lesnard, Investigating Scheduling of Work. A Two-Stage Optimal Matching Analysis of Workdays and Workweeks, in: Journal of the Royal Statistical Society. Series A 174. 2011, pp. 349–368. 2 The focus here is a fourfold family regime classification associated with gendered patterns of time use outlined in Man-Yee Kan et. al, Gender Convergence in Domestic Work. Discerning the Effects of Interactional and Institutional Barriers from Large-Scale Data, in:

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Time use research, relying on samples of detailed self-reported diaries, has a long history. It originates in Russian “peasant studies” at the turn of the twentieth century, U. S. Department of Agriculture studies in 1920s and 1930s, and radio and television broadcasting agencies’ “viewer/listener availability studies” from the 1930s onwards.3 The very first cross-national comparative time use survey (indeed very nearly the first cross-national social survey of any sort) was the UNESCO-sponsored Multinational Comparative Time Use Survey of 1965 led by Alexander Szalai.4 Subsequent national time use studies have frequently been modeled, more or less loosely, on the Szalai design. During the 1990s, and in consultation with many of the national groups involved in this work, Eurostat developed the design of the Harmonized European Time Use Study (HETUS); and approaching twenty countries have each collected one or more surveys based on this in the two tranches of data collection (1999–2005 and 2009–2015). In parallel to the Szalai and HETUS cross-national exercises with ex ante harmonized fieldwork practices, the Multinational Time Use Study (MTUS) brings together a collection of approximately seventy surveys into a single comparative format. The MTUS has developed procedures for the ex post harmonization of the most extensive possible cross-national historical collection of time diary evi­dence, retrospectively recoding the diary activity categories and socio-demographic classification variables from both stand-alone national cross-sectional studies and the UNESCO and Eurostat collections.5

I. Issues in the Recent History of Time Use Much of the traditional social science literature would lead us to expect a longterm reduction in work time (though it primarily considers just paid work). John Stuart Mill’s 1848 “Political Economy” devotes several chapters to the discussion of the consequences of a future progressive saturation of economic wants, as a result of continuously increasing productivity, leading to an economic “steady state”, and  a consequent reduction in working hours. John M ­ aynard Keynes’ Sociology 45. 2011, pp. 234–251, deriving in part from the threefold Welfare Regime typology in Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton 1990. An brief review of the welfare and family regime literature is provided in Kan, Gender Convergence. 3 For a review article summarising this history see Kimberly Fisher and Jonathan Gershuny, Time Use and Time Diary Research, in: Jeff Manza (ed.), Oxford Bibliographies in Sociology, New York 2014, pp. 1–22. 4 Alexander Szalai (ed.), The Use of Time. Daily Activities of Urban and Suburban Populations in Twelve Countries, The Hague 1972; id., Harmonised European Time Use Studies, Luxembourg 20092. 5 Multinational Time Use Study, Versions 5.5.3, 5.80 and 6.0; Jonathan Gershuny and Kimberly Fisher, Centre for Time Use Research, University of Oxford, Oxford 2014.

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essay “On the Economic Opportunities for our Grandchildren”, first delivered in 1924, specifically identifies the cause as the exponential nature of technology-driven growth outstripping a linear increase in human wants. Joffre Dumazedier’s “Vers une civilization du loisir” (1967) tells us straightforwardly that the major consequence of economic development will be a continuing reduction in work time.6 Nevertheless, much of the more recent empirical research into post-industrial societies casts doubt on the continuation of the trend of paidwork-time reduction and consequently on the inevitable growth of leisure time.7 We might perhaps have taken for granted the proposition that unpaid work time reduces over historical eras as a result of the diffusion of “labour-saving” devices and materials plus associated infrastructure. But in fact two different sorts of 1970s “cross-sectional” (that is, non-historical) evidence, pointed to an apparently contrary, “economic development increases housework” conclusion.8 The first analyses of the Szalai multinational study results revealed what Robinson, Converse and Szalai describe as an “almost counter-intuitive result” that the richer countries among this twelve-nation study, which might be expected to possess more labour-saving equipment, apparently had more housework time. In parallel, gradually accumulating from the very earliest USDA farm studies in the 1920s, were repeated (again cross-sectional) observations that richer U. S. households, with more domestic equipment, spent more time cooking and cleaning. Of course, this evidence of systematic cross-sectional difference has no necessary implications for diachronic, historical change, because of what economists describe as “unobserved heterogeneity”. There may be other things that differ than just those factors which are observed to be associated with the unpaid work time in the cross-sectional survey data. Some of these factors are in fact easy to observe once their effects are noticed. In the case of the cross-­national material, the counter-intuitive effect may be explained straightforwardly by the longer hours of paid work observed for both men and women in the particular group of poorer countries represented in the Szalai study (which, with the exception of Peru, were all Soviet-block COMECON states in 1965) effectively displacing unpaid work time. And similarly, the cross-sectional U. S. result that found richer households doing more unpaid work than poorer, may have related to other characteristics of these same households: richer households are, gener6 John Stuart Mill, The Principles of Political Economy, with Some of their Applications to Social Philosophy, London 1848; John Maynard Keynes, The Economic Prospects for our Grandchildren, in: id., Essays in Persuasion, London 1931, pp. 358–374; Joffre Dumazedier, Towards a Society of Leisure, New York 1967. 7 At first this was seen as U. S. exceptionalism as in Juliet B. Schor, The Overworked American. The Unexpected Decline of Leisure, New York 1993; but subsequent authors, for example Mark A ­ guiar and Erik Hurst, Measuring Trends in Leisure. The Allocation of Time Over Five Decades, in: Quarterly Journal of Economics 122. 2007, pp. 969–1006, consider it less surprising. 8 Szalai, Use of Time, ch. 6: “Everyday Life in Twelve Countries”.

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ally, larger, in space and in numbers of household members. To draw an example from a relatively recent paper that argues perversely for the positive association of equipment and domestic work, it is not the ownership of a lawnmower, but the presence of a lawn which needs to be cut, that leads to the positive association of ownership of the equipment with unpaid work (in this case gardening-time)9 Nevertheless, these cross-sectional findings from the early 1970s, together with some longer-term U. S. historical data, led to Vanek’s very widely cited, but essentially misleading, statement: “As one might expect, working women spend less time in housework than their mothers and grandmothers did some 50 years ago. Women who are not in the labor force however, spend just as much time.”10 In the later sections of this paper, this issue will be reconsidered in the light of the newly available cross-national historical comparative time use data.

II. Two Surprising Equalities – and the Gender Inequity that Results Largely absent from this discussion is the historical evolution of work in total, that is, paid plus unpaid work. How has the total of work time changed, over the last fifty years, during which birth rates have declined, domestic equipment has diffused widely across households at different economic levels, and women have become markedly more engaged in the paid labour force? This is a question that can only be answered using time diary statistics, since there is no other source of evidence which measures paid and unpaid work simultaneously, and using a consistent metric, over a lengthy historical period. Two remarkable results emerge. The first, itself not directly relevant to the issue of gender equity, and hence discussed only tangentially in what follows, is that total work time seems to have remained roughly constant throughout this extended historical time span. The second, familiar for many years to specialist time use researchers, but apparently new to economists, has recently reemerged, in the work of a group of U. S. economists: the phenomenon of “iso­ work”.11 Once we draw the concept of “work” broadly, to include unpaid as well

9 Michael Bittman et al., Appliances and Their Impact. The Ownership of Domestic Technology and Time Spent on Household Work, in: British Journal of Sociology 55. 2004, pp. 401–423. 10 Joanne Vanek, Time Spent in Housework, in: Scientific American 231. 1974, pp. 116–120, here p. 116. 11 Michael Burda et al., Total Work and Gender. Facts and Possible Explanations, in: Journal of Population Economics 26. 2013, pp. 239–261. Burda et al., considering this result to be surprising, but feeling the need for an empirical demonstration of this, polled 855 economists and sociologists, finding that 56 % expect men’s and women’s totals to differ by more than 10 %, while fewer than one quarter made the correct estimate of substantially less than 5 %. This same phenomenon, observed for the UK alone and more elegantly described by the

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as paid, we see that, over a broad range of countries and historical eras, men’s and women’s totals of work per day are closely similar. Their constitution is different, however, men doing considerably more paid, women more unpaid (though across the many countries for which we have good evidence, these proportions have been converging, regularly and reliably, for 50 years or so). The overall daily total of all work is approximately equal between men and women, though it is made up of different mixes of paid and unpaid. The significance for gender equity of this gender difference in the balance among the different sorts of work emerges most clearly as we compare stages in the life course. Men and women tend in general to marry partners of similar educational and economic standing. But, as women withdraw, partly or wholly, from the paid labour force with the birth of children, their professional careers diverge from their (male) partners’. Though the proportions of paid and unpaid work during the day have, as we will see, converged historically, the remaining dissimilarities are sufficient to lead to major gender differences in the formation of “human capital”, leading in turn to phenomena such as the gender wage gap, and gendered inequality in the financial outcomes of divorce. “Isowork” may be interpreted, paradoxically, as a major cause of inequality over the life-course. It will emerge that narrowly considered fairness in the short term of the day, mediated by cultural norms and public regulatory provisions, itself leads to clearly unfair outcomes over the long term of the life course.

III. Daily Life Versus the Life Course: Iteration, Nesting, and the Accumulation of Capabilities The primary characteristic of everyday time is a diurnal iteration, the repetition of certain broad classes of activity in reasonably regular sequences. Sleep (and personal toilet), work (paid and unpaid) and leisure (consumption and relaxation) are each understood to occupy approximately equal proportions of the day in modern Western societies. These activities are undertaken through the day in a reasonably well-ordered fashion: starting from the middle of the night, first sleep, then work, then leisure. This primary daily iteration is in turn nested within a secondary weekly iteration, with one or more “weekend” days, previously a single Sabbath day, in which, at least in the Mosaic origin of the Jewish, Christian and Moslem practices, both the paid and the unpaid variants of work are absent. These weeks are in turn nested within tertiary cycles of the months of the year, with punctuating regular but intermittent special days and  – in authors as “gender symmetry” in work time, is the central empirical finding in Michael Young and Peter Wilmott, The Symmetrical Family, London 1975, and cross-nationally in a number of subsequent sociological studies of time use. See also Jonathan Gershuny, Changing Times. Work and Leisure in Post-Industrial Societies, Oxford 20032.

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countries with legislatively or religiously defined periods of this sort – holiday weeks in which those with paid work, are paid not to work. These shorter-term alternations of work, sleep and leisure correspond to­ cycles of rates of effectiveness in production, consumption and recuperation. We might perhaps expect workers to be more productive in their second hour of work than their first, as they settle into the flow of work at the start of the day. But we would probably expect their 42nd hour of the week to be less productive than their 41st, and it is even more likely their 62nd hour of work will produce less than their 61st. Productivity diminishes at the margin, as a result of fatigue or boredom. In the same way, weekly, monthly and annual alternations of work and non-work days correspond to intervals over which interest in, and commitment to, work may become jaded, so that a holiday period with no paid work a­ llows a subsequent return to full productivity. Similarly, the effectiveness of each successive increment of daily time in specific consumption is assumed to diminish, as indeed, apparently does the (retrospectively reported) marginal increment of sleep.12 But, while the shorter-term periods produce diminishing marginal returns, nevertheless, considered over historical time, we expect something quite different. Economists find that, over the longer term, more time in an activity may be related, not to diminishing but to increasing returns. Experience of work in the workplace, at least during the first half of the working life, leads to the development of skills, and hence a presumed growth in productivity, with no expectation of any decline at the margin. However, the empirical evidence for the productivity growth is the association of extra experience with extra pay, which might equally reflect credential-related pay or the presence of restricted labour markets internal to the firm. Since economists, with a specific focus on work for pay, were the first to estimate this process empirically, they were able to reserve the term “human capital” for this process of learning through doing, as applying to paid work alone. But sociologists, particularly following Bourdieu, use a similar term, “embodied capitals”, much more broadly, to the process of learning to participate effectively in each of the activities of the day.13 Sociologists have developed the notions of “cultural capital” – the acquisition of the knowledge and experience needed to enjoy particular activities (whether classical music or downhill skiing) through extensive participation in it – and of “social capital”, the acquisition of networks of friendship and acquaintanceship. This latter is of interest both at an individual micro-sociological level (“bonding” intimates, “bridging” between non-intimates) following Granovetter, and 12 Id., National Utility. Measuring the Enjoyment of Activities, in: European Sociological Review 29. 2013, pp. 996–1009. 13 Gary S. Becker, Investment in Human Capital. A Theoretical Analysis, in: Journal of Political Economy 70. 1962, pp. 9–49. Pierre Bourdieu, Distinction. A Social Critique of the Judgement of Taste, London 1984, esp. p. 19 and p. 84 (i.O.: La Distinction. Critique sociale du jugement, Paris 1979).

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also at a more aggregated macro-sociological level where it relates closely, via Durkheim’s conceptualization of organic solidarity, to the degree of effective integration and articulation of the society.14 Bourdieu discusses a variety of routes to the acquisition of embodied capitals. These are acquired first and most naturally in the household of origin, then through the formal educational system. New skills are acquired as adults through interactions with peers. Irrespective of the stage in the life-course, the dominant mode of acquisition of embodied capitals is “education by doing”. The nesting of shorter cycles of activity within longer ones thus produces distinct temporal orders, which differ in their implications for human experience. For example: the second square of chocolate on Tuesday adds – we were all told in our introductory economics courses – a smaller increment of pleasure. We are not, in general, provided with the additional perspective that a second square of chocolate on Thursday might, in the right circumstances, not only provide the same level of utility as Tuesday’s first square, but also perhaps enhance it, by improving the ability to discriminate among different sorts of chocolates, that is adding to the individual’s stock of cultural capital. For Sen, the micro-sociological aspect of embodied capital means more than mere demonstrable skill. To “participate effectively in an activity” implies something in addition to an individual’s demonstration of facility in it.15 The activity must also take place in some social and institutional context which provides some form of benefit deriving from the exercise of the skill. There must be some specific established equipment and practices – some physical or metaphorical machinery – that meshes with the skill to produce the benefit. Just as the specific skills learned in a particular workplace makes the worker an increasingly productive asset to the firm, so the (consumption) skills of the knowledgeable members of the audience at  a symphony concert mesh with the (production) skills of the members of the orchestra to produce the musical experience. Skills yield desirable outcomes only when exercised in an appropriate institutional context. This is the point of Sen’s crucial “capability” addition to this line of argument – individuals’ capacities must be combined with specific provisions, facilities or other characteristics of social systems to produce benefits. One might have the skills of a fisherman, but, for Sen, it is only with a boat and nets, and an appropriate transport infrastructure, and appropriate access to properly organized fish markets, that the fisherman has the capability to earn a living from his skill. Box 1 provides a general summary of how capabilities relate to benefits. Arrow 1 represents the anything-but-straightforward process whereby activi14 Mark S.  Granovetter, The Strength of Weak Ties, in: American Journal of Sociology 78. 1973, pp. 1360–1380; Robert D. Putnam, Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community, New York 2000; Emile Durkheim, The Division of Labour in Society [1893], Glencoe, IL 1933. 15 Amartya Sen, Inequality Reexamined, New York 1992.

258

Jonathan Gershuny

Units of time in activity i 3

2

output, outcome values, € or utility 2

rate of return per time unit in activity i (= “capability”) 4 2

appropriate context

Learning increment from unit of time in activity i Box 1: Accumulating skills in activities.

ties are translated into benefits. The arrow points in one direction, to indicate the (arithmetically) functional relationship between time in the activity (production or consumption) and the benefit outcome. The functional form is not necessarily linear. The worker may be paid at different rates for different periods of work; for instance, for overtime or non-social hours. The concert-goer may experience some diminishing marginal returns: the second hour providing less pleasure than the first. Or indeed the returns may be multiple: the worker may receive both pay and intrinsic satisfaction for each hour in work. Note that, in this formulation, capability is identified specifically as a rate of return that links each sort of time with an associated outcome value. While the arrow points in one direction to indicate that the number of units multiplied by the rate of return produces the outcome value, it might alternatively point in the opposite direction to indicate that maybe the outcome influences the input of time to the activity. But this reverse relationship, in which rational calculations about prospective returns explain the individual’s participation in the activities are, at least at the short-time level of the individual’s day, less plausible than explanations relating to the immediate expectations of an employer, or from some form of commitment to family or friends, or simply from habit. But of most importance to the discussion of the disjunction between shortterm and long-term fairness which follows, are two other paths; the sequence of arrows marked 2, representing the virtuous circle of “learning from doing”, and arrow 3, representing the longer term influence of capability on motivation to engage in the activity. Accumulation of capacities happens at different rates. The process of accumulation relates different forms of outcome to particular activities: work in employment leads to changes in wages and perhaps in job satisfaction, attendance at concerts leads to growing utility from musical experiences,

Time Use and Social Inequality Since the 1960s

259

and so on. Arrow 4 is added to emphasize the importance of the macro-social context in determining the effectiveness of the skill in terms of the value of the outcome.

IV. Types of Activities in Time Budget Research Alongside the international convergence of time use data collection practices, there has been a considerable convergence in analytical practice. The major application for time-diary materials has been the construction of “time budgets” (analogous to the household monetary budgets collected by economists since the middle of the nineteenth century), which involve the calculation of aggregate totals of time devoted to various sorts of activities. Aas provided  a reasoned argument for basing time budget analysis on four broad aggregates of time: “contracted”, “committed”, “necessary” and “discretionary time”  – respectively paid and unpaid work, sleep plus personal care, and leisure or consumption time.16 The first two of Aas’ categories coincide neatly with the results of the standard economists’ definition of “work”, the “third person criterion”.17 If you could pay someone to do the activity on your behalf without losing the final utility that derives from it, then it is work, irrespective of whether or not you actually do it yourself. Washing your shirt is still work whether you do it or pay someone to do it for you. This definition serves to demarcate three spheres of time use which are, among other things, fundamental to standard national accounts of economic activity. First is paid work, comprising all production activities included in the National Accounts; second, all the unpaid work excluded from the National Accounts (including cooking, cleaning, laundry, clothes-care and general household and mending, child- and elder-care, gardening and ani­ mal care, shopping, plus the travel associated with all these); thirdly, the residual comprised by all the activities of consumption and leisure. “Isowork” is observed by combining the paid and unpaid work and comparing men’s and women’s total work time.

16 Dagfinn Aas, Studies of Time-Use. Problems and Prospects, in: Acta Sociologica 21. 1979, pp. 125–141. 17 Margaret Gilpin Reid, Economics of Household Production, London 1934.

260

Jonathan Gershuny

V. Fairness in Relation to Time Use In his “Theory of Justice”, Rawls identifies fairness as a procedure for consideration of the ethical appropriateness of alternative ways of distributing benefits across a population. Rawls calls these alternative “states of society”.18 The particu­ lar procedure he adopts is to place an otherwise well-informed individual behind what he calls a “veil of ignorance” about the particular place (prince[ss] or pauper[ess]) he or she is to occupy in the various alternative state of society, and then ask for an assessment of the appropriateness of the arrangements in each of these alternatives. Not knowing where he or she is to be placed, the obvious choice for the judge behind the veil of ignorance is the most equal distribution of benefits. But sometimes simple equality lowers the levels of benefit for all – where, to choose the relevant example for our present purposes, some individuals’ extra investment in their own human capital (say doctors and engineers) brings advantages to everyone in the form of improved health and material circumstances. So then the judges behind the veil might accept some degree of inequality in rewards, as an appropriate way to motivate the extra human capital investment. Rawls’ discussion of social justice is concerned with the distribution of reward  – the outcome benefits discussed previously, or more generally lifechances – among individuals and groups in the alternative states of society. He proposes one particular procedure: order the rewards to different social groups from the least to the most advantaged in each of the alternative states of society, then choose that state of society in which the least advantaged group is better off than the least advantaged in any other state of society. Fairness, on the basis of Rawls’ argument, is a condition in which any systematic differences in levels of reward can only be justified by the resulting benefits alike to the worst- and the best-off. This article’s concern is with one of the prior conditions to the distribution of any society’s rewards – the underlying distribution of time in various activities. It shows that the particular characteristics of “isowork”, though providing some form of equality in the short term, nevertheless directly produce identifiably – in Rawls’ terms – unfair outcomes as between men and women.

VI. The Multinational Time Use Study The Multinational Time Use Study (MTUS) is constructed and maintained by the Centre for Time Use Research (CTUR) at the University of Oxford.19 It is 18 John Rawls, A Theory of Justice, Oxford 1972. 19 Data may be downloaded from www.timeuse.org. Detailed descriptions of how each category of the harmonized detailed activity categories for each of the 54 surveys may be found following links from the documentation at http://www.timeuse.org/sites/ctur/files/858/ mtus-coding-procedures.pdf.

261

Time Use and Social Inequality Since the 1960s

composed of studies collected by national experts, principally but not exclusively National Statistical Institutes. The CTUR re-organizes and recodes the individual level diary data from each national study into  a consistent cross-national comparative format, and issues the resulting dataset free-of-charge to interested researchers and research groups. The MTUS currently includes diary evidence describing more than three-quarters of a million days, for population samples aged from eight years for 20 countries. However, the discussion in the following pages includes only MTUS respondent diarists aged between 20 and 59 (to obtain an adequately balanced view of both paid and unpaid work), and only those countries with two or more surveys separated by a decade or more (so as to provide an adequate historical perspective). The evidence just from the 13 countries and 54 surveys listed in Table 1 is used in the following tables and figures.

Denmark 2842

10065

6922

6435

7712

8617

France

2893

Germany

3687

32924 24449

10569

6572

16894

Netherlands

6595 3918

22324

42825

29376

53818

4043

5031

4174

Sweden

6370

1821

22244

8987

3359

11706

17718

13670 16465 17142 17436

Spain

6896

25758

10191

2118

Norway

5424

4634

Italy

USA

9503

2582

Finland

UK

Total

9835

2000–04

1980–85 1881

2274

2005–

1499

1995–99

Canada

1990–94

1247

1985–89

Australia

1975–79

1970–74

1965–69

1960–64

Table 1: Sub-sample of Multinational Time Use Study used in this analysis (number of diary days in each of the 52 surveys used in this paper).

6828 5170

3343

9906 2255

6998

32089

9984

90279 17166

4333

43124

5835

12205

12723

52796

33908 53342 103494

N of days 9738 8401 23004 20382 28540 73297 71207 48747 156765 77162 521980 N of s­ urveys

2

3

5

3

5

8

8

5

9

4

52

262

Jonathan Gershuny

VII. Historical Change in Time Use The general pattern of evolution of work time emerging from these studies is now reasonably well understood. The first and altogether most striking result is almost entirely unsurprising. The burden of “core” household work (cooking and cleaning) on private households has been diminishing, regularly and reliably throughout the entire period covered by Table 1. Newly emerging evidence extends this finding backwards in the USA at least, to the 1920s.20 This is, straightforwardly,  a result of “labour saving” developments in equipment, and also in materials (more easily maintainable furnishings, purchasable semimanu­factured food products and the like), as well as the associated infrastructure provisions, electricity, water, road and sewage. In fact, a careful reading even of the evidence that Vanek adduces in her 1974 article makes it plain that housework in the narrow cooking and cleaning sense had in fact reduced substantially over the 40 years period (1925–1965) covered by her data, and that it is other parts of the unpaid work of households in general – including childcare, shopping and eldercare – that had increased to compensate.21 The general picture that is now widely accepted is that core housework time declines absolutely with economic development, while other sorts of household unpaid work increase somewhat. Childcare time seems to increase everywhere. This partly reflects the increased public stress on parental responsibility for contributing to children’s “human capital” (that is, earnings potential). But much of the empirical literature simply assumes that more parental time spent with children is necessarily positive in its effect. But what if, for example, time spent organising middle-class children’s extra-curricular activities is in effect part of a parenting “armsrace” – defensive activity to assure that the child’s CV is no worse than their competitors for University entrance? And what about “kids’ lib”? A m ­ iddle class parental armistice, and the adoption of the more free-running working-class parenting style might actually be beneficial (and more fun) for middle-class children. There is more to investigate here. The increase in parental time may also partly reflect  – perceived, probably not actual  – increased risk of potential harm to unaccompanied children in an urban setting; and perhaps deriving ultimately as an unforeseen outcome of smaller completed-family sizes. There is also the potential effect of a partial unmasking of previously hidden childcare: childcare now revealed by the reduction in elapsed housework time. The 20 Valerie Ramey, Time Spent in Home Production in the Twentieth-Century United States. New Estimates from Old Data, in: Journal of Economic History 69. 2009, pp. 1–47; Teresa Harms and Jonathan Gershuny, 85 Years of US Rural Women’s Time Use, University of Oxford, Department of Sociology Working Papers 2014–05. 21 Echoes of Vanek’s original claims however persist in popular sociological accounts through to the present day, see for example Philip Cohen, The Family. Diversity, Inequality, and ­Social Change, New York 2014.

Time Use and Social Inequality Since the 1960s

263

45 minutes once spent scrubbing clothes while the children played in the scullery, become 5 minutes filling the automatic washing machine, 30 minutes declared childcare, and 10 minutes emptying the machine and hanging clothes. Shopping time increases in part because of extra purchases reflecting increased income. But the largest part of the increase reflects a radical change in the organization of retail service industry over the period covered by the MTUS data. Local shops have been replaced by remote supermarkets. So what might previously have been accomplished by a short walk to a corner store, a brief word with a shopkeeper, and a delivery by a boy on a bicycle, now involves a drive by the shopper him- or herself to a large supermarket car park, parking, walking, first to the store, then up and down shopping aisles looking for elusive products, a queue at a checkout, then the reverse journey home.22 Unsurprisingly, everywhere we look in the time use data, over this period, shopping time has increased. The net effect of declining housework and increasing shopping and childcare time, is an overall quite substantial decline in unpaid work for women, combined with a smaller growth in unpaid work for men. The patterns that emerge when we look at the actual diary data are clear enough, even with 13 superimposed national time plots. Figure 1a shows men’s unpaid work total creeping upwards rather uncertainly and with occasional reverses, from around 100 minutes or less in the 1960s to 140–150 minutes per day in the new millennium. Though we suspect that the apparent reduction in Swedish men’s unpaid work up to 2000 may be an error in the data coding. For women, figure 1b shows more substantial downwards movements, reductions of, on average across the­ population ages 20–59, around 100 minutes per day; from just under 350 minutes to just under 250 minutes in the United States, similarly for the United Kingdom. The irregularity in Spanish women’s trend reflects a perhaps inappropriate combination of whole nation and Basque regional data. Figures 2a and 2b give the equivalent historical changes in paid work time, including the entire male and female samples throughout. Cyclical changes in unemployment levels as well as secular changes in paid work time contribute to the means shown here. Men on average reduce paid work time, from over 400 minutes per day at the beginning of the period to around 350 minutes or less at the end, women by contrast substantially increase their average daily work time, from 150 minutes or less to 250 minutes in the later surveys. Modelling these changes we find that a substantial part of the national variation in the overall trends is explained by “family policy regimes” constructed 22 Long queuing times were characteristic of shopping in pre-1990 Soviet bloc countries. Evidence from a number of these countries is currently being incorporated in MTUS and will soon be available to extend the discussion beyond the four regime types discussed in the next section. And, of course, the technological change described is specific to a particular era: researchers in this area are now waiting for the first signs of a reverse process resulting from internet shopping.

264

Jonathan Gershuny

160 140 120 100 80 60 40 20 0 1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

2020 Sweden

Australia

Canada

UK

USA

Denmark

Finland

Norway

France

Germany

Netherlands

Spain

Italy

Fig. 1a: Men’s unpaid work minutes per day (ages 20–59).

400 350 300 250 200 150 100 50 0 1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

Australia

Canada

UK

USA

Denmark

Finland

Norway

France

Germany

Netherlands

Spain

Italy

Fig. 1b: Women’s unpaid work minutes per day (ages 20–59).

2020 Sweden

265

Time Use and Social Inequality Since the 1960s 500 450 400 350 300 250 200 150 100 50 0 1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

Australia

Canada

UK

USA

Denmark

Finland

Norway

France

Germany

Netherlands

Spain

Italy

2020 Sweden

Fig. 2a: Men’s paid work minutes per day (ages 20–59). 350

300

250

200

150

100

50

0 1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

Australia

Canada

UK

USA

Denmark

Finland

Norway

France

Germany

Netherlands

Spain

Italy

Fig. 2b: Women’s paid work minutes per day (ages 20–59).

2020 Sweden

266

Jonathan Gershuny

on the basis of national norms about couples’ job-holding (breadwinner/homemaker vs. dual-earner) and state support for childcare.23 The family policy regimes in fact map neatly onto Andersen’s original welfare regime categories: the corporatist France, Germany and Netherlands operating on a (modified) breadwinner/homemaker model, the Liberal Market UK, US, Canada and Australia operating on a dual-earner low state support for childcare model, and the Nordic model (Denmark, Norway, Sweden, Finland) on a dual-earner high childcare basis. A fourth “southern” regime type corresponds to a strong breadwinner/homemaker model. The trends, particularly for unpaid work change, prove to be striking similar within groups, and somewhat different across the regime groupings, with, unsurprisingly, more or less women’s paid work, depending on the degree of public support for working couples. A second dimension of difference relates to social class (human capital, estimated from educational level). Time devoted to the two different sorts of work is differentially stratified. Men and women in higher-class positions (those with more human capital) originally had less paid work than those in lower class positions. By the end of the period, across all the countries included here, the negative status/work-time gradient reversed, and now higher-class men and­ women both do more paid work than lower. The total of paid and unpaid work is now greater for higher-class men and women than for lower.24 However, the “isowork” result is unaffected and we do not discuss it further here. Add the two categories of work together and we arrive at two rather remarkable results. Figures 3a and 3b show, first, that the total of paid plus unpaid work time, in each country, remains almost constant, at a level between 450 and 550 minutes. Second, in each country, the totals of work are remarkably similar between men and women – women mostly doing between 48 and 50 percent of all work, only rising substantially above this level in the “southern regime” cases of Spain and Italy. So: an emerging leisure society? On the contrary. Indeed, following from the previously mentioned tendency of the more highly educated to work ­longer hours in their paid job, we also find that their total working hours – paid plus unpaid – are longer than those with lower levels of educational attainment. So what was once expected to be “the leisure class” becomes, in post-industrial society, the more industrious class.25 Benjamin Disraeli’s Factory Act of 1874 provided a maximum of 60 hours of work for male workers in manufacturing indus23 Oriel Sullivan and Jonathan Gershuny, Cross-National Changes in Time-Use. Some Sociological (Hi)stories Re-Examined, Colchester 2001; Esping-Andersen, Three Worlds of Welfare Capitalism. 24 Jonathan Gershuny and Kimberly Fisher, Post-Industrious Society. Why Work Time Will Not Disappear for Our Grandchildren, University of Oxford, Department of Sociology, Working Papers 2014–03. 25 Thorstein Bunde Veblen, Theory of the Leisure Class. An Economic Study in the Evolution of Institutions, New York 1899.

267

Time Use and Social Inequality Since the 1960s 600

500

400

300 1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

Australia

Canada

UK

USA

Denmark

Finland

Norway

France

Germany

Netherlands

Spain

Italy

2020 Sweden

Fig. 3a: Men’s minutes in all work activities (ages 20–59). 600

500

400

300 1950

1960

1970

1980

1990

2000

2010

Australia

Canada

UK

USA

Denmark

Finland

Norway

France

Germany

Netherlands

Spain

Italy

2020 Sweden

Fig. 3b: Women’s minutes in all work activities (ages 20–59).

try. Working class men in employment in the 1870s will have taken responsibility for little of their household’s unpaid work, unlikely to amount to as much as one hour per day of lifting, carrying and fire-lighting. Figure 3 shows approximately 500 minutes, per day total of work of paid plus unpaid work, just over 58 hours per week, hardly changing over the 50 years covered by our data. So, rather contrary to the conventional view, the total of work time in its broadest sense (and at least for UK men) has remained roughly level for 150 years. The very close similarity in men’s and women’s total work time is surprising, giving the rather abstract nature of the “third person criterion” basis for its calculation. How might men and women actually know that that they are working approximately the same amount of time? One possible mechanism can be demonstrated using the real-time sequential character of the time diary data, by comparing experimentally time spent simultaneously working during the

268

Jonathan Gershuny

day, either paid or unpaid, by real couples, with the simultaneous work time of randomly pairings men and women from the same dataset (“pseudo-couple ana­ly­sis”).26 It emerges that the real couples seem to intentionally coordinate their (paid and unpaid) work time, either out of a sense of equity, or, more likely perhaps, with the idea that non-work time may spent in leisure together. So, in short, the close similarity in total aggregate work time of men and women that constitutes Burda et al.’s “isowork” may be, simply, a reflection of couples’ desire for shared leisure time.27 Approximate equality in the daily work balance implies some sort of equality of effort in the contributions that men and women make to their mutual wellbeing. But the difference between men’s and women’s paid and unpaid work tells a different, much less even-handed, story. Figure 4 provides only a cross-sectional picture of paid work time by family status for each regime. But in fact any time period that we chose for this purpose would tell a very similar story. So, while this describes different people, at different life-stages, at one particular point in history, it does also represent quite well, something like a longitudinal life history for men and women in the two most recent decades, across the 13 countries represented in this version of the MTUS. It suggests the different consequences of changes in family status on paid work time for men and women. We see that, with neither partner nor child, men and women in the liberal market (Anglophone) regime do very nearly the same amount of paid work. But having a partner, on average, increases the man’s paid work time by around 40 minutes, and reduces the woman’s by around 20 minutes, producing a gap of about an hour per day. And with a child, the gap widens further, to give men on average roughly twice as much paid work as women. For women, these declining average times represent, at different ages of the youngest child, different probabilities of complete withdrawal from the labour market, and reduced working hours  – while their partners are increasing their working hours. Men are increasing their presence in the workplace over the same life-stage that women are decreasing their presence. As women in couples withdraw from the labour force, their human capital  – their earnings power  – is reducing relative to men through the processes set out in the “capabilities to benefits” diagram (Fig. 1). And each of the other three regime types exhibit the same sort of process: somewhat reduced in scale in the Nordic regime, substantially increased for the Southern, but in broad terms quite similarly for all four. Figure 5 shows the consequence of women’s progressive withdrawal from the labour market through successive life-stages in a number of the countries in our MTUS analyses. We may presume that for each successive age-group, the proportion of women in the “no partner, no child” group diminishes, and the pro26 Jonathan Gershuny et al., The Domestic Labour Revolution. A Process of Lagged Adaptation, in: Michael Anderson et al. (eds.), The Social and Political Economy of the Household, Oxford 1994, pp. 151–197. 27 Burda, Total Work and Gender.

Time Use and Social Inequality Since the 1960s

269

portion in the “partner and child” group increases. The association between the diminishing number of hours in the paid labour force and the increasing wage gap (the exception of Italy being explained by the almost complete withdrawal from the labour force of all but very highest-paid women after children) may be merely ecological. It is nevertheless highly plausible.

VIII. Does it Matter? The underlying reason for the historically invariant total of 500 minutes ± 40 is at this point deeply obscure. Does it reflect some essentially biological characteristic of the species, some buried arithmetic inherent to our particular pattern of economic development, or (most likely) some combination of sociological, psychological and physiological requirements for exercise, sociability, moderate levels of arousal and sense of purpose, as first suggested by Jahoda and her colleagues in 1933?28 The uncertainty attached to this newly emerged question represents a major lacuna in social science. But the implications of the “isowork” phenomenon, in the context of societies that have not yet adjusted fully to the consequences of formal gender equality and nearly-perfect control over fertility, are reasonably clear. Children must be cared for, and childcare is work, and it appears that work time is limited. If by reason of tradition or public policy or both, the majority of childcare is carried out by women, and given that past time in work adds to the worker’s future earn­ ing power, it follows that, if they form partnerships and have children, women’s earning power must fall relative to men’s over the life-course. It might be argued that if, first, all the goods and resources owned by a couple in a partnership were held in common and equally shared between both, and, second, the partnership were permanent and life-long, then a process of progressive specialization in which the woman wholly or partially withdraws from the labour market, reducing her own economic capability in the interest of the couple’s children, might conform to some interpretation of fairness. But the first condition is questionable, particularly as earnings differentials may influence decision-making processes within the partnership to the disadvantage of the lower earner. The second condition generally does not hold: in the United Kingdom, for example, around half of all marriages break down within five years. If the divorcing couple has had a child, the male partner’s human capital will (on the evidence of figure 4) have been enhanced by extra paid work time, the female partner’s will be diminished by (partial or total) withdrawal from the labour market: he departs with the largest share of the couple’s human capital, in most cases leaving her with the baby. 28 Marie Jahoda et al., Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit [1933], Frankfurt 1975.

270

Jonathan Gershuny

450 400 350 300 250 200 150 100 50 0

no partner no child

partnered no child

partner and child

no partner no child

Men nordic

liberal

partnered no child

partner and child

Women corporatist

southern

Fig. 4: Paid work minutes by sex, regime and family status for men and women aged ­20–45, 1993–2013.

Now, how might we view this sort of unequal outcome if we were sitting as judges behind Rawls’ “veil of ignorance”? We could, on the basis of Rawls’ principle, be expected to accept this only if there were no alternative arrangements that would leave women less disadvantaged. But alternative arrangements that would be likely to have this effect are quite readily identifiable. If it is women’s differential rates of withdrawal from the paid labour force that leads to the gap in earnings potential, then public policies with the objective of reducing childcare-related gender differences – for example, extra state-subsidised pre-school childcare, and the extension of (non-transferable)  employees’ paternity leave rights to more-closely parallel maternity leave, would tend to reduce the differential and improve women’s earnings relative to men’s. In short: the inequality in the constitution of men’s and women’s work is unfair, in Rawls’ terms, even though the daily totals of work are roughly equal. Consider the extent of women’s withdrawal from the labour market in each of the nordic, liberal market, corporatist and southern regimes. Does any of these groupings meet Rawls’ requirement that the disadvantage to the worse-off sex is necessary for the well-being of both sexes? None of the regime groups, none of the individual countries, show any sign of limiting women’s differential unpaid work responsibilities to the biologically specific requirements of suckling a child. Yet, on the principled assumption that men and women are equally able

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Time Use and Social Inequality Since the 1960s 30 25 20 15 10 5 0