Zwischen Aufbruch und Wende: Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre 9783110933673, 9783484350410

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Zwischen Aufbruch und Wende: Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre
 9783110933673, 9783484350410

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Zwischen Aufbruch und Wende Lebensgeschichten, Zeit- und Literaturgeschichte
2. Theoretische Grundlegung: Literarische Lebensgeschichten
3. Erinnerung an Aufbruch. Peter Weiss’ Erzählung »Abschied von den Eltern«: das individualistische Modell einer antiautoritären Revolte
4. Aufruhr nicht in Sicht. Alexander Kluges Erzählungen »Lebensläufe«: sozialpsychologische Modelle vom autoritären Charakter
5. Auf dem Weg zur Volksfront. Erika Runges Dokumentation »Bottroper Protokolle«: das utopistische Modell vom antiautoritären Proletariat
6. Erinnerung an Aufbruch und Wende. Hans Magnus Enzensbergers Roman »Der kurze Sommer der Anarchie«: das historische Modell einer antiautoritären Revolution
7. Kein Aufbruch findet statt. Hermann Kinders Roman »Der Schleiftrog«: ein sozialpsychologisches Modell vom antiautoritären Charakter
8. Auf dem Weg nach innen. Jochen Schimmangs Roman »Der schöne Vogel Phönix«: ein ästhetisierendes Modell der antiautoritären Vergangenheit
9. Ausblick: Aufbruch oder Wende? Moderne oder Postmoderne?
Literaturverzeichnis

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Wolfgang Frühwald, Georg Jäger, Dieter Langewiesche, Alberto Martino, Rainer Wohlfeil

Band 41

Ulrich Schmidt

Zwischen Aufbruch und Wende Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Redaktion des Bandes: Georg Jäger

D 6 Philosophische Fakultät

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schmidt, Ulrich: Zwischen Aufbruch und Wende: Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre / Ulrich Schmidt. - Tübingen: Niemeyer, 1993 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 41) NE: GT ISBN 3-484-35041-5

ISSN 0174-4410

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeichemng und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: memo, Justin Messmer, Basel Druck und Buchbinder: Weihert-Druck, Darmstadt

Inhaltsverzeichnis

1.

Einleitung: Zwischen Aufbrach und Wende Lebensgeschichten, Zeit- und Literaturgeschichte

2. Theoretische Grundlegung: Literarische Lebensgeschichten 2.1. Die narrative Organisation von historischer Erfahrung 2.2. Das Erzählen von Lebensgeschichten 3.

3.1. 3.2. 3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7. 3.8. 4.

4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5. 4.6. 4.7. 4.8. 4.9. 4.10. 4.11. 4.12. 5.

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Erinnerung an Aufbruch Peter Weiss' Erzählung »Abschied von den Eltern«: das individualistische Modell einer antiautoritären Revolte 45 Leben als Kunst? Autobiographischer Stoff und ästhetisches Modell . . . . 45 Lebens-Geschichte: Auktoriales Erzählen und personales Erinnern 49 Autorität und Familie: Erziehung zur Unterordnung 55 Faschismus als kollektiver Aufbruch - aber in den Tod 59 Arbeit im bürgerlichen Beruf: Stillstand, nicht Entwicklung 63 Der Künstler als Außenseiter - und sein langer Weg dorthin 66 Der Aufbruch zum eigenen Leben oder: die Selbstwahl des Individuums . . 73 Kunst und Politik: Erlebnis- und Herrschaftsraum? 77 Aufruhr nicht in Sicht Alexander Kluges Erzählungen »Lebensläufe«: sozialpsychologische Modelle vom autoritären Charakter 82 »Lebensläufe« als Geschichten oder: Komplexität durch Reduktion 82 Bei allem Überblick: der ratlose Biograph 85 >Keine Experimente< - der Sujetaufbau der »Lebensläufe« 90 Der integrierte Henker ohne Schuldbewußtsein und Strafe 94 Gesundes Volksempfinden oder der pflichtbewußte Kriminalbeamte . . . . 97 Guter Wille und Privilegien - der aufgeklärte Adel 100 Geistiger Widerstand - der reaktivierte Bildungsbürger 102 Die Außenseiterin: ständig auf der Flucht 105 Vorsichtig und erfolgreich: der Lebe-und Geschäftsmann 108 Täter und Ermittler oder Verhöhnung der Opfer 112 Bildung als Macht - der desillusionierte Lehrer 114 Der unabhängige Richter oder: »Keine Veränderungen mehr« 118 Auf dem Weg zur Volksfront Erika Runges Dokumentation »Bottroper Protokolle«: das utopistische Modell vom antiautoritären Proletariat

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5.1. >Axbeiter kommen zu Wort< - die innovative Funktion des Stoffs 125 5.2. Erzählen als Dokumentieren: die literarische Suprastruktur der Sammlung . 129 5.3. Lebensgeschichten und Zeitgeschichte: vom Klassenbewußtsein zur Konsumorientierung 133 5.4. Der gegenwärtige Prozeß: Politisierung des Bewußtseins und Institutionalisierung des Protests 144 5.5. Außerparlamentarische Volksfront als Perspektive - die utopistische Appellstruktur des Textes 149 6.

6.1. 6.2. 6.3. 6.4. 6.5. 6.6. 7.

7.1. 7.2. 7.3. 7.4. 7.5. 7.6. 7.7.

8.

8.1. 8.2. 8.3. 8.4.

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Erinnerung an Aufbruch und Wende Hans Magnus Enzensbergers Roman »Der kurze Sommer der Anarchie«: das historische Modell einer antiautoritären Revolution 155 Eine Dokumentation als Roman? Aporien der Forschung 155 »Geschichte als kollektive Fiktion« oder: die »Verleugnung des Erzählers< als literarisches Verfahren 159 Gegenwart und Vergangenheit - das historische Modell einer außerparlamentarischen Opposition 166 Der antiautoritäre Held - eine proletarische Legende 171 Aufbruch und Wende - eine spontane Revolution und die Ursachen ihres Scheitems 178 Ratlos vor dem langen Marsch oder: die Ohnmacht des Individuums . . . .185 Kein Aufbruch findet statt Hermann Kinders Roman »Der Schleiftrog«: ein sozialpsychologisches Modell vom antiautoritären Charakter Autobiographie oder Bildungsroman? Probleme der Zuordnung Vergangenheit als Nachttraum oder: vom Zweifel am autobiographischen Erzählen Keine Entwicklung - ein selbstkritisches Modell der antiautoritären Generation Erziehung an der Wirklichkeit: Der Mile zum Aufbruch und das Scheitern in den Institutionen Die Wende nach innen oder: Literatur als Utopie? Zwischen bewußtloser Flucht und nüchterner Ankunft: die Desillusionierung im Alltag Schwierigkeiten mit dem langen Marsch oder: vom »Schleiftrog« der Geschichte

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Auf dem Weg nach innen Jochen Schimmangs Roman »Der schöne Vogel Phönix«: ein ästhetisierendes Modell der antiautoritären Vergangenheit Lebensgeschichte als kunstlose Kunst? Rezeption als Reduktion? Trotz aller Perspektivlosigkeit: der wissende Auto-Biograph Autoritäre Kaderpolitik oder: die »leninistische Wende« Ästhetisierte Vergangenheit - »die goldenen sechziger Jahre«

236 236 239 244 247

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8.5. 8.6. 9.

Zeitgeschichte als Natur - Scheitern als Existential: der Verlust historischen Bewußtseins 252 Abschied vom langen Marsch oder: Erinnerung als Aufbruch 259 Ausblick: Aufbruch oder Wende? Moderne oder Postmoderne? 268

Literaturverzeichnis 1. Literarische Texte 2. Sonstige zitierte Literatur

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vn

Das Jahr 68 war das Jahr eines gewaltsamen Vorstoßes u Befreiungsversuchs gewesen. Sie, die jetzt herangewachsen waren, wollten mit den Verbrechen, den Leiden u dem Heroismus, die die Überlebenden meines Jahrgangs noch kannten, nichts mehr zu tun haben. Sie wandten sich ab von der Vorzeit, fragten, wie es heute um sie bestellt sei. Es ging nicht mehr allein um das deutsche Problem, es ging um eine Abwendung von der patriarchalisch-autoritären Ordnung, es ging um die Bestimmung des Wesens des Sozialismus, um die Bekämpfung des imperialistischen Terrors, wie er sich entlud über Vietnam. Was sich in diesem Jahr, in Paris, in Prag, auf den Straßen der Metropolen aller Länder ereignete, kündigte eine grundsätzlich veränderte Lebenshaltung an. Peter Weiss, Notizbücher 1971-1980

1. Einleitung: Zwischen Aufbruch und Wende Lebensgeschichten, Zeit- und Literaturgeschichte

Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern', Und verstehe die Freiheit, Aufzubrechen, wohin er will. Hölderlin, »Lebenslauf«

Das autobiographische Schreiben der 70er Jahre gilt gemeinhin als das Resultat einer zeitgeschichtlichen Entwicklung, die in der Bundesrepublik zwischen 1960 und 1980 vom >Aufbruch< zur >Wende< geführt hat: vom Versuch, die gesellschaftliche Wirklichkeit durch Revolte oder Reform zu verändern, zur Rückbesinnung auf eine konservative Tradition, die keine utopische, sondern eine pragmatische Perspektive weisen soll. Diesem politischen Prozeß scheint als literarisches Äquivalent die Ablösung der »dokumentarischen Mode« 1 durch jene autobiographische Mode zu entsprechen, die als ein Spezifikum der 70er Jahre angesehen wird und die doch bereits in den 60er Jahren ihren Ausgang nahm: schon damals wurden Lebensgeschichten von gesellschaftlichen Außenseitern als »Literatur der Nicht-Autoren« rezipiert.2 Deren Texte werden allerdings bis heute dem dokumentarischen Erzählen zugerechnet. Vom »autobiographischen Ansatz«3 in der deutschen Gegenwartsliteratur spricht man erst, seitdem das Schreiben über das eigene Leben insbesondere von der Generation entdeckt wurde, die sich zuvor in der Protestbewegung engagiert hatte. Nachdem der >Tod der Literatur< proklamiert und die »Exekution des Erzählers« diagnostiziert worden ist,4 gelten Lebensgeschichten als eine ästhetische Gattung, in der die »Wiederkehr des Erzählers« und die »Wiedergeburt des Erzählens« ihren deutlichsten Ausdruck finden

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Pallowski, Die dokumentarische Mode. Baumgart, Die Literatur der Nicht-Autoren. - Unter diesen Begriff fallen im vorliegenden Zusammenhang folgende Texte: Runge, Bottroper Protokolle; Runge, Frauen; Trauberg, Vorleben; Werner, Vom Waisenhaus zum Zuchthaus; Rother, Rosalka oder Wie es eben so ist. Zur Klassifikation dieser Lebensgeschichten als dokumentarischer Prosa siehe Habner, Trivialdokumentationen von der Scheinemanzipation? Thomas/Bullivant, Westdeutsche Literatur der sechziger Jahre, S. 145-151; Berghahn, Dokumentarische Literatur, S. 227 und S. 234f.; Schwab, Autobiographik und Lebenserfahrung, S. 42-53; Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 33 und S. 284-334. Heckmann, Vorbemerkung, S. 6. - Grundsätzlich sei daraufhingewiesen, daß in dieser Abhandlung mit den Bezeichnungen >Auto-Biographie< und >auto-biographisch< immer autobiographische und biographische Texte gemeint sind. Siehe hierzu Enzensberger, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend; Michel, Ein Kranz für die Literatur; Batt, Die Exekution des Erzählers, in: Batt, Revolte intern, S. 123179.

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können.5 Schon ein paar Jahre, nachdem eine »radikale Politisierung« keine »Literatur des großen Aufbruchs« gebracht, sondern die »deutsche Literatur« nur »ruiniert« habe,6 werden die »Abwendung von Theorie, Ideologie und Politik« und die »Hinwendung zum Künstlerischen in der Literatur« von der etablierten Kritik vor allem im »Hang zum Autobiographischen« begrüßt: »Nicht wie man die Gesellschaft umbauen und die Menschheit erlösen könnte, möchten die Leser von den Autoren wissen. Vielmehr wollen sie etwas über sich selbst erfahren. Man interessiert sich also füir Privates und Individuelles.«7 Während also in den 60er Jahren das Dokumentieren von sozialkritischen Stoffen den politischen Protest gegen gesellschaftliche Verhältnisse zum Zweck habe, folge das Niederschreiben von individueller Erfahrung in den 70er Jahren einer Abkehr ins Private8 - diesem literarhistorischen Klischee setzt die vorliegende Arbeit die Interpretation einer Reihe von literarischen Lebensgeschichten entgegen, mit welcher nicht länger der Gegensatz zwischen dem dokumentarischen Erzählen und dem autobiographischen Schreiben behauptet, sondern endlich deren Einheit in der spezifischen Differenz erfaßt werden soll. Weil hier eine literarische Entwicklung aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive zu beschreiben und ein sozialer Prozeß an Texten der Literaturgeschichte zu reflektieren ist, erfordert es diese Aufgabe, daß die jeweiligen Bedeutungshorizonte skizziert werden, vor denen differenzierbare Fragestellungen erst ihren Sinn erhalten. Verschiedene ästhetische Lösungsmöglichkeiten des dokumentarischen und autobiographischen Erzählens untersucht die Arbeit an solchen Werken, die das auto-biographische Sujet an der Thematik von >Aufbruch< und >Wende< veranschaulichen. Gegenstand des Interesses sind Erzählungen und Romane, die zentrale Deutungsmuster des antiautoritären Werthorizonts antizipieren oder propagieren, reflektieren oder negieren und so am Paradigma von Lebensläufen Entstehung, Höhepunkt und Scheitern der Protestbewegung literarisch modellieren. Kann diese als ein zeitgeschichtliches Innovationspotential im Sinne gesellschaftlicher Modernisierung verstanden werden, in dem sich trotz aller Widersprüche das kollektive Bemühen von Intellektuellen andeutet, ihr Wissen nicht zum Erwerb sozialer Privilegien zu nutzen, sondern in einem Versuch gesellschaftlicher Emanzipation verfügbar zu machen? Mit dieser Fragestellung versteht sich die Arbeit nicht als ein weiterer Beitrag dazu, wie die Studentenrevolte als subjektives Erlebnis und als politisches Ereignis ihre Darstellung in der Literatur findet.9 Die Aufmerksamkeit gilt nicht einem

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Hage, Die Wiederkehr des Erzählers; Neumann, Die Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist der Autobiographie? 6 Reich-Ranicki, Anmerkungen zur deutschen Literatur der siebziger Jahre, S. 171 und S. 173. 7 Reich-Ranicki, Rückkehr zur schönen Literatur. 8 Siehe hierzu etwa Batt, Revolte intern, S. 163f.; Kreuzer, Zur Literatur der siebziger Jahre in der Bundesrepublik; Schnell, Die Literatur der Bundesrepublik, S. 462-500; Reich-Ranicki, Anmerkungen zur deutschen Literatur der siebziger Jahre; Hermand, Fortschritt im Rückschritt, S. 309f.; Heller, Literatur im Zeichen der Rezession, Neuen Linken und »Tendenzwende«; Schwab, Autobiographik und Lebenserfahrung, S. 11; Roberts, Tendenzwenden, S. 312; Koebner, Die zeitgenössische Prosa II: Erfahrungssuche des Ich; Rothmann, Kleine Geschichte der deutschen Literatur, S. 302-341, bes. S. 327. - Siehe dagegen schon Beicken, >Neue Subjektivität: Zur Prosa der siebziger Jahre, S. 164. 9 Siehe hierzu etwa Piwitt, Rückblick auf heiße Tage; Denkler, Langer Marsch und kurzer Prozeß;

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besonderen Stoff als dem gemeinsamen Merkmal der behandelten Werke, sondern den Motiven, die dem Protest nicht nur als bewußte Rechtfertigungen und Programme, sondern auch als unbewußte Bedürfnisse zugrundelagen, den vielfältigen Deutungs- und Veihaltensmustem also, die hier im Begriff des antiautoritären Normenhorizonts zusammengefaßt sind. Eine ideologiegeschichtliche Untersuchung dieses Gegenstands existiert bis heute nicht; ebensowenig können die vorliegenden politökonomischen oder sozialpsychologischen Erklärungsversuche zur Herkunft des Protestpotentials befriedigen.10 Vor einer literaturwissenschafdichen Analyse der Frage, wie in der ästhetischen Konstruktion von Lebensgeschichten unterschiedliche weltanschauliche Konzepte der antiautoritären Generation modelliert werden, seien diese - mit allen Vor- und Nachteilen einer Aufzählung - noch einmal in Erinnerung gerufen: Die Theorien Freuds, Reichs und ihrer Nachfolger stellten analytische Kategorien bereit, mit denen die psychischen Konflikte von Individuen in ihrer sozialen Dimension begriffen werden können. Der Existentialismus von Camus und Sartre lieferte eine anthropologische Begründung für die permanente Revolte gegen jede Einschränkung der persönlichen Freiheit. Durch die Rezeption des historischen Materialismus von Marx und Engels, Lenin und Stalin sowie der konkreten Praxis von Mao Tse-tung, Ho Chi-minh und Che Guevara wurden Klassenkampf, Kulturrevolution und Guerillataktik als politische Handlungskonzepte entwickelt. Die Analysen der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Habermas* gaben Erklärungen dafür, warum aufklärerische Impulse zur Veränderung der bürgerlichen Gesellschaften immer wieder zu deren Stabilisierung kanalisiert werden. Gegen eine solche Skepsis setzte die Protestbewegung freilich nicht nur Blochs »Prinzip Hoffnung« und Marcuses Randgruppenstrategie, sondern griff mit der Tradition des Anarchismus auch das voluntaristische Konzept auf, trotz aller bestehenden Hemmnisse die Revolution durch die direkte Aktion noch zu Lebzeiten in die Tat umzusetzen. Für die phantasievolle Irritation der politischen Öffentlichkeit erhielten schließlich die europäischen Avantgardebewe-

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Buselmeier, Nach der Revolte; Hosfeld/Peitsch, »Weil uns die Aktionen innerlich verändern, sind sie politisch«; Mosler, Die Kunst ist die Umkehrung des Lebens; Lützeler, Von der Intelligenz zur Arbeiterschaft; Vogt, Vielfältig, unterschiedlich. - Zum bisherigen Diskussionszusammenhang siehe weiter die Sammlungen: Literaturmagazin 4. Die Literatur nach dem Tod der Literatur. Bilanz der Politisierung, hg. von Buch; Literatur und Studentenbewegung, hg. von Lüdke; Nach dem Protest, hg. von Liidke. - Auch die Abhandlungen von Leise und Adam sind durch Fragestellungen geprägt, die mit der vorliegenden Untersuchung wenig gemeinsam haben. Leise (Die Literatur und Ästhetik der Studentenbewegung [1967-1976]) katalogisiert die »verschiedenen literarischen Strömungen«, welche »durch die Praxis und Theorie der Studentenbewegung entstanden« sind (S. 37). Adam (Sehnsucht nach Sinnlichkeit) stellt die »theoretischen Ergebnisse« einer »Kulturrevolution« dar, die im »Jahre 1968« und »in den siebziger Jahren« (S. 4) stattgefunden habe, und versucht dann in »fünf Romanen Hinweise zu entdecken auf das geglückte oder mißglückte Umsetzen dieser Theorie in Literatur« (S. 205f.). Diese Literatur wäre freilich überflüssig, wenn sie »Theorie« nur reproduzierte, nicht aber reflektierte. Exemplarisch seien hier die Ausführungen von Bauß (Die Studentenbewegung der sechziger Jahre in der Bundesrepublik und Westberlin, S. 16-18) und von Schülein (Von der Studentenrevolte zur Tendenzwende oder der Rückzug ins Private, S. 103) genannt. Zur allgemeinen Kritik an solchen Reduktionen siehe schon Kraushaar, Student und Politik, S. 4f., sowie Kraushaar, Objektiver Faktor Student, S. 37.

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gungen wie Dadaismus und Surrealismus erneute Bedeutung, besonders aber Benjamins und Brechts Programm einer Politisierung der Kunst.11 Obwohl solch differierende Weltbilder in die einzelnen Werke auf sehr unterschiedliche Weise eingehen, läßt sich mit ihnen doch in einem ersten Zugriff das reflexive Potential einer Generation umreißen, die kollektiven Normensysteme, welche die antiautoritären Lebenspläne und Lebensläufe einmal prägten und von denen scheinbar nur noch Lebensgeschichten existieren. Aus dem Abstand und zu einer Zeit, in der nicht mehr eine megative Dialektikpositive Denken< Konjunktur hat, in der wieder alles in geordneten Bahnen verlaufen soll und die Devise >weiter so< lautet, wird hier mit der Interpretation von literarischen Texten noch einmal nach >Aufbruch< und >Wende< gefragt. Diese beiden Topoi zur Bezeichnung signifikanter Veränderungen im >Lauf< des Lebens und im >Gang< der Geschichte stehen in einer Tradition, die bis zur Bibel zurückreicht.12 Im Kontext der letzten Jahrzehnte fungieren sie als politische Metaphern, mit denen spezifische gesellschaftliche Entwicklungen hervorgehoben werden: Wer im »Machtverfall der Erhard-Regierung« und in der »Ausdauer der Sozialdemokraten bei ihrer Pirsch an die Macht« die entscheidenden Bedingungen dafür erblickt, >mehr Demokratie wagen< zu können, der sieht in den 60er Jahren das »Jahrzehnt des Aufbruchs aus der Nachkriegszeit«, welcher im Machtwechsel 1969 seinen deutlichsten Ausdruck gefunden habe.13 Wer dagegen die außerparlamentarische Opposition als die entscheidende revolutionäre Kraft versteht, der verklärt noch 1977 den »Aufbruch der Studenten in den Protest« zu einem historischen Ereignis, das »modellartig gewirkt« habe: »In strukturell ähnlicher Weise sind aufgebrochen: die Schülerbewegung, die Lehrlingsbewegung, die Frauenbewegung, die Männerbewegung und andere Bewegungen mehr, die der Mieter und die für den Umweltschutz und nicht zuletzt eine neue Arbeiterbewegung.«14 Wer indes das kollektive Scheitern der antiautoritären Bewegung wahrnimmt, die Idee des Aufbruchs in der sozialen Wirklichkeit aber dennoch realisiert sehen will, der deutet schließlich die »Abschiede« von Liebesbeziehungen und deren literarische Darstellung zu denjenigen »Aufbrüchen« um, die sich nach 1968 wenn schon nicht im gesell-

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Detaillierte Nachweise erfolgen im Zusammenhang der Interpretationen. Neben anderen Bedeutungsaspekten verzeichnet der gegenwärtige Duden, hg. von Drosdowski, unter dem Stichwort »Aufbruch« das »Erwachen, Sich-Erheben« (Bd. 1, S. 206) und unter dem Stichwort »Wende« die »einschneidende Veränderung«, den »plötzlichen Wandel in der Richtung eines Geschehens oder einer Entwicklung« (Bd. 6, S. 2865f.). Eine feste Bewertung solcher Veränderung als fort- oder rückschrittlich, als positiv oder negativ weist keines der beiden Lexeme auf; von einer Bedeutungseinschränkung kann ohne kontextuelle Spezifizierung nicht die Rede sein. Ebenso gilt in der Bibel nicht nur der kollektive Aufbruch des ganzen Volkes ins >Gelobte Land< beim Auszug (Exodus) aus Ägypten als eine Tat der Befreiung (siehe Ex, bes. 12,37-42), sondern auch die persönliche >Wende< des einzelnen, seine innere Umkehr (Metanoia) angesichts des nahegekommenen Reiches Gottes (siehe bes. Mt 3,2; Mk 1,15; Apg 3,26; 26,20). In Ernst Blochs »Prinzip Hoffnung« fallen »Aufbruch« und »Wende« als synonyme Topoi für revolutionäre Zeiten gar zusammen (S. 133-135, Zitate S. 134). Duve, Ein Vierteljahrhundert aktuell, in: Aufbrüche. Die Chronik der Republik, hg. von Duve, S. 16. Hübner, »Klau mich« oder die Veränderungen der Verkehrsformen, S. 226.

schaftlichen Außenraum, so doch im persönlichen und kulturellen Innenraum ereignet hätten.15 Dem Mißerfolg der Versuche, die bestehende Gesellschaft durch Reform oder Revolte zu verändern, entspricht die Ablösung des Aufbruchstopos durch die Metapher der Wende. Dieses Schlagwort steht für eine Rückbesinnung auf die Tradition und ist seit 1982 durch den politischen Machtwechsel öffentlich bekannt geworden; seine Bedeutung reicht jedoch bis in die erste Hälfte der 70er Jahre zurück. Eine politische >Tendenzwende< fand ja bereits zwischen 1972 und 1974 statt, als die Regierung der sozialliberalen Koalition ihre beiden Leitvorstellungen >stabiles Wachstum< und >innere Reformern unter veränderten Rahmenbedingungen nicht mehr aufrechterhalten konnte. Wie man die ökonomische >Wende< der weltweiten Wirtschaftskrise seit 1973 nur als Einschränkung des politischen Handlungsspielraums verstand, so sah sich die Staatsgewalt durch die Folgeerscheinung des antiautoritären Protests vor allem bedroht, unabhängig davon, ob es sich hierbei um den radikaldemokratischen Reformismus eines >langen Marsches durch die Institutionen, um das anachronistische Konzept einer revolutionären Kaderpartei oder um die menschenverachtende Strategie des Terrorismus handelte. Das Ende der sogenannten Reformphase war die Folge: die Erweiterung von Bürgerrechten und der Ausbau sozialer Leistungen wurden als politische Ziele weitgehend gestrichen.16 In ein und demselben Zusammenhang mit dieser > Wende< stand jene ideologische >TendenzwendeTendenzwendetWendeWende< als »Rückkehr zum klassischen Zyklus« siehe auch Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945-1980), S. 103-118, Zitat S. 103. Lübbe, Fortschritt als Orientierungsproblem im Spiegel politischer Gegenwartssprache, S. 19. Habermas, Einleitung, S. 30. - Siehe in diesem Zusammenhang auch Vormweg, Die Wende vor der Wende. Kraushaar, Thesen zum Verhältnis von Alternativ- und Fluchtbewegung, S. 45f. und S. 48.

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1982 aus wirtschaftspolitischen Gründen vollzogen hat, und als solcher bleibt er gar noch begrenzt, wo bei aller Rhetorik und bei allen Veränderungen eine gewisse »politische Kontinuität« nicht zu übersehen ist.20 Eine solche Skizze zur politischen Entwicklung in den 60er und 70er Jahren umreißt den zeitgeschichtlichen Kontext für die Interpretation der ausgewählten Lebensgeschichten. Zugleich deutet sich darin aber auch eine Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes an, die sich von anderen Erklärungsversuchen der Protestbewegung wesentlich unterscheidet. Statt die Jahre 1967/68 in der Tradition der Ereignisgeschichte zum »Wendepunkt in der Geschichte der Bundesrepublik«, gar zu ihrem »gewichtigsten Einschnitt«21 zu erklären und weiterhin der Illusion vom »Zauber des großen Augenblicks«,22 dem Mythos der »Einzigartigkeit«23 verhaftet zu bleiben, richtet diese sozialgeschichtlich orientierte Studie ihr Interesse auf längerfristige gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, als deren »Kristallisationspunkt« die antiautoritäre Revolte begriffen werden kann. Zu Recht hat der Sozialwissenschaftler Hermann Körte betont, daß die Rede von der »Studentenbewegung« als einem »eigenständigen Ereignis, das eine neue politische Kultur schuf«, nur einer »ahistorischen Betrachtungsweise« entspringt.24 Die Konstruktion einer Reihe von Lebensgeschichten zwischen 1961 und 1979 zielt demgegenüber auf die Beschreibung der Entstehung und der Funktion einer sozialen Protestbewegung innerhalb längerfristiger Transformationsprozesse, für deren Darstellung insbesondere modernisierungstheoretische Ansätze ihre Erklärungskraft erwiesen haben.25 Erst im Kontext der Frage nach der Bewegung von 1968 als einer der gesellschaftlichen Modernisierung kann die Debatte um Erfolg oder Mißerfolg des Protests ihren Sinn erhalten: Die Erklärung, daß man vom »Scheitern« der Revolte nicht sprechen könne, weil diese angeblich »keine eindeutigen Zielvorgaben hatte«,26 wird der antiautoritären Opposition ebenso wenig gerecht wie der bloße Verweis auf »das Absurde« ihrer Forderungen.27 Aber auch die Differenzierung von >machtpolitischer< Niederlage (bezogen auf die kurzfristigen Ziele) und >sozialem< oder >kulturpolitischem< Erfolg (hinsichtlich der mittelfristigen Wirkungen)28 greift nur, wenn die Widersprüchlichkeit, welche die Protestbewegung mit eben jener Gesellschaft teilte, gegen die sie revoltierte, vor dem Hintergrund längerfristiger Transformationsprozesse verstanden wird, die durch die antiautoritäre Opposition »forciert« wurden, auf welche sie »aber mit der Überspitzung

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Siehe hierzu Uske, Die Sprache der Wende, sowie Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 216-223, Zitat S. 216. Mündemann, Die 68er, S. 89 und S. 97 (das zweite Zitat stammt aus einem Interview mit Knut Nevermann). 22 Schmierer, Der Zauber des großen Augenblicks. 23 Baier, Lob der Extreme, S. 79. 24 Körte, Eine Gesellschaft im Aufbruch, S. 36 und S. 35. 25 Siehe hierzu Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte; Reiche, Sexuelle Revolution Erinnerung an einen Mythos, S. 58; Sofri, Das große Sackhüpfen, S. 128. 26 Sichtermann, 1968 als Symbol, S. 38. 27 Siehe Mündemann, Die 68er, S. 148. 28 Siehe Mündemann, Die 68er, S. 155f., S. 195f„ S. 205. Ähnlich siehe auch Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 172f.

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mancher Forderung auch retardierende Einflüsse« hatte.29 Und schließlich kann eine derartige sozialgeschichtliche Betrachtungsweise auch den Zwiespalt zwischen Kontinuität und Diskontinuität überwinden, durch den die gegenwärtige Auseinandersetzung mit der vergangenen Protestbewegung gekennzeichnet ist: wo eine »basisdemokratische Auffrischung«30 und eine »Reformenvielfalt«31 zum Vorläufer oder zum Modell der heutigen politischen Praxis erklärt werden, gerät in einer solchen linearen Deutung die historische Distanz zwischen 1968 und 1988 aus dem Blick. Wo dagegen eine »politische Leidenschaft, die die ganze Welt von ihren alten Fesseln befreien wollte«, allein mit dem »Blick der Fremdheit« betrachtet wird,32 bleibt die gegenwärtige Vertrautheit mit jener Problemkonstellation außer acht. Im Unterschied dazu zielt die vorliegende Abhandlung darauf ab, Kontinuität und Diskontinuität als Entwicklung zusammenzudenken und so mit den emphatischen Worten Benjamins formuliert - »im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen«.33 Wenn hier an einer Reihe von literarischen Lebensgeschichten ein gesellschaftlicher Prozeß der 60er und 70er Jahre reflektiert wird, so liegt dieser Konzentration auf das auto-biographische Genre auch die Überlegung zugrunde, daß die Soziogenese der antiautoritären Generation von ihrer Psychogenese nicht zu trennen ist. Das allgemeine Potential von Kunstwerken, »Aufschluß« zu »geben über die gesellschaftliche Dimension« des Modernisierungsprozesses »in der Privatsphäre der Menschen«,34 ist ja in solchen ästhetischen Texten besonders ausgebildet, die sich am Paradigma von Lebensläufen der Frage stellen, inwieweit die konkreten sozialen Lebensbedingungen dem einzelnen als Repräsentanten seiner Generation eine Konstitution von Identität ermöglichen. Ein solcher Zugriff konstituiert weder einen einheitlichen »APO-Lebenslauf« noch einen »Sozialcharakter« der Studentenbewegung,35 sondern forscht in literarischen Lebensgeschichten nach dem kollektiven »Unterstrom« der »singulären Biographien«, nach den Mentalitäten einer Generation, die in der Revolte ihren öffentlichen Ausdruck fanden und die den Akteuren doch »verschlossen« blieben.36 In diesem Sinne fordert auch Reimut Reiche von einer historischen Analyse der Protestbewegung: »Eine zukünftige Geschichtsschreibung von >1968< steht vor der schwierigen Aufgabe, die damalige bewußte und unbewußte Affektlage zu vergegenwärtigen. Nur so wird das, was wir damals >Mobilisierung< nannten, also der für die revolutionäre Situation von 1968 typische Impuls beschrieben werden können, dieser Affektlage einen unter allen Umständen in die >Aktion< mündenden politischen Ausdruck zu verschaffen.«37

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Körte, Eine Gesellschaft im Aufbruch, S. 54. - Siehe auch Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 37: »In der Protestbewegung haben sich von Anfang an emanzipatorische Kräfte mit regressiven verbunden.« Mündemann, Die 68er, S. 98 (Nevermann). Sichtermann, 1968 als Symbol, S. 43. Mohr/Cohn-Bendit, 1968, S. 8. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 695. Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, S. 171. Mündemann, Die 68er, S. 214; Gottschalch, Das Autoritäre im Antiautoritären, S. 52. Schmid, Die Wiiklichkeit eines Traums, S. 12. Reiche, Sexuelle Revolution - Erinnerung an einen Mythos, S. 67.

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Die »bewußte und unbewußte Affektlage« der antiautoritären Bewegung am Medium der Literatur zu rekonstruieren ist ein Interesse der vorliegenden Abhandlung. Ihr Gegenstand stellt sich als eine Reihe von literarischen Lebensgeschichten dar, die zwischen 1961 und 1979 veröffentlicht wurden und die allesamt authentisches Material verarbeiten. Das Innovative dieser Erzählungen und Romane liegt also zunächst im Stofflichen begründet: Wedereine imaginieite Fabel noch eine vorgefundene literarische Folie, sondern die reale Erfahrung noch Lebender als subjektiv vermittelte Zeitgeschichte gibt das Material für solche Werke ab, deren spezifische Bedeutung darin liegt, eine Irritation des Lesers nicht mehr wie in den 50er Jahren durch Parabeln, sondern durch persönlich bezeugte Lebensgeschichten zu leisten. Lebensgeschichten - das sind Texte, die einen Lebenslauf oder eine Lebensphase in autobiographischer oder biographischer Weise erzählen. Andere Formen des dokumentarischen Erzählens - Reportagen, Chroniken von historischen Ereignissen oder von Institutionen, Collagen von Ideologemen bleiben von der Untersuchung ebenso ausgeschlossen wie das Tagebuch und die Darstellung von Einzelerlebnissen als weitere Spielarten des auto-biographischen Schreibens.38 Den ausgewählten Werken ist somit gemeinsam, daß sie Leben und Kunst, Auto-Biographie und Roman einander annähern. Dieses Merkmal ist aus literarhistorischer Sicht aber kein Novum der Gegenwartsliteratur - weder in den 70er noch in den 60er Jahren - , sondern prägt das literarische System seit dem 18. Jahrhundert, seitdem also Voraussetzungen, Entwicklungen und Folgen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses zur Darstellung gelangen.39 Schon für das Ende des 18. Jahrhunderts läßt sich ja ein historischer Zusammenhang zwischen der »Literarisierung des Romans« und der »Literarisierung der Autobiographie« beschreiben: »Lebensgeschichte und Lebenslauf (im biographischen und autobiographischen Sinne)« sind damals »die geläufigsten Erzählmuster« des entstehenden Romans als einer Kunstform; umgekehrt macht die Entwicklung der Autobiographie eine »Übernahme von Darstellungstechniken des Romans« nötig, weil die »überlieferten Typen der Zweckform hinter den inzwischen erreichten Maßstäben der Erfahrung von Individualität« zurückbleiben. Nach dieser Phase der wechselseitigen Ausdifferenzierung von Konstruktionsprinzipien führen die fiktionale »Aufhebung der Autobiographie zum Roman«,40 insbesondere zum Bildungsroman, und die positivistische Trennung von Kunst und Wissenschaft für das Genre der Biographie im 19. Jahrhundert dazu, daß die nun automatisierten Erzähl verfahren der beiden Gebrauchsformen nicht weiterentwickelt werden und hinter den Darstellungsmöglichkeiten des Romans zurückbleiben.41 Dies gilt auch für viele Lebensgeschichten aus der Zeit nach der literarischen Moderne, für die meisten Autobiographien der 20er Jahre ebenso wie für die zahlreichen Biographien Emil Ludwigs und Stefan Zweigs: In deren Werken

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Siehe hier etwa Wallraff, Die Reportagen; Kluge, Schlachtbeschreibung; Delius, Unsere Siemenswelt; Stiller, Η - Protokoll; Lettau, Täglicher Faschismus; sowie Frisch, Tagebuch 19661971; Grass, Aus dem Tagebuch einer Schnecke; Handke, Der kurze Brief zum langen Abschied; Schneider, Lenz. Siehe hierzu allgemein Schönen, Gesellschaftliche Modernisierung und Literatur der Moderne. Müller, Autobiographie und Roman, S. 74, S. 342. Siehe hierzu Scheuer, Biographie (I), S. 231; Kreuzer, Biographie, Reportage, Sachbuch, S. 432-435; Kronsbein, Autobiographisches Erzählen, S. 178.

werden immer noch die Illusion eines vollständigen Verlaufs durch einen allwissenden Erzähler, die Dynamik des Geschehens durch die Reihung von Einzelbildern und die Spannung der Geschichte durch die Fixierung auf Höhepunkte erzeugt; Techniken des modernen Romans wie Perspektivenwechsel, Reflexion, Montage, Entfabelung, durch welche die Subjektivierung von historischer Erfahrung ihren Ausdruck finden könnte, sind vermieden.42 Wo diese »Flucht« vor der »Krisis des Romans«43 erkannt ist und sich die Einsicht durchsetzt, daß ein derart anachronistisches »biographisches Erzählen, stärker als fiktionales Erzählen, fragwürdig geworden ist«, daß »Ich und Welt im einfachen Nacheinander konventionellen autobiographischen Erzählens nicht mehr miteinander vermittelt werden können« 44 gelten gar das Tagebuch und das Bewußtseinsprotokoll als ästhetische Alternativen, die der Idealisierung eines Lebenslaufs entgehen sollen 45 Derartige Perspektiven, die das Ende des auto-biographischen Erzählens suggerieren, übersehen indes das Potential, welches in der literarischen »Problematisierung von Schemata pragmatischer Sprachhandlungen« liegt,46 und dazu ist insbesondere der Roman geeignet, dessen wandlungsfähiger Charakter ja eine ästhetische Aufhebung jeder im Alltag gebräuchlichen Textsorte ermöglicht47 Die ausgewählten Lebensgeschichten der 60er und 70er Jahre sind nicht nur vor der literarischen Evolution von Autobiographie und Biographie zu begreifen, sondern stehen auch in einer Tradition der »Krisis« des Romans als »Kunstform«,48 die sich in der literarischen Moderne als Ausdruck des Bewußtseins artikulierte, »daß keine Gegenwart mehr als einheitliche Epoche erlebt und entworfen werden« kann 49 Wo sich der gesellschaftliche Modemisierungsprozeß in signifikanter Weise auch innerliterarisch niederschlägt50 und der Erzähler als isoliertes Individuum nur mehr für sich selbst zu sprechen vermag, verliert das literarische »Erzählen einer >wahren< Lebensgeschichte, die zugleich Zeitgeschichte sein soll«, seine Selbstverständlichkeit, wie die »Spannung« zwischen der »Neigung zu entschiedener Subjektivierung aller mitgeteilten Welterfahrung« und dem »Versuch einer radikal entpersönlichten Darstellung der Zeitverhältnisse« am Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich macht.51 Die sozialen Grundlagen für die Erzählverfahren des literarischen Realismus, welche auf dem naiven »Wiedererkennen einer Perception von sich selbst im Verhältnis zur Welt« beruhten, sind fragwürdig, eine »Lebensgeschichte des Menschen an sich« ist unzeitgemäß geworden. Erst wenn der Roman die »Negation des Wiedererkennens« als

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Siehe hierzu Löwenthal, Die biographische Mode; Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, S. 19f.; Scheuer, Biographie (I), S. 217-226. Kracauer, Die Biographie als neubilrgerliche Kunstform, S. 78 und S. 76. Aichinger, Selbstbiographie, S. 814 und S. 816. So Aichinger, Selbstbiographie, S. 816, sowie Neumann, Identität und Rollenzwang, S. 189. Zur Kritik an Neumanns These einer »Verunmöglichung der Autobiographie« (S. 183) siehe schon Müller, Autobiographie und Roman, S. 19-23. Stierle, Geschichte als Exemplum - Exemplum als Geschichte, S. 31. Lämmert, Zum Wandel der Geschichtserfahrung im Reflex der Romantheorie, S. 515. Lämmert, Vorbericht (I), S. XIX. Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, S. 125. Siehe Werner, Das Wilhelminische Zeitalter als literarhistorische Epoche, bes. S. 227. Lämmert, Vorbericht (Π), S. XVIIf.

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ästhetische Verfremdung integriert,52 als »pointiertes Gegeneinander, nicht« als »das traditionelle Ineinander von Selbst- und Realitätsbewußtsein«,53 nimmt er die historische Erfahrung der Moderne in sich auf. Als Reaktion auf solchen »Verlust an Verbindlichkeit« kann die »Verdrängung oder Ablösung von Erzählpartien durch Beschreibung, Reflexion und schließlich Dokumentation«54 verstanden werden. Vor diesem Hintergrund ist aber auch die ästhetische Rezeption der sogenannten literarischen Gebrauchs- oder Zweckformen wie Autobiographie, Biographie, Brief, Chronik, Dialog, Essay, Interview, Reisebericht, Reportage und Tagebuch im dokumentarischen Erzählen der 20er und der 60er Jahre55 wie auch im auto-biographischen Erzählen der 70er Jahre zu begreifen. Die Verwendung solch konventionalisierter Erzählmuster löst einerseits die »Kompliziertheit« der »Zusammenhänge« auf,56 indem zeitgeschichtliche Ereignisse anhand eigener Erlebnisse aus subjektiver Sicht ihre parteiliche Darstellung finden. In dieser Reduktion von Komplexität zeichnet sich scheinbar eindeutig die bloße Einschränkung ästhetischer Autonomie ab. Die Vereinfachung des narrativen Schemas und die Verarbeitung authentischer Stoffe können andererseits aber selbst wieder nach avancierten Erzählverfahren organisiert und so zum literarischen Material eines Romans gemacht werden: »Der Effekt der Vereinfachung« wird auch hier nur »um den Preis einer krassen Steigerung der Komplexität der Textstruktur erreicht«,57 und die ästhetische Autonomie dieser klassischen bürgerlichen Kunstform ist ein weiteres Mal radikalisiert, wenn in der Synthese von Roman und Auto-Biographie die Distanz zur Lebenspraxis durch die vorgebliche Einfachheit aufgehoben scheint - und sich durch die virtuelle Komplexität doch nur vergrößert. Die Möglichkeit einer Synthese von Roman und Auto-Biographie stellt keine singulare Erscheinung der 70er Jahre dar, sondern besitzt eine historische Vorgeschichte. Diese reicht weit vor das 20. Jahrhundert zurück und ist zudem mit erheblichen theoretischen Zweifeln verbunden. So lehnt schon Hegel die »biographisch-poetische Behandlung einer bestimmten Lebensgeschichte« als Epos ab, weil in dieser Form »die Einheit des Subjekts und des objektiven Geschehens« nicht darstellbar sei.58 Auch Lukäcs, der in der Nachfolge Hegels die Funktion des historischen Romans in der »Gestaltung« der »großen Menschen [... ] auf der Grundlage der Totalität der objektiven gesellschaftlich-geschichtlichen Bestimmungen« sieht, verwirft die biographische Form »mit ihrer notwendigen handlungsmäßigen Enge« als ein »Hindernis« für die Erfüllung jener Aufgabe. Die biographische »Genesis des Genies« auf der Grundlage der Epoche lasse sich nur mit 52 Nägele, Geht es noch um Realismus? S. 37. 53 54 55

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Ter-Nedden, Allegorie und Geschichte, S. 96. Lämmert, Vorbericht (Π), S. XIX. Siehe hierzu allgemein Sengle, Vorschläge zur Reform der literarischen Formenlehre; Belke, Literarische Gebrauchsformen; Prosakunst ohne Erzählen, hg. von Weissenberger. - Zum historischen Entwicklungszusammenhang der Dokumentarliteratur siehe Berghahn, Dokumentarische Literatur, S. 197-205; Hermand, Fortschritt im Rückschritt, S. 305f.; Miller, Prolegomena zu einer Poeük der Dokumentarliteratur, S. 96-98. Ottwalt, »Tatsachenroman« und Formexperiment, S. 164. - Siehe hierzu auch Lämmert, Zum Wandel der Geschichtserfahrung im Reflex der Romantheorie, S. 514. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 403. Hegel, Vorlesungen über Ästhetik, Bd. 3, S. 357f.

den Mitteln der Wissenschaft adäquat erforschen und darstellen.59 Doch selbst wo von Adorno die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft als eine ästhetische Unmöglichkeit nach der literarischen Moderne reflektiert wird, verfällt das lebensgeschichtliche Erzählen der Kritik, weil »die biographische Einheit von Lebensläufen dem Formgesetz« des modernen Romans »äußerlich und der subjektiven Erfahrung, an der es sich schult, unangemessen« sei. Trotz solcher Skepsis gegenüber dem >subjektivenvormodemen< autobiographischen Schema steht hier die Frage zur Diskussion, ob das lebensgeschichtliche Erzählmuster im Roman nicht auch auf neue Weise verarbeitet werden kann - und dies durchaus in jener »geschichtlichen Bahn der Moderne«, wie sie Adorno begriffen hat. Konstituiert sich demnach das moderne Kunstwerk erst »durch Subjektivierung hindurch [...] als eine Realität sui generis, in der das Wesen der Realität draußen widerscheint«,® kann diese »Subjektivierung« des ästhetischen Materials auch für auto-biographische Erzählverfahren gelten, durch welche dann »die Verwirrung« des einzelnen »selber epische Form« zu gewinnen vermag.61 Die Annäherung von Auto-Biographie und Roman in den 60er und vor allem in den 70er Jahren62 wird hier als der spezifische Ausdruck einer Situation begriffen, die den Beieich des Ästhetischen seit der literarischen Moderne grundsätzlich kennzeichnet: Weil mit den Avantgardebewegungen der Versuch gescheitert ist, Leben und Kunst ineinander überzuführen, findet diese Spannung auch weiterhin in der Literatur ihre Gestaltung.63 Das gilt vor allem für solche Werke, die durch den Gebrauch authentischen Materials zwar nicht die Aufhebung, aber doch die Einschränkung ästhetischer Autonomie leisten, zugleich allerdings an der Notwendigkeit von Kunst festhalten und damit den Spielraum nutzen, »deren eigenen Begriff zu verändern«.64 Eine solche Möglichkeit, die Avantgardebewegungen zu beerben und ihre künstlerischen Verfahren reflektiert zu gebrauchen, deutet Benjamin bereits in den 30er Jahren an. Er thematisiert im Begriff der »Technik« den Zusammenhang, der in einem literarischen Werk zwischen Leben und Kunst, zwischen den »gesellschaftlichen Produktivveihältnissen« und den »schriftstellerischen Produktionsverhältnissen einer Zeit«, besteht, fragt nach der »Umfunktionierung des Romans« und erwartet diese angesichts einer »Ästhetisierung der Politik« durch den Faschismus von einer »Politisierung der Kunst«.65 Konsequenzen aus solchen

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Lukäcs, Die biographische Form und ihre Problematik, S. 380, S. 394, S. 371. Adorno, Voraussetzungen, S. 438 und S. 436. - Daß es trotz Adornos Unverständnis gegenüber der dokumentarischen Literatur möglich ist, deren Potential mit theoretischen Kategorien zu beschreiben, wie sie in Adornos ästhetischen Schriften entwickelt sind, hat schon Hilzinger in seiner Abhandlung »Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters« gezeigt Kracauer, Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, S. 76. Siehe hierzu auch Grimm, Eltemspuren, Kindheitsmuster, S. 178, sowie Scheuer, Biographie (I), S. 239 und S. 247. Zu literarischer ModerneLiteraturrevolution< und >Avantgarde< siehe grundsätzlich Die literarische Moderne, hg. von Wunberg; Pörtner, Literatur-Revolution 1910-1925; Bürger, Theorie der Avantgarde. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 97. - Siehe hierzu auch Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 138-149. Benjamin, Der Autor als Produzent, S. 685f. und S. 701, sowie Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 508.

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Überlegungen hat Brecht gezogen: nicht nur in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem modernen Roman, sondern vor allem in der literarischen Praxis seines Romans »Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar« (1937-1940). In diesem »Modell« des »historischen Denkens« wird der Blick des Lesers zum einen auf den politischen Bedeutungszusammenhang des Textes gerichtet, darauf, »was >Caesarismus< in der Vergangenheit bedeutet hat und in der Gegenwart bedeutet und welche Kräfte ihn hervorgebracht haben«. Zum anderen aber gelingt es Brecht, das Erzählen einer Lebensgeschichte, ihren historischen Überlieferungs- und Entstehungszusammenhang, »selbst zum Thema zu machen«. Im »Caesar«-Roman »wird die paradoxe Geschichte einer nicht geschriebenen Caesar-Biographie erzählt, die deswegen nicht geschrieben werden kann, weil dem Biographen im Verlauf seiner >Recherche< die zentrale Voraussetzung seines Tuns zu schwinden beginnt: die Annahme nämlich, daß große Persönlichkeiten die bewegenden Kräfte der Geschichte seien [...]. An die Stelle der Biographie tritt die Recherche selbst«.66 Brechts Roman leistet also nicht nur die historische Reflexion gegenwärtiger Konflikte, er demonstriert auch, daß mit dem traditionellen biographischen Erzählverfahren Geschichte nicht mehr angemessen erfaßt werden kann. Eine Synthese von auto-biographischen und modernen Erzählverfahren läßt auch Heinrich Manns Autobiographie »Ein Zeitalter wird besichtigt« (1946) erkennen, die als Epochenbilanz charakteristisch für die letzte Phase der Exilliteratur ist. Dort werden die üblichen Gattungserwartungen dadurch irritiert, daß die Zeitgeschichte im Zentrum des Interesses steht. Scheinbar wird »die Geschichte« auf den »Lebensweg des einzelnen« reduziert; doch dieser liefert nur das Material zur komplexen Darstellung des historischen Geschehens: »Eine Autobiographie sieht am besten von ihrem Urheber ab, wenn es anginge. Er trete als Augenzeuge auf - der Ereignisse und seiner selbst. Das verdirbt doch nichts. Ein Zeitalter wird besichtigt.« Für dieses Geschäft aber eignet sich den Reflexionen des Erzählers zufolge besonders das Genre des »Romans«, und zwar »wie das grosse 19. Jahrhundert« - Mann nennt Flaubert und Zola - »ihn hinterlassen hat«. Ein solch moderner »Roman, dem keine Mache mehr angemerkt wird«, weil er Lebens- und Zeitgeschichte scheinbar nicht nach ästhetischen Verfahren strukturiert, sei als »eine Gattung, die beschreibende Teile verbindet mit erzählenden und redende mit handelnden«, der »Triumph persönlicher Arbeit« und »Gesamtkunstwerk« in einem.67 Eine produktive Rezeption der literarischen Moderne findet nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik zunächst jedoch nur in einer sehr eingeschränkten Weise statt.68 Wo schon die Ereignisse der politischen Wirklichkeit eine umfassende Irritation bewirken, scheint in den Texten der »Kahlschlag«- oder »Trümmerliteratur« die kommunikative »Mitteilung« über die poetische Reflexion zu dominieren; man versucht »sich mit Hilfe einfachster Benennungen [...] einer Welt zu vergewissern, die keine Fixierung mehr« erkennen läßt.69 In diesem Sinn bezeichnet Alfred Andersch seine Erzählung »Die Kirschen der Freiheit« (1952), in der er Ereignisse des eigenen Lebens-

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Werner, Transparente Kommentare, S. 345, S. 349 und S. 346. Mann, Ein Zeitalter wird besichtigt, S. 151, S. 157f. und S. 249f. 68 Zur »modernen Kassizitäl« in der Literatur zwischen 1945 und 1960 siehe auch Schäfer, Zur Periodisierung der deutschen Literatur seit 1930, bes. S. 63f. und S. 69f., Zitat S. 70. 69 Jens, Stau einer Literaturgeschichte, S. 37 lf. 67

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laufs verarbeitet, im Untertitel als einen »Bericht«, und dieser soll »nichts als die Wahrheit sagen, eine ganz private und subjektive Wahrheit«. Doch trotz des Rückzugs auf die persönliche Sichtweise hält der Erzähler hier durchaus am Anspruch fest, »zur Erkenntnis der objektiven Wahiheit« beizutragen, das kollektive Verständnis der Zeitgeschichte zu befördern. Dies leistet Anderschs Text durch eine Erzählstruktur, in der das »unmittelbare Erzählen eines Erlebnisses« aus der Vergangenheit mit der essayistischen, »breiter gesponnenen Reflexion« in der Gegenwart kombiniert ist; die dargestellten Ereignisse werden nicht streng chronologisch, sondern auch thematisch nach ihrer historischen Relevanz organisiert: Für eine Epoche, deren »Entwicklungslinie« die »Massen« in den Tod führt, erhält der Lebenslauf dessen eine kollektive Bedeutung, der sich diesem Schicksal durch die Flucht verweigert, im »einzigen Augenblick der Freiheit«. Eine »Vision« des zukünftigen Lebens erhebt den kritischen Außenseiter folgerichtig zur Leitfigur der Gegenwart: »Ach, Odysseus, an den Mast gefesselt, den Liedern der Sirenen lauschend. Und wir, auf Odyssee durch das Jahrhundert, umtönt von den Klängen der das Herz zerfleischenden Ideologien. Erzverrat: sich losbinden lassen. Am Mast bleiben, in der Nacht des Regens und der Pfiffe«. 70 Die Selbstvergewisserung des isolierten Individuums steht auch noch weitgehend im Vordergrund, wenn die »literarisierte Literatur«71 der 50er Jahre verstärkt auf »archetypische Schemata der Historie und Mythologie« 72 zurückgreift und diese mit Erzählverfahren des modernen Romans in anachronistischer Weise verarbeitet: Nicht die Destruktion, sondern die »Restauration« der »autonomen moralischen Persönlichkeit als Gegeninstanz zur Gesellschaft« 73 ist ein charakteristisches Merkmal vieler Nachkriegsromane. Beispielhaft sei das veranschaulicht an der Erzählung von Walter Jens »Das Testament des Odysseus« (1957), in der die Lebensgeschichte einer literarischen Figur der aktualisierenden Verfremdung unterzogen wird. Mit diesem Verfahren der literarischen Moderne leistet der Text sicherlich die partielle Destruktion eines Mythos, wenn hier Odysseus, das »Urbild« des »bürgerlichen Individuums« und dessen »Selbstbehauptung«, 74 einbekennt, »daß der Krieg« sein »Leben« zerstört habe. Vor dem Hintergrund des >kalten Krieges< besitzt die Erinnerung an die Sinnlosigkeit militärischer Auseinandersetzungen ebenso eine kritische Funktion wie die Konkretion des zeitgenössischen Unbewußtseins, das sich im Topos der >Stunde null< artikuliert: die Hoffnung der Trojaner, »noch einmal von vorn anfangen zu können«, wird durch die Katastrophe als Illusion entlarvt, und dennoch wollen die Griechen nach dem Ende des Krieges nichts anderes als »sich zu Hause einrichten und dort wieder anfangen, wo man vor zwölf Jahren aufgehört hatte«. Von dieser >Unfähigkeit zu trauem< ist zunächst der kritische Außenseitern nicht ausgenommen; auch Odysseus, der den Sieg der Griechen vergeblich zu vereiteln versucht hat, beginnt »langsam den Krieg zu vergessen« und will wieder »von Neuem«

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Andersch, Die Kirschen der Freiheit, S. 71, S. 14, S. 125, S. 84, S. 21f. - Zu den Grenzen des individualistischen und ekstatischen Freiheitskonzepts in der Erzählung siehe Geulen, Alfred Andersch, S. 209f. Zur Erzählkonstruklion siehe auch Wehdeking, Alfred Andersch, S. 56. Jens, Statt einer Literaturgeschichte, S. 375. Matthaei, Vorwort, S. 5. Ter-Nedden, Allegorie und Geschichte, S. 114. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 42. 13

anfangen.75 Doch die Erinnerung an die eigene Verantwortung filr den Tod seiner Untertanen und das Bemühen, einen weiteren Krieg unter allen Umständen zu vermeiden, führen den ehemaligen Herrscher über Ithaka zur moralischen Umkehr. Er verzichtet auf die Ausübung der Macht, geht freiwillig ins Exil und hinterläßt seinem Enkel als Testament die Erzählung seiner Lebensgeschichte, die er kurz vor dem Tod verfaßt. Dieser auktoriale Blickpunkt der Perspektivfigur, ihr zeitlicher und moralischer »Abstand« zu den Ereignissen von Lebenslauf und Geschichte, wird in dem Text von Jens allerdings keiner ironischen Verfremdung mehr ausgesetzt.76 Über das Verfahren des inneren Monologs findet die gegenwärtige Betroffenheit des Ich-Erzählers als Irritation seines jetzigen Werthorizonts nur selten ästhetische Gestaltung; in der Erzählkonstruktion bleibt »die Erregung« durchaus »jener Gelassenheit« untergeordnet, »die allein die Dinge ins rechte Licht zu rücken vermag«. Zwar wird die Weltgeschichte vom Protagonisten als tragischer Naturprozeß, als ein »Passionsweg von riesigem Ausmaß« erfahren, doch auf seinen »Beobachterstand« hat dies keine Auswirkungen. Er besitzt am Ende seines Lebens den Überblick, der es ihm gestattet, seine Biographie zum ewigen »Los« des einsamen Intellektuellen zu erklären: »zu hören, aber nie gehört zu werden; zu sehen, aber unsichtbar zu bleiben; zu fühlen, aber ohne eigene Kontur zu sein«.77 Der entscheidende Grund für solche historischen und ästhetischen Anachronismen besteht darin, daß diese Erzählung aus der Zeit des »kalten Krieges< durch keine Verfremdung mehr die geschichtliche Differenz zum mythologischen Stoff zeitkritisch bewußt macht, sondern diesen parabolisch zu einem Anwendungsfall zeitlos geltender Normen verarbeitet.7" Wenn der Ich-Erzähler aus einem durch den Krieg zerstörten Leben den Schluß zieht, sich von der Politik femzuhalten, auf die »sanfte Milde« der Herrschenden zu hoffen und darauf zu vertrauen, daß die Identität seiner Person zumindest nach dem Tod durch einen »Gott« gewährleistet sei,79 dann wird deutlich, daß die Lebensgeschichte des Odysseus trotz allen artistischen Aufwands zu einem moralischen >Exempel< literarisiert ist, das zeitgenössische Erfahrungen nicht mehr als historische reflektiert. Paradigmatisch für die »literarisierte Literatur« der 50er Jahre sind die Grenzen der Erzählung von Walter Jens: Die Verfremdung eines literarischen Stoffs wird neutralisiert durch eine traditionelle Erzählkonstruktion, die der Perspektivfigur den ungebrochen

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Jens, Das Testament des Odysseus, S. 245, S. 260, S. 261, S. 269, S. 273, S. 279. - Den zeitkritischen Bedeutungsaspekt heben bes. Kraft, Das literarische Werk von Walter Jens, S. 64-66, und Lauffs, Walter Jens, S. 55f., hervor. Jens, Das Testament des Odysseus, S. 255. - Siehe hierzu schon die punktuelle Kritik am Sprachstil des Ich-Erzählers bei Sieburg (Der Träumer vom trojanischen Pferd, S. 141) und Just (Walter Jens, S.45f.),die freilich für die literarische Struktur der Erzählung überhaupt zu gelten häue. Jens, Das Testament des Odysseus, S. 255, S. 271 und S. 230. Schon Horst (Odysseus oder die mythologischen Versatzstücke, S. 316) hat darauf hingewiesen, daß in der Erzählung »mythologische Versatzstücke« ohne jede Verfremdung »stehenbleiben«. - Zum »exemplarischen Erzählen< siehe allgemein Rüsen (Die vier Typen des historischen Erzählens, S. 537f. und S. 547-551), Rüsen (Geschichtsdidaktische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik, S. 142) sowie die theoretische Grundlegung der vorliegenden Abhandlung, S. 22f. Jens, Das Testament des Odysseus, S. 280 und S. 282.

auktorialen Überblick beläßt; das Verhältnis von Lebens- und Zeitgeschichte ist auf den Gegensatz von moralischem Individuum und tragischem Weltlauf reduziert; der wechselseitige Zusammenhang zwischen beiden Faktoren findet in der ästhetischen Struktur noch keinen Niederschlag. Aus diesen Aporien werden in der Literatur der 60er Jahre Konsequenzen gezogen: zeitgeschichtliche Stoffe verweisen auf die aktuelle Bedeutung der Werke; Erzählverfahren des modernen Romans wie Perspektivenwechsel, Fragmentarizität, Entfabelung, Montagestruktur legen die subjektive Bedingtheit historischer Erfahrung offen; die Abhängigkeit der persönlichen Entwicklung von ihren gesellschaftlichen Umständen gerät verstärkt in den Blick. In diesem Zusammenhang wird für das Genre der Lebensgeschichten auch wieder ein Verfahren aktuell, das Sergej Tretjakow bereits in den 20er Jahren während seiner Arbeit am Roman »Den Schi-Chua« entwickelt hat: das »Bio-Interview«. 80 Der professionelle Schriftsteller verschafft sich durch ein Gespräch das authentische Material eines Lebenslaufs; dieser ist typisch für ein bestimmtes Kollektiv, von dem der Intellektuelle ohne eine solche Befragung nur eine begrenzte Anschauung besäße. Die literarische Bedeutung dieser zentralen dokumentarischen Technik ist allerdings schon von ihrem Uiheber in widersprüchlichen Begründungen formuliert. Einerseits gilt das »Bio-Interview« für Tretjakow als eine »Unterhaltung mit einem Menschen, der zugleich Autor und handelnde Person war«; das Buch »Den Schi-Chua« hätten »zwei Personen gemacht: Den Schi-Chua selbst hat den Rohstoff der Tatsachen geliefert, und ich habe sie ohne Entstellung gestaltet«. Andererseits wird klar ausgesprochen, daß dieses Werk »eigentlich ein biographischer Roman« sei, »geschrieben von einem Journalisten mit Hilfe des Interviews«. Denn: »Sein eigenes Leben genau zu untersuchen ist eine schwierige Kunst. Den Schi-Chua beherrschte diese Kunst noch nicht« 8 1 Unreflektiert bleibt in solchen Erläuterungen nicht nur die Tatsache, daß der Interviewte als >Lieferant< des »Rohstoffs« wohl kaum der »Autor« einer Lebensgeschichte sein kann, die zu »untersuchen«, geschweige denn sie darzustellen, er nicht in der Lage ist. Unreflektiert bleibt auch das Problem, daß die Methode des Bio-Interviews als literarisches Verfahren in den Text Tretjakows überhaupt nicht eingeht. Sie bleibt eine journalistische Technik zur Sammlung von authentischen Stoffen, prägt aber nicht die ästhetische Struktur dieses »biographischen Romans«. Der »Objektivierungsprozeß« des Werkes findet nicht »in den Gesprächen zwischen Den Schi-Chua und Tretjakow« statt,82 sondern verdankt sich hier der literarischen Modellierung des »Journalisten«, seiner »Kunst«, eine Lebensgeschichte zu erzählen. Auf diese Weise wird durch die Ich-Perspektive nur die Illusion erzeugt, der Interviewte sei zu dieser »Kunst« imstande, die ihm der Autor im Vorwort explizit abgesprochen hat. Die Eingriffe des operierenden Schrifts t e l l e r aber sind hier weder für die Beschaffung des Materials noch für dessen ästhetische Strukturierung ausgewiesen. Wie am Anfang der 60er Jahre die Lebensgeschichte eines anderen erzählt und die Grenze eines solchen Unternehmens reflektiert werden kann, sei an Uwe Johnsons

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Tretjakow, Den Schi-Chua. - Die Untertitel lauten: » D i e Geschichte eines chinesischen Revolutionärs. Bio-Interview«.

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Diese Zitate finden sich - in abwechselnder Reihenfolge - im Vorwort zu »Den Schi-Chua« (S. 5) und in Tretjakows »Autobiographie«, S. 17f.

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So aber Helms, Vom Proletkult zum Bio-Interview, S. 85.

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Roman »Das dritte Buch über Achim« (1961) angedeutet. Als »Beschreibung einer (biographischen) Beschreibung«83 stellt dieser Text den gescheiterten Versuch des Journalisten Karsch aus der Bundesrepublik dar, eine weitere Biographie über den berühmten Radrennfahrer Achim zu schreiben, der in der DDR als »Sinnbild für die Kraft und Zukünftigkeit des Landes« gilt. In einem Interview steht hier nicht mehr der Held Rede und Antwort, sondern eine Ich-Figur gibt Auskunft über die Schwierigkeiten des Biographen Karsch, einen Roman zu verfassen, in dem es fiktive Elemente - »einen Durchreisenden namens Karsch«, »ein erfundenes Gespräch« - geben soll und der doch die Geschichte einer lebenden Person erzählen will. Dieses Buch kommt aber in der Situation des >kalten Krieges* nicht zustande: die gegenwärtigen »Unterschiede der beiden deutschen Staaten« sind stärker als ihre »gemeinsame Vorgeschichte«; die gleiche »Sprache« gewährleistet keine gemeinsame Zukunft, sondern ruft nur die »Täuschung von Zusammengehörigkeit« hervor.84 Die zentrale Frage des Romans, »ob und wie Biographie als ein Versuch der Verständigung über die weltanschauliche Grenze zwischen beiden deutschen Staaten hinweg noch möglich sei, ob also die divergierenden >Menschenbilder< beider Systeme noch einen kleinsten gemeinsamen Nenner zulassen, auf den ein >gesamtdeutsch< verständlicher Entwurf eines >neuen Menschen< sich gründen ließe«,85 wird negativ beantwortet: Wenn die Funktionäre in erster Linie am idealisierenden Modell eines Lebenslaufs interessiert sind, das Achim zum »Verteidiger der sozialistischen Ordnung« schon vor der historischen »Wende« von 1945 verklären soll, wenn dieser selbst mit verschiedenen Fassungen seiner Biographie nicht einverstanden ist und am Ende zu historischen Details über den 17. Juni 1953 nicht mehr Stellung nehmen will, wenn Karsch schließlich »nichts mehr« dazu einfällt, wie er das vielfältige und widersprüchliche Material zu einer Einheit verbinden soll, dann scheitert diese Biographie an der »Grenze«, welche die Zeitgeschichte nicht nur dem Lebenslauf, sondern auch seiner sprachlichen Darstellung in Gestalt einer Lebensgeschichte setzt.86 Indem Johnsons Roman solche Schwierigkeiten des biographischen und zeitgeschichtlichen Erzählens bewußt macht, kann er ein erstes Beispiel für eine innovative Tendenz abgeben, nach der Lebensgeschichten seit dem Beginn der 60er Jahre zunehmend mit Verfahren des modernen Romans erzählt werden. Sie reproduzieren nicht mehr die »Aporien der Avantgarde« durch den bloßen »Anachronismus« einer »Wiederholung« von literarischen Verfahren, die sich dem »Gesetz der zunehmenden Reflexion« zu entziehen versucht. Die »Tradition der Moderne« ist in ihnen vielmehr im Bewußtsein einer »historischen Differenz«, die keinen »unvermittelten Anschluß« mehr ermöglicht, als eine »Herausforderung« begriffen, die - so Enzensberger 1962 - »nicht Konsekration«, sondern aktuelle Auseinandersetzung mit der »Vielfalt« künstlerischer Techniken verlangt.87

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So lautete - Neumann (Utopie und Mimesis, S. 94) zufolge - der Arbeitstitel. Johnson, Das dritte Buch über Achim, S. 40, S. 44, S. 51 und S. 22f. Neumann, Utopie und Mimesis, S. 135. Johnson, Das dritte Buch über Achim, S. 122, S. 296 und S. 301. Enzensberger, Die Aporien der Avantgarde, S. 79f„ sowie Enzensberger, Weltsprache der modernen Poesie, S. 8f. und S . l l .

Diese Auseinandersetzung an literarischen Lebensgeschichten zwischen 1960 und 1980 zu untersuchen ist das Interesse der vorliegenden Arbeit. Sie versteht sich nicht als ein Versuch, »zwischen klassischer und neuer Avantgarde eine ungebrochene Kontinuität herzustellen«, sondern als eine literarhistorische Analyse, die an einer Reihe poetischer Texte das »Unbehagen an den Aporien der Moderne«88 reflektieren will, anstatt vor diesen in die »Zweideutigkeiten des Postmodernismus«89 auszuweichen. Indem die ausgewählten Werke durch die Verarbeitung auto-biographischen Materials den zeitgeschichtlichen Tatsachengehalt des Erzählten hervorheben, schränken sie einerseits die Autonomie der bürgerlichen Kunst ein, wie sie in der literarischen Moderne radikalisiert wurde. Indem sie nach der scheinbaren Aufhebung von Kunst und Leben in der ästhetisierten Politik des Faschismus und in den Produkten der Kulturindustrie Erzählverfahren des modernen Romans innovativ aufgreifen, halten sie andererseits an der Distanz zur Alltagspraxis fest und konstituieren so ein literarisches Modell, durch das eine Lebensgeschichte als be wußte Reflexion von Zeitgeschichte erzählt werden kann. Die bisherige Forschung hat den Zusammenhang zwischen dem dokumentarischen Erzählen der 60er Jahre und dem autobiographischen Schreiben der 70er Jahre allenfalls in der Verwendung von authentischem Material bemerkt, nicht aber an den gemeinsamen ästhetischen Darstellungsmöglichkeiten untersucht.90 An einem Ausschnitt der Literaturgeschichte interessiert hier deshalb die jeweilige Funktion der poetischen Verfahren, mit denen in Erzählungen und Romanen zwischen 1961 und 1979 auto-biographische Stoffe modelliert werden: Wie gestaltet sich in diesen Texten das Veihältnis von gesellschaftlicher Modernisierung und literarischer Evolution? Kommt es dort, wo das »außerliterarische Leben« zwischen >Aufbruch< und >Wende< verläuft, auch in literarischen Lebensgeschichten zu einer »neuen Verwendung alter Verfahren«? Oder wird die Auto-Biographie nur zu einem »literarischen Faktum«, das für die literarische Öffentlichkeit zwar stofflich innovativ ist, von den ästhetischen Konstruktionsprinzipien her aber dem bloßen »Epigonentum«91 verfällt? Wenn in literarischen Lebensgeschichten der 60er und 70er Jahre die Topoi von >Aufbruch< und >Wende< signifikant werden, so sind sie allerdings nicht nur als politische Schlagworte zur Deutung von Zeitgeschichte zu verstehen. Sie müssen

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Habermas, Einleitung, S. 33 und S. 29. ' Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmodeme, S. 100. 90 Siehe hierzu etwa Wapnewski, Die dokumentarische Wendung in der Erzählliteratur der Gegenwart, bes. S. 173-177 und S. 193-196; Kreuzer, Zur Literatur der siebziger Jahre in der Bundesrepublik, S. 11; Reich-Ranicki, Anmerkungen zur deutschen Literatur der siebziger Jahre, S. 174f.; Györffy, Vom historischen Dokument zum psychischen Dokument; Heller, Literatur im Zeichen der Rezession, Neuen Linken und »Tendenzwende«, S. 757f.; Schwab, Autobiographik und Lebenserfahrung, S. 38-78; Winter, Von der Dokumentarliteratur zur »neuen Subjektivität«; Baumgart, Das Leben - kein Traum? S. 10f.; Vogt, Vielfältig, unterschiedlich, S. 125. »« Tynjanov, Das literarische Faktum, S. 415, S. 403, S. 399, S. 401. - Zu den poetologischen Kategorien des >VerfahrensModells< siehe grundsätzlich Sklovskij, Die Kunst als Verfahren; Tynjanov, Das literarische Faktum; Tynjanov, Über die literarische Evolution; Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik; Lotman, Die Struktur des künsüerischen Textes. 8

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zugleich als poetische Metaphern begriffen werden, die ihre Semantik erst vor dem Hintergrund der literarischen Evolution entfalten. Die biblische Folie für die ästhetische Modellierung der Thematik von >Aufbruch< und >Wende< ist die von Lukas als Gleichnis Jesu überlieferte Parabel vom verlorenen Sohn.92 Dessen Aufbruch »in ein femes Land«, die innere Umkehr (»da ging er in sich«) und schließlich Heimkehr dienten in der literarischen Tradition allerdings lange Zeit nicht dazu, die Moral des Vaters als vorbildlich darzustellen, sondern die Unmoral des Sohnes als warnendes Beispiel hervorzuheben, der - anstatt >auszureisen< - doch besser daheim geblieben wäre und ordentlich gearbeitet hätte.93 Diese Geschichte wird im 18. Jahrhundert verändert: Jetzt erfährt der »Aufbruch« seine »Legitimation«, weil es »unmöglich« sei, »ohne zu reisen nennenswerte und ihrem Namen gerecht werdende Erfahrungen zu machen«.94 Hier artikuliert sich »der Aufbruch des bürgerlichen Subjekts aus den ihm gewordenen engen Zuständen ins Weite«, wie ihn Bloch als ein gemeinsames Strukturelement solch unterschiedlicher Werke wie Hegels »Phänomenologie des Geistes« und Goethes »Faust« beschrieben hat. Wo dem historischen Denken Individual- und Kollektivgeschichte als »Vermittlung« von »Mensch- und Weltgang« erscheinen, werden der Aufbruch und das Reisen als zentrale Metaphern für die literarische Modellierung von Lebensgeschichten funktionalisiert.95 Nachdem sich die soziale Realität jedoch allem bürgerlichen Aufbegehren zum Trotz nicht als der erhoffte unentfremdete Erfahrungsraum erwies, die Französische Revolution gar zum Terror der jakobinischen Herrschaft führte und damit zahlreiche deutsche Intellektuelle zu einer politischen >Tendenzwende< veranlaßte, erfolgt bereits in der Romantik im Bildbereich von Wende und Heimkehr die Kontrafaktur der Aufbruchsmetaphorik: »Die Rückkehr des romantischen Helden in seine Kindheit« signalisiert als literarisches Motiv, daß die Hoffnung auf eine historisch zu erlebende »Zeit der Einfachheit, der Reinheit, der Natürlichkeit« dahin ist.96 Das goldene Zeitalter, als dessen naive Darstellung das Kind und die Kindheit bei Schiller erscheinen, hat seine »geschichtlich-utopische Funktion« zugunsten einer »allegorischen«, »ahistorisch-mythischen« verloren: »Gegen die unvollkommene Realität stellt man nicht mehr den Fortschritt zum Ideal, sondern die Rückwendung zur Magie.«97 Zwar steht das unwiederbringlich verlorene Paradies der kindlichen Lebensphase in unendlicher Distanz zur gegenwärtigen Situation des Erwachsenen; weil aber das Ideal als unerreichbar deklariert wird, verliert die Aufbruchsmetaphorik in der Folgezeit ihre literarische Bedeutung, und das Bedürfnis nimmt zu, die Vergangenheit, der man sich zuwendet, mit einem tatsächlich einmal erfahrenen Freiraum zu identifizieren. Die biedermeierliche Autobiographie folgt diesem Konstruktionsprinzip ebenso wie der Heimatroman um 1900: in einer Zeit der politischen und ökonomischen Irritation gerät die »Rückblende zur Rückwende«, zum

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Siehe Lk 15,11-32; dort auch das folgende Zitat (15,17). Siehe hierzu Solomon, Die Parabel vom Verlorenen Sohn. 94 Siehe hierzu Laermann, Raumerfahrungen und Erfahrungsraum, S. 57-61, Zitate S. 60f. 95 Siehe Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1188-1201, Zitate S. 1195, sowie Hucke, Der integrierte Außenseiter, S. 20f. 9 6 Stöckli, Die Rückkehr des romantischen Helden in seine Kindheit, S. 18. 97 Wucherpfennig, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900, S. 190. 93

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»sprichwörtlichen Sprung in die gute alte Zeit«.98 Jener sentimentalen Verklärung der Vergangenheit ist die ästhetische Funktion des expressionistisch-vitalistischen Aufbruch-Themas entgegengesetzt. Als »Topos und Symbol der ganzen >Literatur-Revolution< nach 1910« zielt diese literarische Metapher auf die Überschreitung der klassifikatorischen Grenze, die einen utopischen »Erlebnisraum« vom realen »Herrschaftsraum« trennt. Freilich gilt es innerhalb der poetischen Modelle zu unterscheiden, ob jenes Ereignis als »galante Überwindung« aller Hindernisse nur die »Realisation der Idylle im >hic et nuncFront< darstellt, deren Grenze der einzelne gerade deshalb nicht überschreiten kann, weil er sie als strikte Trennung zwischen dem gegenwärtigen Herrschaftsraum einer Gesellschaft und dem zukünftigen Erlebnisraum einer Menschheit erfährt. Eine derartige Politisierung der Aufbruchsmetaphorik findet in der literarischen Evolution vor 1914 nicht oder nur latent statt. Nach 1914, als der >Aufbruch der Jugend< zur militärischen Front nur in den Tod führte und eine Wende nicht mehr möglich war, verliert dieser frühexpressionistische Topos als Utopie-Modell seine ästhetische Gültigkeit und wird aufgehoben in der poetischen Opposition von >Untergang und NeubeginnAufbruch< und >Wende< in den 60er und 70er Jahren konkret erhalten kann, erläutert die vorliegende Abhandlung an einer Reihe von Lebensgeschichten, die allesamt authentisches Material verarbeiten und die deshalb auch mit deijenigen Periodisierung weitgehend übereinstimmen, die Hilzinger am Paradigma des Dramas für die dokumentarische Literatur der 60er und 70er Jahre entwickelt hat.101 Die Erzählungen »Abschied von den Eltern« (1961) von Peter Weiss und »Lebensläufe« (1962) von Alexander Kluge können dann einer ersten Phase zugerechnet werden, in der die öffentliche Verdrängung der faschistischen Vergangenheit den dominanten Kritikpunkt ausmacht. Weiss stellt sich diesem Thema, indem er seine eigenen Erfahrungen bis zum Jahr 1940 zur literarischen Autobiographie eines Künstlers verarbeitet, der am Ende der Jugend von den autoritären Normen seiner Eltern >Abschied< nimmt und den Aufbruch zu einem selbstbestimmten Leben wagt. Kluges biographische »Lebensläufe« eizählen dagegen von bürgerlichen Konservativen, denen der Abschied von der Vergangenheit und ein Durchschauen ihres Lebenslaufs nach 98

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Rossbacher, Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 145. - Zur biedermeierlichen Autobiographie siehe Wucherpfennig, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900, S. 191. Siehe hierzu grundsätzlich Hucke, Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik, S. 27-132: »Utopische Intentionen und ihre ideologischen Aporien: Die literarische Evolution der Aufbruchs-Thematik bei Rend Schickele, Ernst Stadler und Ernst Wilhelm Lötz«, Zitate S. 28, S.92.S. 111. Siehe Hucke, Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik, S. 124-126, S. 133f. und S. 272f. Siehe - mit Ausnahme der vierten Phase - Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 140.

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dem Neubeginn 1945 nicht gelingt. Zwar artikuliert sich in beiden Werken noch keine eindeutige Fiktionskritik; doch die weitere Entwicklung deutet sich hier bereits innerliterarisch an, wenn der Erzähler über Biographien außerhalb seines Erfahrungsbereichs nur noch dokumentarisch berichten kann odersich nur noch autobiographisch mitzuteilen vermag. Erika Runges »Bottroper Protokolle« (1968) und »Der kurze Sommer der Anarchie« (1972) von Hans Magnus Enzensberger verzichten auf jedes fiktive Material; das konstruktive Moment der traditionellen Schriftstellerrolle scheint sich in beiden Texten ganz auf das Sammeln, Auswählen, Zusammenstellen, allenfalls noch Kommentieren von Dokumenten zu reduzieren. Charakteristisch für eine zweite Phase dokumentarischen Erzählens, in der die Politisierung der Gesellschaft zur Darstellung gegenwärtiger Krisen führt, läßt Runges Sammlung Arbeiter ihre Lebensgeschichten selbst erzählen und den Aufbruch zu einer Volksfront als Perspektive diskutieren. Enzensbergers Roman thematisiert dagegen bereits 1972 das Scheitern der antiautoritären Bewegung, indem er - exemplarisch für eine dritte Phase der Dokumentärliteratur - nicht mehr einen aktuellen Konflikt, sondern eine vergangene Situation der Zeitgeschichte mit deutlichen Elementen der Selbstkritik aufnimmt: an »Buonaventura Durrutis Leben und Tod« werden >Aufbruch< und >Wende< einer außerparlamentarischen Opposition reflektiert. Die beiden letzten Texte der Reihe stehen stellvertretend für das autobiographische Schreiben der 70er Jahre und damit für eine vierte Phase dokumentarischen Erzählens, in der die antiautoritäre Generation ihre eigene Entwicklung vornehmlich mit autobiographischen Lebensgeschichten von unbekannten einzelnen thematisiert. Hermann Kinders »Schleiftrog« (1977) und Jochen Schimmangs »Schöner Vogel Phönix« (1979) verarbeiten das Scheitern der antiautoritären Generation allerdings auf unterschiedliche Weise: der sich literarisch ausweisende »Roman« demonstriert an der Kontinuität von Charakterstrukturen, warum der Aufbruch nicht stattgefunden hat; die sich authentisch gebenden »Erinnerungen eines Dreißigjährigen« antworten auf den Zerfall der Protestbewegung mit der Wende nach innen: im autobiographischen Schreiben erfolgt der Abschied von der Politik, und das Leben wird zum Kunstwerk stilisiert.

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2. Theoretische Grundlegung: Literarische Lebensgeschichten

Ein Mensch, wiewohl er lebt und Gestalt hat, ist darum noch keine lebende Gestalt. Dazu gehört, daß seine Gestalt Leben und sein Leben Gestalt sey. Schiller, »lieber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«

2.1 Die narrative Organisation von historischer Erfahrung Bevor die Interpretation der einzelnen Werke den eigentlichen Begründungszusammenhang für die Konstruktion der erstellten Reihe entwickeln kann, ist grundsätzlich zu klären, wie literarische Lebensgeschichten überhaupt erzählt und beschrieben werden können. Während am Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre ein heftiger Streit um den ästhetischen und politischen Wert der dokumentarischen Literatur herrschte, war es in der Folgezeit nahezu eine Selbstverständlichkeit, Lebensgeschichten zu poetischen Texten zu erklären und als solche zu rezipieren. 1 Hier soll die Möglichkeit einer Vermittlung zwischen beiden Bereichen reflektiert werden, welche eine absolute Autonomie der Kunst gegenüber dem Leben ebenso ausschließt wie deren Identität. Zentrale Voraussetzung dafür stellt die strukturelle Affinität zwischen den auto-biographischen Gebrauchsformen des Alltags und den Eizählverfahren der Literatur dar. Es ist die narrative Organisation von historischer Erfahrung, das Erzählen von Geschichte und Geschichten, welches eine Synthetisierung und eine Ausdifferenzierung dieser beiden Texttypen erst ermöglicht: »Jedwede Untersuchung einer bestimmten epischen Form hat es mit dem Verhältnis zu tun, in dem diese Form zur Geschichtsschreibung steht. Ja, man darf weitergehen und sich die Frage vorlegen, ob die Geschichtsschreibung nicht den Punkt schöpferischer Indifferenz zwischen allen Formen der Epik darstellt.« 2 Schon das Erzählen im Alltag kann die kollektive Vergangenheit zum Gegenstand haben, wenn es den Zusammenhang von Lebens- und Zeitgeschichte erfassen will. Für Produktion und Rezeption solch historischer Primärerzählungen sind Bedingungen formulierbar: Ein intensives Veränderungserlebnis des Erzählers ist die Voraussetzung für das Bewußtsein von historischer Distanz zur Vergangenheit; ein aktueller Anlaß in der

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Zur Rezeption der Dokumentarliteratur siehe Gundlach, Zur Stellung des Dokumentarischen in der Literatur der BRD der 60er/70er Jahre, S. 6-75, sowie Berghahn, Operative Ästhetik, S. 270. - Zur Kritik am »autobiographischen Naturalismus« siehe Baumgart, Das Leben - kein Traum? S. 23. Benjamin, Der Erzähler, S. 451. 21

Gegenwart läßt eine Erzählsituation entstehen, in welcher die früheren Ereignisse unter heutigen Bedeutungsgesichtspunkten in einen resultativen Zusammenhang gebracht werden, der auch für die Zuhörer Relevanz besitzt.3 Dazu ist allerdings erforderlich, daß die thematisierte Vergangenheit in der Welt der Rezipienten durch bestimmte Gegenstände metonymisch noch existiert, in ihrem aktualisierbaren historischen Wissen präsent ist und von ihnen als Vorgeschichte angesehen wird. Erst dann schließt die erzählte Geschichte an das historische Wissen der Zuhörer an und kann als Vergegenwärtigung vergangenen Erlebens im Bewußtsein der nachfolgenden Entwicklung begriffen werden." Während in historischen Primärerzählungen das Geschehen weitgehend aus der Perspektive eines unmittelbar betroffenen Individuums wiedergegeben ist, bilden den Gegenstand der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung vornehmlich solche Ereignisse, Strukturen und Transformationsprozesse der kollektiven Vergangenheit, die ohne die subjektiven Brechungen von historischer Erfahrung als objektivierte dargestellt werden. Diese Abstraktion vom lebensweltlichen Geschichtenerzählen hat die Funktion, einen möglichen Gesamtzusammenhang als allgemeine Geschichte für die vielen Einzelerzählungen zu konstruieren.5 Weil die Orientierungsfunktion der Geschichtsschreibung für die Gegenwart aber nicht in der wechselseitigen Identifikation von früherer und gegenwärtiger Lebenspraxis bestehen kann, ist als Grundlage jeglichen historischen Verstehens ein geschichtstheoretisches Bezugssystem erforderlich, das den Traditionszusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht einfach reproduziert, sondern reflektiert.6 Das Erzählen von Geschichte setzt als Gegenstand das bisherige Geschehen voraus, in dem die Menschen sich und ihre Welt veränderten, ohne daß diese Veränderungen primär beabsichtigt gewesen wären, die erlittene Geschichte also, die Benjamin »Naturgeschichte« genannt hat.7 Diese »Naturzeit« als Handlungsbedingung gibt historisches Erzählen im Horizont von »humaner Zeit« als Handlungsabsicht wieder: Ziel von Geschichte und ihrer Darstellung ist die »menschliche Fundamentalintention von humaner Zeit«, nach welcher die historische Evolution des Menschen in Auseinandersetzung mit Natur und Gesellschaft gemäß frei gesetzten Zwecken hervorgebracht wird. Historisches Erzählen kann deshalb bezeichnet werden als »Deutung der erfahrenen Naturzeit im Lichte von Zeitvorstellungen, die Absichten formulieren«, als »Sinnbildung durch Zeiterfahrung«.8 Die Besonderheiten des histo-

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Siehe hierzu Quandt, Die historische Erzählung in der Perspektive prozeßorientierter Geschichtsdidaktik, S. 23. Siehe hierzu Gumbrecht, »Das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählen, als ob es in der eigenen Welt wäre«, S. 489-501. Siehe hierzu Röttgers, Geschichtserzählung als kommunikativer Text, S. 44. Siehe hierzu Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz, S. 70-74. - Die weitere Darstellung folgt den grundsätzlichen Ausführungen Rüsens. Siehe hierzu Rilsen, Wie kann man Geschichte vernünftig schreiben? Rüsen, Geschichte und Norm; Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens; Rüsen, Geschichtsdidaktische Konsequenz aus einer erzähltheoretischen Historik. Benjamin, Der Erzähler, S. 450. - Zu diesem Terminus siehe auch Adorno, Negative Dialektik, S. 347-351. Siehe hierzu Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, S. 520-523, dort auch die Zitate.

rischen Erzählens bestehen darin, daß es über das Medium der Erinnerung zeitliche Veränderungen der Vergangenheit als zeitliche Verläufe darstellt, als deren Fortsetzung die gegenwärtigen Veränderungserfahrungen gedeutet und Zukunfts perspektiven nach regulativen Ideen entworfen werden können. Damit Zukunft als Handlungsperspektive der Selbstgewinnung von Handlungssubjekten erscheinen kann, müssen solche Kontinuitätsvorstellungen die Funktion einer Vergewisserung von menschlicher Identität erfüllen. Diesem lebensweltlichen Orientierungsbedarf können historische Geschichten auf unterschiedliche Weise nachkommen. Je nachdem welche der allgemeinen Bedingungen, die für die Sinnbildung durch Zeiterfahrung gelten, in der narrativen Struktur dominiert: »die Anknüpfung an Tradition als Orientierungsvorgabe; der Bezug auf allgemeine Regeln der Lebenspraxis; die Möglichkeit, von Traditionsvorgaben und allgemeinen Regelungen in der Daseinsorientierung abweichen zu können; die Orientierung der Lebenspraxis an Richtungen von Veränderungen«, lassen sich die vier Funktionstypen des traditionalen, exemplarischen, kritischen und genetischen historischen Erzählens differenzieren. Systematisch ist der Zusammenhang dieser vier Formen von Geschichtsschreibung als dialektischer zu denken, historisch als Entwicklung vom traditionalen über das exemplarische zum genetischen Erzählen, während das kritische Erzählen ein Medium des Übergangs selbst darstellt. Heute dominiert in der Geschichtsschreibung das genetische Erzählen, welches »Kontinuität als Entwicklung« vorstellt, ohne daß die drei anderen Formen ihre Funktion verloren hätten.9 Die besondere Qualität der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung liegt darin, daß sie dem Orientierungsbedarf der Öffentlichkeit nicht naiv, sondern in methodischer Selbstreflexion nachkommt. Der Wahrheitsanspruch historischen Erzählens bezieht sich hierbei auf die »empirische«, auf die »normative« und auf die »narrative Triftigkeit«: Begründungen soll die wissenschaftliche Geschichtsschreibung in ihrem »Tatsachengehalt« (bezogen auf die >Naturzeit< der Vergangenheit), in ihrem »Bedeutungsgehalt« (für eine >humane Zeit< der Zukunft) und in ihrem »Sinngehalt« (als narrative Synthese von beidem für die Lebenspraxis der Gegenwart) überprüfbar machen.10 Narrative Triftigkeit erhalten historische Geschichten als wissenschaftliche dann, wenn sie den Sinngehalt von Erzählungen durch Theorien als bewußten Bezugssystemen intersubjektiv ausweisen: methodisch regulierter Geschichtsschreibung liegen systematische Konzepte über die Wirklichkeit nicht nur implizit und vorbewußt zugrunde,11 sondern in Gestalt expliziter und begründeter Konstrukte. Als allgemeine Folien für die Rekonstruktion des besonderen Geschehens, als »Entwürfe« von Geschichte in Theorieform haben diese narrativen Konstrukte die Funktion von systematischen »Leitfäden«, welche das komplexe Geschehen durch Selektion des Unwesentlichen auf das

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Rüsen, Geschichtsdidaküsche Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik, S. 141 und S. 143. - Im Zusammenhang des kritischen Erzählens sind auch Benjamins Ausführungen über eine materialistische Geschichtsschreibung zu sehen, deren Aufgabe es sei, »das Konünuum der Geschichte aufzusprengen« (Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 702). Rüsen, Geschichte und Norm, S. 121f., S. 124, sowie Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, S. 601. Siehe hierzu allgemein Stierle, Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte.

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Typische reduzieren.12 Einer dieser Leitfäden ist die historische Modernisierungstheorie. Sie trägt dazu bei, »die Voraussetzungen für den epochalen Einschnitt im ausgehenden 18. Jahrhundert weiter zu klären«, »die Zäsur, den Durchbruch der >Modeme< genauer zu bestimmen« und schließlich »die Folgewirkungen im Okzident und dann für die ganze Welt« als »Epoche der Modernisierung [...] zu analysieren«.13 Jede Geschichte stellt eine Auswahl von Ereignissen dar, die in einem narrativen Prozeß nach einer achronischen Struktur organisiert werden. Zwar dominiert das narrative über das diskursive Schema, die achronische Struktur der Geschichte besitzt jedoch eine Priorität gegenüber dem diachronischen Moment des Geschehens. So sind sinnlose Geschichten möglich, die von realen Fakten erzählen; zugleich kann es sinnvolle Geschichten geben, deren Ereignisse erfunden sind, fiktionale Erzählungen, in denen »eine achronische Struktur ohne die Verbürgungsinstanz des Geschehens in eine diachronische Struktur transformiert« ist: »Der Sinn der Geschichte wird nicht mehr aus einem Geschehen abgeleitet, sondern unmittelbar vergegenständlicht.«14 Aus demselben Grund sind auch in Geschichten des Alltags fiktive Elemente möglich, ohne daß dem Erzähler Täuschung vorgeworfen werden könnte. Erfundene, aber wahrscheinliche Details steigern die Erlebnisqualität; sie vollziehen »Modellierungen innerhalb der Realität«, ohne »Modelle von Realität« zu entwerfen,15 arbeiten so den Sinn der Geschichte, wie er durch die achronische Struktur repräsentiert ist, anschaulicher heraus, als dies bei einer strengen Orientierung an der Faktizität von Ereignissen möglich wäre. Aber auch in der Geschichtsschreibung ist inzwischen erkannt worden, daß der »Sinn« der zu erzählenden Geschichte »diesseits der Unterscheidung zwischen Faktizität und Fiktionalität des Erzählens liegt«, daß sich »literarische Formung und historische Sinnbildung auf der gleichen Konstitutionsebene bewegen«, daß »sie also nicht als Außen und Innen, Schein und Wesen unterschieden werden können«.16 Wenn in Erzählungen des Alltags und in der Geschichtsschreibung von Fingierungsverfahren gesprochen wird, scheinen die Grenzen zum fiktionalen Erzählen gänzlich zu verschwimmen. Es ist deshalb nötig, den Begriff der Fiktion für den Bereich des literarischen Erzählens grundsätzlich zu reflektieren.17 Personen, Gegenstände und Sachverhalte, also die Konstituenten des Kommunikationsprozesses Sprecher, Hörer und Referenzbereiche, können >fiktiv< genannt werden, wenn sie von einem Individuum in einen anderen Seinsmodus umgedeutet werden, als er ihnen nach der jeweils geltenden Norm zukommt. >Fiktional< sind Äußerungen, deren notwendige und hinreichende Bedingung die Fiktivität mindestens eines dieser Faktoren - Produzent, Rezipient, Re12

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Siehe hierzu grundsätzlich Rüsen, Wie kann man Geschichte vernünftig schreiben? Zitate S. 321. - Als ein Beispiel für die Bedeutung solch theoretischer >Leitfäden< für dokumentarische Literatur sei auf Heinar Kipphardts Roman »März« verwiesen. Dort werden im Nachwort explizit die »wissenschaftlichen Arbeiten [...] der Psychiater Laing und Basaglia und des Soziologen Goffman« hervorgehoben (S. 189). Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, S. 59. Stierle, Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte, S. 52f. Stempel, Fiktion in konversationellen Erzählungen, S. 347. Siehe auch Stempel, Alltagsfiktion. Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, S. 526 und S. 583. Zum folgenden siehe grundsätzlich Landwehr, Text und Fiktion, bes. S. 157-199: »Fiktivität und Fiktionalität«.

ferenzbereich - ist. >Fiktion< ist demnach zunächst bestimmbar als »Verbalisierung [...] von ihrem Seinsmodus intentional umgedeuteten, d.h. fiktiven Gegenständen und Sachverhalten«.18 Zwar macht auch hier ein Erzähler Aussagen über bestimmte Ereignisse gegenüber einem Zuhörer, da zumindest eine dieser Größen als fiktive ausgegeben ist, kann die Äußerung in ihrer Ganzheit als fiktional angesehen werden. Der fiktionale Text hat den Status eines »Als-ob-Handelns«, das aus der unmittelbaren Determinierung durch eine Gebrauchssituation gelöst ist;19 er besitzt gegenüber der externen Rezeptionssituation eine relative Autonomie, welche in einem ersten Erklärungsversuch damit begründet werden kann, daß mit der Fiktivierung von Kommunikationsfaktoren eine Neutralisiening der Frage nach deren Wirklichkeitsreferenz einhergeht. Folgt man heuristisch diesem Konzept, so stellen fiktionale Texte keinen Anspruch auf die Übereinstimmung der dargestellten Sachlagen mit realen Sachverhalten; die behauptete Faktizität des Geschehens bleibt als bedeutungslose unbefragt. Ein Referenzangebot besteht hier nur für die Bedingungen der Möglichkeit von Handlungen, nicht aber hinsichtlich deren Verifizierbarkeit als authentischer Ereignisse.20 Das aber heißt, daß sich die Fiktionalisierung von Äußerungen allein auf der sprachlichen Ebene von Referenzregeln vollzieht. Diese Normen zur Identifizierung von Sachverhalten gelten als neutralisiert, nicht aber die Regeln der Prädikation, nach denen realen wie fiktiven Sachverhalten in Deskriptionen bestimmte Eigenschaften und in Geschichten Veränderungen zugesprochen werden.21 Nach diesem Modell ist die Übereinstimmung von geschilderten Sachlagen mit realen Sachverhalten in fiktionalen Texten nicht relevant; durch die »Herabstufung des Bezeichnens im Dienste des Verweisens« wird die erzählte Geschichte zum »Paradigma für ein Allgemeines«, für »soziale Handlungs- und Rollenmuster« des jeweiligen historischen Kontextes.22 Im Zentrum des Interesses steht somit die Beziehung zwischen der narrativen Struktur einer fiktionalen Erzählung und den Erfahrungsschemata von realer Geschichte. Insofern der fiktionale Text auf keine Wiedergabe empirischer Fakten zielt, tritt die besondere Organisation der Geschichte in weit größerem Maße als in konventionellen Gebrauchstexten in den Vordergrund. Nicht mehr singulare Erfahrungen mit der konkreten Wirklichkeit werden als mitteilungswert angesehen, sondern deren Anschauungsformen. Diese sind allerdings nicht als fiktive von Bedeutung, sondern als historisch wirksame Grundstiukturen, welche die reale Erfahrung der Individuen in ihrer Lebenswelt entscheidend mitkonstituieren. Durch die »nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Differenzierung und Nuancierung oppositiver Konzepte«23 können fiktionale Erzählungen die Konkretheit, die Vielfalt und die Neuheit sozialer Erfahrungen darstellen, sie zugleich aber in einem überschaubaren Modell auf ihre wesentlichen Zusammenhänge hin transparent machen.

ι» Landwehr, Text und Fiktion, S. 185. 19 Warning, Der inszenierte Diskurs, S. 191. 20 So im Anschluß an Sartre Gumbrecht, Erzählen in der Literatur - Erzählen im Alltag, S. 412. Siehe hierzu auch Stempel, Alltagsfiktion, S. 392. 21 Bruck, Zum Begriff der literarischen Fiktion, S. 290. 22 Iser, Akte des Fingierens oder Was ist das Fiktive im fiktionalen Text? S. 143, sowie Schiffer, Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische Relevanz, S. 82. 23 Stierle, Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte, S. 52.

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Weil die externe Realität in den poetischen Text nur als modellhafte Konstruktion eingeht, kann die Funktion literarischer Fiktion mit dem Modellbegriff noch genauer bestimmt werden. Schon Landwehr spricht mit Bezug auf Lotman erst dort von der Fiktionalität eines Modells, wo ein Text nicht nur die reduzierte Abbildung der komplizierten bestehenden Realität, sondern die »Konstituierung einer neuen Wirklichkeit«24 leistet: als innovative Darstellung und damit Irritation gesellschaftlicher Erfahrungs- und Handlungsmuster. Und auch Warning sieht im Anschluß an Lotmans Bestimmung des Kunstwerks als Verbindung von Erkenntnis- und Spielmodell die wesentliche Qualität des fiktionalen Textes darin gegeben, daß er »die jeweilige historische Situation sujethaft und also in Form ereignishafter Unordnung« präsentiert; »Die Fiktion konfrontiert das Gewohnte mit dem Ungewohnten, das Normale mit dem Anormalen, die Positivität des Zugelassenen mit der Negativität des Ausgegrenzten, die Konstruktion einer Welt mit ihrer Zerstörung, und sie zwingt solchermaßen zum Eingreifen, zur Stellungnahme, zur Parteinahme.«25 Als ein »gefahrloses Durchspielen von Problemen, Konflikten und Extremsituationen«26 erfüllt das fiktionale Erzählen in der Literatur besonders dann seinen genuinen Zweck, wenn dort in Geschichten solche Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen thematisiert werden, die in der wissenschaftlichen Theorie und in der alltäglichen Praxis einer Epoche nur ungenügend formuliert oder gar gelöst sind. Während historiographische Texte vergangenes Geschehen aus der abstrakten Sicht kollektiver Entwicklungen darstellen und die subjektive Betroffenheit in Alltagserzählungen nur einen begrenzten Ausdruck findet, erschließen fiktionale Modelle »die Gefühle, Gedanken und Konflikte privater Individuen, zu denen uns in nicht-fiktionaler Rede auf Grund moralischer und sozialer Tabus sowie wegen der prinzipiellen Schwierigkeit intersubjektiver Erfahrung der Zugang verwehrt ist«, also »die Privatsphäre des von der Historie nicht erfaßten Individuums in dessen Beziehung zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit«.27 Die bisherigen Ausführungen über fiktionales Erzählen in der Literatur sind jedoch eine idealtypische Vereinfachung: Schon das traditionelle Genre des historischen Romans zeigt, daß der Verweis auf reale Ereignisse konstitutive Bedeutung für poetische Prosa besitzen kann. Ein »Hiatus zwischen Fiktion und Historie« prägt aber auch das dokumentarische Erzählen.28 Dieses opponiert mit der Verwendung authentischen Materials gegen ein zentrales Verfahren des literarischen Realismus, das die Nachbildung und die Erkenntnis von Wirklichkeit über die Wahrscheinlichkeit des Dargestellten 24

So mit Bezug auf Lotman Landwehr, Text und Fiktion, S. 188-199, Zitat S. 197. Siehe hierzu grundlegend Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 34-44, sowie Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes. 25 Warning, Der inszenierte Diskurs, S. 205. - Zum Sujetbegriff siehe Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 347-358, sowie S. 36-39 der vorliegenden Abhandlung. 26 Landwehr, Text und Fiktion, S. 195. Siehe hierzu auch Wellershoff, Fiktion und Praxis, S. 163-165. η Bruck, Zum Begriff literarischer Fiktion, S. 299. 28 Siehe hierzu Geppert, Der »andere« historische Roman, S. 34-43: »Der Hiatus von Fiktion und Historie«. - Zum dokumentarischen Erzählen siehe grundsätzlich Berghahn, Dokumentarische Literatur; Berghahn, Operative Ästhetik; Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur; Seiler, Die leidigen Tatsachen.

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organisiert. Wo vom »Ende der Wahrscheinlichkeitsliteratur« gesprochen werden kann, gelten neben dem bewußten »Weg in die NichtWahrscheinlichkeit« vor allem der »Weg in die Dokumentarliteratur« und der »Weg in die Subjektivität«29 als Alternativen: »Literatur zieht sich entweder zurück in die engste, scheinbar allein authentische Subjektivität - oder sie gibt sich dokumentarisch, arrangiert vorgegebenes, unerfundenes Material «30 In beiden Fällen wird ein authentischer Stoff zum Material solcher poetischer Texte, die »zwischen dem Primat der ästhetischen und der mitteilenden Funktion schwanken«,31 weil sie auch auf der Ebene des Tatsachengehalts einen Anspruch auf die Referenzialisierbarkeit des Dargestellten erheben. Als historische Gründe für diese Einschränkung der Freiheit des Erfindens durch die empirische Verifizierbarkeit von Tatsachen lassen sich so unterschiedliche Prozesse wie die Verwissenschaftlichung der Lebenswelt, die Ausdifferenzierung der Privatsphäre und die Steigerung von Partizipationschancen nennen, filr deren Zusammenhang die Theorie gesellschaftlicher Modernisierung historische Erklärungsmuster bereitstellt. Zunächst sei auf die Entwertung subjektiver Erfahrung zugunsten wissenschaftlicher Erkenntnis verwiesen: Das dokumentarische Erzählen stellt wie die Informationen der Presse »Anspruch auf prompte Nachprüfbarkeit«32 und gehorcht damit partiell einer »Gesinnung«, die »Erkenntnis der organisierten Wissenschaft gleichsetzt«.33 Die »Verringerung des Wahrscheinlichkeitsspielraums« für die literarische Fiktion läßt sich damit erklären, »daß das Bild der Realität immer weniger in den individuellen Lebenserfahrungen als vielmehr in systematisch gesammelten und letztlich wissenschaftlichen Befunden ruht«.34 Wo das Erzählen diesem gesteigerten Referenzdruck nachkommt, muß es deshalb auch aus dem Zweifel an der konkreten Möglichkeit intersubjektiver Erfahrung begriffen werden. Das zunehmend isolierte Individuum vermag die Erfahrungen anderer allenfalls zu zitieren oder im Rückzug auf die subjektive Authentizität gar nur noch von sich selber zu erzählen, nicht mehr aber aufgrund von »Erfahrung, die von Mund zu Mund geht«,35 soziale Normen geltend zu machen. In die Krise geraten ist die ästhetische Strategie von Autoren, in erfundenen Geschichten »stellvertretend für andere sprechen zu können, die eigenen Erfahrungen, die eigene Sicht der Dinge literarisch in den Rang von Exempeln zu heben, in denen die anderen sich erklären können«.36 Das dokumentarische Erzählen kann jedoch auch als Versuch begriffen werden, dem Erfahrungsverlust des einzelnen durch

2» Siehe hierzu Seiler, Die leidigen Tatsachen, dort auch die Zitate (S. 304, S. 312, S. 321, S. 325). - In der Verifizierung dieser These erschöpft sich allerdings Seilers Abhandlung. Sie ist eine Untersuchung über das Anwachsen der empirischen Triftigkeit in literarischen Texten seit dem 18. Jahrhundert; die Folgen für die ästhetischen Verfahren und den narraüven Bedeutungsgehalt einer zunehmend dokumentarischen Literatur sind dezidiert nicht von Interesse: »Die Wahrheit ist eben die Wahrheit und nicht als künstlerisches Kalkül zu analysieren.« (S. 320) 30 Baumgart, Die Literatur der Nicht-Autoren, S. 736. 31 Mukarovsky, Ästhetische Funktion, Norm und ästhetischer Wert als soziale Fakten, S. 21. 32 Benjamin, Der Erzähler, S. 444. 33 Adorno, Der Essay als Form, S. 9. 34 Seiler, Die leidigen Tatsachen, S. 43f. 35 Benjamin, Der Erzähler, S. 440. 36 Winter, Von der Dokumentarliteratur zur >neuen Subjektivität, S. 113.

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Strategien der Politisierung und Demokratisierung entgegenzusteuern.37 Wenn Privates öffentlich gemacht wird, Schriftsteller und Laien mit eigenen Erfahrungen zu Wort kommen, gilt die intellektuelle Befangenheit der professionellen Autoren als aufgekündigt im Sinn eines »Demokratisierungsbemühens«, das eine literarische Öffentlichkeit als ein Sprechen »von-Gleichen-zu-Gleichen« anstrebt und somit in Anlehnung an Tretjakows Theorie einer operativen Literatur auf die Überwindung der Trennung von Künstler und Publikum zielt.38 Anders als der historische Roman verarbeitet dokumentarisches Erzählen keine Stoffe der Vergangenheit, die nur noch über schriftliche Quellen rekonstruierbar wären, sondern solche Fakten der Zeitgeschichte, die noch von Lebenden mündlich bezeugt werden können und infolge der geringen historischen Distanz von direkter Aktualität für die Gegenwart sind.39 »Jüngste Vergangenheit, das eben noch Gegenwärtige durch die Form der Darstellung selbst zu einer Erfahrung von geschichtlicher Tiefe zu machen«40 und so die zeitgeschichtlichen Folgen des gesellschaftlichen Modemisierungsprozesses für das Individuum zu reflektieren, dies ist die Funktion dokumentarischer Literatur. Was als Zeitgeschichte, als die »Epoche der Mitlebenden«,41 gefaßt werden kann, ist von der jeweiligen Generation abhängig; für die 60er und 70er Jahre etwa können je nach Lebensalter die historischen Zäsuren von 1917/18, 1933, 1945/49 als der Beginn von Zeitgeschichte gelten. Ein zentraler Anlaß für das dokumentarische Erzählen von aktuellen Ereignissen ist das mangelnde Bewußtsein, welches eine gesellschaftliche Öffentlichkeit von ihrer zeitgeschichtlichen Situation besitzt; ohne daß diese Literatur in einer solchen Funktion aufginge, zielt sie mit dem Anspruch auf empirischen Tatsachengehalt darauf ab, »Nachrichten von unbekannten, verdrängten und verleugneten, aber auch von relevanten historischen Wirklichkeiten« zu vermitteln.42 Als Material der literarischen Dokumentation dient »Geschriebenes oder Gesprochenes, das bereits vorliegt oder das ein Autor zu Dokumentationszwecken jemanden schreiben oder sprechen läßt«.43 Dieser

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Siehe hierzu Plessen, Fakten und Erfindungen, S. 99f., sowie Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 141. Riebe, Literatur der Tatsachen, S. 88. Siehe hier auch Helms, Vom Proletkult zum Bio-Interview; Baumgait, Die Literatur der Nicht-Autoren, S. 736. So schon Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 119. Auch Peter Weiss spricht in seinen »Notizen zum dokumentarischen Theater« von »Zeugnissen der Gegenwart«, die zu einem »Modell der aktuellen Vorgänge« zusammengestellt werden (S. 91 und S. 97). Siehe dagegen Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 2 lf. und S. 29f. Stierle, Erfahrung und narrative Form, S. 113. Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, S. 2. Zimmer, Die sogenannte Dokumentarliteratur. - In diesem Zusammenhang sei auf die gesteigerte Bedeutung von Klappentext, Vor- und Nachwort verwiesen. Sie übernehmen in dokumentarischen Texten eine überaus wichtige Vermittlungsfunktion zwischen dem zeitgeschichtlichen Tatsachengehalt und dem literarischen Modell. Scharang, Zur Technik der Dokumentation, S. 40. - Siehe in diesem Zusammenhang auch Gundlach, Zur Stellung des Dokumentarischen in der Literatur der BRD der 60er/70er Jahre, S. 76-186. Dort wird ausschließlich die stoffliche Unterscheidung zwischen dem »bereits fixierten, unabhängig vom Autor entstandenen Material« (S. 78) und den eist »durch eigene Initiative des Autors« (S. 116) zustandegekommenen Dokumenten zur Basis eines historisch unspezifischen Klassifikationsversuchs gemacht.

authentische Stoff muß nach seiner literarischen Verarbeitung als solcher erkennbar sein, wenn der Begriff Dokumentarliteratur einen Sinn haben soll.44 Keineswegs bedeutet dies, daß dokumentarisches Material als solches ausgezeichnet sein muß, zumal die Möglichkeit fiktionaler Dokumente besteht. Auch der Gebrauch sogenannter »Authentizitätssignale«45 in literarischen Texten besagt noch nichts über die empirische Verifizierbarkeit der dargestellten Sachlagen; ob verarbeitetes Material authentisch ist oder nicht, läßt sich nicht anhand von textinternen Signalen feststellen. Soll ein Text als dokumentarisch gelten, so müssen die thematisierten zeitgeschichtlichen Ereignisse zumindest in Grundkonzepten »im aktualisierbaren historischen Wissen des Rezipienten präsent«46 sein. Das durchschnittliche Bewußtsein, welches die Zeitgenossen von ihrer geschichtlichen Epoche besitzen, ist der Ausgangspunkt, an dem dokumentarisches Erzählen stofflich ansetzt. Die literaturwissenschaftliche Analyse solcher Texte hat deshalb nicht nur die thematisierten historischen Begebenheiten zu rekonstruieren, sondern auch deren Bedeutung für die gesellschaftliche Öffentlichkeit zum Zeitpunkt des Drucks. Authentisches Geschehen wird im dokumentarischen Erzählen immer schon in einer bestimmten narrativen Struktur wiedergegeben. Diese konstituiert sich durch die Auswahl von Ereignissen und deren Kombination nach relevanten Zusammenhängen, die vor der Aneignung des Geschehens gar nicht bestehen konnten.47 Dennoch bildet die dokumentarische Prosa nur ansatzweise eigene literarische Genres aus. Sie orientiert sich vornehmlich an traditionellen Gebrauchsformen, besonders aus den Bereichen des Alltags, der Presse und der Wissenschaft.48 Sollen deren Erzählmuster aber nicht nur reproduziert werden, so muß das dokumentarische Erzählen als Kunst über deren informierende Funktion hinausgelangen und das scheinbar schon Bekannte einer weiteren Reflexion unterziehen. Texte, die einem solchen Anspruch gerecht werden, zielen deshalb durch den sekundären Gebrauch solcher Zweckformen darauf ab, deren »Problematisierung implizit anschaulich werden zu lassen, ohne daß die Dimension des 44 45 46

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So schon Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 50. Weinrich, Erzählte Philosophie oder Geschichte des Geistes, S. 421. Gumbrecht, »Das in vergangenen Zeiten Gewesene so gut erzählen, als ob es in der eigenen Welt wäre«, S. 492. - Miller weitet dagegen den Begriff der Dokumentarliteratur auch auf literarische Texte aus, die Dokumente so in eine fiktive Handlung integrieren, daß diese »als solche unkenntlich bleiben« und eine »Identifikation der Dokumente keine Notwendigkeit der Werkrezeption selbst, sondern eine neben ihr vonstattengehende Tätigkeit seis des zeitgenössischen Fachmanns, seis des historischen Forschers« sei (Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 87). Zwar trifft es zu, daß im Prozeß des »Veraltens« von Kunstwerken ein »Verstummen« (Adorno, Ästhetische Theorie, S. 266) des dokumentarischen Gehalts eintritt, so daß dieser nur noch vom »historischen Forscher« rekonstruiert werden kann. Wo es zur Verifizierung aktueller Tatsachen aber des »zeitgenössischen Fachmanns« bedarf, verlieft der Begriff der Dokumentarliteratur seinen Sinn. Siehe hierzu Plessen, Fakten und Erfindungen, S. 58. Mit der Begründung, daß »Lebensberichte aus psychologischen oder Konstmktions- beziehungsweise Rekonstruktionsgründen fiktive Verkürzungen oder Erweiterungen der historischen Lebenszusammenhänge enthalten«, schließt Plessen gleichwohl »alle Werke direkt biografischen oder autobiografischen Inhalts« von ihrer Untersuchung aus (S. 16f.)· Siehe hierzu Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 84, sowie Baumgart, Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? S. 64f.

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Kritisierten überschritten wird, im Gegensatz zur expliziten Kritik, die auf der Ebene einer Metasprache spielt, und darin notwendig in ein abstraktes Verhältnis zum Kritisierten eintritt«.49 Dazu sind aber gerade jene ästhetischen Verfahren erforderlich, die in der literarischen Evolution des Romans vorwiegend am Erzählen von fiktiven Ereignissen entwickelt wurden. Weil dokumentarisches Erzählen als Kunst ohne die modellierenden Qualitäten literarischer Verfahren nicht möglich ist, darf die »Technik der Dokumentation« auch dann die in der bisherigen Tradition »bereits vollzogene Materialbeherrschung nicht einfach ignorieren«,50 wenn sich diese vorwiegend an fiktiven Stoffen vollzogen hat. Das Prinzip der Innovation, seit dem 18. Jahrhundert die dominierende und »neue Orientierung« der literarischen Evolution »im Zeichen der Modernität«,51 bleibt auch für die dokumentarische Literatur gültig. Zwar lassen sich Rezeption und Weiterentwicklung literarischer Verfahren letztlich nur in der Werkinterpretation bestimmen. Gleichwohl ist es möglich, aus der historischen Reflexion des dokumentarischen Erzählens als eines Subsystems der zeitgenössischen Literatur nach der literarischen Moderne ästhetische Normen zu formulieren, hinter welche die konkreten narrativen Techniken nur um den Preis zurückfallen können, daß sie das literarische Modell objektivistischen und subjektivistischen Beschränkungen unterwerfen. Wo das Erzählen von realen Ereignissen nicht nur den Zweck dokumentarischer Information, sondern auch den der ästhetischen Irritation zeitgenössischen Bewußtseins verfolgt, ist eine bloße Reproduktion des stofflichen Materials nicht möglich: »Kritik als Ziel der Darstellung setzt Veränderung des Bestehenden in der ästhetischen Bearbeitung voraus.«52 Geht jene Reflexion in die Struktur dokumentarischer Texte ein, so legen diese in der Verwendung dokumentarischen Stoffs dessen subjektive Vermittlung offen und erstellen doch zugleich ein Modell der objektiven Realität. Gegenüber der Illusion unmittelbar gegebener Objektivität wird dann die Einsicht der literarischen Moderne zu ihrem Recht gebracht, daß infolge der zunehmenden Isolation und Ohnmacht des einzelnen erst durch die »Subjektivierung« des Dargestellten das »Wesen der Realität draußen widerscheint«.53 Weil diese Wirklichkeit auch im Erzählen von Zeitgeschichte nie einfach gegeben, sondern immer »Gegenstand« einer »Konstruktion« ist, die nicht zeigen kann, >wie es eigentlich gewesen istFakten< müssen im dokumentarischen Erzählen reflektiert werden: als der gegenwärtige Prozeß der Erinnerung von eigenen und der Rekonstruktion von fremden Erlebnissen. Weil »dieSache selbst« nur »in sprachlichen Bezügen« verfügbar ist,58 diese Zitate aber wieder verfremdet werden müssen, ist in dokumentarischer Literatur eine kritische Distanz vonnöten, durch die der Einzelfall auf ein objektives Allgemeines verweist und zeitgeschichtliche Ereignisse zu einem »Modell der aktuellen Vorgänge«59 weiden.Nicht durch die bloße Sprachreproduktion, sondern erst durch die ästhetische Strukturierung wird das dokumentarische Material in einem neuen Kontext transzendiert, erhalten die historischen Quellen »Zeichenfunktionen«, die Zitate »Verweisungscharakter«.60 Verbleibt dokumentarisches Erzählen allerdings auf der Ebene des bloßen Bezeichnens, konstituieren sich keine innovativen Modelle von Realität, sondern nur Modellierungen in der vorgegebenen Realität - Geschichten, die von ihrer narrativen Struktur her gegenüber anderen Gebrauchsformen eigentlich redundant sind: als Veranschaulichung von Sozialtheorien, als Nachrichten von brisanten, aber verdrängten Tatbeständen, als öffentliche Thematisierung bloß subjektiver Erlebnisse.61 Wo dagegen die literarische Verarbeitung von authentischen Ereignissen als ein fiktionales Modell von Realität auf die Irritation des Lesers als Erweiterung seiner Erfahrung zielt, also Distanz zum abgebildeten Geschehen herstellt und nicht Identifikation,62 sind Erzählverfahren erforderlich, durch die subjektives »Bewußtsein zugleich mit seinen objektiven Bedingungen vorgeführt wird«.63 Die Einlösung dieses ästhetischen Anspruchs erschwert sich allerdings dadurch, daß insbesondere das dokumentarische Erzählen auch dem zunehmenden Zweifel an der Möglichkeit intersubjektiver Erfahrung verpflichtet bleibt. Wo sich ein »authentischer Ich-Erzähler«64 in Autobiographie, Tagebuch und Bewußtseinsprotokoll nur noch an die eigene Geschichte erinnert oder ein »Nacherzähler«, »Sammler« und »Arrangeur«65 die Erlebnisse anderer ohne jede Einfühlung nur noch berichtet, scheinen die Artikulationsmöglichkeiten des 56

Adorno, Ästhetische Theorie, S. 46. Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 53. 58 Heinrichs, Dokumentarische Literatur - die Sache selbst? S. 17. 59 Weiss, Notizen zum dokumentarischen Theater, S. 97. 60 Geppert, Der »andere« historische Roman, S. 33, sowie Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 51. Siehe hierzu auch Plessen, Fakten und Erfindungen, S. 118. 61 Siehe hierzu Zimmer, Die sogenannte Dokumentarliteratur; Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 37-39; Krechel, Leben in Anführungszeichen; Baumgart, Das Leben - kein Traum? 62 Siehe hierzu Heinrichs, Dokumentarische Literatur - die Sache selbst? S. 26, sowie Baumgart, Aussichten des Romans oder Hat Literatur Zukunft? S. 81. 63 Pallowski, Die dokumentarische Mode, S. 278. 64 Hage, Das Entstehen der Bücher beim Schreiben, S. 58. - Ähnlich siehe auch Krechel, Leben in Anführungszeichen, S. 82f. 65 So Hartmann, Romantheorie seit 1945, S. 387, über Enzensbergers Roman »Der kurze Sommer der Anarchie«, sowie Baumgart, Unmenschlichkeit beschreiben, S. 29, über Kluges »Lebensläufe«. 57

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Erzählers gerade auf eine subjektivistische und auf eine objektivistische Weise begrenzt zu sein. Durch literarische Verfahren der Ironie und der Reflexion, der Deskription und besonders der Montage müssen solche Einschränkungen aber wieder in der narrativen Struktur überschritten werden, wenn der reale Einzelfall das kritische Modell eines Allgemeinen sein soll. In der literarischen Praxis führt dies freilich dazu, daß die undialektische Forderung, »sich jeder Erfindung« zu enthalten und »authentisches Material [...] im Inhalt unverändert, in der Form bearbeitet«, wiederzugeben,66 in vielen Texten der Dokumentarliteratur überhaupt nicht erfüllt sein kann. Auch die hier interpretierten Erzählungen und Romane sind nur zu jenem Zwischenbereich literarischer Werke zu zählen, in dem einerseits authentische Stoffe verarbeitet werden, in dem andererseits durch deren fiktionale Modellierung der Anspruch auf Referenzialisierbarkeit nicht mehr für alle dargestellten Ereignisse gelten und deshalb auch nicht mehr von Autor und Personen, sondern nur noch von Erzähler und Figuren gesprochen werden kann. Die Fabel der Texte ist dann entweder im aktuellen historischen Wissen der Leser als Grundkonzept nicht mehr präsent (wie bei Lebensgeschichten von unbekannten Zeitgenossen) und kann deshalb als authentisch oder als fiktiv gelten, oder aber sie läßt gar den Schluß zu, daß authentisches und fiktives Geschehen miteinander kombiniert sind. Ein solches Changieren der konkreten Werke ändert an der prinzipiellen Möglichkeit dokumentarischer Geschichten als Kunst allerdings nichts. Es entspricht vielmehr ganz der >FiktionNaturzeit< der allgemeinen Vergangenheit im Licht der regulativen Idee von >humaner Zeit< deutet, konfrontiert das Erzählen einer Lebensgeschichte die besonderen Lebenspläne eines Individuums mit dem Lauf des Lebens, den die Realisierung seiner Vorstellungen unter den tatsächliche Rahmenbedingungen genommen hat. 70 Lebensgeschichten stellen somit eine Auswahl von authentischen Ereignissen aus dem »Ablauf eines Lebens beziehungsweise eines Lebensabschnitts« 71 dar, die unter dem Aspekt der Bedeutung miteinander verknüpft werden. Die Teile eines Lebens sind unter die regulative Idee eines Ganzen subsumiert, welche als das Bewußtsein von der »Kontinuität des Zusammenhangs inmitten der Veränderungen«72 Identität genannt werden kann. Weil diese Kategorie eine individuelle und eine soziale Komponente hat, ist die Grundstruktur einer Lebensgeschichte von einer »doppelten Dialektik« 73 geprägt. Auf der vertikalen Ebene verknüpft die Auto-Biographie vergangene Erlebnisse mit dem jetzigen Wissen des Erzählers zu einer Einheit, die auf der Nicht-Identität von singulären Ereignissen beruht. Auf der horizontalen Ebene konstruiert sie die Einzigartigkeit eines Individuums, dessen Lebenslauf sich nur im Zusammenhang sozialer und historischer Normen zu erkennen gibt. Dieser »Schnittpunkt von Lebenslauf und Geschichte«, 74 von persönlicher und sozialer Entwicklung ist in Auto-Biographien besonders anschaulich, wo sich historische als biographische Wendepunkte erweisen und deshalb als »Schlüsselerfahrungen«75 dargestellt werden. Das Material von Lebensgeschichten sind indes nicht nur einzelne Erlebnisse, sondern auch die »Strukturprinzipien der Erfahrung und des Handelns«. 76 Lebensgeschichten bringen Anfang und Ende, Lebensphasen und Schlüsselerlebnisse, Krisen und deren Überwindung als Ereignisse oder deren chronologische Abfolge in einen Entwicklungszusammenhang und überprüfen die damals zugrundeliegenden Erfahrungsschemata auf ihre Bedeutung für die prozeßhafte Verwirklichung des Lebensplans. So finden im lebensgeschichtlichen Erzählen nach einer Beschreibung von objektiven Bedingungen und subjektiven Absichten vor Beginn des Geschehens nicht nur der Ablauf eines vergangenen Ereignisses und das damalige Erleben Darstellung, sondern auch die heutige Bewertung dieser Begebenheit am Maßstab des jeweiligen Identitätskonzepts. Solche Deutungen werden zum einen in Kommentaren oder gar Maximen explizit formuliert, zum anderen aber sind sie durch die narrative Struktur als Auswahl und Kombination von Ereignissen implizit gege70

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Zum folgenden siehe grundsätzlich Fischer, Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten; Rehbein, Biographisches Erzählen. Pascal, Die Autobiographie, S. 21. Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 302. So im Anschluß an Dilthey Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 200. - Zur sozialen Dimension von Identität siehe auch Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1087-1628: »Fünfter Teil: Idenütät«; Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vemünfüge Identität ausbilden? Luckmann, Persönliche Identität, soziale Rolle und Rollendistanz, S. 299. Steinbach, Lebenslauf, Sozialisation und »erinnerte Geschichte«, S. 300. Fischer, Struktur und Funktion erzählter Lebensgeschichten, S. 314.

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ben. 77 Konstitutiv für das Erzählen von Lebensgeschichten ist es hierbei, daß das Bewußtsein von der Einheit einer Person gebunden bleibt an die Diskrepanz zwischen den nicht mehr stimmigen Deutungsmustern der Vergangenheit und dem heutigen Wissen, das von dieser durch die »Gegenwartsschwelle« als einer Übergangsgeschichte getrennt ist.7® Ein intensives Veränderungserlebnis des Erzählers und ein aktueller Anlaß der Gegenwart gelten ja auch für das auto-biographische Erzählen als grundlegende Bedingungen: Erst das Bewußtsein der historischen Distanz ermöglicht die perspektivische Darstellung als Rekonstruktion eines Lebens oder einer Phase nach deren Ablauf. Schon beim Abfassen eines kurzen Lebenslaufs kann vom aktuellen Bewußtsein des Erzählenden nicht abstrahiert werden: »Der Anlaß bestimmt die Zusammenfassung. Nur was für ihn von Bedeutung ist, wird erwähnt«.79 Der gegenwärtige Blickpunkt legt nicht nur fest, was als Ereignis gilt, sondern auch, wie es mit dem weiteren Geschehen verknüpft wird. Diese Funktion der Sinnbildung läßt sich für Auto-Biographien noch genauer erläutern: Durch die Erinnerung an die >Naturzeit< eines vergangenen Lebenslaufs oder Lebensabschnitts, in der die Lebenspläne als die Handlungsabsichten des einzelnen im Horizont von >humaner Zeit< meist nur ungenügend realisiert wurden, schreibt der Erzähler einer Lebensgeschichte trotzdem sich selbst oder einem anderen »Verantwortung für frühere Handlungen« zu 80 und stiftet damit eine auto-biographische Kontinuität (oder destruiert als deren Voraussetzung eine falsche Kontinuität), so daß daran anschließend gegenwärtige Erfahrungen gedeutet und Zukunftsperspektiven entworfen werden können. Die Aufgabe der Vergewisserung menschlicher Identität erfüllen AutoBiographien deshalb auf eine besondere Weise, weil die kollektive Vergangenheit hier auf den Aspekt der sinnhaften Entwicklung eines einzelnen eingeschränkt wird und damit die Frage nach dessen lebensgeschichtlicher Identität als Übereinstimmung von persönlichen Handlungsabsichten und dem historisch-sozialen Prozeß explizit gestellt ist. Indem solche Texte auch intersubjektive Handlungsabsichten und allgemeine Handlungsbedingungen zum Gegenstand haben, sind sie trotz der Konzentration auf einen einzigartigen Lebenslauf von Interesse für andere, die in einer vergleichbaren Situation ähnliche Lebenspläne verwirklichen wollen. Diesen sozialen Bedeutungszusammenhang können Lebensgeschichten durch die Auswahl und durch die Vermittlung von typischen Ereignissen auf verschiedene Weise hervorheben.81 Gemäß den Spielarten des historischen Erzählens ist es mit spezifischen Abstufungen im Alltag, in der Wissenschaft und in der Literatur möglich, das Leben eines Individuums traditional, kritisch, exemplarisch oder genetisch zu typisieren, j e nachdem ob für das Erreichen oder Verfehlen der Identität das Festhalten an der Tradition oder die Abweichung von dieser, ein > Allgemein-Mensch liches< oder das historisch Besondere verantwortlich gemacht und in der narrativen Struktur dominant gesetzt wird.

Siehe hierzu Rehbein, Biographisches Erzählen, S. 55-58. Fischer, Struktur und Funküon erzählter Lebensgeschichten, S. 319. 7 9 Zimmermann, Lebensläufe, S. 127. Siehe hier auch Müller, Autobiographie und Roman, S. 55; Rehbein, Biographisches Erzählen, S. 53f. so Luckmann, Persönliche Identität und Lebenslauf, S. 36. 8 1 Siehe hierzu auch Scheuer, Biographie (I), S. 181. 77

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Im Alltag und in der Geschichtsschreibung rekonstruieren Lebensgeschichten die Entwicklung von realen Personen, indem sie diese unter dem Aspekt der gegenwärtigen und der vergangenen Handlungsidentität nach alltäglich-praktischen oder nach wissenschaftlich-theoretischen Interpretationsregeln verständlich machen. 82 Dokumentarische Lebensgeschichten in der Literatur gehen über solche Funktionen hinaus: Die Charakterisierung von einzelnen Individuen ist aufgehoben in der kritischen Reflexion modellhafter Lebensläufe. Diese Texte erzählen die Geschichten noch Lebender tendenziell ohne die Fiktivierung von Kommunikationsfaktoren; sie erheben für die dargestellten Sachverhalte Anspruch auf biographische und zeitgeschichtliche Referenzialisieibarkeit. Wenn der Verfasser einer Autobiographie sich weitgehend an das hält, was sich wirklich in seinem Leben ereignet hat, und der Biograph das ausspart, was nicht authentisch ist und sich nicht dokumentarisch nachweisen läßt,83 betonen solche Werke mit dem empirischen Tatsachengehalt die Aktualität ihres literarischen Bedeutungsgehalts. »Zeitgemäß schreiben« ist allerdings »nicht dasselbe wie etwas nach dem Leben schreiben«. 84 Die wesentliche Funktion ästhetischer Lebensgeschichten besteht darin, den dokumentierten Einzelfall in seiner kollektiven Relevanz vorzustellen. Weil literarischen Auto-Biographien aber die Typisierung durch Theorien, anders als in der Geschichtsschreibung, nur begrenzt möglich ist, 85 erfolgt die Abstraktion vom singulären Lebenslauf hier vorwiegend durch die Art und Weise der narrativen Darstellung, durch poetische Verfahren, die aus einer Lebensgeschichte ein sekundäres modellierendes Modell machen. 86 Die Beschreibung solcher ästhetischer Konstruktionsprinzipien ist es, wodurch sich das spezifische Interesse der Literaturwissenschaft an Lebensgeschichten von dem anderer Disziplinen unterscheidet.87 Sie analysiert die Struktur solcher Auto-

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Siehe hierzu Luckmann, Persönliche Identität und Lebenslauf, S. 44, sowie Rehbein, Biographisches Erzählen, S. 62. Siehe hierzu Aichinger, Selbstbiographie, S. 806, sowie Romein, Lebensbeschreibung, S. 9. Bloch, Über Gegenwart in der Dichtung, S. 146. Siehe hierzu auch Scheuer, Biographie (I), S. 181. Tarot stellt allerdings jeglichen Modellcharakter von Autobiographien in Abrede, wenn er deren narrativen Bedeutungsgehalt gegen den empirischen Tatsachengehalt ausspielt: »Im Gegensatz zur funktionalen Sinndeutung sind der Autobiographie enge Grenzen gezogen, wenn es um die Frage der Autobiographie als >Modell< oder >Muster< geht. In einer modellhaften Gestaltung werden Fakten einer verallgemeinernden Darstellungsabsicht verfügbar gemacht, die Vorrang vor der Wiedergabe dessen gewinnt, was faktisch der Fall war. Sichten und wählen muß jeder Autobiograph, aber er darf diese Notwendigkeit nicht mißbrauchen, um die Fakten einem außer ihnen liegenden >Modell< gefügig zu machen.« (Tarot, Die Autobiographie, S. 35) Als wäre das narrative Konzept einer Geschichte ausschließlich im Geschehen begründet, heißt es auch in Koopmanns Ausführungen zur Biographie: »Die Biographie kann objektiv nur dort sein, wo sie sich auf Daten (wie sie etwa jede Grabinschrift zu enthalten pflegt) beschränkt«. Zur literaturwissenschaftlichen Diskussion der letzten zehn Jahre siehe folgende literarhistorische und gattungstheoretische Arbeiten: Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung; Scheuer, Biographie (I); Scheuer, Biographie (II); Scheuer, Kunst und Wissenschaft; Schwab, Autobiographik und Lebenserfahrung; Fühner, Das Ich im Prozeß; Kronsbein, Autobiographisches Erzählen; Tarot, Die Autobiographie; Koopmann, Die Biographie; Schneider, Die erkaltete Herzensschrift. Eine Auseinandersetzung mit diesen Untersuchungen findet im Zusammenhang der weiteren Argumentation statt.

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Biographien, deren Details einerseits die »Reproduktion einer gewissen realen Einmaligkeit« darstellen, die andererseits aber »als Verallgemeinerung aufgefaßt« werden, »und zwar aufgrund der Beziehungen zu anderen [...] Details«, die - bei dokumentarischen Stoffen - sowohl »durch die Verbindungen der konkret-gegenständlichen Welt« als auch »durch Beziehungen auf einer ideellen Ebene verbunden sind«. Die »Konkretheit erhält« in dokumentarischen Lebensgeschichten der Literatur »den Charakter der Verallgemeinerung«. 88 Den innovativen Status eines fiktionalen Modells erlangen literarische Lebensgeschichten letztlich jedoch erst dadurch, daß sie die Entwicklung eines Individuums nicht nach dem narrativen Konstrukt eines zeitgenössischen »Weltbilds« erzählen, das die >naturzeitliche< »Unerschütterlichkeit« der sozialen »Grenzen« und Normen nur bestätigte, sondern in einem »sujethaltigen Text«, in »Sujetbewegung« präsentieren und damit die Irritation der jeweils üblichen Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster leisten. 89 Wenn die poetologische Kategorie des Sujets zur Interpretation literarischer Lebensgeschichten operationalisiert werden soll, ist es allerdings nötig, ihre Bedeutung für die Analyse narrativer Texte differenzierter als bisher zu bestimmen. Der Begriff des Sujets ist bei Lotman mit der Vorstellung des Ereignisses verbunden, durch welches die klassifikatorische Grenze des literarischen Raumes textintern überschritten und damit die Unerschütterlichkeit des textextern herrschenden Weltbilds in Frage gestellt wird. Diese Theorem besitzt seine Gültigkeit für die allgemeine Beschreibung der reflexiven Bedeutungsfunktion poetischer Werke. In der Konkretisierung seiner Überlegungen schränkt Lotman die Vorstellung eines Ereignisses allerdings in unzulässiger Weise auf die Ebene der Handlung ein: das Ereignis als »bedeutungshaltige Abweichung von der Norm« wird nicht so sehr »auf der Ebene des Kulturtextes« lokalisiert, sondern vielmehr an die »Versetzung einer Figur über die Grenze des semantischen Feldes hinaus« gebunden, an »die Übertretung eines Verbots«, an ein »Faktum, das stattfand, obwohl es nicht stattfinden durfte«. 90 Das sujethafte Ereignis ist als »revolutionäres Element« nur auf eine bestimmte Konstruktion von Fabel und Figuren begrenzt: auf den beweglichen, »die Handlung tragenden Helden«, dessen »Individualität« sich in der »Unerwartetheit« derjenigen »Einzelhandlungen« erweist, mit denen er die klassifikatorische Grenze zu überschreiten vermag. 91 Wo es aber nur unbewegliche Figuren gibt, liegt diesen Ausführungen zufolge ein sujetloser Text vor, dessen Bedeutung sich in der Bestätigung zeitgenössischer Normen erschöpft. An einer derartigen Konzeption ist jedoch zu kritisieren, daß hier mit der Vorstellung vom revoltierenden Helden »der Begriff des >Ereignisses< in der Verknüpfung mit dem Aspekt der Überschreitung der Grenze< auf inadäquate Weise eingeengt wird«. 92 Jener

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Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 40. - Zur besonderen Bedeutung dieses Theorems für die dokumentarische Literatur siehe schon Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 65-69. Zu diesem Aspekt von literarischen Autobiographien siehe auch Müller, Autobiographie und Roman, S. 336. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 356f. Lotman, Die Struktur des künsüerischen Textes, S. 351, S. 350, S. 355. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 357, S. 360, S. 382. Volek, Die Begriffe »Fabel« und »Sujet« in der modernen Literaturwissenschaft, S. 153.

Typ einer narrativen Fabel tritt zwar in vielen Texten vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts auf; er entspricht auch noch neueren Auto-Biographien, in denen das »kämpferische Leben«93 oder zumindest eine »tiefe Protestbasis« infolge »protopolitischer Erfahrungen«94 dominiert. Dennoch ist er an »spezifische narrative Strukturen« gebunden, und diese sind nicht nur in lyrischen Texten kaum aufzufinden,95 sondern fehlen auch in zahlreichen Romanen und Erzählungen seit der literarischen Moderne, die der Ohnmacht individuellen Handelns durch die »Entfabelung« kritisch Ausdruck verleihen und damit eine »Reduktion des Erzählcharakters zugunsten eines Beschreibungs-, Reflexions- und Erörterungsstils« vollziehen.96 Der Sujet-Begriff liefert in dieser Begrenzung zwar die Möglichkeit, einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Kämpfen und der Struktur von Kunstwerken herzustellen. Er verknüpft die ästhetische Intention auf Utopisches allerdings mit der Gestalt des aktiven Helden und trifft damit auf solche Texte nicht zu, in denen gerade durch das Fehlen einer offensichtlichen Sujetbewegung eine »Revolution« oder allgemeiner: eine tatsächliche oder nur behauptete Veränderung der gesellschaftlichen und persönlichen Verhältnisse »in Frage gestellt« ist, »soweit sie nicht den Bruch mit der Vergangenheit und die ganze Kraft der Befreiung in sich trägt«.97 Diese These kann an dem Zusammenhang erläutert werden, der zwischen dem epischen Sujet als einer poetologischen Kategorie einerseits und dem biographischen, politischen und literarischen Thema von >Aufbruch< und >Wende< andererseits besteht.98 Beiden Topoi zur Bezeichnung von signifikanten Veränderungen im >Lauf< des Lebens und im >Gang< der Geschichte kommt als literarischen Motiven dann eine 93 94

S6ve, Marxismus und Theorie der Persönlichkeit, S. 384. Sloterdijk, Literatur und Organisation von Lebenserfahrung, S. 318. - Sloterdijks Ansatz will »die Spuren dialektischer Lernprozesse in lebensgeschichtlichen Erzählungen« (S. 10) verfolgen und schränkt damit das Interesse an Autobiographien der 20er Jahre auf solche Strukturelemente ein, die »protopolitische Erfahrungen«, eine unmittelbare »Betroffenheit durch das Politische«, artikulieren und damit »stabilisieren«. Daß solche »Modelle politischen Lernens« (S. 122f.) an Texten gewonnen werden, die ideologisch zumeist »>gegen den Strich< gelesen werden müssen« (S. 9) und ästhetisch »konventionell gehalten« (S. 19) sind, ist für den »externen Standpunkt« (S. 8) des Interpreten ohne Bedeutung, der ja »nicht so sehr auf handfeste literaturgeschichtliche Resultate hinarbeitet« (S. 10), sondern mit einer »Ideologiekritik jenseits des >EntlarvensSelbsterkenntnis< für die meisten nicht Anlaß zur Ermutigung, sondern zur Verzweiflung geben.« (S. 12) Deutlich wird hier der Widerspruch, welcher zwischen einer »positiven Dialektik« besteht, die auf den »Beginn lebens- und gesellschaftsverändernder Praxis« auch um den Preis der Selbsttäuschung fixiert ist, und einer kritischen Hermeneutik, die an der Struktur literarischer Texte untersuchen will, warum eben dieser »Beginn lebens- und gesellschaftsverändernder Praxis« durch die Betroffenen in der bisherigen Geschichte meist doch nur »mit tragischen Schlüssen« (S. 318) erkauft war.

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Hucke, Utopie und Ideologie in der expressionistischen Lyrik, S. 81, Anm. 7. « Lämmert, Vorbericht (Π), S. XIX. 97 Marcuse, Die Permanenz der Kunst, S. 23. 98 Siehe hierzu schon Hucke, Ideologie und Utopie in der expressionistischen Lyrik, S. 78-83: »Das literarische Thema >Aufbruch< und seine Affinitäten zum lyrischen Sujet< als einer poetologischen Kategorie«. 9

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kritische Funktion zu, wenn sie als Verletzung oder Infragestellung einer textinternen klassifikatorischen Grenze ein herrschendes Weltbild des zeitgenössischen Kontextes dem Zweifel aussetzen: Indem mindestens eine Figur bei der Realisierung ihres Lebensplanes eine Norm verletzt, obwohl es nach den üblichen Vorstellungen im >Kulturtext< dafür gar keinen Anlaß gibt, wird für solche >abweichendem Bedürfnisse die gesellschaftliche Wirklichkeit einer >humanen Zeit< gefordert, die mit den Verhältnissen der >Naturzeit< nichts oder nur wenig gemein hätte. Das auf der Bedeutungsebene sujetkonstituierende Ereignis findet seinen Ausdruck hier auf der Handlungsebene im Aufbruch oder in der Wende, mit denen ein Individuum oder ein Kollektiv von der Kontinuität des bisherigen Herrschaftsraums Abschied nimmt, weil jetzt ein zukünftiger Erlebnisraum das Ziel darstellt. Diese eine Möglichkeit der Sujetbewegung hat Lotman beschrieben; sie muß freilich ergänzt werden durch die kategoriale Reflexion solcher narrativen Texte, die im eingeschränkten Sinn Lotmans >sujetlos< sind und dennoch eine Irritation des dominierenden Weltbildes bedeuten. Die affirmative Legitimation bestehender Verhältnisse ist ja neben dem Rückgriff auf bestimmte Traditionen immer auch darauf angewiesen, den jeweils gegenwärtigen Zustand als entscheidenden Fortschritt einer >humanen Zeit< auszugeben, die von der bisherigen >Naturzeit< Abschied genommen haben soll. In derartigen offiziellen Deutungsmustern einer Gruppe, einer Nation, eines Staates oder einer Regierung weist der Geschichtsverlauf selbst bereits eine sujethafte Struktur auf. Sei es der >Aufbruch< der Jugend 1914, der >Aufbruch< des >Volkes< 1933, die >Stunde null< und der >Neubeginn< 1945 und 1949, der >Aufbruch< der antiautoritären Bewegung 1968 oder die >Wende< unter der liberalkonservativen Koalition 1982/83: Durch solche signifikanten Ereignisse gilt die klassifikatorische Grenze zwischen dem Herrschaftsraum der Vergangenheit und dem Erfahrungsraum der Gegenwart als grundsätzlich überschritten; die Mobilität des einzelnen und der Gesellschaft scheint durch den Anbruch einer neuen Epoche im Sinne gesellschaftlicher Modernisierung gewährleistet zu sein. Literarische Lebensgeschichten stellen zu derartigen ideologischen Verkürzungen ein kritisches Korrektiv dar, wenn sie am Paradigma eines Lebenslaufs nach den tatsächlichen Chancen fragen, die der einzelne zur Verwirklichung von individuellem Lebensplan und kollektiver Identität besitzt, und ungeachtet des realen Fort- oder Rückschritts, die >Aufbruch< und >Wende< bedeuten können, auf der zeitgeschichtlichen Kontinuität von Denkund Verhaltensmustem insistieren, somit am Prozeß der Modernisierung das persönliche und gesellschaftliche Andauern der >Naturzeit< anschaulich machen. Diese Geschichten, in denen es keinen aktiven Helden, sondern nur unbewegliche Figuren gibt, welche die ihnen gesetzten Grenzen nicht überschreiten können oder gar wollen, besitzen unter dem Aspekt der Handlung scheinbar eine sujetlose Struktur, wo >Aufbruch< und >Wende< immer wieder mißlingen oder nicht einmal als Perspektive in den Blick geraten. Weil das reflexive Potential poetischer Texte aber nicht schon durch deren Fabel gegeben ist, muß das sujetkonstituierende Ereignis bei solchen Geschichten auf der Ebene ihrer Bedeutung innerhalb des literarischen und sozialen Kontextes bestimmt werden: Die Verletzung der klassifikatorischen Grenze durch die Werkstruktur liegt hier darin, daß ein scheinbar sujethaftes Geschichtskonzept - etwa die Behauptung vom antiautoritären >Aufbruch< 1968 - als eine sujetlose Grundstruktur fungiert, diese mit einem scheinbar sujetlosen Lebenslauf, in dem etwa 38

eine Kontinuität zwanghafter Veihaltensmuster vorherrscht, als sujethaltiger Schicht konfrontiert wird und damit als unzulänglich vorgeführt, ja in der Destruktion überschritten i s t " Unter dem Anspruch derReferenzialisierbarkeit wird in literarischen Lebensgeschichten authentisches Material nach Konstruktionsprinzipien modelliert, die den traditionellen Erzählverfahren von Autobiographie und Biographie verpflichtet sind. Mit dem Rückgriff auf solche Gebrauchsformen sind zunächst »Beschränkungen bei der Verwendung erzählerischer Mittel« verbunden.100 Die Eingrenzung der Ereignisse auf die realen Erfahrungen eines einzelnen zieht eine gewisse Verengung der Handlung nach sich, die Schilderung einer individuellen Entwicklung legt ein chronologisches Erzählschema nahe: Wenn Lebensgeschichten in ihrer einfachsten Gestalt mindestens zwei biographische Stationen als spezifische Problemkonstellationen präzisieren und miteinander verknüpfen, ist die Kombination der einzelnen Geschichten vornehmlich am realen Ablauf des Geschehens orientiert und auch die Einbeziehung von Erlebnissen anderer weitgehend ausgeschlossen.101 Dieser »>konservative< Charakter«102 des konventionalisierten auto-biographischen Erzählens wird in solchen literarischen Lebensgeschichten jedoch wieder aufgehoben, die ästhetische Konstruktionsprinzipien des modernen Romans übernehmen und damit die Möglichkeiten der narrativen Differenzierung erweitern.103 Für die poetische Modellierung von zeit- und lebensgeschichtlichen Themen sind hier insbesondere die literarischen Traditionen des historischen Romans und des Bildungsromans von Bedeutung. Während dieser die Entwicklung eines Individuums zum Thema hat, stellt jener explizit die Erfahrung von Geschichte dar. Die spezifischen Verfahren beider Genres können heute in literarischen Lebensgeschichten allerdings nur dann eine innovative Funktion erlangen, wenn sie durch ihre poetische Struktur die »gegenwärtigen Schwierigkeiten des historischen Erzählens«104 reflektieren oder als einzig zeitgemäße Form des klassischen Bildungsromans das Modell des negativen Entwicklungsromans entfalten.105 Eine solche Erweiterung auto-biographischer Darstellungsmöglichkeiten auf dem Stand des modernen Romans hat zur Folge, daß die konventionalisierten Erzählmuster der Gebrauchsformen aufgelöst und in ihren engen Gattungsgrenzen überschritten werden.106 Wenn etwa das chronologische Schema durchbrochen und die

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Zur Differenz der Begriffe von Text und Werk siehe Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 169-198. Zu den Kategorien sujetloses System und sujethaltige Schicht siehe Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 357. 100 Aichinger, Selbstbiographie, S. 809. 101 Siehe hierzu Lukäcs, Die biographische Form und ihre Problematik, S. 394; Aichinger, Selbstbiographie, S. 807-809; Müller, Autobiographie und Roman, S. 55. 102 Müller, Autobiographie und Roman, S. 357. - Siehe hierzu auch Pascal, Die Autobiographie, S. 205f. 103 Siehe hierzu auch Fühner, Das Ich im Prozeß, S. 6 und S. 19f.; Kronsbein, Autobiographisches Erzählen, S. 67, S. 177 und S. 184f. 104 Siehe hierzu Martini, Über die gegenwärtigen Schwierigkeiten des historischen Erzählens. 105 Siehe hierzu Hucke, Der integrierte Außenseiter, S. 20f.; Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 271-278: »Der Bildungsroman: eine unerfüllte Gattung«. 106 Siehe hierzu auch Müller, Autobiographie und Roman, S. 357f.; Aichinger, Selbstbiographie, S. 808f.

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Entwicklung eines Helden destruiert ist, wenn seine Erlebnisse mit denen anderer durch eine polyperspektivische Erzählkonstiuktion kontrastiert werden, wenn fiktive Handlungselemente nicht mehr nur wie im alltäglichen Erzählen den Charakter einer Hilfskonstruktion besitzen,107 sondern den subjektiven und fiktionalen Status der dokumentierten Geschichte offen demonstrieren, dann ist durch diese »halb poetische, halb historische Behandlung« 108 die Auto-Biographie im Roman und das Leben in der Kunst aufgehoben. Vor einer Erläuterung der Differenz zwischen autobiographischen und biographischen Lebensgeschichten ist noch zu klären, inwieweit beide Genres überhaupt als eine autobiographische Erzählform zusammengefaßt werden können. Einem solchen Zugriff stehen ja zahlreiche Einwände gegenüber, welche die »wesensverschiedenen Probleme« 109 und die prinzipielle Trennung dieser »beiden Gattungen [...] nach Zweck und Form« behaupten: aus der »Innenansicht« und dem »Bewußtsein [...] unverwirklichter Möglichkeiten« folgten in der Autobiographie die »Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit« eines Selbstbildes, 110 das immer »unvollendet« bleiben müsse, während die Biographie aufgrund des >äußeren< Erzählerstandorts »Vollendung, Rundung und Geschlossenheit« aufweise,111 eine »klar umrissene Gestalt der Person« anhand der realisierten Taten zeige und die Details der Quellenkritik unterziehe.112 Dieser strikten Opposition von Selbsterkenntnis und Fremdverstehen widerspricht jedoch schon die Dialektik lebensweltlicher Hermeneutik, nach welcher die Biographie eines anderen Menschen entsteht, indem die »Besinnung über den eigenen Lebensverlauf auf das Verständnis fremden Daseins übertragen wird«,113 und die eigene »persönliche Identität« umgekehrt »nur im Vergleich zu der Art und Weise, wie andere Menschen typisch ähnliche Situationen meistern, [...] rekonstruiert werden« kann.114 Weil beide - Autobiographie und Biographie - ein »Zeugnis von jeweils historisch besonderen Weisen der Identitätsentwürfe« ablegen,115 ist zunächst nur der stoffliche Gegenstand für den Unterschied zwischen diesen zwei Genres konstitutiv, nicht aber die narrative Grundstruktur. Folgte man heuristisch Stanzeis Typologie der Erzählsituationen im Roman, müßte das autobiographische Erzählen der Kategorie des »Ich-Romans« zugerechnet werden, als dessen wesentliches Merkmal »die Spannung zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Ich« gilt: »Für diese Art des Romans« seien »Inhalt und Form der Autobiographie Vorbild gewesen. [...] Das Entscheidende dabei« sei, »daß die Ich-Figur ihr Leben erzählt, nachdem sie eine Wandlung durch Reue, Bekehrung oder Einsicht durchgemacht hat. [...] Das erzählende Ich« sei »seit seinen Erlebnissen, die den Inhalt der Geschichte bilden, innerlich gewachsen, reifer, einsichtiger geworden und« vermöge »nun sein 107 Müller, Autobiographie und Roman, S. 72. 108 Goethe, Dichtung und Wahrheit. Erster Theil, S. 8. - Siehe dagegen Tarot, Die Autobiographie, S. 43. 109

Blöcker, Biographie - Kunst oder Wissenschaft? S. 66.

no Pascal, Die Autobiographie, S. 30f. •••de Mendelsohn, Biographie und Autobiographie, S. lOf. 112 Pascal, Die Autobiographie, S. 31. 113

Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, S. 305.

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Luckmann, Persönliche Identität und Lebenslauf, S. 4 3 .

ι · 5 Scheuer, Biographie (II), S. 2 5 .

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früheres Verhalten von einem höheren moralischen, religiösen, sozialen oder humanitären Standpunkt zu begreifen und zu beurteilen.«116 Weil nach der Selektion des Ich-Romans als selbständiger Erzählsituation indes nur noch auktoriales und personales Erzählen unterscheidbar sind,117 zeigt sich, daß der höhere Standpunkt, von dem aus die Ich-Figur ihr Leben erzählt, genau jene »klare Distanzierung des Erzählers von der dargestellten Welt« ermöglicht, durch welche in der auktorialen Erzählsituation »die bedrohlichen Spannungen eines Lebens, einer Epoche eingefangen und gewissermaßen neutralisiert« werden.118 Dieses konstitutive Merkmal autobiographischen Erzählens trifft jedoch ebenso für das biographische Erzählen zu; auch hier wird ein Lebenslauf von einem auktorialen Erzähler aus der historischen Distanz rekonstruiert. Die stoffliche Differenz zwischen eigenem und fremden Leben schlägt sich auf dieser Ebene zunächst nur im Gebrauch unterschiedlicher Personal- und Possessivpronomina nieder, die auktoriale Grundstruktur ist in autobiographischen und biographischen Lebensgeschichten dieselbe. Das auktoriale Erzählen prägt in beiden Genres allerdings nicht ungebrochen die Darstellung. Als Extremposition bleibt der »Überblick« des einzelnen über (s)ein Leben ein »Wunschbild« und ist konkret nicht ohne sein Gegenteil: die Betroffenheit durch eben dieses Leben, vermittelt.119 Ihren ästhetischen Ausdruck erhält eine derartige Spannung in literarischen Texten, in denen die auktoriale Grundstruktur durch personale Erzählverfahren eingeschränkt wird. Damit sind nicht so sehr jene Abschnitte gemeint, die frühere Erlebnisse aus der ehemaligen Perspektive des Helden oder seiner Umgebung erzählen und so die Begrenztheit der inzwischen überholten, damals aber konstitutiven Erfahrungsmuster anschaulich machen. Vielmehr sind hier solche Konstruktionsprinzipien von Bedeutung, durch die auch der gegenwärtige Werthorizont des Erzählers, der heutige Maßstab für die früheren Erlebnisse der Hauptfigur, als personal begrenzter ausgewiesen und damit in der narrativen Struktur auf seine normative Triftigkeit hin befragt wird. Nicht schon durch die Subjektivität der vergangenen Erfahrungen, erst durch die ästhetische Reflexion der »Subjektivität des Biographen«120 und des Autobiographen ist dem auktorialen Anspruch ein Korrektiv im Sinne der literarischen Moderne entgegengesetzt. Daß ein Nicht(mehr)betroffener über (s)einen Lebenslauf uneingeschränkt verfügen kann, diese Illusion darf in literarischen Lebensgeschichten dann als destruiert gelten, wenn die epische Distanz zwischen der

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Stanzet, Typische Formen des Romans, S. 3 lf. Siehe hierzu grundsätzlich Kraft, Um Schiller betrogen, S. 48-58: »Exkurs: Über auktoriales und personales Erzählen«. Stanzel, Typische Formen des Romans, S. 21. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 41. - So heißt es bei Kraft (Um Schiller betrogen) über das Verhältnis von auktorialem und personalem Erzählen: »Es sind dies die Extrempositionen, welche den Raum für die Möglichkeit des Erzählens ausmessen, oder auch: die Gegensätze, welche im Werk zur je spezifischen Vermittlung kommen.« (S. 50) Hildesheimer, Die Subjektivität des Biographen. Siehe hierzu auch Benjamin, Ausgraben und Erinnern, S. 400f. Zum Typus der »existentiellen und reflektierenden Autobiographie«, welcher im Gegensatz zur »erzählenden und kommenüerenden Autobiographie« der Tradition stehe, siehe auch Picard, Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich, S. 74 und S. 70. - Siehe dagegen den eingeschränkten Begriff von Autobiographie bei Tarot, Die Autobiographie, S. 33.

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Vergangenheit des Lebenslaufs und der Gegenwart des Auto-Biographen eingezogen wird: Durch die Thematisierung des Erinnemngs- und Erzählanlasses kann der irritierende Einbruch einer unbewältigten Vergangenheit in die Jetztzeit deutlich gemacht werden. Wo der gegenwärtige Prozeß des Erinnerns, Erzählens und Reflektierens zur Anschauung gelangt, kann gar die Kontinuität alter Problemkonstellationen an der Perspektivfigur selbst manifestiert werden. Solche Texte haben aber auch der Tatsache Rechnung zu tragen, daß auto-biographisches Erzählen konstitutiv auf Erinnerungen eigene wie fremde - angewiesen ist, diese jedoch nur als »Torsi«, »losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen«,121 existieren und erst durch die Tätigkeit des Erzählers zu einem Ganzen vereint werden. Wo literarische Lebensgeschichten diese zentrale Bedingung ihrer Konstruktion nicht mehr verschleiern, sondern offenlegen, ist die auktoriale Verfügbarkeit über das Geschehen in einem weiteren Punkt konterkariert. Wenn eigene Erinnerungen allein durch den Bewußtseinsstrom des Erinnerns zu einer autobiographischen Einheit verbunden oder nur noch als Bruchstücke aneinander gereiht sind, wenn die Erfahrungen anderer bloß noch als Dokumente zitiert oder gar zu einer biographischen Lebensgeschichte zusammengesetzt sind, die als eine unabgeschlossene Montage von Fragmenten kenntlich ist, dann wird gegen den auktorialen Anspruch des auto-biographischen Erzählens: »der Einzelne könne [...] individuelle Erfahrung zur Erkenntnis aller >stilisierenIntroversion< ins > Autobiographische^ zu Beginn der 60er Jahre; »eingestandene Subjektivität« erscheint als »die einzige Möglichkeit, wahrhaftig zu sein«. 6 Die Klassifizierung der beiden Bücher als Lebensgeschichten auf authentischer Grundlage kann sich dabei nicht nur auf die Klappentexte der Taschenbuchausgaben berufen, die das erste Werk als »Protokoll einer Selbstbefreiung«, das ζ weite als »Rechenschaftsbericht« mit gleichfalls »autobiographischem Charakter« vorstellen.7 Auch der Autor selbst hat in Gesprächen wiederholt bestätigt, beide Lebensgeschichten seien »aufgebaut aus autobiographischen Stoffen«, und sie deshalb seine »autobiographischen Romane«, seine »selbstbiographischen Bücher« genannt.8 Ist damit aber schon die Berechtigung gegeben, diese als »autobiographische Berichte« 9 einem Genre zu subsumieren, dessen Funktion wesentlich durch die »Dokumentierbarkeit des Berichteten« geprägt ist, weil der Autor sich »an das halten« muß, was sich realiter in seinem Leben ereignet hat«? 10 Ein großer Teil der Leser hat die Frage bejaht und »Abschied von den Eltern« als die »Jugendgeschichte«11 des Autors rezipiert, als dessen »Autobiographie bis zum Jahre 1940«, die durch »keine besondere Fiktionalität« geprägt sei. 12 4 5 6 7 8

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Bohrer, Die Tortur, S. 197. Arnold, »Ihre Stimmen leben in mir«, S. 40. Jenny, »Abschied von den Eltern«, S. 48. - Ähnlich siehe Wiegenstein, Peter Weiss, S. 151. Weiss, Fluchtpunkt, Klappentext. Weiss, in: Girnus/Mittenzwei, Gespräch mit Peter Weiss, in: Peter Weiss im Gespräch, S. 65; Weiss, in: Tailleur, Gespräch mit Peter Weiss über Deutschland, den Sozialismus und das Theater, in: Peter Weiss im Gespräch, S. 112. Ähnlich siehe Weiss an Meier, 25.7.1969, zitiert in: Meier, Peter Weiss, S. 33; Weiss im Gespräch mit Roos, Der Kampf um meine Existenz als Maler, S. 41. Demetz, Die süße Anarchie, S. 148. Ähnlich siehe Hoffmann, Exil der Versprengten, S. 476; Michelsen, Peter Weiss, S. 293; Pietzcker, Individualistische Befreiung als Kunstprinzip, S. 234; Arnold im Gespräch mit Weiss, »ein ständiges Auseinandersetzen mit den Fehlem und Mißgriffen«, S. 32; Rischbieter, Peter Weiss, S. 15. Aichinger, Selbstbiographie, S. 808 und S. 806. Hesse an Weiss, Mai 1961, S. 40. Hensing, Die Position von Peter Weiss in den Jahren 1947-1965 und der Prosatext »Der Schatten des Körpers des Kutschers«, S. 138 und S. 169. Mit den Grenzen psychoanalytischer und ideologiekritischer Interpretationsmethoden begründet Krause (Faschismus als Theorie und Erfahrung) ein handlungstheoretisches Untersuchungskonzept, das zwar auf die »Funktion« eines Werks »im Kontext literarischer Öffentlichkeit« (S. 219) zielt. Der Versuch, »die Handlung in dem Einzelwerk an die Handlung mit dem Einzelwerk« dadurch »zurückzubinden« (S. 220), daß die »in den Werken gestaltete Handlung des Ich-Erzählers als Handlungsintentionen des Autors in seiner Welt« (S. 238) gedeutet werden, offenbart allerdings ein methodologisches Selbstverständnis, das die Komplexität eines literarischen Textes auf Fabel und Perspektivfigur reduziert, diese Elemente aber dann mit Leben und Weltsicht des Autors identifiziert.

Die Aneignung der Texte »Abschied von den Eltern« und »Fluchtpunkt« als authentischer Lebensgeschichten ist jedoch auch dem Widerspruch des Autors ausgesetzt, wo dieser selbst die Differenz zwischen autobiographischem Stoff und ästhetischem Modell betont. So stellt er 1965 als Protagonisten des Romans nicht etwa die eigene Person vor, sondern spricht von einer »Ich-Figur«, von einer »zeittypischen Figur«.13 Und in einem Brief schränkt er 1968 den empirischen Tatsachengehalt der beiden Texte erheblich ein: »In beiden Büchern ist vor allem autobiographisches Material enthalten, dies jedoch frei bearbeitet und auch mit viel >Erfundenem< durchsetzt, oder >übeihöhtAbschiedTarnung< des Faktischen«, die der Leser in der Analyse des literarischen Textes als >Enttamung< rückgängig machen

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Weiss, in: Girnus/Mittenzwei, Gespräch mit Peter Weiss, S. 66; Weiss, in: Roloff, Ein Interview mit Peter Weiss, in: Peter Weiss im Gespräch, S. 38. Weiss an LUttmann, 5.11.1968, zitiert in: Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, Anmerkungen, S. 16, Anm. 66. Zum autobiographischen Stoff siehe Weiss, Nachbemerkung; Weiss im Gespräch mit Roos, Der Kampf um meine Existenz als Maler; Jungk, Begegnung ohne Ende. Zur biographischen Forschung siehe Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 113-116; MUssener, Max Barth alias Max B. alias Max Bernsdorf; Krause, Faschismus als Theorie und Erfahrung, S. 14-20 und S. 185f.; Gerlach, Leben im Exil; Richter, »Bis zum heuügen Tag habe ich Ihre Bücher bei mir getragen«; Krause, Peter Weiss in Schweden. Weiss, Notizbücher 1960-1971, S. 44-46. Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, Anmerkungen, S. 18, Anm. 6. Roloff, Ein Interview mit Peter Weiss, S. 38. Diese Fragen, im Gespräch auf »Fluchtpunkt« bezogen, können auch für »Abschied von den Eltern« gelten.

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könnte, 18 sondern folgen einem literarischen Verfahren, das seit der literarischen Moderne »Verfremdung« heißt. Dieses zielt auf ein neues »Sehen«, auf die deautomatisierte Wahrnehmung von Zusammenhängen, die dem Leser beim bloßen »Wiedererkennen« des autobiographischen Stoffs verdeckt blieben. 19 Nur wo im Text durch Konnotationen auf intersubjektiv verfügbare Sachverhalte angespielt wird - etwa auf die Inflation 1923 (87), die >Machtergreifiing< 1933 ( 7 1 - 7 3 ) , das Begräbnis Massariks 1937 (124) oder auf Hesses Roman »Der Steppenwolf« (118f.) - kann der Rezipient für Details eine Übereinstimmung von Fiktion und Realität erkennen. Für die Lebensgeschichte des Ich-Erzählers aber gilt diese Bedingung nicht. Auf den Lebenslauf des Autors spielt die Fabel dieser Erzählung deshalb nicht an, weil die Biographie von Peter Weiss weder 1961 noch heute im historischen Bewußtsein der Öffentlichkeit steht. Die Unbekanntheit des Lebenslaufs, seine fehlende zeitgeschichtliche Bedeutung auf der einen Seite und das Aussparen von autobiographischen und historischen Deiktika in der Lebensgeschichte auf der anderen Seite sind für die ästhetische Abstraktion vom autobiographischen Material verantwortlich, und dieses Verfahren darf bei der Interpretation des Textes nicht ignoriert werden. Gilt es doch »Abschied von den Eltern« als literarische Erzählung zu analysieren, in der nach den Äußerungen des Autors gerade deshalb »die Form so wichtig« ist, »weil es sehr subjektive Erfahrungen sind«, 20 die den Stoff der Lebensgeschichte ausmachen.

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So aber Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 116. - Lüttmann versucht »jene erfundenen Überhöhungen« tatsächlich in der Erzählung aufzuspüren (S. 175; siehe weiter Anmerkungen, S. 42, Anm. 74 und S. 65f., Anm. 20) - allerdings auf der Basis einer alltäglichen Wahrscheinlichkeit, die als poetologische Kategorie für die Fabel literarischer Texte weitgehend irrelevant ist. Sklovskij, Die Kunst ais Verfahren, S. 15. Wiegenstein (Peter Weiss, S. 151) behauptet dagegen, 4aß in den »beiden autobiographischen Büchern [...] die Elemente von Verfremdung immer seltener werden«. Weiss, in: Roloff, Ein Interview mit Peter Weiss, S. 38. In ihrer Kritik am »psychological reductionism«, der den literarischen Text auf eine Illustraüon von Weltanschauung und Biographie des Autors verkürzt, erklärt Vance (The Theme of Alienation in the Prose Works of Peter Weiss) alle Figuren in den Prosawerken von Weiss für »entirely fictional« (S. 4). Diese für »Abschied von den Eltern« richtige Einsicht führt bei Vance allerdings zu einer Beschreibung von nur textintemen Relationen und zu einer Ausgrenzung all der Fragestellungen, die auf den literarischen und historischen Kontext der Erzählung zielen. Solche Kritik kann auch für die Abhandlung Lüttmanns gelten, die mit den traditionellen Kategorien einer deskriptiven Poetik (Syntax, Wortwahl, Bildlichkeit) eine Vielzahl von Beobachtungen macht, diese jedoch nur selten mit textexternen Deutungsmustern verbindet (siehe etwa Lüttmann, Die Prosaweike von Peter Weiss, S. 162f., S. 169f„ S. 186, sowie Anmerkungen, S. 46f„ Anm. 89 und 91, S. 54f„ Anm. 115f.). Doch auch die >werkimmanenten< Ergebnisse leiden darunter, daß Lüttmann die Funktion von einzelnen Textelementen in ihrem besonderen Strukturzusammenhang nicht zu erfassen vermag: so werden gebräuchliche Motive nicht auf ihre innovative Bedeutsamkeit hin untersucht, sondern als »Schablonen« und »Stereotypen« (Anmerkungen, S. 29f., Anm. 43) kritisiert, sprachliche Abweichungen als »Inkorrektheiten« (Anmerkungen, S. 30, Anm. 45) oder »>mißglückte< Metaphern« (Anmerkungen, S. 38, Anm. 63) gerügt, Wendungen aus dem >normalen< Sprachgebrauch aber als »Ausdrucksklischees« (Anmerkungen, S. 31, Anm. 46), »Banalitäten« und »Gemeinplätze« (Anmerkungen, S. 32f., Anm. 51) getadelt.

Als Beispiel für einen autobiographisch angelegten Text, der die »Grenze der Autobiographie« aufgrund der Anwendung »neuer, nichtrealistischer Darstellungsmittel« um den »Preis des Selbstverlustes« überschreite, hat Müllerdas vorliegende Werk bezeichnet und es zu jenen »formalen Experimenten auf dem Niveau der modernen Erzählkunst« gerechnet, die »auf Kosten des Informationswertes der Autobiographie« gingen.21 Die Abstraktion vom autobiographischen Material ist hier mit dem innovativen Gebrauch autobiographischer Erzähl verfahren erklärt, ohne daß diese These durch eine Analyse belegt wäre. Schon 1961 sah Fink mit »Abschied von den Eltern« einen »entscheidenden Beweis« dafür erbracht, »daß die Möglichkeiten moderner Prosa bei weitem noch nicht erschöpft« seien, 22 doch auch hier blieb es bei der bloßen Behauptung. In welchem Umfang neben der Verfremdung des authentischen Materials durch die Tilgung autobiographischer und zeitgeschichtlicher Deiktika avancierte Erzählverfahren des modernen Romans die Ursache für die Abstraktion vom authentischen Stoff, für seine »Objektivierung« durch die Konstruktion eines literarischen Modells sind,23 ist durch eine Interpretation des Textes bis heute nicht gezeigt worden.24

3.2. Lebens-Geschichte: Auktoriales Erzählen und personales Erinnern In der Tradition des Surrealismus stehend, verweist der ursprünglich für die Erzählung vorgesehene Titel »Textur«25 auf die Malerei von Jean Dubuffet und seine »Art brut«. Der Terminus benennt dort die »formlose, aber synthetische Gestaltwerdung« einer subjektiv-emotionalen Empfindung, also »spontane, unreflektierte, aus dem Unbewußten sich nährende künstlerische Ausdnicksformen«, die - ehemals antikünstlerische Verfahren von Laien - als bewußte Stilelemente in die professionelle Kunstproduktion aufgenommen werden.26 Auf »Abschied von den Eltern« bezogen, kennzeichnet der für den Druck verworfene Titel die ungegliederte, >unkünstlerischeun-

21 Müller, Autobiographie und Roman, S. 356f. 22 23 24

Fink, Leben in Sprache verwandelt. Siehe dagegen Vornweg, Peter Weiss, S. 46f. Roloff, Ein Interview mit Peter Weiss, S. 38. Siehe hier die historisch unspezifischen Deutungen bei Fink, Leben in Sprache verwandelt; Krolow, Isolierte Existenz; Krolow, Porträt strenger Isoliertheit, S. 67; Weber, Peter Weiss, S . 2 2 7 ; Wuthenow, Erzähltes Erinnern, S. 58; Bohrer, Die Tortur, S. 190-197; Best, Peter Weiss, S. 38; Reich-Ranicki, Peter Weiss, S. 8.

25 Weiss, Notizbücher 1960-1971, S. 34. 26 Thomas, DuMont's kleines Sachwörterbuch zur Kunst des 20. Jahrhunderts, S. 220 und S. 20. 27 Siehe hierzu auch Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, Anmerkungen, S. 28, Anm. 39. 2 8 Michaelis, »Es ist eine Wunschautobiographie«, in: Peter Weiss im Gespräch, S. 220.

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künstlerischem Ausdruck innerer Erregungsprozesse zielten und so den Gegensatz von Unbewußtem und Bewußtem, von Traum und Wirklichkeit in einer »Surrealität«29 aufheben wollten. Dieses literarische Verfahren haben Interpreten im Blick, wenn sie von einer »großen Welle des Erinnems«30 und vom unwillkürlichen »Strom«31 der Erinnerungen sprechen: »Man hat das Gefühl einer Schleusenöffnung. Die rasende Strömung, in der alles, was Weiss nun schreibt, fortgerissen ist, der pausenlose, absatzlose Lebensbericht und Zeitbericht ist geradezu überwältigt von der Fülle des Wahrgenommenen.«32 In solchen Deutungen wird das Erzählen der Lebensgeschichte als ein einziger innerer Monolog verstanden, welcher dem »Stilprinzip der unendlichen Prosa«33 folge und »die Methode der surrealistischen Traumprotokolle [...] in das Pathos ewiger ästhetischer Muster« abfälsche.34 Solchen Erläuterungen scheint die Struktur des Textes zu entsprechen. Wiederholt wird die Neutralisierung des Verstandes als eine Bedingung für die Artikulation der traumähnlichen Erinnerungen betont (13f., 19, 25), sind das plötzliche Auftauchen und die Abfolge von »bildmäßigen Erfahrungen« (60) wie in Zeitlupenaufnahmen beschrieben (14,19f.), wird im inneren Monolog die Gegenwart der Vergangenheit wiedergegeben, der unkontrollierte Be wußtseinsstrom, den das Erinnern im Erzähler auslöst (17,132). Und dennoch ist jene »fließende Folge« von Bildern das Produkt einer nur »»scheinbar unorganisiertem Einbildungskraft«35, und die von umgangssprachlichen Elementen weitgehend freie Schriftsprache des Textes hat mit der automatischen Schreibweise der Surrealisten wenig gemein. Der endgültige Titel markiert nicht mehr wie noch »Textur« die Vielfalt des dargebotenen Materials, sondern die Einheit der Erzählung. »Abschied von den Eltern« benennt das lebensgeschichtliche Sujet des Textes und deutet als polysemantische Rahmenmetapher bereits auf dessen epische Struktur vorweg. Auf den Tod der Eltern, auf das Ende der Jugend und auf den Vorgang der Erinnerung verweisend, vermittelt der Titel nicht nur, wie Lüttmann erläutert, Anfang und Schluß der Geschichte mit dem sie konstituierenden Prozeß des Erzählens,36 sondern hebt auch die drei Zeitebenen hervor, welche der narrativen Organisation des Lebenslaufs zugrundeliegen: Kindheit und Jugend als Vergangenheit, den Tod der Eltern als Erinnerungsanlaß sowie die Gegenwart des Erzählens und Schreibens. Diese drei Teile der Fabel sind hier aber weder nach dem chronologischen Schema einer Autobiographie aneinandergereiht, noch werden sie wie im Bewußtseinsprotokoll in einer zufälligen Anordnung präsentiert. Durch die bewußte Kombination der Zeitebenen sind in der vorliegenden Erzählung Vergangenheit und Gegenwart vielmehr ständig wechselseitig aufeinander bezogen: das auktoriale Erzählen der Lebens29

Breton, Erstes Manifest des Surrealismus, S. 26 und S. 18. Wuthenow, Erzähltes Erinnern, S. 65. 31 Jenny, »Abschied von den Eltern«, S. 48. 32 Krolow, Porträt strenger Isoliertheit, S. 64. 33 Bienek, Immer noch Abschied von den Eltern. 34 Bohrer, Die Tortur, S. 200. Zur Kritik an Bohrers ausschließlich surrealistischer Deutung des Werks von Peter Weiss siehe Vornweg, Peter Weiss, S. 51-55, und Krause, Faschismus als Theorie und Erfahrung, S. 124-127. 35 Karnick, Peter Weiss" dramatische Collagen, S. 218f. - Siehe hierzu auch Nolte, Peter Weiss, S. 309; Vormweg, Peter Weiss, S. 53f.; Krause, Faschismus als Theorie und Erfahrung, S. 127. 36 Siehe Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 123. 30

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geschichte ist als peisonales Erinnern vermittelt.37 Zwar bleiben die Erinnerungen an der Chronologie der Ereignisse orientiert und insofern dem traditionellen autobiographischen Verfahren aller Memoiren verpflichtet. Doch indem die Erzählung diese Schildeningen immer wieder an das Erinnerungsvermögen, die Empfindungen und Reflexionen des Ich-Erzählers in der Gegenwart zurückbindet, kombiniert sie zwei literarische Verfahren, zwischen denen eine grundsätzliche Spannung besteht: das distanzierte Erzählen der Lebensgeschichte und den inneren Monolog. Die »Verinnerung des Erzählens«38 als ein Grundzug des modernen Romans prägt auch »Abschied von den Eltern«, wenn diese Erzählung die für den inneren Monolog konstitutive »Fiktion des >Sich-selbst-Erzählenszero-point of the narrative distance< sich die fiktive Simultaneität von Erleben und Erzählen verwirklicht, wo also die gänzlich verinnerte Ich-Erzählung und die szenisch verinnerte personale Erzählung zusammenfallen«.39 Das Erzählen schwankt hier zwischen der souveränen Darstellung eines Lebenslaufs und dem Protokollieren von unmittelbaren Erinnerungen. Es erweckt den »Schein eines in der subjektiven Erfahrungseinheit, dem >Erlebnisstrom< gründenden Kontinuums« und >schwört< ihm doch durch die Konstruktion einer Lebensgeschichte >abtiefer Entfremdung< beim »fast gleichzeitigen Tod« der Eltern als Erinnerungsanlaß und der »Trauer« über die vergangene »Kindheit und Jugend« in einer Familie, die der »gänzlich mißglückte Versuch von Zusammenleben« gewesen ist (7), entspricht die bis in die Jetztzeit wirksame Unfähigkeit der Perspektivfigur, die Bedeutung der Eltern für die eigene Lebensgeschichte zu bestimmen. Zwar ist die ganze Erzählung eine weitere Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit diesem Problemkomplex, ein erneutes Bemühen, Klarheit und Distanz zu erlangen; doch der Anfang des Textes hebt mit dem Bericht von der Reaktion der Hauptfigur auf den Tod des Vaters (7-13) zunächst das Gegenteil hervor: der Protagonist steht »beklommen« (7) und »fremd« (10) vor dem Leichnam seines Vaters, der »jetzt verloren« (9), dessen »Leben völlig abgeschlossen«, »zu Nichts zerflossen« (8) und nur im »Wissen um die Existenz« (10) aufbewahrt ist. Obwohl das Präteritum einen zeitlichen Abstand signalisiert, ist die Distanz des Erzählers zum erzählten Geschehen gering: das Erinnerungsprotokoll führt keine Deutungsmuster ein, die zu der erlebten Betroffenheit, zu dem Gefühl des »Zuspät« (7), im Gegensatz stünden, und auch die Schilderung der Vorgänge im Elternhaus, ihre Darstellung als »endgültige Auflösung der Familie«, als »Schändung und Zerstampfung« (11; siehe auch 13), entspricht dieser Empfindung. Erzählt wird von einem Ereignis, dessen Folgen gegenwärtig unverändert Wirkung zeigen, von einem Zustand, der »ein jedes« der Geschwister »in sein eigenes Dasein« (7) getrieben hat Während der Tod der Eltern als Erinnerungsanlaß die Betroffenheit der Perspektivfigur bis in die Erzählgegenwart betont, sind die durch Konfrontation mit dem Elternhaus hervorgerufenen Erinnerungen in einem weitgehend chronologisch angelegten Bericht organisiert, der den ordnenden Zugriff des distanzierten Ich-Erzählers deutlich werden läßL Ein wesentliches Strukturmoment dieses auktorialen Blickpunkts besteht in der Vergegenwärtigung der damaligen Betroffenheit des Kindes und Jugendlichen. Seine deutlichste Ausprägung findet dieses Verfahren, wo die begrenzte Sicht der Hauptfigur zum früheren Zeitpunkt des Erlebens im szenischen Präsens veranschaulicht und in Höhepunkten vom Kontinuum des Erzählerberichts abgesetzt wird. Nach der Nähe zum inneren Monolog lassen sich hier drei Arten der Darstellung unterscheiden: 1. Bilder von eigenen Erlebnissen oder von bedeutsamen »Szenen in Büchern« (67) werden genau dann beschrieben, wenn sie wie Torsi in der Erinnerung auftauchen. Das Erzählen des Vergangenen ist hier als ein innerer Monolog des sich Erinnernden vermittelt: »Das erste Haus weist große blinde Flecken auf, ich kann den Weg durch dieses Haus nicht finden, ahne nur die Stufen einer Treppe, ahne den Winkel eines Fußbodens, auf dem ich fettig abgegriffene, rotbraune Holzhäuschen aufbaue und grüne Schanzen, ahne einen kleinen Lastwagen, mit Modellkisten gefüllt, und der Gedanke an diese Kisten verursacht ein dickes, schweres Gefühl im Gaumen« (14; siehe weiter 14f., 19f., 25,61, 62f„ 65,67f.). 2. Der Erzähler gibt damalige Ereignisse im Präsens wieder, ohne die konstitutive Funktion der Erinnerung eigens zu betonen. Das Erzählen hat in diesem Fall mit dem inneren Monolog wenig gemein; es vergegenwärtigt den eingeschränkten Wahmehmungshorizont des Protagonisten vornehmlich durch den unkommentierten Bericht seiner früheren Handlungen. So heißt es etwa über die orale Phase des Kindes: »Ich liege auf der Erde ausgestreckt unter den Büschen, fühle die trockene Erde unter den Händen, 52

nehme die Erde in den Mund, lasse die Erde zwischen den Zähnen knirschen, befühle die weißen, runden Kieselsteine, nehme die Kieselsteine in den Mund, fühle ihre Rundheit und Sonnenwärme an der Zunge.« (16; siehe auch 86f., 92f„ 124f.) 3. Die Perspektive des erzählten Ichs veranschaulicht das erzählende Ich durch die Konstruktion eines inneren Monologs, durch den die damaligen unausgesprochenen Gefühle und Gedanken ohne Inquit-Formel in den Normaltyp des epischen Berichts eingeführt sind: »bald, bald, nur noch kurze Zeit, ich gehöre dir, muß nur erst lesen und schreiben lernen, muß nur schnell durch die Schuljahre hindurch, bald, bald bin ich bei dir, und sehe dein verzücktes Lächeln wieder, und höre deinen wilden Ruf« (25; siehe auch 70f. und 131f.). Die Vergegenwärtigung von vergangener Betroffenheit und damaligem Werthorizont ist aber auch im szenischen Präteritum möglich. Gefühle, Gedanken und Erlebnisse aus Kindheit und Jugend werden nicht ins Präsens überführt; gleichwohl ist die frühere Perspektive ohne distanzierenden auktorialen Kommentar vermittelt: 4. So kann in der freien indirekten Gedanken wiedergabe, einer Erzählform, die zwischen innerem Monolog und erlebter Rede steht, das Selbstverständnis des Betroffenen zum Ausdruck kommen: »Wie ein böser Geist war ich in dieses Heim gekommen, in einer Blechbüchse liegend, von meiner Mutter getragen, empfangen von wilden Kesselschlägen, vom beschwörenden Geschrei meiner Stiefbrüder. Am Rande eines Teiches hatte meine Mutter mich gefunden, zwischen Schilf und Störchen.« (14; siehe auch 134f.) 5. Die damalige Unwissenheit des Protagonisten wird schließlich noch in der nur temporalen Reihung von Erlebnissen und durch den Verzicht auf nachträgliche Erläuterungen konkretisiert: »Einmal kam ein Mann über unser Dach geklettert, es waren Unruhen in den Straßen, und Schüsse krachten, und meine Brüder stürmten durch das Haus und riefen, jemand sei auf unser Dach geflohen, und von der Straße her warfen sich Männer in unser Haus, und die Männer hielten Gewehre in den Händen, und alle liefen in den Garten und ließen Taschenlampen aufflammen und schössen hinauf zum Dach, und vom Dach fiel der Getroffene zu den Männern in den Garten hinab.« (15f.) Diese Technik des Erzählens, die durch die Einfügung von direkten Reden noch an Anschaulichkeit gewinnen kann (siehe etwa 56-58), ist in der vorliegenden Erzählung besonders häufig eingesetzt. Solche Bilder, in denen die damalige Betroffenheit der Hauptfigur mit der Illusion unmittelbaren Erlebens in Erinnerung gerufen wird, sind allerdings kontinuierlich überlagert von distanzierenden Elementen, welche die auktoriale Grundstruktur der Lebensgeschichte deutlich machen. Zwar ist im Vergleich mit der anonymen auktorialen Erzählinstanz eines Erzählers die Perspektive eingeschränkt, wo der Ich-Erzähler zu einer Figur personalisiert ist, die nicht das Innenleben anderer Figuren kennt, sondern nur das Geschehen des eigenen Lebenslaufs erzählen kann. Doch trotz dieser Subjektivierung des Blickpunkts läßt die gegenwärtige Distanz des Ich-Erzählers zu seinen Erlebnissen in Kindheit und Jugend noch immer die Tradition auktorialen Erzählens erkennen: 1. Wiederholt ist mit dem zeitlichen Abstand die Differenz zwischen dem Bewußtsein des erzählten Ichs und des erzählenden Ichs betont, somit eine entscheidende Voraussetzung für die autobiographische Darstellung einer Lebensgeschichte reflektiert: »ich kann sie jetzt mit durchdachten Worten schildern, ich kann sie zergliedern und vor mir ausbreiten, doch als ich sie erlebte, da gab es kein Durchdenken und kein Zergliedern, 53

da gab es keine überblickende Vernunft« (28f; siehe auch 53, 61, 68, 72, 74,104,116, 120,143). 2. Von seinem auktorialen Blickpunkt aus vermag der Ich-Erzähler die Charaktere der Handelnden zu beschreiben. Er skizziert die Eigenschaften von Figuren und verdeutlicht dadurch, parallel zur dargestellten Handlung, die Konfliktkonstellation, in der sich der Protagonist damals befunden hat: »Um die Mutter war alles unbeständig, kochend, wirbelnd. Doch neben ihr stand Auguste, fest umrissen, mild und bleibend. [...] In der Mutter herrschte das Wilde und Unbändige, in Auguste das Duldende, Demütige.« (18; siehe auch 48, 84, 87-89,109,113f.) Der zeitliche Abstand ermöglicht es der Perspektivfigur weiterhin, Ereignissen eine positive Bedeutung zuzuweisen, die sie früher so noch gar nicht haben konnten. Erst im Bewußtsein der erreichten Identität werden Erlebnisse aus Kindheit und Jugend zu Empfindungen der »eigenen Existenz« (19), zur »Vorahnung einer Berufung« und »Sehnsucht nach einer selbständigen Leistung« (22), zum »ekstatischen Gefühl von Freiheit« (24), zur Erkenntnis, das »Leben dem Ausdruck dieser Sprengkraft widmen« zu müssen (69). 3. Die »überblickende Vernunft« (29) des Ich-Erzählers zeigt sich vor allem in der Verknüpfung von Erlebnissen zu den »Stadien« seiner »Entwicklung« (61). Die nur von wenigen thematischen Rückblicken (61-68,82-92) und Vorgriffen (25-27,28,81,134) unterbrochene Chronologie der damaligen Ereignisse wird im epischen Bericht der Perspektivfigur durch explizit hervorgehobene Höhepunkte und Phasen in einen resultativen Zusammenhang gebracht. Wenn vom »Anfang der Panik« (29), aber auch von einer »Ahnung körperlicher Freiheit« (48) die Rede ist, vom »Anfang von der Auflösung« der Familie (81), aber auch vom Beginn der »Versuche«, sich »aus« der »Vergangenheit zu befreien« (82), vom Wechsel zwischen »Auftrieb« und »Sinken« (137), von der »Wartezeit« (143) und schließlich vom endgültigen »Aufbruch« (144) als »Abschied von den Eltern« und »Suche nach einem eigenen Leben« (146), dann deutet der Ich-Erzähler durch eine Kette solcher Kommentare die Wirmisse seines Lebenslaufs exemplarisch als das sinnvolle Ganze einer Entwicklung, an deren Ende der Protagonist trotz aller bisherigen Widerstände seinen Lebensplan zu verwirklichen beginnt. Die auktoriale Distanz zu den früheren Erlebnissen ist indes wieder eingeschränkt, wo dem Ich-Erzähler beim Prozeß des Erinnerns die noch immer gegenwärtige personale Betroffenheit von den damaligen Erfahrungen bewußt wird und er damit auch einen Einblick in seine jetzige Situation gibt: Gemäß dem psychoanalytischen Theorem, nach dem ein Individuum durch Ereignisse der frühen Kindheit in den »Grundzügen schon fertiggeformt« (13) ist, bleibt auch der Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart durch die Kontinuität eines Grundmusters im psychischen Apparat vermittelt.41 Dieses wird zwar auch durch identitätsförderliche Empfindungen wie »Freude« (50) und »Liebe« (132) geprägt; doch noch immer sind es identitätshinderliche Gefühls- und Charakterstrukturen, die der Ich-Erzähler beim gegenwärtigen Erinnern an sich wahrnimmt. Weil auch nach dem Tod der Eltern die Auseinandersetzung um sie nicht abgeschlossen ist und das »Wesen dieser beiden Portalfiguren« (7) noch immer »undurchsichtig« (39) bleibt, bekennt die Perspektivfigur ihre aktuelle Betroffenheit durch die Vergangenheit ein: »Und die Ver41

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Siehe hierzu etwa: Psychoanalyse und Erziehungspraxis, hg. von Cremerius, S. 193-245: »Die Bedeutung der ersten Lebensjahre für die gesunde seelische Entwicklung des Menschen«.

sperrtheit habe ich in mir übernommen. In mir übernommen habe ich das Mißverständnis meiner Eltern. Die Befangenheit meiner Eltern wurde zu meiner Befangenheit. Ihre Stimmen leben in mir.« (83) Wo die Eltern im psychischen Apparat >gegenwärtig< sind, ist auch der erwachsene Sohn noch immer auf der Suche nach einer nicht erreichten Identität: »Das Abgeschiedene und Geheimnisvolle, das Verstecktsein mit mir selbst, mit meinen Spielen, das ist noch vorhanden und regt sich in dieser Stunde, es ist zu verspüren jedesmal wenn ich in meine Arbeit eindringe.« (16) Noch immer erlebt der Protagonist »die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein und die blinde Auflehnung aus jener Zeit« (14); »bis in den heutigen Tag dringt die Furcht, daß alles gleich zuende sein könne« (17; siehe auch 114). Selbst noch kurz bevor die Perspektivfigur am Schluß den »Aufbruch« (144) als »Suche nach dem eigenen Leben« (146) wiedergibt, zeigt ein »Schrei«, der sich »aus dieser Zeit« und aus dem Sich-Erinnernden (»aus mir«) heraus »würgt« (144), daß mit dem damaligen »Abschied von den Eltern« die Betroffenheit durch den bisherigen Lebenslauf und damit auch die erzählte Geschichte noch kein befriedigendes Ende gefunden hat. Zwar lassen sich die »Veränderungen« (119) zwischen der früheren und der gegenwärtigen Situation des Protagonisten deutlich beschreiben, doch dieser Werthorizont, welcher am Schluß der Ausführungen erläutert werden soll, bleibt trotz aller Distanz von den negativen Erfahrungen der Vergangenheit geprägt. Auch im Erinnern und im Erzählen der Lebensgeschichte gelingt der »Abschied von den Eltern« nur partiell.

3.3. Autorität und Familie: Erziehung zur Unterordnung Unzeitgemäß scheint die Erzählung »Abschied von den Eltern« zu sein, wenn sie 1961 das Sujet des Familienkonflikts aufgreift, obwohl dieses doch in den 50er Jahren angeblich eine sinkende gesellschaftliche Relevanz besitzt. So stellte Schelsky in seiner Untersuchung über die »skeptische Generation« 1957 eine »Entwicklung von einer patriarchalischen zur partnerschaftlich-gleichberechtigten Familienverfassung auch in der deutschen Gesellschaft« fest und behauptete, »daß eine Protesthaltung gegenüber unangemessenen überspannten elterlichen Autoritätsansprüchen oder eine Autoritätshörigkeit in der Familie nicht mehr in irgendwie belangvollem Ausmaße erzeugt« werde, »so daß die auf diesen Voraussetzungen beruhenden sozialpsychologischen und soziologischen Vermutungen für das soziale Verhalten der deutschen Jugend weithin gegenstandslos geworden« seien. 42 Die Erzählung beharrt dennoch auf der Aktualität des Konflikts von Eltern und Kind, und eine solche Sujetkonstruktion hat ihren Grund darin, daß die zeitgenössische Vorstellung, nach der »für die Jugend [...] die Konfliktfront ihres familiären Lebens nicht mehr zwischen jung und alt in der Familie« liege, wohl nur ein »Leitbild« 43 war und nicht für die Handlungen der >Leiter< und >Geleiteten< galt. Denn die Generation der Eltern war j a »in ihren Wertgefühlen zu tief erschüttert«, um »zu einer wertkritischen Auseinandersetzung wirklich fähig zu sein«, 44 und die Jugend den »Strukturen und Anforderungen der modernen Gesellschaft gegenüber in einem Maße angepaßt

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Schelsky, Die skeptische Generation, S. 122 und S. 124. Schelsky, Die skeptische Generaüon, S. 129 und S. 122f. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 261. 55

[...] wie keine Jugendgeneration vorher«. 45 Weil der »Abschied von den Eltern«, die aktive Auseinandersetzung mit den in Vergangenheit und Gegenwart wirksamen Normen der Erwachsenen, von jener skeptischen Generation gar nicht mehr als Notwendigkeit empfunden wurde, blieb das Konzept der partnerschaftlichen Familie auch in den 50er Jahren ein schönes Ideal, eine Projektion, welcher in der historischen Realität wenig entsprach, wie die Entstehung der Protestbewegung in den 60er Jahren zeigte. Gegen die gesellschaftliche Verdrängung der Tatsache, daß auch die Jugend, welche unmittelbar nach 1945 aufwuchs, noch immer Normen der Älteren bruchlos verinnerlicht hatte, erzählt der vorliegende Text kritisch die Lebensgeschichte eines Individuums, das durch seine familiäre Sozialisation lange daran gehindert wird, die eigenen Lebenspläne zu verwirklichen, und erinnert damit an die Kontinuität sozialpsychologischer Mechanismen, die sich vor und nach 1933, vor und nach 1945 auswirkten und nicht schon durch die militärische Niederlage des Faschismus und die Institutionalisierung einer parlamentarischen Demokratie an Geltung verloren. Der Enthüllung von autoritären Strukturen in der bürgerlichen Erziehung liegt hier eine Reihe psychoanalytischer Erklärungsmuster zugrunde, die eine wesentliche Bedeutungsschicht der vorliegenden Erzählung konstituieren. Doch sie dienen hier nicht etwa der Illustration einer ungeschichtlichen Anthropologie, sondern zielen auf historische Aufklärung, indem sie zur Erkenntnis von Lebensund Zeitgeschichte eingesetzt werden und an den Modus der Selbstreflexion gebunden bleiben. Damit erfüllen die psychoanalytischen Deutungsmuster dieser Erzählung aber jene Funktion, die der Psychoanalyse auch im antiautoritären Denkhorizont zukommt: von Marcuses Abhandlung »Triebstruktur und Gesellschaft« (deutsch 1957) bis hin zu den Sammelbänden »Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol« (1970/1972) wurden die Erkenntnisse Freuds, Reichs und anderer damals als Beiträge zu einer »Kritischen Theorie des Subjekts« angeeignet. 46 In diesen antiautoritären Rahmen fügt sich bereits 1961 »Abschied von den Eltern« ein, wenn dort psychoanalytische Theoreme, die in der Bundesrepublik bis in die 60er Jahre weitgehend unbekannt gewesen sind, zur genetischen Erklärung eines autoritären Bildungsprozesses dienen, der für eine bürgerliche Familie selbstverständlich gewesen ist und der doch zur Anfälligkeit für den Faschismus geführt hat. 47 Von den frühesten Erlebnissen der Kindheit an, die durch die infantile Amnesie größtenteils verdeckt sind und dem Ich-Erzähler nur noch selten bewußt werden (13-15), entwickelt sich die Konfliktkonstellation des Protagonisten als eine doppelte: er leidet nicht nur an den äußeren Anforderungen der Eltern, denen er sich unterordnen soll, sondern auch an den verinnerlichten Normen, die im Gewissen, im Über-Ich, als Teil der eigenen Pereon erfahren werden. Für die Herausbildung dieses Konflikts ist die Mutter als erste Bezugsperson von entscheidender Bedeutung und hier besonders ihre Ambiva-

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Schelsky, Die skeptische Generation, S. 77. Siehe hierzu Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft; Marxismus, Psychoanalyse, Sexpol, 2 Bde., hg. von Gente, bes. Bd. 2, S. 50-159: »Kritische Theorie des Subjekts«. Zu den im folgenden gebrauchten Begriffen - infantile Amnesie, Ambivalenz, Lust- und Realitätsprinzip, Eros und Thanatos, Kastrationskomplex, Sadomasochismus, Trauma, Ungeschehenmachen, Trauer und Melancholie - siehe grundsätzlich Laplanche/Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, sowie Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft.

lenz, ihr fortwährendes Schwanken zwischen Ab- und Zuneigung, zwischen der Rolle einer »Bedroherin« und einer »Retterin« (48; siehe auch 17f., 65f., 86f.). Selbst von einer autoritären Erziehung geprägt, die Züchtigung für Liebe hält (38f.), erscheint sie als eine gottähnliche Macht, die das Kind mit seinem Namen zur Erfüllung des Realitätsprinzips ruft (17) und diese zugleich mit dem »Auge das alles« sieht (66) überwacht.48 Eine Befriedigung des Lustprinzips aber wird verhindert, wie die Sexualerziehung zeigt. Reinlichkeit wird durch bloßen Zwang angestrebt (IS) und das Ausleben frühkindlicher autoerotischer Bedürfnisse unterbunden (43); das Erlebnis von Nacktheit als »körperlicher Freiheit« ist eine einmalige Ausnahme (48); sexuelle >Aufklärung< am Beginn der Pubertät bedeutet nur »Schmerz und Erniedrigung«, kein Gespräch über legitime Bedürfnisse, sondern deren Verdrängung (51). Leben, das heißt für die Eltern - als Unternehmer sind sie die Vertreter bürgerlichen Denkens - nicht die Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse, sondern zweckrationales Handeln unter dem ökonomischen Realitätsprinzip, und dieses versuchen sie auch ihrem Sohn ständig einzuhämmern, um ihn zur Nachahmung in der eigenen Firma zu bewegen: »leben heißt arbeiten, arbeiten und arbeiten und immer wieder arbeiten« (56). »Abschied von den Eltern« ist indes nicht nur die Geschichte autoritärer Eltern, die ihren Sohn durch verbale (56) und körperliche Gewalt (88f.) zur Übernahme ihrer bürgerlichen Normen veranlassen wollen; die Erzählung demonstriert auch die Wirkungen einer derartigen Erziehung: die Konflikte, welche sich aus der Verinnerlichung solch repressiver Wertvorstellungen für den >Zögling< ergeben. Dieser hat nicht nur das Leistungsprinzip der Eltern übernommen (126), sondern auch deren Unfähigkeit, eigene Bedürfnisse zu artikulieren (83). Weil die persönlichen Wünsche und die Anforderungen der Eltern sich aber widersprechen, führt der Betroffene die Auseinandersetzung nur in seinem Innern: »Ich wütete gegen mich selbst, denn nur in mir selbst waren noch Angriffsflächen« (82). Hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis nach Anerkennung durch seine Erzieher (85,104f., 115f.) und dem Bewußtsein der »Unfähigkeit« (83; siehe auch 104, 123), reproduziert der Sohn die Ambivalenz seiner Mutter als Labilität des eigenen Selbstwertgefühls.49 Das Bewußtsein, den elterlichen Anforderungen seines Über-Ichs nicht zu genügen, dominiert; Erfahrungen von Ich-Identität beschränken sich in der Kindheit auf Augenblicke (19, 22, 24); die »ungestillten Wünsche« (47), jene Bedürfnisse, die Freud mit den Begriffen des Es und der Triebe bezeichnet, können sich an der Oberfläche nur indirekt artikulieren: im Nacht- (43-47, 145) und im Tagtraum (33f„ 41,42f„ 51,54, 92-98,100,116f„ 134f.). Ein großer Teü der Imaginationen läßt dabei eine psychische Struktur erkennen, in welcher die Dialektik von Eros und Thanatos, von Lebens- und Todestrieben, zerstört und zu einer Einheit synchronisiert ist. Dies zeigt sich etwa in den destruktiven Omnipotenzphantasien des Kindes, in denen der eigene Tod als ein Mittel zur Ausübung von Macht (33f.) und »Rache« (62) vorgestellt oder die Suche nach »Befreiung« durch »Tod und Zerstörung« (43; siehe auch 67) anderer inszeniert wird. Von der frühen Kindheit bis zum Ende der Jugend erscheint der Tod dem

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Zum gehäuften Vorkommen von traumatischen Situationen in der frühen Kindheit siehe Brenner, Grundzüge der Psychoanalyse, S. 74-80. Siehe hierzu Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 244-249: »Die Art der Gefühlsbeziehung zu den Eltern als Grundlage des eigenen Wertgefühls«.

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Protagonisten als Aufbruch in einen lustvollen Ausgangszustand des Lebens: Das verlassene Kind erhofft sich vom Versuch, ins Wasser zu gehen, eine Rückkehr in den »Leib« (86) der Mutter. Ebenso manifestiert die Tatsache, daß noch dem jungen Erwachsenen beim imaginativen Nachvollzug des Selbstmords »der Tod zur Wollust« (134) wird, die gleiche Verbindung von Eros und Thanatos, durch welche ein Individuum im Tod das Leben sucht und es doch nur verliert.50 Neben der gesteigerten Todessehnsucht zeigt sich das gestörte Verhältnis von Eros und Thanatos besonders auffällig in der Unfähigkeit des Protagonisten zur Liebe. Die Tabuisierung der Sexualität durch die Eltern führt zu einem ambivalenten Verhältnis des Sohnes zu seinem Geschlecht: Es ist da und hat doch nicht zu existieren, wie Kastrationsängste in der Kindheit (62,65), sadomasochistische Phantasien und homoerotische Spiele in der Pubertät (51 f.) verdeutlichen. Eine Gespaltenheit läßt sich in dieser Phase auch daran erkennen, daß die Neubelebung der sexuellen Neigungen nach der Latenzperiode zu keiner Abkehr von den frühkindlichen ödipalen Bedürfnissen (65f., 86f.) führt; statt sich von der Liebe zu Mutter oder Schwester zu lösen,51 erfüllt der Jugendliche sich seine Wünsche nach Zärtlichkeit zunächst auf inzestuöse Weise (69f.). Den Todeskampf seiner Schwester Margit erlebt der Protagonist vor der Folie eigener Erinnerungen deshalb als den Moment einer ekstatischen Symbiose von Eros und Thanatos, von »Leben und Tod« (76). In diesem Bild nimmt der Tod als »unheimlicher Geliebter« (77) die Stelle des Bruders ein und setzt sich als Rivale so überaus wirkungsvoll durch, daß er jede weitere sexuelle Begegnung des Protagonisten mit anderen Geliebten für lange Zeit verhindert (siehe etwa 100). Weil der Bruder von der toten Schwester nicht lassen kann, sie gar »zum Leben erwecken« will, also in Melancholie befangen, unfähig zur Trauer und zur Gegenwartsbewältigung ist, setzt er jede Geliebte mit der toten Schwester gleich und muß doch immer wieder die Zerstörung dieser Vorstellung erfahren (129f.). Solche Unfähigkeit zur Liebe ist indes keine »pathologische Privatsache« des Autors,52 sondern das signifikante Merkmal einer literarischen Figur, welches die Auswirkungen einer autoritären Erziehung am individuellen Einzelfall enthüllt. Die sexuelle Hemmung des Protagonisten wird nicht etwa als das abweichende Verhalten eines anormalen Charakters ausgegeben, sondern als das negative Resultat eines Entwicklungsprozesses erklärt, der wesentlich von bürgerlichen Normen, der Abwertung von Sexualität zugunsten einer Aufwertung des Leistungsprinzips, geprägt ist. Indem für eine solche Charakterbildung als zentrale Instanz die Familie verantwortlich gemacht wird, die ja gemeinhin als die Zelle der bürgerlichen Gesellschaft gilt, leistet die vorliegende Erzählung eine psychoanalytisch orientierte Kritik an der autoritären Erziehung in der bürgerlichen Familie: Weil auf dieser Bedeutungsebene die besonderen zeitgeschichtlichen Zusammenhänge zugunsten derjenigen psychischen Mechanismen zurücktreten, die auch noch nach 1945 die Erziehung prägten, als »der Familienzusammenhang als letzter Stabilitätsrest und sozialer Halt in einer offenkundig sich auflösenden Welt empfunden« wurde,53 stellt

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Siehe hierzu auch Lüttmann, Die Prosawerke von Peter Weiss, S. 162-164 und S. 169f. Siehe hierzu allgemein Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 239-241: »Verlängerung oder innere Abwehr der Pubertät«. » So Hesse an Weiss, Mai 1961, S. 41. 53 Schelsky, Die skeptische Generation, S. 107. 51

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»Abschied von den Eltern« das Modell einer bürgerlichen Sozialisation dar, in der nicht Vertrauen, Fürsorge und Liebe dominieren, sondern Autorität und Familie untrennbar miteinander verbunden sind.

3.4. Faschismus als kollektiver Aufbruch - aber in den Tod Mit dem Zusammenhang von Autorität und Familie greift diese Lebensgeschichte 1961 eine Problematik auf, welche für die Protestbewegung der 60er Jahre eine große Bedeutung besaß und der sich die frühe Kritische Theorie bereits in den 30er Jahren gestellt hatte. Unter dem Eindruck des in Deutschland sich etablierenden Faschismus wurden in den »Studien über Autorität und Familie« (1936) Erkenntnisse formuliert, die auch der bisher beschriebenen Bedeutungsschicht der Erzählung inhärent sind. So erläuterte Max Horkheimer in seiner sozialphilosophischen Einleitung die Familie »als eine der wichtigsten erzieherischen Agenturen« zur »Reproduktion der menschlichen Charaktere, wie sie das gesellschaftliche Leben erfordert«: für eine Erziehung der Kinder zu »künftigen Erben« ist die »Unterordnung unter den kategorischen Imperativ der Pflicht« vonnöten. Wo das Kind diesem Anspruch nicht nachzukommen vermag, wirkt ständig ein »zwanghaftes Schuldgefühl als andauernde Opferbereitschaft«, als »masochistische Neigung zur Preisgabe des Willens«, und fordert so eine Haltung ein, die nicht nur die bürgerliche Gesellschaft absichert, sondern die auch im autoritären Staat radikalisiert werden kann.34 Im sozialpsychologischen Teil der Untersuchung konkretisierte Erich Fromm solche Theoreme am Typus des »autoritär-masochistischen Charakters«, der einer Gesellschaft entspricht, die sowohl in ihrer bürgerlichen wie in ihrer autoritären Gestalt »den Sadomasochismus als die vorherrschende Triebstruktur erzeugt«. Die autoritäre Form bietet den sadistischen und masochistischen Neigungen allerdings größere Befriedigung: durch die Diskriminierung von Minderheiten und durch die Unterordnung unter die Macht eines Führers.55 Während diese Studien ihre Aussagen noch nicht am historisch-empirischen Material belegen konnten - selbst Adornos bekannte Untersuchung »The Authoritarian Personality« (1950) entwickelte ihre Thesen anhand von Umfragen, die in den USA gemacht worden waren -, 3 6 ist in der Erzählung von Peter Weiss das autobiographische Material eines Individuums verarbeitet, dessen Generation nicht nur die Jugend des >Dritten ReichsMachtergreifung< 1933 (71 f.), Diskriminierung der Juden (73f.) und Exil (81), den spanischen Bürgerkrieg (113), den anwachsenden »Druck der

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Horkheimer, Autorität und Familie, S. 330, S. 356, S. 331, S. 341f. Siehe hierzu Fromm, Studien über Autorität und Familie, S. 168-187: »Der autoritär-masochistische Charakter«; dort auch das zweite Zitat (S. 172). Siehe Adorno, Studien zum autoritären Charakter.

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Außenwelt« (132/137) in der Zeit vor 1939, schließlich »Krieg« (143) und »unfaßbare Geschehnisse« (144) umgreift. Diese historische Entwicklung zum deutschen Faschismus und zum Zweiten Weltkrieg bildet hier allerdings nicht nur den Hintergrund für die erzählte Biographie. Die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 werden mit der autoritären Erziehung des Kindes durch die bürgerliche Familie vielmehr in einen sozialpsychologischen Erklärungszusammenhang gebracht. Im Lebenslauf des Protagonisten vor dem >Dritten Reich< ist auch die Sozialisation einer ganzen Generation aufgehoben: die Geschichte derjenigen »politischen Jugend« zwischen 1925 und 1945, die ihre Freiheit nicht mehr, wie noch die »Jugendbewegung« bis in die 20er Jahre, in isolierten >Bünden< gegen Familie und Gesellschaft suchte, sondern in politischen Massenbewegungen die Veränderung der Gesellschaft anstrebte und sich, auch als Folge einer autoritären Erziehung, dem Faschismus unterwarf.57 Trotz der abgebildeten Schwächung von elterlicher und besonders väterlicher Autorität (88) als einer Wirkung des Ersten Weltkriegs58 dulden Vater und Mutter »keinen Widerspruch« (56), und diese Erziehung zur Unterordnung wird verstärkt durch die Erfahrungen des Kindes außerhalb der Familie. Der Lehrer in der Schule fordert mit drakonischen Strafen unbedingten Gehorsam (32f.), und auch Friederle, der >Freundantiautoritäre< Aggression einer Gruppe gegen Minderheiten sind im Zusammenhang gesehen mit einem politischen Prozeß, welcher zur Integration der Jugend in den autoritären Staat führte: »So wie das Falschspielerische und Unheimliche in uns anwuchs, so machte es sich auch auf den Straßen breit, Brände flammten auf, Schaufenster wurden zertrümmert, Passanten wurden niedergeschlagen und Fahnen wurden unter schneidenden Rufen, Mützen ab, vorübergetragen, zusammengerissen zum Ehrfurchtskrampf sangen wir die Nationalhymne, weh dem, der nicht seinen Kopf entblößte.« (53) Wenn die Erzählung »Abschied von den Eltern« die faschistische Bewegung als »Ausagieren eines ungewöhnlich ambivalenten Verhältnisses zur Vater-Autorität«59 erklärt, »fügen sich« derartige Bedeutungsrelationen 1961 keineswegs dem »Muster« oder »Untersuchungsraster« einer sozialpsychologischen Faschismusforschung, deren Ergebnisse zu dieser Zeit in Deutschland weitgehend noch gar nicht rezipierbar waren.60 Die vorlie-

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Siehe hierzu allgemein Schelsky, Die skeptische Generation, S. 73. Siehe hierzu allgemein Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 61 und S. 238. s ® So allgemein Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 61. 60 So aber Krause, Faschismus als Theorie und Erfahrung, S. 153.-Adornos Untersuchungen zum autoritären Charakter sind in deutscher Sprache erst seit 1973 zugänglich, die Forschungen der Mitscherlichs erschienen 1967. 58

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gende Lebensgeschichte nimmt in ihrer ästhetischen Struktur vielmehr Erkenntnisse vorweg, welche der Öffentlichkeit durch die Fachwissenschaft erst gegen Ende der 60er Jahre zugänglich wurden. Nur unter der historischen Voraussetzung, daß die sozialpsychologischen Theoreme der literarisch vermittelten Bedeutung »sich fügen«, können sie zu deren diskursiver Erläuterung durchaus erhellend verwendet werden. Denn »Abschied von den Eltern« zeigt schon zu Beginn der 60er Jahre, welche Mechanismen den Faschismus sozialpsychologisch entstehen ließen: Dieser wurde - so Alexander und Margarete Mitscherlich - auch möglich durch den Glauben an die »Realisierbarkeit [... ] infantiler Omnipotenzphantasien«, den Hitler als »Inkarnation des Ich-Ideals« vermittelte. Die »Verliebtheit in den Führer« steigerte »die masochistische Lustbereitschaft ebenso wie die Neigung zum aggressiven Ausagieren gegen die Feinde des Führers«. »Gedeckt vom neuen Geist des nationalsozialistischen >Aufbruchsakute Überfremdung< der Person vorgeführt;62 der kollektive Wahn reißt den einzelnen durch eine Gewalt mit, gegen die er keinen Widerstand mehr zu leisten vermag: »Ich sehe die unendlichen Kolonnen, höre den einförmigen Marschtakt, das Scheppern der eisenbeschlagenen Stiefel, das Klirren der Dolche an den Gurten. Wieder und wieder kamen die Fahnen und Standarten, die ausgelöschten, anonymen Gesichter, die Münder im Gesang geöffnet, wieder und wieder kamen die Trommeln, und über der Stadt lag der Schein eines großen Feuers. Unaufhörlich schlug der Marschtakt, wie ein Puls in den Eingeweiden der Stadt, etwas lud sich auf und griff um sich, ergriff mich, ergriff alle, eine Kraft die gepocht hatte so lange ich mich entsinnen konnte« (71 f.). Vitalistische Motive aus dem Umkreis des Expressionismus63 - die »Trommeln«, »der Schein eines großen Feuers«, »der Puls in den Eingeweiden« und eine >ursprüngliche
AufbruchStirb und WerdeWerde und StirbStirb und Werde< als Basis-Ideologem des frühexpressionistischen AufbruchThemas«. Zum Todessprung siehe Benn, Expressionismus, S. 243; zum Motiv des Vogelflugs siehe etwa Cosentino, Tierbilder des Expressionismus, S. 48-75, sowie Körte, Georg Heym, S. 79.

meine Augen waren geschlossen, es war der Tod, der mich ergriffen hatte, es war die Macht des Todes, die mich im Zimmer gepackt und aus dem Fenster geschleudert hatte, undenkbar wardieserSprung, wenn nicht der Tod zur Wollust geworden wäre« (135). Die Darstellung von Faschismus als vitalistischem Aufbruch in den Tod bringt in der vorliegenden Lebensgeschichte somit nicht nur den zeitgeschichtlichen Hintergrund für die Autobiographie des Ich-Erzählers ein, sondern enthüllt an dessen Affinität zu jener Bewegung auch die sozialpsychologischen Mechanismen, welche die Politisierung des autoritären Charakters bis zur Selbstauslöschung bestimmen. Als denkbare Folgen einer Erziehung vor 1933 deutet die Erzählung deshalb Alternativen zum weiteren Geschehen an, die der Hauptfigur zwar durch Zufall erspart bleiben, die von der Zeitgeschichte her aber weitaus wahrscheinlicher gewesen wären und in allen drei Fällen den »Untergang« (73) bedeutet hätten: für den begeisterten Soldaten (52f., 72f.), der in einem »neuen, schrecklichen Kreuzzug« (72) Gewalt gegen andere ausübt, für den verzweifelten Emigranten, der sich schließlich selbst Gewalt antut (134f.), und für das ohnmächtige Opfer, welches Gewalt nur noch erleidet: »Peter Kien wurde ermordet und verbrannt. Ich entkam. «(134)

3.5. Arbeit im bürgerlichen Beruf: Stillstand, nicht Entwicklung Daß in die vorliegende Lebensgeschichte sowohl psychoanalytisch-sozialpsychologische als auch gesellschaftstheoretische Deutungsmuster eingehen, darauf hat Krause bereits hingewiesen: die Erzählung reflektiere zum einen die historische Ausprägung der Lebensphasen von Kindheit und Jugend einer Generation, in der »die dynamische Struktur des autoritären Charakters als psychische Disposition« die »Ausgangsbedingung für faschistische Anfälligkeit« erfüllt habe, zum anderen aber werde dieser Befund durch ein ideologiekritisches Bewußtsein verallgemeinert, das Erziehung als »Befähigung zur Ausübung einer nützlichen Rolle im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft« deutlich werden lasse. 68 Denn für die Hauptfigur bedeutet der Aufenthalt in England und Schweden zwar eine veränderte Situation, aber keine Freiheit Weil die eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten für Emigranten die Versuche des Vaters begünstigen, seinen Willen durchzusetzen und den Sohn zum Erben heranzuziehen, hat dieser sich im Kontor (92-95), im Warenhaus (97, 100-103) und in der Fabrik (120f., 138-144) auf sein Berufsleben als Kaufmann und Unternehmer vorzubereiten. An einer scheinbar normalen Tätigkeit in bürgerlichen Gesellschaften jenseits des nationalsozialistischen Machtbereichs veranschaulicht »Abschied von den Eltern« Phänomene einer Entfremdung, die der einzelne durch seine berufliche Arbeit erlebt, und wendet sich damit auch gegen gesellschaftliche Bedingungen, die durch das Ende des Faschismus keineswegs als überholt gelten können: nach der Flucht ins Exil werden soziale Erfahrungen thematisiert, die gerade 1961, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung, nach dem ökonomischen Wiederaufbau der Bundesrepublik noch immer gegenwärtige sind. Bereits ein Erlebnis der Kindheit gibt das Vorzeichen für die berufliche Tätigkeit in der Jugend ab. Als »Modell einer Realitätserfahrung«69 läßt das »Miniaturbergwerk« (23) 68 69

Krause, Faschismus als Theorie und Erfahrung, S. ISS und S. 216. Ueding, Panoptikum des Widerstands.

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auf dem Jahrmarkt in der mechanischen Abfolge von Stillstand und Bewegung den Takt all jener Lebensläufe erkennen, deren Subjekte durch entfremdete Arbeit zu Bestandteilen einer großen Maschine werden. Abgerufen ist dort die Tradition eines expressionistischen Vitalismus, der Leben als »dynamisch-dialektische Bewegung«, als »fortwährende Veränderung« ersehnt und deshalb »jede Form des Stillstands und der Erstarrung« in der »allgemeinen Stagnation« und dem »autoritären Geltungsanspruch einzelner Systeme« bekämpft.70 Vor dieser Grundopposition als literarhistorischer Folie ist schon hier das Arbeitsleben nicht als fließende Bewegung dargestellt, sondern - im Gegensatz zur »bunten Brandung« (23), zum »Brausen des Jahrmarkts« (22) - als leblose Einheit von Statik und Dynamik, als mechanischer Wechsel von Arbeits- und Freizeit, von Produktion und Reproduktion. Eine solche Vorstellung wird verstärkt, wo der Vater dem Jugendlichen das »Leistungsprinzip« als »die vorherrschende Form des Realitätsprinzips«71 nahelegt und für ihn eine Laufbahn als Unternehmer bestimmt. Denn die »Realität des Daseins«, das »praktische Berufsleben«, erscheint dem Sohn nur als »Begriff alles Sterilen und Versteinerten«, als »Fortsetzung der langen Wanderung durch Klassenräume« und »steinerne Gänge, deren Quadern durchsetzt waren mit Fossilien, Millionen Jahre alt« (57f.). Die Tätigkeit im Kontor des Vaters in London erfüllt den Protagonisten deshalb mit wachsender »Unruhe« (92/93). Was ihm droht, lassen die Arbeitenden doch bereits an ihren Körpern erkennen: der Lagerverwalter »mit ächzenden Atemzügen und schweren, knarrenden Schritten«, mit »wirrem, grauen Haar«, einem »leer starrenden, doch mächtigen Gesicht« und »zitternden, abgenützten Händen«; Fräulein Grau mit dem »trockenen, abgestandenen Geruch ihres Körpers«; schließlich der Vater selbst mit seinem Gesicht, »von kränklich gelber Farbe« und »hilfesuchend« (93-95). Auch die neue Stelle eines Volontärs erweist sich für den Protagonisten nicht als die angepriesene »blühende Zukunft im Geschäftsleben« (95); als »Urwald des Hauses« (102) und erstarrten »Dschungel« (101) erfährt er vielmehr seinen Arbeitsbereich (100f.). Während die »Bildwelt von Schlamm, Morast, wild wuchernden Pflanzen und Bäumen, grün schillernder Feuchte und Sumpf« als »Topos der Literatur der Jahrhundertwende für die chthonischen Tiefen des Lebens, für grausame Lebensfiille und -Zerstörung«72 grundsätzlich ambivalent semantisiert ist, wird diese literarische Metaphorik hier eindeutig negativ eingesetzt: das Kaufhaus als eine zu Stein gewordene »tropische Urwelt« (100) erscheint dem Angestellten als Einheit von lebensfeindlicher Starre und geheimnisvoller Natur. Wie an anderer Stelle mit der Fabrik als »Festung« (121) Feudalismus und Kapitalismus sowie mit der »funktionalistischen Komposition« im »Wilden Westen« (139) Kolonisationszeit und Moderne synchronisiert sind, so gehen auch hier zwei differente historische Kulturstufen eine anachronistische Synthese ein: mit diesem Gebäude als Inbegriff der bürgerliche Warengesellschaft ist die Statik einer Naturgeschichte materialisiert, welche der einzelne in der gesellschaftlichen Dynamik vom Dschungel bis zum Warenhaus erfährt.73 Einer solchen Kontinuität des Ganzen bleibt wie im Miniatur-

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Martens, Vitalismus und Expressionismus, S. 290f. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, S. 40. Werner, Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus, S. 122. Siehe in diesem Zusammenhang auch Adorno, Reflexion zur Klassentheorie, S. 373f.; Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, S. 235.

bergwerk die Mobilität der einzelnen Personen durchaus untergeordnet. Die hektische Betriebsamkeit der Arbeitenden bringt eine Verdinglichung hervor, die sich wie im literarischen Expressionismus74 durch die Verselbständigung von Körperteilen äußert: »Hände« (96) und »Finger« handeln für sich, »Gesichter« (101) werden wie Objekte aneinander geführt. Und auch die Vielfalt der Waren, welche in Reimen (101,102,103) durch das Aufdecken von Verschiedenem im Ähnlichen hervorgehoben wird, ändert nichts an der rigiden Eindeutigkeit des ökonomischen Realitätsprinzips; für den ästhetischen Ausdruck des Lustprinzips ist kein Platz, wie die Entlassung als Folge der dadaistischen Kunstaktion zeigt (102f.). Wenn Menschen und Maschinen kämpfenden Tieren gleichen (102), wenn später in Prag Webstühle zu »tobenden Maschinenreihen« werden und Arbeiterinnen »in den dichten, schwirrenden Fäden festgesponnen« (121) sind, nimmt die Erzählung mit diesem Strukturelement das (neo)romantische Motiv vom »Kampf zwischen Menschen und Maschinen« auf, wie es etwa in einem frühen Gemälde von Peter Weiss mit dem Titel »Die Maschinen greifen die Menschheit an«,75 aber auch in Hesses »Steppenwolf«,76 gestaltet ist Dieser Krieg zielt in der Phantasieszene von Hesses Roman mit der »allgemeinen Zerstörung der blechemen zivilisierten Welt« auf die erneute Herstellung eines Naturzusammenhangs, darauf daß »wieder aus der verstaubten Zementwelt etwas wie Wald, Wiese, Heide, Bach und Moor werden könne«.77 Eine solche universalhistorische Denotierung der >Stirb und Werdeinnere Anteilnahme< an der »eigenen Arbeit« (141) eingeklagt wird, zeigen sich vielmehr Übereinstimmungen mit existentialistischen Postulaten, die einen Zustand fordern, in dem »die Arbeit« nicht mehr »ganz der Produktion unterstellt«, sondern »dem Arbeiter seine Würde als Schöpfer« zurückgegeben ist. 80 Wie dies nicht in der ästhetischen Produktion eines Individuums, sondern in der ökonomischen Organisation einer Gesellschaft zu geschehen hätte, dazu finden sich in »Abschied von den Eltern« keine Hinweise mehr - und die industrielle Fabrikation entfaltet die ihr eigene Dynamik: Waren erhalten Lebensläufe (142f.), »während draußen eine Welt in Stücke« fällt. Das unzufriedene Individuum aber befindet sich in einer statischen Situation, in der »Wartezeit« eines pränatalen Zustandes, »tief im Leib der dumpf dröhnenden Fabrik« (143).

3.6. Der Künstler als Außenseiter - und sein langer Weg dorthin Durch die autoritäre Unterdrückung in der Familie, durch den kollektiven Sadomasochismus des Faschismus und durch die entfremdete berufliche Arbeit in den bürgerlichen Gesellschaften während des Exils wird der Hauptfigur Identität zunehmend verwehrt. Je repressiver die Möglichkeiten des einzelnen eingeschränkt sind, unter den gegebenen sozialen, politischen und ökonomischen Bedingungen seine individuellen Ansprüche zu verwirklichen, desto mehr erscheinen die Rezeption und die Produktion von Kunst als diejenige Tätigkeit, welche dem Außenseiter die Erfüllung seiner Bedürfnisse trotz und

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Schelsky, Die skeptische Generation, S. 385. Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 222.

in der bestehenden Wirklichkeit verspricht.81 Diese ästhetizistische Variante der romantischen Tradition, nach welcher die besondere Stellung des >autonomen< Künstlers sich aus der rigiden Abgrenzung zu den >normalen< Lebensformen der bürgerlichen Zweckrationalität herleitet, wird vom Heranwachsenden zunächst ungebrochen reproduziert.(59) Doch die Vorstellung vom Künstler, der sich in einem »romantischen Niemandsland« (119) seiner einzigen Aufgabe widmet, ist in der Struktur der Erzählung nicht mehr mit dem anachronistischen Geniegedanken in Verbindung gebracht. Anders als die traditionelle »Legende vom Künstler« verklärt diese Lebensgeschichte kein Individuum zum Kulturheros mehr, sondern stellt das ästhetische Bedürfnis des Protagonisten vor dem Hinteigrund seiner persönlichen Entwicklung und ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen dar.®2 Wie die autoritäre Erziehung wird auch der lange Weg zum Künstler mit psychoanalytischen Deutungsmustem erklärt. Wichtig ist hier besonders Freuds These über den verschobenen Naizißmus des Künstlers, nach welcher dieser seine libidinösen Wünsche im ästhetischen Werk als einem öffentlich zugestandenen Projektionsraum verwirklicht, weil die Befriedigung noch unbewußter Wünsche in der Realität nicht möglich, in der Phantasie des Nachttraums nur narzißtisch und selbst dem Träumenden unverständlich, im Tagtraum zwar verständlich, doch tabuisiert erscheint.83 Da sich als Folge der Unterdrückung von Gefühlen im Zeichen des Realitätsprinzips die Empfindung von »Freiheit« (24/48) und »eigener Existenz« (19) auf wenige Augenblicke beschränken, ist das »Tasten und Suchen« (41/68) nach Identität zunächst ganz auf den Bereich der Phantasie im Nacht- und Tagtraum beschränkt. Neben den sadomasochistischen Omnipotenzphantasien wird dort über die vitalistischen Motive von Ferne und Abenteuer (siehe etwa 20, 43, 97, 116f.) die abstrakte Sehnsucht nach einem eigenen Leben angedeutet, und diese Freiheit ist bereits für das einsame Kind in der Person des Künstlers konkretisiert. Der Fassadenkletterer weckt die »Vorahnung einer Berufung«, die »Sehnsucht nach einer selbständigen Leistung« (22), und die Altistin läßt als »Luftwesen« gar den Wunsch zur Nachahmung entstehen: »Bald, bald würde ich ihr nachreisen, würde mit ihr kreuz und quer die Cirkuskuppel durchfliegen, bald, bald, nur noch kurze Zeit, ich gehöre dir, muß nur erst lesen und schreiben lernen, muß nur schnell durch die Schuljahre hindurch, bald, bald bin ich bei dir, und sehe dein verzücktes Lächeln wieder, und höre deinen wilden Ruf« (24f.). Selbst nur Zuschauer, erlebt der Protagonist schon hier die künstlerische Tätigkeit als risikoreiche, aber lustvolle Befriedigung, als erfüllten Augenblick, der aus dem gleichförmigen Alltag unter dem Realitätsprinzip hervorgehoben ist.84 In Analogie zur zentralen romantischen Grundopposition von Erde und Himmel, Prosa und Poesie verbindet sich jenes »ekstatische Gefühl von Freiheit« (24) deshalb mit 81

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Zum »Paria-Motiv« siehe Schon Haiduk, Der Dramatiker Peter Weiss, S. 24-26. Zum Künstler als Außenseiter siehe schon Dalimann, »Abschied von den Eltern«, S. 341, und Wuthenow, Erzähltes Erinnern, S. 58. Siehe hierzu Kris/Kurz, Die Legende vom Künstler, S. 44, sowie Lämmert, Peter Weiss - ein Dichter ohne Land, S. 100. Siehe hierzu allgemein Freud, Der Dichter und das Phantasieren; Wellershoff, Der Gesang der Sirenen, S. 149f.; Pietzcker, Zum Verhältnis von Traum und literarischem Kunstwerk, S. 57-60. Zur literarischen Fölie dieser Stelle, Kafkas Erzählung »Auf der Galerie«, siehe Kraft, Mondheimat, S. 184.

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Bildern einer Bewegung in die Höhe (21f„ 2 4 , 2 5 ) und des Fliegens (15,25,46f.), durch die der traditionelle »Befreiungsaspekt der Flugmetapher«85 abgerufen wird. Eine ähnliche Funktion besitzt die Rezeption von Kunst, wenn der Heranwachsende Bücher, Bilderund Musik zum »Spiegel« seiner »unausgegorenen Sehnsüchte« (59) macht, sich dabei im Gegensatz zur »Logik« der bürgerlichen Zweckrationalität erfährt und zugleich doch das »eigene Wesen« (61) erkennt. Gerade die Eigenschaften und Gefühle, welche die Hauptfigur in der Realität nicht zeigen darf, diese »Gebrechen, Schrecken und Gelüste« (62), die das alltägliche Leben unter der Oberfläche produziert, finden ihre Anerkennung in Literatur, Malerei und Musik und vermitteln so dem Rezipienten im identifikatorischen Akt des »Wiedererkennens« (68) eine Milderung der Verlassenheit (63, 65), einen Verlust des Schreckens (64), »Trost« und »Stärke« (65), gar den »Traum von Befreiung« (117). Dieser »Traum von Befreiung« soll aber nicht in der romantischen Gegenwelt einer affirmativen Kultur belassen, sondern im Lebenslauf verwirklicht werden, und einen solchen Zweck hat die künstlerische Produktion, der sich der Jugendliche nach den »zerstörerischen Spielen« (56) seiner Kindheit zunehmend verschreibt: zunächst eine »utopische Metropole« aus Papier und Zellofan (56), dann das »Tagebuch« (57), schließlich das »erste große Bild« (77) beim Tod der Schwester, das Schreiben von Geschichten und Gedichten (98, 144), eine dadaistische Kunstaktion im Warenhaus (103) und vor allem immer wieder das Malen von Bildern - all diese »Mittel« (57) dienen dem ästhetischen »Ausdruck« (57/69/143) der Person und ihrer lebensgeschichtlichen Erfahrungen: Die »Sprengkraft« (69) der Bedürfnisse gegenüber dem Familienzusammenhang und die Ohnmacht vor dem unabwendbaren Tod der Schwester (77), der »Überfluß« im Warenhaus (103) und die »Isoliertheit« im Exil (127) werden in Kunstwerken artikuliert, die »Äußerungen eines geheimen Lebens« (144) sind, subjektive Vehikel zur Selbstfindung, die leisten sollen, was der Person im Alltag nicht gelingt. Doch die Bilder stellen keine Kommunikation mit der Mutter über das eigene Wesen her (104f.); sie führen die Hauptfigur auch als »Visionen« zu keiner »Lösung« für die »angestaute Verzweiflung«, sondern nur »an den Rand der Umnachtung« (127). Die Differenz zwischen Kunst und Leben, Ideal und Wirklichkeit ist in der ästhetischen Phantasie nicht aufzuheben: weder die Einfühlung in Hamsuns Roman »Hunger« (93), 86 noch der Tagtraum vom »versunkenen Vineta« (96), noch die literarische Fiktion von einem Leben im Mittelalter (97f.) können den entfremdeten Alltag in Beruf und Familie außer Kraft setzen. Der Versuch, sich durch die Produktion von Kunst »ins Vergessen hinüberzuarbeiten« (104), gelingt trotz aller »Abgewandtheit« (98) nicht. Das Scheitern einer solchen Strategie der Verinnerlichung liegt darin begründet, daß der Künstler durch seine Tätigkeit die sozialen Produktionsverhältnisse nicht aufheben kann: der Sohn ist trotz Dichtung und Malerei weiterhin von den Eltern abhängig. Stellt die Erzählung dennoch die wiederholten Versuche des Protagonisten, den Beruf des Künstlers zu ergreifen, als letztlich erfolgreich dar, so wird damit

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Hillmann, Bildlichkeit der deutschen Romantik, S. 74. »Es war in jener Zeit als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verläßt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist« (93) - dieser Satz zitiert unvermittelt den Beginn von Hamsuns Roman. Siehe Hamsun, Hunger, S. 7.

keineswegs die ästhetizistische Position des Jugendlichen legitimiert. Von Bedeutung ist der Weg zum Künstler vor allem als das exemplarische Modell einer Selbstfindung, die in der langen antiautoritären Revolte und dem endgültigen »Abschied von den Eltern« ihre entscheidenden Voraussetzungen hat. Der Text führt ja das Beispiel eines Lebenslaufs vor, in dem ein Individuum seinen Lebensplan trotz immenser historischer und familiärer Widerstände verwirklicht: anders als die Lohnarbeiter in den bürgerlichen Gesellschaften besitzt die Ich-Figur in der Erzählgegenwart die »Möglichkeit«, ihre »eigene Arbeit auszuführen« (141; siehe auch 16, 39, 140). Solche »eigene Arbeit« ist zwar die Tätigkeit des Künstlers als eines Außenseiters; doch nicht die ästhetische Produktion, sondern ein gelingender Bildungsprozeß machen diesen hier zum »Statthalter des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts«.87 Weil in dieser Lebensgeschichte aber die Darstellung der Hindernisse im Lebenslauf fast den gesamten Raum der Erzählung einnimmt, nicht die Beschreibung eines Zustands, in dem die Lebenspläne verwirklicht wären, ist das erläuterte lineare Entwicklungsschema schon von der narrativen Fabel her wieder eingeschränkt: Immer wieder mißlingt dem Sohn aufgrund seiner Erziehung der romantische Aufbruch in die Feme als >Taugenichtspolitischen Jugend< erzählt, die sich zwischen 1933 und 1945 mit dem kollektiven Aufbruch in den Tod dem Faschismus unterwarf, so sind mit der Revolte des Jugendlichen gegen Vater und Mutter im familiären Raum Verhaltensmuster thematisiert, deren öffentlicher Ausdruck sich besonders 1968 im Aufruhr der antiautoritären Generation zeigte. Deren Handeln war, aus sozialpsychologischer, nicht aus politischer Perspektive gesehen, ja auch durch eine »intensivierte Adoleszenz« und die »Re-Inszenierung« infantiler Handlungen geprägt,89 durch die gänzliche »Verneinung der Abhängigkeit« von den Eltern und deren Generation, mit denen eine Verständigung unmöglich erschien.90 In der Auflehnung des Sohnes gegen den Vater ist noch an einem Individuum veranschaulicht, was sich während der 50er und 60er Jahre bereits als Kennzeichen einer ganzen Gruppe entwickelte: die »Neigung zu permanenten Autoritätskonflikten«. Weil für den Protagonisten der vorliegenden Erzählung die Schwächung der Vaterautorität ab

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Siehe dagegen Adorno, Der Artist als Statthalter, S. 126. Siehe hierzu Hucke, Der integrierte Außenseiter, S. 61-72: »Anspielungshorizonte: Taugenichts und >verlorener SohnFührers< kompensiert werden kann, kommt es schon im Exil zu jener »wertkritischen Haltung«, die im Jahrzehnt der Politisierung die Beziehung der antiautoritären Söhne zu ihren autoritär erzogenen Vätern bestimmte. Jener Typus des Jugendlichen mit der »verlängerten Pubertät«, dem »verewigten Autoritätskonflikt« und der »leidenschaftlichen Suche nach neuen Identifikationsmöglichkeiten« prägte in den 60er Jahren eine Protestbewegung aus überwiegend bürgerlichem Hause,91 deren Aufbruch 1968 allerdings scheiterte. Das literarische Modell zeigt jedoch, daß »die Situation des Bürgers, der zum Revolutionär werden möchte und den die Gewichte alter Normen lähmen« (119), für das Individuum zu überwinden ist: auf dem Weg der Selbstfindung. Zwar stellt sich dieser Prozeß lange als erfolgloser Kampf des Ichs mit dem Über-Ich dar, mit den »alten Übermächten« der »Vergangenheit« (82), den familiären und gesellschaftlichen Leitbildern, die keine zukünftige Identität mehr versprechen, gegenwärtig aber noch immer wirksam sind. Diese Situation gilt letztlich jedoch als notwendige Bedingung der Befreiung im Sinne einer Entwicklungslogik, die jetzt nicht nur das Deutungsmuster für den bisherigen Lebenslauf abgibt, sondern auch signalisiert durch die Tempus Wechsel - den gegenwärtigen Lebensplänen eine tragfähige Perspektive weist: »Das Ich, das ich mit mir schleppte, war verbraucht, zerstört, untauglich, es mußte untergehen. Ich mußte lernen, mit neuen Sinnen zu erleben. Doch wie sollte ich dazu kommen, wie sollte ich mich von allem befreien, das mich niederzog, verpestete und erstickte. Woher sollte die Kraft kommen. Noch mehr und mehr mußten die Schwierigkeiten mich in die Enge drängen. Es gab keinen andern Weg als den Weg des Verwittems und Verwesens. Unendlich langsam wachsen die Veränderungen heran, man merkt sie kaum. Manchmal empfand ich einen kurzen Stoß, und dann glaubte ich, etwas sei anders geworden, und dann schlug das Grundwasser wieder über mir zusammen und verbarg das Gewonnene im Schlamm. So taste ich mich weiter vor, bis ich wieder glaube, etwas Neuem auf der Spur zu sein, und vielleicht ist dann eines Tages etwas Neues da; vielleicht finde ich eines Tages Boden unter meinen Füßen.« (119f.) Diese Reflexionen des Ich-Erzählers werden von einem vitalistischen Metaphernkomplex überlagert, mit dem, paradigmatisch für zentrale Verfahren der vorliegenden Lebensgeschichte wie für die Literatur der Jahrhundertwende, spezifische >lebensphilosophische< Theoreme kodiert sind. Daß im Text mit dem Faschismus als dem kollektiven Aufbruch in den Tod die Metaphorik des >Stirb und Werde< in ihr Gegenteil verkehrt ist, daß die Bildwelt von Schlamm und Morast bei der Darstellung des Kaufhauses als Einheit von lebensfeindlicher Starre und geheimnisvoller Natur eindeutig negativ eingesetzt ist, hat die Interpretation bereits gezeigt. Jetzt kann erläutert werden, wie eben diese Topoi - in Verbindung mit der Wasser- und Meeresmetaphorik - ihre positive Valenz für die Deutung des Lebenslaufs erhalten. Sind mit dem »Schlamm« und dem zusammenschlagenden »Grundwasser« zunächst wieder die chthonischen Tiefen des Lebens abgerufen, die der Hauptfigur auf ihrem Weg zu sich selbst den »Boden unter« den »Füßen« (119f.) entziehen, so meint diese Semantisierung des Wassers im Kontext der Erzählung doch nur den einen, den versagenden und 91

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Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 261f. Siehe weiter Erikson, Reflexionen über die Revolte der humanistischen Jugend, S. 202 und S. 223f.; Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 33-37.

grausamen Pol des Lebens. Dessen Gegenteil, die Fülle menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten, ist als utopische Ahnung im gleichen Bildbereich angedeutet, wenn auf dem Jahrmarkt von der »bunten Brandung des Lebens«, vom »Strom der Menge«, von den »Wogen« eines Liedes (23f.), in der Natur von der »Wucht des flimmernden Luftmeers« (28) und beim imaginierten Selbstmord vom »blauen Wasser der Leere« (135) die Rede ist.92 Weil die Bedürfnisse des Protagonisten infolge der familiären und gesellschaftlichen Zwänge aber weitgehend keine Befriedigung finden, wird diese Metaphorik von der negativen Komponente dominiert: »der Druck der Schule, die Drohungen und Ermahnungen« sind eine »ewige Brandung«, »die Forderungen der Welt« ein »wildes Meer«, vor dem sich der Jugendliche auf die »Insel« seines Zimmers rettet (54); »wie Schiffbrüchige in einem Boot« treibt die Familie mit dem Auto nach der Beerdigung der Schwester »durch das sanft rauschende Meer der Stadt« (78). Während die Hoffnung auf Identität durch wenige Bilder des Fliegens und des Aufschwungs veranschaulicht wird, ist mit der Gefahr des Ertrinkens weit öfter ein gänzliches Scheitern der Lebenspläne angedeutet (siehe auch 68,72f., 86,141). »Doch nach dem Auftrieb kam das Sinken« (137), dieser Satz kann formelhaft für den Rhythmus des gesamten Lebenslaufs im universalen Lebensstrom stehen. Während der Protagonist aber zum Zeitpunkt des Erlebens unter dem Auf und Ab von Lebenshoffnung und Lebenskrise leidet - »die Visionen stiegen vor mir auf wie vor einem Ertrinkenden« (127) - , begreift der Ich-Erzähler diese Dialektik bei der nachträglichen Darstellung seiner Lebensgeschichte als notwendige Bedingung für die Realisierung seines Lebensplans. Wenn es in der oben zitierten Stelle heißt: »Das Ich, das ich mit mir schleppte, war verbraucht, zerstört, untauglich, es mußte untergehen. Ich mußte lernen, mit neuen Sinnen zu erleben. [...] Es gab keinen andern Weg als den Weg des Verwittems und Verwesens« (119), dann ist die Gefahr des >Ertrinkens< jetzt unter das vitalistische >Stirb und WerdeStirb und WerdeKampf des Vogels aus dem EiStirb und Werde Stirb oder Werde< findet sich im zweiten Text Hermann Hesses, auf den »Abschied von den Eltern« fast unvertiüllt anspielt,95 im Roman »Steppenwolf« (1927), nicht mehr. Auch hier ist der Protagonist »in kleinbürgerlicher Enge aufgewachsen«, hat »von dorther eine Menge von Begriffen und Schablonen beibehalten« und vermag doch »den politischen Verbrecher, den Revolutionär [...] als seinen Bruder zu lieben«. Doch nun wird »jene andere Wirklichkeit«, der die Sehnsucht gilt, nur noch im »eigenen Innern«, in der »Welt« der »eigenen Seele« aufgespürt, in der Distanz zu »deutscher Wirklichkeit«, zu »Geschichte« und »Politik«, in der »Unabhängigkeit von der Zeit«.96 Die >Stirb und WerdeUntergang< und >NeubeginnLebensläufe< mit wesentlichen Änderungen« (Alexander Kluge, Lebensläufe. Anwesenheitsliste für eine Beerdigung, Frankfurt am Main 1974 [= suhrkamp taschenbuch 186], S. 4) veröffentlicht wurden, erfolgt in dieser Untersuchung nicht. Siehe hierzu auch Blöcker, Die Fiktion des Objektiven, S. 202.

und erworbenen Fähigkeiten wird dort ohne irgendeinen Erzählzusammenhang realisiert.3 Auf diesen Aspekt der Vereinfachung beziehen sich die vielen Formeln, welche in der Rezeptiongeschichte zur Charakterisierung von Kluges Sammlung vorgeschlagen worden sind: »Energische Aktennotizen«4 und »Stenogramme fragmentierter Lebensläufe« 5 werden die Texte eines Autors genannt, der sein »Ideal« als diejenige »künstlerische Freßsucht« umschrieben hat, welche »die Substanz etwa der Buddenbrooks auf knapp zwanzig Seiten zusammenschnurren läßt«. 6 Weder Kluge noch seine Figuren »gäben vor, Geschichte und Geschichten zu machen. Sie haben statt dessen: Lebensläufe«. 7 Mit solchen Etikettierungen ist die Komplexität der einzelnen Lebensläufe allerdings nicht erfaßt. Wenn diese im »Vorwort« noch immer als »Erzählungen« bezeichnet werden, manifestiert sich hier nicht nur eine Spannung zwischen alltäglichem Gebrauchsmuster und literarischer Prosa, sondern auch ein Schwanken zwischen der Dokumentation von Wirklichem und der Konstruktion von Fiktivem: »Es handelt sich um Lebensläufe, teils erfunden, teils nicht erfunden; zusammen ergeben sie eine traurige Geschichte. Es mag darauf hingewiesen werden, daß sich gelegentlich auch kurze dokumentarische Passagen und Einblendungen aus fremden Texten finden.« (7) Wahlheitsbeteuerung, als Verfahren zur Erzeugung von Referenzillusion aus der Geschichte des Romans seit dem Barock bekannt,8 und das Bekenntnis zur Phantasie, traditionell zur Betonung der parabolischen Modellstruktur des Erfundenen eingesetzt, stehen nebeneinander, ohne daß dadurch im einzelnen geklärt wäre, welche Fabel sich der Phantasie oder der Wirklichkeit verdankt. Noch artikuliert sich zu Beginn der 60er Jahre keine eindeutige Fiktionskritik, doch die Grenzen zwischen der Dokumentation von Realität und der Imagination von Literatur sind im einleitenden Kommentar des Autors bereits verwischt.9 Eine Antwort auf die Frage aber, ob ein solches Werk »noch zur Literatur zu zählen« sei, 10 läßt sich nicht dadurch geben, daß man sich - wie in der bisherigen Forschung - auf aphoristische Anmerkungen beschränkt,11 bloß einzelne Erzählungen, wenn nicht gar nur deren Teile untersucht12 oder das Nacherzählen der jeweiligen Fabel mit abstrakten Erläuterungen zum literarischen >Stil< 3 Zur Differenz der Textsorten >Lebenslauf< und >Lebensgeschichte< siehe auch Schulze, Lebenslauf und Lebensgeschichte, bes. S. 36-42. 4 Baukloh, Energische Aktennotizen. Ähnlich siehe auch Blöcker, Literatur als Teilhabe, S. 112; Daiber, Lebensläufe, S. 131; Eifler, Debilt eines deutschen Erzählers; Schütte, Akte des Widerstands, S. 18; Linder, Die Behandlung der Welt, S. 70. 5 Pott, Literarische Produktivität, S. 344. 6 Der Spiegel, Kurze Prozesse, S. 120. 7 Baumgart, Lebensläufe 143. 8 Siehe Sauder, Argumente der Fiktionskritik 1680-1730 und 1960-1970, S. 132-136. » Siehe hierzu Mayer, Mutmaßungen und Lebensläufe, S. 342-344; BiOcker, Die Fiktion des Objektiven; Just, Von der Literatur zum Film, S. 56; Lewandowski, Alexander Kluge, S. 15-17; Vogt, Der ratlos-rastlose Erzähler Alexander Kluge, S. 17; Hickethier, Biographie, Autobiographie, Memoirenliteratur, S. 574. 10 Baumgart, Lebensläufe, S. 145. 11 So besonders Drews, Alexander Kluge. 12 So etwa Mog, Kälte und Selbsterfahrung; Mauser, Zu Alexander Kluges dialektischem Realismus. 83

verbindet.13 Allein in der differenzierten Beschreibung textinterner und textextemer Strukturrelationen ist die Bedeutung jenes »literarischen und politischen Kunstwerks« 14 zu erfassen, das zwischen »einer Art Geschichtsschreibung« 15 und der »Suggestion« von »(vorgegaukelter) Authentizität«16 changiert »Lebensläufe« - der Titel der Sammlung signalisiert auch die Opposition zur traditionellen Prominentenbiographie, indem er nicht den Namen eines außergewöhnlichen Individuums nennt, sondern in der Pluralform auf das Gleichartige im Leben einer Reihe von Zeitgenossen verweist. 17 Zwar gilt das Interesse noch immer dem einzelnen, doch mit dem Namen dieser »bürokratischen Textsorte«18 als Vorzeichen brechen auch die Eigennamen als Überschriften der meisten Erzählungen mit der »Konzentration auf unverwechselbare Menschen, als ließe von ihnen noch so sich erzählen wie anno dazumal«. 19 Der Zusammenhang der einzelnen Texte, von dem es im Vorwort heißt, daß er »eine traurige Geschichte« (7) darstellt, konstituiert sich zunächst dadurch, daß die Konstruktion der Fabel bei allen Erzählungen dem gleichartigen Schema von »Lebensläufen« verpflichtet bleibt. In jedem Fall ist die Situation eines Individuums - mag sie nun vom Alltag (»Manfred Schmidt«, »Korti«) oder von einer Krise (»Fräulein v. Posa«, »Ein Liebesversuch«) geprägt sein - mit ihrer biographischen Vorgeschichte konfrontiert, die auf unterschiedliche Weise eingebracht wird: als besonderes Ereignis (26-34, 92) oder als außergewöhnliche Tätigkeit (12-20), als langsame Entwicklung (53-62, 146-150) oder als kurzer Abriß (51f„ 124f„ 133f., 143, 193-196). Alle Texte erfüllen mit der Rekonstruktion eines Lebens oder einer seiner Phasen den Anspruch von 13

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Siehe hier Lewandowski, Alexander Kluge, S. 15-25 und S. 26-39; Pott, Literarische Produktivität, S. 343-370, vor allem S. 348f„ S. 351, S. 368f.; Puknus, Kluges »Lebensläufe«. - Nach Fertigstellung der vorliegenden Abhandlung ist die Monographie von Bosse (Alexander Kluge) erschienen, die »Kluges Formen der literarischen Darstellung von Geschichte« in einer Reihe von Einzeluntersuchungen nachzeichnen will (S. 3) und sich dabei auch intensiv mit den »Lebensläufen« befaßt (S. 5-59). Zu Recht werden diese Erzählungen dort als ein literarischer »Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit« (S. 55) begriffen, für den die Gesellschaftskritik (S. 7) und die Ästhetik (S. 56f.) von Horkheimer und Adorno konstitutiv seien, und die Arbeit belegt diese These mit einer Vielzahl von treffenden Beobachtungen zu einzelnen Strukturmomenten und übergreifenden Bedeutungsaspekten. Weil die Paraphrasierung der Handlung (siehe etwa S. 17-20) und der Aufweis allgemeiner gesellschaftlicher Strukturen (S. 7, S. 16f., S. 5355) aber noch keine differenzierte Rekonstruktion derjenigen zeitgeschichtlichen Kontexte leisten, vor denen Kluges literarische Modelle erst zu verstehen sind, gelingt Bosse eine prägnante Beschreibung der jeweiligen Werkstruktur und damit des historischen Eikenntnispotentials der einzelnen Erzählungen nur in Ansätzen, wie etwa die unspezifische Zusammenfassung zeigt, »daß die Biographien aller Menschen von den Strukturen der Gesellschaft bestimmt sind, in der sie leben« (S. 58). Skriver, Röntgenbilder der Barbarei. So Kluge, zitiert in: Der Spiegel, Kurze Prozesse, S. 119. Blöcker, Die Fiktion des Objektiven, S. 203. Siehe hierzu auch Sieburg, Tief unter dem Schnee, S. 299; Vornweg, Prosa in der Bundesrepublik Deutschland, S. 356; Györffy, Vom historischen Dokument zum psychischen Dokument, S. 86; Mauser, Zu Alexander Kluges dialektischem Realismus, S. 100; Pott, Literarische Produktivität, S. 343f. Vogt, Der ratlos-rasüose Erzähler Alexander Kluge, S. 18. Adomo, Offener Brief an Rolf Hochhuth, S. 591.

Lebensgeschichten. Doch in ihrer konkreten Gestalt weichen sie vom konventionalisierten Typus eines Lebenslaufs im Alltag oder einer Biographie in der Wissenschaft beträchtlich ab. Der Grund dafür ist allerdings nicht die Reduktion, sondern die Komplexität ihrer narrativen Struktur, die Art und Weise, in welcher hier »Lebensläufe« als literarische Lebensgeschichten erzählt werden.

4.2. Bei allem Überblick: der ratlose Biograph Die Bedeutung der »Lebensläufe« ist im einzelnen nur zu beschreiben, wenn die Mikrostruktur einer jeden Erzählung auf die Funktion der eingesetzten literarischen Verfahren hin untersucht wird. Weil sich diese in der Makrostruktur der vorliegenden Sammlung trotz aller besonderen Kombination und Variation aber auch wiederholen, soll zunächst der allgemeine Spielraum umrissen werden, den der Biograph hier beim »Nacherzählen von Lebensgeschichten« als einer »möglichen Protestform« besitzt. 20 Im Text von Peter Weiss bleibt die autobiographische Darstellung des Vergangenen im Prozeß des Erinnems offensichtlich an die gegenwärtige Betroffenheit der Ich-Figur zurückgebunden: der >Abschied von den Eltern« gelingt auch im Erzählen nur partiell. In Kluges biographischen Lebensgeschichten wird die Rekonstruktion des früheren Geschehens aus der Perspektive eines Erzählers geleistet, welcher in der sicheren Distanz des Nicht-Betroffenen die Freiheit des Urteils zu besitzen scheint. Zwar ist die erzählende Instanz hier nicht zu einem »enthüllenden Rechercheur« personalisiert, doch die »Außenansicht« zeigt konsequent eine Differenz zwischen dem »Bewußtseinshorizont« der »Figuren« und dem »Standpunkt des Protokollanten«.21 Die Reduktion lebensgeschichtlicher Erzählverfahren führt in Kluges »Lebensläufen« zu keiner Tilgung der Erzählerinstanz, deren epische Möglichkeiten dann auch nicht mehr zu beschreiben wären. Vielmehr lassen sich sogar folgende Indikatoren für die Kontinuität eines traditionell auktorialen Erzählens erkennen, das ein besonderes Geschehen der Vergangenheit als Abweichung von einer angeblich allgemeingültigen Wertordnung der Gegenwart vorstellt: 1. Der Bericht aus der historischen Distanz betont den zeitlichen Abstand zwischen dem Vorgang des Erzählens und dem erzählten Geschehen. Der Erzähler besitzt als organisierendes Prinzip den souveränen Überblick, um vergangene Zeitgeschichte ebenso überlegen darzustellen wie die persönlichen Erlebnisse der Hauptfiguren: »Im Spätsommer 1943 nutzte der Russe die sich öffnende Lücke zwischen der deutschen Süd- und Mittelfront, auf deren Schließung sich alle Mühe der Führung konzentrierte, aus, indem er an einer ganz anderen Stelle angriff. [...] In diesen Tagen befand sich die Fahrzeugkolonne der Abteilung Boulanger, die sechs russische Offiziere mit sich führte, in der Nähe des Knotenpunkts Schlichta bei Smolensk. Unweit eines Waldgeländes gerieten die Mitarbeiter Boulangers in einen Partisanenüberfall. Boulanger selbst entkam verwundet mit den Spitzenfahrzeugen.« (18f.)

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So der Klappentext von Kluges Neubearbeitung der »Lebensläufe« (1974). Puknus, Kluges »Lebensläufe«, S. 39 und S. 41.

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2. Der zeitliche Abstand ermöglicht es dem Erzähler, das Geschehen in detaillierter Kenntnis der chronologischen Reihenfolge wiederzugeben - als wäre er damals dabei gewesen - und den gegenwärtigen Bericht der Handlung doch zugleich durch Zeitraffung auf das Wesentliche zu konzentrieren: »In BRAUNSCHWEIG arbeitete sie im November, bis sie, mit der Fünf-Uhr-Welle zum Haus ihrer Wirtin kommend, Polizei vor dem Haus sah. Sie floh nach STUTTGART. Von STUTTGART floh sie unter Hinterlassung von Hotelrechnungen nach MANNHEIM, KOBLENZ, WUPPERTAL, unter U m g e h u n g v o n DÜSSEL-

DORF, von WUPPERTAL nach KÖLN, die Nähe von KOBLENZ schreckte sie ab und sie wich aus nach DARMSTADT.« (109) 3. Der Erzähler kennt nicht nur das Innenleben und die Motive des jeweiligen Protagonisten: »B.'s Gedanke: Du darfst jetzt nicht zum Trinker werden« (15), sondern hat auch Einblick in das Handeln und Denken anderer Figuren (58, 93, 97-102, 103, 112-140, 159-219). So kann partiell eine polyperspektivische Erzählstruktur entstehen, in der sich die verschiedenen Sichtweisen der Figuren wechselseitig relativieren.22 4. Die Handlungen des Protagonisten vermag der Erzähler mit Normen zu konfrontieren, die dem begrenzten Werthorizont der betroffenen Figur offensichtlich widersprechen und den besonderen Lebenslauf als Abweichung von den Maßstäben einer >Allgemeinheit< kennzeichnen. So lassen Fragen das Unverständnis der bürgerlichen Normalität gegenüber Anita G.s ständiger Flucht erkennen: »Warum begeht sie auf ihren Reisen immer wieder Eigentumsdelikte? [...] Weshalb ordnet dieser intelligente Mensch nicht seine Angelegenheiten befriedigend? [...] Man kann nicht wie ein Zigeuner in der Gegend herumziehen. Warum verhält sie sich nicht dementsprechend? Warum schließt sie sich dem Mann nicht an, der sich um sie bemüht? Warum stellt sie sich nicht auf den Boden der Tatsachen? Will sie nicht?« (92) 5. Der ordnende Zugriff des Erzählers manifestiert sich in einer Vielzahl von Teilüberschriften, die ihre Funktion traditionell als vorweggenommene Deutungen am Beginn einzelner Handlungsabschnitte haben. In Form von Stichworten, Frage- und Aussagesätzen deuten diese Zwischentitel eine zusätzliche Ebene des Kommentars an, indem sie verschiedene narrative Strukturelemente hervorheben: Figuren (siehe etwa 4 1 , 4 5 - 5 1 ) und deren Eigenschaften: »Guter Wille« (13), »Furchtsamkeit« (101); Handlungsabsichten und Bedürfnisse: »Auf der Suche nach etwas Gutem« (43), »Schutzbedürfnis« (100); Handlungsbedingungen: »Unterstellungsverhältnisse« (14), »Kurze Bestandsaufnahme« (154); Handlungen und Ereignisse (siehe etwa 102, 108f.); Normenkonflikte: »Zur Gerechtigkeitsliebe« (37), »Korti und die Todesstrafe« (218); die nachträgliche Deutung des Geschehens: »Infektion am Gegner« (21), »Die Ausgeplünderte« (110), und sogar Prognosen über die Zukunft: »Zum ewigen Frieden aus dem Geiste der Justiz« (208), »Korti und kein Ende« (219). Solche Verfahren, die in unterschiedlichem Umfang die einzelnen Texte prägen, stehen in der Tradition eines auktorialen Erzählens, das ein irritierendes Geschehen als Ausnahme präsentiert und erklärt. Zugleich aber läßt sich beobachten, daß die »Lebensläufe« hier mit dem Erzählen von abweichendem Verhalten vor allem eine Beschreibung von »Bezugssystemen« 23 leisten, von starren gesellschaftlichen Verhältnissen und kol22 23

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Siehe hierzu auch Puknus, Kluges »Lebensläufe«, S. 41. Heißenbüttel, Von der Kunst des Erzählens im Jahre 1962.

lektiv wirksamen Ideologien. Schon die Vernachlässigung oder Verletzung der Chronologie durch die Montage läßt als Korrektiv zum personengeschichtlichen Erzählen eine stiukturgeschichtliche Orientierung erkennen.24 Nicht so sehr individuelle Motive, Entscheidungen und Handlungen stehen im Zentrum des Interesses, sondern vielmehr deren historisch-gesellschaftliche Bedingungen, Spielräume und Möglichkeiten. Ein Grund für die Zunahme von deskriptiven Elementen bei erzählenden Texten ist in der zeitgenössischen »Erfahrung von Geschichte als anonymem Prozeß« zu suchen, in der Erfahrung, daß »die meisten anonym Geschichte nur erleiden«25 als Abfolge von sozialen Strukturen, die weniger erzählt als vielmehr beschrieben werden können. Eine solche Situation gestattet allerdings auch dem Biographen der »Lebensläufe« nicht mehr jenen sicheren Überblick über das besondere Geschehen. Die beschriebenen auktorialen Strukturelemente werden deshalb rigide eingeschränkt. Sie sind nur noch Bruchstücke einer narrativen Kompetenz, die in ihrer gegenwärtigen Gestalt besonders den allgemeinen Mangel an historischem Bewußtsein erweist: Auch der Biograph erzählt hier in »Lebensläufen« Geschichte, ohne daß er diese bewältigt hätte. 1. Schon daß die Aneignung der vergangenen Ereignisse nicht als illusionistische Vergegenwärtigung, sondern als historisch-distanzierter Bericht von kurzen Lebensläufen erfolgt, engt die Verfiigungsmacht des Erzählers auf die nachträgliche Rekonstruktion ein, erzwingt jenen »Verzicht auf eine Beschaulichkeit, die für den Historismus bezeichnend ist«, und destruiert dessen Anspruch, Geschichte so zu erzählen, >wie es eigentlich gewesen istKeine Experimente< - der Sujetaufbau der »Lebensläufe« Die bisher beschriebene Reduktion auktorialen Erzählens vereinfacht nicht die Textstruktur, sondern ermöglicht eine »radikale Komplexität der Erzählweise«.37 Der Leser muß eine Vielzahl von Erfahrungsbruchstücken verarbeiten, wenn er die Bedeutung der einzelnen Geschichten auf den Begriff bringen will, kann sich dabei aber nicht auf eine vom Biographen eingebrachte Wertordnung verlassen. Dasjenige in einer Interpretation des Textes »auszufüllen«, was durch eine solche Erzählweise ausgespart ist, bleibt jedoch keineswegs beliebig »den Bedürfnissen und der Phantasie des Lesers überlassen«.38 Weil die aktive Rolle des Rezipienten zum Verständnis eines jeden literarischen Textes vonnöten ist, liegt darin sicher nicht das wiederholt betonte Spezifikum der Sammlung.39 Nicht die Faktizität, sondern die Qualität der eingeforderten Leseraktivität ist maßgebend, und die Irritation einer bestimmten Erwartungshaltung wird ja niemals durch beliebige Vorstellungen des jeweiligen Lesers geleistet, sondern durch die literarischen Verfahren des Textes vorstiukturiert, welche im Prozeß der Rezeption intersubjektiv zugängliche Bedeutungsaspekte - Konnotationen - hervorrufen. Diese semantischen Relationen, die »nicht auf emotionsgesteuerten subjektiven Assoziationen beruhen, sondern auf der [...] Verfügbarkeit eines sozialen oder kulturellen Kodes«,40 erzeugen die »Lebensläufe« vor allem durch die Collage von fiktivem und dokumentarischem Material. Einerseits spielen sie direkt auf eine Vielzahl von historischen Ereignissen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit an, die im damaligen Bewußtsein präsent waren. Andererseits wird dieser dokumentarische Stoff mit den Biographien von Zeitgenossen kombiniert, die öffentlich als unbekannt und nicht identifizieibar, deren Lebensgeschichten deshalb als fiktionale gelten: Ob der jeweiligen Figur eine reale Person entspricht, ist dort ohne Relevanz, wo die dokumentierten zeitlichen Rahmenbedingungen so außergewöhnlich und >phantastisch< erscheinen, daß die dargestellten Lebensläufe keineswegs mehr als unwahrscheinlich angesehen werden können, mögen sie nun »erfunden« oder »nicht erfunden« (7) sein. Die besondere Aktivität des Lesers besteht hier nicht darin, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen und damit nur die eigenen Vorstellungen zu reproduzieren. Wo er die Verwendung von fiktivem und authentischem Material in ihrer ästhetischen

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Kluge, Die schärfste Ideologie, S. 297. Baumgart, Lebensläufe, S. 143; ähnlich siehe auch Lewandowski, Alexander Kluge, S. 19 und S. 55. So aber Baumgart, Lebensläufe S. 145; Voßkamp, Deutsche Zeitgeschichte in der Gegenwartsliteratur, S. 17; Drews, Alexander Kluge, S. 333; Voßkamp, Literatur als Geschichte? S. 240; Voßkamp, Alexander Kluge, S. 305. Schulte-Sasse/Wemer, Einführung in die Literaturwissenschaft, S. 108. - Zur Bedeutung von Konnotationen in Kluges Werk siehe Bechtold, Die Sinne entspannen, S. 216-219. Bechtolds Einsicht, daß Konnotationen »von subjektiven Assoziationen ad libitum« (S. 217) zu unterscheiden sind, wird freilich wieder zurückgenommen, wenn es später über die beliebige Aktivität des Lesers heißt: »Der Rezipient kann auf den unterschiedlichsten Ebenen, an den verschiedensten Anschlußstellen in den Text eindringen, um von dort aus, indem er seinen Sinnen, seinem Erinnerungs- und Assoziationsvermögen, seiner Phantasietätigkeit freien Lauf läßt, Konnotationen hinzufügt, Verbindungen herstellt, die vielfältigen komplexen Bedeutungszusammenhänge erschließen.« (S. 229)

Funktion begreift, zeigt sich vielmehr, daß die »Lebensläufe« nicht auf die Affirmation subjektiven Bewußtseins zielen, sondern auf die kritische Reflexion von Zeitgeschichte. Vor einer Interpretation der einzelnen Erzählungen soll diese These in einer Analyse derjenigen Strukturprinzipien veranschaulicht werden, die den Sujetaufbau der vorliegenden Sammlung übergreifend konstituieren. Einen Hinweis darauf gibt bereits das »Vorwort«, wenn es »die Frage nach der Tradition«, die Frage nach der Gegenwart von Vergangenheit, als das Gemeinsame aller Lebensgeschichten thematisiert und die beiden Zeitdimensionen in den Zusammenhang »einer traurigen Geschichte« (7) bringt. Dieser Oberbegriff gilt nicht nur der Einheit von neun Lebensläufen, die in der Makrostruktur des Textes durch eine Vielzahl von semantischen Äquivalenzen signalisiert wird,41 sondern bezieht sich auch auf die reale Zeitgeschichte, welche ja die Resultante aller Lebensläufe in einer Epoche darstellt. »Vergangenheit als Gegenwart« und »Gegenwart als Vergangenheit«42 werden in Kluges Erzählungen unter »sehr verschiedenen Aspekten« (7) auf Kontinuität hin untersucht, nicht aber als starrer Gegensatz begriffen. Eine solche Konstruktion der »Lebensläufe« steht 1962 in kritischer Opposition zu einem Geschichtsbild der bürgerlichen Öffentlichkeit, das die Vergangenheit des >Dritten Reichs< als aufgearbeitet und deshalb als abgeschlossen erklärte. Die »für die 50er und frühen 60er Jahre typische Legitimation der Veriiältnisse«, den »Hinweis auf die Überwindung der faschistischen Diktatur, die Errichtung demokratischer Institutionen« 43 akzeptieren Kluges Erzählungen nicht. Sie beharren vielmehr darauf, daß die Veränderung des politischen Systems allein noch keinen »neuen Anfang« (147), keinen Aufbruch 41

Zahlreiche Wiederholungen im Detail verketten die Erzählungen miteinander. Orte und Gegenden: »Flörsheim« (12, 183, 193), »Kroatien« (77, 193); Jahreszeiten: das schöne Wetter im Frühjahr 1945 (41, 212); Figuren: Rendulic (20, 32), Glaube (36,182), Sonderkommandos in Einsatzgruppen (14,215f.); Charaktereigenschaften und Handlungen: »guter Wille« (13,41,90) und die Hoffnung auf ein gutes Ende (72,219), die Erfolgsorientierung von Männern (123,130, 133,159,169), ihre Vorsicht (24,133f., 195,218) und ihre Abwehr von Belastungen (96,126, 204), demgegenüber die Unfähigkeit von Frauen, eigene Bedürfnisse zu artikulieren (104,204f.) und der Rolle des Opfers zu entkommen (92-110,122f., 142-145), der zweckrationale Umgang mit Gefühlen in der Liebe (95, 123, 128-130, 142-145, 161f„ 175f., 199), das sinnlose Aufrechterhalten von Hauptquartieren im Dritten Reich (19, 32f.), die eingeschränkte Verfolgung und Ahndung von damals begangenen Straftaten in der Gegenwart (20, 37,180f., 217), das Wärmebedürfnis von Juristen (100,161), die fehlende Anerkennung der zeitgeschichtlichen Gründe von Traumata und Verbrechen in der Rechtsprechung (92,177-82,183f.), Willkürakte der Bahnpolizei (108f., 166-168), autoritäre Bewährungshelfer (92, 165f.) und die Dominanz wirtschaftlicher Interessen (52,158) - all diese vielfältigen Übereinstimmungen deuten über die Grenzen der einzelnen Lebensläufe hinweg »eine traurige Geschichte« (7) an.

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Roberts, Die Formenwelt des Zusammenhangs, S. 115. - Die »Frage nach der Tradition« (7) meint keinen »Verlust an Tradition« (Baukloh, Energische Aktennotizen, S. 13; ähnlich auch Mog, Kälte und Selbsterfahrung, S. 360), sondern die gegenwärtige Realität einer »Tradition der Domestizierung« (Blöcker, Die Fiktion des Objektiven, S. 203), die ihren vorläufigen historischen Höhepunkt in derZeit zwischen 1933 und 1945 gefunden hat: »Die >Fragenach der Tradition< ist also die Frage, wieweit das Dritte Reich mit seinen Folgen in die Bundesrepublik hineinwirkt, d.h., ob das Jahr 1945 überhaupt einen wirklichen Einschnitt in der deutschen Geschichte darstellt.« (Drews, Lebensläufe, S. 5544). Ähnlich siehe auch Drews, Alexander Kluge, S. 323; Pott, Literarische Produktivität, S. 364f.; Puknus, Kluges »Lebensläufe«, S. 38f. Mommsen, Die Last der Vergangenheit, S. 169.

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in einen unentfremdeten Erfahiungsraum mit sich gebracht hat, und entlarven damit die Distanzierung vom Herrschaftsraum der Vergangenheit als Ausdruck von Verdrängung und Erinnerungsverlust. Mit diesem Sujetaufbau sind die »Lebensläufe« einem zentralen Denkmuster der antiautoritären Generation verpflichtet, die während der 50er und frühen 60er Jahre zunächst in Elternhaus und Schule die »Frage nach der Tradition« (7) des Faschismus aufwarf, zumeist unzureichende Antworten erhielt und sie dann erneut vorlegte. In der Universität und in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit stellte die Protestbewegung vor allem in ihrer ersten Phase ein Defizit zur Diskussion, das zuvor überwiegend nur im Umkreis der Kritischen Theorie reflektiert worden war. Bereits 1959 hatte Adorno in seiner Erläuterung der Frage: »Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?« vom »Schrumpfen des Bewußtseins historischer Kontinuität in Deutschland« gesprochen und gegen solche Tendenzen des Vergessens erklärt: »Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären. Nur weil die Ursachen fortbestehen, ward sein Bann bis heute nicht gebrochen.« Die »Kontinuität« der »Ursachen«, darunter verstand Adorno zum einen die »objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen«, zum anderen aber auch die psychische Dominanz einer autoritären Charakterstruktur, die »gar nicht so sehr mit politisch-ökonomischen Kriterien zusammengeht. Vielmehr definieren sie Züge wie ein Denken nach den Dimensionen Macht Ohnmacht, Starrheit und Reaktionsunfähigkeit, Konventionalismus, Konformismus, mangelnde Selbstbesinnung, schließlich überhaupt mangelnde Fähigkeit zur Erfah44

rung.« Wie die antiautoritäre Bewegung folgen auch die »Lebensläufe« 1962 diesem sozialpsychologischen Erklärungsmuster der Kritischen Theorie, wenn sie die Kontinuität von sozialen Normen und psychischen Mechanismen an neun Einzelfällen demonstrieren, an Lebensgeschichten von Unprominenten die sogenannte Privatsphäre historisch in den Blick nehmen. Mit einer derartigen »Versenkung ins Einzelne« setzt Kluges Sammlung zugleich jene Betrachtungsweise narrativ um, die Adorno »Mikrologie« 45 und Günther Anders »Mikroskopie« genannt haben. In seinem 1956 erschienenen Buch »Die Antiquiertheit des Menschen« entwickelt Anders das Verfahren, »mittels übertreibender Verbildlichung Wahrheit zu gewinnen«, an einer besonderen Erscheinung: an der »Unfähigkeit, seelisch >up to dateTotalaufnahme< machen: indem sie ganze »Lebensläufe« vorführen. Bis auf die Adelige allesamt von bürgerlicher Herkunft, stellen die Figuren weder historische Helden noch ausgeprägte Individuen dar, sondern soziale Typen, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung oder ihrer beruflichen Tätigkeit die entsprechenden Normen widerstandslos verinnerlicht haben.48 »Durchschnittliche Menschen«, zwischen 1885 und 1935 geboren, kommen »in extreme und dennoch exemplarische Situationen«,49 wenn sie in ihrem Lebenslauf auf durchaus ungewöhnliche Weise mit dem System des Faschismus konfrontiert werden: Den Auswirkungen eines diktatorischen Regimes ausgesetzt und bei der Realisierung ihrer Lebenspläne doch auf die naturzeitlichen Bedingungen angewiesen, geraten die meisten Figuren mit juristischen oder moralischen Normen spätestens dann in Konflikt, wenn sich mit dem Ende des Faschismus auch wieder die allgemein anerkannten Werte wandeln, die sozialen Maßstäbe dafür, welches Handeln vor dem Gesetz nun als recht oder unrecht und Süden einzelnen als moralisch oder unmoralisch gelten soll. Auf diesen Prozeß müssen die Individuen in ihren Lebensläufen reagieren: sie können ihr Verhalten ändern oder beibehalten, sich verweigern oder sich anpassen. Wenn die meisten Erzählungen durch ihre biographische Konstruktion das Leben der Figuren über das Jahr 1945 hinweg verfolgen, legen sie nicht nur die gesellschaftliche Begrenztheit von Weiss' Aufbruchsmodell bloß, sondern enthüllen auch, wie die antiautoritäre Bewegung, eine zeitge-

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darauf hat bisher nur Mog bei der Interpretation eines Textabschnitts aus der Erzählung »Manfred Schmidt« hingewiesen (siehe Mog, Kälte und Selbsterfahrung, bes. S. 361 und 369f.; Zitat S. 368). Diese Beobachtung gilt indes für die gesamte Konstruktion der »Lebensläufe«. Zum Verfahren der Übertieibung siehe schon Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 106. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 16, S. 351, S. 277, S. 19, S. 277 und S. 15. Siehe hierzu auch Skriver, Röntgenbilder der Barbarei; Wanike, Sezierte Vergangenheit; Baumgart, Lebensläufe, S. 143; Blöcker, Die Fiktion des Objektiven. - Das »Aussparen« des Besonderen an den »von Kluge gemeinten typischen Gestalten« kritisiert Baukloh, Energische Aktennotizen; ähnlich siehe auch Eifler, Debüt eines deutschen Erzählers. - Eine solche Position verkennt den metonymisch-modellierenden Charakter der Kunst (siehe hierzu Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, bes. S. 22-31 und S. 34-44): sie leistet nie die umfassende Darstellung von Personen, sondern hebt an Figuren nur das Wesentliche hervor. Auf diesen Aspekt zielt auch Adornos Kritik an der »Ideologie des Besonderen«: »Daß immer noch spontan Handelnde existieren, und ihre Darstellung, durch die ihrem Handeln entscheidender Einfluß bestätigt wird, ist aber zweierlei.« Für die zeitgenössische Kunst fordert Adorno deshalb ein historisch angemessenes Erkenntnisinteresse: »Daß die Menschen nach den Produktionsmethoden gemodelt werden, ist abscheulich, aber es ist so lange der Weltlauf, wie sie im Bann der gesellschaftlichen Produktion stehen, anstatt über diese zu gebieten.« (Adorno, Offener Brief an Rolf Hochhuth, S. 591, S. 595, S. 592.) Reich-Ranicki, >LebensläufeAufbruch< und keine >WendeStunde null· und kein >Neuanfang< haben in diesen »Lebensläufen« mit dem Ende des Krieges stattgefunden. Von einer Entwicklung des Individuums nach dem Muster des Bildungsromans kann, anders als bei der Erzählung »Abschied von den Eltern«, nicht mehr die Rede sein; keine Überwindung der autoritären Charakterstruktur gelingt hier. Die Kontinuität eines Herrschaftsraums im psychischen Apparat machen Kluges Erzählungen als »eine traurige Geschichte« (7) am Beispiel von Figuren bewußt, auf deren Handeln die Formel »Keine Experimente« zutrifft. Diese Schlagwort, ursprünglich die Wahlkampfparole der CDU von 1957, ist nach Mitscherlich die »Kurzdefinition« eines sozialpsychologischen Zustande, welche die »Ich-Entleerung« einer Gesellschaft meint, eine »Schwäche«, »die das Ich in seinem produktiven und integrierenden Anteil bei der Gestaltung der sozialen Realität« erkennen läßt: »äußerliche Gewohnheitselemente, Verhaltensmuster und Konformismen, welche eine darunterliegende ziemlich unartikulierte Lebensform wie eine Kulisse verdecken«. 50 Diese »unartikulierte Lebensform« enthüllen die »Lebensläufe« in der Abfolge von neun selbständigen Erzählungen unter »sehr verschiedenen Aspekten« (7).

4.4. Der integrierte Henker: ohne Schuldbewußtsein und Strafe Die Konfrontation von Gegenwart und Vergangenheit arrangiert der erste Text dadurch, daß er dem Erzählerbericht über die 1942/43 begangenen Verbrechen von Oberleutnant Boulanger (11-20) dessen 1961 in einem Interview abgegebene Erklärungen (20-25) gegenüberstellt. Am Extremfall eines Individuums, das zunächst einen ganz >normalen< Lebensplan verfolgt, dann aber zum berechnenden Mörder wird und auch nachher kein Schuldbewußtsein entwickelt, gibt diese Lebensgeschichte die sozialpsychologischen Mechanismen zu erkennen, welche die faschistische Vergangenheit möglich gemacht haben und deren Verständnis auch in der Gegenwart noch immer verhindern.

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Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 20f.

Das Zitat des Briefs von Professor Hirt (llf.). eines authentischen, seit 1948 veröffentlichten Dokuments, das als solches nicht explizit ausgewiesen und dadurch auch nicht vom fiktiven Stoff des dargestellten Lebenslaufs abgesetzt wird,51 führt drastisch die unmenschliche Aufgabe vor, welche eine Forschung an den einzelnen stellt, der für die Rassentheorie als faschistischer Legitimationsideologie die wissenschaftliche Verbrämung liefern soll. Ohne jeglichen Einsprach präsentiert die Erzählung solche Anforderungen; sie erklärt Boulangers Entscheidung, wie die vielen Mitläufer des Systems unter den vorgegebenen Bedingungen einer Barbarei die »Chance« (12) zum Aufstieg zu nutzen,52 allein durch die Registrierung ebenso wirksamer wie verbreiteter Motive. Diese sind: ein »guter Wille« (13), der in der Realität von Gewalt aber auf bloße Effizienz zielt; die Erfahrung des Scheitems des bisherigen Lebensplans (»Was er eigentlich lieber geworden wäre«); schließlich das Angebot von materiellen und sozialen »Vorteilen der neuen Stellung« (13). Von Konflikten des in seinen Beweggründen so durchschnittlichen Protagonisten mit Gesetz und Gewissen aber gibt es nichts zu erzählen. Sympathetisch das Normensystem Boulangers reproduzierend, beschreibt die Perspektivfigur die militärischen »Unterstellungsverhältnisse«, die dem Oberleutnant die Legalität seines Tuns suggerieren, und das »Verhältnis« zu einer »Offiziersehre« (14), welche von inneren Zweifeln an der Legitimität ungetrübt bleibt. Diese werden erfolgreich zurückgedrängt durch die Abweisung jeglichen Mitgefühls und durch den Hinweis auf die allgemeine Befolgung von Hitlers »Kommissarbefehl« zur Ausrottung der kommunistischen Führungsschicht.53 Wenn dann erzählt wird, wie perfektionistisch Boulanger immer wieder die »Aufgabe« erfüllt, »Präzision in das hoffnungslose Ende der kriegsgefangenen Kommissare zu bringen« (17), veranschaulicht Kluges Geschichte an einem Extrembeispiel den Gehorsam des pflichtbewußten Untertanen, dessen Maxime die optimale Erledigung eines Befehls ist: »Es muß in der Ausführung das ausgeglichen werden, was in der Aufgabenstellung nicht durchdacht oder nicht zu billigen ist.« (16f.) Kein tätiges Mitgefühl mit den Opfern entwickelt der Forscher und Henker, indem er in Gcsprächen und schriftlichen Aufzeichnungen die Gedanken der Gefangenen festhalten läßt: »So identifizierte sich Boulanger gewissermaßen mit der geistigen Leistung seines Forschungsgegenstandes« (18). Durchaus repräsentativ für die Volksgenossen,54 entsteht erst dann die Ahnung einer sogleich wieder abgewehrten Schuld, wenn sich der militärische Zusammenbruch andeutet: »Umgeben von siegenden deutschen Truppen, Stäben, die nichts einzuwenden hatten, und im Dienst der Forschung entwickeln sich keine Schuldgefühle; plötzlich verändert sich die Situation. Wie auftretende Zugluft ist das Schuldgefühl da, vor dem man sich hüten muß, wie Frühlingsanfang vor offenen Türen, die nur Erkältungen, ja Lungenaffektionen bringen.« (19) Am Ende des Krieges ist die 51

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Siehe hierzu Medizin ohne Menschlichkeit, hg. von Mitscherlich/Mielke, S. 174-182: »Jüdische Skelettsammlung für die >Reichsuniversität< Straßburg«. Dort ist auch der Brief von Professor Hirt zitiert (S. 174f.). Zu dieser Quelle siehe schon: Der Spiegel, Kurze Prozesse, S. 120. Siehe hierzu Zapf, Wandlungen der deutschen Elite, S. 51-54; Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, S. 68-71. Siehe hierzu Reitlinger, Ein Haus auf Sand gebaut, S. 75-113 und S. 142-149; Jacobsen, Kommissarbefehl und Massenexekutionen sowjetischer Kriegsgefangener. Siehe hierzu Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, bes. S. 33f.; Jäger, Verbrechen unter totalitärer Herrschaft, S. 284f.

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Hauptfigur schließlich wie die vielen, die in der »freien Fahrt« nach >Ostland< den Aufbruch aus »beengten Verhältnissen« (15) gesucht haben, um die Erfüllung all ihrer Hoffnungen betrogen. Während die ersten vier Teile der Erzählung an einem Einzelfall kritisch gegen das zeitgenössische Bewußtsein in Erinnerung rufen, welche Verbrechen in der Vergangenheit durch eine autoritäre Charakterstruktur und aus weitverbreiteten Motiven wie gutem Willen, Hoffnung auf Aufstieg und materielle Sicherheit, Pflichtbewußtsein und Fleiß, Mitleidlosigkeit und Härte möglich gewesen sind, zeigt der fünfte Teil, daß eine angemessene Bewältigung dieser Ereignisse durch den »Fluchtversuch der Verdrängung«55 in der Gegenwart noch immer verhindert wird. Als persönliche »Katastrophe« (21) gelten für Boulanger 1961 nicht etwa die Verbrechen im Faschismus, sondern ein geschäftlicher Bankrott und eine Gefängnisstrafe in der Nachkriegszeit. Zwar ist der Topos der Vergangenheitsbewältigung zitiert, wenn der deklassierte, aber gesellschaftlich integrierte Forscher und Henker seine weltanschauliche >Wende< - »er sei Marxist« (20) - an einem praktischen Beispiel belegt: »Die Übernahme einer ähnlichen oder verwandten Tätigkeit werde er in Zukunft ablehnen.« (24) Doch die weiteren Aussagen lassen die sozialpsychologische Erkenntnis anschaulich weiden, daß die behauptete »Wandlung« (22) noch immer jener »universalen Bewußtseinsspaltung« entspringt, »die es im nationalsozialistischen Deutschland zahllosen Menschen« ermöglichte, »mit dem Gefühl selbstloser Hingabe und ungestörtem Selbstbewußtsein dem Regime Hitlers und Himmlers zu dienen, auch wenn dessen verbrecherischer Charakter nicht mehr zu verkennen war«.56 Wie der Protagonist schon 1942/43 »Gedanken und guten Willen dahin trug, wo sie der Ausführung nicht schaden konnten« (17), so hat sein angeblich gewandeltes Bewußtsein auch 1961 keinerlei Auswirkungen auf ein restauratives Normensystem, das in den 50er und frühen 60er Jahren noch immer aktuell ist: Kommunisten gelten weiterhin als militärische »Gegner« (18/21); die »Meinung«, »daß alle Menschen gleich sind«, wird als unvernünftig verworfen; »Sühne« für die Taten im Krieg hat man nicht zu leisten; die politische »Inaktivität« (24), typischer Ausdruck einer »fortschreitenden Entpolitisierung« der Bevölkerung57 nach der risikoreichen »Aktivität« im Faschismus (24), schließt für die Zukunft ausdrücklich eine Tolerieiung ähnlicher Verbrechen mit ein, nicht aber das Engagement für eine demokratische Gesellschaft: »Wahrscheinlich werde er nichts tun und abwarten.« (24) Von der Gerichtsbarkeit der Bundesrepublik aber kann Boulanger - wie Professor Hirt wegen seiner Flucht (24f.) - nicht mehr belangt werden; die Grenze einer juristischen Verfolgung bildet im Fall des Oberleutnants allerdings die »Verjährung« seiner Straftaten im >Dritten Reich< (20). Kluges Text spielt mit diesem Strukturelement auf ein aktuelles Problem an, das im Frühjahr 1960 erstmals in das Blickfeld der bundesdeutschen

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Mitscherlich, Von der Absicht dieser Chronik, in: Medizin ohne Menschlichkeit, hg. von Mitscherlich/Mielke, S. 15. so Broszat, Einleitung, in: Höß, Kommandant in Auschwitz, S. 19. - Siehe hierzu auch Lewandowski, Alexander Kluge, S. 28f. 57 Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, S. 122f. - Zum »emotionellen Antikommunismus« als der »offiziellen staatsbürgerlichen Haltung« siehe Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 142.

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Öffentlichkeit trat: am 8. Mai 1960 verjährten im Krieg begangene Verbrechen wie Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, Freiheitsberaubung mit Todesfolge, Raub, aber auch Beihilfe zu einem vor dem 5. Dezember 1939 erfolgten Mord.58 Weil Boulangers Vergehen aus den Jahren 1942/43 aber zumindest als Beihilfe zum Mord, wenn nicht als Mord zu bewerten sind, zielt die Erzählung mit der Straffreiheit der Titelfigur auf eine Kritik an der juristischen Subsumtion solcher Verbrechen unter den Tatbestand des Totschlags und damit auf eine Kritik am gesetzlich abgesicherten Fehlen jeglicher Untersuchung, Rechtssprechung und Sühne des brutalen und planmäßigen Massenmords. Die Lebensgeschichte von Oberleutnant Boulanger enthüllt jedoch nicht nur die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit, indem die ehemaligen Vergehen des Täters mit seinem fehlenden Schuldbewußtsein und seiner Straffreiheit in der Gegenwart konfrontiert werden. Der Text demonstriert an der Figur des Journalisten auch diejenige Haltung, welche die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit letztlich akzeptiert. Zwar ist der »Korrespondent des Blattes >L'Humanit£L'Humanitd< ergeben. Sie hätten nach Beendigung des Interviews gem noch einen gemeinsamen Kaffee getrunken. Es erwies sich aber als unmöglich.« (25) Auch der Vertreter der Presse ist nach dem kritischen Gespräch bereit, >normalen< Umgang mit dem integrierten Henker zu pflegen.39 Der Schlußabschnitt zeigt noch einmal in aller Schärfe die groteske Situation, in der sich Justiz, Mörder und Öffentlichkeit darin einig sind, daß man wieder zum Alltag übergehen könne - so als hätte sich seit 1942/43 nichts geändert und die Enttäuschung darüber, daß »kein Schluck Kaffee« (25) mehr zu haben ist, sei am Ende der Geschichte festzuhalten, nicht aber die Erinnerung an die Opfer und die Ursachen ihres Todes.

4.5. Gesundes Volksempfinden oder: der pflichtbewußte Kriminalbeamte Die erste Erzählung entwirft das Bild einer Gesellschaft, in der ein ehemaliger Mörder ohne Sühne integriert ist. Als Entsprechung dazu demonstriert die zweite Lebensgeschichte an der Biographie eines Kriminalbeamten das »Hinscheiden einer Haltung« (26): den Verlust des Willens, im >Dritten Reich< begangene Verbrechen überhaupt noch zu verfolgen. Wieder ist hier die vom Erzähler berichtete Vergangenheit (26-34) mit ihrer gegenwärtigen Bewertung in einen Zusammenhang gestellt; die dokumentierte Diskus-

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Siehe hierzu Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, S. 151-156. - Zur zeitgenössischen Rechtsprechung siehe auch Enzensberger, Reflexionen vor einem Glaskasten, S. 27. Nur die begrenzte Sicht der Figuren reproduziert Lewandowski (Alexander Kluge, S. 30), wenn er »Schwierigkeiten mit dem« scheinbar »Menschlichen in der rationalistisch organisierten kapitalistischen Gesellschaft« dafür verantwortlich macht, daß Mörder und Interviewer keinen gemeinsamen Kaffee trinken können. 97

sion (34-38) vom Juni 1961 hat die Ereignisse aus dem Januar 1945 zum Gesprächsgegenstand. Durch diese Konstruktion enthüllt der Text eine bis zum Anfang der 60er Jahre stark verbreitete Neigung der zuständigen Organe, in der juristischen Untersuchung solcher Straftaten gar keine Initiative mehr zu ergreifen, und macht damit zugleich die restaurative Bewußtseinslage anschaulich, die jene Passivität erst ermöglichte. Während die örtlichen Behörden 1945 einen Mord und damit die Illegalität dulden, da »man in der gefährlich angespannten Situation nicht sozusagen die eigenen Leute umbringen dürfe« (28), will Kriminalrat Scheliha dem Gesetz auch noch kurz vor der Auflösung des faschistischen Systems zu seiner Geltung verhelfen. Kriminalistische Untersuchung, Fahndung, schließlich Verfolgung auf eigene Faust sind von dem unbeugsamen Willen bestimmt, auch unter extremen Umständen den Täter »der gerechten Sühne« (26) zuzuführen und »dem verletzten Recht Genugtuung« zu »verschaffen«. (32) Dem pflichtbewußten Beamten ist das Strafgesetz gleich Kant ein kategorischer Imperativ, dem auch unter hohen persönlichen Risiken Folge geleistet werden müsse. Die entsprechende Zitatmontage (34) aus der »Metaphysik der Sitten«60 manifestiert als »Haltung« (26) Schelihas indes nicht in die »prinzipielle Überordnung der Gerechtigkeit über alle Politik«,61 sondern einen »positiven Rechtsfanatismus«, den Kants Werk theoretisch legitimiert, wie Emst Bloch 1961 im Bezug auf eben diese Stellen erläutert: »Das bis an sein Ende getriebene positive Gesetz täuscht hier durch Intensität (Unnachlaßlichkeit) vor, was ihm an Qualität (Koexistenz freier Individuen) fehlt.«62 Diese Art von Rechtsleidenschaft erweist sich auch noch für die Strafverfolgung im faschistischen >Unrechts-Staat< als nützlich; daß Schelihas Bemühungen durch den Zusammenbruch 1945 mit einer paradoxen Verkehrung enden: der Gefangennahme des Kriminalbeamten und der Freiheit des Mörders, nimmt an der grundsätzlichen Funktionalität solchen Handelns nichts zurück. Mit dem Topos der >Stunde null< erweckt die Erzählung am Beginn des siebten Abschnitts den Eindruck scheinbar günstigerer Bedingungen für die Strafjustiz: »Als Scheliha 1953 aus der Gefangenschaft zurückkehrte, hatten sich die Umstände in Deutschland verändert.« Doch sofort wird die Vorstellung vom Neuanfang destruiert: »Scheliha nahm von einer weiteren Verfolgung v. Z.'s, der im Rheinland eine Stellung bekleidete, Abstand.« (34) Diese Verhaltensänderung als Anpassung an den historischen Wandel überrascht zunächst angesichts des bisherigen Lebenslaufs, stellt sie doch das

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Schon eine Interpretation von Kants Ausführungen ist diese Zitatmontage, durch die das Postulat von der Hinrichtung eines jeden Mörders nach dem Sühneprinzip (Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 333) mit der Polemik Kants gegen das Prinzip der Prävention kombiniert wird (S. 331f.). Denn mit dem negativen Beispiel des Pharisäers Kajaphas bei der Verurteilung Jesu (siehe Johannes 11,50 und 18,14) verwirft Kant hier nicht nur den öffentlich-präventiven Aspekt einer Hinrichtung zu Recht als Willkür, sondern zugleich auch jede Orientierung der Strafrechtspraxis an der Individualprävention. Wo demgegenüber das »Princip der Gleichheit« sich bloß als »Wiedervergeltungsrecht« (S. 332) konkretisiert, wird aber gerade jene drakonische Strenge legitimiert, die im Bibelzitat - neben der von Kant abgelehnten Willkür der Herrschenden - eben auch ihren Ausdruck findet So aber Pott, Literarische Produktivität, S. 350. Ähnlich siehe Puknus, Kluges »Lebensläufe«, S. 44. Bloch, Naturiecht und menschliche Würde, S. 99f.

genaue Gegenteil zum fanatischen Einsatz des Kriminalrats für das positive Recht dar. Als Grund für diese moralische Wende gibt die Erzählung lakonisch die »in Deutschland« veränderten »Umstände« an und konkretisiert diese für die bürgerliche Öffentlichkeit als eine Bewußtseinslage, die so dominierend ist, daß sie wider das positive Recht gar die Verfolgung von ganz >gewöhnlichen< Straftaten verhindert, wenn sie nur im >Dritten Reich< begangen worden sind. Aus dem Diskussionsprotokoll des Rotary-Clubs, einer »Vereinigung führender Persönlichkeiten«, 63 läßt sich zwar erschließen, daß der zum Rechtsrat avancierte Scheliha beim Vortrag über seinen persönlichen Fall auch verbal Kritik übt an solchem »Hinscheiden einer Haltung« (26), die »im Jahre 1953 >ohne Wert< sei« (35). Doch die Aussprache der Rotarier dokumentiert ein letztlich einhellig unterstütztes Wertesystem, mit dem möglichst schnell und ohne jede historische Reflexion ein Schlußstrich unter die Vergangenheit gezogen und so das »Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie« 64 doch nur gefördert wird. Dies zeigen: die offene Abwehr einer juristischen Bewältigung von Vergangenheit - »nicht zuviel nachdenken«; die Betonung der geographischen und historischen Distanz zu einer Straftat, die »auf dem Gebiet Westpreußens begangen« (35) sei und deren zeitgeschichtlichen Kontext man »nur schwer rekonstruieren« könne; der pragmatische Hinweis darauf, daß »auch ohne Sühne [ . . . ] die Entwicklung ihren Fortgang genommen habe« (37). Auch wenn man »die Konsequenz« (38) des Kriminalrats bewundert, »sein Leben und seine Freiheit für spezielle Probleme der Gerechtigkeit einzusetzen« (37), so erwartet man doch »Gnade« (35) für die Straftaten der Vergangenheit, kritisiert freilich im allgemeinen eine zu »laxe Bestrafung« (36) und fordert gar für »heute einen strengeren Maßstab« (35), der sich an »vorbeugenden Polizeimaßnahmen« zu orientieren habe, wie sie zeitgenössische Diktatoren - etwa »Salazar« (37) in Portugal - praktizieren. Die Minos-Strenge zu Lasten des Individuums, nach der es besser sei, daß »ein Mensch sterbe, als daß das ganze Volk verderbe« (34/36), diese Strenge, die dem einzelnen im >Dritten Reich< einhämmerte: »Du bist nichts - Dein Volk ist alles« (wobei der Wille des Volkes der Führer war und dessen Wille gleich Recht), 6 5 ist noch immer ein positiver Wert. Materiale Gerechtigkeit als regulative Idee wird dagegen gar »für eines der unsinnigsten Ideale gehalten«, für ein »totalitäres Prinzip« und »eine Perversion« (37f.). Gegen diese auch noch 1961 offen autoritäre, undemokratische und antirechtsstaatliche Bewußtseinslage erhebt aber auch der Rechtsrat in seiner »abschließenden Stellungnahme« (38) keinen Einspruch. Er empfiehlt für die juristische Verfolgung von Verbrechen im >Dritten ReichWende< die Kontinuität

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Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 20, S. 360. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, S. 555f. Siehe hierzu Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 414 (dort auch das Zitat). Zum Begriff der Minos-Strenge siehe Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 99. 99

eines Rechtspositivismus erkennen, der die Ermittlung und Ahndung von Verbrechen als von den Umständen abhängige »Stimmungssache« begreift. 1945 findet eine solche Haltung im positiven Rechtsfanatismus, im starren Engagement für das >gesunde Volksempfinden< im Rahmen des faschistischen Staates ihren adäquaten Ausdruck, ab 1953 aber in einer juristisch-kriminalistischen Passivität, die sich jetzt am »gesunden Volksempfinden< der öffentlichen Meinung orientiert. Auf diesen Kontext verweisen nämlich die vom Erzähler erwähnten veränderten »Umstände in Deutschland« (34): Daß Strafen »Stimmungssache« sei (37), diese Erklärung spielt auf einen »Trend in der Öffentlichkeit« während der 50er Jahre an, der die Staatsanwälte der Länder - so der Vertreter des Bundesjustiziministeriums in einer 1960 öffentlich gewordenen Erklärung - veranlaßte, »auf die Verfolgung jener Delikte nicht mehr so großen Wert legen zu müssen« und »auf eine systematische Durchforschung der Vorgänge« zu verzichten.66 Unter dem Einfluß der Wiederbewaffnungsdebatte aber wirkt dieses Vergessenwollen so umfassend, daß es selbst zur »Solidarität auch mit eindeutig kriminellen Gewaltverbrechern«67 kommt: Gutsbesitzer v.Z., den Scheliha 1945 verfolgt und 1953 nicht mehr verfolgt, hat keinerlei Kriegsverbrechen begangen. Das Ende der Erzählung zeigt die gleiche Duldung eines >gewöhnlichen< Mordes, wie sie die örtlichen Behörden 1945 vor dem militärischen Zusammenbruch propagiert haben: weil man »die eigenen Leute« (28), selbst wenn sie Mörder sind, »an die Front zu schicken« habe (26). In dieser Hinsicht hat sich auch im >kalten Krieg< der 50er Jahre nichts geändert, und die herrschende Elite, der »deutsche Zucht und deutscher Wert [...] auch 1945 nicht untergegangen« (35) sind, kann ohne jede Irritation einmütig zum Alltag übergehen, wie der »warme fällige Beifall« (38) am Schluß der Diskussion nachdrücklich unterstreicht.

4.6. Guter Wille und Privilegien - der aufgeklärte Adel Am Beispiel von Verbrechen zwischen 1942 und 1945 beleuchten die Lebensgeschichten von Oberleutnant Boulanger und Kriminalrat Scheliha eine Kontinuität sozialpsychologischer Mechanismen in der Bewältigung von Vergangenheit, indem sie die damalige Aktivität der Hauptfiguren mit ihrer heutigen Passivität konfrontieren. Von diesem Konstruktionsprinzip unterscheiden sich die beiden nachfolgenden Lebensläufe: sie vergleichen nicht Ereignisse aus dem »Dritten Reich< mit der aktuellen Gegenwart, sondern berichten ausschließlich über die Vergangenheit, wenn sie am Beispiel einer jungen Gutsherrin und eines ehemaligen Oberstudiendirektors den Umschlag von Passivität in Aktivität am zeitgeschichtlichen Wendepunkt der »Befreiung« (40/91) vorführen und dieses Verhalten mit der jeweiligen Vorgeschichte in einen Zusammenhang bringen. Doch auch hier reflektieren die beiden Erzählungen zeitgenössische Handlungsmotive, die in der nachfolgenden Epoche noch immer Geltung besitzen. Das Ende der faschistischen Diktatur stürzt Fräulein von Posa zunächst in eine moralische Krise, führt zu einer vergleichsweise seltenen Reaktion auf die militärische 66

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Aus den Verhandlungen des Deutschen Bundestages, zitiert in: Kruse, NS-Prozesse und Restauration, S. 176f. Zu dieser Passivität siehe auch Bauer, Im Namen des Volkes, S. 308. Henkys, Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, S. 204.

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Widerlegung der offiziellen Weltanschauung.68 Zwischen dem Beharren auf traditionellen Privilegien und einer begrenzten Hilfsbereitschaft hin und her gerissen, schwankend zwischen der T\igend »Enthaltsamkeit« (40) und dem unstandesgemäßen Bedürfnis nach Liebe zu einem polnischen Fremdarbeiter (40f., 42), erlebt die Titelfigur das Frühjahr 1945 in Unsicherheit und Irritation. Sie fühlt sich »schuldig« (39), wünscht sich »leidenschaftlich, wieder gut zu sein« (40), erhofft sich »nach dem Nullpunkt der letzten Jahre eine Aufwärtsbewegung« und eine moralische »Wende« (42); doch die abstrakte »Suche nach etwas Gutem« bleibt ohne Erfolg. Solche persönliche Orientierungslosigkeit erklärt der Erzähler mit der Diskrepanz zwischen den Leitbildern des adeligen Geschlechts und der zeitgenössischen Unmöglichkeit, diesen Geltung zu verschaffen: »Es gab keinen Markt für das, was sie vorhatte« (43); »sie war ein kleiner Teil der verwirrten Familie Posa« (52). Das Normensystem der Familie ist - nicht nur ihr Name deutet es als literarische Anspielung auf die Figur des Marquis von Posa in Schillers Drama »Dom Carlos« an der Tradition des aufgeklärten Absolutismus verpflichtet, nach dessen Vorstellungen sich die Beförderung von universaler Humanität und die Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaft keineswegs ausschließen, sondern einander bedingen.69 Der Rückblick des Erzählers auf die Geschichte des Geschlecht zeigt freilich, daß ein derartiger unpolitischen Humanismus von der meist militärisch bezeugten Untertanenmentalität überlagert wird und somit gesellschaftlich folgenlos bleibt (43f.). Weil durch solches Engagement viele Mitglieder der Familie im Ersten Weltkrieg zu Tode kommen, geraten die lebenden Posas in eine »Krise«. Die bisherigen Vorstellungen über die Konkretion des Guten haben keine normbildende Funktion mehr - »was ist das Gute (bonum)?« (44) Das immer gleiche Konstruktionsprinzip in der Reihe von Lebensläufen aus der aktuellen Familiengeschichte (41 f., 45-52) demonstriert es: der Dienst fürs Vaterland, die praktische Hilfe als Arzt oder Krankenschwester, die Liebe zu Gut und Geld, das mutige Sagen der Wahrheit - all diese traditionellen Versuche, >das Gute< zu verwirklichen, scheitern an den historischen Umständen. Die Strategie des aufgeklärten Absolutismus oder allgemeiner: eines >unpolitischen< Humanismus, >demGuten< ungeachtet der geschichtlichen und sozialen Rahmenbedingungen zum Durchbruch zu verhelfen, stellt im Chaos eines Weltkriegs und in der >Ordnung< einer faschistischen Diktatur einen bloßen Anachronismus dar. Während Fräulein v. Posa im vierten Abschnitt der Erzählung noch als »ein kleiner Teil der verwirrten Familie« (52) aufgeführt ist, wird die Hauptfigur im fünften Abschnitt deutlich von ihren unglücklichen Verwandten und damit auch von einem »Niedergang 68 69

Siehe hierzu Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 30. Lewandowski (Alexander Kluge, S. 31) spricht in diesem Zusammenhang von einem »der wenigen literarischen Namen bei Kluge«, beschreibt aber nicht die semanüschen Äquivalenzen zwischen Kluges und Schillers Texten: Wie die Familie Posa in Kluges Erzählung »aus den Niederlanden« (39) eingewandert ist, so vertritt auch der Marquis von Posa in Schillers Stück »Dom Carlos« die »flandrischen Provinzen« (V. 166f.); als »Abgeordneter der ganzen Menschheit« (V. 165) an den Infanten von Spanien ist jene Figur zugleich idealisierter Repräsentant des aufgeklärten Absolutismus, der »Bürgerglitck« und »Fürstengröße« miteinander »versöhnt« sehen will (V. 3792f.). Zu diesem »falschen Kompromiß« in der Struktur des Dramas siehe Kraft, Um Schiller betrogen, S. 84-90, Zitat S. 89.

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des Adels«70 abgesetzt: sie übernimmt für »ein angemessenes Jahresgehalt« die »Vertretung der Care-Paket-Organisation für das Land Hessen« (52) und kann so ein Leben in materieller Sicherheit führen. Damit gelingt es der Repräsentantin eines scheinbar überlebten Standes, nach einer kurzen Zeit der Unsicherheit gesellschaftlich wieder Fuß zu fassen. Die angebliche Neuordnung der Verhältnisse in der >Stunde null< erweist sich als begrenzt, wenn traditionelle Eliten aufgrund ihrer privilegierten Stellung emeut einflußreiche Positionen einnehmen und ihre Güter durch die Währungsreform 1948 eine Absicherung erfahren (47f.).71 Der Schritt aus der persönlichen Krise ist für Fräulein v. Posa möglich, weil mit der Friedenszeit diejenigen ökonomischen Bedingungen als »Markt« (43) restauriert werden, die ein zweckrationales Handeln erforderlich machen und den Abschied von der »langerhofften Wende« nahelegen (52). Statt das Leben wie einige Verwandten zu lassen, opfert Fräulein von Posa in aller Entschiedenheit ihre moralischen Ansprüche auf den Neuanfang. Zu keiner persönlichen, geschweige denn einer politischen Alternative führt die begrenzte, oberflächliche Irritation vom Frühjahr 1945; auf sie folgt kein neuer Mensch, sondern die aktive Anpassung des alten, aber aufgeklärten Adels an die gewandelten Verhältnisse. Die lebensgeschichtliche Kontinuität im Verhalten der Titelfigur reproduziert wieder nur die herkömmliche Strategie ihres Geschlechts: öffentlich für Humanität einzustehen und sich doch mit den Mächtigen zum eigenen Vorteil zu arrangieren.72 Als Ideologie hat in Friedenszeiten sogar wieder der >unpolitische< Humanismus, das »Gutsein«, eine Funktion; er verdeckt, daß die alten Eliten nach kurzer Zeit schon wieder Geschäfte mit den Siegern machen: beim »kommerziellen« (52) Verwalten der Almosen für die Mehrheit des Volkes.

4.7. Geistiger Widerstand - der reaktivierte Bildungsbürger Indem Fräulein von Posas Lebensgeschichte die Kontinuität von Opportunismus und sozialen Privilegien über die >Stunde null< hinweg demonstriert, zeigt die Erzählung, daß der zeitgeschichtliche Wendepunkt 1945 trotz des Umschlags von Passivität in Aktivität zu keiner grundsätzlichen Verhaltensänderung führen muß. Eine solche Reaktion ist auch für die Titelfigur des vierten Textes am Ende des Krieges nicht erforderlich. Als Repräsentant des traditionellen Bildungsbürgertums hält der ehemalige Oberstudiendirektor, unbeirrt von der zeitgeschichtlichen Entwicklung zwischen 1933 und 1945, an den moralischen und politischen Idealen fest, die seinen Lebensplan ein für allemal determinieren: »Seine Frau verstand nicht, weshalb er die Trennung zwischen seinen tatsächlichen Funktionen und seinen Empfindungen aufrechterhielt. [...] Schinckes Ideen aber waren fest verankert, mit vielen Textstellen abgesichert und von einem präzisen und sicheren Geschmack bestimmt, auf den er keinen Einfluß zu haben behauptete.« (58) Es sind die gleichen Denkmuster, welche den Pädagogen zunächst zur Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Bewegung veranlassen, danach zur Distanzierung 70 71 72

Siehe dagegen Lewandowski, Alexander Kluge, S. 31. Siehe hierzu Claessens/Klönne/Tschoepe, Sozialkunde der Bundesrepublik, S. 32. Zur »Diskrepanz von Ideologie und Wirklichkeit« in dieser Erzählung siehe auch Puknus, Kluges »Lebensläufe«, S. 45.

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und zum Konflikt mit dem System führen, schließlich, wenn sich dessen Ende 1945 abzeichnet, den individuellen Widerstand gegen die Vertreter der Macht legitimieren. Veranschaulicht ist damit der Werthorizont einer bildungsbürgerlichen Elite, die vor, im und nach dem >Dritten Reich< sich dem jeweiligen System reibungslos einpaßte. Der für den pensionierten Oberstudiendirektor lebensgefährliche Konflikt entsteht nur deshalb, weil ihm die militärische Katastrophe nach einer Zeit der Isolation, der Diskriminierung und der Passivität wieder die Möglichkeit zum »Bruch« (60) mit dem »scheußlichen Leben der letzten Jahre« (62) verschafft und die Titelfigur durch die Rückkehr zur pädagogischen Aktivität den Krieg für sich >beenden< kann, obwohl dieser in der Zeitgeschichte noch andauert. Zu früh, als ob das System schon gänzlich zerstört wäre, zeigt Schincke in seinem »protesthaften irrationalen >AusstiegsDritten Reich< ohne nachhaltigen Einfluß auf das politische Geschehen geblieben sind, dieses anfangs sogar begünstigt haben. »Keinen Kontakt zur Situation« (83) bekommt der ehemalige Oberstudiendirektor auch im März 1945, wenn er in einer lebensgefährlichen Lage an alltäglichen Gewohnheiten, einem abgeteilten »Waschkabinett« (68) oder seinem »Abendspaziergang« (81), festhält, inmitten der Katastrophe durch einen Brief

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Puknus, Kluges »Lebensläufe«, S. 43. Ter-Nedden, Allegorie und Geschichte, S. 114. 103

an die Frau seine privaten Verhältnisse ordnen möchte (72-74), wie in einem »Abenteuer« (75) aus der »Zeit früherer Kriege« (78) einer Gutsherrin den Hof macht (77f., 82) und, ganz das bürgerliche Individuum, sich im Tagebuch ständig beobachtet und analysiert (62-71, 74-85) wie bereits in der Phase >innerer Emigration (56). Unbeeindruckt von der drohenden Gefahr, erfüllt der Pädagoge sein Bedürfnis nach Büchern (75, 77) und Musik (81), möchte gar »wieder mit dem Unterricht anfangen« (83) und widmet sich schließlich der wissenschaftlichen Forschung über die Bildungsreform des Karolingerreichs (85-90). Diese Beschäftigung mit dem Mittelalter stimmt exakt mit den neoromantischen Empfehlungen des bekannten Philologen Emst Robert Curtius überein, der in seinem 1932 erschienenen Buch »Deutscher Geist in Gefahr« (53) erklärte, daß der »Humanismus« als »Mediaevalismus und Restaurationsgesinnung« besonders »an das Mittelalter anknüpfen« müsse. Schon die Erwähnung jenes Werks am Beginn von Kluges Erzählung deutet auf Schinckes »zugleich konservative und liberale Kulturgesinnung« hin, und diese behält in seinem Lebenslauf zwischen 1933 und 1945 ihre uneingeschränkte Gültigkeit. Mit Ausnahme der kurzfristigen Begeisterung für den Faschismus sind in diesem Essay von Curtius die zentralen Normen einer bildungsbürgerlichen Elite diskursiv entwickelt, denen das Handeln Schinckes folgt: Curtius' Vorschlag, durch einen »Arbeitslosen-Bildungsdienst« Kultur unters Volk zu bringen, 75 ohne dessen Lage grundsätzlich zu verändern, entspricht die Hoffnung des Protagonisten auf »das Ausbrechen einer zweiten Romantik, die sich nicht auf eine kleine gebildete Schicht beschränkte, sondern die Massen an ihren Glücksgütern beteiligte« (53f.). Einen »nationalen Zusammenschluß«, den Curtius im Frühjahr 1932 vermißt, obwohl jener im August 1914 doch möglich gewesen sei, 76 vollzieht der ehemalige Oberstudiendirektor noch im März 1945, wenn er seine Einteilung zum Transport der Schüler als »ein Moment nationaler Einheit in der Stunde der Not, eine Beschwörung von 1806" (62) begreift. Analog zu Curtius, der jenseits aller Determinationen die «einmalige Person" als »Geistwesen« faßt und den Typus des Intellektuellen als ein Individuum beschreibt, das dazu neige, »sich von der Mitwelt abzuschließen«, deshalb »von sozialen Faktoren weniger abhängig [...] als andere Menschen« sei, 77 spielt sich auch die Kritik des Neoromantikers Schincke am »Versagen der nationalsozialistischen Revolution« im »reinen Geiste« ab, wie der Erzähler in sentenzhaften Ausführungen erläutert: »Der geistige Mensch lebt in der Vergangenheit und der Zukunft genauso wie in der Gegenwart, und die Gegenwart ist für ihn auch das, was in der Gegenwart unmöglich ist« (57). Und wie Curtius eine »lebendige Bewahrung überzeitlicher Geisteswerte« fordert, eine »bewahrte Erinnerung, die zugleich neuen Anfang aus sich entläßt«, freilich nur als »Rückkehr zum Ursprung«, als »rauschhafte Entdeckung eines geliebten Urbildes«, 78 so zielt auch Schinckes Essay, an dem er zu Beginn und am Ende des >Dritten Reichs< arbeitet, auf die unhistorische Identifikation, auf die kongeniale Einfühlung in einen Gelehrten des Mittelalters.

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Curtius, Curtius, Curtius, Curtius,

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Deutscher Deutscher Deutscher Deutscher

Geist Geist Geist Geist

in in in in

Gefahr, Gefahr, Gefahr, Gefahr,

S. S. S. S.

126, S. 124, S. 17. 35. 96f. 33, S. 123f., S. 113, S. 107.

Die »Zuwendung zur Gegenwart« (55), welche Schincke bei den offiziellen Forschungsprogrammen vermißt, erscheint in seiner Kommentierung von Alcuins Briefen allerdings nur als bloße Affirmation des eigenen unzulänglichen Handelns, wenn dort die pädagogischen Erfahrungen des 804 gestorbenen Bildungsreformen zu exemplarischen Anwendungsfällen zeitlos geltender Normen stilisiert werden, denen auch noch im Frühjahr 1945 eine aktuelle Bedeutung zukomme: Ohne jede historische Vermittlung erläutert der Pädagoge als seine Pflicht eine »Fürsorglichkeit« (88), die sogar »stärker als der Ordnungsgehorsam« sein und »Züge einer kleinen Konspiration« tragen könne (90), betreibt auf diese Weise - im Jargon von Curtius - eine »geheimnisvolle Selbstbegegnung mit den magischen Kräften« der Vergangenheit.79 Indem das Handeln aus einem solch unhistorischen und >unpolitischen< Humanismus am Ende der Erzählung aber zu keinem Mißerfolg führt - die Schüler werden »in die nächstgelegenen Bauerndörfer gebracht«, Schincke erlebt trotz seiner Verhaftung die militärische »Befreiung« (91) - , 8 0 wird die ungebrochene Wirksamkeit der Ideologie vom geistigen Widerstand auch nach 1945 angedeutet: als Ersatz für eine Bewältigung der Vergangenheit durch eine gesellschaftliche Neuordnung, welche die »Massen« zu einer »Entfaltung eigener Qualität« (54) befähigte. Mit dem untragischen Ausgang der Ereignisse besitzt Schincke ja wieder die Möglichkeit, den »Geist der Zugehörigkeit« zur »kleinen gehobenen Schicht [...] hinüberzuretten in eine neue Zeit« (77). Und durch die negative Aufnahme des Revolutionsmotivs entlarvt die Lebensgeschichte eines Bildungsbürgers den Mythos von der >Stunde null< schließlich offen als idealistische, wenn auch folgenreiche Fiktion: »Gerade in der Notlage klammerte er sich naturgemäß an das, was er kannte. Was hätte er auch sonst tun sollen? Vielleicht eine Revolution anzetteln?« (90)

4.8. Die Außenseiterin: ständig auf der Flucht Anders als die ersten vier Erzählungen thematisiert die Lebensgeschichte »Anita G.«, welche auch dem von Kluge 1965/66 gedrehten Film »Abschied von gestern« zugrunde liegt, 81 die mißlingende Integration eines Individuums in die deutsche Nachkriegsgesellschaft. Schon die Abkürzung des Nachnamens im Titel (92) deutet auf die gängige Praxis hin, nach der Straffällige in der Presse erwähnt werden (siehe auch 143), und auch das Motto verweist als Wiederholung des Motivs von der »traurigen Geschichte« (7) auf die Irritation, welche ein solcher Fall für die bornierte Erwartung einer heiteren Erzählung bedeutet. Solches Unverständnis einer bürgerlichen Allgemeinheit gegenüber der >antiautoritären< Unruhe einer Außenseiterin reproduziert der Erzähler, wenn er am Anfang gemäß der >normalenbodenständigen< Maßstäbe fragt: »Warum begeht sie auf ihren

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Curtius, Deutscher Geist in Gefahr, S. 107. Siehe dagegen Puknus, Kluges »Lebensläufe«, S. 43. - Zur Verinnerlichung des abendländischem Normenhorizonts nach 1945 siehe Adorno, Die auferstandene Kultur, S . 4 5 4 , sowie Berg, Literatur in der Restaurationsphase, S. 571-577. Zum authentischen Stoff von Erzählung und Film siehe Schmidt, Alexander Kluges »Lebensläufe«; Gregor, Interview mit Alexander Kluge, S. 154. Zum Film siehe weiter Gregor, Kommentierte Filmografie, S. 430f. und S. 435f.; Lewandowski, Alexander Kluge, S. 6 0 - 7 0 .

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Reisen immer wieder Eigentumsdelikte? [... ] Weshalb ordnet dieser intelligente Mensch nicht seine Angelegenheiten befriedigend? [... ] Warum stellt sie sich nicht auf den Boden der Tatsachen? Will sie nicht?« (92) Später distanziert sich der Berichterstatter dagegen von dem vordergründigen Erklärungsmuster, »daß es - wenn man die Sache ohne ihre Zusammenhänge sieht - so aussah, als provoziere sie diese Verfolgungswelle absichtlich, um ihre Fluchtbewegungen zu motivieren« (109). Die lebens- und zeitgeschichtlichen »Zusammenhänge«, in denen die wiederholten »Fluchtbewegungen« (108f.) Anita G.s aus den Jahren 1956/57 zu sehen sind, liefert bereits der Beginn des Textes in wenigen Sätzen (92). Durch die Vorgeschichte im >Dritten Reich< wird das gegenwärtige Handeln der Titelfigur als verspätete Reaktion auf eine traumatische Erfahrung verständlich, in der das Individuum den Aktionen des totalitären Staates hilflos gegenübersteht, ohne sich irgendwie wehren zu können. Erst nach 1945, in einer veränderten zeit- und lebensgeschichtlichen Situation, vermag die Titelfigur ihrer nicht bewältigten Angst auf verzerrte Weise nachzugeben: durch die permanente Flucht vor einer autoritär geprägten Gesellschaft, welche »die Anpassungsleistung an die Normalität der entfremdeten Existenz«82 verlangt. Wie Schincke durch die »Flucht« (65) >zu früh< seinen traditionellen pädagogischen Idealen wieder folgt, kommt Anita G.s Aktivität jetzt >zu spätHier und JetztUntergang< und >Neubeginn< zufolge - als irrationale Auflösung aller Schwierigkeiten wiederholt herbeigewünscht hat, ereignet sich in ihrem Lebenslauf nicht im >Dritten ReichNeubeginnbehandelt< wird: »Sie wurde aus dem Anstaltshospital an die Universitätsfrauenklinik weitergeleitet, wo man vor allem mit Penicillin vorging und den Zusammenbruch nach einiger Zeit einkreiste.« (110)

4.9. Vorsichtig und erfolgreich: der Lebe- und Geschäftsmann Während die Eizählung »Anita G.« historische und sozialpsychologische Gründe für die Angst vor der Integration in die Normalität ermittelt, stellt die sechste Geschichte mit dem in der Wirtschaft als Manager erfolgreichen Protagonisten eine Figur vor, deren soziale Identität außer Frage zu stehen scheint. Eine gleichbleibende Charakterstruktur Manfred Schmidts ist hier bereits mit der weitgehenden Vernachlässigung des chronologischen Erzählens signalisiert. Zwar stecken »Lebenslauf« (124f.) und »Bewerbung« (133f.) den zeitlichen Rahmen der 40er und besonders der 50er Jahre ab, in dem sich das berichtete Geschehen ereignet; doch die einzelnen Episoden sind nicht in der zeitlichen Abfolge des Lebenslaufs präsentiert. Weil keine fortschreitende Entwicklung eines Individuums dargestellt werden kann, erhalten besonders in dieser Geschichte filmische Konstruktionsprinzipien eine dominierende Funktion: Hierfür sind nicht nur die durchnumerierten kurzen Szenen ( l l l f . ) und die »Personenübersicht« (141) am Ende von Bedeutung, sondern vor allem die vielen Erzählfragmente, welche mit einer Teilüberschrift versehen und hintereinander montiert sind. Und auch in der Makrostruktur der Geschichte ist der chronologische Bericht von einem analytischen Verfahren überlagert, wie die Dreiteilung »Das Fest« (111), »Die Person« (124), »Beispiel für eine Liebesgeschichte« (134) zeigt: Von einer Feier, bei der die Titelfigur eine zentrale Rolle spielt, wird der Blick auf die Privatsphäre gerichtet und schließlich auf eine typische Episode konzentriert. 87 Vor einem psychoanalytischen Bedeutungshorizont ist das Fest im Karneval durch eine eigenartige Verbindung entgegengesetzter Wertsysteme gekennzeichnet. Zum einen soll die Veranstaltung den alltäglichen Bedürftiisverzicht vorübergehend aufheben und dem Lustprinzip Geltung verschaffen; erwünscht sind ein »gewisser Grad an Nacktheit«, »Belebung«, »Auflockerung« (116f.) und »Stimmung« (119). Zum andern aber wird diese Außerkraftsetzung des Realitätsprinzips - Erfüllung eines historischen »Nachholbedarfs« 88 aus den Kriegsjahren und Pause im Kampf um das >Wirtschaftswunder< durch eine Organisation reguliert, welche die Anwesenheit der Vergangenheit deutlich macht und den gegenwärtigen Alltag nicht vergessen läßt. Während neben einer Wach-

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Angesichts eines solchen Endes »bleibt unter der übermächtigen Geschichte« nicht einmal »ein sinnlich-vitaler Rest, der sich nicht abfinden will« (so aber Pott, Literarische Produktivität, S. 352). Siehe hierzu auch Baumgart, Deutsche Gesellschaft in deutschen Romanen, S. 55. Drews, Alexander Kluge, S. 326. - Auch Drews spricht hier von »quasi-militärischen Prinzipien« (S. 326), nach denen das Fest organisiert ist. Siehe hierzu auch Lewandowski, Alexander Kluge, S. 32f.

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und Schließgesellschaft noch weitere Behörden nötig sind, um in der Tradition des Obrigkeitsstaates Unbefugte fernzuhalten, Ausschreitungen zu vermeiden, Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten (112-116), folgt die »Betreuung des Festes« (118/119) offensichtlich militärischen Prinzipien. Schwankend zwischen einem distanzierten Chronisten und einem teilnehmenden Reporter,89 gibt der Erzähler das Geschehen aus der Sicht der Festleitung wieder: »Die Planer des Festes hatten Lampenfieber. Würde der Durchbruch zum Fest gelingen? Die Offensive durchschlagen?« (116) - »Horn I, Horn Π, Häbel, Schleicher, Pichota, Putermann gehen zu je zwei unter dem Befehl von Brintzinger, Kariota, Beier-Müncheberg unter die Leute und bringen Stimmung hinein.« - »Es kommt für die Festleitung darauf an, die erstbeste Gelegenheit, die Stimmung etwas zu erhöhen, brutal wahrzunehmen: die Einsatzgruppe Beier-Müncheberg schmeißt einen jungen Mann aus dem Saal raus. Das schmiedet die Leute zusammen.« (119). Wenn Manfred Schmidt, wie die Leitung, das Fest am Ende trotzdem für einen »Erfolg« hält (123), so ist bereits mit dieser Identifikation eine Äquivalenz zwischen den Organisationsprinzipien der Veranstaltung und der Lebensform jener Figur angedeutet. Beide, »Fest« (111) und »Person« (124), sind determiniert durch die widerspruchsvolle Einheit von hedonistischen und zweckrationalen Verhaltensmustern. Der zweite Abschnitt demonstriert die gleichbleibende Charakterstruktur einer Figur, deren Maxime Beethovens Diktum - »ich will dem Schicksal in den Rachen greifen; ganz niederbeugen soll es mich gewiß nicht« 90 - in signifikanter Weise abwandelt: »Nicht dem Schicksal in den Rachen greifen, sondern sich, sobald es den Rachen öffnet, ein anderes aussuchen.« (124) Kein bewußter Widerstand, sondern das kalkulierte Sich-Absetzen, die Vorsicht, eine zentrale Eigenschaft jener >skeptischenDritten Reiches< geprägt, ist Schwebkowski unter den Lehrern der 50er Jahre eine Ausnahme: keiner der »beamteten Funktionäre«, die sich mit der »verwalteten Schule« arrangiert haben,120 sondern ein pädagogischer Idealist, der infolge seiner besonderen Biographie auf der Eigenverantwortung von Lehrern und Schülern beharrt. Mit der Figur eines unbequemen und unzufriedenen Außenseiters bringt Kluges Erzählung Kritik vor am Bildungssystem der Bundesrepublik, plädiert für eine Reform, die nach 1945 erfolgen sollte, zu Beginn der 60er Jahre aber noch immer nicht realisiert war. Sowohl die dargestellten Schwierigkeiten Schwebkowskis mit den Schul- und Zollbehörden (151 f., 154f.) als auch die kommentierenden Passagen, in denen der Erzähler die Reflexionen der Hauptfigur vorstellt: »Kurze Bestandsaufnahme« (154), »Wird der Lehrstand irgendwann einmal der erste Stand sein?« (155), »Entwicklung seit 1800" (157), kennzeichnen die Unzulänglichkeit des zeitgenössischen Bildungssystems. In eine solche Kritik an der Schule der 50er und frühen 60er Jahre gehen - das Zitat aus Hellmut Beckers Werk »Quantität und Qualität« (156) deutet es an - aktuelle Überlegungen dieses Bildungspolitikers ein.121 Doch Kluges literarischer Text reproduziert nicht einfach jene praktischen Reformvorschläge, sondern reflektiert zugleich skeptisch deren Realisierbarkeit. Fordert Becker 1958: »Der Lehrstand soll in Zukunft der erste Stand sein«, so fragt Kluges Erzähler in Übereinstimmung mit den Zweifeln Schwebkowskis: »Wird der Lehrstand irgendwann einmal der erste Stand sein?« (155) Ins Grundsätzliche sind solche Überlegungen vertieft, wo die sozialen und historischen Voraussetzungen in den Blick geraten, wo eine »kurze Bestandsaufnahme« zu dem Ergebnis kommt, daß diese Gesellschaft »Bildung« und damit Veränderung »eigentlich nicht will« (154), wo eine Darstellung der schulischen »Entwicklung seit 1800« nur eine autoritäre Tradition der »Kalmierung«, nicht aber der antiautoritären »Auflehnung« enthüllt (157). Resultat dieser Betrachtungen: »Unter den gegebenen Umständen fand es Schwebkowski ganz überflüssig, Lehrer zu sein.« (158)

119 Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, S. 319 und S. 327. Becker, Die verwaltete Schule, S. 147 und S. 159. '21 Siehe hierzu Becker, Die verwaltete Schule, S. 158f„ S. 161, S. 165-167, S. 169-171, und Becker, Der Lehrstand soll in Zukunft der erste Stand sein, S. 175-180.

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Obwohl mit dem Eintritt in die Immobilienfirma das Scheitern des Pädagogen an einer »verwalteten Schule« in einer »verwalteten Welt«122 demonstriert wird, ist dadurch der unterlegene Protagonist keineswegs zu Identifikationsfigur stilisiert. Denn wie das auslösende Moment für den Entschluß, der Fall Dr. Willett, zeigt, bleibt auch Schwebkowskis berechtigte Kritik am zeitgenössischen Bildungssystem einer Weltanschauung verpflichtet, in der sich noch immer utopische und ideologische Motive, autoritäre und antiautoritäre Normen auf zugespitzte Weise überlagern. Als Kehrseite einer Erziehung, die der Elite zur Selbständigkeit verhelfen will, manifestiert sich nämlich das Standesbewußtsein eine Erziehers, der es erdulden muß, daß sich »der Pädagoge unwissenden Beamten unterlegen« erweist (154) und daß der »Lehrberuf mit einer Beamtenbesoldung zu tun« hat (156). Vollkommen unabhängig von einer juristischen Klärung der Frage, ob der befreundete Lehrer Willett zu Recht angezeigt oder zu Unrecht denunziert worden ist, unternimmt Schwebkowski alle Anstrengungen, um der alten sozialdemokratischen Parole »Wissen ist Macht« eine neue und andere Geltung zu verleihen - als Absicherung einer Bildungselite: »Es ging um eine Machtfrage, um die Frage, ob Bildung eine Macht ist, ob für den Kader Bildung Schutz möglich ist.« (151) Schwebkowski fordert für seinen Stand eine Macht jenseits des Rechts, muß aber im Fall Dr. Willett eine Enttäuschung seiner Erwartungen hinnehmen. Die historische Begründung für den Ausstieg aus dem Beruf bleibt jedoch noch immer einem politischen Normenhorizont verhaftet, in dem parlamentarische Demokratie und faschistische Diktatur miteinander vereinbar sind, in dem Weimarer Republik und >Drittes Reich< als >unhistorische< Vorbilder im Sinne Nietzsches, als kurzer Bruch des >Lebens< mit einer langen Tradition der »Kalmierung« gelten: »Was können die demokratischen Arbeitsjahre von 1923 bis 1928 (vorher Inflation, hinterher Krise) gegen eine Tradition von 150 Jahren ausrichten? Wie rasch saugt die Tradition einen Moment Geschichtslosigkeit zwischen 1933 und 1945 wieder auf? Unter den gegebenen Umständen fand es Schwebkowski ganz überflüssig, Lehrer zu sein.« (157f.) Die Kompromißlosigkeit in Bildungsfragen (158), die der zitierte »Rahmenplan« des »Deutschen Ausschusses für Erziehungs- und Bildungswesen«123 aus dem Jahre 1959 postuliert und die Schwebkowski in seiner Entscheidung gegen den Lehrberuf nur negativ in die Tat umsetzt, ist auch weiterhin motiviert durch ein pädagogisches Standesbewußtsein, das grundlegende Bildungsreformen für nötig hält und zugleich Vorrechte für eine intellektuelle Elite fordert. Die traditionelle Trennung von >Geist< und >Macht< würde auf diese Weise doch wieder nur im Sinne der bestehenden Ungleichheit aufgehobene als eine »Aristokratie« der »Geistmächtigen«.124 Durch den Aufweis solcher undemokratischen Motive, die dem Handeln des Lehrers ebenso zugrundeliegen wie dem Verhalten seines obersten Vorgesetzten (151) enthüllt diese Lebensgeschichte eine negative Tendenz der Bildungspolitik in den 50er Jahren: der Wille zur Schulreform und das Interesse an ständischen Privilegien gehen eine zwiespältige Verbindung ein, in welcher die pädagogische Innovation der gesellschaftlichen Restauration untergeordnet

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So in Anlehnung an Adorno: Becker, Die verwaltete Schule, S. 148. Deutscher Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen, Rahmenplan zur Umgestaltung und Vereinheitlichung des allgemeinbildenden Schulwesens, S. 33. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, S. 578. - Zum Weiterleben dieser Tradition in den 50er Jahren siehe etwa Pannwitz, Nietzsche-Philologie, S. 1073f.

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bleibt. Wenn Schwebkowski schließlich in der »Anpassung« die »bessere Chance« (147) sieht und analog zur Mehrheit der Bevölkerung im >Wirtschaftswunderland< seinen materiellen Interessen eindeutig den Vorrang einräumt, endet der Text mit einer Aporie. Auf welche Weise die thematisierten »Bildungsfragen« als »das Politikum unserer Zeit« (156) gelöst werden könnten und wie dem dialektischen Postulat nachzukommen sei: »an Bildung festzuhalten, nachdem die Gesellschaft ihr die Basis entzog«,125 bleibt 1962 unklar angesichts der Dominanz einer pädagogischen Tradition, welche die Einheit von Bildung und Macht nur für eine Elite will.

4.12. Der unabhängige Richter oder: »Keine Veränderungen mehr« In den bisher interpretierten Lebensgeschichten zieht die faschistische Diktatur für die Hauptfiguren Konflikte mit juristischen oder moralischen Normen nach sich. Im Vergleich dazu stellt die letzte Erzählung der Sammlung eine Ausnahme dar: In Konflikt mit der Legalität gerät Richter Korti nicht; Zweifel an der moralischen Legitimität seines Tuns hat er nicht; sein individuelles Verhalten bei der Realisierung seines Lebensplans ändern oder gar Widerstand gegen die herrschende Realität leisten muß er nicht, und das weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart. Das Fehlen irgendeiner Entwicklung ist der Grund dafür, daß die zeitliche Abfolge der Ereignisse in dieser Lebensgeschichte eine untergeordnete Rolle spielt und wie in der Erzählung »Manfred Schmidt« von der Montage einzelner Episoden überlagert wird. Deren Kombination zeigt in der Mikrostruktur ebenso eine weitgehende Neutralisierung der Chronologie wie die Anordnung der vier Kapitel in der Makrostruktur des Textes: selbst das Schlußkapitel verweist noch auf das erste Kapitel zurück, weil »Kortis Ende?« (205) keineswegs in Frage steht, sondern sein »Erfolg« (159) weiterhin gesichert ist. Einen solchen Lebenslauf präsentiert die vorliegende Geschichte aber nicht als Einzelfall, sondern als beispielhaft für die gesamte Institution der Justiz. Die Titelfigur ist kein Außenseiter im System der Rechtssprechung, sondern wird hier als herausragender Vertreter ihres Standes vorgestellt: »Korti war schneller als alle Kollegen, schlagkräftiger und vorsichtiger. Auch demokratischer und moderner als die meisten Kollegen.« (170) Diese Charakterisierung entspricht nicht nur dem Selbstverständnis des ehrgeizigen Protagonisten; sie nimmt im letzten Satz zugleich auch für das gesamte Justizsystem eine freiheitliche Entwicklung in Anspruch, von der es später explizit heißt: »Wenn ein Richter gewisse Vorsichtsmaßnahmen einhält, braucht er weder den Staat noch die Vorgesetzten, noch die Politik, noch die Kirchen, noch die Verbände zu fürchten, er ist im eigentlichen Sinn des Wortes unabhängiger Richter, dem staatshörigen Richter der 20er Jahre ist der unabhängige Richter der 50er Jahre gefolgt.« (194) Eine solch lückenhafte Geschichtskonstruktion impliziert indes eine Stellungnahme zum ausgesparten Zeitraum der 30er und 40er Jahre: daß die Richter nicht mehr Statthalter der Obrigkeit seien, sondern sich selbst in der Aufarbeitung ihrer eigenen Vergangenheit verändert hätten. Wirksam ist hier jenes zeitgenössische Erklärungsmuster, das der damalige Generalbundesanwalt Güde 1958 offen aussprach, als er behauptete, daß die jetzigen Richter und Staatsanwälte trotz 125

Adorno, Theorie der Halbbildung, S. 121.

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ihrer Tätigkeit im >Dritten Reich< »nicht dieselben« seien: »Wir haben doch nicht bloß einen Broterwerb wieder aufgenommen, sondern wir haben wissend um unser Scheitern ein mißglücktes Werk noch einmal in Angriff genommen. Das Erlebnis des Untergangs, das wir nicht vergessen dürfen, hat uns zu anderen gemacht.«126 Diese offizielle Auffassung vom geläuterten und unabhängigen Richter nach >Untergang< und >Neubeginn< ist im vorliegenden Text zunächst mit verschiedenen Episoden reproduziert, die Belege fllr Kortis selbständige Tätigkeit liefern sollen: der Präsident, der Arbeitgeber, die Kirche, die Bahnpolizei, ein Zeuge (163-169) - keiner kann die Unabhängigkeit des Richters gefährden. Die unter den Juristen der 50er Jahre weit verbreitete »Utopie eines außer Raum und Zeit gelegenen archimedischen Punktes, von dem aus der Richter die virulent gewordene Gesellschaft unter Kontrolle zu halten versucht«,127 ist allerdings destruiert und als Illusion ausgewiesen, wenn die Erzählung in eben diesen Episoden enthüllt, daß die vorgeblich überparteiliche Rechtssprechung Kortis von Motiven gelenkt wird, die zwar im Interesse des Richters oder der Justiz, nicht aber der Gerechtigkeit sind: Persönliche Interessen wie das »gemeinsame Essen der Richterschaft« (161), soziale Vorurteile »aus grundsätzlichen Erwägungen« (167), das Statuieren eines »Exempels« (168), der Wille, einen »Schuldigen« (170) auszumachen, die Orientiemng von Urteil und Strafmaß an Folgen und »Stimmung« (202), das rein taktische Vorgehen in der Abfassung von Begründungen (171) - all diese Faktoren laufen der Vorstellung eines gerechten Verfahrens zuwiderund sind doch die negative Kehrseite eines Richtertums, das sich nur deshalb unabhängig wähnt, weil es seine soziale und politische Verantwortung nicht ausreichend reflektiert hat.128 Diese Bestandsaufnahme differenziert die Erzählung, wenn sie parallel zur autoritären Ausübung von Macht und Willkür die Inkompetenz des Richters in Sachfragen zu erkennen gibt, seine Unfähigkeit vorführt, komplizierte Verbrechen zu beurteilen, bei denen der zeitgeschichtliche und sozialpsychologische Kontext der "rater besondere Berücksichtigung finden müßte. Für Korti stellen sich solche Fälle aber nur hinsichtlich der Strafe als »Problem« (176/200/201) dar. Die gleiche Dominanz des traditionellen Sühne- und Vergeltungsprinzips zeigen auch die Fragen am Ende derjenigen Episoden (177-182), die unter dem Zwischentitel »Labyrinth« (177) vorgestellt sind. Klagt der Erzähler am Schluß dieses Abschnitts resignierend: »Wo sind die Richter für diese und ähnliche Fälle?« (182) wird manifest, daß Korti und seine Kollegen solchen Anforderungen nicht entsprechen. Ihren Höhepunkt findet die Kombination von Willkür und Inkompetenz in der »Vernichtung des Gegners« (177/185) Dr. Glaube, der durch die »offene Brüskierung des Oberlandesgerichts-Urteils« (184) gegen kein Gesetz, aber gegen den Korpsgeist der Juristen und ihre »Sehnsucht nach Gewißheit, nach Autorität«129 verstoßen hat Denn der Versuch dieses Richters, gegen die herrschende Tendenz Recht zu sprechen, scheitert an

126 Güde, Justiz im Schatten von Gestern, S. 12. 127 Kübler, Der deutsche Richter und das demokratische Gesetz, S. 126. 128 Siehe hierzu Wassermann, Der politische Richter, S. 17-31: »Die politische Funktion der Justiz«. 129 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 260-276: »Die Juristen des Monopols«, Zitat S. 276.

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seinen Kollegen. In aller Schärfe läßt die »Vernichtung« Dr. Glaubes die allgemeine »Neigung« anschaulich werden, »auf >Nestbeschmutzung< mit mehr oder weniger subtilen Repressionen zu antworten«. 130 Gezeigt wird, daß die Justiz der 50er Jahre nicht nur das Recht, sondern ebenso ihre Macht gegen jeden Angriff von außen und innen verteidigt: während in der Öffentlichkeit »die politische Justiz als letzte Verteidigungsfront, nicht nur der westlichen Welt, sondern auch der Justiz selbst« (187) agiert, schafft die »gelungene Jagd« auf den Kollegen einen »Präzedenzfall« (186) dafür, wie man innerhalb der Institution mit einem »Sonderfall« (182) umgeht. Die autoritäre Tradition einer Strafjustiz, welche im >Dritten Reich< der »schrankenlosen Einschüchterung und brutalen Bestrafung politische anders Denkender und Handelnder« 131 diente, ist noch latent wirksam. Die »große Idee« von einem gesellschaftlich umfassenden, mechanisch strafenden Justizsystem, »unbezähmbare Denunziationslust« (188), vorgebliche Toleranz und hinterhältiger Opportunismus (189f.), formalistische Strenge im Dienst als Ausgleich zur »Lustlosigkeit« (190/191) im Privatleben, das Bedürfnis zu strafen, zynisch zu einer »Kunst« (193) verbrämt: all diese rechtsfremden Motive enthüllt die Reihe von fünf Figurenbeschreibungen, die »Ehrenrunde« (186) der an jener Vernichtung beteiligten Richter. Als Kehrseite jener Machtpolitik zur kollektiven Verteidigung der Justiz gibt der Text den Opportunismus des einzelnen Richters gegenüber den Mächtigen innerhalb des Justizsystems zu erkennen: im Prinzip, sich einen Feind »nur dann« zu schaffen, »wenn man sicher ist, daß man den betreffenden Gegner auch vernichten kann«. Einem Konflikt mit dem »für die gesamte Justizverwaltung verantwortlichen Ministerialdirektor im Justizministerium« (163) ginge Korti deshalb aus dem Wege. Der »Widerspruch zwischen äußerem Formalismus und Dogmatismus« einerseits und »inneren Ängsten und Unsicherheiten« andererseits, der sich bei vielen deutschen Juristen der 50er Jahre artikulierte,132 hindert die Titelfigur allerdings keineswegs daran, sich als funktionierendes Glied der Bürokratie zu bewähren, für das die Realität des vorsichtigen Untertanen und das Ideal des autonomen Individuums vor und nach 1945 vereinbar sind: »Der Einzelne ist auch hier ein Teilchen eines großen Betriebes, im Krieg einer Heeresgruppe oder einer Division, im Frieden ein Glied der Justizverwaltung. Ich glaube nicht, daß es einen praktischen Unterschied macht, wenn einer sich trotzdem als selbständiger Geist fühlt.« (194) Im »Tauwetter« zu Beginn der 60er Jahre, als sich in der Rechtssprechung ein »demokratisches Bewußtsein« regte und selbstkritische Richter auf die »Diskrepanzen zwischen dem Verfassungsauftrag der Justiz und ihrer Wirklichkeit« hinwiesen, 133 entlarvt Kluges Erzählung das zeitgenössische Konzept vom unabhängigen Richter als Verschleierung von persönlicher Willkür und institutionalisierter Machtpolitik einerseits sowie bedenkenlosem Opportunismus andererseits. Zugleich aber führt dieser Text - die autobiographische Darstellung von Kortis Lebenslauf (193-196) macht es als Miniaturbild des Ganzen besonders deutlich - solche Erscheinungsformen des Systems über die 130 Wassermann, Der politische Richter, S. 80. 131 132 133

von Brünneck, Die Justiz im Faschismus, S. 117. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 273. Wassermann, Ist Bonn doch Weimar? S. 28.

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biographische Konstruktion auf die unbewältigte Zeitgeschichte zurück und reflektiert damit die Hindernisse, welche der Forderung nach einer Demokratisierung der Justiz weiterhin entgegenstehen: die konservative Haltung und autoritäre Charakterstruktur einer juristischen Elite, die »nach Herkunft, Ausbildung, Stellung und Verhalten für die Verfassung der Freiheit nicht vorbereitet ist«.134 Die personelle Kontinuität nach 1945 verhinderte ja bis in die 60er Jahre die vom Grundgesetz geforderte Abkehr von der »systembedingten Subaltemität des deutschen Richters, dessen Mangel an persönlichem, politischem und geistigem Format es den NS-Machthabem ermöglicht hatte, ihn zu einem willfährigen Befehlsempfänger zu machen und seine Tugenden wie Arbeitseifer, Korrektheit und Unbestechlichkeit in den Dienst verbrecherischer Zwecke zu stellen«. Weil »eben die Juristen in die Rechtspflege zurückkehrten, die ihre berufliche Sozialisation in Weimar und unter dem NS-Regime erfahren hatten«, erwies sich die Hoffnung als »unrealistisch«, daß »aus den unpolitischen Bürokraten von ehedem bruchlos Richter der neuen demokratischen Ära werden« könnten.135 Während der Generalbundesanwalt 1958 eine solche Erwartung gar als verwirklicht erklärte, demonstriert die Lebensgeschichte von Richter Korti 1962 das Gegenteil. Sie ist von keinem Bruch mit der Vergangenheit geprägt, sondern wird von dieser nachhaltig und umfassend bestimmt: »Meine Erfahrungen, insbesondere im 3. Reich und in der Besatzungszeit, haben mich [...] gelehrt, daß der natürliche Trieb zur Vorsicht zu besseren Ergebnissen führt als jeder andere natürliche Trieb.« (195) Dieser zeitgeschichtlich bedingte Opportunismus erstreckt sich nach 1945 aber nicht allein auf seine dienstliche Tätigkeit. Die Geschichte führt auch die negativen Konsequenzen eines Lebens vor, in dem die ökonomisch bedingte Trennung von Arbeits- und Freizeit einseitig zugunsten des Berufs aufgehoben ist. Obwohl dieser den allergrößten Teil von Kortis Tageslauf ausfüllt (197-199), bestimmt jene Vorsicht, wie bei Manfred Schmidt zum dominierenden Verhaltensmuster geworden, als »Angst« (175/197) vor unabsehbaren Folgen auch die wenigen persönlichen Beziehungen. Doch während der Richter im Dienst mit dieser Strategie fast nur »Erfolg« (159/169) hat, erlebt er als Privatperson vorwiegend nur Mißerfolge (202-205). Ein solches Scheitern seiner Wünsche führt den Protagonisten aber nicht zur Einsicht in sein entfremdetes Handeln, sondern wird verdrängt; weil er das »Gefängnis seiner Gewohnheiten« (204) nicht verlassen kann, diese aber der Erfüllung seiner Bedürfnisse im Wege stehen und somit eine Veränderung nötig machen, bleibt Korti in seiner autoritären Charakterstruktur nur ein Ausweg: er organisiert »seine gesamten Gewohnheiten neu« (205). Als bloße Illusion eines persönlichen Wandels entlarvt der Text hier eine Geschäftigkeit, die in den 50er Jahren nicht nur dem einzelnen, sondern auch der bundesdeutschen Gesellschaft das aktive Vergessen von schlimmen Erfahrungen in Lebens- und Zeitgeschichte ermöglichte; zugleich aber zeigt die Erzählung, daß im Krieg erworbene Verhaltensweisen wie Vorsicht und Organisationsfähigkeit auch im Frieden noch immer ihren Zweck erfüllen, wenn mit ihnen eine scheinbare Identität zwanghaft verteidigt werden kann: »Korti erlebt privat Enttäuschungen und Zurückweisung, aber auch gegen privates Unglück gibt es ein

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Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, S. 276. iss Wassermann, Ist Bonn doch Weimar? S. 18 und S. 20. 121

Auffangsystem, das noch jedes Unglück, das Korti betroffen hat, in Organisation verwandelte. Korti ist nicht angreifbar.« (205) Der letzte Text der Sammlung beläßt es aber nicht bei der historischen Reflexion des zeitgenössischen Justizsystems durch die Konstruktion eines Lebenslaufs, sondern weitet die Analyse auch auf die Geschichte dieser Institution überhaupt aus. Als deren getreues Abbild erscheint die Unangreifbarkeit der Hauptfigur, wenn im vierten Kapitel ein »kurzgefaßter Lehrgang« die Entwicklung der deutschen Justiz gleich Kortis Biographie als Prozeß einer permanenten Abwehr von Veränderungen darstellt. Die Rechtssprechung hat in der Vergangenheit vornehmlich ihre eigene Macht und die der Herrschenden konserviert; sie »schützt [...] vor der Gerechtigkeit« (206) wie der Türhüter in Kafkas Parabel »Vor dem Gesetz«. Die Justiz lieben deshalb »alle, die Veränderungen fürchten müssen.« (206) Diese autoritäre Resistenz gegenüber jedem gesellschaftlichen Wandel reicht fiirdie Rechtssprechung jedoch nicht nur über das >Dritte Reich< hinweg bis in die Gegenwart, sondern wird auch schon fürdie Zukunft programmiert: An Beispielen von »Übungsfällen flir den Justiznachwuchs« (208), die in immer neuen Variationen die Internalisierung der herrschenden Normen als »Eigentumsjustiz« (187) fordern, belegt der Erzähler anschaulich eine Strategie, über die es mit bitterer Ironie heißt: »Der Weltuntergang, sagt Max Frisch, sei vollziehbar geworden. Deshalb ist anzunehmen, daß die rechtsstaatlichen Nationen der Welt in Zukunft dazu übergehen, ihre Schwierigkeiten nach den Methoden der Justiz zu lösen. Dann gibt es keine Veränderungen mehr.« (208) Zwar ist aufgrund geschichtlicher Erfahrung die Angst vor der radikalen Zerstörung eines solchen Zustands, vor einer »Katastrophe«, durchaus vorhanden, wie »Kortis Monolog« (212) erkennen läßt. Doch die historische Erinnerung an die Katastrophe des >Dritten Reichs< führt zu keiner Bewältigung der Vergangenheit, sondern bestätigt nur die statische Wirksamkeit eines ideologischen Be wußtseins in der Richterschaft. So wird mit dem »Brand des Justizgebäudes 1943/44« (212) ein Ereignis zur Katastrophe, zum gänzlichen Bruch mit der Tradition erklärt, das einer solchen Deutung in keiner Weise entspricht. Denn der Text dekuvriert die offizielle Behauptung vom »Ende einer Epoche« (214) als eine bloße Selbsttäuschung; die Realität der Justiz aber wird weiterhin von den Denk- und Verhaltensmustern der Vergangenheit bestimmt. So manifestiert die Rettung der Grundbücher (213f.) die Kontinuität einer Eigentumsjustiz; die baldige Wiedereröffnung des Gerichts nach Kriegsende garantiert nicht nur die personelle Kontinuität, sondern auch eine weltanschauliche Kontinuität, wie der Augenzeugenbericht über den Brand erkennen läßt: faschistische Ideologen« vom gemeinsamen Kampf der Justiz und der Armee »für die große Schicksalswende« (208) werden dort noch immer ohne jede Distanzierung reproduziert. Nur das »alte Selbstbewußtsein« (215) der Richter, nicht aber ihre Rolle als Herrenschicht und Machtelite, hat sich durch die Katastrophe des >Dritten Reichs< gewandelt. »Krisen [...] nach 1945 tangierten die Justiz nicht mehr« (208), erläutert der Erzähler und konkretisiert dies am dokumentarischen Beispiel des Ulmer Einsatzgruppenprozesses, der die bundesdeutsche Öffentlichkeit 1958 irritierte.136 Die Signalfunktion dieser Gerichtsverhandlung bestand darin, die Auffassung der meisten Zeitgenossen zu widerlegen, daß die juristische Bewältigung der faschistischen Vergangenheit abgeschlossen sei. Deutlich wurde, daß eine systematische Strafverfolgung noch nicht einmal begonnen 136

Siehe hierzu Henkys, Die nationalsozialistischen Gewaltverbrechen, S. 197.

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hatte und daß ein Grund dafür auch in der Weiterbeschäftigung einer großen Anzahl von Richtern lag, die im faschistischen >Unrechts-Staat< Recht gesprochen und dabei - von der Einweisung ins KZ abgesehen - allein zwischen 1942 und 1945 30000 Todesurteile gefällt hatten (192f„ 215f., 217).137 Weil aber in der Bundesrepublik kein einziger Richter für sein Handeln im >Dritten Reich< gerichtlich belangt worden ist - eine vorsätzliche Rechtsbeugung hätte sich nur durch ein Geständnis beweisen lassen - fingiert die Erzählung auch keine Fälle der bewußten Rechtsverletzung. Gezeigt werden statt dessen die Grenzen, welche sich die Richter für die Verfolgung ihrer eigenen Taten dadurch selbst gesetzt haben, daß ihnen »ein persönliches Verschulden« und »eine schuldhafte Handlung« nicht »nachgewiesen werden« (217) können, weil sich »die in Betracht kommenden Urteile in der Regel formell im Rahmen der damals geltenden Gesetze« gehalten haben.138 Auch der Ulmer Einsatzgruppenprozeß, in dem sich juristische Zweifel an der Tätigkeit der Richter erheben (216), zeitigt deshalb für keinen Richter negative Folgen. Kluges Erzählung veranschaulicht vielmehr die »Erholung des richterlichen Selbstbewußtseins nach dem Einsatzgruppenprozeß« (216) in der sublimen, nicht mehr exzessiven Anhebung der Strafmaße, durch welche die Richterschaft jetzt wieder ihre Macht demonstriert. Und der verfassungswidrige Wunsch nach deren Erweiterung durch die erneute Einführung der Todesstrafe wird auch nur durch eine Vorsicht überlagert, die freilich keineswegs »erfahrungsgemäß« ist. Für die in den 50er Jahren tätigen Richter der Bundesrepublik zeigte sich nämlich in keinem Fall, daß man »bei Todesstrafen später« juristisch »zur Rechenschaft gezogen« (218) wurde.139 Der Schluß des Textes und damit der Schluß der Sammlung bestätigt noch einmal das Bild einer autoritär geprägten Gesellschaft, die - wie der Richter Korti als gesetzlicher Vertreter der herrschenden Normen und wie das Justizsystem als Inkarnation des Status quo140 - unveränderbar erscheint. In allen Erzählungen erweist sich ja die Kontinuität autoritärer Charakterstrukturen im psychischen Apparat als so dominierend, daß die wenigen >antiautoritären< Impulse nur in verzerrter Weise artikuliert und damit zur Aufrechteihaltung der Verhältnisse kanalisiert werden können: Der Wandel Boulangers zum Marxisten ist eine bloße Schutzbehauptung, Schelihas Abschied vom Rechtsfanatismus ein Akt der Anpassung, von Posas moralische Krise zeitlich begrenzt, Schinckes Widerstand fast nur eingebildet, Anita G.s Unruhe eine zwanghafte Reaktion, Schmidts Mobilität ein zweckrationales Verhalten, J.s Verweigerung tödlich, die Ermittlung darüber ein Hohn, Schwebkowskis Auflehnung im Elitedenken begründet. Anders als bei

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Zur Vielzahl der Todesurteile siehe Reifner, Justiz und Faschismus, S. 13f.; Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, S. 75-87. Zu den besonderen Machtbefugnissen der Richter im Rahmen der sogenannten »Polenstrafrechtsverordnung« (215,217) siehe dort S. 79f. Zum militärischen Einsatz der deutschen Richter (215f.) siehe Richter, Die Richter der Oberlandesgerichte der Bundesrepublik, S. 256f. Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, S. 305. Zum wenig erfolgreichen und »oberflächlichen Versuch« einer »mit 12 Jahren Verspätung eingeleiteten Säuberung« der bundesdeutschen Justiz am Beginn der 60er Jahre siehe: Der Spiegel, Tausend Haken, S. 28. Siehe hierzu Dahrendorf, Deutsche Richter, S. 193. Zu diesem Aspekt in der vorliegenden Erzählung siehe weiterhin Drews, Alexander Kluge, S. 329; Lewandowski, Alexander Kluge, S. 37. 123

diesen Figuren sind bei Korti solche vitalistischen Ansätze zur Opposition gegen das Bestehende überhaupt nicht mehr zu finden: sein Lebenslauf und sein Berufsstand veranschaulichen besonders deutlich eine zeitgeschichtliche Situation, in der es »keine Veränderungen mehr« (208) gibt. Dieses Modell einer autoritär geprägten Gesellschaft liefert Kluges Sammlung von einem antiautoritären Werthorizont aus, der vor allem Erkenntnissen der Psychoanalyse und der Kritischen Theorie verpflichtet ist. Aus einer solchen Perspektive werden im psychischen Innenraum Verhaltensmechanismen aufgespürt, die der einzelne im Zusammenhang von Lebenslauf und Zeitgeschichte einmal entwickelt hat, an denen er aber auch dann noch festhält, wenn die historischen Rahmenbedingungen andere geworden sind. Unter derartigen >naturzeitlichen< Voraussetzungen ist individuelle und kollektive Identität allerdings nicht oder nur fragmentarisch möglich: wo das Denken und Handeln der Subjekte hauptsächlich von den überkommenen Traditionen einer Allgemeinheit dominiert wird, die kein historisches Selbstbewußtsein zu entwickeln vermag, zerfallen die einzelnen »Lebensläufe« in eine Collage von sprachlichen und ideologischen Klischees. Wenn selbst der Biograph bei der Erklärung von Verhaltensweisen oftmals nur die gleichen Normen wie die Betroffenen reproduziert, ist dieser umfassende Verblendungszusammenhang zwar in der ästhetischen Struktur des Textes als einem Reflexionsangebot für den kritischen Leser ironisch durchbrochen; die Hoffhungen auf den kollektiven Aufbruch einer Protestbewegung im gesellschaftlichen Außenraum werden 1962 bei einer solchen Bestandsaufnahme aber sehr skeptisch eingeschätzt. Weder vitalistisch-existentialistischen Denkmustem wie bei Peter Weiss noch historisch-materialistischen oder gar neoanarchistischen Konzepten wie dann bei Runge und Enzensberger kommt hier eine Bedeutung zu. Aufgrund jener Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart gibt der Erzähler im letzten Abschnitt unter dem Titel »Korti und kein Ende« (219) nur eine negative Prognose über die Zukunft ab. Weil die Struktur von Charakter und Institution insofern identisch ist, als sich im Lebenslauf wie in der historischen Entwicklung Richter und Justiz auf die alte, einmal und immer wieder erfolgreiche Weise um die Aufrechterhaltung der Macht bemühen, ist auch künftig die >Naturzeit< als ein »ewiger Friede aus dem Geiste der Justiz« (208) absehbar. Dieser Zustand meint hier freilich keine bürgerliche Utopie einer universalen Realisierung von Freiheit und Gleichheit mehr,141 sondern die juristische Abwehr jeglicher Veränderungen in einer real existierenden bürgerlichen Gesellschaft, die ihren eigenen Anspruch noch nicht eingelöst hat: »Um 1800 hätte ein Zeitungsartikel zur Abschaffung Kortis genügt, um 1900 wäre eine Reformbewegung dafür notwendig gewesen, 1962 würde auch ein Aufruhr zur Abschaffung Kortis vielleicht nicht ausreichen. Und wer unternimmt schon einen Aufruhr Kortis wegen?« Wo der ständige Ausbau eines »Sicherheitssystems« zur Konservierung des Bestehenden mit den Illusionen über den >Zerfall< einer ehemals intakten politischen Öffentlichkeit, aber auch mit der Personalisierung von gesellschaftlichen Zusammenhängen einhergeht, liegt die kritische Funktion von Kluges »Lebensläufen« darin, daß in ihnen eine solche >Entwicklung< in den Blick genommen wird: »So steht Kortis Ende noch in weiter Feme, ja: Kortis Ende rückt zunächst in immer weitere Ferne.« (219) Es bleibt 1962 dabei: Aufruhr ist nicht in Sicht. 141

Siehe Kant, Zum ewigen Frieden.

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5. Auf dem Weg zur Volksfront Erika Runges Dokumentation »Bottroper Protokolle«: das utopistische Modell vom antiautoritären Proletariat

Wir sind die Kraft! Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat, Die wir von Gottes Zorne sind bis jetzt das Proletariat! Freiligrath, »Von unten auf"

5.1. >Arbeiter kommen zu Wort< - die innovative Funktion des Stoffs Indem Kluges Modelle vom autoritären Charakter die Kontinuität von anachronistischen Denk- und Verhaltensmustem überwiegend an Figuren demonstrieren, die dem Bürgertum entstammen, bleibt am Beginn der 60er Jahre nicht nur die Revolte der antiautoritären Generation noch ausgespart, sondern zugleich jene soziale Klasse, die nach dem Konzept des historischen Materialismus der Garant für einen revolutionären Aufbruch ist: die Arbeiter. Während 1962 Proteste wie etwa die Schwabinger Krawalle eine Ausnahmeerscheinung darstellten, waren sie am Ende des Jahrzehnts nicht mehr nur für Studenten selbstverständlich geworden; auch Arbeiter verschafften ihrer Unzufriedenheit jetzt öffentlich Ausdruck, am deutlichsten im Pariser Mai und hierzulande mit den spontanen >Septemberstreiks< von 1969.1 Als literarisches Äquivalent zu diesem gesellschaftlichen Politisierungsprozeß kann Erika Runges Dokumentation »Bottroper Protokolle« verstanden werden,2 die 1968, in der »Aktionsphase« der antiautoritären Bewegung,3 erschienen ist. In diesem Prosatext erzählt kein professioneller Schriftsteller die Autobiographie eines Künstlers oder die Biographien von Konservativen; hier kommen Arbeiter mit ihren Erfahrungen in der literarischen Öffentlichkeit selbst zu Wort. Vor allem diese innovative Funktion des Stoffs ist der Grund für die literaturgeschichtliche Bedeutung, die man den »Bottroper Protokollen« als einem »nahezu klassischen Weik der neuen deutschen Dokumentarliteratur« zugesprochen hat, freilich mit unterschiedlicher Akzentsetzung: Einerseits werden sie als dankbares Beispiel für eine »vergangene Periode« der 60er Jahre begriffen, in der sich die »einseitige und eher unheilvolle Politisierung der deutschen Literatur« zugetragen habe,4 andererseits gilt der Text da-

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Siehe hierzu etwa: Der Spiegel, 4.7.1962, S. 51f., sowie Der Spiegel, 8.9.1969, S. 94-96; 15.9.1969, S. 29-33; 22.9.1969, S. 100-102. Alle Angaben erfolgen nach: Bottroper Protokolle. Aufgezeichnet von Erika Runge. Vorwort von Martin Walser, Frankfurt am Main 1968 (= edition suhrkamp 271). Die Zitate aus dieser Ausgabe werden unmittelbar durch die in Klammem gesetzten Seitenzahlen nachgewiesen. Reiche, Sexuelle Revolution - Erinnerung an einen Mythos, S. 47. Reich-Ranicki, Erika Runges Schwierigkeiten. 125

durch, daß dort erstmals »Laien als Experten [...] über ihre Lebensgeschichte kompetent Auskunft« gegeben hätten, als zukunftsweisendes »Paradigma« für das autobiographische Schreiben der 70er Jahre.5 Durch eine Interpretation des Textes werden solche Einordnungsversuche allerdings nur selten begründet; die bisherige Rezeption ist vielmehr durch einen Zugriff geprägt, der eine Spannung von historischer und ästhetischer Argumentation erkennen läßt. Exemplarisch für ein solches Vorgehen ist die Stellungnahme Batts: »Sowenig der aufklärerische Nutzen der >Bottroper Protokolle< bestritten werden kann, sowenig ist doch das Dokumentieren als literarisches Prinzip [...] geeignet.«6 Bis auf wenige Ausnahmen stimmt man darin überein, daß Runges Sammlung durch einen »grundsätzlichen Verzicht auf Literarisierung«7 gekennzeichnet sei. Dieser angebliche Mangel hindert die Interpreten jedoch zumeist nicht, die politische Funktion des Buches zu loben, etwa als »richtige Information« dank einer »sozialistischen Tendenz«8 oder als kritische Dokumentation von Klassenunterschieden.9 Wie die gesellschaftliche Bedeutung aber in der ästhetischen Struktur des Textes vermittelt ist, bleibt weitgehend ungeklärt.10 Den Ausnahmecharakter dieser Dokumentation im literarischen System der 60er Jahre signalisieren bereits Titel und Untertitel: »Bottroper Protokolle. Aufgezeichnet von Erika Runge. Vorwort von Martin Walser«. Nicht an erster Stelle ist Erika Runge aufgeführt; sie erhebt keinen Anspruch, als Verfasserin eines literarischen Werkes zu gelten, das ihrer Phantasie entsprungen wäre. Vielmehr wird der zeitgeschichtliche Tatsachengehalt hervorgehoben, wenn die einzelnen Texte dieser Sammlung als »Protokolle« ausgewiesen sind, die Erika Runge in Bottrop »aufgezeichnet« hat. Die Autorin scheint als Produzentin eine untergeordnete Bedeutung einzunehmen, wo nur noch Ereignisse aus der Wirklichkeit wiedergegeben werden. Ebenso betont der Klappentext den streng dokumentarischen Charakter des Buches, und der Text entspricht zunächst dieser Bestimmung: Nicht nur die Kohlekrise ist der Öffentlichkeit 1968 längst als zeitgeschichtliches Faktum gegenwärtig; auch die meisten der zu Wort kommenden Personen sind einer regionalen oder lokalen Öffentlichkeit bekannt und können von dieser als in Bottrop lebende Menschen identifiziert werden." Dennoch verweist bereits die Abkürzung oder Tilgung der Nach5 6 7

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Rutschky, Erfahrungshunger, S. 239. Batt, Revolte intern, S. 37. von Bormann, Arbeiterliteratur in der Bundesrepublik seit 1965, S. 109. Siehe dagegen Herzfeld-Sander, Protokoll und Entwurf, S. 122.; Thomas/Bullivant, Westdeutsche Literatur der sechziger Jahre, S. 151. Neumann, Contra Wolfgang Harich, S. 421. Siehe Kurbjuhn, Formierte Gesellschaft, S. 93; Just, Jenseits der Literaturgeschichte. Exemplarisch für diese Zwiespältigkeit siehe Schiitt, Tagung der Gruppe 61; Reinhold, Dokumentarliteratur in der BRD, S. 287; Berghahn, Dokumentarische Literatur, S. 235; Smith, Erika Runge, S. l l l f . - Dagegen hat Miller (Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 284-334) eine ausführliche Interpretation der »Bottroper Protokolle« vorgelegt, die eine Vielzahl von Strukturelementen des Textes zutreffend erfaßt (siehe Anm. 37,44,48,56f., 59). Zur Kritik an dieser Deutung siehe gleichwohl S. 131 f. der vorliegenden Abhandlung sowie Anm. 26, 35f., 64,77. Zur Biographie von Clemens Kraienhorst siehe etwa schon 1966 Lehmann, Legal & Opportun, S. 190-196. - Über und mit Maria B. drehte Erika Runge 1968 den Film »Warum ist Frau B. glücklich?«.

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namen auf die Abstraktion vom besonderen Stoff, auf eine Praxis ästhetischer Modellierung, durch welche die Äußerungen von realen Personen für die Konstruktion literarischer Figuren funktionalisiert werden. Und auch der Klappentext deutet mit der Differenz zwischen den Interviews und den abgedruckten »Protokollen« den Gebrauch poetischer Verfahren an, wenn er Erika Runge »die Autorin« eines Werks nennt, das »aus Interviews hervorgegangen« ist. Von der Literaturkritik ist das Buch mit Zustimmung aufgenommen worden, und dies liegt unter anderem in der Funktion begründet, die Martin Walser hier ausgeübt hat. W e es der Untertitel ankündigt, übernimmt der etablierte Schriftsteller die Aufgabe, zwischen diesem dokumentarischen Text und der literarischen Öffentlichkeit zu vermitteln. Auch die autobiographischen Lebensgeschichten von Ursula Trauberg und Wolfgang Werner hat Walser auf ähnliche Weise unterstützt, und zwar nicht »als Beiträge zur augenblicklichen belletristischen Situation«, sondern als politischen »Versuch, dem überaffirmierten bürgerlichen Bewußtsein Bestätigung zu entziehen«.12 Solches gelinge vor allem mit Lebensgeschichten, die »weit außerhalb jener literarischen Bräuche« erzählt seien und deshalb eine »Glaubwürdigkeit« besäßen, die man nur erreichen könne, »wenn man sie nicht beabsichtigt«, wenn man unter dem »Diktat der Erinnerung« nur »berichtet, nichts als berichtet; fast nichts als berichtet«.13 Hier wird das naive Erzählen der eigenen Biographie gegen die ästhetische Konstruktion von Lebensgeschichten ausgespielt und der Gewinn an Authentizität mit dem gänzlichen Verzicht auf literarische Verfahren erklärt. Beide Texte, in denen sich, wie Walser selbst sieht, »wenig Kommentar und noch weniger Reflexion finden«,14 trifft allerdings der Einwand, daß sie, so lange sie die berichteten Erfahrungen weder begrifflich noch poetisch verarbeiten, nur den Normenhorizont der Verfasser reproduzieren und damit doch bloß die »Bestätigung bürgerlichen Bewußtseins und bürgerlicher Literatur«15 leisten. Weil solche Autobiographien Erlebnisse ohne kritischen Abstand darstellen und die Alternative biographischer Erzählungen, anders als bei Kluge, hier nicht zur Verfügung steht, versucht Walser diese Dokumente in Nachworten um einen ideologiekritischen Kommentar zu ergänzen; zur Lebensgeschichte der Strafgefangenen Ursula Trauberg liefert er sogar einen Anhang, der auf seinen Gesprächen mit deren Bekannten beruht. Der Zweck solcher Epiloge ist dem der wissenschaftlichen Erläuterungen in der >Oral History< durchaus vergleichbar: »So entsteht Distanz zum Bericht, und wie man in dem autobiographischen Dokument die Tat von innen kennengelemt hat, so lernt man sie nun von außen kennen.«16 Ansätze zu einer Kommentierung der Dokumente lassen auch Anfang und Ende der »Bottroper Protokolle« erkennen. Während die »Epiloge« (149-164) von den Betroffenen bereits selbst gesprochen werden, erklärt im Vorwort noch der bürgerliche Schriftsteller die polemische Funktion, welche diese Sammlung von »Berichten aus der Klassengesellschaft« (7) gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit besitzt. Präzise wird dort der allgemeine Zweck dokumentarischer Literatur erläutert: sie thematisiert - in auffäl-

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Walser, Nachwort, in: Werner, Vom Waisenhaus ins Zuchthaus, S. 267. Walser, Ein Nachwort zur Ergänzung, in: Trauberg, Vorleben, S. 269f. 14 Walser, Nachwort, in: Wemer, Vom Waisenhaus ins Zuchthaus, S. 263. 15 Jansen, Warum das Monströse gefragt ist. 16 Trauberg, Vorleben, Klappentext. 13

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liger Übereinstimmung mit dem Konzept der außerparlamentarischen Opposition Erlebnisse von Menschen, die sich in Politik, Presse, Wissenschaft und Literatur nicht angemessen vertreten sehen. Solche »Leute«, die »nicht zu Wort kommen« (8), sind im besonderen Fall der »Bottroper Protokolle« die Arbeiter, trotz des gesetzlichen Postulats von Gleichheit und Demokratie haben sie nur geringe Chancen, öffentlich ihre Erfahrungen und Interessen angemessen zu artikulieren. Den Grund für jene Diskrepanz zwischen Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit sieht Walser in der Existenz einer bürgerlichen Demokratie, die entgegen ihrem radikalen Anspruch und ungeachtet aller Modernisierung eine Klassengesellschaft geblieben ist. Während ein derartiges gesellschaftstheoretisches Konzept in den literarischen Lebensgeschichten von Peter Weiss und Alexander Kluge noch nicht strukturbildend ist, leitet Walser auf dem Höhepunkt der antiautoritären Bewegung diesen Text mit dem Hinweis auf ein Deutungsmuster des historischen Materialismus ein, nach dem die bürgerliche Gesellschaft auch hierzulande durch die Kontinuität eines antagonistischen Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital geprägt wird, und liefert damit eine erste Perspektive zur Rezeption der einzelnen Berichte: Sie gelten als »Zeugnisse einer immer noch nach minderem Recht lebenden Klasse« (10). Die Darstellung der Lebenswelt von Arbeitern aus einer nicht-bürgerlichen Sicht zu leisten, das ist für Walser die Funktion der »Bottroper Protokolle«, und gerade diese Möglichkeit spricht der bürgerliche Autor 1968 der etablierten Literatur kategorisch ab. Wenn er deren stoffliche Begrenztheit auf die Sozialisation der bürgerlichen Schriftsteller zurückführt, richtet sich seine Kritik auch gegen solche Strategien, die vor 1968 eine Erweiterung des sozialen Erfahrungsgehalts von Literatur unabhängig von Herkunft und Lebens weit der Autoren forderten. Weil »die Welt, in der wir leben, noch nicht literarisch fixiert« sei, fragte Walter Jens, Mitglied der Gruppe 47, schon 1960: »Wo ist das Porträt eines Arbeiters?«17 Und Fritz Hüser, einer der Hauptinitiatoren der Gruppe 61, erläuterte 1966 deren Programm, die Darstellung der Arbeits welt: »Nicht der Beruf und die soziale Stellung des Schreibenden ist entscheidend - wichtig allein ist nur das Thema und die Kraft, es künstlerisch darzustellen.«18 Walser widerspricht entschieden: »Es ist lächerlich, von Schriftstellern, die in der bürgerlichen Gesellschaft das Leben >freier Schriftsteller leben, zu erwarten, sie könnten mit Hilfe einer Talmi-Gnade und der sogenannten schöpferischen Begabung Arbeiter-Dasein im Kunstaggregat imitieren oder gar zur Sprache bringen. Alle Literatur ist bürgerlich. Bei uns. [...] Arbeiter kommen in ihr vor wie Gänseblümchen, Ägypter, Sonnenstaub, Kreuzritter und Kondensstreifen. Arbeiter kommen in ihr vor. Mehr nicht. Hier, in diesem Buch, kommen sie zu Wort.« (9) Kategorial werden mit dem letzten Satz die »Bottroper Protokolle« von der bürgerlichem Fiktion abgesetzt, und in der Tat liegt die innovative Funktion der »Berichte« (7) zunächst im Stofflichen begründet. Weil sie dokumentarisch die persönlichen Erfahrungen von Arbeitern einer literarisch interessierten Öffentlichkeit präsentieren, reagiert diese 1968 mit großer Begeisterung. Über die damalige Jahrestagung der Gruppe 61 17

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Jens, [Antwort auf eine Umfrage nach dem >Gesicht der deutschen Literatur in der Gegenwart^. - Zu diesem Gegensatz zwischen Jens und Walser siehe auch Riebe, Literatur der Tatsachen, S. 112. Hüser, Vorwort, S. 26.

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schreibt Schöfer: »Erika Runges außer Konkurrenz verlesene >Bottroper Protokolle< bestechen jung und alt so wie zur Zeit fast die gesamte kritische Intelligenz des Landes. [...] Ein exotischer Reiz geht von ihnen aus, und der spricht Bände über die geheimen Sehnsüchte und Unfähigkeiten der bürgerlichen Literaten.«19 Walsers Vorwort erläutert somit die Neuerung, mit der die etablierte Kunstprosa durch die »Bottroper Protokolle« konfrontiert wird: Klassenerfahrungen von Arbeitern sind in den 60er Jahren weitgehend nicht Gegenstand literarischen Erzählens. Über eine solche Erklärung hinaus findet sich hier jedoch kein Hinweis auf die poetischen Konstruktionsprinzipien, nach denen jenes Material in Runges Buch verarbeitet wird. Sind die »Bottroper Protokolle« etwa nur dokumentarische Belege für das >alte< Theorem der Klassengesellschaft,20 aber ohne Bedeutung für die Evolution der epischen Darstellungsmuster im Bereich von Lebensgeschichten und damit auch für die literarische Reflexion von Zeitgeschichte? Oder trifft doch die Behauptung zu, daß hier »die proletarische Thematik mit einer aggressiven politischen und ästhetischen Konzeption zusammenfällt«?21

5.2. Erzählen als Dokumentieren: die literarische Suprastruktur der Sammlung In seinen narrativen Verfahren gibt der Text sich auf den ersten Blick radikal: Nur noch die Überschriften der Kapitel, die Teilüberschriften und die Figurenbezeichnungen können als letzte Spuren der traditionellen Erzählerrolle identifiziert weiden. Deren konstruktives Moment scheint sich ganz auf das Beschaffen, Auswählen und Zusammenstellen der vorliegenden Berichte zu reduzieren. Die »Bottroper Protokolle« muten zunächst wie eine bloße Sammlung von Dokumenten an, die acht Lebensgeschichten, Wortmeldungen aus einer Betriebsversammlung und ein Gespräch zweier Ehepaare als in sich geschlossene Teilabschnitte präsentiert. Während in der Bühnenbearbeitung, in der szenischen Dokumentation »Zum Beispiel Bottrop«, die Äußerungen der Personen in eine Vielzahl von Zitaten zerlegt und diese miteinander nach dem Verfahren der Collage kombiniert werden,22 sind die selbständigen Beiträge hier nur in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet: scheinbar ohne jedes weitere Zutun der Autorin kommen die von der Kohlekrise Betroffenen selbst zu Wort. Eine genauere Analyse der »Protokolle« läßt dagegen zumindest für die acht Lebensgeschichten, die über zwei Drittel des gesamten Textes ausmachen, erhebliche Veränderungen erkennen, über die Erika Runge bei ihrem »Abschied von den Protokollen« später Auskunft gegeben hat: »Zunächst wurde das, was mir spontan und assoziativ mitgeteilt worden war, wortgetreu abgeschrieben, aber diese Mitteilungen wurden dramaturgisch geordnet und gerafft. Damit büßten sie den simplen Protokoll-Charakter ein. Das Verfahren entsprach meiner Arbeitsweise bei der Montage von Dokumentarfilmen, zu der die Aufnahmen zuerst nach Komplexen zerlegt und dann in einer Auswahl neu zusam-

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Schöfer, Zwischen Biedermeier und Offensive. - Siehe hierzu auch Schiltt, Tagung der Gruppe 61. So Reich-Ranicki, Anmerkungen zur deutschen Literatur der siebziger Jahre, S. 172. Schöfer, Zwischen Biedermeier und Offensive. Siehe Runge/Geifirig, »Zum Beispiel Bottrop«.

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mengesetzt wurden.« 23 Die Unterschiede zwischen der mündlichen Rede und ihrer schriftlichen Fassung in den veröffentlichten »Protokollen« hat Caroli in einer linguistischen Arbeit untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Eingriffe der Autorin: Umstellen von Abschnitten und Äußerungen, Streichungen innerhalb neuer Einheiten sowie Veränderungen in den einzelnen Äußerungen, weitgehend durch die Entscheidung bedingt sind, die Interviews »für die Veröffentlichung inhaldich zu straffen«, sie deshalb in Monologe zu überführen und »neben den Fragen auch in den Antworten alle Äußerungen zu tilgen, die auf den dialogischen Charakter des Interviews zu beziehen sind«. 24 Durch diese Kontaminationen der Antworten zu autobiographischen Erzählungen wird aber die Montage, welche im »Film« ohnehin nur »das grundlegende technische Verfahren« ist, 25 als künstlerisches Verfahren aufgegeben. Die angeblich »verdeckte Montage« 26 in der Mikrostruktur der »Bottroper Protokolle« ist keine, weil die einzelnen Lebensgeschichten gerade nicht mehr die »Negation von Synthesis« als das Gestaltungsprinzip der Montage aufweisen. 27 Zwar sind die sprachlichen Transformationen, welche das Erzählen als eine monologische Kommunikationsform erforderlich macht, nicht vollständig durchgeführt; noch immer signalisieren Kontakt-, Gliederungs- und Abtönungspartikel (»ja«, »ne«, »also«, »eben«), daß die Lebensgeschichten des vorliegenden Buches »aus Interviews hervorgegangen« sind (2) und in der »verschriftlichten Fassung eines mündlich konstituierten Textes« 28 vorliegen. Durch die synthetisierende Überarbeitung sind aber weder die Eingriffe der Autorin, ihre Fragen, Kürzungen, Um- und Zusammenstellungen erkennbar noch die Schwierigkeiten der Befragten, ihr Leben im Interview zu Protokoll zu geben. Vielmehr wird wie schon in Tretjakows Roman »Den Schi-Chua« durch die Geschlossenheit der autobiographischen Darstellung dem jeweiligen Berichterstatter eine narrative Kompetenz zugeschrieben, sein Leben erzählen zu können, ohne daß die subjektiven und objektiven Grenzen dieser Fähigkeit in der Struktur einer jeden Geschichte reflektiert wären. Auf die Krise des >bürgerlichen< Erzählers reagieren die »Bottroper Protokolle« zunächst allein dadurch, daß Lebensgeschichten von Arbeitern erzählt werden, weil auch diesen Individualität in ihren Lebensläufen zukomme; ästhetisch ist diese >Lösung< aber nicht weiter problematisierL29

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Runge, Abschied von den Protokollen. - Zu weiteren Äußerungen der Autorin über die »Bottroper Protokolle« siehe: Runge, [Statement]; Runge, [Antworten auf Fragen von Dieter Wunderlich]; Runge, Überlegungen beim Abschied von der Dokumentarliteratur; Prangel, Gespräch mit Erika Runge. Caroli, Pragmatische Aspekte syntaktischer Variation in der gesprochenen Sprache, bes. S. 366393, ZitatS. 385. Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 99. So aber Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 334. Siehe dagegen schon Pallowski, Die dokumentarische Mode, S. 291. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 232. Caroli, Pragmatische Aspekte syntaktischer Variation in der gesprochenen Sprache, S. 390. Die ursprünglichen Interviews sind dort in Auszügen wiedergegeben. Siehe hierzu allgemein die programmatische Grundlegung von Hochhuth, »Die Rettung des Menschen« und Adornos Reaktion im »Offenen Brief an Rolf Hochhuth«. - Zu dieser Problematik bei Alexander Kluge siehe schon S. 93, Anm. 48.

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Es sind allerdings nicht »die alten künstlerischen, äußerlich zusammenkleisternden, die Risse übertünchenden Stilformen der bürgerliche Biographie, des bürgerlichen Romans und vor allem auch des Gesprächs«, die für den dokumentarischen »Naturalismus« der »Bottroper Protokolle« verantwortlich zu machen wären.30 Denn Monologisierung und Verschriftlichung von dialogischer Umgangssprache konstituieren in den veröffentlichten Lebensgeschichten überhaupt noch keine literarische Struktur. Während in Kluges »Lebensläufen« die Reduktion biographischer Erzählverfahren zu einer Steigerung ästhetischer Komplexität führt, fehlt diese den einzelnen autobiographischen Dokumenten von Runges Sammlung. Sei es, daß durch die Überarbeitung ein Lebenslaufschema erst hergestellt wird, weil die Interviewaussagen »meistens assoziativ und nicht historisch in der Reihenfolge« gewesen sind,31 sei es, daß die ursprünglich vorhandene Chronologie durch Umstellungen bewußt verändert ist und dadurch etwa Anfang und Ende der Erzählung besonders hervorgehoben sind: in keinem der Texte übersteigt die Variation von Erzählzügen die Möglichkeiten autobiographischen Erzählens im Alltag.32 Weil die gesprochene Sprache in den Protokollen der Betriebsversammlung und des abschließenden Gesprächs aber noch weit unmittelbarer reproduziert wird, ist die Möglichkeit einer ästhetischen Konstruktion im Ganzen auf die Kombination der einzelnen Beiträge begrenzt. Allein durch deren Auswahl und Zusammenstellung entsteht eine literarische Struktur, die als Supra- oder Makrostruktur nur fiir das System dieser Sammlung, nicht aber für die Mikrostruktur der Einheiten konstitutiv ist. Die monologischen Textteile der acht Lebensgeschichten sowie die dialogischen Textteile der Wortmeldungen und der Epiloge sind hier in eine Reihenfolge gebracht, die als strukturelle Ordnung auf der syntagmatischen Achse des gesamten Textes zum Träger von Bedeutung wird.33 Über diese »Dramaturgie« des Werkes und die zugrundeliegenden wirkungsästhetischen Intentionen hat sich die Autorin 1976 geäußert: »Die Abfolge der Protokolle zeigt [...] eine kompositorische Absicht: es ging nicht allein um die Dokumentation, sondern um gezielte Aufklärung durch sie.«34 Auf diese Angaben hin hat Miller in einer durchaus differenzierten Untersuchung die »Rekonstruktion der Arbeiterbewegung« als »Herausgeberintention« in der Werkstruktur aufgespürt und als ein »erklärtes Ziel der 1968 - im Erscheinungsjahr der >Bottroper Protokolle< - neugegründeten deutschen kommunistischen Partei (DKP), der Erika Runge angehört«, bestimmt: »Konstruiert die Interviewkette eine Kampftradition von den politischen Arbeiteraufständen der 20er Jahre bis zu den Vietnam-Demonstrationen der Studenten Ende der 60er Jahre, so reflektieren die Betriebsversammlungen und das anschließende Gespräch die Protestmaßnahmen der Kölner Studenten als Aktionsvorbild für die von der Stillegung betroffene Bottroper Belegschaft. Arbeiterkampf und Studentenrevolte reflektieren sich wechselseitig, wobei die letztere als Medium fungiert, um ersteren zu reaktualisieren.« Weil eine solche politische Strategie der Autorin aber nur durch eine Bedeutungsschicht konkretisiert werde und diese ihrerseits »die Abstraktion von den besonderen sozialen und persönli-

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So Pallowski, Die dokumentarische Mode, S. 302. Runge, [Antworten auf Fragen von Dieter Wunderlich], S. 52. Siehe hierzu allgemein Franke, Erzählen, S. 246-248. Siehe hierzu allgemein Lotman, Die Struktur des künsüerischen Textes, S. 299 und S. 166. Runge, Abschied von den Protokollen.

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chen Gegebenheiten« impliziere, die der »rhetorischen Kampfgemeinschaft von Studenten und Arbeitern« widersprächen, liegt für Miller »der (rezeptions-)ästhetische Reiz der >Bottroper Protokolle< [...] gerade jenseits ihrer Parteilichkeit: in der Entdeckung wiederholt und in verschiedener Perspektive auftauchender Gegenstände und in der mosaikartigen Konstruktion ihrer Objektivität. Ob freilich solche von Erika Runge unterlassene Montage außerhalb der »Protokollen in der Rezeption stattfindet, hängt ganz von der Aufmerksamkeit des jeweiligen Lesers ab.«35 Deutlich zeigen sich hier die Grenzen eines Interpretationsansatzes, der den Zweck des literarischen Produkts auf die angebliche Absicht des Produzenten reduziert und das, was sich einer solchen Autorintention nicht einfugt, der Beliebigkeit des Rezipienten überläßt. Die Anordnung der einzelnen Teile kombiniert die Äußerungen verschiedener Figuren, und kein auktorialer Erzähler hebt deren Auffassungen in einem intersubjektiven Werthorizont explizit auf. Zwar gleicht der Text dadurch einer bloßen Sammlung zeitgeschichtlicher Dokumente; vor der literarischen Tradition polyperspektivischen Erzählens läßt sich die Makrostruktur der »Protokolle« aber durchaus als Montage beschreiben: die bloße Reihung von monologischen Lebensgeschichten und dialogischen Auseinandersetzungen kontrastiert die unterschiedlichen Interessen und Erfahrungen, ohne daß diese durch eine normsetzende Instanz vermittelt wären, und deutet so durchaus die Grenzen an, die dem einzelnen bei der Erkenntnis von Lebenslauf und Zeitgeschichte gesetzt sind. Durch eine solche >Montage< von in sich geschlossenen Teilen unterscheiden sich die »Bottroper Protokolle« von Kluges »Lebensläufen«; zentrale Bedeutung hat das Verfahren der Collage dort ja bereits für die Mikrostruktur der einzelnen Erzählungen, deren relative Eigenständigkeit innerhalb des Ganzen bei allen Überschneidungen im Detail aufrechterhalten bleibt. Demgegenüber gewinnt in Runges Text die Suprastruktur der Sammlung entscheidend an Gewicht: Trotz der Vielfalt von Erlebnissen ist das kollektive Erzählen hier in einer übergreifenden narrativen Struktur organisiert, die mit einer begrenzten Anzahl von dominanten semantischen Oppositionen beschrieben werden kann. Durch sie entsteht eine »Netz thematischer Querverbindungen«, das keineswegs mehr von der Beliebigkeit des jeweiligen Rezipienten abhängt.36 Auf eine erste Bedeutungsschicht weist Walsers Vorwort mit dem Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital hin, und diesen historisch-materialistischen Kategorien entsprechen in den »Protokollen« auch eine nicht unerhebliche Anzahl von Erklärungen, mit denen sich die Betroffenen den entscheidenden Konflikt um die Stillegung der Zeche begreiflich zu machen versuchen. Gleichwohl wird auf dieser Ebene das Sujet des Textes überhaupt nicht entwickelt. Ein Klassengegensatz zwischen >Oben< und >UntenArbeitgebern< und > Arbeitnehmern, >Bürgertum< und >Proletariat< findet in der Figurenkonstellation und in der Handlung des Textes keine dominierende Gestaltung. Die Lebensgeschichten des Pfarrers und des Rektors sowie die Ausführungen des Bergassessors stehen zwar fiir eine bürgerliche Wertorientierung, doch sie deuten die andere Seite nur als Hintergrund an. In den »Bottroper Protokollen« kommen ja hauptsächlich Arbeiter »zu Wort« (9), ihre spezifischen Erfahrungen in Geschichte und Lebenswelt sind der zentrale Gegenstand der Dokumentation. Auf der Achse der Chronologie werden 35 36

Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 326 und S. 328. So aber Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 326 und S. 328.

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deshalb Gegenwart und Vergangenheit miteinander konfrontiert: Wie in den einzelnen Dokumenten persönlich erlebte Zeitgeschichte und aktuelle gesellschaftliche Probleme zur Darstellung kommen, so zeigt auch die Abfolge der Teile - die Lebensgeschichten einerseits, die Protokolle von Betriebsversammlung und Gespräch andererseits - das historische Interesse eines Buches, das mit der Perspektive einer >humanen Zeit< genetisch Kontinuitäten und Veränderungen zwischen der Gegenwart und der vergangenen >Naturzeit< aufspürt. Diese Gegenüberstellung von Zeitgeschichte und heutiger Erfahrung wird an verschiedenen Generationen ausdifferenzieit: Die Älteren, Clemens K., Johannes L„ Heinrich W., Maria B„ zwischen 1900 und 1910 geboren, stehen vor dem Ende ihres Erwerbslebens; die mittlere Generation der Erwachsenen ist vor 1945 geboren und umfaßt Dieter V., Erna E., die Teilnehmer der Betriebsversammlung und die Ehepaare; die nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Jugend wird repräsentiert von Rolf S. und Verena D.37 Solche Generationszugehörigkeit spiegelt sich auch im Verhältnis von ursprünglichem Lebensplan und tatsächlichem Lebenslauf wider: während die Älteren ihre Erfahrungen damit gemacht haben, was im historischen Herrschaftsraum aus den individuellen und kollektiven Hoffnungen geworden ist, dominiert bei den Jüngeren noch der Wunsch nach einem utopischen Erlebnisraum. Schließlich sind die Berichte geprägt durch den Gegensatz der Geschlechterrollen. Schon an den Redechancen wird die traditionelle Grenzziehung deutlich, nach der dem Mann der Bereich von Beruf und Öffentlichkeit, der Frau aber die Tätigkeit einer Hausfrau und Mutter zukommt: während in den Lebensgeschichten (mit der Frau und der Tochter von Clemens K.) und in den Epilogen jeweils gleich viele Frauen wie Männer zu Wort kommen, bleibt diesen die Beteiligung an der Betriebsversammlung gänzlich vorenthalten. Diese Oppositionen von Lohnarbeit und Kapital, Vergangenheit und Gegenwart, älterer, mittlerer und jüngerer Generation, Lebensplan und Lebenslauf, Männer- und Frauenrolle überlagern sich in den »Bottroper Protokollen« und konkretisieren damit die allgemeinen sozialen und historischen Bedingungen, durch welche die Lebensläufe von Arbeitern im 20. Jahrhundert geprägt sind. Vor diesem Hintergrund nimmt der Sujetaufbau des Textes eine politische Problematik auf, die 1968 vor allem für die Protestbewegung von Bedeutung gewesen ist: die Frage, inwieweit für die Arbeiter in der gegenwärtigen Situation die politische Möglichkeit besteht, durch die kollektive >Erinnerung an Aufbruch< als außerparlamentarische Opposition wieder handlungsfähig zu werden und im gesellschaftlichen Konflikt selbstbewußt das Wort zu ergreifen.

5.3. Lebensgeschichten und Zeitgeschichte: vom Klassenbewußtsein zur Konsumorientierung In der Rezeption des Marxismus durch die Protestbewegung sind 1968 zwei Positionen zur Strategie des Klassenkampfs zu unterscheiden: die >Antiautoritären< sehen die Arbeiter von ihrem subjektiven Bewußtsein her in das bestehende System integriert, verneinen die Existenz eines revolutionären Subjekts und erklären die radikalen Studenten zur Avantgarde des Widerstands; die >Traditionalisten< halten dagegen die Arbeiter 37

Siehe hierzu auch Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 325.

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für objektiv revolutionär und streben eine Aktionseinheit mit ihnen an, weil jenseits des unterschiedlichen subjektiven Bewußtseins objektiv gleiche Interessen existierten.38 Vor der Folie dieses politischen Diskurses gilt es die besondere Funktion der »Bottroper Protokolle« zu beschreiben. Ihr zentrales Strukturprinzip thematisiert das Verhältnis von zwei Normenhorizonten: eines dezidierten Klassenbewußtseins, das die Abschaffung eines hierarchischen Wirtschaftssystems anstrebt, und eines elementaren Aibeiterbewußtseins, das zwar eine unangemessene Beteiligung am Sozialprodukt sowie die Unterprivilegierung in Bildung und Ausbildung empfindet, ansonsten aber die kapitalistische Wirtschaftsordnung trotz Krisen bejaht und Alternativen ablehnt.39 Wenn durch diese Opposition in Runges Text die Vielzahl von einzelnen Verteilungskonflikten einem zentralen Verfassungskonflikt gegenübergestellt wird, so hat eine solche Absage an die traditionell gewerkschaftliche Tarif- und Sozialpolitik ihren Grund 1968 allerdings auch in der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik, besonders in der ökonomischen Rezession 1966/67. In der Geschichte der Dokumentarliteratur während der 60er Jahre können die »Bottroper Protokolle« einer zweiten Phase zugerechnet werden, die als ästhetisches Äquivalent zu einer »offenen Politisierung der Gesellschaft« durch die »agitierende Aufnahme gegenwärtiger Kriege und Krisen« gekennzeichnet ist.40 Diese Dokumentation rückt ja die spezielle Notlage der Bergleute, welche seit 1957 infolge von Absatzschwierigkeiten bestand,41 zum Zeitpunkt einer allgemeinen ökonomischen Depression in das Bewußtsein der Öffentlichkeit. Die Hoffnungen, eine neoliberale Wirtschaftspolitik habe die zyklisch auftretenden Krisen der Vergangenheit und damit die >soziale Frage< endgültig überwunden, hatten sich ja ab Mitte der 60er Jahre als falsch erwiesen; die wirtschaftliche Entwicklung stagnierte; die Arbeitslosenquote stieg auf zwei Prozent. Schockartig wurde mit dieser Konjunkturkrise erstmals der ganzen Gesellschaft bewußt, was sich in der Strukturkrise des Bergbaus längst angedeutet hatte: die Grenzen jener >sozialen Marktwirtschaft, die Erhard zuvor als revolutionäre Synthese aus Markt- und Planwirtschaft angepriesen hatte.42 Wenn sich 1966/67 die Krise des Bergbaus und die allgemeine Rezession so überlagern, daß in zunehmendem Maße Arbeitskräfte >freigesetzt< werden, sind diese zunächst das bloße Objekt der ökonomischen Entwicklung. Inwieweit sie unter derart verschärften Bedingungen als >kollektives Subjekt< ihre Interessen zu artikulieren und durchzusetzen imstande sind: diese Frage der Protestbewegung nach einem Aufbruch der Arbeiter stellen die »Bottroper Protokolle«. Aus einer historischen Perspektive veranschaulichen die acht Lebensgeschichten die Chancen des einzelnen, unter den Bedingungen und Widersprüchen einer >Naturzeit< individuelle und kollektive Identität zu entwickeln. Für unterschiedliche Typen von 3g

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Siehe hierzu, allerdings aus >traditionalistischer< Sicht, Bauß, Die Studentenbewegung der sechziger Jahre in der Bundesrepublik und Westberlin, S. 302-319. Zur >antiautoritären< Position siehe auch Negt, Politik und Protest, S. 17. Siehe hierzu allgemein Jaeggi, Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik, S. 45-47; Lepsius, Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in der Bundesrepublik Deutschland, S. 204f. Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 140. Siehe hierzu Abelshauser, Von der Kohlenkrise zur Gründung der Ruhrkohle AG. Siehe hieizu etwa Erhard, Deutsche Wirtschaftspolitik. - Zur wirtschaftlichen Entwicklung siehe hier Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (1945-1980), S. 85-132.

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Lebensläufen, die aus dem sozialen Umfeld der aktiven Bergarbeiter stammen, beleuchten mehrere autobiographische Erzählungen genetisch die gegenwärtige Situation durch die Rekonstruktion von persönlich erlebter Zeitgeschichte. Anders als bei Peter Weiss steht hier allerdings nicht mehr der antiautoritäre Aufbruch eines Individuums zu einem eigenen Leben im Vordergrund; anders als in Kluges »Lebensläufen« gilt die Aufmerksamkeit nicht mehr der kollektiven Kontinuität von autoritären Charakterstrukturen: das übergreifende Sujet der acht Lebensgeschichten ist die Teilhabe an einem kollektiven Widerstand, der aller historischen Entwicklung zum Trotz auf der grundsätzlichen Aufhebung gesellschaftlicher Ungleichheit beharrt und dessen Kontinuität erst durch die Erinnerung daran gewahrt bleibt, das der einzelne im Rahmen seiner Klasse immer wieder zum >antiautoritären Aufbruch< gegen die sozialen Grenzen seiner Lebens- und Arbeitsbedingungen bereit sein muß. Zwischen einer Vergangenheit, die Modelle radikalen Engagements im Rahmen einer klassenbewußten Arbeiterbewegung bietet, und einer Gegenwart, in der bei allem Unbehagen das systemkonforme Verhalten von >privaten Verbrauchern vorherrscht, ist im ersten Teil der »Bottroper Protokolle« die zunächst unüberschreitbare klassifikatorische Grenze gezogen. Mit der Erzählung des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden Clemens K. wird am Anfang der Sammlung das dezidierte Klassenbewußtsein eines Arbeiterführers vorgestellt, der sich als kommunistischer Vertreter der politischen Jugend< sein Leben lang radikal in Partei, Gewerkschaft und Betrieb für die Belange seiner Kollegen eingesetzt und dadurch Gegenmaßnahmen des Staates hervorgerufen hat 43 Das Schema von Agitation und Repression, konkretisiert durch das Engagement in der Arbeiterbewegung der Weimarer Republik und durch die Unterdrückung im Faschismus, hat mit der >Stunde null< seine Bedeutung für K.s Biographie allerdings nicht verloren: auf eine erfolgreiche Tätigkeit als Betriebsratsvorsitzender in den Nachkriegsjahren hin wird er nach der Restauration des kapitalistischen Wirtschaftssystems und nach dem Verbot der KPD durch die Initiative der CDU fristlos entlassen und in einem Prozeß kriminalisiert. Diese Wiederholungsstruktur innerhalb seiner Lebensgeschichte macht indes nicht allein die Kontinuität einer Verfolgung im Rahmen der politischen Justiz gegen Kommunisten anschaulich. Zugleich wird die Diskontinuität im Bewußtsein der Arbeiter manifest, die Clemens K. nach der Entlassung nur noch unzureichend unterstützen; eine kollektive Identifizierung mit dem ehemaligen Interessenvertreter findet nicht mehr statt (34,38f.). Als Folge der gegenwärtigen Entwicklung sind mit einem solchen Ende der Lebensgeschichte in der Bedeutungsstruktur des Textes die radikalen Traditionen der Arbeiterbewegung einer Vergangenheit zugewiesen, von welcher sich die zentralen Organisationen, SPD und DGB, in dem Maße lossagen, wie das >Wirtschaftswunder< auch für die Arbeiter eine Erhöhung des Lebensstandards mit sich bringt. Clemens K. aber, der proletarische Heldantiautoritärpolitischen Jugend< siehe allgemein Schelsky, Die skeptische Generation, S. 58-73; zur Kontinuität der Klassenkampfstrategie im Lebensplan der kommunistischen Jugend< der 20er Jahre siehe dort S. 61. - Zum historischen Kontext der Bundesrepublik siehe allgemein von Brünneck, Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968. Zum Prozeß gegen Clemens Kraienhorst siehe Lehmann, Legal & Opportun, S. 190-196.

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für den individuellen Aufbruch zum kollektiven Widerstand lautet: »Ihr müßt jede Gelegenheit ausnutzen, um für die Kameraden was rauszukriegen. Ich habe immer das Prinzip gehabt, für die Leute, die mich gewählt haben, das Höchstmögliche rauszuholen.« (36) Wenn Clemens K. mit den Vertretern des Kapitals eine »Zusammenarbeit« (24) organisiert, betont er als Druckmittel immer wieder erfolgreich seine demokratische Legitimation 44 und bestreitet die der Gegenseite: »Jetzt will ich Ihnen mal was sagen: ich bin bei der letzten Wahl von über 90 Prozent der Belegschaft gewählt worden, in geheimer Wahl. Und von euch ist kein einziger gewählt worden. Stelln Sie sich einmal vor, wenn Sie, meine Herren, die hier sitzen, wenn Sie von einer Wahl abhängig wären. Von euch wär keiner da.Verbürgerlichung< und Individualisierung«. Negl/Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 10f., Anm. 3.

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tigen Isolation des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden im Widerspruch steht, sondern auch zu den bisherigen Erfahrungen des Pfarrers. Denn der Lebensplan von Johannes L., sein Vorhaben, nach dem Krieg neu anzufangen und eine Gemeinde aufzubauen, hat ja weitgehend Erfolg. Während der Lebenslauf von Clemens K. in der Wiederholung des Schemas > Agitation - Repression eine zyklische Struktur aufweist, ist der des Pfarrers durch eine Linearität gekennzeichnet: vom Konflikt zwischen den kommunistischen Arbeitern und der Kirche (40,42,45f.) als Teil von »radikalen« Klassenauseinandersetzungen, die »es heute gar nicht mehr gibt« (40), führt eine Entwicklung zur gegenwärtigen Anerkennung von Johannes L. und seiner Gemeinde auch durch die Arbeiter (14,43,45). Deutliches Zeichen von deren Integration ist ein erheblich gestiegener Kirchenbesuch (40,46). Mit der Zechenstillegung droht jedoch nicht nur der Siedlung, sondern auch der Gemeinde, dem Lebenswerk des Pfarrers, »die Katastrophe« (46). Auf diese Ereignisse hin vermag erfreilich nur in einer Weise zu reagieren, deren Mißerfolg bei den Arbeitern er selbst jetzt schon ahnt; die moralische Solidarität, welche Johannes L. persönliche Glaubwürdigkeit verleiht - »dieses Mitfühlen mit den Leuten, das ist für uns eigentlich das Wichtigste« (47) - , hat ihre religiösen und politischen Grenzen. 47 Zwar fordert er die Arbeiter in seiner Predigt nicht nur zum Gebet auf, sondern auch zum eigenständigen Handeln: »Wir müssen jetzt sehen, daß wir ihre Arbeitsplätze erhalten.« (47) Doch zugleich ist sich der Pfarrer in diesem Fall des Scheiterns seiner traditionellen Pastoralarbeit bewußt, wenn er als Folge der wirtschaftlichen Depression eine Politisierung als unabwendbar prognostiziert, für die es innerhalb der Kirche gerade keinen Raum gibt. So heißt es am Schluß der Lebensgeschichte über den zukünftigen Aufbruch der von Arbeitslosigkeit Bedrohten: »Durch die Krisen kommen sie nicht zum Gebet und zur Kirche. Da bin ich felsenfest von überzeugt. [... ] Also, daß die radikal werden, da bin ich fest von überzeugt, sie kommen nicht zu uns, die kommen dann zu den Radikalen.«(47) Im Kontext der ganzen Dokumentation bestätigt diese Erklärung von Johannes L., der als Typus des engagierten Pfarrers mit der Kunstfigur »Don Camillo« verglichen wird, allerdings eine »Weltanschauung«, für die sein früherer »Gegenspieler«, der radikale Arbeiterführer »Peppone« Clemens K. steht (37). Obwohl er in der Gegenwart isoliert ist, wird seinem Denken und Handeln angesichts der Krise für die Zukunft wieder eine Relevanz bescheinigt, die sich in der Vergangenheit bereits erwiesen hat. Durch die Abfolge der Lebensgeschichten von Clemens K. und Johannes L„ von Männern der älteren Generation, ist die abstrakte Möglichkeit behauptet, die Arbeiter könnten in der unmittelbaren Zukunft an eine klassenbewußte Haltung der Vergangenheit wieder anschließen. Die Geschichte von Erna E. bricht indes mit der Vorstellung vom Fortschritt durch den traditionellen Klassenkampf. Besonders der Anfang des Berichts macht anschaulich, daß hier der einförmige Tageslauf einer Hausfrau und Mutter dominiert, die »iterative Form des Lebensalltags«. 48 Die gegenwärtige Situation - »mit 22

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In der szenischen Dokumentation »Zum Beispiel Bottrop« werden die Ausführungen des Pfarrers auf andere Weise ironisch reflektiert Dort fehlen die letzten fünfzehn Zeilen der Lebensgeschichte; statt dessen wird eine Äußerung des Bankiers Hermann Josef Abs vom Tonband eingespielt: »Der liebe Gott würde diese Anlagen nicht schließen, aber er ist nicht im Spiel.« (Runge/Geifrig, »Zum Beispiel Botirop«, S. 31). Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 314.

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schon 3 Kinder, das ist auch η bißchen viel« - entspricht keineswegs den früheren »Träumen«: »nicht so früh heiraten«, »dann ein Kind, und dann geh ich so lange arbeiten, bis man alles hat« (51). Ein anderer Lebenslauf als die permanente Sorge um Kinder und Geld zeichnet sich aber nicht ab. Schon die auf sich gestellte Frau von Clemens K. vermag die Zeit im >Dritten Reich< allein dadurch zu überleben, daß sie »hart« wird, sich in ihre Rolle fügt (17), und auch das Handeln von Erna E„ die einer viel jüngeren Generation angehört, folgt wieder nur der Maxime: »Man muß ja durchhalten.« (49) Signifikant stellt eine solche Übereinstimmung die historische Kontinuität und den zwanghaften Charakter einer Rollenverteilung heraus, durch welche die Frau aufgrund ihrer meist frühen Mutterschaft die Beschränkung auf Haus und Familie zugewiesen ist. Wegen der ständigen Inanspruchnahme durch die immer gleichen Aufgaben des Alltags bleibt Erna E.s Interesse für Zeitgeschichte und Politik gering; auch die mögliche Verschärfung ihrer Lage durch die Zechenstillegung führt über Ratlosigkeit und Resignation nicht hinaus: »Wir Armen können j a auch nichts dagegen tun, daß die Zeche stillgelegt wird.« (53) Durch die dritte Geschichte ist so der vagen Hoffnung auf eine zukünftige Radikalisierung der Arbeiter die gegenwärtige Ohnmacht einer Hausfrau und Mutter entgegengesetzt, ihr Leben unter den Bedingungen einer Arbeiterfamilie nach den eigenen Wünschen einzurichten, geschweige denn wirtschaftlich oder politisch Einfluß zu nehmen. Einer Aneignung von radikalen Traditionen der Arbeiterbewegung wird damit aber so lange ein Mangel bescheinigt, als sich an diesem Lernprozeß nicht auch die Frauen der Arbeiter beteiligen. Denn die Möglichkeit eines individuellen oder gar kollektiven Aufbruchs stellt sich für Erna E. überhaupt nicht; als einzige Verhaltensänderung gegenüber ihrem bisherigen Lebenslauf kann nur die bewußte Familienplanung angesehen werden (54; siehe auch 74 und 112). Auf die gegenwärtige Situation aber wirkt sich dieser Entschluß noch nicht aus, und so muß Erna E. weiter auf die Erfüllung ihrer privaten Lebenspläne warten: erneute Berufstätigkeit, mehr Geld, ein Auto, Reisen (51, 54f.) und vor allem eine gute Ausbildung für die Kinder - »die sollns mal η bißchen besser haben wie wir« (54). Im Interesse an der schulischen Qualifikation ihrer Kinder, welches Erna E. mit der Tochter von Clemens K. (30f.) teilt, manifestiert sich die Strategie, Strukturen der Ungleichheit im individuellen »Aufstieg« hinter sich zu lassen (7). Solchen Hoffnungen widerspricht aber die Stellungnahme des Rektors. Am Ende seiner Lebensgeschichte verweist er resigniert auf die sozialpsychologischen Voraussetzungen, welche Arbeiterkindern im allgemeinen weitergehende Fortbildungsmöglichkeiten verwehren: »Hier sind fast nur Bergleute, die, deren geistiges Interesse doch nicht so stark ist. Und das wirkt sich auf die Kinder aus. Die Kinder sind, naja, es gibt überall begabte und unbegabte, das ist klar, aber so das allgemeine Interesse der Kinder ist hier nicht stark, und man ist manchmal entsetzt, wie schwach im Geist unsere Kinder sind.« (63) Durch diesen Gegensatz zwischen dem Willen zur Bildung von Arbeiterkindern und den hinderlichen Bedingungen ihrer Sozialisation werden die Grenzen einer Bildungsreform betont, die ab Mitte der 60er Jahre materiale Gleichheit nicht mehr auf formale Chancengleichheit, auf das Recht zum kostenlosen Besuch aller Bildungsinstitutionen reduzieren wollte. Als ein erfolgreiches Modell aus der Vergangenheit, das ähnlichen Zielen folgt, stellt die Lebensgeschichte von Heinrich W. die Freie Schule vor, welche überwiegend von Kindern aus sozialdemokratischen und kommunistischen Familien besucht wird. 138

Doit gibt es neben den schlechten Schülern auch »eine hochintelligente Gruppe« (58), und die von Begeisterung geprägte Erzählung des ehemals engagierten Lehrers über Grete, die begabteste Schülerin und spätere Bundestagsabgeordnete der KPD (57f.), demonstriert am Einzelfall, daß für den individuellen Aufbruch zum kollektiven Widerstand eine qualifizierte schulische Ausbildung von Arbeiterkindern nicht nur nötig, sondern auch möglich ist Diese Erinnerung macht das historisch verbürgte Potential einer Klasse anschaulich, das es fur die Zukunft zu nützen gilt, obwohl und weil es in der Gegenwart institutionell nicht ausreichend gefördert wird, wie die gewandelte Motivation des Lehrers zeigt. Während er früher »die Idee der Freien Schule« mit »Interesse und Energie« unterstützt hat (59), signalisiert der letzte Satz seines Berichts nur noch das Einverständnis seines Lebensplans mit der bestehenden Ungleichheit: »Aber daran gewöhnt man sich auch und kalkuliert das mit ein in seiner Arbeit, und dann gehts eben auch« (63). In der narrativen Struktur der ersten vier Lebensgeschichten wiederholt sich die gleiche Bewertung der drei Zeitdimensionen: die Vergangenheit liefert positive Beispiele ftir das Klassenbewußtsein (Clemens K.) und die Intelligenz von Arbeitern (Freie Schule); solchen Eigenschaften wird im Sinne einer kollektiven Politisierung (Johannes L.) oder eines individuellen Bildungsprozesses (Erna E.) auch eine Zukunft eingeräumt; die Vermittlung in der Gegenwart aber gelingt nicht - daftir stehen der ehemalige, jetzt isolierte Betriebsratsvorsitzende, der erfolgreiche Pfarrer, die ohnmächtige Hausfrau und der resignierte Rektor. Diese Situation ist genauer veranschaulicht, wenn mit der Lebensgeschichte von Dieter V. jene mittlere Generation vorgestellt wird, welche die Aneignung der radikalen Arbeitertraditionen jetzt zu leisten hätte. Im Vergleich mit Clemens K. ist Dieter V.s historisches und politisches Bewußtsein nämlich gering. Die Vernichtung der Juden im >Dritten Reich< wird verdrängt - »wolln mer gar nicht erwähn« - ; dafür sind um so ausführlicher anfängliche >Leistungen< des Faschismus gewürdigt, die zum Teil »besser« gewesen seien »als vielleicht heute« (70). Zwar engagiert sich Dieter V. in der Gewerkschaft und sogar im Betriebsrat seiner Firma, doch anders als K. ist er »gegen erhöhte Forderungen« (71) und tritt seine Interessenvertretung an andere ab: »bei Politik möcht ich nich direkt mitmischen, denn dazu versteht man doch zu wenig von der ganzen Sache, das möcht ich doch schon befugteren Leuten überlassen« (70). Der Grund für diese Entpolitisierung liegt darin, daß die Rekonstruktion des kapitalistischen Wirtschaftssystems seit den 50er Jahren und damit die Verminderung von Arbeitszeit, das Fehlen von Arbeitslosigkeit sowie die Steigerung der Löhne auch Arbeitern eine weitaus größere Möglichkeit zum Genuß von Freizeit, Privatleben und Konsumgütern bieten als zuvor. Diese Wende zur »Privatheit als Lebensform«49 manifestiert sich im Wunsch des Verkäufers nach Individualität: »ich möchte ziemlich unabhängig sein« (68), und weil sich dieses Bedürfnis im Beruf nur sehr begrenzt realisieren läßt (67f.), versprechen ein Eigenheim, in dem die Ehefrau dann »zu Hause bleiben« soll (73), und »schöne Reisen« (69) das Gefühl der Selbständigkeit als Verbindung von persönlicher Sichertieit und Mobilität. Das wesentliche Mittel, jenen »Lebenszuschnitt« materiell zu realisieren, den Schelsky »kleinbürgerlich-mittelständisch« genannt hat und dessen Ziel darin 49

Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970, S. 151.

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besteht, »einheitlich an den materiellen Gütern des Zivilisationskomforts teilzunehmen«, 50 liegt für Dieter V. aber im Freizeitbereich. Sein vorherrschendes Interesse gilt dem Fußball, wie die Erzählung durch den ersten Abschnitt zeigt, der im Unterschied zum ursprünglichen Interview bewußt an den Anfang gestellt ist und so eine kodierende Funktion für die nachfolgende Lebensgeschichte erhält. 51 Das Fußballspielen in einer Vertragsmannschaft hat zum einen den Zweck, einen gleichförmigen Alltag zu »vergessen« und sich zu »freun«, ein erhöhtes Prestige als »Vorbild« zu genießen (64) und in einer »Gemeinschaft« dabei zu sein, die einen Ausgleich zur beruflichen Spezialisierung und Isolation darstellt, »wo der eine dem andern gar nicht reinreden kann« (71). Zum andern bietet sich eine zusätzliche Möglichkeit, »Geld zu machen« (68); schließlich heißt doch die Maxime dieser Altersgruppe, in den Worten von Erna E„ »nur noch: wir wollen Geld verdienen« (49). Zwar äußert Dieter V. sein Unverständnis gegenüber einer verfehlten Wirtschaftspolitik (70f.); er nimmt auch die »Angst« vor dem Verlust des Arbeitsplatzes als Grund für das Ausbleiben von Protestmaßnahmen wahr (71). Doch von solchen Irritationen bleibt das grundsätzliche Einverständnis mit dem bestehenden System unberührt: gesellschaftliche Spannungen werden nicht mehr im Sinn des Klassenkonflikts begriffen, und die Konstitution von Identität scheint in der Freizeit und im Privatleben möglich. Während die Geschichte des Verkäufers demonstriert, daß eine Aneignung von radikalen Traditionen der Arbeiterbewegung durch den angepaßten Arbeitnehmer« gegenwärtig nicht gelingen kann, gibt die nächste Erzählung ein Exempel dafür, wie eine Frau in der Vergangenheit trotz schwerster Härten ihr Bewußtsein zu verändern und solidarisch zu handeln vermag. Auch Maria B. ist gleich Erna E. zunächst Hausfrau und Mutter, doch ihr Lebenslauf weist aufgrund der anderen Generationszugehörigkeit im Leid und in der Bereitschaft zum Widerstand erhebliche Unterschiede auf. Die schlimmen zeitgeschichtlichen und persönlichen Erlebnisse zwischen der Arbeitslosigkeit ihres Mannes zu Beginn der 30er Jahre und seinem Tod in den 50er Jahren stürzen Maria B. immer wieder in Identitätskrisen: »Ich war manchmal so verzweifelt, daß ich gedacht hab, es geht nicht mehr weiter.« (80) - »Ich konnte nicht mehr. Ich hab alle Tag ne Flasche Kognak ausgetrunken. Mögen Se glauben. So weit war ich.« (89) All diese Situationen überwindet Maria B., freilich nicht ohne schmerzliche Lernprozesse, wie dies etwa der Fall ist, wenn das Einverständnis mit dem Faschismus - »natürlich war man zufrieden« (79) - durch die konkrete Erfahrung wiederlegt wird: »Und am schlimmsten, wenn die Jungen so in dem Alter sind, daß sie in Krieg ziehn müssen. Dann kommt erst die Besinnung. Da könnt man sich vom Kopf knallen! Und ich hätte immer schrein mögen und nur sagen: Hermann, du hast Recht gehabt!« (82) Trotz großen Leids läßt Maria B. aber nicht davon ab, sich nach ihren individuellen Möglichkeiten für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Ob sie nun Lebensmittel verteilt (85f.), Arbeiter davon abbringt, für Geld in Vietnam zu kämpfen (90f.), oder freiwillig auf ihren Arbeitsplatz zugunsten

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Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft, S. 332. - Siehe hierzu auch Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970, S. 125-132, bes. S. 130f. Siehe hierzu Caroli, Pragmatische Aspekte syntaktischer Variation in der gesprochenen Sprache, S. 370-379 und S. 571-593.

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ärmerer Frauen verzichtet (91): ihr Handeln ist von einem moralischen Klassenbewußtsein geprägt, von einer uneingeschränkten Solidarität mit den Betroffenen, zu denen sie doch selbst gehört. Exemplarischer Ausdruck ihrer Maxime ist die Erklärung: »Das ist doch nicht für mich, das ist doch für uns alle!« (88) So erläutert Maria B. ihr Handeln, wenn sie, durch die Not der Situation veranlaßt, die Rolle der couragierten Wortführerin von Hausfrauen einnimmt, die 1948 in der Öffentlichkeit gegen die Verzögerung der Lohnzahlungen durch die Bergwerksgesellschaft protestieren und damit zugleich gegen die fehlende Radikalität der männlichen Gewerkschaftsmitglieder: »Wir haben nen Betriebsrat, und wenn der nicht fähig ist, diesen Posten auszufüllen, dann gibt es noch Frauen, die auch gerne arbeiten möchten, dann soll er den Platz freimachen und dann wird ne Frau den vertreten.« (87f.) Während die Lebensgeschichte Ema E.s eine gemeinsame Perspektive von alter Arbeiterbewegung und neuer Frauenbewegung nur ex negativo andeutet, liefert diese Episode ein positives Aufbruchsmodell dafür, wie Frauen ihre Rolle als Privatpersonen ablegen und sich im gemeinsamen Widerstand emanzipieren können. Zugleich aber zeigt dieses Ereignis die Grenzen einer Demonstrationsform auf, die nur dem spontanen Unbehagen Ausdruck verleiht. Ohne irgendeine Organisation besteht keine Chance, das Erleben kollektiver Stärke in eine längerfristige öffentliche Willensbekundung der Frauen umzusetzen: »Ja, sagt sie: >Und das nächste Mal, wenn sowas ist, aber dann gehen noch mehr mit!< Aber wo sind sie geblieben, nachher? Wies notwendig war, noch notwendiger war!« (88) Mit diesem Ausdruck von Enttäuschung ist jener >antiautoritäre< Protest als einmaliger der Vergangenheit zugewiesen, und die Möglichkeit zu einer Fortsetzung in der Gegenwart existiert nicht; für die Lösung der aktuellen Krise hält auch Maria B. keine Perspektive bereit: »Und heute? Jetzt sagen Sie mir mal η Ausweg. Es passiert nichts.« (82) Zwar bedeuten relativer Wohlstand und soziale Sicherung einen Fortschritt gegenüber den »schlechten Zeiten« der Vergangenheit (77). Doch trotz dieser Veränderungen weiß Maria B. um die Kontinuität der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und macht deren Wiedereinführung für die jetzige Situation verantwortlich. Weil nach dem System der Profitorientierung nichts umsonst ist, wird die Zeitgeschichte nach der zyklischen Logik des Tauschprozesses gedeutet und die gegenwärtige Lage als Preis für ehemals gratis eitialtene Waren begriffen: »Und später gabs die Care-Pakete - da ham damals auch die Kommunisten gesagt: >Das wem wir alles noch bezahln müssen.< Und ist ja auch Wahrheit gewordn. Sie sehn ja, wo wir heute sind.« (83) So liefert die Erzählung von Maria Β. ein erstes Exempel für denjenigen Lernprozeß, welcher nach der Sujetkonstruktion von Runges Sammlung in der zeitgenössischen Öffentlichkeit allgemein erforderlich wäre. Weil das Modell des Frauenprotests aber eine isolierte Aktion der Vergangenheit bleibt und auch Maria B.s heutiges solidarisches Verhalten den Rahmen individueller Hilfeleistung nicht übersteigt, bleibt in der Struktur des Textes die gleiche Gewichtung der beiden Zeitdimensionen aufrechterhalten, welche schon durch die Lebensgeschichte des ehemaligen Betriebsratsvorsitzenden eingeführt ist: Die Gegenwart fällt hinter die Möglichkeit der Vergangenheit zurück; eine Verschmelzung der Normenhorizonte von älterer und mittlerer Generation, von Klassenbewußtsein (Clemens K„ Maria B.) und Konsumorientierung (Ema E., Dieter V.) gelingt nicht. Diese statische Opposition verändert sich noch nicht grundsätzlich dadurch, daß mit Rolf S. und Verena D. die Bewußtseinslage der jüngeren Generation thematisiert wird. 141

Durch die Vertreter der »Jugend«, welche »später in der Zukunft leben müssen« (113), deutet sich allenfalls eine Perspektive für die Gegenwart an. Rolf S. ist arbeitslos, in beruflicher Hinsicht nicht integriert, und aus dieser Situation folgt auch eine Distanzierung vom kleinbürgerlich-mittelständischen Lebensstil, der seiner früheren Berufstätigkeit entspräche: »Da sehe ich keinen Sinn drin. Ich möcht ein unwahrscheinlich schwungvolles Leben führen!« (104) Doch mit diesem privaten Wunsch nach einer umfassenden Mobilität, der sich im Schluß der Erzählung artikuliert, ist kein politischer Reflexionsprozeß verbunden. So äußert Rolf S. nur sein Unbehagen an der aktuellen Wirtschaftskrise (93) und appelliert an die Phantasie der etablierten Politiker: »man sollte sich was einfalln lassen, daß wieder Arbeit da ist« (94). Eine Alternative aber fordert er nicht, weil er diese nur mit dem real existierenden Sozialismus gleichsetzt: »so ist eben das Leben: man muß für andere arbeiten, man ist eben in armen Verhältnissen undsoweiter. Aber den Kommunismus, den lehne ich ab. Immer schon. Ich seh das so: da arbeitet man ja wieder für andere Leute.« (102f.) Trotz des Bedürfnisses nach Veränderung repräsentiert Rolf S. den Typ des Jugendlichen, der dem bestehenden Wirtschaftssystem auch noch in der Krise zustimmt und somit für eine Politisierung im Sinn des Klassenkampfs nicht zur Verfügung steht. Ein Grund dafür ist auch, daß sich der Arbeitslose im Freizeitbereich als Beatsänger Geld, Erfolg, ein erhöhtes Prestige und die Möglichkeit zur Kreativität (93-95, 97) verschafft hat. Neben dem Engagement in der Pop-Musik bleibt noch genügend fürs Privatleben, vor allem für die Beziehung zu seiner Freundin. Das Mißtrauen, welches sich in dem Arbeitslosen an den sozialen Unterschieden zwischen beiden entzündet (97f.), überwindet er in dem Maß, wie er infolge einer geschickten Anpassungsstrategie von ihren Eltern zunehmend akzeptiert wird. Dieser Prozeß verläuft aber nicht grundlos ohne nennenswerte Schwierigkeiten. Denn die Lebensgeschichte von Rolf S. zeigt ja einen Jugendlichen, der zwar zur angeblich rebellischen Pop-Generation der 60er Jahre gehört, der von den traditionellen Wertorientierungen der Älteren allerdings gar keinen Abschied genommen hat.52 Die Bedürfnisse von Rolf S. stimmen vielmehr auffällig mit den Lebensplänen der etablierten Generation, mit den Vorstellungen von Dieter V. und Erna E., überein: Wo die zukünftige Frau wie die eigene Mutter vor allem für Hausarbeit und Familie da zu sein hat (101 f.), wo es die Kinder durch eine gute Ausbildung einmal besser haben sollen (lOOf.) und wo ein eigenes »Geschäft« für »Autozubehör-Teile« oder eine »schöne kleine gemütliche Wirtschaft« (103) die Unabhängigkeit verspricht, da ist nicht einmal mehr der individualistische Aufbruch zu einem >eigenen Leben< als Beatsänger von Bedeutung. Während Rolf S. für den Teil der zeitgenössischen Jugend steht, welcher trotz der abstrakten Hoffnung auf ein »unwahrscheinlich schwungvolles Leben« (104) von der politischen Orientierung und vom privaten Wunschdenken her in die bestehenden Verhältnisse integriert ist, stellt die Geschichte von Verena D. das kritische Korrektiv zu einer solchen Lebensform dar. Sie verkörpert das Potential der jüngeren Generation, einem alternativen gesellschaftlichen Bewußtsein durch konkrete Aufklärungsaktionen Ausdruck zu verleihen. Daß diese Funktion am Ende der acht Lebensgeschichten einer Frau zukommt, die sich dezidiert für Emanzipation und Gleichberechtigung ausspricht (112f.), 52

Zu dieser Ambivalenz siehe allgemein Hermand, Pop oder die These vom Ende der Kunst, S. 286f.

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unterstreicht noch einmal die Bedeutung der neuen Frauenbewegung für eine Radikalisierung des politischen Handelns.53 Die Lebenspläne von Verena D. erschöpfen sich nicht wie bei Erna E., Dieter V. und Rolf S. in einer privaten Perspektive: etwa in den Hoffnungen auf den »Traumberuf« einer Zeichenlehrerin (108), auf eigene Wohnung (110) oder Zweierbeziehung (112f.), sondern sind deutlich gegen den kleinbürgerlichmittelständischen Werthorizont abgesetzt, der durch gesellschaftliche Passivität und Geschlechterrollenideologie (110) selbst Generationen miteinander verbindet Eine solche politische Abstinenz ist in der älteren Generation allerdings auch durch die leidvollen zeitgeschichtlichen Erfahrungen begründet (110); in der zeitgenössischen Pop-Generation, die Rolf S. repräsentiert, hat sich diese gleichgültige Haltung jedoch verselbständigt. So kritisiert die Achtzehnjährige: »Ich kenne auch eine Menge arbeitsloser junger Leute in meinem Alter, die schon früh ihre Arbeit verloren ham, und wenn man sich mit denen unterhält, dann merkt man, daß sie gar nich richtig den Sinn erkennen. Na gut, sie gehn ebn stempeln, damit is es abgetan. Ja, aber richtig sich damit auseinanderzusetzen, woher die Krise undsoweiter, das tun sie nich.« (111) Während Rolf S. für eine Tolerierung der subkulturellen Modeerscheinungen plädiert (102), erkennt Verena D. in deren Uniformität die Kanalisierung des Protests (111 f.); statt wie Rolf S. angesichts der Wirtschaftskrise die Aktivität der etablierten Politiker zu fordern (93f.), hat sie längst angefangen, selbst politisch zu handeln: Sie engagiert sich am Ort in einem Jugendclub, der die Aufklärung und Selbstverständigung der Betroffenen durch Diskussionen über politische und altersspezifische Probleme zum Ziel hat (110-113). Schließlich stellt ihre Teilnahme an Kundgebungen und Demonstrationen den Versuch dar, öffentlich eine abweichende Meinung zu äußern und für sie zu werben. Als »erste Strömung der APO und als eine für Deutschland neue Form eines kollektiven politischen und sozialen Lernprozesses«54 gibt hier die >OstermarschWesterhold< auf 13,5 aufstocken, dann mein ich wieder: wir ham dann doch zu wenig.« (136) Diese scheinbare Inkonsequenz offenbart, daß die Unternehmerseite ihre wahren Absichten überhaupt nicht zur Diskussion stellt. Schon die Bekanntgabe des Stillegungsbeschlusses, der ohne jegliche Anhörung der Belegschaft zustandegekommen ist (127f., 129f., 135), zeigt das Vorhaben, die Betroffenen vor »vollendete Tatsachen« zu stellen (128/130), anstatt ihnen rechtzeitig »Aufklärung« über die eigentliche Strategie zu »geben« (128). Gleichwohl wird diese öffentlich enthüllt: Ziel der Zechenschließung und der Verlegung von Arbeitern ist es, die Kapazität des anderen Werks auszunutzen, Leute zum Ausscheiden aus dem Bergbau zu veranlassen und dadurch Belegschaft sowie Gesamtförderung zu reduzieren (133f.), nicht zuletzt aber mit der Stillegungsprämie des Staates finanzielle Entschädigung zu erhalten, das heißt »Profit« (129) und »gute Geschäfte« (139) zu machen. Die Dominanz des wirtschaftlichen Interesses impliziert indes eine soziale Gleichgültigkeit, die von den Betroffenen auch als solche erkannt ist - entgegen allem rhetorischen Aufwand der Kapitalseite: »Der hat hier geredet von Dankeschön und Bitteschön - ja, warum hat er denn nicht gesagt, wie brutal, gemein die Kameraden da rausgeschossen wurden, warum denn nicht? Dat wird alles hinterm Berg gehalten, dat bleibt schön in e Brieftasche, dat solln die in er Öffentlichkeit ja gar nicht erfahm!« (137f.) Hier wird die Zwangssituation manifest, in der sich die Arbeiter befinden; wer nicht Arbeitsplatz und Wohnung (134, 137f.) verlieren will, muß Verlegung, Verkürzung der Freizeit durch längeren Arbeitsweg (130) und Einkommensverlust (134) in Kauf nehmen. Und eine Veränderung dieser Lage ist angesichts der langfristigen »Stillegungswelle für die Zukunft« (130) nicht in Sicht. Weil aber die Vertreter der Gewerkschaft sich in der Vergangenheit zu wenig im Kampf gegen diesen Zustand eingesetzt haben (137,144), bleiben auch sie und ihr vordergründiger Optimismus (143,146) von der Kritik nicht ausgespart. Fehlendes Engagement für die Belegschaft und gegen die Zechenschließung ruft besonderen Unmut gegen den Arbeitsdirektor hervor: als »Stilleger« (140) wird er zum Erfüllungsgehilfen des Kapitals erklärt, seine Rolle »als Gewerkschaftler oder als was?« (143) bezweifelt, die Interessenvertretung gar geleugnet: »Du sprichst ja bald so wie der Erhard!« (141) Aus dem geschärften Bewußtsein der Arbeiter, in der Auseinandersetzung mit den Unternehmern strukturell benachteiligt zu sein, folgt schließlich die grundsätzliche Kritik 59

Siehe hierzu auch Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 295-301.

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am kapitalistischen Wirtschaftssystem, das trotz aller Modernisierung weiterhin soziale Ungleichheit impliziert: »Ihr habt gehört, was der Betriebsrat euch vorgelesen hat: im Mittelpunkt des Weltgeschehens steht der Mensch, an erster Stelle. Hier hörn wir immer nur vom Geld. Geld ist zu wenig da. Wir wissen, wo das Geld hingeht. Aber darüber wolln wir heute hier nicht sprechen. [Zwischenruf: Die Gehälter abbaun! Heiterkeit] Wir wissen doch gar nicht, wo über Gehälter bestimmt wird; die, die über unsre Löhne bestimm, bestimm auch zugleich über ihre Gehälter [Brausende Heiterkeit, lang anhaltender Beifall].« (136) Die systematische Benachteiligung wird - so die Erfahrung der Arbeiter - auch durch das am weitesten entwickelte Modell wirtschaftlicher Demokratisierung, durch die qualifizierte Mitbestimmung in der Montanindustrie, reproduziert: »Ich möchte doch mal darum bitten, die Kollegen aufzukläm, wie der Aufsichtsrat überhaupt zusammengesetzt ist: 10 Arbeitnehmer, 10 Arbeitgeber und ein Neutraler! Wer stimmt denn für uns? Der Neutrale? Für uns? Für uns bestimmt nicht! - Keiner!« (143) Diese Einschätzung hat ihren Grund auch in der historischen Tatsache, daß die fortgeschrittenste Institutionalisierung des sozialen Konflikts in der gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik ein »wiitschaftspolitisch nicht allzu relevantes Randphänomen« darstellt;60 sie bestätigt außerdem jedoch jene Position, die Clemens K. zuvor in seiner Lebensgeschichte vertreten hat. Die negative Erfahrung der aktuellen Krise produziert die Einsicht in einen grundlegenden Mangel, als dessen positive zukünftige Lösung die radikalen Partizipationsforderungen der alten Arbeiterbewegung erscheinen, für die der ehemalige Betriebsrats Vorsitzende steht: »Es müßte eine solche Mitbestimmung sein, daß die gesamte Belegschaft an dieser, an der Durchführung der Mitbestimmung Anteil haben könnte. Es müßte zum Beispiel, der Betriebsrat müßte ein Mitbestimmungsrecht ham bei der Planung. [... ] Er müßte ein Mitspracherecht ham bei den Ausgaben. Er müßte das Recht haben, die Bilanzen einsehen zu können, und wenn er nicht fachlich dazu in der Lage ist, müßte er das Recht haben, Fachleute heranzuziehen, die in seinem Auftrag die Dinge kontrollieren, damit der Unternehmer nicht machen kann, was er will« (36f.). Im Problembewußtsein der Arbeiter ist hier eine Kontinuität zwischen dem Klassenbewußtsein der Vergangenheit und dem Krisenbewußtsein der Gegenwart realisiert.61 Eine Vermittlung dieser beiden Horizonte in der Aktion findet aber dennoch nicht statt. Die Erinnerung der Betriebsversammlung an die Entlassung von Clemens K„ die ja durch den institutionalisierten Protest nicht rückgängig gemacht worden ist (129), führt ebensowenig zu einem kollektiven Aufbruch wie die Kritik Willi V.s am fehlenden Engagement der Arbeiter (144). Am Ende stimmt man einer Aktionsform zu, die als institutionalisierter Protest der resignativen Strategie des Betriebsratsvorsitzenden voll und ganz entspricht. Akzeptiert wird folgende Entschließung: »Der Antrag beinhaltet, daß wir vom Betriebsrat eine Delegation zum Landtag hinschicken solin und diese Delegation in der Landesregierung vorstellig und die Vorstellungen unserer Betriebsvertreter und die Meinung unserer Belegschaft darlegen soll. Um noch zu retten, was zu retten ist, wenn es überhaupt noch möglich ist, Kollegen.« (146) Eine solche Entscheidung stellt aber zugleich die Ablehnung eines radikalisierten Widerstandes dar: »Aber in einem Punkt, Kollegen, sollten wir uns im Klaren sein, mit 60 61

Claessens/Klönne/Tschoepe, Sozialkunde der Bundesrepublik, S. 249. Siehe hierzu auch Hübner, Trivialdokumentaüonen von der Scheinemanzipation? S. 130.

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Schreierei, mit Rabatz und mit allem Dit und Dat können wir die Dinge nicht verändern.« (147) Als »Rabatz« wird hier ein politisches Handeln ausgegrenzt, das in der Struktur der »Bottroper Protokolle« allerdings nicht eine diffus-destruktive, sondern die zielgerichtete nicht-institutionalisierte Artikulation von massiver Empörung meint: »Rabatz« (86) macht Maria B., wenn sie den Frauenprotest organisiert; »Rabatz« (160) macht auch Clemens K„ wenn er die Kameraden erfolgreich auffordert, sich nichts gefallen zu lassen.62 Diese unkonventionelle Form antiautoritärer Verweigerung steht als kollektives Aufbruchsmodell auch in der Betriebsversammlung zur Diskussion, als Alternative zum Vorschlag, eine Delegation in den Landtag zu entsenden: »Kollegen, es kommt manchmal der Gedanke auf, daß man sagt: es hat doch keinen Zweck, daß wir dagegen protestieren. Die Herren da oben in Bonn und Düsseldorf machen doch, was sie wolln. Ich kann euch versichern, wenn wir wirklich auf die Straße gehn [Zurufe: Ja!], wie die Studenten in Köln [Zurufe: Ja!], dann flattern ihnen die Unteiiiosen. [Brausender Beifall]« (136f.). Der Hinweis auf den Protest der Studenten als positives Beispiel der Willensäußerung bedeutet die Aufforderung zu einer Strategie, welche durch die »phantasiereiche Erfindung neuer Demonstrationstechniken«, durch die »begrenzte Regelverletzung« im Rahmen des gewaltlosen Widerstands, »massenhafte Aufklärungsprozesse [...] in Gang zu setzen« versucht.63 Ort solcher Aktionen ist aber nicht das Parlament, in das Interessenvertreter geschickt werden, sondern die Straße, auf der die Betroffenen ihre Interessen selbst artikulieren. Im Gegensatz von Straße und Parlament, von Demonstration und Delegation wird jetzt durch die Arbeiter selbst ein gemeinsamer Aktionszusammenhang mit der außerparlamentarischen Opposition konkret wahrgenommen, der in der Erzählung von Verena D. nur erst als vage Möglichkeit angedeutet ist. Doch dieses Bewußtsein erfährt keinen Ausdruck im Handeln, und die Erfolglosigkeit der beschlossenen Bemühungen ist abzusehen: Sie läßt sich während der Betriebsversammlung sowohl an der Bereitschaft von Arbeitern erkennen, auf die Strategie des Kapitals einzugehen und den Bergbau ganz zu verlassen (137f.), als auch an den Versuchen, Verbesserungen des Sozialplans zu erreichen (134, 138), besonders deutlich aber an der Reaktion der Betroffenen auf das Schlußwort des Betriebsratsvorsitzenden: »Matter Beifall« (148). Als zweiter Teil der »Bottroper Protokolle« ist die Dokumentation der Betriebsversammlung von einer Zwiespältigkeit geprägt: Im Vergleich mit dem politischen Denken von Erna E„ Dieter V. und Rolf S. manifestieren die Argumentationen der Arbeiter einerseits einen Lemprozeß als Folge der drohenden Zechenstillegung: auf der Ebene des Bewußtseins findet als sujetkonstituierendes Ereignis die Aktualisierung des alten Klassenbewußtseins im zeitgenössischen Krisenbewußtsein statt. Dieser Aufbruch über die klassifikatorische Grenze zwischen angepaßtem und radikalem Denken erhält andererseits keine Entsprechung in der Aktion: der projektierte Widerstand fällt hinter den zeitgeschichtlichen Maßstab, das Handeln von Clemens K., Maria B. und Verena D., zurück; als reales »Subjekt gesellschaftlicher Veränderung« werden die Bergarbeiter 62

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Der Duden, hg. von Drosdowski, Bd. 5, S. 2085, nennt als Bedeutung des Lexems »Rabatz« nicht nur »lärmendes Geschrei, Treiben, Lärm, Krach«, sondern auch den »heftigen, lautstarken Protest«. Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 191f.

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noch nicht vorgeführt.64 Die Betriebsversammlung stellt als Argumentationsraum zwar einen Erlebnisraum vor, in dem das geschärfte Bewußtsein der Arbeiter schon eine Ahnung von deren Macht vermittelt, und doch bleibt die gleiche Veranstaltung als Handlungsraum ein Herrschaftsraum, in dem die praktische Ohnmacht der Betroffenen anschaulich wird. Ein Scheitern des institutionalisierten Protests wird allerdings nicht nur textimmanent mit der resignativen Stimmung am Ende der Versammlung angedeutet; es ist 1968 dem zeitgenössischen Leser auch von seinem kontextuellen Wissen her präsent. Aufgrund der zeitlichen Differenz zwischen dem dokumentierten Ereignis und dem Erscheinungsjahr des Buches sind die dazwischen liegenden ökonomischen Entwicklungen auch für die Bedeutung der »Bottroper Protokolle« konstitutiv: Weil hier öffentlich bekannte Fakten der Zeitgeschichte die Grundlage des Erzählens bilden, erweist sich die Zechenstillegung von »Möller/Rheinbaben« im März 1967 vor dem Hintergrund der aktuellen Stillegungs welle als ein historisches Element der Werkstruktur, das die Erfolglosigkeit der im November 1966 beschlossenen Strategie nur bestätigt.65

5.5. Außerparlamentarische Volksfront als Perspektive - die utopistische Appellstruktur des Textes Die Unzulänglichkeit eines Handelns, das durch verbalen Radikalismus und durch aktiven Opportunismus gekennzeichnet ist, wird im letzten Teil des Textes explizit zum Gegenstand eines Gesprächs. Während die Lebensgeschichten vornehmlich die vergangene Sozialisation der Betroffenen in Erinnerung rufen und die Redebeiträge der Betriebsversammlung den gegenwärtigen Protest dokumentieren, leisten die »Epiloge« (149) dessen kritische Reflexion. In einem privaten Dialog, den zwei Bergarbeiterehepaare nach dem Ende der öffentlichen Veranstaltung miteinander fuhren, ist hier die weitere Perspektive ftir eine Zukunft thematisiert, die keine Verbesserung der Lebenschancen verspricht. Die Einsicht in die Vergeblichkeit der offiziellen Bemühungen »Kokolores«, »es wird stillgelegt und fertig« (149) - zieht allerdings keine grundsätzlich anderen Positionen nach sich, als sie die Arbeiter auf der Betriebsversammlung vertreten haben. Von den beiden Männern wird zwar die Notwendigkeit des Widerstands betont (157); Herbert sieht gar die konkrete Möglichkeit einer Rebellion gegeben: »dat gibt η Knall.« (158) Im Grunde haben sich Herbert und Ludwig aber schon längst mit der Zechenschließung abgefunden. Deutlich zeigt ihre konkrete Absicht, sich eine »andre Arbeit« (155/160) zu suchen, daß sie dem individuellen Ausweg mehr trauen als dem institutionalisierten Protest. Bestätigt wird eine solch nüchterne Einschätzung durch die Skepsis Heides, die Herberts oberflächlichem Optimismus konsequent widerspricht: »Meinst du, damit erreichst du was?« (157) - »Dat nützt doch nichts.« - »Dat glaub ich nicht« (158) - »Dat hoffst du«. (160) - »Aber meinste, damit habt ihr was erreicht?« (164). In den privaten Epilogen sprechen die Betroffenen jedoch nicht nur das Unzureichende der beschlossenen Protestmaßnahmen offen aus; dieses Gespräch demonstriert auch, 64 65

So aber Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 302. Siehe hierzu Der Spiegel, Kumpel Antons Ende, S. 84.

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daß der einzelne trotz der kritischen Reflexion gesellschaftlicher Fragen keine Möglichkeit besitzt, sein geschärftes Bewußtsein in einer alternativen Lebenspraxis aufrechtzuerhalten.66 Strukturen sozialer Ungleichheit zwischen Lohnarbeit und Kapital (152f.), zwischen Männer- und Frauenrolle (155) nehmen die Betroffenen ja durchaus wahr. Doch trotz dieser Widersprüche wenden sich die Arbeiter nicht gegen das herrschende Wirtschaftssystem, weil die gegenwärtige Situation im Vergleich mit der Vergangenheit noch immer als Fortschritt und damit als die Zeit nach einem Aufbruch empfunden wird: »So manches können wir uns doch leisten, was die Leute früher nicht konnten« (154), erklärt Helga, und Ludwig befindet über das Sich-Einrichten der Arbeiter im >Wirtschaftswunderlandtraditionalistische< Deutungsmuster vom revolutionären Potential der Arbeiter scheint 66 67

Siehe hierzu allgemein auch Negt/Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, S. 159f. Zu den historischen Voraussetzungen einer solchen Haltung siehe Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970, S. 73-100.

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sich nicht zu bestätigen: die Gemeinsamkeiten zwischen dem aktuellen Krisenbewußtsein und dem alten Klassenbewußtsein führen zu keiner radikalisierten Aktion. Weil die kritische Funktion der »Bottroper Protokolle« aber nicht schon mit den einzelnen Erkenntnissen der Betroffenen zusammenfällt, darf die Darstellung von deren konkreter Erfolglosigkeit nur als eine Bedeutungsschicht verstanden werden, die innerhalb der Werkstruktur noch einmal reflektiert ist: Indem die Epiloge das Scheitern des Protests betonen, wird die politische Appellstruktur des Textes erzeugt. So bestätigt etwa der kritisch-resignative Satz am Ende: »Aber meinste, damit habt ihr was erreicht?« (164) nicht nur die Realität der »Vereinzelung«, sondern fordert als »Frage nach einer größeren Dimension des Zuerreichenden« die Antwort des Lesers.68 Dieser soll sich wie in Brechts Drama »Der gute Mensch von Sezuan« selbst den >guten Schluß< suchen, indem er sich an dem Wissen der Arbeiter als einem Maßstab orientiert, welcher durch deren praktische Ohnmacht nicht negiert ist. Die Differenz zum »Epilog« in Brechts Parabelstück liegt allein darin, daß der Rezipient nicht mehr mit einem expliziten moralischen Appell aufgefordert wird.69 Die politische Didaktisierung aber ist in den »Bottroper Protokollen« von der Funktion her die gleiche, weil auch hier im Horizont der >offenen Form< die Abgeschlossenheit des Werks als gesellschaftliche Auflösung der Widersprüche erscheint. Die Perspektive eines erfolgreichen Kampfes um die Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vermitteln in den Epilogen dann die aus den Fehlem der Studentendemonstrationen gewonnene Einsicht: »wenn dat Volk nicht zusammenhält, ein einzelner kann sowieso nichts machen« (159); die Erinnerung an Clemens K. als Vorbild eines klassenbewußten Arbeiters in der Vergangenheit (159f.); die Erwähnung des »richtigen Kommunismus« als einer regulativen Idee für die Zukunft (162) und die Bewunderung seiner aktiven Anhänger in der Gegenwart - »die Kommunisten sitzen noch überall drin« (161). Das wichtigste Anzeichen für eine »Atmosphäre kollektiven Aufbnichs«, in der die Arbeiter anfangen »zu reden, Vorschläge zu machen, aktiv zu werden«,70 stellt aber ihr argumentativer Erfolg in der Betriebsversammlung dar, über den Herbert erklärt: »Verdammt, ich hab η schönen Tag gehabt! Wirklich. Nur einmal sehn, wie die Bonzen da rumtanzen. Der einfache Arbeiter, der einfachste Bergmann, der gar nichts aufti Kasten hat, der konnte denen doch die Worte widerlegen! Und dat ham se hinreichend jetan. [...] Von der Geschäftsführung der, der hat hinterher dagestanden, der wußt gar nich mehr, wat los war. Als wenn er sagen würde. >Los, wir haun ab!Dies ist ein politisches Lehrstück neuer Art.fragmentarischer< und >offener Form< siehe in diesem Zusammenhang Kraft, Um Schiller betrogen, S. 27-29. Negt/Kluge, Öffenüichkeit und Erfahmng, S. 77.

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Versammlung dokumentieren ja die Bereitschaft der Bergleute, sich das unzureichende Krisenmanagement nicht länger gefallen zu lassen (140). Auch wenn die revolutionäre Stimmung schließlich nicht in radikale Aktionen mündet, kommt sie doch den exemplarischen Aufbruchsmodellen sehr nahe, welche die Lebensgeschichten von Clemens K., Maria B. und Verena D. entwickeln. Die als Produkt der aktuellen wirtschaftlichen Depression dargestellte Unzufriedenheit der Bergleute im zweiten Teil und die zeitgeschichtliche Erfahrung des solidarischen Widerstands im ersten Teil erweisen sich als bereits existierende Ansätze einer Politisierung, die es in der Zukunft noch weiter zu intensivieren gilt. Mögliches Subjekt dieses Prozesses ist das »Volk« (159), und das heißt: Kommunisten, Arbeiter, politisierte (Haus-)Frauen, Studenten und Jugendliche der außerparlamentarischen Opposition. Als gegenwärtiges Kriterium für die Zugehörigkeit zur potentiellen Volksfront und damit als Garant gesellschaftsverändernder Aktionen erweist sich das kritische Bewußtsein der Betroffenen. Diese idealistische Perspektive entsteht in den »Bottroper Protokollen« allerdings nicht zufällig, sondern offenbart die Grenzen der hier angewandten literarischen Verfahren. Das Vorwort Walsers als Kommentar der Dokumente, die Monologisierung von Interviews zu Lebensgeschichten, deren Reihung und >Montage< mit den Protokollen der Betriebsversammlung und des Gesprächs in der Suprastruktur, all diese Organisationsprinzipien begründen ein polyperspektivisches Erzählen, durch welches zwar die Sicht des einzelnen überschritten wird. Doch die wechselseitige Relativierung der Standpunkte hebt die durch den Gebrauch von autobiographischen Dokumenten gegebene »Beschränkung auf die Perspektive der Betroffenen« 71 nicht grundsätzlich auf. Den ideologischen Fluchtpunkt der Sammlung erreicht der Leser, indem er vervollständigt, was in den Einsichten der Arbeiter bereits partiell angelegt ist: durch die Komplettierung von Fragmenten eines >richtigen< Bewußtseins wird die politische Appellstruktur des Textes realisiert. Wie wenig mit einer solchen strategischen Perspektive indes erreicht ist, führt keine umfassende Destruktion der unterschiedlichen Standpunkte vor. Vielmehr findet eine »Identifikation von Sein und Bewußtsein« 72 statt, wenn zeitgenössische Dokumente die Tatsache, daß 1968 auch Arbeiter »anders denken« (114), als Signal für den Aufbruch zu einer außerparlamentarischen Volksfront präsentieren, in der sich proletarischer Klassenkampf und antiautoritärer Protest wechselseitig durchdringen sollen. Indem die »Bottroper Protokolle« den Lernprozeß der Arbeiter als einen ersten Erfolg dokumentieren, bleiben sie freilich jenem Konzept der Protestbewegung verpflichtet, das einer Politisierung des Bewußtseins die entscheidende Funktion innerhalb sozialer Auseinandersetzungen zuschrieb. Während Marx in seiner »Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie« noch betonte: »es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen«, 73 formulierte Dutschke auf dem Höhepunkt der Revolte: »Die Wirklichkeit drängt nicht zum Gedanken [...], das Verhältnis von subjektiver und objektiver Dialektik hat sich verkehrt zugunsten der subjektiven Dialektik. Es hängt heute mehr denn je von der subjektiven Tätigkeit der Menschen, vom revolutionären Willen der Menschen ab als 71

Pallowski, Die dokumentarische Mode, S. 302. 2 Pallowski, Die dokumentarische Mode, S. 239. 73 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, S. 386.

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von der objektiven Dialektik.«74 Die Überbewertung einer radikalen Mindeiheit und ihres kritischen Bewußtseins bedeutete indes eine voluntaristische Negation der sozialen Handlungsbedingungen, und ein solches Defizit kennzeichnete nicht nur die Theorie und Praxis des klassischen Anarchismus, sondern auch die seiner antiautoritären Nachfolger.75 Runges Text übernimmt diese idealistische Gewichtung des revolutionären Denkens und Wollens insofern, als dort im Zentrum des dokumentarischen Erzählens das Interesse an der Bewußtseinslage von Arbeitern steht. Deren Lernprozesse können zwar als Irritation desjenigen zeitgenössischen Normenhorizonts gelten, den Walser in seinem Vorwort nennt: Zu der in den 50er und 60er Jahren weitverbreiteten Auffassung, daß die Klassengesellschaft durch eine »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« überwunden sei, welche durch die Gleichheit im Konsum einen einheitlichen Lebensstil gewährleiste,76 steht die Empörung von Arbeitern über Strukturen sozialer Ungleichheit sicher in kritischer Opposition. Doch zugleich verweist das historisch-materialistische Deutungsmuster von der Klassengesellschaft 1968 auf den aktuellen politischen Diskurs der Protestbewegung, und im Streit zwischen >Antiautoritären< und >Traditionalisten< folgen die »Bottroper Protokolle« eindeutig der letzteren Position, die sich nach dem Scheitern der Revolte und nach den als Fanal mißverstandenen >Septemberstreiks< auch durchsetzte: Der Text attestiert den im Handeln noch integrierten Bergleuten ein vorrevolutionäres Bewußtsein, durch welches sie schon Teil jenes Aufbruchs zu einer Volksfront seien, die Arbeiter, Kommunisten, Frauen, Jugendliche und Studenten miteinander vereine. Ein solcher Erkenntnisprozeß der Arbeiter gilt bei aller vorläufigen Begrenztheit als ein entscheidendes Ereignis, das »eine Perspektive, aber noch keine Front«77 sichtbar werden läßt und das als der dokumentierte Beginn eines Aufbruchs auf eine weitere Radikalisierung der Massen in der Zukunft verweist. Mit dieser Bedeutung ordnet sich Runges Dokumentation freilich ganz in die zeitgenössische Strategiedebatte ein, ohne die genuinen Möglichkeiten der literarischen Fiktion zu nutzen und politische Praxis zu reflektieren78 Was als spezifische Leistung des poetischen Modells erscheint: der Aufweis des revolutionären Potentials im Bewußtsein gegenwärtig noch angepaßter Arbeiter, besitzt doch nur Illustrationscharakter im Rahmen der aktuellen politischen Diskussion, überschreitet diese jedoch nicht. Einer Irritation wird der ideologische Fluchtpunkt der »Bottroper Protokolle«, das Ziel einer Volksfront, ebensowenig ausgesetzt, wie die Frage nach den gegenwärtigen Hindernissen als den Folgen der Vergangenheit nicht gestellt ist, die einem >weiteren< Aufbruch im Wege stünden. Wie in Negts und Kluges Untersuchung wird auch hier die »Tatsache, daß eine 74 75

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Dutschke, in: Bloch, Aus einem Forum-Gespräch, S. 400. Siehe hierzu etwa Baron, Der »anarchische« Utopismus der westdeutschen Studentenbewegung. - Zur Unterscheidung von >Utopistischem< und >Utopischem< siehe allgemein Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, S. 95-98. Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft, S. 332. Hübner, Trivialdokumentationen von der Scheinemanzipation? S. 144. - Gegen Miller (Prolegomena zu einer Poeük der Dokumentarliteratur, S. 326) gilt es festzuhalten, daß die Gründung einer neuen Partei in den »Bottroper Protokollen« an keiner Stelle thematisiert wird. Siehe hierzu noch immer grundlegend Adorno, Ästhetische Theorie, S. 357-361.

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proletarische Öffentlichkeit als in einer dauerhaften kollektiven Erfahrung begründetes und verankertes Medium« 1968/69 überhaupt »nicht vorhanden« war, zugunsten der utopistischen Hoffnung negiert, es dominierten gegenwärtig »Elemente im Arbeiterbewußtsein, die von sich aus auf eine solche proletarische Öffentlichkeit gerichtet« seien. 79 So bleibt der Text nur dem voluntaristischen Konzept der Protestbewegung, der >Antiautoritären< wie der >TraditionalistenOrganisationsphase< nach dem Zerfall der außerparlamentarischen Opposition in die vielen K-Gruppen prägte, das utopistische Modell vom revolutionären Proletariat, eine »Geisterbeschwörung« darstellte, »in der sich mehr eine historische Sehnsucht als ein historisches Bewußtsein ausdrückte«. Denn »trotz der >Septemberstreiks< von 1969 wurde die Arbeiterschaft von der Protestbewegung kaum erfaßt«,2 und der kollektive Aufbruch zu einer Volksfront fand nicht statt. Während die »Bottroper Protokolle« 1968 diese Illusion mit einer Sammlung von autobiographischen Erzählungen und politischen Diskussionsbeiträgen noch fördern, wird im »Kurzen Sommer der Anarchie« nach dem Scheitern der Revolte wieder die Lebensgeschichte eines einzelnen erzählt, und sie ist vom Bemühen um eine Distanz geprägt, aus welcher die aktuellen Selbsttäuschungen der Subjekte erkennbar werden: Abstand schafft nicht nur die biographische Konstruktion mit der Differenz zwischen dem Erzähler und seinem Helden, sondern auch der zeitliche Unterschied, welcher zwischen dem Stoff, dem Lebenslauf des spanischen Anarchistenführers Durruti (1896— 1936), und der Rezeptionsgegenwart (1972) besteht. Schon aufgrund solcher Merkmale ist Enzensbergers Roman zu jener dritten Phase dokumentarischen Erzählens zu rechnen, in der »die reflektierte Diskussion paradigmatischer zeitgeschichtlicher Situationen mit deutlichen Elementen der Selbstkritik« vorherrschend wird,3 und auch der metaphorische Titel, »Der kurze Sommer der Anarchie«, signalisiert diese Funktion: Er bezeichnet in historischer Referenz das Geschehen vom Sommer 1936 in Barcelona und Katalonien,

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Alle Angaben erfolgen nach: Hans Magnus Enzensberger, Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod. Roman, Frankfurt am Main 1972. Die Zitate aus dieser Ausgabe werden unmittelbar durch die in Klammern gesetzte Seitenzahl nachgewiesen und stimmen mit der 1977 erschienenen Taschenbuchausgabe (suhrkamp taschenbuch 395) überein. Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970, S. 11. So allgemein Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 140.

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als das spanische Volk unter anarchistischer Führung den Putsch der faschistischen Generäle niederhielt und für kurze Zeit seine Macht zeigte;4 zugleich spielt er aber auch auf den Höhepunkt der antiautoritären Revolte an, vor allem auf die Ereignisse des Pariser Mais 1968 und den »größten Generalstreik seit Menschengedenken«, der nicht durch organisierte Parteien oder Gewerkschaften, sondern durch eine Gruppe von Neoanarchisten ausgelöst wurde.5 Die These von der reflexiven Bedeutungsstruktur des Textes ist in der bisherigen Rezeption allerdings weitgehend bestritten worden. Als »klassenkämpferische, agitatorische Dokumentarliteratur«6 etikettiert man einen Roman, der sich einem »irrationalmanipulatorischen Appell« zur Verfügung stelle, einen »Mythos« schaffe7 und eine »>Ästhetisierung< von einst konkreten politischen Sachverhalten« leiste.8 Solche Kritik stützt sich auf die Behauptung, daß Enzensberger in Durruti einen »proletarischen Helden« (260) vorstelle und ihn zum Idol für dessen studentische Nachfahren stilisiere, daß dieser Text also auch noch nach dem Scheitern des außerparlamentarischen Protests den gleichen Illusionen verhaftet bleibe, die Runges Dokumentation 1968 genährt hat. Doch die Wahl des Gegenstands allein zieht noch keineswegs eine neue »Heldenlegende« (260) nach sich, und der Erzähler spricht sich sogar explizit gegen »jede Einfühlung« (259) und damit gegen eine »Reduktion der Geschichte auf das rein Psychologische« aus,9 gegen ein Verfahren also, nach dem sich in der Tradition von Emil Ludwig und Stefan Zweig aktuelle Identifikationsangebote für den antiautoritären Leser entwerfen ließen. Mythologisierung oder Entmythologisierung? Heroisierung oder Desillusionierung?10 Eine Antwort auf diese Frage nach der Funktion des Romans hat zunächst auszugehen von der aktuellen Bedeutung, die seinem Helden in der Protestbewegung am Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre zukommt. Der spanische Anarchistenführer zählt 1968 zu einer Tradition des »Linksradikalismus«, die »von Marx bis Rosa Luxemburg, von Bakunin bis Machno und Durruti, von der I. Internationale zur Situationistischen Internationale« reicht. Wie »>comics< mit dem Titel >Die Rückkehr der Durruti-BrigadeNeue Subjektivitätc Zur Prosa der siebziger Jahre, S. 166; Domhof, Baukasten für kritische Eingriffe, S. 153. 8 Bohrer, Der Lauf des Freitag, S. 62. - Ähnlich siehe auch Dornhof, Baukasten für kriüsche Eingriffe, S. 141. 9 Scheuer, Biographie (I), S. 196. 10 Zur Tradition der Biographie zwischen Heroisierung und Desillusionierung siehe allgemein Ribbat, Leben und Werk, S. 69-71; Scheuer, Biographie (I), S. 189-194. 11 Cohn-Bendit, Linksradikalismus, Klappentext und S. 23.

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dikalismus, der in Spanien seine »reifste Gestalt« entwickelt hatte.'2 Und weil es die außerparlamentarische Opposition wirklich für möglich hielt, »eine stellvertretende Avantgarde-Funktion im offen ausgebrochenen Klassenkampf zu übernehmen«,13 kam auch den »Formen einer Selbstorganisation«, wie sie Durrutis Genossen im spanischen Bürgerkrieg entwickelt hatten, eine praktische Orientierungsfunktion zu: als »vorläufigen Höhepunkten des revolutionären Kampfes der Arbeiterbewegung«.14 Im Spanien von 1936 galt ja in Ansätzen bereits als gelungen, was die außerparlamentarische Opposition 1968 erst anstrebte; eine »antiautoritäre« (28) und »proletarische Massenbewegung« (282), die entscheidenden Anteil am Zustandekommen einer »Volksfront« (81) hatte, war dort als zeitgeschichtliches Faktum schon einmal realisiert gewesen. Indem Enzensbergers Roman die Lebensgeschichte dieses anarchistischen Helden erzählt, scheint der Text ganz den politischen und den ästhetischen Konzepten der Protestbewegung verpflichtet zu sein. Denn auch das dokumentarische Verfahren deckt sich mit den grundsätzlichen Zweifeln, die der Autor in dem bekannten Essay »Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend« 1968 exemplarisch auf den antiautoritären Begriff gebracht hat: »Für literarische Kunstwerke läßt sich eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben«, erklärte er damals und ließ für die »politische Alphabetisierung Deutschlands« nur noch »Reportage« und »Bericht« als die wenigen »traditionellen Mittel« zur Bewältigung dieses »Projekts« gelten.15 Analog dazu ist im vorliegenden Text die »Absage« des Erzählers »an die Fiktion« (12) mit einem tiefen Mißtrauen gegen die ureigensten Fähigkeiten des Schriftstellers begründet: gegen eine Literarisierung des Materials, welche die historischen Erfahrungen der Betroffenen durch bewußte sprachliche Stilisierung so verändert, daß der Bezug zur sozialen Wirklichkeit verloren geht. Weil der Erzähler hier aber historisch glaubwürdig sein will, vertraut er das Erzählen der Lebensgeschichte den vielen Erzählern, dem »kollektiven Mund« (12) an. Zugleich stellt sich dieses Vorgehen als derjenige »Angriff gegen die akademische Geschichtsschreibung« dar, den der Autor als »Frage nach dem Subjekt«16 gefordert hat: während die personalisierende Ereignisgeschichte »sich interesselos dünkt« (13) in der historischen Fiktion, das Vergangene so zu erzählen, >wie es eigentlich gewesen istvon oben< als Persönlichkeitsgeschichte erzählt oder als Sozialstruktur im Prozeß beschrieben, sondern analog zur Oral History >von unten< als erlebte Geschichte wiedergegeben. Durch die umfassende Verwendung von authentischem Material ist die Lebensgeschichte Durrutis wie Runges »Bottroper Protokolle« auf den ersten Blick von einer poetischen Tradition abgesetzt, die fiktive Lebensläufe nach ästhetischen Konstruktionsprinzipien modelliert. Diesem Eindruck entspricht aber allenfalls der eine Untertitel, »Buenaventura Durrutis Leben und Tod«, wenn er die zeitgeschichtliche Persönlichkeit benennt, deren Biographie hier dokumentiert wird. Der zweite Untertitel, »Roman«,

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Gerlach, Syndikalismus, S. 69. Kreipe, Spontaneität und Organisation, S. 65. Cohn-Bendit, Linksradikalismus, S. 16. Enzensberger, Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, S. 195-197. Enzensberger, Diskussion III: Fiction - Non-Fiction, S. 226.

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verweist demgegenüber auf die literarische Evolution dieses Genres zurück, auf die »fingierte Biographie«, zu der so unterschiedliche Werke wie Thomas Manns »Doktor Faustus« und Brechts »Cäsar«-Roman zählen.17 Ist Enzensbergers Text mit jener Gattungsbezeichnung aber schon ein »Roman«? Die Mehrzahl der Literaturkritiker hat diese Frage verneint und die Lebensgeschichte Durrutis auf eine historische »Dokumentation« reduziert,18 für deren Analyse sich schließlich nur noch eine Konsequenz anbiete: »Germanisten und Literaten müssen der Versuchung, rasch angelesene Kenntnisse zu heucheln, hier widerstehen«, erklärt Kaiser und bittet deshalb »Historiker an die Front«.19 Wolfgang Abendroth, der sich »nicht« als »Literaturkritiker«, sondern als »historisch denkender Sozial Wissenschaftler« verstand, hat dagegen von einer »neuen Form des Romans« gesprochen, die durch die »Agglomeration« von Dokumenten »zu Reihen und Linien« entstehe. Der Germanist Kurt Batt hat in Abgrenzung zu Runges »Bottroper Protokollen« dieses Werk »eine Art reflektierender Recherchenliteratur« genannt, das »die blanke Mitteilung als das Stoffliche in Frage« stelle »und die Aufmerksamkeit auf das Arrangement, die Methode des Stierens« lenke, da »die Zeugnisse« durch eine »collagierende Darstellungsart sozusagen literarisiert, ja fiktionalisiert« seien. Schließlich hat der Schriftsteller Yaak Karsunke in einer »ironisch-dialektischen Methode, mit der der Leser dieses Buches zum Selbstdenken angeregt« werde, den »Versuch« gesehen, »über den puren Dokumentarismus hinauszugelangen, ohne in die Fiktion bürgerlicher Belletristik zurückzufallen. Unternommen wird er mit modernsten Mitteln, mit filmischen Schnittechniken nämlich, wie sie vorher wohl nur Alexander Kluge in der bundesdeutschen Literatur verwandt hat, allerdings weniger radikal, doch noch mehr literarischen Traditionen verhaftet.«20 Mit solchen Hinweisen auf eine komplexe Erzählstruktur ist die zeitkritische Bedeutung des Romans allerdings nicht erfaßt. Aber auch diese bestreitet ein großer Teil der Rezipienten mit der Behauptung, Enzensberger vermeide »Analogien zu heute« und gestatte »sie auch dem Leser nicht«,21 er dementiere »im Text ausdrücklich einen politischen Kontext zwischen neoanarchistischen Studentengruppen und dem authentischen Anarchismus«, rekonstruiere also »das Phänomen Durruti als Unübertragbares«.22 In derartigen Interpretationen werden die Erläuterungen des Erzählers über die spezifische Differenz zwischen den damaligen Anarchisten im Roman und den zeitgenössischen Nachfolgern in der Wirklichkeit (282-284) als Argument gegen den Modellcharakter der Biographie verwendet Negiert ist damit allerdings die Einsicht, daß der Unterschied zwischen Kunst und Leben seine »differenzierende Bedeutung« in einem poetischen Text deshalb erhält, weil jener »dialektisch mit der Ähnlichkeit verbunden und ohne sie nicht 17 18

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Kreuzer, Biographie, Reportage, Sachbuch, S. 453. Haubrich, Die Legende Durruü als Legende einer Epoche. - Ähnlich siehe auch Harich, Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß, S. 199; Baumgart, Ein Heldendenkmal - wozu? Heißenbüttel, Leben und Tod eines Anarchisten; Schäfer, Des Anarchisten Auferstehung. Kaiser, Mehr und weniger als ein Roman. Abendroth, Durrutis Leben und Tod; Batt, Revolte intern, S. 168f.; Karsunke, Ein Film aus Worten. Batt, Revolte intern, S. 31. Bohrer, Der Lauf des Freitag, S. 54 und S. 56. - Ähnlich siehe auch Dietschreit, Hans Magnus Enzensberger, S. 95.

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möglich« ist.23 Wer ausschließlich den Unterschied, die historische Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart betont, der kann mit diesem Buch »ohne einen unmittelbar einsehbaren oder verwendbaren politischen Sinn« in der Tat »nichts« anfangen.24 Inwieweit aber im »Kurzen Sommer der Anarchie« nicht nur die Vergangenheit von 1936 dokumentiert wird, sondern auch zeitgenössische Erfahrungszusammenhänge und Normenhorizonte von 1968 reflektiert sind, ist bisher noch nicht untersucht worden.

6.2. »Geschichte als kollektive Fiktion« oder: die >Verleugnung des Erzählers< als literarisches Verfahren Die bisherige Rezeption hat an Enzensbergers Text meist nur den Bruch mit traditionellen Erzählmustern wahlgenommen und deshalb den Roman auf eine Dokumentation reduziert. Soll dagegen die Lebensgeschichte Durrutis innerhalb der literarischen Evolution dieses Genres begriffen werden, ist es sinnvoll, sich noch einmal die Einsicht zu vergegenwärtigen, daß die Innovation ästhetischer Verfahren immer zugleich eine »Vereinfachung des Ausgangstypus« und eine »Erhöhung der Komplexität der Struktur« bedeutet,25 Destruktion und Konstruktion in einem leistet. Als Vereinfachung oder gar als Negation poetischen Erzählens erscheint dann im »Kurzen Sommer der Anarchie« vor allem der Verzicht auf ein fundamentales Prinzip der literarischen Prosa: der Erzähler besitzt hier nicht mehr die Kompetenz, die Biographie Durrutis in eigenen Worten als Geschichte wiederzugeben. Kommentare, Kapitel- und Teilüberschriften sind wie bei Erika Runge bloße Relikte der traditionellen Erzählerrolle; die Präsentation der Handlung bleibt auch hier den Augenzeugen vorbehalten, und eine allgemein verbindliche Wertordnung der Perspektivfigur scheint als Maßstab des besonderen Geschehens gänzlich zu entfallen: »Der Rekonstmkteur verdankt seine Autorität der Unwissenheit. Er hat Dunuti nie gekannt, er war nicht dabei, er weiß es nicht besser.« (15) Weil er keine historische Anschauung besitzt und keinen aktuellen Rat weiß, setzt der Erzählerdie Lebensgeschichte eines Individuums hieraus sehr unterschiedlichen mündlichen und schriftlichen Quellen zusammen (14). Scheinbarnur eine »Dokumentation von Durrutis Bild im Bewußtsein der Mit- und Nachwelt«26 liegt vor, wo der Erzähler konsequent seine Aufgabe auf die eines »Nacherzählers« (12/15) einschränkt: »Damit er Durrutis Geschichte erzählen kann, muß er sich als Erzähler«, das heißt hier als literarisch versierter Schriftsteller, »verleugnen« (12). Durch das dokumentarische Verfahren, mit dem der Erzähler seine Unwissenheit eingesteht und zugunsten der Augenzeugen >abdankt Verleug-

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Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 24f. Bohrer, Der Lauf des Freitag, S. 54 und S. 56. - Auch Eggers (Veränderungen des Literaturbegriffs im Werk von Hans Magnus Enzensberger, S. 211) erkennt im Anschluß an Bohrer »keinen aktuellen Bezug« der Geschichte Durrutis. - Siehe dagegen Berghahn, Dokumentarische Literatur, S. 232. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 158f. Batt, Revolte intern, S. 167. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 437.

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nung des Eizählers< in der Dokumentation stellt noch immer ein literarisches Verfahren dar; mit den Erinnerungen von realen Personen werden auch hier literarische Figuren aufgebaut; die historische »Rekonstruktion« (15) bleibt eine literarische Konstruktion. Schon die Mikrostruktur der einzelnen Zitate zeigt, daß diese - wie schon in den »Bottroper Protokollen« - nur bedingt den Status geschichtlicher Quellen besitzen, obwohl sie als Dokumente aufgeführt weiden. Nicht nur die umfangreiche Übersetzungstätigkeit des Autors, die den größten Teil der nachgewiesenen Quellen umfaßt (295-300), sondern vor allem die gezielte sprachliche Bearbeitung des Materials eröffnet, etwa durch die Hervorhebung und Wiederholung von Lexemen, Möglichkeiten zur poetischen Modellierung: »Die Behandlung der Vorlagen reicht vom wörtlichen Zitat über die Paraphrase bis zur freien Nacherzählung« (295), erklärt der Autor im Anhang, ohne daß dadurch im einzelnen erkennbar wäre, wo er das »wörtliche«, >paraphrasierende< oder »freie« Verfahren einsetzt; die zuletzt genannte Form kann potentiell in jedem Abschnitt vorliegen. Voraussetzung für eine solche Prozedur ist die Auswahl eines Berichts aus dem ursprünglichen Textzusammenhang; durch die Selektion wird jener unter dem Gesichtspunkt seiner Bedeutung auf einen Ausschnitt begrenzt und nach der sprachlichen Behandlung durch die Kombination mit anderen Teilen in ein übergeordnetes System von Beziehungen eingefügt. Dieses Bruchstück wird jedoch nicht nur zitiert, sondern auch ohne vermittelnde Erzählerrede in den neuen Textzusammenhang integriert, und das heißt: montiert. Während in Runges Dokumentation das Verfahren der Montage nur als Reihung von in sich geschlossenen Texteinheiten eingesetzt ist, stellt Enzensbergers Roman in seiner narrativen Makrostruktur eine »Collage« (14) dar. Nicht ausschließlich durch die syntagmatische Abfolge der einzelnen Kapitel - wie noch in den »Bottroper Protokollen« entsteht hier eine literarische Suprastruktur, weil die Zitate nicht mehr zu selbständigen Erzählungen synthetisiert, sondern wie in Kluges »Lebensläufen« auf der Mikroebene als Fragmente belassen und mit anderen Dokumenten in einen neuen Zusammenhang gestellt sind, erzeugt diese Kombination eine poly perspektivische Erzählstruktur, die sich in der Komplexität von Runges Dokumentation beträchtlich unterscheidet. Denn eine derartige Radikalisierung der Zitatmontage führt in ihrer »verwirrenden Vielfalt« (14) zu einem ständigen Blickpunktwechsel; die »Nebeneinandeistellung« von differierenden Erfahrungspartikeln leistet die »Umschaltung in eine andere Struktur«, und der Leser steht, wo er die Dokumente nicht mehr auf einer semantischen Ebene miteinander vereinbaren kann, vor der Aufgabe, »eine zusätzliche Struktur zu konstruieren, in der diese Unmöglichkeit aufgehoben wird«.28 Außerhalb der Glossen gibt der Erzähler nur wenige Fingerzeige, welche Bedeutung dem Text durch einen solchen »Entsatz des epischen Moments durch das konstruktive«29 zukommt. Kapitel und Teilabschnitte gliedern zwar das Geschehen, doch deren Über-

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So allgemein Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 421f. So Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, S. 468, über das Verfahren einer historisch-materialistischen Geschichtsschreibung. - Auf den Zusammenhang zwischen den Reflexionen Benjamins und den Konstruktionsprinzipien dieses Romans weist auch Dornhof, Baukasten für kritische Eingriffe, bes. S. 146f., hin; sie kritisiert allerdings einen »epischen Zug« des Textes und vermißt eine >Konstruktion< nach »der Marxschen Geschichtsauffassung« (S. 147f.).

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Schriften referieren wie bei Kluge meist lapidar einzelne Details der Handlung oder der Figurenkonstellation; ebenso selten verdeutlicht eine Durchbrechung der Chronologie den Sinnzusammenhang der montierten Fragmente (siehe hier etwa 7-11,174-195,261280). Wie das Quellenverzeichnis am Ende des Textes offenlegt, muß die Bedeutung des Romans auf den Begriff gebracht werden, indem der Leser Dokumente gegeneinander abwägt, die je nach dem Zeitpunkt der Abfassung, nach Textsorte und Struktur sowie nach den politischen Normen der Augenzeugen erheblich variieren. Zwar werden die historischen Differenzen im Text nicht explizit angezeigt: dort sind alle Berichte ohne jede Zeitangabe gleichermaßen in die Gegenwart zitiert; dennoch kann und muß das Jahr der Entstehung aus dem Anhang zur Kenntnis genommen werden, wenn sich die Disparatheit der einzelnen Texte zu einer Bedeutungsstruktur fügen soll. So stellt sich etwa die distanzierte Rückschau auf die Anfänge Durrutis in einer Propagandabroschüre von 1938 (24,38f.) anders dar als 1971 in den Interviewaussagen eines ehemaligen Mitkämpfers (19f.); die von Betroffenheit geprägten »Notizen eines Kriegsfreiwilligen« (155) aus dem Tagebuch von 1936 haben einen anderen Status als eine spannende >Reportage< vom Sieg der Anarchisten (108-125), die 1967 als »Tatsachenbericht auf Grund von Zeitungsmeldungen und Interviews mit Augenzeugen« (299) fingiert wurde. Zudem prägen die jeweiligen politischen Positionen die einzelnen Zitate. Ein und dasselbe Ereignis kann von einem faschistischen, republikanischen, sozialdemokratischen, kommunistischen, linkskommunistischen und anarchistischen Standpunkt sehr unterschiedlich erzählt und gewertet werden. Selbst der anarchistische Normenhorizont aber ist nicht einheitlich, je nachdem, ob etwa ein Berichterstatter die Zusammenarbeit mit der Regierung begrüßt, strikt ablehnt oder zwischen beiden Auffassungen vermittelt. Weil solche disparaten Berichte aus dem ursprünglichen Kontext gelöst und in der Montage als Dokumente vergegenwärtigt werden, ohne daß sich die Erkenntnisse der Betroffenen wie bei Runge zu einer klaren politischen Perspektive zusammenfügen lassen, kommt der Aktivität des Lesers bei der Rezeption dieser Lebensgeschichte eine weitaus größere Bedeutung zu. Wenn er den hier erzählten Roman verstehen will, muß er die Textcollage zum Werk komplettieren, so daß die verschiedenen Wertsysteme nicht mehr nur als historische und soziale Gegensätze wahrgenommen werden, sondern ihren Sinn erhalten. Anders als in den »Bottroper Protokollen« ist in Enzensbergers Roman nicht nur die Montage von Dokumenten als literarisches Verfahren ausgeweitet; auch der Kommentierung wird ein erhöhter Stellenwert eingeräumt: Weil ohne begründetes Interesse die Erkenntnis eines Objekts nicht möglich ist, sind in den Text konzentrisch angeordnete Glossen eingefügt, welche neben der Rekonstruktion des historischen Kontextes poetologische Erläuterungen zur Aneignung der divergierenden Berichte bieten. Diese Reflexionen sind allerdings auch einem ästhetischen Konzept verpflichtet, das Enzensberger 1970 in dem Essay »Baukasten zu einer Theorie der Medien« entwickelt hat und das den Versuch darstellt, Überlegungen von Brecht und Benjamin zur Politisierung der Kunst und zur Aufhebung der Trennung von Produktion und Rezeption »unhistorisch auf die Gegenwart zu übertragen«.30 In Anlehnung an Benjamins Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« wird dort eine Umfunktionierung der 30

Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 126 und S. 132, Anm. 14. - Ähnlich siehe auch Dietschieit, Hans Magnus Enzensberger, S. 73.

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>alten< Medien gemäß dem »Stand der avanciertesten Produktivkräfte« im Film und in den neuen elektronischen Medien gefordert. Einer solchen »dialektischen Aufhebung« als »einziger Chance der ästhetischen Tradition« komme im Bereich der Literatur vor allem die »sogenannte Dokumentarliteratur« nahe. Hier sei die »Opposition Fiktion/Nicht-Fiktion [...] ebenso stillgelegt wie die im 19. Jahrhundert beliebte Dialektik von >Kunst< und >Lebenkünstlerischen< Medien« den »heutigen Produktionsbedingungen« stelle, bedeute dies nicht nur, daß er die parteiliche und »bewußte Manipulation« des Materials durch »Schneiden, Montieren, Mischen« einzugestehen, sondern sich als »Alphabetiseur« und »Agent der Massen« auch »überflüssig zu machen« habe: durch die Herstellung von Produkten, die mit einer »offenen Form« die eigenen Wirkungen bereits in sich reflektierten und deshalb vom Konsumenten selbst wieder nur »als Mittel zu ihrer eigenen Produktion aufzufassen« seien.32 Solche utopistischen Postulate, in denen sich die Illusionen der Protestbewegung über eine baldige politische Aufhebung des Gegensatzes von Literatur und Leben, von Autor und Publikum manifestieren, finden auch in den poetologischen Glossen des Romans ihren Niederschlag. Wenn dort die »Geschichte« im Sinne der »Historie« zum »kollektiven Roman« (13) deklariert wird, wenn auch die Biographie Durrutis einen »Roman« darstellt, der von vielen bereits »öfter als einmal geschrieben worden« (16) ist, und wenn es schließlich »der Leser« sein soll, der in der Rezeption nicht nur »verwirft oder zustimmt, vergißt oder behält«, sondern der »diese Geschichte« auch »erzählt«: als Akt einer Produktion, zu der sich »kein« professioneller »Schriftsteller« je »entschlossen« habe (16), dann gilt die kategoriale Differenz von Kunst und Wirklichkeit, von Erzähler und Leser als schon immer überwunden und auch immer wieder überwindbar. Von einem »ästhetisierenden Subjektivismus«33 kann in diesem Zusammenhang gleichwohl nicht ohne Widerspruch die Rede sein. Schon im »Medien«-Essay hat sich Enzensberger gegen eine Literatur gewandt, die »dem Benutzer die Möglichkeit« einräumt, »durch beliebige Permutationen das gelieferte Material selbst zu ordnen. [...] Auf die Spitze getrieben geben solche Versuche, Wechselwirkungen auch gegen die Struktur des benutzten Mediums hervorzurufen, nicht mehr her als Einladungen zum Leerlauf: bloßes Rauschen läßt keine artikulierte Interaktion zu.«34 Solche Kritik richtet sich unter anderem gegen eine experimentelle Prosa am Ende der 60er Jahre, die den Gegensatz von Produzent und Rezipient auf subjektivistische Weise überwinden will. Den »Postversand-Roman« (1970) von Peter Faecke und Wolf Vostell etwa soll sich der Leser ebenso zusammenbasteln wie den Roman »Die Insel« (1968) von Peter O. Chotjewitz.35 Weil dadurch aber willkürliche Texteingriffe möglich werden, hebt der Erzähler im »Kurzen Sommer der Anarchie« die besondere Qualität des Materials als Gegenpol zum Interesse des Rezipienten hervor: »Seine Freiheit ist

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Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien, S. 175, S. 180, S. 183f. Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien, S. 180, S. 184-186. So über Enzensbergers Roman: Buselmeier, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod, S. 55. Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien, S. 185. Siehe etwa Chotjewitz, Die Insel, S. 108f.

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begrenzt; denn was er vorfindet, ist kein bloßes >Materialuntouched by human handswahren< Darstellung ad absurdum geführt«,40 sondern die Unterscheidung zwischen dem historischen Geschehen, den Geschichten und der Geschichte entwickelt. Eine derartige Differenzierung entspricht allerdings, wie die theoretische Grundlegung der vorliegenden Arbeit gezeigt hat, der fortgeschrittenen Theoriebildung einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die das historistisch-positivistische Paradigma hinter sich gelassen hat.41 Mit diesen hermeneutischen Kategorien zur Aneignung von Durrutis Biographie sind dem Rezipienten drei Ebenen vor Augen geführt: »die Wirklichkeit« des historischen Geschehens, welche vergangen ist - das

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Zur Differenz von »Text« und »Werk« siehe Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 169-198. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 701. Koselleck, Ereignis und Struktur, S. 567. S iehe hierzu auch Szondi, Für eine nicht mehr narrative Historie, S. 542. Siehe hierzu Stierle, Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte, S. 51. Miller, Prolegomena zu einer Poetik der Dokumentarliteratur, S. 39. Ähnlich siehe Reinhold, Geschichtliche Konfrontation und poetische Produktivität, S. 111; Eggers, Veränderungen des Literaturbegriffs im Werk von Hans Magnus Enzensberger, S. 211; Linder, Der lange Sommer der Romantik, S. 98. Im Sinne seiner These über die Annäherung von Kunst und Wissenschaft in der literarischen Biographie der Gegenwart hat schon Scheuer, Biographie (I), S. 236, auf diesen Zusammenhang hingewiesen.

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Leben des Helden und die Zeit des spanischen Bürgerkriegs; die »Materialien« der mündlichen und schriftlichen Überlieferung, die in Form der dokumentierten Berichte gegenwärtig vorliegen; und »die Geschichte« als »Erfindung«, der noch ausstehende Sinnzusammenhang der einzelnen Geschichten. Diese »neue Qualität« (13) ist durch die Montage der Berichte aber nur präformiert, nicht schon vom Erzähler als in sich stimmige »Geschichte« ausformuliert. Weil der Leser eine solche Synthetisierung des dargebotenen Materials zur Bedeutungsstruktur aber nicht nach individuellem Gutdünken leisten soll, 42 macht der Erzähler das erkenntnisleitende Interesse bewußt, welches in die Produktion und Rezeption kollektiver Historie eingeht. Diese zielt auf eine »Überlieferung«, an die sich »eine Vorstellung von den Kämpfen der Vergangenheit« (13) heftet, auf Erzählungen also, die als Historie - nicht als Kunst - eine sujethafte Struktur dadurch aufweisen, daß die »Unerschütterlichkeit« ideologischer und sozialer »Grenzen« mit dem Aufbrach einer Person oder Klasse als einem historischen Helden negiert wird. 43 Solches geschieht als individueller Widerstand gegen die Obrigkeit im Falle Luthers oder Galileis (»Hier stehe ich, ich kann nicht anders« - »Und sie bewegt sich doch«), durch den kollektiven Versuch einer Revolution in der »Pariser Kommune« oder im »Sturm auf das Winterpalais«, aber auch durch den Widerstand von Revolutionären gegen eine unzureichende >Revolution< - »Danton auf der Guillotine und Trockij in Mexico« (13). Gegenstand der kollektiven Fiktion sind Sujets, die revolutionäre Ereignisse darstellen: Auf Bilder vom werdenden und scheiternden >SubjektFiktion< dar, eine künstliche Annahme, die »Vor-Schein«,44 aber auch Illusion sein kann. Die Deutung des Geschehens als Vorgeschichte erstreckt sich deshalb nicht nur auf die Vergangenheit: »Geschichte als kollektive Fiktion« meint auch für die Zukunft jene regulative Idee, der gemäß die Menschen Geschichte nicht primär erleiden, sondern nach Art eines Subjekts zu bewußt gesetzten Zwecken machen. 45 Mit dieser Auffassung von Geschichte: als Konstruktion, als >langem Marsch< und als Utopie, liegt ein theoretischer >Leitfaden< vor,46 der für die Produktion und Rezeption dieses Romans von Bedeutung ist. So entwickelt der Erzähler aus derartigen Überlegungen auch seine »Methode der Nacherzählung« (14), ohne daß dadurch freilich die Bedeutung des Textes schon annähernd erfaßt wäre. Wie es der Anhang 42 43

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So aber Scheuer, Biographie (I), S. 236; Witting, Übernahme und Opposition, S. 451 und S. 461. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 356. - Siehe hierzu allerdings die Modifizierung von Lotmans Kategorien in der theoreüschen Grundlegung dieser Albeit, S. 36-39. Siehe hierzu Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 242-250: »Künstlerischer Schein als sichtbarer Vor-Schein«. Siehe hierzu auch Anacker/Baumgartner, Geschichte, S. 555; Habermas, Über das Subjekt der Geschichte, S. 474 und S. 476. Zur Notwendigkeit von Theorien als Leitfäden der Geschichtsschreibung siehe schon die theoretische Grundlegung S. 23f.

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belegt (295-300), greift die Rekonstruktion von Durrutis Lebenslauf neben schriftlichen Quellen zu einem großen Teil auf Interviews zurück, die der Autor mit noch lebenden Zeugen der Zeitgeschichte geführt hat, auf das Material jener »mündlichen Tradition« also, in der »seit den ältesten Zeiten Historie überliefert« wird: »Für die Völker ist und bleibt die Geschichte ein Bündel von Geschichten.« (13) Diese vielfältigen Erzählungen werden jedoch nicht objektivistisch mit einem »leeren Wort« als Dokumente oder Protokolle bezeichnet; vielmehr ist im Gegensatz zu Erika Runge und Martin Walser der Status dieser Berichte als interessegeleiteter Geschichten einer grundsätzlichen Reflexion unterzogen: »Kaum sehen wir genauer hin, so zerrinnt uns die Autorität unter den Fingern, die das >Dokument< zu leihen scheint. Wer spricht? Zu welchem Zweck? In wessen Interesse?« Weil die »Fragwürdigkeit der Quellen [...] prinzipieller Art« ist und »noch die >Lüge< [...] ein Moment von Wahrheit« enthält, werden in diesem Roman die Einzelgeschichten nicht durch »Quellenkritik« (15) mit einer Rahmengeschichte kompatibel gemacht,47 sondern aufgrund ihrer Teilhabe an der kollektiven Fiktion, an der Idee einer menschlichen Geschichte, zitiert und zu einer Collage montiert. Mit einem solchen Verfahren sind aber auch.im Gegensatz zu Tretjakovs Roman »Den Schi-Chua« und zu Runges »Bottroper Protokollen«, die Eingriffe des Erzählers bei der Anordnung des Materials offengelegt, das im Anhang ja ausgewiesen ist und zumindest für die schriftlichen Texte die Möglichkeit der »Nachprüfung« (295) erlaubt. Der »Rekonstrukteur« will ein bestimmtes »Interesse zum Vorschein und zur Geltung bringen«, und dieses bekennt er, anders als der vorgeblich überparteiliche auktoriale Erzähler der literarischen Tradition, auch selbstbewußt ein: »Der Nacherzähler hat weggelassen, übersetzt, geschnitten und montiert und in das Ensemble der Fiktionen, die er fand, seine eigene Fiktion eingebracht, mit voller Absicht und vielleicht auch wider Willen, nur daß diese eben darin ihr Recht hat, daß sie den andern das ihre läßt.« (15) Die »Fiktion« des Erzählers vom »Recht« der Leser besteht aber darin, daß es diesen durch eine Aneignung der vorliegenden Lebensgeschichte »erlaubt« sein soll, »ihre eigenen Interessen, ebenso wie die ihrer Feinde, wiederzuerkennen und genauer zu bestimmen« (13). Zu diesem Zweck entwirft der Rekonstrukteur in der ersten und in der siebten Glosse »Über die Geschichte als kollektive Fiktion« (12) und »Über den Helden« (257) einen bewußten Gegenwartsstandpunkt, der nicht wie in der traditionellen Hermeneutik und in der sich daran anschließenden Rezeptionsästhetik etwas selbstverständlich Vorgegebenes, sondern Resultat einer theoretischen Anstrengung ist.48 Erst wo die Geschichte als Konstruktion, als >langer Marsch< und als Utopie begriffen wird, ermöglicht die Synthetisierung des dokumentierten Materials ein >Wiedererkennen< der Gegenwart in der Vergangenheit als die >genauere Bestimmung< der besonderen aktuellen Konflikte und das heißt: als deren historische Reflexion. Eine solche Aneignung setzt freilich voraus, daß die in der Montage festgehaltenen Widersprüche nicht durch eine »passive Lektüre« (259) verdrängt, sondern offengelegt werden. Wie der Erzähler in Schillers Geschichte »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« mit aufklärerischem Impetus die »republikanische Freiheit des lesenden Publi47 48

Siehe hierzu schon die theoretische Grundlegung, S. 22. Siehe hierzu Bürger, Benjamins »reuende Kritik«, bes. S. 170-172.

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kums« betont, »selbst zu Gericht zu sitzen«,49 und wie sich Brecht das »Beobachtungen anstellen, daraus Schlüsse-Ziehen und damit zu Entschlüssen-Kommen« als Aufgabe des >eingreifenden< Lesers vorstellt,50 so heißt dessen Recht auch hier: »unterscheiden, urteilen, Partei ergreifen« (259).

6.3. Gegenwart und Vergangenheit - das historische Modell einer außerparlamentarischen Opposition Neben den hermeneutisch-poetologischen Reflexionen bieten die Glossen vor allem historische Erläuterungen, durch welche das Bewußtsein der Augenzeugen relativiert, der Lebenslauf des Helden in seinen geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext gestellt und damit typisiert wird. Sie sind hier allerdings keine Kuizkommentare zu aktuellen Ereignissen, sondern geben vornehmlich solche Erklärungen zum Text, die den historischen Abstand zur Gegenwart, nicht aber den Modellcharakter der erzählten Geschichte betonen. Pointiert zeigt sich die begrenzte Erklärungskraft der Kommentare, wenn es über den spanischen Anarchismus heißt: »Weniger als Manifeste und Losungen vermuten lassen, hat er mit dem Neo-Anarchismus heutiger studentischer Gruppen zu tun. Mit gemischten Gefühlen sehen diese Achtzigjährigen der Renaissance zu, die ihre Ideen im Pariser Mai und anderswo erlebt haben.« (282f.) Derartige Erläuterungen des Erzählers haben den Status von »Nachkonstruktionen«. Diese bringen zwar »ein >unbewußt< funktionierendes Regelsystem«, dem das Geschehen und die Geschichten darüber unterworfen sind, auf den historischen Begriff, nicht aber die aktuelle Bedeutung des Textes. Sie leisten ja noch keine »Selbstreflexion«, denn sie bringen nicht »jene Determinanten eines Bildungsprozesses zu Bewußtsein, die eine gegenwärtige Praxis des Handelns und der Weltauffassung ideologisch bestimmen«.51 Was Friedrich Engels im »Resultat« seiner »ganzen Untersuchung« (236) als Kritik am Anarchismus formuliert hat, ist auch in der aktualisierten Form des Romans nicht »dessen politisches Urteil« über diese Bewegung;52 und wenn der Erzähler »die Dramaturgie der Heldenlegende« erläutert, die »in wesentlichen Zügen vorgegeben« sei (260), heißt dies keineswegs, daß »ein neuer Emst Jünger« ein »Lob« auf »eine Zeit der Helden« ausbringt.53 Weder Text noch Autor schließen sich hier »der in Spanien virulenten Heldenlegende« an;54 vielmehr benennt der Rekonstrukteur die Regeln eines mythisierenden Erzählmusters, das einem Großteil der Berichte, nicht aber dem Roman in seiner Gesamtstruktur zugrunde liegt. Er setzt 49 50 51 32 53 54

Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre, S. 8. Brecht, Über die Popularität des Kriminalromans, S. 454. Habermas, Einige Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln, S. 29. Karsunke, Ein Film aus Worten. Härtung, Elegie auf den Anarchismus. So aber Bohrer, Der Lauf des Freitag, S. 57f. Ähnlich siehe auch Eggers, Veränderungen des Literaturbegriffs im Werk von Hans Magnus Enzensberger, S. 213f. - Siehe dagegen Dietschreit, Hans Magnus Enzensberger, S. 94f. - Grundlegend für die folgenden Ausführungen zur Mythisierung als einem besonderen Verfahren der Narration sind die Untersuchungen von Wülfing, Zum Napoleon-My thos in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts; Wülfing, Eine Frau als Göttin; Wülfing, Die heilige Luise von Preußen.

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doch die »Immunität« (259) des Helden einer Reihe von Widersprüchen aus, die der Leser auf den zeitgemäßen Begriff zu bringen hat, ohne hier noch auf Erläuterungen zurückgreifen zu können. Denn der Erzähler bezieht nicht Stellung zu den positiven Seiten der anarchistischen Macht und zu der Rolle Durrutis während dieser Phase - zwischen die entsprechenden Kapitel ist keine einzige Glosse eingefügt; er kritisiert offen die Schwächen und Fehler des spanischen Anarchosyndikalismus (210-214, 232-236), nicht jedoch die des Protagonisten; ebensowenig erörtert er in den Kommentaren die aktuelle Bedeutung dieser Figur und der in ihr verkörperten Bewegung. Dieses »Minus-Verfahren« zieht als »absichtliches Verschweigen«55 zwar den Vorwurf des allein gelassenen Literaturkritikers nach sich. Enzensberger habe mit den Glossen »in der Analyse« methodisch versagt. 56 Wo aber die didaktische Funktion dieses Strukturelements erkannt und in der Reflexion realisiert ist, hat sich der Leser selbst um den Sinn der vorliegenden Lebensgeschichte zu bemühen, und es ist nur konsequent, daß sich auch der Autor weigert, dafür Unterstützung zu geben: »Ich möchte erreichen, daß der Leser nicht ganz umhinkommt, sich die Frage vorzulegen, was er von der Geschichte hält. Was ich davon halte, ist an ihr das Uninteressante.« 57 Die historische Distanz zwischen den dokumentierten Ereignissen von 1936 und der Rezeptionssituation von 1972 verhindert in Enzensbergers Roman nicht die Reflexion zeitgenössischer Erfahrungen, sondern ermöglicht sie. Zwar setzt der Verzicht auf »jede äußerliche Aktualisierung« des dargestellten Geschehens wie im »Verhör von Habana« 58 das »Vertrauen« auf eine »hochentwickelte ideologiekritische Erkenntnisfähigkeit und politische Mündigkeit« des Lesers voraus. Weil aber die Aneignung »der im Dokument enthaltenen geschichtlichen Bedeutung nur in der Lösung vom streng Dokumentarischen zu vermitteln ist«, 59 werden hier trotz des historischen Abstands in der Struktur des Textes auch solche aktuellen Erfahrungen und Normenhorizonte thematisiert, in denen sich ein gegenwärtiges Interesse »wiederzuerkennen und genauer zu bestimmen« (13) vermag. Sei es, daß die Augenzeugen diese Beziehung zum »Heute« (48/76) und zu »unseren Tagen« (290) selbst herstellen, sei es, daß der Erzähler den »Neo-Anarchismus heutiger studentischer Gruppen« und die »Renaissance« anarchistischer »Ideen im Pariser Mai und anderswo« (282f.) als zeitgeschichtlichen Hintergrund offen benennt oder daß auf solche Beziehungen nur angespielt wird: wie in Brechts »Cäsar«-Fragment lenkt das »kontrafaktische Verfahren konnotativer Überlagerungen« die Rezeption eines Romans, der die »nicht beliebige Analogisierbarkeit unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme« bewußt macht und der doch zugleich eine »Lektüreanweisung zur Entzifferung historischer« - das heißt hier auch gegenwärtiger - »Prozesse« liefert. 60

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Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 428. Heißenbüttel, Leben und Tod eines Anarchisten. Ähnlich siehe auch Härtung, Elegie auf den Anarchismus; Buselmeier, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod, S. 155. 57 Enzensberger, in: Nolte, Ein Sozialist, S. 18. 58 Enzensberger, Das Verhör von Habana, S. 54. 5' Hilzinger, Die Dramaturgie des dokumentarischen Theaters, S. 134. 60 So über Brechts »Cäsar«-Roman: Wemer, Transparente Kommentare, S. 349, S. 345, S. 351. 56

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Dieser »Tigersprung« in eine »mit Jetztzeit geladene Vergangenheit« 61 hat seinen Grund darin, daß das Spanien vor dem Ende des Bürgerkriegs »das einzige Land der Welt« ist, »in dem die revolutionären Theorien Bakunins zur materiellen Gewalt geworden sind«. Am historischen Modell der anarchistischen Revolution von 1936, für die der Erzähler den »>antiautoritären< Flügel der Ersten Internationale« (28) verantwortlich macht, können auch die Unzulänglichkeiten der antiautoritären Revolte um 1968 reflektiert werden. So wird in der zweiten Glosse eine Übereinstimmung sichtbar, wenn der Erzähler »die Wurzeln des spanischen Anarchismus« (27) beschreibt und dabei diejenigen Ziele und Strategien benennt, welche auch für die zeitgenössische außerparlamentarische Opposition charakteristisch gewesen sind. Auch diese hatte sich ja nicht »als eine politische Partei verstanden; es« gehörte »zu ihren Prinzipien, sich an parlamentarischen Wahlen nicht zu beteiligen«. Auch die Protestbewegung wehrte sich »in ihren eigenen Zusammenschlüssen [...] gegen die Konzentration der Macht an der Spitze der Organisation, in der Zentrale«. Auch »ihre Föderationen« wurden »von der Basis her bestimmt« und existierten ohne »bürokratischen Apparat« (32f.).62 Derartige zeitgeschichtliche Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart lassen sich bei nur geringer Abstraktion von den historischen Besonderheiten noch weiter verfolgen, ist doch die »Wiederkehr« des »Anarchismus« aufgrund der fortdauernden Existenz einer bürgerlichen Gesellschaft möglich, in die sich »ehemals progressive Organisationen willig integrierten«. 63 Die anarchistische Fundamentalopposition gegen jegliche parlamentarische Arbeit und gegen einen Staat, der »seine Existenz keiner revolutionären Bewegung« verdankt (79), schließt deshalb die Distanzierung von der organisierten Arbeiterpartei ein, die in einer Art >großer Koalition mit der Industriebourgeoise kollaboriert hat (55) und sich auch danach nicht »zu entschiedenen Reformen aufraffen« kann (82). Während »die Sozialdemokratie die Arbeiter in die bestehende Gesellschaft integrieren« (53) will, ist die Strategie der Anarchisten von einem »tiefsitzenden Widerstand gegen die kapitalistische Entwicklung« (36) geprägt.Die Abschaffung der existierenden Wirtschaftsordnung gilt als ein wesentliches Ziel, das freilich nur erreichbar ist, wenn diese Umgestaltung politisch »eine freiheitliche Richtung« (65) in dem Sinne nimmt, »daß die Revolution nicht auf die Diktatur einer Partei« hinauslaufe, »daß die neue Gesellschaft von unten nach oben aufgebaut« sei »und nicht von oben herdekretiert« werde: »Kein Mensch hat das Recht, einen anderen zu regieren.« (76f.) Aus dem gleichen Motiv forderte die

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Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, S. 701. Siehe hierzu etwa Dulschke, Mein langer Marsch, S. 43f. und S. 56; Bartsch, Anarchismus in Deutschland, Band 2/3. Aus der Geschichte des Anarchismus abstrahiert Bartsch zwölf grundlegende Merkmale, welche trotz beträchtlicher Unterschiede in »Herkunft, Geist und Lebensgefühl« für »die Neuen Anarchisten« in gleicher Weise zuträfen »wie für die alten« (S. 220): »Der Anarchist ist in der Regel organisationsscheu, funktionärsfeindlich, apparatfeindlich, autonomisüsch, föderalistisch, antiparteilich, anünational, gegen jede Verstaatlichung der Produktionsmittel, mißtrauisch gegen die moderne Technik, strikt gegen die Eroberung der politischen Macht, aber für eine geistige Revolution als Voraussetzung oder Begleiterscheinung der sozialen, die in der Abschaffung des Staates sowie in der Begründung einer herrschaftslosen Ordnung bestehen soll, und Anhänger der direkten Aktion als dem methodischen Modell der Herrschaftsüberwindung.« (S. 14f.) Adorno, Resignation, S. 797.

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antiautoritäre Bewegung 1968 »eine sozialistische Gesellschaft, in der alle Produzenten, ob Arbeiter oder Studenten, an den sozialen und wirtschaftlichen Entscheidungen beteiligt sein« müßten.64 Und wie sich die außerparlamentarische Opposition an der FocusTheorie von Che Guevara orientierte, nach der »die Revolutionäre nicht immer auf die objektiven Bedingungen für die Revolution zu warten haben«, sondern »die objektiven Bedingungen fiiir die Revolution durch subjektive Tätigkeit schaffen können«, 65 halten auch die spanischen Anarchisten »den einzelnen für einen Motor, der notwendig« sei, »um die Massen in Bewegung zu bringen« (67). Durch solche Übereinstimmungen zwischen der dokumentierten Vergangenheit und dem zeitgenössischen Kontext eröffnet sich als Grundlage für die modellierende Struktur des Textes eine Kontinuität von politischen Normensystemen und historischen Erfahrungszusammenhängen, welche die Lebensgeschichte Durrutis zum »exemplarischen Fall« macht: »Sie besäße heute keinerlei Sinn oder Bedeutung mehr, es sei denn für die Spezialisten, die Historiker und bestimmte Politiker, hätte nicht das Jahr 1968 in Europa [... ] Ereignisse gezeitigt, die Durrutis politischem Kampf in gewisser Weise entsprachen: also Anarchie und Anarchokommunismus«. Doch trotz dieser Gemeinsamkeiten ist der Roman zu Recht als ein »negatives Paradigma« zu begreifen, »das seine gegenwärtigen Wiedeiholungen radikal in Frage stellt«. Wenn Pasolini auf die Gegensätze zwischen dem spanischen Anarchismus und der antiautoritären Bewegung verweist, 66 so gilt diese Beobachtung dem Verfahren eines Textes, der bei aller Ähnlichkeit den Unterschied zwischen Kunst und Leben, das heißt hier: zwischen dem literarischen Modell einer Vergangenheit und dem realen Kontext der Gegenwart, nicht aufhebt und so auch das »negative Kennzeichen« zum bedeutungsdifferenzierenden Strukturelement entwikkelt 6 7 Nicht nur als Kontinuität mit der Vergangenheit, sondern auch als historische Distanz zu ihr ist hier »die Erfahrung mit der Geschichte ins Werk« 68 gesetzt: das Identische und das Gegensätzliche beider Bewegungen werden auf einer übergeordneten Ebene der Werkstruktur wechselseitig reflektiert. Obwohl Enzensbeigers Roman noch nicht die zeitgenössischen Erfahrungen der antiautoritären Generation als Stoff explizit aufgreift, macht er doch den fundamentalen Abstand zwischen den alten und den neuen Anarchisten bewußt. Während die Unruhen 1968 von einer >kleinen radikalen Minderheit initiiert waren, vertritt die CNT als Gewerkschaft die »Mehrheit« (28) der spanischen Arbeiter. Sie beschränkt sich nicht auf verbalradikale Forderungen, sondern hat die Macht, diese in die Tat umzusetzen, wie etwa der Wahlboykott von 1933 zeigt, mit dem sich 32,5% aller Wahlberechtigten der Stimme enthalten (99). Ebenso sind Streik und bewaffneter Aufstand Mittel des politischen Kampfes, die eine »proletarische Massenbewegung« (282), nicht aber eine außerparlamentarische Opposition anwenden kann, die sich zu einem großen Teil aus Studenten zusammensetzt. Sie kann selbst im Pariser Mai nur durch Demonstrationen Erfolge erzielen, mit »Waffen«, die »darum verletzen, weil sie

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Rabehl, Von der antiautoritären Bewegung zur sozialistischen Opposition, S. 178. Dutschke, Vom Antisemitismus zum Antikommunismus, S. 69. Pasolini, Hans Magnus Enzensberger: »Der kurze Sommer der Anarchie«, S. 74. Lotman, Vorlesungen zu einer strukturalen Poetik, S. 25. Benjamin, Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, S. 468.

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nicht töten können«;69 auch wo Polizisten als Bürgerkriegsarmee erlebt oder Barrikaden gebaut werden, handelt es sich um einen symbolischen, keinen militärischen Straßenkampf.70 Der Blick in die Vergangenheit läßt auf diese Weise die begrenzten Einflußmöglichkeiten der antiautoritären Bewegung ebenso sichtbar werden wie die fehlenden Voraussetzungen für eine revolutionäre Gewalt. Während Dutschke für den SDS 1967 »Gewalt in Form des Terrors gegen Menschen« als »absolut konterrevolutionär und unmenschlich« in der »hochindustriellen Welt« verurteilte und dafür »kämpfen« wollte, »daß es nie dazu kommt, daß Waffen in die Hand genommen werden müssen«,71 entstanden ab 1968 terroristische Vereinigungen wie die >Rote Armee Fraktion< und die >Bewegung 2. Junigegen SachenSturms und Drangs< (21-23) hat Durruti bereits hier auf eine Weise zu sich selbst gefunden, die mit den »Gesetzen« des »bürgerlichen Entwicklungsromans« (259) auf dieser Bedeutungsebene in der Tat nur wenig Ähnlichkeit hat. Im Motiv der Auswanderung ist allenfalls am Anfang des Textes der individuelle Abschied von den Eltern und von einer »Umgebung« kodiert, »die keinen abweichenden Gedanken, kein widersprüchliches Temperament« duldet (18); und am Ende des ersten Kapitels findet Durruti in Barcelona auch den »einzigen Ort, an dem er leben« kann (26). Aber dieser Prozeß wird hier nicht als differenzierte Bewußtseinsentwicklung geschildert, an deren Abschluß sich der bürgerliche Protagonist trotz seines Anspruchs auf persönliche Freiheit zur gesellschaftlichen Ordnung bekennt. Vielmehr ist die Darstellung von Durrutis proletarischen >Lehr- und Wanderjahren< auf ein Kapitel reduziert, das hier dieselben Grenzen wie das Ganze eines Bildungsromans aufweist und in dem ein »roter Held« davon abläßt, »sein Ich so wichtig zu nehmen«, weil »das Personenbewußtsein in Klassenbewußtsein aufgenommen« ist.81 Nach diesem individuellen Aufbruch zum kollektiven Widerstand aber werden Lebens plan und Lebenslauf nur noch von der Strategie des Klassenkampfs im Sinn des Anarchosyndikalismus bestimmt, und deshalb wird seine Lebensgeschichte hierauch als eine proletarische »Heldenlegende« (260) erzählt. Das Handeln des Helden ist ganz einem politischen Kampf gewidmet, dessen wichtigstes Mittel in der Tradition Bakunins die »Propaganda durch die Tat« (38) darstellt.82

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81 82

Siehe hierzu schon S. 135, Anm. 43 der vorliegenden Abhandlung. - Zum Fehlen der individuellen Entwicklung im Leben der Helden siehe auch Wülfing, Die heilige Luise von Preußen, S. 245 und S. 272. So allgemein Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1379. Zur >Propaganda der Tat< siehe etwa Bakunin, Die Prinzipien der Revolution, sowie Bakunin, Das knutogermanische Kaiserreich und die soziale Revolution, bes. S. 240f.

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Auf die Spontaneität des Volkes vertrauend, beteiligt sich der klassenbewußte Revolutionär unaufhörlich an Aktionen: »Von der Selbstverteidigung bis zur Sabotage und von der Expropriation bis zum bewaffneten Aufstand« (33). Bereits die Kapitelüberschriften deuten an, daß nicht wie im Entwicklungsroman private oder berufliche Erfahrungen, sondern politische Situationen die Phasen einer »Sozialbiographie« bestimmen,83 deren Rekonstrukteur die »Umgebung« einbeziehen muß (13), um das zentrale Merkmal des Protagonisten, sein politisches Engagement, zu dokumentieren. Mit Ausnahme des ersten und des letzten Kapitels thematisieren die Titel der einzelnen Abschnitte keine individuellen Besonderheiten, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, denen der revolutionäre Kampf ausgesetzt ist. In Übereinstimmung mit dem Aufbau der mythischen Biographie sind damit die Stationen eines Lebenslaufs benannt, welche den Helden herausfordern und dieser bewährt sich dann auch auf so vielfältige und abenteuerliche Weise, daß schon zu Lebzeiten »viele Legenden« und »unglaubliche Geschichten« (84) über Durruti erzählt weiden. Weil der revolutionäre Held im ständigen Aufbruch soziale Grenzen überschreiten will, verwandelt er sich scheinbar in eine Kunstfigur, zu einem »Abenteuerroman« (12) mit vielen Episoden wird seine Lebensgeschichte ästhetisiert. Die Wirklichkeit gerät durch ihn zum »Theater« (7) und erhält »etwas Operettenhaftes« (97); als Proletarier tritt er »wie ein spanischer Grande« (66) auf; als »Handballstars« geben sich er und seine Freunde; aus ihnen werden »drei Musketiere« (69/70/75/84/85), deren Aktionen die Realität zu einem Historiengemälde gerinnen lassen: »Mit ihrem dunklen, vollen Haar, ihren sonnenverbrannten Gesichtern, ihren struppigen Augenbrauen und ihren harten Mündern hätten sie einem Goya als Modelle dienen können.« (68) Übersteigert ist dieser »Mythos« (277) schließlich dadurch, daß er dem des spanischen Nationalhelden El Cid gleichgestellt und Durruti in den Rang eines >Unsterblichen< erhoben wird, »mit dessen Namen man noch nach seinem Tod eine Schlacht gewinnen« (262) kann.84 Wenn viele Augenzeugenberichte sich nicht nach dem Schema des bürgerlichen Bildungsromans synthetisieren lassen, sondern zahlreiche Topoi der Heldenbiographie aufweisen, wird mit einer solchen Vereinfachung der Lebensgeschichte durch ein >vorbürgerliches< Erzählmuster allerdings nicht nur das selektive Verfahren anschaulich, welches für die Mythisierung einer Person als »Enthistorisierung« ihres Lebenslaufs kennzeichnend ist.85 Zugleich sind damit auch die immensen An- und Überforderungen konkretisiert, welche sich aus dem Versuch eines einzelnen ergeben, seine individuelle Identität ausschließlich im kollektiven Widerstand zu suchen. Wo die Strategie eines radikalen Aufbruchs im Hier und Jetzt konsequent verfolgt wird, hat der anarchistische Revolutionär geradezu notwendigerweise die Rolle eines Helden und Heiligen einzunehmen. Enzensbergers Roman thematisiert mit diesen Strukturelementen eine Ästhetisierung und Sakralisierung der Politik, die von Benjamin zwar am autoritären Staat beob-

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Scheuer, Biographie (I), S. 245. Μ Zur Mythisierung einer historischen Person durch den Vergleich oder durch die Verbindung mit einem schon bestehenden Mythos siehe Wülfing, Zum Napoleon-Mythos in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, S. 108; Wülfing, Die heilige Luise von Preußen, S. 241f. und S. 257-259. 85 Wülfing, Zum Napoleon-Mythos in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, S. 107.

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achtet wurde,8® ftlr die aber auch das antiautoritäre Handlungskonzept anfällig gewesen ist, und zwar nicht nur 1936: Cohn-Bendit entwickelte sich 1968 zum »Star«, der die öffentliche Politik zu einem »Theater« verwandelte, in dem er sich »selbst in großer Aufmachung« spielte.87 Dutschke fiel dagegen mehr die Rolle eines »Heiligen« zu. Er wirkte »bescheiden« im Auftreten und doch »elektrisierend« auf seine Zuhörer; »missionarisch«, mit der »Kraft zum Visionären«, verkündete er seine »frohe Botschaft«88 vom kurzen Sprung ins Reich der Freiheit: »Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, eine Welt, die sich auszeichnet, keinen Krieg mehr zu kennen, keinen Hunger mehr zu haben, und zwar in der ganzen Welt. Das ist unsere geschichtliche Möglichkeit«.89 In Übereinstimmung mit solchen aktuellen Erscheinungsformen weist auch die »Heldenlegende« (260) des Romans eine religiöse Komponente auf.90 Sie entspricht den »messianischen Zügen« des spanischen Anarchismus, auf deren Erscheinungsformen der Erzähler hinweist, ohne dabei den »politischen Inhalt dieses Kampfes« zu unterschlagen (36). Die Lebensgeschichte Durrutis wird deshalb hier auch nach dem Erzählmuster einer Heiligenlegende überliefert. An diesem Genre, insbesondere am Leben Jesu, das den »Prototyp der christlichen Legende« ausgebildet hat,91 ist die Gliederung der Biographie orientiert. Vita (Kapitel 1-11), Umstände des Todes (Kapitel 12), Grablegung (Prolog) und Wirkung nach dem Tode (Epilog) - die Handlungsabschnitte einer Heiligenlegende sind ebenso realisiert wie zentrale Motive: Fest in seinen Überzeugungen, widersteht Durruti der Versuchung, »der Republik eine Chance« zu »geben« (83). Auch »in seinem täglichen Leben« (289) ist er moralisches Vorbild und zeigt sich »überwältigend anspruchslos« (97). Zugleich besitzt er ein Charisma, das nicht nur die Genossen »fasziniert« (77) und »elektrisiert« (101), sondern auch das Volk, dem er als Prophet erscheint: »Als sich herumsprach, was die Redner, vor allem Garcia Oliver und Durruti, zu bieten hatten, reichten die Säle bald nicht mehr aus. Sonntag für Sonntag fanden sich Tausende und Abertausende von Arbeitern ein.« (86) Die Merkmale eines Heiligen werden allerdings schon bald überlagert von der latenten Identität eines Erlösers. W e Jesus bei seinen Auftritten nach dem Aufenthalt in der Wüste, so sammelt auch der »rote Christus« Durruti (289) nach seiner Rückkehr aus dem Exil die Scharen des Volkes um sich. Er redet von einer »neuen Welt«, deren >Kairos< jetzt gekommen sei (173). Wie Jünger lassen die Genossen alles hinter sich und folgen Durruti nach Madrid (244). Ebenso gibt der Einzug Jesu in Jerusalem die Folie ftir die Ankunft des Helden in der Hauptstadt und die »euphorische Begeisterung« (247) der Bevölkerung ab: »Die Leute waren wie elektrisiert, als die Kolonne durch die Stadt zog. Überall hieß es: Durruti ist da, Durruti ist da!« 86

Siehe hierzu Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 508. 87 Cohn-Bendit, Der große Basar, S. 30 und S. 44. 88 Diese Zitate von Augenzeugen finden sich alle in: Dutschke, Mein langer Marsch, S. 252, S. 254, S. 251, S. 252, S. 256, S. 247. 89 Dutschke, Mein langer Marsch, S. 52. 90 Siehe hierzu Rosenfeld, Legende, S. lf. 91 Rosenfeld, Legende, S. 5. - Zu Fabel und Motiven der Legende siehe auch Woesler, Legende, S. 239. - Zur latenten und partiellen Identität von mythisierten Personen und verehrten Helden und Heiligen siehe Wülfing, Die heilige Luise von Preußen, S. 259 und S. 262.

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(245) Der Tod des Helden kurz darauf macht deshalb »die Leute ratlos« (263). So sehr sind sie von seiner >Unsterblichkeit überzeugt - »wir konnten es selber kaum glauben« - , daß erst durch die bewußt lancierte Legende das tragische, aber doch »banale« Scheitern in der Realität überhöht und der »Mythos, der sich um Durruti gebildet« hat (276f.), aufrechterhalten werden kann. Während Heldenkult, Ästhetisierung und Sakralisierung der Politik - unabhängig vom politischen Bewußtsein der Akteure - Gemeinsamkeiten zwischen den spanischen Anarchisten und den zeitgenössischen Neo-Anarchisten darstellen, sind mit der Lebensgeschichte Durrutis zugleich auch beträchtliche Differenzen zwischen dem proletarischen Helden und seinen bürgerlichen Nachfolgern erkennbar. Diese These bezieht sich nicht nur auf das erläuterte Fehlen einer individuellen und intellektuellen Entwicklung des Protagonisten, sondern auch auf seine Bedürfnisstruktur. Wenn 1968 trotz aller Politisierung die überwiegende Mehrheit der Studenten vor allem »viel Zeit für das Privatleben« haben wollte,92 so ist dies Ausdruck einer Tendenz des gesellschaftlichen Modemisierungsprozesses, die auf Privatheit als Lebensform zielt und im Gegensatz zur utopistischen Erwartung von Runges »Bottroper Protokollen« Arbeiter und Studenten der außerparlamentarischen Opposition in die bestehende Gesellschaft integriert. Wenn Durruti 1936 dagegen an der Front von seiner Gefährtin besucht wird, schaut er sie nur an: »dann ist er weitergefahren; er hat kein Wort gesagt« (141). Diese Zurückstellung privater Interessen entspricht nicht nur den starren Regeln, die für den anarchistischen Revolutionär gelten.93 Ein solches Verhalten steht auch in signifikantem Kontrast zu den zeitgenössischen Forderungen der antiautoritären Bewegung nach Gleichberechtigung der Geschlechter und nach »sexueller Befreiung« (283). Zwar kritisieren die Anarchisten nicht nur die »bürgerliche Ehe« (253), sie gehen auch nicht aufs Standesamt (74) und lösen Beziehungen »ohne weiteres« (253) auf. Doch die »freie Liebe« hat ihre bürgerlichen Grenzen: »Die Frau gehört an den Herd! [...] Die Anarchie ist eine Sache und die Familie eine andere, so ist es und so bleibt es auch.«(96) Selbst wenn Durrutis Beziehung zu Emilienne Morin als Ausnahmeerscheinung charakterisiert ist (95f.), zeigt sich doch die traditionelle Ungleichheit: »Wenn Durruti kam, war sie still« (97), heißt es über die Gefährtin. Sie selbst beschreibt die Trennung von >Anarchie< und >Familieantiautoritären< Männern 1968 anhaftete und die zu keiner Einheit, wie in den »Bottroper Protokollen« erhofft, sondern zu einer Trennung von Protest- und Frauenbewegung führte.94 Vor allem manifestiert sich ein zentraler Unterschied in den kollektiven Lebensplänen der alten und der neuen Anarchisten. Während jene »wie Calvinisten [...] immer an die Revolution« denken (98), in Ehe und Familie aber weitgehend der bürgerlichen Tradition verhaftet bleiben, wollten diese ein derartiges Privatleben »innerhalb von wenigen Jahren, vielleicht einem Jahrzehnt« durch »neue 92 93 94

Der Spiegel, Was denken die Studenten? S. 38. Siehe Bakunin/Netschajew, Regeln für Revolutionäre, S. 58. Siehe hierzu Frevert, Firauen-Geschichte, bes. S. 273 und S. 277f.

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Formen menschlichen Zusammenlebens« überwinden; die »Resexualisierung«95 galt als ein entscheidender Beitrag zum »Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums«.96 Auf diese Weise war freilich nur die Moralisierungsstrategie des aufgeklärten Bürgertums im 18. Jahrhundert radikalisiert, die durch eine >Versittlichung< der Individuen die Grundlage der neuen Gesellschaft hatte errichten wollen.97 Wo die »Revolutionierung der Revolutionäre« zur »entscheidenden Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen« wurde,98 ersetzte schließlich der selbstbezogene Aktionismus einer Elite die konkrete politische Arbeit: »Handle! Suche ein neues Verhältnis zu deiner Freundin, liebe anders, sag nein zur Familie! Beginne, nicht für die anderen, sondern mit den anderen, filr dich selbst, hier und jetzt mit der Revolution!«99 Solche Empfehlungen von Gabriel und Daniel Cohn-Bendit an den geneigten Leser offenbaren, wie wenig Gemeinsamkeiten zwischen der zeitgenössischen antiautoritären >Aufklärung als AktionMut< der Verzweiflung (45), welcher mit dem »Mut«, der 1968 zu einem »hervorragenden politischen Instrument« verklärt wurde,101 überhaupt nicht vergleichbar ist. Anders als den spanischen Anarchisten war der Mehxheit der bürgerlichen Rebellen »Gewalt« nicht »vertraut« (283), und die Identifizierung mit Che Guevara und anderen Befreiungskämpfern der Dritten Welt blieb abstrakte Guerillaromantik: vor der Kriminalisierung hatte man letztlich »fürchterliche Angst«.102 Demgegenüber macht Enzensbergers Text deutlich, daß solche Erfahrungen für die Sozialisation eines proletarischen Anarchisten nichts Ungewöhnliches darstellen und keine Irritation der Persönlichkeitsstruktur zur Folge haben: »Im Gefängnis waren wir alle, jeder von uns. Einmal? Daß ich nicht lache. Dutzende von Malen. [...] Um die Familie kümmerten sich die Genossen, wir konnten da ganz ruhig schlafen.« (50) Indem durch die mythisierende Bedeutungsschicht des vorliegenden Romans eine proletarische Heldenlegende in Erinnerung gerufen ist, werden dadurch nicht nur der Heldenkult sowie die Ästhetisierung und Sakralisierung des außerparlamentarischen Widerstands als Kontinuitäten zwischen dem alten und dem neuen Anarchismus erkennbar, weil sich dem kritischen Leser vor der Folie des proletarischen und antiautoritären Helden auch die Diskontinuität in den Charakterstrukturen enthüllt, steht hier die Mythisierung einer Lebensgeschichte gerade nicht im Dienst der Enthistorisierung, sondern leistet zugleich die Entheroisierung von bürgerlichen Intellektuellen, die sich in ihren politischen Lebensplänen 1968 zu Revo95

Dutschke, Mein langer Marsch, S. 171, S. 167 und S. 169. Siehe hierzu: Kommune 2, Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums. 97 Siehe hierzu allgemein Koselleck, Kritik und Krise. 98 Dutschke, Die geschichdichen Bedingungen für den internationalen Emanzipationskampf, S. 93. 99 Cohn-Bendit, Linksradikalismus, S. 273. 100 Zur Verbindung von Aufklärung und Aktion siehe Dutschke, Mein langer Marsch, S. 15 und S. 46. ιοί Glucksmann, »Strategie und Revolution - Frankreich 1968«, S. 14. 102 Cohn-Bendit, Der große Basar, S. 55. 96

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lutionären erklärten, obwohl einer solchen radikalen Veränderung die objektiven Handlungsbedingungen der Gesellschaft ebenso entgegenstanden wie die sozialpsychologischen Dispositionen der Subjekte. Unangetastet bleibt der Mythos um die spanischen Anarchisten und ihren heroischen Führer in diesem historischen Modell allerdings nicht. Daß der Held und seine Bewegung trotz des revolutionären Aufbruchs scheitern, erweist vor allem diejenige Situation, in der die Anarchisten nicht mehr verdeckt operieren, sondern offen zu konstruktivem Handeln aufgefordert sind: »der kurze Sommer der Anarchie«.

6.5. Aufbruch und Wende - eine spontane Revolution und die Ursachen ihres Scheitems In der Naturmetapher des Titels ist nicht nur mit dem Höhepunkt des spanischen Anarchismus die entscheidende Phase von Durrutis Lebenslauf kodiert,103 sondern auch der spektakulärste Erfolg der antiautoritären Bewegung, der »Pariser Mai« (283), welcher für die außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Vorbildcharakter erhielt. »Schaffen wir endlich, auch in Deutschland, französische Zustände«104 diese Aufforderung Enzensbergers in seiner Rede gegen die Notstandsgesetze vom 28. Mai 1968 besaß ihren Grund in einem Generalstreik, der von den Neoanarchisten um Cohn-Bendit ausgelöst worden war und der ein Machtvakuum im französischen Staat offengelegt hatte. Angesichts der Einheit von Studenten und Arbeitern hielten sie »Doppelherrschaft und Machtübernahme« für »wahrscheinlich«; in der »Selbstorganisation autonomer Verwaltungs- und Verteilungsapparate« wurde vereinzelt sogar schon »wie im Barcelona des Jahres 1936 [...] der Kampf gegen den Kapitalismus mit der Antizipation einer neuen Gesellschaftsordnung verbunden«.105 Während dieser Massenprotest für die bürgerliche Ordnung zunächst ein schockartiges Erlebnis darstellte: »die Anarchie war da«,106 wurde er von der antiautoritären Bewegung auch außerhalb Frankreichs als konkreter Vorschein für die Realisierung der Utopie von Freiheit und Sozialismus gedeutet. Wo man den »Einbruch der Zukunft in die Gegenwart« bereits erlebt zu haben meinte, dominierte eine naive Revolutionserwartung: »Alles wird möglich. Die Polit-Fiction wird zur aktuellen Realität! Die radikale, emanzipative Veränderung der westlichen Gesellschaften ist nicht mehr der Traum einer Handvoll Aktivisten.«107 Die Illusionen über den schon vollzogenen >Aufbruch< waren so groß, daß eine >Wende< nicht mehr für möglich gehalten wurde. Zwar wollte die Protestbe103

Zu dieser übertragenen Bedeutung von >Sommer< als >Höhepunkt des Lebens< siehe Duden, hg. von Drosdowski, Bd. 5, S. 2421. Zum metaphorischen Potential des Lexems, insbesondere im Hinblick auf den >Pariser MaiBourgeoisieVolksherrschaftstatus quo anteAnführer< besitzen nur sehr begrenzte militärische Fähigkeiten (146). Es mangelt an Waffen und Verpflegung (143,189-191,215), weil eine zentrale Organisation fehlt: »Hauptquaitiere, Generalstäbe, Fernmeldenetze gab es nicht.« (216) Die Folgen einer solch falschen Autarkie sind zum einen die »Verschwendung von Menschenleben« durch die »sinnlose Aufopferung« im »fanatischen Vorstoß«. Zum anderen tragen »unentschlossene Zaghaftigkeit« (147), Mangel an Disziplin und der Verzicht auf eine Hierarchie (148,153) zur Paralysierung des Widerstands bei: »An der Front entsteht über jeden Befehl ein langes Palaver. Niemand will gehorchen.« (192) Wirksam ist hier zwar die anarchistische Praxis der kollektiven Selbstbestimmung, wie sie für die illegalen Kader der Stadtguerilla gegolten hat (49). Auf den offenen militärischen Kampf übertragen, führt dieses emanzipatorische Prinzip aber zu einer tödlichen Ineffizienz; gleiches gilt für die Maxime der individuellen Freiwilligkeit (219). Weil es »nur eine einzige Art des Krieges« gibt (225) und der Gegner darin überlegen ist, werden die Anarchisten gewahr, daß die Hierarchisierung und »Militarisierung« der Milizen notwendig ist, daß damit aber zugleich »die Revolution in Gefahr kommt«; sie sehen sich also dem Zwang ausgesetzt, »den Krieg rasch gewinnen« zu »müssen« (228). Politisch befinden sie sich ohnehin »in einer schrecklichen Lage«, sind »völlig in die Enge getrieben« durch den ständig wachsenden Einfluß der Kommunisten (245). Die Lösung des Dilemmas soll die Entsendung der Kolonne Durruti in die Hauptstadt bringen, wo der Gegner »alles auf eine Karte« setzt (239). Doch diese Aktion verschärft nur die Widersprüche, in welche die Anarchisten verstrickt sind: um »politisch« nicht »ins Hintertreffen« zu »geraten«, kämpfen »zum größten Teil Leute ohne jede Fronterfahrung« (243f.) militärisch gegen einen Feind, der sich in allen Belangen - Disziplin, Strategie, Organisation, Bewaffnung - als überlegen erweist. Das absehbare Ergebnis des Ganzen ist: »eine Katastrophe« (256). Mit der politischen und militärischen Niederlage der Anarchisten ist am Ende des Romans das antiautoritäre Aufbruchsmodell wieder gänzlich destruiert: Trotz allen Muts, allen Engagements und aller Teilerfolge unterliegt der voluntaristische Versuch, eine bürgerliche Gesellschaft radikal zu verändern, und es bleibt einmal mehr nur ein »Muster« davon, »wie man eine Revolution nicht machen muß« (36). Strategie und Organistaion der außerparlamentarischen Opposition erweisen sich selbst da als unzulänglich, wo sie basisnah sein wollen; das bestehende System dagegen läßt »sich die Macht nicht 183

einfach wegnehmen« (99), ist immer stärker, besser ausgerüstet, taktisch vorsichtiger und besitzt vielfältige Verbündete. Am historischen Paradigma ist damit aber zugleich trotz beträchtlicher Unterschiede das Scheitern der antiautoritären Revolte reflektiert, wie es sich am deutlichsten im Pariser Mai manifestiert hat. Denn auch die neoanarchistischen Rebellen setzten damals auf die spontane Lernfähigkeit des Volkes, weil man »nicht von den Massen, sondern ausschließlich von den Avantgarden ein bereits vorhandenes sozialistisches Bewußtsein erwarten« könne." 7 Auch ihnen fehlten eine angemessene revolutionäre Theorie und ein entsprechendes politisches Programm, so daß die Aktionseinheit von Arbeitern und Studenten nach kurzer Zeit zeibrach.118 Auch sie scheiterten sie an der Macht der bürgerlichen Parteien, insbesondere an einem Bündnis zwischen de Gaulle und einer kommunistischen Partei, welche die »Sprache der Revolution« nur noch verwendete, »um Reformen zu erreichen« und die eigene Macht zu festigen.119 Auch sie waren sich der Intemationalisierung von gesellschaftlichen Konflikten bewußt: »Vietnam ist das Spanien unserer Generation«,120 und verfielen doch der alten »Mystifikation« (214), daß »der revolutionäre Kampf [... ] in seiner Form wieder national sein« könne.121 Auch sie hielten an der Illusion fest, daß dezentralisierte »Initiativen an der Basis« die Aufgabe angehen könnten, »die Zentralgewalt zu übernehmen [...] und die autoritäre Grundlage der Zentralgewalt zu zerschlagen«,122 und mußten doch schnell einsehen, daß die antiautoritäre Idee vom spontanen Aufbruch und vom »kurzen Sprung in das Reich der Freiheit« (212) nicht realisierbar war. Nur einen »kurzen Sommer« oder »nicht länger als das Leben einer Blüte« (89) dauert der Versuch, die »Anarchie« zu verwirklichen. In der Naturmetaphorik des Titels ist allerdings über die zeitgeschichtliche Denotation (1936) und Konnotation (1968) hinaus noch ein weiterer Bedeutungsaspekt kodiert, der auf einer intertextuellen Strukturrelation beruht. Enzensbergers Roman spielt nämlich auch auf den ersten Band einer »Geschichte der Anarchie« an, den Max Nettlau, der bedeutende Geschichtsschreiber des Anarchismus, 1925 unter dem Titel »Der Vorfrühling der Anarchie« veröffentlicht hat. Dieser Text behandelt die »historische Entwicklung von den Anfängen bis zum Jahre 1864«, die »Vorgeschichte der Anarchie«, welche mit dem Auftreten von Bakunin, Kropotkin und anderen beendet sei: »Der Vorfrühling, dessen erste Blüten immer wieder vom autoritären Frost zerstört wurden, wird durch das wahre Frühjahr ersetzt, nun bedeckt sich alles mit Grün und Blüten, und die Autorität verliert ihre Macht, weil sie niemand mehr achtet.«123 Eine weitergehende Semantisierung der Jahreszeitenmetaphorik findet sich nicht mehr bei Nettlau, wohl aber im Titel von Enzensbergers Roman. »Der kurze Sommer der Anarchie« erklärt aus einer histori117

Gore, Revolutionäre Lehren aus dem Mai, S. 89. Siehe hierzu Glucksmann, »Strategie und Revolution - Frankreich 1968«, S. 12; Cohn-Bendit, Der große Basar, S. 46. 119 Grosser, Die Romantik der Revolution; siehe hierzu auch Weisenfeld, Die auf das Volk vertrauten. 120 zitiert in: Provokationen, hg. von Miermeister/Staadt, S. 69. 121 Glucksmann, »Strategie und Revolution - Frankreich 1968«, S . l l . 122 Gore, Revolutionäre Lehren aus dem Mai, S. 114 und S. 102. 123 Nettlau, Geschichte der Anarchie, Bd. I: Der Vorfrühling der Anarchie. Ihre historische Entwicklung von den Anfangen bis zum Jahre 1864, S. 233f. 118

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sehen Perspektive den Höhepunkt des klassischen Anarchismus schon durch die Niederlage der spanischen Revolution für unwiederholbar überschritten. Die »Renaissance« des Anarchismus »im Pariser Mai« (283) erscheint damit freilich nur noch als die anachronistische Reproduktion eines Handlungskonzepts, das bereits in der Vergangenheit gescheitert ist. Weil »Anarchie« in diesem Text aber nicht nur den antiautoritären Versuch, sondern auch die regulative Idee einer Menschheit meint, »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt« zu verwirklichen,124 weist der Titel auf einer universalgeschichtlichen Ebene außerdem darauf hin, daß diese Vorstellung in der Vergangenheit immer nur »kurz« und fragmentarisch realisiert worden ist. Wo die >humane Zeit< noch eine »kollektive Fiktion« (12) darstellt, folgt dem Aufbruch zum utopischen Erlebnisraum die Wende im historischen Herrschaftsraum, und Geschichte läuft nach dem Zyklus eines Jahres ab: als >Naturzeit Aufhebung< aller Widersprüche konkretisiert Enzensbergers Text am Tod Francisco Ascasos (121-124). Obwohl dieser Anarchist als ein »Mann« des »Kalküls« und als »ein vollendeter Stratege« (78) gilt, kennt er, wie die anarchistische Bewegung »schon immer«, bei der Niederschlagung des Putsches schließlich »nur noch eine Taktik: sich ohne Rücksicht auf Verluste in die Schlacht zu stürzen«. 126 Weil Ascasos Vorgehen aber nicht innerhalb eines Massenangriffs erfolgt, sondern als bewußte Handlung eines Einzelkämpfers dargestellt ist, wird seine selbstlose Opferbereitschaft um so deutlicher gezeigt: »Ganz allein ist er in den sicheren Tod gegangen. Ich weiß nicht, was ihn gepackt hat. Es sah aus wie ein

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So lautet die Definition von »Anarchie« bei Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, S. 330. Nach Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. XIV, I, 1, Sp. 1745, leitet sich die Bedeutung des Lexems > Wende< als »Wendepunkt [...] in einer entwicklung, einem ablauf, einschniu« ohnehin »zufrühst von der Sonnenwende« her.

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Brou6/T6mime, Revolution und Krieg in Spanien, S. 134.

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Selbstmord.« (124) Diese Opfertat ist zwar von der Idee eines Aufbruchs in einen utopischen Erfahrungsraum bestimmt, doch als isolierte gerät sie in der Wirklichkeit des historischen Heirschaftsraums nur zumbloßen Verzicht auf alle Bedürfnisse, durch den in diesem Fall weder für das Individuum noch fiir das Kollektiv etwas erreicht wird. Vielmehr offenbart die Charakterisierung vom »Selbstmord«, daß der einzelne auch durch den heroischen Aufbruch in den Tod die Diskrepanz zwischen dem Ideal eines erfüllten Lebens und der Realität von Gewalt für sich nicht zu überspringen vermag. Nicht im Heldentod, sondern durch den permanenten Einsatz im Alltag versucht Durruti moralisches Postulat und taktische Notwendigkeit miteinander zu vermitteln. Anders als seine Kolonne zeigt er Mäßigung beim Umgang mit dem Gegner (126,145f., 160) und gilt deshalb als »ein gerechter Mann« (150). Die fehlende Disziplin und Organisation bei den Anarchisten kritisiert er als »falschverstandene Freiheit« und ist doch nicht bereit, seine »Leute mit dem Knüppel zur Disziplin« zu »zwingen« (219). Er setzt weiterhin auf das Ideal der Gleichheit (222) und spricht sich darum nachdrücklich gegen eine Militarisierung des Krieges und eine Hierarchisierung der Milizen aus (228). Ebenso hält Durruti den militärischen Kampf gegen die Faschisten, die ökonomische Revolution als Antizipation der zukünftigen Gesellschaft (240f.) und die politische Zusammenarbeit mit der bestehenden Regierung für keine Gegensätze. Von Beginn des Bürgerkrieges an plädiert er für die Einheit der Antifaschisten (136,171), verurteilt »alle Fraktionskämpfe und Verschwörungen« (194) und warnt doch bis zuletzt - »Zuviel Komitees!«(263) - vor einer Β ürokratisierung der Revolution;127 er versucht also, die unterschiedlichen Positionen einander anzunähern und zugleich an den eigenen Idealen festzuhalten. Wenn in derartigen Augenzeugenberichten auch noch der Lebenslauf des Protagonisten nach dem revolutionären Aufbruch in Übereinstimmung mit den Erzählmustern der »Heldenlegende« (260) rekonstruiert ist, so werden diese doch entscheidend eingeschränkt, wo die Unzulänglichkeit des Helden durch die Montage gegensätzlicher Dokumente offen zutage tritt. Zwar zeibricht auch die Legende »das Historische in seine Bestandteile, sie erfüllt diese Bestandteile« indes »von sich aus mit dem Werte der Imitabilität und baut sie in einer von dieser bedingten Reihenfolge wieder auf. Die Legende kennt das >Historische< in diesem Sinn überhaupt nicht, sie kennt und erkennt nur Tugend und Wunder.« Sobald aber jenes Konstruktionsprinzip »von historischer Einstellung her etwas gelockert wird«, hört »die Möglichkeit der imitatio« auf; »die Form zerbricht«.128 Dieses kritische Verfahren der Destruktion ist in Enzensbergers Text durch die Collage solcher Geschichten zu einem dominanten Erzählmuster ausgebaut, die dem Mythos Durruti im Wege stehen und die in der heroisierenden Überlieferung getilgt sind, weil sie vor allem die konkreten historischen Widersprüche manifestieren, in die sich der Held verwickelt. Denn trotz seines Engagements gelingt auch Durruti weder »die Vermittlung zwischen Prinzipientreue und taktischer Notwendigkeit« (233) noch die »Vermittlung« zwischen den »Widersprüchen« im antifaschistischen »Lager« (211). Er treibt »Verschwendung von Menschenleben« (147) beim Marsch auf Zaragoza, aber auch »bei der Erschießung der Faschisten, der Pfarrer und 127 128

Siehe hierzu auch Nau, Gespräch mit Hans Magnus Enzensberger über >DurrutiSchleiftrog< nennen, den Helden seines Helden Arno wird er Hermann nennen« (154). Obwohl sich der Text durch solche selbstreflexiven Momente keineswegs zu einer Autobiographie verwandelt, hat ein großer Teil der bisherigen Rezipienten den »Schleiftrog« als den »autobiographischen Erstling« eines Autors verstanden, der »kaum verhüllt« von sich erzähle.5 Denn: »Seine Lebensdaten und die seines fiktiven Helden zeigen große Ähnlichkeit«. 6 Eine solche Zuordnung schließt die Klassifikation dieses Textes als Bildungsroman zwar meist nicht aus; doch die Relation von Einzelwerk und Gattung wird nicht differenziert im Spannungsfeld von Tradition und Innovation erfaßt, sondern oft nur durch das Verfahren der Identifikation von einzelnen Strukturelementen hergestellt. So kritisiert man etwa eine »Unoriginalität« des Romans mit dem bloßen Hinweis, er imitiere nur das »alte Muster des Entwicklungsromans«. 7 Oder man lobt den Text als »symptomatisch für eine Wende«, weil »sich da jemand unverblümt zu der Rolle« bekenne, »die Bildungsgüter in seiner Entwicklung gespielt haben«, und »Dichter wieder auf ihren Sockel« stelle, »die von dort herunterzuholen für eine ganze Studentengeneration Jux und Mode gewesen war«. 8 Dem gleichen Argument vom positiven Entwicklungsroman sind auch die unzutreffenden Behauptungen über den Helden verpflichtet, der am Schluß den »Jargon« der Protestbewegung hinter sich lasse, den »Durchbruch« finde, »indemereine Erzählung schreibt«,9 und schließlich eine »befreiende Wanderung« antrete. 10 Ob man diesen »Abschied von den politischen Hoffnungen« nun begrüßt oder

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Erstdruck identisch. Abweichend von der Angabe der Titelseite lautet der Untertitel auf dem Umschlag beider Ausgaben »Ein Bildungsroman«. So über Kinders bisheriges Werk Modick/Fischer, Kalkulierte Sinnlichkeit. Benn, »Der Broadway singt und tanzt«, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 306. Ayren, Bildungsroman mit Überraschungen. Drews, Geboren 1944, resigniert 1977. Lützeler, Von der Intelligenz zur Arbeiterschaft, S. 130. Ayren, Bildungsroman mit Überraschungen. Krättli, Der Schleiftrog. Steinmann, »Es wird sich nichts ändern«. 197

als »Verinnerlichungstrend« kritisiert: in beiden Einschätzungen wird der »Schleiftrog« vorschnell der ideologischen und literarischen »Tendenzwende« subsumiert.11 Demgegenüber hat Bernd Neumann auf die Zwiespältigkeit des Romans verwiesen, welche für die Geschichte der antiautoritären Generation paradigmatisch sei, auf die »widerspruchsvolle Einheit« von »Hoffnung« und »Resignation«, »Sensibilität« und »Solidarität«, »Tatwillen« und »Ästhetentum«. Doch auch diese differenzierte Interpretation des Textes ist durch Verkürzungen gekennzeichnet, wenn der »Schleiftrog« als Beispiel des autobiographischen Romans der70er Jahre in einen bloßen Gegensatz zum dokumentarischen Erzählen gestellt wird, insbesondere zu Enzensbergers Roman »Der kurze Sommer der Anarchie«: dieser sei der »Versuch, den Roman in eine Untergattung der sozialaktivistischen, objektiv verbindlichen Dokumentarliteratur zu transformieren«; im »Schleiftrog« aber verfüge eine »dominierende Subjektivität, die sich literarisch entäußert und über ihr heikles Verhältnis zur politischen Aktion reflektiert, souverän über die eingestreuten Dokumente als die Stellvertreter einer im Grund hinderlichen [...] Außenwelt«. 12 Verkannt ist damit nicht nur der gemeinsame Ansatz beider Romane, mit einer Lebensgeschichte Zeitgeschichte >von unten< zu schreiben; auch die unterschiedlichen Erzählverfahren der Texte sind in einer derart starren Opposition von agitatorischem Dokumentieren und literarischem Erinnern nicht mehr faßbar. Neumann versucht aber seine These von der »Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist der Autobiographie« gar an der Handlung von Kinders Roman zu verifizieren und legt deshalb eine positive Deutung des Schlusses vor, in der es über den Helden heißt: »Er arbeitet [... ] seine eigenen Begrenztheiten autobiographisch erzählend auf, befreit sich am Ende, wie immer auch realistisch gebrochen, zu einer neuen Freiheit des fabulierenden, >schönen< Schreibens. Für Bruno wird nicht gelten, was den Intellektuellen Enzensberger an dem Täter Durruti so faszinierte: daß er keinen schriftlichen Nachlaß hinterließ. Doch Brunos Werke werden politisch darin sein, daß sie die Emanzipationsforderungen einer Rebellion, die politisch allerdings unterlag, in ihrer ästhetisch-literarischen Form festhalten und aufbewahren bis zu einer anderen Zeit, die möglicherweise günstiger sein wird für deren Verwirklichung. Darin scheint Brunos Konzept dem zu gleichen, was sein Autor Hermann Kinder als den Leitgedanken des sogenannten >Poetischen Realismus< insbesondere am Beispiel Hermann Hettners herausgearbeitet hat«. 13 Fragwürdig ist an solcher Interpretation nicht nur, daß sie das theoretische und das poetische Werk des Autors miteinander kontaminiert und durch Spekulationen die Textgrenzen außer acht läßt. Sie vernachlässigt vor allem, daß die autobiographische Wende der antiautoritären Generation hier nicht einfach propagiert, sondern in der literarischen Struktur dieses Romans auf differenzierte Weise reflektiert wird. Die kritische Funktion des Textes deutet bereits sein Titel an: »Der Schleiftrog«. Zwar wird mit dem Untertitel »Ein Bildungsroman« noch dessen Thema abgerufen, die Entwicklung eines individuellen Charakters in der konfliktreichen Auseinandersetzung mit der Realität. Doch die zentrale Stellung des Helden ist rigide eingeschränkt, wo nicht mehr sein Name wie in der literarischen Tradition dem Roman den Titel gibt. 14 Dieser 11 Durzak, Der deutsche Roman der Gegenwart, S. 404f. Neumann, Die Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist der Autobiographie? S. 109 und S. 99. 13 Neumann, Die Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist der Autobiographie? S. 113. 14 Siehe hierzu Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 272. 12

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legt nach dem Scheitern der antiautoritären Revolte das Gewicht vielmehr auf die Bedingungen, welche den Aufbruch einer Generation aus dem Herrschaftsraum der 50er und 60er Jahre verhindert haben. »Schleiftrog« ist dem Motto des Romans zufolge eine regionale Bezeichnung für einen »Hemmschuh«, die Goethe in seinen Tagebüchern 1797 bei der Fahrt durch den Hegau notierte: »Sie nennen hier zu Lande einen Hemmschuh nicht ungeschickt einen Schleiftrog.«15 Als Lexem ist »Schleiftrog« im Hochdeutschen am Ende des 18. Jahrhunderts das Wort für »den mit Wasser gefüllten Trog, über und in welchem der Schleifstein hängt und umgedrehet wird, damit er immer angefeuchtet werde«,16 wird jedoch im Schwäbischen aufgrund einer Ähnlichkeit der äußeren Form als Synonym für einen »Hemmschuh« verwendet, für »eine nach der Felge des Rades eingerichtete kleine Rinne von Holz und Eisen, welche unter oder vor das Rad befestigt wird, so daß es auf derselben schleift«, um »den Umlauf desselben zu verhindern und dadurch ein langsames Fahren von einem Berge hinab zu bewirken«.17 Diese Bezeichnung erhält imModell eines negativen Bildungsromans ihre Bedeutung als eine poetische Rahmenmetapher, die jetzt auch für die Autobiographie eines antiautoritären Studenten die desillusionierende Erfahrung hervorhebt, daß der einzelne in seinem Entwicklungsprozeß am Fortschritt andauernd gehindert wird und »daß die kontinuierliche Abreibung, die Brechung allen individuellen Widerstands, die Bedingung des Lebens in dieser Gesellschaft ist«.18

7.2. Vergangenheit als Nachttraum oder: vom Zweifel am autobiographischen Erzählen Während das reflexive Potential der literarischen Fiktion auf dem Höhepunkt der Protestbewegung oftmals undifferenziert zugunsten der politischen Aktion abgewertet wurde, folgt der »Schleiftrog« wieder jener Bestimmung des Romans in Adornos ästhetischer Theorie, vor allem die Hindemisse für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse darzustellen.19 Am Beispiel eines einzelnen sind hier deshalb besonders die »Widerstände« (63/125/139/143/161/202) thematisiert, welche für die außerparlamentarische Opposition zum Hemmschuh des persönlichen und politischen Fortschritts wurden. Doch die Skepsis gegenüber aller Aufbruchsrhetorik gilt in diesem literarischen Modell nicht allein dem vergangenen Lebenslauf des Ich-Erzählers, sondern auch dem gegenwärtigen Prozeß des Erzählens: Durch die narrative Konstruktion des vorliegenden Textes wird der autobiographische Anspruch auf subjektive Authentizität der Irritation ausgesetzt Die Überzeugung der antiautoritären Generation, durch das Erzählen der

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Goethe, 17.9.1797, Tagebücher, Bd. 2, S. 142. Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 4, S. 177. Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache, Bd. 2, S. 617. - Siehe hierzu auch Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. IX, Sp. 607. Horkheimer/Adomo, Dialektik der Aufklärung, S. 124. - Siehe in diesem Zusammenhang Dittberner, Ein halbes Vergnügen. Siehe Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, S. 43.

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eigenen Lebensgeschichte das Scheitern der kollektiven Lebenspläne aufarbeiten zu können, ist hier in ihrer Zwiespältigkeit reflektiert. Dieser These scheint die auktoriale Grundstruktur des »Schleiftrogs« zu widersprechen. Schon der Beginn des Romans deutet ja einen wissenden Überblick des Erzählers an, von dem aus die Anlässe, sich der eigenen Lebensgeschichte zu erinnern, als unabänderliche Wiederkehr des Immergleichen vorgeführt werden: »Solche Abende lassen sich nicht vermeiden.« (5) - »Das sind die Abende, an denen meine Mutter erzählt. Aus ihrem Leben. Aus unserem Leben.« (6) Und wie der Ich-Erzähler diese bekannte Erzählsituation im Alltag offensichtlich demonstriert und kommentiert, so weiß er auch über die Vergangenheit Bescheid, wenn er etwa über den kranken Vater die Diagnose abgibt: »Da war er schon fast am Ende« (17). Der distanzierte Zugriff manifestiert sich weiterhin im Herstellen der autobiographischen Chronologie durch die Betonung von lebensgeschichtlichen Stationen wie Internat (59) und Studium (115). Schließlich läßt die Vergegenwärtigung der damaligen Sicht des Kindes und Jugendlichen durch personalperspektivische Elemente - zum Beispiel: »Lukatsch (?)« (124) - das epische Potential des auktorialen Blickpunkts ebenso erkennen wie eine Vielzahl von Titeln über einzelnen Erlebnisbildern (71-111) oder ganzen Kapiteln (139,167). Der Überblick des Erzählers konkretisiert sich besonders anschaulich im souveränen »Umgang mit dem dokumentarischen Zitatenmaterial«. 20 Wenn im »Schleiftrog« selbst die Montage von Zitaten als poetisches Verfahren reflektiert und mit der »Funktion« erklärt wird, in einer »Geschichte des modernen Bewußtseins, einer sich radikalisierenden Subjektivität und entschwindender Totalität«, die »Auffassungsweisen selber«, »Subjektivität an sich«, zum »Gegenstand« zu machen (124), ist damit eine Seite dieses Konstruktionsprinzips erfaßt. Weil die Dokumente hier aber - anders als bei Enzensberger - in den Bericht eines Ich-Erzählers einmontiert sind, werden die zitierten Erfahrungen von einzelnen Individuen als Kommentar und der dargestellte Lebenslauf des Helden als Handlung in einen intersubjektiven Zusammenhang gestellt, der das Moment der Objektivierung in sich birgt. Wo etwa Brunos Versuch, aus dem Scheitern seiner Lebenspläne »eine Geschichte [... ] zu machen« (203), mit einer Sentenz aus Goethes »Maximen und Reflexionen« kommentiert wird, 21 ist nicht nur die damalige Identifikation des Protagonisten mit dieser zwiespältigen Erzählstrategie erinnert, sondern aus dem heutigen Abstand zugleich als exemplarisch für den Künstler und Intellektuellen seit dem Beginn der bürgerlichen Gesellschaft gedeutet. Die Montage von Zitaten als explizites Verfahren der autobiographischen Reflexion ist schließlich von Erzähltechniken zu unterscheiden, durch welche sich die auktoriale Distanzierung von den Denk- und Verhaltensmustern der Vergangenheit allein in der impliziten narrativen Struktur materialisiert. So kann durch das Einfügen von Erinnerungen, die dem chronologischen Handlungsverlauf oder der damaligen Perspektive des Helden widersprechen, die eingeschränkte Sicht des erzählten Ichs korrigiert werden. Wenn etwa von Gertruds Erfahrungen im Betrieb erzählt wird, obwohl der selbstbezogene Protagonist an diesen überhaupt nicht interessiert ist, wird Brunos individualistische Sicht zugleich mit den politischen Erfahrungen seiner Frau konfrontiert und damit in die 20 21

Neumann, Die Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist der Autobiographie? S. 99f. Goethe, Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik, S. 119.

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Erzählkonstruktion gerade das aufgenommen, was in der Vergangenheit außerhalb der begrenzten Wahrnehmung geblieben ist. Weil dieses integrierte Kontrastverfahren der Selbstironie bei der Darstellung mehrerer Figuren Anwendung findet, konstituiert sich so eine reflexive Bedeutungsschicht des Textes, in der das damalige Handeln des erzählten Ichs von einem übergeordneten sozialen und historischen Blickpunkt aus perspektiviert ist. Und dennoch sind diese objektivierenden Elemente auktorialen Erzählens hier mit Konstruktionsprinzipien vermittelt, welche die personale Betroffenheit des Ich-Erzählers durch seinen vergangenen Lebenslauf auch noch für die Gegenwart anschaulich machen. Eine Subjektivierung des Erzählens ist erkennbar, wo nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Unfähigkeit eines Individuums thematisiert wird, seine Lebensgeschichte triftig wiederzugeben, und wo sich der souveräne Blick über das Leben auf die autobiographisch begrenzte Sicht eines einzelnen verkürzt, der seine eigene Geschichte nur gegen große Widerstände zu erzählen vermag. Schon durch die Erzählung des Erinnerungsanlasses im ersten Kapitel wird der Erzähler in seiner Ohnmacht und Hilflosigkeit vorgeführt, wenn er als handelnde Figur seine persönliche Sicht der Dinge gerade nicht als »Mündigkeitsbeweis« gegenüber der Mutter präsentieren kann. »Das Subjekt nimmt« am Anfang des Romans keineswegs »>Abschied von den ElternUnfähigkeit< des Protagonisten >zu trauernc Zu einer bewußten Auseinandersetzung mit der lebensgeschichtlichen Vergangenheit, mit der Diskrepanz von Lebensplan und Lebenslauf, ist der Ich-Erzähler als Vertreter der antiautoritären Generation hier gerade nicht imstande, wenn am Ende »solcher Abende« entweder »alle« so »traurig« oder so »betrunken« sind, »daß der Schnaps in den Adem die Trauer verdrängt« oder alle »in Erinnerung zu heulen anfangen« (5). Ebenso verdeutlicht die Zufälligkeit des besonderen Erinnerungsanlasses, der die alltägliche Erfahrung durchbricht, die eingeschränkte Bewußtheit der Perspektivfigur beim Erzählen der eigenen Lebensgeschichte. Die Autobiographie des Ich-Erzählers entsteht nur aufgrund einer Ausnahmesituation, in der weder die »Trauer« noch der »Schnaps« sein Erinnerungsvermögen trüben: »Ich bin aber nicht betrunken genug und werde meine Erinnerungen nicht los.« (12) Als »Kardinalsünde gegen die sachliche Reinheit«23 decken die bewußten Reflexionen des erzählten Erzählers darüber hinaus die Fiktionalität des Dargestellten auf, indem sie den scheinbaren Realismus des auktorialen Erzählens mit dem personalen Zweifel am eigenen Erinnern konfrontieren: »Bin ichs? Bin ichs nicht?« (12) fragt sich die Perspektivfigur und gesteht den selektiven Modus der Erinnerung ein: »Wie die Erinnerung die Zeiten schleift, den Tageskram der Wirklichkeit rausschmeißt« (20). Weil die Verfügbarkeit des Darzustellenden in keinem positivistischen Sinn gegeben ist, wird das Erzählen selbst im Kontext der 70er Jahre als Gratwanderung zwischen »Realismus« und »Innerlichkeit« reflektiert und damit zugleich das konstitutive Dilemma von literarischen Lebensgeschichten benannt, ein subjektives Modell von objektiver Realität zu sein: »Und wie erzählt man, was ist und was gewesen ist, ohne glauben zu machen, es sei wirklich 22 23

So aber Neumann, Die Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist der Autobiographie? S. 107. Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, S. 45.

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so gewesen?« (17) Solche Überlegungen durchbrechen die Illusion der bloßen Veigegenwärtigung von Vergangenem; sie nehmen Partei »gegen die Lüge der Darstellung, eigentlich gegen den Erzähler selbst« und gegen seinen Anspruch, »Wirkliches zu schaffen, dem doch keines seiner Worte entrinnen kann«.24 Lebens-Geschichte zu erzählen, dieses Vorhaben wird hier als eine retrospektive und interessengeleitete Konstruktion transparent gemacht; es bedeutet kein objektivistisches Aufzählen von Fakten mit dem auktorialen Gestus des >So war esob es so seiTraum-Werk< möglich, wozu der erzählte Erzähler im angetrunkenen und bewußten Zustand nur in Ansätzen fähig gewesen ist: eine Trauerarbeit, in der er sich noch einmal den eigenen Lebenslauf in allen Einzelheiten vor Augen führt und so das Scheitern seiner Lebenspläne reflektiert. Doch dieser Abschied vom Herrschaftsraum der Vergangenheit wird hier nicht mehr wie in der Erzählung von Peter Weiss als Akt der Selbstreflexion vorgeführt, sondern als das Resultat eines Traums ausgegeben. Damit begibt sich der Roman im folgenden der Möglichkeit, die erzählte Vergangenheit mit der Gegenwart des Erzählens zu konfrontieren. Bei Kinder findet nur der Erinnerungsanlaß am Anfang des Textes Gestaltung; das sich erinnernde und das erinnerte Ich sind dort, etwa in der Küchenszene (16f.) oder in einem Traum innerhalb des Traums (23-26), vorübergehend gar nicht zu unterscheiden. Die weitere Lebensgeschichte ist aber durch keine inneren Monologe der Perpektivfigur mehr unterbrochen, sondern folgt dem traditionellen chronologischen Schema autobiographischen Erzählens. Mit einem solchen Kunstgriff, durch den das Erinnern als ein reflexionsloses Träumen erscheint, sind indes die Schwierigkeiten der antiautoritären Generation veranschaulicht, gegen die Abwehrmechanismen des psychischen Apparats als eines inneren Herrschaftsraums bewußte Distanz zur Vergangenheit überhaupt herzustellen. Diese dauert fort, und der Aufbruch in den utopischen Erfahrungsraum mißlingt, wo die autobiographische Wende der Hauptfigur, ihr Rückblick auf den eigenen Lebenslauf, offensichtlich nicht an den Modus der bewußten Selbstreflexion zurückgebunden ist. Obwohl der gegenwärtige Erinnerungsprozeß in den Kapiteln zwei bis zehn nicht abgebildet wird, sind die Eingriffe des Ich-Erzählers in das vom Gedächtnis zur Verfügung freigegebene Material durchaus sichtbar. Während bei Peter Weiss die Einheit der Lebensgeschichte noch durch den kontinuierlichen Erlebnisstrom der sich erinnernden Perspektivfigur suggeriert wird, gibt in Kinders Roman ein »filmschnittartiger Sprachstil«, der in der Tat mit ästhetischen Verfahren Alexander Kluges vergleichbar ist,32 die Brüchigkeit der autobiographischen Erzählkonstruktion offen zu erkennen. Anders als Goethes Autobiographie »Dichtung und Wahrheit«, stellt der »Schleiftrog« gar nicht mehr den Versuch dar, die »Bruchstücke einer großen Konfession« (167) »vollständig zu machen«;33 zentrales ästhetisches Verfahren ist hier die Reihung von Erinnerungsfragmenten, die zwar von einem Ich-Erzähler organisiert, von ihm aber zu keinem in sich geschlossenen Ganzen mehr synthetisiert werden. Diese Beobachtung gilt nicht nur den vielen Zitaten, sondern vor allem den zahlreichen Erlebnisbildem, aus denen die einzelnen Kapitel zusammengesetzt sind. Weil »die Identität der Erfahrung, das in sich kontinuierliche und artikulierte Leben, das die Haltung des Erzählers einzig gestattet«, als »zerfallen« gilt,34 wird das Prinzip der Montage wie in Alexander Kluges »Lebensläufen« auf den Erzählerbericht selbst angewendet. Das autobiographische Erzählen ist hier in seiner Mikrostruktur immer wieder in einzelne ErinnerungsSzenen zerlegt, welche die damalige Betroffenheit der Hauptfigur mit personalperspektivischen Momenten veranschaulichen. Solche Verfahren der szenischen Darstellung erzeugen jedoch nicht die Illusion einer naturalistischen Vergegenwärtigung, da sie in kurzen Textabschnitten 32 33 34

Fischer, Schiller, Grass und Grüner Heinrich. Goethe, Dichtung und Wahrheit. Zweiter Theil, S. 110. Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, S. 42.

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eingesetzt sind, die durch keine vermittelnden und erklärenden Äußerungen des Erzählers zu einer kohärenten Einheit verbunden werden und so das konstruktive und künstliche Moment des Ganzen wie seiner einzelnen Teile deutlich machen. Selbst die Erlebnisbilder, welche mit Titeln versehen sind, erfüllen diese Funktion; denn auch hier sind die Überschriften wie schon bei Kluge und Enzensberger in ihrem Informationsgehalt meistens banal oder dem damaligen Bewußtsein der handelnden Figuren angeglichen. Den expliziten Bedeutungszusammenhang der einzelnen Erinnerungsfragmente aber entwickelt der Ich-Erzähler dadurch in keiner Weise, und das Noch-nicht-Verstandene fordert weiter die Anstrengung des Begriffs durch den Leser.

7.3. Keine Entwicklung - ein selbstkritisches Modell der antiautoritären Generation Kinders Roman stellt nicht nur den Versuch dar, mit der Lebensgeschichte eines einzelnen die Geschichte der antiautoritären Generation zu schreiben, sondern reflektiert zugleich ein derartiges Unternehmen durch die ästhetische Artikulation der Zweifel, die seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts gegen das literarische Erzählen bestehen. Wie die Zitate aus Adornos Essay über den »Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman« als Kommentare zur Erzählkonstruktion des »Schleiftrogs« im letzten Abschnitt gezeigt haben, findet hier eine Auseinandersetzung mit ästhetischen Verfahren der literarischen Moderne statt. Gleichwohl geht der Text über Adornos Reflexionen hinaus, weil dokumentarisches Material aus dem gesellschaftlichen Außenraum so umfangreich in den durch die »Traumarbeit« (21) illusionierten »Innenraum« aufgenommen ist, daß mit dem »antirealistischen Moment« der hermetischen Kunst als dem Schutz »vor der Widerlegung durch die objektive raumzeitliche Ordnung« offensichtlich gebrochen wird.35 Erzählt ist hier ja die Autobiographie eines Individuums zwischen 1945 und 1975, die schon deshalb »ein Stück bundesrepublikanischer Geschichtsschreibung« repräsentiert,36 weil die sozialen Handlungsbedingungen, unter denen das Leben der Hauptfigur abläuft, eine vielfache zeitgeschichtliche Referenz aufweisen und damit als exemplarisch für die erste Nachkriegsgeneration der »Friedenskinder« gelten können,37 welche die Protestbewegung am Ende der 60er Jahre hauptsächlich getragen hat. Während Enzensbergers Roman »Der kurze Sommer der Anarchie« eine proletarische Heldenlegende rekonstruiert und an Dumiti, dem »exemplarischen Einzelkämpfer«,38 die Schwierigkeiten eines antiautoritären Helden in Erinnerung ruft, erzählt der »Schleiftrog« die Lebensgeschichte eines durchschnittlichen Mitläufers, der trotz seines antiautoritären Engagements ein »bürgerlicher Einzelkämpfer« (202) geblieben ist. Anders als die Ich-Figur in der Erzählung »Abschied von den Eltern«, vermag Bruno »die Situation des Bürgers, der zum Revolutionär werden möchte und den die Gewichte alter Nonnen 35 36 37 3e

Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, S. 43f. Drews, Geboren 1944, resigniert 1977. Neumann, Die Friedenskinder erinnern sich. Enzensberger, Der kurze Sommer der Anarchie, S. 260.

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lähmen«,39 nicht zu überwinden. In Analogie zu Kluges Modellen vom autoritären Charakter konfrontiert Kinders Roman als ein sozialpsychologisches Modell vom antiautoritären Charakter die Gegenwart mit der Vergangenheit und stellt dabei keinen entscheiden Fortschritt fest. Werden in den »Lebensläufen« meist die 30er und 40er Jahre mit den 50er und den frühen 60er Jahren verglichen, so bildet im »Schleiftrog« eben dieser Zeitraum (Kapitel II-VII) den Hintergrund für den Zerfall der Protestbewegung am Beginn der 70er Jahre (Kapitel I, IX und X); der eigentliche Höhepunkt der Protestbewegung in der zweiten Hälfte der 60er Jahre aber ist weitgehend ausgespart und wird auf vier Seiten (Kapitel VIII) nur sehr komprimiert in Erinnerung gerufen.40 Wie in Kluges Erzählungen folgt der Sujetaufbau dieses Romans wieder Konzepten der Kritischen Theorie, in welchen sich psychoanalytische und gesellschaftstheoretische Fragestellungen verbinden und mit denen jetzt die unvermittelte Applikation historisch-materialistischer und anarchistischer Deutungsmuster in der heißen Phase des Protests reflektiert werden kann. Nach dem Scheitern der Revolte ist Kinders Roman aber auch als poetischer Text der ästhetischen Theorie Adornos verpflichtet und hier insbesondere dem literarischen »Muster der Negativität«,41 nach welchem die Aufgabe der Kunst nicht darin besteht, die »Vorstellung des Besseren« zu veranschaulichen, sondern die nicht-begriffliche »Sprache des Leidens« (151) zu sein.42 Während gegen ein solches poetologisches Konzept in Runges »Bottroper Protokollen« der Appell zur politischen Aktion und selbst in Enzensbergers Roman noch eine Didaktik der politischen Reflexion gesetzt wird, ist der »Schleiftrog« entgegen dem Schein seiner unmittelbaren Verständlichkeit von einer gewissen Ratlosigkeit geprägt. Denn diese Lebensgeschichte antwortet auf den Zerfall der Protestbewegung in der ersten Hälfte der 70er Jahre nicht wie Peter Schneiders Erzählung »Lenz« (1973) und Uwe Timms Roman »Heißer Sommer« (1974) mit der wohlmeinenden Literarisierung einer politischen Moral, sondern setzt solche idealisierenden Versuche einer differenzierten historischen Kritik aus. Obwohl der Höhepunkt der antiautoritären Revolte in Enzensbergers Text »Der kurze Sommer der Anarchie« schon 1972 zur unwiederbringlichen Vergangenheit erklärt ist, soll er in Timms Roman »Heißer Sommer« auch noch nach dem Scheitern der außerparlamentarischen Opposition die Kontinuität eines radikalen Kampfes gegen die bestehende Gesellschaft demonstrieren. Die Jahreszeitenmetaphorik ist dort nicht mehr negativ zur Destruktion des neoanarchistischen Handlungskonzepts eingesetzt, sondern leistet positiv die Erinnerung an die »Hitze« der vergangenen Jahre 1967-69 und zugleich an die regulative Idee einer besseren Zukunft, an »eine Welt, in der niemand gequält würde«, an »ein ruhiges, anhaltendes Glück wie in einem heißen Sommer, wenn man in einer tiefen Wiese liegt und über sich die Wolken ziehen sieht«. Weil das Individuum jenes Ziel »als Einzelkämpfer« aber nicht erreichen kann, empfiehlt dieser Roman den ehemals antiautoritären Intellektuellen als Strategie den »langen organisierten Weg« durch die Institutionen an der Seite der Arbeiter. In Timms Text verschafft schon das Erlebnis einer solidarischen Diskussion mit Betriebsarbeitem dem ehemals schwankenden Studenten 39

Weiss, Abschied von den Eltern, S. 119. Siehe hierzu auch Nonnenmacher, Die Leiden des jungen Bruno. 41 Kinder, Die kirchliche Schule, S. 50. 42 Adomo, Ästhetische Theorie, S. 5; siehe dort auch S. 35f. 40

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die Empfindung einer Ankunft im gesuchten Erfahrungsraum: »Wie leicht ist das, dachte Ullrich. Wie er so atemlos und glücklich redete, war ihm, als sei er nach einem langen Marsch ans Ziel gekommen, hier in dem Pausenraum, an diesem Tisch.« 43 Eine »Veränderung, die sich inhaltlich an den dargestellten Figuren zeigt, als Veränderung ihres Bewußtseins, ihrer Sensibilität und schließlich ihrer Praxis«,44 wird am Entwicklungsprozeß eines Individuums vorgeführt, das sich für eine Volksfront von Arbeitern und Intellektuellen unter der organisatorischen Leitung der DKP entscheidet und damit das Scheitern seines antiautoritären Protests überwindet. Wenn die Hauptfigur am Ende des Textes Hamburg mit dem Zug verläßt, um den langen Marsch durch die Institutionen anzutreten, also wieder in München zu studieren, Volksschullehrer zu werden und Arbeiterkinder zu unterrichten, suggeriert nicht nur die Jahreszeitenmetaphorik - »es riecht nach Frühling« - einen neuen politischen >Vormärzlinken Szene< gerät. Während in Büchners Erzählung die Unruhe des Helden durch das Fortdauern einer »entsetzlichen Leere« auch am Ende nur scheinbar überwunden ist: »so lebte er hin«,48 will Schneiders Lenz nach dem Erlemen einer >neuen Sensibilität in der Fremde ohne jede Einschränkung »dableiben«.49 Beispielhaft für die autobiographische Wende in den 70er Jahren und deutlicher noch als bei Timm stellt in Schneiders Erzählung die Rückkehr des einzelnen an seinen Ausgangspunkt das Ziel das. Beide Texte aber präsentieren den inneren Entwicklungsprozeß eines Individuums als das positive Modell für die Bewältigung der persönlichen und politischen Krisen nach dem Mißerfolg der antiautoritären Revolte und halten damit an der Idee vom Aufbruch der Protestbewegung auch noch in der Phase ihres Zerfalls in eine Vielzahl von Organisationen und Individuen fest. Während der Roman »Heißer Sommer« und die Erzählung »Lenz« durch die stoffliche Begrenzung der Fabel auf die späten 60er und frühen 70er Jahre die geschichtlichen Voraussetzungen der antiautoritären Revolte zugunsten einer kurzen Phase aussparen und diese zu einem Prozeß des politischen Mündigwerdens verklären, erklärt der »Schleiftrog« durch die narrative Konstruktion einer Lebensgeschichte den historischen Zusammenhang zwischen der Vor- und der Nachgeschichte des Protests.50 Das autobiographische Erzählen fungiert hier als genetisches Erzählen, indem es den zeitgeschichtlichen Versuch eines Aufbruchs und die Erfahrung des Scheitems aus einer sozialpsychologischen Perspektive durch die Kontinuität von Verhaltensmustem verständlich macht, deren historische Ursachen für die antiautoritäre Generation in den 50er und frühen 60er Jahren zu suchen sind. Weil Kinders Roman gerade keine positive Entwicklung darstellt, sondern darauf beharrt, daß noch kein entscheidender Fortschritt geschehen ist, legitimiert er durch das Modell eines negativen Entwicklungsromans weder die autoritäre Realität des sozialen Herrschaftsraums noch die antiautoritäre Illusion vom Aufbruch in einen utopischen Erfahrungsraum. Schon 1969 erläuterte Bern ward Vesper bei seiner Aibeit an dem Romanessay »Die Reise« den gleichen blinden Fleck der Protestbewegung. »Weil die kleinbürgerliche, studentische Linke sich ihre Niederlage nicht eingestehen will, verdrängt oder bekämpft sie alles, was auf ihre unveränderten charakterlichen Strukturen hinweist.« Diese »Spitzen der Eisberge« wollte Vesper durch das Schreiben seiner Lebensgeschichte aufspüren, die »nichts mit Kunst und Literatur zu tun« haben und doch einen komplexen »Aufbau« durch die Montage von drei »Erzählebenen« aufweisen, die »keine exemplarische Biographie« und doch auch kein »subjektivistischer Wort- und Farbrausch« sein sollte, sondern ein »antibürgerliches Lehrstück«.51 Die Vielzahl der aufgezeichneten Erfah-

"8 Büchner, Lenz.S. 101. 49 Schneider, Lenz, S. 90. so Siehe hierzu schon Neumann, Die Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist der Autobiographie? S. 109, aber auch Nonnenmacher, Die Leiden des jungen Bruno; Naumann, Seismograph einer Generation; Drews, Geboren 1944, resigniert 1977; LUdke, Die Maus und der Mann; Lützeler, Von der Intelligenz zur Arbeiterschaft, S. 129. 5i Vesper, Die Reise, S. 46, S. 36f., S. 606, S. 62, S. 611. - Zu den Texten Vespers und Kinders siehe auch Neumann, Die Wiedergeburt des Erzählens aus dem Geist der Autobiographie?

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rungsbruchstiicke konnte Vesper aber zu keinem kohärenten Text mehr vereinigen und schon gar nicht in einer »Ausgabe letzter Hand«.52 Kinders Roman veranschaulicht solche »unveränderten charakterlichen Strukturen« in einem poetischen Modell, das sich bewußt auf die literarische Tradition bezieht und so ein weiteres Potential historischer Reflexion mobilisiert. Denn die Absage an die Illusion von der spontanen Revolutionierung des Individuums steht auch dadurch in einem größeren geschichtlichen Zusammenhang, daß über direkte Zitate oder indirekte Anspielungen literarische Motive, Themen und Metaphern aus der Vergangenheit abgerufen sind, mit denen die besonderen Erfahrungen der Protestbewegung vor dem allgemeinen und historisch fortdauernden Herrschaftsraum der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden können. So stellt etwa der immer wieder betonte »Wille zum Selbstsein« (88) auch die aktualisierte Fassung des klassischen Motivs von der individuellen Selbstbildung dar, wie es im Modell des positiven Entwicklungsromans, etwa in Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, eine zentrale Funktion einnimmt. Dort kommentiert der Held: »Mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht«,53 und Kinders Protagonist erklärt: »Es muß vorangehen, das muß besser werden, ich muß besser werden« (137f.). Freilich läßt schon der Unterschied zwischen der souveränen Selbstdarstellung und dem angespannten Selbstappell erkennen, daß dieser Topos im »Schleiftrog« nicht mehr zur Verklärung eines Lebenslaufs, sondern allein zur Veranschaulichung eines Lebensplans eingesetzt wird, der in seinem Grundkonzept besonders an existentialistischen Denkmustem orientiert ist. Nicht nur in der Erzählung von Peter Weiss, auch hier prägt die Idee vom Aufbruch zu einem eigenen Leben durch Selbstwahl und Revolte das Handeln der Hauptfigur. Wiederholt ist in Verbindung mit dem Reise-Motiv und der Eisenbahnmetaphorik das Thema des individuellen Aufbruchs zitiert: »Tabula rasa und neuer Start.« (59) - »Fortschreiten. Aufrecht und unbeirrt. [...] Widerstände überwinden. [...] Sich in neuen Erfahrungen bilden. Jeden Morgen neu.« (63) - »Tritt fassen, Subjekt und Objekt versöhnen. Begierig werde ich sein, kundig, teilhaftig, mächtig und voll.« (113) Doch dieser bürgerliche Optimismus wird hier in seiner existentialistisch-individualistischen Version - anders als bei Peter Weiss - noch innerhalb des gleichen Bildbereichs als bloßer Eskapismus ironisch kritisiert. Dem euphorischen Aufbruch ins Internat folgt eine enttäuschende Ankunft, bei der sich keine neue »Gemeinschaft«, sondern die alte »Individualverhausung« (63) des Intellektuellen zeigt: »ich verberge mich hinter der >Zeit< und bleibe für mich« (69). Bei der Fahrt nach Hause faßt der Protagonist keinen »Tritt« auf dem »Boden der Realität«, sondern verliert den »Halt« und greift »ins Leere« (113). Durch die

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So lautet der zweite Untertitel des Textes seit der 16. Auflage 1979 und weicht damit gänzlich von der üblichen Definition dieses Terminus als der letzten vom Autor zu Lebzeiten betreuten oder gebilligten Ausgabe seiner Werke ab. Weil die »Reise« vom Autor zu Lebzeiten nie abgeschlossen und publiziert wurde, sondern ein unveröffentlichtes Fragment blieb, ist gegenüber der von Schröder und Behnke hergestellten Ausgabe, insbesondere gegenüber der vorgenommenen Trennung von Text (S. 7-592), »Noten« (S. 595f.), »Varianten« (S. 597-599) und »Materialien« (S. 627-703), große Skepsis angebracht. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. 4 . - 6 . Buch, S. 149.

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emphatischen Selbstappelle des einzelnen, der »bei sich anfangen« möchte, um »das Ich und die Welt« zu »versöhnen« und »dem Allgemeinen zum Glück« zu »verhelfen« (144), gelingt noch kein Abschied vom Herrschaftsraum der Vergangenheit, und auch der gute »Wille versetzt« nur scheinbar »Berge« (23/144). Als ein Miniaturbild dieser Erfahrung hat der Traum (23-26), mit dem das stringente Erzählen der Lebensgeschichte im zweiten Kapitel beginnt, nicht nur für den nachfolgenden Tageslauf des Jugendlichen, sondern auch für den ganzen weiteren Lebenslauf eine Signalftinktion. Hier gelingt es Bruno zunächst, sich über die irdischen Schwierigkeiten zu erheben. Wie schon bei Peter Weiss wird in Analogie zur zentralen romantischen Grundopposition von Himmel und Erde, von Poesie und Prosa das Streben nach Autonomie mit Bildern des Aufschwungs, des Fliegens und der Höhe dargestellt (23f.). In der unbewußten Phantasie vermag der Held aus eigener Kraft die Widerstände der Realität auf abstrakte Weise zu negieren. Übereinstimmend mit dem Modell des positiven Entwicklungsromans, nach dem sich die Wirklichkeit »nicht als vollkommen fremd, sinnlos oder feindlich zeigen« darf,54 erscheint die Natur als unberührtes Objekt der menschlichen Aneignung; unmittelbar gegeben ist aber auch die Identität des Subjekts, das, anders als in Annette von Droste-Hülshoffs Ballade »Der Knabe im Moor«,55 keine Angst mehr kennt: »Die Welt ist grün und frisch. Wiesen, Äcker, Büsche, Straßen erstrecken sich horizontlos und in klarer Ordnung unter mir, ich fliege über Schloß Hülshoff hinweg. Kein Moor zu sehen, der Knabe fliegt durch die kühle Luft, alles gelingt mir auf Anhieb« (23). Doch der Flug im Reich der »Ideale« (24) endet wie in der romantischen Tradition dadurch, daß sich ein abrupter »Wechsel von Begeisterung und Ernüchterung«, von »Aufschwung und Fall« einstellt und »die bekannte Heimat umher den Geist zu Boden drückt, ihn also gefangen hält«.56 Das existentialistische Modell von der Selbstwahl des Individuums, das durch den Entschluß zum Neuanfang mit den einschränkenden Bedingungen bricht, ist widerlegt, wenn die irdische Schwerkraft den Helden vom Himmel hinabzieht, eine »Notlandung« fällig wird und auf der Erde nur noch »Wut« und Angst, (Auto-)Aggression und Enttäuschung das weitere Handeln bestimmen (25). Auf individualistische und voluntaristische Weise kann die Grenze zwischen dem utopischen Erlebnisraum und dem sozialen Herrschaftsraum nicht überschritten werden; der Gegensatz zwischen dem abstrakten Ideal und der Realität bleibt trotz allen »Willens zum Selbstsein« (88) bestehen und wird schließlich gar wie die Gewalt, welche Bruno in der Schule als Strafe erleiden muß (25f.), als unabänderlich akzeptiert. Dieses zwiespältige Verhaltensmuster: der euphorische Versuch eines Aufbruchs und das resignative Hinnehmen des Scheiterns, fiihrt Kinders Roman als Grunderfahrung einer ganzen Generation vor, für welche sich die Spannung zwischen antiautoritären Bedürfnissen und autoritären Normen schon im vorpolitischen Raum von Familie, Schule und Universität auf vielfache Weise auswirkt.

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Jacobs, Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 272. Siehe hierzu Kraft, »Mein Indien liegt in RUschhaus«, S. 111-121. Hillmann, Bildlichkeit der deutschen Romantik, S. 64 und S. 77.

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7.4. Erziehung an der Wirklichkeit: Der Wille zum Aufbruch und das Scheitern in den Institutionen Nachdem die Utopie vom Reich der Freiheit durch keinen kurzen Sprung Realität geworden ist, thematisiert der »Schleiftrog« am Beispiel eines einzelnen die Vorgeschichte der antiautoritären Generation. In einem Text, für dessen metaphorische Struktur die romantischen Oppositionen von Himmel und Erde, Fliegen und Sinken, Poesie und Prosa grundlegend sind, wird die historische Unvereinbarkeit von Ideal und Wirklichkeit schon vor dem Höhepunkt des Protests an einem Lebenslauf veranschaulicht, in dem Aufbruch und Fortschritt auch während der 50er und frühen 60er Jahre nicht stattfinden: weil die Hindernisse im gesellschaftlichen Außen- und im psychischen Innenraum stärker sind als die antiautoritären Impulse. Die Bemühungen des Helden, seine Ideale in der Liebe, durch die Solidarität mit der eigenen Generation und durch die Veränderung der Gesellschaft mit der bestehenden Realität zu vermitteln, scheitern in den vorgegebenen Sozialisationsinstanzen. Den autoritären Normen in Familie, Schule und Universität vermag sich allerdings auch der Protagonist auf Dauer nicht zu entziehen; indem er diese trotz allen Aufbegehrens verinnerlicht und in seinem Verhalten reproduziert, trägt selbst er lange vor dem Pariser Mai aktiv dazu bei, daß »die Phantasie« eben nicht »an die Macht« gelangt (145). Für eine Erziehung nach 1945 hat Adorno die »Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei«, als Maxime aufgestellt und deshalb »Autonomie«, das heißt: »die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbesinnung, zumNicht-Mitmachen«, als »die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz« definiert.57 In Kinders Bildungsroman macht dagegen schon die erste Begegnung zwischen Vater und Sohn sichtbar, daß auch nach dem Ende des >Dritten Reichs< die Kontinuität der autoritären Tradition vorherrscht und eine Erziehung durch Angst und Schmerz weiterhin auf die Unterordnung des einzelnen zielt (7). Wo das pädagogische Realitätsprinzip der Nachkriegsfamilie unverändert »Zucht und Ordnung« heißt, wirkt das Mitleid der Eltern nur »in der Seele« (8), dem »einzigen noch nicht befleckten Garanten der bürgerlichen Ideale«;58 in der Wirklichkeit dominiert nach wie vor die brutale Brechung des kindlichen Eigenwillens. Der Vater Brunos stellt hierin aber keine Ausnahme dar, sondern steht exemplarisch für die vielen »heimgekehrten Väter«, für die »Erzieher mit Nachholbedarf an Autorität«, welche »in der Regel als Ordnungshüter, nicht aber als Partner ihrer Kinder, als Kontrolleure der kindlichen Sitten, nicht aber als Spielmeister und kreative Lenker der kindlichen Phantasie präsent waren«.59 Ebenso steht die Mutter mit ihrer Sorge um die >guten Manieren< (29f.) für eine in den deklassierten Mittelstands- und Flüchtlingsfamilien weit verbreitete »Sehnsucht nach der versunkenen Welt des Bürgertums«.60 In der Darstellung des Mittagessens ist deshalb die partnerschaftliche Familie, welche Schelsky in den 50er Jahren für dominierend hielt, »allenfalls als Ideologie« gegenwärtig.61 Die Schilderung des Vaters gibt die

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Adorno, Erziehung nach Auschwitz, S. 674 und S. 679. Marcuse, Über den affirmaüven Charakter der Kultur, S. 76. Schneider, Väter und Söhne, posthum, S. 33 und S. 43f. Der Spiegel, Heimweh nach den falschen Fünfzigern, S. 97. Neumann, »Als ob das Zeitgenössische leer wäre«, S. 86. Siehe hierzu auch Schelsky, Die skeptische Generation, S. 122.

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Diskrepanz zwischen dem Anspruch auf Gemeinschaft und einer Realität der Ungleichheit offen zu erkennen (41-43). Im Auftreten des Vaters wird so ein sozialpsychologischer Mechanismus anschaulich, dem keine individuellen, sondern zeitgeschichtlichen Ursachen zugrunde liegen. Denn »die Familie als Ersatz-Identität der als Staatsbürger gescheiterten und als Soldaten geschlagenen Väter und die Kinder als unfreiwillige Stabilisatoren ihres zerbrochenen Selbstweitgefiihls«,62 diese Konstellation prägte viele deutsche Nachkriegsfamilien, und sie hatte auch zur Folge, daß Väter die geringste Infragestellung durch ihre Kinder schon im Ansatz unterdrückten oder verdrängten. Das Kind gilt als »Dummkopf« und der Vater als allwissend (15); goldene Regeln in der sentenzhaften Form kategorischer Urteile kennzeichnen ein statisches Weltbild (12-15); die Verweigerung einer Antwort wird durch Schläge bestraft (52f.). Schreit der Sohn aber seine Kritik einmal heraus (53), reagiert jener abwehrend und hilflos: zunächst pastoral als Seelsorger durch Predigt (53-55) und Handauflegung (56f.),63 dann jovial als Skatbruder (57). Ein verständnisvolles Gespräch zwischen Vater und Sohn aber findet - wie schon in der Erzählung von Peter Weiss - nicht statt: »Ich schweige und wische meine schwitzigen Hände wütend an den Hosenbeinen ab.« (52) Weil die Eltern noch immer nach autoritären Verhaltensmustem erziehen, bleibt es nicht aus, daß diese von ihren Kindern verinnerlicht und reproduziert werden. Der Jargon, welcher unter den Brüdern beim Frühstück herrscht, zeigt einen alltäglichen Konkurrenzkampf, in dem es nur Feige oder Mutige, Schwache oder Starke, Schuldige oder Unschuldige, Wissende oder Unwissende, Mächtige oder Ohnmächtige gibt (28-30). Bei einem Umgang, der ganz auf die Herabsetzung des anderen zielt, verschwimmen die Grenzen zwischen den einzelnen Personen: die eindeutige Zuordnung der Figurenrede ist nur teilweise möglich. Zu dieser Hackordnung bilden die eingeblendeten Erinnerungen der Perspektivfigur an die älteren Brüder zwar ein gewisses Gegenmodell der Solidarität (29f., 31); doch in der >Gemeinschaft< aller Brüder setzt sich diese als eine kollektive Erfahrung nicht durch. Und auch als einzelner vermag der Held des Romans keine bewußte Gegenposition zu den autoritären Familienstrukturen zu beziehen. Der Vater wird nur verspottet, »wenn er nicht da ist« (28), und der Widerspruch gegen seine Entscheidungsgewalt wird nur gedacht: »Ach, der Vater hat da doch nichts zu sagen.« (41) Bricht aber einmal der antiautoritäre Protest gegen den Schein der Familienharmonie hervor, wird er sogleich bereut: »Ich traue mich nicht fort und sehe auf den Boden.« (53) Die Familie stellt der »Schleiftrog« als einen Herrschaftsraum vor, in dem auch nach 1945 nicht Vertrauen, Fürsorge und Liebe, sondern wie in der Erzählung von Peter Weiss Angst und Schmerz, Ohnmacht und Unterordnung dominieren. Weil sich der einzelne diesen leidvollen Sozialisationserfahrungen in Kindheit und Jugend nicht entziehen kann, erlaubt allein der >Abschied von den Eltem< eine Veränderung der Situation. Die eigene Familie ist für die Lebenspläne des Helden nur noch von negativer Bedeutung; sie steht im literarischen Raum ausschließlich für die irdischen Hindemisse: »Wie kommt man durch zwischen Vater und Mutter?« (17) Eine utopi-

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Schneider, Väter und Söhne, posthum, S. 36. Zum existentialistisehen Hintergrund der väterlichen Ermahnungen, insbesondere zum Existential der Angst, siehe etwa Heidegger, Sein und Zeit, S. 184-191. Zum Ritus der Handauflegung siehe etwa 1 Timotheus 4,14.

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sehe Gegenwelt zur Einschränkung durch die Familie und eine private Entgrenzung seiner Person verspricht sich der Jugendliche deshalb insbesondere von der Liebe. Schon im Nachttraum ist Karin wie »Albert Schweitzer, Dietrich Bonhoeffer und Kurt Tucholsky« dem Element »Luft« als dem Reich der »Ideale« zugeordnet (24); ebenso konkretisiert sich im Tagtraum mit dem »Schiffsbild« der »Wille zur Ausreise«,64 zur Abkehr von den prosaischen und beengten Verhältnissen hierzulande (43). Naiv glaubt der Held an die alle Widerstände überschreitende bürgerliche Idee von Liebe: »Und die Liebe fängt von vome an und schafft sich ihre eigene Welt, kennt keine Grenzen« (44). Auf die gleiche Weise wird die Beziehung zu Gertrud im Internat verklärt: »Gertrud, und die Welt ist anders geworden.« (100) Die Verhaltensmuster der bestehenden sozialen Realität aber sind es, welche sich in Brunos Umgang mit seinen Freundinnen durchsetzen und die ersehnte Offenheit im privaten Intimbereich verhindern oder massiv belasten. Übereinstimmend mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in den 50er Jahren, ist Karin an sozialem Status, Konsum und Unterhaltung interessiert (33, 44, 47, 58), Bruno repräsentiert dagegen den kritischen Intellektuellen, der den Wunsch nach Zärtlichkeit nur in einer vorbereiteten »Geschichte« (48) anzudeuten, auf die musikalische Antwort der Angebeteten, doch zu handeln, nur mit vielen Phantasien, nicht aber wirklich zu reagieren vermag (49f.). Die in der Familie eingeübte Unmündigkeit Brunos, seine Unfähigkeit, eigene Bedürfnisse klar zu artikulieren, wirkt sich ebenso in der Beziehung zu Gertrud aus. Auch dort flüchtet sich der Held selbstgerecht in die Einsamkeit: »Sie läßt mich einfach mit dem Rücken an der Wand stehen. Da gehe ich, drehe ihr den Rücken zu. Nur fort. Sie begreift mich nicht Sie hat keinen Sinn für das Unbedingte. Ich gehe.« (105) Nicht nur in der Liebe versucht der Held des vorliegenden Romans den hinderlichen Bedingungen seines Entwicklungsgangs zu entkommen; auch gegenüber den Genossen der eigenen Generation, mit denen er Schule und Internat als Ausbildungsabschnitte durchläuft, hegt er für sich hochfliegende Lebenspläne. So ist etwa die Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit ein erklärtes Ziel dieser Jugend (19f.). Und der Unterricht selbst gibt schon ein Beispiel für solch eine kritische Haltung (35f.), wenn ein Schüler dort die Rechtmäßigkeit von Adenauers Aufforderung zu einer privaten und gewaltsamen Form des Strafvollzugs offen bezweifelt.65 Mit dem Wechsel ins Internat will Bruno sogar die resignative und individualistische Selbstbeschränkung der Person durch ein »mit Droste-Schwermut und Camus-Existentialismus gespicktes westfälisches Knochenschinkenbewußtsein« (59f.) hinter sich lassen und in Solidarität mit den Gleichaltrigen den Aufbruch zum utopischen Erfahrungsraum vollziehen: »Erwachsen werden und die Zukunft an den Hörnem packen. Neue Kraft sammeln in der Gemeinschaft mit den Internatsgenossen. [... ] Die neue Generation geht ihren Weg. Fortschreiten. Aufrecht und unbeirrt.«(63) In der sozialen Realität aber sind die Chancen zur aktiven Gestaltung jener kollektiven Lebenspläne derart eingeschränkt, daß keine antiautoritäre Generation gemeinsam »die Zukunft an den Hörnem« packt, sondern daß sich der einzelne - so Hegel 64 65

Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 26. Zur Schändung der Synagoge in Köln am 24.12.1959 durch zwei jugendliche Mitglieder der nationalistischen Deutschen Reichspartei siehe: Der Spiegel, 6.1.1960, S. 19-23. Zur Reaktion Adenauers und zur öffentlichen Diskussion siehe Der Spiegel, 27.1.1960, S. 27.

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über den bürgerlichen Roman - durch »die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit« nur permanent »die Hörner abläuft«.66 Auf Integration in die bestehenden Verhältnisse zielt der Unterricht im altsprachlichen Gymnasium, wenn die Lehrer den Schillern dort vor allem die inneren, >rein menschlichem Werte vermitteln, welche für die Illusion einer »auferstandenen Kultur« nach 1945 charakteristisch sind.67 Wie in Kluges Erzählung »E. Schincke« reicht die Geltung diese >abendländischen< Normenhorizonts zwar von der »Quelle« der griechischen Antike bis zur jüngsten Gegenwart; die Wirkung jener »Kultur« ist aber auf solche »Kräfte des Herzens« und der »Seele«, des »ethischen Muts« und der »moralisch-geistigen Festigkeit« eingeschränkt, die in der Geschichte ohne große Bedeutung geblieben sind, wie etwa der gar nicht »entscheidende Augenblick« des »20. Juli 1944« gezeigt hat (34f.). Die Grenzen solcher Bildung manifestieren sich anschaulich, wo das durch Schillers Schauspiel »Wilhelm Teil« aufgeworfene Problem der Gewaltanwendung nicht an einem aktuellen Beispiel diskutiert werden darf (35f.); die Lektüre von Ciceros Abhandlung »De re publica« (36) weist die Beschäftigung des Intellektuellen mit der Politik ohnehin als ein notwendiges Übel aus, das allenfalls zur Wahrung persönlicher Vorteile von Nutzen sein kann.68 Während Kluges Erzählung »Ein Berufswechsel« dieses Defizit an Mündigkeit in der öffentlichen Erziehung aus der Perspektive eines unangepaßten Lehrers demonstriert, führt Kinders Roman die Realität der Ein- und Unterordnung aus der Sicht eines Schülers in einem Internat vor - in einer Institution, die deshalb als ein pädagogisches Modell der Anpassung an die gesellschaftliche Wirklichkeit gelten kann, weil hier die antiautoritären Impulse der Jugendlichen durch die autoritären Ansprüche der Erwachsenen von morgens bis abends in ein und demselben Lebensraum eingeschränkt werden. »Tageslauf« (71) und »primitivste Regeln des Anstands«, eine streng durchorganisierte Abfolge von mechanischen Tätigkeiten und ein dogmatischer Kodex von moralischen, ästhetischen und politischen Normen, begrenzen die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen: »Der Aufenthalt der Mädchen im Jungenheim, der Aufenthalt der Jungen im Mädchenheim, das paarweise Herumdrücken im Wald ist und bleibt verboten [...]. Lange Haare, die bis zum Hemdkragen reichen, sind einfach widerlich [...]. Im Radiozimmer liegen >Christ und Welt< und die FAZ aus, schmutzige und kommunistische Blätter können wir nicht dulden« (73f.). Wenn bei solchen starren Vorstellungen von Zucht und Ordnung schon geringe Abweichungen mit hohen Strafen belegt werden (81 f., 84f„ 86), die sogar nur auf ein Gerücht hin ausgesprochen werden können (85), ist dies durchaus typisch für das soziale Klima der Adenauer-Ära, für den Mangel an liberalen und radikaldemokratischen Traditionen. Daß die formierte Gesellschaft, das hieß damals: »der Kreis aller Menschen mit Herz, Charakter und einem natürlichen Sinn für Korrektheit«, die »Tore vor den Außenseitern schließt«, die sich nicht zu »benehmen« wissen,69 war zur Zeit des >kalten Krieges< nicht nur eine Drohung,

66 67 68 69

Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 2, S. 220. Adorno, Die auferstandene Kultur, S. 452. Siehe hierzu Cicero, Über den Staat, S.22f. So laut Spiegel (Heimweh nach den falschen Fünfzigern, S. 97) in dem 1956 erschienenen »Buch der Etikette« von Erica Pappritz. - Siehe in diesem Zusammenhang von Brünneck, Poliüsche Jusüz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland.

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die offen ausgesprochen werden konnte, sondern auf vielfältige Weise alltägliche Realität: »Unkraut muß ausgemerzt werden, sonst verpestet es den ganzen Garten.« Wenn sich dann als Reaktion auf die Aussonderung des einen die anderen fragen: »Wer wird der nächste sein?« (81) ist die Angst der Zöglinge (74) als das Motiv erkennbar, welches die Befolgung der rigiden Veihaltensvorschriften auf dem Weg zur Reifeprüfung garantiert. Die permanente Erfahrung individueller und kollektiver Ohnmacht hat zur Folge, daß die Solidarität, welche sich Bruno beim Aufbruch ins Internat von seinen Genossen erträumt hat (63), in den Lebensplänen dieser antiautoritären Generation nur noch in der abstrakten Abgrenzung zu den bestehenden Verhältnissen realisiert wird. So formuliert man zwar im vertrauten Gespräch pointierte Kritik am »Wohlfahrts- und Kriegsführungsstaat« einer »eindimensionalen Gesellschaft«,70 deren einheitliches Normensystem eine >innere Führung< der Bevölkerung gewährleistet (98f.). Doch die Alternative ist nur negativ als bloße Verneinung entworfen und von der Illusion geprägt, durch die gemeinsame Distanz zur herrschenden Weltanschauung eine besondere Generation zu bilden: »Ohne uns. Wir bauen da nicht mit. Wir halten Abstand, bleiben skeptisch, bleiben wahr und ganz bei uns. Daß wir so entlassen sind aus den alten Bindungen, Familie, Kirche, Nation, das macht uns zur Generation. Die skeptische Generation.« (99) Insbesondere die Übernahme dieser Bezeichnung zur Selbstcharakterisierung zeigt jedoch die Abhängigkeit der »neuen Generation« (63) von der vorhergehenden auf, bezieht sich der Titel von Schelskys 1957 erstmals veröffentlichter Untersuchung doch auf die erste Nachkriegsjugend, deren zentrale Erfahrung, der Zusammenbruch des Faschismus, zwar zu einer grundsätzlichen Skepsis gegen jede »politische Glaubensbereitschaft« geführt hatte, aber auch zu einer bruchlosen Integration in das Bestehende: »Was sich auch ereignen mag, diese Generation wird nie revolutionär, in flammender Leidenschaft auf die Dinge reagieren. Sie trägt kein Bedürfnis in sich, elitäre Gemeinschaften zu stiften oder Ordnungsprinzipien zu verwirklichen. Sie wird alles Kollektive ablehnen, ohne daraus ein Gegenprogramm zu machen.«71 Wenn sich im »Schleiftrog« Bruno und Klaus als Vertreter der antiautoritären Generation »aus den alten Bindungen« entlassen wähnen, ihre kollektiven Lebenspläne aber doch nur im Rückgriff auf das Deutungsmuster der »skeptischen Generation« (99) zu formulieren imstande sind, dann ist hier wieder eine Kontinuität zwischen dem Neuen und dem Alten erkennbar: Das neue »Bedürfnis« der antiautoritären Jugend nach »elitären Gemeinschaften« bleibt durch die alte »>OhneunsSpiegel-Affäre< (82) und durch die »Notstandsgesetze« (84), die >Kanzlerdemokratie< Adenauers (35f.), die Wirtschafts- und 215

Kulturpolitik Erhards (106,123), aber auch der »Pragmatismus« der Sozialdemokraten (103): all diese gesellschaftlichen Strukturen erfahren durch den antiautoritären >Helden< vor seinem Eintritt in die Partei ihre Kritik. Parallel zum Studium will er jetzt deshalb in der SPD zur Veränderung der Verhältnisse beitragen, doch weder der Zustand dieser politischen Organisation (129f„ 134-138) noch die Ausbildungsbedingungen der Universität gestatten einen entscheidenden Fortschritt Der erste Tag des Studiums soll den ungestümen Aufbruch in die Wissenschaft bringen: »Es ging los« (118), heißt es erwartungsvoll, und Bruno will in seinen Vorsätzen alle »hinter« sich »lassen« (120), »vorwärts kommen« (122) und sich »durch den Berg der Wissenschaft graben, gleich, sofort, jetzt« (125). Doch einen kritischen Zugang zur Germanistik, einen »Zugriff« (124), in dem politische, historische und subjektive Interessen aufgehoben sind, vermittelt ihm nur ein einziger der Professoren; alle anderen verkörpern die Tradition der Ordinarienuniversität, wenn sie vor einem »fast leeren Hörsaal« sich in die »Kultgemeinschaften« der alten Germanen vertiefen (119), wie in einem »Theater« hinter einem »Podiumsvorhang« hervortreten und »eilig« (120) oder mit »ironisch gemeintem Gesicht« (122) ihre geistesgeschichtlichen Vorlesungen präsentieren.74 Aber auch die Kommilitonen werden vom Protagonisten als »Konkurrenten« erlebt, die ihm vor Augen führen, daß er noch immer »erst am Start« (120) ist. Seine Vorsätze helfen wenig: die Unkenntnis der Institution, die physischen und psychischen Grenzen der intellektuellen Arbeitskraft und die Erfahrung des Unwissens im ständigen Vergleich mit den anderen Studenten fuhren zur Überforderung und schließlich zur Wende, zur resignativen Flucht (125-128). Trotz dieser Frustration am Beginn des Studiums deutet sich im Willen zum persönlichen Erfolg bereits hier ein Verhaltensmuster an, das im weiteren Lebenslauf den Vorrang über der Bereitschaft zur politischen Veränderung erhält. Das Konzept der Selbstbildung wird schnell auf das Einzelinteresse an der beruflichen Qualifikation reduziert, und statt des kollektiven Aufbruchs in Universität und Gesellschaft steht bald auf dem Lebensplan der individuelle Aufstieg obenan: »Zugegeben: Die SPD muß endlich an die Regierung; klar: Schmücker und Heck, die mußten weg; natürlich muß man auch was tun gegen diese realitätsfernen und selbstbezogenen Universitäten; [...] aber: das hängt doch nicht von mir ab, das machen doch alles unsere Juristen und Wirtschaftler, und zum Briefeaustragen bin ich mir zu schade. Man muß Prioritäten setzen: Ich werde erst einmal ein guter Germanist.« (132) Wenn der Held des »Schleiftrogs« trotz seiner antiautoritären Kritik am Leistungsprinzip und an einer entpolitisierten Gesellschaft (98f.) eine berufliche Karriere anstrebt und sich in der SPD organisiert, verdeutlicht dies, daß die Hauptfigur des Romans keinen der revolutionär gesinnten Aktivisten in der Protestbewegung repräsentiert. Bruno ist einer der vielen Mitläufer, die vor ihrer Begeisterung für den kurzen Sprung ins Reich der Freiheit zunächst einer langfristigen Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen durch eine Reformpartei den Vorrang einräumen (siehe weiter 139f., 165, 168, 187f.), über ein solches Engagement allerdings die ständige Sicherung ihres persönlichen Lebensunterhalts durch eine akademische Berufstätigkeit stellen. Ein zentraler Punkt für diese Unterordnung der Politik ist allerdings auch der ernüchternde Zustand der etablierten Oppositionspartei. Für den Sozialdemokratischen Hochschulbund gibt die Partei die 74

Zum historischen Kontext siehe Provokationen, hg. von Miermeister/Staadt, S. 4 1 - 6 7 .

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Linie vor, auf welcher der gemächliche Fortschritt erfolgt: »Niemand kann alles auf einmal erreichen, und an der Bindung an die SPD kann man nicht rütteln, schon aus finanziellen Gründen nicht.« (129f.) Und beim Zusammentreffen mit dem SPD-Ortsverein dominiert eine »Gemütlichkeit« (134), die sich in »Sauferei« und »Nichtigkeiten«, in »Verlogenheit und Geilheit« von der allgemeinen »Bürgerlichkeit« (136f.) auf keine Weise unterscheidet; zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung um das Godesberger Programm (135), welches ja unter anderem zum Ausschluß des SDS und damit zur Entstehung der außerparlamentarischen Bewegung beigetragen hat, kommt es nicht. Der feuchtfröhlichen Biertischatmosphäre, mit welcher die Verbürgerlichung einer sich als Opposition verstehenden Partei anschaulich demonstriert ist, vermag sich aber selbst der Held erst spät zu entziehen, und so endet auch dieser Aufbruch mit dem Eingeständnis eines »Rückfalls« (138), der exemplarisch ist für die »Enttäuschung« (129) über das politische Engagement vor dem Höhepunkt des antiautoritären Protests: »Waren alle Hoffhungen perdu? Mußte es dabei bleiben: Das Ich hier und die Gesellschaft da?« (140)

7.5. Die Wende nach innen oder: Literatur als Utopie? Auf vielfältige Weise scheitert der antiautoritäre Protagonist dieses negativen Entwicklungsromans an den bestehenden Verhältnissen. Zwischen seinen bewußten Lebensplänen, den vorgegebenen Bedingungen seines Lebenslaufs und unbewußt wirksamen Veihaltensmustem offenbart sich eine Diskrepanz, die auf absehbare Zeit keine Vermittlung und damit keine lebensgeschichtliche Identität erwarten läßt. Seinen Bildungsgang erfährt der Held als den Prozeß einer permanenten Desillusionierung, die deutlich macht, daß der spontane Aufbruch in den utopischen Erlebnisraum nicht möglich ist. An dieser Idee hält Bruno aber dennoch fest und sucht deren Realität deshalb in poetischen Enklaven jenseits des gesellschaftlichen Herrschaftsraums: durch den Aufbruch in den Außenraum der Natur und durch die Wende in den Innenraum der Seele ,75 Weil die soziale Wirklichkeit nur noch als eine von autoritären Normen eingeschränkte Welt erscheint, sieht sich die Hauptfigur in Übereinstimmung mit der romantischen Tradition immer wieder(51,75,78f.,87f.,97f„ 107f„ 115,128f.) zum befreienden Wandern in die Natur gedrängt: »Wenn ich nur kann, ziehe ich meine festen Schuhe an und laufe weg. Schreite durchs Gebirg. Sich verlieren in Wäldern, in Tälern mit forellenreichen Bächen, Wüsteneien entdecken, Grabsteine aus dem 30jährigen Krieg in blumensattem Gras. Natur! [... ] Hier kann ich mich verlaufen zwischen Schubert, Eichendorff und mir. Sich in einer Lichtung auf einen moosigen Baumstumpf setzen, die Seele ausspannen und dichten« (72). Weil der Aufbruch in die erste, aber nicht unvermittelte Natur (49f.) jedoch keine dauernde Aufhebung der Entfremdung zwischen dem einzelnen und der Außenwelt gewährleisten kann, ist die »Erhebung der Innerlichkeit zu einer völlig selbständigen Welt« die Folge und damit - wie in der »Desillusionsromantik« des 19. Jahrhunderts 75

Siehe hierzu Ritter: Landschaft, S. 142, sowie Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 134. - Zur romantischen Tradition der Stimmungsprojektion siehe Hillmann, Bildlichkeit der deutschen Romantik, S. 269-276.

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der völlige »Verzicht auf jedwede Gestaltung der äußeren Welt«. 76 Diese Preisgabe sozialer Selbstverwirklichung wird im »Schleiftrog« mit jener Bedeutungsschicht veranschaulicht, in der die rcsignativen Aspekte des »existentialistischen Syndroms« zum Ausdruck kommen. 77 Als Pendant des »Willens zum Selbstsein« (88) durch individuellen Aufbruch und Revolte prägt ja zugleich die Ideologie von der notwendigen Vergeblichkeit aller Bemühungen Brunos Lebensauffassung. Die Bestimmung der »menschlichen Wirklichkeit« als »Scheitern«, 78 der »Verzicht auf Hoffnung« in einem »Leben«, welches »einzig das Gesicht des Absurden hat« 79 und als »Sein zum Tode« nur das »Versagen des Besorgens und der Fürsorge« 80 offenbart: diese existentialistischen Denkmuster sind auch für einen >antiautoritären< Helden gültig, der sich mehr und mehr »Zusammenbräche« und »Rückfälle« (140f.) eingestehen muß. Heideggers Vorstellung vom »existentialen >SolipsismusBilder der sozialen, neurotischen und wahnhaften Fesselung, der Feindschaft, des Versagens, des Unglücks und des Todesanderes< Privatverhalten im Konsum, in der Mode und in den Umgangsformen die Integration der antiautoritären Generation in das herrschende System der Bedürfnisse nicht aufhebt (170f.). Dieser Reduktion von revolutionären Zielen entspricht es, daß der dialektische Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft hier einseitig negiert wird zugunsten einer utopistischen Selbstveränderung, zugunsten einer >VersittlichungFührungsschicht< in einer hierarchisch organisierten Gesellschaft ist, manifestiert sich, wenn solche Absichtserklärungen mit Prognosen konkretisiert werden, in denen die Realität des individuellen Aufstiegs über die Idee eines kollektiven Aufbruchs dominiert: »Wir werden als Rechtsanwälte nicht nur die lukrativen Aufträge übernehmen. Wir werden als Ärzte keinen Unterschied machen zwischen Kassen- und Privatpatienten. [.. .1 Wir werden unsere Titel nie gebrauchen. [...] Wir werden nicht als Mercedes-Fahrer dem Käfer die Vorfahrt nehmen. Wir nicht. Wir müssen es besser 103

Siehe hierzu etwa Münster, Der Kampf bei LIP.

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machen.« (171) Der letzte Satz dieses Bekenntnisses wird zudem vom gleichen zwanghaften Mechanismus der Selbstbeschwörung geprägt wie schon zuvor der wiederholte Selbstappell des isolierten einzelnen: »Ich muß besser werden« (138). Der Unterschied dazu besteht jetzt allein in der kollektiven Selbsttäuschung: Eine zentrale Funktion der Gruppe ist es, durch die gemeinsame Betonung der >guten< politischen Absichten dem einzelnen die Erkenntnis der Ohnmacht zu ersparen und den Schein aufrechtzuerhalten, daß es im gesellschaftlichen Herrschaftsraum Enklaven der Unmittelbarkeit gebe und daß jeder Schritt auf dem >langen Marsch< immer schon die Ankunft in einem utopischen Erlebnisraum bedeute. Wenn schließlich der Ansprechpartner für die Verwirklichung jenes Programms nur die eigene Ehefrau ist: »Gertrud, wir wollen zeigen, daß wir den Mut und die Kraft haben für das Neue« (172), wird an der Privatisierung solcher Lebenspläne in aller Schärfe erkennbar, wie eingeschränkt die Handlungsmöglichkeiten des Helden trotz aller beschönigenden Rhetorik geblieben sind. Die weitere Entwicklung des Helden entlarvt die Idee vom Fortschritt der antiautoritären Generation als eine kollektive Illusion. Die Vorstellung vom Aufbruch in den utopischen Erfahrungsraum wird allmählich destruiert, wo das langsame Wiederauftauchen des alten Lebensgefühls in der ersten Hälfte der 70er Jahre anzeigt, daß der Abschied aus dem historischen Herrschaftsraum nicht gelungen ist. Gegenüber Gertruds politischen Aktivitäten in der Gewerkschaft treten zunehmend Gleichgültigkeit und Ablehnung hervor, das eigene unsichere und halbherzige Engagement an der Universität (181f.), in der Gewerkschaft und in der Partei (187f.) führt letztlich wieder zur alten Ohne-mich-Haltung (188,195) der »skeptischen Generation« (170). Auch in der Beziehung zu Gertrud löst sich die Empfindung unbeschwerter Zweisamkeit (172) Schritt für Schritt in einem Prozeß gegenseitiger Entfremdung auf, der von Egoismus (179f., 188, 195) und verdinglichter Sexualität (194), Eifersucht und Aggression (196f.) geprägt ist. Der Wille zur wissenschaftlichen Ausbildung bleibt auch nach dem Höhepunkt der Protestbewegung das Interesse eines Helden, der ganz »alleine sein« und »nichts als« an der Dissertation »arbeiten« will, an »dem einzigen, wodurch« sein »Platz in der Welt beschrieben wäre« (195f.). Mit dieser Beschränkung lassen sich die vitalen Bedürfnisse des Protagonisten jedoch nicht erfüllen, und so versucht er auf vielfältige Weise vor den negativen Erfahrungen in Politik, Ehe und Wissenschaft zu flüchten: Wandern (194) und Autofahren (199), Saubermachen (200) und Selbstbefriedigung (194,202), Beobachten und Nichtstun (194,201) sollen im Alltag den Schein von Fortschritt, klaren Verhältnissen, Erotik und Gelassenheit aufrechterhalten. Weil aber das eigene Leiden auch in der Eskalation aller Schwierigkeiten als »Selbstgenuß« (149) erlebt wird - »mein Schmerz ist größer als meine Lust« (201) - , gibt sich die Hauptfigur wieder auf die alte Weise der Resignation hin und verleiht einem melancholischen Lebensgefühl Ausdruck, das um die Mitte der 70er Jahre paradigmatisch ist für die >Tendenzwende< einer ehemals antiautoritären Generation und das doch nur die Aktualisierung einer zuvor verdrängten Gefuhlsvergangenheit darstellt.104 So nimmt auch Kinders Held Abschied von den kurzlebigen Illusionen wie von den uneingelösten Zielen des antiautoritären Protests und zieht unter die Integration des Außenseiters einen Schlußstrich, wenn er sich zur Kontinuität seiner Charakterstruktur als einer berechenbaren Größe bekennt: »Meine Träume sind nicht gut. 104

Siehe hierzu besonders Schneider, Väter und Söhne, posthum, S. 58f.

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Mein Mut ist nicht groß. Es wird sich nichts ändern. Bullen sind wir geblieben, bürgerliche Einzelkämpfer. Wir sind ein bißchen verzweifelt, ein bißchen ironisch und hängen an uns. Wir füihlen uns wohl als Hypochonder. Wir haben nicht einmal unsere Gefühle geändert. Wir werden dreißig, nehmen eine Stellung ein, man braucht uns, man kann sich auf uns verlassen, es ist unnötig, uns Berufsverbot zu geben.« (202f.) Wo alle Lebenspläne gescheitert sind, ist schließlich für das vereinzelte Individuum auch das auf dem Höhepunkt der Protestbewegung vehement abgelehnte »Schreiben« (160) und »Dichten« (192) wieder aktuell. Während durch den Versuch eines solidarischen Aufbruchs am Ende der 60er Jahre nicht nur »der bürgerliche Bildungsprozeß, der für den Jugendlichen die einsame Lektüre des gedmckten Wortes als Weg zur Individuierung gewiesen hat, in den Hintergrund« trat,105 sondern gar die Aufhebung der Literatur in der politischen Aktion proklamiert wurde, gewinnt nach dem Mißerfolg der Revolte in der ehemals antiautoritären Generation der therapeutische »Gedanke« zunehmend an Bedeutung, »daß es aus der Unwirklichkeit der siebziger Jahre nur einen Ausweg« gebe, »nämlich den in das Schreiben; daß es aber, um sich daran machen zu können, einer Katastrophe« bedürfe, »eines Traumas, das den Schleier zerreißt, der die Wirklichkeit verhüllt«.106 In diesem Sinn erklärt auch Bruno, nachdem ihm die Politik gleichgültig geworden ist, die wissenschaftliche Arbeit stagniert und die Ehe in einer tiefen Krise steckt: »Es ist aus. Ich kann nur noch versuchen, eine Geschichte daraus zu machen.« (203) Doch Kinders Roman steht nicht einfach für einen der vielen Texte jener autobiographischen WendeTendenzwende< um die Mitte der 70er Jahre ignoriert, gibt Bruno dies ebensowenig zu denken wie der Anblick seiner körperlichen Verfassung im Spiegel (212f.). Daß er in den Außenraum der Natur aufbricht und sich damit seiner persönlichen und gesellschaftlichen Situation nicht stellt, nachdem die egozentrische Flucht in die autobiographische Fiktion schon als Selbsttäuschung entlarvt ist, veranschaulicht noch einmal die Schwierigkeiten einer Generation, sich die eigene Lage nach dem Scheitern der Hoffnungen überhaupt bewußt zu machen. Am Ende des Romans läuft der Protagonist von Emmendingen durch den Schwarzwald davon (213f.), gelangt aber weder zum Rheinfall (3, 203), noch nach Konstanz am Bodensee, wo sich der Held von Brunos zweiter Erzählung dem Kältetod hingibt (210), sondern verwirrt sich orientierungslos im Hegau: Die Bewegung »im Kreis« (214), eine Metapher für sinnlos gewordene Lebensprozesse, zeigt erneut, daß der romantizistische Rückzug vor der sozialen Wirklichkeit - sei es in eine innere Freiheit, sei es in die äußere Natur - notwendigerweise mißlingt. Während Peter Schneiders Eizählung »Lenz« damit endet, daß der Held in der >linken Szene< bleiben will, und Uwe Timms Roman »Heißer Sommer« mit der Eisenbahnfahrt am Schluß den zielgerichteten Aufbruch zu den Parteigenossen entwirft, demonstriert das entsprechende Strukturelement des »Schleiftrogs«, daß es für das ehemals antiautoritäre Individuum nach dem 107

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Siehe Mahler, Lieder eines fahrenden Gesellen; Goethe, Schäfers Klagelied, Werke, Bd. I, S. 85; Heine, Anfangs wollt ich fast verzagen, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. I, S. 645; Roth, Briefe, S. 455, S. 456, S. 457, S. 460, S. 462, S. 463, S. 467, S. 468, S. 476, S. 478; Goethe, Die Leiden des jungen Weither, S. 190; Koeppen, Das Treibhaus, S. 422. - Zur literarischen Tradition siehe weiter Hermand, Der »neuromantische« Seelenvagabund. Zu romantizistischen Tendenzen in der Literatur der 70er Jahre siehe auch Liidke, Trübsal bläst »Des Knaben Wunderhom«. Siehe Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 331 f.

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Zerfall der Protestbewegung im gesellschaftlichen Herrschaftsraum der 70er Jahre keinen Grund gibt, im Vertrauen auf einen >neue Sensibilität < zuversichtlich dazubleiben oder sich einen >weiteren< Aufbruch von einer neuen politischen Organisation zu erhoffen. Zwar manifestiert Brunos Flucht vor den bestehenden Verhältnissen die unverändert wirksame Sehnsucht nach einem spontanen Aufbruch. Wie das endlose Im-Kreis-Laufen aber verdeutlicht, folgt auf den scheinbaren Ausweg, den sich der einzelne nur in entfremdeter Weise zu suchen vermag, keine Ankunft in einem utopischen Erlebnisraum. Solche Perspektivlosigkeit wird allerdings nicht nur dadurch reflektiert, daß die Wende zur Phantasie und zur Natur als die Wiederholung eines eingeschliffenen, aber erfolglosen Fluchtverhaltens durchschaubar ist, sondern auch durch eine Erzählkonstruktion, die den Ereignissen am Ende des Textes als dem einen Teil des Rahmens die Begebenheiten des Anfangs als seinem anderen Teil gegenüberstellt. Schon der surreale, empirisch kaum mögliche Marathonlauf am Schluß verweist als ein phantastisches Strukturmoment auf das erste Kapitel des Romans zurück: auf den Traum, der das stringente Erzählen der ganzen Lebensgeschichte erst ermöglicht (21 f.) und mit dem diese dann ja auch beginnt (23-26). Das Verhalten des Protagonisten beim Besuch der Mutter vor dem Traum muß deshalb als das Ende der Fabel verstanden werden, welches trotz der Stellung am Anfang des Textes Ereignisse präsentiert, die denen des zehnten Kapitels zeitlich nachgeordnet sind. Zwar ist das Übergangsgeschehen zwischen der erzählten Vergangenheit und dem gegenwärtigen Erinnerungsanlaß von der autobiographischen Darstellung ausgespart, und das unklare Verhältnis der beiden Zeitebenen wird zudem noch durch den Gegensatz von Traum und Wirklichkeit überlagert. Dennoch läßt sich deutlich ein Unterschied zwischen dem erzählten Ich am Ende der Lebensgeschichte und dem erzählten Erzähler an ihrem Beginn erkennen. Während im letzten Kapitel alle Hoffnungen der Hauptfigur gegenüber Liebe, Wissenschaft und Politik fundamental enttäuscht sind, ist die Katastrophe im ersten Kapitel wieder zurückgenommen, wo in diesen drei Bereichen Kontinuitäten sichtbar werden: Brunos und Gertruds gemeinsamer Besuch bei der Mutter zeigt kein Ende der Beziehung (11,17,21); die wissenschaftliche Beschäftigung mit der »Theorie des modernen Erzählens« reicht bis in die Gegenwart (15); der politische Anspruch auf Weltverbesserung besteht noch immer, wie das Zitat von Marx' elfter These zu Feuerbach signalisiert (16). Nun manifestiert sich auch eine neue Einstellung zum Verfassen von Literatur, das jetzt weder als »Leben« (88/141) schlechthin verabsolutiert, noch pauschal als bloßes »Flüchten« (192) abgelehnt wird. Die Veränderung der Gesellschaft schließt es nicht mehr aus, sondern erfordert es gar, daß sich »die Subjekte« - so Bruno in Anlehnung an Goethes Diktum über den Roman109 - das Recht »ausbitten, die Welt nach ihrer Weise behandeln zu können« (16). Indem die Hauptfigur sowohl in der Kunst als auch im Alltag persönliche Selbstreflexion und politisches Engagement nicht mehr gegeneinander ausspielt, wie dies um 1975 nicht nur die etablierte (22), sondern auch eine >materialistische< Literaturkritik (15) tut,110 deutet sich im ersten Kapitel des »Schleiftrogs« jene Tendenz zum ausgleichenden Schluß an, die in der literarischen Tradition das Modell des positiven Entwicklungsro109

Siehe Goethe, Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik, S. 122. no Zur zeitgenössischen Diskussion siehe etwa Reich-Ranicki, Rückkehr zur schönen Literatur, sowie Piwitt, Anstelle eines Vorworts, S. 17 (dort auch das Zitat von 15).

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mans kennzeichnet: »Das Erziehungsmäßige, das dieser Form doch bleibt und das sie vom Desillusionsroman scharf unterscheidet, ist, daß das schließliche Ankommen des Helden in eine resignierte Einsamkeit nicht einen völligen Zusammenbruch oder ein Beschmutztwerden aller Ideale bedeutet, sondern die Einsicht in die Diskrepanz zwischen Innerlichkeit und Welt, eine handelnde Verwirklichung der Einsicht in diese Dualität«.111 Im Vergleich mit früheren Verhaltensmustem zeigt sich am Beginn von Kinders Romanja durchaus eine nüchterne Ankunft im Alltag, wenn der Held nicht mehr zwischen euphorischem Aufbruch und resignierter Flucht hin- und hergerissen ist. Weil er im gesellschaftlichen Herrschaftsraum nicht völlig scheitern will, akzeptiert er jetzt die Notwendigkeit zur Integration, ohne auf das Ziel einer Veränderung des Bestehenden im Sinne eines utopischen Erfahrungsraums zu veizichten. So heißt es etwa gegenüber der Mutter: »Rede mir doch nicht ein, daß man es schwer hat und daß das alles erklärt, daß der Anfang alles bestimmt, ich lasse mir von dir nicht den Glauben wegerzählen, daß die Zukunft vor uns liegt wie ein Land, das man roden und besiedeln kann, wenn man nur will« (10f.). Zugleich läßt jedoch gerade dieser innere Monolog erkennen, daß der Gegensatz von ungebrochenem Optimismus und melancholischer »Trauer« (5) in der psychischen Struktur des Protagonisten noch immer wirksam ist. Eine Kontinuität von unbewältigten Problemkonstellationen manifestiert sich ebenso, wenn die Differenz zwischen der gleichmütigen Befindlichkeit am Anfang und dem entfesselten Davonlaufen am Schluß des Textes in keinem alternativen Handeln ihren Niederschlag findet. Die Sprachlosigkeit gegenüber der Mutter, die Zufälligkeit des Erinnerungsanlasses und das zur unbewußten Traumarbeit stilisierten Erzählen der Lebensgeschichte - all diese schon erläuterten Defizite an Selbstreflexion veranschaulichen vielmehr: Die Hindemisse für die Bewältigung der Vergangenheit bestehen für das ehemals antiautoritäre Individuum auch nach der Rückkehr zu einem Alltag fort, dessen mangelnde Attraktivität durch die Flucht am >anderen< Ende des Romans ohnehin bewußt gehalten wird.

7.7. Schwierigkeiten mit dem langen Marsch oder: vom »Schleiftrog« der Geschichte Indem der »Schleiftrog« demonstriert, daß die autobiographische Wende der antiautoritäien Generation zur egozentrischen Flucht in einen poetischen Innenraum gerät, wenn die Enttäuschung über den Mißerfolg der Revolte nicht mehr in ihrem geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext begriffen wird, stellt er einen Versuch dar, an den utopischen Ansprüchen der außerparlamentarischen Opposition festzuhalten, das Scheitern ihres Konzepts vom kurzen Sprung ins Reich der Freiheit aber ebensowenig zu leugnen wie die Schwierigkeiten, welche sich aus der Strategie vom langen Marsch durch die Institutionen für den einzelnen ergeben. Anders als die Werke von Schneider und Timm verklärt Kinders Roman weder den Protest zu einem entscheidenden Aufbruch im Sinne einer >neuen Sensibilität oder einer politischen Organisation, noch verallgemeinert er - wie dann Schimmangs Text - die sich nach dem Zerfall der Bewegung ausbreitende Melancholie zu einem universalen Lebensgefühl. Solchen in Lukäcs, Die Theorie des Romans, S. 121. 228

Verkürzungen widersetzt sich der »Schleiftrog« mit einer weiteren Bedeutungsschicht, die das individuelle Schicksal des Helden strukturell in einem historischen und sozialen Zusammenhang reflektiert: Indem durch die Figurenkonstellation entgegen der selbstbezogenen Perspektive des erzählten Ichs auch die abweichenden Erfahrungen anderer zur Darstellung gelangen und indem durch Zitate aus Vergangenheit und Gegenwart Vorgeschichte und Isolation einer »intellektuellen Opposition« (123) in Deutschland in Erinnerung gerufen werden, erzählt diese Lebensgeschichte eines einzelnen die Kollektivgeschichte einer Minderheit, die trotz aller Ohnmacht eine große bürgerliche Tradition besitzt. Durch autobiographische, theoretische und literarische Zitate aus der Zeit zwischen 1770 und 1830 dokumentiert Kinders Roman, wie die Dichter und Denker in ihrer Biographie und in ihren Schriften darauf reagierten, daß weder die >antiautoritäre< Jugend des >Sturms und Drangs< noch die Französische Revolution noch die >Befreiungskriege< an der Kontinuität eines sozialen Herrschaftsraums in Deutschland grundsätzlich etwas änderten. Als historische Kommentare heben diese einmontierten Bruchstücke hervor, daß sich im Zerfall der Protestbewegung auch die frühbürgerlichen Handlungsmuster wiederholen, nach denen Künstler und Intellektuelle aus dem Scheitern ihrer Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Aufbruch als Konsequenz die Wende zu klassischer Dichtung und romantischer Naturbegeisterung vollziehen. Das Zitat aus Schillers Briefen »Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen« zeigt zwar, daß auch nach einer solchen >Tendenzwende< noch zweierlei möglich ist: der aufklärerische »Kampf mit dem Irrtum« und gegen die »allgemeine Herrschaft der Vorurteile« oder der resignative Rückzug in den »Dämmerschein dunkler Begriffe, wo man lebhafter fühlt und die Phantasie sich nach eignen Belieben bequeme Gestalten bildet« (211). Wenn der Held des »Schleiftrogs« im Schlußkapitel eine Erzählung schreibt und dann in den Hegau läuft, reproduziert er jedoch nur Momente eines erfolglosen Vcrdrängungsverhaltens, das bereits Goethes Reisen in die Schweiz knapp zweihundert Jahre vorher erkennen lassen und das vom Motto (3) an über dessen partielle Wiederholung (63,128) bis zum Ende des neunten Kapitels (203) mehrmals in Erinnerung gerufen ist. Wie Goethe 1775 nach der Trennung von Lili Schönemann »sehr in der Lufft« ist (203), so »entbehrt« ja auch für Bruno in seiner Lebenskrise um die Mitte der 70er Jahre das Bewußtsein von Identität »ganz und gar der Realität« und besitzt »keine solide Basis« mehr.112 Wie Goethe »nach Schaffhausen« geht, um »den Rheinfall zu sehen«, so versucht sich Bruno dadurch »in die große Idee einzuwickeln« (203),113 daß er sich nach dem Scheitern der antiautoritären Hoffnungen eskapistisch in das Reich der literarischen Phantasie und in die >freie< Natur flüchtet. Indem er »weiter« seiner »alten Sünde« frönt und erneut eine »Erzählung« verfaßt (203),114 verspricht er sich auf die gleiche Weise »das Vergangene vom Hals zu schaffen« (203),115 wie Goethe 1779 die beengten Verhältnisse am Weimarer Hof vergessen machen will. Seine Fahrt durch den Hegau (3) vermag Goethe 1797 freilich

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Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. VI, Sp. 1246. Goethe an Johanna Fahimer, 5.6.1775, Briefe, Bd. 2, S. 266. - Zur pietistischen Vorstellung, »sich in Gott einzuwickeln«, siehe Langen, Der Wortschatz des deutschen Pieüsmus, S. 281. Goethe an Charlotte von Stein, 28.9.1779, Briefe, Bd. 4, S. 66 und S. 69. Goethe, Maximen und Reflexionen über Literatur und Ethik, S. 119.

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noch mit jener »Gemiithsruhe und Methode« zu beschreiben, die er für nötig hält, um solche Aufzeichnungen »immer wieder als Stoff gebrauchen« zu können;116 und auch am Rheinfall bestimmt die poetische Idee so sehr die Wahrnehmung der »sinnlichen Erscheinung«, daß dem Dichter beim Anblick des Naturschauspiels sogleich Verse aus Schillers Ballade »Der Taucher« einfallen (3).117 Der Protagonist von Kinders Roman sieht dagegen im Hegau »nichts mehr genau« und läuft »im Kreis« (214); ein zielgerichtetes Fortschreiten und eine poetisch interessierte Naturbetrachtung sind ihm nicht möglich. Wie die Zitate aus dem von Wilhelm Müller verfaßten und von Franz Schubert vertonten Gedichtzyklus »Die Winterreise« verdeutlichen,118 bleibt durch einen solche >Wanderung< zwar die Bewegung aufrechterhalten; sie findet in Übereinstimmung mit dem romantischen Aufbruchsmodell niemals an ihr Ende: »Nur weiter, immer weiter.« (63) »Fremd bin ich eingezogen, / fremd zieh ich wieder aus.« (93) - »Ich bin zu Ende mit allen Träumen, / Was will ich unter den Schläfern säumen?« (107) Doch der Lauf des verwirrten Bruno ist von keiner historischen »Gewißheit des Immerüberschreitens« mehr geprägt;119 das Schlußbild des »Schleiftrogs« demonstriert statt dessen anschaulich, daß der individualistische Versuch einer Entgrenzung trotz aller Unruhe nur auf der Stelle tritt. Die Kontinuität von Denk- und Verhaltensmustern, die Künstler und Intellektuelle bereits am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft exemplarisch entwickelt haben, vermittelt Kinders Roman zu einem historischen Bewußtsein der Gegenwart, indem er deren Gültigkeit auch an den Lebensläufen von Mitgliedern aus Brunos eigener Familie vorführt. Großvater, Vater und ein Bruder zeigen ja auf eine ähnliche Weise wie die Hauptfigur das resignative Bedürfnis, sich durch die Produktion oder Rezeption von Kunst in einen ästhetischen Innenraum zurückzuziehen: Weil »die Welt [...] betrogen werden« will, vertraut der Großvater auf die Dichtung: »Schiller! Der kannte das Leben« (62).120 Weil er in seiner Bedrängnis als Soldat keinen anderen Ausweg sieht, flüchtet sich der Vater in das Schreiben von »Gedichten im Kriege« (67). Und weil er sich im Nachkriegsdeutschland nicht zurechtzufinden weiß, orientiert sich auch der Zweitälteste Bruder an der Leitfigur des Bohemiens (29f.), ist wie Bruno »ein Bulle« (118) und »redet« mit ihm »über die Kunst« (29). Zugleich wird durch diese Figuren aber ein Schicksal in Erinnerung gerufen, von dem sich das Unglück des Helden beträchtlich unterscheidet. Denn die Hoffnungen der drei auf ein Gelingen ihrer Lebenspläne haben sich weitgehend nicht erfüllt, und so wünschen sie sich schließlich alle übereinstimmend den Tod (62,65, 117). Als entscheidender Grund für diese »Macht der stärksten Nicht-Utopie«,121 die dem Willen zum Aufbruch insbesondere auf den beiden Zugfahrten gegenübergestellt ist 116

Goethe an Schiller, 9.7.1797, Briefe, Bd. 12, S. 217f. Goethe, 18.9.1797, Tagebücher, Bd. 2, S. 144. - Zur Ballade »Der Taucher« siehe Schillers Werke, Bd. I, S. 373f. (V. 31 und V. 67). 118 Schubert, Die Winteneise, S. 408: »Das Wirtshaus« - hier heißt die Verszeile etwas abweichend: »Nun weiter denn, nur weiter« (63); S. 395: »Gute Nacht« (93); S.406: »Im Dorfe« (107). Ι» Kraft, Ε. T. A. Hoffmann, S. 139. - Zum Topos des »Auf der Stelle Tretens« als Bild »endloser Wiederholung« siehe auch Adorno, Ästhetische Theorie, S. 52. 120 Dje Verszitate (61-63) entstammen Schillers Schauspiel »Wilhelm Teil«, V. 2833-2836, V. 953f. und V. 957f„ V. 325. 121 Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 1297. 117

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(59-69, 113-115), gilt im Roman jedoch nicht - wie dem Vater - eine ontologisch bestimmte Endlichkeit des Menschen; die Tatsache, daß »Angst [...], Schwäche, Lüge, Neid und Haß« (55) die Identität von Individuen verhindern, stellt der »Schleilitrog« vielmehr in einen historischen Zusammenhang mit den Ereignissen der Zeitgeschichte und läßt so erkennen, daß es soziale Erfahrungen sind, die sich dem einzelnen zum resignativen Existential des Scheitems verdichten. Der skeptische Großvater will ja nicht mehr leben, weil er für die Zukunft eine Wiederholung jener Katastrophe erwartet, die ihm mit der deutschen Entwicklung vom Kaiserreich bis zum Ende des Faschismus bereits einmal widerfahren ist (61 f.). Und auch der enttäuschte Vater wünscht sich deshalb einen »gnädigen Tod«, weil er »so viel erlebt« hat: Die Erziehung durch den eigenen »strengen« Vater, der mühevolle Aufstieg vom Bauemsohn zum »Wissenschaftler«, der »lange Krieg« (64f.) und die große Not in der »Gefangenschaft« (7) und Nachkriegszeit sind die historischen Bedingungen, welche den Vater zum >Stillhalten< (67) veranlagt122 und seinen Lebensmut gebrochen haben. Anders als in manchen Autobiographien der 70er Jahre wird in Kinders Roman der Vater nicht einfach nur als autoritärer Erzieher für die Defizite der Kindheit verantwortlich gemacht, sondern zugleich auch als ein Opfer historischer Zwänge dargestellt.123 Denn trotz der Gleichgültigkeit des erzählten Ichs - »ich wollte zurück ins Bett« (17), »ich glaubte, er mache ganz schön Theater« (64) ist in der Erinnerung des Ich-Erzählers die Perspektive des Betroffenen aufgehoben: »Er sah mich an mit Hundeaugen. Alles heulte an ihm. Aber er sagte nichts. Blieb einfach stumm. Sah mich an und legte mir die Hand auf den Arm. Da war er schon fast am Ende« (17). Auch der Zweitälteste Bruder empfindet die Todessehnsucht seines Vaters und Großvaters; er erfüllt sie sich aber wirklich im Selbstmord (117), weil er »gerade in den melancholischen, resignativen und depressiven Stimmungen heimisch geworden ist, die jene aus Selbstschutz von sich abgespalten und in einer heroischen Wiederaufbau-Aktion verdrängt« haben.124 Der Bruder vermag auf die Mangelsituationen seiner Kindheit und Jugend nur in der gleichen »unbedingten« Weise wie der Dichter Klaff in Walsers Roman »Ehen in Philippsburg« zu reagieren und »bringt sich um« (107). Indem er »die« existentialistische »Grundfrage« nach der »Entscheidung, ob sich das Leben lohne oder nicht«,125 ein für allemal negativ beantwortet, stellt er ein weiteres Beispiel für solche

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2 Zum »pietistischen Kembegriff« des »Stillhaltens« siehe Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus, S. 179-182, Zitat S. 180. 123 Siehe hierzu Schneider, Väter und Söhne, posthum, S. 47-52. - Ähnliches gilt für die Mutter: Einerseits wird sie in der eingeschränkten Sicht des Helden zu einer Figur typisiert, die nur noch »fernsieht oder sich Geschichten erzählt« (208f.). Andererseits zeigen die vielen Geschichten aus der (Nach-)Kriegszeit (7-10,67-69) und ein Leben als demütiges >Arbeitstier< (13) in der Familie, daß es historische Bedingungen und soziale Rollenzuweisungen sind, welche auch die Lebenschancen der Mutter entscheidend einschränken. 124 Schneider, Väter und Söhne, posthum, S. 47. - Das Schicksal des Bruders ist ausführlicher dargestellt in der Geschichte »Er«, einer »autobiographischen Erzählung« (so der Klappentext), die »in der ersten Manuskriptfassung« des hier untersuchten Romans »noch enthalten« war (Modick/Fischer, Kalkulierte Sinnlichkeit, S. 699), dann ausgegliedert und 1983 als selbständiger Text veröffentlicht wurde. 125 Camus, Der Mythos von Sisyphos, S. 9.

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Leiderfahrungen dar, mit denen die Erlebnisse der Hauptfigur in einem sozialen und historischen Zusammenhang relativiert sind. Kinders »Schleiftrog« ruft durch die literarhistorischen Zitate und durch die Lebensläufe der älteren Familienmitglieder das bürgerliche Erbe des kritischen, aber einsamen Intellektuellen in Erinnerung. Der Roman führt damit vor, daß dieses auch noch auf dem Höhepunkt der Protestbewegung wirksam ist, obwohl die autobiographischen Ereignisse während jener Jahre (166) weitgehend von der Darstellung ausgespart sind. Der knappe Abriß im achten Kapitel demonstriert die Halbherzigkeit und die Isolation der außerparlamentarischen Opposition, wenn er zum Verständnis der geschichtlichen Fakten, die vor allem durch Schlagzeilen des »Spiegel« in Erinnerung gerufen werden, 126 das Bewußtsein der Zeitgenossen - wie Kluges »Lebensläufe« - mit Zitaten von gängigen Redewendungen anschaulich macht. Einerseits wird so der am Einzelfall Brunos entwickelte Befund über die antiautoritäre Jugend verallgemeinert: Die gleiche Widersprüchlichkeit zwischen Engagement und Resignation, zwischen politischem Interesse und privater Innerlichkeit ist ja an den statistischen Daten eines »Spiegelreports« (163) erkennbar, nach dem »90% der Studenten« sich für »sattelfeste Demokraten« halten, »55%« jedoch die Notstandsgesetze »begrüßen«, nach dem zwar fast alle ihr »Ziel« darin sehen, »für andere Menschen da zu sein« und »liebenswürdig zu sein«, zugleich aber auch darin, »an sich selbst zu arbeiten« und »viel Zeit für das Privatleben zu haben« (164).127 Andererseits wird den zwiespältigen Denk- und Verhaltensmustem der Studenten die eindeutige Ablehnung durch eine bürgerliche >Allgemeinheit< gegenübergestellt, die alle »gefährlichen Funken von links und rechts« sogleich »löschen« will (164) und die deshalb die antiautoritäre Bewegung »dieses Gesindel, diese sozialistischen Störtrupps, diesen organisierten und feigen Mob, diese Lümmels und Uhus« (163) - so lange bekämpft, bis die Irritation wieder unter das vertraute Klischee subsumiert werden kann: »Hand aufs Herz, diese Linke, ich meine der Mai 1968, also die Studentenbewegung, war die mehr als ein pubertärer Rülpser?« (166) An solchem Unverständnis wird allerdings zugleich deutlich, daß die »intellektuelle Opposition« (123) am Ende der 60er Jahre eine Minderheit geblieben ist: »Dutschke niedergeschossen, und die Sympathie für die Studenten sinkt bei 75% der Berliner.« (165) In zugespitzter Weise belegt eine derartige Reaktion auf die Springer-Kampagne auch die Unfähigkeit der Demonstranten, ihre alternativen Wertvorstellungen der Öffentlichkeit verständlich zu machen, 128 und so bleibt es bei der sozialen Distanz zwischen antiautoritärer >Avantgarde< und arbeitender Bevölkerung. (181) Als Lebensgeschichte eines antiautoritären Mitläufers erzählt der »Schleiftrog« die Kollektivgeschichte einer gesellschaftlichen Minderheit von Intellektuellen, deren größter Teil nach dem Scheitern des politischen Aufbruchs den individualistischen Rückzug in die Privatsphäre antrat, wie er in den beiden letzten Kapiteln mit der Entpolitisierung des Protagonisten vorgeführt ist. Kinders Text beläßt es aber nicht - wie Enzensbergers

'26 Zitiert werden die Titel folgender Hefte: 1967 - 2.10., 6.11., 13.11., 11.12., 25.12; 1968 - 15.1., 12.2., 19.2., 18.3., 8.4., 22.4., 29.4., 6.5., 13.5., 27.5., 3.6., 10.6., 24.6., 1.7., 22.7., 29.7., 5.8., 19.8.,26.8.,2.9., 28.10., 11.11., 18.11.,25.11., 16.12.,23.12.; 1969- 13.1., 10.2., 10.3., 14.4., 19.5.,4.8., 11.8., 18.8., 1.9., 22.9., 30.9.; 1970- 19.1. 127 Der Spiegel, Was denken die Studenten? S. 38. 128 Siehe hierzu: Der Spiegel, 22.4.1968, S. 28. 232

Roman »Der kurze Sommer der Anarchie« - bei der bloßen Destruktion des antiautoritären Handlungskonzepts vom kurzen Sprung ins Reich der Freiheit, sondern veranschaulicht darüber hinaus am Konflikt zwischen Bruno und Gertrud die Schwierigkeiten des einzelnen, aus dem Mißerfolg der Revolte eine politische Konsequenz zu ziehen und als Strategie vom langen Marsch durch die Institutionen in die Tat umzusetzen. Denn obwohl das erzählte Ich am gewerkschaftlichen Engagement seiner Frau zunehmend desinteressiert ist, erhält dieses in der Erinnerung des erzählenden Ichs doch ein großes Gewicht. In dem gleichen Maße, wie sich der einsame Intellektuelle dem poetischen Innenraum zuwendet, ist die Bedeutung des gesellschaftlichen Außenraums für die Konstitution von Identität ja durch Gertruds Erfahrungen in der Arbeitswelt weiter vor Augen geführt: Trotz aller sozialpolitischen Modernisierung bestimmt hier noch immer die materielle Sorge um den Lebensunterhalt das Schicksal der Lohnarbeiter. Offene Benachteiligung der Frauen im Tarifsystem (174,212), versteckte Kürzung der Löhne durch Versetzung (183), psychischer Druck zur Erhöhung der Arbeitsdisziplin (187,192) und schließlich die private Bereicherung zu Lasten der Gesundheit anderer (193), all diese einfachen, aber wirksamen Mittel dienen auch nach der ökonomischen Wende 1973/74 dem Zweck, die Profite einer Minderheit zu maximieren und die Lebenschancen der Mehrheit einzuschränken, wie Gertruds Hinweis auf die wirtschaftlichen Daten des Jahres 1975 dokumentiert (212), als in der Bundesrepublik nach langer Zeit erstmals wieder mehr als eine Million Menschen ohne Beschäftigung waren.129 Auf die Verschärfung der ökonomischen Situation reagiert die Gewerkschaft aber nur mit jener Strategie der Mäßigung, die schon in den »Bottroper Protokollen« die Institutionalisierung und damit die Wirkungslosigkeit von Protest nach sich zieht. So wäre der Betriebsratsvorsitzende zum einen »heilfroh über außertarifliche Prämien und Leistungszulagen« (184); zum anderen ist er daran interessiert, daß »der Organisationsgrad erhöht und mehr Beitrag gezahlt wird« (192). Statt die »Demokratisierung gesamtwirtschaftlicher Entscheidungen« und die »Demokratisierung der inneren Willensbildung der Gewerkschaften« anzustreben,130 beschäftigt sich die Arbeitervertretung besonders mit den »eigenen Sorgen« vor Ort (184) und versucht diese durch Geheimdiplomatie loszuwerden (193). Ehemals gleichgültig gegenüber der Politik (105), engagiert sich Gertrud für die Gewerkschaft des Betriebs, in dessen »Labor« (192) sie nach dem Ende ihres Studiums tätig ist. Als »Vertrauensfrau« (175), »Vertrauens-Obmann« (179) und Betriebsrätin (190)kritisiert sie jedoch die Ideologie »sozialer Partnerschaft« (183) ebenso wie die Strategie der Konfliktvermeidung, indem sie wiederholt innerbetriebliche Öffentlichkeit herstellt: »Auf der Betriebsversammlung habe sie auf den Putz gehauen [...]. Der Betriebsratsvorsitzende habe die Sache ja lieber unter vier Augen beilegen wollen, aber im Betriebsrat haben sie Gertrud alle unterstützt.« (193) Bei ihrer politischen Tätigkeit erlebt sie schließlich auch eine partielle Überwindung der individuellen Ohnmacht und der sozialen Isolation; am Projekt einer kollektiven Aufklärungs-Arbeit teilnehmend, erlangt sie eine Ahnung von Identität als Solidarität: »Erfahrungen werden ausgetauscht, wenn man erkennt,

129

Siehe hierzu Claessens/Klönne/Tschoepe, Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland, S. 184-198, S. 214-236 und S. 315-318, sowie Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 116-118 und S. 134-142. 130 Claessens/Klönne/Tschoepe, Sozialkunde der Bundesrepublik Deutschland, S. 256.

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daß die Sorgen überall gleich sind, kann man viel voneinander lernen, die Augen gehen ihnen auf, alle sind dabei, es ist so ein Schwung hier, sagt sie, endlich so ein bißchen Gemeinsamkeit und Anpacken« (201). Mit solchen Aktivitäten läßt Gertrud als Frau zwar die Rolle einer Nebenperson innerhalb der Figurenkonstellation hinter sich; weil die Grenzen ihres politischen Aufbruchs aber klar und deutlich vorgeführt sind, wird sie dennoch nicht zur positiven Identifikationsfigur aufgebaut. Wenn Gertrud als »eine Frau [... ] in die Kantinen-Kommission delegiert« wird und dann Milchsorten zu testen hat (190), zeigt sich hier die gleiche rigide Rollenzuschreibung, die das Leben einer Hausfrau wie Brunos Mutter größtenteils bestimmt. Wenn Gertrud das zum »freiwilligen« Gnadenakt stilisierte Nachgeben der Betriebsleitung als »Erfolg« feiert und dessen Funktion nicht durchschaut, von der Forderung nach einem »einheitlichen und überschaubaren Lohnsystem« (183f.) abzulenken, wird die Befangenheit ihres individuellen Bewußtseins in derartigen sozialen Auseinandersetzungen erkennbar. Wenn Gertrud schließlich auf jedes Eheleben verzichtet, entweder »völlig fertig« (189) oder »immer öfters fort« (195) ist und damit - wie ihr Mann - nicht mehr imstande, Rücksicht, Verständnis und Liebe im persönlichen Umgang miteinander zu verwirklichen, sind die Defizite eine Politisierungsprozesses sichtbar, mit dem das Bedürfnis des bürgerlichen Individuums nach Privatheit nicht aufgehoben, sondern verdrängt wird. Nicht durch die Konstruktion einer Identifikationsfigur, sondern durch die Gegenüberstellung von zwei sich ausschließenden Handlungskonzepten veranschaulicht der »Schleiftrog« nach dem Scheitern der Protestbewegung die Schwierigkeiten des antiautoritären Individuums, »die heillose Entfremdung« von »politischen Passionen« und »fast asozialen Privatantrieben«131 in der Einheit einer Person zu überwinden: Während Bruno auf die ersten Widerstände hin den langen Marsch durch die Institutionen von Universität und Partei schnell abbricht und bald nur noch im Innenraum des Hauses seinen individuellen Interessen an wissenschaftlicher Qualifikation, intimer Zweisamkeit und literarischer Phantasie nachgeht, setzt sich Gertrud mit ihrer beruflichen und gewerkschaftlichen Tätigkeit ausnahmslos für soziale Veränderungen und für eine größere politische Öffentlichkeit im gesellschaftlichen Außenraum ein: Wie nach >Aufbruch< und >Wende< der Konflikt zwischen Politik und Privatleben, zwischen Anpassung und Widerstand für den einzelnen in den 70er Jahren auszutragen wäre, bleibt ein offenes Problem. An einer Figur wird im Roman zwar ein Handlungsmodell vorgeführt, das die Möglichkeit einer Lösung andeutet Eine Perspektive konkretisiert sich dadurch aber nicht: Einerseits scheint der »Kommunischte-Karle« nicht anders als seine Nachbarn zu sein und gesellschaftlich integriert, wie »Gartenzwerge«, »junge Hasele« und »Laube« nahelegen (180). Andererseits verkörpert er wie Clemens K. in den »Bottroper Protokollen« oder die alten Revolutionäre in Enzensbergers Roman den klassenbewußten und kampferfahrenen Arbeiter, der Gertrud »geduldig« aufklärt (178) und unterstützt (180), die Strategie der Betriebsleitung durchschaut (187) und standhaft allen Enttäuschungen zum Trotz keine Resignation gegenüber der Idee einer umfassenden gesellschaftlichen Demokratisierung kennt: »Nei, sagt er und schüttelt den Kopf, mir gent nie uf!« (181) Doch wie Gertrud unter den Angestellten (174f„ 177f.), so ist er unter den Arbeitern ein Außenseiter und wird seiner kritischen Anschauungen wegen gemieden. »Was sie mit dem au alls zum Schwätze het, [...] das sei doch der Kummnischte-Karle.« Zudem ist er 131

Riihmkorf, Walter von der Vogelweide, Klopstock und ich, S. 188.

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alt und körperlich gezeichnet, »kurzatmig mit roten Augen« (178). Die Tradition einer selbstbewußten Arbeiterbewegung, für die er steht, scheint in der Gegenwart keine Zukunft mehr zu haben. Brunos Frau läßt sich von der Ausgrenzung Karies zwar nicht beeindrucken, und so deutet sich mit der politischen Zusammenarbeit der zwei - wie in den »Bottroper Protokollen« erhofft - ein Bündnis von Arbeiter-, Protest- und Frauenbewegung an. Die Isolation der beiden gegenüber ihren Kollegen und Generationsgenossen zeigt indes, daß diese Strategie keinen Modellcharakter für andere besitzt. In einer gegenläufigen Tendenz zur Einschränkung des literarischen Raums auf die Erinnerungen eines Intellektuellen reflektiert Kinders Roman an den Erfahrungen von Gertrud und Karle die Schwierigkeiten des einzelnen.dem utopischen Erlebnisraum einer humanen Zeit nicht mehr durch einen kurzen Sprung, sondern im langen Marsch durch die Institutionen einen Schritt näher zu kommen. Durch diese Figuren, aber auch durch die Schicksale der anderen Familienmitglieder sowie durch die Zitate aus Vergangenheit und Gegenwart ist die naturzeitliche Kontinuität eines historischen Herrschaftsraums erinnert, in dem eine Minderheit von Intellektuellen immer wieder die Enttäuschung ihrer Hoffnungen auf einen politischen Aufbruch erleben muß und als Reaktion darauf die Wende in den poetischen Innenraum vollzieht. Inwieweit ein solcher Prozeß einen geschichtlichen Fort- oder Rückschritt darstellt, hängt ganz davon ab, ob jener Aufbruch schon zur Ankunft verklärt oder nur als ein allererster Schritt perspektiviert ist, ob jene Wende die reflexive Ästhetisierung oder die ästhetische Reflexion des Scheitems im gesellschaftlichen Außenraum leistet. Weil der »Schleiftrog« eben diese Differenzierungen als den Unterschied zwischen dem Bewußtsein des Helden und der Bedeutung des Romans entwickelt, stellt er eine Selbstkritik der antiautoritären Generation dar, die nicht nur auf dem Höhepunkt des Protests die Kontinuität der bürgerlichen Charakterstrukturen vom kritischen, aber einsamen Individuum verleugnete, sondern auch danach »ihr kollektives Versagen nach außen projizierte«.132 Durch diese sozialpsychologische Problemstellung kommt zwar jenen Maßnahmen der gesellschaftlichen, staatlichen und internationalen Ausgrenzung133 ein untergeordneter Stellenwert zu: Das Attentat auf Dutschke (165), »Prozesse gegen die Studenten« (166), Denunziation durch Kommilitonen (167), Berufsverbot (203,212), der Einmarsch »in Prag« und der Putsch »in Chile« - all diese Gegenreaktionen, die das Modell »verhindern«, daß »Freiheit, Gleichheit und Sozialismus identisch sind« (167), erhalten in Kinders Roman ebenso ein geringeres Gewicht wie die Ereignisse, welche den Höhepunkt der Protestbewegung und damit die >Front< ihres kollektiven Lernprozesses bildeten. Der »Schleiftrog« konzentriert das Interesse auf die selbstkritische Klärung der Frage, warum sich die Generation der antiautoritären Intellektuellen - gleich Simone Weil in Enzensbergers Roman - wieder in die >Etappe< zurückgezogen hat und es in den 70er Jahren zu keiner organisierten Fortsetzung ihrer Politik, zu keinem kollektiven Marsch durch die Institutionen gekommen ist. Wenn der Held am Ende des Textes in seinem unendlichen Lauf »den ganzen Hegau noch einmal von hinten« aufrollt (215), wird weder ein moralischer Appell noch ein analytisches Schlußwort an den Leser gerichtet. Dieser weiß jetzt allerdings, warum in der bewußtlosen Flucht kein Aufbruch stattfindet. 132 133

Schneider, Väter und Söhne, posthum, S. 58. Siehe hierzu Habermas, Einleitung, S. 16.

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8. Auf dem Weg nach innen Jochen Schimmangs Roman »Der schöne Vogel Phönix«: ein ästhetisierendes Modell der antiautoritären Vergangenheit

Es wandelt, was wir schauen, Tag sinkt ins Abendrot Die Lust hat eignes Grauen, Und alles hat den Tod. Eichendorff, »Der Umkehrende«

8.1. Lebensgeschichte als kunstlose Kunst? Rezeption als Reduktion? Auch für Jochen Schimmangs Roman »Der schöne Vogel Phönix«, der 1979 veröffentlicht wurde und ein Jahr später bereits in der dritten Auflage erschien,1 deutet der Klappentext eine literarhistorische Veränderung an, die schon an Kinders Roman als dem einen Beispiel für die vierte Phase dokumentarischen Erzählens beschrieben werden konnte: Wo die Generation, welche die Protestbewegung getragen und deren Scheitern erlebt hat, in den 70er Jahren ihre eigene Entwicklung vornehmlich mit autobiographischen Lebensgeschichten von unbekannten einzelnen thematisiert und sich dabei an jene unerfüllten Wünsche und Sehnsüchte erinnert, die als Lebenspläne auf der Strecke geblieben sind, verliert der zuvor scharf betonte Gegensatz von Fiktion und Dokumentation, von Phantasie und Realität, wieder an Gewicht. Zwar werden die »Erinnerungen eines Dreißigjährigen«, welcher das gleiche Alter wie der Autor hat, als »Geschichten, die wirklich passiert sind«, präsentiert, und eine Vielzahl von geographischen und historischen Deiktika im Text bestätigt den zeitgeschichtlichen Tatsachengehalt des Erzählten. Zwar stimmt auch die Fabel des Romans durchaus mit den später veröffentlichten Daten des Autors überein,2 und der Leser hat gar eine Lebensgeschichte vor sich, deren erster Prolog mit genau demselben Titel beginnt, den der Protagonist der erzählten Geschichte an den Anfang seiner Autobiographie setzt (7/295). Gleichwohl ist die Authentizität des Stoffs eingeschränkt, wenn im Klappentext auch »Geschichten« erwähnt werden, »die nur im Kopf passiert sind«, und die »geschriebene Geschichte« gegen »die wirkliche« abgesetzt ist, wenn die Hauptfigur mit dem Namen Murnau eingeführt wird, der - anders als der Titel des für den Protagonisten so bedeutsamen Romans von Lars Gustafsson »Herr Gustafsson persönlich« - gerade keine autobiographische Refe-

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Alle Angaben erfolgen nach: Jochen Schimmang, Der schöne Vogel Phönix. Erinnerungen eines Dreißigjährigen, Frankfurt am Main 1979 (suhrkamp taschenbuch S27). Die Zitate werden unmittelbar durch die in Klammem gesetzten Seitenzahlen nachgewiesen. Siehe hierzu die Angaben über den Autor in dem Band: Errungenschaften, hg. von Rutschky, S. 408.

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renz zum Autor aufweist. Die Grenze von autobiographischem und fiktivem Material ist wie in Kinders Roman verwischt. Im Unterschied zu diesem Text wird Schimmangs Roman hier jedoch als das Beispiel einer Lebensgeschichte vorgestellt, in welcher sich - durchaus repräsentativ für die literarische und politische Entwicklung in den 70er Jahren - der Verzicht auf den innovativen Gebrauch auto-biographischer Erzählverfahren mit dem Mangel an zeitgeschichtlichem Bewußtsein über den Zerfall der Protestbewegung verbindet. Schon die Titel signalisieren diese wesentliche Differenz in der Bedeutungsstruktur beider Werke. Während der »Schleiftrog« jene sozialpsychologischen Widerstände hervorhebt, welche einen Aufbruch der antiautoritären Generation aus dem Herrschaftsraum der 50er und 60er Jahre verhindert haben, ästhetisiert Schimmangs Modell nach der Tendenzwende einen utopischen Erfahrungsraum, in welchem doch wenigstens der Traum vom Aufbruch lebendig gewesen sei. Die Lebensgeschichte eines »Dreißigjährigen«, der die ehemals gefiirchtete Grenze zum Establishment (113,169,179) überschritten hat, erklärt die Zeit des »Schönen Vogels Phönix« zur unwiederbringlichen Vergangenheit und lehnt damit jede Hoffnung auf eine Erneuerung nach der Katastrophe als gänzlich illusionär ab. Während die Romane von Enzensberger und Kinder zwar auch den Mißerfolg der Revolte aufdecken, an deren Zielen aber festhalten, verweist der Titel von Schimmangs Text nur noch retrospektiv auf den antiken Mythos vom »Wundervogel« Phönix mit seiner »ungeheuren Lebensdauer«, auf die »Legende von der Selbstverbrennung und Neuerstehung aus der Asche«.3 Wie das poetische Motto des Romans, Sarah Kirschs »Elegie 2«,4 zeigt, ist trotz aller Bemühungen (»Schüttle mich am Morgen, sage / Pfeif drauf!«), trotz der Gefahr des Identitätsverlustes (»bekomme sie, meine Seele / Gänseblümchenweiß«) eine Fortsetzung der Protestbewegung nicht mehr möglich. Statt dessen dominiert das melancholische Eingeständnis des Scheiterns: »Ich bin / Der schöne Vogel Phönix / Aber durch das / Flieg ich nicht wieder« (6). Daß der Roman bereits mit Titel, Untertitel und Motto den traditionellen Befreiungsaspekt im Bild des Vogelflugs nur für die Vergangenheit gelten läßt, für die Gegenwart aber als destruiert ausgibt, läßt ein zentrales Strukturprinzip des Textes erkennen, das die bisherigen Rezipienten von zwei unterschiedlichen Standpunkten aus beurteilt haben. Die eine Sichtweise kritisiert, daß bei Schimmang »der kurze historische Moment, in dem die Hoffnung auf ein besseres Leben vom utopischen Wünschen in konkrete Wirklichkeit überführbar schien, [...] nostalgisch-sentimental beschworen« sei.5 Durch die »psychologisierende Interpretation einer politischen Biographie« deute der Roman die resignative »Stimmung in der Linken zu übergangslos, zu mühelos in eine existentiell vertiefte Endzeitstimmung« um.6 Die andere Position lobt demgegenüber den repräsentativen Charakter dieser Lebensgeschichte und empfiehlt den Text als Identifikationsmodell7 für eine offene Auseinandersetzung mit den illusionären Hoffnungen einer »Jugend«, die inzwischen »durchaus fähig« sei, »ihre Vernunft selbst zu entdecken«. Wo das

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Der kleine Pauly, hg. von Ziegler/Sontheimer, Bd. 4, Sp. 799. Kirsch, Zaubersprüche, S. 19. Modick/Fischer, Kalkulierte Sinnlichkeit, S. 697. Zürcher, Trauerarbeit eines Dreißigjährigen. Siehe Bahns, Verschwendete Jahre? S. 176 und S. 178. 237

autobiographische »Erzählen« derart »als Therapie«8 begrüßt wird, erscheint »Schimmangs tastende Annäherung an die Ausdrucksformen der Literatur« als »exemplarisch für eine Generation«, und der Titel »Der schöne Vogel Phönix« gilt gar als erstes Vorzeichen für eine »Wiedergeburt der Literatur nach einer Zeit politischer Aktivitäten«, für die »befreiende Wirkung, die aus der Entdeckung kommt, daß auch die Geschichte eines einzelnen Menschen etwas ist, über das sich reden läßt«.9 Deutlich wird an diesen Zitaten, wie sehr die Bewertung des Romans von der historischen Einschätzung einer Bewegung abhängt, deren Intention ja nicht nur die Politisierung der Gesellschaft, sondern auch die Politisierung der Literatur gewesen ist. Doch das jeweilige Urteil über die Bedeutung dieser Lebensgeschichte gründet sich auf keine differenzierte Analyse der poetischen Struktur. Man erklärt einen literarischen Text wieder einmal nur zu einer »Autobiographie (fiktiv?!)«,10 kritisiert das Verfahren, »den möglichen Stoff für Literatur« nur »als authentisches Material zu präsentieren«,11 und tadelt eine »penetrante Akribie, die die Lektüre zeitweise schleppend und die Botschaft belanglos« mache.12 Oder lobt einen »Satz für Satz glaubwürdigen Bericht«, der »durch seine intensiv artikulierte Authentizität« fessele, »darüber hinaus« aber »keine literarischen Ambitionen« zeige; »doch eben diese Zurückhaltung« gebe »dem Buch auch literarisch Gewicht«.13 Offensichtlich, wenn auch mit unterschiedlicher Bewertung, liegt den Ausführungen der Literaturkritiker die von Rutschky im Zeichen der >Postmodeme< paradigmatisch formulierte These zugrunde, daß es in den 70er Jahren bei zahlreichen Autobiographien nicht von Interesse sei, »wie sie sich zu den entwickelten Schemata der Gattung, zu ihrer Geschichte verhielten«: »Vom historischen Stand des Materials und der Technik abgesehen« und »bei dem anfangen zu können, was als Ich, Erfahrung und Sprache gerade zur Hand ist in einem gegebenen Augenblick: damit könnte man dies autobiographische Schreiben geradezu definieren (und gerade darin mag sich der historische Stand des Materials und der Technik darstellen)«.14 Der »Schöne Vogel Phönix« wird hier dagegen als literarische Lebensgeschichte interpretiert: weder soll der Roman auf eine Autobiographie reduziert, noch soll vom Stand der literarischen Evolution abgesehen werden. Eine Lebensgeschichte stellt dieser Text dar, weil seine Fabel mit den Ereignissen zwischen dem Ende der Schulzeit 1966/67 und dem Beginn des Berufslebens 1977/78 einen klar abgegrenzten Lebensabschnitt zum Gegenstand hat. Ein literarisches Modell geben diese »Erinnerungen eines Dreißigjährigen« ab, weil der Lebenslauf eines einzelnen in einer poetischen Struktur organisiert ist, die - so der Klappentext - mit dem Erzählen einer »individuellen Geschichte« die Deutung einer »kollektiven« leistet. Zwar sind die eingesetzten literarischen Verfahren weitgehend einer längst konventionalisier8

Vormweg, Ein paar neue Erzähler. Hage, Tagsüber Marx, abends Kino. 10 Bahns, Verschwendete Jahre? S. 177. Ähnlich siehe auch Liidke, Trübsal bläst »Des Knaben Wunderhorn«, S. 997; Hage, Tagsüber Marx, abends Kino. "' Lüdke, Trübsal bläst »Des Knaben Wunderhom«, S. 998. 12 Zürcher, Trauerarbeit eines Dreißigjährigen. 13 Vormweg, Ein paar neue Erzähler. Ähnlich siehe auch Hage, Tagsüber Marx, abends Kino. 14 Rutschky, Erfahrungshunger, S. 228f. - Siehe dagegen Baumgart, Das Leben - kein Traum? S. 22.

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ten Tradition auto-biographischen Erzählens verpflichtet; gerade deshalb ist aber deren Funktion innerhalb des Textganzen wie deren historischer Stellenwert in der Gegenwartsliteratur zu untersuchen. Auch für den letzten Text dieser Reihe will die Interpretation klären, welche kollektive Bedeutung die Erlebnisse eines einzelnen in ihrem sozialen Kontext erhalten, wenn sie als literarische Lebensgeschichte organisiert sind und als »Roman« rezipiert weiden.15

8.2. Trotz aller Perspektivlosigkeit: der wissende Auto-Biograph Ein wesentliches Erzählverfahren von Schimmangs Roman ist es, daß die Darstellung des Lebenslaufs zwischen der ersten und der dritten Person wechselt. Das in der Gegenwart erzählende Ich spricht zwar dominierend vom erzählten Ich der Vergangenheit, nennt dieses aber auch Mumau, berichtet über dessen Erlebnisse aus der scheinbar anonymen Perspektive eines unbeteiligten Erzählers, fragt vorgeblich unwissend: »Wer war damals Mumau?« (35) Diese Aufspaltung der Erzählsituation signalisiert durch die unterschiedlichen Personalpronomina (»ich« - »er«) eine Kombination von Innen- und Außenperspektive,16 welche die Einheit als auch die Differenz von erzählender und erzählter Figur betont, somit den autobiographischen durch einen biographischen Blickpunkt zu kontrastieren scheint. So läßt der »Schöne Vogel Phönix« vornehmlich eine Distanz zwischen der berichtenden Perspektivfigur und dem handelnden Protagonisten erkennen, wenn der (Ich-)Erzähler von (sich als) Mumau spricht; an einer Stelle des Textes wird das Verfahren, durch die Veränderung der Perspektive von innen nach außen den Anschein größerer Objektivität zu erwecken, sogar explizit thematisiert: »Es kam also Post von Angelika fast zweimal wöchentlich, und ich selber schrieb beinahe noch öfter. Vormittags kam sie früh, ich hatte sie schon zum Frühstück. (Wie leicht sich dieser Satz verschieben läßt: Mumau stand so spät auf, daß zum Frühstück immer schon die Post da war.)« (81) Zum einen ist mit dem Wechsel in die dritte Person der zeitliche Abstand zu den damaligen Ereignissen betont (33, 234, 299f.). Zum anderen wird über den zeitlichen Abstand hinaus eine normative Distanz zu solchen Handlungsmustem veranschaulicht, die im gegenwärtigen Bewußtsein des Ich-Erzählers ihre Bedeutung für sein Identitätskonzept verloren haben. Wenn vom »Gefreiten Mumau« (11) die Rede ist, von »Dr. Mumau« (48), von »Mumau, dem eiskalten Engel« (94), vom »überflüssigen Mumau«, der »zum unentbehrlichen Mumau werden« will (135), vom »Leninisten und künftigen Kader Murnau« (167), vom »dünnen Mumau« (203) und vom »frei und ratlos schwebenden Mumau« (219), sind die starren Rollenschemata der Vergangenheit längst der Kritik verfallen und als Lebenspläne für die Zukunft nicht mehr tauglich, weil sie im bisherigen Lebenslauf die Selbstentfremdung des Protagonisten nur vergrößert haben. Nur wo er in der Liebe die Aufhebung seiner Einsamkeit erfahren hat, fallen Innen-

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So explizit Vormweg, Ein paar neue Erzähler; Lethen, Geschichten vom unbekannten Verlust, S. 1025. 16 Zu diesen erzähltheoretischen Kategorien siehe allgemein Leibfried, Kritische Wissenschaft vom Text, S. 244-249; Füger, Zur Tiefenstruktur des Narrativen, S. 272.

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und Außenperspektive - ein einziges Mal in diesem Roman 17 - zusammen: »Ich wurde einfach gebraucht: ich selber, nicht irgendeine Funktion, eine Fähigkeit, sondern ich, Mumau, mit allem, was ich war - oder von dem Barbara glaubte, ich sei es - , wurde gebraucht, unteilbar.« (253) Die Nicht-Identität der Hauptfigur mit sich selbst wird aber nicht allein durch den Wechsel von der ersten zur dritten Person konkretisiert, auch der Name, mit dem der Protagonist von sich spricht und mit dem er auch von anderen benannt wird, stellt schon das eigenartige Ineinander von Nähe und Distanz, von Selbst- und Fremdwahrnehmung heraus. Der Name »Murnau« erfüllt nicht nur in seinen textinternen Bezügen die Funktion eines Vor- und eines Nachnamens; 18 als textextemer Verweis stellt er ebenso eine Anspielung auf den Filmregisseur Friedrich Wilhelm Plumpe oder besser: auf dessen Pseudonym »Murnau« dar19 und zeigt auch damit die Spannung von Identität und Nicht-Identität im vorliegenden Lebenslauf an. Siegfried Kracauer, dessen Werke auch Schimmangs Hauptfigur kennt (83) und dessen Filmtheorie in den 70er Jahren wieder aktuell wurde,20 hat es diesem »Klassiker des deutschen Films« 21 als »Gabe« zugeschrieben, »die Grenzen zwischen Wirklichem und Unwirklichem zu verwischen«: »Ein Lichthof aus Traum und Ahnung umgab die Wirklichkeit in seinen Filmen, und eine greifbare Gestalt wurde in den Augen der Zuschauer plötzlich zur bloßen Erscheinung.« 22 Dieses Changieren von »greifbarer Gestalt« und »bloßer Erscheinung« kennzeichnet ebenso das >phantastische< Selbst- und Weltverständnis Mumaus im »Schönen Vogel Phönix«: Schon in seiner Jugend verläßt ihn »eigentlich niemals das Gefühl, daß es diese Welt nicht« gibt (44). Ein Film bestätigt sein »Mißtrauen gegenüber der Wirklichkeit von Ereignissen« (76). Später weiß er, daß »die Grenzen zwischen Realität und eigenen Vorstellungen oft unentwirrbar« verschwimmen (250), und auch am Ende der Geschichte ist die Hauptfigur noch immer »damit beschäftigt«, die Wirklichkeit ihres Lebens anzuerkennen, sich »mit der Tatsache abzufinden, daß« sie »geboren wurde« (296). Doch das ästhetische Potential, welches das schillernde Pseudonym Mumau und der Wechsel zwischen erster und dritter Person versprechen, findet kein Äquivalent in der narrativen Struktur des Textes. Selbst wenn der Protagonist am Schluß des Romans seiner

Eine scheinbare Parallele bestätigt dagegen die Nicht-Identität der Figur mit sich selbst: »Ich, Murnau, bin noch nicht der, der ich zu sein bestimmt bin« (36). - Das Erzählen in der dritten Person kann außerdem, wenn auch nur selten, ein Signal für die Perspektive anderer Figuren sein, für die Sicht, aus der sie das Handeln des Protagonisten wahrnehmen. Beispiel einer erlebten Rede: »Bei Rinaldo kam Interesse auf. Murnau hatte gearbeitet: woran?« (246) Zu weiteren Beispielen einer »Milieuperspektive« siehe etwa: »Ausgerechnet Murnau, von dem niemand es erwartet hätte außer ihm selbst, fiel durchs Abitur.« (56) - »Einige sind vorerst an der Uni versorgt, junge Wissenschaftler. Andere wissen noch nicht genau, was sie machen werden. In Berlin bleiben wollen sie alle, nur Murnau nicht.« (279) •β Siehe 6 2 - 6 5 , 9 2 - 9 4 , 9 7 , 1 0 3 , 2 7 1 , 2 8 1 ; 7 , 1 1 , 4 8 , 1 3 7 , 1 6 7 , 1 7 4 , 1 9 1 . 1 9 Siehe hierzu Dittmar, F. W. Murnau, S. 124. - Über die Herkunft dieses Pseudonyms finden sich bei Dittmar allerdings keine Angaben; auch Eisner (Murnau, S. 15) äußert darüber nur Vermutungen. 20 Siehe hierzu Rutschky, Erfahrungshunger, S. 223. Eisner, Murnau. - Das Zitat entspricht dem Untertitel dieses Textes. 22 Kracauer, Von Caligari zu Hitler, S. 85. 17

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Zukunft weitgehend perspektivlos entgegensieht: die Gegensätze von Leben und Traum, Realität und Phantasie, Identität und Nicht-Identität, Nähe und Distanz, Innen und Außen sind in dieser Lebensgeschichte ausschließlich auf der vertikalen Ebene relevant, nicht aber auf der horizontalen Ebene als ästhetische Irritation des geltenden Selbst- und Weltverständnisses der Perspektivfigur. Mit dem Eigennamen »Mumau« ist die Verunsicherung der antiautoritären Generation, das Gefühl, nach dem Scheitern der Bewegung zwischen Traum und Wirklichkeit zu leben, nur personalisiert, und auch die vorgebliche Außenperspektive markiert bloß die zeitliche und normative Distanz zum früheren Handeln der Hauptfigur, konstituiert aber keine semantische Struktur, durch die das heutige Bewußtsein des Ich-Erzählers relativiert wäre. Als Deutungshorizont des Lebenslaufs besitzt dieses trotz jener Aufspaltung in einen autobiographischen und einen biographischen Blickpunkt uneingeschränkte Geltung und wird - im Gegensatz zu den Texten von Weiss, Kluge, Enzensberger und Kinder - weder durch das Erzählen der Übergangsgeschichte zwischen Vergangenheit und Gegenwart (282-300) noch durch die Schilderung der kathartischen Lektüreerfahrung als Erinnerungsanlaß (293-295) noch durch die Abbildung des Erzählprozesses (22, 81,88-90,282,300) kritisch reflektiert. So ausgeprägt ist das gegenwärtige Wissen des auktorialen Erzählers, daß es die Darstellung der Erinnerungen an das damalige Erleben umfassend einengt. Bereits die unterschiedliche Häufigkeit der narrativen Tempusformen signalisiert dies: Das szenische Präsens ist nur selten eingesetzt, um besondere Ereignisse wie den Höhepunkt einer Liebesszene (250f.) zu veranschaulichen; im übrigen betont es die Nähe der dargestellten Sachverhalte zum Heute der Perspektivfigur - etwa bei der Beschreibung von alten Fotografien (35-42) und beim Erzählen vom Abschied in Berlin (277-280) als der Schwelle zu den Nach-»Geschichten« (282) der Gegenwart. Dominierendes Tempus ist das Präteritum, und damit wird vor allem die zeitliche Distanz zu einem Geschehen hervorgehoben, das im Bericht sowohl >gerafft< als auch detailliert ausgebreitet sein kann.23 Trotz solcher epischen Fülle sind dialogische Szenen (13f., 58f„ 177f., 246f.) ebenso die Ausnahme wie personalperspektivische Passagen, in denen die damalige Verwirrung des Protagonisten - etwa der »faux-pas« mit dem Abfall (144) - ihre Modellierung finden kann. Wo die unmittelbare Sicht des Betroffenen zur Sprache kommt: »Ich, Murnau, bin noch nicht der, der ich zu sein bestimmt bin« (36) - »werde ich eines Tages einen unserer heiligen Texte, mag sein von Lenin, zuklappen und aufstehen, um etwas ganz anderes zu tun?« (171) werden solche Gedanken und Reflexionen meistens an den distanzierten Bericht zurückgebunden: »hatte er das deutliche Gefühl« (36) - »dachte Murnau« (171). Erzählverfahren wie die erlebte Rede (135) und der innere Monolog (95, 251) sind nur verstreut eingesetzt, nicht zu einem zentralen Strukturelement ausgebildet. Auf diese Weise mag eine »kühle« Prosa entstehen, die sich vielleicht auch von einem »seit einiger Zeit vorgeschriebenen >Diskurs< der Spontaneität« unterscheidet. Daß ein solcher »Stil« sich allerdings der »Entmischung von sinnlicher Anschauung und politischer Reflexion« durch eine »höhere Wahmehmungsschärfe« widersetze,24 muß bestrit-

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Zu diesem Spielraum des epischen Berichts siehe allgemein Lämmert, Bauformen des Erzählens, S. 91f. Lethen, Geschichten vom unbekannten Verlust, S. 1033.

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ten werden. Denn Schimmangs Perspektivfigur hat ihren Lebenslauf fest im Griff einer nahezu anachronistischen Erzählkonstruktion. Durchaus paradigmatisch für eine dominierende Tendenz im autobiographischen Schreiben der 70er Jahre ist es, wenn im »Schönen Vogel Phönix« nicht - was Kracauer bereits am biographischen Erzählen der 20er Jahre kritisierte - »die Verwirrung« des Individuums »selber epische Form« gewinnt.25 Das gegenwärtige Bewußtsein des auktorialen Erzählers liefert in dieser literarischen Lebensgeschichte eine verbindliche Wertordnung, vor welcher dann das politische Engagement in einer kommunistischen Kaderpartei zu den »vergangenen Irrtümern« (214) gezählt werden kann. Auch wenn eine solche historische Erkenntnis den Aufstieg und Niedergang derartiger Organisationen nach 1970 durchaus zutreffend charakterisiert, ist diese partielle Einsicht hier jedoch mit einem ästhetischen Rückgriff ins neunzehnte Jahrhundert verbunden, der - paradigmatisch für einen dominierenden Trend im autobiographischen Schreiben der 70er Jahre - die Entwicklung narrativer Verfahren seit der literarischen Moderne weitgehend negiert. Im Erzählen der Ereignisse (nicht in deren Erleben!) ist >die Welt< für die Perspektivfigur dieses Romans noch wirklich >in Ordnungeigentliche< Bedeutung des Geschehens, ohne daß diese Sicht ironisch gebrochen wäre. 25

Kracauer, Die Biographie als neubiirgerliche Kunstform, S. 76.

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Zumindest über den bisherigen Lebenslauf weiß die Perspektivfigur Bescheid: ein chronologisches Erzählen weicht nur in begrenztem Umfang vom Gang des Geschehens ab. Und auch da, wo im »Rückblick« des »Prologs 2« (33-57) Erinnerungen an die Jahre 1965-1967 als Vorgeschichte zum »Prolog 1« (7-32) nachgeliefert werden (siehe ähnlich 59f„ 131f„ 288), stellt ein solches Verfahren - wie die immanente Vorwegnahme von späteren Ereignissen (8, 55, 5 9 , 2 5 8 ) - keineswegs den Überblick des Ich-Erzählers in Frage, sondern ist nur der Ausdruck von dessen sinnstiftender Macht. Die vielen Ereignisse des Lebenslaufs werden durch den auto-biographischen Erzählerbericht zu einer Entwicklung, zu »einer Geschichte« synthetisiert: eine Montage von »Bruchstücken« (299) findet h i e r - anders als bei Kluge, Enzensberger und Kinder - strukturell nicht mehr statt. Ebensowenig wird durch die vielen Zitate eine Collagestruktur konstituiert: Der Erzähler zitiert zwar umfangreich aus privaten Texten wie Brief, Thesenpapier und Tagebuch, aus veröffentlichten Texten wie Flugblättern, Zeitungen und Zeitschriften, politischen Analysen, Liedern und literarischen Werken. Doch auch wo Zitate nicht durch Inquit-Formeln eingeführt werden, sind sie durch Zwischenüberschriften in den Erzählzusammenhang integriert (62,280f.) oder als Motti der Figurenrede des Erzählers voranoder nachgestellt (57f., 1 2 7 , 1 9 4 , 2 1 6 , 282). Die Montage von Erfahrungsbruchstücken leistet mithin nur in Ausnahmen ( 1 5 , 2 9 8 ) die Negation jener Kohärenz, die durch den in sich geschlossenen Erzählelbericht gegeben ist. Souverän kann der Berichterstatter über seine Erinnerungen verfügen. Als »Kenner« (37) ist es ihm aus dem lebensgeschichtlichen Abstand möglich, seine Biographie durch historiographische Exkurse in der Zeitgeschichte zu verankern (66,84f„ 123f., 128-130, 150f„ 153-155,231f.), aber auch die Eigenschaften von Figuren (72f„ 105-108,145f.), Landschaften und Städten ( 3 3 - 3 5 , 7 7 - 8 0 , 1 1 2 , 233f„ 290f.) genau zu charakterisieren. Zwar sind diese Schilderungen hier an die Sicht des Erzählers zurückgebunden und insofern subjektiviert. Gleichwohl veranschaulichen sie keine damalige Betroffenheit des Protagonisten, sondern vor allem sein heutiges Wissen darüber, was »völlig zutreffend« (34), »recht« (40) und »wirklich« (42), was »nicht wahr« (233), was »unbeschreiblich« (72) und »am Ende tödlich« (78), was historisch »verschlissen« (66), »möglich« (123/130) und >neu< (231) ist. Am klarsten manifestiert sich der gegenwärtige Werthorizont des Ich-Erzählers schließlich, wo er eigenen Erlebnissen durch explizite Erklärungen ihre heutige Bedeutung zuweist und diese in »Maximen und Reflexionen gar für die Zukunft verallgemeinert. So erläutert er sein damaliges Verhalten als »naiv« (76), als Flucht »in die falsche Richtung« (109f.), macht für die Strategie, sich »nach Münchhausens Vorbild am eigenen Schöpf aus dem Sumpf zu ziehen« (125), als »Anlässe« und »Hintergründe« (128) die »neuen Erfahrungen und die alten Ängste« (130) verantwortlich, entdeckt am erzählten Ich ein »Programm« (96) und eine »Methode« (221), diagnostiziert einen »resignaüven Wiedeiholungszwang« (266) und >verschreibt< sich schließlich das autobiographische Erzählen als »Trauerarbeit« (295). Er resümiert seine Erfahrungen in Sentenzen: »Die Welt des Glücklichen ist eine andere als die des Unglücklichen« (90/97) - »Jeweils eine andere Vertrautheit, jeweils dieselbe Fremdheit« (141/206) - »Solche Flüge dauern nie sehr lange« (256), und teilt schließlich im letzten Satz des Textes die einprägsame >Superformel< seiner Lebensgeschichte mit: »Überleben ist schwieriger geworden.« (300) Die Reflexion der Grenzen autobiographischen Erzählens, die ästhetische Artikulation der »Zweifel an der Möglichkeit zur eigenen Authenti-

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zität« 26 leisten solche Lebensregeln allerdings nicht. Obwohl die perspektivlose Situation des integrierten Außenseiters am Ende des Romans andeutet, daß nach dem Zerfall der Bewegung für das ehemals antiautoritäre Individuum keine Kongruenz von Lebensplan und Lebenslauf möglich ist, gibt die selbstbewußte Haltung des Erzählers hier noch immer eine Identität der Erfahrung vor.

8.3. Autoritäre Kaderpolitik oder: die »leninistische Wende« Ein entscheidender Grund für die Abwertung des damaligen und für die Aufwertung des heutigen Werthorizonts sind die negativen Erfahrungen, die der Ich-Erzähler während der aktiven Phase seiner Politisierung gemacht hat: in einer der K-Gruppen, die sich nach der antiautoritären Phase der Protestbewegung so zahlreich gründeten und die auf das traditionalistische Konzept vertrauten, nach dem »der lange Marsch durch die Institutionen und gegen die Institutionen des bürgerlichen Staates nur von marxistisch-leninistischen Kadern, die sich immer mehr mit dem Volk verschmelzen, siegreich geführt werden« könne. 27 Schimmangs Roman erzählt aus der Sicht eines ehemaligen Mitglieds von dessen Erlebnissen innerhalb einer solchen, vor der >Verschmelzung< mit dem Volk noch strikt konspirativen Organisation und thematisiert deshalb für die literarische Öffentlichkeit am Ende der 70er Jahre »Neues - stofflich, in der Erfahrung Neues«. 28 Am Paradigma einer Lebensphase zwischen 1968 und 1978, an einem Individuum, das erst nach dem Höhepunkt der antiautoritären Revolte zu der Bewegung gestoßen ist, wird ja hier deren Zerfall dargestellt und so gerade das veranschaulicht, was Kinders Roman durch seine scheinbar sujetlose Struktur und durch das Aussparen der >heißen Jahre< nicht als Entwicklung zu erzählen vermag: der biographische Lemprozeß eines Studenten, der mit seinen Lebensplänen ganz auf die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse setzt, sich in einer politischen Organisation nur noch für dieses Ziel engagiert und in seinem Lebenslauf schließlich doch das völlige Fehlschlagen solcher Bemühungen einsehen muß. Daß die antiautoritäre Bewegung gerade in der Kaderpolitik gescheitert ist, diese Erfahrung des Ich-Erzählers bestimmt die Darstellung seines bisherigen Lebenslaufs als einer positiven Entwicklung vom politischen Irrtum zur autobiographischen Erkenntnis: die leninistische Position des erzählten Ichs, damals zur Aufhebung der spontanen Aktionsphase idealisiert, wird von der Perspektivfigur heute als autoritäre und unhistorische Ideologie begriffen, durch die der gesellschaftliche Modemisieningsschub der Revolte weder für das Individuum noch für seine Generation in einen >langen Maisch durch die Institutionen hat überführt werden können. Mit großen Hoffnungen auf persönlichen und kollektiven Aufbruch verbunden, stellt sich die Entscheidung für den Einstieg in die Phase der proletarischen Organisation (66,84f.) jetzt als die »leninistische Wende« dar(128), als politischer Rückschritt in einen >neuen< sozialen Heirschaftsraum. Die Kaderorganisation bietet ihren Mitgliedern im konspirativen Innenraum keine menschliche »Wärme« (130) und treibt auch nicht im gesellschaftlichen Außenraum die 26 27 28

Krechel, Leben in Anführungszeichen, S. 86. Provokation, hg. von Miermeister/Staadt, S. 204f. Vormweg, Ein paar neue Erzähler.

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»soziale Revolution« (229) voran. Statt dessen ist die interne Reflexion durch eine leninistisch-stalinistische Ideologie eingeschränkt (177-181,186f., 191-193, 208f.), in der marxistische Theoreme auf die dogmatische Weltanschauung einer »Legitimationswissenschaft« 29 reduziert werden (127f., 129f., 175-177). Diese rechtfertigt eine anachronistische Strategie »aus dem zaristischen Rußland« (130), nach der die »westdeutsche Arbeiterklasse« als konkretes gesellschaftliches »Subjekt« und die »revolutionäre Intelligenz« (128f.) als deren Avantgarde wechselseitig aufeinander verwiesen sind und sich deshalb in proletarischen Kadern gemeinsam zu organisieren haben. Der dogmatische Vorrang von unhistorischen Organisationsprinzipien führt dazu, daß die proletarische Avantgarde< in der Praxis wie eine kapitalistische »Firma« (156/163/217) arbeitet: wer in dieses »Unternehmen zur Führung und Beschleunigung des Klassenkampfes« (156f.) aufgenommen werden will, muß sich in einem »Bewerbungsgespräch [...] verkaufen« (149f.); wer »Karriere« (173) machen will, muß nicht nur die passende Kleidung (174f.) besitzen, sondern auch pflichtgemäß seine Arbeit am »üblichen Fünfzehnstundentag« (193) leisten; wer schließlich ganz oben gelandet ist, muß sich »in der Kunst der Menschenfuhrung« verstehen und darf die Genossen »außerhalb des engen Führungskerns« nicht »in Verwirrung« stürzen (191). Auch wenn eine derartige Tätigkeit vornehmlich nur Aktionismus ist, der die subjektiven Dispositionen und die gesellschaftlichen Bedingungen vernachlässigt (157f., 183-185) - alles wird autoritär dem politischen Realitätsprinzip untergeordnet: »Kader rekrutieren, Betriebsgruppen aufbauen, Agitation und Propaganda betreiben, Klassenbewußtsein von außen ins Proletariat tragen« (177). Die Diskrepanz zwischen der realen Bedeutungslosigkeit und der imaginierten Bedeutung wird aber dadurch verschleiert, daß die Organisation wie auf einer »Bühne« (181) die Ästhetisierung der Politik zur »Show« (190/192) leistet und daß der einzelne seine Unzulänglichkeit in einer asketischen Haltung rationalisiert, welche die politische Arbeit - ganz in der Tradition der Frühromantik - zum Dienst an der »heiligen Revolution« 30 verklärt: »Der Mönch mit der Lederjacke« (127), dieser Titel des zweiten Kapitels zielt nicht nur ironisch auf die ästhetischen Requisiten des Proletkults, sondern verweist auch entlarvend auf die Sakralisierung einer vorgeblich proletarischen Politik, in der es eine ideologische »Genesis« (127) und einen »Initiationsritus« (148), ein »mönchisches Programm« (163) und »heilige Texte« (171), »das Alleiheiligste« und eine »Klosterzelle« (172f.) gibt. Auch die Arbeiter erlebt der Protagonist nur als Widerlegung seiner Vorstellungen. Die spontanen Septemberstreiks von 1969 (128f.) sind nicht das Signal zu einem historischen Aufbruch; das »Proletariat« (66) erweist sich nicht als das »Subjekt« (128) einer revolutionären Veränderung in der unmittelbaren Zukunft, sondern ist in die bestehenden Verhältnisse integriert (184,230). Eine Kontinuität zwischen dem Klassenbewußtsein der Vergangenheit und dem Krisenbewußtsein der Gegenwart stellt sich weder - wie in den »Bottroper Protokollen« erhofft - durch ein antiautoritäres Proletariat ein, noch läßt es sich voluntaristisch (190) »von außen« (177) herstellen. Während seiner

Siehe hierzu allgemein Negt, Marxismus als Legitimationswissenschaft; Habermas, Einige Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu vermitteln, S. 3 7 - 4 5 . so Die »Verwandlung der französischen Revolutionsideale zur romantischen Totalitäts religion« untersucht: Timm, Die heilige Revolution; Zitat S. 90.

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Tätigkeit als Kader erfährt der Protagonist hauptsächlich nur seine Distanz zu den Arbeitern: »Angst« und »Scham« empfindet er gegenüber den proletarischen Genossen, ist irritiert, daß sie »nicht den geheimen marxistisch-leninistischen Leitbildern des Ernstes, der Strenge, der ununterbrochen verantwortungsbewußten Haltung« entsprechen (134f.). »Angst« (152/160) hat er ebenso vor dem »Blick der Massen in der U-Bahn« (150) wie vor den Belegschaften der großen Berliner Fabriken, wenn er frühmorgens Flugblätterund Zeitungen verteilt (159f.). Trifft er einmal mit »älteren und sozialistischen Arbeitern« zusammen, hört er »angesichts soviel gesammelter Erfahrung« nur ehrfürchtig und »aufmerksam« zu (188); ein Dialog mit dem proletarischen Bündnispartner kommt aber im Unterschied zu Gertruds Erfahrungen im »Schleiftrog« überhaupt nicht mehr zustande. Schließlich erfüllen sich auch die persönlichen Erwartungen nicht, die Murnau mit dem Einstieg in die politische Organisation verbunden hat; »die Verlockung: wenn du zu uns kommst, wirst du Wärme finden«, entpuppt »sich als ein leeres Versprechen« (139). Grund dafür ist, daß in der Kaderpartei die Dialektik von »antikapitalistischer Politik und subjektivem Emanzipationsprozeß« (158) zuungunsten des Individuums aufgelöst und der einzelne durch die neuen Ansprüche im alten Organisationskonzept überfordert ist. Zwar vermag er eine gewisse Zeit lang ohne jede persönliche Erfüllung des Lustprinzips seine Arbeit zu tun: Murnau vernachlässigt Beziehungen (139f„ 172f.), ignoriert körperliche Symptome (160, 179), stellt seine Zweifel am »selbstzerstörerischen« (159) und voluntaristischen Handeln immer wieder zurück (189-193, 208f.). Doch die asketische Unterwerfung unters Realitätsprinzip verstärkt nur die Nicht-Identität des erzählten Ichs mit sich selbst. Ein »Zustand permanenter Müdigkeit« (159), ein »Zusammenbruch« (183), eine »umfassende Erschöpfung«, »so groß«, daß sie beinahe zum »Tod« führt (202), veranschaulichen die physischen und psychischen Folgen einer Politik, die ihre Subjekte »fast umgebracht« hätte (215). Einem solchen Handeln, das tendenziell auf die Selbstzerstörung des einzelnen hinausläuft, ist in Schimmangs Roman der Prozeß einer Selbstreflexion gegenübergestellt, in dem sich der Protagonist zunehmend seiner »Zweifel« (176) und seiner »Verwirrung« (191) bewußt wird. Doch die in der Gruppe artikulierte konstruktive Kritik stößt auf wenig Verständnis (178,191-193), und so bleibt Murnau als Form der »Abrechnung mit den Vätern« (214) letzlich allein der begründete Abschied von deren autoritärer Politik. Im gegenwärtigen Bewußtseinshorizont des desillusionierten Ich-Erzählers wird die Phase der leninistischen Kaderpolitik jetzt zu den »Irrtümern« (229/232) einer Vergangenheit gezählt: Ob K-Gruppen oder Rote Armee Fraktion, beide folgen der gleichen traditionalistischen Strategie, durch welche die »soziale Revolution« zu einer »Parteisache« (229) von selbstemannten Eliten erklärt wird. Das »in der Geschichte dieser Republik Neue« (231), der kollektive Versuch von Intellektuellen, ihre Lebenspläne an einem Konzept gesellschaftlicher Emanzipation zu orientieren und Bildung nicht nur zur Erringung sozialer Privilegien zu nutzen, ist durch solche Organisationsformen aber ins Unkenntliche verzerrt. Wenn der »Schöne Vogel Phönix« den Dogmatismus der Theorie, den Vorrang von Organisationsprinzipien, die Ästhetisierung, ja Sakralisierung von Politik, den Mangel an Selbstreflexion, die fehlende Berücksichtigung von Charakterstrukturen und die unzulängliche Kommunikation dafür verantwortlich macht, daß sich die persönlichen 246

und historischen Hoffnungen nicht realisiert haben, so stellen diese »Erinnerungen eines Dreißigjährigen« im Vergleich zu den Lebensgeschichten von Enzensberger und Kinder die Erscheinungsformen jener Diskrepanz zwischen den revolutionären Ansprüchen und den empirischen Bedürfnissen der ehemals antiautoritären Generation viel umfassender dar. Doch Schimmangs Text unterscheidet sich von den beiden Romanen vor allem dadurch, daß er in seiner poetischen Struktur ein lebens- und zeitgeschichtliches Erklärungsmodell ftir diese Phase der Politisierung liefert, das über die Veranschaulichung von deren Folgen für das Individuum weit hinausgeht: Das Scheitern des Aufbruchs von 1968/69 führt 1979 nicht nur zu dessen romantischer Verklärung zum kurzen Sprung ins Reich der Freiheit, sondern auch zu antimodernistischen Deutungskategorien von Geschichte selbst. Weil die Lebenspläne der antiautoritären Generation zwischen 1969 und 1974 mit der allgemeinen Geschichte in keinem >langen Marsch durch die Institutionen vermittelt worden sind, ist diese Diskrepanz in Schimmangs Roman nicht mehr sozialpsychologisch, politisch und historisch als Einheit faßbar: Lebensgeschichte, zur Individualgeschichte psychologisiert, und Zeitgeschichte, zur Naturgeschichte mythologisiert, werden voneinander getrennt und stehen sich verdinglicht gegenüber.

8.4. Ästhetisierte Vergangenheit - »die goldenen sechziger Jahre« Da die konspirative Gruppe sich als realer Herrschaftsraum erwiesen hat, nicht wie erwartet als utopische Enklave, wertet der »Schöne Vogel Phönix« die Ereignisse vor dieser Wende retrospektiv um zum lebens- und zeitgeschichtlichen Erfahrungsraum, in dem der Aufbruch zumindest als konkrete Hoffnung für kurze Zeit möglich gewesen sei. Dieser sprichwörtliche Sprung in die >gute, alte Zeit< gilt in seiner autobiographischen Dimension vor allem der Jugend, die Mumau von 1965 bis 1968 in der »Nische« (42f.) einer ostfriesischen Kleinstadt verbracht hat und die der Ich-Erzähler als Übereinstimmung von Ich und Welt zu den »wunderbaren Jahren« (42/44) verklärt Diese Formulierung, ein Zitat aus Truman Capotes Roman »Die Glasharfe«, steht als Titel von Reiner Kunzes 1976 erschienener Prosasammlung31 in ironischer Spannung zu den dort dargestellten Erfahrungen: die »wunderbaren Jahre« bedeuten gerade keinen Freiraum der Jugend vor ihrer Integration in den gesellschaftlichen Herrschaftsraum der Erwachsenenwelt. Schimmangs Text hält dagegen ungebrochen an der romantischen Tradition fest, nach der diese vergangene Lebensphase dem sich erinnernden Individuum als eine Ausnahme zur gegenwärtig erlebten Entfremdung erscheint. Während die Werke von Weiss und Kinder Mechanismen aufzeigen, die schon von der frühen Kindheit an der Identität des einzelnen abträglich sind, erklärt der Ich-Erzähler im »Schönen Vogel Phönix« nach dem gescheiterten Aufbruch seine Jugend zur unwiederbringlichen Zeit der Erfüllung: »Ich war glücklich.« (44) Dieses Glück besteht für die »Kinder von Marx und Coca-Cola« (33/43) in einer gesellschaftlichen Situation, auf die schon Enzensbergers Roman hingewiesen hat und die es gestattet, den abstrakten Anspruch auf Weltveränderung und das konkrete Bedürf31

Siehe Kunze, Die wunderbaren Jahre, bes. S. 25. - Zu diesem Zitat im »Schönen Vogel Phönix« siehe weiter 56,116,167,200,260,276,282f. 247

nis nach Wohlstand problemlos zu vereinbaren. »Prächtig« sind »die äußeren Bedingungen« für den Protagonisten: er hat »keine Geldsorgen« und »ein eigenes Zimmer«; der »Krach« mit den Eltern und die Schule sind »nicht wirklich wichtig«; »angenehm leben« läßt es sich für ihn, und er ist »mit den gegebenen Zuständen einverstanden« (43f.)· Zwar ersteht er mit der Wildledeijacke ein Requisit des »Aufbruchs« und der »Revolution« (38), er nimmt an einer »Kulturrevolution« (43) teil und spielt mit seinen Freunden die Boheme der ostfriesischen Provinzstadt. Doch: »Im Prinzip war die Welt in Ordnung, sie mußte nur noch um einiges besser werden.« (46) Der Ich-Erzähler ästhetisiert hier nach der Tendenzwende seine Jugend zur Zeit des Aufbruchs, in welcher eine »Vorstellung von Zukunft« (116) und der Glaube an die weltverändernde Funktion der »Wörter« (44), »an die Überzeugungskraft von Vernunft, von Aufklärung, an die Kraft rationaler Diskussion« (46) noch möglich gewesen seien. Zwar besteht auch am Ende des Romans noch die vage Aussicht auf eine andere Gesellschaft: mit dem Titelhelden von Alain Tanners Film »Jonas, der im Jahre 2000 25 Jahre alt sein wird« (299) werden nach der gescheiterten Rebellion die unerfüllten Hoffnungen auf eine zukünftige Generation projiziert. Doch in der Struktur des Textes bleibt die historisch-utopische Dimension des Kindheits- und Jugendmotivs seiner retrospektiv-idealisierenden Bedeutung untergeordnet: »Glück, wenn ich überhaupt diese Kategorie zu denken wagte, war untrennbar verbunden mit der Feme, mit der räumlichen und mit der zeitlichen: immer nach rückwärts gewandt, Glück als vergangenes Glück.« (183) Diese Ausführungen des Ich-Erzählers können durchaus als repräsentativ für ein literarisches Verfahren der ganzen Lebensgeschichte gelten, das an (neo-)romantischen Vorstellungen ungebrochen festhält: Kindheit und Jugend, zwei »aufeinanderfolgende Stadien des Aufwachsens«, die sich in der Erinnerung nur »schwer« voneinander »trennen lassen«, verklären sich auch hier dem Individuum zu den autobiographischen Erscheinungsformen eines goldenen Zeitalters.32 Wie in der Romantik idealisiert der »Schöne Vogel Phönix« Kindheit und Jugend zum »verlorenen Paradies«, in das sich der einzelne nur noch zurückzusehnen vermag.33 Besonders deutlich tritt dieses magisch-melancholische Verhältnis zur Vergangenheit dort zutage, wo parallel zur lebensgeschichtlichen Verklärung jener »wunderbaren Jahre« auch die zeitgeschichtlichen Verhältnisse explizit zum »verlorenen Paradies« (200/204) der »goldenen sechziger Jahre« (47) ästhetisiert werden. Vor allem die Jahre 1968/69 sind als Höhepunkt der antiautoritären Bewegung aus dem »Gang« derZeit hervorgehoben (95) und zu »jenem kurzen Moment« stilisiert, »als alles möglich schien oder vielleicht auch alles möglich war« (123). Die Identität von Protest und »Spaß«, von »antikapitalistischer Politik und subjektiver Emanzipation« (158), die »Anfänge der neuen Frauenbewegung« (164) und ein Studium ohne Leistungsdruck (297), all dies wird nach dem Scheitern der »leninistischen Wende« (128) dem antiautoritären »Aufbiuch« (281) gutgeschrieben, ohne daß dessen Unzulänglichkeit überhaupt noch in den Blick käme. So beschwören ein »längerer Einschub über Haare« (153-156) und die Thesen über die Studentenbewegung (242-245) vornehmlich 32

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Stöckli, Die Rückkehr des romanüschen Helden in seine Kindheit, S. 17. Siehe hierzu auch Mähl, Die Idee des goldenen Zeitalters im Werk des Novalis, S. 362-371; Wucherpfennig, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900, S. 172-207. Wucherpfennig, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900, S. 190.

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nur das antiautoritäre Selbstverständnis. Außerdem pauschalen »Mangel an einer brauchbaren Theorie der existierenden Gesellschaft« (245), außer der abstrakten »Kritik an den [...] zu utopischen Inhalten und Zielen der Revolte« (106) sind aber keine konkreten Gründe mehr aufgeführt für die »Angst« vor den »Massen« (156) und für die »Zerfaserung« der »politischen Identität« (243). Nach den kollektiven Ursachen, die eine Generation daran gehindert haben, die von Dutschke und Krahl formulierten politischen Lebenspläne zu verwirklichen: »ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen« (15) und »die menschlichen Beziehungen [... ] im gesellschaftlichen Verkehr zu verändern« (225), danach wird in Schimmangs Roman im Gegensatz zu Kinders »Schleiftrog« nicht weiter gefragt. So ausführlich manche Details in dieser Lebensgeschichte erzählt sind, so lakonisch heißt es zum Übergang von der antiautoritären zur leninistischen Phase: »Die großen Inhalte der antiautoritären Bewegung, Aufklärung, Provokation, Sensibilität, all das war etwas abgetragen, ein bißchen verschlissen.« (66) Weil der »Schöne Vogel Phönix« die Zwiespältigkeit der antiautoritären Bewegung an ihrem Höhepunkt in der ästhetischen Struktur des Textes nicht in den Blick nimmt, hat er zehn Jahre später teil an jener »nachträglichen Stilisierung«, durch welche die antiautoritäre Bewegung zu einem »utopischen Gefilde politischer Unbefangenheit« verklärt wird. Indes stellt diese Blickweise auf die vergangene Revolte nur ein Indiz für die mangelnde Reflexion ihres Scheitems dar: »Wie widersprüchlich, atemlos und verunsichernd« der »Politisierungsprozeß tatsächlich war«, so urteilt ein Zeitgenosse 1977, »verschwindet unter der gegenwärtig vorherrschenden Stilisierung der antiautoritären Revolte als reiner Emanzipationsbewegung. Es liegt auf der Hand, daß die Quelle dieser Stilisierung in der Hilflosigkeit der heutigen politischen Generation gegenüber ihren eigenen Bedürfnissen und mithin in den Schwierigkeiten gegenüber dem gegenwärtig herrschenden Begriff politischer Arbeit zu suchen ist«. 34 Diese Ratlosigkeit der antiautoritären Generation nimmt in Schimmangs Roman allerdings schon mit dem Geschehen von 1968/69 ihren Ausgang. Beide Jahre sind sowohl der Höhepunkt als auch der Wendepunkt, mit dem der scheinbar organische Zerfall von individueller und politischer Identität beginnt. So bringt das Jahr 1968 in seinen zeitgeschichtlichen Ereignissen nicht nur Erfolge auf dem Weg zu einem freiheitlichen Sozialismus: »die sogenannten Osterunruhen«, »den Pariser Mai und den Prager Frühling (was für schöne Namen in einem knappen halben Jahr geboren worden waren!)« (27), sondern zugleich schon schwerwiegende Rückschläge: den Mordanschlag auf Rudi Dutschke (13f.), das Scheitern einer Einheit von französischen Studenten und Arbeitern im >kurzen Sommer der Anarchie< (20), den Einmarsch von Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR (26-28). Doch die Enttäuschung von Hoffnungen im gesellschaftlichen Außenraum ist hier nicht etwa - wie bei Enzensberger und Kinder - historisch oder sozialpsychologisch erklärt, sondern wird durch die Parallelisierung mit der individuellen Befindlichkeit des Protagonisten zur Vorstellung einer naturhaften »Endzeit« und »Übergangszeit« (25) mystifiziert: Einerseits dominiert »nicht das Gefühl, daß [...] noch etwas Schlimmes passieren könnte«, sondern die »Dimension Zukunft« (23) mit ihren »tausend Möglichkeiten« (32), »das Gefühl«, »der große Aufbruch stünde unmittelbar bevor« (102), gar die Empfin-

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Härtung, Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen, S. 18f. und S. 21.

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dung, »am Ende aller Kämpfe«, »am Ziel« der Lebensgeschichte zu sein (32). Andererseits läßt die Erinnerung an den Tod das Gefühl der Ich-Stärke verschwinden (23f.); das »illusionslose« (26), »klare« und »nüchterne« (30) Bewußtsein, »nicht groß genug« für »alle tausend Möglichkeiten« zu sein (33), kündigt sich in den persönlichen Stimmungen der »Verzweiflung«, der »Ratlosigkeit« (25f.) und der »Unsicherheit« (60) bereits an. Diese damalige Zwiespältigkeit der gesellschaftlichen und persönlichen Entwicklung konfrontiert der Ich-Erzähler heute mit ihrem eindeutigen Ergebnis: »Die Revolution fand nicht statt.« (20) - »Der Aufbruch kam nicht.« (102) Doch gerade die Tatsache, daß alles weitere Lebens- und Zeitgeschehen hinter den utopischen Ansprüchen zurückgeblieben ist, begründet in Schimmangs Roman keine historische Reflexion der Situation von 1968/69, sondern führt nur zur Ästhetisierung jenes kurzen, unwiederbringlich verlorenen »Augenblicks« (32/60/130), der dem einzelnen und seiner Generation ermöglichte, sich >im Aufbruch am Ziel< zu wähnen.35 Nach der Wende aber gibt es im gesellschaftlichen Außenraum keinen Ort mehr, an dem es sich für längere Zeit überhaupt noch leben ließe: diese resignative Schlußfolgerung wird mit der vorliegenden Lebensgeschichte aus dem Scheitern der Protestbewegung gezogen, ohne daß jenes Lebensgefuhl der Verzweiflung - wie noch in Kinders »Schleiftrog« - auf seine historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen hin reflektiert wäre. Die topographische Struktur des literarischen Raums zeigt vielmehr, daß der Aufenthalt in der Gegenwart vor allem Angst und Melancholie hervorbringt: Die Orte der 60er Jahre stellen einen sozialen Erfahrungsraum dar, in dem die glücklichen Augenblicke dominieren (44,53). Das >Unglück< der 70er Jahre beginnt erst, wenn der Protagonist mit dem Ende der Schulzeit seiner Sehnsucht nach >Ausfahrt< folgt36 und in der Metropole Berlin, seinem »Traum« (59), für längere Zeit leben will. Doch die »Hauptstadt der Revolte«37 erfüllt nur für kurze Zeit die »Hoffnungen« (272): »Unruhe« als »leichtes Ekelgefühl vor der Zukunft« (61) prägt wie die erste jede weitere Ankunft in der Stadt (77,207,240); »die Angst« ist der Hauptfigur »treue Berliner Begleiterin« (253); das »Berliner Gift«, der Geruch einer »sterbenden Stadt«, verbreitet nur »Melancholie«, macht »süchtig« und »ist am Ende tödlich« (77-80), wie es Murnau mit »Zusammenbruch« (183), »umfassender Erschöpfung« (202) und Selbstmordversuch (263) fast am eigenen Leibe erfahren muß. Fünf Jahre lang fühlt sich der Protagonist »festgekettet« im »eingemauerten Berlin« (183); weil er nur selten ein »wirklich bewohnbares Zimmer« (254) besitzt oder »das Gefühl« empfindet, »nach Hause gekommen zu sein« (241), will er immer wieder »weg von Berlin« (193). Die Destruktion der utopischen Ansprüche im >Wunschraum< Berlin aber ist so umfassend, daß Murnau auch auf seinen zahlreichen Reisen (113, 201f., 205,226,236) nur das eigene Lebensgefuhl der Resignation wiederfindet und nirgendwo mehr auch nur Ansatzpunkte für eine bessere Welt erblicken kann: Die »Fremdheit« wird zur »Vertrautheit« (141/206). Einzig und allein Tübingen, die überschaubare Kleinstadt in der Provinz, stellt gegenüber der universalen Atmosphäre von Schwermut und Verzweiflung eine geogra35 36

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Siehe hierzu Martens, Im Aufbrach das Ziel. Zu diesem Topos, der in Schimmangs Roman mit dem Hafenmotiv (34f. und 53) abgerufen wird, siehe allgemein Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 25f. Fichter/Lönnendoncker, Berlin: Hauptstadt der Revolte.

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phische Ausnahme dar. Müßiggang (143), eine gesteigerte Wahrnehmung von Ich und Umwelt (146), das bewußte Verhalten zu Müdigkeit und Angst (166), Reflexionen über zukünftige Lebenspläne (170f.), »ein neues Selbstbewußtsein«, Freundlichkeit, regelmäßige Arbeit und »Zufriedenheit« (273f.) sind bei solchen »Besuchen im anderen Leben« (165) möglich. Doch auch diese Stadt ist als Fluchtpunkt kein Ort des dauernden Aufenthalts, der »das Ende einer Sehnsucht« (147) bedeutete. In den 70er Jahren gilt das Glück nur für wenige Augenblicke als ein irdisches (113,205); allein in kurzen »Ekstasen der Wahrnehmung« kann der »Erfahrungshunger«38 gestillt werden: deshalb fuhrt die Abwertung der Metropole Berlin im »Schönen Vogel Phönix« nicht mehr zur idyllischen Aufwertung eines Lebens in der Provinz zurück. Wenn Schimmangs Protagonist 1974 endlich die Devise der Heimatkunstbewegung um die Jahrhundertwende »Los von Berlin!«39 realisiert und damit der naturalistischen Aufforderung Julius Harts »Nach Berlin« noch einmal den kleinbürgerlichen Verzicht auf das »wilde Leben«40 entgegensetzt, so entspricht diesem »endgültigen Abschied« (272) von der Großstadt hier doch kein Aufbruch in einen neuen Erlebnisraum, der in der äußeren Wirklichkeit einfach vorfindbar wäre. Die Absage an die »Stadt als Ort revolutionärer Entscheidungen« ist hier zwar gleichbedeutend mit der Absage an den »revolutionären Anspruch überhaupt«;41 doch die vielen Umzüge (282,285,288) und die ziellosen Autofahrten (296f.) stehen weder für eine Ankunft noch für einen langen Marsch, sondern nur für jene »unruhigen Suchbewegungen«, die der »Schleiftrog« in Brunos Reiseerzählung und im Schlußbild bereits als vergebliches Fluchtveihalten reflektiert hat und die in Schimmangs Roman jetzt wieder im Zeichen einer leeren »Utopie« der »Unbestimmtheit, des Vagierens, der Strukturlosigkeit und Entgrenzung«42 aufgewertet sind. Wenn es Mumau am Ende der Geschichte durch seine berufliche Tätigkeit nach Schwaben verschlägt (298), hat dies mit der anfänglichen Idylle in Ostfriesland wenig gemein. Auch das Leben auf dem Lande wird als >eskapistischer Traum< verworfen (267), wo der Ich-Erzähler als »Städter« (282) an dem Dorf und seiner Umgebung nur die klischeehafte Enge und Ruhe der Provinz wahrnimmt: »Alles ist schon vorher bekannt. Überraschungen sind ausgeschlossen.« (298) Mit dieser Absage wird in Schimmangs Text unter dem Prinzip Hoffnungslosigkeit auch der letzte Ort verworfen, der zur daueihaften Verwirklichung individueller und kollektiver Wünsche noch eine Chance bieten könnte. Während bei Peter Weiss 1961 die Stadt als »utopische Metropole« und die »ländliche Natur« einen vitalistischen Lebensraum konstituieren,43 an den die Hoffnung auf Identität geknüpft ist, gibt der »Schöne Vogel Phönix« 1979 diesen Anspruch grundsätzlich auf: »Das Paradies verliert von seinem Zauber, wenn man ständig darin leben muß« (147). Nach dem Scheitern der Protestbewegung steht für den Vertreter der antiautoritären Generation 38 39

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Rutschky, Erfahrungshunger, Klappentext; siehe auch S. 120. Zu diesem Schlagwort siehe Rossbacher, Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 29-34: »Los von Berlin! Opposition gegen die Stadt«. Hart, Auf der Fahrt nach Berlin, S. 92. So zur Umwertung des Gegensatzes von Stadt und Land in den 70er Jahren: Kraushaar, Thesen zum Verhältnis von Alternativ- und Fluchtbewegung, S. 46. Rutschky, Erfahrungshunger, S. 68 und S. 52. Siehe hierzu auch Schimmang, Beruf, Job, Arbeit, S. 200-202. Weiss, Abschied von den Eltem, S. 56 und S. 136.

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nicht mehr die Realisierung einer konkreten Utopie auf dem Lebensplan, sondern nur noch das romantische Festhalten an einer »Sehnsucht nach dem Unendlichen«, deren Erfüllung als »Kleben am Endlichen« immer schon Verrat bedeute: Ideal und Wirklichkeit sind wieder »unvereinbare Prinzipien«.44

8.5. Zeitgeschichte als Natur - Scheitern als Existential: der Verlust historischen Bewußtseins Die Enttäuschung über den Zerfall der Protestbewegung ist in Schimmangs Roman nicht nur durch die Ästhetisierung der antiautoritären Phase zum verlorenen Paradies kompensiert. In Übereinstimmung mit dem manichäischen Weltbild der >Neuen PhilosophenAufbruch< zur >Wende< nicht mehr als historischen Prozeß im gesellschaftlichen Kontext begreift, sondern auf fatalistische Weise zur bloßen Naturgeschichte mythologisiert: Bis 1968 dominieren »Wärme« (11/40/44), »schönes Wetter« (18) und »helle Sommer« (132). Mit dem Umzug nach Berlin bricht aber »die Kälte« (58/60) herein, und diese nimmt kein Ende (112f., 130,208,248), so daß die »Träume« von einem anderen Leben bald »eingefroren, auf Eis gelegt« (163) sind. Auch wenn »das Unglück« für kurze Zeit »Atem holt« (103), schon im Winter 1969/70, »der der kälteste des ganzen Jahrzehnts zu werden« scheint (116), insbesondere an seinem »Höhepunkt«, dem »Sylvestertag 1969, dem letzten Tag der sechziger Jahre«, deutet »die Kälte« wie ein Menetekel an, »wozu sie fähig« ist (124). Obwohl der unbehauste Protagonist die veränderte Großwetterlage in »Höhlen« (58/109/116/233/241) überstehen will, »nahe dem Fußboden« schläft (255) und fortwährend nach »Wärme« (130/139f./ 257/274f.) sucht, kann er sie für die Dauer nirgendwo finden. Selbst der Abschied von Berlin 1974 bietet keine andere Perspektive als »zu überwintern«; der Winter aber kann »ewig« währen (281), und so ist es auch, wie die Wettervorhersage 1978 am Ende des Romans bestätigt (300). Zeitgeschichte läuft in Schimmangs Roman nach dem zyklischen Wechsel von Jahreszeiten ab: wie das Jahr 1968 mit einem »kalten Winter« beginnt und nach dem >heißen Sommer< mit dem Winter zu »Ende« geht (8), wie auf die »tödliche Kälte der sogenannten Ära Adenauer« (188) in den 50er Jahren der >kurze Sommer der Anarchie< in den 60er Jahren (27,128) und die >ewige Kälte< der 70er Jahre folgen, so ist nicht nur der erste Prolog, sondern auch die ganze Lebensgeschichte organisiert: am Anfang und am Schluß (7,31 f., 198-300) herrscht jeweils Winter! Wetter und Jahreszeiten haben hier jedoch nicht mehr - wie in den Texten von Kluge, Enzensberger und Kinder - die Funktion einer sozialen oder politischen Metaphorik; aus kritisch-utopischen »Vergleichswerten« werden analog zum Heimatroman um 1900 »materielle Agenzien der Einschüchterung«, durch welche die bloße »Naturhaftigkeit von Geschichte und Gesellschaft«46 behauptet wird: »Wir Höhlenbewohner bereiteten uns vor auf die große Kälte 44 45 46

Schlegel, Transcendentalphilosophie, S. 51. Siehe hierzu Negt, Nicht Gold, Wotan ist das Problem, S. 43. Rossbacher, Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 169 und S. 172.

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des kommenden Winten. Wir spürten, wie sie näherkam, wie sie ihren Angriff sorgfältig vorbereitete. Es war sinnlos, ihr ausweichen zu wollen. Alle Versuche, ihr zu entfliehen, führten in die falsche Richtung, noch stärker, noch früher in die Kälte hinein« (109f.). Der Tendenz des Heimatromans zur »Universalisierung von >Not< und >KampfKältetod< und die angebrochene >Eiszeit der GefühleKampf ums Menschenrechtlange Marsch durch die Institutionen also immer schon mit dem >kurzen

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Rossbacher, Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 109 und S. 174. Wucherpfennig, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900, S. 220. Siehe hierzu Kraushaar, Thesen zum Verhältnis von Alternativ- und Fluchtbewegung, S. 41-55. Schneider, Botho StrauB, das bürgerliche Feuilleton und der Kultus des Verfalls, S. 257. Enzensberger, Der kurze Sommer der Anarchie, S. 281. Wucherpfennig, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900, S. 137f. 253

Sprung ins Reich der Freiheit zusammenfallen müsse, bleibt angesichts der Erfahrung, daß »antikapitalistische Politik und subjektiver Emanzipationsprozeß« nicht »Momente desselben Prozesses« (158) gewesen sind, in der Tat nur die Resignation: »Man kann nichts tun.« (230) Weil »die Differenz von Politik und Leben« hier nicht mehr »ausgehalten und produktiv gemacht«53 werden kann, läßt diese Lebensgeschichte mit den utopischen Zielen jede konkrete Strategie fallen. Der Verlust einer solchen Perspektive ist sicher auch darauf zurückzuführen, daß es für die Protestbewegung nach ihrem Scheitern gerade »keine historische Erfahrung« gab, die aus der Tradition der Arbeiterbewegung kommunikativ verfügbar gewesen wäre54 - ein Gespräch Mumaus mit den »älteren und sozialistischen Arbeitern« kommt ja nicht zustande (188). Der Abschied von einem politischen Handlungskonzept stellt zudem ein kritisches Korrektiv gegenüber dem beschönigenden Versuch dar, zehn Jahre nach dem Höhepunkt der Protestbewegung eine ungebrochene Kontinuität zwischen dem »2. Juni 1967 und« einer »Studentenbewegung heute«55 zu behaupten. Doch wenn am Ende des Romans aus Alain Tanners Film »Jonas, der im Jahre 2000 25 Jahre alt sein wird« einer der Einzelgänger und subkulturellen Antihelden zitiert wird, die als Paten des Kindes und als Identifikationsfiguren für die Übergangszeit zur Zukunft fungieren, und dieser erklärt: »Politik nützt nichts mehr« (299), dann wird 1979 der Zweck jeder weiteren politischen Arbeit - mag sie sich nun parlamentarisch oder außerparlamentarisch, in >Altparteien< oder in »neuen sozialen Bewegungen«56 vollziehen - kategorial bestritten. Die Absage des resignierten Intellektuellen an die Politik und sein Paradigmen Wechsel von der Politik zur Psychologie (288) haben zur Folge, daß auch die Zeitgeschichte innerhalb dieser Lebensgeschichte individualisiert, das heißt: auf die psychologischen Motive der Subjekte reduziert wird. Weil »die eigenen Bedürfnisse« (241) durch die autoritäre Kaderpolitik systematisch ausgeblendet worden sind, es mehr und mehr »schwierig« gewesen ist, »von« sich »selber zu sprechen« (161), lernt Murnau im Rückzug auf das »Allein«(l 87)-Sein, statt »wir« nur noch »ich« zu »sagen« (281). Wenn der Ich-Erzähler nah dem gescheiterten Aufbruch auch politische Ereignisse wie die »leninistische Wende« auf »unzählige persönliche Anlässe und eine Handvoll nicht nur persönlicher Hintergründe« (128) zurückführt, ist kein »objektiver Faktor Subjektivität« reflektiert,57 sondern nur die Kollektivgeschichte analog zum lebensphilosophischen Irrationalismus gegen die »subjektive Zeitempfindung«, gegen die »innere Zeit«38 ausgespielt: »Nach und nach wandte sich jeder von den kollektiven Träumen der vergangenen Jahre wieder seinen ganz privaten zu: auch wenn in diese Träume natürlich Momente der kollektiven eingegangen waren.« (85) Momente der kollektiven Träume gehen in den gegenwärtigen Werthorizont der Perspektivfigur und damit in die Deutungsmuster dieser

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Kraushaar, Thesen zum Verhältnis von Alternativ- und Fluchtbewegung, S. 16. Kraushaar, Thesen zum Verhältnis von Alternaüv- und Fluchtbewegung, S. 56. In diesem Sinn wendet sich der Sammelband »2. Juni 1967 und die Studentenbewegung heute« (hg. von Deppe) gegen das »krasse Fehlurteil«, nach dem »die Studentenbewegung mit der Auflösung des SDS zum Ende der sechziger Jahre gestorben sei« (so Deppe, Vorwort, S. 7). Siehe Brand, Neue soziale Bewegungen. zur Lippe, Objektiver Faktor Subjektivität. Wucherpfennig, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900, S. 217.

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Lebensgeschichte aber allenfalls als melancholische Erinnerungen ein. Vom Anspruch einer »Politischen Psychologie«, von der »Idee des Zusammenhangs zwischen der Lebensgeschichte der einzelnen Individuen und dem, was sie einander geschichtlich antun«,*9 bleibt nichts, wo die Entscheidung für den Eintritt in die Kaderorganisation nur noch mit persönlichen Motiven wie Liebeskummer, Unzufriedenheit mit der Wohnsituation und Freundschaft (125f., 149) oder im Jargon: mit der Sehnsucht nach »Wärme« (130/139f.) erklärt ist. Weil so aber die gesellschaftlichen Handlungsbedingungen des einzelnen ausgeblendet werden, nehmen »die realen Gewaltverhältnisse« in dieser literarischen Lebensgeschichte »zerfaserte, gewissermaßen privatistisch verengte Formen an.«60 Die Individualisierung gesellschaftlicher Konflikte manifestiert sich in Schimmangs Roman vor allem dadurch, daß nicht so sehr das Ende der antiautoritären Bewegung, sondern vielmehr das Scheitern von Liebesverhältnissen mit Frauen, denen eine »Stupsnase« (163) und ein »a« als Auslaut des Vornamens (250) gemeinsam ist, die Grundlage für jenes resignative Lebensgefiihl darstellt, welches der Text als repräsentativ für den >Zeitgeist< der 70er Jahre ausgibt. Als würde nach dem Zerfall der Protestbewegung wirklich »in Beziehungen und Bindungen, in Ehen, und was von ihnen übrig ist, die schwerste gesellschaftliche Arbeit geleistet«,61 folgt die Konstruktion der Lebensgeschichte einer privatistischen Logik, welche für die zunehmend depressive Stimmung des Protagonisten vor allem die Situation der jeweiligen Liebesbeziehung verantwortlich macht. Wie schon jener »hoffnungsvolle und neugierige Zustand« der »ersten Berliner Wochen« (260) mit dem »Traum« vom unbegrenzten »Glück« (59) zusammenfällt, den die Freundschaft mit Angelika in Mumau hervorruft, so geben das »Ende« (84) dieser Liebe, die Sehnsucht nach einem Erfahrungsraum außerhalb des studentischen Ghettos und die Zuneigung zu Lars (125f.) den Ausschlag dafür, daß der Protagonist einen Schlußstrich unter die »alten Geschichten« (99) einer »kleinbürgerlichen Vergangenheit« durch die Mitarbeit in einer »marxistisch-leninistischen Organisation« (125f.) ziehen will. In gleicher Weise bereitet die Beziehung mit Monika den Abschied von der Kaderpaitei vor, wenn die Hauptfigur nach zwei Jahren der Askese ihre sexuellen Bedürfnisse nur um den Preis der politischen Selbstreflexion zu entdecken vermag (21 lf.). Und auch wo Mumau noch einmal an einer Vietnamdemonstration der »an sich schon längst zerfallenen Linken« teilnimmt und sich »zum ersten Mal auf einer Demonstration nicht allein« fühlt »unter all den anderen« und »nicht, wie sonst«, in »Vereinzelung und Angst« zurückfällt, hat dies einen einzigen Grund: »Barbara war bei mir.« (253f.) Erst da, wo der öffentliche Protest um die private Geborgenheit ergänzt wird, fühlt sich das ehemals antiautoritäre Individuum mit seinen Genossen solidarisch. Wo diese aber nicht mehr besteht - »solche« romantischen »Flüge« in den Himmel der Poesie

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Brückner, Die Transformation des demokratischen Bewußtseins, S. 94. Negt, Nicht Gold, Wotan ist das Problem, S. 46. Muschg, Bericht von einer falschen Front, S. 31.

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»dauern« nach Auskunft des Erzählers ohnehin »nie sehr lange« (256) - ,62 werden die »latente Trauer« eines einzelnen über das Ende einer Beziehung und das »Versinken in völlige Apathie« (260) als repräsentativ ausgegeben für jenes »normale Scheitern«, welches auch für die Hauptfigur in der Erzählung »Die Widmung« von Botho Strauß »das Allgemeine«63 des menschlichen Daseins ausmacht (216). Diese Universalisierung eines Lebensgefühls hat ihre Voraussetzung allerdings in der Individualisierung von Zeitgeschichte: den Zerfall der Protestbewegung demonstriert der »Schöne Vogel Phönix« an der Tatsache, daß das »sogenannte Privatleben« seines Helden »in den letzten Jahren überwiegend ein Scheitern« gewesen ist (281). Vornehmlich die persönlichen Erfahrungen des erzählten Ichs in der Liebe sind dafür verantwortlich, daß der Ich-Erzähler die Desillusionierung der ehemaligen Hoffnungen nicht allein für die Jahre der Politisierung gelten läßt, sondern sie als Grundmuster seiner weiteren biographischen Entwicklung ausgibt. Immer wieder wird der Wille zum lebensgeschichtlichen Aufbrach wie bei Peter Weiss in der Metaphorik des >Stirb und Werde< artikuliert - und mit dem Resultat des Scheitems konfrontiert: Der »Beschluß, Nobby Stiles zu werden« und damit »anders« (55f.), endet mit dem schnellen Abschied vom Idol nach der ersten Enttäuschung durch Angelika (92, 96). Ebenso bleibt es beim bloßen Vorhaben, »mit diesem Murnau« und seinen »alten Geschichten [...] nichts mehr zu tun zu haben« (99) und die »kleinbürgerliche Vergangenheit« (125) in der Kaderorganisation zu überwinden: »Der überflüssige Murnau mußte verschwinden. Er mußte zum unentbehrlichen Mumau werden.« (135) Denn trotz allen »guten Willens« (190) zur neuen Identität sind die »alten Ängste« schon bald »zurück« (137), und »große Umwälzungen« (193) stellen sich nicht ein. Auch nach dem Abschied von der Organisation und von Monika werden die Hoffnungen auf einen >Neuanfang< (216) immer wieder (226, 271, 274) zerstört: »An die Stelle der alten Zwänge trat nichts Neues« (221). Schimmangs Hauptfigur kann ihre Lebenspläne auch nicht durch »Verkehrsformen« (95) realisieren, in welchen den eigenen Ansprüchen zufolge die Ziele der antiautoritären Revolte eigentlich aufgehoben sein sollten: unglückliche Liebesbeziehungen, das »Ghetto« der studentischen Subkultur mit »Gewalt« und »Elend« (109), autoritäre Kaderorganisationen, aber auch Gruppe und Wohngemeinschaft als »zärtliche Höhle« (233/241), schließlich die von Tauschbeziehungen (219f., 224) geprägte alternative Szeneverabschieden< wollte: Die autoritären »Väter« (177/197/214) werden jetzt auf der Seite der selbstemannten Revolutionäre entdeckt, und wieder hätte deren politische Strategie den Protagonisten »fast umgebracht« (215); die privaten Träume von einer »Zukunft« (260) mit Barbara führen ebenso zum Selbstmordversuch (263). Anders als bei Weiss opponiert dieser regressiven Tendenz zur Selbstzerstörung im »Schönen Vogel Phönix« jedoch kein Aufbruch in der äußeren Wirklichkeit; anders auch als im »Schleiftrog« bleibt nicht einmal mehr die Veränderung der Gesellschaft als Forderung bestehen. In Übereinstimmung mit dem Motto zeigt die fatalistische Destruktion der >Stirb und Werdeneuen< sozialen Herrschaftsraum enden und deshalb mit einem >rechten< oder »linken Faschismus« identifiziert werden müßte.65 Indem der Text alle Hoffnungen des einzelnen auf einen persönlichen und gesellschaftlichen Aufbruch als Illusion entlarvt, konkretisiert er die negativen Folgen, welche nach dem Scheitern des antiautoritären Protests nicht nur die Kaderorganisationen, sondern auch die »Alternativ- und Fluchtbewegung«66 kennzeichnen. Wenn Murnau sich schließlich »nur noch ganz langsam auflösen« will (196), dann entspricht eine derartige »Gefährdung der personalen Identität«67 genau der biographischen Krise, die ihn später als »wachsende Apathie gegenüber« dem »gegenwärtigen Leben«, als Bedürfnis, »sich verschwinden« zu »lassen« (263f.), und als »Desinteresse« an der »Zukunft« (280) belastet. Solches Kritikpotential des Textes ist dadurch jedoch wieder zurückgenommen, daß jenes für die Generation durchaus repräsentative Lebensgefühl des Protagonisten: die Resignation, nicht mehr wie bei Kinder als eine der naturzeitlichen Bedingungen für jedes weitere moralische und politische Handeln unter der historischen Perspektive einer >humanen Zeit< reflektiert,68 sondern zur existentiellen Grunderfahrung des einzelnen ontologisiert wird. Weil kein individueller und kollek65

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Zu diesem Begriff im zeitgenössischen Kontext siehe Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, S. 148. Siehe hierzu weiter Negt, Studentischer Protest - Liberalismus - »Linksfaschismus«, S. 187-189. - Zur Semantisierung der Phönix-Metapher seit der Antike siehe Reinitzer, Vom Vogel Phoenix, bes. S. 48f. Siehe hierzu grundsätzlich Kraushaar, Thesen zum Verhältnis von Alternativ- und Fluchtbewegung. Siehe hierzu Brand, Neue soziale Bewegungen, S. 101-111: »Die Gefährdung der personalen Identität«. Siehe hierzu Narr, Hin zu einer Gesellschaft bedingter Reflexe, S. 519-528. Siehe aber auch schon die theoretische Grundlegung der vorliegenden Abhandlung, bes. S. 22f.

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tiver Aufbruch in der Gegenwart stattgefunden hat, vollzieht sich 1979 die ideologische Tendenzwende als Verlust historischen Bewußtseins, wenn jetzt wieder solche resignativen Denkmuster des Existentialismus in eindeutig affirmativer Funktion vorherrschen, die auf dem Höhepunkt der antiautoritären Revolte, wie der »Schleiftrog« gezeigt hat, nur vorübergehend verdrängt waren. Während die Erzählung von Peter Weiss 1961 mit dem Willen zum Aufbruch die rebellischen Aspekte des >existentialistischen Syndroms< herausstellt, ist bei Schimmang nach dem Zerfall der Protestbewegung die »existenzphilosophische Wende nach innen« als »Flucht aus der Wirklichkeit«69 erneut aktuell. Das >Apriori< des »normalen Scheiterns« (216) dominiert wieder das Denken des enttäuschten Protagonisten (260, 266, 281), und auch das >Sein zum Tode< macht ihm nur die Vergeblichkeit menschlicher Hoffhungen bewußt: Eine Operation (19), Filme (24,196), der Tod von Hans-Jürgen Krahl (8), Adorno und Brian Jones (95), die Kälte (113, 123), lebensgefährliche Situationen im Verkehr (202), in der Kaderpartei (215), und nach einem Selbstmordversuch (263), sie alle bedeuten: »Sterben ist unumgänglich« (123), und legitimieren als Hinweis auf diese anthropologische Konstante die lebens- und zeitgeschichtlich begründete Stimmung der Resignation. Vor allem ist es jedoch »die Angst«, welche »als gegenstandslos und grundlos mit dem Grundgeschehen des Daseins identifiziert« wird,70 ist es »Mumaus Angst vor etwas, das er nicht einmal benennen« kann (121) und das seinen Lebenslauf doch beherrscht: Eine »sehr tiefsitzende, heftig verleugnete und immer anwesende Angst« stellt nicht nur die »ständige Berliner Begleiterin« (81 f.) dar, die »alten Ängste« (130/137/140) - »ganz und gar allein zu sein, für niemanden nötig, störend für einige, überflüssig für alle« (140) - bestimmen schon die Jugend des Protagonisten in Ostfriesland (44) und lassen ihn ebensowenig nach dem Abschied von Berlin los (293f., 297, 300). Auch wenn es für die Zeit »nach der Studentenbewegung« typisch ist, daß wieder die »Angst an den Anfang« oder gar an die Stelle »der politischen Reflexion«71 tritt: Schimmangs Roman erklärt die negative Befindlichkeit des Helden nicht genetisch wie Weiss und Kinder, sondern >verwesentlicht< sie zum Existential, welches das Individuum schon immer prägt - als die Kehrseite von Identität: »Wir beide gehören ja zusammen: Es hat keinen Sinn, das länger zu leugnen.« (294) Während im Existentialismus Sartres, der für die Protestbewegung nicht ohne Bedeutung gewesen ist und den auch Mumau kennt (21, 39, 43, 299), das Scheitern noch mit der Selbstwahl verbunden ist, die Endlichkeit mit der Möglichkeit, die Angst mit der Freiheit,72 manifestiert sich im »Schönen Vogel Phönix« ein »agnostischer Existentialismus, dem selbst die Kraft des alten Existentialismus der fünfziger Jahre 69 70 71

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Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 326. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, S. 327. Leineweber/Schibel, Die Revolution ist vorbei - wir haben gesiegt, S. 125. - Dieses Zitat bezieht sich kritisch auf: Duhm, Angst im Kapitalismus. Siehe hierzu Marcuse, Existentialismus, S. 15. - Ein Beispiel für solche Funktionalisiemng des Angst-Motivs findet sich in Gustafssons Roman »Wollsachen«, aus dem im »Schönen Vogel Phönix« zwei Zitate als Motti für je ein Kapitel (127, 282) übernommen werden. Im Text des schwedischen Autors stellt die Empfindung von Angst ein Lebenszeichen dar, das den Protagonisten am ersten Tag der 70er Jahre zuversichtlich stimmt (S. 176f.).

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fehlt«,73 ein »neuer Existentialismus (einer ohne Subjekt)«.74 Nachdem sich der kurze »Flug ins Ziel« nicht ereignet hat und auch der lange Marsch durch die Institutionen gescheitert ist, erscheint der historische Prozeß wie die langsame Fahrt mit dem Bummelzug der >schwäbischen Eisenbahnpassiven Warten< zu entwickeln vermag.75 Diese >Tätigkeit ist zwar vom ehemals antiautoritären Individuum heroisch zum »langen Kampf ums Überleben« (156) stilisiert;76 dennoch wird manifest, daß es sich hier nur um einen Rückzug zum privaten »Überwintern« (281) handelt, bei dem »man (und das heißt natürlich: wir Intellektuellen, wir Studenten, wir akademischen Linken, wir Überbleibsel oder Nachfolger der Revolte von 1968) nichts tun kann« (230).

8.6. Abschied vom langen Marsch oder: Erinnerung als Aufbruch Schimmangs Roman liefert ein triviales Identifikationsmodell für den großen Teil der Protestbewegung, welcher nach dem Scheitern der Revolte den »romantischen Rückzug zu allen möglichen Alternativen und Spielarten der Resignation«77 antrat. Gleichwohl gibt die letzte Lebensgeschichte der interpretierten Reihe im Epilog vor, einen Weg aus der Ohnmacht zu weisen, indem sie den »schon aufgegebenen« die »noch nicht aufgegebenen Hoffnungen« (299) gegenüberstellt und deren Ort festsetzt: weil es im gesellschaftlichen Außenraum der 70er Jahre keinen Platz gebe, der für die kollektive Veränderung der bestehenden Verhältnisse auch nur einen Ausgangspunkt bietet, wird die Realisierung der konkreten Utopie jetzt in den persönlichen Innenraum des einzelnen verlegt. Diese Wende von der kollektiven zur individuellen Identität, vom »Wir« zum »Ich« (281), vom Außen zum Innen, läßt sich schon an der Struktur des literarischen Raums erkennen. Während in den »Bottroper Protokollen« die Straße als Lebensraum der außerparlamentarischen Opposition entworfen wird, hat sie diese Bedeutung im »Schönen Vogel Phönix« nur noch als melancholische »Erinnerung« (246). In der Gegenwart aber bietet die Straße vornehmlich Anlaß zur Furcht: nur für kurze Zeit kann 73 74 75

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So allgemein Schneider, Von der alten Radikalität zur neuen Sensibilität, S. 161. So allgemein Hoffmann-Axthelm, Ein neuer Existentialismus (einer ohne Subjekt). Während bei Peter Weiss und bei Uwe Timm das Eisenbahnmotiv wie im Expressionismus die Hoffnung auf den schnellen Aufbruch des einzelnen signalisiert (siehe S. 76f. und S. 206 der vorliegenden Abhandlung),während der »Schleiftrog« solche Sehnsucht im gleichen Bildbereich als utopistische destruiert (siehe S. 208), liefert Schimmangs Roman in signifikanter Abweichung von solchen Semantisierungen die biedermeierliche Variante: das Individuum wartet nach dem Scheitern der revolutionären Hoffnungen auf den allmählichen Fortschritt, ohne für diesen noch irgendetwas tun zu können. - Zum Gegenbegriff des »aktiven Wartens« siehe Brilckner/Krovoza, Was heißt Politisierung der Wissenschaft und was kann sie für die Sozialwissenschaften heißen? S. 11 und S. 94. Siehe auch 123, 127, 159-161, 173, 188, 190, 192f„ 208, 210, 215, 300. - Zur theoretischen Begründung dieser »überlebensstrategischen Perspektive« durch die »Sensibilität lebensphilosophischer und existentialistischer Wissenschaftskritik« siehe Kapferer, »Aktualität des Konservativismus?« S. 71 und S. 63. Ähnlich siehe auch Schülein, Von der Studentenrevolte zur Tendenzwende oder der Rückzug ins Private, bes. S. 116f. Narr, Hin zu einer Gesellschaft bedingter Reflexe, S. 516.

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man dem »Berliner Gift« im Binnenraum des Kinos entgehen, »draußen auf der Straße hats uns sofort wieder« (78). Dort drohen »Autos« (143) mit dem »Tod« (202); bei Demonstrationen herrschen »Vereinzelung und Angst« (254) vor. Deshalb wird »die Wohnung« zur »zärtlichen Höhle« (241), in deren »Wärme« (175) es sich der enttäuschte Protagonist zunehmend bequem macht und endlich auch »zu einem wirklich bewohnbaren Zimmer« kommt (254). Schließlich bietet »eine neue Wohnung« das Zuhause, zu dem er sich durch ein »warmes helles Licht« (290f.) im Fenster heimleuchten läßt und in dem er dann seine Geschichte aufschreiben kann (294f.). Von diesem Ausgangspunkt aus sind auch wieder »Straßen« von Interesse; es ist jetzt allerdings kein politisches mehr, sondern ein ästhetizistisches: an »Spaziergängen«, »Schaufenstern« und »Flanerie« (298).7' Solchem »Verhausen der subjektiven Innerlichkeit in sich«79 entspricht die Aneignung einer vorgeblich »neuen Sensibilität«, die zwar nicht in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, zumindest aber für den isolierten einzelnen ihre »potentielle Sprengkraft« (155) erweisen soll. Sie offenbart sich augenfällig, wenn Murnau die Tränen der Empfindsamkeit nicht mehr zurückhält, sondern endlich ausdrückt (102f., 175). Im Weinen ist hier allerdings nicht mehr das einstmals revolutionäre Potential bürgerlicher Moral abgerufen: als uneigennützige Fähigkeit zum Mitleiden.80 Der Vorgang signalisiert jetzt nur noch die rührselige Aufhebung aller intrapsychischen Anspannungen im selbstbezogenen Individuum: »Ich schiebe das Buch weg und weine unbeschreiblich wohltuende Tränen, fühle mich immer leichter werden, federleicht, und mit jedem Atemzug löst sich etwas von mir, etwas, was ich jahrelang unter Aufbietung fast all meiner Kraft in mir eingesperrt habe, was ich vernichten wollte und was doch beinahe mich selber vernichtet hätte« (294). Die >neue Sensibilität erhofft sich Murnau aber auch im persönlichen Kontakt: Insbesondere von privaten Freundschafts- und Liebesverhältnissen erwartet der Protagonist Verständnis, gar Erlösung. Er sucht einen »Engel«, der ihn befreien soll (161), und findet »seinen Engel« Lars (117) und den »Engel« Barbara (250). Auf die Sakralisierung der Kaderpolitik folgt die romantizistische Sakralisierung intimer Beziehungen. Sie allein versprechen dem einzelnen nach dem Zerfall des kollektiven Protests die individuelle Überwindung seiner Isolierung - und zwar nicht im langen Marsch, sondern »ad hoc« (225), in kürzester Zeit, beim ersten Anblick (249).81 Weil aber auch Murnaus Liebe zu Barbara scheitert, sind die Hoffnungen auf eine »vorbehaltlose Vertrautheit« (252) schließlich nur noch auf die Männerfreundschaft zu Lars gerichtet. Die gemeinsame Erinnerung am Ende des Romans dominiert eine Sentimentalität, durch die der Freund gar zum Schutzengel wird: »Es sind schöne Abende. Während er mir gegenübersitzt.

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Zum Ästhetizismus des Flaneurs siehe Rasch, Die literarische Ddcadence um 1900, S. 60-62. So Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 2, S. 24, über die romantische Kunstform. Siehe hierzu Schulte-Sasse, Drama, bes. S. 460f. Auch die Plötzlichkeit der Sympathie und ihr visueller Ausdruck in der Beziehung zu Christoph - »ich spüre sofort«, »das habe ich vorher gewußt«, »wir wissen sehr schnell«, »ich brauche Christoph nur anzusehen« (289f.) - sind ungebrochen der romantischen Tradition verpflichtet. Zum >Silberblick< der Liebe siehe Kluckhohn, Das Ideengut der deutschen Romantik, S. 70f.

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denke ich immer wieder: Geh mir nicht verloren. Ich weiß wirklich nicht, was ich machen sollte, wenn du mir verlorengingest.« (299) Die >neue Sensibilität*, der sich Schimmangs Held verpflichtet glaubt, hat ihren Ort im isolierten Intimraum »menschlicher Beziehungen«; als die von Krahl geforderte soziale Sensibilität »im gesellschaftlichen Verkehr« (225) konstituiert sie sich indes nicht. Wo in dieser literarischen Lebensgeschichte eines Intellektuellen Figuren aus anderen sozialen Räumen überhaupt auftreten, dominiert zwar die Empfindung des Protagonisten, aber nicht als eine Ahnung vom utopischen Erlebnisraum, sondern nur als Einfühlung in den gesellschaftlichen Herrschaftsraum: als Verständnis des Bürgers für die Organe des Staates (111, 243), als »Vertrauen« des Kunden in »Automechaniker, Heizungsmonteure, Klempner oder Elektriker« (199), als »Angst« des Kaders vor den »Arbeitern« (134) und vorden »Massen« (152f.), als Verachtung des Ästheten gegenüber dem »jämmerlichen dlan vital« derer, »die Angst vorm Fliegen haben« und sich an ihren »Scheinsicherheiten« festhalten (74). Die gesellschaftliche und historische Reflexion solch eingeschränkter Empfindsamkeit leistet der »Schöne Vogel Phönix« anders als Kinders »Schleiftrog« jedoch nicht. Nachdem die Lebenspläne zur Veränderung der sozialen Veihältnisse nicht in die Tat umgesetzt werden konnten, schlägt die >Stunde der wahren Empfindungorganische< Wachsen« erscheint, »das von selber geschieht, dem man sich nur hingeben muß«.84 So lautet auch die Devise nach dem »Ende« der »Kämpfe« (96): sich der »Zeit« (83) und der »Erinnerung [...] zu überlassen« (205), »sich Zeit« zum »Anschauen« zu »lassen« (143), »alles geschehen« (206), »passieren« und »sich« selbst »treiben zu lassen« (298), »nur einfach hier sein und möglichst wenig tun« (226). »Selbst für die Ordnung« - das heißt doch auch: für eine zukünftige kollektive und individuelle Identität - »verantwortlich« zu sein entspringt aber angeblich einem »falschen Denken«, welches nur zu »unglücklichen Entwicklungen« (32) führt. Die Sensibilität des Protagonisten von Schimmangs Roman ist eine begrenzte: nicht nur im sozialen Außenraum der Gegenwart, sondern auch im psychischen Innenraum gegenüber der eigenen Vergangenheit. Zwar wird das autobiographische Erzählen explizit als »Traueraxbeit« (295f.) begriffen; doch dadurch erfüllt die vorliegende Lebensgeschichte noch keineswegs den Anspruch, der mit jener psychoanalytischen Bezeichnung behauptet ist. Wo von »Trauer« die Rede ist, gilt dieser Ausdruck hier einem Verhalten, das eher »Melancholie« (125) zu nennen wäre, einer psychischen Reaktion, durch die sich das Individuum gerade weigert, einen schmerzlichen Verlust anzuerkennen.85 Daß der Ich-Erzähler weiß, »einer ganz bestimmten, melancholisch resignierten Gruppe von

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Siehe hierzu Handke, Die Stunde der wahren Empfindung. - Zu diesem »Rückzug auf den Augenblick« siehe auch Kreuzer, Zur Literatur der siebziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, S. 21. Rossbacher, Heimatkunstbewegung und Heimatroman, S. 167. Wucherpfennig, Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um 1900, S. 159. Siehe weiter 88, 257f„ 260f„ 265, 275. - Zu Trauer und Melancholie siehe Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, S. 36-43 und S. 77-83. - In diesem Zusammenhang siehe auch Zürchers Kritik (Trauerarbeit eines Dreißigjährigen) an Schimmangs Roman.

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Leuten« zuzugehören, »die nicht verdauen kann, daß sie a) nicht mehr 18 sind und b) das Jahr 1968 vorbei ist« (297), findet keinen Niederschlag in der ästhetischen Struktur der Lebensgeschichte. Diese entwickelt das autobiographische Erzählen eines einzelnen nicht zur kollektiven Traueraibeit, zur historischen Selbstreflexion einer Generation, sondern richtet den Blick nostalgisch auf »den Verlust einer Zeit«, die der Protagonist »selber kaum handelnd miterlebt«, die er »nicht einmal wirklich besessen« hat (246f.). Das melancholische Motto, welches dem Epilog »Vom Altem der Hoffhungen« als Kommentar vorangestellt ist, manifestiert nur noch geschichtliche Bewußtlosigkeit: die »Gewißheit, daß man betrogen worden ist, ohne recht zu wissen, um was man betrogen worden ist« (282).86 Dieses Gefühl vom »unbekannten Verlust« deutet zwar die Schwierigkeiten einer Generation an, ihre eigene Vergangenheit zu bewältigen; dennoch gleicht solche Unbewußtheit nur dem Syndrom einer »linken Melancholie«,87 einer »Haltung«, der - so Walter Benjamin - »überhaupt keine politische Aktion mehr entspricht« und deren »politische Bedeutung« sich mit der »Umsetzung revolutionärer Reflexe [...] in Gegenstände der Zerstreuung, des Amüsement« und »des Konsums« erschöpft 88 Die >Unfähigkeit zu trauem< aber, gegen welche diese Generation doch einmal angetreten war, setzt sich damit nur fort. Weil die Geschichte der Protestbewegung nicht auf den Begriff zu bringen sei, bietet der »Schöne Vogel Phönix« eine radikale Erklärung für dieses Dilemma an: die Unzulänglichkeit der Begriffe überhaupt.Nachdem die politische Konkretion der Utopie mißlungen ist, wird dieses Scheitern 1979 auch kategorial einer negativen »Utopie der Allgemeinbegriffe«, einer »Utopie der Theorie« angelastet, welche die Illusion genährt habe, »die zentralen gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Prozesse würden sich auf soziologische und sozialpsychologische Begriffe bringen lassen und danach würden die Theoretiker leben können«.89 Schuld an der Misere sind deshalb für den Ich-Erzähler »die Wörter [...]. Sie kolonialisierten Gebiete, die eigentlich dem Leben vorbehalten sein sollten, und sie tun es bis heute, so daß bis heute in mir das noch nicht ganz geborene, das potentielle Leben einen zähen antikolonialistischen Kampf gegen diese sanfte, schleichende und doch zugleich terroristische Fremdherrschaft führt.« (22) Die >Produktion< von »Wörtern« als »das Geschäft aller Intellektuellen« (157) habe die Erfahrung »dieser Welt« verhindert und »neue Welten« (44) immer nur im »Kopf« (57) konstituiert - mit einem der antimodernistischen »Klischees«, die am Ende der 70er Jahre

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Das Zitat aus Gustafssons Roman »Wollsachen« (S. 140) ist einem Brief der Hauptfigur (S. 139-146) entnommen, dessen Bedeutung innerhalb der literarischen Struktur allerdings schon dadurch perspektiviert ist, daß er nicht abgeschickt wird (S. 138). - In auffälliger Übereinstimmung mit diesem Zitat erklärt Rutschky über die »Melancholie« der 70er Jahre: »Auf was wir eigentlich verzichten müssen, das ist niemandem ganz klar« - »was wir verloren haben in den siebziger Jahren, das kann niemand genau sagen« (Erfahrungshunger, S. 262f.). - Daß Schimmangs Roman dieses melancholische »Gefühl vom unbekannten Verlust«« nur reproduziert und »keine Spur« von einer Erklärung »Uber die Ursachen der Rebellion« abgibt, darin vermutet Lethen (Geschichten vom unbekannten Verlust, S. 1033f.) allerdings einen »stilistischen Schachzug«, der »dem Buch etwas Federleichtes, beinahe Amoralisches« verleihe. Härtung, Über die langandauemde Jugend im linken Getto, S. 177f. Benjamin, Linke Melancholie, S. 280f. Rutschky, Erfahrungshunger, S. 52 und S. 40f.

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»Kairiere machen«, reproduziert der »Schöne Vogel Phönix« die abstrakte Opposition zwischen einer »literarischen Erfahrung, die das Nicht-Identische rettet, [...] und den gleichmacherischen Abstraktionen der Wissenschaft«. In diesem Bedeutungselement artikuliert sich zwar auch Kritik am antiautoritären Jargon; wirksam ist hier durchaus das »Bedürfnis nach Konkretion, der Wunsch, den kritischen Gehalt von Ideen hier und jetzt zu erproben, Ideen lebensgeschichtlich emst zu nehmen, Humanität bei Lebzeiten zu verwirklichen«. 90 Doch in Schimmangs Roman dominiert eine grundsätzliche Ablehnung der institutionalisierten Wissenschaft: Schon die jungen Assistenten, die aus der antiautoritären Bewegung hervorgegangen sind, bieten ein abschreckendes Beispiel. Nicht mehr die Veränderung der Gesellschaft, sondern ausschließlich die Einrichtung im Bestehenden ist ihr Interesse (227,236,279). Aber auch keines der Studienfächer erfüllt Murnaus Erwartungen: Philosophie und Germanistik werden schnell aufgegeben (135), die Politischen Wissenschaften pragmatisch abgeschlossen, das Zweitstudium der Psychologie stellt Mumau nach drei Semestern wieder eine, weil dort nur noch »Leistungen [...] erbracht werden sollen« (297). Obwohl das erzählte Ich in Anlehnung an Peter Brückner und Alfred Krovoza der Protestbewegung die kritische Selbstreflexion des gesellschaftlichen Entstehungs- und Wirkungszusammenhang von Wissenschaft als eine Leistung zuschreibt,91 hat sich der Ich-Erzähler von diesem Anspruch längst verabschiedet. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis wird von dem an der Aufklärung enttäuschten Individuum nicht mehr in ihrer produktiven Spannung begriffen, sondern ist grundsätzlich obsolet: »Mein Draht zur Wissenschaft bleibt gestört wie eh und je.« (244) Murnaus eigene Vorstellungen sollen zwar mit ihm »selber was zu tun haben« (241), doch der »akademische Mantel« (274) verhindert es, diesem Bedürfnis offen nachzugehen. Eine Objektivierung des subjektiven Interesses im Medium der Wissenschaft, verstanden als intersubjektive Anstrengung des Begriffs, erscheint in Schimmangs Roman als unnötig und unmöglich - die Entwicklung, daß »universitäre Bildung« ihre »lebensgeschichtliche Rolle im Konstitutionsprozeß der Individuen« zunehmend einbüßt, wird dadurch allerdings nur gefördert.92 Je mehr politisches Handeln und begriffliches Erkennen in den 70er Jahren an Geltung verlieren, desto höher ist der Rang, in den der »Schöne Vogel Phönix« die sinnliche Wahrnehmung erhebt. Sein genuines Medium hat ein derart eingeschränkter >Erfahrungshunger< im Film. Immer wieder, manchmal »fast jeden Tag« (265), flüchtet sich der Protagonist in den Innenraum des Kinos. »Bilder sehen« statt »sich nur irgendeine Geschichte erzählen zu lassen« (70) heißt die Devise - im »Antagonismus von Schauen und Räsonnement« 93 kehrt ein Ästhetizismus wieder, der »die Welt nicht als Wirkungsfeld der Aktivität, des Planens und Handelns« begreift, »sondern als Erscheinung, als Gegenstand bloßer Betrachtung, als bedeutsames Schauspiel·«. 94 Durch diese rein

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Habermas, Einleitung, S. 29f. und S. 31. Siehe Briickner/Krovoza, Was heißt Politisierung der Wissenschaft und was kann sie für die Sozialwissenschaften heißen? Kraushaar, Objektiver Faktor Student, S. 88. Siehe hierzu Rutschky, Erfahrungshunger, S. 197-226: »Allegorese des Kinos«; dort auch, das Zitat (S. 214). Rasch, Die literarische Decadence um 1900, S. 60.

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passive Form der Rezeption >reichen< die Filme zwar in das »Leben« des Protagonisten »hinein« oder berühren ihn zumindest »mehr als« sein »eigenes Leben« (276); für die Selbstreflexion des Betrachters aber ist kein Platz mehr ( 6 3 , 1 9 6 , 266). Solchem Sehen von Filmen als passiver, rein rezeptiver Subjektivität entspricht im Medium der >Wörter< deijenige Stellenwert, den das Lesen von Büchem für die Hauptfigur erneut einnimmt. Nach dem Scheitern der kollektiven Politisierung verschafft es dem isolierten Individuum wenigstens »das Gefühl, erstmals wieder ein bißchen nach Hause zu kommen« (196). Der durch die Lektüre geschaffene Innenraum gilt als die letzte Enklave, in welche sich der einzelne vor der >Kälte< der 70er Jahre zurückziehen kann: »Lesen ist wieder, was es damals war: die Höhle, die Wärme, die Identität. Lesen habe ich gelernt, das nimmt mir keiner mehr weg.« (284) Im Gegensatz zu der kritischen Lektürererfahrung von Bruno am Ende des »Schleiftrogs« legt das entscheidende Erlebnis des Epilogs, das Lesen von Gustafssons Roman »Herr Gustafsson persönlich«, hier jedoch nahe, daß diese Tätigkeit nur als spontane Identifikation eine neue Form der >Ich-Identität< mitkonstituiert. Denn wenn der lesende Mumau gerade »keinen Widerstand« mehr spürt, die erzählte Geschichte als »vollständig vertraut«, als »sofort bekannt« und als die »eigene« (293) erscheint, dann ist eine solche Einfühlung die wesentliche Voraussetzung für jene Tränen der Empfindsamkeit, die nicht nur das Ende der psychischen Anspannungen bedeuten, sondern auch das sujet- und romankonstituierende Ereignis ermöglichen: die autobiographische Wende, den Aufbruch des ehemals antiautoritären Individuums in den persönlichen Innenraum. Solange sich »Wörter« und »Leben« nur entfremdet gegenüberstehen (22), erscheint jede »fixierte Formulierung« als »Verrat«.95 Zwar hat Mumau schon früher viele Texte verfaßt (45-47, 62, 66, 157, 194, 209, 274), aber sie alle sind nie der unmittelbare Ausdruck seiner Individualität, sondern nur »Wörter« für andere: »für Schüler«, »für Studenten und Professoren«, »für Arbeiter« (157). Erst am Ende des Romans, nachdem der Protagonist »>ich< sagen« (281) gelernt hat, ist ihm das »Schreiben«, das er »ja auch gelernt« hat (284), diese Tätigkeit »allein am Schreibtisch«, nicht mehr das negative »Gegenteil von: wir alle auf der Straße« (246), sondern der Königsweg zur >IdentitätInnenwelt< auskommt« und die es dem einzelnen tatsächlich erlauben soll, aus der allgemeinen »Vergesellschaftung herauszutreten«.96 »Keine Programme, sondern Geschichten« (188) heißt die Formel, mit der Schimmangs Roman die politische Aufklärung durch Allgemeinbegriffe gegen die ästhetische Wahrnehmung ausspielt und diese im Bereich der 95 96

Rutschky, Erfahrungshlinger, S. 58. Rutschky, Erfahrungshunger, S. 58, S. 64, S. 267.

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Wörter als das Erzählen des Besonderen konkretisiert (siehe auch 72). Schon früher ist es für Murnau wichtig, daß er seinen Freunden von sich erzählen kann (102,120f., 232). Doch solche Erlebnisse sind die Ausnahme. Dominierend für die Zeit in Berlin ist die »Nicht-Erzählbarkeit«97 der persönlichen Erfahrungen (149,213,274). Erst Jahre später und an einem anderen Ort, im >proletarischen< Bochum, wo angeblich »alle [...] eine Geschichte« haben (290), vermag der enttäuschte Intellektuelle seine eigene zu erzählen: In der »Trauerarbeit« (295f.) des autobiographischen Schreibens »will« er sich - wie dann mit den Fotografien neben dem Bett - »beweisen«, daß auch er »eine Geschichte« hat (299). Selbst wenn der Held am Ende »nicht recht« weiß, was er mit seiner Autobiographie »anfangen soll« (300): Im »Schönen Vogel Phönix« ist der Prozeß, welcher den Protagonisten vom Lesen in Gustafssons Roman über die Tränen der Empfindsamkeit zum Erzählen der eigenen Lebensgeschichte bringt, als das sujetkonstituierende Ereignis dargestellt, als derjenige persönliche »Aufbruch« (102/281), der am Ende der 60er Jahre im gesellschaftlichen Außenraum erwartet worden ist und der nun am Ende der 70er Jahre wenigstens im privaten Innenraum stattfindet.98 Denn durch eben dieses Erlebnis ist ein Neuanfang begründet: Das Ich ist »stärker geworden«, die »eigene Trauerarbeit hat begonnen. Von nun an wird das Zwiegespräch mit« der »Angst nicht mehr aufhören« (294f.). Während Murnau bei seinem Abschied von Berlin in völliger Resignation befangen ist - »alle machen weiter, nur ich nicht« (279) - , dominieren jetzt der Wille und die Fähigkeit, »weiter« zu machen (282/296/300). In Kinders Roman bedeutet dieses »Weitermachen« nur die resignierte Fortsetzung des Lebenslaufs im gleichförmigen Alltag der 70er Jahre;99 in Schimmangs Text wird dagegen eine solche Haltung als Abschluß einer Entwicklung markiert und damit endgültig die »Negation der bestehenden Verhältnisse« durch die »Position der Selbstveränderung« ersetzt.100 Der »Schöne Vogel Phönix« gibt aber selbst diesen »Rückzug ins Private«, der sich hier im autobiographischen Schreiben ereignet, noch »als politische Selbstreflexion« aus101 und ermöglicht so dem isolierten Individuum die Illusion, an eine Kontinuität des antiautoritären Protests zu glauben, obwohl dieser in der Öffentlichkeit doch längst zerfallen ist. Wo Murnaus privater Überlebenswille in der literarischen Struktur des Textes mit der »Kunst des Weitermachens« bei »älteren und sozialistischen Arbeitern« parallelisiert wird, also mit der Tradition eines kollektiven Widerstands in den »zwanziger Jahren«, im »Faschismus« und in der »Ära Adenauer« (188), wo sich der Held »im offenen Duell« mit seiner Angst befindet (294), wo er wie ein Pfadfinder sein »Bestes tun« will - für die Autosuggestion, sich jeden »Tag [...] genug gewehrt« zu haben (299), wo er »bis heute« schließlich gar einen »zähen antikolonialistischen Kampf gegen diese sanfte, schleichen97 98

99

100 101

Härtung, Über die langandauemde Jugend im linken Getto, S. 177. Zum »Mikro-Aufbruch« als Kultivierung von Innenräumen nach 1970 siehe Kohoutek/Pirhofer, Utopie: Das blinde Fenster im Massenwohnungsbau, bes. S. 74, Zitat S. 70. Kinder, Der Schleiftrog, S. 196: »ich muß weitermachen, es wird schon gehen«. Auf ähnliche Weise heißt es dort in einem Zitat von Goethe: »In Demuth hoff ich dass es so weiter gehn wird« (S. 203). Kraushaar, Thesen zum Verhältnis von Alternativ- und Fluchtbewegung, S. 30. So explizit auch Schiilein, Von der Studentenrevolte zur Tendenzwende oder der Rückzug ins Private, S. 117 und S. 115.

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de und doch zugleich terroristische Fremdherrschaft« - der »Wörter« - »führt« (22): da ist der autobiographische Anspruch auf subjektive Authentizität ganz in sein Gegenteil verkehrt, die Faktizität objektiver Illusion. Eine Rhetorik des Widerstands täuscht vor, daß es für die antiautoritäre Generation »kein Zurückfluten in das bürgerliche Lager« gegeben habe,102 daß im Medium subjektiver Erfahrung durchaus noch politischer Kampf möglich sei und das alternative »Ghetto« ein »Überleben« garantiere.103 Doch das Schema, welches der Ich-Erzähler seiner Lebensgeschichte zugrundelegt: die »wunderbare Jahre« (42) der Jugend, die »Kämpfe« (96) in Berlin, der »Angriff« der Kälte (109), schließlich der »Generalangriff« (270), das »Überleben« (300) und »Weitermachen« (296), diese >Entwicklungslogik< folgt nur dem ästhetisierenden Muster von der »hoffnungsvollen Kindheit und dem gefährlichen Leben des Kleinbürgers«.104 Ein integrierter Außenseiter ist die Hauptfigur am Ende des Romans: Einerseits wird der Alltag beherrscht von einer »kleinbürgerlich geschärften Vertrautheit mit Angst als Ahnungslosigkeit«105 und von einer Arbeit, die nur noch den Zweck hat, daß »man seine Brötchen verdienen« (282/298) und ein »trinkbares Bier« (298) bezahlen kann. Der >lange Marsch durch die Institutionen, dessen Schwierigkeiten im »Schleiftrog« mit der Gegenüberstellung von Bruno und Gertrud reflektiert sind, wird hier als Beruf gar nicht mehr erwogen,106 wenn Murnau nach längerer Arbeitslosigkeit und abgebrochenem Zweitstudium doch noch einen »Job« (282/298) findet und dabei »zwischen einem gewissen Einsatz und höflichem Desinteresse« pendelt (282). Von einem politischen oder persönlichen Sinn solcher Tätigkeit ist keine Rede mehr. Andererseits ist es dem isolierten Intellektuellen ein narzißtisches Bedürfnis, »sich mit Idealen zu identifizieren, die den Selbstwert erhöhen«107 und den Alltag verklären. Eben diese Funktion erfüllt in dem vorliegenden autobiographischen Roman auch das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte. Es dient hier dem Zweck, das melancholische Lebensgefühl, welches einen Großteil der ehemals antiautoritären Generation in den 70er Jahren befallen hat, durch Kunst zu veredeln. Die Darstellung der Entwicklung vom Protest zum Privatleben, vom >Aufbruch< zur >Wende< findet ihren Abschluß, wo nicht nur der Abschied vom antiautoritären Denken und Handeln als positiver Erkenntnisprozeß dokumentiert, sondern die Lebensgeschichte selbst zum literarischen Kunstwerk stilisiert wird. Nicht nur in der Jugend strebt das erzählte Ich ein Leben als »Bohemien« (37) an; der Ich-Erzähler erfüllt sich diesen Wunsch vielmehr auch nach dem Eintritt ins Berufsleben, indem er seinen biographischen Werdegang zum Roman überhöht, und einen solchen Sinn erfüllen insbesondere die literarischen Zitate, mit denen die bereits beschriebenen ästhetizistischen Tendenzen des Textes ihre deutlichste Ausprägung finden. Wenn das erzählte Ich im autobiographischen Rückblick des Ich-Erzählers! - mit Reiner Kunze »die wunderbaren Jahre« (42) erlebt, wie Gottfried Benn ein »Doppelleben« (28) fühlt, wie Sartre

102

Härtung, Versuch, die Krise der antiautoritären Bewegung wieder zur Sprache zu bringen, S. 43. Härtung, Über die langandauernde Jugend im linken Getto, S. 180. KM Parin, Die hoffnungsvolle Kindheit und das gefährliche Leben des Kleinbürgers. 105 So über Heideggers Angstontologie Bloch, Das Prinzip Hoffnung, S. 124. i"6 Zur zeitgenössischen Diskussion siehe etwa Kursbuch, Bd. 40: »Beruf: Langer oder kurzer Marsch?« (1975) 107 Parin, Die hoffnungsvolle Kindheit und das gefährliche Leben des Kleinbürgers, S. 132. 103

266

»die Wörter« (44) als neue Welten entdeckt, mit Brecht die Liebe als »Flug« (252) und deren Scheitern mit Hemingway als das »Ende von Etwas« (84) erfährt, wenn Murnau wie Thomas Manns und Viscontis Aschenbach fast dem »Tod in Torquay« (201) begegnet, wenn er wie der Held einer Erzählung von Botho Strauß dann doch nur das »normale Scheitern« (216) erleidet, wenn er wie Gustafsson mit dem Gefühl des Betrogenseins (282) und mit seiner »Angst« (293) durch »Trauerarbeit« (293/295) umgehen will, wenn er sich wie Dickens nach »Straßen«, wie Baudelaire nach »Flanerie« (198) und wie Sarah Kirsch nach dem unmöglich gewordenen Flug des »schönen Vogels Phönix« (6) sehnt: dann ist durch diesen identifikatorischen Gebrauch von Deutungsmustem aus literarischen Werken und autobiographischen Texten anerkannter Künstler108 die eigene Biographie zum Kunstwerk erhöht und »das wirkliche Leben« durch die Erinnerung »beiseite« geschoben (296). Erst die Ästhetisierung der Vergangenheit ermöglicht es dem integrierten Außenseiter, am Schluß des Romans das melancholische Resümee seiner Lebensgeschichte zu ziehen und dem Leser einen leeren Rat mit auf den Weg nach innen zu geben: »Überleben ist schwieriger geworden.« (300)

108

Siehe hierzu beispielhaft S. 247 (Kunze), S. 256, Anm. 63 (Strauß) und S. 262, Anm. 86 (Gustafsson) der vorliegenden Abhandlung.

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9. Ausblick: Aufbruch oder Wende? Moderne oder Postmoderne?

Es war unbedingt nötig, daß K. selbst eingriff [...], er hatte kaum mehr die Wahl, den Prozeß anzunehmen oder abzulehnen, er stand mitten drin und mußte sich wehren. Kafka, »Der Prozeß«

Wenn am Ende der Untersuchung die literarhistorische und sozialgeschichtliche Bedeutung der interpretierten Lebensgeschichten in einer Zusammenfassung beurteilt werden soll, ist es nochmals erforderlich, die Entwicklung des dokumentarischen und autobiographischen Erzählens in den 60er und 70er Jahren und die Geschichte der Protestbewegung vor dem Hintergrund längerfristiger Transformationsprozesse in Literatur und Gesellschaft zu reflektieren. Ein gemeinsames Merkmal der unterschiedlichen Typen von Lebensgeschichten, konzentriert in den politischen wie literarischen Metaphern von >Aufbruch< und >WendeDritten Reichs< reflektiert: als Transformation einer latent antiautoritären Haltung der >politischen Generation gegenüber den autoritären Eltern in die Β egeisterung für den kollektiven > Aufbruch< der nationalsozialistischen >BewegungDritten Reichs< auch am Beginn der 60er Jahre noch aussteht. Denn die neun »Lebensläufe« lassen eine statische Charakterstruktur ihrer Helden erkennen, die trotz des militärischen Zusammenbruchs 1945 und der Chance zum Neuanfang durch keine >geistig-moralische Wende< geprägt ist. Während in der Erzählung von Peter Weiss der Aufbruch eines antiautoritären Bohemiens zu einem eigenen Leben als Künstler eine Entwicklung zur Voraussetzung hat, kann davon bei Kluges bürgerlichen Protagonisten nicht die Rede sein: die Kontinuität zwanghafter Mechanismen im psychischen Apparat und in den sozialen Institutionen erweist sich als so dominierend, daß die wenigen antiautoritären Impulse nur in verzerrter Weise artikuliert und deshalb zur Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse funktionalisiert werden können. Mit dieser skeptischen Bestandsaufnahme stellt Kluges Sammlung ein kritisches Korrektiv dar: nicht nur zum individualistischen Aufbruchs-Modell, wie es im »Abschied von den Eltern« entwickelt ist, sondern bereits auch zu jenen kollektiven Illusionen, welche sich die Protestbewegung in der aktuellen »Vorbereitungsphase« ab Mitte der 60er Jahre über die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft machte. Als man »Fragestellungen aus Marxismus, Psychoanalyse und Kritischer Theorie« zunehmend auf ihre aktuelle »>Relevanz< für einen >Anschluß< der westdeutschen Linken an die >internationalen Klassenkämpfeantiautoritären< Söhne immer mehr vernachlässigt.5 Kluges Erzählungen beharren demgegenüber auf der Kontinuität derartiger sozialpsychologischer Voraussetzungen in der Generation der Väter und decken damit solche zeitgeschichtlichen Hindemisse auf, die als starre Charakterstrukturen wie als unbewegliche Institutionen einer kurzfristigen gesellschaftlichen Veränderung im Wege standen; Aufruhr und Revolution kommen in Kluges »Lebensläufen« nur als folgenlose Gedankenspiele, nicht aber als konkrete Handlungsmöglichkeiten in den Blick. Diese Skepsis bleibt indes nur scheinbar hinter der weiteren zeitgeschichtlichen Entwicklung zurück: denn die folgenreiche Fehleinschätzung des politischen Handlungsspielraums zeichnete sich bereits auf dem Höhepunkt der Protestbewegung am Ende der 60er Jahre ab. Durch die Gleichzeitigkeit von berechtigtem Protest und unzureichender Situationsanalyse ist Erika Runges Dokumentation »Bottroper Protokolle« (1968) geprägt. Hier soll nicht mehr das Fehlen von individueller und kollektiver Identität durch die Collage von ideologischen Klischees entlarvt werden; der Verfahren der Montage von autobiographischen Erzählungen und Gesprächsbeiträgen kommt in der Makrostruktur des Textes vielmehr die didaktische Funktion zu, in der Tradition von Brechts Lehrstücken die Komplettierung von Fragmenten eines >richtigen< Bewußtseins durch den Leser vorzubereiten. Weil der Kommentar als distanzierendes Strukturelement nur im Vorwort eingesetzt ist und die synthetisierende Monologisierung von Interviews zu Lebensgeschichten die Montage als ein >modemes< Konstruktionsprinzip in der Mikrostruktur des Textes ausschließt, entsteht durch die Reihung der bearbeiteten Zitate nur die dokumentarische Illustration einer politischen Strategie, deren Defizite nicht weiter reflektiert werden. Zwar kommen hier in signifikanter Übereinstimmung mit dem Konzept der 5

Reiche, Sexuelle Revolution - Erinnerung an einen Mythos, S. 46f.

271

außerparlamentarischen Opposition die Arbeiter als eine soziale Klasse zu Wort, deren Interessen in der politischen Öffentlichkeit nicht ausreichend vertreten sind: Als Grund für diesen Mangel an Partizipation nennt Walsers Vorwort in Übereinstimmung mit dem historischen Materialismus die Existenz einer Klassengesellschaft, die trotz aller Modernisierungsprozesse durch die Kontinuität eines antagonistischen Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital geprägt ist. Doch die aktuelle ökonomische Krise, die Entlassung von Arbeitskräften und die unzulängliche Reaktion von Privatwirtschaft, Gewerkschaft und staatlicher Politik gelten schon als Anzeichen dafür, daß die üblichen Strategien zur Institutionalisierung des sozialen Konflikts nicht mehr ausreichen. In einer >GegenöffentlichkeitEinheit< von Theorie und Praxis«, welche für die eigentliche »Aktionsphase« der Protestbewegung 1967/68 ein Charakteristikum ist.6 Wie dort die Spannung zwischen der Interpretation und der Veränderung einer Gesellschaft tendenziell negiert wurde, so veranschaulichen die »Bottroper Protokolle« die >traditionalistische< Position in der zeitgenössischen Strategiedebatte der antiautoritären Bewegung, indem sie den von der ökonomischen Krise betroffenen Arbeitern ein vorrevolutionäres Bewußtsein attestieren. Durch dieses hätten sie nicht nur am gegenwärtigen außerparlamentarischen Aufbruch teil, sondern aktualisierten auch das alte Klassenbewußtsein der Arbeiterbewegung wieder. Zwar ist durchaus die Erfahrung eines Kontinuitätsbruchs ausgebildet, wo als Folge der wirtschaftlichen Entwicklung die >Entproletarisierung< der Arbeiter, die Privatheit als dominierende Lebensform und die Kanalisierung des kollektiven Protests in den Blick geraten. Doch gerade mit der Antwort, welche Runges Dokumentation auf die Frage nach den »revolutionären Potenzen im empirischen Proletariat« gibt, wird die >Unfähigkeit zu trauern< nicht überwunden: Denn die Kontinuität, welche der Leser zwischen den exemplarischen Aufbruchsmodellen in den Lebensgeschichten von Clemens K., Maria B. und Verena D. einerseits und der revolutionären Stimmung der Arbeiter andererseits als politische Perspektive herstellen soll, bleibt doch nur dem »magischen Wunsch« der Protestbewegung verpflichtet, »die Volksmassen [...] seien im Innersten und in Wahrheit >gut< und das nationalsozialistische >Böse< [...] sei ihnen äußerlich«.7 Dieser Projektion entsprachen aber schon die Verbrechen des >Dritten Reichs< nicht, und auch die zwanghaften Reaktionen auf die Protestbewegung ließen vor allem in den 70er Jahren eine ganz andere Kontinuität von längst überwunden geglaubten Affekten zu Tage treten. Den revolutionären Aufbruch einer außerparlamentarischen Opposition verklärt Enzensbergers Roman »Der kurze Sommer der Anarchie« (1972) nicht; er leistet an einem historischen Modell die Erklärung einer konterrevolutionären Wende, indem er nicht nur die gesellschaftlichen und internationalen Konflikte aufdeckt, denen die Anarchisten im 6 7

Reiche, Sexuelle Revolution - Erinnerung an einen Mythos, S. 47f. Reiche, Sexuelle Revolution - Erinnerung an einen Mythos, S. 50f.

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spanischen Bürgerkrieg ausgesetzt sind, sondern auch die Widersprüche, in die sie sich selbst verstricken. Möglich wird dies, weil Enzensbergers Text die Montage von Zitaten in der Tradition der Moderne radikalisiert. Zwar überläßt der Erzähler wie in Runges Dokumentation den Augenzeugen die Präsentation des Geschehens. Doch deren Aussagen sind hier nicht auf verdeckte Weise zu einer Lebensgeschichte synthetisiert, sondern in eine Vielzahl von Zitaten zerlegt, deren Bearbeitung und Zusammenstellung zu einer Collage offen eingestanden werden. Die Ausweitung des Kommentars in den historischen Glossen und in den poetologischen Reflexionen erlaubt es zudem, daß die montierten Dokumente nicht nur im geschichtlichen Kontext der Vergangenheit verstanden, sondern auch zur Bestimmung gegenwärtiger Interessen genutzt werden können. So wird der Leser durch die Komplexität dieser polyperspektivischen Erzählstruktur aufgefordert, in der fehlenden Einheit dieser Lebensgeschichte die Widersprüchlichkeit der Zeitgeschichte zu reflektieren; eine konkrete Perspektive für eine aktuelle politische Strategie weist aber weder der Erzähler noch die didaktische Struktur dieses Textes. Enzensbergers Roman kann deshalb einer dritten Phase dokumentarischen Erzählens zugerechnet werden, in der nach dem Scheitern der antiautoritären Revolte eine selbstkritische Auseinandersetzung mit zeitgeschichtlichen Erfahrungen insbesondere der europäischen Arbeiterbewegung stattfindet. In der Aneignung von deren politischen Strategien läßt er aber auch eine Übereinstimmung mit jener >Organisationsphase< erkennen, in der die Nachfolger der antiautoritären Rebellen seit 1970 durch die Gründung einer Vielzahl von Kaderpaiteien den Schritt vom spontanen Protest zum organisierten Widerstand zu vollziehen glaubten. Das utopistische Modell vom antiautoritären und revolutionären Proletariat ist in diesem Text allerdings an einem zeitgeschichtlichen Paradigma der historischen Reflexion unterzogen. Am Scheitern des spanischen Anarchismus als einer proletarischen Massenbewegung und an ihrem antiautoritären Helden Durruti wird die Grundlage des (neo)anarchistischen Handlungskonzepts, die Vorstellung vom kurzen Sprung ins Reich der Freiheit, als eine gänzlich unhistorische Erwartung destruiert, und diese Illusion prägte ja nicht nur den Höhepunkt der antiautoritären Revolte am Ende der 60er Jahre, sondern auch noch die voluntaristische Praxis der K-Gruppen und der terroristischen Organisationen in den 70er Jahren. Deren Strategien blieben ja auch in dem politischen Irrtum befangen, die >guten< Volksmassen wären dann zu einer revolutionären Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse imstande, und zwar im Hier und Jetzt, also zu Lebzeiten der selbsternannen Avantgarden, wenn diese nur schnell genug das faschistische >Böse< des politischen und wirtschaftlichen Systems entlarvt hätten. Enzensbergers Roman macht demgegenüber deutlich, daß die Guerillastrategie des bewaffneten Kampfes in Spanien vor 1936 fundamental andere historische Voraussetzungen hatte: als Widerstand gegen den offenen Terror von Kapital und Staat; daß die Agitation der isolierten Avantgarde auch nach der Niederschlagung des Putsches 1936 höchst unzulänglich blieb: in der Analyse des Faschismus als einer Synthese von Modernisierungs- und Entmodernisierungsprozessen ebenso wie im Verzicht auf eine Strategie im Kampf um die politische Herrschaft; daß die Volksmassen trotz gewisser revolutionärer Anfangserfolge nicht einfach >gut< waren, sondern sich teilweise überhaupt nicht vom faschistischen Bösen< unterschieden: in derMenschenjagd und in einem Kampf ohne Gnade; daß die Macht der etablierten Parteien und die internationalen Gewaltverhältnisse schließlich stärker blieben als der voluntaristische Versuch der An-

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archisten, eine bürgerliche Gesellschaft ad hoc radikal zu verändern. Dieser politischen Entwicklung vom Aufbruch zur Wende entspricht es, wenn der proletarische Held Durruti am Ende seines Lebens als ohnmächtiges, geschichtlich belangloses Individuum vorgeführt ist, das an der Diskrepanz zwischen antiautoritärer Idee und autoritärer Realität scheitelt. Der Roman stellt sich zwar noch am Beispiel der alten Anarchisten im Exil und der enttäuschten Intellektuellen Simone Weil der Frage, wie aus dem Mißerfolg des Konzepts vom kurzen Sprung ins Reich der Freiheit die politische Konsequenz eines >langen Marsches durch die Institutionen zu ziehen wäre, der an den radikalen Zielen der Protestbewegung festhielte und »mit kältester Klarsicht« doch eine reformerische Politik des »kleineren Übels« betriebe;8 eine Antwort darauf aber wird dem Leser 1972 nicht mehr gegeben. Daß es in den 70er Jahren zu keiner organisierten Fortsetzung der antiautoritären Politik gekommen und der >lange Marsch durch die Institutionen schnell gescheitert ist, diese zeitgeschichtliche Erfahrung modellieren die Romane »Der Schleiftrog« von Hermann Kinder und »Der Schöne Vogel Phönix« von Jochen Schimmang. Beide Texte können nicht nur als literarische Äquivalente zum Zerfall des kollektiven Protests und zur Vereinzelung der Akteure verstanden werden, sondern auch als Beispiele für jene autobiographische Wende< des dokumentarischen Erzählens, die darin besteht, daß der politische Mißerfolg der antiautoritären Bewegung in der lebensgeschichtlichen Selbstthematisierung ihrer Subjekte reflektiert wird. Aufgrund der Ablösung des dokumentarischen Theaters am Beginn der 70er Jahre besitzt jene Phase freilich keine Entsprechung im Bereich des Dramas mehr, sondern ist auch der Ausdruck eines literarischen Paradigmenwechsels, einer Entwicklung, die von der Herstellung politischer Öffentlichkeit auf der Bühne zur Selbstreflexion des einzelnen in Auto-Biographie und Roman verläuft. Kinders Roman »Der Schleiftrog« (1977) leistet eine Selbstkritik der Protestbewegung, weil hier das Scheitern der Revolte nicht einseitig nach außen auf die >bösen< Institutionen des Staates projiziert wird, sondern unter einer sozialpsychologischen Problemstellung die bürgerliche Charakteistruktur des kritischen, aber einsamen Individuums als eine der Kontinuitäten in Erinnerung gerufen ist, die einen persönlichen und politischen Aufbruch der antiautoritären Generation nicht zugelassen haben. Die Reflexion solcher Hindernisse konkretisiert sich bereits in der Erzählstruktur: Obwohl der Roman in der weitgehend chronologischen Organisation der Ereignisse einem traditionellen Eizählschema der Autobiographie folgt und auch der gegenwärtige Erinnerungsprozeß nur am Anfang des Textes veranschaulicht wird, findet hier eine Auseinandersetzung mit ästhetischen Konstraktionsprinzipien der literarischen Moderne statt. Die Darstellung des ratlosen Ich-Erzählers bei der Schilderung des Erinnerungsanlasses, seine poetologischen Reflexionen über ein zeitgemäßes Erzählen, die Stilisierung der Erinnerung zur unbewußten Traumarbeit, die Montage und die Reihung von dokumentarischen Zitaten, grotesken Szenen und autobiographischen Erinnerungsfragmenten vermitteln nicht nur selbstironisch gravierende Zweifel an der identitätsstiftenden Macht des Erzählers, sondern demonstrieren auch anschaulich die Schwierigkeiten der antiautoritären Generation, durch die autobiographische Wende eine Aufarbeitung der kollektiven Vergangenheit bewerkstelligen zu können. In Übereinstimmung mit Erkenntnissen 8

Weil, Meditation über Gehorsam und Freiheit, S. 263.

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der Kritischen Theorie zur Interdependenz von Charakter- und Gesellschaftsstruktur wird so die unvermittelte Applikation historisch-materialistischer und anarchistischer Deutungsmuster in der Aktions- und Organisationsphase aufgedeckt wie auch die ungebrochene lebensgeschichtliche Bedeutung des existentialistischen Syndroms, welches die Protestbewegung selbst noch in der Phase ihres Zerfalls prägt: jetzt allerdings nicht mehr als Vorstellung von der permanenten Revolte des einzelnen gegen jegliche Einschränkung der persönlichen Freiheit, sondern als Ideologie von der notwendigen Vergeblichkeit aller Bemühungen. Mit dem Idol des Bohemiens stellt der Text ein Leitbild der antiautoritären Generation vor, in dem sich das Bedürfnis nach der Ästhetisierung des Scheitems artikuliert, und macht so nicht nur dieses individualistische Selbstkonzept als einen Grund für die kollektiven Schwierigkeiten mit dem >langen Marsch durch die Institutionen bewußt, sondern erklärt auch genetisch jenes autobiographische Schreiben, in dem das melancholische Lebensgefiihl dieser Generation nach 1970 seinen literarischen Ausdruck finden kann. Weil deren Privatisierung in Kinders Roman schließlich im Zusammenhang mit den sozialen und geschichtlichen Erfahrungen anderer reflektiert wird - mit der Wende der deutschen Intellektuellen zu klassischer Dichtung und romantischer Naturbegeisterung am Beginn der bürgerlichen Gesellschaft ebenso wie mit der Resignation der Väter und Großväter der antiautoritären Generation als Reaktion auf die persönlich erlebte Zeitgeschichte, mit den materiellen Sorgen von Arbeitern nach der ökonomischen Wende in den 70er Jahren ebenso wie mit den isolierten Versuchen einer radikalen Reformarbeit - , fordert diese Lebensgeschichte eine historische Trauerarbeit ein, die noch immer nicht stattgefunden hat. Während im »Schleiftrog« die emanzipatorischen Ziele der Protestbewegung als Maßstäbe der Selbstkritik bestehen bleiben, vollzieht Schimmangs Roman »Der Schöne Vogel Phönix« (1979) einen bedenkenlosen Abschied: nicht nur vom >langen Marsch durch die Institutionen, sondern auch vom Projekt der Aufklärung überhaupt Schon von seinen Konstruktionsprinzipien her ist dieser Text als ästhetischer Rückschritt zu begreifen, der die Entwicklung von Erzählverfahren seit der literarischen Moderne weitgehend negiert. Die Nicht-Identität des Erzählers mit sich selbst, die durch den Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektive suggeriert wird, ist hier nur auf der vertikalen Ebene der erlebten Vergangenheit, nicht aber auf der horizontalen Ebene des gegenwärtigen Erinnerungsprozesses von Bedeutung. Der selbstbewußte Überblick des Auto-Biographen prägt die Darstellung der Ereignisse so dominierend, daß durch Prolog, Epilog und die Montage von Zitaten als dokumentarischen Erzählverfahren keine Collagestruktur mehr entsteht und damit auch keine Kritik am melancholischen Weltverständnis der Perspektivfigur. Zwar werden so die Defizite der Organisationsphase noch durchaus mit geschichtlichem Bewußtsein diagnostiziert, wenn die autoritäre Kaderpolitik als eine Strategie der politischen Entmodemisierung entlarvt wird, die weder den empirischen Bedürfnissen der proletarischen Avantgarde< gerecht wird noch die Volksmassen zum revolutionären Aufbruch veranlassen kann. Die Erfahrung der Diskrepanz zwischen Studenten und Arbeitern, zwischen revolutionären Lebensplänen und tatsächlichem Verlauf der Zeitgeschichte zieht in Schimmangs Roman aber nicht nur die sentimentale Verklärung der Aktionsphase zum unwiederbringlich verlorenen Paradies nach sich, sondern führt in der Zerfallsphase der Protestbewegung auch zu einer ideologischen Tendenzwende, zu anti-modernen Deutungskategorien von Geschichte überhaupt. In 275

Übereinstimmung mit dem vitalistischen Irrationalismus um die Jahrhundertwende wird die historische Entwicklung der 60er und 70er Jahre in fatalistischer Weise auf naturgesetzhafte Stimmungstypen reduziert, auf den antagonistischen Dualismus von Sommer und Winter, Wärme und Kälte, dem der einzelne ohnmächtig gegenübersteht Solche Universalisierung eines resignativen Lebensgefühls hat ihre Voraussetzung allerdings auch darin, daß diese Lebensgeschichte den Zerfall der Protestbewegung auf eine privatistische Weise vornehmlich am Scheitern von Liebesbeziehungen demonstriert und die depressive Stimmung des Helden dann nicht nur als repräsentativ für den Zeitgeist der 70er Jahre ausgibt, sondern auch zur existentiellen Grunderfahrung der Angst ontologisiert. Eine Selbstkritik der Protestbewegung im Sinne einer »Aufklärung über Aufklärung«9 leistet dieser Roman nicht mehr, wenn am Ende der 70er Jahre im Zuge des Anti- und Postmodemismus regulative Ideen wie Vernunft, Aufklärung, Geschichte und Fortschritt als >totalisierende Metaphysik< verworfen und gegen die Sensibilität einer ästhetischen Selbsterfahrung ausgespielt werden, die allein das Besondere des Individuums angeblich noch zu retten vermag.10 Weil so die Entwicklung vom kollektiven Protest zum autobiographischen Schreiben nicht nur als positiver Lemprozeß eines einzelnen dokumentiert, sondern dessen lebensgeschichtliche Darstellung gar narzißtisch zum Kunstwerk verklärt wird, findet hier keine Trauerarbeit über das Scheitern der Protestbewegung vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte statt - und die >Unfähigkeit zu trauern< setzt sich fort. Als letzter Text der hier vorgestellten literarischen Reihe führt Schimmangs Roman am Lebenslauf eines einzelnen einen historischen Ablösungsprozeß von zwei Generationsgestalten nach dem Zweiten Weltkrieg vor, die Helmut Fend in seiner »Sozialgeschichte des Aufwachsens« als die »politische Generation« und die »Generation der >Lebensweltantiautoritäre< genannt wird, liege in ethisch normativ und theoretisch begründeten Vorstellungen einer idealen Gesellschaft und im Engagement für die Veränderung der bestehenden, defizitären Verhältnisse am Maßstab dieser Konzepte. Aufgrund der politischen Entwicklung sei die Protestgeneration aber in drei Strömungen zerfallen, in die Radikalisierung der revolutionären Attitüde durch terroristische Untergrundaktionen, in den Weg in die großen politischen Parteien und in eine dritte Gruppe, welche die oppositionelle Grundhaltung bewahrt, sich aber von der offiziellen Wirklichkeitsgestaltung zurückgezogen habe und so zum Teil einer neuen Generationsgestalt geworden sei.11 Diese »Generation der >LebensweltBrüderlichkeitSystemsmodeme< Form der Lebensbewältigung von der >postmodemen< trennt: die Askese im Dienste rationaler Lebensführung, die Disziplinierung der >inneren Naturbesseren WeltAufbruch< zur >WendeModerne< zur >Post-Moderne< bestätigt. So macht 12 13 14

Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 215f. Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 169 und S. 290-292. Fend, Sozialgeschichte des Aufwachsens, S. 68f. und S. 61-66. 277

etwa die wiedelholte Zitierung des >AufbruchsWende< in den privaten und poetischen Innenraum vollzieht, zeigt als Folge des modernen Individualisierungsschubs, daß die antiautoritäre Generation auch dann noch von einem subjektivistisch interpretierten Personalitätsprinzip als einem kollektiven Unterstrom geprägt bleibt, wenn sie die politische Verwirklichung eines universalistischen Sozialprinzips anstrebt. Durch die differenzierte Analyse literarischer Lebensgeschichten können sowohl die Defizite und Spannungen erfaßt werden, die für den okzidentalen Rationalismus unter den konkreten historischen und gesellschaftlichen Bedingungen charakteristisch sind, als auch die besonderen Ausblendungen, welche die jeweiligen Jugendgestalten bei ihrem Bemühen kennzeichen, sich von den Widersprüchen der herrschenden Lebensform durch >Aufbruch< oder >Wende< abzusetzen. Weil so bei aller Diskontinuität immer wieder die Kontinuität >moderner< Problemkonstellationen in literarischen Lebensgeschichten anschaulich wird, ermöglicht die Interpretation der hier entwickelten Reihe ein historisches Bewußtsein davon, daß ein voluntaristischer Abschied vom »Projekt der Moderne«16 nur um den Preis zu haben ist, daß der Prozeß der gesellschaftlichen Modernisierung, wie in der zuletzt interpretierten Lebensgeschichte, mit der Fatalität eines Naturgeschehens gleichgesetzt wird: Nachdem der gesellschaftliche Aufbruch nicht stattgefunden hat, vollzieht dort der vom politischen Konzept einer >Ästhetik des Widerstands< enttäuschte Intellektuelle die Wende in den kulturellen Binnenraum der >Postmodeme< - und richtet sich dort ein, indem er sein resigniertes Dasein im unveränderten Alltag zur »Kunst des Überlebens«17 ästhetisiert. So ist »das Jahr 68« zwar »das Jahr eines gewaltsamen Vorstoßes u Befreiungsversuchs gewesen«.18 Nach dessen Scheitern sich aber noch immer die Frage >Aufbruch oder Wende