Jenseits der Moderne?: Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft [1 ed.] 9783428544516, 9783428144518

Schon seit geraumer Zeit beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft mit der Zeit seit den 1970er Jahren und erschließt

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Jenseits der Moderne?: Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft [1 ed.]
 9783428544516, 9783428144518

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Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 27

Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Thomas Großbölting Massimiliano Livi Carlo Spagnolo

Duncker & Humblot · Berlin

GROSSBÖLTING/LIVI/SPAGNOLO (Hrsg.)

Jenseits der Moderne?

Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 27

Jenseits der Moderne? Die Siebziger Jahre als Gegenstand der deutschen und der italienischen Geschichtswissenschaft

Herausgegeben von Thomas Großbölting Massimiliano Livi Carlo Spagnolo

Duncker & Humblot · Berlin

Italienische Ausgabe L’avvio della società liquida? Il passaggio degli anni Settanta come tema per la storiografia tedesca e italiana Übersetzungen von Tobias Daniels, Annika Hartmann und Hedwig Rosenmöller Die vorliegende Publikation wurde unterstützt durch den Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 978-3-428-14451-8 (Print) ISBN 978-3-428-54451-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84451-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Thomas Großbölting, Massimiliano Livi und Carlo Spagnolo Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Carlo Spagnolo Die Postmoderne als historiographischer Begriff. Beobachtungen zum Übergang in das Schuldenzeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Paolo Pombeni Moderne/Postmoderne. Überlegungen zu einer Debatte am Beispiel der politischen Geschichte der jüngsten Vergangenheit . . . . . . . . . . . . .

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Erster Teil Interpretationskategorien

Paolo Jedlowski Die Moderne in vielen Formen .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73

Lutz Raphael Das Konzept der „Moderne“. Neue Vergleichsperspektiven für die deutsch-italienische Zeitgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

95

Detlef Siegfried Ist jeder seines Glückes Schmied? Die Historisierung des Individualisierungsparadigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Frank Bösch Grenzen der Individualisierung. Soziale Einpassungen und Pluralisierungen in den 1970/80er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Thomas Großbölting Vom sozialwissenschaftlichen Postulat zur historischen Erforschung des „Wertewandels“. Ein Versuch am Beispiel von Familienwerten und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

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Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil Untersuchungen zum Wertewandel Giovanni Bernardini Die Modernisierung als „höchstes Stadium“ der Moderne? Entwicklung und Krise der sozialdemokratischen Ideologie nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1973) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Nicolai Hannig Erforschungen des Gefährlichen. Zur Versicherheitlichung der Natur in den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Fiammetta Balestracci Politische Macht und soziale Norm im Italien der 1960er und 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Massimiliano Livi Die Stämme der Sehnsucht: Individualisierung und politische Krise im Italien der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Roberta Sassatelli Konsum und neue kommerzielle Strukturen der Individualisierung. Das moderne Fitnessverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Olga Sparschuh Konsumverhalten und Wertvorstellungen italienischer Arbeitsmigranten in Turin und München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Massimiliano Livi Moderne und Postmoderne: Eine thematische Bibliographie Namensregister .

. . . . . 297

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Einleitung Von Thomas Großbölting, Massimiliano Livi und Carlo Spagnolo

Schaut man auf die aktuelle zeithistorische Forschung, dann stehen die 1970er und 1980er Jahre ganz offensichtlich auf der Tagesordnung. Einschlägige Konferenzen wie auch die obligatorischen Aufsätze und Sammelbände zeugen ebenso davon wie die zahlreichen Flurgespräche am Rande der Veranstaltungen1. All das deutet zunächst darauf hin, dass es wieder einmal die ausgebildeten Routinen sind, nach denen peu à peu die dem Dezimalsystem unseres Kalenders geschuldeten Jahrzehnte thematisiert werden. Nach der „Modernisierung im Wiederaufbau“ (1950er Jahre) und den „Dynamischen Zeiten“ (1960er Jahre) sowie einer ausführlichen Beschäftigung mit „1968“ sind es nun die 1970er Jahre, die sich der Historisierung nicht erwehren können2. Dieser Rhythmus ist nicht außergewöhnlich, im Gegenteil entspricht er sogar in hohem Maße den Usancen des Faches: Die gesetzlich verankerten Archivregeln, die zumindest mit Blick auf die alte Bundesrepublik erst nach dreißig Jahren wichtige Aktenbestände freigeben, tragen ebenso dazu bei wie die Ansicht vieler Geschichtswissenschaftler, dass erst ein gewisser zeitlicher Abstand zum jeweiligen Untersuchungsgegenstand die nötige Distanz verschafft. Nicht zuletzt die Abgrenzung zu den benachbarten, aber gegenwartsorientierten Disziplinen legt ein solches Vorgehen nahe, will man doch den Politik- und Sozialwissenschaften nicht ins Gehege kommen3. 1 A. Doering Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2010; K.H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; T. Raithel / A. Rödder / A. Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009; N. Ferguson / Ch.S. Maier / E. Manela / D.J. Sargent (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge / London 2010; M. Geyer, Auf der Suche nach der Gegenwart. Neuere Forschung zu den 1970er und 1980er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, 50 (2010), S. 643-670. 2 A. Schildt / A. Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998; A. Schildt / D. Siegfried (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 37), Hamburg 2000. 3 Für eine ähnliche Analyse im italienischen Kontext vgl. S. Woolf, Introduzione. La storiografia e la Repubblica italiana, in: S. Woolf (Hrsg.), L’Italia repubblicana vista da fuori (1945-2000), Bologna, 2007, S. 9-84.

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Thomas Großbölting, Massimiliano Livi und Carlo Spagnolo

Beim Ausgriff in die 1970er und die 1980er Jahre aber scheint die Routine gestört. Sowohl mit Blick auf den Gegenstand wie auch hinsichtlich der eigenen Arbeitsweise und Methoden gibt es Irritationen, die zu vertieftem Nachdenken zwingen. Wird die Zeitgeschichte als „jüngste“ Teildisziplin zum „Sorgenkind“4? Inwiefern ist die Zeitgeschichte durch einen eigenen Zugriff legitimiert und originell oder, einfach gefragt: Was kann die Zeitgeschichte als Geschichtswissenschaft, was andere Fächer und Disziplinen nicht können5? In diesem Buch wird mit dem Instrumentarium der Zeitgeschichte das Gehege der anderen Disziplinen vor allem in zwei Hinsichten „betreten“. Es wird zunächst eine Überholung der Kategorie Krise als exhaustives Paradigma für die Historisierung der 1970er vorgeschlagen. Denn die Siebziger haben zu einer Änderung des Inhalts in der historischen Narration der Nachkriegsjahrzehnte geführt, die bereits von vielen bemerkt worden ist. Mit Blick auf Deutschland hat die Leitvokabel „Krise“ z.B. den Tenor der Erfolgsgeschichte abgelöst, der in den Darstellungen zur Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre überwog6. „Krise“ drängt sich auch aus der Gegenwartsperspektive auf, die unseren Blick auf die Vergangenheit mit prägt. In besonderem Maße, so ergibt es die deutsche Diskussion, scheinen in den 1970er Jahren die Anfänge der Probleme der Gegenwart auszumachen zu sein: die Reformbedürftigkeit der Sozialsysteme, die Krise des fordistischen Produktionsprozesses, die Erosion der sozial geschützten Normalarbeitsverhältnisse für den männlichen Familienernährer, die Auflösung der damit verbundenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in der modernen Kleinfamilie wie auch ein starker demographischer Wandel – schon diese wenigen Punkte auf einer keinesfalls abgeschlossenen Liste dokumentieren die Vielschichtigkeit der Veränderungen, die heute Politik und Gesellschaft herausfordern und deren Wurzeln, zumindest aber deren besondere Zuspitzung in den 1970er Jahren gesehen wird. Nicht zuletzt lassen sich dazu auch Aspekte der momentanen Finanzkrise zählen. Die enorme Staatsverschuldung, die heute Staaten und ihre Bevölkerungen in hohe Abhängigkeit von den Finanzmärkten bringt, hatte in diesem Jahrzehnt ihren Anfang: War der deutsche Staat bis in die 1960er Jahre hinein noch einer der größten Kreditgeber, so kehrte sich das Verhältnis ab den 1970er Jahren um und die Staatsverschuldung stieg drastisch, bis sie die aktuellen astronomischen Ausmaße erreichte. 4 M. Böick / A. Siebold, Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen, in: DeutschlandArchiv, (2011), 1, S. 105-113. 5 R. Graf / K.C. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011), 4, S. 479-508. 6 M. Geyer, Auf der Suche nach der Gegenwart. Neuere Forschung zu den 1970er und 1980er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, 50 (2010), S. 643-670.

Einleitung

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Anselm Doering-Manteufel und Lutz Raphael beschrieben 2008 in ihrem viel beachteten Großessay „Nach dem Boom“ die Phase seit Beginn der 1970er Jahre als eigenständige Epoche der Zeitgeschichte7. Ein „Strukturbruch, der sozialen Wandel von revolutionärer Qualität mit sich gebracht hat“, grenze die Jahrzehnte seitdem von den Folgejahren ab8. Mit Blick auf die internationale Politik und Geschichte springt sofort ins Auge, dass auch andere Periodisierungen möglich sind. Allen voran markieren das Jahr 1989 und die sich anschließende Wiedervereinigung einen Wendepunkt in der deutschen wie auch internationale Geschichte. Zu fragen ist – um nur ein Beispiel zu nennen, bei dem der deutsch-italienische Blick fruchtbar irritierte -, wie der Zusammenbruch des Kommunismus sowjetischer Prägungen und die weitreichenden Auswirkungen in Deutschland wie in Italien seit 1989 in ein solches Modell einzuordnen sind. Hat es im Bereich des Politischen beispielsweise nicht bis zu diesem Zeitpunkt eher Kontinuitäten als Veränderungen gegeben? Aus internationaler Perspektive ist auch das Jahr 1979 von Politologen, Historikern und Vertretern anderer Wissenschaften als ein Brennpunkt der Geschichte identifiziert worden, in dem sich verschiedene neue Trends und vor allem auch Wahrnehmungsverschiebungen bündelten9. Natürlich, so argumentierten Doering-Manteuffel und Raphael, gebe es nicht einen Nukleus, von dem aus die Veränderungen zu beschreiben seien, im Gegenteil: Vor allem das Zusammenspiel verschiedener Entwicklungen, die „Querverbindungen und Wechselwirkungen zwischen funktional getrennten Bereichen von Politik, Ökonomie, Bildung, Wissenschaft oder Religion“ hätten einen fundamentalen Wandel bewirkt. Dennoch lässt schon der Titel „Nach dem Boom“ erkennen, dass die Autoren Schwerpunkte der Veränderung vor allem in der Sphäre wirtschaftlicher und technologischer Basisprozesse 7 Vgl. insbesondere die gehaltvolle Mehrfachbesprechung bei http://www. sehepunkte.de/2009/05/forum/mehrfachbesprechung-a-doering-manteuffel-l-raphaelnach-dem-boom-g246ttingen-2008-115/. 8 A. Doering Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom, S. 10. 9 Vgl. J. Black, 1979, The Real Year of Revolution – Jeremy Black Discusses a Turbulent Year, in: History Today, 59 (2009), 5, S. 5; N. Ferguson, The Revelation of 1989 – Why 1979 Was an Even Bigger Year, in: Newsweek, 16. November 2009, S. 32-37; Ch. Caryl, The Great Backlash – What do Ayatollah Khomeini, Margaret Thatcher, Pope John Paul II, and Deng Xiaoping All Have in Common?, in: Foreign Policy, Juli/August (2009), 173, S. 50-64. Von deutscher Seite vgl. C. Leggewie, Gedenkjahr 1979. Die Zeitenwende, in: Süddeutsche Zeitung, 21. Januar 2009; E. Frey, 1979 ist überall, in: Standard, 3. Januar 2009, der ebenfalls vom „Geburtsjahr der Gegenwart“ spricht. Zuletzt F. Bösch, Umbrüche in die Gegenwart, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in: Contemporary History, Online-Ausgabe, 9 (2012), 1; ders., Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen, 2012, 1, online verfügbar unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041Boesch-1-2012, zuletzt geprüft am 16. November 2012.

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verorten, von denen vor allem der Postfordismus wie auch die Auflösung der wohlfahrtsstaatlichen Arrangements der Nachkriegszeit hervorstechen. Die Entscheidung, sich auf Industrialisierung, Produktionsbeziehungen und politische Ökonomie zu konzentrieren, wird man sicherlich mit allem Nachdruck begrüßen. Nicht zuletzt die Bankenkrise seit dem Jahr 2008 führt uns alltäglich vor Augen wie stark ökonomische Faktoren die Gesellschaften der Gegenwart prägen. Dennoch bietet dieser Fokus auch Anlass zur Kritik: In der von den Autoren damit eingenommenen Perspektive bleibt das Individuum in seinen Lebenserfahrungen, in seiner Perspektivierung von Zeit, in seinen Lebensentwürfen und -praktiken nur noch schwer greifbar. Die Beobachter dieser Entwicklung haben hingegen vor allem auf Veränderungen in diesen Segmenten hingewiesen, um ihre These zu stützen: Die Chiffre „1968“ steht in der deutschen Diskussion mittlerweile für eine umfassende Lebensstilrevolution und die Ausbildung eines „alternativen Milieus“10. In den 1970er Jahren sprach zum Beispiel der amerikanische Essayist Tom Wolfe von einer „Me Decade“ (1976), in der die Sorge um die Modellierung der eigenen Persönlichkeit wie auch das eigene Wohlergehen in den Vordergrund rückten11. Zu fragen ist, wie Veränderungen in diesen Bereichen im Geflecht des allgemeinen Wandels zu verorten sind: Die Pluralisierung der Lebensstile, der Ausgang aus den soziokulturellen Milieus in die Lebensstilmilieus der 1980er Jahre, die Aufwertung von Jugendkulturen und deren Hineinwachsen vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft, der Wandel von Lebensformen und Formen der Privatsphäre wie auch die Veränderungen in den Mustern primärer Vergemeinschaftung in Familie, Freundeskreis und Gesinnungsgruppen. Zu fragen ist es auch wie sich dadurch gegebenenfalls unsere Periodisierungsmodelle ändern lässt. Darüber hinaus: stellen die sozialen und kulturellen Transformationen der Siebziger wirklich einen Strukturbruch dar oder haben sie frühere Wurzeln? Welche Beziehung besteht zwischen der Krise der normativen Strukturen der Parsonianischen Modernisierung und den Veränderungsprozessen der Gesellschaft? Lassen sich diese Veränderungen historisch beobachten und definieren? Sind sie quantitativ wie qualitativ zu gewichten? Inwiefern haben diese Veränderungen den Charakter einer Zäsur innerhalb der Moderne? Und wenn ja, befinden wir uns nun in einer neuen Phase bzw. in der Fortführung der bestehenden Moderne in anderen Formen? 10 S. Reichardt / D. Siegfried (Hrsg.), Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 47), Göttingen 2010. 11 T. Wolfe, The Me Decade and the Third Great Awakening, in: New West, August 30, 1976, S. 27-48.

Einleitung

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Schon die hier skizzierten Fragen – welche im November 2011 die gewinnbringende deutsch-italienische Begegnung in der Villa Vigoni12 inspiriert haben und jetzt in diesem Band wieder aufgenommen und erweitert werden – deuten an, dass mit dem Zugriff auf die 1970er Jahre nicht zuletzt auch eine enorme methodische Herausforderung verbunden ist und dass die Analyse der jüngsten Vergangenheit ein anderes epistemologisches Instrumentarium als die Epoche des Booms benötigt. Die Historiographie muss dann ihren Blick auf die Jahre „nach dem Boom“ mit anderen Definitionen als denjenigen, die aus der Wirtschaft und insbesondere aus der Soziologie stammen, untermauern. Diese haben Begriffe der Selbstbeschreibung der Gegenwart produziert, die zwischen Optimismus und Krisengefühl schwanken, wie zum Beispiel: „Postindustrielle Gesellschaft“ („post-industrial society“, Alain Touraine / Daniel Bell), „Postmoderne“ (Lyotard), „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck), „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze), „Multioptionsgesellschaft“ (Peter Gross), „flüssige Moderne“ („liquid modernity“, Bauman) und „Netzwerkgesellschaft“ („network society“, Manuel Castells). Diese Begriffe dienten ebenso sehr der Analyse wie auch der zeitgenössischen Intervention. In diesem Sinne sind sie nicht als Repräsentationen der historischen Wirklichkeit zu verstehen, sondern als normative Begrifflichkeiten der Zeitgenossen13. In deren Zugriffen überschneiden sich zeitgenössisches politisches Engagement und retrospektive Analyse in breitem Maße. Wie gelingt es uns, diese Begriffe (Risikogesellschaft, Netzwerkgesellschaft usw.) produktiv zu historisieren, sie für unsere Analyse zu nutzen, sie im Zweifel aber auch zu überbieten? Dieser Band fragt deshalb nach der Qualität der Veränderung in den siebziger Jahren und überprüft auf diese Weise, was sich von den Prämissen des Postulats der Postmoderne halten lässt. Individualisierung, Pluralisierung und nicht zuletzt Denormativierung – indem wir diese soziologischen Kategorien empirisch überpüfen, versuchen wir den mechanistischen Ansatz zu überwinden, der die „postmoderne“ Gesellschaft als ein Produkt der Wirtschaftskrise der siebziger Jahre sieht. Seit den 1960er und 1970er wird dann zur Alltagsform14, so argumentiert Welsch, was in der bisherigen Moderne nur in kleinen Zirkeln erprobt wurde. Das Resultat ist eine neuartige Komplexität der Gesellschaft und ein

12 Nach der Moderne? Italien und Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (7.-9 November 2011) in Kooperation mit dem DeutschItalienischen Zentrum für europäische Exzellenz Villa Vigoni, Como. 13 Vgl. R. Graf / K.C. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. S. 484. 14 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1988.

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radikaler Wertewandel, die das Dogma des Fortschritts als kontinuierliche Entwicklung bzw. als formgebendes Element der Moderne und ihrer Normen verstanden stark hinterfragen. Die Beiträge in diesem Buch beabsichtigen nicht, einen direkten Vergleich der empirischen Phänomene in den beiden nationalen Geschichte zu etablieren. Vielmehr möchten sie Wege in der Forschung bereiten, die auch für andere nationale, europäische Kontexte und darüber hinaus, begangen werden können. Sie folgen dem Faden der Diskussion rund um das Thema „Etikettierung“ und um den starken Einfluss der nationalen historiographischen Traditionen in der Interpretation von Phänomenen und Prozessen, die dezidiert transnationaler und globaler Natur sind. Als erster in dem Band beschäftigt sich Carlo Spagnolo mit dem Problem der terminologischen Konzeptualisierung der Postmoderne. Durch eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bedeutungen in den Sozial- und Geschichtswissenschaften, schlägt er in seinem Aufsatz vor, die übliche Einstellung von Soziologen zu stürzen: die Postmoderne sei für Spagnolo nicht eine historische Phase, die mit der modernen bricht, sondern eine neue Phase, die mit den Erwartungen der Modernisierung bricht. Darf man daher die Postmoderne statt als eine Kategorie, die eine Epoche definiert, als konnotatives Adjektiv (postmodern) der beginnenden Globalisierung ergreifen? Die Zerrüttung der Teleologie der Modernisierung und die Erweiterung einer pluralistischen Ästhetik werden dann zum Ausdruck der neuen Akteure der globalen Gesellschaft und der Konflikte, die ihr zugrunde liegen. Paolo Pombeni stellt uns eine Überlegung über die Angemessenheit vor, die Veränderungen und die Transformationen der 1970er vor ihrer Stabilisierung zu periodisieren und zu etikettieren. Trotz der empirischen Authentizität und der Relevanz der Zäsuren ist es zu hinterfragen – so Pombeni, ob der Anspruch der Postmoderne, die Geschichte der Moderne abschließen zu wollen, nicht vor allem der Ausdruck einer unzureichenden Auseinandersetzung mit der Geschichte der Moderne sei. Die Feststellung, dass die Neuheit der Gegenwart keine eindeutig identifizierbare und definierbare Diskontinuität mit der Vergangenheit darstellt, wird von Paolo Jedlowski durch die Idee der multiplen Modernen thematisiert. Er argumentiert in seinem Beitrag nicht über den Bedarf, die historischen Meistererzählungen los zu werden, sondern über die Notwendigkeit ihrer Flexibilisierung und über die Möglichkeit, die kognitiven Rahmenbedingungen für die Interpretation der Moderne und ihrer Transformationen sowohl global als auch lokal auf den Prüfstand zu setzen. In diesem Sinne schlägt wiederum Lutz Raphael eine Reflexion über die Beziehung der deutschen bzw. italienischen Historiographie zur terminologischen Konzeptualisierung der Transformationen der Moderne und über die Schwierigkeiten der Gültigkeit und/oder der transnationale Widersprüchlichkeit der erwähnten Zäsuren vor.

Einleitung

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Wie sind dann in Italien und Deutschland die Beharrungen, die Spannungen und die gegenläufigen Tendenzen des Wandels zu bewerten und zu überprüfen, in zwei Kontexten, die aus historischen, politischen und nicht zuletzt kulturellen Gründen immer in konstantem direktem Vergleich gewesen sein? Ausgehend von dem deutschen Kontext vervollständigen die Beiträge von Detlef Siegfried, Frank Bösch und Thomas Großbölting den ersten Teil des Buches. Sie stellen die Trias „Individualisierung“, „Pluralisierung“ und „Denormativierung“ auf den Prüfstand der Empirie, welche, vielleicht mehr als andere, in der historischen Perspektive die Wahrnehmung der Veränderung schüren. Detlef Siegfried beschäftigt sich mit dem Prozess und der Historisierung des Individualisierungsparadigmas anhand der Jugend- und gegenkulturellen Bewegungen seit den 1960er Jahren und kommt zu dem Schluss, dass die neue Vielzahl an neuen individuellen Identitäten das Ergebnis der Spannung und der Beimischung von neuer Freiheit, subjektivem Handeln und normativer Beharrlichkeit der traditionellen symbolischen Ordnungen ist. Das gleiche gilt auch für den Prozess der Pluralisierung, welchen Frank Bösch aus der Perspektive der Differenzierung der Organisationspraxis im familiären, kulturellen, politischen, sozialen und religiösen Bereich in den 1970er Jahren in Deutschland untersucht. Die Pluralisierung wird uns in dem Beitrag als Besonderheit nicht nur eines Jahrzehntes, sondern als Bestandteil des ganzen zwanzigsten Jahrhunderts vorgestellt. Das schränkt – zumindest für den deutschen Fall – die vermeintliche Radikalität der Veränderungen und ihren Wert als Zäsur zwischen „Moderne“ und „Postmoderne“ ein. Die Überprüfung der Trias wird von Thomas Großbölting abgeschlossen. In seinem Essay untersucht er den Wertewandel im familiären und religiösen Bereich zwischen den 1950er und 1970er Jahren in Deutschland. Auch in diesem Fall heben die Ergebnisse die Notwendigkeit hervor, eine längere Periodisierung anzuwenden, in der die verschiedenen Geschwindigkeiten der Transformationen in den verschiedenen Referenzgruppen berücksichtigt werden können. Der zweite Teil des Bandes sammelt Beiträge, die den Ansatz der ersten Sektion umkehren. Ausgehend von konkreten Beispielen stellen sich die Autoren und die Autorinnen die Frage über Nutzen und Machbarkeit einer Einordnung von spezifischen Phänomenen des Wandels in den 1970er Jahren in einer der vorgeschlagenen soziologischen Kategorien. So stellt Giovanni Bernardini in den Mittelpunkt seines Aufsatzes die interne Krise der europäischen Sozialdemokratie am Ende der Entwicklungsparabel der Nachkriegszeit, in der das Prinzip der „Stabilität“ zu dem wichtigsten normativen Bezug sowie die „Modernisierung“ zum Schlüsselwort der politischen Handlung wurde. Nicolai Hannig versucht eine Korrelation zwischen der „Unsicherheit“ aus der Krise der Moderne und der Entwicklung neuer Verhaltensmuster zwi-

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schen Versicherung und Risiko ab den 1960er und 1970er Jahren zu zeigen, vor allem in Bezug auf Naturkatastrophen und die neue Beziehung zwischen Mensch und Natur. Der Beitrag von Fiammetta Balestracci konzentriert sich stattdessen auf die Komplexität der Dynamik der Wahrnehmung seitens der politischen Parteien (vor allem die Kommunistische Partei) von den sozialen und kulturellen Veränderungen in Bezug auf die familiären Lebensmodelle im Italien der 1960er und 1970er Jahre. Die Konfliktsituation zwischen dem kulturellen Wandel und den normativen Bezügen der Gesellschaft in den 1970er Jahren stehen im Mittelpunkt des Beitrages von Massimiliano Livi. Dieser beschäftigt sich mit den explosiven Auswirkungen der Einführung von neuen individuellen Lebensstilen in das starre politische System Italiens der 1960er Jahren und von pluralen Lebensstandards, typisch für die Konsumgesellschaft. Eine soziologische Vertiefung dieser Themen, Konsum und Massenkultur der 1960er und 1970er Jahre, wird von Roberta Sassatelli geliefert. Am Beispiel der Fitnesskultur bietet Sassatelli einige wichtige Denkanstöße über das Verhältnis zwischen den neuen körperlichen Subjektivitäten, der Individualisierung des Geschmacks und der Persistenz der Auswahlmechanismen im Zusammenhang mit dem Habitus. Alle diese Elemente werden von Olga Sparschuh auf die empirische Ebene zurückgeführt. In ihrem Aufsatz untersucht sie die Veränderungen im Wertehorizont und im Konsumverhalten von süditalienischen Migranten in den nördlichen Regionen Italiens und in Deutschland zwischen den 1950er und 1970er Jahren. Nach der Auflistung der Gründe und der Inhalte dieses Bandes soll diese kurze Einführung mit einer Reihe von aufrichtigen Danksagungen abgeschlossen werden. In einer bewusst postmodernen zufälligen Reihenfolge geht der erste Dank an die Villa Vigoni und vor allem an Christiane Liermann, die das Treffen aus dem das Buch hervorgegangen ist, ermöglicht haben. Gleichfalls geht ein herzlicher Dank an Daniel Schmidt, Mitorganisator der Tagung, sowie an alle weiteren Teilnehmer, die die Debatte in Como bereichert haben: Marco Maraffi, Nicole Kramer; Barbara Grüning und Jörg Neuheiser. Ein besonderes Dank geht an die beteiligten Institutionen, die dieses zweisprachigen Buchprojekt ermöglicht haben: der Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälische Wilhelms-Universität Münster, die Università degli Studi di Bari und die Fondazione Bruno Kessler in Trient. In diesem Fall geht unser Dank an Friederike Oursin, die durch ihre ständige Mediation zwischen Italien und Deutschland das Buchprojekt betreut hat, und an die Übersetzer Tobias Daniels, Annika Hartmann und Hedwig Rosenmöller. Ebenfalls bedanken wir uns bei Massimiliano Passerini, Matthias Glomb, Malte Bernd, Laura Maring, Svenja Schnepel und Astrid Mohr für ihre wertvolle Unterstützung.

Erster Teil

Interpretationskategorien

Die Postmoderne als historiographischer Begriff Beobachtungen zum Übergang in das Schuldenzeitalter* Von Carlo Spagnolo

I. Zur Einführung Je weiter wir ins 21. Jahrhundert vorrücken, umso stärker wird der Eindruck, dass der liberaldemokratische Staat des 20. Jahrhunderts untergeht, und es wird immer dringender notwendig, die Gründe und die Auswirkungen der „Globalisierung“ historisch einzuordnen. Wenn es überhaupt eine Konvergenz der wissenschaftlichen Untersuchungen zur internationalen Politik gibt, dann besteht sie in der Auffassung, dass der keynesianische Kompromiss zwischen Staat und Markt, der im Schatten der Abkommen von Bretton Woods das „Goldene Zeitalter“ der westlichen liberalen Demokratien von der Verabschiedung des Marshallplanes bis etwa 1971 gekennzeichnet hatte, in den siebziger Jahren an Kraft verlor1. Die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts geraten so ins Zentrum der historischen Forschung als eine Bruchstelle des fragilen Gleichgewichts, das auf staatlicher Ebene als ein Kompromiss zwischen den Vereinigten Staaten und dem westlichen Europa und auf ideologischer Ebene als Übereinkunft zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie in Erscheinung trat. Mit den Nachwehen der ’68er Kritik am Vietnameinsatz, an der Bedrohung durch den Atomkrieg und an den Starrheiten des „Systems“ verflochten sich damals die Bemühungen der Trilateralen Kommission zum Thema der Überlastung der Demokratien und der Notwendigkeit, Konflikte, die das öffentliche Leben zum Explodieren bringen könnten, ins Private zu transferieren. Das Primat von Produktion und Arbeit wurde überlagert durch die Hypothese der Emanzipation des Individuums, durch die Personalisierung des Konsums und die Änderung der Lebensstile. In der Retrospektive erscheinen die siebziger Jahre als eine Experimentierund Konfliktphase zwischen der Hypothese einer kollektiven Emanzipation *

Aus dem Italienischen von Hedwig Rosenmöller. Vgl. R. Gilpin, Politica ed economia delle relazioni internazionali, Bologna 1990; S. Strange, The Retreat of the State: The Diffusion of Power in the World Economy, Cambridge1996; I.T. Berend, Storia economica dell’Europa nel XX secolo, Mailand 2008. 1

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und der radikalen Kritik am liberaldemokratischen Nachkriegskompromiss. Bis zum Ende des Jahrzehnts kam die freie Fluktuation der Währungen ebenso in Gang wie die Finanzialisierung der Wirtschaft, die anfangs vorangetrieben wurde durch die Petrodollars, die Beschleunigung der industriellen Integration zwischen Zentren und Peripherien, den Toyotismus, durch die computergesteuerte Information, die Reduzierung der Entfernungen dank der Lufttransporte und später der Liberalisierung der Telekommunikation, die Neudefinition der supranationalen Governance und durch die Expansion der Massenmedien. Es waren große Neuerungen, die zum Ausgang des 20. Jahrhunderts einen neuen Zyklus der kapitalistischen Expansion kennzeichneten, der die letzten Überbleibsel von Sozialismus und Revolutionsgedanken fortriss. Trotz des Verzichts der Sozialdemokratie auf den Marxismus beim Godesberger Programm 1959 dauert die Idee von einem möglichen Sozialismus durch die Studentenproteste und den Kampf der Arbeiter in Westeuropa bis zum Prager Frühling und darüber hinaus weiter an. Sie wurde aber durch das Scheitern jeglicher Hypothese eines Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“ ihres Sinns entleert und verlor gerade im Lauf der siebziger Jahre, nach der revolutionären Radikalisierung mit ihren terroristischen Ausläufern und lange vor dem Zusammenbruch des Sowjetblocks, an Anziehungskraft. Die historische Forschung wird noch lange durch die Frage in Atem gehalten werden, ob das Schwinden des Konflikts zwischen Liberalismus und Sozialismus gleichbedeutend ist mit dem Auslaufen eines ganzen Zeitalters der Weltgeschichte, das auf das aufklärerische Vertrauen in Wachstum und politische Vernunft gründete, oder ob es vielmehr gleichbedeutend ist mit dem Niedergang eines provisorischen, auf Wohlfahrtsstaat und Vollbeschäftigung basierenden, westeuropäischen Kompromisses, der durch die globale Expansion der Kommunikationen, durch die Dezentralisierung der industriellen Produktion und durch die Augenblicklichkeit des Just-intime unterminiert wird. Auch weil beide Prozesse – der kulturelle und der politisch-ökonomische – sich gegenseitig verstärken könnten ohne deckungsgleich zu sein. Ob sich nicht nur aufgrund neuer Protagonisten, sondern auch wegen des Bruchs mit der westlichen Auffassung der Moderne ein historisches Zeitalter mit völlig neuen Merkmalen abzeichnet, ist ein auf rein theoretischem Gebiet vielleicht unlösbares Problem, weil es Gegenstand der transnationalen Auseinandersetzung um die sogenannte „Globalisierung“ ist. Weitverbreitete Signale einer tiefgreifenden sozialen Verwerfung, die heute auch die jungen Protagonisten des „arabischen Frühlings“ betrifft, weisen auf die politische Polarisierung, die im Zusammenhang mit der Definition der Moderne entsteht, wenn sie auf kulturelle und religiöse Traditionen ausgeweitet wird, die von den westlichen abweichen; und die historische Forschung kann dazu beitragen, ihre Eigenschaften, Wurzeln und Auswirkungen zu skizzieren und sich dabei mit ihrer Periodisierung auseinandersetzen.

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Mit den Eigenschaften der transnationalen postfordistischen Gesellschaft befasste sich eingehend als erster Jean-François Lyotard, dem wir die Verallgemeinerung des Begriffs „post-modern“ als Kurzdefinition einer neuen individualisierten Gesellschaft verdanken, die auf Kommunikation und auf einen neuartigen Wissenskapitalismus ausgerichtet ist. Lyotard erweiterte die Bezeichnung „postmodern“, die zum damaligen Zeitpunkt als künstlerische und architektonische Strömung aufgefasst wurde, die den linearen Bestrebungen der modernistischen Ästhetik kritisch gegenüberstand. Als „postmodern“ bezeichnete er den existenziellen Zustand des Wissens in den entwickelten Gesellschaften, während er auf die Gesellschaft das Adjektiv „postindustriell“ anwandte. Die „condition postmoderne“ ist nach Lyotard geprägt durch das Ende der Utopien und der großen metaphysischen Erzählungen von Aufklärung, Idealismus und Marxismus und durch die Suche nach begrenzten und nicht mehr universalistischen Wissensformen. In den fortgeschrittenen Ländern, in denen das Wissen für Politik und Ökonomie ein Kernelement bildet und in denen sich die intellektuelle Funktion auf neue Akteure ausdehnt, führte allerdings laut Lyotard diese allgemeine Bedingung der Fragmentierung zu einer Kluft zwischen dem sozialen Fortschritt und dem sozialen und technologischen Wandel. Lyotard führte seinen Gedankengang zur Ambivalenz der Sprachcodes zu den äußersten Konsequenzen; er leitete hieraus die Unmöglichkeit her, über eine eindeutige Auffassung von Vernunft Einigkeit zu erzielen und theoretisierte sogar eine unaufhebbare Dichotomie zwischen der individuellen ambivalenten und unbestimmten Rationalität und der kollektiv determinierten Idee vom Fortschritt. Der Fortschritt entferne sich definitiv aus dem kollektiven und politischen Bereich und übertrage der individuellen Verantwortung die Vorstellung von der Zukunft2. Mit dem Niedergang des „totalisierenden“ Denkens entsteht laut Lyotard das Problem, Urteilskriterien zu finden, die nicht mehr universelle, sondern lokale Gültigkeit haben. Die durch ihn eingeleitete Diskussion zur Zäsur zwischen Modern und Postmodern fordert uns heraus, die Transformationen der siebziger Jahre geschichtlich einzuordnen. Sie vermeldet eine Krise der Intellektuellen und insbesondere der Geschichtswissenschaft als zentrales Element der „Krise“. Die Geschichte verlor die dem Fortschritt eigene Prozesshaftigkeit, die Legitimität des Historischen nahm ab, die Vergangenheit wurde zu einem offenen Jagdgrund für das moralische Werturteil. Die Geschichtswissenschaft kann diese Fragen weder umgehen noch als einziges Terrain die lokale Analyse akzeptieren, wenn sie sich nicht in eine epistemologische Eingrenzung zwängen lassen will. Wenn der von Lyotard angezeigte Bruch ein reales Fundament hat, benötigt die Geschichtswissenschaft 2 J.F. Lyotard, La condition postmoderne: rapport sur le savoir, Paris 1979. Lyotard nahm ausführlich Bezug auf D. Bell, The Coming of Post-Industrial Society, New York 1973.

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eigene Urteilskriterien für die Analyse der vorherrschenden Erzählungen der Postmoderne und der zugrunde liegenden Konflikte zwischen der abstrakten Rolle der von den noch bestehenden sozialen Bindungen losgelösten Subjektivität einerseits und den konstituierenden Dynamiken neuer Eliten der globalen Gesellschaft andererseits. Wenn sich eine globalisierte transnationale Gesellschaft herausbildet, die über eigene Kommunikationscodes verfügt, dann werden diachron Untersuchungen erforderlich, um Ausmaß, Grenzen, Hierarchien und Zeiten einschätzen zu können. Die historische Forschung beginnt gerade erst, die Schwelle des Krisenbegriffs zu überwinden, der bislang als Erklärungskategorie verwendet wurde, und sich mit einem „sozialen Wandel von revolutionärer Qualität“ seit den siebziger Jahren zu messen, der als Folge eines „Strukturbruchs“ und der großen Transformationen des Kapitalismus angesehen wird3. Um die Matrix und die Auswirkungen dieses „sozialen Wandels“ präziser bestimmen zu können, muss man sich befreien aus dem Dilemma zwischen einem ökonomistischen Determinismus, der die Erklärung einzig den Makroprozessen der Finanz und der Produktion anvertraut, und einem methodologischen Individualismus, dem sich die Transformationen der Kulturen und kollektiven Identitäten entziehen. Eine Untersuchung zum Übergang von einer nationalen zu einer durch die Kommunikationskreisläufe geschaffenen interdependenten Gesellschaft erfordert Kategorien, die angemessen sind für die Gesellschaft des Wohlstands und der wachsenden Erwartungen, die ihrerseits neue Gruppenkulturen hervorbrachten, in denen sich die gegebenen Zugehörigkeiten auflösten. Die Möglichkeit, ganz eigene Formen des sozialen Lebens zu wählen, gestattet also die Aufgabe der gegebenen kollektiven Identitäten. Der von der fordistischen Gesellschaft geschaffene individuelle Freiheitshorizont erlaubte es, originelle Lebensversuche zu erdenken und teils zu realisieren. Es entstanden Gruppen von Wahlverwandtschaften, die gegenüber menschlichen Horizonten offen waren, die zuvor aus dem Bereich des Politischen ausgeschlossen waren. Rein nationale Vergleichsrahmen reichen nicht aus, um sie zu erforschen. Statt dessen wird man auf die langfristige Bildung transnationaler Subjekte und Kulturen schauen müssen, die zumindest im Kern allen industrialisierten Ländern als Bezugspunkt dienen und deren Profil Bauman skizziert, ohne ihre politischen und kulturellen Bedingungen zu spezifizieren: 3 A. Döring-Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 5, 11; Thomas Großbölting, in diesem Band. Vgl. auch H. Kaelble, The 1970s in Europe. A Period of Disillusionment or Promise? (The 2009 Annual Lecture of the German Historical Institute London), London 2010, S. 18; N. Ferguson, Crisis, What Crisis? The 1970s and the Shock of the Global, in: ders. (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge MA 2010, S. 1-21; L. Baldissara (Hrsg.), Le radici della crisi. L’Italia tra gli anni Sessanta e Settanta, Rom 2001.

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„we are presently moving from the era of pre-allocated ,reference groups‘ into the epoch of ,universal comparison‘, in which the destination of individual selfconstructing labours is endemically and incurably underdetermined, is not given in advance, and tends to undergo numerous and profound changes before such labours reach their only genuine end: that is, the end of the individual’s life“4.

Zu den Hindernissen für eine historische Untersuchung dieses Klimawechsels gehört gerade der von der Soziologie postulierte tiefe Bruch mit der Vergangenheit: „Schließlich gewannen [in den siebziger Jahren] die Sozialwissenschaften, in enger Beziehung und direkter Konkurrenz zur Sozialphilosophie, eine zentrale Rolle als Organ intellektueller Zeitkritik“5. In der Zeit zwischen den siebziger und den neunziger Jahren gehörten – teilweise inspiriert von Addornos Betrachtungen über die Konsumgesellschaft –, Habermas, Dahrendorf, Giddens, Touraine, Foucault und Bourdieu zu den Akteuren einer Diskussion über die Merkmale des sozialen Wandels, dem gegenüber sich die Historiographie als so schlecht gerüstet erwies, dass sie zu einer Revision ihrer begrifflichen Instrumente und zu einer Ausweitung auf die Kulturgeschichte aufgefordert wurde6. Die Theoretiker der Postmoderne skizzieren also die Charakteristiken eines neuen Zeitalters, in dem der Bruch mit der Vergangenheit ein hermeneutisches Dilemma eröffnet, das die geschichtswissenschaftliche Konzeptualisierung marginalisiert: Einerseits würde das „Ende der Geschichte“ im von Fukuyama entwickelten Sinn, also das Schwinden des politischen Konflikts im Rahmen der universal angenommenen liberalen Demokratie, eine teleologische Geschichte durchsetzen, in der dem Zeithistoriker nur noch die Rekonstruktion der übriggebliebenen Konflikte zwischen dem universalen Modell der liberalen Demokratie und den dessen Vollendung verzögernden Überbleibseln der Vergangenheit überlassen bliebe7. Andererseits bestimmt die Abkehr von der staatlichen Politik in den unterschiedlichen Positionen Luhmanns und Foucaults die Idee vom Wandel, da sie eine Auffassung von Macht vertritt als einem Mechanismus, der sich selbst legitimiert, dessen innere Logik von den historischen Konstellationen absieht und auf die Historisierung verzichten kann. Obwohl es sich um eine stellenweise spezifisch philosophische Debatte handelt, enthält das Thema des Postmodernen in sich die Zeichen einer allgemeinen Wahrnehmung tiefgreifender Neuerungen zusammen mit der konzeptionellen Schwierigkeit, diese einzuordnen. Dabei kommt eine Gewissenskrise zum Ausdruck hinsichtlich einiger als gegeben vorausgesetzter Begriffe wie Moderne, Demokratie oder Rechte. In dieser Diskussion werden besorgte Z. Bauman, Liquid Modernity, Cambridge 2000, S. 7. A. Döring-Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom, S. 58. 6 K.-H. Ruffmann / H. Altrichter (Hrsg.), „Modernisierung“ versus „Sozialismus“. Formen und Strategien sozialen Wandels im 20. Jahrhundert, Erlangen 1983. 7 F. Fukuyama, The End of History and the Last Man, London 1992. 4 5

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zeitgenössische Fragen geäußert, und ein völlig neuer Bereich des Denkens tut sich auf. Dieses philosophische Gebiet ist für viele Historiker so ausgedehnt und allgemein, dass es ihnen ratsam scheint, es zu meiden um den Preis, dass sie sich objektiven Erzählungen widmen, die den Wandel allein auf die Kräfteverhältnisse zwischen Staaten oder die Mechanismen einer komplexen Gesellschaft beschränken. Eine Historiographie, die über die Qualität der jüngsten Veränderungen der westlichen Gesellschaft nachdenken will, kann sich aber einer Auseinandersetzung auf diesem vor allem methodologischen und begrifflichen Gebiet nicht entziehen.

II. Die drei Deutungen der „Postmoderne“ Die Debatte zur Postmoderne könnte man als auf eine Neuauflage der alten „Querelle des Anciens et des Modernes“ ansehen, die regelmäßig als Dilemma der Kunst im Umfeld großer historischer Umbrüche wieder auftaucht8. Ihre Anwendung wurde jedoch über die Ästhetik hinaus auch auf das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart angewendet. Bekanntermaßen taucht der Begriff der Postmoderne als ästhetische Stilrichtung und Ausdruck des Unbehagens gegenüber einem präskriptiven Zukunftsbild auf. Dieses Unbehagen grassiert in einigen radikalen und künstlerischen intellektuellen Strömungen, die dem Marxismus und dem Materialismus nach dem Scheitern der Forderungen nach Erneuerung von 1968/69 kritisch gegenüberstanden. Ein Jahrzehnt später steht, gleichzeitig zum Aufkommen des Neoliberalismus von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, ein anderer Bezug zur Geschichte im Mittelpunkt: eine Kritik an der Historisierung, für die die Vergangenheit ein ständiges Feld der Gegenüberstellung und der Provokation für eine durch den Verlust der Zukunft ausgeweitete Gegenwart wird. Die Unterscheidungen zwischen der Rechten und der Linken, zwischen Konservatismus und Fortschrittsdenken oder zwischen Freiheit und Emanzipation korrodieren, und auch politisch wird gegen sie angegangen9. Bis heute hat es noch keine erschöpfende Auseinandersetzung über die Eignung des Begriffs der Postmoderne für den historischen Vergleich und die historische Verallgemeinerung gegeben. Vorherrschend ist ein Auseinanderdriften zwischen Befürwortern und Kritikern, in dem man das Problem, wie die Ursachen des Wandels zu definieren sind, aus den Augen zu verlieren droht. Eine Rolle spielt die Tatsache, dass die Geschichtsschreibung, die global history werden will und daher alle in staatliche Dimensionen eingefassten politischen Ideologien außer Acht lässt und die traditionelle in die nationalen Kulturen eingebettete politische 8 H.U. Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: O. Brunner (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978. 9 A. Döring-Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom, S. 49-51.

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Geschichtsschreibung sich auseinanderentwickeln. Das Dilemma zwischen einem immer weniger national konnotierten Gegenstand und einem durch die staatliche Tradition geprägten begrifflichen Apparat weist auf eine der hermeneutischen Grenzen der europäischen Historiographie. Diese haben jede beruhigende Geschichtsphilosophie verlassen, nicht jedoch den nationalen Horizont, wodurch sie für eine Krise der historischen Erkenntnis empfänglich wurden, in der sich die Kreisläufe der global history von denen der Sozialgeschichte trennen. Aus den Reihen der europäischen Intellektuellen (vor allem aus dem französischen Kulturkreis) erhob sich seit den siebziger Jahren eine äußerst harsche Kritik an der linearen Erzählung der Vergangenheit und an der Vorstellung von Modernisierung als einem eindeutigen Prozess des Aufstiegs der Vernunft, während paradoxerweise aus dem deutschen Sprachraum, vor allem von Habermas, die konsequenteste Verteidigung der Vorstellung von moderner Vernunft stammte10. Mit der radikalen „postmodernen“ Kritik schwindet nicht nur die Idee eines Konvergenzprozesses zwischen den demokratischen und industrialisierten Gesellschaften, sondern auch die Hypothese einer Vereinbarkeit der Ansprüche der westlichen Vernunft mit den Forderungen nach Anerkennung anderer, „orientalistischer“ Kulturen11. Für Historiker besteht die Notwendigkeit einer Kontextualisierung dieser Debatte, die vor allem für einige intellektuelle Kreise der französischen und deutschen Linken kennzeichnend war, die seit den sechziger Jahren den „totalitären“ Ergebnissen der Vernunft der Aufklärung und des Marxismus kritisch gegenüberstand. Endet mit dem Ende der radikalen Revolutionsidee von 1968 auch jede Hypothese von Fortschritt und Moderne? Handelt es sich um den Anspruch einer radikalen Denkweise, die nach dem Verzicht auf den Marxismus seine Kritik am Liberalismus in anderer Form fortsetzt? Oder stehen wir tatsächlich vor einer Krise der westlichen Kultur und ihrer Fähigkeit, Werte zu entwickeln, die den Erfordernissen der Globalisierung ihres ökonomischen Systems gewachsen sind? Diese Fragestellung erfordert eine Diskussion der historiographischen Folgen des Fallenlassens des Fortschrittsgedankens. Den Begriff der Postmoderne und die Möglichkeit seiner historiographischen Anwendung zu erörtern, ist daher ein vorrangiges Anliegen für die Erforschung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Definiert das „Postmoderne“ eine neue historische Phase oder vielmehr die Ausgestaltung J. Habermas, Die Moderne, ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990, Stuttgart 1990. Habermas will durch seine Überlegungen zur „kommunikativen Rationalität“ sowohl eine Theorie der Moderne als auch eine Theorie der Rationalität vorlegen. 11 E. Said, Orientalism, New York 1978. 10

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einer intellektuellen Situation, die gekennzeichnet ist durch die Marginalisierung der traditionellen Intellektuellen und durch die Ausbildung einer Intellektualität neuen Typs? Ist das „Postmoderne“ eine philosophische Kategorie oder ein Modell für sozialen Wandel? In der Diskussion, die quer durch die Geschichtsund Sozialwissenschaften geht und auch diesen Band bestimmt, findet sich die Bedeutungsvielfalt wieder, die dieser Kategorie zugewiesen wurden. Das „Postmoderne“ erweist sich so als vielschichtiger und sogar mehrdeutiger Sammelbegriff, dessen Anwendung in der Debatte zwischen der Geschichtsund Sozialwissenschaften auf mindestens drei Ebenen fluktuierend erfolgt: 1. Ein Substantiv, das einen Idealtypus bezeichnet und den Begriff der Moderne neu definiert; 2. Ein soziologisches Modell vom sozialen Wandel (Beck spricht von einer „Zweiten Moderne“), das eine neue historische Phase beschreibt; 3. Ein konnotatives Adjektiv – condition postmoderne – das auf ein intellektuelles Unbehagen hinweist, in dem eine Kluft zwischen Wörtern und Dingen festzustellen ist, in dem also der Abstand zwischen dem verfügbaren begrifflichen Apparat und den feststellbare sozialen Phänomenen größer wird. In der letzteren Dimension signalisiert der Begriff: die Wahrnehmung einer Krise, in der sich die traditionellen Intellektuellen befinden; die Errichtung eines subjektiven, auf dem Körper und den Wahrnehmungen beruhenden Beobachtungspunktes; einen kulturellen Eklektizismus, der veranlasst wird von einer „fast unbegrenzten Verfügbarkeit historischen Materials jeglicher Art“; die Spannung zwischen nationaler Identität und neuen transnationalen Kommunikationsformen, und das Aufkommen einer transnationalen intellektuellen Schicht, die neue technische Wissensformen in das Zentrum der Massenkommunikationsprozesse hineinnimmt12. Wenn man die Literatur Revue passieren lässt, natürlich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit und in den Grenzen einer raschen Erkundung der unterschiedlichen Bedeutungen des Schlagworts, merkt man, dass die idealtypische Auffassung auf der philosophischen Ebene viel genutzt, auf der historischen aber vernachlässigt wird. Anders gesagt neigen die beiden Herangehensweisen dazu, sich gegenseitig zu ignorieren. Die postmoderne philosophische Diskussion schwankt zwischen dem idealtypischen Substantiv und dem konnotativen Adjektiv, zwischen der Kritik an der Metaphysik und dem Beklagen einer existenziellen Lage ohne Zukunft. Die idealtypische Auffassung zielt darauf ab, den normativen Charakter der Vernunft neu zu definieren, nicht die Merkmale einer neuen Gesellschaft zu erfassen. Foucault, Lyotard und Derrida sind nach einigen Kommentatoren eher Post-Strukturalisten als Post-Moderne in dem Maße, in dem sie sich auf das Moderne als philosophische „Diskurs“ beziehen, der an Descartes anknüpfend 12 Für die dritte Auffassung vgl. S. Lash, The Sociology of Postmodernism, London 1990.

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ein abstraktes individuelles Subjekt konstituiert. Ihre Kritik an der Moderne betrifft den Zusammenhang zwischen Wissen und Macht, wobei sie versuchen, die scheinbar neutralen Herrschaftsmechanismen die den linguistischen Prozessen innewohnen, zu enthüllen13. Diese Art von „postmoderner“ Kritik wendet sich mehr gegen die Idee von Theorie und Metaphysik als gegen die Idee einer „Moderne“, wobei sie sowohl die Vollständigkeitsansprüche des Idealismus ablehnt wie auch die allumfassenden „Metaerzählungen“. Sie regt also Forschungsansätze für eine am normativen Charakter der Sprachcodes interessierte Geschichtswissenschaft an, aber sie definiert keine „postmoderne“ Epoche14. Unter Berufung auf Eisenstadt lehnt Jedlowski jeden philosophischen Reduktionismus ab und schlägt eine pluralistische Interpretation der Moderne vor. Sein Beitrag ist klärend in seiner Hervorhebung des offenen und zutiefst widersprüchlichen Charakters der durch die Moderne eingeleiteten Prozesse und in seiner Aufforderung, den Blickwinkel der Kritiker zu erweitern15. Auf die Ebene der Geschichtswissenschaften übertragen macht er den Vorschlag, die Moderne als einen stets widersprüchlichen und konfliktgeladenen Prozess zu betrachten und auf die Illusion stabiler und linearer Phasen erga omnes festgelegter Werte zu verzichten. Betont werden sollte, dass die philosophische Diskussion den unterschiedlichen Gebrauchswert des Wortes „modern“ übersieht, ein Problem, dass durch den Vergleich zwischen dem deutschen und dem italienischen Gebrauch deutlich wird. Während die soziologische Reflexion zur Postmoderne überraschend unaufmerksam ist gegenüber einer Auseinandersetzung mit dem historischen Begriff des „Modernen“, verzichtet die historische Reflexion auf das Thema der persuasiven Kommunikation und der sozialen Definition der Rationalität16. Die Übersetzung von „modern“ und „postmodern“ stellt eine unausgesprochene Schwierigkeit in der internationalen Diskussion dar, wie auch aus diesem Band hervorgeht. Für die deutsche Geschichtswissenschaft ist „die Moderne“ eine einleitende Phase der Zeitgeschichte, jene von Koselleck untersuchte „Sattelzeit“ auf der Schwelle zwischen Aufklärung und

P. Engelmann, Einführung: Postmoderne und Dekonstruktion. Zwei Stichwörter zur zeitgenössischen Philosophie, in: ders. (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 5-32. 14 W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 2000. Welsch führt eine heftige Kritik gegen den postmodernen Eklektizismus, den er nicht als eine historische Phase definieren kann. Welsch unterscheidet zwischen der „Postmoderne“ als historischer Bedingung der Pluralität der Wertehorizonte und dem „Postmodernismus“ als antimetaphysischer Auffassung. 15 P. Jedlowski, Dalla modernità alle modernità multiple, in: C. Corradi / D. Pacelli (Hrsg.), Modernità multiple: quale molteplicità?, Soveria Mannelli 2011, S. 95-108. 16 St. Best / D. Kellner, Postmodern Theory. Critical Interrogations, London 1991, S. IX-X. 13

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Restauration, in der die Prozesse der Modernisierung und Formung der zeitgenössischen liberalen und kapitalistischen Gesellschaft angeschoben werden. Dagegen bezeichnet in der italienischen Tradition das „moderne Zeitalter“ einen offenen und viel früheren Prozess, der mit dem Humanismus und der Renaissance beginnt und gekennzeichnet wird durch die Autonomisierung von Politik und Gesellschaft gegenüber der Religion. Das „moderne Zeitalter“ ist im italienischen Verständnis geprägt von derjenigen Öffnung für das Neue, die Weber als „Entzauberung“ des modernen Menschen bezeichnete, der anthropologisch von der durch die Religion angebotenen Welterklärung abgespalten ist17. Das moderne Zeitalter des italienischen Sprachgebrauchs wird im Deutschen für gewöhnlich als „frühe Neuzeit“ bezeichnet, womit die neue Zeit von der Moderne auch etymologisch getrennt wird. Analoge Schwierigkeiten ergeben sich auch in der englischen Sprache durch die Verwendung von „modernity“ und „modernism“ in Gegenüberstellung zu „post-modern“18. Eines der entscheidenden Probleme einer vergleichenden Verallgemeinerung der in die siebziger bis achtziger Jahre einzuordnenden soziokulturellen Zäsur der Postmoderne ist also linguistischer und begrifflicher Natur. Das Problem besteht in der unterschiedlichen Bedeutung der beiden Wortpaare „moderno/postmoderno“ auf Italienisch und „Moderne/Postmoderne“ auf Deutsch. Während das „post-moderno“ im italienischen Gebrauch als ein potentieller Bruch mit der Moderne angesehen wird, versteht man in der vorherrschenden deutschen (und soziologischen) Auffassung die Postmoderne als latente Zäsur mit der Modernisierung und den sie begleitenden Prozessen. Die italienische Diskussion ist also idealtypisch und historisierend, häufig epochal. Die deutsche Diskussion dagegen ist modellistisch und reicht näher heran; sie bezieht sich auf die Modernisierung als soziologische Kategorie, die ein kulturelles Umfeld voraussetzt, das den Wandel hervorbringt. Hier liegt ein Motiv für die Gegenüberstellung der beiden Ansätze. Eine wichtige Anregung für die Erstellung eines gegenüber den Erfordernissen des historischen Vergleichs zwischen Moderne und Modernisierung P. Prodi, Storia moderna o genesi della modernità?, Bologna 2012, sowie ders., Cristianesimo e potere, Bologna 2012; C. Dipper, Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur, 37 (2012), S. 37-62; ders., Moderne, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25. August 2010, http://docupedia.de/zg/Moderne?oldid=84639. 18 R.J. Bernstein, The New Constellation. The Ethical-Political Horizons of Modernity/Postmodernity, Cambridge 1991, die it. Übers. La nuova costellazione. Gli orizzonti etico-politici del moderno/postmoderno, Mailand 1994, enthält eine interessante Anmerkung des Übers. auf S. 7; P.E. Geyh, Postmodernism, in: New Dictionary of the History of Ideas, hrsg. von M.C. Horowitz, Detroit / New York 2005, Bd. 5, S. 1867-1870. 17

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aufmerksameren begrifflichen Instrumentariums kommt von Bauman, der die normativen Bestrebungen der Kategorie der Postmoderne beiseiteschob, mit denen er sich bis zu den neunziger Jahren beschäftig hatte, und in seinem Buch aus dem Jahr 2000 eine konfliktträchtigere und offene Definition der Moderne vorschlug, die trotz der Ungenauigkeit der chronologischen Einordnung den Weg für eine erste partielle Historisierung bereiten könnte. Bauman sieht in der Moderne einen konflikthaften Prozess zwischen dem Bedürfnis nach sozialer Stabilität und den Forderungen nach Wandel. Dieser Prozess findet seinen Ausdruck im nie vollends abgeschlossenen zyklischen Vorherrschen von festen oder flüssigen Zuständen. Es gibt also Phasen, in denen sich vorangegangene Tendenzen konsolidieren und institutionalisieren, und es gibt dynamische Phasen, in denen die Institutionen schwanken und die begrifflichen und politischen Bezugspunkte schwinden. Das gegenwärtig Neue, dessen Ursprung Bauman nicht präzisiert, läge demnach im Andauern des flüssigen Zustands, in seiner aggressiven Ausbreitung und in der Aussicht auf sein langes Fortdauern. Bauman ist wahrscheinlich Tönnies verpflichtet, der schon 1922 festgestellt hatte, dass es in der öffentlichen Meinung einen „flüssigen Aggregatzustand“ gebe, dem er einen vorangegangen „festen Aggregatzustand“ gegenüberstellte. Wie Bauman, spricht er sowohl von flüssigen als auch von flüchtigen Zuständen19. Der grundlegende Beitrag von Tönnies zur öffentlichen Meinung als zeitgenössischer laizistischer Religion sollte anerkannt werden für eine Hermeneutik, die das „Ende der Geschichte“ in einer längeren Geschichte der Moderne ansiedelt. Es ist nämlich nicht das erste Mal, dass das Ende der Geschichte heraufbeschworen wird, und selbst die Idee einer Krise der Moderne ist keineswegs neu, sondern war schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein lebendiges Thema20. Die „flüssige Moderne“ erkennt eher im ausgehenden 20. Jahrhundert eine Beschleunigung der Transformation der Macht, die sich entmaterialisiert, delokalisiert und individualisiert21. Diese Transformation der Macht und ihrer Kommunikationskreisläufe marginalisiert die politische Funktion des Staats, dessen Komponenten sie polarisiert. Sie eröffnet neue Konflikte im Inneren des Staats und klammert die Geschichte der Staatsbürgerschaft aus, indem sie die nationale Gesellschaft von der globalisierten Gesellschaft abtrennt. Wo liegen aber Ursprung und Ursache dieser Transformation?

19 F. Tönnies, Zur Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922 (jetzt in: Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Bd. 14, hrsg. von A. Deichsel, R. Fechner, R. Waßner, Berlin / New York 2002). 20 Vgl. den Aufsatz von Paolo Pombeni in diesem Band. 21 Z. Bauman, Liquid Modernity, Cambridge 2000, S. 10-12.

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III. Die siebziger Jahre als Kernfrage für die historische Forschung – Vom Goldenen Zeitalter zum Schuldenzeitalter Zu den Kernfragen, die für eine historische Einordnung der siebziger Jahre geklärt werden müssen, gehören der unterschiedliche Grad der „Verflüssigung“ der politischen und kulturellen Strukturen der liberalen Demokratien und die spezifischen Zeiten des Osmoseprozesses, der daraus folgte und vorbereitend war für eine sich als „globalisiert“ wahrnehmende Gesellschaft. Die Frage ist, ob, wie Raphael meint22, eine obwohl nicht lineare Verbindung zwischen den Entwicklungen des Kapitalismus und der Bildung einer pluralen und individualisierten Gesellschaft besteht, oder ob man, wie Bauman suggeriert, vor widersprüchlichen Prozessen steht, die einerseits aus der Verteidigung der sozialen Ordnung herrühren, andererseits aber darauf ausgerichtet sind, diese Ordnung radikal zu verändern. Gibt es einen linearen Übergang zwischen dem Nachlassen der Klassenzugehörigkeiten, der Begeisterung für individuelle Möglichkeiten und dem Aufstieg des urbanisierten und von permanenten Informationsflüssen angeschobenen Finanzkapitalismus, mit dem sich Manuel Castells befasste? Oder entstehen bereits innerhalb der Demokratie und der Wohlstandsgesellschaft die Voraussetzungen für ein kritisches Verhältnis zu Konsum und Produktion, so dass ein allgemeines Überdenken der individuellen Rollen in Arbeit, Familie und Politik eingeleitet wird und der „Fortschrittsglaube“ in seinen Grundfesten erschüttert wird? Die Krise der Erwartungen ist nicht nur mit dem Inflationszyklus und mit dem industriellen Wandel der siebziger Jahre verknüpft. Trotz der kapitalistischen Wiederbelebung der Globalisierung in den achtziger und neunziger Jahren wird das Vertrauen in den Fortschritt nicht zurückgewonnen. Auch in den philosophischen Beiträgen spielt der Begriff der Postmoderne weniger auf das Ende der Moderne an, als vielmehr auf den Rückzug von den großteils auf der Moderne beruhenden Ideen vom Fortschritt und von der westlichen Vorrangstellung. Anstatt Konvergenzprozesse in Richtung eines durch gemeinsame rationale Prozesse geeinten globalen Szenarios zu postulieren, könnte es bedeutsam sein, von der Hypothese eines doppelten radikalen Wandels auszugehen: Dieser Wandel wurde einerseits durch die Erfolge des Fordismus und der liberalen Demokratie ermöglicht, die völlig neue Szenarien eröffneten für die Entfaltung der Subjektivitäten, für die Befreiung der Arbeit und die Befreiung von den unmittelbaren Bedürfnissen sowie für die Umgestaltung der Beziehung Mensch-Natur. Andererseits nährt sich dieser Wandel von seinen inneren Widersprüchen wegen der gestiegenen Kosten der Führungsrolle der Vereinigten Staaten und wegen der Unmöglichkeit, die durch dieses

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Vgl. Lutz Raphael in diesem Band.

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Modell einer quantitativen Entwicklung geweckten wachsenden Erwartungen jenseits der Grenzen der westlichen Welt zu verallgemeinern. Ich möchte die Hypothese wagen, dass die Idee vom Fortschritt in den siebziger Jahren ausbrannte, aufgezehrt durch die Alternative zwischen einerseits einer Revolution, die zwar auf politischer Ebene illusorisch, jedoch auf der Ebene der Gewohnheiten und der Kritik an den Machthabern effektiv war, und andererseits der konkreten Schwierigkeit der westlichen Staaten, sich den Auswirkungen des Endes des Goldenen Zeitalters zu stellen. Eine Phase der Unsicherheit begann durch die weitere Expansion der sozialen Rechte und der gemischten Wirtschaftsordnung, der die Ethik des Kapitalismus hätte zerstören können, und auf der anderen Seite durch den Aufschwung des Marktes als Hebel, um aus der Stagflation herauszukommen. Ausschlaggebend ist, dass sich im Lauf der siebziger Jahre jegliche sozialistische und kollektivistische Hypothese erschöpfte, die doch ein Vehikel für sozialen Konflikt und soziale Innovation gewesen war. Die Idee des kollektiven Fortschritts wurde ersetzt durch die Idee der Befreiung der Subjektivitäten. Welche Vermittlungen finden die sich transformierenden kollektiven Zugehörigkeiten auf staatlicher Ebene? Die Bandbreite der persönlichen Chancen ändert sich in Relation zur Integrationsfähigkeit eines jeden politischen Systems und in Relation zu seiner Fähigkeit, sich für technologische Innovation zu öffnen. Dauerhaft die Währungswerte von der Realwirtschaft und den Konsum von der Inlandsproduktion abzukoppeln, bedeutet, die Öffnung des Weltmarkts als kollektive, unpersönliche Instanz anzukurbeln, innerhalb derer die individuelle Autonomie zu realisieren ist. Das Schuldenzeitalter als Wachstumsstrategie wird eingeläutet. Nach dieser Hypothese beginnt mit den siebziger Jahren eine Phase der Spannung innerhalb der westlichen Gesellschaft, die zwischen der Gesellschaft der Produzenten und der der Verbraucher oszilliert. In dieser Phase ändert sich die Rolle des Nationalstaats – und seiner Parteien – der aufgerufen ist, funktional zu vermitteln zwischen den gefestigten nationalen Kreisläufen des verarbeitenden Gewerbes und den risikoreicheren und einträglicheren Kreisläufen der Finanz, der technologischen Innovation und der Globalisierung. Obwohl die Auflösung der Klassenzugehörigkeit durch den Arbeitsmarkt geschieht, geht ihr eine Vorstellungswelt der Befreiung von den Bedürfnissen und völlig neue Chancen zur individuellen Selbstverwirklichung voraus und begleiten sie, wobei die zentrale Rolle der Ästhetik (Jameson) sichtbar wird und wobei sich auch die Auffassung vom Staat selbst wandelt. Fredric Jameson präsentierte der Geschichtswissenschaft einen anregenden Interpretationsschlüssel. Ihm scheint es „wichtig, Postmoderne nicht als Stilrichtung, sondern als kulturelle Dominante zu begreifen“, die die Subkulturen der Klasse vereint. Charakteristisch für die Postmoderne sei „die Aufhebung des Konflikts zwischen Hochkultur und der sogenannten Massen- oder kommerzieller Kultur“. Die neuen ästhetischen Modelle, die in der Lage sind, die Klassenkulturen zu homogenisieren, tauchen gemeinsam mit

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der Idee auf, dass die neuen sozialen Formierungen von der postindustriellen Gesellschaft zur Konsum-, Medien-, Hightech- oder Informationsgesellschaft und dergleichen „nicht mehr den Gesetzen des klassischen Kapitalismus, das heißt dem Primat der industriellen Produktion und der Allgegenwart des Klassenkampfes gehorche[n]“23. Jameson stellt eine Veränderung von größter Bedeutung im Bereich der gesellschaftlichen Werte fest, die zu erklären hilft, warum das Fortdauern von Einkommens- und Chancenunterschieden nicht mehr zu Klassenidentität führt. Die Kluft zwischen Klassenzugehörigkeiten und politischen Ausrichtungen findet hier ein Erklärungselement, das auch die wachsende zentrale Rolle der Medien unterstreicht als Orte, an denen die Vorstellungswelt erschaffen wird. Mir scheint es allerdings unzureichend, diesen Wandel, wie Jameson vorschlägt, dem amerikanischen Imperialismus zuzuschreiben und dabei die Rolle zu vernachlässigen, die die sozialen Konflikte und die interne Kritik – auch in Europa – gegenüber den Zwangsmodellen gesellschaftlicher Ordnung spielten, die die beiden Weltkriege und der Faschismus hervorgebracht hatten. Für die in den westlichen Ländern seit 1968 entstehenden Kritikerkreise gilt, dass jede Konsumhandlung und jede ästhetische Haltung eine Stellungnahme zur sozialen Macht impliziert. Man sollte die Spannung wahrnehmen zwischen dem Vorschlag radikal alternativer Grundsätze für Gesellschaft und Lebensstile, und der Fähigkeit der politischen Systeme, diese zu absorbieren. Ist es möglich, dass die Wirtschaft die Politik antizipiert hat, indem sie seit den siebziger Jahren aufzeigte, dass man die Forderungen der Jugend nach radikalem Wandel absorbieren und umgestalten kann? Wenn die Vorbedingung für die neue Gesellschaft eine Massenästhetik ist, die Jameson „ästhetischen Populismus“ nennt, dann werden die Maßstäbe für Stil und Konsum zu Übermittlern komplexer Bedeutungen; sie übersetzen kollektive Zugehörigkeiten und bezeichnen den Akzeptanzgrad der kommerziellen Modelle. Die postmoderne Ästhetik verspricht die Überwindung der Konflikte, indem sie Elemente der Oppositionskulturen aufnimmt und in den Produktionsprozess integriert. Sie regt ein neues Verhältnis zur Vergangenheit an, die zu einem Arsenal von Elementen wird, die gegen jede starre Zugehörigkeit ironisch zitiert werden können24. Der globale Kapitalismus führt den Weg zu einer Kanonisierung der Avantgarden weiter, die schon wiederholt im 19. und 20. Jahrhundert versucht wurde; und er kann sich durchsetzen, indem er die ästhetischen Maßstäbe pluralisiert und sich gegenüber den transgressiven Zügen der Oppositionsbewegungen

23 F. Jameson, Il Postmoderno, o la logica culturale del tardo capitalismo, Mailand 1989, S. 10-11; ders., Postmoderne. Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: A. Huyssen / K.R. Scherpe (Hrsg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, 5. Aufl., Reinbek 1997, S. 46-48. 24 A. Reininger, Storia della letteratura tedesca fra l’Illuminismo e il Postmoderno 1700-2000, 3. Aufl., Turin 2005, S. 730 ff.

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als wohlgefällig erweist. In der Toleranz gegenüber den Herausforderungen der Kulturen des Körpers, in der Absorbierung des Jugendprotests, in der Öffnung für die Anliegen der Volkskultur müsste demnach ein Schlüssel zur Überwindung der Konflikte der siebziger Jahre und damit auch zum Verlust der Fortschrittsidee liegen. Während es einen Konsens gibt in Hinsicht auf den Zusammenhang zwischen der Krise der Fortschrittsidee und der Kritik am „ausplündernden“ Staat, ist die Beurteilung der Beziehungen zwischen dem Anbruch der „Globalisierung“ und den Wandlungsprozessen der kontinentaleuropäischen Gesellschaften weniger konsolidiert25. Es gibt kein mechanisches Verhältnis zwischen den beiden, und einige strukturelle Faktoren wie der Geburtenrückgang, die Überalterung, die Veränderungen der Geschlechterrollen, die Expansion der multinationalen Konzerne oder die Auszehrung der Souveränität können nicht zurückgeführt werden auf die Krise des Fordismus, sondern auf seine Blüte und auf die Wohltaten der Demokratie wie das Gesundheitssystem, die soziale Sicherheit und den allgemeinen Wohlstand. Die Neuerungen, die in den sechziger Jahren auf dem Höhepunkt der Industriegesellschaften aufkamen (Geburtenkontrolle, Beginn der sexuellen Revolution, allgemeine Wohlfahrt usw.) scheinen die Voraussetzung zu sein für die Entstehung einer sozialen Kultur des Massenkonsums und des Wohlstands, die die Transformation des Fordismus begünstigte26. Es reicht nicht aus, den Verfall Europas als Bruch mit der Moderne zu identifizieren, der nach einigen Autoren auf des Abgleiten Europas vom Zentrum in die Peripherie der kapitalistischen Welt zurückzuführen ist und der mit einer territorialen Staatstradition verbunden ist, die die Globalisierungsprozesse nicht mehr zu beherrschen imstande ist27. Der Niedergang ist in der Tat im Fortschrittsbegriff enthalten, und sein zyklisches Auftreten reicht, laut Koselleck, nicht aus, um die umfassendere Dimension der Moderne abzustreiten: Man könnte sogar sagen, dass eine Phase des Rückschritts den Begriff des Fortschritts bestätigt28. Wenn man von einer Krise des Fortschritts reden muss, dann vielmehr aufgrund tieferer und molekularer Veränderungen in der westlichen Kultur infolge des Zweiten Weltkriegs und der Dekolonisation, als das Bewusstsein für die Auswirkungen des totalen Kriegs und der Verbrechen gegen die Menschheit 25 J.K. Galbraith, The „Predator“ State, New York 2008; B. Amoroso, Globalization and Regionalization, in: J. Beaumont / A. Canavero (Hrsg.), Globalization, Regionalization and the History of International Relations, Mailand 2005. 26 A. Schildt / A. Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau: die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998. 27 W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt in Europa, München 1999; ders, Geschichte des modernen Staates. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2007. 28 R. Koselleck, ,Fortschritt‘ und ,Niedergang‘. Nachtrag zur Geschichte zweier Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichten, Frankfurt a.M. 2006, S. 159-182.

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heranreifte, als die Grenzen des unbeschränkten Wachstums für Gesellschaft und Umwelt spürbar wurden und die Ideale des Sozialismus scheiterten. Die Säulen des anthropologischen Optimismus, auf die sich die Logik des Kalten Kriegs gestützt hatte, werden von innen heraus geschwächt. Man müsste also anhand der einzelnen Nationen erforschen, ob und wie dieser Prozess der Umwandlung der politischen Zugehörigkeit in eine ästhetische und sprachliche Zugehörigkeit stattfindet. In Italien und Deutschland wird die schon durch den Faschismus und durch den katastrophalen Ausgang des Krieges in Krise geratene exklusive Loyalität gegenüber dem Nationalstaat umgeformt und auf das westliche Bündnis ausgeweitet, als der kalte Krieg es erforderlich macht, die eigene Zugehörigkeit auf der Grundlage eines eher ideologischen als territorialen Ansatzes zu wählen. Auflösungserscheinungen der traditionellen Familie und Generationenkonflikte werden vermutlich verschärft durch die Konkurrenzlogik zwischen den beiden Blöcken. Diese Logik ist ideologisch, betrifft aber auch Lebens- und Stabilitätsmodelle, also Modelle für die Befreiung von der Armut. Die Kritik am Kapitalismus und an der Ausbeutung, der Protest gegen die Hierarchien und die politische Gewalt tragen dazu bei, das Vertrauen der jungen Generationen auf einen kollektiven Wandel und auf politische und gewerkschaftliche Strukturen auszuhöhlen. Auf der Suche nach einer besseren Zukunft bringen sie pragmatische Antworten auf Gruppenebene und/oder auf der Ebene der Individuen hervor. Die seit den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch die Wohlstandsgesellschaft und den Massenkonsum ausgelösten Dynamiken des Wandels sind inhomogen. Und man kann für die siebziger Jahre nicht nur von negativen und Zerfalls-Erscheinungen sprechen, wenn man bedenkt, dass ein Wachstum von Einkommen, Lebensstandard und Konsum auch nach dem Boom der fünfziger und sechziger Jahre stattfand. Die jungen Demokratien Westeuropas durchliefen noch bis zum Ende der siebziger Jahre die aufsteigende Phase des Sozialstaats, die Erweiterung des Bereichs der staatlichen Intervention und das Aufkommen von Jugendprotest und Demokratisierungsforderungen. Was für eine Verknüpfung gibt es zwischen so uneindeutigen und sogar widersprüchlichen Phänomenen wie der „Krise“ des Fordismus, der Auflehnung der Jugend, der politischen Gewalt, der Herausbildung neuer kollektiver Zugehörigkeiten und dem Entstehen völlig neuer politischer Formen, die sich immer weniger mit den Massenparteien identifizierten? Die in Deutschland und in Italien von den laufenden historischen Forschungen bereitgestellten Untersuchungen und ersten Interpretationen zum sozialen Wandel erstmals versuchsweise zu vergleichen, war der Hauptgrund, der uns veranlasst hat, eine interdisziplinäre Diskussion in Gang zu setzen, die alle Merkmale eines Feldexperiments aufweist. Wenn unsere Diskussion einen Beitrag leisten kann, dann liegt dieser vor allem in der Klärung der unterschiedlichen Implikationen dieser

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Debatte, die spürbar leidet unter vielgestaltigen Kulturtraditionen und unter nationalen Eigenwegen. Die Suche nach einer geschichtswissenschaftlichen Erklärung für die Aporien des sozialen Wandels ist entscheidend für eine Definition der Perspektiven der Zeitgeschichte.

IV. Die „zweite Moderne“ in historischer Perspektive: Modell oder Idealtyp? Um unser Thema enger zu fassen, kann man versuchen, einzuschätzen, wie die Interpretationsvorschläge der Soziologie in Italien und Deutschland von den Historikern, die sich mit dem Ende des 20. Jahrhunderts befasst haben, verwendet wurden. Die jüngsten Studien zur Geschichte der Bundesrepublik und zum republikanischen Italien gründen sich mehrheitlich auf die Annahme einer kulturellen Autonomie der Nationalgesellschaft als Motor des historischen Wandels. Die Aufgabe der Forschung liegt also darin, die die Veränderung vorantreibenden Akteure und die ihren Lauf verändernden oder behindernden Faktoren zu ermitteln. Während das soziologische Modell der Postmoderne radikal neue, durch die Konsumgesellschaft, durch die Individualisierung und durch die Herausbildung neuer Bedürfnisse und Zugehörigkeiten geprägte, autogene Transformationsprozesse erkennt, können Historiker hingegen Verläufe entdecken, die phasenverschoben zueinander stehen und auf das Gesamtgeschehen der Moderne zurückgehen. Ein erstes Problem ergibt sich aus der Frage nach dem Ursprung: außerhalb oder innerhalb der Gesellschaft? Dieses Problem verdeutlicht sich im zeitlichen Abstand, mit dem in unterschiedlichen Ländern Phänomene wie „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ auftauchten, deren Beginn in Deutschland in die siebziger Jahre datiert wird, in Italien dagegen erst an den Anfang des folgenden Jahrzehnts. In Deutschland hat die Erarbeitung einer Transformationstheorie in einer Gesellschaft, in der die Modernisierung als bereits abgeschlossen gilt, eine Debatte zum selbstreflexiven und autopoietischen Charakter des Wandels angestoßen, in dem die „klassische Moderne“ in die „Hochmoderne“ übergeht29. Wenn man definiert, dass alles Neue postmodern ist und die Postmoderne das ist, was die als postmodern bezeichneten Phänomene eint, so droht das Risiko der Tautologie. Der historische Vergleich kann es ermöglichen, diese Gefahren zu vermeiden und auf den konkreten Wirkungsbereich der sozialen Akteure und auf das Umfeld ihrer Entscheidungen zu blicken. 29 U. Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History, 5 (2007), S. 5-20; L. Raphael, Ordnungsmuster der „Hochmoderne“? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in U. Schneider / L. Raphael (Hrsg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a.M. 2008, S. 73-91.

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Der historische Vergleich fordert dazu auf, sich konkret mit den von der Soziologie vorgeschlagenen linearen Deutungen des Wandels zu befassen, die dazu tendieren, die nicht mit dem Postulat einer eindeutigen sozialen Genese übereinstimmenden Faktoren des Wandels zu streichen. Der Vergleich mit Italien ermöglicht es, die neuen und bedeutenden Ergebnisse der deutschen Sozialgeschichtsschreibung, die für diese neue Phase der Moderne einen auf dem Dreiklang „Individualisierung, radikale Pluralisierung und Entnormativierung“ beruhenden Interpretationsansatz verwendet hat, einer ersten partiellen Überprüfung zu unterziehen30. Der Dreiklang verweist auf molekulare Prozesse von unten im Gegensatz zur Modernisierung bei Talcott Parsons, die durch eine Normativität von oben gekennzeichnet war. Es handelt sich jedoch nicht um rein subjektive Umwandlungen, sondern um strukturelle Veränderungen, die das Individuum übersteigen: Individualisierung ist nicht gleichbedeutend mit Individualismus, sondern sie ist ein sozialer Prozess, der von den Akteuren des Wandels geschaffen wird, vor allem von den Staaten, wenn sie neue Rechte des Subjekts anerkennen (Sozialrechte, Familienrechte, Zivilrechte, politische Rechte, Individualisierung des Arbeitsrechts). Dem Individuum wird dabei die Handhabung dieser Rechte übertragen, und die kollektiven Strukturen der „ersten Moderne“ (Wohlfahrtsstaat, Familie, Klasse und Gewerkschaften) werden geschwächt. In dem Modell, das seine vollständigste theoretische Ausformulierung in den (nicht miteinander übereinstimmenden) Beiträgen von Luhmann, Giddens und Beck findet, bezeichnet die „zweite Moderne“ nicht nur eine Krise, sondern einen alles in allem positiven historischen Transformationsprozess der ausgereiften westlichen Gesellschaften, der auf die Modernisierung folgt und viele ihrer Inhalte umstürzt. Beck hat sehr zum Verständnis der Individualisierungsprozesse dieser „zweiten Moderne“ beigetragen, als er die Unterschiede hervorhob, die aus dem Verlust des kollektiven Telos, das die individuellen Wege bislang begleitet hatte, erwachsen. Beck sieht in der zweiten Moderne die Abkehr von der Klassenzugehörigkeit, die Gleichwertigkeit der individuellen Optionen und den Verlust des nationalen Kontexts, in dem Entscheidungen Bedeutung erhielten. Dem Individuum werden neue Verantwortungen übertragen, insofern seine soziale Verortung nicht mehr durch die Geburt, sondern durch seine Entscheidungen determiniert wird31.

A. Rödder, Bundesrepublik Deutschland 1969-1990, München 2004, S. 30. U. Beck, Jenseits von Stand und Klasse. Auf dem Weg in die individualisierte Arbeitnehmergesellschaft, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 5, 1984, S. 485-497; ders., Libertà o capitalismo? Varcare la soglia della modernità. Conversazione con Johannes Wilms, Rom 2001; U. Beck / E. Grande, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der zweiten Moderne, Frankfurt a.M. 2004; A. Giddens, Consequences of Modernity, Cambridge 1990. 30 31

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Auf die historische Analyse übertragen bietet das soziologische Modell viele Anregungen für eine vergleichende Begriffsbildung, es wirft faszinierende Fragen und Kontextualisierungsforderungen auf. Ein besonders sensibler Aspekt liegt in dem Anliegen, eine flexible und modulierbare Theorie vom sozialen Wandel zu bieten und gleichzeitig die Überprüfung dieser Theorie allein der nationalen Ebene zu überlassen. Inwiefern dieses theoretische Ziel aufrecht erhalten werden kann, hängt vom Maß an Autonomie ab, das der Nationalgesellschaft übertragen wird, und zwar gleichzeitig, da von dem Entstehen einer von der Politik losgelösten transnationalen Gesellschaft die Rede ist. Daher rührt die Schwierigkeit, Ursachen und Wirkungen zu entflechten: Beschreibt das Modell einen Differenzierungsprozess oder definiert es auch dessen Ursachen? Wollte man Ursachen und Wirkungen gleichsetzen, so würde man eine Geschichte des sozialen Wandels ohne Subjektivität und ohne menschliche Motivationen betreiben32. Die Ursachen können außerdem in Prozessen außerhalb des Modells liegen, weil Soziologen die politisch-kulturellen Dimensionen langfristiger kollektiver Phänomene, die die Werte sozial neu festlegen, berechtigterweise vernachlässigen dürfen. In der Luhmannschen Perspektive eines autopoietischen Übergangs zur zweiten Moderne wird der beschleunigte Wandel von 1945-1971 entwertet durch die Betonung der Rigidität der herrschenden traditionellen Werte. Offen bleibt der Zweifel, ob die Schwächung dieser Werte mit dem Erfolg der Modernisierung beginnt, im Laufe des von Hobsbawm so bezeichneten Goldenen Zeitalters des „Jahrhunderts der Extreme“. Durch die Isolierung der funktional getrennten Bereiche Recht, Wirtschaft und Ästhetik wird der soziale Wandel der siebziger Jahre von der Politik abgesondert. Somit kann man einiges relativieren: die Erosion der exklusiven Loyalität gegenüber dem Staat in den ehemals faschistischen Ländern; die Entstehung neuer, wenn auch zerbrechlicher Zugehörigkeiten und übernationaler Kreisläufe, die an die durch die Medien verbreitete Kulturmodelle gebunden sind; die Entwicklung in Richtung eines nicht mehr souveränen Rechts; die veränderten Formen der Aufarbeitung der Vergangenheit; die demographischen Veränderungen und die veränderten Geschlechterrollen oder ganz einfach die Auswirkungen der Ölkrise der siebziger Jahre auf die Krise der Idee vom ununterbrochenen Wachstum. Das Modell tendiert darüber hinaus dazu, die Rolle des kalten Kriegs für den Wandel der traditionellen Familie zu ignorieren, eine Rolle, die zwar ideologisch, aber auch konkret ist und mit dem Versprechen der Befreiung aus der Armut die Lebensmodelle beeinflusst. Eröffnete die Errichtung eines großzügigen Sozialversicherungssystems in den fünfziger und sechziger Jahren nicht neue

32 Vgl. den Überblick von A. Schildt, Modernisierung, Version: 1.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 11. Febraur 2010, http://docupedia.de/zg/Modernisierung.

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Horizonte individueller Möglichkeiten für die nachfolgenden Generationen? Wie sehr ist das Jahr 1968 ein Kind des Wohlstands, und wie sehr fordert es die Erfüllung der Versprechen der Modernisierung ein? Vor allem Bourdieu verdanken wir eine Problematisierung dieses Ansatzes. Individualisierung ist kein Produkt der Postmoderne, sie kann in ihren vielfältigen ethischen und sozialen Dimensionen auf die Ursprünge der Moderne zurückgeführt werden. Die für sie typische Ambivalenz zeigt sich ständig, etwa zwischen der Zunahme der Möglichkeiten und der Beschränkung der Bedingungen, unter denen sie realisiert werden können, oder im Konsumverhalten, das kein Alleinstellungsmerkmal der „reflexiven“ Moderne ist, sondern ein seit den Anfängen des Individuumsbegriffs in Erscheinung tretendes Charakteristikum. Konsum ist ein kontroverses und symbolisches Verhalten, dessen Funktion von der allein individuellen Dimension abhebt und Bezugsgruppen kennzeichnet33. Sogar Beck hat als Antwort auf seine Kritiker den Beobachtungsbereich erweitert und auf der Widersprüchlichkeit der Prozesse der zweiten Moderne bestanden. In einen begrifflichen Apparat, der das Thema des Konflikts zu marginalisieren schien, führte Beck es erneut ein. Dabei wies er darauf hin, dass Individualisierungsprozesse gleichzeitig Prozesse der Ausweitung von Ungleichheiten sind, und zwar nicht nur in nationalem, sondern auch in transnationalem Maßstab: „individualization theory is the investigation of the paradigm shift in social inequality“34. Die Ungleichheit, meint Beck, bleibt und weitet sich aus, bringt aber keine Klassensolidarität mehr hervor. Die Einbeziehung der Konflikte in die Prozesse der Individualisierung und „Entnormativierung“ erfordert eine Anpassung der Untersuchungsmaßstäbe, die dem neuen „großen Wandel“ gerecht werden. Wir haben es also nicht mehr mit den nach Marx durch Arbeit definierten sozialen Subjekten zu tun, sondern mit westeuropäischen Sozialkonstellationen, die mit dem Zugang zu Konsum und Einkommen verbunden sind und die von den durch die Schaffung des europäischen Binnenmarkts in den siebziger und achtziger Jahren entstandenen Möglichkeiten geprägt sind. Wenn man bejaht, dass im Kern der durch die siebziger Jahre eröffneten historischen Phase eine Dyskrasie besteht zwischen der Herausbildung einer Gesellschaft, die in ihren Werten transnational ist, und dem Überdauern von staatlicher Politik, sollte man in Zukunft die Verbreitung neuer transnationaler Instanzen und Verhaltensnormen untersuchen, die weniger zwingend sind als die durch die Nationalstaaten auferlegten, aber genauso einflussreich. Wenn die Prozesse des sozialen Wandels transnational sind, verwandelt sich die Politik in einen Streit um die Ethik und um die Führung der sich formenden sozialen Akteure.

Vgl. den Aufsatz von Roberta Sassatelli in diesem Band. U. Beck, Beyond Class and Nation: Reframing Social Inequalities in a Globalizing World, in: The British Journal of Sociology, 58 (2007), 4, S. 679-705. 33 34

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In der historischen Forschung zur Bundesrepublik Deutschland verdeutlicht sich das gewachsene Interesse an Prozessen der Individualisierung und des Wertewandels in kulturgeschichtlichen Untersuchungen, die aus dem Wandel der siebziger und achtziger Jahre eine insgesamt positive Bilanz ziehen: „In der Geschichte der Bundesrepublik vollzog sich – mit enormen kulturellen Auswirkungen – eine tiefgreifende Transformation von einer klassischen modernen Industriegesellschaft mit traditionalen Zügen zu einer ‚postindustriellen‘ Gesellschaft mit weiterer Ausdifferenzierung von Sozialmilieus und einer neuen Qualität der Individualisierung; in diesem Prozess fielen die zuvor strikt gezogenen Grenzen von niederer ‚Massenkultur‘ und hoher geistiger Kultur. Damit einhergehend wandelte sich die Kultur einer klassischen repräsentativen zur partizipativen Demokratie der ‚Konsumbürger‘ mit sehr wechselhafter Bereitschaft zum Engagement“35. Die Historiker, die sich in diesem Band mit dem Fall Deutschland befassen, stellen sich in ihren Analysen den Transformationen der Familie, der Rolle der Religion und der Individualisierung der Kultur. Sie erkunden die Ambivalenzen der soziologischen Kategorien wie der Individualisierung oder der funktionalen Differenzierung und sind der Ansicht, dass es Spannungen und unterschiedliche Geschwindigkeiten der Prozesse gibt, mit kumulativen Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Gegenwart und des historischen Wandels36. Die Entnormativierung bedeutet nicht nur eine Deregulierung oder Reduktion der traditionellen Werte, sondern auch das Aufkommen neuer Formen von Gemeinschaft und Regulierung innerhalb der Sozialprozesse. Daher sind zum Beispiel die neuen Normen Bestandteil von allgemein üblichen Verfahren wie den Regelungen für transnationale Transaktionen in Wirtschaft oder Informatik. Die kollektive Entnormativierung geht einher mit einer individuellen Neunormierung, mit der Erarbeitung moralischer Codes, die zwar die Möglichkeiten pluralisieren, für den konkreten Zugang zu diesen Möglichkeiten aber wiederum auf die Unterschiede in Status und Chancen verweisen. Sie suggeriert auch ein emanzipatorisches Potenzial in der Qualität der Arbeit sowie den Verlust der früheren kollektiven Schutzmechanismen und eine ausgeprägtere Einsamkeit in der existenziellen Verfasstheit ganzer Bevölkerungsschichten. Die neue Erfahrung von Flexibilität und Prekarität kollidiert mit den im Rahmen einer höheren Lebensqualität entstandenen Erwartungen bezüglich der Emanzipation von den primären Bedürfnissen. Ist der Postulat einer positiven Verbindung zwischen sozialen Dynamiken und Demokratisierungsprozessen, auf die sich die sozialdemokratische Hypothese eines „dritten Weges“ von Anthony Giddens gründete, empirisch überprüfbar?

A. Schildt / D. Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 17. 36 A. Döring-Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom, S. 84-87. 35

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Der Vergleich mit dem Fall Italien ermöglicht es, zu sondieren, ob diese Kategorien übereinstimmende und für die Postmoderne charakteristische transnationale Sozialprozesse bezeichnen und folglich die Zweckmäßigkeit einer Theorie des Wandels bestätigen, oder ob dieses soziologische Modell ein spezifisches Gleichgewicht verallgemeinert, das in der Bundesrepublik entstand. Wenn diese Phänomene der sozialen Transformation (sexuelle Revolution, Familie, wachsende Erwartungen, Bezug zur Arbeit, Mitgliedschaft in organisierten Formen, Konsumismus, usw.) sich als asynchron erweisen sollten und als nicht übereinstimmend in zwei nah beieinander liegenden Ländern mit einer gemeinsamen und eng verflochtenen Geschichte wie Italien und Deutschland, dann könnten sie auf einen historischen Prozess hinweisen, der widersprüchlicher ist als das von den Soziologen hypothetisierte Modell vom Wandel. Einer rein nationalen Herangehensweise entgeht, wie sehr die relative Position eines Staates im internationalen System die aus der Beschleunigung des Wandels folgenden Ungleichheiten und Konflikte beeinflusst. Mit anderen Worten könnte das lange Jahrzehnt des akuten Konflikts von 1968 bis 1978, das den Eintritt Italiens in den globalen Finanzkapitalismus vorbereitete, automatische Zusammenhänge zwischen drängenden Problemstellungen wie Entnormativierung, Pluralisierung und Individualisierung und den aus ihnen folgenden Prozessen ausschließen. Italien kann als Nagelprobe dienen, um vergleichend die Verflechtung zu erkennen, die zwischen der noch unvollendeten Modernisierung und dem Beginn der zweiten pluralistischen Moderne der Subjektivität und des Konsums entsteht. Wenn man den Fall Italien als Beispiel für das offene Problem der Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden Europas ansieht, zeigt er das Vorhandensein zweier miteinander verknüpfter Prozesse: Die Einlösung der Versprechen der durch die Demokratie und die industrielle Expansion ermöglichten sozialen Integration und des Ideenpluralismus erfolgt in Italien, während in Deutschland und anderswo begonnen wird, die Idee einer postmodernen Gesellschaft zu entwickeln, die sich auf die Verknüpfung von Wissen und Technologie sowie auf die individuelle Autonomie stützt. In dieser Perspektive wird also eine geschichtswissenschaftliche Prüfung der Konflikte und Spannungen zwischen dem „Alten“ und dem „Neuen“ in längeren Zeitrahmen erforderlich, in deren Licht die zweite Moderne wohl sehr viel enger als für die Zeitgenossen erkennbar, mit der fordistischen Moderne verknüpft sein könnte. Ein Vergleich erfordert, wenn nicht eine Theorie des Wandels, so doch zumindest idealtypische Bezugsgrößen. Die „zweite Moderne“ kann also expliziert und neu formuliert werden als ein Idealtyp, der für die Zwecke der historischen Forschung dehnbar und veränderbar ist, während der Anspruch, eine historische Theorie der Postmoderne zu bieten, fragwürdig scheint. Vielmehr können die Prozesse der Individualisierung, Entnormativierung und Pluralisierung als geschichtswissenschaftliche Idealtypen verwendet werden, die mit je unterschiedlichen

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Periodisierungen und Entwicklungsabfolgen für den Gesamtverlauf der Moderne gelten. Wenn man den linearen Ablauf der „Post-Modernisierung“ in Frage stellt, ändert sich damit auch die Periodisierung, und der Ursprung des Umschwungs ist nicht mehr ausschließlich den siebziger Jahren zuzuordnen. Der Umschwung wird eher zu einer gleitenden Schwelle, die für die drei Prozesse je unterschiedliche Startpunkte aufweist. Axel Schildt schlug vor, einen tiefen Bruch in die sechziger Jahre zurückzudatieren, als sich eine neue Konsumgesellschaft und eine politische Stabilisierung entwickelten, die zu einer Ausweitung der Demokratie führten37. Die italienische Geschichtsschreibung hat die siebziger Jahre bislang vor allem als Jahre des Konflikts und des Umbruchs des politischen Systems untersucht, in dessen Zentrum Aufstieg und Scheitern der linken Bewegungen, die Eingrenzung und Marginalisierung der Arbeiterklasse, Gewalt und Terrorismus standen, während das Bewusstsein einer Veränderung und einer Revolution von Mentalität und Sitten, durch die das Individuum ins Zentrum der Wahrnehmung rückt, vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, in die achtziger Jahre datiert wird38. Der Vergleich mit den Errungenschaften der Forschung zur Bundesrepublik legt es nahe, auch außerhalb der politischen Kultur nach den spezifisch italienischen Gründen für die Konflikte des Jahrzehnts zu suchen und dabei auch die Beziehung zwischen Konsum und Sozialkulturen in den Blick zu nehmen, die die Klassenidee schwächten und veränderten. Franco De Felice sah in seiner komplexen Zusammenfassung des Geschehens im republikanischen Italien, die sich um die politische Geschichte und um die Schwächung des Nationalstaats drehte, in den sieb37 A. Schildt, Kulturelle Umbrüche nach 1945, Beitrag zur Tagung „La transizione come problema storiografico. Le fasi critiche dello sviluppo della ‚modernità‘ 1494-1973“, Fondazione Bruno Kessler, Trient, 11.-14. Sept. 2012, die italienische Fassung der Akten P. Pombeni / H.G. Haupt (Hrsg.), La transizione come problema storiografico. Le fasi critiche dello sviluppo della modernità (1494-1973) ist im Druck. 38 L’Italia repubblicana nella crisi degli anni Settanta: atti del ciclo di convegni, Roma novembre e dicembre 2001, 4 Bde., Soveria Mannelli 2003; G. Moro, Anni Settanta, Turin 2007; P. Ginsborg, Storia d’Italia dal dopoguerra ad oggi, Turin 1989; ders., L’Italia del tempo presente. Famiglia, società civile, Stato 1980-1996, Turin 1998; G. Crainz, Il Paese mancato. Dal miracolo economico agli anni ottanta, Rom 2003; ders., Autobiografia di una repubblica. Le radici dell’Italia attuale, Rom 2009; S. Colarizi u.a. (Hrsg.), Gli anni Ottanta come storia, Soveria Mannelli 2004; M. Gervasoni, Storia d’Italia degli anni ottanta. Quando eravamo moderni, Venedig 2010; S. Neri Serneri (Hrsg.), Verso la lotta armata. La politica della violenza nella sinistra radicale degli anni Settanta, Bologna 2012. Ein Vergleich zwischen den beiden Historiographien zu den Konflikten des Jahrzehnts mit umfangreicher Bibliographie in: C. Cornelißen / B. Mantelli / P. Terhoeven (Hrsg.), Il decennio rosso. Contestazione sociale e conflitto politico in Germania e in Italia negli anni Sessanta e Settanta (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 85), Bologna 2012, vor allem im Aufsatz von P. Terhoeven.

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ziger Jahren eine „Ausbreitung der ‚Desillusionierung‘ und gegenüber jeder Form von Veränderung eine Ablehnung und einen Skeptizismus“, deren Wurzeln in der Schwierigkeit der Massenparteien liege, dem „akquisitiven“ Konsummodell die Stirn zu bieten, das sich im vorangegangenen Jahrzehnt durchgesetzt hatte39. Mit der Qualität der Beziehung zwischen der italienischen Gesellschaft, der Modernisierung und dem Konsum befassten sich in Bezug auf die Jugendkulturen und die Emanzipation der Frauen bereits einige Untersuchungen, die den Beginn authentischer Subkulturen auf den Übergang von den fünfziger zu den sechziger Jahren zurückdatierten. Ein so weites Feld muss aber noch weiterhin untersucht werden40. Umgekehrt scheint der Fall Italien den präskriptiven Forderungen des Modells zu widersprechen, da die Geschichtsforschung zum republikanischen Italien hinsichtlich der Tiefe der Transformationen in den siebziger und achtziger Jahren einer Meinung ist, aber deutlich auseinandergeht in der Beurteilung des Übergangs zur „Postmoderne“. Diese Schwelle in die achtziger Jahre zu verschieben, impliziert auch einen latenten Konflikt zwischen den geweckten Erwartungen und den konkreten Möglichkeiten, Begleiterscheinungen oder Fehlschläge und innere Differenzen sowie eine eigene politische Dimension im Prozess der Abkehr von der alten kollektiven Zugehörigkeit. Beispielhaft möchte ich drei Themen benennen. Das erste betrifft das Wesen des historischen Prozesses. Gervasoni spricht von einer kulturellen Revolution im eigentlichen Sinne, die er einigen politischen Kräften zuschreibt, die in der Lage sind, der gesamten italienischen Gesellschaft ihre Parolen aufzuzwingen. Herausgekommen sei ein neues Wertesystem aus Unpolitizität, Hedonismus und Leaderismus, aber auch Patriotismus, Lokalismus und Movimentismus, wodurch die alten politischen Ideologien marginalisiert worden seien. Für Gervasoni sind die achtziger Jahre der Moment des vollen Ankommens in der „Moderne“, die Fortführung der unvollendete Transformation des Wirtschaftsbooms und der volle Eintritt Italiens in den Kreis der am weitesten entwickelten westlichen Länder41. Dagegen entwickeln Crainz und Ginsborg 39 F. De Felice, L’Italia repubblicana. Nazione e sviluppo. Nazione e crisi, Turin 2003, S. 163. 40 E. Capussotti, Gioventù perduta: gli anni Cinquanta dei giovani e del cinema italiano, Florenz 2004; P. Capuzzo (Hrsg.), Genere, generazione e consumi. L’Italia degli anni Sessanta, Rom 2003. Auf die Mentalität und die Transformationen der kommunistischen Basis beziehen sich die Untersuchungen von S. Gundle, I comunisti italiani tra Hollywood e Mosca: la sfida della cultura di massa, 1943-1991, Florenz 1995; A. Bellassai, La morale comunista. Pubblico e privato nella rappresentazione del Pci (1947-1956), Rom 2000. 41 Vgl. die Rezension von Francesco Bartolini in: Officina della storia, Juli 2011, http://www.officinadellastoria.info/index.php?option=com_content&view=article&i d=219:recensione-marco-gervasoni-storia-ditalia-degli-anni-ottanta-quando-eravamomoderni&catid=22:storia-dellitalia-repubblicana&Itemid=32.

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zu diesem Punkt eine fast entgegengesetzte Einschätzung, indem sie den Startpunkt der Krise der Großindustrie und des Verrats an den kollektiven Reformen, kurz den Beginn des moralischen und politischen Niedergangs Italiens in den siebziger Jahre ansiedeln. Beide stimmen überein mit der soziologischen Analyse Pacis bezüglich des Scheiterns der Erwartungen an den postmodernen Individualismus, die soziale Mobilität zu erleichtern, da in der neuen sozialen Schichtung „Strategien der sozialen Abschottung“ und eine sehr starke soziale Ausgrenzung beibehalten werden, die in veränderter Form weiterhin bestehen und gravierender werden42. Das zweite Thema betrifft die Auffassung von Konsum und Individualisierungsprozessen. Ginsborg teilt mit Gervasoni die Idee, dass in den achtziger Jahren mit der Veränderung der Rolle der Frau in Familie und Beruf dem Aufstieg neuer Schichten von Mittelstand und Unternehmertum ein tiefer Wandel der sozialen Rollen, stattfand. Die beiden trennt jedoch ihre unterschiedliche Einschätzung der Merkmale der Individualisierung: Was dem einen als ein Prozess der Massenbefreiung erscheint, der zuvor marginalisierten Schichten und Landesteilen eine größere Autonomie ermöglichen werde, ist für den anderen die Voraussetzung für eine auf den Familismus gegründete allgemeine Korruption und für die Verbreitung hedonistischer Lebensmodelle und parasitärer Auffassungen von Rendite. Das dritte Thema betrifft die „anthropologische Mutation“ des Landes. In der diesbezüglichen Individualisierung und „Entnormativierung“ sieht Gervasoni eine Entwicklung der Modernisierung, Crainz hingegen fasst diese als Anzeichen für eine „verfehlte Nation“ auf. Auch die unzweifelhafte Rolle des Fernsehens in diesem Prozess scheint keineswegs eindeutig, da sich die symbolische Dimension der vorgestellten Modelle von der passiven Akkulturation lösen kann, so dass die Pluralisierung der Lebensstile begleitet und überlagert wird vom Rückzug ins privat Häusliche und sogar von der Rückkehr selbst vormoderner feudaler Modelle43. Diese Untersuchungen zum republikanischen Italien der siebziger und achtziger Jahre unterstreichen, wenn auch in unterschiedlichem Maße, eine Trennung zwischen den sozialen M. Paci, I mutamenti della stratificazione sociale, in: F. Barbagallo u.a. (Hrsg.), Storia dell’Italia repubblicana, Bd. 3/1, Turin 1996, S. 699-776. Paci beschreibt die „Auflösung der sozialen Klassen“ in Italien in den siebziger bis achtziger Jahren. Dabei betont er die Schwierigkeiten der soziologischen Klassenanalyse, die entstehenden „Unterklassen“ und neuen „Statusgruppen“ zu beschreiben. 43 E. Galli della Loggia / A. Schiavone, Pensare l’Italia, Turin 2011, zeigen die Unzulänglichkeit der in der italienischen Debatte zur Verfügung stehenden Kategorien. Dort, wo Galli della Loggia sich mit den Problemen einer neuen Moderne auseinandersetzt, schreibt er den Ursprung einer „anthropologischen Struktur mit einer starken urban-familiären Matrix und einem pathologischen individualistischen Hintergrund, die es nie geschafft hat, in modernem Sinn national-individuell zu werden“ einem ziemlich weit zurückreichenden und symbolischen metahistorischen institutionellen Faktor zu, nämlich der Abwesenheit einer absoluten Monarchie nationaler Ausprägung. 42

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und den politischen Kreisläufen, wonach die Modernisierung als sozial gilt, während die Politik in alten Mustern verankert bleibt und zu einem funktionalen Mechanismus wird, dem die Unvollständigkeit der „zweiten Moderne“ oder ihre späteren Fehlschläge angelastet werden. Dadurch wird die Unzulänglichkeit einer auf die Dichotomie Staat-Nationalgesellschaft gestützten Analyse hervorgehoben. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Thematisierung der Ungleichheiten, die der Beziehung zwischen der Globalisierung und den Veränderungen des zeitgenössischen Staats innewohnen und mit denen die Geschichtswissenschaft sich weiterhin wird befassen müssen. Charles S. Maier lenkte die Aufmerksamkeit auf die Polarisierung, die infolge der Verlagerung der traditionellen Industrie in den Süden der Welt stattfindet, während sich im Norden eine neue, auf Elektronik und Dienstleistungen fußende Wirtschaft durchsetzt. In dieser neuen Ökonomie wird die strategische Rolle nicht mehr von der großen, auf die Serienproduktion basierenden Fabrik gespielt, sondern von flexiblen Systemen, die ein hochwertigeres Spektrum personalisierter Produkte herstellen, wobei die Bedeutung der Datenflüsse wächst: An die Stelle der Kontrolle über das Territorium tritt die Kontrolle über das Netz. Als Folge dieser Transformation verlieren Bevölkerungen und Eliten in unterschiedlichem Maß und zu unterschiedlichen Zeiten die Gewissheit eines homogenen territorialen Raums, der die Kontrolle des öffentlichen Lebens ermöglicht; und der „Identitätsraum“ löst sich vom „Entscheidungsraum“44. In den siebziger Jahren beginnt demnach ein Prozess der Loslösung der Kreisläufe der nationalen Politik von den sozialen Zugehörigkeiten: Das Dreiermodell von Individualisierung, Pluralisierung und Entnormativierung als die Elemente, die den sozialen Wandel beschreiben, müsste demnach erweitert werden, um die neuartigen sozialen Konflikte erfassen zu können und zwar ausgehend von den unterschiedlichen Möglichkeiten des Zugangs zu und des Austauschs zwischen den Kreisläufen der Identitäten und denen der Entscheidung. Um Beck wiederaufzugreifen: „the transnationalization of social inequalities bursts the framework of institutional responses – nation state (parties), trade unions, welfare state systems and the national sociologies of social classes“45. In ihrer Analyse könnten sich die Historiker von der von Beck und Habermas angeregten kosmopolitischen Perspektive lösen und stattdessen den Schwerpunkt auf die Erforschung zusammenhängender Mehrstaatenkonstellationen legen, die sich durch starke institutionelle Ch.S. Maier, Secolo corto o epoca lunga? L’unità storica dell’età industriale e le trasformazioni della territorialità, sowie L. Paggi, Un secolo spezzato. La politica e le guerre, beide in: Parolechiave, 1996, 12, jetzt in: C. Pavone (Hrsg.), ’900. I tempi della storia, Rom 1997, S. 45-78 und 108-144. 45 U. Beck, Beyond Class and Nation, S. 680. 44

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Beziehungen und intensive Kommunikationsverbindungen auszeichnen, so dass sich transnationale Gesellschaftsformen abzeichnen, die innerhalb nichtstaatlicher institutioneller Rahmen wie den Europäischen Gemeinschaften über Mechanismen des Informationsaustauschs und über Elemente politischer Organisierung verfügen. Die hier gesammelten Untersuchungen zeigen, dass die italienischen und deutschen Antworten so extrem voneinander abweichen, dass sie im Fall Italiens bereits die ersten Zeichen einer langfristigen politischen Krise schildern. Während in Deutschland die Grundlagen gelegt werden, um auch auf institutioneller Ebene einigen – aus den Veränderungen der Familie und aus der Pluralität der Lebensstile – herrührenden Erfordernissen nachzukommen, erweisen sich in Italien die kulturellen Antworten auf das lange Jahrzehnt der Mobilisierung 1968-1977 als unzureichend. Gerade in den siebziger Jahren werden in Deutschland die Grundlagen gelegt für eine „zweite Moderne“, während die Integration Italiens in die fordistische Modernisierung noch nicht abgeschlossen war. Erst zu diesem Zeitpunkt vervollständigen sich in Italien die Anerkennung der Rechte der Arbeitnehmer und das nationale Gesundheitswesen, die Gleichstellung der Geschlechter wird durchgesetzt durch das Referendum zur Scheidung, durch die Reform des Familienrechts und durch die Selbstbestimmung der Frau beim Schwangerschaftsabbruch46. Die Auflösung der bäuerlichen Gesellschaft vollendet sich hier und verknüpft sich mit einer sehr tiefen kulturellen Umwandlung, die Pasolini als „anthropologisch“ bezeichnete. Im Laufe weniger Jahre geht Italien von einer agrarischen zu einer postindustriellen Kultur über, wobei die Gewissheiten des katholischen Bezugsrahmens preisgegeben werden47. Die Niederlage des konservativen Blocks, der das Referendum zur Scheidung initiiert hatte, ist das zentrale Element, das viele Bürger, vor allem junge Leute und Frauen, bewegt, die Parteien der Linken und die liberaldemokratischen Kräfte als Garanten für die Ausbreitung des Konsummodells und für die Integration in die europäische Gesellschaft zu betrachten48. So bietet der Vergleich zwischen der Bundesrepublik und der italienischen Republik einen privilegierten Beobachtungsposten für zwei parallele und teilweise widerstreitende Prozesse: einerseits die Suche nach Anerkennung innerhalb des untergehenden Bezugsrahmens der fordistischen Moderne und andererseits der Versuch, die Grundlagen für die Überwindung eben dieser fordistischen Moderne zu legen. Vgl. die Darstellung von G. Scirè, Il divorzio in Italia. Partiti, Chiesa, società civile dalla legge al referendum (1965-1974), Mailand 2007. Ähnliche Reformen des Ehe- und Familienrechts, wie die Aufhebung des „einseitigen Vorrangs des Mannes“ (G. Jahn), die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs, fanden auch in Deutschland 1974-76 statt, waren aber abgekoppelt von den Arbeiterrechten. 47 Vgl. den Aufsatz von Massimiliano Livi in diesem Band. 48 F. De Felice, L’Italia repubblicana, S. 172-174. 46

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Während vor allem die deutsche Kulturgeschichte dazu neigt, auf diskursiven Merkmalen und sozialen Tropen zu beharren und eine innovative Wahrnehmungsgeschichte anregt, empfiehlt die politische Geschichtswissenschaft, über die symbolische Dimension hinauszublicken, jedoch hält sie sich in der Analyse mit politischen Strukturen auf, die gerade im Begriff waren, die Verbindung zur Zukunft zu verlieren. Daraus ergibt sich der Bedarf, das Feld zu erweitern und auch transnationale Strukturen in den Blick zu nehmen, die nur scheinbar technisch und unpolitisch sind. Außerdem ergibt sich die Notwendigkeit, auf internationaler Ebene die Beziehung zwischen dem „Individualismus“ und den neuen sozialen Normen zu erfassen, die sich als internationale „Standards“ durchsetzen, bevor sie Gesetze werden. Die Anpassung an diese internationalen Standards stellt eine nicht notwendigerweise an die demokratischen Prozesse angeglichene Form der Neunormierung der Informationsgesellschaft dar. Es ist nämlich möglich, dass die Demokratie die kollektiven Kulturen tiefgreifend geprägt hat und dass diese Prägung zur Entstehung von Erwartungshaltungen hinsichtlich einer Angleichung an anderswo verbreitete Standards beiträgt, während sie im Gegenzug zuweilen einen „Bürger“ hervorbringt, den Vorbehalte umtreiben gegen die enträumlichten pluralen Zugehörigkeiten, die die kollektiven Solidaritäten durchbrechen und die Wiederherstellung der öffentlichen Sphäre, auf die sich sowohl Habermas als auch Bauman beziehen, sehr erschweren. Mit dem Anbruch eines interkontinentalen „großen Wandels“ (im Sinne Polanyis) reißt in neuen Formen die Spaltung zwischen Gesellschaft und Politik wieder auf, die die beiden vorangegangenen industriellen Revolutionen durchzogen hat. Der von der kritischen Theorie proklamierte historische Bruch ist einerseits vielversprechend, weil er auf den Wandel hinweist, aber auch übereilt, wenn er den Tod der Moderne verkündet. Das Bewusstsein um den Wertewandel und die tendenzielle Überwindung der Gesellschaft der Produzenten bedeuten nicht die Auslöschung der Industriegesellschaft und jeglicher kollektiver Zugehörigkeit. Nicht das Ende, sondern eine neue Phase der Moderne ergibt sich aus dem allgemeinen Zerfall der Arbeitsethik und der kollektiven Organe der staatlichen Ethik. Das Problem des Übergangs von der Gesellschaft der Produzenten zur Gesellschaft der Konsumenten besteht darin, ob es neue anerkannte Organe gibt, die kollektive Ethik hervorbringen. Gleichzeitig entstehen katastrophale Entwicklungen sowie Prozesse mit positiver Dynamik (Lebensqualität, Umweltbewusstsein, Suche nach schlüssigen Lebensstilen). Ob in diesem Übergang die Moderne neu definiert wird oder ob sich nicht vielmehr die Gestalt der Modernisierung ändert, ist eine noch zu lösende Aufgabe, die nur sporadisch von den Kritikern der Moderne angesprochen wird. Im Grunde signalisieren die soziologischen Modelle eine Transformation der Modernisierung und somit eher eine Postmodernisierung als eine Postmoderne. Eine eigentliche Theorie der Beziehung zwischen

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Moderne und Modernisierung steht in dieser Diskussion bisher noch aus. Die Erforschung der siebziger Jahre eröffnet letztlich den Weg zur Historisierung der theoretischen Postulate der Postmoderne. Dieser vielschichtige und daher zu zerlegende Begriff steht für die Wahrnehmung eines Niedergangs der intellektuellen Funktion in den traditionellen Ganglien des Wissens, für die Integration der Ästhetik in die Kommunikation und in die Produktion, für die Spreizung zwischen Nationalstaat und transnationaler Gesellschaft sowie für das daraus folgende Zerwürfnis zwischen der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Funktion der Geschichtswissenschaft. Kurz gesagt werden in den siebziger Jahren die Anzeichen einer neuen sozialen Organisierung sichtbar, für die wir noch keine befriedigende Definition haben. Wie können wir dieses Novum historisch konzeptualisieren? Das Adjektiv „postmodern“ scheint anwendbar auf die intellektuelle Wahrnehmung des Verlusts der Universalität des Wissens, auf die Marginalisierung der humanistischen Kultur bedingt durch die Kreisläufe der digitalen Kommunikation und Technologie. Dieses Adjektiv wäre jedoch irreführend, wollte man es als ein normatives Substantiv verwenden und versuchen, es auf die Gesamtmenge der sozialen Prozesse auszuweiten. Der von den Soziologen vorgeschlagene Dreierbegriff der zweiten Moderne bezeichnet dagegen idealtypische Langzeitprozesse, die keine neue historische Phase isolieren: Sowohl die Individualisierung als auch die Entnormativierung und die Pluralisierung bilden Aspekte der longue durée der Moderne die keineswegs ausschließlich vom ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert stammen, Wende man sie in der Retrospektive an, entstände die Möglichkeit, die traditionelle Periodisierung der europäischen Geschichte zu überdenken. Sie sind auch in der fordistischen Modernisierung präsent, deren Expansion den Zerfall der ethischen Instanzen des Nationalstaats begünstigte. Welcher Zusammenhang besteht zwischen den durch den soziologischen Dreierbegriff benannten Prozessen und dem Beginn des postindustriellen Finanzkapitalismus? Die Besonderheit der durch die siebziger Jahre eröffneten Phase liegt, wie mir scheint, in der Tendenz der Prozesse der Individualisierung, Pluralisierung und Entnormativierung, sich in der westlichen Gesellschaft, und teilweise auch außerhalb dieser, trotz der Krise zu verallgemeinern, sowie dabei die normativen Grundlagen des Nationalstaats teilweise zu untergraben und gleichzeitig die neuen Ungleichheiten und die Polarisierungsprozesse zwischen Metropolen und Peripherien zu erzeugen, mit denen Castells sich befasst hat. Die Trennung des sozialen Wandels von der Idee des Fortschritts stellt möglicherweise das Schlüsselelement der siebziger Jahre dar, das auf eine dramatischere Moderne deutet, in der die Macht sich ausbreitet und verflüssigt und dabei die von Foucault bezeichnete Biopolitik hervorbringt. Es ist jedoch nicht leicht, eine rationale und absolute Macht zu ermitteln, auf die man die Kreisläufe der gegenwärtigen Biopolitik zurückführen könnte. Diese entziehen sich den

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früheren Kategorien des Historismus, und das Fehlen einer Geschichte der Transformation der westlichen Gesellschaft macht den Wandel intransparent. Die Konflikte und die Veränderungen des Kapitalismus der siebziger Jahre sollten mit einem begrifflichen Instrumentarium analysiert werden, das den durch die „great Transformation“ von Polanyi aufgeworfenen Fragen gerecht wird. Warum beginnt dieser Prozess? Die Historiker könnten eine Antwort im Bruch der Solidarität eines sich herausbildenden transnationalen sozialen Akteurs suchen, des entstehenden „amerikanisierten“ westlichen Bürgertums, das während des kalten Krieges durch die Konsum- und Produktionsgesellschaft geformt wurde, die sich in Westeuropa rund um den Prozess der Integration in die europäische Gemeinschaft organisierte. Der Horizont einer westlichen Gemeinschaft, die nicht mehr nur der Verteidigung diente, bildet sich in den sechziger Jahren rings um die Prozesse der Individualisierung und der Emanzipierung, die durch den Amerikanismus transportiert werden. Die Kategorien der Soziologen könnten also einige Grundursachen der Krise der fordistischen Industriegesellschaft ermitteln, anstatt den Beginn der postmodernen Phase zu erklären. Der westliche emanzipatorische Horizont des Kompromisses zwischen Kapitalismus und Sozialdemokratie, der in den siebziger Jahren durch die Krise von Bretton Woods in Gefahr geraten war, verliert sich unter dem neoliberalen Erfolg zu Beginn der achtziger Jahre. Dennoch entwickelt sich in den siebziger Jahren und später das Streben nach einheitlichen Gewohnheiten und Lebensstilen, wenn auch vermittelt durch die spezifischen nationalen Besonderheiten. Das würde das Ende der Fortschrittsperspektiven gerade in diesem Jahrzehnt als Auswirkung einer doppelten Niederlage ihrer Anhänger erklären: die Trennung der Schicksale von Vereinigten Staaten und Westeuropa und der Untergang des Sozialismus. Der Zyklus, der das 20. Jahrhundert abschließt, kurbelt die wirtschaftliche Globalisierung an und verfolgt dabei die Schaffung eines transnationalen sozialen Akteurs der sie aufrechterhalten könnte. Das Adjektiv postmodern bezeichnet das Unbehagen der Intellektuellen in Bezug auf einen Individualisierungsprozess, der sein ursprüngliches emanzipatorisches Konnotat verloren hat. Während die freie Fluktuation der Währungen, ihre völlige Autonomisierung von der Realwirtschaft und die Expansion der Globalisierung aufgrund der nunmehr seit 2008 fortbestehenden Finanzkrise in Frage gestellt werden könnten, scheinen der Wandel der sozialen Akteure, die veränderte Aufstellung der territorialen Solidaritäten und das Auslaufen der Klassenzugehörigkeiten dazu bestimmt, anzudauern und eschatologische Antworten und Konflikte zu generieren. Wie konnte diese Umkehrung der sozialen Erwartungen stattfinden, der die Wurzeln der Legitimation des Nationalstaats geschwächt hat? Einige Anregungen Jamesons aufgreifend könnte man von der aufsteigenden Macht des Erhabenen sprechen49. Wenn

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in diesen Hypothesen einige wahre Elemente lägen, wie könnte man eine Gesellschaft des Erhabenen historisch erfassen?

49 Lyotard kann wohl auch unter diesem Aspekt als ein Vorläufer angesehen werden, als Theoretiker zunächst einer „libidinal economy“ und später der Notwendigkeit der „politics of justice“; vgl. St. Best / D. Kellner, Postmodern Theory, S. 154-155.

Moderne/Postmoderne Überlegungen zu einer Debatte am Beispiel der politischen Geschichte der jüngsten Vergangenheit* Von Paolo Pombeni

Die Debatte über die Postmoderne vermag mich nicht zu begeistern: Sie erscheint mir kulturell schwach und wenig nutzbringend für die Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Studien. Zudem macht mich perplex, wie die Kategorie „Postmoderne“ in der heutigen Literatur präsentiert wird (in einigen Fällen fühlt man sich offen gesagt ins 17. Jahrhundert zurückversetzt, in jene hypertrophe Rhetorik der Antirhetorik, die Marino die bekannten Verse schreiben ließ: „È del poeta il fin la meraviglia /…/ Chi non sa far stupir, vada alla striglia“1. Bekanntermaßen hat der Begriff „Postmoderne“ zwei Ursprünge. Die erste, ältere Definition gab Toynbee in seiner monumentalen Geschichte der Zivilisation. Er merkte (1947) darin an, dass sich seines Erachtens nach dem Jahr 1875 die Natur der „modernen Staaten“ verändert habe. Nunmehr agierten sie nicht mehr in „nationaler“ Perspektive, sondern sie waren damit beschäftigt, sich auf internationaler Ebene zu positionieren. Mithin wurden sie „postmoderne“ Staaten. Selbstredend ist dies eine mehr als fragwürdige Definition. Sie ist geprägt von dem Schock des Ausgangs der beiden großen Weltkriege, doch sie berücksichtigt nicht, dass die Staaten, oder die vor ihnen bestehenden Entitäten, aus jener Perspektive heraus gehandelt hatten. Die kühnen Blicke auf das Römische Reich und die Globalisierung beiseite lassend, ebenso die Experimente wie das karolingische Reich oder das Heilige Römische Reich, beschränken wir uns hier darauf, zwei sehr unterschiedliche Phänomene zu behandeln, die jedoch gleichermaßen der Dynamik der internationalen Beziehungen zugehören, so wie die italienischen Kriege (Guerre d’Italia) zwischen 1494 und 1559 oder die napoleonischen Kriege zwischen

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Aus dem Italienischen von Tobias Daniels. „Das Ziel des Dichters ist, staunen zu machen. / Wer es nicht versteht, zum Staunen zu bringen, der werde Stallknecht“. 1

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dem 18. und 19. Jahrhundert2. Zudem hatte die von Toynbee aufgeworfene Frage eine begrenzte Nachwirkung3, auch wenn sie in jener Phase noch einmal Aktualität erhielt (wenn auch ohne jeglichen Verweis auf den britischen Historiker), als zwischen dem Ende der 50er Jahre und dem Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts über den „modernen Staat und seine Krise“ diskutiert wurde. Da der „moderne Staat“ von den großen Historikern der Institutionen (Otto Hintze, um nur den bekanntesten von ihnen zu nennen) am Beginn des 20. Jahrhunderts studiert worden war, stand man damals also vor dem Problem, wie derjenige neue Staat zu definieren sei, der aus den ökonomischen und sozialen Veränderungen der Nachkriegszeit hervorgegangen war, und wie die Krise dieses Modells zu interpretieren sei, die am Ende der 60er Jahre aufzuziehen schien. Selbstverständlich gelangte man zu der einfachen Definition des „postmodernen Staates“4. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die Wiederaufnahme der Terminologie und ihre Auswirkungen auch auf die Historiographie von der Literatur und der Kunst geprägt ist. Auf diesen Feldern beginnt in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts die Erfolgsgeschichte des Begriffs. Die künstlerischen Maßstäbe waren zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert als eine Überwindung des „Klassizismus“ definiert worden, um ein neues begriffliches 2 Zu diesem Zweck müsste die aktuelle Debatte über den Begriff „Reich“ und seine Bedeutung in Erinnerung gerufen werden. Dazu verweise ich auf M. Bellabarba / B. Mazohl / R. Stauber / M. Verga (Hrsg.), Gli imperi dopo l’Impero nell’Europa del XIX secolo (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 76) Bologna 2008; J. Leonhard / U. von Hirschhausen, Empires und Nationalstaaten im XIX Jahrhundert, Göttingen 2010. Siehe auch J. Leonhard / U. von Hirschhausen (Hrsg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the 19th and early 20th Century, Göttingen 2011; H. Jordheim / I.B. Neumann, Empire, Imperialism, and Conceptual History, in: Journal of International Relations and Development, 44 (2011), S. 153-185; B. Pelopidas, Tout Empire. Ou comment ce concept a perdu sa spécificité et comment la restaurer, in: Revue Européenne des Sciences Sociales, 49 (2011), S. 111-113; B. Mazohl / P. Pombeni (Hrsg.), Minoranze negli Imperi. Popoli fra identità nazionale ed ideologia imperiale (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 88) Bologna 2012, mit umfassender Bibliographie. 3 Zu der komplexen Frage nach der historischen Herangehensweise dieses Autors vgl. M. Lang, Globalization and Global History in Toynbee, in: Journal of World History, 22 (2011), S. 747-783. 4 Typisch für diesen Standpunkt ist der von R. Ruffilli herausgegebene Band: Crisi dello Stato e storiografia contemporanea, Bologna 1979, in dem insbesondere die beiden Beiträge des Herausgebers und der neuaufgelegte, einstmals für den „Dizionario di Politica“ von N. Bobbio und N. Matteucci geschriebene Aufsatz Pierangelo Schieras zu konsultieren sind, ein Aufsatz, der den Titel „Verso lo Stato post-moderno“ trägt, der aber in Wahrheit nur von den jüngsten Entwicklungen der Staatsform handelt, ohne es – meines Erachtens – zu vermögen, eine wirkliche Zäsur oder zumindest einen realen Unterschied zwischen dem Idealtyp des modernen Staates und seinen jüngsten Entwicklungen darzulegen.

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Paradigma des „Modernen“ durchzusetzen. Mit jener Tradition bewusst zu brechen, bedeutete folglich, sie nicht zu „negieren“ (wie es logisch hätte sein können, wenn man zum Klassizismus zurückgekehrt wäre oder wenn man seine wahre innovative Kraft in Frage gestellt hätte), sondern „über sie hinaus zu gehen“. Somit war man im Bereich der Literatur „postmodern“, beispielsweise gegen die Schule des Romans von Virginia Woolf, im Bereich der Architektur gegen die Paradigmen Le Corbusiers, und so weiter5. Ohne uns in philologischen Fragen zu verlieren, sei hier lediglich festgehalten, dass dieses Bestreben, die Postmoderne auch in der Historiographie zu definieren, aus dem Bedürfnis entsteht, die Entwicklung zu periodisieren. Das fundamentale dialektische Begriffspaar bleibt in Wahrheit das altbekannte: antik/modern, mit der ihm inhärenten Unterscheidung zwischen dem, was vergangen und dem was aktuell ist. Dabei muss in einem zweiten Schritt reflektiert werden, ob das, was „vergangen“ ist, zugleich auch als „überkommen“ angesehen werden muss, und das, was „modern“ ist, folglich als „fortschrittlich“ und somit als die guten Aspekte des Vergangenen in sich tragend anzusehen ist. Bekanntermaßen hat sich aufgrund von dieser Unterscheidung unser Verständnis der Geschichte seit dem Humanismus ausgebildet: Da war eine Vergangenheit, teilweise wurde sie als „klassisch“ angesehen, teilweise als überkommen. Ihr gegenüber stand die Gegenwart. Ihre Werte bestanden in ihrer Fähigkeit, die besten Aspekte des „Klassischen“ zu nutzen und sich von dem Ballast der vergangenen Zeiten zu befreien. Auf diese Weise kam man – ich verkürze hier drastisch – zu der klassischen Aufteilung der Epochen: die Antike und die Moderne, und dazwischen das Mittelalter, eine Übergangsphase, in der die antike Welt nicht mehr existierte und es die Moderne noch nicht gab. Das Problem stellt sich dergestalt, dass die antike Epoche abgeschlossen ist, die „moderne“ aber per definitionem nicht imstande ist, mit ihr abzuschließen, während es schwierig erscheint, sich von dem zu trennen, was langsam die Vergangenheit der Moderne wird, insofern es nicht möglich ist, es als antik oder mittelalterlich zu klassifizieren. Vom Standpunkt der geschichtswissenschaftlich in Epochen organisierten Lehrstühle aus hat man in Italien versucht, das Problem zu lösen, indem man eine neue Epoche erfand, welche die des „contemporaneo“ (im deutschen System behilft man sich mit der Aufteilung in „Neue[re] Geschichte“ und „Zeitgeschichte“) sei, aber auch in diesem Fall entstand ein begrifflicher Widerspruch, denn 5 A. Huyssen, Mapping the Postmodern, in: New German Critique, 33 (1984), S. 5-52; H.G. Bloland, Whatever Happened to Postmodernism in Higher Education? No Requiem in the New Millennium, in: The Journal of Higher Education, 76 (2005), S. 121-150.

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man musste einen Gegensatz mit der Bedeutung des Wortes „modern“ im üblichen Wortgebrauch akzeptieren (es müsste dann ein „modern“ geben, das eben dies nicht mehr ist, weil es „überkommen“ ist), aber auch mit dem Wort „contemporaneo“ („gleichzeitig“), denn der Begriff schließt an sich aus, eine Vergangenheit zu beinhalten. Es genügt, die Epochengrenzen in der universitären Lehre in den verschiedenen Ländern zu vergleichen, um das Problem zu verdeutlichen. Wo beginnt die „storia contemporanea“: Mit der französischen Revolution? Mit dem Jahr 1870? Von 1914 bis 1918? Und, warum nicht, mit dem Jahr 1945 oder, noch unmittelbarer, gar mit dem Jahr 1989? Man sage nicht, dies sei lediglich eine Frage der Suche nach willkürlichen Brüchen für die Aufteilung in Epochen, denn von solchen Brüchen gibt es mehrere, die jedoch nicht als Indikatoren für einen Epochenwechsel angesehen werden. Nun könnte man einfach sagen, dass die wirklich bedeutenden Epochenwechsel jene seien, in denen sich „kulturelle Paradigmen“ (im anthropologischen Sinne) ausreichend radikal ändern, doch leider ist es nicht so einfach6. Die für den Historiker fundamentale Frage, nämlich was eigentlich „die Zeit“ ist, wurde nachdrücklich von Reinhardt Koselleck gestellt. Seine Theorien wurden breit diskutiert7, aber für das, was unser Thema sein soll, sind sie noch nicht vollständig ausgewertet. Ich werde darauf zurückkommen. Zuvor aber müssen wir uns der Art und Weise widmen, wie der Begriff „postmodern“ in die kulturelle Debatte eingeführt wurde. Mir scheint von Bedeutung zu sein, dass man nach jenem Wandel des Begriffes, auf den ich schon hingewiesen habe (er wurde zum Aushängeschild jener künstlerischen Strömungen, die glaubten, ihre Wertmaßstäbe von denen der Moderne abgrenzen zu müssen), zu einer Definition der Postmoderne als „Bedingung“ kam, und zwar in dem allenthalben zitierten Buch von Jean François Lyotard aus dem Jahr 19798. In Wahrheit scheint die stärkste Debatte immer die künstlerisch-literarische geblieben zu sein, und ich glaube, dies ist sehr bedeutsam für das Verständnis meines Themas: die meines Erachtens geringe Bedeutung der genannten Kategorie für die Geschichtswissenschaft. Um sogleich eine klare Position zu beziehen, werde ich das Problem unverblümt deutlich machen. Die literarische Debatte über die Postmoderne ist gänzlich auf die Dimension der Erfahrung ausgerichtet, teilweise verdeckt 6 Das Verhältnis der Epochenwechsel zum paradigm shift behandelte T. Kuhn, The Structure of Scientific Devolution, Chicago IL 1962. 7 Den jüngsten Beitrag zur Bewertung des Werks dieses Historikers lieferten H. Joas / P. Vogt, Begriffene Geschichte: Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011. 8 Deutsche Übersetzung J.F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, Wien 2006.

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psychoanalytisch, sicherlich an erster Stelle aufmerksam für die Subjektivität des Künstlers hinsichtlich der „Wirklichkeit“, die ihn umgibt, mit der er a priori die Möglichkeit einer Interaktion, sozusagen, mit der „Objektivität“ negiert. Auf den modernen Rationalismus, der annahm, von „dem Menschen“ sprechen zu können, der gewissermaßen auf abstrakter Ebene als postmoderne Entwurzelung angesehen wurde, antwortete sie, indem man hingegen nur von einzelnen Fällen sprach, von Pluralitäten, von Diversitäten, angesichts derer es nicht möglich sei, feste Kriterien der Evaluierung oder Homogenisierung ansetzen zu können. In der Kunst kann dies alles seine Logik haben. Ich frage mich, ob es das auch im Bereich der Geschichtswissenschaft kann. Um meinen Gedanken zu verdeutlichen, möchte ich betonen, dass der zentrale Punkt der Debatte, mit der wir uns befassen, recht alt ist: Es handelt sich schlussendlich darum, zu entscheiden, ob die Geschichte noch immer „opus oratorium maxime“ (Cicero) ist oder ob sie als eine „Wissenschaft“ angesehen werden kann, sei es auch im Sinne Max Webers (eine nicht experimentelle Wissenschaft, aber deshalb nicht unbedingt eine Wissenschaft, die den ihr eigenen Formen der logischen Überprüfbarkeit entzogen wäre). Die Theorien, die versuchen, in die Historiographie die Logik der „Post-Moderne“ hineinzutragen, bestehen auf der „narrativen“ Natur der Geschichte und kommen in der Tat, mehr oder weniger bewusst, auf die ciceronianische Definition zurück, auch wenn sie sie mit psychoanalytischen Einsprengseln und mit subjektivistischer Elukubration komplizieren: das schwierige Verhältnis Wirklichkeit/Fiktion (hier zitiert man Nietzsche, eine Beigabe, die immer eine gewisse Bedeutung verschafft), einen angeblichen Ursprung des wissenschaftlichen Diskurses in der Ästhetik, bis hin zu der Erwägung, oder teilweise auch zu der Überzeugung, dass der Historiker sich als eine Art Sozialtherapeut verstehen solle9. Es ist Hayden White gelungen, eine fast unendliche Debatte über die Thematiken und die Theorien des „Narrativismus“ aufzubringen10. Gefolgt ist ihm darin insbesondere Frank Rudolf Ankersmit, der ebenso überzeugt war, dass es nunmehr unnütz sei, von der Geschichts„wissenschaft“ zu sprechen. Ich teile diese Auffassung nicht, denn, wie schon angemerkt, diese Autoren verwechseln das, was man als narrative Rekonstruktion bezeichnen könnte,

9 Vgl. dazu: Storia narrativa, storia narrazione. Tavola rotonda con Hayden White, hrsg. von M. Moretti, in: Ricerche di Storia Politica, NF 12 (2009), S. 69-93. 10 Einführend zu einer ersten Bewertung der Kritik und einer moderaten Verteidigung der Argumente des amerikanischen Historikers: W. Kunsteiner, Hayden White’s Critique of the Writing of History, in: History and Theory, 32 (1993), S. 273-295. Eine breitere Debatte über diesen Autor findet sich in der Ausgabe vom Mai 1998 der Zeitschrift „History and Theory“, mit Beiträgen von R.T. Vann, N. Partner, E. Domanska und F.R. Ankersmit.

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und das, was hingegen eine historische Rekonstruktion ist11: Letzteres zielt nicht darauf ab – ich werde das eingehender erklären –, das Vergangene so zu rekonstruieren, wie es gewesen ist (dies hätte in der Tat nur einen kontemplativ-narrativen Wert), sondern es hat hingegen zum Ziel, „Bedeutung“ innerhalb von Ereignisketten zu erkennen, denn genau die Verbindung der Bedeutungszusammenhänge innerhalb von Ereignisketten ist eine Art der Erkenntnis, die der menschlichen Erfahrung dient, um das Verhältnis der Menschen zur Zeit, zum Raum und zu den Ereignissen zu verstehen, die davon bedingt sind. Aus diesen Gedanken heraus ist auch das entstanden, was als „neuer Historizismus“ (New Historicism) definiert wird, der sich aufgrund der Annahme, dass der Historismus ein Produkt der „Moderne“ sei, folgerichtig in der „Postmoderne“ verortet12. Wie im Falle der Kunst, müsste auch hier mit einem Kanon gebrochen werden, und zwar mit jenem des traditionellen Historismus, der sich auf drei Paradigmen stützt: (1) auf den Glauben, die geschichtlichen Prozesse seien die wahren Motoren der Geschichte und der Mensch könne wenig oder nichts ausrichten, um sie zu verändern; (2) auf die Ansicht, die Historiker müssten sich in ihren Arbeiten der Werturteile enthalten; (3) auf die Überzeugung, man müsse mit Verehrung auf die Vergangenheit zurückblicken. Ich werde hier nicht die geringe Plausibilität dieser Paradigmen diskutieren, die in dieser Ausprägung eine „Scholastik“ betreffen, in der es schwer ist, die Historiker von Wert einzuschließen. Mit interpretatorischer Vorsicht angewandt, entsprechen sie jedoch hermeneutischen Kriterien, auf die schwerlich verzichtet werden kann: Etwa auf die Behauptung, eine Einzelperson oder eine Gruppe von Personen könne einen gewissen Ereigniszusammenhang verändern, wenn sie an determinierende Faktoren gebunden sind, deren Kontrolle nicht in ihren Händen liegt? Vielleicht auf die Behauptung, Aufgabe des Historikers sei es, die Literatur der Vergangenheit an seinen persönlichen Wertmaßstäben zu messen und auf dieser Basis Urteile der Absolution oder der Verdammung zu erteilen? Vielleicht darauf, der Historiker könne von oben herab auf die Vergangenheit schauen? Ich behandele hingegen das zentrale Thema, das die dieser Schule zugehörenden Historiker ihren Kollegen als Herausforderung vorlegen zu können glauben, während diese – wie beispielsweise der Autor dieses Beitrags – der Ansicht sind, das Fach Geschichte sei eine Wissenschaft und habe gerade als solche einen Nutzen. Der oben zitierte Ansatz hat zwei herausragende 11 Vgl. P. Duara, Can Histories be True? Narrativism, Positivism, and the „Metaphorical Turn“, in: History and Theory, 37 (1998), S. 309-329. 12 Ich folge hier dem Aufsatz von J. Pieters, New Historicism: Postmodern Historiography between Narrativism and Heterology, in: History and Theory, 39 (2000), S. 21-38.

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Exponenten jener neuen Historiographie: Der erste ist Stephen Greenblatt, der zweite Michel De Certau. Es handelt sich in beiden Fällen um zwei eklektische Autoren, wenn auch unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten. Greenblatt ist grundsätzlich ein Shakespeare-Forscher13; De Certau ist ein Religionshistoriker, dessen Ansatz stark von der Psychoanalyse und einer bestimmten Art von Anthropologie geprägt ist. Es ist bemerkenswert, dass die Forschungen beider Autoren Themen betreffen, die in der Frühen Neuzeit angesiedelt sind (15. bis 17. Jahrhundert). Worin besteht nun die Problematik, welche die beiden umtreibt? Es ist das Problem, ob eine „historische Realität“ im Eigentlichen erkennbar sei, als Antwort auf die berühmte Frage Rankes danach, „wie es eigentlich gewesen“. Mir erscheint die Kritik dieser beiden Autoren und ihrer Schüler gegenüber der ihrer Auffassung nach traditionellen Sichtweise des Historismus zu einfach. Für Greenblatt lässt sich die Geschichte beispielsweise nur „monologisch“ verstehen, denn die uns zur Verfügung stehenden Quellen sind gewöhnlich die der gebildeten Klassen, und somit ist uns nicht die Erinnerung an das überliefert, was geschehen ist, sondern an das, was einem bestimmten Ausschnitt der Gesellschaft geschehen ist. De Certau stellt sich von einem anderen Standpunkt aus mehr oder weniger dieselbe Problematik: Da die Überlieferung der Vergangenheit ein „Diskurs“ ist, enthält sie die Realität nicht gänzlich, sondern nur das, was ein Autor sagen wollte, während vieles nicht gesagt wird oder auch „unbewusst“ ist. Dies sei es, was der Historiker sich bemühen müsse zu erkennen, um diese Leerstellen zu füllen (dies wird als „Heterologie“ bezeichnet, als Verpflichtung, in der Vergangenheit das Andere zu finden, das nicht überliefert worden ist). Ich füge hinzu, dass Greenblatt so weit geht, die Anekdote als Instrument der Geschichtswissenschaft apologetisch zu preisen, da sie das wiederbelebe, was er die Macht des „Widerhalls“ und des „Erstaunens“ nennt, und dies lasse der Geschichte Aufmerksamkeit zukommen. De Certau insistiert ebenso wie die Narrativisten auf der Notwendigkeit des Bewusstseins um das dialektische Spiel zwischen dem Dokumente lesenden Ich und dem Ich, welches die Dokumente produziert hat (und es handelt sich um ein Ich, das immer von einer „Gesellschaft“ hervorgebracht wurde, auf die es reagiert, ebenso wie der Historiker bei seiner rekonstruierenden Arbeit von seiner Gesellschaft geprägt ist).

13 Der Ansatz Greenblatts ist Gegenstand scharfer Kritik gewesen, die ich persönlich teile: J.R. Veenstra, The new Historicism of Stephen Greenblatt: on Poetics of Culture and the Interpretation of Shakespeare, in: History and Theory, 34 (1995), S. 174-198. Nach Veenstra ist der interpretative Ansatz Greenblatts darauf gegründet, was er „poetics of culture“ nennt, bzw. „dialectics of totalization and differentiation“; letztendlich erzielt er damit nicht wirklich entscheidend andere Resultate als diejenigen, zu denen man mit den traditionellen Methodologien der Geschichtswissenschaft gekommen ist.

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Nun liegt nach meinem Dafürhalten die eigentliche Frage darin, den Gegenstand der historischen Forschung zu definieren. Diese Fragestellung bringt uns geradewegs zu den Ursprüngen des Historismus zurück. Liest man den berühmten Satz Rankes aus dem Jahr 1875 aufmerksam, so waren dies seine Worte: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht; er will bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen“14. Was bedeutet dieser Satz? Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft unterscheidet sich von jener der Geschichtsphilosophie oder -theologie. Die Geschichtswissenschaft hat, modern ausgedrückt, nicht den Anspruch, die Vergangenheit in Gänze zu rekonstruieren. Dies ist nicht nur unmöglich, sondern auch unnütz, denn der Sinn einer solchen Rekonstruktion aus der Perspektive von „Augenzeugen“ ist nicht einzusehen (zudem ist nicht klar, wie diese Sicht der „Augenzeugen“ in einer Pluralität von Perspektiven und Entwicklungslinien funktionieren soll): Was das Wissen um die menschliche Natur angeht, so ist die Literatur bestens als Mittel zu ihrer Erkenntnis geeignet. Die Geschichtswissenschaft interessiert sich für die Erkenntnis der „Prozesse“, also für das Verhältnis von Zeit, Raum und Kultur als Grundlage von bestimmten Kontexten, in denen nicht der Mensch allgemein, sondern eine bestimmte, mehr oder weniger begrenzte Gruppe von Menschen auf Herausforderungen reagiert hat, die ihnen ihre Lebensgrundlagen gestellt haben. Im Bereich der Geschichte der Politik betreffen diese Herausforderungen den Aufbau, die Aufrechterhaltung und den Zerfall eines öffentlichen Raumes, der hinsichtlich der Subjekte und ihrer Sinnstrukturen, die er einschließt, eine identitätsstiftende Kraft innehat und auf sie entfaltet (dies kann durch die Adhäsion oder durch die Opposition hinsichtlich der Inklusion geschehen); in der Sozial- oder Religionsgeschichte oder in anderen Bereichen sind es andere Herausforderungen, die andere Kontexte betreffen. Das Thema wurde, wie schon angedeutet, im Jahr 1972 durch Koselleck in einem berühmten Aufsatz aufgebracht, über den viel geschrieben worden ist15. Koselleck beschäftigte sich darin mit dem Problem der Wissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft, gemessen an ihrer Fähigkeit, eine Theorie der historischen Epochen zu entwickeln, und, demzufolge, der Fähigkeit, eine

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Zitiert in: F. Jaeger / J. Rüsen, Geschichte des Historismus, München 1992,

S. 82. 15 R. Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: W. Conze (Hrsg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972 S. 10-28. Ich zitiere aus dieser Erstedition, auch wenn der Text neu aufgelegt worden ist: R. Koselleck, Zeitschichten. Studien über Historik, Frankfurt a.M. 2000.

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„Sattelzeit“, eine Übergangszeit, zu erkennen. Es war eine komplexe Theorie, die im Gegensatz zur Idee von einer „natürlichen“ (d.h. allgemeinen und auf banale Weise konsekutiven) Chronologie stand, und hingegen die berühmt gewordene Formel von der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ einführte16. Die Geschichtswissenschaft sollte also nicht eine unmögliche Rekonstruktion der Vergangenheit in ihrer Gänze anstreben17, sondern eine solche, die, gemäß Koselleck, keine „Erzählung“ literarischen oder para-literarischen Typs sein sollte, sondern eine auf die Bildung interpretativer Kategorien gegründete Arbeit, die von dem Studium eines „Gegenstandbereiches“ ausgeht und ihn als Universum von Bedeutungen rekonstruiert. Dies sollte der Ausweg aus dem reinen Mythos der Quellen18 sein, die nach Koselleck erst sprechen, wenn sie in der „Öffentlichkeit“ verortet werden, in der sie ihren Ursprung haben: „Während wir über anderthalb Jahrhunderte hinweg unser philologisch-historisches Rüstzeug verfeinert haben und es perfekt beherrschen lernten, ließen sich die Historiker den Weg von den Quellen zurück an die Öffentlichkeit nur allzu leicht von den jeweiligen Machtlagen vorzeichnen“19.

Die Geschichte kann also nicht, wie Andreas Kablitz in einem Aufsatz gezeigt hat, auf eine Erzählung als Medium reduziert werden, denn „der entscheidende Unterschied scheint mir hier in der Beziehung zwischen Fiktivität und Komplexität zu liegen“20.

16 Für eine interessante weiterführender Erörterung der Praktikabilität dieses Ansatzes hinsichtlich der politischen Geschichte verweise ich auf J. Leonhard, Historik der Ungleichzeitigkeit: Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa der 19. Jahrhunderts, in: Journal of Modern European History, 7 (2009), S. 145-168. 17 „Hier müssen wir uns daran erinnern, dass alle historischen Aussagen vergangene Sachverhalte nur verkürzt oder verjüngt wiedergeben können, denn die Totalität der Vergangenheit lässt sich nicht wiederherstellen, sie ist unwiderufbar vergangen“, R. Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit, S. 24. 18 Ich betone, dass die „Postmodernen“ keinesfalls mit diesem Mythos gebrochen haben, sie haben sozusagen nur die Quellen deklassiert: von „Monumenten“ zu persönlichen und psychologischen Ausdrucksformen der verschiedenen Verfasser. Die „Postmodernen“ haben nie daran gedacht, dass keine Quelle an sich einen sozusagen „objektiven“, vom Kontext losgelösten Wert habe, in den sie eingebettet ist und den sie ausdrückt, und daher konnte eine Quelle in jener Sichtweise niemals eine komplette „Schaffung von Realität sein“, sondern war immer eine „Übertragung von Interpretationen, die einem Kontext entnommen waren“. 19 R. Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit, S. 24. 20 A. Kablitz, Geschichte, Tradition, Erinnerung? Wider die Subjektivisierung der Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 32 (2006), S. 233; und weiter: „Geschichte als eine Rekonstruktion der Vergangenheit zu verstehen, besagt nichts anderes als das Unternehmen oder auch nur den Versuch, die Komplexität dieser Geschichte durch Selektion auszuweisen und diese Komplexität zugleich jeweils fallweise perspektivisch zu reduzieren“.

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Ich kann hier selbstverständlich nicht über gewisse Grenzen hinaus Kosellecks Theorien bezüglich des wirklich zentralen Themas der Periodisierung im Kontext einer übergreifenden Interpretation der Dimension der Vergangenheit darlegen21. Mir kommt es darauf an, zu unterstreichen, dass es sich, um eine treffende Definition eines jüngeren Kommentators aufzugreifen, um eine „multilayered notion of temporality“ handelt, und nicht um eine neue Theorie der traditionellen Periodisierung22. Nach meiner Auffassung ist die Frage fundamental, denn die gesamte Debatte über das Ende der „Moderne“, und somit über die Notwendigkeit, den Übergang zu einer „Postmoderne“ in Betracht zu ziehen, entsteht letztlich aus dem Schwinden des Vertrauens in die kognitiven Fähigkeiten des menschlichen Geistes, die ohne Zweifel immer aufs Neue phoenixgleich wiederersteht. In Wahrheit scheint mir dies eine ziemlich lange Geschichte zu sein, denn man könnte bis zu Platons Höhlengleichnis zurückgehen und sich damit beschäftigen (in meiner Kompetenz liegt dies nicht, aber es wäre möglich), alle Begebenheiten im Verhältnis von Sein und Nachdenken über das Sein auseinanderzudividieren. Ich fürchte, dass der sogenannte linguistic turn und der Narrativismus nichts anderes als sehr wohlklingende – doch ich fürchte, recht naive – Ableitungen in einer Art von ewiger Rückkehr zu dieser Thematik in jeder Krisenzeit (und unsere Zeit ist eine solche) sind23. Die Frage, auf die an diesem Punkt niemand eine Antwort weiß, ist fundamental: Geht man von der Vorstellung aus, dass die Dokumente, auf die sich die Arbeit der Geschichtswissenschaft gründet, uns nicht die Wahrheit sagen, sondern „Diskurse“, „Erzählungen“ sind, durch die uns jemand lediglich seine Auffassung von gewissen Ereignissen vermitteln will und sie willkürlich präsentiert, so bedeutet dies, dass wir über die kognitiven Mittel verfügen, um zu diesem Schluss zu gelangen. Um es drastisch auszudrücken:

21 Derselbe Jahrgang 2006 von „Geschichte und Gesellschaft“, in dem der soeben zitierte Aufsatz von Kablitz erschienen ist, enthielt zwei weitere Beiträge zur Debatte um das Thema, das wir hier diskutieren: D. Gerber, Was heißt „vergangene Zukunft“? Über die zeitliche Dimension der Geschichte und die geschichtliche Dimension der Zeit, S. 176-200; A. Epple, Natura magistra Historiae? Reinhart Kosellecks transzendentale Historik, S. 201-213. 22 H. Jordheim, Against Periodization: Kosellecks Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory, 51 (2012), S. 151-171. 23 Eine gute Dokumentation dieser Debatte liefert eine Auseinandersetzung zwischen Perez Zagorin und Frank Rudolf Ankersmit, die nunmehr ungefähr zwanzig Jahre zurückliegt. Vgl. P. Zagorin, Historiography and Postmodernism: Reconsiderations, in: History and Theory, 29 (1990), S. 263-274; F.R. Ankersmit, Historiography and Postmodernism: Reconsiderations. Reply to Professor Zagorin, ebd., S. 275-296. Neun Jahre danach kam Zagorin auf das Thema in einem umfassenden Aufsatz zurück: History, the Referent and Narrative: Reflections on Postmodernism Now, in: History and Theory, 38 (1999), S. 1-24.

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Wir verfügen über das Instrumentarium, um zu erkennen, was nicht „wahr“ und somit „falsch“ ist. Wenn wir nun dies in der Tat voraussetzen, warum müssen wir sagen, dass dasjenige, was uns erlaubt, zu erkennen, was „nicht“ wahr ist, uns nicht zugleich auch erlaubt, die Wahrheit zu rekonstruieren? Wir meinen natürlich nicht die Wahrheit in ontologischer Sicht, sondern einfacher jene, die den Historiker interessiert, also eine interpretative Rekonstruktion von Bedeutungen hinsichtlich der Vergangenheit, die uns nutzen soll, unsere Gegenwart zu verstehen und unsere Angst angesichts der Zukunft zu beherrschen. Aus dieser Perspektive müssen wir uns also auf etwas präzisere Weise die Frage nach der „Moderne“ und nach ihren Epochengrenzen stellen, in einer Geschichts„wissenschaft“, deren Merkmale soeben charakterisiert wurden. Wir tun dies deshalb, weil es in unserem Interesse liegt, sowohl zu einer „vielschichtigen“ Periodisierung der Phase der „Moderne“ zu gelangen, indem wir die Hauptpunkte ihrer Entwicklungen, Krisen und Übergänge ausmachen, als auch zu verstehen, ob dieses „historische Universum“ in eine Phase der Transformation geraten ist oder kommt, welche die Paradigmen neu ordnet, deren Konfiguration die „Moderne“ gebildet haben. Das fundamentale Problem, welches sich stellt, besteht also darin, zu verstehen, was ein historisches Ereignis ist, was also ein Objekt darstellt, welches es historiographisch zu rekonstruieren gilt. Dabei gilt es, vom Kern unseres Themas auszugehen und zu verstehen, dass ein historisches Ereignis kein „Geschehnis“ ist, sondern die Interpretation einer Kette von Geschehnissen innerhalb der Koordinaten eines kulturellen Kontextes (im anthropologischen Sinn des Begriffs)24. Spricht man von einer „Schlacht“, so spricht man nicht von einem Ereignis, sondern von einer Kette von Ereignissen, denn jeder Kämpfende, jeder Zuschauer, jede wie auch immer in das Netz der Beziehungen eingebundene Person erlebt eigene Dinge, die zum Beispiel zeitlich aufeinander folgen (der Soldat A beginnt in einem bestimmten Moment ein gewisses Gefecht, in einem weiteren wird er verwundet, in noch einem anderen Moment wird er in Sicherheit gebracht oder gefangen genommen, während der Soldat B in eine andere Sequenz von Ereignissen eingebunden ist, und so weiter); jeder interpretiert die Ereignisse innerhalb eines kulturellen Kontextes (mancher empfindet es als Glück, kämpfen zu können, mancher findet sich pflichtgemäß damit ab, mancher sieht es als gute Gelegenheit, Ruhm zu erwerben, und so weiter); für jeden kann das Ereignis

24 Ich habe mich seinerzeit in folgendem Aufsatz mit dem Thema beschäftigt: La dialettica evento-decisioni nella ricostruzione delle grandi assemblee. I parlamenti e le assemblee costituenti, in: M.T. Fattori / A. Melloni (Hrsg.), L’evento e le decisioni. Studi sulle dinamiche del concilio Vaticano II, Bologna 1997, S. 17-49.

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unterschiedliche Konsequenzen haben (ein glücklicher Ausgang, ein Schock, eine Veränderung des sozio-politischen Status, und so weiter). Der Historiker, der diese Schlacht studiert, ist nicht imstande, das gesamte Netzwerk der ihr zugehörenden Ereignisse zu rekonstruieren, die zum großen Teil nicht einmal dokumentiert sind, aber er ist auch nicht daran interessiert. Sein Ziel besteht darin, zu verstehen, ob diese „Schlacht“, also jenes Ereignisnetzwerk, welchem die Kultur das Signifikat einer „Schlacht mit diesem bestimmten Namen“ zugeteilt hat (eine Bedeutung also, die bestimmten Gefechten beispielsweise nicht zugeteilt wird, auch wenn sie von großen Ausmaßen in personeller Hinsicht waren, ebenso wie es unangemessen wäre, ein „Gefecht“ eine Schlacht zu nennen), in einen Zusammenhang eingegliedert werden kann, den der Historiker ausgewählt hat, um seine Erkenntnisziele zu erreichen, oder ob dies nicht der Fall ist: Es kann in seinem Bestreben liegen, die Gesetze des Krieges zu verstehen, oder nachzuvollziehen, wie die damalige Kultur diese Episode interpretiert hat, oder die Verhältnisse zwischen den militärischen und zivilen Anteilen der Gesellschaft zu erforschen, und so weiter. In diesem Sinne geht der Historiker wie jeder andere Wissenschaftler auch vor: Er erschafft sich ein Instrumentarium, um ein Phänomen zu verstehen, in der Überzeugung, dass dies ihm dient, seinen Verständnishorizont der Phänomene zu erweitern, die er, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf die Koordinaten reduzieren wird, die er sich gesetzt hat. Wenn ich Studenten erkläre, dass das Gesetz der Schwerkraft nicht festlegt, dass eine Feder und ein Stein auf die gleiche Weise zu Boden fallen, sondern nur, dass die Dynamik ihres Falles von denselben abstrakten Parametern bestimmt ist, welche das Gesetz beschreibt, um ihre verschiedenen Bewegungen zu „lesen“ (ihr spezifisches Gewicht, den Widerstand der Atmosphäre, das magnetische Feld der Erde, und so weiter), dann versuche ich, ihnen klar zu machen, dass eben dies auch für die Geschichtswissenschaft gilt: Sie beschäftigt sich nicht damit, dass es gleichartige Phänomene gibt, sondern damit, dass es möglich ist, in bestimmten, voneinander unterschiedlichen Phänomenen durch analytische Abstraktion Elemente zu erkennen und die Beziehungen zwischen den Elementen zu bewerten, um die Mechanik eines bestimmten Phänomens zu verstehen, dem man einen bestimmten Namen gegeben hat: beispielsweise der Prozess der politischen Entscheidungsfindung. Die Schlacht von Cannae ist nicht dasselbe wie die Schlacht von Austerlitz, und nicht dasselbe wie die Schlacht von Caporetto, aber dennoch kann es in meinem Interesse liegen, Elemente miteinander zu vergleichen, die ich bei allen dreien erkenne, wie zum Beispiel das Verhältnis zwischen der Truppenstärke und dem Ausgang der Schlachten, die Informationsübermittlung hinsichtlich des Ausgangs der Schlacht, den angewandten Befehlsstil, und so weiter. Noch einmal: Ich interpretiere diese Dinge aufgrund der Bedeutungen, die ihnen im Lauf der Epochen zugewiesen worden sind, und ich bin dabei

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sicher gezwungen, eine Phasentheorie der Geschichte zu entwickeln, in die ich historische und metahistorische Kategorien einfließen lasse25. Wenn wir uns von der Obsession einer umfassenden und objektiven Rekonstruktion befreien, einer Obsession, welche die „Postmodernen“ viel mehr haben als der gute Ranke jemals, dann interessiert uns das Problem der Objektivität der Dokumente kaum mehr. Lassen wir den herkömmlichen Einwand beiseite, dass die Dokumente niemals einzeln gelesen werden dürfen, sondern nur in Bezug zueinander, und dass somit eine komparative Analyse fast immer imstande sei, die Subjektivität der Quellen zu verdeutlichen und zu einem ausgewogeneren Urteil zu kommen. Geben wir ruhig zu, dass die Quellen uns „belügen“ und dass sie alle nur zu dem Zweck geschrieben worden sind, uns eine subjektive Sicht der Vergangenheit zu vermitteln. Für den Historiker ist ein solches Bewusstsein eine Voraussetzung, aber es bereitet ihm kein Unbehagen, denn er sucht nicht „die Wahrheit“ im Absoluten, sondern Beziehungen innerhalb eines Kontextes. Wenn eine bestimmte Quelle mir beschreibt, wie das Wahlrecht zu interpretieren sei, dann weiß ich a priori, dass dies die Aussagen sind, welche der Autor vermitteln wollte, und sicherlich nicht „die Wahrheit“ hinsichtlich des Wahlrechts in jenem Moment. Es ist meine Aufgabe als Historiker, zu entscheiden, ob das Ziel meiner Studie darin besteht, einfach die Aussage einer bestimmten Quelle zu rekonstruieren (beispielsweise die Gedanken Gladstones zum Wahlrecht, gewonnen aus seinen Schriften), oder ob ich diese Aussagen in einen Kontext stellen will, zu dessen Analyse ich andere Quellen heranziehen muss: Das Gedankengut Gladstones zu jenem Thema im Kontext des politischen Denkens seiner Zeit; die Aussagen Gladstones im Vergleich mit den gleichzeitigen Berichten über die tatsächlich abgehaltenen Wahlen; das Denken Gladstones und sein Einfluss auf das Verhalten seiner Partei, und so weiter. Ist diese Erkenntnis relativ? Sicherlich, jede Erkenntnis ist das, aber das hat nicht verhindert, dass die Wissenschaft auf ihren verschiedenen Feldern vorangeschritten ist, ihre Instrumentarien verfeinert hat, „Bedeutungskontexte“ für ihre jeweiligen communities geschaffen hat. Warum sollte das nicht auch für die Geschichtswissenschaft gelten?26.

R. Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit. Nochmals müssen wir uns allerdings von der irreführenden Frage nach der objektiven Rekonstruktion der Vergangenheit freimachen. Wie Reinhardt Koselleck geschrieben hat: „Denn ist einmal die Vergangenheit als solche nicht mehr wiederherstellbar, so bin ich gezwungen, den fiktiven Charakter vergangener Tatsächlichkeit anzuerkennen, um meine historischen Aussagen theoretisch absichern zu können“, R. Koselleck, Über die Theoriebedürftigkeit, S. 24-25. 25 26

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Selbstverständlich bringt dies eine Thematik auf, die den „Postmodernen“ ein Graus ist: das Ersinnen von Instrumentarien zum Vergleich und zur Bewertung auf wissenschaftlicher, und selbstverständlich nicht auf ethischer Ebene (letztere ist nicht bedeutungslos, aber es handelt sich dann um einen anderen Ansatz als den des Erkenntnisgewinns). Ich möchte direkt ein Missverständnis ausräumen: Es gibt in dieser Behauptung nicht den geringsten Relativismus. Es geht beispielsweise nicht darum, zu sagen, dass Hitler für sein Verhalten nicht moralisch verurteilt werden kann, sondern darum, dass die Bewertung in Bezug auf einen Kontext, die Werte eines kulturellen Systems, vorgenommen werden muss, nicht als ethisches Urteil über die Person. Die Forschungen des Historikers richten sich mithin nicht darauf, zu erkennen, ob Hitler ein Bösewicht vor dem Angesicht Gottes war, oder auf das allgemeine ethische Bewusstsein, auch wenn er davon überzeugt sein kann. Der Historiker bewertet, dass Hitlers Verhalten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Kontext eines Systems steht, und dass er mit den Werten der Kultur seines Landes und der westlichen Welt brach, deren Teil sein Land war, Werte, die als essentiell angesehen wurden. Die Blutbäder, die in der Antike oder im Mittelalter an Feinden angerichtet wurden, können vom Historiker nicht mit denselben Parametern bewertet werden, auch wenn wir auf der Ebene der Ethik einigen Prinzipien, welche den Respekt vor dem menschlichen Leben auferlegen, einen gewissen „ewigen“ Wert zuschreiben. Wir können und müssen also ein System der Bewertung erschaffen, das uns gestattet, die Themen unserer Forschungen zu bearbeiten. Dabei muss nicht das Rad neu erfunden werden, denn diese Arbeit ist schon von Max Weber geleistet worden, der die „Idealtypen“ eingeführt hat. Diese sind nun genau jene intellektuellen Konstrukte, die weder Kategorien noch Modelle sind, sondern in ein Beziehungssystem gesetzte Kondensate von Elementen, die wir in der konkreten Erfahrung finden, und so können wir, wenn wir auf sie treffen, sagen, dass es sich um ein spezifisches „historisches Phänomen“ handelt, dem der Historiker dann eine bestimmte wissenschaftliche Bezeichnung gibt27. Wenn ich sage, dass die „Form der Partei“ der Idealtypus der Organisation des öffentlichen Raumes in der Neueren Geschichte ist (19. und 20. Jahrhundert), dann sage ich das, wenn ich einen gewissen politischen Zusammenschluss von Individuen erkenne, der durch eine Doktrin hinsichtlich der Weltanschauung und der geschichtlichen Entwicklung geprägt ist, ferner wenn ich sehe, dass wer sie anerkennt, sich der Disziplinierung durch eine Institution unterwerfen muss, die im Namen dieser in der Öffentlichkeit 27 Zur idealtypischen Definition ist m.E. folgender Aufsatz sehr nützlich: W. Mommsen, „Toward the Iron Cage of Future Serfdom“. On the Methodological Status of Max Weber’s Ideal-typical Concept of Bureaucratization, in: Transactions of the Royal Historical Society, 30 (1980), S. 157-181.

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agiert, und schließlich, wenn diese Institution im Namen des Besitzes dieser beiden Charakteristiken befähigt ist, auf die politische Entscheidungsfindung einzuwirken; in dem Fall lässt sich von einer „politischen Partei“ sprechen. Das sagt mir nicht, ob diese Partei groß oder klein ist, kurz- oder langlebig, von bedeutenden Persönlichkeiten oder von demagogischen Emporkömmlingen gegründet. Nicht, dass mich diese Dinge nicht interessieren oder keinen weiteren Erkenntnisfaktor bilden würden, aber ich benötige sie nicht, um zu entscheiden, ob ich es mit dem (idealtypischen) Phänomen der „politischen Partei“ zu tun habe28. Ich setze selbstverständlich voraus, dass es von Bedeutung ist, dieses Element zu definieren: denn dies erlaubt mir, zu verifizieren, dass bestimmte Herausforderungen bestehen und dass das Element jenes Instrument darstellt, welches zu ihrer Bewältigung ausgewählt wurde: beispielsweise die Herausforderung, dass die Legitimation, eine politische Verbindlichkeit zu schaffen, sich auf die gleichzeitige Anwesenheit einer Ideologie zur Interpretation des historischen Kontextes (eine Ideologie, die den Anspruch erhebt, den Geschehnissen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft „Sinn“ und „Bedeutung“ zu verleihen) und einer Institution gründe, innerhalb derer ich die erfolgreichen Auswirkungen dieser Ideologie „leben“ kann. Die Beispiele ließen sich vermehren. Doch dies soll uns an diesem Punkt nicht interessieren. Wir müssen uns nun fragen, ob diese Interpretation der Arbeit des Historikers „modern“ oder „postmodern“ ist. Wäre dies das Problem der so genannten „Metahistory“ des Hayden White, so wäre ich zufrieden, weiterhin „modern“ zu bleiben, ist es doch „White’s final aim … not to fathom the narrative structures of historical writing, but to liberate historians from the chains of realism and to set them free to write according to their own moral and aesthetic ideals“29. Diese Idee, sich von angeblichen Ketten des Realismus zu befreien, scheint mir dem illusionären Traum des Drogenkonsumenten gleichzukommen, sich durch die Drogen von den Fesseln der eigenen Beschränktheit zu befreien. Die Arbeit des Politikhistorikers besteht nicht darin, die eigenen moralischen oder ästhetischen Ideale zum Ausdruck zu bringen: Diese Kreativität überlassen wir gerne den Künstlern, insbesondere wenn sie diese Bezeichnung wirklich verdienen. Die Arbeit des Historikers besteht darin, Paradigmen des politischen Handelns zu rekonstruieren, zu verstehen und die Faktoren zu bewerten, die zu dessen relativem Erfolg oder Misserfolg führten. 28 P. Pombeni, La ragione e la passione. Le forme della politica nell’Europa contemporanea, Bologna 2010; ders., The Problem of Political Parties in Western Liberalism 1868-1968, in: B. Jackson / M. Stears (Hrsg.), Liberalism as Ideology. Essays in Honour of Michael Freeden, Oxford 2012, S. 119-136. 29 R. Peters, „Nolite iudicare“. Hayden White between Benedetto Croce and Giovanni Gentile, in: Storia della storiografia, 58 (2010), S. 19.

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Von diesem Standpunkt aus betrachtet, stellt sich das Problem dem Geschichtswissenschaftler nicht in dem Sinne, wie es in einen „literarischen Kanon“ eingefügt werden könne, sondern es geht – wie eingangs erläutert – viel substantieller darum, ob es in dem traditionellen Modell der Zäsuren zwischen den historischen „Epochen“ zu einem Wandel derjenigen kulturellen Paradigmen gekommen ist, welche unserem Verständnis nach die „Moderne“ ausgemacht haben, und ob wir uns folglich – da es unpräzise ist, von „Gleichzeitigkeit“ („contemporaneità“) zu sprechen (man schreibt nicht die „Geschichte“ dessen, was definitionsgemäß noch in actu ist), und da wir über keinen angemessenen deskriptiven/kategorialen Terminus verfügen – in die banale Etikettierung des „das, was danach kommt“ flüchten (nichts anderes bedeutet schließlich „postmodern“). Vielleicht ließe sich in der Tat der beschriebene Weg wiederaufnehmen, ausgehend von den Aussagen Toynbees im Jahr 1947, gemäß denen das Jahr 1875 eine Zäsur dargestellt habe, denn nach seinem Urteil hatte das „nationale“ Paradigma als Träger staatlicher Phänomene an Bedeutung verloren, um sich zu einem internationalen, beziehungsweise – wie man im heutigen Sprachgebrauch bevorzugt sagt – trans-nationalen Paradigma zu entwickeln30. Ich mache darauf aufmerksam, dass man sich in der Diskussion über dieses Thema auf dünnem Eis bewegt: Viel, wenn nicht alles, hängt von der Auswahl des Forschungsgegenstandes ab, und dies bedeutet nicht, willkürlich einige Parameter festzulegen, sondern den Zielpunkt der Untersuchung, und folglich die Eingrenzung des Forschungsfeldes und die Wahl der Elemente, die sich auf der Grundlage einer präzisen, und logisch nachvollziehbaren Bewertung als entscheidend für die Durchführung der Forschung erweisen. Betrachten wir das Problem vor allem mit Blick auf die „westliche Hemisphäre“ (bei allem Bewusstsein um die Problematik dieses Begriffsgebrauchs31), so müssen wir uns fragen, worauf man sich bezieht, wenn man ein Ende der Phase der „Moderne“ definiert. Vom konzeptuellen Standpunkt aus betrachtet, sind die Parameter, welche die Sphäre der Politik bestimmen, essentiell dieselben geblieben, die in der Phase zwischen der Entstehung G. Budde / S. Conrad / O. Janz (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006. 31 S. Mezzadra (Hrsg.), Cantieri d’Occidente, Soveria Mannelli 2008. Die Frage würde sich auf sehr unterschiedliche Weise auf der Ebene der Globalgeschichte stellen. Jürgen Osterhammel, der verdienstvollste und solideste Autor auf diesem Feld (denn als Erforscher der Geschichte Chinas und des Fernen Orients hat er das notwendige Instrumentarium) hat viele Ansätze hinsichtlich neuer Periodisierungen auf der Ebene der Globalgeschichte dargelegt: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2008. Zur Frage der Globalgeschichte vgl. generell die Ausgabe von „History and Theory“ zum Thema „World History and its Critic“, 34 (1995), 2. 30

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und territorialen Konsolidierung der homogenisierenden Zentralstellung der politischen Regierung bestimmt wurden, bei gleichzeitigem Legitimitätsverlust der Autonomie der „Körper(schaften)“. Ebenso sind diese Parameter darauf gegründet, dass die Grundlage der Konsolidierung der politischen Regierung in einem System liegt, das auf dem Zusammenwirken von repräsentativer Partizipation der (als politisch in Bezug auf die „Regierungsentscheidungen“ anerkannten) Individuen und von Regulierung der Machtsphären in der Phase der Entscheidungsfällung als gegenseitige Konkurrenz und Kontrolle untereinander basiert. Selbstverständlich hat dieses Idealschema, das ich als „Paradigma“ definiert habe, viele unterschiedliche Ausprägungen und Varianten, sowohl in kultureller Hinsicht als auch mit Blick auf die zeitliche Phaseneinteilung. Wenn wir beispielsweise akzeptieren, diese Entwicklungen unter dem generellen Paradigma des westlichen Liberalismus zu subsummieren, so wird es nicht schwierig sein, sowohl die ideologischen Varianten als auch die zeitlichen Phasen zu erkennen, die sich in den verschiedenen historischen Gegebenheiten darbieten32, und doch ist es uns dadurch noch nicht möglich, zu sagen, dass es – weiterhin im „westlichen“ Kontext – politische Systeme gibt, welche sich substantiell von diesem Paradigma unterscheiden. Denken wir daran, dass sogar die faschistischen Systeme keine Negation dieser Paradigmen waren, sondern Versuche zu ihrer „wahren“ Realisierung: So haben sie nicht beansprucht, den Wert der Repräsentation zu negieren, sondern, eine wahrhaftigere Repräsentation als jene anzubieten, welche in der Ausübung des Wahlrechts bestand. Sie haben den Anspruch erhoben, eine Regulierung der Machtausübung durch die staatlichen Gremien anzubieten, die besser geeignet wäre, die Verwirklichung von „Gerechtigkeit“ und balance zu garantieren, die das höchste Ziel des westlichen Konstitutionalismus war33. Mit diesem Ansatz, ich betone es noch einmal, streite ich nicht ab, dass es Unterschiede, Entwicklungen und anderes gibt: Ich sage nur, dass die grundsätzlichen Koordinaten des westlichen politischen Systems jene der Moderne

32 Dazu: J. Leonhard, Europäisches Deutungswissen in komparativer Absicht. Zugänge, Methoden und Potentiale, in: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, 4 (2006), S. 341-363; ders., Historik der Ungleichzeitigkeit; ders., The Semantics of Liberalism in European Comparison, in: Redescriptions, 8 (2004), S. 17-51; P. Pombeni, Antiliberalism and the Liberal Legacy in Postwar European Constitutionalism: Considerations on Some Case Studies, in: European Journal of Political Theory, 7 (2008), S. 31-44. 33 P. Pombeni, Demagogia e tirannide. Uno studio sulla forma partito del fascismo, Bologna 1984; ders., Die besondere Form der Partei von Faschismus und Nationalsozialismus, in: K.D. Bracher / L. Valiani (Hrsg.), Faschismus und Nationalsozialismus (Schriften des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 1), Berlin 1991, S. 161-194; ders., La ragione e la passione, S. 411-470.

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bleiben. Sicherlich gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Phasen in der Entwicklung der Modernität, und sie sind weder banal noch irrelevant: zum Beispiel zwischen der Übermittlung politischer Botschaften durch das Zusammenrufen zur öffentlichen Volksversammlung auf einer noch als solche auszumachenden agorà (es heiße meeting, Kundgebung, Zusammenkunft, oder wie auch immer) und der Übermittlung von Nachrichten durch das Medium des Radios oder gar des Fernsehens, wobei das Volk nicht mehr zur Versammlung zusammengerufen wird, sondern in seiner Untergliederung in Teilhabende an einem Universum des normalen Lebens erreicht wird (zu Hause, in der Bar, und so weiter). Wir müssen uns allerdings fragen, ob diese Unterschiede in den Modalitäten der Übermittlung politischer Nachrichten ihre Beschaffenheit und Verortung im Paradigma fundamental verändern. Offen gesagt scheint mir dies nicht der Fall zu sein, denn die Nachricht hat dasselbe Ziel und dieselbe prinzipielle Legitimation: Der Politiker sieht es als Pflicht und Verpflichtung an, sich öffentlich vor einem Referenzpublikum zu erklären; dieses Publikum existiert als legitimierende Entität, insofern der Politiker es mit seiner Nachricht als solches dazu macht; wenn die Adressaten die Botschaft nicht wertschätzen, so ist sie ohne Wert, wenn auch nicht illegitim. Diese Dynamik ist Teil des Paradigmas „modern“, denn in dieser Ausprägung gibt es sie in der Antike und im Mittelalter nicht. Veränderungen gibt es, aber sie betreffen nicht die grundsätzlichen Koordinaten, in welche sie sich eingliedert. Dadurch wird nicht ausgeschlossen, dass es auch zu sehr bedeutsamen Entwicklungen kommt, beispielsweise im Verhältnis zwischen dem politischen leader und seiner Referenzgruppe, welches weniger auf die „Rede“ gegründet wird, sondern mehr auf die Mechanismen der psychologischen Identifikation mit dem Bild, das der leader von sich vermittelt34. Letztlich ist die Geschichte der Politik des 19. und 20. Jahrhunderts, mit der wir uns beschäftigen, noch weithin ungeschrieben, was die Kategorien der „modernen Welt“ betrifft, die sich seit dem Humanismus bis zu den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt haben, die aber gewissen tragenden Säulen stark verbunden bleiben, wie etwa der Primat des individuellen Bewusstseins über jenes, das von der Zugehörigkeit zu einem „Status“ geschaffen wird, das seltsame Überleben der Idee von einer Macht, die legibus solutus sei (also ohne Grenzen, außer denen, die sich der Machthaber selber auferlegt), aber einer Legitimierung durch die „Öffentlichkeit“ bedarf (damit ist ein komplexer Sachverhalt gemeint, der sich von dem banalen „Konsens“ unterscheidet), die Trennung der Sphäre der Religion

34 Dies zum Beispiel die These von J.E. Green, The Eyes of the People. Democracy in an Age of Spectatorship, Oxford 2011. Zur Entwicklung des politischen Denkens im 20. Jahrhundert vgl. auch J.W. Müller, Contesting Democracy. Political Ideas in 20th Century Europe, New Haven CT / London 2011.

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und der profanen Rationalität, die „Entpersonalisierung“ der Bezugsperson der politischen Verpflichtung35. Vielleicht tragen wir zu einer Entwicklung bei, im Zuge derer gerade seit der Krise in der Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts diese Eckpfeiler des Paradigmas der modernen Politik infrage gestellt werden. Vielleicht deshalb, weil die Beharrlichkeit des Systems, an das wir gewöhnt sind, noch sehr stark ist, aber wir merken die Symptome eines fortschreitenden Übergangs, der langsam die Knoten löst, welche das Netz unserer Sinnstiftungssysteme zusammenhielten. Wenn wir nun die fünf Parameter bedenken, die Koselleck festgelegt hat, um eine „Sattelzeit“ zu definieren (im vorliegenden Fall 1750 bis 1850)36, so liegt es nahe, zu überlegen, was grob gesagt in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts geschieht. Das erste der fünf Anzeichen ist der demographische Wandel, und es ist leicht auszumachen, dass am Beginn jener Jahre eine immer stärkere Migration nach Europa aus der so genannten „Dritten Welt“ beginnt, einem Erdteil, der in den letzten drei Jahrhunderten eine lediglich begrenzte interne Migrationen erfahren hat. Der zweite Punkt betrifft den sozialen Wandel: Koselleck behandelte in seinen Studien die Transformation von der Schichtengesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft; nun handelt es sich um eine komplexe Neudefinition der Klassen, um einen konfliktbeladenen Übergang von einer affluent society, in dem es Phasen der Beschleunigung und des Abebbens der sozialen Stratifizierung gegeben hatte, hin zu einer neuen Gesellschaft, die postindustrial genannt wurde und in der die Abstände zwischen den Extremen auf der sozialen Skala sich aufs Neue stark, und teilweise dramatisch ausweiten. Das dritte Element stellte die kommunikative Revolution dar: Damals ging es um die Einführung der Eisenbahn und der Dampfschiffe, nun um den low-cost Flugverkehr und – gewissermaßen parallel – um die „virtuelle Navigation“ durch das Internet. Der vierte Punkt, den Koselleck nannte, betraf den Beginn der Industrialisierung. Hier ist die Parallele (vielleicht) weniger evident, doch, ohne zu sehr auf dem Niedergang des Primats der Industrie und der Entwicklung der virtuellen Ökonomie des so genannten „Informationssektors“ und der Dienstleistungen zu insistieren, können wir doch die Neuausrichtung der Zentren der ökonomischen Entwicklung auf globaler Ebene anführen. Schließlich erinnerte Koselleck als fünften Punkt an die Schaffung von neuen Formen der Kultur und des Konsums.

35 Zu dieser Entwicklung erlaube ich mir auf folgende Publikation zu verweisen: P. Pombeni, Dallo spazio dell’opinione allo spazio della rappresentazione. Riflessioni sulla „sfera pubblica“ nel XIX e XX secolo, in: M. Rospocher (Hrsg.), Oltre la sfera pubblica, Bologna 2013. 36 Vgl. R. Koselleck, Einleitung, in: O. Brunner / W. Conze / R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1979, S. XV.

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Hier ist die Parallele sehr viel deutlicher: Die durch die Globalisierung ihrer Produktion entstandene Massenkultur und die Ausmaße des Konsums, der zu einem substantiellen Charakteristikum der Identitätsbildung des „zivilisierten Menschen“37 geworden ist, zeigen eine Entwicklung an, die zugleich eine Transformation bedeutet. Wollen wir den Versuch unternehmen, die Hervorhebung dieses Phänomens, also des Umstandes, dass seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts einige tragende Säulen des Paradigmas der Moderne in Frage gestellt wurden, in eine Gesamtinterpretation einzubetten, so müssen wir mit einer gewissen Bestimmtheit die Bedeutung der Periodisierung überdenken, ein Weg, den wir unter Bezug auf verschiedene Autoren beschritten haben. Beginnen wir mit der Tatsache, dass nun langsam Analysen vorgelegt werden, welche in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen entscheidenden Umbruch sehen. Auf allgemeinerer Ebene hat Niall Ferguson anregende Gedanken dazu formuliert und dabei eine Kette von Ereignissen als Indikatoren des Wandels ausgemacht38. Das Problem, welches ich mir vorlege, besteht darin, dass – wenn wir die 70er Jahre als eine Übergangsphase betrachten wollen – wir notwendig fragen müssen, welcher Weg in diese Phase geführt hat: Dies ist auch daher notwendig, um zu verstehen, ob von jenem Moment an eine neue Epoche der Geschichte beginnt oder nicht. Meine Forschungsthese, die ich gemeinsam mit einer Equipe am Italienisch-deutschen Historischen Institut in Trient bearbeite, lautet, dass in den 70er Jahren in gewissem Ausmaß die lange historische Epoche der Moderne ihren Abschluss fand, die am Ende des 15. Jahrhunderts ihren Ausgangspunkt hatte39, eine Epoche, die durch zumindest drei „Sattelzeiten“ gekennzeichnet 37 Vgl. F. Trentmann, Beyond Consumerism: New Historical Perspectives on Consumption, in: Journal of Contemporary History, 39 (2004), S. 373-401. 38 N. Ferguson, Crisis, what Crisis? The 1970s and the Shock of the Global, in: N. Ferguson / C.S. Maier / E. Manela / D.J. Sargent (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge MA 2010, S. 1-21. Fergsson nennt am Ende folgende Indikatoren des Wandels, die fast alle technisch (oder höchstens wissenschaftlich) sind, aber eine Bedeutung hinsichtlich des Wandels von interpretativen Paradigmen bezüglich der öffentlichen Präsenz der Menschen hatten: 1970, der Barcode; 1971, Mikroprozessor, Floppydisk, TAC und gamma-electric cells; 1972, die E-mail; 1973, der Katalysator; 1974, der Taschenrechner; 1975, der erste Heimcomputer; 1976, Btemax und VHS-Kassetten; 1977, die Magnetresonanz; 1978, künstliche Befruchtung und Ultraschall; 1979, der Walkman von Sony (S. 20-21). Natürlich nennt Fergusson auch viele andere Faktoren des Wandels, sowohl kulturelle als auch politische. Charles S. Maier beschäftigt sich hingegen mit den Transformationen des kapitalistischen Systems („Malaise“. The Crisis of Capitalism in the 1970s, ebd., S. 25-48). 39 Zum Problem der Facetten der „Modernität“, bzw. der „Modernitäten“, vgl. den klassischen Aufsatz von S.N. Eisenstadt / W. Schluchter, Paths to Early Modernities. A Comparative View, in: Dedalus, 127 (1998), S. 1-18.

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ist: das Zeitalter der (protestantischen und katholischen) Reformation, der Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, und die Phase ungefähr von 1943 bis 197340. Hier behandele ich die Problematik, welche sich für den Zeitraum zwischen 1943 und 1973 stellt, mithin einen Zeitraum, der unpassend für eine „Übergangszeit“ erscheinen könnte. Ich erkläre zunächst die Symbolik der zwei von mir gewählten Daten. 1943 ist das Jahr, in dem der „Beveridge Report“ erstmals als „Manifest“ in Umlauf gebracht wird, um aufzuzeigen, wie man nach Beendigung des Weltkrieges zu einem neuen Staat der „Wohlfahrt“ gelangen könne41. Von jenem Moment an stellt er den „Bezugsrahmen“ dar, in den sowohl die Formen der Politik als auch des Systems der Bürgerrechte inseriert werden sollen, und somit letztlich die Art und Weise, wie Menschen sich selbst als handelnde Individuen in einem öffentlichen Raum verstehen sollen (allerdings hat dies, wie es offensichtlich ist, auch Auswirkungen auf die Sphäre des Privaten). 1973 ist das Jahr der ersten großen Ölkrise, als der Westen ganz emblematisch die Grenzen der enormen Verfügbarkeit an umverteilbaren Gütern erfahren muss42, und gleichzeitig jene seiner Fähigkeit, auf internationaler Ebene unangefochten die „Gesetze zu diktieren“. Von diesen dreißig Jahren als „Ende der Moderne“ zu sprechen, wäre meines Erachtens falsch. Unter vielen Gesichtspunkten waren dies wahrhaft die „ruhmreichen dreißig Jahre“, von denen die französische Historiographie spricht43. Sie könnten als Konsolidierung der Ideen und Perspektiven erscheinen, welche die Revolutionen des 19. Jahrhunderts (jene konstitutionell-liberale und jene kapitalistische) geschaffen hatten und die durch das Aufkommen des Faschismus in Frage gestellt worden waren. Jedoch wurden gerade in jenen dreißig Jahren die Basisideen und -institutionen, die als Gewinner der großen Auseinandersetzung des Zweiten Weltkrieges erschienen, langsam in Frage gestellt, sie gerieten gewissermaßen in die Krise. Man sprach fortwährend vom Vorrang des Individuums, der Bürgerrechte, des auf checks and balances 40 Zu einer Vorstellung dieses Forschungsprojekts im Detail vgl. P. Pombeni, La transizione come problema storiografico. Una ricerca sulle fasi di sviluppo critico della „modernità“, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento, 36-37 (2010-2011), S. 87-131. 41 Die Studienkommission, deren Vorsitz William Beveridge innehatte, wurde am 10. Juni 1942 eingesetzt, doch erst mit Beginn des folgenden Jahres kam ein rasantes Interesse an dem Kommissionsbericht und seiner Perspektive auf. 42 Jener Faktor hatte John Kenneth Galbraith im Jahr 1958 zu seiner These von der affluent society veranlasst. 43 Bekanntermaßen wurde der Begriff von dem Ökonomen Jean Fourastié erfunden, der ihn prägte, indem er die bekannte Definition der drei Tage der Pariser Revolution von 1830 (27., 28. und 29. Juli) als „Trois Glorieuses“ modifizierte; vgl. J. Fourastié, Les Trente Glorieuses, ou la revolution invisible de 1946 à 1975, Paris 1979.

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gegründeten konstitutionellen Systems, von Legitimation durch die partizipative Repräsentation, von (mehr oder weniger sozialer) Marktwirtschaft, und so weiter, aber nicht nur diese Konzepte wurden ausgebreitet und teilweise überarbeitet oder gar verwässert, man veränderte sie teils sogar tiefgreifend44. Dieser Prozess gehört dem Phänomen an, welches Quentin Skinner als Wiederaufnahme einer Tradition beschreibt, welche er bis auf Max Weber zurückreichen lässt: „It is characterized by the belief that our concepts not only alter over time, but are incapable of providing us with anything more than a series of changing perspectives on the world in which we live and have our being. Our concepts form part of what we bring to the world in our efforts to understand it. The shifting conceptualizations to which this process gives rise constitute the very stuff of ideological debate, so that it makes no more sense to regret than to deny that such conceptual changes continually take place“45.

Der daraus zu ziehende Schluss lautet: „The more we succeed in persuading people that a given evaluative term applies in circumstances in which they may never have thought of applying it, the more broadly and inclusively we shall persuade them to employ the term in the appraisal of social and political life. The change that will eventually result is that the underlying concept will come to acquire a new prominence and a new salience in the moral arguments of the society concerned“46.

Was ist im Zuge der in den „glorreichen dreißig Jahren“ verwirklichten Transformationen mit den Begriffen geschehen, die von der konsolidierten Modernität abgeleitet waren, angesichts von Wandlungsprozessen, die teilweise komplex und dramatisch waren? Hier soll nur andeutungsweise an die Veränderungen in der Interpretation des Verhältnisses Kirche/moderne Welt erinnert werden, welche die katholische Kirche betroffen haben, von der Perspektive des Papstes Pius XII., über das spezifisch konziliare Dokument „Gaudium et Spes“47, bis hin zum Wirken des Papstes Johannes Paul II. Es handelt sich mithin um ein bedeutendes Beispiel eines komplexen Verhältnisses, begleitet von Formen der Realitätsdeutung, welche von einem sympathetischen Ansatz zu einer Ideologie der Entwicklung und des Fortschritts getragen waren und

44 Hier müsste beispielsweise intensiv die Frage nach der Transformation der Subjektivität des Individuums/der Persönlichkeit erforscht werden, der eine „generelle“ Unterscheidung zugeordnet wurde, die sich objektiv von jener aufklärerischen Idee unterschied, deren Ursprung der Begriff war. 45 Q. Skinner, Rethoric and Conceptual Change, in: Redescriptions, 3 (1999), S. 60-72, hier S. 62. 46 Ebd., S. 71. 47 Zu deren Entstehung siehe G. Turbanti, Un concilio per il mondo moderno, Bologna 2000.

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zu einer immer angstvolleren Erwartung der Ergebnisse tendierten, welche diese zeitigen würden. In den dreißig Jahren zwischen 1943 und 1973 endet etwas, das ich als eine dissolutive Stabilisierung verstehe: die Konsolidierung der Begriffe und der sozio-politischen Formen der Moderne erfolgt ohne weitere reale interne Herausforderungen, denn es gibt keine intellektuellen Kräfte oder Experimente, die wirklich imstande wären, sich als „glaubhafte“ Alternativen anzubieten. Die Konsolidierung stärkt sie jedoch nicht, sondern schwächt sie am Ende derart, dass sie als „krisenhaft“ erscheinen, ohne dass (zumindest bis heute) erkennbar würde, dass wirkliche Alternativen entstehen. Wie ist dieses Phänomen also zu interpretieren? Da ich viele Anregungen und Anknüpfungspunkte aus den Überlegungen zur Periodisierung entnommen habe, werde ich diesen Weg weiter beschreiten. Ein norwegischer Wissenschaftler, Helge Jordheim, der sich in vielen Beiträgen mit dem Problem der Periodisierung beschäftigt hat, schlug vor, die Konzepte „Chronos“ und „Kairos“ zu reflektieren48. Ausgehend von Pococks Definition des „Moments“ als jener Phase, in der „temporal consciousness“ und „conceptualized time“ gleichzeitig existieren, schlägt Jordheim einen Vergleich zwischen Koselleck, als Autor, der „Chronos“, also die lange Zeit der „Periode“ bevorzugt, und Skinner vor, der hingegen „Kairos“ bevorzugt, das, was er als „epiphanischen Moment“ bezeichnet und ihn wie folgt beschreibt: „As opposite to the slow, long term temporality of Chronos, Kairos refers to a particolar and exceptional moment, a rupture or a turning point, either in the sense of the right or the favourable moment to speak or to act, or with reference to a particularly decisive, faithful or dangerous situation”49.

Im Zuge seiner Analyse erkennt Jordheim, der den Begriff „Kairos“ von Paul Tillich übernommen hat (ohne die Erwähnung dieses Begriffs bei Walter Benjamin als „Jetztzeit“ zu vergessen), an, dass das Konzept der “historischen Zeit” bei Koselleck weniger weit entfernt von dem Gegenstand ist, auf den sich die Interpretation und das Interesse Skinners richten, insofern der deutsche Historiker „explores a heterogenous, multilayered and paradoxical temporality, at work in specific historical and rethorical situations“50. Jordheim erkennt die Bedeutung dessen an, was Koselleck als „Zeitschichten“ definiert. Auf dieser Grundlage benennt er zwei konstituierende Elemente dessen, was ich als einen ausgedehnten, nicht mehr nur auf einen einzelnen Moment konzentrierten „Kairos“ definieren würde: die „Überraschung“ und den „Konflikt“, sodass 48 H. Jordheim, Conceptual History between ‚Chronos‘ and ‚Kairos‘. The Case of „Empire“, in: Redescriptions, 11 (2007), S. 113-145. 49 Ebd., S. 127. 50 Ebd., S. 136.

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„the real kairos situation, the real historical moment never contains just one single actor [Handlungsträger] and one single unity of action [Handlungseinheit], but a whole scope of temporal differences, interruptions or tensions pointing towards a new structure of reality“51.

Können wir also die dreißig Jahre von 1943 bis 1973 als Nebeneinander eines „Chronos“ der Moderne, die sich stabilisiert und in den Niedergang gerät (gewissermaßen ein „Herbst der Moderne“, um auf Huizingas berühmte Theorie des „Herbst des Mittelalters“ aus dem Jahr 1919 anzuspielen), und eines Kairos definieren, der sich emergenzhaft zeigt, in aufeinander folgenden Wellen von Unbehagen, von „epiphanischen Momenten“ hinsichtlich der Einhaltung jener kultureller Parameter, die fünf Jahrhunderte lang jenes „axial age“ geformt haben52? Dies ist eine Forschungsthese, die belegt werden muss, die mir aber plausibel erscheint. Klar ist, dass im Falle einer Verifizierung die darauffolgende Epoche mit einer Adjektivierung definiert werden müsste. Bin ich also am Ende, nachdem ich all meine Vorbehalte gegen den Terminus „postmodern“ bekundet habe, gezwungen, vor der Idee zu kapitulieren, dass es besser sei, den Begriff beizubehalten, um den gegenwärtigen Übergang zu beschreiben? Das Problem besteht darin, dass das, was gegenwärtig „geschieht“, nicht der Gegenstand des Historikers ist, auch wenn es gerade seine Herausforderung ist, die Vergangenheit zu studieren, um daraus Interpretationskriterien zu gewinnen, die nützlich für die Gestaltung der Gegenwart sein können. Dies ist natürlich eine gute Aufgabe für uns, wenn wir uns nicht anmaßen, jene Antworten in der Vergangenheit vorgefertigt zu finden, die wir für unsere Gegenwart benötigen, denn das können wir nicht. Mit unseren Idealtypen können wir, wenn wir gut arbeiten, manches nützliche Instrument zur Bewertung definieren, doch diese Instrumente zu benutzen, um zu bewerten, was gerade geschieht, ist eine Aufgabe, die nicht den Historikern zukommt und die in jedem Fall im Wissen um die Ambiguität unserer Erkentniswerkzeuge zu bewältigen ist. Erst wenn die neue epochale Phase sich einigermaßen stabilisiert haben wird, erst wenn sie für uns lesbarer wird, als sie es heute ist, können wir versuchen, sie zu definieren.

Ebd., S. 139. Zum Konzept „axial age“, vgl. P. Pombeni, La transizione come problema storiografico. 51 52

Die Moderne in vielen Formen* Von Paolo Jedlowski

I. Einleitung 1979 veröffentlichte Jean-François Lyotard seine Schrift „Das postmoderne Wissen“ („La condition postmoderne“). Obwohl der Terminus „postmodern“ auf anderen Gebieten schon gebräuchlich war, konnte er erst von diesem Zeitpunkt an einen gewissen Erfolg in den Sozialwissenschaften1 verzeichnen. Die Bedeutung des Begriffs ist alles andere als eindeutig. Er besitzt eine vor allem kritische oder negative Bedeutung, die die Wahrnehmung der Unangemessenheit der Kategorien ausdrückt, mit denen wir bis heute die soziale Welt beschrieben haben, das Gefühl, an die Grenzen dessen zu stoßen, was wir mit dem Instrumentarium der bislang zur Verfügung stehenden Begriffe verstehen können. Die Neuerungen der Gegenwart scheinen jedoch nicht auf eine einzige große Unterbrechung, auf eine scharf umrissene Zäsur, zurückzuführen zu sein. Die meisten Wissenschaftler sind daher nicht der Ansicht, dass dieses Rüstzeug von Begriffen, das zur Analyse der Moderne verwendet wurde, nutzlos geworden wäre. Wie Alberto Melucci, einer der gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts einflussreichsten italienischen Soziologen, schrieb, ist der Rückgriff auf den Begriff der Postmoderne vor allem als „Symptom“ zu werten und weniger als ein substantieller Beitrag zur Kenntnis zeitgenössischer Phänomene2. Das bedeutet nicht, dass die vom postmodernen Denken präsentierten Errungenschaften und Herausforderungen abgelehnt werden. Es geht vielmehr darum, die Inhalte dieses Denkens zu unterscheiden von der Behauptung, * Aus dem Italienischen von Hedwig Rosenmöller. Die in diesem Text vorgelegten Argumentationen wurden teilweise ausgearbeitet in: P. Jedlowski, Modernità multiple: quale molteplicità?, in: C. Corradi / D. Pacelli (Hrsg.), Dalla modernità alle modernità multiple, Soveria Mannelli 2011, S. 95-108, sowie ders., In un passaggio d’epoca. Esercizi di teoria sociale, 2013 Neapel. 1 C. Leccardi (Hrsg.), Limiti della modernità. Trasformazioni del mondo e della conoscenza, Rom 1999. 2 A. Melucci (Hrsg.), Fine della modernità?, Mailand 1998, S. 15.

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die derzeitige Phase der Weltgeschichte sei eine „Postmoderne“. Obwohl diese Behauptung nicht überzeugend ist, sind die Inhalte des postmodernen Denkens nicht zu unterschätzen: Sie gehören zu der kulturellen Konstellation, in der wir denken3. Es ist richtig, dass es schwierig ist, diese Inhalte einzugrenzen, aber sie entsprechen im Wesentlichen der Anerkennung des diskursiven Charakters der Praktiken der Beschreibung, des Verständnisses und der Erklärung der Wirklichkeit. Diese Anerkennung ist nützlich, um unsere Kategorien nicht zum Fetisch zu machen. Es stimmt, dass sie zu naiven und ideologischen Zwecken verwendet werden können. Wenn sich aber jemand dieser Tendenz entgegenstellt, indem er die Fetischisierung kritisiert und die Notwendigkeit eines „neuen Realismus“ heraufbeschwört4, so kann man ihm antworten, dass diese Anerkennung nicht logischerweise zur Niederlegung jeglichen Wissensanspruchs führt, sondern vielmehr zur Akzeptanz der Unumgänglichkeit der sprachlichen Vermittlung im Erkennen selbst5. Wenn wir von der Welt sprechen, schaffen wir uns bestimmte Vorstellungen von ihr; diese Vorstellungen reduzieren die Komplexität und die Vielgestaltigkeit des Lebens, sodass jeder neue Erkenntnisprozess im Grunde nichts anderes ist, als eine Kritik an den jeweils konsolidierten Vorstellungen in dem ständig wiederkehrenden Versuch, die Kluft zwischen den Worten und den Dingen neu zu verarbeiten. Im Rahmen der Versuche, die Abbildungen, über die wir verfügen, zu überarbeiten, gibt es zumindest in der Soziologie einen Begriff, der in letzter Zeit eine wachsende Bedeutung erlangt zu haben scheint: die „multiplen Modernen“. Ich denke, dass es sinnvoll ist, diesen Begriff erneut aufzugreifen: Einerseits ermöglicht er es, gewisse allzu einseitige Auffassungen von der Moderne zu kritisieren (auf die die Idee des „Postmodernen“ in der Tat reagiert), andererseits hält er davon ab, sich vorschnell der Idee zuzuwenden, dass wir uns in einer „Postmoderne“ mit diffusen Merkmalen befinden. II. Von der Moderne zur Modernisierung Der Begriff der multiplen Modernen wurde den Sozialwissenschaften insbesondere von Shmuel N. Eisenstadt präsentiert. Vor der Erörterung des 3 F. Jameson, Postmodernism, or the Cultural Logic of Late Capitalism, Durham NC 1991. 4 Vgl. unlängst und beispielhaft M. Ferraris, Manifesto del nuovo realismo, Rom / Bari 2012. 5 F. Rigotti (Hrsg.), New Realism. Molto rumore per nulla, in: Paradoxa, 6 (2012), 3.

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Begriffs sollte jedoch Einigkeit darüber herrschen, dass eine gewisse Vielgestaltigkeit in der Moderne von Beginn an vorhanden ist. „Alles, was fest ist, löst sich in Luft auf“: Auf diesen Satz kürzte Marshall Berman6 vor einigen Jahren im Titel eines sehr berühmten Buches die Erfahrung der Moderne. Der Satz ist die Übersetzung eines Satzes von Marx und Engels („Alles Ständische und Stehende verdampft“), und er erfasst das augenfälligste Element der Moderne: den Wandel. Nicht den unvorhersehbaren oder zufälligen Wandel, sondern den Wandel als Gesetz des Werdens, als Regel, als System von Erwartungen. Da sie sich unaufhörlich verändert, ist die Moderne per Definition vielgestaltig. Marx und Engels benutzten tatsächlich gar nicht den Begriff der „Moderne“, der erst Ende des 19. Jahrhunderts Verbreitung fand. Dieses Wort drückte das Selbstbewusstsein einer Welt aus: vor allem der Welt der großen Metropolen Europas auf der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert. Eine Welt, die sich als ein Zeitalter verstand: das Zeitalter des Neuen, oder besser des immer Neuen, ein Zeitalter, dessen Wesen in der Infragestellung jedes erreichten Resultats liegt und in dem der Wandel an sich einen Wert und eine Bedeutung hat (die im Allgemeinen mit dem „Fortschritt“ identifiziert werden). Übertragen auf das Gebiet der Sozialwissenschaften hat der Begriff mehr oder minder festgelegte und von Autor zu Autor wechselnde Bedeutungen erfahren. Auf jeden Fall sah keiner der Klassiker der Soziologie (ich denke an Durkheim, an Weber und vor allem an Simmel) die Moderne als einen Monolithen. Sie sahen sie als eine Konstellation von Prozessen und als Produkt einer Vielzahl von Faktoren; sie sahen sie also als ein Gefüge von eng zusammenhängenden, aber in gewisser Weise auch autonomen und zuweilen widersprüchlichen Tendenzen. Zudem erfassten sie die Ambivalenz der Moderne: Wenn durch sie etwas hinzugewonnen wird, geht etwas anderes verloren oder es entsteht auch etwas nicht Erstrebenswertes. Die Ambivalenz bedeutet eine Renitenz gegenüber der Klassifizierung: Was man beschreiben und in ein bestimmtes Raster einsortieren will, springt aus dem Raster heraus und ermöglicht oder stimuliert sogar andere Interpretationen. Es stimmt, wie Bauman7 bemerkte, dass die Moderne in gewisser Hinsicht ein Projekt war, das gerade darauf ausgerichtet war, die Ambivalenz in die Flucht zu schlagen: Phänomene, Menschen und Dinge zu klassifizieren, zu kontrollieren und einzuordnen. Aber den Klassikern der Soziologie ist, wie mir scheint, nicht nur der notwendigerweise illusorische Charakter eines derartigen Projekts niemals entgangen, sondern ebenso wenig, dass die Moderne an sich in den Prozessen, die ihr Wesen ausmachen, ambivalent 6 7

M. Berman, All That is Solid Melts into the Air, New York 1982. Z. Bauman, Modernity and Ambivalence, Ithaca NY 1991.

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ist: Was man in einer Perspektive erfasst, entpuppt sich in einer anderen als ganz anders, eröffnet Aspekte, Verbindungen und Wirkungen, die sich beim ersten Hinsehen nicht zeigen. Die Moderne ist ein stets unvollendetes Gesamtgefüge. Die in ihr vorhandenen Gegentendenzen sind oft verbunden mit dem Versuch, ihre weniger wünschenswerten Aspekte zu entfernen oder zu kompensieren; oder sie sind gerade von den Diagnosen inspiriert, die das damit verknüpfte Unbehagen betreffen. Die Moderne hat also seit ihren Anfängen und in mehr als einem Sinn etwas Vielgestaltiges an sich: Weil sie sich unaufhörlich wandelt, weil sie heterogen ist, weil sie ambivalent ist und weil sie widersprüchlich ist. Die Transformation der Moderne in ein Gefüge homogener und unweigerlich wünschenswerter Grundzüge geht zurück auf die nordamerikanische Soziologie der Mitte des 20. Jahrhunderts, besonders auf die durch die funktionalistischen Theorien von Talcott Parsons inspirierte Soziologie. Diese Tendenz radikalisierte sich mit dem Aufkommen der sogenannten „Modernisierungstheorien“ der Wissenschaftler, die sich in den 1950er und 1960er Jahren mit den „Entwicklungsländern“ befassten. Hier verschiebt sich der Akzent von der Erforschung dessen, was „Moderne“ bedeutet – was als allgemein bekannt gilt -, auf die Beschreibung des Weges, der die einzelnen Länder und ihre Einwohner modernisieren kann. Der Hintergrund der Modernisierungstheorien war ganz und gar politisch. Er bestand in den sich damals in Afrika und Asien vollziehenden Prozessen des Erlangens der Unabhängigkeit und der Dekolonisation, wobei gleichzeitig die USA und die UdSSR konkurrierten, um die neuen Länder in den eigenen Orbit hineinzuziehen. Nicht dass diese Theorien und die damit verbundenen Forschungen nicht wichtige Anregungen gegeben hätten: Aber im Verhältnis zu den Klassikern kehrten sie sich ab von den Aspekten des Begriffs der Moderne, die die Ambivalenz und die Widersprüchlichkeit betreffen. Die Modernisierung wurde zu einem vorgegebenen Ablauf und die Moderne zu einem normativen Modell. Es handelte sich um Untersuchungen, die auf einem Modell der graduellen und konvergierenden Entwicklung basierten, das in dem Vertrauen auf die universalen Merkmale des Fortschritts westlicher Prägung gründete. Die Moderne wurde aufgefasst als eine zusammenhängende Mischung von eng miteinander verbundenen Elementen, von denen man dachte, sie seien in den „traditionellen“ Gesellschaften nicht vorhanden: Industrialisierung, Markt, Rationalisierung, funktionale Differenzierung, Urbanisierung, Demokratisierung des politischen Lebens, Säkularisierung und Interesse der Individuen an der Selbstverwirklichung8. 8

A. Martinelli, La modernizzazione, Rom / Bari 1998.

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Diese Theorien stießen bald an ihre Grenzen: Die Eingliederung der nicht westlichen Gesellschaften in die allumfassende Kategorie des Traditionalismus ist ein Hindernis für die Anerkennung ihrer Unterschiede; die Konvergenz und die Geradlinigkeit der Modernisierungsprozesse sind mehr ein Postulat als ein Untersuchungsergebnis. Die durch diese Theorien skizzierte Moderne war die Projektion einiger lokaler Erfahrungen, denen eine allgemeine Gültigkeit zugeschrieben wurde, die aber in Wahrheit nicht einmal die in den Modernisierungsprozessen im Westen selbst vorhandenen Unterschiede berücksichtigten. Auch als Reaktion auf diese Theorien betonte in Europa Alexander Gerschenkron9 bereits in den 1960er Jahren, dass der historische Moment, in dem diese Prozesse in den verschiedenen Ländern begannen, beträchtliche Unterschiede hervorbrachte; und Reinhard Bendix10 betonte die Bedeutung der politisch-institutionellen Faktoren und der unterschiedlichen Arten, in denen die Klassenkonflikte angegangen wurden. Die Moderne ist seit jeher längst nicht so homogen wie es die Modernisierungstheorien funktionalistischer Prägung darlegen. Sie kann sich auf selektive Art entwickeln: So kann sie sich in den Bereichen der Kommunikationsmittel oder des Konsums durchsetzen und die Produktionsstrukturen nicht betreffen; die Militärapparate betreffen, aber nicht die politischen Institutionen; desillusionieren, ohne zu rationalisieren, usw. Insbesondere ist der Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Modernisierung und der Demokratisierung des politischen Lebens alles andere als selbstverständlich: Eine gewisse wirtschaftliche und technische Modernisierung geht oft einher mit autoritären Regimen.

III. Die Idee der multiplen Modernen Das postmoderne Denken entstand nicht ausdrücklich als Reaktion auf die von den nordamerikanischen Modernisierungstheorien intendierte Idee der Moderne: Aufgrund der Rigidität dieser Idee der Moderne ist es jedoch verständlich, dass Vielen der Begriff der Postmoderne, als er vorgebracht wurde, als befreiend erschien. Die Idee des Postmodernen ist jedoch nicht die einzige, auf die man sich beziehen sollte, um auf die Grenzen der Modernisierungstheorien zu reagieren. Zu den Ansätzen, die aus der Kritik an diesen Theorien hervorgingen, muss auch die Theorie der multiplen Modernen von 9

A. Gerschenkron, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge

1962. 10 R. Bendix, Nation-Building and Citizenship. Studies of Our Changing. Social Order, New York 1964.

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Shmuel N. Eisenstadt gezählt werden. Diese Theorie geht explizit von der Kritik an den Modernisierungstheorien und ihrer gemeinsamen Voraussetzung aus: der Idee der Modernisierung als einlinigem Weg. Maßgeblich ist die Idee, dass unterschiedliche Gesellschaften die Grundzüge der Moderne auf zumindest teilweise unterschiedliche Art verarbeiten, in Abhängigkeit von den Merkmalen der eigenen Ursprungsgesellschaft11. Im Gedankengang Eisenstadts ist die Moderne aber pluralistisch im Sinne wenigstens zweier unterschiedlicher Bedeutungen, die gesondert in Erinnerung gerufen werden müssen. Die erste Bedeutung betrifft die Moderne im Westen. Die Bedeutungsvoraussetzungen der westlichen Zivilisation in ihrer Gesamtheit wurzeln nach Eisenstadt in der jüdisch-christlichen, religiösen Tradition und daher in einer auf die Frage der Erlösung ausgerichteten Weltsicht. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert erfuhren diese Voraussetzungen jedoch eine radikale Erneuerung, durch die sich der Schauplatz der Erlösung von der transzendentalen Welt zur immanenten Welt verschob. Die Keimzellen dieser Erneuerung waren der Humanismus und der Protestantismus, aber die Aufklärung war der Schoß, in dem sie heranreifte. Hier fand die durch den Humanismus und den Protestantismus bewirkte kulturelle Revolution ihre Erfüllung in der Idee des Fortschritts: Die Weltordnung ist nicht unveränderbar und gewiss, sie bietet sich dem gestaltenden Wirken der Menschheit an; das Handeln der Individuen findet in der Geschichte seine Richtung und seinen Sinn. Nach Eisenstadt erscheint die westliche Moderne in dieser Perspektive als ein „Programm“. Dieses Programm hat sich völlig verweltlicht und artikuliert sich in Richtung einer immer rationaleren und effizienteren Kontrolle über die Naturkräfte, einer zunehmenden Emanzipation des Individuums von dem, was seine Autonomie hemmt, und der Durchsetzung des Prinzips des gleichen Rechts für alle, an der Durchführung dieses Projekts teilzuhaben. Dennoch, und hier liegt der springende Punkt, enthält dieses Programm in sich widersprüchliche Impulse. Insbesondere gibt es Spannungen zwischen dem Akzent auf der Freiheit, der Autonomie und dem Recht auf Selbstverwirklichung der Individuen einerseits und den Erfordernissen der Steuerung und Koordinierung der Gesellschaft andererseits; vor allem jedoch zwischen dem Antrieb zur allgemeinen Mobilisierung und den Tendenzen der Zentren, sich abzuschotten und die Peripherien zu kontrollieren. Diese Spannungen sind die treibende Kraft hinter den Transformationen, denen 11 S.N. Eisenstadt, Development, Modernization and the Dynamics of Civilizations, in: Cultures et Developpement, 15 (1983), 4, S. 217-252; ders., Introduction. Historical Traditions, Modernization and Development, in: ders. (Hrsg.), Patterns of Modernity, New York 1987, S. 5-11.

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die moderne westliche Zivilisation permanent ausgesetzt ist. Sie brachten unterschiedliche und wiederkehrende Heterodoxien hervor (und tun es noch), das heißt Alternativen zu den nach und nach konsolidierten Interpretationen des Programms der Moderne. Die Moderne ist also pluralistisch, weil sie vorangetrieben wird durch soziale Gruppen, die sie auf unterschiedliche Weise interpretieren und die zueinander in Konkurrenz stehen. Wie Eisenstadt schreibt: „To say this is to emphasize that practically from the beginning of modernity’s expansion multiple modernities developed“12. Die Schwierigkeit, die allen Varianten gemeinsam ist, besteht darin, in Abwesenheit nicht hinterfragbarer Bezugsgrößen die Welt zu ordnen. Die meisten dieser Varianten werden vorangetrieben durch die Überzeugung, dass die Menschen in Richtung eines metaphorischen „Paradieses auf Erden“ agieren können. In jeder anderen Hinsicht divergieren die Varianten. Nicht alle hängen mit dem Kapitalismus zusammen, nicht einmal mit der freiheitlichen Demokratie: Der Kommunismus stellt sich ihm und ihr selbstverständlich entgegen, verlässt aber damit nicht den Rahmen der Moderne, wie Eisenstadt ihn definierte. Ein Großteil der Bewegungen, der Avantgarden, der Parteien und der Regime des 19. und 20. Jahrhunderts hatte mit radikal unterschiedlichen Interpretationen zu tun, wie individuelle Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit und Gleichheit sich in der Welt verwirklichen können oder sollen. Habermas13 bemerkte richtigerweise, dass die Moderne ein „unvollendetes Projekt“ ist, aber sie ist es in einer Vielfalt unterschiedlicher Formen. Wir hatten niemals mit nur einer einzigen Moderne zu tun. Die zweite Bedeutung, nach der die Moderne vielfältig ist, hängt von der Tatsache ab, dass ein Teil ihrer Entwicklung außerhalb des Westens stattfand. Auf globaler Ebene entsprach die Entwicklung der letzten Jahrhunderte einer Ausbreitung der westlichen Zivilisation jenseits ihrer ursprünglichen Grenzen. Vektoren dieser Ausbreitung waren die Waffen, der Markt, die Technologien, die Kommunikationsmittel und die Kommunikationsflüsse. Die westliche Moderne trat in dieser Weise als ein Angebot oder ein Gebot oder eine „Herausforderung“ (wie Eisenstadt lieber sagt) für alle auf. Aber diese Herausforderung wird auf unterschiedliche Art rezipiert. In seiner Ausbreitung über die ganze Erde führt das westliche Modell nicht zu einer überall identischen Entwicklung, sondern zu Prozessen, die selektiv

12 S.N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Daedalus, 129 (2000), 1, S. 1-29, hier S. 13. 13 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985.

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die Grundzüge der Moderne verarbeiten, indem sie einige übernehmen und andere verändern oder ablehnen14. Die vergleichenden Untersuchungen, denen Eisenstadt sich widmete, zeigen, dass eine solche Selektion von vielen Faktoren abhängt: Es zählen der historische Moment, in dem sich die Herausforderung stellt, die Lage der internationalen Beziehungen, die wirtschaftlichen und politischen Merkmale der unterschiedlichen Gesellschaften, ihrer Institutionen und ihrer Eliten; und sogar zum Teil die Eigenheiten der Weltsichten jeder andersartigen Kultur, die bestimmte Elemente des Programms der Moderne in den Augen derer, denen es angeboten wird, mehr oder minder plausibel oder wünschenswert machen. Wir wohnen also nicht schlicht und einfach einer Ausbreitung der Moderne bei, sondern der Entwicklung einer Vielfalt unterschiedlicher Modernen. Moderne und Verwestlichung sind nicht notwendigerweise Synonyme. IV. Vorzüge und Schwierigkeiten der Idee der multiplen Modernen Die Idee der multiplen Modernen hat es weit gebracht. Alberto Martinelli, ein Soziologe, der nachdrücklich auch das Fortbestehen bestimmter Impulse zur Konvergenz auf weltweiter Ebene betont, hat kürzlich eingeräumt: „Die Existenz der multiplen Modernen ist empirisch nachweisbar, und sie widerlegt eine Auffassung von der Modernisierung als einem Prozess, der, einmal angestoßen, unausweichlich zu einem einzigen Mentalitätstyp und kulturellem Horizont fortschreitet, … und zu institutionellen Ordnungen, … die von den kulturellen und politischen Orientierungen der unterschiedlichen Länder nicht beeinflusst sind“15.

Die Moderne ist mithilfe einer einheitlichen Narration nicht beschreibbar. Dilip Parameshwar Gaonkar konstatiert: „The proposition that societal modernization, once activated, moves inexorably toward establishing a certain type of mental outlook … and a certain type of institutional order … irrespective of the culture and politics of a given place is simply not true“16.

Es geht allerdings nicht darum, jeglichem Anspruch auf folgerichtige Erkenntnis zu entsagen. Hierin distanziert sich die Idee der multiplen Modernen vom Standpunkt der Postmodernisten. Für diese sind ebenso wie für Lyotard die großen Erzählungen unbrauchbar geworden. Dass sich in jedem 14 S.N. Eisenstadt, Multiple Modernities, S. 13, sowie ders., Comparative Civilizations and Multiple Modernities, Leiden / Boston MA 2003. 15 A. Martinelli, La dialettica della convergenza e della divergenza nei processi di modernizzazione, in: C. Corradi / D. Pacelli (Hrsg.), Dalla modernità alle modernità multiple, S. 63-82, hier S. 67. 16 P. Gaonkar (Hrsg.), Alternative Modernities, Durham / London 2001, S. 16.

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abstrakten konzeptionellen Entwurf die Gefahr einer falschen Verallgemeinerung verbirgt, ist aber offensichtlich. Das ändert nichts daran, dass die großen kognitiven Rahmen, derer wir uns bedienen, ihre Effizienz haben, dass die Leute in diesen Rahmen denken, dass diese Rahmen de facto unsere Erfahrungen in eine Ordnung bringen. Der springende Punkt besteht nicht darin, auf sie zu verzichten, sondern sie ständig zu überprüfen. Die Idee der multiplen Modernen entspricht in diesem Sinn einer Öffnung des Diskurses, einer Flexibilität und Bereitschaft zur Selbstkritik bezüglich der vorgeschlagenen Narrationen. Die Idee entspricht vor allem der Ablegung jener Haltung, die typisch ist für die, die mit den nordamerikanischen Modernisierungstheorien, wonach die Erscheinungsformen der Moderne an den Grenzen der westlichen Welt tendenziell als „unvollkommene“, unvollständige oder unzulängliche Modernen aufgefasst werden, groß geworden sind. Die Idee der multiplen Modernen entspricht bei gründlicher Betrachtung zumindest in ihren Absichten dem Versuch, eine globale Soziologie zu betreiben, die frei ist von dem Eurozentrismus, der sie bislang mehr oder weniger implizit dominierte. Es gibt da jedoch verschiedene Probleme. Das erste betrifft den Begriff Kultur (civilization), der im Denken Eisenstadts eine entscheidende Rolle innehat. Der Begriff wurde kürzlich neu definiert17, bleibt aber notwendigerweise ziemlich vage. Zudem ist seine Zuordnung zu bestimmten geographischen Gebieten problematisch. Es ist zu bezweifeln, dass selbst Europa darin einbegriffen werden kann, wenn man sich ausschließlich auf eine „jüdischchristliche“ Kultur bezieht, wie Eisenstadt es tut. Andererseits macht die Intensität der Kontakte, die in der Geschichte zwischen den verschiedenen Teilen der Welt bestanden, die Definition der Grundzüge und der Grenzen jeder spezifischen Zivilisation ziemlich willkürlich. Jenseits der Rhetoriken (man denke an die Rhetorik des „Kampfes der Kulturen“), denen der Begriff dienlich sein kann, scheint es wahr zu sein, dass viele besonders ausgeprägte Unterschiede und Konflikte bezüglich der Sinnorientierungen und institutionellen Projekte sich heute eher innerhalb bestimmter „Kulturen“ zeigen als zwischen unterschiedlichen „Kulturen“18. Wie Gunder Frank und Barry Gills schrieben: „However, we are wary about the category of ‚civilization‘ itself. ‚Civilization‘ is ambiguous as a unit and terribly difficult to bound either in space or in time“19. 17 J.P. Arnason, Civilizations in Dispute. Historical Questions and Theoretical Traditions, Leiden / Boston MA 2003. 18 G. Delanty, Civilizational Constellations and European Modernity Reconsidered, in: ders. (Hrsg.), Europe and Asia beyond East and West, London / New York 2006, S. 45-60. 19 G. Frank / B.K. Gills (Hrsg.), The World System. Five Hundred Years or Five Thousand?, London 1993, S. 18.

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Diese Erklärung erscheint in der Einleitung eines Bandes, der das zweite von Eisenstadt offen gelassene Problem explizit macht. Eisenstadts in der Tat komparativer Ansatz regt unzweifelhaft eine Erweiterung unserer Kenntnisse an, riskiert aber gleichzeitig, die Interaktionen, die zwischen den Realitäten, die er vergleicht, bestehen, im Dunkeln zu lassen. Solche Interaktionen sind jedoch gerade das, was Untersuchungen wie die von Frank und Gills herausstellen wollen. Diese Untersuchungen sind von dem Begriff des „Weltsystems“ inspiriert. Die bekanntesten Formulierungen stammen von Immanuel Wallerstein20. Es geht darum, die Interaktionen zu betrachten, die zwischen den unterschiedlichen Weltregionen bestehen: Ein Teil dieser Regionen ist in untergeordneter Position in das Weltsystem integriert, und das beeinflusst ihre Entwicklungsmöglichkeiten. Maßgeblich ist in dieser Perspektive die Unterscheidung zwischen Zentren und Peripherien. Das „Zentrum“ des modernen Weltsystems entspricht den Regionen, in denen sich die Aktivitäten konzentrieren, die verbunden sind mit der strategischen Entscheidungsgewalt, der Kontrolle und Verwaltung der Wirtschaft und der innovativen Forschung, und wo vor allem in einem System des Oligopols die Güter hergestellt werden, die die größten Profite abwerfen. Die „Peripherie“ hingegen entspricht Bedingungen der grundsätzlichen Unterordnung, wo in einem System der Konkurrenz die Güter hergestellt werden, die geringere Profite abwerfen. Zwischen den zentralen und den peripheren Regionen gibt es schließlich „semiperiphere“ Regionen, die durch unvorteilhafte Handelsbeziehungen mit den zentralen Regionen und vorteilhafte Handelsbeziehungen mit den peripheren Regionen charakterisiert sind. Die Systeme entwickeln sich natürlich mit der Zeit, so dass die relativen Positionen der verschiedenen Länder im Weltsystem bisweilen wechseln können. In bestimmten Momenten der Weltgeschichte gibt es Krisen, die auf kommende größere Veränderungen hindeuten: Vermutlich ist dies der Fall in den Jahrzehnten, die wir gerade erleben, in denen die Vorherrschaft sich tendenziell verschiebt (oder nach Meinung einiger gar zurückkehrt) zum Ostrand des euro-asiatischen Kontinents. Es handelt sich um langfristige Prozesse. Wallerstein und ihm nahestehende Autoren haben eine besondere Art, die Moderne zu charakterisieren (die mehr von Marx und von Braudel abhängt als von den Klassikern der Soziologie). Sie verwenden den Ausdruck „multiple Modernen“ überhaupt nicht. Aber die Erscheinungsformen der Moderne sind in dieser Perspektive notwendigerweise und offensichtlich divergent: in dem Sinn, dass die Moderne in den zentralen, semiperipheren

20 I. Wallerstein, The Modern World-System, 3 Bde., New York 1974-1989, hier Bd. 3; ders., World-Systems Analysis. An Introduction, Durham / London 2004.

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und peripheren Gebieten unterschiedlich abläuft. Die Moderne ist eine einheitliche Gesamtheit von Prozessen, die sich jedoch entfaltet und dabei Unterschiede produziert und reproduziert, die zu einem Großteil eigentlich Ungleichheiten entsprechen. Im Vergleich zu Eisenstadts Ansatz gibt es hier einen Gewinn in der Aufmerksamkeit für die Dynamiken der Über- und Unterordnung zwischen Regionen. Dennoch denke ich nicht, dass die beiden Perspektiven antithetisch sind, sondern dass sie trotz vieler Unterschiede als komplementär angesehen werden können: In den unterschiedlichen Teilen der Welt überlagern sich Unterschiede, die auf den selektiven Charakter der bereits bestehenden „Kultur“ zurückgehen und Unterschiede, die aus ihren systemischen Verortungen stammen. Diejenigen, die sich von systemischen Ansätzen inspirieren lassen, unterstreichen jedoch auch einen letzten problematischen Aspekt des Ansatzes von Eisenstadt. Der Versuch Eisenstadts, die Moderne zu pluralisieren, bestätigt jedenfalls erneut das historische Primat des Westens, genauer gesagt Europas, in den wichtigsten Prozessen der Herausbildung der Moderne, deren vielfältige Ausdrucksformen am Ende immer um die Verarbeitung eines ursprünglich westlichen Kerns kreisen. Wie Mauro Di Meglio anmerkte: „… obwohl diese Orientierung es vermied, ausdrücklich die Idee einer Überlegenheit des Westens zu vertreten, bewahrte sie sich in dieser Hinsicht einen Spielraum an Mehrdeutigkeit und orientierte den eigenen Gedankengang in eine Richtung, die sich signifikant unterscheidet von der Richtung, die die Forschungsperspektiven einschlugen, die in der Untersuchung der weltweiten Schaffung der unterschiedlichen und konkreten institutionellen Vernetzungen ihren Nachdruck auf die entscheidende Rolle legten, die eine Vielfalt von Beziehungen und Verknüpfungen von langer bis sehr langer Dauer und in großem bis sehr großem Maßstab spielen“21.

Während für die, die einen komparativen Ansatz verwenden, die Erklärung für den spezifischen Charakter des europäischen Weges fast unvermeidlich in den Besonderheiten seiner institutionellen, wirtschaftlichen, demographischen oder kulturellen Merkmale gesucht werden muss, unterstreicht der systemische Ansatz vielmehr, wie sehr die historische Fähigkeit Westeuropas dazu verhalf, ein Gefüge globaler Beziehungen zum eigenen Wohl zu lenken22. Allerdings macht es der Ansatz Eisenstadts möglich, über Aspekte der Moderne nachzudenken, die in einigen Weltregionen (wie in China) bereits vorhanden waren, bevor sie Kontakt zu den Europäern hatten, oder (wie in M. di Meglio, La parabola dell’eurocentrismo, Triest 2008, S. 141-142. V. Beonio Brocchieri, Presentazione dell’edizione italiana, in: K. Pomeranz, La grande divergenza. La Cina, l’Europa e la nascita dell’economia mondiale moderna, Bologna 2004. 21 22

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Japan) gleichzeitig mit einigen europäischen Ländern, aber in hohem Maße unabhängig von ihnen. Die Moderne der westlichen Zentren konfiguriert sich so viel mehr als das Ergebnis einer Konstellation kontingenter und situierter Faktoren, und viel weniger als ein universales Stadium der menschlichen Entwicklung. Der Ansatz Eisenstadts kann sowohl auf die Untersuchung der internen Unterschiede im zeitgenössischen Europa23, als auch auf die Neuinterpretation der chinesischen Geschichte24 angewendet werden. Er stimmt mit den Versuchen, die Untersuchungen über die arabischen Länder der Dichotomie Tradition/Moderne zu entziehen25, überein; allgemein gelingt es ihm, vielfältige Forschungsprogramme zu stützen und miteinander zu verknüpfen. Allerdings geht er nicht so weit, die Hypothese einer Geschichte der Ursprünge der westlichen Moderne aufzustellen, die anders wäre als die der Klassiker der Soziologie. Alternative Hypothesen werden heute von verschiedenen Wissenschaftlern vorgelegt26. Solche alternativen Hypothesen einzuschätzen, erfordert jedoch Kompetenzen, die außerhalb der Grenzen und Möglichkeiten meines Beitrags liegen.

V. Wer ist im Zentrum? Der Wert der Anregungen Eisenstadts liegt meiner Ansicht nach vor allem hierin: Er zwingt die Soziologen, über ihre Darstellungen der Moderne Rechenschaft abzulegen auf der Grundlage von Kenntnissen, die nicht mehr beschränkt sind auf die Erfahrung weniger Länder. Mit Eisenstadt behauptete und artikulierte sich das Erfordernis einer Soziologie, die einer globalen Welt gerecht wird. Di Meglio merkte weiterhin an, dass sowohl in einem Großteil der Theoretisierungen zur „Postmoderne“ als auch in den Reaktionen, die diese hervorriefen in Unterstützung der Idee, dass wir noch in der „Moderne“ seien, die mit unterschiedlichen Adjektiven versehen wird wie „zweite“, „späte“ oder „reflexive“,

Vgl z.B. A. Ichijo (Hrsg.), Europe, Nations and Modernity, Houndmills / New York 2011. 24 R. Luo, New Perspectives on Historical Development and the Course of Modernization in East Asia, in: Chinese Studies in History, 43 (2009), 1, S. 17-27. 25 N. Gole, Snapshots of Islamic Modernities, in: Daedalus, 129 (2000), 1, S. 91-117; I. Weismann, L’islam e il concetto di modernità, in: G. Filoramo (Hrsg.), Le religioni e il mondo moderno, Bd. 3: Islam, Turin 2009, S. 5-28. 26 Vgl. u.a. J. Goody, The East in the West, Cambridge 1996; J. Hobson, The Eastern Origins of Western Civilization, Cambridge 2004; für eine Diskussion vgl. V. Beonio Brocchieri, Storie globali. Persone, merci, idee in movimento, Mailand 2011. 23

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„eine Sichtweise überdauert, die fast ausschließlich auf die westliche Welt als einzigem Bezugspunkt für das Verständnis der Prozesse der Entstehung und des Wandels der Moderne gerichtet ist, und die historisch und konzeptionell den Rest der Welt zur Marginalität verdammt“27.

Die Plausibilität einer solchen Sichtweise ist heute nicht haltbar. Das bedeutet nicht, dass die Idee der multiplen Modernen immer die adäquateste ist. Der Anthropologe James Ferguson28 behauptet etwa in Bezug auf mehrere Länder in Subsahara-Afrika, dass das Problem hier nicht der Unterschied zwischen alternativen Modernen sei, sondern die Ausgrenzung. In seinem Gedankengang unterscheidet Ferguson die Moderne als Telos (also als Ziel eines Prozesses, der in der Zeit verläuft) von der Moderne als Status (als Privileg desjenigen, der modern ist gegenüber dem, der es nicht ist). Diese beiden Auffassungen überlagern sich normalerweise, sodass der Aspekt, wonach die Moderne als ein Telos, als eine bevorstehende Zukunft, erscheint, den deprimierenden Effekt zu mildern hilft, der in der Erkenntnis liegt, das man noch nicht modern ist: An das „noch nicht Modernsein“ zu denken bedeutet nämlich, dass man es sein wird. Dieses narrative Modell repräsentierte in der Welt eine außergewöhnliche Legitimation der Moderne, die Statusunterschiede dank des Versprechens, dass diese mit der Zeit verschwinden werden, ertragen ließ. Dieses Modell stagniert aber heute in vielen afrikanischen Ländern. Das Modernsein wird in der Vergangenheit konjugiert: Es ist ein nicht eingehaltenes Versprechen. Aber wenn die Moderne nicht mehr als etwas wahrgenommen wird, das man erreichen können wird, geht es nüchtern betrachtet nur noch um die Statushierarchie. Auf einer tieferen Stufe zu stehen, bedeutet nicht mehr, „noch nicht“ modern zu sein, sondern bezeichnet ganz einfach ein „Nicht“ modern-Sein. Wenn das wahr ist, ist es einleuchtend, dass es sich nicht um pluralische Modernen handelt. Aber es ist schwierig, diesbezüglich deutlich zu trennen. Das Beispiel der Video- und Kinoindustrie in Nigeria steht wenigstens teilweise zur Position Fergusons im Widerspruch. Der Fall „Nollywood“, heute die zweitgrößte Kinoindustrie der Welt in Bezug auf die Anzahl der produzierten Filme, ist international ausführlich erforscht: Es handelt sich um die Produktion von Videos, die für den lokalen, aber auch für den transnationalen Markt bestimmt sind, und deren Inhalte und Formen gekennzeichnet sind durch eine eigenständige Mischung aus Elementen der autochthonen Tradition, des indischen Kinos, südamerikanischer Soaps und aus amerikanischen Fern-

27 M. Di Meglio, Teoria critica ed emancipazione. Una prospettiva globale, relazione al seminario Critica sociale ed emancipazioni. Dopo il post-moderno, unveröffentl., Universität Perugia, 2012, S. 15. 28 J. Ferguson, Global Shadows. Africa in the Neoliberal Order, London 2006.

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sehserien29. Für Ferguson müssten Länder wie Nigeria eher im Sinne einer Ausgrenzung aus der Moderne aufgefasst werden als im Sinn einer Präsenz multipler Modernen mit ihren kreativen Anpassungen, von denen gewöhnlich die Rede ist. Aber Nollywood ist gerade Ausdruck einer kreativen Anpassung: Nollywood ist eine moderne Industrie, die allerneueste Technologien nutzt und sich auf innovative Weise auf dem nationalen wie internationalen Markt bewegt und dabei das Kino kreativ an Kontexte anpasst, die im Zuge der Globalisierung und der Zersplitterung der afrikanischen Bevölkerungsgruppen entstanden sind30. Andererseits ermöglicht es der Fall Nigeria, ein weiteres für unseren Gedankengang nützliches Element hervorzuheben. Auf dem Kinomarkt in Nigeria gibt es neben Nollywood ein weiteres charakteristisches Phänomen: die enorme Verbreitung indischer Filme, vor allem im Norden. Das ist interessant, weil die Popularität des indischen Kinos in Nigeria ein Schlaglicht wirft: „The popularity of Indian film in Nigeria highlights the circulation of media within and between non-Western countries, an aspect of transnational cultural flows that has been largely ignored in recent theories of globalisation“31. Und es geht nicht nur um kulturelle Strömungen: Die Migrationsströme in der Welt sind heute zahlreicher innerhalb von und zwischen außerwestlichen Ländern als zwischen diesen Ländern und den Ländern des Westens. Auch die Kapitalströme verlaufen nicht notwendigerweise über den Westen (man denke an die chinesischen Investitionen in Afrika). In Bezug auf das Kino in Nigeria, um beim zitierten Fall zu bleiben, wurden die indischen Filme von libanesischen Unternehmern eingeführt. Es geht um Ströme, Verflechtungen, Kontaminationen und Netzwerke, die nicht durch die „Zentren“ unseres Systems verlaufen. Früher als in den Sozialwissenschaften tauchte das Bewusstsein um diese Ströme in der erzählenden Literatur auf. Vorläufer und Vorbild war diesbezüglich der berühmte Roman von Amitav Ghosh, „In einem alten Land. Eine Reise in die Vergangenheit des Orients“. Der Protagonist ist ein junger Inder, der als Forscher in Ägypten ist. Beim Überfliegen der Seiten wird der Leser sowohl in die unzähligen und sehr intensiven Handelsbeziehungen, die sich in der Geschichte zwischen Indien und Nordostafrika entfalteten, als auch in heutige komplexe Migrationsströme wie die zwischen Ägypten und den

29 Unter den Untersuchungen hierzu vgl. J. Haynes (Hrsg.), Nigerian Video Films, Athen 2000; P. Barrot (Hrsg.), Nollywood. Le phénomène vidéo au Nigeria, Paris 2005. 30 M. Krings / O. Okome (Hrsg.), Global Nollywood. The Transnational Dimensions of an African Video Film Industry, Bloomington IN 2013. 31 B. Larkin, Indian Films and Nigerian Lovers. Media and the Creation of Parallel Modernities, in: Africa, 67 (1997), 3, S. 406-440, hier S. 18.

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Golfstaaten eingeführt. Diese Handelsbeziehungen und Ströme gab es schon vor dem Zusammentreffen mit den Europäern und es gibt sie noch. Sie zu erkennen erzeugt einen Effekt der Dezentralisierung unserer Erfahrung, fast einen Angriff auf unseren Narzissmus: Nicht alles verläuft über uns.

VI. Die Postkolonialen Studien und die Selbstkritik der Moderne Über uns müssen wir dennoch nachdenken. Wie Dipesh Chakrabarty32 schrieb, sind die Kategorien, mit denen die westliche akademische Tradition die Moderne interpretierte, heute zugleich „unentbehrlich und ungeeignet“, um zu verstehen, wozu die Entfaltung der Moderne außerhalb ihrer unserer Ansicht nach ursprünglichen Grenzen geführt hat. Aber vielleicht sind sie sogar genauso unentbehrlich und ungeeignet, um unsere eigene Geschichte zu verstehen. In der Perspektive, die mir am meisten am Herzen liegt, ist in der Tat die Idee der multiplen Moderne eher wichtig für das Selbstverständnis von uns selbst, den Europäern, als zur Beschreibung anderer. Hier entferne ich mich von Eisenstadt. Zu diesem neuen Verständnis veranlassen nämlich in der heutigen Situation vor allem die Postkolonialen Studien. Zwischen diesen und der Perspektive Eisenstadts gibt es keine direkte Verbindung (wenn überhaupt, sind Kritiken häufig, vor allem zum dritten der oben genannten Probleme)33. Es handelt sich allerdings um einen Ansatz, der erwähnt werden muss. Auch hier nimmt die Moderne vielfältige Formen an, aber in einem anderen Sinn. Die Postkolonialen Studien sind ein facettenreiches Universum. Der Terminus „postkolonial“ selbst, der einer ziemlich heterogenen Ansammlung von Phänomenen zugeschrieben wird, ist Diskussionsgegenstand und nicht frei von Kritik. Dies kann hier nicht erörtert werden34. Die jetzige Welt „postkolonial“ zu nennen ist eine Entscheidung, die Folgendes bedeutet: 32

D. Chakrabarty, Provincializing Europe, Princeton NJ 2000. Bezüglich der Entstehung der westlichen Moderne: vgl. z.B. G.K. Bhambra, Rethinking Modernity. Postcolonialism and the Sociological Imagination, Basingstoke 2007. 34 An den angelsächsischen Universitäten verbreitete sich der Ausdruck „Postcolonial Studies“ zunächst im Bereich der Literatur als Weiterentwicklung der zuvor „Commonwealth Studies“ genannten Studien zu den Literaturen der ehemaligen Kolonien Großbritanniens. Der Begriff verbreitete sich in Bezug auf andere Literaturen und im Bereich der Sozialwissenschaften, wobei er seinen Bindestrich verlor. Er führte zu heftigen Debatten: Für eine gute Einführung vgl. A. Loomba, Colonialism/ postcolonialism, London 1998; für ein Beispiel der Einwände, denen er ausgesetzt sein kann, vgl. J.-F. Bayart, Les études postcoloniales, une invention politique de la tradition?, in: Societés politiques comparées, 14 (2009), S. 1-46. Hier fasse ich ihn als Bezeichnung eines Universums von Untersuchungen und Schriften auf, deren 33

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Betonen, wie stark viele Phänomene der jetzigen Welt vom Erbe unserer Aggressionen abhängen und selbstkritisch das wieder hervorholen, was wir von der Vergangenheit gern verdrängt haben. Diese Entscheidung lässt unsere Vorstellung von der Moderne nicht unangetastet. Iain Chambers schreibt: „Die Moderne hat immer mit sich selbst gerungen, und ihre oberflächliche Durchsetzung des ‚Fortschritts‘ war immer begleitet von einer Reihe von Ereignissen, die von etwas anderem sprechen und einen anderen Ursprung haben … Es gibt immer ein Mehr, das sich dem Rahmen, den wir anlegen wollen, entzieht“35.

In seiner Argumentation erinnert er an ein Bild von Turner, dessen Zentrum ein Schiff kurz vor dem Untergang im stürmischen Meer einnimmt. Die Art und Weise, wie das Wasser gemalt ist, die Neigung des Schiffs, die Gefahr: Man hat den Eindruck, dass man einer Darstellung des „Schrecklich-Erhabenen“ beiwohnt und in dieser Sichtweise las der berühmteste britische Kunstkritiker des 19. Jahrhunderts, John Ruskin, das Gemälde. Aber in einer Ecke des Bildes taucht der Arm eines Ertrunkenen aus einer Welle empor: Es ist der Arm eines Schwarzen. Das Schiff ist ein Sklavenschiff. In den Kommentaren Ruskins war die Tatsache, dass das Schiff Sklaven transportierte und diese über Bord geworfen wurden, mit einer Fußnote abgetan. Die Auslassung aber, bemerkt Chambers, weswegen die Sklaverei fast heimlich aus dem Bild verschwindet, ist emblematisch: „die Sklaven in den Rahmen wieder einzuordnen, diese verlassenen schwarzen Leichen wieder aufzugreifen und sie in das Bild zurückzubringen … bedeutet, vorzubringen, dass es andere Geschichten, andere Modernen zu erzählen gibt“36. Andere Modernen zu erzählen, bedeutet ihre Bilder zu vervielfältigen. Die Idee der Vielfalt kehrt zurück, aber in einer Lesart, die Eisenstadt fremd war. Es geht darum, Prozesse zur Kenntnis zu nehmen, die die Modernisierung wie ein Schatten begleiteten. Der Kolonialismus war nie nur eine Gesamtheit von Prozessen territorialer Expansion und militärischen und administrativen Herrschaftspraktiken. Er wurde unterstützt von Ideologien, die ihn glaubwürdig machten und ihn legitimierten. Wie Edward Said37 auf vorbildliche Weise aufzeigte, geht es

Hauptmerkmal darin besteht, dass die koloniale Vergangenheit aufgefasst wird als ein Erbe, das wesentlich zur Gestaltung der Gegenwart beiträgt. Die Vorsilbe „post-“ bedeutet nicht, dass der Kolonialismus ausgestorben wäre. Sie dient vielmehr dazu, die Dinge in Erinnerung zu rufen, die die Theorien der Moderne oft vernachlässigt haben, und ihre Auswirkungen zu benennen. 35 I. Chambers, Culture after Humanism, London 2001. 36 Ebd., S. 44 f. 37 E. Said, Orientalism, New York 1978.

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um Darstellungen der „Alterität“, die wesentlich dazu beigetragen haben, auch der Selbstdarstellung des Westens eine Form zu geben und die seine Diskurse durchzogen, auch die der Sozialwissenschaftler. Sich der Rolle des Westens in der Geschichte der Moderne bewusst zu werden, bedeutet daher, unsere eigenen Selbstdarstellungen zu überprüfen, die sich damals formten und die uns noch heute beeinflussen. Von dem sich aus der Betrachtung der Geschichte des Kolonialismus ergebenden Standpunkt aus scheinen diese Darstellungen ungeeignet, insofern bei ihrer Formulierung die Auswirkungen einiger unserer Vorgehensweisen bagatellisiert und dabei insbesondere der unterliegende Rassismus verdrängt wurde, indem die von nicht-westlichen Akteuren eingenommene Rolle nicht berücksichtigt oder verzerrt wurde. Das postkoloniale Denken erwächst nicht aus der Perspektive der multiplen Modernen. Es hat vielmehr viele Berührungspunkte mit dem postmodernen Denken. Dennoch identifiziert es sich nicht mit ihm. Die Überlagerung ist präsent in nordamerikanischen Akademikerkreisen38. Anderswo ist sie weniger ausgeprägt, und manchmal wird sie auch ausdrücklich abgestritten. Wie Kwami Anthony Appiah schreibt, ist das postkoloniale Denken „not an ally for Western postmodernism but an agonist, from which I believe postmodernism may have something to learn“39. Das Problem ist schwer lösbar, weil sowohl die postkolonialen als auch die postmodernen Studien alles andere als eindeutig sind. Allgemein können wir beobachten, dass die postkolonialen Autoren den Postmodernen nahe stehen in ihrem Misstrauen gegenüber letzten Wahrheiten, in der Hybridisierung der Gattungen und manchmal auch in der Ironie. Aber sie unterscheiden sich von den postmodernen Autoren in ihrer Haltung gegenüber der Erinnerung: Sie kultivieren nicht die Amnesie, sondern bekämpfen sie. Sie erinnern an die nicht eingelösten Emanzipationsversprechen. Ihre Schriften haben eine explizit politische Valenz. Ihr Thema ist nicht das dem Postmodernen so wichtige Sich-Verlieren des Subjekts in einer Zeichenwelt, sondern die Entfaltung der Subjektivitäten in einer Welt vielfältiger Beziehungen40.

VII. Die Zukunft der Moderne „Moderne“ ist ein paradoxer Begriff. Das Adjektiv „modern“ bedeutete ursprünglich „neu“ oder „kürzlich“. Es in ein Substantiv zu verwandeln, erzeugt die einzigartige Wirkung, festzulegen, was per Definition nicht anders 38 Vgl. z.B. H.K. Bhabha / G. Spivak / F. Barker (Hrsg.), Europe and its Others, Cochester 1984. 39 K.A. Appiah, In my Father’s House, Oxford 1992, S. 155. 40 S. Albertazzi, Lo sguardo dell’altro. Le letterature postcoloniali, Rom 2000.

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als flüssig und changierend sein kann, da mit der Zeit nichts lange das „Allerneueste“ bleiben kann. Aus dem Paradoxon kommt man heraus, wenn man anerkennt, dass die Bedeutung des Terminus nicht in der Behauptung des besonders neuen Charakters des Zeitalters oder der Gesellschaften liegt, die sich als modern bezeichnen, sondern in der Bestimmung ihrer Besonderheit in dem Hang, das Neue als einen Wert aufzufassen und sich selbst als ständig changierend zu konzipieren. Die Inhalte der Veränderungen können unterschiedlich sein. Was bleibt, sind die Bereitschaft und der Wunsch, sie zu akzeptieren. Wenn aber das Neue immerdar erwartet wird, bedeutet das, dass jeder Moment ein Moment der Krise ist. Es ist das, was Autoren wie Georg Simmel oder Walter Benjamin in dem Moment bemerkten und unterstrichen, als in Europa dem Begriff Moderne die höchste Aufmerksamkeit gewidmet wurde, wobei sie die der Moderne innewohnende Tragik hervorhoben. Diese Krise betrifft sowohl die materiellen Ordnungen der Existenz als auch die Denkformen, mit denen die Existenz selbst begriffen wird. Wie sehr Individuen und Gruppen auch immer wieder wünschen können, diese Bewegung aufzuhalten, besteht die grundlegende Charakteristik des modernen Denkens darin, dass es sich ständig selbst in Frage stellt. In diesem Sinn treten Strömungen wie die Postmoderne oder sogar die Postkolonialen Studien nicht aus der Moderne heraus. Mehr als diese zwingt jedoch der Ansatz der „multiplen Modernen“ zu einem erneuten Nachdenken darüber, was man unter diesem Wort verstehen soll. Wir müssen also wieder darauf zurückkommen. Denn wenn man annimmt, dass die Moderne viele Formen hat, geht es darum, zu zeigen, welche Gemeinsamkeiten diese Formen aufweisen. Ohne einen Begriff der Moderne, der hinreichend abstrakt ist, dass er als „Kern“ all dieser Formen taugt, kann man nicht von ihren Varianten sprechen. Eisenstadt sah diesen Kern im Ende der unbestrittenen Legitimation der Sozialordnungen auf der Grundlage des Glaubens an ihre göttliche Bestimmung, mit anderen Worten in einer Auffassung von Zukunft: „It carried a conception of the future characterized by a number of possibilities realizable through autonomous human agency“41. Er schreibt: „The premises on which the social, ontological, and political order were based, and the legitimation of that order, were no longer taken for granted. An intensive reflexity developed around the basic ontological premises of structures of social and political authority – a reflexity shared even by modernity’s most radical critics, who in principle denied its validity“42.

41 42

S.N. Eisenstadt, Multiple Modernities, S. 3. Ebd.

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Ich denke, dass man sich diesen Sätzen anschließen kann. Zur Idee der Moderne als ständigem Wandel fügen sie die Idee eines aktiven Engagements gegenüber der Zukunft hinzu. Diese Idee basiert auf der Voraussetzung der menschlichen Fähigkeit, Programme zur Transformation der Welt zu konzipieren und umzusetzen, die sich an bestimmten Werten orientieren. Wenn die Ordnung des Kosmos nicht unwandelbar und gewiss ist, dann ist es an uns, sie zu formulieren. Aber in der gegenwärtigen Lage wird anscheinend die Idee, dass die Menschen imstande sind, die Geschichte zu lenken, in Zweifel gezogen. Dass der menschliche Wille unerwartete Wirkungen erzeugt, ist die Norm. In Bezug auf die Absicht, eine technische Kontrolle über die Natur auszuüben, scheint die Geschichte sich heute gegen die Menschheit zu kehren, so wie die Materie sich gegen den Zauberlehrling kehrt43. Der technische Fortschritt führt zu unerwarteten Risiken44. Die Abhängigkeit von ebenso ausgeklügelten wie überhand nehmenden soziotechnischen Mechanismen erzeugt Zerbrechlichkeit45. Die Fortschrittsidee, in der sich das Engagement gegenüber der Zukunft konkret artikulierte, tritt folglich in eine Krisenphase und macht Platz für eine Situation der wachsenden Unsicherheit. Da die Assoziation der Moderne mit dem Fortschritt die wichtigste und gebräuchlichste Legitimationsquelle der Sozialsysteme der Moderne war, bildet diese Krise vermutlich das stichhaltigste Element zugunsten derer, die denken, dass wir inzwischen im Begriff sind, uns von der Moderne zu entfernen. Deswegen muss man die Fortschrittsidee jedoch nicht automatisch aufgeben: Es ist möglich, sie zu modifizieren. Pierre-André Taguieff schreibt: „Man könnte die fiktive Notwendigkeit des Fortschritts ersetzen durch den bescheideneren Willen, diesen oder jenen Fortschritt in einem gegebenen Bereich zu realisieren“46. Was man retten könnte, ist in anderen Worten eine Auffassung, die weniger abstrakt ist als die bislang vorherrschende; eine Auffassung, die gezügelt wird durch das Bewusstsein um die Grenzen der Vernunft und die fähig ist, Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein einzubeziehen. Das Neue an und für sich ist keine Garantie für Verbesserung. Es gibt Dinge, die bewahrt werden müssen. Taguieff schreibt weiter:

M. Horkheimer / T.W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, New York 1944. U. Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt a.M. 1986. 45 A. Giddens, The Consequences of Modernity, Cambridge 1990; A. Gras, Grandeur et dépendance. Sociologies des macro-systèmes techniques, Paris 1993. 46 P.-A. Taguieff, Le sens du progrès. Une approche historique et philosophique, Paris 2005, S. 323. 43 44

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„Nach dem Zeitalter der frenetischen, verantwortungslosen Transformation, deren destruktive Auswirkungen inzwischen belegt sind, könnte das neue Zeitalter der intelligenten Erhaltung anbrechen, das auf dem einvernehmlichen Willen gründet, die Vergangenheit zu achten und die Erde zu verwalten“47.

Das Vertrauen darauf zu verlieren, dass der Lauf der Geschichte sich aus eigenem Antrieb zum Besseren wendet, oder sogar das Konzept aufzugeben, dass der Lauf der Geschichte einheitlich und verständlich ist, ist gewiss desorientierend. Es bedeutet, auf die Freistellung von unseren Verantwortlichkeiten zu verzichten, die möglich war, als wir die Legitimation dessen, was wir tun, und jene der Werte, aufgrund derer wir es tun, auf den Fortschritt projizierten. Mit diesem Verzicht kann man jedoch leben. Ich denke an Weber: Er erkannte die Idee des Fortschritts in der modernen Kultur an, seine ethischen Überzeugungen, sein berufliches Handeln oder seine Bemühungen in der politischen Arena stützte er aber nicht auf diese Idee; das Plausible, Wünschenswerte oder Notwendige in seinen Bestrebungen rechtfertigte er nicht mit dem Argument, es handele sich um die Artikulation eines Telos, auf das die Geschichte auf jeden Fall zuschreite. Für Weber ist die Geschichte der Schauplatz eines Kampfes der Götter: außerhalb der Metapher ein wiederkehrender Konflikt zwischen unterschiedlichen Sinnund Werteorientierungen; es geht darum, die Orientierungen zu verteidigen, die uns am wertvollsten scheinen, ohne sie auf etwas anderes als auf unser eigenes Urteil gründen zu können. Können wir eine solche Haltung noch modern nennen? Die Frage nach der Benennung kann unbedeutend erscheinen, wenn man vor konkreten Problemen steht. Meiner Meinung nach handelt es sich noch um eine zutiefst moderne Denkweise. Denn sie verweist auf die Idee, dass wir imstande sind, in der Geschichte zu handeln. Und Eisenstadts Lehre ist diesbezüglich erhellend, denn wenn wir anerkennen, dass die Moderne ein vielgestaltiges Projekt war und noch ist, erkennen wir damit auch an, dass ihre konkreten Entwicklungen von den involvierten Akteuren abhängen. In einer Welt, deren Transformationen heute in mehr als einer Hinsicht an einem Scheideweg stehen – zwischen dem aggressiven Raubbau an den Ressourcen der Natur und unterschiedlichen Entwicklungsmodellen, zwischen autoritären Tendenzen und den Erfordernissen der Demokratie, zwischen Ungleichheit und Gerechtigkeit, zwischen Gewalt und Achtung – geht es darum, die Verantwortung zu übernehmen, für die Zukunft, für die es sich am meisten lohnt tätig zu werden. Alberto Melucci schrieb: „Die Gesellschaft kann nicht mehr als ein Objekt aufgefasst werden, als ein Ding, das da ist, weil die Natur es ins Leben gerufen hat oder weil … die Gesetze der 47

Ebd.

Die Moderne in vielen Formen

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Geschichte es so bestimmt haben … Die Gesellschaft ist ein Feld, zu dessen Definition wir beitragen“48.

Die Definition dieses Feldes, also die Definition dessen, was die Gesellschaft ist oder sein soll, realisiert sich innerhalb kommunikativer Prozesse. In der Ausbreitung und Relevanz dieser Prozesse liegt vielleicht der typischste Grundzug der zeitgenössischen Welt. Es handelt sich nicht nur um die Expansion der Kommunikationsmittel, sondern auch um die wachsende Bedeutung der Kommunikationspraktiken in der Schaffung der Sinnhorizonte, in denen sich die Handlungen eines jeden verorten. Im Grunde basiert ein Großteil der postmodernen Befindlichkeit auf dem Erleben dieser Bedeutung. Man kann aber diese Befindlichkeit teilen, ohne deswegen den Anbruch einer Postmoderne verkünden zu müssen. Und es ist wichtig, sie zu bewahren, denn ein Teil dieser Sinnhorizonte hat mit der Definition der möglichen Zukunftsperspektiven zu tun. Jede Definition des Möglichen – und auf symmetrische Weise des Unmöglichen – hat etwas von einer selbsterfüllenden Prophezeiung: Wenn wir ein bestimmtes Szenario für möglich halten, rüsten wir uns in der Folge, um es zu realisieren (oder um es zu bekämpfen, im Fall, dass es unerwünscht ist); wenn wir es für unmöglich halten, werden bestimmte Handlungsabläufe verworfen. Auf jeden Fall rücken wir die Wirklichkeit in eine Richtung, die von unseren Definitionen abhängt. Was möglich ist und was unmöglich ist, ist selten eine unumkehrbare Gegebenheit: Es ist eine Interpretation. Wenn wir mit Eisenstadt dafür halten, dass viele Modernen möglich sind, liegt auch die Verantwortung bei uns, die Modernen der Zukunft zu entwerfen. Es stimmt, dass ein Großteil der Prozesse, die die Moderne eingeleitet haben, heute als eine bereits hinter uns liegende Zukunft erscheinen. Sie können unvollendet geblieben sein, zu kontraintentionalen Ergebnissen geführt haben. Aber die Bestrebungen derer, die uns vorangegangen sind, betreffen uns immer noch. Die Erinnerung an sie ist lehrreich: Sie ermöglicht es, die Irrtümer, die wir heute in diesen Prozessen erkennen können, zu korrigieren und die Widersprüche und die Hindernisse, denen sie entgegen gehen, besser einzuschätzen. Sie erinnert aber auch an die Verpflichtung gegenüber der Geschichte, die sie alle auf unterschiedliche Weise verkörperten.

48

A. Melucci, Passaggio d’epoca, Mailand 1994, S. 100.

Das Konzept der „Moderne“ Neue Vergleichsperspektiven für die deutsch-italienische Zeitgeschichte? Von Lutz Raphael

I. „Moderne“ – Ein Konzept und seine Rezeption in der Geschichtswissenschaft Historiker tun sich schwer, geschichtstheoretischen Einordnungen ihrer eigenen Untersuchungsgenstände oder gar der eigenen Fragestellungen und Problemhorizonte die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, mit der sie Fragen der Quellenkritik oder der Überlieferung behandeln oder gar Deutungskontroversen über Ereignisse ausfechten. Historikerkontroversen über den Sinn und Unsinn des Begriffs „Moderne“ sind dementsprechend bis heute ausgeblieben. Stattdessen hat sich ein eher stiller, einvernehmlicher Rückzug der jüngeren Sozial- und Kulturhistoriker von der Modernisierungstheorie vollzogen1. Insgesamt verbreitet sich der Begriff der „Moderne“, je weniger weitere theoretische Verbindlichkeiten mit ihm verbunden sind. Geschichtsphilosophische Reflexion weckt nach wie vor das Misstrauen von Historikern. Diese Distanz hat Tradition und ist tief im fachspezifischen Habitus verankert. Mit der nonchalanten Eleganz agnostischer Opportunisten nehmen die meisten Kollegen deshalb die aktuelle Tendenz auf, immer dann von „Moderne“ zu sprechen, wenn größere Zusammenhänge, epochenspezifische Relevanz oder gar globalhistorische Perspektiverweiterungen angedeutet werden sollen – wie Christoph Conrad gezeigt hat, befinden sie sich dabei in bester Gesellschaft, denn auch in international dominanten angelsächsischen Kommunikationswegen hat modernity, oder besser im Plural: modernities, eine bescheidene Konjunktur2. Dennoch kann nicht davon die Rede sein, dass eine irgend

1 U. Daniel, Kompendium Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2001; C. Dipper, Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 37 (2012), S. 37-62. 2 C. Conrad, Die Dynamik der Wenden. Von der neuen Sozialgeschichte zum „cultural turn“, in: J. Osterhammel / D. Langewiesche / P. Nolte (Hrsg.), Wege der Gesellschaftsgeschichte (Geschichte und Gesellschaft. Sonderhefte, 22), Göttingen 2006, S. 133-160.

Lutz Raphael

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geartete „Theorie der Moderne“ den Bezugspunkt solcher Gebrauchsweisen darstellen würde. Noch viel weniger kann behauptet werden, dass etwa ein Paradigmenwechsel (von der modernisierungstheoretisch inspirierten historischen Sozialwissenschaft“ zur kulturgeschichtlichen „Theorie der Moderne“) nunmehr einen neuen sicheren Fixpunkt zeitgeschichtlicher Forschungen mit sich bringen würde. Ganz im Gegenteil, eher hat es den Anschein, mit dem unverbindlichen „Moderne“-Begriff die an den Rändern des Faches und bei den kulturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen viel schärfer konturierten Neuorientierungen an post-modernen oder post-kolonialen Theorieentwürfen zu unterlaufen und erkennen zu geben, dass man durchaus fähig und gewillt ist, größere Bezüge für das eigene empirische Tun anzuerkennen und in Rechnung zu stellen. Angesichts einer solchen Ausgangslage stellt jede Klärung möglicher Theoriebezüge beim Gebrauch des Konzepts „Moderne“ eine Gratwanderung dar, gilt es doch zu vermeiden, frucht- und folgenlos eine Theoriedebatte nachzuzeichnen oder nachzuholen, die in vielen Nachbardisziplinen längst geführt worden ist. Der folgende Beitrag versucht aus der Not eine Tugend zu machen: Er entwirft zunächst eine denkbare Position in den Theoriedebatten um „Moderne/Postmoderne“ und geht dann aber zu der Frage über, welche Fragehorizonte und Probleme eine solche Position für eine vergleichende kulturwissenschaftliche Reflexion über westdeutsche und italienische Entwicklungsdynamiken seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges generieren kann.

II. Moderne als Selbstbeschreibung komplexer Gesellschaften Eingangs muss man nüchtern feststellen, dass trotz fehlender Kontroversen bereits ausführliche und vorzügliche Überlegungen zum Begriff und seiner möglichen Verwendung in der Geschichtswissenschaft vorliegen. Thomas Mergel hat vor gut 13 Jahren die Hinwendung der jüngeren Historiker Bielefelder Provenienz zum Begriff in einem programmatischen Aufsatz eingeleitet3. Weiter reichen die aktuellen universalhistorischen Perspektiven Jürgen Osterhammels, der pragmatisch für Distanz gegenüber Begriff und Theorie plädiert, da kein Konzept vorläge, das hinreichend offen und distanziert sei, um die so verschiedenartigen Phänomene zusammenzuführen, welche alle im Horizont eines gehaltvollen Moderne-Begriffs soziologischer Provenienz behandelt werden4. Dagegen plädieren Friedrich Jäger und Christof Dipper T. Mergel, Geht es weiterhin voran? Die Modernisierungstheorie auf dem Weg zu einer Theorie der Moderne, in: T. Mergel / T. Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, München 1997, S. 203-252. 4 J. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 1281-1284. 3

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für ein spezifisch geschichtswissenschaftliches Konzept der Moderne. Jäger tritt dafür ein, „Moderne“ als eigene Teilperiode innerhalb der Epoche der Neuzeit zu verstehen, sie als dritte Phase nach einer frühen (bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts) und einer revolutionären (bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts) Neuzeit zu definieren und sie mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs enden zu lassen; dann folge eine „globalisierte Neuzeit“5. Mit diesem Vorschlag, dessen zeitlichen Eckpunkte er übrigens selbst relativiert und entsprechend verflüssigt, nimmt Jäger eine wichtige Strömung innerhalb der jüngeren Geschichtswissenschaft auf, welche die enge Zusammengehörigkeit der Jahrzehnte zwischen 1880 und 1930 betont und für diesen Zeitraum von der „eigentlichen“ oder „klassischen“ Moderne spricht. Jäger plädiert zudem dafür, die Erscheinungsweisen dieser Periode (technisch-industrielle Entwicklung, Kommunikationsrevolution, Kultur des Professionalismus, Nationalismus) als westlich-europäische Besonderheiten zu fassen und damit die Moderne, aber auch die umfassendere Epoche der Neuzeit in der letzten Phase der Globalisierung an ihr Ende kommen zu lassen, da sich nunmehr „ein globales Weltsystem ausbreitet, in dem die Rollen nicht mehr in neuzeittypischer Weise zwischen Zentrum und Peripherie verteilt sind, sondern das Verhältnis zwischen den Kulturen multiperspektivischer, differenzierter und komplexer gedacht werden muss“6. Jäger macht explizit, was viele Historiker, die mit dem Begriff der Moderne arbeiten, auch denken: er sei nützlich als Epochenbegriff und er habe eine Art substantiellen Kern – im Sinne einer strukturellen Koppelung ganz unterschiedlicher Phänomene von der Kunst bis zum Maschinenbau. Andere namhafte Historiker haben Begriffe wie „Hochmoderne“ oder „klassische Moderne“ vorgeschlagen, um ausgehend von anderen chronologischen Eckpunkten ein solches Epochenkonzept für die (west-)europäische Geschichte zwischen 1880 und 1970 zu entwickeln. Genauer betrachtet, handelt es sich um eine kultur- und politikgeschichtlich erweiterte und erfahrungs- und ideengeschichtlich reflektierte Spielart der Modernisierungstheorie. Christof Dippers Entwurf steht in enger Beziehung, praktisch im Dialog zu Überlegungen des Autors dieser Zeilen7. Beide plädieren dafür, „Moderne“ kulturgeschichtlich als das Zusammentreffen von sozialstrukturellen „Basis5 F. Jäger, Neuzeit als kulturelles Sinnkonzept, in: F. Jäger / B. Liebsch (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart / Weimar 2004, S. 506-531. 6 F. Jäger, Neuzeit, S. 524. 7 C. Dipper, Moderne, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25. August 2010, https://docupedia.de/zg/Moderne?oldid=80259; ders., Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 57-62; L. Raphael, Ordnungsmuster der „Hochmoderne“? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20. Jahrhundert, in: U. Schneider / L. Raphael (Hrsg.), Dimensionen der Moderne, Frankfurt a.M. 2008, S. 73-91.

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prozessen“ und symbolischen „Ordnungsmustern“ zu fassen, die darauf beruhen, dass die Instabilität und Komplexität von Ordnungsversuchen im Bereich von Kultur, Gesellschaft oder Politik fundamental als wandelbar, der Veränderung unterworfen und damit auch veränderbar anerkannt werden. In dieser Perspektive werden die bei Jäger und anderen immer gleich zusammen und als zwingend miteinander verbunden gedachten Phänomene strukturellen Wandels und der sprachlichen und symbolische Formen, in denen Gesellschaften bzw. Zivilisationen solche Veränderungen kodieren und damit wiederum sinnhaft zu verstehen und zu verändern suchen, zunächst voneinander getrennt betrachtet und ihre Kombination als Ergebnis ereignisgeschichtlicher Kontingenz behandelt. Moderne ist in dieser Perspektive grundlegend ein „Temporalisierungsformat“8. Der Begriff bezeichnet in einem umfassenden Sinn die Folgen, die sich daraus ergeben, dass Menschen die Komplexität ihrer eigenen Vergesellschaftungsformen als zeitlich gerichtete Veränderung auffassen und damit ihre eigene Zukunft als abhängig von vergangenen und früheren Entscheidungen konzipierten. Eine solche Historisierung des Weltbezugs transformierte, wie zahlreiche Studien gezeigt haben, in grundlegender Weise die menschlichen Rede- und Handlungsweisen in Bezug auf Gesellschaft, Kultur und Politik und sie ermöglichte insbesondere einen Perspektivenwechsel im Umgang mit anonymen, quasi naturwüchsig ablaufenden Prozessen sozialen Wandels. Damit komme ich zur zweiten Seite der Medaille, der strukturgeschichtlichen Verankerung eines solchen zunächst strikt kultur- oder ideengeschichtlichen Konzepts von „Moderne“. Ohne dass irgendwelche Notwendigkeiten in der Genese solcher „modernen“ Formen der Selbstbeschreibung menschlicher Gesellschaften zu erkennen wären, lässt sich eher von einer Affinität oder (mit evolutionstheoretischen Hintergrundannahmen) von einer größeren Steuerungsfähigkeit solcher symbolischer Formen im Umgang mit komplexer und vor allem dynamischer werdenden historischen Situationen ausgehen. Die Liste solcher Basisprozesse in Gesellschaften, in denen man „moderne“ Semantiken benutzt, ist unterschiedlich lang. Genannt werden aber übereinstimmend immer wieder auf der Ebene institutioneller bzw. organisatorischer Formenbildung die Bürokratisierung; in ökonomischer Hinsicht anhaltendes, in Konjunkturzyklen schwankendes Wachstum unter dem Primat der industriell-technischen Innovation und in kapitalistisch-marktwirtschaftlicher oder staatswirtschaftlicher Form, parallel dazu die Freisetzung wissenschaftlicher Forschung. Als die Gesellschaften insgesamt prägende Prozesse lassen sich beobachten: Verstädterung, Alphabetisierung und Bildungsexpansion, Bildung von Klassen bzw. Nationen als neue Formen der politischen Vergemeinschaf-

8 P. Gehring, Entflochtene Moderne. Zur Begriffsgeschichte Luhmanns, in: U. Schneider / L. Raphael (Hrsg.), Dimensionen der Moderne, S. 31-41.

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tung; auf der Ebene der Personen: Heraustreten der Individuen aus ihren primären Gruppenbindungen und Zugehörigkeiten. Der Veränderungsdruck sozialstrukturellen Wandels erscheint dabei als die eine, die neu entstehenden Ordnungsmuster als die andere Seite, ohne dass eine notwendige Verbindung zwischen beiden Aspekten postuliert, gar eine Zuordnung von spezifischen Ordnungsentwürfen und den verschiedenen Entwicklungsdynamiken unterstellt wird. Gerade die vergleichende geschichtswissenschaftliche Analyse hat alle Makrotheorien Lügen gestraft, welche eine enge, quasi kausale Verbindung zwischen dem Auftreten sozialer Problemlagen, dem Umbruch symbolischer Ordnungsmuster und im weiteren eine wiederum quasi gesetzmäßige Abfolge weiterer Veränderungen in anderen Bereichen von Gesellschaft, Politik, Kultur und Religion unterstellten. Eine solche Theorie der Moderne ist angesichts der lockeren Koppelungen von Ordnungsmustern und Basisprozessen auch skeptisch bzw. zurückhaltend gegenüber Versuchen, in der Dynamik der letzten 250 Jahre eindeutige „Perioden“ abzuleiten, die man sinnvoll mit diesem Konzept in Verbindung bringen könnte (wie Jäger dies mit der „Moderne“ 1850-1945 oder heute die „Hochmoderne“ 1880-1970 tun)9. Eine historische Theorie der Moderne dieses Zuschnitts knüpft an systemtheoretische10 bzw. kulturwissenschaftliche Lesarten der welthistorischen Entwicklungen in den letzten drei Jahrhunderten an. Diese Deutungen betonen die Relevanz der semantischen Verschiebungen und symbolischen „Revolutionen“, welche in den verschiedensten Feldern – von der Erziehung bis zur Ökonomie und Politik – stattfanden und sich wechselseitig verstärkten. System- wie Kulturtheorie der Moderne gehen bekanntlich davon aus, dass es in einer längeren Umbruchphase, Kosellecks „Sattelzeit“, zu einem grundlegenden Sprach- und Diskurswandel kam, der in Wechselbeziehung mit den Umstellungen der Beziehungen zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Politik stand11. In dieser Sichtweise sind Diskurse, Erfahrungen und Sprache keine Epiphänomene der Strukturgeschichte. Eine solche Theorie der Moderne bietet einen hypothesenoffenen Rahmen, um die rein empirisch feststellbaren, sich verdichtenden Wechselwirkungen zwischen symbolischen und sozialen 9 U. Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History, 3 (2006), S. 5-21; kritisch dazu L. Raphael, Ordnungsmuster der „Hochmoderne“? 10 N. Luhmann, Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992. 11 R. Koselleck, „Neuzeit“ – zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders. (Hrsg.), Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1995, S. 300-348; zur „Sattelzeit“ auch S. Jordan, Die Sattelzeit als Epoche, in: K.E. Müller (Hrsg.), Historische Wendeprozesse. Ideen, die Geschichte machen, Freiburg i.Br. u.a. 2003, S. 188-203.

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Strukturen angemessen im theoretischen Rahmen unterzubringen. Dabei ist zudem eine wichtige Unterscheidung einzuführen, die gern in älteren Diskussionen um Modernisierung und Moderne vergessen worden ist. Die einmal hergestellte Verbindung beider Dimensionen generiert nicht nur eine Vielzahl neuer Möglichkeiten und Varianten für die Gesellschaften bzw. Zivilisationen, welche in einer solchen Umstellungs- und Übergangsphase vollzogen wurden, sondern die so entstandenen „modernen“ Gesellschaften, Wirtschaften und Kulturen haben wiederum ihre eigenen Ordnungsmuster zu einem globalhistorisch äußerst wirksamen Faktor gemacht, den andere Zivilisationen in Rechnung stellen mussten, um die eigene Existenz zu sichern. Drei Beobachtungen scheinen mir für die weitere Diskussion wichtig: 1. Eine kulturgeschichtlich informierte Theorie der Moderne schreibt der Tatsache der Beschleunigung historischen Wandels zentrale Bedeutung zu. Sie lässt sich mit Kosellecks dialektischem Grundmodell von „Erfahrungswandel“ und „Erwartungshorizont“ sehr gut plausibilisieren12. Hatten Veränderungen angesichts ihres Tempos oder ihrer Häufigkeit die Schwelle unbeobachteter bzw. nur von wenigen Experten oder Sozialbeobachtern wahrgenommene Prozesse hinter sich gelassen, entwickelten sie eine Eigendynamik auf der Ebene, die wir als Erfahrungsgeschichte bezeichnen können: Die soziale und moralische Gegenwart wird in allen ihren Aspekten zur Arena neu zu definierender Zukunftserwartungen angesichts von Veränderungsdynamiken, welche die Vergangenheit für die Akteure in immer weitere Ferne rücken ließen/lassen. Immer wieder entfaltet sich – im zeitlichen Nacheinander auf erweiterter Stufenleiter: nämlich mit größerer Veränderungsdynamik und mit mehr teilnehmenden Beobachtern – eine Dialektik, welche Koselleck für die Geburtsstunde der europäischen Moderne entwickelt hatte: Erwartungshorizont und Erfahrungsgehalt treten auseinander – auf einer ständig internationaleren Bühne, unter Beteiligung weitaus größerer Bevölkerungsgruppen. Nur die sprachliche Formulierung suggeriert an dieser Stelle eine Linearität, welche so empirisch keineswegs vorzufinden ist. Immerhin lassen sich für die unterschiedlichen Weltregionen immer wieder Phasen der Verdichtung und der ereignishaften Rückkoppelung sozialer, ökonomischer, politischer oder religiöser Entwicklungsdynamiken und damit Schwellen im Erfahrungswandel beobachten. Dies scheint mir auch der empirische Kern der oben genannten Periodisierungsvorschläge zu sein.

12 R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979; vgl. auch U. Schneider, Spurensuche: Reinhart Koselleck und die „Moderne“, in: U. Schneider / L. Raphael (Hrsg.), Dimensionen der Moderne, S. 61-72.

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2. Ein solches Verständnis von Moderne markiert zwangsläufig sehr scharf die Grenze zu früheren Epochen oder Kulturen bzw. Zivilisationen, denen das Element zukunftsoffener, gleichzeitig aber auch historisierender Selbstbeschreibung fehlt. Dabei erweist sich aber auch die begrenzte Tragfähigkeit des Konzepts für übersichtliche Epochen und Periodisierungen. Lange Übergangsphasen, „Sattelzeiten“ sind kennzeichnend für die Genese moderner Gesellschaften und die nur lose Koppelung zwischen politischem, sozialem und wirtschaftlichem Strukturwandel auf der einen Seite, den Veränderungen in den Beschreibungssprachen und Kommunikationsformen von Gesellschaft auf der anderen Seite bewirkt, dass Übergänge und paradoxe Kombinationen von Altem und Neuem typischer sind als „moderne“ Zustände „aus einem Guss“ und als Folge revolutionärer Umbrüche. 3. Die grundlegende Perspektivenwechsel in den Selbstbeschreibungen von Gesellschaften, die spätestens seit 1800 zu beobachten sind, haben eine solche Vielfalt an Ordnungsmustern (Beschreibungsformen, Institutionen) hervorgebracht, dass alle Versuche als kurzsichtig und vorschnell erscheinen, die damit eröffnete Epoche der Geschichte für abgeschlossen zu erklären. Potentiale und Risiken dieser Epoche und der in ihr generierten Formen von Politik und Gesellschaft scheinen auch am Beginn des 21. Jahrhunderts noch längst nicht ausgeschöpft. Selbst wenn man die „Moderne“ von ihrem Anfang her als eine Epoche auffasst, so ist sie nach wie vor unabgeschlossen. Während es leichtfällt, die Moderne, d.h. aber auch letztlich gegenwärtige Epoche von früheren Phasen zu unterscheiden, fällt es einer durch Selbstreflexivität, historisches Bewusstsein und offene Zukunftsgestaltung gekennzeichneten Selbstbeobachtung schwer, sich selbst bereits als Vergangenheit zu denken. Vor diesem Dilemma steht der Zeithistoriker, der nur beobachten kann, wie die Entwicklungslogiken der eigenen Epoche (man denke nur an „Rationalisierung“ und „Beschleunigung“) ihrerseits neuartige Selbstbeschreibungen hervorbringen (Postmoderne, Globalisierung), die dennoch in ihren Grundmustern alle Eigenschaften zeigen, welche klassischerweise der „Moderne“ zugeschrieben werden. Gerade die Historisierung der Gegenwart und die Pluralisierung von Gegenwartsbeschreibungen und Zukunftsentwürfen kennzeichnen ja von Beginn an die Moderne und schafft die Möglichkeit, nicht nur immer wieder neue Gesichtspunkte zu erfinden, sondern frühere Beschreibungen (Ideologien, Theorien, Narrative) zu aktualisieren, d.h. aber auch zugleich zu ihnen zurückzukehren und sie an veränderte Verhältnisse anzupassen. Die wachsende Vielfalt der Optionen, die parallel bereitgehalten und partiell genutzt werden, lässt lineare Entwicklungen immer seltener werden. Gerade das 20. Jahrhundert hat sich als ein Jahrhundert der unerwarteten Umbrüche erwiesen, die es dem Historiker nahelegen, vorsichtig zu sein, wenn es darum geht, modische Trends von „epochalen“ Umbrüchen zu unterscheiden.

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Mit der Unsicherheit bei der Datierung des Anfangs korrespondiert die Unentschiedenheit, aus diesem Epochenbegriff schlüssige Periodisierungsvorschläge für die letzten 200 Jahre abzuleiten – hier führen offensichtlich andere Gesichtspunkte (der Sozial-, Politik- und Wirtschaftsgeschichte) schneller und zielgenauer zu Ergebnissen, mit deren Hilfe dann überschaubare Untersuchungseinheiten für die Forschung und „Epochen“ für die unterschiedlichen Geschichtserzählungen abgetrennt werden können.

III. Das 20. Jahrhundert – Perspektivenwechsel und Kontinuität Für eine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert scheint die Tatsache, dass es sich um „moderne“ Gesellschaften handelt, auf den ersten Blick für die Zeitgeschichtsforschung eine wenig erhellende Banalität zu sein. Dies unterscheidet die aktuelle Lage ganz wesentlich von Debatten der siebziger und achtziger Jahre, als die Modernisierungstheorie noch dafür genutzt wurde, um national- bzw. regionalspezifische Entwicklungen Europas im 20. Jahrhundert als „Sonderwege“, „Katastrophen“ oder „Sackgassen“ von Modernisierungsprozessen zu deuten. Bei diesen Deutungen war nur der atlantische oder westliche Weg nationaldemokratisch verfasster, kapitalistischer Klassengesellschaften gewissermaßen der „richtige“, direkte Weg in die Moderne gewesen. Derartige Lesarten sind heute nicht verschwunden, aber leiser geworden und in den Hintergrund getreten. Jenseits modernisierungstheoretischer Modelle sollen vier allgemeine Merkmale der Entwicklungen Europas im 20. Jahrhunderts hervorgehoben werden: 1. Mit Blick auf die strukturellen Veränderungen auf der Makroebene, ist festzuhalten, dass die für die „Übergangsgesellschaften“13 des 18. und 19. Jahrhunderts so prägenden Dimensionen: Freisetzung des Marktmechanismus im Zeichen der Deregulierung in Verbindung mit der Etablierung eines autonomen Privatrechts und der Verbreitung eines liberalen (oder sozialistischen) Fortschrittsdenkens in den Gesellschaften Europas in ihrer Wirkung erheblich eingeschränkt worden sind und dies nicht nur für die sozialistischen Länder gilt, sondern große Teil der Agrar- und Industrieproduktion sowie zahlreiche professionalisierte Dienstleistungen im Europa des ausgehenden 19. und dann des 20. Jahrhunderts dem autonomisierten Marktgeschehen entzogen worden sind und auch das autonome Recht durch politische Kontrolle und Manipulation wiederum in seiner Eigenständigkeit in weiten Teilen Europas erheblich eingeschränkt worden ist. 13 Zum Begriff der „Übergangsgesellschaft“ siehe C. Dipper, Übergangsgesellschaft. Die ländliche Sozialordnung in Mitteleuropa um 1800, in: Zeitschrift für historische Forschung, 23 (1996), S. 57-87.

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2. Trotz dieser markanten Umorientierungen in den Ordnungsmustern kommt eine vorurteilslose Bestandsaufnahme von Kontinuitäten zu dem Ergebnis, dass die oben genannten Basisprozesse bis weit in das 20. Jahrhundert hinein bzw. durch das gesamte Jahrhundert hindurch ihre Dynamik bewahrt und den stetigen, zuweilen in dramatischen Krisen und politisch-kulturellen Revolutionen kulminierenden sozialen Wandel immer weiter vorangetrieben haben. Einher ging diese Fortschreibung mit einer erheblichen Steigerung des Lebensstandards und der Lebenserwartung einerseits, sowie einer Explosion des Verbrauchs fossiler Brennstoffe und allgemein der Belastungen der natürlichen Grundlagen des Globus andererseits. Kurz: die Sozialgeschichte Europas des 20. Jahrhundert ist zugleich als Auslaufen der „Modernisierungsphase“, verstanden als Übergang vom „Ancien Regime“ zur „modernen“ Gesellschaftsformation wie auch als Entfaltung neuer Sozialformationen zu lesen, welche nun nicht mehr oder nicht mehr primär durch die Konstellationen geprägt worden sind, welche in der Mobilisierungsphase des 19. Jahrhunderts entstanden waren, wie z.B. schwerindustriell geprägte Zusammenballungen, Klassenbildungsprozesse und Nationenbildung. An ihre Seite traten neue Basisprozesse wie die Ausbreitung von Massenmedien und Informationstechnologien mit den entsprechenden Kommunikationsformen, die Erweiterungen des Konsums zu einem gesellschaftsprägenden Element, schließlich die Verwissenschaftlichung und Technisierung der Lebenswelten. Die Eigendynamik dieser neuen Strukturbildungen hat schließlich dem 20. Jahrhunderts, insbesondere seiner zweiten Hälfte, ein ganz einiges Gepräge gegeben14. 3. Ausschlaggebend für das hier vertretene Modell der Moderne ist die Tatsache, dass die symbolischen Ordnungsentwürfe, die historischen Semantiken für die Gesellschaften Europas im 20. Jahrhundert von prägender, zuweilen fataler Bedeutung geworden sind. Die Periode zwischen 1880 und 1914 kann als eine Umbruchphase und ein Intensivierungsschub in den Formen der Selbstbeobachtungen der europäischen Gesellschaften (im doppelten Plural) verstanden werden und diese in der Kultur- bzw. Wissenschaftsgeschichte unstrittige Beobachtung kann systematisch für die Analyse der gesellschaftlichen Dynamik in den europäischen Ländern genutzt werden. Institutionelle Dichte der Verwissenschaftlichung des Sozialen und die ideologische Vielfalt der von ihnen propagierten Modernitätsentwürfe haben Europas Gesellschaften seit den 1880er Jahren zu Experimentierfeldern unterschiedlicher Optionen für die Weiterentwicklung „moderner“ Ordnungen gemacht. Die Zeit der Weltkriege schließlich hat die gewaltsame und gewalt14 Vgl. als Überblick und Bestandsaufnahme der Basisprozesse H. Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007.

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orientierte Durchsetzung alternativer Modernitätsentwürfe von Faschismus, Bolschewismus und Nationalsozialismus erlebt und Europa zum Schlachtfeld und dann zum Grenzgebiet konkurrierender Ideologien gemacht. Planung und Utopie sind die beiden wichtigsten Formen, die aus dieser Konstellation hervorgegangen sind. 4. Eine vierte Beobachtung scheint mir ebenfalls von erheblicher Relevanz für eine Theorie der Moderne zu sein: Die europäische Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert bietet vielfaches Anschauungsmaterial für den unerwarteten, funktionsgerechten Einbau älterer Institutionen, Gewohnheiten oder Statusgruppen in die Dynamik der Moderne. Die Liste der aus der Sicht einer linearen – am amerikanischen Fall orientierten – Modernisierungs- oder Modernetheorie „abzuwickelnden“ Erscheinungen des Alten Europas, die sich zum Teil bis zur Gegenwart erhalten haben, ist lang: Sie reicht vom britischen Adel über die katholische Kirche bis zur Mafia. Gerade die Geschichtsträchtigkeit der europäischen Gesellschaften, deren Basisinstitutionen und damit verbunden kulturellen Traditionen/historischen Semantiken vielfach weit ins Mittelalter und darüber vermittelt bis in die Antike zurückreichen, hat die Kombination von Ordnungsmustern ganz unterschiedlicher zeitlicher Provenienz mit den neuen Elementen Bürokratie, Markt, Nation, Rechtsgleichheit nahegelegt. Die Umcodierung dieser Sozialgebilde hat dazu geführt, dass man ein großes Repertoire nationaltypischer Anpassungen und Aggiornamentos von Institutionen und Traditionen im Europa des 20. Jahrhundert findet. Die Gesellschaften und Kulturen der europäischen Moderne sind nicht aus einem „Guss“, sondern das Ergebnis paradoxer Koexistenz unterschiedlicher Institutionen und Handlungslogiken. Daraus folgt nun aber wiederum, dass die immer wieder gern zitierte Denkfigur der „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ keine besondere Erklärungskraft beanspruchen kann. IV. Italien und Deutschland – Zwei typisch „moderne“ Nationen im 20. Jahrhundert Für die europäische Moderne wiederum ist von Bedeutung, dass die Nation das prägende Ordnungsmuster geworden ist, in dem die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen festgelegt, aber auch die Leitsemantiken und kulturellen Prägungen formuliert wurden, mit denen die Basisprozesse des sozialen Wandels gestaltet werden und welche die wichtigste Arena für die Formulierung von Zeitdiagnosen und Zukunftsperspektiven geblieben ist. Es ist nüchtern darauf hinzuweisen, dass die Nationalisierung der Gesellschaften in Europa im 20. Jahrhundert eher zu- als abgenommen hat, wenn man die Durchsetzung und Verankerung nationalstaatlicher Standards auf der Ebene von Bildung, Konsum, Kultur und als genuin neues Element der sozialen Sicherungssysteme anschaut. Pointiert kann man formulieren,

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dass die Nationalisierung der europäischen Gesellschaften von der Ebene der Ideologien immer stärker in die Routinen und Institutionen der sozialen Welt gewandert ist. Trotz aller Vorliebe sowohl modernisierungstheoretischer wie systemtheoretischer Lesarten der Moderne für internationale bzw. transnationale Einheiten (Weltgesellschaft, die westlichen Industriegesellschaften, der Westen) und trotz des kosmopolitischen Selbstverständnisses der meisten Kulturwissenschaftler hat sich der „banale“ oder „triviale“ Nationalismus einen festen Platz im Alltagsleben der Europäer gesichert: von der Themenund Sprachwahl in Presse, Rundfunk und Fernsehen über die Sportwelten bis hin zu den Militärdienstzeiten und den nationalen Museen, Gedenktagen und Erinnerungsorten. Gerade die öffentliche Geschichtskultur der europäischen Länder stand im gesamten 20. Jahrhunderts ganz im Zeichen nationaler Zeitgeschichte, ein Akzent, der mit den beiden Weltkriegen nochmals verschärft wurde. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen lässt sich fragen, welche Ausprägungen im Prozess des Nationenbildung und dann der Nationalisierung der Gesellschaften in Deutschland und Italien eigentlich aus der Perspektive einer kulturgeschichtlichen Theorie der Moderne aufschlussreich und für die Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders relevant geworden sind. Abschließend seien hierzu einige wenige Beobachtungen und Hypothesen formuliert: Zum einen sind die beiden „verspäteten“ Nationen in vieler Hinsicht europäische und erst recht globalgeschichtliche „Normalfälle“, bei denen die kulturelle Nationalbewegung (einer kleinen Schicht der Gebildeten) dem politischen Einigungsprozess vorausging, den Weg geebnet hat und bei denen der Prozess der Nationenbildung dann in enger Verbindung mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Dynamiken des späten 19. und 20. Jahrhundert verlief. Das Königreich Italien und das Deutsche Reich erlebten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tiefgreifende Krise des liberalen Verfassungsstaates. Diese Krise teilten sie mit vielen anderen Ländern Kontinentaleuropas, aber der Ausgang dieser Krise, nämlich die Etablierung der faschistischen und nationalsozialistischen Diktatur, hatte einschneidendere Folgen: Damit vollzog sich die weitere, forcierte Nationalisierung beider Länder als radikal antiliberales, antidemokratisches Gemeinschaftsmodell: Mobilisierung der Nation und Entfesselung imperialer Gewalt waren die Eckpunkte dieser Vergemeinschaftungsform, dessen ideengeschichtliche Seite in der Propagierung eines „Neuen Menschen“ und in der utopischen bzw. planerischen Gestaltung einer neuen „ewigen“ Ordnung bestand15. Zahlreiche 15 Vgl. hierzu in vergleichender europäischer Perspektive L. Raphael, Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945, München 2011, S. 196-214, 222230.

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Italiener und Deutsche identifizierten sich mit diesen radikalen politischen Gegenentwürfen zur liberalen Demokratie. Vergleichende Erfolgsbilanzen dieser totalitären Ordnungsentwürfe leiden immer wieder darunter, dass die Gesellschaften beider Länder in unterschiedlichem Ausmaß von den oben genannten Basisprozessen sozio-strukturellen Wandels erfasst waren, als sie sich in die Hände ihrer Diktatoren begaben. Es besteht jedoch inzwischen unter den meisten Historikern Konsens, dass beide Regimes die Nationalisierungsprozesse in ihren Ländern erheblich vorangetrieben haben – und dass die innen- und sozialpolitischen Misserfolge des italienischen Faschismus nicht zuletzt ihre Ursache in den Schwächen des liberalen Nationalstaats und in den wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des noch weitgehend agrarisch geprägten Landes hatten16. Zu fragen ist in vergleichender Perspektive, welche Folgen dieses Erbe für die Zeit nach 1945 hatte. 1. Die Geschichte der kulturellen und intellektuellen Eliten beider Länder war in dieser ersten Hälfte des 20. Jahrhundert auch im internationalen Vergleich besonders bewegt, geprägt durch scharfe Gegensätze und avantgardistische Experimente. Gemeinsam war der Mehrheit dieser Strömungen die radikale Kritik an den etablierten Selbstbeschreibungen des liberalen 19. Jahrhunderts. Kurz: Lange vor dem Beginn „postmoderner Zeiten“ erlebten beide Länder eine ideen- und kulturgeschichtliche Ära, in der Grundpositionen einer Kritik am linearen Fortschrittsdenken und am westlichen Universalismus in Form eines radikalen Kulturrelativismus und einer lebensphilosophischen Kritik am Rationalismus pointiert formuliert und in der Welt der Gelehrten und Intellektuellen weit verbreitet waren. Diese Phase hat wiederum vielfältige Spuren in den kulturellen und intellektuellen Traditionen beider Länder hinterlassen. Aus dieser Perspektive erscheinen Periodisierungsvorschläge, welche die Phase der Postmoderne nach 1970 beginnen lassen, für beide Länder ideengeschichtlich, aber auch erfahrungsgeschichtlich besonders unangemessen: Was für die angelsächsischen Länder liberaler Prägung möglicherweise einen Erfahrungskern über den engeren Bereich der Intellektuellenwelt hinaus enthält, scheint mir für die deutsche und italienische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts wenig erklärungskräftig.

16 A. Nolzen / S. Reichardt (Hrsg.), Faschismus in Deutschland und Italien, Göttingen 2005; C. Dipper / R. Hudemann / J. Petersen (Hrsg.), Faschismus und Faschismen im Vergleich (Italien in der Moderne, 3), Vierow 1997; J. Petersen (Hrsg.), Faschismus und Gesellschaft in Italien (Italien in der Moderne, 2), Köln 1998; W. Schieder, Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008.

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2. Beide Länder erlebten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen zweiten Anlauf liberal-demokratischer Nationalstaatsbildung und damit zusammenhängend nationalpolitischer Vergemeinschaftung. Die Bundesrepublik und Italien vollzogen diesen Prozess auf parlamentarisch-demokratischer Grundlage und dezidiert als Teil der sich im Kalten Krieg formierenden westlichen Welt. Beide Staaten wurden von den politischen Mehrheitskräften dabei als Frontstaaten des Westens erlebt und inszeniert, deren innere und äußere Feinde (voran Kommunisten, bereits mit deutlicher Abschwächung die Anhänger der gestürzten Diktaturen) besonderer Beobachtung unterlagen. In beiden Ländern erlangten die Kirchen wiederum eine hervorgehobene Stellung in den demokratischen Nachkriegsordnungen: Die Verbindung zwischen Staat und Kirche wurde erneuert und den Kirchen eine besondere Stellung als moralische Instanzen im öffentlichen Leben und im sozialpolitischen Institutionengefüge beider Länder eingeräumt. Diese doppelte Konstellation der nationaldemokratischen Umgründung hat jedoch nur in der ersten Phase der Nachkriegsentwicklung „stabile“ Verhältnisse geschaffen und Wirkungen entfaltet. In beiden Ländern setzten sich dominante Ordnungsmuster der westlich-liberalen Welt durch. In der Bundesrepublik war dies das konsensliberale Modell der „Westernisierung“, dessen wesentlichen Komponenten neben der parlamentarischen Demokratie ein sozialliberaler Interventionsstaat und ein ausgeprägter Korporatismus zwischen Staat, Kapital und Arbeit waren17. Dieses Modell stand Pate bei vielen modernisierungstheoretischen Zukunftsentwürfen, die zwischen 1955 und 1970 entwickelt wurden. In Italien fehlten wesentliche Voraussetzungen für eine Übernahme dieser sozialliberalen Variante der „Westernisierung“: Weder konnte ein interventionsfähiger Sozialstaat aufgebaut noch eine stabile Kooperation zwischen Kapital und Arbeit etabliert werden18. 3. Die vielfältigen Pluralisierungen, welche in beiden Gesellschaften Begleiterscheinung sowohl des „Wirtschaftswunders“ als auch der Integration in den „Westen“ waren, veränderten die Geschäftsgrundlagen der politischen Vergemeinschaftungsmodelle beider Nationen spätestens seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre. Der Ausgang dieser politischen Umgestaltungsprozesse „nach dem Boom“ war jedoch in beiden Ländern ganz unterschiedlich. In Italien endeten sie bekanntlich in der Krise der „ersten“ Republik und in einem Zerfall der moralischen und sozialen Grundlagen einer „blockierten“ Parteiendemokratie19, in der Bundesrepublik hingegen verstärkten Liberalisierung und 17 A. Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 18 Für Italien kann von einer Konkurrenz konträrer politisch-sozialer Ordnungsmodelle liberal-kapitalistisch, katholisch-korporativ und sozialistisch) gesprochen werden, deren Durchsetzungsfähigkeit regionale und milieuspezifische Grenzen gesetzt waren. 19 H. Woller, Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010, S. 298-398.

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Pluralisierung der Gesellschaft die demokratische Verfassungsordnung; auch die etablierte Parteiendemokratie erwies sich als anpassungsfähig und flexibel20. Bei aller Parallelität externer Herausforderungen der etablierten demokratischen Institutionen beider Nationen seit den 1970er Jahren (Terrorismus, Aufstieg des Privatfernsehens und der Mediendemokratie, Massenarbeitslosigkeit und Krise der alten Industrien) ergibt sich – so eine vergleichende These – eine wesentliche Differenz zwischen beiden Ländern. In Italien geriet das Ordnungsmuster des demokratischen Nationalstaats in wachsende Spannung zu den Entwicklungsdynamiken in Gesellschaft und Wirtschaft, während in der Bundesrepublik eher von einer sukzessiven Anpassung des etablierten konsensliberalen Ordnungsmusters gesprochen werden kann. In Italien durchliefen die Formen politischer Repräsentation eine tiefe Krise, zugleich verlor der demokratische Staat immer mehr an Steuerungsfähigkeit angesichts der anhaltenden ökonomischen Strukturkrise und angesichts einer breiten neoliberalen Kritik des Staatsinterventionismus. In der Bundesrepublik erwiesen sich dagegen die sozialen und politischen Fundamente des Sozialstaats und der sozialen Marktwirtschaft als ausgesprochen stabil, so dass erst seit der Jahrtausendwende weiterreichende Strukturbrüche in dieser Hinsicht zu beobachten sind. Welche Faktoren zu diesen unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken beigetragen haben, könnte wiederum Gegenstand einer sehr interessanten Debatte sein. Damit entwickelte das seit den 1980er Jahren international dominant werdende neue Ordnungsmuster neoliberaler „Deregulierung“ und Globalisierung unter dem Primat privatwirtschaftlicher Initiativen in beiden Ländern ganz unterschiedliche Wirkungen. Während es in Italien seit den 1980er Jahren rasch an Boden gewann und schließlich in der Ära Berlusconi zum dominanten Politikmodell avancierte, blieben seine Wirkungen in der Bundesrepublik auf struktureller Ebene bis zur Mitte der 1990er Jahre eher begrenzt. 4. Eine weitere Beobachtung betrifft die Wechselbeziehungen zwischen symbolischen Ordnungsmustern und Basisprozessen auf der Ebene des Alltagshandelns und der Vergesellschaftungsformen seit den 1970er Jahren. Die in der soziologischen Standardliteratur immer wieder beschworene Trias der „Moderne“ (Individualisierung, Pluralisierung, „Wertewandel“/Entnormativierung) hat in beiden Gesellschaften unbestreitbare Spuren hinterlassen, aber auch erhebliche Gegentendenzen und Beharrungskräfte freigesetzt. In beiden Ländern bieten Kontinuitäten und Wandel der Familienstrukturen ein besonders interessantes Untersuchungsgelände. Hierbei erwiesen sich die italienischen Familien und ihre Solidaritätszwänge und -chancen sowie Netzwerke als besonders geschmeidig in der Abfederung wachsender sozialer 20 Vgl. die nüchternen Bilanzierungen in: T. Hertfelder / A. Rödder (Hrsg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007.

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und ökonomischer Unsicherheit und kultureller Pluralisierung21. Damit waren der Individualisierung aber wiederum in sozialer Hinsicht deutlich engere Grenzen gesetzt als nördlich der Alpen. Auch die westdeutschen Studien zu Arbeitsorientierung, sozialer Mobilität und Familienstrukturen zeigen eher Kontinuitäten als (radikale) Umbrüche. Jedenfalls ist in diesem Fall besondere Vorsicht geboten und man sollte seismographische soziologische Zeitdiagnosen und Trendbehauptungen der 1980er und 1990er Jahre nicht unkritisch als mehrheitsprägende Ordnungsmuster der Jahrzehnte zwischen 1970 und 2000 fehldeuten. 5. Eine letzte Bemerkung betrifft die Nationalisierung der beiden Gesellschaften: Manches spricht dafür, dass in Italien das Ordnungsmuster „Nation“ in den letzten drei Jahrzehnten an gesellschaftlicher Prägekraft verloren hat. Die Unterschiede in Gesellschaft, Kultur und Politik zwischen den nördlichen und den südlichen Landesteilen scheinen nach einer längeren Phase der Annäherung wieder zugenommen zu haben. Eine solche Auseinanderentwicklung scheint sich, anders als dies skeptische Zeitdiagnostiker behauptet hatten, im viel krasseren Fall der westdeutschen und der ostdeutschen Gesellschaften nach 1990 nicht beobachten zu lassen. Jedenfalls sprechen viele Indikatoren dafür, dass zurzeit ein längerfristiger Annäherungsprozess stattfindet, der letztlich die langanhaltende Integrationskraft des Ordnungsmusters „Nation“ bestätigt. Stimmen diese Thesen, so bestünde ein wesentlicher Unterschied in der jüngeren Geschichte der beiden Länder gerade in der unterschiedlichen Stabilität eben dieses politischen Ordnungsmusters „Nation“.

21 Vgl. als Überblick P. Ginsborg, L’Italia del tempo presente. Famiglia, società civile, Stato 1980-1996, Turin 1998.

Ist jeder seines Glückes Schmied? Die Historisierung des Individualisierungsparadigmas Von Detlef Siegfried

I. Zur Einführung 2008, 25 Jahre nach der Veröffentlichung von Ulrich Becks Aufsatz „Jenseits von Stand und Klasse?“, der die soziokulturellen Wandlungsprozesse seit den 50er Jahren in der These der „Individualisierung“ interpretativ bündelte und damit den Grundstein seiner Theorie von „Risikogesellschaft“ und „Zweiter Moderne“ legte, zog der deutsche Soziologentag eine Bilanz der weitverzweigten, von Beck ausgelösten Debatte um den Charakter jener neuen Moderne, die sich nach dem Ende der „Industriegesellschaft“ entfaltete1. Becks „Individualisierungsthese“ hatte von Beginn an Kritik ausgelöst, aber auch Zustimmung erfahren und insbesondere die Wahrnehmung der Öffentlichkeit bestimmt. Theoretische Verfeinerungen und empirische Überprüfungen haben ein breites Spektrum an soziologischen Studien entstehen lassen, die als Quellen und Interpretamente auch die ersten Annäherungen der Zeitgeschichtsforschung an den gesellschaftlichen Umbruch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beeinflusst haben: so neben Becks eigenen oder gemeinsam mit anderen verfassten Weiterungen etwa Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ oder Andreas Reckwitz’ Theorie vom Wandel der Subjektkulturen in der „Postmoderne“, die als Referenzwerke insbesondere in kulturgeschichtlichen Studien herangezogen – gelegentlich auch vehement abgelehnt werden2. Im 1 P.A. Berger / R. Hitzler (Hrsg.), Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert „jenseits von Stand und Klasse“, Wiesbaden 2010; U. Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: R. Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderbd. 2), Göttingen 1983, S. 35-74. Keineswegs „weitgehend unverändert“, wie es in einer Anmerkung heißt, sondern stark überarbeitet, aktualisiert und gekürzt die Fassung von 1994 in: U. Beck / E. Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1994, S. 43-60. In soziologiegeschichtlicher Perspektive M. Schroer, Das Individuum der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2001; T. Kron / M. Horáček, Individualisierung, Bielefeld 2009. 2 Zum Ersten u.a. U. Beck / W. Bonß (Hrsg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M. 2001. Weiterhin G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie

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Kern geht die von Beck lancierte und dann weiter ausgearbeitete Individualisierungsthese davon aus, dass sich durch verschiedene Faktoren – Erosion des industriellen Sektors, Prosperität, Ausbau des Sozialstaates, Massenkonsum, Bildungsexpansion – seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Bindekräfte der in der ersten Hälfte vorherrschenden sozialmoralischen Milieus so weit lockerten, dass das Individuum weitgehend auf sich selbst gestellt ist, was zum einen als Emanzipation von traditionellen Festlegungen in Lebensverlauf und Lebensführung, zum anderen insofern als „Risiko“ zu deuten ist, als die durch Familie und Milieu gebotenen Sicherheitsnetze nicht mehr zur Verfügung stehen, sondern auch hier der Einzelne allein steht3. Was im politischen Kontext erstarkender „neoliberaler“ Tendenzen in den 80er Jahren als Befreiung des Individuums von staatlicher Bevormundung zunehmend positiv konnotiert wurde – der Rückbau des Staates zugunsten der Eigenverantwortung des Individuums insbesondere in der Wirtschaft und den Sozialsystemen –, erschien bei Beck als problematische Folge einer insgesamt ambivalenten Entwicklung, bei der der Zugewinn an individueller Freiheit nur die helle Seite darstellte. Im Mittelpunkt der soziologischen Debatte um die Individualisierung stand die Frage, inwieweit tatsächlich die „lebensweltliche Identität“ sozialer Klassen oder Stände, wie sie von Karl Marx und Max Weber beschrieben worden war, erodierte und durch nichtständisch geprägte Gemeinsamkeiten (von Beck insbesondere in der Gemeinsamkeit des Risikos gesehen) abgelöst wurde4. Während die von Beck beschriebenen empirischen Vorgänge kaum bestritten wurden und insbesondere die Berechtigung der These von der „Individualisierung sozialer Risiken“ durch die seitherige Entwicklung evident ist, sind die Zweifel nicht verstummt. Hans-Ulrich Wehler beklagt im Rückblick eine von Beck angeführte „kulturalistische Wende“ der deutschen Soziologie, die in einer Art neuem deutschen Sonderweg an die Stelle der von einem Gerechtigkeitspostulat geleiteten Forschungen zu vertikaler Ungleichheit eine unverbindliche „bunte ‚Vielfaltsforschung‘“ gesetzt habe5. Wie Wehler eine „gigantische Überhöhung des Individuums und seiner Entscheidungsfreiheit“ zulasten der Persistenz struktureller Ungleichheitsfaktoren kritisierte und statt dessen auf Pierre Bourdieu verwies, der Kultursoziologie und Ungleichheitsforschung verband, wandte Michael Vester Bourdieus Ansatz auf die Analyse der der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992; A. Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. 3 Einen Abriss zur Geschichte der Ungleichheitsforschung in der „alten“ Bundesrepublik bietet S. Hradil, Individualisierung, Pluralisierung, Polarisierung: Was ist von den Klassen und Schichten geblieben?, in: R. Hettlage (Hrsg.), Die Bundesrepublik. Eine historische Bilanz, München 1990, S. 111-138. 4 Vgl. U. Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, S. 43 ff. 5 H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1949-1990, Bonn 2009, S. 113 ff.

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westdeutschen Sozialstruktur an, indem er Faktoren des Einkommens und des Ansehens mit denen des Habitus (Lebensstil und Mentalität) kombinierte und so eine differenzierte Landschaft von sozialen Milieus herausarbeitete6. Vester sah wie Beck einen „Kontinuitätsbruch“ und gestand jenem ein „enorme[s] Anregungspotenzial“ zu, betrachtete aber „diesen Kontinuitätsbruch nicht als Auflösung, sondern als Wandel oder Pluralisierung der Klassengesellschaft“: Der Wandel der äußeren Lebensbedingungen werde in den Milieus unterschiedlich verarbeitet, die sich, insbesondere durch „Emanzipationskämpfe der Jugendkulturen“, öffnen und modernisieren7. Während die Milieus einerseits „Nachfahren der früheren Stände, Klassen und Schichten“ sind, sind sie andererseits vom gesellschaftlichen Wandel gleichermaßen beeinflusst, „in der jüngeren Generation vor allem in den Werten der Selbstbestimmung, der Selbstverwirklichung und … auch der sozialen Mitverantwortung“. In historiographischer Perspektive ist die These der Individualisierung oftmals für bare Münze genommen oder auch abgelehnt, aber kaum zum Gegenstand der Analyse gemacht worden8. Allerdings liegt eine Reihe von Arbeiten vor, die ihre Plausibilität nahelegen, ohne dezidiert danach gefragt oder Klasse und Stand in den Mittelpunkt gestellt zu haben. So etwa Arbeiten zur Entwicklung der Religiosität, die Entkirchlichung und „Privatisierung“ der Religion hervorheben, zur Diversifizierung der Medienlandschaft oder zur Pluralisierung der Haushalts- und Familienformen, die die Normativität des Hausfrau-Ernährer-Familienmodells infrage stellen – all dies mit dem Befund einer stärkeren Individualisierung auf den jeweils untersuchten Feldern9. Obwohl hier nach wie vor soziologische, z.T. kulturwissenschaftliche Studien dominieren, erscheint der Becksche Ansatz auch aus kulturhistorischer Perspektive attraktiv, weil er die Selbstwahrnehmungen und Praktiken der historischen Akteure im Hinblick auf ihren Alltag in den Mittelpunkt stellt. Eben hier, in den Lebensweisen, gesehen mit den Augen der Akteure, materialisiert sich Beck zufolge die Individualisierung. M. Vester / P. von Oertzen / H. Geiling u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt a.M. 2001. 7 M. Vester, Ulrich Beck und die zwei Marxismen. Ende oder Wandel der Klassengesellschaft?, in: P.A. Berger / R. Hitzler (Hrsg.), Individualisierungen, S. 29-50. Das letzte Zitat sowie das Folgende M. Vester / P. von Oertzen / H. Geiling u.a., Soziale Milieus, S. 79. 8 Eine systematische Historisierung in der langen Linie versucht R. von Dülmen (Hrsg.), Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln u.a. 2001. 9 K. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, 3. Aufl., Freiburg i.Br. u.a. 1994; F.W. Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004; K. Hickethier, Geschichte des Deutschen Fernsehens, Stuttgart / Weimar 1998; W. Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945-2000, Frankfurt a.M. / New York 2002. 6

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Im Folgenden soll an der Entwicklung der dem Kernbereich der Individualisierung zugerechneten Jugend-, Gegen- und Alternativkultur der 60er bis 80er Jahre skizzenhaft das Paradigma der Individualisierung historisiert und die Frage diskutiert werden, inwieweit hier die genannten Ambivalenzen zu beobachten sind. Dabei stehen die vor dem Hintergrund der angedeuteten Strukturveränderungen zu beobachtenden Erfahrungen und Praktiken der Akteure im Mittelpunkt, wie sie in den verschiedensten Schulen – von Beck bis Bourdieu – erkenntnisleitend sind.

II. Vor der „Individualisierungsthese“ Lange vor Becks Individualisierungsthese war sich die empirische Jugendforschung darin einig, dass im Verhalten Jugendlicher eine gewachsene Vielfalt an Lebensstiloptionen sichtbar wurde, dem auf der normativen Ebene ein immer weiter um sich greifendes Selbstbestimmungspostulat entsprach. Schon 1962 hatte Friedrich Tenbruck beobachtet, dass Jugendliche sich „von einem Meer gegenwärtiger Verhaltensmöglichkeiten umspült“ fänden10. Sie seien gezwungen auszuwählen und konstituierten dabei eine eigene Teilkultur, woran sich wiederum die Erwachsenen orientierten. 1966 konstatierte Viggo Graf Blücher einen „Pluralismus der Gesellungsweisen“, der begleitet wurde von einer „lässigen und kritischen Haltung gegenüber den vielfachen Freizeitmöglichkeiten“ und einer zunehmenden Verhaltenssicherheit im Umgang mit ihnen11. In einem Langzeitvergleich zu den bevorzugten Erziehungsstilen über die vergangenen 20 Jahre hinweg zeichneten sich bei der Emnid-Untersuchung des Jugendwerks der deutschen Shell 1975 die stärksten Veränderungen beim Erziehungsziel „größere Selbständigkeit und Freiheit“ ab. Wollte 1954 nur gut ein Viertel der Befragten ihre zukünftigen Kinder in diese Richtung erziehen, so war es 1975 die Hälfte – und genau hier sahen sie auch den stärksten Unterschied zum Erziehungsstil ihrer Eltern12. Auch in den sozialen Praktiken ist eine gewachsene Selbständigkeit zu beobachten. Blickt man auf die Gesellungsformen, so wuchs der Anteil derer, die einen festen Partner hatten, von 47% im Jahr 1964 auf 60% im Jahr 1975; der Anteil derer, die keiner informellen Gruppe angehörten, sank von 48% auf 29%, wobei

10 Zitiert nach R. Eckert, Idealistische Abweichung. Die Soziologie vor dem Problem politischer Jugendbewegungen, in: H.-G. Wehling (Hrsg.), Jugend zwischen Auflehnung und Anpassung. Einstellungen, Verhaltensweisen, Lebenschancen, Köln / Mainz 1973, S. 9-33, 17. 11 V. Graf Blücher, Die Generation der Unbefangenen. Zur Soziologie der jungen Menschen heute, Düsseldorf / Köln 1966, S. 254. 12 Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.), Jugend zwischen 13 und 24. Vergleich über 20 Jahre, Hamburg 1975, Bd. 3, S. 36; Bd. 2, S. 199.

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die Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe mit dem Bildungsstand stieg13. Insgesamt konstatierten die Emnid-Forscher, das „Solidarisierungspotential“ sei „in außerordentlicher Weise gewachsen“, wobei – sieht man einmal ab von Aktivitäten in informellen Zusammenschlüssen wie neuen sozialen Bewegungen, Jugendzentren etc. – die Mitgliedschaft in konfessionellen Jugendgruppen markant zurückging (von 12% im Jahr 1953 auf 6% 1976), während insbesondere diejenige in Sportvereinen anstieg (von 15% auf 37% im selben Zeitraum). Ein derartiges „Solidarisierungspotential“ oder, wie Vester es formulierte, die Bereitschaft zur „sozialen Mitverantwortung“, zeigte sich auch bei den zahlreichen kulturellen und politischen Gruppen, die als nahezu lupenreine Jugendbünde gegründet wurden – von Jugend- und Musikclubs bis hin zu Wohngemeinschaften und kommunistischen Bünden. Sie wurden Katalysatoren nicht nur der häufig soziale Grenzen überschreitenden gemeinschaftlichen Individualisierung, sondern auch eines verbindlichen Sozialverhaltens, dessen Maßstäbe und Toleranzgrenzen neu zu finden waren.

III. Klassen- und Massenkultur Die in den 70er Jahren angestellten Untersuchungen des Birminghamer Center for Contemporary Cultural Studies (CCCS) konstatierten mit dem Blick auf besonders spektakulär auftretende Subkulturen wie Rocker und Hippies die Fortexistenz klassenspezifischer Subkulturen, wobei die Empirie dem a priori angenommenen Modell folgte: Jugendliche Subkulturen aus der Arbeiterklasse demonstrierten Abweichung durch Stil, während aus jungen Bürgerlichen bestehende „Gegenkulturen“ die herrschende Ordnung politischideologisch in Frage stellten. Dabei erscheint mit Blick auf die Bundesrepublik die für Großbritannien konstatierte Klassenspaltung empirisch weitaus weniger eindeutig. Zwar sind auch hier insbesondere in den 50er Jahren noch sozial klar zuzuordnende Gruppierungen festzustellen – im Hinblick auf den Musikgeschmack etwa grob gesagt: Arbeiterjugendliche schätzten deutschen Schlager und Rock ’n’ Roll, Gymnasiasten und Studierende klassische Musik und Jazz. Doch in den in den 60er Jahren aufkommenden Twist- und Beatszenen waren nicht soziale Trennungen, sondern Vermischungen charakteristisch14. Wie Bourdieu ebenfalls für die 60er Jahre u.a. am 13 Ibidem, Bd. 3, S. 60, das Folgende S. 27 f. Vgl. auch P. van den Acker / L. Halman / R. de Moor, Primary Relations in Western Societies, in: P. Ester / L. Halman / R. de Moor (Hrsg.), The Individualizing Society. Value Change in Europe and North America, Tilburg 1993, S. 97-128. 14 Vgl. dazu insgesamt D. Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, 2. Aufl., Göttingen 2008.

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Beispiel des Musikgeschmacks gezeigt hat, erklären sich die im Lebensstil verdichteten symbolischen Praktiken der Akteure nicht unvermittelt durch ihre sozialen „Lagen“, sondern werden moderiert durch den Habitus als „ein System verinnerlichter Muster“, „eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenüber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen führt“15. Der Habitus, der über Nuancen in den Vorlieben, der Sprache und Gestik soziale Hintergründe vermittelt, öffnet den Blick für Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, die von den Herkunftsmilieus geprägt sind, aber durch Erfahrungen modifiziert werden können. Zwar bleibt der Musikgeschmack bis in die Gegenwart von sozialen Hintergründen mit bestimmt, doch ist der Aufstieg der Rockmusik zur Massenkultur mit sozialen Grenzüberschreitungen verbunden: gewachsene Legitimität des Massengeschmacks in gehobenen, Verbreiterung des Zugangs zu textlich und musikalisch avancierten Formen für benachteiligte Schichten. Dass dennoch Gymnasiasten etwa Jazz und Liedermacher positiver bewerteten als Auszubildende, steht dazu nicht im Widerspruch16. Am Übergang zu den 70er Jahren war englischsprachige Popmusik ‚die‘ bevorzugte Musik junger Leute schlechthin. Dies galt insbesondere für gebildetere Jugendliche. Eine Untersuchung vom Frühjahr 1971 erbrachte, dass Gymnasiasten mit 81% fast unisono eine Präferenz für diese Art von Musik an den Tag legten, während berufstätige Jugendliche hier mit 75% etwas weniger festgelegt waren und eine hohe Affinität für den deutschen Schlager zeigten, der unter Gymnasiasten kaum goutiert wurde17. Gleichzeitig spielten innerhalb dieser generationell abgegrenzten Gruppe der Gesellschaft weitere Distinktionslinien hinein, die die Vielfalt der Optionen sichtbar machten, ohne per se frei gewählt zu sein. Junge Frauen hörten Popmusik, sie tanzten nach ihr begeisterter als Männer und hatten in den frühen 60er Jahren entscheidenden Anteil an ihrer Etablierung, aber als Gegenstände von Fachdiskursen waren Schallplatten und Phonogeräte, auch Popkonzerte, ja Popmusik überhaupt, um 1970 zu einem bevorzugten Terrain vor allem für junge Männer geworden. An Besitz und Gebrauchsweisen von Unterhaltungselektronik und Tonträ-

15 P. Bourdieu, Zur Soziologie symbolischer Formen, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1991, S. 143; ders., Die feinen Unterschiede, in: ders., Die verborgenen Mechanismen der Macht. Schriften zu Politik und Kultur, Bd. 1, Hamburg 1992, S. 31-47, hier S. 31. 16 G. Otte, „Klassenkultur“ und „Individualisierung“ als soziologische Mythen? Ein Zeitvergleich des Musikgeschmacks Jugendlicher in Deutschland, 1955-2004, in: P.A. Berger / R. Hitzler (Hrsg.), Individualisierungen, S. 73-95. 17 Infratest, Der jugendliche Radiohörer. Nordrhein-Westfalen 1971, München 1971, S. 84, 87. Eine zeitgleiche Umfrage in vergleichbaren Altersgruppen kam auf ähnlich hohe Zahlen von 81 bzw. 74% Präferenz für Pop- und Rockmusik: R. Dollase / M. Rüsenberg / H.J. Stollwerk, Rock People. Die befragte Szene, Frankfurt a.M. 1974, S. 24.

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gern, an den Praktiken am Rande und auf der Tanzfläche, an den Autorenlisten der Popzeitschriften und am Konzertbesuch lassen sich derartige Diskrepanzen ebenso nachvollziehen wie ein allmählicher Emanzipationsprozess von Frauen, denen „das gleiche Recht für alle“ (Georg Simmel) auch auf dem Gebiet der Popmusik die Auffächerung von Lebensstiloptionen ermöglichte. Gleichzeitig entstanden hier neue kulturelle Normen, denen sich der Einzelne nur schwer entziehen konnte, so dass von einer autonomen Lebensgestaltung, wie Beck sie postuliert, nur in sehr eingeschränktem Sinne die Rede sein kann.

IV. Individuum und Gemeinschaft In einer historiographischen Einordnung der Untersuchungen zum „Wertewandel“, auf die sich unter anderem die Theorie der Individualisierung stützt, hat Andreas Rödder kürzlich postuliert, der zwischen Mitte der 60er und Mitte der 70er Jahre erfolgte Wertewandelschub, der einen Umbruch von „Akzeptanz-“ zu „Selbstentfaltungswerten“ (Helmut Klages) belegte, habe einen Rückgang von „Gemeinschaftswerten“ beinhaltet, die erst seit den 90er Jahren wieder auf dem Vormarsch seien18 . Diese These beruht auf der Vorstellung, Individualisierung würde sich automatisch gegen die Gemeinschaft richten. Um 1968 war das Gegenteil der Fall, wie schon einige grobe Schlaglichter andeuten, etwa die aufgrund des neu entfachten Gemeinschaftsradikalismus erfolgte Wiederveröffentlichung von Helmuth Plessners Schrift „Grenzen der Gemeinschaft“ von 1924 im Jahre 1972, die der Verfasser mit den Worten kommentierte, der Text sei offensichtlich „immer noch oder gerade wieder aktuell“19. Hingegen war um 1970 von Individualisierung keineswegs die Rede, im Gegenteil: Noch wirkten, unterstützt von der Gemeinschaftseuphorie in Studentenbewegung und Gegenkultur, Helmut Schelskys und Theodor W. Adornos Diagnosen vom „Ende des Individuums“ nach – ein Schlagwort, das der Philosoph Michael Landmann 1971 zum Titel eines Buches erhob20 –, während Jürgen Habermas bei tendenzieller Zustimmung immerhin zu bedenken gab, es sei bisher „nicht gelungen, die These vom Ende des Individuums aus dem Bereich der Malaise und Selbsterfahrung von Intellektuellen 18 A. Rödder, Werte und Wertewandel: Historisch-politische Perspektiven, in: A. Rödder / W. Elz (Hrsg.), Alte Werte – neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 9-25, 23. 19 H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M. 2001 (1. Aufl., Bonn 1924); Zitat: H. Plessner, Selbstdarstellung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 10, Frankfurt a.M. 1985, S. 302-345, hier S. 322. 20 M. Landmann, Das Ende des Individuums. Anthropologische Skizzen, Stuttgart 1971.

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herauszuholen und empirischer Prüfung zugänglich zu machen“21. Immerhin hatte er mit der These seiner Habilitationsschrift (1962) von der Verwandlung eines „kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum“ die Sicht von einer Entautonomisierung des bürgerlichen Subjekts noch untermauert, zog sie aber 1990 zurück: „Die Resistenzfähigkeit und vor allem das kritische Potential eines in seinen kulturellen Gewohnheiten aus Klassenschranken hervortretenden, pluralistischen, nach innen weit differenzierten Massenpublikums habe ich seinerzeit zu pessimistisch beurteilt“22. Tatsächlich bildeten von den 60er bis in die 80er Jahre hinein Gemeinschaften und das Gemeinschaftspostulat einen wichtigen Rahmen für Individualisierungsprozesse. Dass diese Gemeinschaften auf jeweils eigene Art die Individualisierung vorantrieben, ist exemplarisch an der Wohngemeinschaft zu studieren, wo sich nach allgemeiner Überzeugung Individualismus besonders gut entfalten konnte23. Nach der totalen Vergemeinschaftung in der Frühphase der „Kommunen“, zeigte sich schon 1974, dass die Zufriedenheit von WG-Bewohnern am größten war, wenn Gemeinschaft und private Freiräume gut ausbalanciert waren. Extreme derartiger Suchbewegungen waren K-Gruppen und religiöse Sekten, in denen sich neue Verbindlichkeiten in selbst gewählten Gemeinschaften besonders rigide manifestierten. Gerade sie waren es aber auch, die am Ende in eine Sackgasse führten. Welche zentrale Rolle die Neubewertung von Subjektivität im Zerfallsprozess des Linksradikalismus spielte, lässt sich am Beispiel der maoistischen KPD studieren, deren Parteiorgan 1978 konstatierte: „Wir haben die Kritik, dass die Marxisten-Leninisten die subjektiven Erwartungen der Menschen geringschätzen, ernstzunehmen und die Hoffnungen und Wünsche nach Selbstentfaltung als Bestandteil einer radikalen, antikapitalistischen Bewegung zu begreifen“24.

In der Parteikrise von 1979/80, der die Selbstauflösung folgte, sprach Alexander von Plato im Hinblick auf das innerparteiliche Regime von einer 21

J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973,

S. 176. 22 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1996 (1. Aufl. 1962), S. 30. 23 D. Korczak, Neue Formen des Zusammenlebens. Erfolge und Schwierigkeiten des Experiments „Wohngemeinschaft“, Frankfurt a.M. 1979, S. 108 ff.; M. Andritzky, Balance zwischen Heim und Welt. Wohnweisen und Lebensstile von 1945 bis heute, in: I. Flagge (Hrsg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart 1999, S. 615-686, hier S. 652 f. 24 Zitiert nach J. Bacia, Kommunistische Partei Deutschlands (Maoisten), in: R. Stöss (Hrsg.), Parteien-Handbuch. Die Parteien in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, Bd. 3, Opladen 1986, S. 1810-1830, hier S. 1827.

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„rigide[n] Unterdrückung jeder Subjektivität“25. Das „Verfügen“ über andere, so der spätere Osteuropa-Historiker Karl Schlögel in einer selbstkritischen Bilanz von 1981, sei eine der „bedrückendsten“ Erfahrungen gewesen26.

V. Generationskonflikt und Postmaterialismus Um ein Auseinanderbrechen der Gegenkultur in einen scholastischen politischen Radikalismus auf der einen und unpolitische Drogen- und Musiksubkulturen auf der anderen Seite zu verhindern, hatte eine Reihe von Akteuren um Diethart Kerbs 1971 als eine Art Programmschrift den Band „Die hedonistische Linke“ publiziert27. Vester, der an diesem Projekt beteiligt war, konstatierte schon damals eine Modernisierung im intergenerationellen Wandel und fasst seine damalige Position heute so zusammen: „Nach Ansicht der Jüngeren entstand mit dem wachsenden gesellschaftlichen Reichtum auch die objektive Möglichkeit für erweiterte und autonomere Lebensperspektiven, die Elterngeneration hielt dagegen an den einschränkenden und autoritären Lebensstilen und Politikformen fest, die sie in der Gesellschaft des Mangels erworben hatte“28.

Tatsächlich lag darin der Kern des Aufbruchs um 1968, auch wenn er sich an oberflächlicheren politischen Phänomenen kristallisierte. Recht genau beschrieb Hans-Jürgen Krahl im Oktober 1969 in einem autobiographischen Bericht das, was später als „cultural lag“ bezeichnet wurde – jenen Moment der Verzögerung in der mentalen Anpassung an den Wandel der Sozialkultur, der insbesondere bei den nicht mehr ganz jungen Alterskohorten zu beobachten war. Diese Gesellschaft, so Krahl, „hat es im Laufe der Entwicklung der Menschheitsgeschichte nicht nur fertiggebracht, daß man Messer und Gabel hat, daß man sogar Fernsehapparate und Kühlschränke hat, sie hat auch ein hohes Kulturniveau produziert und eine wunderbar reibungslose Zivilisation – Bedürfnisse, die alle den Stand der physischen Selbsterhaltung weit überschreiten … Jene erweiterte Bedürfnisbefriedigung war nicht verbunden mit der Entfaltung der Phantasie und der schöpferischen Tätigkeit der Menschennatur. Aber sie ist immer noch … ängstlich an die materielle Sicherheit und Bedürfnisbefriedigung gebunden, obwohl wir einen Stand mate25 A. von Plato, Einige Thesen zur Vergangenheit, Gegenwart und Perspektiven unserer Organisation, in: H. Karuscheit (Hrsg.), Zur Bilanz und Perspektive der KPD (Beiträge zur Diskussion „Über die Kommunistische Partei“, 1), Köln 1980, S. 101125, hier S. 107. 26 K. Schlögel / W. Jasper / B. Ziesemer, Partei kaputt. Das Scheitern der KPD und die Krise der Linken, Berlin 1981, S. 95 f. 27 D. Kerbs (Hrsg.), Die hedonistische Linke. Beiträge zur Subkultur-Debatte, Neuwied / Berlin 1971. 28 M. Vester, Ulrich Beck, S. 43.

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rieller Sicherheit haben, der längst eine Entfaltung der Menschen ermöglichte, die weit darüber hinausgehen könnte. Das ist die eigentliche Knechtschaft im Kapitalismus. Das ist das Moment sozialer Unterdrückung, das wir als diejenigen, die privilegiert sind zu studieren, auch einsehen konnten. Und dieses Privileg wollen wir durchbrechen“29.

Darin, so Krahl, zeigte sich der „Verfall des bürgerlichen Individuums“ – und dies sei die eigentliche Ursache für die Entstehung der antiautoritären Bewegung gewesen. In der Retrospektive erweist sich diese Sicht als nachvollziehbar, aber zu pessimistisch. Dass der Wertewandel am Ende der 60er Jahre bereits in vollem Gange war, konnten die meisten Zeitgenossen nicht überschauen. Für Krahl und Genossen stellte der cultural lag der 60er Jahre nicht ein zeitspezifisches Phänomen des Übergangs dar, sondern ein Strukturmerkmal des „Spätkapitalismus“, der nur durch den revolutionären Sprung zu überwinden war. Aus derartigen Analysen entstand in der Gegenkultur und den nichtmarxistisch-leninistischen Gruppen eine Konzentration auf die so genannte „Reproduktionssphäre“, in der die von Ronald Inglehart konstatierten „postmaterialistischen“ Einstellungen besonders stark hervortreten. Claus Offe erkannte schon 1971, dass es Bürgerinitiativen nicht darum ging, die materiellen Lebensbedingungen zu verbessern; vielmehr richteten sie sich „auf die Bereiche, in denen die Arbeitskraft und das Leben nicht durch individuelle Kaufakte, sondern kollektiv reproduziert werden: Wohnung, Verkehr und Personentransport, Erziehung, Gesundheit, Erholung usf.“30. Bis weit in die 80er Jahre hinein blieb eine „Politik in erster Person“ der zentrale Ansatz in der Alternativbewegung: Politik fand nicht in einer repräsentativ vermittelten Sphäre statt, sondern war Teil des selbstbestimmten Alltags31. Im Laufe der 80er Jahre, als die Projekte des alternativen Milieus entweder untergingen oder zu professionell geführten Unternehmen und Institutionen wurden, erwies sich die Sozialisation innerhalb des auf alternative Gemeinschaftlichkeit ausgerichteten Individualismus als produktiv im Sinne der inzwischen weit verbreiteten neoliberalen Ideologie. In einem Rückblick resümierte Reinhard Mohr für die 80er Jahre als „paradoxes Ergebnis“: „Die kollektiven Anstrengungen haben das Kollektiv zerstört, aber auch Individuen

29 H.-J. Krahl, Angaben zur Person, in: Rote Presse-Korrespondenz, Nr. 53, 20. Februar 1970. 30 C. Offe, Bürgerinitiativen und Reproduktion der Arbeitskraft im Spätkapitalismus, in: H. Grossmann (Hrsg.), Bürgerinitiativen. Schritte zur Veränderung?, Frankfurt a.M. 1971, S. 152-165, hier S. 159. 31 S. Reichardt / D. Siegfried (Hrsg.), Das alternative Milieu. Linke Politik und antibürgerlicher Lebensstil in der Bundesrepublik Deutschland und Europa, 19681985 (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, 47), Göttingen 2010.

Ist jeder seines Glückes Schmied?

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hervorgebracht, die freier und souveräner agierten als je zuvor“32. Ähnlich sah es Cora Stephan: „Wer in der ‚Szenekultur‘ der 70er und 80er Jahre gelernt hat, ist im Zweifelsfall mit allen Wassern gewaschen und durch nichts mehr zu erschüttern“33.

VI. Fazit Alles in allem ist Hans-Ulrich Wehlers Skepsis gegenüber der Vorstellung zuzustimmen, dass der Lebensstil „in das Belieben des Individuums gestellt“, also „Ergebnis intentionalen Handelns“ sei34. Stattdessen bewahrheitet sich die schon von Karl Marx konstatierte Dialektik aus gesellschaftlicher Bestimmung und Eigensinn: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ 35. Alles deutet darauf hin, dass die empirisch zu konstatierende Individualisierung nicht als voraussetzungsloses, von sozialen Hintergründen entbundenes „Basteln“ von Lebensstil und Biografie zu verstehen ist, sondern eher als „Abwandlung und Erweiterung tradierter Deutungs-, Handlungs- und Ausdrucksmuster“, die sich auch als Vielfalt der Lebensstile innerhalb der neuen sozialen Milieus darstellt36. Zudem sind, wie Peter A. Berger in seiner Bilanz festhielt, „‚jenseits‘ von Stand und Klasse neuartige Mechanismen der Reproduktion und kategorial neuartige Muster von Ungleichheiten“ entstanden, die die Vorstellung, jeder sei seines Glückes Schmied, in das Reich der schönen Träume verbannen37. Unter den Bedingungen von Prosperität, Konsumkultur, Medialisierung und partizipativer Demokratie erweist sich vor allem der Generationswechsel als entscheidender Faktor eines Kontinuitätsbruchs, der die Ausdifferenzierung der Lebensstile vorantreibt, ohne den Rahmen ständischer Bestimmt32 Siehe R. Mohr, Zaungäste. Die Generation, die nach der Revolte kam, Frankfurt a.M. 1992, S. 58. Zu diesem anthropologischen Ideal der Gegenwart U. Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. 33 C. Stephan, Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte, Berlin 1993, S. 110. 34 H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, S. 116. 35 K. Marx, Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 3. Aufl., Hamburg 1885, S. 7. 36 Dies und das Folgende: M. Vester / P. von Oertzen / H. Geiling u.a., Soziale Milieus, S. 311 f. 37 P.A. Berger, Alte und neue Wege der Individualisierung, in: P.A. Berger / R. Hitzler (Hrsg.), Individualisierungen, S. 11-25, hier S. 19.

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heit generell zu durchbrechen. Bei der intergenerationellen Mobilität stellt der Aufstieg über die Milieugrenzen hinweg die Ausnahme dar; sehr viel weiter verbreitet ist die Modernisierung des Habitus von einem autoritären zu einem eigenverantwortlichen Verhaltensmuster innerhalb der jeweiligen Milieus. Vesters Annahme, die jüngere Generation habe „auf dem Wege der Mobilität, die die soziale Öffnung ermöglicht hatte, ihren Herkunftshabitus ,mitgenommen‘, wenn auch offener gestaltet“ und modernisiert, stellt demnach den am meisten plausiblen Ausgangspunkt für eine Zeitgeschichtsforschung dar, die den Individualisierungsprozess als gesellschaftlichen Vorgang empirisch rekonstruieren will.

Grenzen der Individualisierung Soziale Einpassungen und Pluralisierungen in den 1970/80er Jahren Von Frank Bösch

I. Zur Einführung Als vor einigen Jahren die ersten geschichtswissenschaftlichen Arbeiten zur Bundesrepublik der 1970er Jahre erschienen, untersuchten viele noch das indirekte Erbe der 68er-Bewegung. So fanden die Neuen Sozialen Bewegungen, der Terrorismus und die Alternativkultur große Aufmerksamkeit, ebenso die Dekolonisierung oder die Menschenrechte1. Diese Perspektivierung hat sich in gewisser Weise geändert. In den neueren deutschen Publikationen zur Zeitgeschichte, die den Umbruch der 1970/80er Jahre bilanzieren, steht nunmehr zum einen die Wirtschaftsgeschichte und ökonomische Krise stark im Vordergrund, zum anderen die zeitgenössische kulturelle Selbstbeschreibungen der Gesellschaft der „Postmoderne“, insbesondere der Wertewandel2. Die Ölpreiskrise 1973 gilt dabei vielfach als ein Bindeglied zwischen beiden Blickwinkeln: als Ausdruck und Katalysator des ökonomischen Niedergangs und als Ende euphorischer Zukunftsvisionen. Beide Krisenlesarten beruhen im hohen Maße auf den sozio-ökonomischen und kulturellen Selbstbeschreibungen, die in dieser Zeit dominierten, wie Statistiken, Meinungsumfragen und einem gesellschaftskritischen Buchmarkt. Damit knüpfen viele Darstellungen an die damaligen Wahrnehmungen der Medien und der Sozialwissenschaften an3. Wie Vgl. etwa die Beiträge in: Archiv für Sozialgeschichte, 44 (2004). Vgl. K. Andresen / U. Bitzegeio / J. Mittag (Hrsg.), „Nach dem Strukturbruch“? Kontinuität und Wandel von Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) seit den 1970er Jahren, Essen 2011; K.H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; T. Raithel / A. Rödder / A. Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009. Wirtschaftshistorische und auf kulturelle Deutungsmuster bezogene Forschungsperspektiven regen auch an: A. Doering-Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 91-120. 3 R. Graf / K.C. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011), 4, S. 479-508. 1 2

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spezifisch diese Quellen die Deutungen und Narrative der Historiker prägen, zeigt ein vergleichender Blick auf die differenten Zugänge bei der Erforschung der DDR der 1970/80er Jahre, bei der vergleichbare Meinungsumfragen und sozialwissenschaftliche Studien fehlen und daher die klassische Politik- und Alltagsgeschichte stärker im Vordergrund steht als Fragen des Wertewandels. Im Zentrum neuerer zeithistorischer Darstellungen zur Bundesrepublik stehen die sozialwissenschaftlichen Schlüsselbegriffe der 1980er Jahre, wie die „Individualisierung“, „Entstandardisierung“ und „Pluralisierung“. Dabei wurde in Anschluss an die Modelle der 1980er Jahre ein „Wertewandel“ hin zum Postmaterialismus und neuen Lebensstilen ausgemacht. Dies gilt selbst für eher politikhistorische Gesamtdarstellungen wie die von Andreas Wirsching zur Bundesrepublik der 1980er Jahre, die durchaus auf die Verbindung zur zeitgenössischen Deutung verweist, aber zugleich insbesondere die sozialwissenschaftlichen Diagnosen von Ulrich Beck aufgreift4. Besonders prominent brachte diese wertorientierte Lesart des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts der Mainzer Historiker Andreas Rödder auf. Er bilanzierte: „Der Gesamtzusammenhang dieses soziokulturellen Wandels setzt sich aus einer Fülle von interdependenten Einzelphänomenen zusammen, die sich jedoch auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen: den Zusammenhang von Individualisierung, radikaler Pluralisierung und Entnormativierung … Dieser Wertewandel lässt sich auch als Entnormativierung deuten, insofern die Pluralisierung der Wertsysteme kaum mit dem Aufbau übergreifender, vergleichbar verbindlicher neuer Orientierungsmuster einherging“5.

Auf diese Weise sei ein unverbindliches anything goes entstanden, eine postmoderne Beliebigkeit. Als Kernelement der Individualisierung gilt dabei die Annahme, dass Individuen sich frei für Lebensformen entscheiden könnten. Die Ablösung von dem bisherigen Modell der bürgerlichen Familie, von Milieus und gesellschaftlichen Großorganisationen und der Bedeutungsverlust von verbindlichen Normen ermöglichten danach vielfältige pluralisierte Lebensweisen. Insbesondere die familiäre Pluralisierung – im Sinne einer Auflösung der bürgerlichen Kernfamilie – steht dabei vielfach im Vordergrund dieser 4 A. Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 1982-1990, München 2006, S. 308-330. Die Individualisierung betont auch das Kurzstatement von A. Wirsching, in: Journal of Modern European History, 9 (2011), 1, S. 24-26. Eine abgetrennte Darstellung der sozialwissenschaftlichen Diagnosen nehmen vor A. Doering-Manteuffel / L.Raphael, Nach dem Boom, S. 57-90. 5 A. Rödder, Wertewandel und Postmoderne. Gesellschaft und Kultur in der Bundesrepublik Deutschland 1965-1990, Stuttgart 2004, S. 13; ähnlich ders., Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. Deutungskategorien für die Geschichte der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, in: T. Raithel u.a. (Hrsg.), Auf den Weg in eine neue Moderne. Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2009, S. 181-201, hier S. 195.

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Argumentation. Auch Darstellungen zur jüngsten Geschichte Europas, wie von Hartmut Kaelble, machten die Individualisierung und „neue Heterogenität“ als Trend der 1970er Jahre aus, wobei er dies als eine gewisse europäische Sonderentwicklung interpretiert6. Die angeführten statistisch erhobenen Belege für die Individualisierung und Pluralisierung scheinen in vielen Bereichen unhinterfragbar. Angeführt werden vor allem die ansteigenden Austritte aus Großorganisationen wie den Kirchen, Gewerkschaften und Parteien oder die Zunahme von Scheidungen, von Alleinerziehenden und von Single-Haushalten. Dazu kommen Umfragen, die eine steigende Bedeutung der Selbstentfaltung gegenüber klassischen gemeinschaftsbezogenen Sekundärtugenden aufweisen und daraus neue Lebensstiltypen kreieren. Nicht minder evident wirken die Statistiken zu den angeführten Ursachen für die Individualisierung und Pluralisierung, wie die Bildungsexpansion, der Anstieg der weiblichen Erwerbstätigkeit oder der Übergang zur Dienstleistungsgesellschaft. Dennoch scheint es angebracht, diese Einschätzungen zu differenzieren. Historiker neigen generell dazu, die Auflösung von Gesellschaftsstrukturen jeweils 30 bis 40 Jahre zurück zu datieren. So war es in den 1960er Jahren die Weimarer Republik, die das Ende der bisherigen sozialen Ordnungen einleitete, dann der Nationalsozialismus und die Kriegs- und Nachkriegsphase, in den 1990er Jahren erst die „Modernisierung im Wiederaufbau“ der fünfziger Jahre und anschließend die „dynamischen Zeiten“ der sechziger Jahre, in denen ein beschleunigter Umbruch, eine Pluralisierung und eine Auflösung bisheriger Ordnungen stattgefunden habe. Schon jetzt ist abzusehen, dass die Historiker spätestens nach 2020 die 1990er Jahre als eine besonders dynamische Transformationsphase beschreiben werden, vermutlich mit ebenso guten Gründen. Offensichtlich hängt die jeweils entdeckte beschleunigte Veränderung und neue Unübersichtlichkeit der gegenwartsnahen Jahrzehnte mit anderen Faktoren zusammen als den Quellenbefunden. Dazu zählen etwa generationelle Erfahrungen, die Herstellung von Aufmerksamkeit bei der historischen Erschließung neuer Jahrzehnte, der zu geringe zeitliche Abstand, der Perspektivierungen erschwert; und der gegenwartsbezogene Blick, der die jüngste Zeitgeschichte weniger als etwas Fremdes, sondern vielmehr als den Beginn der vertrauten Gegenwart erscheinen lässt und die eigene (Jugend-) Erinnerung als Umbruch und Neuordnung. Der Beitrag bemüht sich um eine historische Einordnung der 1970/80er Jahre und diskutiert einzelne Einschätzungen, die im Kontext der postulierten Individualisierung und Pluralisierung aufgebracht wurden. Dabei geht es

6 H. Kaelble, Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945-1989, München 2011, S. 192, 248.

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nicht um eine pauschale Zurückweisung, sondern um eine Differenzierung und Ergänzung dieser Lesart, besonders im Hinblick auf die periodische Zuordnung, aber auch auf eine Verortung im internationalen Vergleich. Generell erscheint es mir sinnvoll, die Annahme einer „radikalen Pluralisierung“ in den 1970er Jahren dadurch zu überprüfen, dass man das Jahrzehnt stärker in das 20. Jahrhundert einbettet. Dabei lässt sich zeigen, dass einige Transformationsprozesse bereits vorher einsetzten, erst später ihre Dynamik entfalteten (und nun zu sehr auf die 1970er bezogen werden) oder markant für die 1970/80er Jahre sind, aber nicht unbedingt für einen bleibenden Trend stehen.

II. Radikale Pluralisierung der Familienformen in den 1970er Jahren? Die dynamische Pluralisierung und Individualisierung, die nach den eingangs beschriebenen Modellen in den 1970er Jahren eingesetzt habe, wird besonders auf den Wandel der Familienformen bezogen. Danach habe sich, auch unter dem Einfluss der 68er-Bewegung, die klassische bürgerliche Kernfamilie aufgelöst. Als das Signum der familiären Pluralisierung gelten alleinlebende Singles, unverheiratete Paare, kinderlose Ehepaare, die sich selbst verwirklichen wollen, sowie Alleinerziehende7. Statistisch lässt sich tatsächlich in den 1970er Jahren ein leichter Anstieg der Scheidungszahlen ausmachen, der jedoch erst in den 1980er Jahren stark zunahm, während die Zahl der Eheschließungen sank. Eine längerfristige Einordnung hilft hier jedoch, die Bewertungen zu differenzieren. So nahm die Zahl der Single-Haushalte bereits vorher zu, insbesondere in den beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, von 10% (1939) auf 25% (1970). Nach der Wiedervereinigung machten sie dann 35% aus. Auch die Abnahme von größeren Haushalten mit mehr als fünf Personen erfolgte bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts8. Zudem verweist die Zunahme der Single-Haushalte nicht unbedingt, wie kulturkritisch postuliert wird, auf emanzipierte Frauen, die sich gegen die Ehe entschieden, oder alleinlebende Postmaterialisten. Vielmehr verbergen sich hinter den wachsenden Ein-Personenhaushalten im hohen Maße auch alte Menschen, insbesondere Witwen, die durch die gestiegene Lebenserwartung und die Altersdifferenz bei der Heirat länger alleine lebten9. 7 Vgl. etwa A. Rödder, Werte und Wertewandel. Historisch-politische Perspektiven, in A. Rödder / W. Elz (Hrsg.), Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, München 2008, S. 9-25, hier S. 19. 8 J. Huinink / M. Wagner, Individualisierung und die Pluralisierung von Lebensformen, in J. Friedrichs (Hrsg.), Die Individualisierungsthese, Opladen 1998, S. 85-106, hier S. 97. 9 G. Burkart, Familiensoziologie, Konstanz 2008, S. 30 f.

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Generell bilden in der Familiengeschichte weniger die 1970er Jahre eine Ausnahmezeit, als vielmehr die 1950/60er Jahre, in denen die Zahl der Eheschließungen und Kinder besonders hoch war10. Ordnet man die 1970er Jahre in längere Perspektiven ein, so zeigt sich, dass bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zahl der Lebendgeburten pro Frau deutlich zu sinken begann und der Geburtenrückgang seit Ende der 1960er Jahren eher an diesen längerfristigen Trend lange vor der „Pille“ anknüpfte, der durch den Nachkriegskinderboom kurz unterbrochen wurde. Dass der Wertewandel und die neuen Verhütungsmöglichkeiten diesen Trend dann deutlich verstärkten, ist damit unbenommen. Ebenso war die Heiratshäufigkeit in den 1950/60er in längerfristiger Perspektive eine Ausnahme. So waren im Kaiserreich rund 60% der Bevölkerung ledig, wenngleich oft unfreiwillig aufgrund von Armut, Schichtgrenzen, rechtlichen Hindernissen oder Anstellungsverhältnissen, die das Heiraten verhinderten11. Entsprechend hoch war bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zahl der offiziell vermerkten unehelichen Geburten: Sie betrug im Kaiserreich rund 9%, in den 1920er Jahren 12%, bei Arbeitern machte sie Ende des 19. Jahrhunderts noch ein Viertel aus12. In der Bundesrepublik lag diese dagegen fast durchweg deutlich unter 10% und stieg erst nach der Wiedervereinigung an. Die 1970er Jahre sind hingegen in Westdeutschland im geringeren Maße eine direkte Umbruchszeit für das Heiratsverhalten. Eine echte familiäre Pluralisierung in diesem Sinne gab es seit Ende der 1970er Jahre nur in der DDR, wo die nicht-ehelichen Geburten mit der Geburtenförderpolitik unter Honecker rasant auf über 30% anstiegen13. Auch neue familiäre Lebensformen haben seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik nicht so markant zugenommen, wie oft betont wurde. Die Zahl der Alleinerziehenden nahm in Westdeutschland in den 1970er Jahren zunächst sogar ab und war besonders niedrig, da zuvor die alleinerziehenden Kriegswitwen noch eine markante Größe waren. Erst in den 1980/90er Jahren lässt sich ein markanter Anstieg der Alleinerziehenden im Bundesgebiet ausmachen, der sich dann insbesondere in den Neuen Bundesländern abzeichnet. Unverkennbar nahm in den 1970er Jahren die Zahl der Eheschließungen ab, jedoch ohne dass unverheiratete Paare mit Kindern die gesellschaftliche

10 Vgl. auch S. Hradil, Die Sozialstruktur Deutschlands im internationalen Vergleich, Opladen 2004, S. 99. 11 Vgl. S. Buske, Fräulein Mutter und ihr Bastard: eine Geschichte der Unehelichkeit (Moderne Zeit, 5), Göttingen 2004, S. 34; M. Hubert, Deutschland im Wandel. Geschichte der deutschen Bevölkerung seit 1815, Stuttgart 1998, S. 121. 12 M. Hubert, Deutschland im Wandel, S. 341. 13 Vgl. S. Hradil, Die Sozialstruktur Deutschlands, S. 108.

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Norm wurden. Vielmehr blieb der Anteil der Familien ohne Trauschein recht gering. Die Zahl der „Nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern“ nahm sogar ab14. Hingegen war der Anteil der kinderlosen Ehepaare bereits vor den 1970er Jahren sehr groß, wenngleich er leicht anstieg. Auch ihn kann man also für die 1970er Jahre nur sehr begrenzt mit der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen und neuen Werten erklären. Insofern zeichnet sich ab, dass medial vielfach reproduzierte Bilder von WGs, Kommunen oder emanzipierten alleinerziehenden Frauen sozialhistorisch gesehen kein Signum der 1970er Jahre waren, sondern eher ein Ergebnis gesellschaftlicher Ängste. Statt einer dramatischen Verschiebung zeigt die Statistik eher bei allen Lebensformen leichte Erhöhungen in den letzten drei Jahrzehnten, die insgesamt jedoch die Kategorie „Verheiratet, zusammenlebend, mit Kindern“ deutlich verkleinerten. Die absolute Zahl der Alleinerziehenden stieg zwar, jedoch fiel ihr Anteil an den Haushalten angesichts der ausdifferenzierten Lebensformen weniger stark ins Gewicht. Insgesamt sollte man eher von einer begrenzten Pluralisierung sprechen, zumal die kleine, aber oft hervorgehobene Gruppe „Unverheiratet zusammenlebend, keine Kinder“ häufig in jungen Jahren eher als eine Testphase zu verstehen ist und sich später für Kinder und Ehe entscheidet. Die Pluralisierung von Lebensentwürfen bildet damit insbesondere für eine jüngere Generation zwischen 20 und 30 Jahren eine Lebenszyklusphase. Danach nimmt die Pluralisierung der Familienformen deutlich ab. Viele Darstellungen belegen die Individualisierung und Pluralisierung der Familienmodelle zudem damit, dass seit den 1970er Jahren die außerhäusliche Arbeit der Frauen und damit die staatliche Betreuung von Kindern stark zugenommen haben. So wurde von einer „Entfamiliarisierung der Frau“ und einer „Entprivatisierung der Familie“ gesprochen15. Andreas Wirsching macht eine „Entstandardisierung von Lebensläufen“ insbesondere bei Frauen aus, wobei die „expandierende weibliche Arbeitskraft eine Art flexible, post-industrielle Reservearmee gebildet hat“16. Zweifelsohne ist die Pluralisierung der weiblichen Geschlechterrolle ein zentrales Moment der Zeit. Dennoch spricht zunächst einiges dafür, auch hier die Grenzen der „radikalen Pluralisierung“ der 1970er Jahre aufzuzeigen. So war die Frauenarbeit natürlich ebenfalls kein neuer Prozess. Vielmehr lag der Anteil der Frauenerwerbsquote (ab 15 Jahren) in Vgl. Wirtschaft und Statistik, 1 (2002), S. 31. T. von Trotha, Die bürgerliche Familie ist tot. Vom Wert der Familie und Wandel der gesellschaftlichen Normen, in: A. Rödder / W. Elz (Hrsg.), Alte Werte, S. 78-93, 88 f. 16 A. Wirsching, Erwerbsbiographien und Privatheitsformen. Die Entstandardisierung von Lebensläufen, in: T. Raithel / A. Rödder / A. Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne?, S. 83-97, hier S. 97. 14 15

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der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. 1910, 1920 und 1940) mit rund 47% höher als in der frühen Bundesrepublik und in den 1970er Jahren. Wiederum muss die westdeutsche Nachkriegszeit als eine Ausnahmephase gelten, wobei auch in dieser Zeit, mit einer Frauenerwerbsquote von 39%, Frauen nicht nur daheim für die Familie tätig waren. Was in den 1970ern erkennbar zunahm, war vielmehr die Erwerbsquote von verheirateten Frauen, während die der Männer durch die Verkürzung des Erwerbslebens sank17. Zumindest für die 1970er Jahre lässt sich aus diesen Daten somit nur eine begrenzte Pluralisierung ausmachen18. Erst in den 1980er Jahren stieg die Frauenerwerbsquote insgesamt markanter an. Da ein Großteil der verheirateten Beschäftigten Teilzeit arbeitete und häufiger von der um 1980 ansteigenden Arbeitslosigkeit betroffen war (1981: 6,9% gegenüber 4,5% bei den Männern)19, ist von einer „Entfamiliarisierung der Frau“ sicherlich auch in den 1980er Jahren kaum zu sprechen, wenngleich sich Rollenmodelle langsam wandelten. Generell scheint der Begriff der Individualisierung und Pluralisierung stärker für Männer zu passen, die traditionell leichter zwischen unterschiedlichen familiären Lebensentwürfen wechseln konnten. Das Leben als Junggeselle, außereheliche Sexualkontakte oder sogar Kinder außerhalb der Ehe waren bei ihnen früher üblicher und eher toleriert. Männer heirateten im 20. Jahrhundert durchweg deutlich seltener als Frauen und lebten bis ins mittlere Alter häufiger alleine20. Auch der Bruch von Normen und Gesetzen wird bekanntlich vornehmlich von Männern verübt, was sich besonders markant bei Straftaten zeigt. So waren auch 1981 97% der Strafgefangenen Männer21. Selbst bei den Todesursachen zeigte sich diese männliche Normüberschreitung darin, dass Männer doppelt bis dreimal so häufig Selbstmord begingen wie Frauen22. Viele der Prognosen der 1980er Jahre, die angesichts der Abnahme von Ehen und der Zunahme von Scheidungen eine Auflösung von bisherigen 17 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1983, S. 84; B. Schäfers, Sozialstruktur und Wandel der Bundesrepublik Deutschland. Ein Studienbuch zu ihrer Soziologie und Sozialgeschichte, Stuttgart 1985, S. 223. 18 Von einer „Pluralisierung in Grenzen“ spricht auch der Soziologe N.F. Schneider, Pluralisierung der Lebensformen: Fakt oder Fiktion?, in: Zeitschrift für Familienforschung, 13 (2001), S. 85-90. 19 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1983, S. 95. 20 Statistische Belege in: R. Peuckert, Familienformen im Wandel, S. 49. 21 Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 1983, Bonn 1983, S. 195. 22 International vergleichende Daten der WHO zur Selbstmordrate unter: http:// www.who.int/mental_health/prevention/suicide_rates/en/ (24. Mai 2013).

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Ehe- und Familienmodellen sahen, haben sich als falsch erwiesen. Als Wert haben Ehe und Familie weiterhin eine zentrale Bedeutung und bilden ein zentrales Lebensziel und eine dominierende Lebenspraxis. Zudem erwies sich die junge Generation der 1970/80er mit ihrer relativen Distanz zu familiären Werten nicht nur als Trendsetter, sondern auch als eine gewisse Ausnahme. Zumindest zeigen Jugendstudien wie die „Shell-Studie“ für die seit den 1980er Jahren geborenen Jahrgänge auf, dass die Bildung einer Familie zunehmend als Lebensziel benannt wird23. Die Debatte um die Pluralisierung der familiären Lebensformen wurde und wird besonders normativ geführt. Hier sollten nicht die kulturpessimistischen Deutungen der konservativen Zeitgenossen übernommen werden. Weniger Kinder zu bekommen, kann etwa nicht nur als Zeichen einer postmaterialistischen Selbstentfaltung gedeutet werden, sondern auch als größeres Verantwortungsgefühl gegenüber dem einzelnen Kind. Und eine Heirat nach einer längeren Probezeit ohne Trauschein ist nicht nur eine Abwertung der Ehe, sondern kann zugleich den Respekt und die Achtung der Ehe verdeutlichen, da sie eben nicht leichtfertig geschlossen wird24. Was generell von künftigen historischen Arbeiten zu erwarten wäre, ist eine Sozial- und Kulturgeschichte der Familie, die jenseits von formellen statistischen Daten zur Heirat, Kinderzahl und Scheidung das gelebte Familienleben untersucht. Im Unterschied zu eher kulturkritischen Studien, die den Verfall von Ehe und Familie durch die neue Pluralisierung suggerieren, dürfte dies die Heterogenität der familiären Konstellationen vor 1970 verdeutlichen, etwa im Hinblick auf quasi-alleinerziehenden Frauen oder sexuelle Kontakte jenseits der Ehe.

III. Auflösung sozialer Bindungen als Spezifikum der 1970er Jahre? Der Begriff der sozialen Pluralisierung impliziert die Annahme, vormals habe eine recht einheitliche Gesellschaftsstruktur bestanden. Um den Begriff zu verifizieren, müsste man also fragen, ob und wann die deutsche Gesellschaft sozial und kulturell eine derartige Einheit gebildet hat. Historisch gesehen ist diese Einheitsprojektion natürlich eine Fiktion. Vermutlich waren die Lebenswelten sozial, politisch, kulturell, ökonomisch und nach Geschlechtern vor den 1970er Jahren deutlich unterschiedlicher und abgegrenzter als in den Jahrzehnten danach. Selbst in einer kleinen Schicht wie dem Bürgertum bestanden bekanntlich auch im langen 19. Jahrhundert sehr differente Gruppen – vom mittellosen Bildungsbürger über das traditionelle Stadtbür-

Deutsche Shell (Hrsg.), Jugend 2000. 13. Shell Jugendstudie, Frankfurt a.M. 2000, S. 13 f. 24 G. Burkart, Familiensoziologie, S. 27. 23

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gertum bis zum vermögenden Wirtschaftsbürgertum25. Ähnliches galt für die Arbeiter, bei denen die kulturelle und lebensweltliche Differenz zwischen Land- und Industriearbeitern oder zwischen protestantischen und katholischen Arbeitern meist beträchtlich war. Pointiert ließe sich sogar argumentieren, dass es in den 1970er Jahren eher zu einer Annährung von vormals differenten Lebensformen und Normen kam, da viele Differenzen sich abschwächten. Neue Brücken entstanden, da nun die jeweilige Konfession, Stadt-Land-Gegensätze oder politische Milieus zunehmend an Bedeutung verloren. Dagegen lässt sich auf der Ebene der zeitgenössischen Selbstwahrnehmung ein umgekehrter Trend ausmachen. Die Fragmentierung der Gesellschaft ging gerade seit den 1870er Jahren jeweils mit lautstark postulierten Einheitsvorstellungen einher – sei es nach Einheit der Nation, der internationalen Arbeiterschaft, der „Volksgemeinschaft“ oder der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ in den 1950er Jahren. Dagegen wurde seit den 1970/80er Jahren die Einheit im geringeren Maße als normatives Ideal beschworen, vielleicht gerade weil eine Annäherung der bislang eher getrennten sozialen Gruppen stattfand. Auch hier wäre also zwischen den öffentlichen Diskursen und der sozialgeschichtlichen Praxis zu unterscheiden. Die Verfallsgeschichte von der Moderne hin zur Postmoderne, bei der die Gesellschaft subjektiv und ich-bezogen geworden sei oder sich nicht mehr festen sozialen Gemeinschaften anschließe, wird dabei oft mit der Auflösung der zivilgesellschaftlichen Einbindung und dem Bedeutungsverlust von gesellschaftlichen Großorganisationen verbunden. Entsprechend hätten die Parteien, Vereine, Kirchen und Gewerkschaften seit Ende der 1960er Jahre an Mitgliedern verloren. Statt sich fest an Vereine zu binden, so ein beliebtes Bild, seien die Menschen nun vereinzelt Joggen gegangen oder wären vor dem Fernseher daheim geblieben. Dieser Befund ist erneut in mehrfacher Hinsicht zu differenzieren. Zunächst lässt sich empirisch ausmachen, dass einige dieser Einschätzungen statistisch nicht stimmen. So nahm die Vereinsmitgliedschaft in den 1970er Jahren nicht ab, sondern es kam vielmehr gerade umgekehrt zu einem rasanten Anstieg. Das gilt insbesondere für die Sportvereine, deren Mitgliederzahl sich von 8,3 Millionen auf 15,2 Millionen nahezu verdoppelte, wobei die Hälfte der Mitglieder unter 22 Jahren war26. Insofern bevorzugte gerade die junge Generation nicht individualisierte Freizeitbeschäftigungen. Aber auch im kulturellen 25 Vgl. als Bilanz der Großforschungsprojekte insbesondere in Bielefeld und Frankfurt T. Mergel, Die ‘Bürgertumsforschung’ nach 15 Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, 41 (2001), S. 515-538. 26 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1983, S. 151. Zu Schützenvereinen die Jahresberichte des Deutschen Schützenbundes.

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Bereich nahm etwa die Zahl der Chorsänger zu, ebenso stieg selbst die Anzahl der Mitglieder in Schützenvereinen trotz Friedensbewegung rasant an27. Wie Befragungen zeigen, war somit in den 1980er Jahren immerhin knapp die Hälfte der Deutschen ein Vereinsmitglied28. Ähnliches gilt für die Gewerkschaften: Statt eines Niederganges bildeten die 1970er und frühen 1980er Jahre von den Mitgliederzahlen, aber vermutlich auch von ihrem Aktivismus her, vielmehr eine Blütezeit der organisierten Arbeitnehmer29. So stieg die Mitgliederzahl von 7,7 (1960) auf 9,4 Millionen (1980) und hielt sich bis zur Wiedervereinigung auf diesem Niveau. Die sozio-ökonomischen Umstrukturierungen in der Krise dürften dabei den gewerkschaftlichen Aktivismus gefördert haben30. Ebenso unzutreffend ist die oft formulierte Aussage, die politischen Parteien hätten seit den 1970er Jahren verstärkt Mitglieder verloren. Auch hier wird ein gegenwärtiger Trend im wiedervereinigten Deutschland zurück datiert. Vielmehr hatten die Parteien nie mehr Mitglieder als in den 1970/80er Jahren und selbst in der Ära Adenauer keine vergleichbare Basis. Der oft zitierte „Herbst der Volksparteien“ setzte erst nach 1990 ein, wobei die CDU/CSU selbst heute noch deutlich mehr Mitglieder hat als 197031. Mit den Grünen trat ab Ende der 1970er zwar eine neue Partei hinzu, aber insgesamt kann man beim Wandel des Parteienspektrums allenfalls von einer sehr begrenzten Pluralisierung sprechen. Bis 1933, aber auch bis 1957 war das Parteienspektrum viel bunter und vielfältiger als in den 1970/80er Jahren. Stark hervorgehoben wurde zudem, dass in den 1970er Jahren durch das lokale Engagement klassische politische Konfliktlinien an Bedeutung verloren. Gerade die Kooperation unterschiedlicher Gruppen bei den frühen Grünen scheint ein Beispiel hierfür zu sein32. Allerdings scheiterte dieses Konzept nicht nur bei den Grünen schnell, sondern auch in der Gesellschaft lässt sich in den 1980er Jahren eine starke politische Polarisierung ausmachen, die erst nach dem Mauerfall markanter abnahm. Trotz der Zunahme der Wechselwähler ist jedoch insgesamt eher die hohe Vgl. ebd. J. Simonson, Individualisierung und soziale Integration. Zur Entwicklung der Sozialstruktur und ihrer Integrationsleistungen, Wiesbaden 2004, S. 201. 29 Zahlen zu den Gewerkschaftsmitgliedern in: A. Hassel, Gewerkschaften und sozialer Wandel. Mitgliederrekrutierung und Arbeitsbeziehungen in Deutschland und Großbritannien, Baden-Baden 1999; T.v. Winter / U. Willems (Hrsg.), Interessenverbände in Deutschland, Wiesbaden 2007, S. 173-196, hier S. 179. 30 Vgl. die Beiträge in: K. Andresen / U. Bitzegeio / J. Mittag (Hrsg.), „Nach dem Strukturbruch“?. 31 Vgl. zur Mitgliederentwicklung der CDU F. Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart 2002, S. 203-239. 32 S. Mende, „Nicht rechts, nicht links, sondern vorn“. Eine Geschichte der Gründungsgrünen (Ordnungssysteme, 33), München 2011. 27 28

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Konstanz der Parteien und politischen Lager markant für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anders verhält es sich bei den Austritten aus den Kirchen, die tatsächlich zwischen 1969-1974 stark anstiegen, während gleichzeitig die Zahl der Kirchgänger deutlich abnahm. Die Austritte aus den Großkirchen scheinen mir der eigentliche Referenzpunkt für die These zu sein, die Gesellschaft habe sich in den frühen 1970er Jahren individualisiert und pluralisiert. Selbst wenn die Menschen gläubig blieben, kam es zu einer stärkeren „religiösen Individualisierung“ im Sinne eines erlebnis- und erfahrungsbezogenen Glaubens, aber auch zu einer „Sakralisierung von Subjektivität“ auf dem neuen Markt mit religiösen Angeboten33. Inwieweit man seit den frühen 1970er Jahren von einer schlagartigen Säkularisierung und Privatisierung der Religion ausgehen kann, ist freilich umstritten. Auch hier zeigen sich meines Erachtens gewisse Grenzen der Pluralisierung. Denn erstens nahm die Zahl der Kirchenaustritte ab 1974 wieder deutlich ab und stabilisierte sich bis Ende der 1980er Jahre, wenn auch auf höherem Niveau. Erst um 1990 nahm sie deutlich zu, nun auch noch markanter bei den Katholiken34. Von einer postreligiösen Postmoderne zu sprechen, ist angesichts der weiterhin hohen Zahlen an Kirchenmitgliedern und Gläubigen sicherlich unangebracht, auch wenn die Institution Kirche ihre gesamtgesellschaftliche Leitfunktion einbüßte. Zweitens lässt sich einwenden, dass die Religion sich zwar de-institutionalisierte, aber in der Öffentlichkeit als „populäre Religion“ mit Eventcharakter sogar eine wachsende Bedeutung in der Gesellschaft hatte35. Die zentralen religiösen Events (wie Papstbesuche, Weltjugendtag, Kirchentage u.ä.) stehen zudem nicht für einen Rückzug der Institution Kirche – sie verlagerte vielmehr ihre Aktivität in den öffentlichen Raum. Drittens wurde eingewandt, dass neue Formen von spirituellen Praktiken und Gemeinschaften neben die Großkirchen traten. Die aktive Anhängerschaft alternativer Religionen ist zwar deutlich geringer als die Zahl der Kirchenaustritte und es dominieren Schnittmengen zu den Kirchenmitgliedern. Jedoch ist ein Glaube an übernatürliche Phänomene (Reinkarnation, Astrologie etc.) auch im wiedervereinigten Deutschland bei drei Viertel der Bevölkerung auszumachen. Dennoch: Selbst oder auch gerade wenn man diese drei Einwände zugesteht, ist im Feld der Religion am deutlichsten eine Pluralisierung in den 1970/80er Jahren auszumachen – sowohl als interorganisatorische Pluralisierung (religiöse und

K. Gabriel, Entkirchlichung und (neue ) Religion, in: T. Raithel / A. Rödder / A. Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne?, S. 99-111, S. 101 f. 34 Daten und Analysen in: D. Pollack, Säkularisierung – ein moderner Mythos?, Tübingen 2003, S. 164. 35 So das Argument von H. Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2009. 33

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konfessionelle Heterogenität) als auch als intraorganisatorische Pluralisierung (Vielfalt in Religionsgemeinschaften)36. Eine Pluralisierung der Religion, bei der sich konkurrierende Angebote gegenüber stehen, ist jedoch nicht mit dem Verschwinden der Religion in der Postmoderne gleichzusetzen. Sie kann vielmehr den Effekt haben, religiöse Aktivitäten zu steigern, wie für die USA ausgemacht wurde37. Das Zusammenspiel zwischen weltanschaulichen Überzeugungen, sozialen Netzen und Lebensweisen wurde von der bundesdeutschen Forschung mit dem Konzept der sozial-moralischen Milieus gefasst. Seit den 1980er Jahren entstanden zahlreiche Studien, die für die Zeit zwischen 1870 und 1970 sozialdemokratische, katholische, protestantisch-konservative und, mit Einschränkung, auch liberal-bürgerliche Milieus ausmachten, um insbesondere die starke lokale Konstanz bei der Wahl bestimmter politischer Parteien bzw. politischer Lager zu erklären38. Unverkennbar haben sich die Grundlagen dieser Milieus durch die gestiegene Mobilität der Menschen, die Entkirchlichung, die Massenmedien, die Dienstleistungsgesellschaft und die Bildungsexpansion um 1970 stark verändert und waren allenfalls in ländlichen Gemeinden noch erkennbar. Verschiedene katholische Bundesländer (wie RheinlandPfalz oder das Saarland) erhielten dadurch Ende der 1980er Jahre erstmals SPD-Regierungen. Dennoch sollte man die Erosion der sozialmoralischen Milieus nicht als ein abruptes Ende verstehen. Gerade das Wahlverhalten der 1970/80er Jahre belegt, wie wirkungsmächtig diese längerfristige Prägung auch in diesen Jahrzehnten war. So wählten Katholiken auch in den 1980er Jahren noch ganz mehrheitlich die CDU/CSU; wäre es nur nach den Katholiken gegangen, hätte die Union 1983 etwa 65% erhalten. Auch das Wahlverhalten von Arbeitern differierte weiterhin je nach Konfession39. Der oft beschworene Wechselwähler ist in den alten Bundesländern eher ein Phänomen des letzten Jahrzehnts als der 1970/80er Jahre. Ebenso ist die Mobilität der Bundesdeutschen nicht zu überschätzen. Sie nahm in den 1970er Jahren sogar deutlich ab und verblieb in den 1980er

36 C. Wolf, Religiöse Pluralisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: J. Friedrichs / W. Jagodzinski (Hrsg.), Soziale Integration, Opladen 1999, S. 320-348. 37 F.W. Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, Bonn 2004, S. 25. 38 P. Lösche / F. Walter, Katholiken, Konservative und Liberale: Milieus und Lebenswelten bürgerlicher Parteien in Deutschland während des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 26 (2002), S. 471-492; F. Bösch, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900-1960), Göttingen 2002. 39 Vgl. Datenhandbuch zur Geschichte des deutschen Bundestages, Bd. 1, Berlin 1999, S. 233 f.

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Jahren auf sehr niedrigem Niveau40. Selbst 1991, als die Arbeitslosigkeit schon ein Jahrzehnt hoch lag, hatten vier Fünftel der Deutschen noch nie aus beruflichen Gründen ihren Wohnort gewechselt. Selbst heute wohnt nicht nur die Hälfte der Deutschen in den Orten, in denen sie aufwuchsen, sondern ein Viertel sogar in oder nahe der gleichen Straße. Diese rund 40 Millionen Menschen, die prinzipiell in den sozialen Netzen ihrer Jugend blieben, sollte man nicht übersehen, wenn man, vermutlich auch aus eigener universitärer Lebenserfahrung heraus, die Individualisierung durch die rasante Mobilität betont. Die große Ortsansässigkeit dürfte die gewisse Stabilität der Milieus gefördert haben. Aber auch der Umzug in Stadtviertel mit ähnlichen Milieustrukturen (alternative Altbauviertel, ländliche Vororte etc.) mag erklären, dass der räumliche Wechsel nicht immer bisherige kulturelle Deutungsmuster erschüttern musste. Ebenso ist die oft angeführte Anziehungskraft von Großstädten für die 1970er Jahre nicht zu überschätzen: Der Anteil der Menschen, die in Städten mit über 100.000 Einwohnern leben, machte zwischen 1950 und 1983 (jeweils) ein Drittel aus. Die wirklich große Veränderung im 20. Jahrhundert fand eher vor dem Ersten Weltkrieg statt, als sich die Großstädte etablierten41. Um den sozialen Wandel der Gesellschaft zu erklären, wurden seit den 1980er Jahren von den Sozialwissenschaftlern neue Milieu-Modelle entworfen, die die Menschen nach Lebensstil, Geschmack und sozio-ökonomischen Strukturen einteilen42. Diese Milieus werden „als individuelle und zugleich kollektiv geteilte Organisationsformen des Alltags“ gefasst, die auch auf einen gewissen „selbstgewählten Umgang mit den individuellen Ressourcen“ verweisen43. Die Zuordnung erfolgt aufgrund von Umfragen zu Werten und Lebensweisen. Einige der postulierten neuen Milieus knüpften an die alten an („gehobene Konservative“, „traditionelles Arbeitermilieu“), andere neue sollen die Pluralisierung verdeutlichen (technokratische Liberale, Hedonisten, Postmaterialisten u.a.). Die neue Gruppe der „Postmaterialisten“ gilt dabei als Inbegriff einer neuen Lebensstilgruppe der individualisierten und pluralisierten Nachmoderne. Zahlreiche zeithistorische Studien zu den 1980er Jahren griffen diese neue soziologische Gesellschaftsbeschreibung auf44.

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M. Wagner, Räumliche Mobilität im Lebensverlauf, Stuttgart 1989, S. 195, 191. B. Schäfers, Sozialstruktur und Wandel der Bundesrepublik Deutschland,

S. 265. 42 Vgl. besonders M. Vester u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln 1993. 43 A. Klocke, Sozialer Wandel. Sozialstruktur und Lebensstile in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a.M. 1993, S. 250. 44 Vgl. A. Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 328 f.

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Dennoch möchte ich auch hier dafür plädieren, diese „neuen Milieus“ stärker in das 20. Jahrhundert einzuordnen, ihre Neuigkeit zu relativieren und sie nicht zu stark als Ausdruck einer neuen Individualisierung und Pluralisierung zu verstehen. So sind auch diese Milieus nicht einfach nur Gruppen, zu denen die Zugehörigkeit frei gewählt wird. Vielmehr machten empirische Studien der 1990er eine enge Beziehung zwischen dem Lebensstil und der sozialen Lage aus, da das Schichtspezifische dominiere, wenngleich ohne völlige Determinierung45. Zweifelsohne führte die rasante Bildungsexpansion seit Mitte der 1960er Jahre dazu, dass eine deutlich größere soziale Mobilität eingeleitet wurde. Allerdings zeigen die meisten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen die Grenzen der Wahlmöglichkeiten auch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, etwa für den Aufstieg von Frauen oder Arbeiterkindern in Führungspositionen. Pluralisiert hat sich vor allem die Jugendkultur. Allerdings zeigte sich auch hier, dass die vielfältigen neuen Modestile der 1980er Jahre (Punk, Popper, Heavy-Metal, Grufti etc.) mit den folgenden Lebensphasen deutlich an Bedeutung verloren und damit die Pluralisierung der nunmehr 40 bis 50 Jahre alten Erwachsenen begrenzt blieb. Durchgesetzt hat sich zudem bei der heutigen Jugendkleidung nicht ein betont individualisierter Stil, sondern eher eine recht ähnliche Jeans-T-Shirt und Anzugbekleidung mit Kurzhaarschnitt bei Männern. Der Moment der Wahl und Suche nach Individualität besteht vor allem temporär im jugendlichen Lebensabschnitt. Die neue Pluralität bei der Beschreibung der Gesellschaft steht vor allem für den Wandel der Soziologie, die sich von Klassenbegriffen abwandte und eine gesellschaftliche Vielfältigkeit entdeckte. Die „neuen Milieus“ oder Lebensstilgruppen der Sozialwissenschaften erscheinen als neu, weil sie aufgrund ihrer Umfrage-Basiertheit nicht rückwirkend für frühere Dekaden überprüft werden können. Zu fragen ist daher, inwieweit diese Typologien auch vor den 1970er Jahren passend wären, vom „kleinbürgerlichen Milieu“ über das „aufstiegsorientierte Milieu“ bis hin zum „hedonistischen Milieu“. Denn so homogene Milieus, wie sie auch Historiker idealtypisch für frühere Dekaden ausmachten, bestanden vormals sicherlich nicht. Entsprechend urteilte auch der Soziologe Stefan Hradil: „Bei der Entdeckung der soziokulturellen Pluralität der deutschen Gesellschaft in den siebziger und achtziger Jahren handelt es sich folglich zu einem erheblichen Teil um eine Wiederentdeckung“46.

A. Klocke, Sozialer Wandel, S. 247. S. Hradil, Arbeit, Freizeit, Konsum. Von der Klassengesellschaft zu neuen Milieus?, in T. Raithel u.a. (Hrsg.), Auf dem Weg, S. 69-82, hier S. 81 f. 45 46

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IV. Postmoderne Beliebigkeit? Eher mit Verweis auf Neubeschreibungen der Kulturwissenschaften wurde begründet, dass sich um 1980 eine postmoderne Vielstimmigkeit durchgesetzt habe. Insbesondere das „Ende der großen Erzählungen“, die Wahrnehmung von Brüchen und das Zusammenspiel von Heterogenem zählen dazu, wobei Jean-François Lyotards Text „La condition postmoderne“ als Schlüsselquelle gilt47. Wie eingangs zitiert, wird damit einhergehend der Verlust gemeinsamer Werte beklagt. Vieles spricht dafür, dass die Toleranz gegenüber differenten Lebensformen und Ideen in dieser Zeit wuchs und ein spielerisches Miteinander üblicher wurde. Auch in der Geschichtswissenschaft scheinen die neue Methodenvielfalt und die differenten Deutungen der Vergangenheit (inklusive der neuen „Barfußhistoriker“) diese Pluralisierung zu unterstreichen. Spricht dies jedoch für eine radikale Pluralisierung im Sinne eines anything goes? Sinnvoller erscheint mir, von einer Transformation der Werte auszugehen, bei der nicht nur eine neue Vielfältigkeit aufkam, sondern zugleich neue Normen erstritten wurden, die weiterhin Grenzen setzten. Dabei lässt sich durchaus von einer neuen Moral sprechen, die Regeln entwickelte. Zu den neuen moralischen Standards, die über unterschiedliche Parteien und soziale Gruppen hinweg einen Rahmen setzten, zählte etwa der Umgang mit Gewalt. Ende der 1970er Jahre formierte sich ein moralischer Konsens, dass jegliche Form von Gewalt zu ächten sei; sei es in der Familie, gegenüber Tieren, bei Demonstrationen oder von Seiten des Staates48. Gerade die Gewalterfahrung durch den Terrorismus der 1970er Jahre dürfte die Ächtung erhöht haben. Eine entsprechend internationale Aufwertung erfuhr die Achtung der Menschenrechte seit den 1970er Jahren49. Derartige moralische Normen entwickelten sich in den 1980er Jahren in vielen Bereichen. Gegenüber Frauen oder Ausländern entstanden Regeln, die öffentliche Frauenfeindlichkeit und Rassismus sanktionierten. Ähnliches galt im Feld des Umweltschutzes oder bei korrupten Spenden in der Politik, wobei insbesondere die Flick-Affäre einer bislang gängigen Form der Parteienfinanzierung im großen Stil ein Ende setzte. Künftige Kultur- und

47 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1999 (franz. Erstausgabe 1979); vergleiche zu den Strömungen der Postmoderne insgesamt W. Welsch, „Postmoderne“. Genealogie und Bedeutung eines umstrittenen Begriffs, in: P. Kemper (Hrsg.), ‚Postmoderne‘ oder der Kampf um die Zukunft, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-36, hier S. 26. 48 Kaelble sieht hierin ein europäisches Spezifikum H. Kaelble, Kalter Krieg, S. 249. 49 S.-L. Hoffmann (Hrsg.), Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010.

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Sozialgeschichten werden die Einführung dieser neuen Regeln beachten müssen, die bis hin zu so simplen Veränderungen reichten, wie dem Verzicht auf Alkohol im Straßenverkehr, der bis in die 1970er Jahre trotz zahlloser Verkehrstoten noch lax gehandhabt wurde. Gab es also ein neues anything goes? Im Rückblick ist es eher überraschend, was bis in die 1970er Jahre möglich war. Der Erfolg der aktuellen US-Fernsehserie „Mad Men“ über die USA der 1960er Jahre lebt sicherlich genau von dieser Faszination an einer Zeit, in der die Regeln zumindest für Männer noch viel lockerer waren. Bei politischen und weltanschaulichen Fragen kam es in den 1980er Jahren meines Erachtens weniger zu einer von Toleranz geprägten Beliebigkeit als zu einer neuen polarisierten Gruppenbildung, die oft mit harten Fronten stritt. Der Historikerstreit ist ein Ausdruck dieser Entwicklung. Viele Streitfragen der Zeit erzwangen eine Positionierung. Für die neue Pluralisierung der Erzählungen und Lebenswelten steht schließlich der Medienwandel. Die Vervielfältigung der Radio- und Fernsehsender durch die Einführung des privaten Rundfunks hat zweifelsohne die Pluralisierung der Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht beschleunigt. Während vormals insbesondere das Fernsehen als nationale Integrationsinstanz diente, wurde nun die bisherige gemeinsame Weltwahrnehmung abgemindert. Insbesondere die Sozialdemokraten stemmten sich Ende der 1970er Jahre entsprechend gegen die Einführung des kommerziellen Rundfunks, weil dieser die gesellschaftliche Integration gefährden würde50. Allerdings sollte man auch hier die Grenzen der Pluralisierung akzentuieren. Denn es zeigte sich relativ schnell, dass sich nur eine relativ kleine Anzahl an Sendern und tragenden Medienunternehmen am Markt behaupten konnte. Offensichtlich war die Gesellschaft eben nicht so stark individualisiert und pluralisiert, dass sich kleine Spartensender gut behaupteten. Was die Rezipienten goutierten, waren „Vollprogramme“ oder Filme, die die Mehrheit des Landes oder der eigenen sozialen Gruppe ebenfalls sah. Epische Serien und Erzählungen wurden zu Markenkernen der Prime Time, nicht flüchtige Clips. Und als die neue Programmvielfalt in den 1990er Jahren eintrat, erschien das Fernsehen im Vergleich zum Internet fast schon wieder als ein konsensorientiertes homogenes Medium. Insofern scheint die mediale Fragmentierung der Gesellschaft stärker auf die Gegenwart zuzutreffen als auf die 1970/80er Jahre.

50 Vgl. hierzu F. Bösch, Politische Macht und gesellschaftliche Gestaltung. Wege zur Einführung des privaten Rundfunks in den 1970/80er Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte, 52 (2012), S. 191-210.

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V. Fazit und Ausblick – Internationale Perspektiven und gegenwärtige Entwicklungen Ausgangspunkt meines Beitrags war die Frage, inwieweit die These einer „radikalen Pluralisierung“ für die 1970/80er Jahre zutrifft, die in jüngster Zeit von der deutschen Zeitgeschichtsforschung aufgeworfen wurde. Auch wenn man tendenziell von einer Pluralisierung und Individualisierung sprechen kann, fällt diese doch zumindest für den thematisierten Zeitraum nicht so dramatisch aus wie jüngst dargestellt. Vielmehr erscheint es gerade für Historiker sinnvoll, viele Beobachtungen, die hierfür als Belege gelten, stärker in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einzubetten. Wie gezeigt wurde, setzten viele Wandlungsprozesse schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein, während die 1950er Jahre ein gewisses Ausnahmejahrzehnt bilden. Moderne und Postmoderne erscheinen folglich weniger stark getrennt. Andererseits wurde deutlich, dass oft gegenwärtige Veränderungen auf die 1970er Jahre projiziert wurden, obgleich sie sich in dieser Phase noch vergleichsweise schwach abzeichneten. Besonders zutreffend scheint die Annahme der Pluralisierung im Feld der Religion. Aber selbst in diesem Bereich wurden gewisse Grenzen des Ansatzes deutlich. Viele der Entwicklungen, die hier für die Bundesrepublik Deutschland diskutiert wurden, erscheinen anders in europäischer und außereuropäischer Perspektive. In europäischer Perspektive lässt sich ausmachen, dass die oft postulierten Umbrüche vor allem für Skandinavien und Großbritannien gelten, kaum aber für Südeuropa (Italien, Spanien, Portugal, Griechenland). Mitteleuropa nimmt eine Zwischenstellung ein – im Sinne der hier beschriebenen retardierten Pluralisierung. In Skandinavien hat etwa die Kernfamilie tatsächlich stark an Bedeutung verloren, in Mitteleuropa nur leicht, während in Südeuropa und Irland Familien mit verheirateten Partnern klar dominieren und Scheidungen selten blieben. So leben heute in Schweden 90% der Paare vor der Heirat in einer Wohnung und die Mehrheit der jungen Frauen bei der Geburt ihres Kindes zunächst in einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft51. Dies mag man anhand differenter Rechtsnormen erklären, da die Scheidung in Italien etwa erst 1970 eingeführt wurde, in Spanien 1981 und in Malta sogar erst 2011. Da im Süden viele Trennungen durch die anderen Normen- und Rechtssysteme eher stillschweigend erfolgen, ergeben sich bei Vergleichen statistische Ungenauigkeiten. Insgesamt zeigt der europäische Blick vor allem die lange fortbestehende Wirkungsmacht religiöser Prägungen. Der neue „private Individualismus“ galt insofern insbesondere für Nordeuropa52.

S. Hradil, Die Sozialstruktur Deutschlands, S. 115 f. G. Therborn, Die Gesellschaften Europas 1945-2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt a.M. 2000, S. 301. 51 52

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Aber zugleich belegt der Blick auf den Norden, dass diese Pluralisierung der Lebensformen eben nicht zu Gesellschaftsformen führte, die desintegriert und verantwortungslos erscheinen oder ihre Leistungsfähigkeit verlieren. Noch deutlicher werden die Differenzen im außereuropäischen Vergleich. Wie oft betont wurde, ist etwa die abnehmende Bedeutung der Religion eher ein gewisser europäischer Sonderweg denn ein globaler Trend, ebenso der Geburtenrückgang oder die ausgemachten Lebensstilmodelle. Diese Unterteilung stimmt aber nicht in allen Bereichen. In einigen hier genannten Feldern war die Pluralisierung der Gesellschaft in Südeuropa durchaus stärker. So kam es in Italien ab 1977 nach der Einführung des privaten Rundfunks zu einer unüberschaubaren Vielfalt an lokalen und weltanschaulich differenten Radio- und Fernsehsendern. Auch wenn es hier, nicht zuletzt durch Berlusconi, in den folgenden Jahrzehnten wieder zu einer gewissen nationalen und weltanschaulichen Vereinheitlichung kam, entwickelte sich die mediale Pluralisierung somit stärker und früher als in Skandinavien. Ebenso fiel die politische Pluralisierung in Italien nach Ende des Kalten Krieges und nach dem Zusammenbruch der bislang dominierenden Democrazia Christiana wesentlich stärker aus. In künftigen Studien ist insofern verstärkt zu fragen, inwieweit die durch die Liberalisierung von Normen gestiegenen Wahlmöglichkeiten tatsächlich entstanden und umgesetzt wurden, oder ob die potentiell mögliche Ausdifferenzierung nicht durch neue Normen wieder zu einer Anpassung in tradierte Gruppen führt. Die Konsumgesellschaft förderte zweifelsohne die Ausdifferenzierung von Angeboten, gleichzeitig lag es aber auch in ihrer Logik, Zielgruppen zu verfestigen und auf eine gewisse Vereinheitlichung zu setzen.

Vom sozialwissenschaftlichen Postulat zur historischen Erforschung des „Wertewandels“ Ein Versuch am Beispiel von Familienwerten und Religion Von Thomas Großbölting

I. Zur Einführung Die Zeitgeschichte greift aus in die unmittelbare Vorgeschichte der Gegenwart. Längst sind nicht nur die 1970er, sondern auch die 1980er Jahre und die Wiedervereinigungsgesellschaft zum Gegenstand des historischen Forschens geworden. Die vielfältigen Chancen und Gelegenheiten, die sich damit auftun, bergen neue Fragestellungen und Probleme, mit denen sich die Historiographie auseinanderzusetzen hat. Eine diese Herausforderungen hängt unmittelbar mit der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ zusammen: Seit spätestens den 1970er Jahren sind Prozesse des Entwickelns, des Planens und des Steuerns immer stärker von der Wissensproduktion und den Deutungsleistungen der Expertinnen und Experten geprägt. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung sind eng rückgebunden an die Gesellschaft und nicht allein Natur- und Technikwissenschaften verändern diese, sondern verstärkt auch die Sozial- und Humanwissenschaften beeinflussen die öffentliche Diskussion von sozialen Entwicklungen, indem sie Probleme aufwerfen, mit Informationen basieren, die Diskussion anleiten und steuern oder auch einfach nur irritieren1. Humanwissenschaftliche Experten avancierten seit den 1970er Jahren mit ihrem Wissen in Betrieben, Parteien, Universitäten in bislang unbekannter Intensität zu einem eigenständigen Moment des Machtund Diskussionsgefüges in diesen und anderen Institutionen. Im Diskurs der gesamtgesellschaftlichen Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung schlagen sich diese Prozesse nieder durch eine Reihe von wissenschaftlich inspirierten Schlagworten, die meist in trivialisierter Form als Aufhänger und Anreger der Diskussion dienen. Neben der „neuen sozialen Frage“ oder der „Risikogesellschaft“ zählt dazu ganz prominent auch der „Wertewandel“.

1 L. Raphael, Verwissenschaftlichung des Sozialen, in: Geschichte und Gesellschaft, 22 (1996), S. 165-193.

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In Deutschland verbinden sich mit diesem Begriff in der Regel die Studien des Soziologen Helmut Klages zum Wertewandel. Seinen Ergebnissen nach veränderten sich im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren und im nächsten Jahrzehnt die gesellschaftlichen Normen grundlegend. Klages fasst diesen Wandel als Übergang von den „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ zu „Selbstentfaltungswerten“. So seien Arbeits- und Leistungsbereitschaft, Disziplin, Pünktlichkeit, Sparsamkeit, Gehorsam, Unterordnung und Autorität sowie Moralvorstellungen samt der Orientierung an einem den Individuen vorgängigen Gemeinwohl abgelöst worden von Orientierungen wie Selbständigkeit und Mitbestimmung, Kritik, freiem Willen und individueller Autonomie2. Insbesondere die „Scherenbewegung“ in den Erziehungswerten führte Klages als Beleg des Wertewandels an: Wo vormals „Gehorsam und Unterordnung“ als zentrale Erziehungsziele angestrebt wurden, stehe nun die Hinführung zu „Selbständigkeit und freiem Willen“ im Zentrum der pädagogischen Anstrengungen3.

II. Wertewandel als Beschreibung und Erklärung – Chancen und Gefahren der soziologischen Prozessbegriffe Nicht nur zeitgenössisch waren die Ergebnisse Klages’ und der zahlreichen Studien, die darauf positiv Bezug nahmen oder sich davon absetzten, ein viel diskutiertes Politikum. Zusätzlich sind sie auch in mancher historischer Arbeit gleichsam zum Pflichtzitat avanciert – was zum Teil durchaus ambivalente Ergebnisse zeitigte. Zunächst einmal haben sich Historikerinnen und Historiker auch unabhängig von der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung vielfach mit dem Phänomen beschäftigt. Die Bandbreite dabei ist groß. Sie reicht von den persönlichen Annotationen Konrad Jarauschs, der sein Buch von den „Deutschen Wandlungen“ mit dem Bild des „antiautoritär“ gewordenen Zollbeamten am Frankfurter Flughafen einleitet, über die Bürgertums-, Milieuund Genderforschung bis hin zur einfachen Übernahme zentraler Ergebnisse der Wertewandelsforschung4. Als Angebot zur Deskription einzelner Prozesse leistet der Begriff des „Wertewandels“ dabei gute Dienste, auch ohne dass 2 Vgl. unter anderem H. Klages, Der blockierte Mensch. Zukunftsaufgaben gesellschaftlicher und organisatorischer Gestaltung, Frankfurt a.M. 2002, S. 28 ff. Wahrscheinlich erste Entfaltung der These in: H. Klages / P. Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt a.M. / New York 1979. 3 Als Kondensat der vielfältigen Forschungen vgl. H. Klages, Werte und Wertewandel, in: B. Schäfers / W. Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 2. Aufl., Opladen 2000, S. 730-735; eine Skizze der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung bei I. Heinemann, Wertewandel, Version 1.0. online verfügbar unter: docupedia.de/zg/Wertewandel?oldid=84709 4 K.H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004.

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sich die historische Forschung explizit auf den Begriff von Klages und seiner Soziologenkollegen bezogen hätte: Die Veränderungen und Brüche in den Milieus von Arbeiterbewegung und Katholizismus, die sich explizit als wertegetragene Gemeinschaften verstanden, sind mittlerweile eindrucksvoll und materialreich beschrieben worden5. Allerdings wissen wir zwar viel über die Genese, Entwicklung und Erosion der Milieus, weniger aber, was sich aus den Reststrukturen dieser Zusammenhänge entwickelt hat und noch entwickelt. Ebenso ist die Entstehung neuer Jugendkulturen wie auch eine generelle Aufwertung von alternativen Jugendkulturen insgesamt eindrucksvoll belegt. Diese bekommen gesamtgesellschaftlich einen Status, der sie deutlich aufwertet gegenüber dem früheren Status eines Substituts und einer Zwischenphase in der Entwicklung hin zu einer adulten Dominanzkultur6. Thematisch griff auch die historische Bürgertumsforschung den „Wertewandel“ avant la lettre auf. Bereiche wie Erziehung und Bildung, Selbstbilder von Individuen und das Konzept der Selbstleitung sind in den Studien zur Bürgerlichkeit mit Blick auf ihre Genese, ihre diskursive und sozialhistorische Verfestigung beschrieben worden. Die Herausbildung eines spezifischen Arbeitsethos‘, des Ideals der Selbständigkeit, bestimmter Bildungsvorstellungen, einer personalisierten Religiosität und vieles mehr verdichtete sich im Idealtyp des „bürgerlichen Subjekts“7. Aber ähnlich wie für die Milieuforschung gilt auch hier, dass das 19. Jahrhundert stärker im Blick war als das vermeintlich nachbürgerliche 20. Jahrhundert. Insbesondere mit Blick auf die Zeit seit den 1960er und 1970er Jahren dominiert auch in der Bürgertumsforschung eher Rat- und Konzeptlosigkeit8. Schon allein daher erklärt sich die Popularität der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung, nahm diese doch Fragen auf, die die Geschichtswissenschaft gestellt hatte, und versprach eine Fortführung in die jüngste Vergangenheit hinein. Diese „Übernahme“ in die historische Forschung machte die Verwendung des Begriffs dann auch anspruchsvoller, begründungsbedürftiger und

W. Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden, 1945-1980, Paderborn 1997. 6 S. Reichardt / D. Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 19681983, Göttingen 2010; D. Siegfried, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, 2. Aufl., Göttingen 2008, S. 35. 7 A. Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2010. 8 G.-F. Budde / E. Conze / C. Rauh, Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter. Leitbilder und Praxis seit 1945, Göttingen 2010; zur kritischen Einordnung vgl. M. Reitmayer, Review of G.-F. Budde / E. Conze / C. Rauh, Bürgertum nach dem bürgerlichen Zeitalter, in: H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews, July 2011, http://www.h-net. org/reviews/showrev.php?id=33677. 5

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wissenschaftlich bedenklich. Oftmals wird „Wertewandel“ nicht auf ein einzelnes Gesellschaftssegment oder Phänomen konzentriert, sondern hält als Totalbeschreibung für weitreichende Entwicklungen her. Das Pflichtzitat von den „Pflicht- und Akzeptanzwerten“ zu den „Selbstentfaltungswerten“ deutet zunächst einmal auf einen wenig reflektierten, gelegentlich gar ornamentalen Gebrauch hin. Ein Beispiel dafür bietet Peter Graf Kielmannsegg in seiner thesenreichen „Geschichte des geteilten Deutschlands“: Die Emanzipation der Frau, die Entinstitutionalisierung von Beziehungen zwischen den Geschlechtern, der Rückgang der Kinderzahl, die Kirchenaustritte – all diese Phänomene wertet er als Symptome eines umfassenden Wertewandels, den er aber nicht auf die genannten Entwicklungen beschränkt, sondern zu einem Kern der Transformation erklärt. Im Wertewandel sieht er „eine Art von Zentrum des vielgestaltigen Gesamtprozesses vehementen sozialen Wandels, der die Industriegesellschaften in der zweiten Jahrhunderthälfte so gründlich verändert hat“9. Kielmannsegg belässt es nicht bei dieser steilen These, sondern verknüpft sie mit weiteren Überlegungen zur politischen Kultur und der Erinnerungskultur in Deutschland. Der hektische, sogar neurotisch verlaufene soziokulturelle Wandel deute seinerseits auf die besondere Struktur und historische Belastung der Deutschen hin, fehle dieser Gesellschaft doch „das ausbalancierende Gegengewicht einer zustimmungsfähigen Vergangenheit“10. Auf diese Weise avanciert der Wertewandel nicht nur zum Gesamtinterpretament, sondern partiell auch zur Erklärung verschiedener paralleler oder ihm angelagerter Entwicklungen. In diesem Zirkelschluss aber verliert der Begriff an Erklärungskraft. Warum ergibt sich ein Wertewandel in den Geschlechterbeziehungen und Familienstrukturen? Wenn die Antwort auf diese und ähnliche Fragen der Verweis auf den allgemeinen Wertewandel ist, dann bleibt der Sachverhalt unerklärt. In diesem Sinne ist der Begriff einer der „gefährlichen Prozessbegriffe“, vor deren Kombination von hoher Plakativität und begrenzter Aussagekraft auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive verschiedentlich gewarnt wurde11. Ähnlich verwandten Termini wie Modernisierung, Differenzierung oder Rationalisierung ist er ungemein plakativ und lässt in seiner Suggestivität vergessen, wie begrenzt doch die Aussagekraft zuweilen ist. Diese Begriffe, so Hans Joas, „führen die Soziologen in die Irre …, wenn sie ihren Gegenwartsanalysen damit ein historisches Fundament zu geben versuchen“ und sie tragen „ihre schädliche Wirkung über die Grenzen des Faches“ hinaus, „wenn andere, z.B. Historiker, in ihnen sozialwissenschaftlich bewährte theoretische Orientierung zu finden 9 P. Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 429. 10 Ebd. 11 W. Knöbl, Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit, Weilerswist 2001.

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meinen“12. Diese klare Position findet auch ihr Gegenargument: Natürlich bedarf es solcher (und anderer) Prozessbegriffe, um diachrone und umfassende historische Entwicklungen zu beschreiben. Ohne diese begriffliche Zuspitzung verlören wir uns im Dickicht einer historistischen Beschreibung, blieben thesenarm und letztlich ohne Erkenntnis. Wie also umgehen mit diesen und anderen soziologischen Prozessbegriffen? Zunächst sind sie uns Quelle und Darstellung zugleich: Als Quellen müssen wir sie umfassend historisieren. Sie markieren nicht nur das Problembewusstsein ihrer jeweiligen Entstehungszeit, sondern müssen auch in ihrer Wirkung als gesellschaftliche Selbstbeschreibung untersucht werden. In welchen politischen, sozialen oder kulturellen Kontexten der jeweilige Begriff aufgenommen und welche Folgekommunikation er angestoßen hat – all diese und ähnliche Fragen führen uns auf das Terrain einer modernen Ideengeschichte. Zugleich aber sind diese Begriffe auch „wissenschaftlich kontrollierte, besonders aussagekräftige Darstellungen der Entwicklungstendenzen dieser Umbruchphase“13. Vielfach liefern diese Forschungen empirisches Datenmaterial, welches auch historische Arbeiten heranziehen können. Nur: Als bequeme Abkürzung, mit der man die eigene Analyseleistung umgehen kann, taugen sie dennoch nicht. Sorgsam wird zeithistorische Forschung die Arbeitsweise rekonstruieren müssen, unter denen solche Daten und davon abgeleitete Interpretationen entstanden sind und wie sie dann von wem und zu welchem Zweck kommuniziert und genutzt wurden14. Nach wie vor, so zeigt diese Zusammenschau, gilt die Aussage von Andreas Rödder, dass die „zeithistorische Forschung … empirisch noch kaum über den Stand der sozialwissenschaftlichen Wertewandelsforschung hinausgekommen [ist]“15. Die Ursachen, die Stoßrichtung, die Breite wie auch die Folgen dieses Prozesses bleiben dabei oftmals offen. Auf diese Weise aber H. Joas, Gefährliche Prozessbegriffe. Eine Warnung vor der Rede von Differenzierung, Rationalisierung und Modernisierung, in: K. Gabriel / Chr. Gärtner / D. Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung. Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin 2012, S. 603-622, hier S. 603. 13 A. Doering-Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 2. Aufl. Göttingen 2012. 14 Vgl. die höchst anregende Diskussion in: R. Graf / K.C. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011), 4, S. 479-508; B. Dietz / Ch. Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 60 (2012), 2, S. 293-304. 15 A. Rödder, Vom Materialismus zum Postmaterialismus? Ronald Ingleharts Diagnosen des Wertewandels, ihre Grenzen und ihre Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006), 3, http:// www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Roedder-3-2006. 12

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erschöpft sich das Interesse der Geschichtswissenschaft in der Übernahme von Ergebnissen, statt sich selbst dazu herausgefordert zu sehen, den in den Sozialwissenschaften mittlerweile diskutierten Befund mit den ihr eigenen Methoden und Mitteln zu vertiefen. Skeptisch stimmt beispielsweise der recht einfache Schematismus. Lässt sich tatsächlich, so fragt Sybille Steinbacher, von einer linearen Entwicklung der Werte sprechen16? Mit der bislang geübten Praxis übernehmen wir die modernisierungstheoretisch inspirierten Annahmen der soziologischen Forschung, sprechen dem Wertewandel wie auch anderen Elementen der Veränderung ebenso eine eindeutige Richtung zu wie auch eine Zielgerichtetheit, die – schaut man diese Prozesse im Detail an – sicher zu modifizieren ist. Prozessbegriffe wie der des Wertewandels sollten aus dieser Perspektive vor allem als Ausgangspunkt von Fragen dienen, sie stellen „ein Forschungsprogramm mit offenem Ausgang“ dar17. Aufgabe der zeithistorischen Forschung wird es deshalb sein, eine Abstraktionsstufe niedriger anzusetzen und historisch-spezifische Prozesse auf einem handlungstheoretischen Fundament zu analysieren und nach Ursachen und Wirkungen, Trägern und Hemmnissen, den Rhythmen und dem Zeitmaß der Entwicklung, nach beschleunigenden Faktoren und hemmenden Kontexten zu fragen. Ist „Wertewandel“ tatsächlich – der Modernisierungstheorie im Status und Erklärungsanspruch vergleichbar – ein unumkehrbarer Prozess18? Welche Aussagekraft kommt den sozialstatistischen Daten zu, die im Rahmen der Studien erhoben wurden? Welche langfristigen Wirkungen und welche Nachhaltigkeit entwickeln die Veränderungen? Die Wertewandelsforschung selbst entwickelt Differenzierungen, die den Fragebedarf verdeutlichen. „Bei allen bisher diagnostizierten Wertveränderungen bleibt … angesichts der fehlenden Langzeituntersuchungen die Frage“, so ist im „Historischen Wörterbuch“ der Philosophie zu lesen, „ob es sich jeweils nur um kurzfristige Schwankungen oder in der Tat um einen langfristigen Wertewandel handelt“19. Eng damit verbunden ist die Frage danach, ob „Wertewandel“ tatsächlich mit „Entnormativierung“ verbunden ist: Wertewandel wird bislang unter Historikerinnen und Historikern vor allem 16 Noch dezidierter die Kritik von S. Steinbacher, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011, S. 17. 17 V. Krech, Über Sinn und Unsinn religionsgeschichtlicher Prozessbegriffe, in: K. Gabriel / Chr. Gärtner / D. Pollack (Hrsg.), Umstrittene Säkularisierung, S. 566. 18 Vgl. S. Hradil, Vom Wandel des Wertewandels. Die Individualisierung und eine ihrer Gegenbewegungen, in: W. Glatzer / R. Habich / K.U. Mayer (Hrsg.), Sozialer Wandel und gesellschaftliche Dauerbeobachtung, Opladen 2002, S. 31-47. 19 J. Berthold, Art.: Wertewandel; Werteforschung, in: J. Ritter / K. Gründer / G. Gabriel (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Basel 2004, S. 609 ff., hier S. 611.

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als Verschwinden eines traditionellen Kanons von geteilten Überzeugungen und der Erosion eines gesellschaftlich getragenen Normengerüsts skizziert. Weiterreichende Schlussfolgerungen bleiben oft im Vagen. Der Hinweis, dass qua Pluralisierung vorhandene Wertsysteme abgebaut wurden, ohne dass „vergleichbar verbindliche und geschlossene neue Systeme an ihre Stelle getreten“ sind, wirft mehr Fragen auf als er beantwortet20. „Davon, daß sich ein neuer, halbwegs stabiler Wertkonsens herausgebildet habe, kann nicht, noch nicht die Rede sein“, betont beispielsweise Kielmannsegg. Er verbleibt mit dieser Prognose wie andere Autoren auch nicht nur im Vorläufigen, sondern lässt mindestens implizit auch eine kulturpessimistisch-nostalgische Note mitschwingen21. Diese Vagheit werden wir empirisch auflösen müssen, um tatsächlich bestimmen zu können, inwiefern hier ein Wertebruch, eine Transformation von Normen stattgefunden hat. Erste soziologische Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich Alltagskultur und normative Bindungen keinesfalls in eine postmoderne Beliebigkeit des „anything goes“22 auflösten. Stattdessen entwickelten sich für das individuelle Verhalten neue limitierende wie auch ermöglichende Strukturen. „Bisheriges wird nicht einfach ersetzt, aufgelöst oder zu einem bloßen Restbestand, sondern verbindet sich in unterschiedlichen Form mit neuen Elementen, wobei auch scheinbar überholte Strukturen Aktualität erlangen im Rahmen des ,Sowohl als auch‘ zur typischen Erscheinungsform der reflexiven Moderne werden können“23. Deshalb müssen Fragen nach den Rahmenbedingungen, Folgeproblemen und Arrangements zwischen neuen und alten institutionellen Arrangements auf unterschiedlichen Ebenen im Vordergrund stehen: Wie verhalten sich Individuen und Kollektive, wie positionieren sich Institutionen in diesem Transformationsprozess vom „Entweder oder“ zum „Sowohl als auch“? Von besonderem Interesse sind dabei gesellschaftliche Orientierungsbewegungen und Legitimationskonflikte, mit denen sich neue gesellschaftliche Konventionen entwickelten und ob und inwiefern diese funktionale Äquivalente zu dem alten Wertekorsett darstellten – all diese Fragen kann und sollte zeithistorische Forschung aufgreifen. Letztlich 20 Vgl. A. Rödder, Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. Deutungskategorien für die Geschichte der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, in: T. Raithel / A. Rödder / A. Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte), München 2009, S. 181-201, hier S. 193. 21 P. Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe, S. 429; vgl. auch A. Rödder, Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. 22 P.K. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 10. Aufl., Frankfurt a.M. 2007. 23 U. Beck / E. Beck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: U. Beck / E. Beck-Gernsheim (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt a.M. 1994, S. 27 f.

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wird es darum gehen, die Konstruktion und die Umkonstruktion von Werten konkret nachzuvollziehen und im Wechselspiel von Institutionen, kollektiven wie auch individualspezifischen Haltungen und Verhaltensweisen zu untersuchen.

III. Eine Fallstudie zur Konstruktion und Umkonstruktion von Werten – Familienwerte und Religion in der Bundesrepublik Deutschland Im Zentrum der Wertewandeldebatte stehen die Familie und die ihr zugeschriebenen Familienwerte. Wie wenige andere Institutionen ist diese gerade in Deutschland zum Gegenstand einer breiten Diskussion und dabei gelegentlich gar zum Pars pro toto gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen insgesamt avanciert. An der Konstruktion von Familienbildern beteiligen sich die verschiedenen weltanschaulichen Lager, die Wissenschaft und diverse andere Akteure. Die Meistererzählung ist die von der Krise, ja der Auflösung der „bürgerlichen Familie“. In der Regel sind diese Kommentierungen nicht rückblickend-analytisch interessiert, im Gegenteil: Die Warnrufe waren (und sind) vor allem als zeitgenössische Interventionen gedacht. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde in diesem bürgerlichen Diskurs die Konstellation der Kern- oder Kleinfamilie von Vater, Mutter und einem oder mehreren Kindern gleichsam als naturgegeben erklärt. Allen voran sahen sich dabei konservative Kräfte wie auch die beiden großen christlichen Konfessionen als Bewahrer der Traditionsfamilie. Was als Fels in und gegen die Brandung der Moderne gedacht war, büßte dann aber in den politischen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts an Festigkeit ein und zerschellte endgültig in den 1960er und 1970er Jahren. Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung der Familie und vor allem des Familienideals in Deutschland die gängigen Thesen der Wertewandelsforschung vollends zu bestätigen. Es gibt allerdings verschiedene Forschungsergebnisse, die dieses gängige, in mancherlei Hinsicht eingeschliffene Bild produktiv verunklaren: Dagmar Herzog hat in ihren bahnbrechenden Studien zur „Politisierung der Lust“ das Erbe des Nationalsozialismus deutlich anders beschrieben. Sie erklärt den Sexualkonservatismus der 1950er Jahre einerseits als Gegenreaktion auf die sexuelle Libertinage des Nationalsozialismus und des Kriegsendes. Andererseits aber umging man die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, indem man Fragen der Sittlichkeit und der Familienmoral in den Mittelpunkt rückte24. Sybille Steinbacher betont, dass es eine „lineare Entwicklung ebenso wenig [gab] wie eine Zäsur ‚um 1968‘.“ Stattdessen war

24 D. Herzog / U. Schäfer / A. Emmert, Die Politisierung der Lust: Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005.

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das Feld von vielen Akteuren mit hoch unterschiedlichen Interessen durchzogen. Deren Palette reicht neben den öffentlichen Stellen über die großen Parteien und Kirchen bis hin zu Sexualaufklärern oder der Sexindustrie mit einem vor allem ökonomischen Antrieb. Wie differenziert sich dabei Institutionen wie auch der verbreitete Umgang mit dem Phänomen Familie und Sexualität beschreiben lässt, soll im Folgenden am Beispiel der katholischen Kirche und der ihr nahestehenden Gläubigen beschrieben werden. Als Teil der bundesrepublikanischen Gesellschaft waren sie in den allgemeinen Trend hineingenommen. Gleichzeitig aber gilt die katholische Amtskirche nicht zu Unrecht als Bastion eines traditionellen Familienbildes – eine Position, in die sie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts hinein entwickelt hatte. Bereits seit dem 18. Jahrhundert tadelte man die Geburtenkontrolle, ahndete sie aber halbherzig. Im 19. Jahrhundert wurde die Haltung zunehmend rigoroser, und zu Anfang des 20. Jahrhunderts verdammte die katholische Kirche die Geburtenkontrolle entschieden; „der Kampf gegen die Abtreibung wurde zu einer Säule des Kampfs der Kirche gegen die moderne Kultur“25. Unisono mit anderen Religionssoziologen deutet Hartmann Tyrell die „Sonderstellung von Familie und Religion im Prozeß der deutschen Modernisierung“ als Folge einer reaktiven Milieubildung im Katholizismus26: Die katholische Kirche erklärte auch die Ehelehre zu einer grundsätzlichen Frage des Glaubensgehorsams und unterschied sich damit zum Beispiel deutlich von den protestantischen Kirchen. Auch diese definierten Ehe und Familie als grundlegende Werte, hatten diese aber weniger formal fixiert, so dass sie sich gegenüber Neuentwicklungen in der Gesellschaft offener zeigen konnten27. In Abwehr einer zum Teil libertären Sexualpolitik von Teilen des Nationalsozialismus, vor allem aber mit dem Rückenwind der (vermeintlichen) „Siegerin in Trümmern“ kam dabei der Familie in allen Bereichen kirchlichen Wirkens „eine Schlüsselrolle“ zu28. In den intensiven Bemühungen der katholischen Kirche, das Feld von Erziehung und Sozialisation zu reorganisieren, rückte in den fünfziger Jahren das sechste Gebot des Dekalogs, „Du sollst nicht ehebrechen“, mit all seinen Implikationen an 25 O. Roy, Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen (Schriftenreihe der Bundeszentrale für Politische Bildung, 1118) Bonn 2011, S. 57. 26 H. Tyrell, Katholizismus und Familie – Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung, in: J. Bergmann / A. Hahn / T. Luckmann (Hrsg.), Religion und Kultur (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 33), Opladen 1993, S. 126-149. Interessant wäre hier der ausführlichere Vergleich mit Italien, da dort der Katholizismus als Hegemonialkonfession gesellschaftlich prägender war. 27 L. Rölli-Alkemper, Familie und Wiederaufbau. Katholizismus und bürgerliches Familienideal in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1964, Paderborn 2000, S. 50 f. 28 Ebd., S. 279.

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die erste Stelle, so hat 1984 die später kritische Katholikin Ingrid Beilmann autobiographisch notiert29. Wie aber erklärt sich nun die von der Familienforschung immer wieder betonte „Restauration der traditionellen Kernfamilie“?30. Der sozialhistorische Befund ist eindeutig und widerlegt die Idee einer Renaissance: Unter der Oberfläche einer vermeintlichen Restauration traditioneller Familienverhältnisse bestimmten tiefgreifende Veränderungen die alltägliche Lebenswelt der meisten westdeutschen Familien in den 1950er Jahren. Der Krieg, demographische Verschiebungen, aber auch der steigende Wohlstand schlugen sich auch in den Familienkonstellationen nieder. Die diskursiv idealisierte „Kernfamilie“ war sozialhistorisch in den 1950er Jahren ebenso wenig dominierend wie in den Jahren zuvor oder danach. Komplizierte Familienverhältnisse gab es zu dieser Zeit auch. Ungeachtet dessen aber blieb die in der Kirche wie auch in weiten Teilen der Gesellschaft institutionalisierte Norm: Die theologischen Ansätze, die die katholische Kirche bis in die 1930er Jahre entwickelt hatte inklusive der starken Dominanz des Naturrechts, der Betonung des institutionellen Charakters der Ehe und anderer Setzungen aber waren weiter virulent. Insbesondere in der Ära Adenauer wurden diese Haltungen auch von der Gesetzgebung und Politik massiv unterstützt. Den Zwiespalt zwischen beobachtbarem Verhalten und normativer Setzung umging man pragmatisch: Ein in den 1950er Jahren weit verbreitetes Phänomen war beispielsweise die „Onkelehe“, bei der die Witwe auf die Heirat mit ihrem neuen Partner verzichtete, um auf diese Weise ihre Rentenansprüche aus der ersten Beziehung zu erhalten31. Kirchlicherseits hieß man diese Haltung nicht gut, verzichtete aber auch auf jegliche Sanktionierung des Verhaltens32. In vielen Bereichen entstand auf diese Weise eine Doppelmoral, die von der Seite der Seelsorge als „Ehenot“ charakterisiert wurde: Die von der Institution Kirche formulierten Anforderungen differierten deutlich von der Lebenspraxis vieler ihrer Mitglieder. Im Umkehrschluss avancierten in der Selbstwahrnehmung der Kirche insbesondere die Faktoren zu Gradmessern der Wirksamkeit ihres Handelns, die direkt mit dem Familienleben in Verbindung standen: die Wertschätzung der kirchlichen Trauung, die Bejahung der Ehemoral, die hauptsächlich in der Kinderfreudigkeit und Stabilität der Ehe zum Ausdruck 29 Ch. Beilmann, Eine katholische Jugend in Gottes und dem Dritten Reich. Briefe, Berichte, Gedrucktes 1930-1945, Kommentare 1988/89, Wuppertal 1989, S. 112. 30 M. Niehuss, Kontinuität und Wandel der Familie in den 50er Jahren, in: A. Schildt / A. Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1998, S. 316-334. 31 Vgl. als zeitgenössische Beschreibung dieses Phänomens R. Bohne, Das Geschick der zwei Millionen. Die alleinlebende Frau in unserer Gesellschaft, Düsseldorf 1960. 32 Vgl. J. Davis, Rebuilding the Soul. Churches and Religion in Bavaria, 19451960, Dissertation University of Missouri-Columbia, 2007.

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kam, sowie die Erziehungsideale und die Gestalt der Familienfrömmigkeit, so listete der Moraltheologe Bernhard Häring 1960 auf33. Wie war es um den „Erfolg“ der Kirchen in diesem Punkt bestellt? Eine 1949 von Ludwig von Friedeburg im Auftrag des Allensbacher Instituts für Demoskopie durchgeführte „Umfrage in der Intimsphäre“ zeichnete den Trend ab, der sich in den Folgejahrzehnten verstärkte: Nur 16% der Bevölkerung, aber auch nur 40% der regelmäßigen Kirchenbesucher hielten 1949 sexuelle Beziehungen zwischen Unverheirateten für verwerflich. 71% der Befragten hielten vor- oder außerehelichen Sex für zulässig oder sogar notwendig, erheblich weniger, aber immerhin noch 42% der regelmäßigen Kirchgänger waren der gleichen Ansicht. Dabei war nicht die Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Konfession statistisch relevant, sondern allein die Intensität der Kirchenbindung. Friedeburg fragte nicht nur nach den Einstellungen, sondern auch nach der Praxis, welche aus der Sicht kirchlicher Pastoralstrategen ebenfalls ein ernüchterndes Bild ergab: 67% der regelmäßigen Kirchgänger gaben an, sexuelle Beziehungen ohne eheliche Bindung oder vor der Ehe gehabt zu haben34. Lediglich bei der Hochschätzung der Ehe als Institution – also eines Wertes, der stark gestützt wurde durch den allgemeinen Wertekanon der Zeit – waren die kirchlichen Vorgaben noch für einen Großteil der kirchennahen Bevölkerung bindend35. „Wenn der liebe Gott so hart urteilen täte wie die Priester, dann käme kein Verheirateter in den Himmel“36. Diese Aussage machte zum Ende der fünfziger Jahre ein Arbeiterehepaar, beide Mitte Dreißig. In der Konsequenz dieser „Ehenot“, so fasste Osmund Schreuder die Ergebnisse seiner qualitativen Vorort-Studie zusammen, trennten viele Jungverheiratete, die sich religiös durchaus gebunden fühlten, Kirche und Ehe in der Praxis voneinander. „Die Trennung wird vor allem dadurch vollzogen, daß man ein relativ ‚sakramentloses’ religiöses Leben führt“37. Insbesondere die Beichte als Zwiegespräch

B. Häring, Ehe in dieser Zeit, Salzburg 1960, S. 178, 190. L. von Friedeburg, Die Umfrage in der Intimsphäre, Stuttgart 1953, S. 48 f. 35 Knapp 20 Jahre später rückte die Frage nach der Masturbation in den Mittelpunkt des Interesses: Die Meinungsforscher Giese und Schmidt, die im Auftrag des Hamburger Instituts für Sexualforschung eine Untersuchung zur „Studenten-Sexualität“ erarbeiteten, ermittelten, dass 76% der männlichen Befragten und regelmäßigen Kirchgänger sich selbst befriedigt hatten, unter den Studentinnen 32%. Dabei billigten 62% der kirchentreuen Studenten dem eigenen Geschlecht diese Verhaltensweise zu sowie 47% unter den Mädchen und Frauen. Vgl. H. Giese / G. Schmidt, StudentenSexualität: Verhalten und Einstellung, Reinbek 1968, S. 283 f. 36 Zitiert nach O. Schreuder, Kirche im Vorort. Soziologische Erkundung einer Pfarrei, Freiburg i.Br. / Basel / Wien 1962, S. 432. 37 Ebd., S. 436. 33 34

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zwischen Priester und Gläubigem, in der das Sexualverhalten auffallend ausführlich thematisiert wurde, verlor so innerhalb von eineinhalb Jahrzehnten an Relevanz und ist in ihrer traditionellen Form praktisch abgeschafft. Bereits in den fünfziger Jahren hatte also eine sektorielle Entkirchlichung des Ehelebens stattgefunden38. Über das Gebot der vorehelichen Keuschheit setzten sich große Teile der Bevölkerung hinweg und die Vorschriften für das eheliche Geschlechtsleben erachteten sie als wirklichkeitsfremd. Insbesondere die Beichte, in der sich das Interesse an Ehe und Familie praktisch auf die Frage der Empfängnisverhütung beschränkte, wurde zunehmend zu einer psychischen Belastung. Die Generation der zwischen 1940 und 1950 Geborenen, die in einer Umgebung aufwuchsen, als äußerlich die religiösen Verhältnisse in der Bundesrepublik bemerkenswert kräftig und geordnet erschienen, hatte sich bereits weitgehend von der kirchlichen Moral entfernt39. „Ohne die kirchlichen Normen offen zu kritisieren“, so resümiert Lukas Rölli-Alkemper seine Untersuchung zum bürgerlich-kirchlichen Familienbild und der davon partiell abgeleiteten Wirklichkeit, „richtete sich ein Großteil selbst der kirchentreuen Katholiken nicht mehr nach ihnen, sondern nach allgemeinen gesellschaftlichen Leitbildern“40. Trotz dieser Änderungen des Verhaltens blieb bis Mitte der fünfziger Jahre die Rollenzuschreibung an die Gläubigen unverändert. Insbesondere gegenüber Mädchen und Frauen blieben die kirchlichen Vorgaben zu Moral und Lebensführung in vieler Hinsicht rigider als gegenüber den männlichen Kirchenangehörigen: „Das gefallene Mädchen“, so die Zeitschrift „Der Jungführer“ von 1954, „ist aber noch gründlicher gefallen als der Junge. Wie der abgefallene Engel schrecklicher ist als der abgefallene Mensch, so ist auch die abgefallene Frau schrecklicher als der abgefallene Mann“41. Die egoistisch ihren Begierden nachgebende Eva wurde in populären Zeitschriften zum Gegen-Bild der Figur der Maria stilisiert, der vor allem Stille, Demut und mystische Hingabefähigkeit zugeschrieben wurde. Insbesondere viele meist in fünfstelliger Auflage verbreitete Traktate skizzierten ein Schwarzweißbild, in dem die Sexualnormen der Kirchen als absolute Orientierungsgröße gezeigt wurden, deren Übertretung durch seelischen oder physischen Schaden sankti38 F.W. Menne, Kirchliche Sexualethik gegen gesellschaftliche Realität. Zu einer soziologischen Anthropologie menschlicher Fruchtbarkeit, München / Mainz 1971, S. 251. 39 Vgl. F.-X. Kaufmann, Die heutige Tradierungskrise und der Religionsunterricht, in: Religionsunterricht. Aktuelle Situation und Entwicklungsperspektiven. Kolloquium 23.-25. Januar 1989, hrsg. von dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1989, S. 60-73. 40 L. Rölli-Alkemper, Familie im Wiederaufbau, S. 236. 41 Polarität der Geschlechter, in: Der Jungführer, NF 5 (1954), S. 365-370, S. 362.

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oniert würde42. Kleinschriften mit Titeln wie „Liebe in Gewissensnot“, „Lust oder Liebe“ oder „Ehe um jeden Preis?“, die alle in den fünfziger Jahren und zu Anfang der sechziger Jahre veröffentlicht wurden, modellierten die Verhaltensgebote: Mädchen, die „rein“ bleiben, schließen eine glückliche Ehe; Mädchen mit vorehelichen Beziehungen landen in der Gosse, zumindest aber sind Verzweiflung oder seelisches Zerbrechen die Konsequenz vorehelicher Sexualität. Männer verachten Mädchen, die sich ihnen „vorehelich“ hingeben. Abtreibungen enden tödlich für das werdende Kind und die Mutter, beide werden schamhaft und „still“ beerdigt. Um diesem Ideal nahe zu kommen, setzte man in der Praxis der Jugendarbeit nach wie vor auf das „Stauungsprinzip“ in der Reifezeit, sprich: die strikte Trennung von männlichen und weiblichen Jugendlichen43. Seit Mitte der fünfziger Jahre entlud sich der Widerwille gegen diese Rollenzuweisung erstmals öffentlich in vielen „kleinen Konflikten“ und Diskussionen. „Darf ein katholisches Mädchen sich schminken?“ oder „Ist Flirten verwerflich?“ – solche in der katholischen wie auch in der protestantischen Jugendpresse aufgeworfenen Fragen entfachten regelmäßig ein außergewöhnliches Leserecho. Die Auseinandersetzungen um die Rollenzuweisungen setzten sich in Diskussionen über die angemessene Berufswahl für Frauen und vor allem über das „Haushaltsjahr“ fort – eine dienstmädchenähnliche einjährige Beschäftigung, die die junge Frau vor der Ehe eingehen sollte, um Demut und Dienstbereitschaft zu internalisieren44. Die Differenz zu diesen Vorgaben – das ist das qualitativ Neue – bekundeten junge Frauen seit Mitte der fünfziger Jahre zunehmend öffentlich. Die Unzufriedenheit in den kirchlichen Kreisen und Gruppen schlug sich in Korrespondenz und Leserbriefen nieder und verdichtete sich in den Verbandsführungen. In einem Vortrag mit dem Titel „Seid moderne Katholiken“ rief die Bundesführerin der Frauensäule des BDKJ, Heidi Carl, 1954 dazu auf, den Kampf gegen die Insignien der modernen Welt aufzugeben und sich nicht selbst zu isolieren45. In der einsetzenden Diskussion um einen dem Katholischen angemessenen Lebensstil prallten die Gegensätze aufeinander,

42 Vgl. Ch. Rohde-Dachser, Die Sexualerziehung Jugendlicher in katholischen Kleinschriften. Ein Beitrag zur Moraltradierung in der komplexen Gesellschaft, München 1967; H. Schwenger, Antisexuelle Propaganda. Sexualpolitik in der Kirche, Reinbek 1969. 43 Zur Tradition dieses Gedankens vgl. H. Muckermann, Stauungsprinzip und Reifezeit. Gedanken zur geschlechtlichen Erziehung im Sinne der Eugenik, Essen 1935. 44 Detailliert dazu M.E. Ruff, Katholische Jugendarbeit und junge Frauen in Nordrhein-Westfalen 1945-1962, in: Archiv für Sozialgeschichte, 38 (1998), S. 263-284. 45 Jahresthema: Das christliche Menschenbild, in: Der junge Katholik, 5 (1955), 1, S. 1.

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ohne dass eine Vermittlung der kontroversen Positionen zu beobachten war. Dem Machtwort der kirchlichen Hierarchie folgte zwar nicht der Kirchenaustritt, wohl aber die innerliche Distanzierung von Mädchen und Frauen von den kirchlichen Vorgaben46. Parallel dazu veränderte sich auch die praktische Ausrichtung von Verbänden und Gemeindejugendarbeit, die sich von der Doktrin immer stärker entfernte: Auf klare Grenzziehungen abzielende Strategien wurden schrittweise aufgegeben. Kirchliche Pastoral orientierte sich in der Praxis zunehmend weniger exklusiv, sondern wollte dem eigenen Selbstverständnis nach der allgemeinen Erziehung und Bildung einen zusätzlichen konfessionellen Akzent geben, um auf diese Weise die Lebens- und Erfahrungsräume der Gläubigen religiös zu integrieren. Vormals kirchliche oder kirchennahe Wertegemeinschaften wurden zudem zunehmend organisatorisch zentralisiert, rechtlichen Regelungen unterworfen und von ihren Zielsetzungen her „vergesellschaftet“47. Parallel dazu veränderte sich seit Mitte der sechziger Jahre auch die „veröffentlichte Meinung“ im Katholizismus: Nicht mehr die Traktatliteratur, sondern eine neue Form der publizistischen Jugendarbeit wurde tonangebend. Die vom Journalisten Hermann Boventer konzipierte „Illustrierte für junge Erwachsene“ mit dem programmatischen Titel „Kontraste“ sollte ein Gegenstück zu der auf dem Medienmarkt mit großem Erfolg eingeführten Zeitschrift „Twen“ darstellen48. Jede Nummer der seit 1961 erschienenen Zeitschrift berührte das Thema Sexualität meist nicht nur am Rande, sondern ganz zentral: Noch immer, so suggerierten die Darstellungen, war Abtreibung fast zwangsläufig mit einem körperlichen und psychischen Schaden für die Frau verbunden. Noch immer blitzte der alt-neue Topos von der Ritterlichkeit des Mannes und des entsprechenden Verhaltens der Frau auf49. Darüber hinaus aber durchbrach man die klare Dichotomie von Gut und Böse, wie sie die Kleinschriften skizzierten, und ließ auch andere Stimmen zu Wort kommen: Unter der Überschrift „Sex mal sex“ brachte man jetzt der „Ehenot“ junger Paare durchaus Verständnis entgegen, wenn als Beispiel das „katholische Ehepaar“ angeführt wurde, welches „jeden Sonntag zur Messe geht, das die Gebote genau kennt und also auch weiß, daß alle gebräuchlichen und zuverlässigen Mittel der Empfängnisverhütung als Sünde gelten – und das trotzdem nur zwei Kinder hat. „Konsequent ist diese Haltung nicht“, so der Kommentar, Vgl. M.E. Ruff, Katholische Jugendarbeit. Vgl. R. Münchmeier, Die Vergesellschaftung von Wertgemeinschaften: Zum Wandel der Jugendverbände in der Nachkriegs-Bundesrepublik, in: T. Rauschenbach u.a. (Hrsg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen. Jugend- und Wohlfahrtsverbände im Umbruch, Frankfurt a.M. 1995, S. 201-228. 48 H.-M. Koetzle u.a., Twen. Revision einer Legende, 2. Aufl., München 1997. 49 Der Sex hat seine Schuldigkeit getan, in: Kontraste, (1967), 1, S. 46-49. 46 47

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„aber sie erhält dem Sexualakt, wenn auch nur scheinbar, etwas von seiner Weihe“50. Zum Thema wurden in den Folgejahren zunehmend Positionen und Lebensentwürfe, die der kirchlichen Diktion nicht entsprachen: der aus dem Amt geschiedene und jetzt verheiratete Priester; die junge 25jährige Lehrerin, die allein erziehend die Missachtung ihrer Umgebung ertragen muss usw. Alles in allem waren die den Leserinnen und Lesern vorgeführten fiktiven Diskussionen jetzt innergesellschaftlich bestimmt. Christliche Sexualmoral trat in den Dienst der „Befreiung des Menschen“, so der Moraltheologe Johannes Gründel 1972 in einem „Kontraste“-Beitrag51. Die „anthropologische Wende“, die Teile der katholischen Theologie mit dem Zweiten Vatikanum vollzogen hatten, zeigte sich in der Argumentation der populären konfessionellen Presse besonders deutlich, als der Arzt und Psychologe als Beratungsinstanz zunächst neben, dann seit 1974 an die Stelle des Geistlichen rückte52. Mit dieser Entwicklung hatte sich die Praxis der Vermittlung kirchlicher Sexualmoral grundlegend verändert: Die Form der autoritären Kommunizierung einer zunächst deutlich konfessionell geprägten Sexualmoral wurde abgelöst von einem Diskussionsfeld, in dem sich vielfältige Stimmen artikulierten. An die Stelle von exkludierenden waren nun inkludierende Sprachmuster und Verfahren getreten. Diese Öffnung zu mehr Partizipation bot prinzipiell die Chance, einen größeren Kreis von Personen für die eigene Position zu erreichen. Das idealtypisch „absolute Verstehen“ schloss aber Negationsmöglichkeiten ein und machte die vormals sich unumstößlich gebende Position zum Gegenstand der Verhandlung, in der kein Interesse von vornherein ausgeschlossen werden konnte53. Diesem Rechtfertigungsdruck war die kirchliche Sexualmoral nicht gewachsen, so dass das vormals geschlossene Moralkorsett seine Wirkung einbüßte. Die theologische und pastorale Neuorientierung, die im Gefolge des Zweiten Vatikanums und der Würzburger Pastoralsynode einsetzte, lief dem allgemeinen Wertewandel allenfalls hinterher und wurde seinerseits konterkariert durch eine Fixierung der Kirchenhierarchie auf sexualmoralische Verhaltensgebote, die immer öfter auch von praktizierenden Katholiken nicht Sex mal Sex, in: Kontraste, (1966), 2, S. 40-44, hier S. 40. J. Gründel, Du sollst nicht …, in: Kontraste, (1972), 3, S. 42-44, hier S. 44. 52 Parallel dazu die Entwicklung in Schweizerischen katholischen Frauenzeitschriften; vgl. M. Künzler, Sexualmoral in katholischen Frauen- und Familienzeitschriften 1945-1990, Fribourg 2003, S. 137-151. 53 Vgl. für den Bereich der Liturgie P. Fuchs, Gefährliche Modernität. Das zweite vatikanische Konzil und die Veränderung des Messeritus, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45 (1992), 1, S. 1-11; T. Großbölting, „Wie ist Christsein heute möglich?“. Suchbewegungen des nachkonziliaren Katholizismus im Spiegel des Freckenhorster Kreises, Altenberge 1997, S. 68 f. 50 51

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mehr akzeptiert wurden54. Dieser Zwiespalt eskalierte dann auch öffentlich weit wahrnehmbar im Essener Katholikentag von 1968, auf dem zahlreiche Laien die Rücknahme oder Modifizierung des als Pillenenzyklika bekannt gewordenen päpstlichen Lehrschreibens „Humanae Vitae“ forderten. Auf diese Weise hatten die christlichen Kirchen ihre Einflussmöglichkeiten auf die Normierung sexuellen Verhaltens und die unterschiedlichen Formen des Familienlebens verloren. Die Vorstellung von der ‚Inkompetenz‘ der Kirche im Bereich der Sexualmoral ist laut demoskopischer Daten breit ausgeprägt. Anhand von Daten, die zum Ende der 1990er Jahre erhoben wurden, belegt der Religionssoziologe Andrew M. Greeley, dass nicht nur die römisch-katholische Kirche, sondern viele große Religionsgemeinschaften ihr selbst gestecktes Ziel, das Sexualleben ihrer Gläubigen zu normieren, grundlegend verfehlten. „Most of the laity seems convinced that the church doesn’t know what it’s talking about when the subject is the ethics of human sexuality”55. Diese auf die Gegenwart zielende Situationsbeschreibung lässt die Veränderung zu den 1950er Jahren klar hervorstechen: Zur Mitte des 20. Jahrhunderts war das religiöse Gedankengut eine Norm, an der sich eine generelle Gesellschaftskritik wie auch der Diskurs über die Familie orientieren konnte56. Seit den 1960er und 1970er Jahren haben die Kirchen ihre immer begrenzten, aber durchaus wirkungsmächtigen Einflussmöglichkeiten auf die Normierung sexuellen Verhaltens verloren. Nur wenige werden diese Entwicklung bedauern. Ein Zurück zu der engen Verknüpfung von gesellschaftlicher Moral und religiös geprägter Sexuallehre, wie es beispielsweise die amerikanische Regierung mit ihren Bestimmungen zum schulischen Aufklärungsunterricht erreichen will, ist in (West)Europa weder denkbar noch wünschenswert 57.

IV. Fazit und Ausblick – Wertewandel ja, aber in eigenen Rhythmen und Teilprozessen Wollte man eine Geschichte der Familien und Familienwerte in Deutschland schreiben, so müsste man diese um viele weitere Kontextfaktoren ergänzen. Politisch-kulturell waren die Kirchen nur ein Faktor unter vielen Akteuren.

54 Die zentralen Entwicklungen skizziert J. Lange, Ehe- und Familienpastoral heute. Situationsanalyse – Impulse – Konzepte, Wien 1977, S. 196-204. 55 A.M. Greeley, Religion in Europe at the End of the Second Millennium, New Brunswick NJ / London 2003, S. 83. 56 R.S. Ellwoord, The Fifties Spiritual Marketplace. American Religion in a Decade of Conflict, New Brunswick NJ 1997, S. 230. 57 Vgl. zum „Abstinence Only“-Programm der „Alliance for Families“, welches die Bush-Regierung im Sexualkundeunterricht der staatlichen Schulen fördert, G. Chwallek, Sex, nein danke!, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23. Juli 2002.

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Zeitlich bildete „1968“ dort ebenso einen Sprung in der öffentlichen Diskussion wie die Anfang der 1970er Jahre verstärkt aufkommende Frauenbewegung. Die Markteinführung der Pille wäre dabei ebenso zu berücksichtigen wie viele weitere Transformationsprozesse, die von der Moderne in die Nachmoderne führten. Der kleine Ausschnitt oben kann diese Geschichte nicht skizzieren, kann aber vielleicht darauf hindeuten, dass und inwiefern die großen soziologischen Prozessbegriffe nicht von sich aus Ergebnisse darstellen, sondern vor allem als Ausgangspunkt für Fragen dienen können: Deutlich sticht hervor, dass Werte wie auch Prozesse der Umwertung nicht naturwüchsig sind, sondern in vielfacher Hinsicht gemacht werden. Es sind spezifische Konstellationen, die einen Wandel begünstigen und der seinerseits durch Kommunikationsprozesse angestoßen oder doch zumindest befördert wird. In ähnlicher Weise hat Dagmar Herzog eine solche Konstellation für die USA der 1980er und 1990er Jahre in ihrer Studie „Sex in Crisis“ analysiert, indem sie das Wechselspiel und das Ineinandergreifen einzelner Initiativen der Konsumindustrie, der Gesundheitsbranche, der religiösen Rechten wie auch von staatlichen Maßnahmen miteinander ins Verhältnis gesetzt hat58. Erweiterte man die statistischen Befunde durch eine breitere Quellenbasis, ergänzte die Ergebnisse von Demoskopie und Meinungsforschung durch qualitative Untersuchungen, dann kann man die These vom Wertewandel zugleich bestätigen wie auch modifizieren. Es gibt einen Wertewandel, der aber einem durchaus anderen Rhythmus folgt als es die Konzentration allein auf die „langen“ 1970er Jahre nahelegt. Insbesondere in den Bevölkerungsgruppen, in denen traditionelle Familienwerte besonders ausgeprägt waren, hatte das religiös gebundene Familienideal bereits in den 1950er Jahren viel an Plausibilität und Zustimmung verloren. Die 1960er Jahre machten dann öffentlich diskutierbar, was sich in den Jahren zuvor bereits angedeutet hatte. Für andere Bevölkerungsgruppen sind sicher andere Datierungen, Rhythmen und Konfliktpunkte auszumachen. Schreibt man die Geschichte des Wandels der Familienwerte fort, dann könnte man auch die Vorstellung vom Abbruch der Werte als Chimäre entlarven: Seitdem die Kirchen die „Deutungshoheit“ über die Familie verloren hatten, fehlte ein institutionelles Gewicht, welches den Interessen der Familien auch politisch Gehör zu verschaffen weiß. Zugleich war auch die religiöse Legitimation der Lebensform Familie ersatzlos weggebrochen. Das bedeutet aber nicht, dass nicht andere Akteure und Interessen weiterhin Entwicklung antrieben: die Stellung der Frau innerhalb der Familie; eine

58 D. Herzog, Sex in Crisis. The New Sexual Revolution and the Future of American Politics, New York 2008.

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stärkere Sensibilität für die Bedürfnisse und Rechte von Kindern; ein größeres Problembewusstsein für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wie auch andere soziale Belange, aktuell die Debatte um die Gleichstellung gleichgeschlechtliche Paare bei der Adoption von Kindern – es sind diese und viele weitere Felder, an und in denen sich Diskussionen um die Familie verdichten, in soziale Praxis und in Gesetzesregelungen niederschlagen. Dass ein Rückgang der religiösen Einbindung der Familie neue Zwänge nicht ausschließt, liegt auf der Hand. Trotz Liberalisierung ist das Leben von Männern und Frauen mit Kindern heute kein „Bastelabenteuer“. Wo früher Religion, Tradition und Standeszugehörigkeit die privaten Lebensformen festlegten, sind es heute die Regeln und Reglementierungen des Arbeitsmarktes wie auch des Sozialstaats und seiner Medien der Rechtsprechung, Bildung und öffentlichen Meinung. Dass diese nicht minder einflussreich und durchgreifend sind, zeigt die Studie Russel Hochschilds zur „Work-Life-Balance“: Flexible Arbeitszeiten, so die Ergebnisse dieser soziologischen Studie, erwiesen sich bei genauerem Hinsehen als impliziter Zwang zu einer immer stärker auf die Arbeit zentrierten Lebensführung. In Folge blieben weniger Zeit für Kinder, Ehe und soziales Umfeld59. Wer von einer besonderen Intensität des Wandels in den „langen“ 1970er Jahren ausgeht, müsste auf dem Hintergrund dieser Überlegungen noch stärker im Zeitverlauf vergleichend argumentieren.

59 A.R. Hochschild, Keine Zeit. Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet, Opladen 2002.

Zweiter Teil

Untersuchungen zum Wertewandel

Die Modernisierung als „höchstes Stadium“ der Moderne? Entwicklung und Krise der sozialdemokratischen Ideologie nach dem Zweiten Weltkrieg (1945-1973)* Von Giovanni Bernardini

I. Zur Einführung Dieser Beitrag möchte einige aus der diesem Band zugrunde liegenden multidisziplinären Diskussion hervorgegangene Überlegungen aufgreifen, um das Transformationsgeschehen der europäischen Sozialdemokratie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in eine weiter gefasste Konzeptualisierung der Moderne einzubetten. So soll, wenn auch in gewissen Grenzen, ein Beitrag geleistet werden zur Überwindung des von Lutz Raphael hervorgehobenen Misstrauens der Historiker gegenüber den historisch-theoretischen Einordnungen und den analytischen Definitionen ihrer Untersuchungsgegenstände1. Der Dialog würde allerdings sein Ziel verfehlen, würde er sich in der einfachen Übernahme umfassender Theorien aus anderen Wissensgebieten für die Erforschung historischer Phänomene erschöpfen; andererseits kann man auch nicht darüber hinwegsehen, dass die lebhafte Debatte über die „Moderne“ und ihre Überwindung nicht selten durch apologetische oder diffamierende Absichten belastet ist, die von bisweilen selbstreferenziellen und schwer übertragbaren Ausdrucksweisen und Gedankengängen leben. Dennoch lohnt sich der Vergleich aus mehreren Gründen. Vor allem ist da der Wunsch, die Debatte der Geisteswissenschaften historisch einzuordnen, um ihren Einfluss auf die Sprache der Quellen zu verstehen, mit denen der Historiker sich auseinandersetzt. Undenkbar wäre der Versuch, die Eigenschaften der Moderne zu umreißen, ohne den normativen Sprachgebrauch zu beachten, dem das Wortfeld der „Moderne“ im Laufe der Zeit unterlag. In einem umgekehrten Prozess ist es möglich, die Kategorien und Konzeptualisierungen anderer Fächer zu verwenden, um die vielfältigen Fakten und Diskurse, die im Laufe von Jahrzehnten Bestandteil dieser Entwicklungen waren, zu subsumieren, zu vergleichen und ihnen Sinn zu verleihen. Wer sich mit Zeitgeschichte beschäftigt, kann das * 1

Aus dem Italienischen von Hedwig Rosenmöller. Siehe den Aufsatz von Lutz Raphael in diesem Band.

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Risiko nicht außer Acht lassen, das die scheinbare Annullierung der zeitlichen Distanz zu den untersuchten Ereignissen mit sich bringt. Es entsteht durch die irreführende Nähe der Sprache der sie betreffenden Quellen zur gegenwärtigen Sprache. Schließlich sollte das empirische Handeln der Historischen Methode dazu beitragen, die von anderen Disziplinen vorgeschlagenen Kategorisierungen zu dekonstruieren und zu problematisieren, langfristigen Prozessen ihre Dynamik und Widersprüchlichkeit zurückzugeben, um vor Anachronismen und simplifizierten Periodisierungen zu warnen.

II. Der Projektcharakter der Moderne und die Ideologie In den letzten Jahrzehnten stand die Moderne im Zentrum einer weitreichenden Debatte, die durch ihr hypothetisch gedachtes oder ihr proklamiertes „Ende“ ausgelöst wurde. Die neue Aufmerksamkeit, die darauf gerichtet wird, ihre Denk- und Erfahrungsstrukturen kritisch und autoreflexiv zu überdenken, wird ihrerseits als Symptom der Krise angesehen und als eine exponentielle und eruptive Intensivierung der in der Moderne angelegten Widersprüche aufgefasst2. Eine einflussreiche Stellungnahme kam von Jürgen Habermas gegen die „Konservativen“, die sich dafür einsetzten, das definitive Scheitern der Moderne auszurufen. Habermas wollte dagegen ihre Gültigkeit als kulturelles, vernunftzentriertes Projekt verteidigen, das unvollendet ist und dennoch ein noch nicht entwickeltes Potential besitzt3. Eine Reflexion über die normative Valenz der Habermasschen Position würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen. Hier interessiert vielmehr folgender Punkt: Die Definition identifiziert als Schlüssel zum Verständnis der Moderne ihre projekthafte Dimension und wandelt damit auf den Spuren anderer maßgeblicher Überlegungen, die die Moderne als ständige Spannung zwischen dem Streben nach Ordnung und nach der Kontrolle und Steuerung der sozialen Prozesse einerseits und den gegenläufigen Widerständen eben dieser Prozesse aufgrund ihrer veränderlichen Natur andererseits interpretieren4. Der Ursprung des von Habermas dargelegten Projektcharakters sollte nicht auf die Anfänge der Moderne im allgemeinen Sinn (16. Jahrhundert) zurückgeführt werden, sondern auf den Erfolg der Aufklärung und dann auf das revolutionäre Zeitalter, auf den Glau2

Dieser weitreichenden Debatte kann hier nicht Rechnung getragen werden; vgl. daher: D. Harvey, La crisi della modernità, Mailand 2010. 3 J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985. 4 A. Touraine, Critique de la modernité, Paris 1992; P. Wagner, Liberty and Discipline: Making Sense of Post-Modernity, or, Once Again, Toward a Sociological Understanding of Modernity, in: Theory and Society, 21 (1992), S. 467-492.

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ben an den Fortschritt und an die irdische Vervollkommungsfähigkeit, auf den Geist des Universalen, was alles in dieser Phase vehement hervorbrach. In der von Reinhart Koselleck definierten „Sattelzeit“ führte das dramatische Zusammenbrechen des Bereichs des Erlebens im Laufe weniger Generationen zu einer Kluft zwischen „Erfahrungsraum“ und „Erwartungshorizont“, die der Auffassung der Moderne als einem von der Vergangenheit qualitativ unterschiedenen Zeitalter zugrunde liegt5. Wo die normative Macht der Vergangenheit gegenüber der Zukunft zu schwinden begann, erfand die Moderne „die Tradition des Neuen“: In der Politik übersetzte sich dies in die Suche nach neuen Voraussetzungen für Legitimation angesichts der Ineffizienz der traditionellen Voraussetzungen6. Im 18. und 19. Jahrhundert tauchten also „Bündel historischer Ideen“ auf, die anwuchsen und geschlossene Einheiten mit unterschiedlicher Bindungskraft bildeten7. Besonders auf die Sattelzeit lässt Koselleck die historische Dynamik des „Abstrahierens“ und „Ideologisierens“ der Begriffe zurückgehen, die losgelöst von ihren traditionellen Kontexten je nach der Zugehörigkeit und den Interessen dessen, der sie gebraucht, in politisch verwendbare Formeln umgewandelt werden. Also nicht ein einzelnes Projekt, sondern eine Vielzahl von Projekten, die in Form von Ideologien im öffentlichen Raum ihre natürliche Wettbewerbsarena gefunden haben. Frei von den negativen Konnotationen, die sie mit der Zeit annahm, wird Ideologie hier aufgefasst in der ihr durch die Kulturanthropologie und durch die Politiktheorie verliehenen operativen Bedeutung: als ein symbolisches Instrument, das den sozialen Raum und die historische Zeit ordnet; das es ermöglicht, andernfalls unverständlichen sozialen Situationen Bedeutung zu verleihen und sich innerhalb dieser Situationen kohärent zu bewegen, und das die Aufgabe erfüllt, problematische soziale Realitäten verständlich zu machen und Bewusstseinsmuster zu schaffen, die ein kollektives Handeln ermöglichen8. Der Erfahrungsraum, auf den die modernen Ideologien ihre Legitimation stützten, war stark eingeschränkt, die Zukunftsplanung jedoch in gleichem Maße unumgänglich. Eine bedeutende Rolle übernahm hierbei die „Utopie“. Dieser von Thomas Morus als ein in Raum und Zeit unerreichbar gedachter Ort entwickelte sich zu einer politisch-sozialen Kategorie und zu einem Schlüsselbestandteil vieler Ideologien seit der Französischen Revolution. So wurde die Utopie zur Vorwegnahme einer nicht notwendigerweise nahen, aber sicher im Bereich des menschlich Durchführbaren inbegriffenen Zukunft9. 5 6 7 8

R. Koselleck, Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1979. A. Martinelli, La modernizzazione, Bari 2010, S. 6. O. Brunner, Per una nuova storia costituzionale e sociale, Mailand 1970, S. 222. M. Frieden, Ideologies and Political Theory: A Conceptual Approach, Oxford

1996. 9

R. Koselleck, Il vocabolario della modernità, Bologna 2009, S. 133 ff.

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Die Entwicklungskurve der Sozialdemokratie ist voll und ganz eingebunden in den hier skizzierten Prozess. Dennoch wird eine eindeutige Definition der Sozialdemokratie durch die Vielfalt der politischen Phänomene erschwert, die sich auf sie berufen haben und durch die polysemische Natur, die sie seit ihren Anfängen charakterisiert. Auch die jüngsten Definitionen scheinen allzu überladen durch die ihnen von ihren Urhebern eingeprägte normative Geltung. So haben Moene und Wallerstein sie gleichgesetzt mit einem „distinctive set of institutions and policies that fit together … to reduce both the insecurity and the inequality of income without large sacrifices in terms of … macroeconomic instability“10. Laut Leszek Kolakowski beruhte die Konsenskrise, die die Sozialdemokratie in den 1980er Jahren durchmachte, auf ihrer Weigerung, definitive und palingenetische Lösungen zur vollständigen Rettung der Menschheit zu bieten11. Die Schlussfolgerungen dieser Abhandlung teilweise vorwegnehmend kann man sagen, dass die Reduktion der Sozialdemokratie auf ihren pragmatischen Ansatz, der auf die fortschreitende Beseitigung der Ursachen sozialer Ungleichheit ausgerichtet ist, das Ergebnis einer tiefgreifenden Revision darstellt, die in den Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorgenommen wurde. Die sozialdemokratische Ideologie hatte jedoch eine Hauptcharakteristik, zu deren Verstärkung der Zusammenstoß zwischen Nachfolgegruppierungen des Marxismus beitrug; diese lag in der doppelten Zeitebene, auf die sich die sozialdemokratische Ideologie gründete. Wie das Programm der Zweiten Internationale(n) formulierte, blieb die Überwindung des Kapitalismus das wichtigste langfristige Ziel; für die Gegenwart jedoch sollten sich die sozialdemokratischen Parteien für eine Ausdehnung der politischen und sozialen Rechte auf die Arbeiterklasse ebenso einsetzen wie für eine sofortige Verbesserung ihrer materiellen Bedingungen12. Es ist eine Auffassung von der historischen Zeit, die das Konkrete der Ziele mit einer leidenschaftlichen Zukunftsvision verband, die in der Arbeiterklasse die Schaffung eines historischen Bewusstseins stimulieren sollte: Auf diese Weise verlagerte die Sozialdemokratie die Utopie, deren Trägerin sie war, vollständig in die Zukunft. Aufgrund der wissenschaftlichen Natur, die sich der sozialdemokratische Entwurf zuschrieb, bestand ein unlösbares Band zwischen Gegenwart und Zukunft: Die Zukunft war in nuce in der Gegenwart enthalten und mit ihr durch eine Reihe im Vorhinein festgelegter Übergänge verknüpft; dennoch blieb das politische Handeln 10 K. Moene / M. Wallerstein, How Social Democracy Worked: Labor-Market Institutions, in: Politics & Society, 23 (1995), S. 185-212. 11 L. Kolakowski, What Is Living (and What Is Dead) in the Social-Democratic Idea?, in: Encounter, 58 (1982), S. 11-17. 12 G. Eley, Forging Democracy: The History of the Left in Europe. 1850-2000, Oxford 2002, S. 47-61.

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der Parteien unerlässlich, um in der Gegenwart die Entwicklungsbedingungen zu schaffen, die die Realisierung der letzten Ziele näher rücken lassen sollte. Ein „Erwartungshorizont“, der umso weitergefasst, umso detaillierter und umso konkreter artikuliert wurde, je enger der „Erfahrungsraum“ der sozialdemokratischen Bewegung war, deren Ausgangspunkt durch das Eindringen der sozialen Frage in die Geschichte infolge der industriellen Revolution bestimmt worden war. Um diese Ziele zu erreichen, wurden die sozialdemokratischen Parteien zu zentralisierten Organisationen, um die eine komplexe, von Gewerkschaftsformationen und mutualistischen Organisationen übersäte Struktur kreiste13. Gleichzeitig jedoch beschritten sie einen eigenen Weg innerhalb der staatlichen Institutionen; diese Entscheidung verursachte ständige Spannungen zwischen den durch die institutionellen Zwänge auferlegten Verzögerungen und dem Maximalprogramm, das dennoch weiterhin auf dem Sozialismus als Fernziel beruhte. Andererseits war die Anpassung für eine Ideologie, die sich als Ausdruck geschichtlich determinierter Bedingungen betrachtete, eine unumgängliche, allerdings auch problematische Notwendigkeit. Der Erste Weltkrieg führte zur dramatischen und lange ungelösten Konfrontation mit dem Prinzip des nationalen Interesses, das zuvor als eine künstliche Konstruktion konkurrierender Ideologien angesehen worden war. Fast gleichzeitig trug die heftige Auseinandersetzung mit der revolutionären Doktrin der internationalen kommunistischen Bewegung dazu bei, das herausragende Merkmal des sozialdemokratischen Handelns, das kleinschrittige Vorgehen, zu festigen14. Der Preis hierfür bestand allerdings in der Schwächung und Fragmentierung der sozialdemokratischen Bewegung selbst, die mitunter eine wirksame Opposition gegenüber dem zerstörerischen Werk der Faschismen verhinderte, bevor ein neuer Weltkrieg die Karten des sozialen Wandels und des politischen Wettbewerbs neu mischte.

III. Nachkriegszeit und „Modernisierung“ Auferstanden aus den Trümmern des Krieges und oft aus Jahren des Untergrunds, sahen sich die sozialdemokratischen Parteien mit einem grundsätzlichen Paradoxon konfrontiert. Durch die allgemeine Ausweitung der politischen und die beträchtliche Erweiterung der sozialen Rechte mittels der 13 G. Moschonas, In the Name of Social Democracy: The Great Transformation from 1945 to Present, London 2002, S. 19 ff. 14 D. Sassoon, One Hundred Years of Socialism. The West European Left in the Twentieth Century, London 2010, S. 27 ff.

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Regulierung der Arbeitsbedingungen und der Ausweitung von Sozialversicherung und Wohlfahrtsstaat befand sich zwar das Minimalprogramm der Zweiten Internationale(n) im Großteil Westeuropas auf dem Wege der Umsetzung. Dennoch wurde der neue „große Wandel“ der Nachkriegszeit in der Mehrzahl der Fälle angeführt von Kräften christlicher und gemäßigter Ausrichtung, die sich als Ort der pragmatischen Aussöhnung potenziell radikaler sozialer Interessen im Rahmen der parlamentarischen Demokratie und des gemäßigten Kapitalismus präsentieren konnten 15. In langfristiger Perspektive erhellend ist das Beispiel der einzigen der Sozialdemokratie zugehörigen Partei, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit durchsetzen konnte. Die rosigsten Erwartungen der sozialdemokratischen Führungsriegen in Europa schienen sich 1945 durch den Sieg der Labour Party zu bestätigen: Der Krieg hatte die Desaster des Wirtschaftsliberalismus der Zwischenkriegszeit nicht aus der kollektiven Erinnerung gelöscht, und die Sozialdemokratie kandidierte als Repräsentantin der einzigen glaubwürdigen Alternative zum Kommunismus sowjetischer Ausprägung. Das ursprüngliche duale Programm musste nur noch konkret umgesetzt werden: eine auf die Überwindung der Einteilung in Klassen abzielende tiefgreifende und komplexe Sozialreform und eine schrittweise und planvolle Einführung von Maßnahmen zur Verstaatlichung der Wirtschaft so lange, bis dadurch der Kapitalismus zum Anachronismus würde. Obwohl die konkrete und symbolische Tragweite der Arbeit der Regierung Attlee nicht geschmälert werden kann, brachten die Wahlen 1951 dem Gesamtentwurf ein plötzliehes Ende: die Wähler übertrugen die Macht 13 Jahre lang der Konservativen Partei, die die durch die Labour-Regierung eingeführten Reformen als Gemeinschaftsgut akzeptierte, von ihrer Fortführung jedoch absah. Die schwierige Debatte, die im Hause Labour folgte, zeigte bereits, dass das Ergebnis nicht auf eine Entgleisung reduzierbar war, ebenso wie der Sieg von 1945 als die Betrauung mit einer epochalen Aufgabe begrüßt worden war16. Gerade das historische Ziel, dem das Reformwerk verpflichtet war, nämlich der Übergang zum Sozialismus, schien bei den potenziellen Wählern an Attraktivität zu verlieren. Im Gegenteil akzeptierten immer massivere Strömungen innerhalb der Partei als ein Faktum, dass auch für die Arbeiterklasse die wachsende Befriedigung der materiellen Bedürfnisse, die soziale Integration und die tendenzielle Chancengleichheit einen viel konkreteren und attraktiveren Horizont darstellten. Die neuen Bedingungen der Nachkriegszeit schienen die „konkrete Utopie“ des Sozialismus schlicht obsolet werden zu lassen und sie aus den historischen Erfahrungen auszuschließen. Ähnliche Überlegungen animierten auch die Debatten der anderen Parteien des europäischen demokratischen Sozialis15 W. Kaiser, Christian Democracy and the Origins of European Union, Cambridge 2007, S. 163 ff. 16 I. Favretto, The Long Search for a Third Way. The British Labour Party and the Italian Left since 1945, Basingstoke 2003, S. 17 ff.

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mus, die vielmals unter einem noch längerfristigen Ausschluss von der Macht litten. Die katholischen und konservativen Kräfte genossen offenbar auch wegen ihrer Distanz zu Projekten der sozialen Wiedergeburt über alle Klassengrenzen hinweg große Zustimmung: Die durch die radikalen ideologischen Konflikte der zurückliegenden Jahrzehnte hervorgerufenen kollektiven Traumata immunisierten anscheinend vielerorts wachsende Bevölkerungsschichten gegen einen erneuten Ausbruch dieser Konflikte; und die 1950er Jahre waren geprägt durch ein allgemeines Streben nach Sicherheit, die Rückbesinnung auf die Privatsphäre und die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse. Aufgrund der in Europa herrschenden Logik des Gegeneinanders zweier ideologischer und geopolitischer Blöcke sah der internationale Kontext genauso ungünstig aus. Während kommunistische Gruppierungen im Westen auch aufgrund ihrer Verbindung mit der „real gewordenen Utopie“ des Sowjetsozialismus weiterhin ein nicht unbeträchtliches Prestige genossen, litt die von der Sozialdemokratie eingenommene Position als „Dritte Kraft“ unter dem Fehlen konkreter historischer Bezüge. Auch zu diesem Punkt gab es Schuldzuweisungen, Reflexionen und schließlich so etwas wie eine resignierte Akzeptanz zuerst in der innerhalb der Labour Party geführten Debatte und fast gleichzeitig auf dem Kontinent. Die Erfordernisse des Wiederaufbaus und der kollektiven Sicherheit führten zudem zu einer neuen Beziehung zwischen Westeuropa und den Vereinigten Staaten von Amerika, einer Beziehung, die binnen kurzem Phänomene des Kulturtransfers hervorrief, die das Leben auf dem Alten Kontinent dauerhaft verändern sollten. Obwohl sich die Vorstellung von einer echten „Amerikanisierung“ heute vor der historischen Analyse als unhaltbar erweist, trifft es dennoch zu, dass in Europa aufgrund der engeren transatlantischen Beziehungen von der Hegemonialmacht Lebensstile, Modelle materiellen und kulturellen Konsums und soziale Verhaltenskodizes übernommen wurden17. Die im Sinne von wirtschaftlicher Zugänglichkeit „demokratische“ Konnotation dieser Kulturtransfers und die scheinbare Annullierung der Klassenunterschiede trugen dazu bei, den ursprünglichen sozialdemokratischen Entwurf auszuhöhlen, dem zufolge die Arbeiterklasse sich ihres unterscheidbaren und erkennbaren Wesens als sozialer Identität bewusst wird. Auf einer anderen Ebene betraf der Kulturtransfer auch die von Jedlowski in Erinnerung gerufenen sozialwissenschaftlichen Publikationen aus Übersee: Das vorherrschende Paradigma des Strukturfunktionalismus breitete sich weit über den ursprünglichen Untersuchungsbereich hinaus aus und übte dabei einen normativen Einfluss auf die Darstellung der sozialen Entwicklung und 17 G. Bernardini, Americanizzazione e/o Occidentalizzazione della Repubblica Federale Tedesca? Un dibattito storiografico aperto, in: Contemporanea, 4 (2012), S. 757-771.

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ihr Verhältnis zur Politik aus18. Die Theorie verbreitete die Idee, dass die Moderne ein grundsätzlich universaler Prozess sei, dessen höchster Gipfel vom Idealtyp einer Gesellschaft repräsentiert werde, der der US-amerikanischen Gesellschaft des Post-New-Deal (oder seiner idealen Selbstdarstellung) extrem nah komme. So erhielt die Moderne konkrete, universalisierende und faszinierende Konturen, für die die europäische Politikwelt nicht unempfänglich war. Außerdem bot die strukturfunktionalistische Theorie eine politisch griffige Erklärung für die Erfahrungen, die Europa kurz zuvor erlebt hatte, indem diese als Widerstände gegen den Gang der rationalen und wissenschaftlichen Moderne eingestuft wurden. In diesem Kontext erhielt die „Ideologie“ die negative Konnotation eines politischen Gedankens, dem es an praktischer Einbindung und analytischem Tiefgang mangelte; Ideologie wurde zu einer falschen Darstellung der Wirklichkeit in Funktion politischer Partikularinteressen auf Kosten des Gemeinwohls. Der nächste Schritt war das von den späten 1950er Jahren proklamierte „Ende der Ideologie“, das innerhalb der transatlantischen epistemischen Gemeinschaft heranreifte, der auch viele sozialistische Führungspersönlichkeiten angehörten, die kurze Zeit später den Weg der Revision ihrer Parteien anregten. Die Grundthese war, dass der Begriff „Ideologie“ inzwischen selbst ein Anachronismus sei, während die Regierungsform der liberalen Nachkriegsdemokratie einen epochalen Durchbruch darstellte, den die Politik mithilfe der Sozialwissenschaften und des technischen Fortschritts durch ein vorsichtiges und sektorales Reformwerk bewahren musste; die Voraussetzung hierfür war der Verzicht auf unrealistische utopische Ziele, die nicht dem Lauf der Geschichte entsprechen19. In denselben Jahren verurteilte der einflussreiche Initiator des transatlantischen Ideenaustauschs, Karl Popper das „Elend des Historizismus“, den er als Willen zur Durchsetzung utopischer und holistischer Projekte auffasste; und er setzte sich ein für die Praxis des „piecemeal social engineering“ als gezieltem und sektoralem Eingriff mit dem Ziel, das reibungslose Funktionieren einer voll entfalteten liberalen Demokratie zu gewährleisten20. Im politisch-ideologischen Kampf der Moderne hatte der Begriff „Ordnung“ eine zentrale Rolle gespielt, sowohl als tagespolitisches und Fernziel. In der Nachkriegszeit wurde der Begriff „Ordnung“ durch das Dogma der „Stabilität“ ersetzt; dieses implizierte die Fähigkeit des Sozialsystems zur Selbstregulierung und die Möglichkeit eines ausgleichenden Eingriffs seitens der technisch-politischen Autorität21. Sehr schnell wurde die Gesamtheit politischer Initiativen, die sich dem Erreichen und Erhalten der bis hierher skizzierten idealtypischen Situation verschrie18 19 20

Siehe den Aufsatz von Paolo Jedlowski in diesem Band. A. Martinelli, La modernizzazione, S. 28 ff. K. Popper, The Spell of Plato, Bd. 1: The Open Society and Its Enemies, London

1962. 21

C. Maier, In Search of Stability, Cambridge 1987, S. 262 ff.

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ben hatten, in einem Begriff gebündelt, der in den Erneuerungsprogrammen der Sozialdemokratie einen absolut herausragenden Platz einnehmen sollte: „Modernisierung“. Der Terminus wurde vor allem von den Reformströmungen innerhalb der sozialdemokratischen Parteien als Synonym für die Anpassung an die veränderte Umgebungsrealität verwendet22. Die „Modernisierung“ implizierte zuallererst den bewussten und definitiven Verzicht auf das Fernziel, den Sozialismus. Deutlicher als viele historische Übergänge repräsentierte dieser Verzicht einen radikalen Identitätswandel der Sozialdemokratie, der interne Konflikte mit sich bringen musste. Der von der SPD in Bad Godesberg abgehaltene Parteitag wurde aufgrund seiner „symbolischen Brutalität“ bald zum Prüfstein für die gesamte internationale Bewegung. Die Erneuerungsbestrebungen von Bad Godesberg konzentrierten sich auf den definitiven Verzicht auf die marxistische Inspiration der Anfänge und auf die völlige Akzeptanz der liberalen Demokratie und des Kapitalismus als endgültigem Horizont des politischen Handelns. Die Erhebung des Parteitages und seiner Beschlüsse zum (positiven oder negativen) Modell einer radikalen Erneuerung, die künftige Wahlerfolge mit sich bringen sollte, verdrängte dennoch für lange Zeit das Bewusstsein um einen Prozess, in dem es innerhalb der Partei auf vielen Ebenen Phasen der heftigen Ablehnung gab. Dass dieser Protest eingedämmt wurde, war der Geschicklichkeit und dem Ansehen der Verfechter des neuen Kurses und den besonderen innerstaatlichen Bedingungen in Deutschland zu verdanken23. Sehr viel heftiger war der Tonfall der Auseinandersetzung bei der britischen Labour Party, wo die Erneuerungsinitiativen der Führungsriege auf einen unnachgiebigen Widerstand trafen, der letztlich aufgrund des starken Symbolwerts des Streitobjekts siegreich war: jener „Clause IV“ der Parteiverfassung, die das gemeinsame Eigentum an Produktionsmitteln als historisches Ziel der Labour Party festlegte. Erst ein weiterer Wechsel an der Spitze mit dem Aufstieg des späteren Premiers Harold Wilson verschob die Erneuerung auf ein pragmatischeres Terrain und konzentrierte sich auf die Neudefinition des Sozialismus „nach den Prinzipien der wissenschaftlichen Revolution“, also der Rationalisierung und der gesteigerten Effizienz des ökonomischen und sozialen Systems. Der Verzicht auf ein Agieren auf symbolischer Ebene führte jedenfalls zu einer Übertragung des Fernziels einer klassenlosen Gesellschaft von der programmatischen auf die moralische Ebene24. Genauso konfliktge22

I. Favretto, The Long Search, S. 50 ff. F. Traldi, Verso Bad Godesberg. La socialdemocrazia e le scienze sociali di fronte alla nuova società tedesca (1945-1963), (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Monografie, 56) Bologna 2010. 24 C. Cavanagh Hodge, The Long Fifties: The Politics of Socialist Programmatic Revision in Britain, France and Germany, in: Contemporary European History, 1 (1993), S. 17-34. 23

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laden war die Lage der Sozialistischen Partei Italiens, die sich außerdem der unbequemen Nachbarschaft mit der größten kommunistischen Partei des Westens ausgesetzt sah. Die Identifikation mit der Sozialdemokratie wurde in der Partei noch lange Zeit als Synonym der Verwässerung der ursprünglichen radikalen Berufung angesehen, mit der die instabile autonomistische Führungsriege gezwungenermaßen zurückhaltend umging25. In den letzten beiden Fällen und in vielen anderen in Europa war das Maß der Geschwindigkeit und des Erfolgs des Reformkurses proportional zur Fähigkeit, Ideologie und politische Praxis zu erneuern, ohne die auf die jüngste Vergangenheit verweisenden Formeln und Symbole völlig zu entfernen, die den traditionellen sozialen Bezugsgruppen eine Kontinuität ihrer Ideale und Zugehörigkeiten de facto gewährleisteten. Noch breiteren Raum nahm die „Modernisierung“ in den Wahlprogrammen ein, mit denen die erneuerten sozialdemokratischen Parteien während der 1960er Jahre kandidierten und binnen kurzer Zeit Regierungsverantwortung übernahmen. Der Terminus „Modernisierung“ beinhaltete auch je nach den nationalen Gegebenheiten teilweise unterschiedliche konkrete Vorschläge, die jedoch gemeinsame Grundlagen hatten. Während das „Goldene Zeitalter“ des Nachkriegskapitalismus eine allgemeine Zunahme des Reichtums gefördert hatte, sah sich die Sozialdemokratie als pragmatische Kraft, zur Rationalisierung und die Stabilisierung der Prozesse, die zu diesen Resultaten geführt hatten turbulenten26. In dieser Perspektive wurde vor allem die potenzielle Rolle des Staates grundlegend rehabilitiert: Nachdem er lange Zeit als „bürgerliche“ Erfindung gegolten hatte, mit der man sich nur in Erwartung seiner Überwindung arrangiert hatte, nahm die Wirkungsmacht des Staats auf das wirtschaftliche und soziale Leben zu, und er wurde zu einem neutralen Instrument im Dienste politischer Zielsetzungen. Die neue Orientierung zeigt sich beispielhaft an der mühseligen internen Debatte des italienischen Sozialismus: Der neue Nachkriegsstaat wurde im noch stark marxistisch geprägten Wortschatz aufgrund seiner vermehrten Verflechtung mit der Wirtschaftswelt als „Basis“ und nicht mehr als „Überbau“ definiert. Noch deutlicher ist die bekannte Metapher von Pietro Nenni, der die Regierung mit einer Schaltzentrale („stanza dei bottoni“) gleichsetzte, deren Schalthebel durch das Anwachsen der staatlichen Befugnisse an Einfluss und Zahl enorm zugenommen hatten27. Alles in allem betraute der neue sozialdemokratische Kurs den Staat mit der Aufgabe, Ansporn und Ersatz zu bieten gegenüber den Unzulänglichkeiten des priva-

25

P. Mattera, Il partito inquieto. Organizzazione, passioni e politica dei socialisti italiani dalla Resistenza al miracolo economico, Rom 2004. 26 D. Sassoon, One Hundred Years, S. 150 ff. 27 G. Crainz, Storia del miracolo italiano: culture, identità, trasformazioni fra anni Cinquanta e Sessanta, Rom 2003, S. 221 ff.

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ten Unternehmertums; die Verstaatlichung wurde daher Sektoren vorbehalten, die auf ein stabiles und rationales Wachstum von rationalen Volkswirtschaften hinarbeiten. Auf die definitive Loslösung vom Bestreben nach einer anderen Produktionsweise deutete schließlich die fast einhellige Übernahme der Grundlagen und der Praxis des Keynesianismus bis hin zu seiner allgemeinen Identifikation mit der sozialdemokratischen Sache selbst: Der Keynesianismus bot die Möglichkeit, die Interessen der Arbeiterklasse an einer graduellen Verbesserung ihrer Finanzlage und Arbeitsbedingungen einerseits mit den Interessen des Kapitals an Wachstum ohne Hindernisse durch soziale Konflikte und andererseits mit dem Streben nach allgemeinem Wohlstand der jeweiligen Staatsgemeinschaft zu versöhnen28. Auf dieselben Ziele richtete sich das Instrument der Wirtschaftsplanung in einer „leichten“ und rationalisierenden Form. Auf mehr oder weniger implizite Weise richtungweisend waren so gesehen die Dynamiken der Durchdringung zwischen Staat und Privatsektor, die der Rooseveltsche „New Deal“ ausgelöst hatte, dessen Weiterentwicklung sich die der Sozialistischen Partei Italiens nahestehenden Intellektuellen mit besonderer Aufmerksamkeit widmeten. Im Sinne einer Politik, die sich ein selektives und gezieltes Eingreifen zur Korrektur von Ungleichgewichten und Ineffizienz zum Ziel setzte, wurde schließlich ein enormes Vertrauen in die Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik gelegt: Seit der Phase der internen Reformen engagierten sich alle sozialdemokratischen Parteien für den Fortschritt von Wissenschaft und Technik in der Überzeugung, dass die innere Konflikthaftigkeit des Privatsektors eine ausreichende Unterstützung für eine allgemeine und ausgewogene technische Entwicklung nicht gewährleistet. Hinsichtlich der Maßnahmen der Sozialpolitik handelte die Sozialdemokratie, um der „Wohlfahrt“ im Rahmen des Universalismus ihre eigene Färbung zu geben, wonach die Rechte allein an die Staatsangehörigkeit gebunden waren und der auf das Ziel gleicher Möglichkeiten für alle ausgerichtet war. Auch in diesem Fall wurden sowohl die Pläne als auch die Maßnahmen der Regierung dem Wunsch zugeschrieben, das Streben nach Gerechtigkeit (und nicht mehr nach Gleichheit) mit den Erfordernissen der Effizienz der innerstaatlichen Ordnung zu versöhnen29. Die von den damaligen Führungen gewählte pragmatische und progressive Herangehensweise schien anfänglich den doppelten Zweck zu erfüllen, das Gesicht einer politischen Kraft zu präsentieren, die auf glaubwürdige Weise auf der Grundlage der Akzeptanz der Regeln und Grundlagen der Nachkriegsordnung für die Regierung kandidierte und die aus dieser Nachkriegsordnung ihre Legitimation bezog. Die Glaubwürdigkeit des sozialdemokratischen Entwurfs wurde durch die wachsende Fähigkeit bezeugt, den eigenen Wählerpool 28 29

G. Moschonas, In the Name of Social Democracy, S. 21. G. Eley, Forging Democracy, S. 313 ff.

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auf die neue Mittelklasse auszudehnen, die innerhalb der in der Nachkriegszeit entstandenen neuen Möglichkeiten, in der Arbeitswelt Platz zu finden, größer geworden war. Seit den 1950er Jahren war die Berufung auf die „Modernisierung“ ein expliziter Versuch, jenen Konsens herbeizuführen, für den in fortschrittlichem und nicht maximalistischem Sinn eine politische Offerte vorgelegt wurde zur Erweiterung der Rechte, zur Verbesserung der Lebensbedingungen und zur Erhöhung des sozialen Status. Im Ergebnis wusste die Sozialdemokratie zuweilen exklusiv das Wortfeld der Nachkriegs-„Moderne“ zu besetzen, bis hin zur Identifizierung der Sozialdemokratie mit der Nachkriegs-„Moderne“ in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen und, wie sich gezeigt hat, der Nachgeborenen. Solche Ergebnisse forderten jedoch ihren Preis in Bezug auf Ideologie und Identität: Der Verzicht auf das Fernziel des Sozialismus deutete nicht nur auf den Verlust einer Zukunftsperspektive, so unscharf und unsicher umrissen diese zuweilen auch gewesen war. Unbewusst und schlecht vorbereitet steuerte damit die Sozialdemokratie auf die Auseinandersetzung mit zwei Herausforderungen zu, die sich ihr in den folgenden Jahren stellten. Seit den frühen 1970er Jahren stoppten innere und internationale Gründe den Prozess des dreißigjährigen Wirtschaftswachstums des Westens, der letztlich die eigentliche Grundlage der Zustimmung zur Nachkriegsordnung gewesen war. Angesichts der evidenten Unzulänglichkeit der keynesianischen Maßnahmen gegenüber den veränderten Bedingungen erwiesen sich die sozialdemokratischen Parteien als unfähig, einen eigenständigen Plan für einen Ausweg aus der Krise zu entwickeln; und sie spalteten sich über der Frage, an ihrem Ansatz festzuhalten oder die Grundsätze eines wiedergeborenen Laissez-Faire-Liberalismus zu übernehmen und dabei gleichzeitig zu versuchen, ihn zu mäßigen. Beide Alternativen scheiterten, wie die Wahlniederlagen und die Konfusion dieser Parteien im neuen „schwarzen Jahrzehnt“ der 1980er Jahre bezeugten30. Zugleich erhielt die Identifikation mit den politischen und sozialen Nachkriegsordnungen eine unvorhersehbar negative Konnotation sowohl im Licht der allgemeinen Unzufriedenheit wegen der Rückschläge durch die erwähnte Wirtschaftskrise als auch wegen der aufkommenden Unzufriedenheit und des verbreiteten Protestes gegen die Formen der politischen Repräsentanz in den demokratischen Systemen und gegen die Nebenwirkungen des „Wirtschaftswunders“ selbst, wie die ungerechte Verteilung seiner Profite, die Vermassung des Konsums und die Reduzierung der persönlichen Verwirklichung auf die bloße Dimension von Kauf und Konsum. Eine Gesellschaft, die in pluralischem Sinn tief gewandelt und von neuen cleavages durchzogen war, brachte 30 A. Glyn, Aspirations, Constraints and Outcomes, in: A. Glyn (Hrsg.), Social Democracy in Neoliberal Times. The Left and Economic Policy since the 1980s, Oxford 2001, S. 1-20.

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oft konfuse und widersprüchliche, aber darum nicht weniger drängende Forderungen zum Ausdruck. Die Vermittlung zwischen diesen Forderungen hätte eine Vorstellungskraft erfordert, die der Sozialdemokratie abging. Trotz des internen Reformwerks war die Sozialdemokratie kulturell der traditionellen Achse Kapital-Arbeit verbunden geblieben, eine für das Verständnis des neuen Kontexts einengend wirkende Vision. Genauso einengend war die grundsätzliche Akzeptanz der „Modernisierung“ als einzig gangbarem Weg, an den sie ihr Schicksal knüpfte. Habermas beschuldigte in den 1980er Jahren gerade diese „Modernisierung“, das Projekt der Moderne gefährdet zu haben, indem sie es auf eine Reihe von Prozessen reduzierte, die von abstrakten Wirtschafts- und Verwaltungsstandards beherrscht werden, die im Namen einer jede räumliche oder zeitliche Festlegung außer Acht lassenden „Rationalisierung“ durchgesetzt würden31.

IV. Schlussfolgerungen – Enthüllt die Krise der Sozialdemokratie den „Untergang der Moderne“? Das Aufholen der Sozialdemokratie bei den Wahlen Ende des vergangenen Jahrhunderts fand ohne eine echte Wiederbelebung ihres charakteristischen langfristigen Projektcharakters statt, wie die weitgehend unkritische Zustimmung zu den unter der Bezeichnung „Globalisierung“ zusammengefassten Prozessen und die mangelhafte Vorbereitung auf die für diese Prozesse typischen Nebenwirkungen und periodisch auftretenden Krisen (wie die derzeitige) bezeugen. Sogar das Konzept des politischen Programms, das seit den Anfängen zur Sozialdemokratie gehörte, unterlag einer wesentlichen Veränderung und führte zur Kombination allgemeiner Grundsatzerklärungen mit kurzfristigen, auf das Tagesgeschehen zugeschnittenen Lösungen. Dennoch kann eine Untersuchung zur Entwicklung einer der wichtigsten politischen Familien, wie sie hier versucht wurde, dazu beitragen, solche Phänomene des Wandels genauer in die Zeit einzuordnen und sie im Kern auf die ganz eigene „Modernisierung“ zurückzuführen, die die Sozialdemokratie als Antwort auf den Wandel des materiellen, kulturellen und politischen Kontexts im Nachkriegseuropa einleitete. Die Gedankengänge von Marshall Berman zu diesem Thema aufgreifend kann man den Verlust des Bewusstseins der Politik um die grundsätzlich dialektische und konfliktgeladene Natur der Veränderungen, denen die Moderne selbst unterlag, auf diese Phase zurückdatieren, ebenso wie die Interpretation der Moderne als einem monolithischen und nur in eine Richtung laufenden Prozess32. Die von Pombeni für die drei Jahrzehnte 31

J. Habermas / S. Habib, Modernity versus Postmodernity, in: New German Critique, 22 (1981), S. 3-14. 32 M. Berman, L’esperienza della modernità, Bologna 1985.

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nach 1945 vorgeschlagene Definition einer „sich auflösenden Stabilisierung“ erscheint daher treffend33. Diese Definition erlebte eine Phase der beachtlichen Konsolidierung der Paradigmen der politischen Moderne. Die Konsolidierung förderte jedoch (unabhängig vom Bewusstsein der zeitgenössischen politischen und kulturellen Akteure) die Entwicklung materieller und sozialer Bedingungen, Gedankenformen und Formen der Selbstbeschreibung der Sozialkörper selbst, die im Lichte der konzeptionellen Konstellationen, die sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatten, schwerlich interpretierbar sind. Ob dies bereits die „Explosion der Moderne“ und ihre von einigen proklamierte Überwindung oder ob diese Explosion vielmehr eine „paroxystische Krise“ der Moderne ist und einer ihrer neuerlichen Wandlung vorausgeht, ist ein Stoff, der nur schwerlich einer rigorosen historischen Analyse unterzogen werden kann. Sicherlich sollte die geschichtswissenschaftliche Untersuchung von übertrieben abgeschlossenen und durchstrukturierten Periodisierungen abraten. Auf dem Feld der Politik scheinen die in den letzten Jahren erlebten Wandlungen auf diese Weise die anomische und plötzliche Konnotation zu verlieren, die ihnen einige zuschreiben möchten, um stattdessen den Charakter langer und widersprüchlicher Phasen der Lockerung des schwachen Bandes zwischen dem Strukturwandel und den die Erfahrung ordnenden Schemata, wie den Ideologien, anzunehmen. Die „Idee einer Zeitlichkeit auf mehreren Ebenen“ scheint demnach ergiebiger als die Darstellung einer Entwicklung durch revolutionäre Brüche. So machen die unerwarteten und unvorhersehbaren Umwälzungen des 20. Jahrhunderts und auf bescheidenere Weise die hier geschilderten Ereignisse den Beobachter zur Besonnenheit, wenn er den „epochalen“ Charakter von Prozessen begreifen will, in die er selbst noch eingebunden ist.

33

Siehe den Aufsatz von Paolo Pombeni in diesem Band.

Erforschungen des Gefährlichen Zur Versicherheitlichung der Natur in den 1970er Jahren Von Nicolai Hannig

I. Zur Einführung Der Zäsurcharakter der 1970er Jahre steht neueren Forschungen zufolge in vieler Hinsicht im Kontext sich verbreitender Sicherheitsrhetoriken. Im Zuge wohlfahrtstaatlicher Reformpolitik und wirtschafts- oder energiegeschichtlicher Umbrüche reifte die Sicherheit zu einem „Goldstandard des Politischen“, so die gängige Position1. Sicherheitsdebatten sorgten sich nicht mehr nur um militärische oder die in den ausgehenden 1960er Jahren „erfundene“ innere Sicherheit2. Schnell erreichte die Auffächerung auch die Ökonomie, Menschenrechtspolitik und Ökologie. Die Erweiterung des Sicherheitsbegriffs und mit ihr insbesondere das Übergreifen auf Umweltthemen sind dabei sicherlich in internationalen Kontexten zu sehen. Umweltproteste mobilisierten in den USA im April 1970 rund 20 Millionen Teilnehmer beim „Earth Day“. Der Europarat erklärte das Jahr 1970 zum Europäischen Naturschutzjahr. Zudem organisierten die Vereinten Nationen seit 1972 regelmäßig internationale Umweltkonferenzen. Daran, dass die Umweltthematik gerade zu Beginn der 1970er Jahre, sensibilisiert durch eine öffentlichkeitswirksame Umweltbewegung, einem nachdrücklichen Versicherheitlichungsprozess unterzogen wurde, dürfte kaum ein Zweifel bestehen3. Denn auch die Politik reagierte, indem sie 1 So Ch. Daase, Der erweiterte Sicherheitsbegriff, in: M.A. Ferdowsi (Hrsg.), Internationale Politik als Überlebensstrategie, München 2009, S. 137-153, hier S. 137; ders., Wandel der Sicherheitskultur, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 50 (2010), S. 9-16; vgl. auch W. Süß, Umbau am ‚Modell Deutschland‘. Sozialer Wandel, ökonomische Krise und wohlfahrtstaatliche Reformpolitik in der Bundesrepublik ‚nach dem Boom‘, in: Journal of Modern European History, 9 (2011), S. 215-238. 2 A. Saupe, Von „Ruhe und Ordnung“ zur „inneren Sicherheit“. Eine Historisierung gesellschaftlicher Dispositive, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), 2; http://www.zeithistorische-forschungen. de/16126041-Saupe-2-2010 3 E. Conze, Securitization. Gegenwartsdiagnose oder historischer Analyseansatz?, in: Geschichte und Gesellschaft, 38 (2012), S. 453-467.

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die Umwelt eilig als Sicherheitsproblem in den Blick nahm und wie in der Bundesrepublik 1971 erste Umweltschutzabteilungen in den entsprechenden Ministerien einrichtete4. Zugleich lässt sich der markante Bedeutungszuwachs des Sicherheitsdenkens an den Entwicklungen genau der Branche ablesen, deren Wesensmerkmal die Herstellung von Sicherheit ist. So erlebten die Versicherungen selbst gerade im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einige bedeutsame Weichenstellungen5: Der Contergan-Skandal, der in den Jahren 1961 und 1962 aufgedeckt wurde, sorgte für Verschärfungen des Arzneimittelrechts, die 1976 schließlich die Pharmakonzerne zum Abschluss einer Haftpflichtversicherung oder Bankgarantie verpflichteten6. Abschlüsse industrieller Haftpflichtversicherungen stiegen ebenso rasant an, da das sogenannte „Hühnerpest-Urteil“ des Bundesgerichtshofes von 1968 Herstellern die Beweislast übertrug, wenn im Zusammenhang mit fehlerhaften Produkten Schaden entstanden war7. Eine verstärkte Nachfrage nach Versicherungsleistungen infolge asbestbedingter Erkrankungen fällt ebenfalls in die 70er Jahre, nachdem sich in öffentlichen Debatten medizinische Erkenntnisse zur Schädlichkeit der einstigen „Wunderfaser“ verbreitet hatten8. Im Zuge der Massenmotorisierung wurden zudem die letzten Versicherungslosen über die KFZ-Versicherung in das Netz der Assekuranz eingebunden. Schließlich erlebte auch die Rechtsschutzversicherung deutliche Reformen, die 1969 ihren Ausdruck in den Allgemeinen Rechtsschutzversicherungs-Bedingungen (ARB) fanden. Das Rechtsschutzan4 J.I. Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950-1980, Paderborn 2006, S. 275-294. 5 Beispiele nach P. Borscheid, Mit Sicherheit leben. Zur Geschichte und Gegenwart des Versicherungswesens, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), http://www.zeithistorische-forschungen. de/16126041-Borscheid-2-2010 6 A. von Schwerin, Die Contergan-Bombe. Der Arzneimittelskandal und die neue risikoepistemische Ordnung der Massenkonsumgesellschaft, in: V. Balz u.a. (Hrsg.), Arzneistoffe im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 255-282; W. Steinmetz, Ungewollte Politisierung durch die Medien? Die Contergan-Affäre, in: B. Weisbrod (Hrsg.), Die Politik der Öffentlichkeit – die Öffentlichkeit der Politik. Politische Medialisierung in der Geschichte der Bundesrepublik, Göttingen 2003, S. 194-228. 7 Der amtliche Leitsatz dazu lautete: „Wird bei bestimmungsgemäßer Verwendung eines Industrieerzeugnisses eine Person oder eine Sache dadurch geschädigt, daß das Produkt fehlerhaft hergestellt war, so muß der Hersteller beweisen, daß ihn hinsichtlich des Fehlers kein Verschulden trifft. Erbringt der Hersteller diesen Beweis nicht, so haftet er nach Deliktsgrundsätzen. Ein Zwischenerwerber kann den bei einem Dritten eingetretenen Schaden nicht nach Vertragsrecht liquidieren“; BGH, Urteil vom 26.11.1968, VI ZR 212/66. 8 W.E. Höper, Asbest in der Moderne. Industrielle Produktion, Verarbeitung, Verbot, Substitution und Entsorgung, Münster / New York 2008, S. 168-202.

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gebot dehnte sich fortan weit aus und regelte Schadensfälle nicht mehr nur im Verkehrsbereich, sondern auch in Miet-, Pacht-, Grundstückseigentumsund vielen anderen Bereichen. Die Folge war ein schneller wirtschaftlicher Auftrieb vieler Rechtsschutzversicherer9. Die hier nur angedeuteten Entwicklungen geben auf der einen Seite Aufschluss darüber, wie viele unterschiedliche neue Risiken im späten 20. Jahrhundert entstanden. Sie zeigen den Aufschwung an, den das Geschäft mit der Sicherheit erlebte, noch viel mehr, wenn man in Rechnung stellt, dass sich zwischen 1960 und 1980 die Versicherungsdichte insgesamt von umgerechnet 80 auf 584 Euro Beitragszahlungen für Erstversicherer, die im Schnitt jährlich auf jeden Einwohner entfielen, mehr als versiebenfachte10. Zum anderen legen sie aber auch die Schwerpunkte offen, die bislang die Forschung bestimmten. Auffallend dabei ist, das ein elementarer Bereich, wohl auch der traditionsreichste Bereich menschlichen Sicherheitsdenkens, bislang ausgeklammert blieb: die Natur selbst. Der Schutz ‚der‘ Natur hat bislang breite Beachtung gefunden. Der Schutz ‚vor‘ der Natur vergleichsweise wenig11. Ein Blick auf die Assekuranz zeigt allerdings, dass gerade Versicherungen gegen Elementarschäden im späten 20. Jahrhundert einen deutlichen Aufschwung erlebten. Zwischen 1970 und 1980 wuchs der volkswirtschaftliche Schaden allein durch große Wetterkatastrophen inflationsbereinigt um fast das Doppelte und vervierfachte sich zwischen 1989 und 1999 nochmals. Die versicherten Schäden stiegen zwischen den 1960er und 90er Jahren sogar um das Zehnfache und ließen damit insbesondere die großen weltweit agierenden Rückversicherer wie die Münchener Rück oder Swiss Re stark expandieren12. Dies war gewiss kein neues Phänomen. Schon lange bevor sich Naturschutz-Ideen verbreiteten, beherrschte der Schutz vor der Natur die Mensch-Umwelt-Beziehung13. Der Schutz vor Naturgefahren blickt demgemäß auf eine nicht unbedingt weniger bewegte Geschichte zurück als etwa der Sozialversicherungsgedanke. K. Sperling, Rechtsschutzversicherung, in: D. Farny / E. Helten / P. Koch / R. Schmidt (Hrsg.), Handwörterbuch der Versicherung, Kassel 1988, S. 627-637, hier S. 629 f. 10 Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (Hrsg.), Statistisches Taschenbuch der Versicherungswirtschaft 2009, S. 23. 11 Sie dazu etwa die Forschungsdiskussion bei F. Uekötter, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007, S. 84-88. 12 Zwischen 1950 und 1959 belief sich der volkswirtschaftliche Schaden weltweit auf 43,9 Mrd. $, zwischen 1990 und 1999 auf 460,8; siehe dazu G. Berz, Klimawandel: Kleine Erwärmung – dramatische Folgen, in: Münchener Rückversicherungsgesellschaft (Hrsg.), Wetterkatastrophen und Klimawandel. Sind wir noch zu retten?, München 2005, S. 98-105, hier S. 101. 13 C. Zwierlein, Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Göttingen 2011. 9

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Aber doch scheint die systematische und (sozial)wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Naturgefahren erst in den 1970er Jahren ihren Aufschwung zu erleben. Damit erfuhr sie ihre Blütephase zum einen in genau der Zeitperiode, in der sich doch eigentlich, so die eingespielte umwelthistorische Thesenbildung, der Gedanke einer verwundbaren Natur auf breiter gesellschaftlicher Basis durchzusetzen begann14. Zum anderen etablierte sie sich nicht nur mehr als zehn Jahre vor dem Erscheinen von Ulrich Becks Risikogesellschaft aus dem Jahr 198615. Sie präsentierte auch bereits wesentliche Ideen der später Beck zugeschriebenen Lesart des „Nicht-mehr-Funktionierens der alten industriellen Welt“16. Im Folgenden soll daher die Katastrophenforschung historisiert und im Zuge dessen der Wandel des Mensch-Natur-Verhältnisses in seinen zeithistorischen Kontexten näher beleuchtet werden.

II. Sicherheit, Risiko und Gefahr Spätestens seit ihrer Blütezeit in den 1970er Jahren ist die sozial- und kulturwissenschaftliche Analyse von Katastrophen und anderen Bedrohungen durch die Natur von drei Begriffen geprägt: Sicherheit, Risiko und Gefahr. Semantisch korrelierten alle drei Konzepte mit vielen Zielen der weltweit aufsteigenden Umweltbewegung, die jedoch in erster Linie die Natur selbst als Betroffene ausgemacht hatte. Sie sei es, die insbesondere infolge eines extrem angestiegenen Ressourcenverbrauchs Gefahren und Risiken ausgesetzt und daher schutzbedürftig sei17. Zugleich versuchte man aber auch gerade in wissenschaftlichen Debatten – zumeist etwas verdeckt von der breiten öffentlichen Aufmerksamkeit für den Umweltschutz – mithilfe dieser drei Begrifflichkeiten, die unterschiedlichen Verhaltensweisen, Strategien und Entwicklungen im Umgang mit Extremereignissen zu systematisieren. Die „Gefahr“ galt dabei als das ursprünglichste Konzept und sollte einen sich abzeichnenden Eintritt eines bestimmten Ereignisses oder einer Entwicklung 14 So etwa bei P. Masius, Natur und Kultur als Quellen der Gefahr – Zum historischen Wandel der Sicherheitskultur, in: Ch. Daase / P. Offermann / V. Rauer (Hrsg.), Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt a.M. / New York 2012, S. 183-204; vgl. auch K. Hünemörder, 1972 – Epochenschwelle der Umweltgeschichte?, in: F.-J. Brüggemeier / J.I. Engels (Hrsg.), Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen, Frankfurt a.M. 2005, S. 124-144. 15 U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986. 16 A. Doering-Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 67. 17 R.H. Dominick, The Environmental Movement in Germany. Prophets and Pioneers, 1871-1971, Bloomington IN 1992.

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anzeigen, das bzw. die für Betroffene einen schädlichen Ausgang nehmen kann. Unter den beiden Begriffen „Sicherheit“ und „Risiko“ verstand man jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Reaktionsweisen auf bestimmte Gefahren. Bei der Herstellung von Sicherheit ging es um die Abwendung von Gefahren, um räumlichen, physischen oder auch psychischen Schutz. „Risiko“ meinte hingegen eine Bearbeitung von Gefahren in Form von Kalkulationen und Berechnungen, die Gefahren nicht verbannen, sondern verwandeln und somit organisierbar machen18. Jedoch lassen sich nicht alle Ereignisse und Entwicklungen sowohl mit der Herstellung von Sicherheit als auch mit der Umgestaltung in Risiken beherrschen. Dazu zählen in erster Linie Naturkatastrophen. Sie können, wie Herfried Münkler argumentiert, „bestenfalls in Risiken transformiert werden“19. Gemeint ist damit wohl deren Vorhersage oder die Versicherung gegen potentielle Schäden. Dies mag für besonders extreme Ereignisse wie Vulkanausbrüche, Erdbeben oder Überschwemmungen sicherlich kaum abzustreiten sein. Begreift man aber das Konzept von Sicherheit stärker als einen Prozess und nicht als Zustand, so kommen historisch gesehen viele verschiedene Maßnahmen zum Vorschein, die durchaus als Versuche zur Herstellung von Sicherheit und damit als Ausgrenzungen auch von extremen Gefahren verstanden werden können. Die vielen Flussregulierungen im 19. Jahrhundert, der Talsperrenbau um die Jahrhundertwende oder die Entwicklung der Rückversicherung sind dafür treffliche Beispiele20. Auch wenn diese Umgangsformen mit Gefahren schon eine lange Tradition haben und vor allem im Fall der Risikokalkulation bis weit ins Mittelalter zurückreichen21, geht die Schärfung der Analyseperspektive und des damit verbundenen Vokabulars doch eher auf die Zeit um 1970 zurück. Damit war es nicht unbedingt Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ aus dem Jahr 1986, die

18 Vgl. N. Luhmann, Risiko und Gefahr, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5, Opladen 1990, S. 131-169; W. Bonss, (Un-)Sicherheit in der Moderne, in: P. Zoche / S. Kaufmann / R. Haverkamp (Hrsg.), Zivile Sicherheit. Gesellschaftliche Dimensionen gegenwärtiger Sicherheitspolitiken, Bielefeld 2011, S. 43-69, hier S. 47-54. 19 H. Münkler, Strategien der Sicherung: Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos. Theoretische Perspektiven, in: H. Münkler / M. Bohlender / S. Meurer (Hrsg.): Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2010, S. 11-34, hier S. 17. 20 W. König, Der Ingenieur als Politiker. Otto Intze, Staudammbau und Hochwasserschutz im Einzugsbereich der Oder, in: Technikgeschichte, 73 (2006), S. 27-46; D. Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007, S. 239-267. 21 D. Schewe, Geschichte der sozialen und privaten Versicherung im Mittelalter in den Gilden Europas, Berlin 2000.

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dafür verantwortlich zeichnete22. Ein wichtiger erster Bezugspunkt war und ist hierfür vielmehr die Studie zu „Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem“ von Franz-Xaver Kaufmann, die 1970 veröffentlicht wurde und aus einem Projekt über sozialpolitische Umverteilungsmaßnahmen unter der Leitung von Helmut Schelsky entstanden war23. Kaufmanns begriffshistorische Ausführungen wurden ebenso schnell zur Referenz wie das von ihm beschriebene Sicherheitsdilemma moderner Gesellschaften24: Die Herstellung von Sicherheit und die damit verknüpften Versprechungen, so Kaufmann, führten zur Identifikation immer weiterer Sicherheitslücken. Zugleich wachse mit bestimmten Maßnahmen wiederum das Bedürfnis nach Sicherheit und mit ihm das Gefühl von Unsicherheit25. Seine Überlegungen blieben dabei allerdings von jeglicher Umweltproblematik befreit. Auch der seit Ende der 60er Jahre in politischen Debatten aufkommende Topos der „inneren Sicherheit“, der sich dann in den 70er und 80er Jahren schnell zu einem Kontainerbegriff unterschiedlichster Staatsaufgaben entwickelte, spielte kaum eine Rolle26. Dominant waren als „Zeitdiagnosen“ allein wirtschaftliche Unsicherheiten wie Armut oder der Verlust der Arbeitsmöglichkeit und -fähigkeit, politische Unsicherheiten wie drohende kriegerische Ereignisse sowie schließlich Unsicherheiten in der Orientierung und Lebensführung. Damit ordnete sich Kaufmanns Studie eher in Kontexte sozialstaatlichen Wandels und sozialkultureller Individualisierungstendenzen ein27.

III. Zur Historisierung sozialwissenschaftlicher Katastrophenforschung Sicherheit und Umwelt verknüpften sich (sozial-)wissenschaftlich in der Bundesrepublik erst im Verlauf der 1970er Jahre systematisch. Zwar hatten sich in den USA, England und vereinzelt auch in Deutschland schon weitaus früher erste Ansätze entwickelt. Diese gingen zunächst jedoch eher auf technische Katastrophen wie Schiffs- oder Eisenbahnunglücke im späten 19. und frühen 22 In geschichtswissenschaftlichen Arbeiten ist sie mittlerweile zu einer Art Schlüsselquelle für den Strukturbruch gereift. So etwa bei A. Doering-Manteuffel / L. Raphael, Nach dem Boom, S. 67-72. 23 F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Untersuchungen zu einer Wertidee hochdifferenzierter Gesellschaften, Stuttgart 1970. 24 So etwa bei A. Evers / H. Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1987 oder H. Münkler, Strategien der Sicherung. 25 F.-X. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, S. 16-32. 26 A. Saupe, Von „Ruhe und Ordnung“ zur „inneren Sicherheit“. 27 Siehe dazu den Beitrag von Detlef Siegfried in diesem Band.

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20. Jahrhundert sowie auf die „U.S. Strategic Bombing Surveys“ zurück28. Zu Beginn der 1950er Jahre initiierte das National Opinion Research Center (NORC) an der University of Chicago erstmals umfangreiche Feldstudien zu „Human Behavior in Disaster“ und legte damit einen breiten Fundus an empirischem Material vor, der bis heute den Nimbus der NORC-Studien als Geburtsstunde der US-amerikanischen Katastrophenforschung begründet29. Aber auch diese Studien wurden in der Bundesrepublik trotz der großen Überschwemmungen in den Niederlanden von 1953 kaum rezipiert30. Eher nahm man die sogenannte „Hollandsturmflut“ zum Anlass, die Wiedereinrichtung des Technischen Hilfswerks zu rechtfertigen31. In Deutschland schien der Katastrophen-Begriff bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg derart vorgeprägt, dass die Bundesrepublik lange zu den wenigen Nationen zählte, in der sich Katastrophen- und Zivilschutz nicht verbunden hatten. Die Gründe dafür sahen Katastrophenforscher selbst in der speziellen deutschen Konnotation des Katastrophenbegriffs, die vor allem auf die nahezu inflationäre Bildung von Katastrophenkomposita zur Zeit des Nationalsozialismus zurückginge. Die häufige Verwendung von Begriffen wie „Katastrophist“ oder „Katastrophenweib“ drücke einen gewissen Fatalismus in der Gegenwartsbeobachtung aus, den das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda gegen Kriegsende sogar durch ein Verbot des Begriffs Katastrophe zu unterbinden versucht hatte32. Zum anderen dürfte aber auch die gesellschaftliche Dünnhäutigkeit gegenüber jeder Art von Zivilschutzmaßnahme die Aufstellung eines Katastrophenschutzes oder einer wissenschaftlichen Katastrophenforschung erschwert haben. So hatte beispielsweise schon die Zivilschutzkampagne von 1961, welche die Bundesregierung mit der Broschüre „Jeder hat eine Chance“ initiierte, eher Misstrauen in den staatlichen Schutz und Ängste gegenüber neuerlichen kriegerischen

28 W.R. Dombrowsky, Zur Entstehung der soziologischen Katastrophenforschung – eine wissenshistorische und -soziologische Reflexion, in: C. Felgentreff / T. Glade (Hrsg.), Naturrisiken und Sozialkatastrophen, Berlin / Heidelberg 2008, S. 63-76, hier S. 64. 29 C.E. Fritz / E.S. Marks, The NORC Studies of Human Behavior in Disaster, in: Journal of Social Issues, 10 (1954), S. 26-41. 30 Das Erdbeben von Lissabon 1755 blieb als Forschungsgegenstand insbesondere zu seinen Jubiläen eine Ausnahme: A. Kemmerer, Das Erdbeben von Lissabon in seiner Beziehung zum Problem des Übels in der Welt, Frankfurt a.M. 1958; als englische Vorgängerstudie T.D. Kendrick, The Lisbon Earthquake, London 1956. 31 W.R. Dombrowsky, Zur Entstehung der soziologischen Katastrophenforschung, S. 66; A. Linhardt, Die Technische Nothilfe in der Weimarer Republik, Norderstedt 2006, S. 596-599. 32 W.R. Dombrowsky, Katastrophe und Katastrophenschutz. Eine soziologische Analyse, Wiesbaden 1989, S. 126.

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Aktivitäten geschürt. Denn für die Meisten ging aus den vielen Schutzvorschlägen eine starke Verharmlosung anstatt einer Einhegung der drohenden Atomgefahren hervor33. Mit der Hamburger Sturmflut von 1962 löste sich jedoch allmählich die starke ideologische Verengung des Katastrophenschutzes. Ausschüsse wie etwa der Interfraktionelle Arbeitskreis Flutkatastrophe, der Sonderausschuß Hochwasserkatastrophe, die Arbeitsgruppe Küstenschutzwerke oder der Sachverständigenausschuß zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe gründeten sich34. Richtlinien zum Küsten- und Deichschutz wurden veröffentlicht35; Schäden und Investitionsbedürfnisse kalkuliert. Durch diese Ausschusspolitik blieb die Erforschung von Katastrophen und Katastrophenschutz jedoch vorerst im Temporären verhaftet, die Arbeit der Kommissionen eher eine unmittelbare Reaktion, als eine systematische und dauerhafte Auseinandersetzung. Die zeittypische Integration von Expertenwissen in die Politik lief im Bereich des Katastrophenschutzes somit nur sehr zögerlich ab36. Zudem griffen Landes- und Bundesregierung auf bereits bekannte administrative Maßnahmen des Katastrophenmanagements zurück, die schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bei Überschwemmungen angewendet wurden. So richtete die preußische Regierung bereits 1892 durch „Allerhöchsten Erlaß“ einen Ausschuss zur Untersuchung der Wasserverhältnisse in den der Überschwemmungsgefahr besonders ausgesetzten Flussgebieten ein, der hauptsächlich mit Politikern, Ingenieuren und Meteorologen besetzt war. Diese hatten zu Untersuchungszwecken unter anderem Memel, Weichsel, Oder, Elbe und Weser bereist und anschließend ihre Erläuterungen zu Ursachen und Vorbeugungsmaßnahmen ebenfalls in eigenen Broschüren oder verschiedenen Fachblättern publiziert37. Deutlich wurde schon hier, dass 33 F. Biess, „Jeder hat eine Chance“. Die Zivilschutzkampagnen der 1960er Jahre und die Angstgeschichte der Bundesrepublik, in: B. Greiner u.a. (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009, S. 61-93. 34 J.I. Engels, Vom Subjekt zum Objekt. Naturbild und Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: D. Groh / M. Kempe / F. Mauelshagen (Hrsg.), Naturkatastrophen. Beiträge zu ihrer Deutung, Wahrnehmung und Darstellung in Text und Bild von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, Tübingen 2003, S. 119-142, hier S. 129. 35 Arbeitsgruppe Küstenschutzwerke, Empfehlungen für den Deichschutz nach der Februar-Sturmflut 1962, in: Die Küste, 10 (1962), S. 113-130; W. Hensen, Bericht der Arbeitsgruppe „Sturmfluten“ im Küstenausschuß Nord- und Ostsee, in: Die Küste, 14 (1966), S. 63-70. 36 Vgl. G. Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, S. 196-207. 37 So etwa: Ausschuß zur Untersuchung der Wasserverhältnisse in den der Ueberschwemmungsgefahr besonders ausgesetzten Flußgebieten, Beantwortung der im allerhöchsten Erlasse vom 28. Februar 1892 gestellten Frage B: „Welche Maßregeln

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die Ideen zum Katastrophenschutz keineswegs nur von den viel zitierten „Machbarkeitsphantasien“ der Jahrhundertwende geprägt waren. Vielmehr gibt der ingenieurwissenschaftliche und politische Umgang mit Naturgefahren ein gegenteiliges Bild. So formulierte der Ausschuss 1896 eher kleinlaut, dass es das Ziel sein müsste, „den Verheerungen der Hochfluthen einige Schranken zu setzen, obgleich ihre Entstehung zu verhindern außer unserem Machtbereich liegt“. Fernab von großen technischen Visionen hieß es weiter, die „meteorologischen Vorgänge, welche zur außergewöhnlichen Steigerung des Abflußvorganges führen, sind unabwendbar“38. Die vielen Ausschüsse zur Sturmflut von 1962 reflektierten im Vergleich dazu wesentlich technokratischer. Sie stützten sich insbesondere auf die seit Ende des Zweiten Weltkriegs verstärkte Forschungsarbeit der Meteorologie, Ozeanographie sowie Hydrographie. Soziologische Reflexionen über das Mensch-Natur-Verhältnis blendeten sie weitgehend aus39. Bis sich hier verstetigende wissenschaftliche Initiativen bildeten, dauerte es noch bis in die 70er Jahre. Der Ort dafür war die von Gustav Heinemann schon 1950 angeregte und dann ein Jahr später eingerichtete „Schutzkommission beim Bundesminister des Innern“, welche die Bundesregierung bis dato in Angelegenheiten des zivilen Bevölkerungsschutzes unterstützte. 1970 hatte die Kommission ihre Arbeit um den Ausschuss „Psychobiologie“ erweitert. Vordergründiges Ziel war es hier, menschliches Verhalten in belastenden und katastrophischen Situationen zu erforschen. Im Hintergrund dürfte allerdings zum einen die Legitimation des Zivilschutzes gestanden haben. Denn dessen Kriegs-Konnotation schien sich können angewendet werden, um für die Zukunft der Hochwassergefahr und den Ueberschwemmungsschäden soweit wie möglich vorzubeugen?“ für das Oderstromgebiet, Berlin 1898. 38 Ausschuß zur Untersuchung der Wasserverhältnisse in den der Ueberschwemmungsgefahr besonders ausgesetzten Flußgebieten: Beantwortung der im allerhöchsten Erlasse vom 28. Februar 1892 gestellten Frage A: Welches sind die Ursachen der in neuerer Zeit vorgekommenen Ueberschwemmungen, hat namentlich das System, welches bei der Regulirung und Kanalisirung der preußischen Flüsse befolgt worden ist, zur Steigerung der Hochwassergefahr und der in neuerer Zeit beträchtlich gesteigerten Ueberschwemmungsschäden beigetragen, und welche Aenderungen dieses Systems sind bejahendenfalls zu empfehlen, Berlin 1896, S. 15. 39 Arbeitsgruppe Küstenschutzwerke, Empfehlungen für den Deichschutz; W. Hensen, Bericht der Arbeitsgruppe „Sturmfluten“; siehe auch den Literaturüberblick von K. Lüders, Veröffentlichungen über die Februar-Sturmflut 1962, in: Die Küste, 14 (1966), S. 85-93; Die Sturmflut vom 16./17. Februar an der schleswig-holsteinischen Westküste. Bericht des Ministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten – Landesamt für Wasserwirtschaft – Schleswig-Holstein, in: Die Küste, 10 (1962), S. 55-80; Bericht des vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen Sachverständigenausschusses zur Untersuchung des Ablaufs der Flutkatastrophe, Hamburg 1962; G. Peschel, Als der blanke Hans kam. Ursachen der Sturmflutkatastrophe im Februar 1962, in: Wissen und Leben, 7 (1962), S. 529-531.

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am besten umgehen zu lassen, indem man die Aufmerksamkeit stärker auf zivile Krisensituationen lenkte und eine akademische Katastrophenforschung forcierte – „in der stillschweigenden Annahme, daß auch im Kriege nützt, was bei Katastrophen hilft“, so der etwas desillusionierte Katastrophenforscher Wolf R. Dombrowsky in einer Rückschau40. Zum anderen dürfte der Trend, Wissenschaft und Politik stärker zusammenzuführen, nicht spurlos an den verantwortlichen Zivilschutzbehörden vorbei gegangen sein, zumal es gerade Umweltpolitiker der ersten Stunde wie Peter Menke-Glückert waren, die vehement eine meist technisch aufgeladene Verwissenschaftlichung der Politik einforderten41. Schließlich sollten diese Initiativen auch in transatlantischen Kontexten gesehen werden. So florierte die amerikanische hazard research, die sich gezielt mit dem Schutz vor Naturgefahren auseinandersetzte, bereits in den späten 1960er Jahren. Aus der Geographie stammend war sie noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher technisch und administrativ ausgerichtet, verlagerte nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Schwerpunkte aber immer stärker in sozialwissenschaftliche, zum Teil behavioristische Bereiche42. Vor allem ihre starke utilitaristische Prägung ließ ihre Ansätze nicht nur in der deutschen Geographie, sondern auch in den enger staatlich geförderten Forschungseinrichtungen attraktiv erscheinen43. Als Kandidaten für die Leitung des Ausschusses Psychobiologie hatte man Niklas Luhmann auserkoren. Dieser lehnte jedoch schnell ab und empfahl statt seiner Lars Clausen vom Institut für Soziologie der Christian-AlbrechtsUniversität in Kiel, mit dem er zuvor gemeinsam an der Sozialforschungsstelle in Dortmund gearbeitet hatte. Clausen brachte Felderfahrungen aus der Erforschung von Unglücken in Afrika mit, ähnlich wie sein kurze Zeit nach ihm eingestellter Projektmitarbeiter Wieland Jäger44. Auch wenn sich in 40 W.R. Dombrowsky, Zum Teufel mit dem Bindestrich. Zur Begründung der Katastrophen(-)Soziologie in Deutschland durch Lars Clausen, in: W.R. Dombrowsky / U. Pasero (Hrsg.), Wissenschaft, Literatur, Katastrophe. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Lars Clausen, Opladen 1995, S. 108-122, Zitat S. 111. 41 P. Menke-Glückert, Friedensstrategien. Wissenschaftliche Techniken beeinflussen die Politik, Reinbek 1969. Zur Einschätzung der Rolle Menke-Glückerts siehe J. Radkau, Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011, S. 141 f. 42 J. Pohl, Die Entstehung der geographischen Hazardforschung, in: C. Felgentreff / T. Glade (Hrsg.): Naturrisiken und Sozialkatastrophen, Berlin / Heidelberg 2008, S. 47-62. 43 Siehe dazu vor allem die frühen Forschungen von Robert Geipel, etwa: Sozialgeographische Aspekte einer Erdbebenkatastrophe (Münchener Geographische Hefte 40), Kallmünz 1977. 44 J. Adamski, Ärzte des sozialen Lebens. Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946-1969, Essen 2009, S. 239.

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den folgenden Jahren immer wieder Konflikte abzeichneten, weil den Auftraggebern des Bundesamtes für Zivilschutz die Arbeiten von Clausen und Jäger allzu konflikttheoretisch und wenig anwendungsorientiert erschienen, begann hier erstmals eine Katastrophenforschung durch breiter angelegte wissenschaftliche Studien publizistisch sichtbar zu werden45. Dabei stand für die neu eingerichtete Forschungsinitiative die These im Vordergrund, dass es „Naturkatastrophen“ gar nicht geben könne, sondern nur „Kulturkatastrophen“. Clausen und Jäger lösten technische Katastrophen und Naturgefahren – soziologisch, nicht naturwissenschaftlich – aus ihrem kontingenten Schein und sahen in ihnen vielmehr einen Prozess, eine „Form radikalen und rapiden sozialen Wandels“. Die Menschheit lebe in einer „ungemein tiefgreifend umproduzierten ‚Sekundären Natur‘“, daher könne man im Katastrophenfall einerseits auf der „mikrosozialen Ebene“ verfolgen, wie „radikal“ sich „die Interaktionsmuster und -figuren“ ändern, „welche zwischen den Mitgliedern der sozialen Organisationen Brauch sind“. Andererseits gelte das „gleiche für die interorganisatorischen Prozesse, von denen viele – etwa Verwaltungen – im Zentrum der Katastrophe sich so radikal ändern können“46. Clausen und Jäger grenzten sich damit bewusst von der frühen amerikanischen Katastrophenforschung ab, welche eher die Spontaneität einer Krisensituation analytisch in den Vordergrund stellte47. Die deutschen Soziologen gaben sich dagegen als Aufklärer, die mit Hilfe soziologischer Fachsprache Begriffe wie „Panik“, „Hysterie“ „Irrationalität“, „Hexensabbat“ oder „Tohuwabohu“ aus den öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten zu drängen versuchten48. Nicht mehr singuläre Ereignisse sollten Gegenstand einer sich aufstellenden Katastrophenforschung sein, sondern zivilisatorische Kettenreaktionen. Erdbeben oder Überschwemmungen erschienen damit eher im Kontext problematischer Bauweisen, Eindeichungen oder Drainagekanälen. Analytisch wurde so aus der „naturräumlichen Gegebenheit“ eine „kulturräumliche Wirkdynamik“49. 45 L. Clausen / W. Jäger, Zur soziologischen Katastrophenanalyse, in: Zivilverteidigung, 39 (1975), S. 20-25; W. Jäger, Katastrophe und Gesellschaft. Grundlegungen und Kritik von Modellen der Katastrophensoziologie, Darmstadt / Neuwied 1977. 46 L. Clausen / W. Jäger, Zur soziologischen Katastrophenanalyse, S. 23. 47 L.J. Carr, Disaster and the Sequence-Pattern-Concept of Social Change, in: American Journal of Sociology, 38 (1932), S. 207-218; A.H. Barton, Social Organization under Stress. A Sociological Review of Disaster Studies, Washington D.C. 1963; R.R. Dynes, Organized Behavior in Disaster, Lexington MA 1970. Eher historisch argumentierend und der frühen deutschen Herangehensweise ähnelnd: M. Barkun, Disaster in the Millennium, New Haven CT 1974. 48 L. Clausen / W. Jäger, Zur soziologischen Katastrophenanalyse, S. 23. 49 W.R. Dombrowsky, Zur Entstehung der soziologischen Katastrophenforschung, S. 73.

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Die sich hier aufstellende Katastrophenforschung war in ihrem Naturverständnis stark von den Ideen und Positionen der zeitgenössischen Umweltbewegung beeinflusst. Indem sie eine falsche Ressourcennutzung und fehlerhafte Anpassung des Menschen an seine Umwelt zur Grundannahme erhob, machte sie zugleich den Menschen zum Verantwortlichen für Katastrophen und entschuldete die Natur selbst. Politische Absichten, wie etwa eine engere behördliche Zusammenarbeit mit neu entstehenden Umweltressorts ließen sich so leichter realisieren. Allerdings gelang es nicht, ähnlich wie in den USA, eine Disaster Research zu organisieren, die Soziologie, wie auch Ingenieurwissenschaften, Medizin, Psychologie und Geographie zusammenführte oder gar eigene Studiengänge eröffnete. Eher verteilten sich in den 1980er Jahren die Forschungsinitiativen in jeweils spezialisierter Form auf verschiedene Technische Universitäten und Institute. Dort entstanden dann auch zahlreiche Studien zu technischen und natürlichen Risiken bzw. Katastrophen50. Zugleich deutete sich hier die Formierung einer Position innerhalb verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen an, die dem in der Moderne vermeintlich eingeschliffenen Naturverständnis einen markanten Richtungswechsel verlieh. Das Mensch-Naturverhältnis schien nicht mehr nur durch den immer wieder angemahnten Schutz der Natur bestimmt zu sein, sondern auch durch den Schutz vor ihr. Dass dies gewiss kein neues Phänomen, vielmehr das Resultat eines langfristigen gesellschaftlichen Transformationsprozesses war, zeigt ein Blick auf die Branche, die sich auf das Verleihen zumindest ökonomischen Schutzes spezialisiert hatte.

IV. Die Versicherheitlichung der Natur Die Katastrophenforschungen in Ausschüssen der Regierung oder an verschiedenen Universitäten bestellten gewiss nicht allein das Feld. In Rückblicken der Katastrophen- und Risikosoziologie fehlt zumeist ein ganz zentraler Akteur: die Versicherung. Dass Naturgefahren wie Überschwemmungen bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit großer Versicherungsgesellschaften erregten und sie zu teils experimentellen Policen anspornten, ist bekannt51; dass sich Versicherungen gegen Elementarschäden bis in die zweite 50 J. Conrad, Zum Stand der Risikoforschung, Frankfurt a.M. 1978; ders. (Hrsg.), Gesellschaft, Technik und Risikopolitik, Berlin 1983; S. Lange (Hrsg.), Ermittlung und Bewertung industrieller Risiken, Berlin u.a. 1984; U. Hauptmanns u.a. (Hrsg.), Technische Risiken – Ermittlungen und Beurteilung, Berlin u.a. 1987; P.R. Kleindorfer / H.C. Kunreuther (Hrsg.), Insuring and Managing Hazardous Risks: From Seveso to Bhopal and Beyond, Heidelberg / New York 1987. 51 U. Lübken, Die Natur der Gefahr. Zur Geschichte der Überschwemmungsversicherung in Deutschland und den USA, in: Behemoth. A Journal on Civilisation, 3 (2008), S. 4-20.

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Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht wirklich durchsetzen konnten, ebenfalls52. Dies mag in den meisten Fällen auch sicherlich zutreffen. Doch sollte diese Lesart den immensen Einfluss der Versicherungen auf den gesellschaftlichen Umgang mit Katastrophen nicht überlagern. Denn die Versicherer waren gewiss nicht nur im Hinblick auf finanzielle Absicherungen historisch relevant. Viel entscheidender dürfte ihr Einfluss auf die Umwidmung gesellschaftlicher Zeithorizonte53 sowie auf die Rezeption und Erforschung von Naturgefahren gewesen sein. Ein wichtiger Indikator für letzteres sind die Initiativen einiger weltweit agierender Versicherungsunternehmen, eigene Studien zu Naturgefahren zu erstellen. Zeitlich korrespondierte dieser Trend auffallend deutlich mit dem Sichtbar-Werden der soziologischen Katastrophenforschung in den frühen 1970er Jahren. Mit ihr zusammen griffen die Versicherungen so der späteren Debatte um ökologische Sicherheit in den 1980er Jahren entscheidend voraus und brachten Umwelt und Sicherheit nicht nur umweltpolitisch, sondern auch sicherheitspolitisch enger in Verbindung54. Zu diesen Versicherern mit eigener Forschungsabteilung zählte die Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft. Nachdem sich das Unternehmen bereits 1906 durch die Regulierung hoher Schadenssummen infolge des Erdbebens von San Francisco einen Namen gemacht hatte, entwickelte sich die Münchener Rück zur weltweit größten Rückversicherungsgruppe55. Naturkatastrophen mit ihren teils überdimensionalen Schadenssummen gehörten dabei stets zum Geschäft der großen Rückversicherer, zu denen etwa auch die Swiss Re (Schweiz) und General Re (USA) zu zählen sind. 1974 hatte die Münchener Rück in ihrem Unternehmen daher die Abteilung Geo-Risikoforschung eingerichtet und zunächst drei Geowissenschaftler beschäftigt, die fortan wissenschaftliche Expertisen zu Eintrittswahrscheinlichkeiten, Schadenswerten und klimatischen Hintergründen von Naturkatastrophen liefern sollten56. Bereits kurz nach ihrer Gründung trat das Unternehmen mit einigen internationalen Publikationen hervor, die sich insbesondere an Multiplikatoren und potentielle Kunden aus der Versicherungsbranche selbst, aus Politik oder 52 L. Arps, Auf sicheren Pfeilern. Deutsche Versicherungswirtschaft vor 1914, Göttingen 1965, S. 343-354. 53 C. Zwierlein, Grenzen der Versicherbarkeit als Epochenindikatoren? Von der europäischen Sattelzeit zur Globalisierung des 19. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft, 38 (2012), S. 423-452. 54 Vgl. Ch. Daase, Der erweiterte Sicherheitsbegriff, S. 141 f. 55 R. Spree, Two Chapters on Early History of the Munich Reinsurance Company: The Foundation/The San Francisco Earthquake, Munich Discussion Paper No. 201011; http://epub.ub.uni-muenchen.de/11336/. 56 Gegenwärtig sind mehr als zwanzig Wissenschaftler beschäftigt. Für Auskünfte danke ich dem ehemaligen Leiter der Abteilung, Gerhard Berz und Wolfgang Kron.

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der Unternehmerlandschaft wandten57. Die einzelnen Studien versuchten in erster Linie theoretische Reflexionen mit der Praxis zu verknüpfen. In ihren Reflexionen über Hochwasser- und Überschwemmungsgefahren wies die Geo-Risikoforschungsabteilung des Rückversicherers daher zwar auf das in diesem Fall bis dato fast 100 Jahre alte Problem des mangelnden statistischen Kenntnisstands hin, gab aber trotzdem eine Beispielrechnung zur Tarifierung von Hochwasserrisiken an58. In einer ähnlichen Veröffentlichung informierte die Versicherung über Erdbeben, Magnituden und ihre Wahrscheinlichkeiten in Verbindung mit verschiedenen Rechenexempeln59. Gemeinsam war allen diesen Publikationen eine dominante Gefahrenkommunikation, die auf viele verschiedene konkrete Bedrohungen aufmerksam zu machen versuchte und sich dabei einem strengen Aufklärungsduktus verschrieben sah. Das Format, in dem diese Erörterungen angelegt waren, zeichnete sich durch eine Mischung aus geologischen, mathematischen, werbestrategischen und plakativ-emotionalisierenden Anteilen aus. So leiteten die Publikationen Prämienformeln versicherungsmathematisch her, werteten geowissenschaftliche Daten aus und illustrierten diese Mischung mit Katastrophenbildern aus überschwemmten Wohngebieten oder von zerborstenen Bahngleisen60. Bereits die Titelbilder griffen diese Mischung auf, indem sie eine nüchterne Minimal-Überschrift mit einer alarmierenden Installation kombinierten: Im offenen Wasser schwimmt ein Globus. Die Welt scheint fest im Griff der Naturgewalt. Während die südliche Hemisphäre bereits den katastrophalen Verhältnissen ausgeliefert, hier bildlich untergegangen ist, hält sich die nördliche noch über Wasser und damit unversehrt. Auf dem zweiten Titelbild findet sich ebenfalls eine Weltkugel, die ein breiter Riss durchzieht. Beide Illustrationen kreieren eine unmittelbare Bedrohungssituation, die von einem globalen Ausmaß geprägt ist. Daneben drücken sie einen markanten Fatalismus aus, fehlen in beiden Abbildungen doch Hinweise auf mögliche Schutz- oder Vorsorgemechanismen. Das gefährliche Naturereignis erscheint so zunächst

57 Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft (Hrsg.), Hochwasser. Überschwemmung, München 1973; dies. (Hrsg.), Earthqakes, München 1973; dies: (Hrsg.), Managua. Un Estudio sobre el Terremoto del Año 1972. A Study of the 1972 Earthquake, München 1973; dies. (Hrsg.), Sturmschäden in Europa. Erkenntnisse und Schlußfolgerungen aus den Sturmereignissen der letzten zehn Jahre, München 1973; dies. (Hrsg.), Earthquakes, München 1973; dies. (Hrsg.), Fifi. A Study of the Hurricane Damage in Honduras, 1974, München 1975; dies. (Hrsg.), Guatemala’76. Erdbeben der Karibischen Platte, München 1976; dies. (Hrsg.), Der Capella-Orkan. Januarstürme 1976 über Europa, München 1977; dies. (Hrsg.): Erdbebenforschung in China, München 1980. 58 Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft (Hrsg.), Hochwasser, S. 18-20. 59 Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft (Hrsg.), Earthquakes, S. 25-27. 60 Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft (Hrsg.), Hochwasser.

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als unabwendbar, erst im Heftinneren warteten dann die Wissenschaftler mit Berechnungen, Vorhersagen und etwaigen Vermeidungsstrategien auf.

Abb. 1 und 2: Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft (Hrsg.), Earthquakes, München 1973 (Titelseite), sowie dies. (Hrsg.), Hochwasser/Überschwemmung, München 1973 (Titelseite).

In einer weiteren Veröffentlichung der Münchener Rück über „Sturmschäden in Europa“ kam die Historisierung einzelner Katastrophen mit zur Argumentationsstrategie hinzu. Abgeleitet wurden aus dem historischen Rückblick dann vor allem Versäumnisse des Bauwesens, die Verheerungen erst möglich gemacht hätten. So mochte es „psychologisch verständlich sein, daß man Sturmschäden als Auswirkungen ‚höherer Gewalt‘ ansieht, die man mehr oder minder passiv hinzunehmen hat“. Allerdings wisse der Sturmversicherer, so die Münchener Rück in ihrer Abhandlung weiter, „daß das Ausmaß von Sturmschäden durch schadenverhindernde bzw. -vermindernde Maßnahmen stark eingeschränkt werden kann“, und diese Maßnahmen lägen „fast ausschließlich im Bereich der Bautechnik“61. Die Versicherer entwarfen sich hiermit nicht nur als ein Dienstleister des Risikoausgleichs. Mit ihrem ständigen Anmahnen einer engeren Zusammenarbeit von Industrie, Politik und 61

S. 25.

Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft (Hrsg.), Sturmschäden in Europa,

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Versicherungsbranche sahen sie sich auch als ein entscheidender Vermittler in der gesellschaftlichen Risikodebatte – schon seit der Jahrhundertwende traten einzelne Versicherungsmathematiker immer wieder mit ähnlichen Strategien an die Öffentlichkeit62. Damit stellten sie zugleich der auflebenden Umweltbewegung eine Lesart gegenüber, welche die vermeintlich dominante Naturwahrnehmung umkehrte. Nicht unbedingt den Umweltschutz, sondern den Schutz vor der Umwelt, Vorsorge und Prävention gelte es voranzutreiben, womit sie auch an große Flussregulierungsprojekte des 19. und 20. Jahrhunderts erinnerten63. Dass beide Bereiche eng mit einander verbunden waren, ja sich sogar gegenseitig bedingten, blieb auf Seiten der Versicherer noch weitgehend unberücksichtigt, was nicht zuletzt auch ihrer Marktlogik geschuldet sein dürfte. Doch selbst auf politischer Ebene war das Wissen um diese Verknüpfung keineswegs selbstverständlich. In den 1990er Jahren riefen die Vereinten Nationen die Dekade zur Reduzierung von Naturkatastrophen (IDNDR) aus und regten die Mitgliedsstaaten zur Einrichtung jeweils nationaler Komitees an. Erst aus diesem Anlass richtete die Bundesrepublik 1990 das Deutsche IDNDR-Komitee zur Katastrophenvorbeugung ein, das Naturgefahren erstmals systematisch in den Kontext bedenklicher Ressourcennutzung stellte64. Beobachten lässt sich hier ein fast schon prototypischer „Versicherheitlichungsprozess“, wie er sich beispielsweise in den Auseinandersetzungen um die friedliche Nutzung von Kernkraft aber auch in den Debatten um die NATO-Nachrüstung und die Friedensbewegung seit den 1970er Jahren findet65. Neu dürfte in diesem Zusammenhang allerdings die Dynamik aus der Privatwirtschaft gewesen sein, die gemeinsam mit der Katastrophensoziologie den Staat erst auf Potenziale oder Notwendigkeiten zur Versicherheitlichung der Natur aufmerksam machte. Argumentationsbasis waren dabei zumeist schlichte Trendanalysen, die seit 62 Siehe etwa O. Meltzing, Neues zur Überschwemmungsversicherung, in: Mitteilungen für die öffentlichen Feuerversicherungsanstalten, 45 (1913), S. 454-463; Die Versicherung der Elementarschäden, in: Neue Zürcher Zeitung, 14. Dezember 1927; P. Riebesell, Rückversicherungsformen der Elementarversicherung, München 1937; C. Rommel, Grenzen einer deutschen Überschwemmungsversicherung, in: Versicherungswirtschaft, 6 (1951), S. 333-335. 63 S. Chaney, Water for Wine and Scenery, Coal and European Unity. Canalization of the Mosel River 1950-1964, in: S.B. Anderson / B. H. Tabb (Hrsg.), Water, Culture and Politics in Germany and the American West, New York 2001, S. 227-252. 64 German IDNDR-Committee, Projects for the Understanding and Mitigation of Natural Disasters. German Contributions to the International Decade for Natural Disaster Reduction, Bonn 1994. 65 E. Conze, Securitization, S. 464; ders., Modernitätsskepsis und die Utopie der Sicherheit. NATO-Nachrüstung und Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 7 (2010), S. 220-239.

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den 1970er Jahren einen rasanten Anstieg geophysikalischer, meteorologischer, hydrologischer und klimatologischer Extremereignisse anzeigten. Dass derartige Statistiken zumeist aus den Datenbanken der großen Versicherer stammten, die als einzige über retrospektive Ereignisdatensätze verfügten, belegt die privatwirtschaftliche Versicherheitlichungsdynamik umso mehr66.

V. Ausblick Parallel zur breiten Debatte über Umweltbewegung und -politik hatte sich in den 1970er Jahren an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Administration eine Auseinandersetzung mit dem Schutz vor der Natur etabliert. Die Erkenntnis, „daß die Menschen, die ein Gesellschaftssystem bilden und ihre soziale Existenz produzieren, gegen die Natur vorgehen“, wie es Jäger in seinen Grundlegungen zu Modellen der Katastrophensoziologie erläuterte, setzte sich soziologisch allmählich durch67. Allerdings schien die konzeptionelle Erfassung vermeintlich natürlicher Gefahren publizistisch zunächst noch von der breiten Umweltschutzdebatte überlagert zu werden68. Populäre Sachbücher wie William Vogts „Die Erde rächt sich“, Ernst Hass’ „Des Menschen Thron wankt“ oder Rolf Lohbecks „Selbstvernichtung durch Zivilisation“ erschienen bereits seit den 1950er Jahren in hohen Auflagen und besetzten das Thema massenwirksam69. Den konkreten Umgang mit Naturgefahren handelten sie eher am Rande ab. Dennoch lieferte diese oft auch aus dem Englischen übersetzte Naturpublizistik eine wichtige Vorarbeit für die Konzeptualisierung der Natur als Risiko. Denn fast alle diese Bücher waren durchzogen von einem Narrativ, dass katastrophale Naturereignisse als Resultate menschlicher Fehlanpassung und fataler Ausbeutung begriff. „Der Wald ist der große Ausgleicher“, schrieb der Münchener Zoologie-Professor Reinhard Demoll in aller Einfachheit, „fehlt er, so geht alles ins Extreme“70. An diese vermeintlich banale Erkenntnis konnten wiederum sowohl die akademi-

66 Münchener Rückversicherungsgesellschaft (Hrsg.), Natcatservice. Naturkatastrophen-Knowhow für Risikomanagement und Forschung, München 2011, S. 2-4. 67 W. Jäger, Katastrophe und Gesellschaft, S. 68. 68 J.I. Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik, S. 78-86. 69 W. Vogt, Die Erde rächt sich, Nürnberg 1950; H. Fervers, Der allmächtige Mensch? Auf der Fährte der verschwiegenen Wahrheiten, Hamm i.W. 1954; E. Hass, Des Menschen Thorn wankt. Eine naturwissenschaftliche Kritik des modernen Lebens, München 1955; R. Lohbeck, Selbstvernichtung durch Zivilisation, Würzburg 1966; Günther Schwab: Der Tanz mit dem Teufel. Ein abenteuerliches Interview, Hameln / Hannover 1969; B. Commoner, Wachstumswahn und Umweltkrise, München 1971. 70 R. Demoll, Ketten für Prometheus. Gegen die Natur oder mit ihr?, München 1954, S. 35.

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schen als auch privatwirtschaftlichen Strömungen der Katastrophenforschung anschließen und die Analyse von Mensch-Natur-Beziehungen neu gewendet auf ihre Agenda setzen. Das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts erscheint somit auch als Zeit eines doppelten Mentalitätswandels: Zum einen reifte das schon seit den 1950er Jahren wachsende Interesse an Umweltthemen zu einem gesellschaftlichen und politischen Leitbild. Zum anderen aber verliehen Wissenschaft und Assekuranz der Natur, die soeben erst unter breiter Akzeptanz als absolut schützenswert etikettiert wurde, selbst eine markante Gefahrendimension, die sich mit dem Durchbruch der Risikosoziologie in den 1980er Jahren nochmals politisch-institutionell festigte. Damit ist zugleich die Beobachtung verbunden, dass die Versicherungsbranche insbesondere im Bereich natürlicher Risiken weit über die ihr stets zugewiesene Funktion der Herstellung von Erwartungssicherheit hinausging. Wenn Wolfgang Bonß in seiner Studie über „Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne“ schreibt, die Versicherung sei „weder ein Instrument der Schadensvermeidung noch der Risikobeseitigung“71, oder Werner Pfennigstorf postuliert, „all that insurance can do, is to provide compensation … to the consequences of harmful events“72, so übersehen beide doch die Entwicklung, die Versicherungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert genommen haben. Auf wahrscheinlich keinem anderen Feld als dem der Naturgefahren zeigt sich so deutlich, dass die Assekuranz eben auch analytisch und präventiv arbeitete, indem sie wie die Münchener Rück eigenständig Georisiko-Forschungen betrieben, die weit über bloße Kalkulationen späterer Ausgleichszahlungen hinausreichten. Indirekt kompensierte die Versicherungsbranche damit das zögerliche Anlaufen einer systematischen Katastrophenforschung, verlieh der Debatte über den Schutz vor der Natur aber zugleich einen latenten marktwirtschaftlichen Gestus. Blickt man schließlich auf die Debatte um Ulrich Becks Stichwort der „Risikogesellschaft“ in den 1980er Jahren zurück, so mag die Etablierungsphase der (soziologischen) Katastrophen- und Georisikoforschung in den 1970er Jahren durchaus früh erscheinen. Im internationalen Kontext wirkt sie allerdings vergleichsweise spät. Denn letztlich war die verzögerte Aufstellung eines deutschen Katastrophenschutzes mit all seinen technischen und sozialwissenschaftlichen Facetten sicherlich auch ein Ergebnis politischer Konstellationen des Kalten Krieges, die das Aufstellen eines Katastrophenschutzes

71 W. Bonß, Vom Risiko. Unsicherheit und Ungewißheit in der Moderne, Hamburg 1995, S. 163. 72 W. Pfennigstorf, The Role of Insurance in Risk Spreading and Risk Bearing, in: P.R. Kleindorfer / H.C. Kuhnreuther (Hrsg.), Insuring and Managing Hazardous Risks: From Seveso to Bhopal and Beyond, Berlin / Heidelberg / New York 1987, S. 464-485.

Erforschungen des Gefährlichen

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gleich zwischen parteipolitische Fronten manövrierten. Einerseits durften Überlegungen nicht als erneute Aufrüstung verstanden, andererseits aber auch nicht als Rechtfertigung zur Westintegration missverstanden werden73.

73

S. 66.

W.R. Dombrowsky, Zur Entstehung der soziologischen Katastrophenforschung,

Politische Macht und soziale Norm im Italien der 1960er und 1970er Jahre* Von Fiammetta Balestracci

I. Wertewandel und Rolle der Macht in der modernen Gesellschaft1 – Reflexionen über die Transformationen der 1960er und 1970er Jahre „Eine auch üblicherweise als ‚beherrschend‘ bezeichnete Stellung kann dagegen ebensowohl in den gesellschaftlichen Beziehungen des Salons sich entfalten wie auf dem Markt, vom Katheder eines Hörsaals herunter wie an der Spitze eines Regiments, in einer erotischen oder karitativen Beziehung wie in einer

*

Aus dem Italienischen von Hedwig Rosenmöller. Wie vor einigen Jahren Tim Mason richtig bemerkte, neigt man allzu häufig dazu, die Begriffe „Moderne“, „Modernität“ und „Modernisierung“ auf leichtwertige Weise zu verwenden, vor allem in der italienischen geschichtswissenschaftlichen Debatte [T. Mason, Moderno, modernità, modernizzazione: un montaggio, in: Movimento operaio e socialista, (1987), 1-2, S. 45-61]. Heute gibt es zum Begriff Moderne – und aufgrund des hier untersuchten historischen Zeitraums müssen wir den Begriff Postmoderne hinzufügen – eine sehr ausführliche Debatte im Bereich der Geschichtswissenschaften, die dazu neigt, einen Moment der tiefen Zäsur ungefähr in die 1970er Jahre zu verorten. Diese Zäsur bezieht sich sowohl auf den Begriff der Moderne in seiner weitesten Auffassung, also dem Zeitalter der Moderne vom Humanismus an, als auch auf die sogenannte „Phase der neueren Modernisierung“, die mit den Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts verbunden ist oder sogar, wie im Falle Italiens und Deutschlands, auf den Zeitraum des „Wirtschaftswunders“ nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Wahrnehmung dieser Zäsur kann gerade auf die Dynamiken des sozialen und kulturellen Wandels zurückgeführt werden, mit denen wir uns befassen werden. Wir haben nicht die Absicht, hier zum Kern der Diskussion über das Ende oder Nicht-Ende der Moderne in ihren unterschiedlichen Bedeutungen für diese Jahre vorzudringen; ein Ende, mit dem auch die von den Theoretikern der Postmoderne eröffnete Kontroverse in Verbindung gebracht werden muss. Wir müssen jedoch den Begriff der „modernen Gesellschaft“ klären, auf den wir uns hier beziehen wollen. Wir gehen vor allem von der von Hannah Arendt vorgelegten Darstellung der Gesellschaft als dem Raum par excellence aus, in dem die menschlichen Beziehungen durch die Entdeckung der Arbeit als Terrain des öffentlichen Handelns neuen Ausdruck finden (H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Zürich 2002). Wenn nicht näher angegeben, beziehen wir uns außerdem auf die weiter gefasste Bedeutung des Terminus „Gesellschaft“, zu der sowohl die Zivilgesellschaft als auch die politische Gesellschaft gehören, denen 1

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wissenschaftlichen Diskussion oder im Sport. … Eine umfassende Kasuistik aller Formen, Bedingungen und Inhalte des ‚Herrschens‘ in jenem weitesten Sinn ist hier unmöglich“2 .

Mit dieser Sicht auf das polymorphe Wesen der Macht von Max Weber, der die Natur der Macht vor allem in Bezug auf die von Gehorsamkeit und Disziplin innerhalb politischer und institutioneller Gruppen gespielte Rolle untersuchte, wären nach meiner Einschätzung sowohl Hannah Arendt als auch Michel Foucault einverstanden gewesen. Obwohl sich beide zu Konzeptionen bekannten, die sich sowohl untereinander als auch von der weberschen stark unterschieden, waren beide tatsächlich gleichermaßen überzeugt von der Tatsache, dass die Macht sich in zahlreichen Beziehungsfeldern manifestieren kann: für Arendt bei jeder Gelegenheit, bei der Menschen die Möglichkeit haben, durch eine zwangfreie und agonale Kommunikationsform gemeinsam zu handeln; für Foucault, wo immer sich Diskurse aufschichten, die das Verhalten der Personen konditionieren oder manipulieren können3. Arendt und jeweils unterschiedliche Rollen und eine für den historischen Untersuchungszeitraum besonders augenfällige Interaktionsdynamik zuerkannt werden müssen. Eine zentrale Rolle spielt in ihr außerdem die Familie als durchlässigem Raum, in dem die öffentliche und private Dimension der menschlichen Existenz einander begegnen. Zur Beziehung zwischen Familie, Zivilgesellschaft und Staat finden sich weiterführende Gedankengänge in: P. Ginsborg, Famiglia, società civile e Stato. Alcune considerazioni metodologiche, in: Meridiana, 17 (1993), S. 179-208, sowie P. Macry, La storia della famiglia fra società e cultura, in: La società contemporanea, Bologna 1992, S. 111-143. Vgl. zudem die Überlegungen zur bürgerlichen Gesellschaft als Bindeglied zwischen Gesellschaft und Individuum passim in J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt 1962. Zur Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und politischem System vgl. P. Farneti, Sistema politico e società civile: saggi di teoria e ricerca politica, Turin 1971. Die folgende Abhandlung hat den wissenschaftlichen Erörterungen mit Enrica Asquer, Patrizia Gabrielli, Christina von Hodenberg und Simone Neri Serneri viel zu verdanken, denen ich an dieser Stelle danken möchte. 2 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 542. 3 Die wichtigsten Schilderungen der Macht von Hannah Arendt finden sich in: Vita activa, sowie dies., Macht und Gewalt, München / Zürich 2006. Für Michel Foucault verweisen wir auf den ersten Band der Geschichte der Sexualität: M. Foucualt, Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1983. Zu Arendt stellte Jürgen Habermas eine weiterführende Reflexion an, J. Habermas, Hannah Arendts Begriff der Macht, in: Merkur, 10 (1976), 218, S. 946-960. Vielleicht ist es hier zweckmäßig, daran zu erinnern, dass die unterschiedlichen Machtauffassungen von Weber und Arendt auch zwei unterschiedlichen semantischen Feldern entsprechen. Weber verwendet vornehmlich das Wort „Herrschaft“, um das Konzept der Macht zu bezeichnen, wobei der Begriff in seiner Ableitung vom Terminus „Herr“ die Dynamik des Gehorsams impliziert. Arendt verwendet die Termini „Gewalt“ und „Macht“, wobei der erstere eine negative Bedeutung hat, weil er die Anwendung von Zwangsmitteln oder Gewalttätigkeit impliziert und wörtlich sowohl Macht als auch Gewalt bedeuten kann, während der

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Foucault treffen sehr unterschiedliche Werturteile über die Macht: Arendt beurteilt sie positiv und bringt sie in Verbindung zur freien Meinungsäußerung, Foucault dagegen sieht sie negativ und verbindet sie mit einer den menschlichen Beziehungen fast immanenten Form der Unterdrückung. Ausgehend von der Zustimmung zur allgemeineren These wird hier jedoch die Meinung vertreten, dass man sich nicht auf die Transformationen der Gesellschaft, also auf den Ort des menschlichen Handelns schlechthin beziehen kann, ohne die Rolle der Macht und ihre Fähigkeit zu berücksichtigen, sowie soziale Dynamiken und individuelle Verhaltensweisen zu kontrollieren. Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Macht, ihren Mechanismen und wie diese der Entwicklung von Konzeptionen für anzustrebende Vorstellungen (Werte) und die Vorschriften oder Verbote (Normen) gegenüberzustellen, nach denen sich die Verhaltensweisen der Individuen und Gruppen sowohl in Bezug auf die angewandten Mittel als auch in Bezug auf die zu erreichenden Ziele richten. In unserem Gedankengang werden wir die Idee verfolgen, dass der Wert im Bereich dieser Dynamiken eine Art Polarstern des menschlichen Handelns darstellt, ein die allgemeine Orientierung inspirierendes Prinzip. Seine Norm kann als eine abstrakte oder schriftliche Kodierung aufgefasst werden, eine Art Festlegung mit vorschreibender oder verbietender Funktion, die mit den sozialen oder moralischen Bräuchen und Konventionen verbunden ist und sich manchmal auch in juristischer Form, der Rechtsnorm4, ausdrückt. Wir wollen insbesondere begreifen, welches Gewicht die politische Macht innehatte und wie sie sich unter denjenigen Faktoren manifestierte, die im sozialen und kulturellen Kontext der 1960er und 1970er Jahre zum Wandel der Werte und Normen beitrugen, die das Funktionieren der Gesellschaft und das Handeln der Personen regulierten. Dafür wollen wir über die Elemente Italiens nachdenken: Wenn wir für diesen historischen Zeitraum von Wertewandel sprechen, beziehen wir uns auf ein globales Phänomen, das

zweite Begriff an die Idee eines freien Wettbewerbs oder Wettkampfs zwischen den beteiligten Akteuren erinnert. Vgl. außerdem die dieser Problemstellung gewidmeten Seiten von N. Poulantzas, L’etat, le pouvoir, le socialisme, Paris 1978. Für unsere Arbeit war der Aufsatz von Poulantzas von entscheidender Bedeutung. Seine Bezugsmodelle sind Karl Marx, Michel Foucault und Antonio Gramsci, in Bezug auf den letzteren besonders die Begriffe „Hegemonie“ und „Historischer Block“. 4 Für die Definition von „Wert“ beziehen wir uns auf die Definition von di Clyde Kluckhohn von 1951 und auf die diesbezüglichen Reflexionen von H. Thome, Wertewandel in Europa aus der Sicht der empirischen Sozialforschung, in: H. Joas / K. Wiegandt (Hrsg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a.M. 2005, S. 386-443. Während wir für den Begriff „Norm“ die Definitionen berücksichtigt haben, die sich unter dem Stichwort „norma sociale“ finden in: L. Gallino, Dizionario di Sociologia, Turin 1976, S. 478-481.

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in Europa und im Westen entstand und dann von einem Zusammenwirken von Prozessen und Ereignissen begleitet war, die ihn in diesen geopolitischen Kontexten im Allgemeinen homogen und simultan gestalteten. Betrachten wir überblicksartig seine Entwicklungen. Was diese Jahre angeht, stehen wir vor den Anzeichen einer „großen Transformation“5, deren Voraussetzung ein Wandel der Wirtschaftsstruktur war, der durch ein plötzliches und allgemeines Anwachsen der Wirtschaftsstandards und weiterhin durch das progressive Wachstum des Industrieund des Dienstleistungssektors bewirkt wurde, bis hin zu einer graduellen Durchsetzung der sogenannten „Dienstleistungsgesellschaft“, die von einigen wegen der scheinbaren Unterordnung der Arbeiterklasse im Verhältnis zur Mittelschicht, deren Stellung durch immaterielle Kenntnisse und Wissen determiniert ist, postindustriell genannt wird6. Zur Veränderung der Physiognomie der Gesellschaft im Lauf der beiden Jahrzehnte trug nämlich in vielen Ländern die Förderung der Bildung der Massen bei, die jetzt Teile der Gesellschaft umfasst, die bislang allgemein am Rande der Bildungssysteme verortet waren, wie die Arbeiterklasse und die Frauen, die ebenfalls von einem neuen Bewusstsein für neue Rollen und soziale Verhaltensweisen motiviert wurden7. Unter den neuen Bildungseinrichtungen, die die Kulturund Wertevermittlung bestimmen, agierten neben den traditionelleren, wie der Schule, jetzt neue Faktoren, von denen einige verborgen wirkten, aber in 5 Die Metapher von Karl Polany wurde von einigen italienischen Historikern aufgegriffen, die der sozialen und kulturellen Dimension des Wandels, der in Italien mit dem Wirtschaftsboom – also Ende der 1950er Jahre – begann, besondere Aufmerksamkeit schenkten, vgl. S. Lanaro, Storia dell’Italia repubblicana: dalla fine della guerra agli anni novanta, Padua 1992, sowie G. Crainz, Storia del miracolo italiano. Culture, identità, trasformazioni fra anni cinquanta e sessanta, Rom 1996. 6 Die Bedeutung der Wissensformen in der Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahre betonten A. Touraine, La société post-industrielle Paris 1969, sowie D. Bell, The Coming of Post-industrial Society: A Venture in Social Forecasting, New York 1973, auf diese bezieht sich J.-F. Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979. 7 Zu den neuen Verhaltensweisen der Arbeiterklasse und zu den transformierenden Auswirkungen des Wohlstands auf die soziale Schichtung vgl. für Italien M. Paci, I mutamenti della stratificazione sociale, in: Storia dell’Italia repubblicana, Bd. 3/1: L’Italia nella crisi mondiale. L’ultimo ventennio, Turin 1996, S. 699-776, sowie für die Bundesrepublik T. Sander, Der Wertewandel der 1960er und 1970er Jahre und soziale Ungleichheiten. Neue Quellen zu widersprüchlichen Interpretamenten, in: Comparativ, 17 (2007), S. 101-118. Für einen europäischen Blick auf die neuen Verhaltensweisen der Frauen vgl. A. Janssen, Trasformazione economica, lavoro delle donne e vita familiare, in: M. Barbagli / D.I. Kertzer (Hrsg.), Storia della famiglia in Europa, Bd. 3: Il Novecento, Rom 2003, S. 109-176. Für Italien in Hinsicht auf Männer und Frauen im Allgemeinen vgl. V. Vidotto, Italiani/e. Dal miracolo economico a oggi, Rom 2005.

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Italien seit Ende der 1950er Jahren vor allem von den jungen Generationen stark wahrgenommen wurden, wie Reklame, Fernsehen, Musik und Comics8. Ein starkes Mittel der kulturellen Transformation ist in dieser Zeit zweifellos die Massenverbreitung der Kommunikationsmittel. Ihr gelingt es, die bisherigen Formen der Zirkulation von Kultur und Wissen zu unterbrechen und neue Formen zu inszenieren. Jugendliche und Frauen setzen sich in diesen Jahren als neue Identitätsgruppen durch und sind keineswegs zufällig Gegenstand der besonderen Aufmerksamkeit seitens der Werbung. Die Tatsache, dass diese Gruppen eine zentrale Rolle einnehmen, muss in Beziehung zum Aufkommen gegenkultureller Praktiken und Wissensformen gesetzt werden, die also der institutionellen vorherrschenden Kultur feindlich gegenüber standen und von dieser sehr oft nicht akzeptiert wurden sowie zum Aufkommen neuer Formen der Austragung von Konflikten und des sozialen Protests, bis hin zur Explosion prozesshafter Ereignisse auf globaler Ebene wie dem „Achtundsechzig“ und der feministischen Bewegungen. Diese Prozesse beschleunigten den Wandel in seiner Gesamtheit stark und trugen in den einzelnen Ländern in einem je eigenen Rhythmus durch neue Praktiken von Protest, Sprachen und Verhaltensweisen zur Erneuerung der normativen Sozialmodelle bei9. Der Wandel der traditionellen Bindungen innerhalb der Familie beziehungsweise die Krise dieser Bindungen ist der neuen sozialen Legitimation der Jugend, den Frauen und den Bewegungen für die sexuelle Befreiung wie der Homosexuellenbewegung zu verdanken. Die Familie befindet sich am Scheideweg zwischen Autoritarismus und Streben nach Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und Generationen; auch die Suche nach neuen Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität ist auf diese neue Legitimation zurückzuführen, mit augenfälligen Auswirkungen 8 Vgl. S. Piccone Stella, La prima generazione: ragazzi e ragazze nel miracolo economico, Monza 1993. Vgl. zudem P. Dogliani (Hrsg.), Giovani e generazioni nel Mondo contemporaneo. La ricerca storica in Italia, Bologna 2009. 9 Zu 1968 als globaler Bewegung vgl. P. Ortoleva, I movimenti del ’68 in Europa e in America, Rom 1998, sowie G. Arrighi / T. Hopkins / I. Wallerstein (Hrsg.), Antisystemic Movements, Rom 1992, und zudem M. Revelli, Movimenti sociali e spazio politico, in: Storia dell’Italia repubblicana, La trasformazione dell’Italia: sviluppo e squilibri: Istituzioni, movimenti, culture, Bd. 2/2, Turin 1995, S. 383-476. Außerdem M. Tolomelli, Il sessantotto: una breve storia, Rom 2008, sowie N. Frei, 1968 – Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008. Zu Italien vgl. M. Flores / A. De Bernardi, Il Sessantotto, Bologna 1998, sowie L. Baldissara (Hrsg.), Gli anni dell’azione collettiva: per un dibattito sui movimenti politici e sociali nell’Italia degli anni ’60 e ’70, Bologna 1997; M.R. Lumley, Dal ’68 agli anni di piombo. Studenti e operai nella crisi italiana, Bologna 1998. Zum Feminismus in Italien vgl. A. Scattigno (Hrsg.), Il femminismo degli anni Settanta, Rom 2005, sowie F. Lussana, Le donne e la modernizzazione. Il neofemminismo degli anni settanta, in: Storia dell’Italia republicana, Bd. 3/2: L’Italia nella crisi mondiale. L’ultimo ventennio, Turin 1997, S. 471-565, sowie dies., Il movimento femminista in Italia. Esperienze, storie, memorie, Rom 2012.

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im Bereich der Heiratshäufigkeit und der Fruchtbarkeit in jedem Land. Zur Übernahme neuer individueller Verhaltensweisen und somit zur Akzeptanz einer Pluralität von Identitäten und normativen Vorschlägen animierten nicht nur die höheren Bildungsniveaus, sondern auch die Verbreitung neuer und individualisierter Formen des Massenkonsums, die in den USA freilich schon seit Anfang des Jahrhunderts stark präsent waren und deren Modell seit der Nachkriegszeit auf Europa eine schwer einzudämmende Faszination ausübt10. Auf diese neue Individualisierung der Bedürfnisse geht in weiten Teilen der Beginn eines Säkularisierungsprozesses zurück, der die Beachtung der Religion und ihrer Regeln als vorherrschende Lebensausrichtung immer weniger überzeugend werden läßt, da diese inzwischen im Vergleich mit anderen Weltbildern, die stärker mit Selbstverwirklichung verknüpft sind, eine untergeordnete Rolle spielen11. Der Gesamtheit dieser Veränderungen wurde durch die Thesen des amerikanischen Politikwissenschaftlers Ronald Inglehart über die „stille Revolution“ der westlichen Gesellschaft die Bedeutung eines Wandels zugeschrieben; das heißt über den Übergang in jenen Jahrzehnten von Lebenssystemen, die vorwiegend auf das Erlangen materieller Güter fokussiert sind, hin zu Verhaltensmodellen, die von postmaterialistischen Werten durchdrungen sind12. Bei aller Kritik, die man dieser These sowohl unter soziologischen als auch unter geschichtswissenschaftlichen Blickwinkeln entgegenbringen kann13, hat 10 Zu den neuen Konsumformen und dem Einfluss des amerikanischen Modells vgl. S. Cavazza / E. Scarpellini (Hrsg.), La rivoluzione dei consumi. Società di massa e benessere in Europa 1945-2000, Bologna 2010. Zu Italien vgl. S. Gundle, L’americanizzazione del quotidiano. Televisione e consumismo nell’Italia degli anni cinquanta, in: Quaderni storici, 12 (1986), 2, S. 561-594; M.C. Liguori, Donne e consumi nell’Italia degli anni cinquanta, in: Italia contemporanea, (1996), 205, S. 665-689; E. Bini / E. Capussotti / G. Stefani / E. Vezzosi, Genere, consumi, comportamenti negli anni cinquanta. Italia e Stati Uniti a confronto, in: Italia contemporanea, (2001), 224, S. 390-411. 11 R. Inglehart, Modernization and Postmodernization. Cultural, Economic, and Political Change in 43 Societies, Princeton NJ 1997. Zu Italien vgl. G. Marramao, Politica e società secolarizzata, in: F. Lussana / G. Marramao (Hrsg.), L’Italia repubblicana nella crisi degli anni settanta. Culture, nuovi soggetti, identità, Bd. 2, Soveria Mannelli 2003, S. 17-22, sowie G. Marramao, Potere e secolarizzazione. Le categorie del tempo, Turin 2005. 12 Vgl. R. Inglehart, The Silent Revolution in Europe, in: American Political Science Review, 65 (1971), S. 99-107, sowie ders., The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles in Advanced Industrial Society, Princeton NJ 1977. 13 Die Thesen Ingleharts fanden eine umfassende Rezeption in der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere der Soziologe Helmuth Klages kritisierte die nur eine einzige Deutung zulassenden Ergebnisse Ingleharts; er sah im Wertewandel jener Jahre vielmehr einen offenen Prozess, der die Herausbildung mehrerer möglicher „Wertesynthesen“ innerhalb der deutschen Gesellschaft zum Ergebnis hatte, die all-

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in den letzten Jahren die empirische historische Forschung de facto bewiesen, dass die Kombination der Ereignisse und Prozesse, die die 1960er und 1970er Jahre überrollten, und der Rhythmus ihrer Entwicklung in jedem Land einen realen sozialen und kulturellen Wandel verursacht hat, dessen Merkmale zu den historischen Besonderheiten in Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur in den jeweiligen nationalen Kontexten gehören. Außerdem sind diese Merkmale auch dem in diesen Kontexten historisch erworbenen Gewicht von Faktoren zuzuordnen, die in der Lage sind, die sozialen Dynamiken zu beeinflussen – Macht auszuüben – und sich die Ereignisse zu Eigen zu machen. Zu diesen zählen z.B. die traditionellen Machtsysteme wie die Behörden, der Staat, die Parteien und ihre Mittel, wie die Gesetze, die rechtswissenschaftliche und publizistische Produktion oder die politische und organisatorische Tätigkeit derselben Parteien. Eine aktive Rolle erlangen aber neben ihnen im historischen Untersuchungszeitraum unterschiedliche Ausdrucksformen der Zivilgesellschaft, die in der Lage sind, neue kulturelle und normative Modelle vorzuschlagen und sich innerhalb der Gesellschaft Räume der Kontrolle und Machtausübung zu eröffnen. Zu diesen gehören politische Gruppen, die mit den neuen sozialen Bewegungen verbunden sind oder die für den Schutz bestimmter sozialer Kategorien eintreten. Wir werden uns hier auf die Rolle der traditionellen Machtfaktoren, insbesondere der politischen Parteien und des Staates, konzentrieren. Es ist ferner notwendig, den Aufbau der neuen Bildungs- und Erziehungssysteme und der neuen Massenkommunikationsmittel wie Kino und Fernsehen zu berücksichtigen, die die Struktur der öffentlichen Meinung stufenweise gliedern und neu definieren. Selbst die Beziehung zwischen Zivilgesellschaft und Macht definiert sich im Laufe der untersuchten Jahrzehnte neu und ändert sogar die Struktur der Macht. Die Besonderheiten dieser Dynamik betreffen Elemente, die in jedem nationalen Kontext eine Rolle spielen. Daher denke ich, dass es für eine angemessene Bewertung der dem Wandel zugrunde liegenden Dynamiken notwendig ist, Bezug auf einen bestimmten nationalen Kontext zu nehmen; hier ist es der Italiens.

gemein den Übergang von einem Vorherrschen des „Pflicht- und Akzeptanzwerts“ zum Vorherrschen des „Selbstverwirklichungswerts“ begünstigten. Vgl. H. Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M. / New York 1984. Für eine geschichtswissenschaftliche Kritik an der Brauchbarkeit der These vom Wertewandel in der historischen Forschung vgl. dagegen R. Graf / K.C. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011), 4, S. 479-508, sowie die Antwort von B. Dietz / Ch. Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 60 (2012), 2, S. 293-306.

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II. Gesellschaft, politische Parteien und normative Familienmodelle (im Italien der 1960er und 1970er Jahre) Die beiden Jahrzehnte 1960 und 1970 bedeuten für Italien einen epochalen Übergang. Voraussetzung dafür ist der plötzliche Wandel der Wirtschaftsstruktur. Ab dem Ende der 1950er und im Verlauf der 1960er Jahre wird das bäuerliche Italien zu einem Land mit überwiegend industrieller Produktion, während sich der Dienstleistungssektor dem zweiten Sektor annähert und im folgenden Jahrzehnt das „historische Überholmanöver“ absolviert. Im Laufe einer verhältnismäßig kurzen Zeit wird also die wirtschaftliche und soziale Struktur Italiens vollkommen umgewandelt, fast umgestoßen14. Diese Daten sagen uns, dass auf der Ebene der sozialen Schichtung in diesen Jahren neben der Herausbildung einer starken Arbeiterklasse, die sich auf einige urbane Zentren im Norden konzentriert, das Wachstum einer neuen und vielfältigen Mittelschicht stattfindet, die vornehmlich aus Angestellten besteht und deren Lebensstil durch bestimmte Geschlechterordnungen, Konsumformen, Lebensstandards und allgemein die materiellen und immateriellen Erwartungen an das Leben gekennzeichnet ist, wobei sich diese Erwartungen von denen der Bewohner des bäuerlichen Italiens wie auch von denen der Arbeiterklasse unterscheiden15. Nur für sich genommen lassen diese wenigen Indikatoren bereits erahnen, wie man sich mit der Zeit auf eine Pluralität sozialer und normativer Verhaltensmodelle zubewegt, die dem aus dem Krieg hervorgegangenen Italien unbekannt waren. Um aber die Besonderheit oder die sogenannte „Anomalie“ des Falls Italien für den Rest Europas zu verstehen, muss man die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt des Wandels fokussieren. Obwohl das Land schon seit den vergangenen Jahrhunderten hohe Urbanisierungsraten zu verzeichnen hatte, die sogar im Verhältnis zum übrigen Europa außergewöhn14 Der Anteil der Beschäftigten sinkt 1964 im Agrarsektor von 40% auf 25%, steigt in der Industrie von 32% auf 40% und im Dienstleistungssektor von 28% auf 35%; vgl. G. Crainz, Il paese mancato. Dal miracolo economico agli anni ottanta, Rom 2002, S. 13; J. Mazzini, I dati della crescita, in: A. Cardini (Hrsg.), Il miracolo economico italiano (1958-1963), Bologna 2006, S. 27-45. Immer noch brauchbar zum Wirtschaftswandel in Italien ist M. Salvati, Il sistema economico italiano: analisi di una crisi, Bologna 1975. Für eine kritische Lektüre der Transformationen dieser Jahrzehnte unter dem Blickwinkel der „Krise“ siehe L. Baldissara (Hrsg.), Le radici della crisi: l’Italia tra gli anni Sessanta e Settanta, Rom 2001. 15 Die Ausweitung der Mittelschicht betonte schon P. Sylos Labini, Saggio sulle classi sociali, Bari / Rom 1974, in dem er vor allem, und vielleicht nicht ganz korrekt, die parasitäre soziale Rolle dieser Schicht in Bezug auf die vom gerade stattfindenden Wirtschaftswandel gebotenen Möglichkeiten hervorhob. Kürzlich erschienen erhellende Reflexionen zur sozialen Rolle dieser Gruppierung, zu ihrem Lebensstil und den Bezugswerten von E. Asquer, Storia intima dei ceti medi. Una capitale e una periferia nell’Italia del miracolo economico, Bari / Rom 2011.

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lich waren, entwurzelte sich die Bevölkerung erst mit dem Wirtschaftsboom der 1950er und 1960er Jahre vom Land auch auf der Ebene von Kultur und Mentalität; der Umzug in die Städte entspricht – mit der Beschäftigung in der Industrie und als Angestellte – der Organisation neuer Familienstrukturen und der Übernahme neuer Lebensstile, vor allem in den Ballungsgebieten des Nordwestens (Turin, Mailand und Genua), wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass noch Anfang der 1960er Jahre der Anteil der im Agrarbereich Beschäftigten an der italienischen Bevölkerung sehr viel größer war als in Großbritannien, Belgien, Westdeutschland und den Niederlanden16. Auch als sich der letzte Typ der Urbanisierung entwickelt, erlebte man in mehreren Gegenden in Mittel- und Norditalien die Entstehung von Firmen, die es ermöglichten, weiterhin einer Doppelbeschäftigung im primären und sekundären Sektor nachzugehen, was sich auch auf Sitten und Gebräuche auswirkte. In einigen Regionen wie der Toskana bleibt aufgrund der historisch gewachsenen wirtschaftlichen und landschaftlichen Struktur des Territoriums der Bezug zu Erde und Besitz für viele Familien von Bedeutung, obwohl der gerade stattfindende Wirtschaftswandel zur Abschaffung von Arbeitertypen und Arbeitsstrukturen wie Halbpächtern (und Halbpacht) führt. Wenn man für Italien vom Wirtschaftswunder spricht, muss man dabei die Auswirkungen auf sozialer Ebene und die Ambivalenzen der Auswirkungen auf geographischer Ebene unterscheiden. Zudem muss man die Bedeutung des ländlichen kulturellen Erbes für die italienische Demokratie in Erinnerung rufen. Die wirtschaftlichen Umwandlungen und der folgende Sozial- und Sittenwandel enthalten also in Italien eine ganze Reihe von Widersprüchen und Verknüpfungen, die keine leichten Klassifizierungen zulassen, die einem für das ganze Land einheitlichen Modell, wie demjenigen von Inglehart, dienen könnten. Ein Träger hierfür sind die inneren Migrationsflüsse selbst, die von 1955 bis 1970 bis zu 25 Millionen Wohnsitzwechsel registrieren ließen, mit einem außergewöhnlichen Strom der Bevölkerung vom Süden in den Norden des Landes und in vielen Regionen auch vom Land in die Städte; einem Strom, der die sozialen und kulturellen Ordnungen durcheinanderbrachte und durchmischte17. Die Landbewohner des Südens brachten das kulturelle Erbe ihrer Lebensläufe mit in die Städte des Nordens. Ihre Reaktion auf den Wandel ist notgedrungen verbunden mit einer Ethik, die eine Mischung aus dem kulturellen Erbe und den Herkunftswerten, wie die Verbundenheit mit Erde und Eigentum, das sich in der Stadt in der Wohnung ausdrückt, einerseits und, insbesondere in den folgenden Migranten16 Die Daten finden sich bei A. De Bernardi, Città e campagna nella storia contemporanea, in: Storia dell’economia italiana. L’età contemporanea: un paese nuovo, Bd. 3, Turin 1991, S. 251-277, insbesondere S. 252. 17 E. Sonnino, La popolazione italiana dall’espansione al contenimento, in: Storia dell’Italia repubblicana, Bd. 2/2, Turin 1995, S. 529-575.

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generationen, in neuen Erfordernissen, wie dem Bedürfnis nach mehr Freizeit und nach neuen Konsumgütern, andererseits18. Diese Aspekte werden auch durch den dishomogenen Verlauf einiger Daten bezüglich der Familien bestätigt. Obwohl man auch in Italien ab 1951 eine allgemeine Verkleinerung der Familien beobachten kann, sind einige Unterschiede im Verhältnis zum europäischen Durchschnitt und zwischen Nord- und Süditalien festzustellen. So zum Beispiel ist die Geburtenrate im Süden sehr viel höher als im Norden (und auf der Linie der Parameter vergangener Jahre), auch die Anzahl der außerhalb der Ehe geborenen Kinder ist landesweit viel niedriger als im übrigen Europa. Dies ist ein Anzeichen dafür, dass die Beachtung einiger Normen noch weitverbreitet blieb und weiterhin Zustimmung fand, obwohl sich die Gewohnheiten vieler Italiener in diesen Jahrzehnten ändern, zum Beispiel mit der Zunahme der zivilen Eheschließungen im Verhältnis zu den kirchlichen Trauungen nach der Einführung der Scheidung 197019. Analoge Ambivalenzen sind zudem bezüglich der Rolle der Frau festzustellen. Einerseits wurden das Land und die Partei mit der relativen Mehrheit im Parlament, die Democrazia Cristiana, die bis in die 1980er Jahre ununterbrochen an der Spitze der Regierung steht, bestimmt durch das legislative und kulturelle Erbe des Faschismus und durch den Einfluss der Kirche20. Andererseits machten Frauen seit dem Krieg und der Resistenza Erfahrungen 18 Vgl. A. Signorelli, Movimenti di popolazione e trasformazioni culturali, in: Storia dell’Italia repubblicana, Bd. 2/2, S. 587-658. Zu diesen Widersprüchen vgl. E. Asquer, Storia intima dei ceti medi, die die Auswirkungen des Wirtschaftswunders in einer großen Stadt des Nordens, Mailand, und in einer Provinzstadt des Südens, Cagliari, untersucht. Für ein subjektives Gesamtbild der unterschiedlichen Erfahrungen der Italiener im Laufe des Wandels der 1950er und 1960er Jahre vgl. zudem P. Gabrielli, Anni di novità e grandi cose. Il boom economico fra tradizione e cambiamento, Bologna 2011. 19 Vgl. C. Saraceno, Mutamento della famiglia e politiche sociali in Italia, Bologna 1998, S. 21-24. Zur Vervielfachung der Familienmodelle als Auswirkung des demographischen Wandels und im Vorfeld der Etablierung neuer Werte und Verhaltensweisen in den Bereichen der Heiratshäufigkeit und Geburtenrate in Europa vgl. T. Engel, Una transizione prolungata: aspetti demografici della famiglia europea, in: M. Barbagli / D.I. Kertzer (Hrsg.), Storia della famiglia in Europa. Il Novecento, S. 381-342. Für einen längerfristigen Blick auf die Veränderungen der Familie vgl. außerdem E. Asquer / M. Casalini / A. Di Biagio / P. Ginsborg (Hrsg.), Famiglie del Novecento. Conflitti, culture e relazioni, Turin 2010. Zu Italien vgl. C. Dau Novelli, Le trasformazioni della famiglia, in: F. Lussana / G. Marramao (Hrsg.), L’Italia repubblicana nella crisi degli anni settanta. Culture, nuovi soggetti, identità, S. 282-295. 20 Zusätzlich zu C. Saraceno, Mutamento della famiglia e politiche sociali, vgl. auch C. Dau Novelli, Famiglia e modernizzazione in Italia fra le due guerre, Rom 1994. Das Thema der Kontinuität des Staates im republikanischen Italien im Vergleich zur Zeit des Faschismus wurde in Italien besonders hervorgehoben durch die von der Partito d’Azione inspirierte Geschichtswissenschaft; vgl. C. Pavone, Alle origini della repubblica. Scritti su fascismo, antifascismo e continuità dello Stato, Turin 1995.

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in der Teilhabe am politischen Leben des Landes; mit der Anerkennung des Frauenwahlrechts 1946 begann ein aktives politisches Leben und in den folgenden Jahrzehnten gibt es den Ruf nach Veränderungen in den Bereichen Arbeit, Familie und Sexualität. Diese Bestrebungen verbreiteten sich durch die von den neuen Medien vorgestellten Modelle, durch neuartige Konsumgüter, ein allen Bürgern offenes Bildungssystem und ebenso durch die politischen Botschaften von Gruppierungen, die in den Parteien und der Zivilgesellschaft entstanden. Diese trugen im Laufe der 1960er und 1970er Jahre dazu bei, die Debatte um eine neue Gesetzgebung für die Gleichstellung der Frau in Arbeit und Familie zu verschärfen21. Allerdings muss in diesen Jahren auch die Neubestimmung der Rolle der Frau in der Gesellschaft die tiefen Verhaltensunterschiede von Frauen unterschiedlicher sozialer und geographischer Herkunft, verschiedenen Alters und gegensätzlicher Kultur berücksichtigen. Die Transformation der italienischen Gesellschaft muss demnach in einen breitgefächerten Kontext eingebettet werden, der zwischen verwurzelten Rückständigkeiten sowie im Land und in der Gesellschaft uneinheitlich verteilten gesellschaftlichen und kulturellen Traditionen und den verschiedenen Bestrebungen, Gebräuche und Mentalität zu ändern, schwankte. Für beide Tendenzen und ihre vielfältigen Ausformungen machten sich in der Zivilgesellschaft, der Politik und den Institutionen einige Akteure zu Wortführern, die in der Lage waren, den sozialen Dynamiken eine Richtung zu geben. Die Entwicklung der Konfrontationsdynamik zwischen den Tendenzen zur Veränderung und den Tendenzen zur Bewahrung hinsichtlich der vom Staat und den politischen Parteien befürworteten Familienstruktur führte im nationalen Kontext zur sozialen und kulturellen Legitimierung einiger Modelle, die nicht den Zustand der Pluralität der in der Gesellschaft vorhandenen Verhaltensweisen reflektierten, sondern sich auch auf normativer Ebene für weite Teile der Gesellschaft als nicht weniger bindend herausgestellt haben. 21 A. Bravo (Hrsg.), Donne e uomini nelle guerre mondiali, Bari / Rom 1991; J.B. Elshtain, Donne e guerra, Bologna 1991; A. Bravo, Guerre e mutamenti nelle strutture di genere, in: Italia contemporanea, 195 (1994), S. 369-374; A. Rossi-Doria, Diventare cittadine. Il voto alle donne in Italia, Mailand 1996; A. Signorelli, Il pragmatismo delle donne. La condizione femminile nella trasformazione delle campagne, in: C. Saraceno / S. Piccone Stella (Hrsg.) Genere. La costruzione sociale del femminile e del maschile, Bologna 1996, S. 223-251. Seit den 1950er Jahren geraten große parteinahe Frauenverbände wie die der KP nahestehende Unione Donne Italiane (UDI) oder das der DC nahe Centro Italiano Femminile (CIF) in die Krise. Zur UDI vgl. G. Ascoli, L’UDI tra emancipazione e liberazione 1943-1964, in: Problemi del socialismo, 17, (1976), 4, S. 109-160; zum CIF vgl. C. Dau Novelli (Hrsg.), Donne del nostro tempo. Il Centro italiano femminile 1945-1995, Rom 1995. Vgl. außerdem die Aufsätze zu den Frauenbewegungen innerhalb der Parteien in G. Bonacchi / C. Dau Novelli (Hrsg.), Culture politiche e dimensioni del femminile nell’Italia del ’900, Soveria Mannelli 2010, sowie N.M. Filippini / A. Scattigno (Hrsg.), Una democrazia incompiuta. Donne e politica in Italia dall’Ottocento ai nostri giorni, Mailand 2007.

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Diese Konfrontationsdynamik hatte somit den Effekt, auf fast ideologische Weise ein Familienmodell zu begründen, an das man sich anpassen musste. In den thematisierten Jahrzehnten ließ die Regierung bzw. die politische Macht keine offene und umfassende Konfrontation mit den in der Gesellschaft vorhandenen Prozessen der Entnormativierung zu, sondern führte zur Legitimation einer Auswahl normativer Modelle, d.h. einer Renormativierung, die auf der Linie ganz bestimmter Werte und einer ganz bestimmten Art von nationaler Identität lagen. Allgemein wurde das politische System, das den Wandel in Italien steuerte, stark durch die von den großen Parteiorganisationen sowohl auf institutioneller Ebene als auch in der Gesellschaft eingenommene Rolle konditioniert. Lange war es durch den Widerspruch, der sich aus dem Nebeneinander der Verfassung, die 1947 in Kraft getreten war und die den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit ihrer Bürger verpflichtet war, und einem in Bezug auf die Beziehungen zwischen Generationen und Geschlechtern stark repressiven und diskriminierenden System von Gesetzen und Normen, das zur Zeit der Faschisten abgefasst worden war, eingeengt22. Die wichtigsten Massenparteien Democrazia Cristiana (DC) und Partito Comunista Italiano (PCI, im Folgenden KP)23, die eine durch die Präsenz des Vatikans gestützt, die andere, die größte kommunistische Partei der westlichen Welt, tendierten in diesen Jahrzehnten in Bezug auf Fragen, die sich mit dem Wandel der Sitten und Bräuche und der Familie – aber auch mit Themen wie den neuen Konsumgütern, dem Fernsehen, den neuen Medien und dem Einfluss der amerikanischen Modelle – auseinandersetzen, zu einer Linie, die auf gesellschaftliche Stabilisierung ausgerichtet war. Dabei ist die DC konsequent konservativ, während die KP anfänglich verschlossen ist und sich erst nach und nach dem Wandel öffnete, dabei aber immer sehr kritisch gegenüber normativen Modellen bleibt, die ihre Rolle als Massen-Arbeiterpartei in Frage stellen könnten, wie die von der Jugendprotest- und der feministischen Bewegung vorgeschlagenen 22 Für eine Rechtsgeschichte Italiens von der Einigung bis zur Zeit nach dem zweiten Weltkrieg vgl. St. Rodotà, Le libertà e i diritti, in: R. Romanelli (Hrsg.), Storia dello Stato italiano dall’unità a oggi, Rom 1995, S. 301-363. Zur zentralisierenden Rolle der Parteien im politischen System des republikanischen Italiens vgl. P. Scoppola, La repubblica dei partiti: profilo storico della democrazia in Italia, Bologna 1991; S. Lupo, Partito e antipartito: una storia politica della prima Repubblica (1946-1978), Rom 2004, sowie M. Salvadori, Storia d’Italia e crisi di regime. Alle radici della politica italiana, Bologna 1994. 23 Die Politikwissenschaftler Giorgio Galli und Giovanni Sartori sprachen für ihre Definition der vorherrschenden Rolle von DC und KP im politischen System und in der Gesellschaft Italiens von einem „unvollkommenen Zweiparteiensystem“ und von einem „polarisierten Pluralismus“, vgl. G. Galli, Il bipartitismo imperfetto: comunisti e democristiani in Italia, Bologna 1966, sowie G. Sartori, Teoria dei partiti e caso italiano, Mailand 1982.

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Modelle24. Diese beiden Parteien übten auch durch die Gewerkschaftsorganisationen und Massenverbände auf einen Großteil der italienischen Gesellschaft einen entscheidenden politischen und kulturellen Einfluss aus. Weite Teile der 1950er Jahre – die Jahre der Regierungen mit christdemokratischer Mehrheit – waren in Italien durch die Beibehaltung der aus dem Faschismus stammenden Gesetzgebung zu Familie, Sexualmoral und Arbeitsmarkt und durch ein System der Zensur des Fernsehens und der Medien allgemein eine auf gesellschaftlicher wie kultureller Ebene stark konservativ geprägte Zeit. Sowohl im Parlament als auch in der öffentlichen Debatte findet etwa das Thema Scheidung tatsächlich noch nicht genügend Resonanz25. Dagegen werden in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts Gesetze gegen die Diskriminierung verheirateter Frauen im Beruf (1956) und zum Schutz der Heimarbeit und Hausarbeit (1959) verabschiedet26. Diese Maßnahmen waren jedoch nicht ausreichend, um einige Eckpfeiler der sozialen Ordnung des Landes in Frage zu stellen, wie die Unterordnung der Arbeit von Frauen unter die Gestaltung der Familie. Die zweite Hälfte der 1950er Jahre mit dem Beginn des Wirtschaftsbooms und der großen inneren Migrationen stellt in Wirklichkeit für die italienische Gesellschaft den Beginn eines Wandels der Sitten und der Mentalität dar27. Auch dank der Einbeziehung der Partito Socialista (PSI) in das Umfeld der Regierung nach den Vorgängen von 1956 und dem Ende des Bündnisses mit der KP steht eine 24 In diesem Punkt stimmen wir überein mit der Einschätzung von S. Colarizi, I partiti politici di fronte al cambiamento del costume, in: A. Cardini (Hrsg.), Il miracolo economico (1958-1963), S. 225-247. Zur Haltung von DC und KP zur Familie und zu einigen Fragen der Sitten und Gebräuche vgl. A. Tonelli, Politica e amore: storia dell’educazione ai sentimenti nell’Italia contemporanea, Bologna 2003, sowie dies., Comizi d’amore: politica e sentimenti dal ’68 ai Papa Boys, Turin 2007. Zur KP vgl. außerdem S. Bellassai, La morale comunista. Pubblico e privato nella rappresentazione del Pci (1947-1956), Turin 2000; M. Casalini, Famiglie comuniste. Ideologie e vita quotidiana nell’Italia degli anni Cinquanta, Bologna 2010; S. Bellassai, La mediazione difficile. Comunisti e modernizzazione del quotidiano nel dopoguerra, in: Contemporanea 3, (2000) 1, S. 77-102, sowie M. Casalini, La famiglia socialista. Linguaggio di classe e identità di genere nella cultura del movimento operaio, in: Italia contemporanea, (2005) 241, S. 415-445. Zur KP und zum Fernsehen vgl. G. Crapis, Il frigorifero del cervello. Il Pci e la televisione da „Lascia o raddoppia?“ alla battaglia contro gli spot, Rom 2002. 25 Auf diese Zeit gehen die ersten durch die Parteien produzierten Publikationen zum Thema zurück sowie die ersten Gesetzesvorhaben für die Einführung der Scheidung im Parlament in den Jahren 1954 und 1958, vgl. G. Sciré, Il divorzio in Italia. Partiti, Chiesa, società civile dalla legge al referendum (1965-1974), Turin 2007. 26 D. Vincenzi Amato, La famiglia e il diritto, in: P. Melograni (Hrsg.), La famiglia italiana dall’Ottocento ad oggi, Bari / Rom 1988, S. 629-700. 27 Dies ist die Ansicht eines Großteils der italienischen Geschichtswissenschaft, vgl. die Bibliographie zu Anm. 10.

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Zeit der Reformen bevor, die im folgenden Jahrzehnt de facto als der Beginn der politischen Antwort auf die stattfindenden sozialen Wandlungen definiert wird. Die Mitte-Links-Regierungen, die auf dem Bündnis von DC und PSI basierten, antworteten mit einigen Gesetzen und somit auf der Ebene der Rechtsnorm auf einige bedeutende Fortschritte der Sitten und Gebräuche28. Erwähnenswert ist von diesen Gesetzen die Liberalisierung des Zugangs zu allen Berufen für Frauen, im Jahr 1963 einschließlich des Richteramtes. Dieser Maßnahme hatte sich im gesamten vorangegangenen Jahrzehnt im Parlament die von der DC angeführte Regierungsmehrheit mit diskriminierenden und archaischen Begründungen widersetzt. Erwähnenswert ist außerdem die Anerkennung der Hausfrauenrente. Im selben Jahrzehnt werden die ersten Gesetzentwürfe für eine Reform des Familienrechts zugunsten einer Gleichstellung der Ehegatten eingebracht. Außerdem gelangen die Gesetzentwürfe für die Einführung der Scheidung in parlamentarische Diskussion. Einige Artikel der faschistischen Gesetzbücher zur Sexualmoral wurden abgeschafft, wie etwa, im Zuge des Urteils 126 des Verfassungsgerichtshofs von 1968, die unterschiedliche Behandlung des weiblichen und des männlichen Ehebruchs. Auf der Schwelle zu den 1960er Jahren wird man Zeuge eines allgemeinen Tauwetters in Sachen Kultur und Sitten. Anzeichen hierfür sind einige Episoden, die landesweit die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen und den Zustand der moralischen und kulturellen Zensur des Landes anklagten. Hinweise darauf sind auch die ersten Studentenproteste, die in der Bewegung des Sessantotto (1968) gipfelten und die als ein wichtiges Signal für die Kluft zwischen der politischen Gesellschaft und den Institutionen auf der einen und der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite sowie zwischen unterschiedlichen Generationen aufgefasst werden sollten29. Mitte der 1960er Jahre entstehen auch die ersten feministischen Gruppen, die gegen die geltenden Die Einschätzung der Geschichtswissenschaft bezüglich der Fähigkeit der Mitte-Links-Regierungen, den Wandel zu steuern, ist nicht einhellig. Völlig negativ ist die Einschätzung einiger Autoren, die den Ausschluss der KP aus dem Umfeld der Regierung ebenso beklagen wie die Ohnmacht der Sozialisten in den Regierungen unter christdemokratischer Führung, die entschlossen war, dem Verlauf der Entwicklung des Landes ein „militarisiertes“ Modell aufzuzwingen. Dies ist das Urteil von Franco De Felice, der damit Gramscis Theorie vom „Historischen Block“ in einigen Aufsätzen über das Italien der 1960er und 1970er Jahre wieder aufgreift, die 19951996 erschienen, jetzt in F. De Felice, L’Italia repubblicana, hrsg. von L. Masella, Turin 2003. Vgl. zudem N. Tranfaglia, La modernità squilibrata. Dalla crisi del centrismo al „compromesso storico“, in: Storia dell’Italia republicana, Bd. 2/2, Turin 1995, S. 7-111. Zur Ohnmacht der Mitte-Links-Regierungen und zum Block der Macht vgl. auch G. Crainz, Il paese mancato, S. 68 ff. Für ein Gesamtbild der Interpretationen zu diesem Abschnitt der italienischen Geschichte vgl. M. Degl’Innocenti, La „grande trasformazione“ e la „svolta“ del centro-sinistra, in: A. Cardini (Hrsg.), Il miracolo economico, S. 249-285. 29 G. Crainz, Il paese mancato, S. 200 ff. 28

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sozialen Strukturen einschließlich der Familienstrukturen rebellierten. Eine Teilantwort auf diesen Zustand der sozialen und politischen Spannung sind in diesen Jahren die Ausweitung der Repräsentativsysteme in den staatlichen Institutionen und ein allgemeiner Prozess der Dezentralisierung von Entscheidungsmechanismen innerhalb der Gesellschaft, auch dank der Resonanz, die die Bewegung von Jugend und Feminismus mit ihrer Kritik am Autoritarismus erhielt. Es entstehen dezentralisierte Kollegialorgane an den Schulen, Arbeitsplätzen und in den Stadtteilen. Das Land erlebte politisch einen deutlichen Linksruck, der allerdings durch politische Spannungen bedroht war, für die der „rote“ wie auch der staatliche Terrorismus in den 1970er Jahren ein subversives Alarmsignal waren. Von entscheidender Bedeutung für diesen Linksruck waren die Stimmen der jüngeren Menschen, die das Stimmrecht mit 18 Jahren erhielten und die fortschreitende Zunahme an Wählern der KP und der anderen politischen Formationen der neuen Linken von 1968 an, die in den politischen Wahlen vom Juni 1976 gipfelten30. In dieser Atmosphäre wird 1970 das Gesetz Nr. 898 zur Einführung der Scheidung verabschiedet. Es basiert auf einem sozialistischen und liberalen Gesetzentwurf, der im Parlament von der KP unterstützt wurde. Sofort am Tag nach der Verabschiedung entstand auf Initiative eines Teils der Partei mit der relativen Mehrheit, der DC, ein Komitee für die Abschaffung des Gesetzes. Trotz der Propagandatätigkeit dieses Komitees fand vier Jahre später am 12. Mai 1974 ein Referendum statt, das mit großer Mehrheit (59%) zur definitiven Niederlage der Front der Ehescheidungsgegner führte. In den 1970er Jahren wurden eine Reihe anderer Gesetze zur Gleichstellung von Frauen in der Familie, am Arbeitsplatz und zum Schutz ihrer Gesundheit verabschiedet. Die bedeutsamsten sind das Gesetz zur Einrichtung eines neuen Familienrechts 1975 und das Gesetz zur Gleichstellung am Arbeitsplatz 197731. Diese Gesetze machten endlich die in der Verfassung verankerten Werte der Gleichheit und Freiheit rechtskräftig. 30 Ebd., S. 217-362, sowie P. Ginsborg, Storia d’Italia dal dopoguerra ad oggi, Turin 1989, S. 404-545. Für eine Analyse der Ausweitung der Repräsentativsysteme vgl. P. Farneti, La democrazia in Italia tra crisi e innovazione, Turin 1978, zu den Änderungen im Wahlverhalten vgl. A. Parisi / G. Pasquino (Hrsg.), Continuità e mutamento elettorale in Italia, Bologna 1977, sowie L. Radi, Il voto dei giovani, Turin 1977, zur Rolle der Parteien der neuen Linken vgl. W. Gambetta, Democrazia proletaria. La nuova sinistra tra piazze e palazzi, Mailand 2010. 31 D. Vincenzi Amato, La famiglia e il diritto, passim. Von 1971 stammte ein neues Gesetz zum Mutterschutz, der zwei Erholungszeiten vorsah; im selben Jahr wurde die Verantwortung für die Kinderbetreuung von den Arbeitgebern auf den Staat und die lokalen Behörden übertragen und der Verfassungsgerichtshof entschied die Unrechtmäßigkeit von Artikel 553 des Strafgesetzbuchs, das diejenigen bestrafte, die zur Propaganda für Verhütungsmittel aufriefen. 1975 wurden die staatlichen Familienberatungsstellen eingerichtet und ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs stellte fest,

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Die in diesen Jahrzehnten verabschiedeten Gesetzentwürfe brachten teilweise Anerkennung der durch die neuen Familien aufgegriffenen sozialen Transformationen, die mit dem Streben nach einer rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen, dem Wert der individuellen Freiheit und mit einer größeren Achtung vor der Privatsphäre der Bürger verbunden waren. Diese Gesetzentwürfe implizierten aber auch ein Gesellschaftsmodell, das seinerseits das auf ein Elternpaar mit Kindern gestützte Familienmodell privilegierte und dabei andererseits die wachsenden Tendenzen zur Bildung alternativer Familienmodelle wie Einpersonenhaushalte (Alleinerziehende, Witwen oder Witwer, Geschiedene oder Ledige sowie alleinstehende Senioren oder junge Singles) oder Patchworkfamilien ignorierte. Es fehlte an einer Familienpolitik, die die nebenstehenden Modelle, die Instabilität der Ehe und die schleichende Überalterung der Gesellschaft berücksichtigte32. Dass außerdem das Risiko bestand, ein mit der sozialen Wirklichkeit nicht mehr ganz konformes Gesetzespaket zu verabschieden, war ein auch den Gesetzgebern wohlbekanntes Problem: Dies war eine Folge der Langsamkeit, mit der Gesetze wie jenes zur Einführung der Scheidung oder das zur Reform des Familienrechts in den beiden Kammern des Parlaments diskutiert und angenommen wurden und auch von der Schnelligkeit der Veränderungen, auf die die Politik Antworten geben musste33. Obwohl also sowohl seitens des Staates als auch der politischen Kräfte, die die neue Familiengesetzgebung und Arbeitsgesetzgebung unterstützten, beträchtlichere Fortschritte im Sinne einer Annahme der neuen gesellschaftlichen und werteorientierten Forderungen gemacht wurden, enthielt die vorgeschlagene Gesetzgebung weiterhin eine starke Diskrepanz in Bezug auf die Pluralität der in der Gesellschaft vorhandenen normativen Orientierungen, was auf der Ebene der sozialen Legitimation vieler solcher Orientierungen eindeutige Folgen hatte. Obschon innerhalb der DC und der katholischen Welt im Laufe der Debatte über die Scheidung Stimmen des offenen Dissenses zur Führungsriege der Partei laut geworden waren, die aus der Frauenbewegung und aus der laizistischen Gruppe kamen, die sich für das „Nein“ beim Referendum ausgesprochen hatte, war die KP, obwohl sie vor allem im langen Wahlkampf gegen das Anti-Scheidungs-Referendum für ein durch die Werte „Freiheit“, „Autonomie“, „Gleichheit“ und „Verantwortlichkeit“ geprägtes dass das Wohl der Mutter, die schon Person ist, wichtiger als das Wohl des Embryos war. Von 1978 stammte schließlich das Gesetz 194 zur freiwilligen Schwangerschaftsunterbrechung. 32 Ähnlich fällt das Urteil von Chiara Saraceno zur staatlichen Familienpolitik aus; vgl. auch zu den neuen Familienmodellen dies., Trent’anni di storia della famiglia italiana, in: Studi Storici, (1979), 4, S. 833-856. 33 St. Rodotà, Invecchia prima di nascere la riforma della famiglia, in: Il Giorno, 22. Dezember 1973.

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Familienmodell gekämpft hatte34, außerdem angetreten für eine Auffassung von Familie für die „Massen der Arbeiter, der Bauern und des Volkes“ und gegen die „Verdrehungen der Familie und ihrer Werte, die die kapitalistische Gesellschaft und die bürgerliche Ideologie nach wie vor ständig hervorbringen“. „Wir sind gegen das Überhandnehmen der Scheidung“, hatte Parteisekretär Enrico Berlinguer in seinem ersten Beitrag nach der Verabschiedung des Gesetzes gesagt, denn, so hatte er hinzugefügt, „für uns Kommunisten bleibt die grundlegende Frage gerade die, die Familie – auf eine den Zeiten angemessene Weise – zu schützen“. Hierfür suchten sie eher das politische Bündnis mit den Sozialisten und, falls möglich, mit „einem ziemlich weiten Teil der katholischen Massen, mit ihren fortschrittlichen sozialen Organisationen und auch mit den weitsichtigsten und dem Neuen gegenüber aufgeschlossensten Kräften der christdemokratischen Partei selbst“ als eines mit den Kräften des „bürgerlichen Laizismus“35. Bei mehreren Gelegenheiten hatte sich die KP explizit von den radikaleren Positionen distanziert, die für eine freiere Gesetzgebung zur Scheidung eintraten. Solche Positionen wurden dagegen durch die liberale Partei der Radicali und durch den italienischen Bund zur Einführung der Scheidung, Lega Italiana per l’Istituzione del Divorzio (LID), den die Radikalen Mitte der 1960er Jahre (1966) gemeinsam mit Vertretern der sozialistischen und der liberalen Partei gegründet hatten, vertreten. Dieselben Positionen wurden im Folgejahrzehnt auch mittels der Botschaften der Jugend- und der Frauenbewegung, die in der Familie und in der „Schutzpolitik“ des Staates Systeme zur Legitimierung autoritärer Werte sahen, die der Befreiung des Individuums im Wege stünden, vermittelt36. Im Verlauf des langen Wahlkampfes für das Referendum verhandelte die KP weiterhin mit Vertretern der DC und mit dem Vatikan, um zu versuchen, eine Wahlkonfrontation zu vermeiden, da sie fürchtete, eine solche könne das 34 Über die KP und die Debatte über das Scheidungsgesetz erlaube ich mir, auf meinen Artikel zu verweisen: Il PCI, il divorzio e il mutamento dei valori, in: Studi Storici, (2014), 1. 35 E. Berlinguer, Divorzio, famiglia, società, in: L’Unità, 6. Dezember 1970, jetzt auch in: ders., La questione comunista, hrsg. von A. Tatò, Bd. 1, Rom 1975, S. 256261. 36 Zur Distanz zwischen den Positionen der politischen Parteien und der Frauenbewegung in Bezug auf einige Themen wie Gleichheit der Frau auf der Arbeit, Mutterschaft, Abtreibung, Familienberatungsstellen und Gewalt gegenüber Frauen vgl. F. Lussana, Il movimento femminista. Die Autorin vertritt die Meinung, dass das herausragende Merkmal des italienischen Feminismus die „Nicht-Integration der Frau in die bestehende ,soziale Ordnung‘ ist, einer Ordnung, die … sie einerseits von ihrer biologischen Rolle durch eine soziale Gesetzgebung emanzipiert, die die Gleichheit der Geschlechter anerkennt, andererseits aber durch ,Vergünstigungen und Maßnahmen‘, die ihr allein vorbehalten sind, ,die Charakteristiken und die Pflichten ihrer weiblichen Rolle‘ bekräftigt“, ebd., S. 34.

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Land auf der sozialen und auf der Ebene der Werte destabilisieren, wobei die KP offensichtlich die Weichenstellungen im Lande falsch einschätzte. Auch für Adriana Seroni, Verantwortliche des zentralen Frauenausschusses der KP, war Anfang der 1970er Jahre das Thema Familie vor allem ein Thema der sozialen Ordnung, das insbesondere mit der Frauenemanzipation und dem gleichen Recht auf Arbeit für Mann und Frau verbunden war; eine Frage, die auch ins Zentrum des Prozesses der Frauenemanzipation gestellt wurde37. Dabei wurden die vielschichtigen Auswirkungen auf der Ebene der Sitten und Bräuche und der Individualisierung der Lebensgestaltung, die durch die allgemeine Transformation der Gesellschaft ausgelöst worden waren, völlig ignoriert. Eine ideologische Auffassung vom Wandel und gleichzeitig die Sorge, die soziale Stabilität des Landes nicht zu gefährden, die mehrfach während des Wahlkampfes zum Scheidungsreferendum geäußert wurde, hielten die KP auf libertären, aber gemäßigten Positionen. „Freiheit“ ist der Begriff, der in den öffentlichen Beiträgen der führenden Persönlichkeiten der Partei am häufigsten auftaucht, die alles in allem aufgeschlossener für den Dialog mit der Regierungspartei waren als für die Positionen der neuen sozialen und zivilen Bewegungen. Der soziale und kulturelle Wandel, der sich in den 1960er und 1970er Jahren in der italienischen Gesellschaft vollzog, hatte demnach die politischen Parteien und den Staat dazu veranlasst, die nötigen Maßnahmen voranzutreiben, um diesen Wandel zu vervollständigen. Dies zeigt sich deutlich an der Entwicklung des kommunistischen Herangehens an die Themen der Familie, die in den Reden des ersten Parteisekretärs der Nachkriegszeit, Palmiro Togliatti, als das auf Zuneigung, Ehrlichkeit und Gleichheit38 grün37 Zur Position von Adriana Seroni vgl. F. Lussana, La questione femminile in Italia 1970-1977, Rom 1977, sowie ihren Beitrag zu der in Rom vom zentralen Frauenausschuss organisierten Tagung mit dem Titel: La battaglia del PCI per la famiglia, in: L’Unità, 17. Februar 1971, S. 6. Vgl. auch die Beiträge von Berlinguer und Seroni zur großen Kundgebung, die die KP für den Frauentag 1974, also kurz vor dem Referendum zur Scheidung, organisiert hatte. Beide Beiträge drehten sich um das Thema Familie. Bei dieser Gelegenheit wurde auch Irnes Cervi, die Mutter der Märtyrer der Resistenza, gebeten, zur Verteidigung der bäuerlichen antifaschistischen Großfamilie zu sprechen, vgl. La grandiosa manifestazione di Roma, in: L’Unità, 9. März 1974, S. 6. Die Rede Berlinguers wurde in der Unità in der Ausgabe des folgenden Tages vollständig abgedruckt (10. März 1974, S. 6). Vgl. zudem für die Haltung der KP zur Familie den Vortrag eines Mitglieds der Parteiführung: P. Bufalini, La posizione dei comunisti sui problemi ideali e politici aperti dalla richiesta del referendum abrogativo della legge sul divorzio, den er am Istituto di Studi Comunisti delle Frattocchie am 26.-27. September 1971 hielt; Kopie in: Fondazione Istituto Antonio Gramsci di Roma, Archivio Camilla Ravera, Serie 4, Documentazione, Sottoserie 6, 1971, Sottoserie 3, Famiglia, Convegno Nazionale Referendum sul Divorzio, 26-27-28-29 settembre 1971. 38 Vgl. P. Togliatti, L’emancipazione femminile, Rom 1973, sowie A. Tiso, I comunisti e la questione femminile, Rom 1976. Für eine Analyse der Widersprüche

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dende „Zentrum der Solidarität“ bezeichnet und nach 20 Jahren in den Reden von Parteisekretär Berlinguer und von Adriana Seroni zum Ort der Freiheit, Gleichheit und wechselseitigen Verantwortung wurde. Dennoch ist es genauso offensichtlich, das der politische und legislative Eingriff des Staates und der in der Gesellschaft besonders stark vertretenen Parteien dazu diente, ein Familien- und Ehemodell auch durch spezielle wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen zu unterstützen und zu legitimieren, das die Perspektive einer normativen Hegemonie nicht ganz und gar hatte abwehren können. Die Weichenstellungen der Maßnahmen in der Gesetzgebung dieser Jahrzehnte wurden in den folgenden Jahrzehnten teilweise sowohl in Bezug auf die Familienpolitik als auch in Fragen der Sitten und Moralvorstellungen der Bürger korrigiert. Dennoch hat es den Anschein, dass die in diesen Jahren verfolgten politischen Richtungen, die nahezu taub gegenüber den Forderungen nach sozialer Legitimation aus einem großen Teil der Zivilgesellschaft waren, de facto dazu beitrugen, auf der Ebene der Werte eine nationale Identität aufrecht zu erhalten39.

zwischen den Modellen der Partei von der Familie und den persönlichen Verhaltensweisen der kommunistischen Aktivisten vgl. D. Pasti, I comunisti e l’amore, in: L’Espresso 1971. Dies ist ein Thema, das eine eigene Abhandlung verdienen würde. 39 Auf die Idee von der verpassten Chance in Hinsicht auf einige im Laufe der Transformationen der 1970er Jahre sichtbar gewordenen Werte wie die Teilhabe und die kollektive Dimension der Politik sowie die Freiheit legt Giovanni Moro besonderen Nachdruck: G. Moro, Gli Anni Settanta, Turin 2007.

Die Stämme der Sehnsucht: Individualisierung und politische Krise im Italien der 1970er Jahre* Von Massimiliano Livi

I. Im ersten Teil seines brillanten Aufsatzes von 2007 über die 1970er Jahre zählt Giovanni Moro die wichtigsten Koordinaten auf, durch die man die zeitlichen Grenzen eines „Jahrzehnts“ ziehen kann, die auch aus Sicht des Historikers Zustimmung finden. Sie werden als „ein[en] Moment des tiefgreifenden Übergangs“, als „eine Art Angelpunkt, um den herum [Italien] (und nicht nur Italien) eine große Wende vollführte“ definiert1. Den Beginn und das Ende des Jahrzehnts markieren sowohl tragische symbolisch-politische Ereignisse wie der Bombenanschlag auf der Piazza Fontana in Mailand im Dezember 1969 oder der Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna im August 1980 als auch das Ende des „Zyklus der Hegemonie“ der italienischen PCI im politischen Leben Italiens, in der Zeit zwischen der Krise der Mitte-Links-Regierungen von 1969 und dem Ende der Regierungen der Nationalen Solidarität 1980. Nicht weniger wichtig ist für Moro die wirtschaftliche und soziale Perspektive: Zwischen dem „heißen Herbst“ 1969 und dem sogenannten „Marsch der Vierzigtausend“ FiatBeschäftigten in Turin (14. Oktober 1980) wandelte sich die Rolle und vor allem das politische Gewicht der Arbeiter ganz entscheidend2. Die konzeptuelle und nicht nur zeitliche Systematisierung der Veränderung führte Moro mit einer Reihe von „Schlüsselwörtern“ durch, die er auswählte, um herauszustellen, dass man in diesem Zusammenhang über die rein wirtschaftliche und politische Dimension hinausblicken und so das Zusammenspiel *

Aus dem Italienischen von Hedwig Rosenmöller. G. Moro, Anni Settanta, Turin 2007, S. 30. 2 Ebd., S. 28. In Bezug auf die Entwicklungskurve der Fokussierung auf die Arbeiterklasse vgl. das Kapitel „Centralità operaia“ in: G. De Luna, Le ragioni di un decennio. 1969-1979, militanza, violenza, sconfitta, memoria, Mailand 2009, S. 114127. In dem Buch werden viele Anregungen aus Moros Aufsatz aufgegriffen und weiterentwickelt. 1

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mehrerer Elemente erkennen muss3. Die Schlüsselwörter dienen dazu, die Jahre zu umschreiben, die für Moro „definitiv mit dem vorherigen Rahmen“ brachen und dann tatsächlich tiefgreifende und dauerhafte Auswirkungen auf die politische Kultur Italiens hatten4. Es waren nämlich die Jahre der Reformen des Wohlfahrtssystems, der Ausweitung der Rechte der Arbeiter durch das neue Arbeiterstatut und der Einführung neuer Regelungen für Tarifverhandlungen und Streiks. Die 1970er Jahre waren außerdem die Jahre, in denen sich die Bürgerrechte und die politischen Rechte der Italiener ausweiteten: durch die Einführung des Scheidungsrechts, der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen, des neuen Familienrechts sowie neuer Praktiken der demokratischen Teilhabe, zum Beispiel in den neuen gewählten Gremien an Schulen und Universitäten. Letztere waren das Symbol einer Forderung von unten, die darauf zielte, den „Wahlversammlungen“ eine stärkere „zentrale Rolle als Ort der Repräsentanz des ganzen Landes“ zu geben5. Nicht weniger wichtig waren in diesem Sinn auch die Einführung neuer Strukturen der Dezentralisierung der Verwaltung und vor allem die Einrichtung der Regionen. Mit seinen Schlüsselwörtern hebt Moro hervor, dass die 1970er Jahre nicht nur das Jahrzehnt darstellten, in dem die Freiheit „schließlich zu etwas wurde, das mehr als nur ein abstrakter Wert war“6; es waren auch die Jahre einer allgemeinen und sehr realen Krise, die die Strukturen der Moderne betraf (und diese manchmal umstürzte), nämlich „den Staat, die Politik, die Wirtschaft, die soziale Ordnung, die Kultur und ihre Einrichtungen, die Religion und ihre Kirchen, die internationale Gemeinschaft“7. Moro beschreibt die Krise als eine Blockierung der Mechanismen, die „bis zu jenem Moment eine vielleicht chaotische, aber stürmische Entwicklung garantiert hatten und die plötzlich

3 Die von Moro gewählten Schlüsselwörter sind: Reformen, Teilhabe, Autonomie, Akteure, Glaubensrichtungen, Freiheit, Kommunikation, Gewalt und Krise, G. Moro, Anni Settanta, S. 31. 4 G. Crainz, Autobiografia di una Repubblica. Le radici dell’Italia attuale, Rom 2009, S. 71. 5 Moro erinnert daran, dass gerade an den ersten Wahlen für die Schulgremien etwa neun Millionen Menschen teilnahmen, G. Moro, Anni Settanta, S. 33-34. 6 Ebd., S. 45. 7 Der Krise der 1970er Jahre war im November/Dezember 2001 eine Tagungsreihe in Rom gewidmet, deren Tagungsband in der gleichnamigen Sammlung von vier Themenbänden erschien: L’Italia repubblicana nella crisi degli anni Settanta. Atti del ciclo di Convegni, Roma, novembre e dicembre 2001, Catanzaro 2003. Eine hervorragende Erkundung der geschichtswissenschaftlichen Lesarten der Krise wird in Bd. 2 geboten: M.L. Boccia, Il patriarca, la donna, il giovane. La stagione dei movimenti nella crisi italiana, in: F. Lussana / G. Marramao (Hrsg.), L’Italia repubblicana nella crisi degli anni Settanta: Culture, nuovi soggetti, identità, Soveria Mannelli 2003, S. 255-258.

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nicht mehr funktionierten“8. Folgerichtig erläutert er im restlichen Teil des Werkes die Auswirkungen des wiedersprüchlichen Entwicklungsprozesses im Land in den vorangegangenen anderthalb Jahrzehnten – ein Prozess, dem es allerdings weder gelungen war, die alten Machtstrukturen in den Fabriken, an den Schulen oder in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu verändern, noch die bestehende starke soziale Ungerechtigkeit zu glätten. Somit wird herausgestellt, dass die Krise der 1970er Jahre den Blackout eines politischen Systems bedeutet, das nicht mehr imstande war, „den Geboten der Verfassung Aktualität und Effektivität“ zu verleihen9. Das von Moro entworfene Bild10 legt den Schwerpunkt eher auf die Beschreibung der Phänomene als auf die Untersuchung der Ursachen der Distanz zwischen Bürgern und Staat oder auf die Gründe der sozialen Konflikte der 1970er Jahre. Beispielsweise bleibt die Frage nach der Bedeutung der progressiven konsumorientierten Individualisierung für die Strukturkrise der 1970er Jahre offen. Als Ergänzung und nicht als Gegenentwurf zu Moros Ausführungen soll der vorliegende Beitrag die Untersuchungsperspektive auf die Strukturkrise der 1970er Jahre differenzieren, indem die Rolle des veränderten Verhältnisses des Individuums zur Moderne überprüft wird; letztere verstanden als die Gesamtheit der eindeutige Normen und Instanzen, die die Welt seit der Aufklärung in ihrem blockierten Mechanismen und Aufbau – um auf Moros Terminologie zurückzukommen – geordnet haben. Die Ausgangshypothese besagt, dass der Blackout des politischen und sozialen Systems, der in Italien zwischen 1976 und 1978 stattfand, auch eine Auswirkung der offensichtlichen und unumkehrbaren Unfähigkeiten der Strukturen war, auf die sich der republikanische Staat gegründet hatte. Diese waren die Unfähigkeit, sich den neuen individualisierten Bedürfnissen der Bürger zu stellen und mit dem veränderten Gemeinschaftsgefühl in der italienischen Gesellschaft umzugehen sowie die Unfähigkeit, die neuen individuellen Lebensstile, die sich an einer größeren „Freiheit von Konventionen, Riten, Gebräuchen und Institutionen“ ausrichteten, zu berüchsichtigen11.

G. Moro, Anni Settanta, S. 49. Ebd., S. 50. 10 Für weitere Interpretationen und Untersuchungen über diese Zeit, vgl. zum Beispiel, um nur einige zu nennen, noch einmal G. Crainz, Autobiografia, aber auch M. Salvati, Cittadini e governanti. La leadership nella storia dell‘Italia contemporanea, Rom / Bari 1997; S. Lanaro, Storia dell’Italia repubblicana. L’economia, la politica, la cultura, la società dal dopoguerra agli anni ’90, Venedig 2001; M. Salvati, Democrazia e partiti nell’Italia repubblicana, in: Ricerche di storia politica (2010), 13, pp. 197-205. 11 G. Moro, Anni Settanta, S. 44. 8 9

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II. In der italienischen „Parteienrepublik“ hatten die wichtigsten Parteien Democrazia Cristiana (DC) und Partito Comunista Italiano (PCI) Mühe, sich mit den kulturellen Transformationen auf individueller Ebene zurechtzufinden, welche sowohl die katholische Welt als auch die gesamte marxistische Gruppierung erfasst hatten. Nicht nur die Parteien, sondern auch die intellektuelle Welt im Allgemeinen reagierte mit Desorientierung und manchmal mit Gleichgültigkeit auf das Emporkommen der neuen Konsumkultur, wobei man sich hauptsächlich um den Untergang der bäuerlichen und vorindustriellen Kultur Sorgen machte12. Also hatte man Mühe, die doppelte Natur des Individualisierungsprozesses zu dechiffrieren. Dieser wurde hierzu als eine Vervielfachung der Möglichkeiten und Lebensstile aufgefasst13, die nur scheinbar im Widerspruch zum gleichzeitigen Prozess der (vor allem kulturellen) Vermassung der Italiener infolge ihrer Entwicklung zu Konsumenten steht. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Beobachtungen Adornos zur Liquidation des „freien und selbstbestimmten“ Individuums als Ergebnis der Entwicklung der sozialen Vorherrschaft des Kapitalismus in seinem letzten Stadium noch aktuell waren14, war Pier Paolo Pasolini einer der ersten, der in Italien die epochale Tragweite dieser Transformationsprozesse kommentierte und vor allem die Wechselbeziehung zwischen dem Individualisierungsprozess und der Bildung einer neuen Konsumidentität erkannte. Im Sommer 1974, also einige Jahre vor den Untersuchungen von Beck, Bauman und Giddens15, veröffentlichte Pasolini eine Reihe von Reflexionen in italienischen Tageszeitungen16. Dort hinterfragte er politisch und intellektuell die Auswirkungen des Individualisierungsprozesses, der von den durch die Konsumgesellschaft bewirkten Transformationen ausgelöst worden war, in einem Kontext, in dem A. Di Michele, Storia dell’Italia repubblicana. 1948-2008, Mailand 2008, S. 133. U. Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: R. Kreckel (Hrsg.) Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband 2), 1983, S. 35-74; vgl. auch die Überlegungen Becks zu seinen eigenen Theorien 25 Jahre nach ihrer Veröffentlichung in: U. Beck, Jenseits von Klasse und Nation: Individualisierung und Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten, in: „Soziale Welt“, 59 (2008), S. 301-325; vgl. auch Anm. 82. 14 Vgl. T. Bonacker, Ohne Angst verschieden sein können. Individualität in der integralen Gesellschaft, in: D. Auer / T. Bonacker / S. Müller-Dohm (Hrsg.), Die Gesellschaftstheorie Adornos. Themen und Grundbegriffe, Darmstadt 1998, S. 117-143. 15 A. Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Redwood City CA 1991. Zu Beck und Bauman vgl. andere Passagen des vorliegenden Texts. 16 Später gesammelt in: P.P. Pasolini, Freibeuterschriften. Die Zerstörung des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, hrsg. von P. Kammerer, Berlin 2011. 12 13

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der Übergang von der vorindustriellen bäuerlichen Gesellschaft zur Industriegesellschaft zum Offenbarwerden des Endes dieser Industriegesellschaft und damit zu einer inneren Krise der gerade postindustriell werdenden Moderne hinzutrat. Obwohl er in seiner Analyse der Transformationen des Kapitalismus teilweise die Moderne mit der Modernisierung vermengt, betreffen die von Pasolini in seinen „Freibeuterschriften“ in Echtzeit erfassten Auswirkungen denselben rasend schnellen Wandel, den Eric Hobsbawm später mit einem „Erdrutsch“ verglich. Die Rede ist von der allgemeinen Krise der Sozialsysteme, vom demographischen Wandel, von der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und von der Auflösung traditioneller Familienmodelle17. In den zitierten Artikeln beschränkt sich die Analyse Pasolinis jedoch nicht auf die Veränderungen sozioökonomischer Art; vielmehr setzt er sie zu den Veränderungen in Kultur und Mentalität in Bezug, die für ihn eine sehr viel tiefere Zäsur gegenüber der Vergangenheit darstellen, sodass er diese Veränderungen als eine regelrechte anthropologische Mutation der Italiener bezeichnet, deren Auswirkungen erst einige Jahre später offensichtlich sein würden18. Während für Pasolini andere Länder schon die Veränderungen erlebt und verarbeitet hatten, welche die Reformation, die Französische Revolution und die Industrielle Revolution mit sich gebracht hatten, war Italien hingegen höchstens marginal von der graduellen Entwicklung einer modernen Identität berührt gewesen; und erst in der Nachkriegszeit waren die Italiener von einer Blitz-Modernisierung überrollt worden, die eine im Wesentlichen bäuerliche und katholische Gesellschaft in ein konsumzentriertes System katapultiert hatte: „Die … ‚Entwicklung‘ tritt historisch als eine Art Aufhebung der alten Zeit auf und hat in wenigen Jahren das gesamte Leben in Italien radikal ‚umgeformt‘ … denn es handelt sich um den Übergang einer Kultur, die aus dem Analphabetismus des Volks und einem abgehalfterten Humanismus der Mittelschichten bestand und durch eine archaische kulturelle Ordnung zusammengehalten wurde, zum modernen System der ‚Massenkultur‘“19.

17 E. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995. 18 Ein erster Beitrag im „Corriere della Sera“ stammt vom 10. Juni 1974: Gli italiani non sono più quelli, erneut veröffentlicht in: ders., Scritti corsari: Studio sulla rivoluzione antropologica in Italia; ein weiterer im „Corriere della Sera“ erschienener Artikel vom 24. Juni 1974: ders., Il Potere senza volto, wieder veröffentlicht als: Il vero fascismo e quindi il vero antifascismo, in: ders., Scritti corsari, S. 45-50. Ein dritter Artikel ist ein Interview, das Guido Vergani am 11. Juli desselben Jahres in: Il Mondo veröffentlichte: Ampliamento del „bozzetto“ sulla rivoluzione antropologica in Italia (unter demselben Titel in: Scritti corsari, S. 69-70). 19 P.P. Pasolini, Gli italiani non sono più quelli, in: Corriere della Sera, 10. Juni 1974; Übersetzung in P.P. Pasolini, Freibeuterschriften, S. 49.

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Obgleich der Faschismus eine autoritäre Modernisierung Italiens herbeigeführt hatte, die vor allem aus den Elementen Nationalismus und Mobilisierung der Massen von oben bestand, hatte er aber weder die Lebensweisen noch die Wertmaßstäbe derer geändert (und es lag auch nicht in seiner Absicht), die in den vielen ländlichen Gemeinden, aus denen Italien bestand, für Innovation wenig aufgeschlossen waren und auf jeden Fall weit entfernt blieben von den modernisierenden Auswirkungen einer Industrialisierung, die sich seit Beginn der liberalen Staatsform in Grenzen gehalten hatte. Weiterhin nach dem Krieg konnte der Materialismus des American way of life, wie Pietro Scoppola bemerkte, in Italien nicht voll und ganz Fuß fassen, sondern nur den „äußeren Formen nach und nicht in der tieferen Inspiration“20, wobei er sich mit der allzu tief verwurzelten familistischen Tradition einer Kultur mischte, für die Armut alles in allem noch ein Wert und ein Lebensstil war21. Die Konvergenz des katholischen Wohlfahrtssystems und der gewerkschaftlichen Klassentheorie italienisierte zudem ein Lebensmodell, das auf individuellem Verantwortungssinn, auf Risiko und Wettbewerb basierte, zugunsten eines immer körperschaftlicheren und zunehmend auf Konkordanzdemokratie beruhenden Systems22. Die Idee von einem Markt ohne Regeln und die Konsummentalität drangen erst in den Jahren nach dem Boom in Italien endgültig vor: Sie erodierten dabei auch alte und neue Kulturen wie die katholische und die marxistische23 und schufen einen ganz besonderen italienischen Kontext, in dem die Anpassung an die Standards der anderen Länder der neugeschaffenen G6 zum Abschluss kam, als überall in der westlichen Welt diese Idee in die Krise geriet oder bereits in der Krise war24. 20 P. Scoppola, La repubblica dei partiti. Evoluzione e crisi di un sistema politico, 1945-1996, Bologna 1991, S. 318-320; er betont, dass die Verbreitung des amerikanischen Modells „nicht ohne Kontraste und tiefe Widerstände geschieht: die Beziehung zu Amerika ist ständig die einer Hass-Liebe. Die Befreiung selbst hat die Stärke dieser Gefühle hervorgehoben“. 21 G. Crainz, Autobiografia, S. 77. 22 Eugenio Scalfari kommentierte, dass „der Reichtum des Booms nicht verwendet wurde, um eine gerechte, zivilisierte und wohlhabende Gesellschaft zu errichten, sondern für ein großes Fressen gebraucht wurde, in dessen Verlauf alle Werte verloren gingen, alle Regeln mit Füßen getreten wurden und die Beziehungen verrohten“; zitiert nach G. Crainz, Autobiografia, S. 74. 23 P. Scoppola, La repubblica dei partiti, S. 318-323. 24 Eine Anpassung, die auf politisch-institutioneller Ebene erst im Verlauf des langen Übergangs der 1990er Jahre von Statten ging, als „mit dem Zusammenbruch des politischen und institutionellen Systems der Republik für Italien die Bedingungen geschaffen wurden, endlich Schritt zu halten mit den Entwicklungen und den damit verbundenen Problemen der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften“, M.L. Boccia, Il patriarca, S. 255.

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Pasolini stellt diese erfolgte Transformation fest und trauert dabei weder der von ihm so bezeichneten vornationalen und vorindustriellen Phase Italiens nach, noch dem Untergang der traditionellen Werte des „guten alten“ Italiens (von Italo Calvino, der Pasolini des antimodernen Anachronismus beschuldigte, als „Italietta“ missbilligt)25. Stattdessen warnt Pasolini die Italiener, die in einer komplexen Phase der Moderne „modern“ geworden waren, vor einem Prozess der Vervielfachung der Lebensstile, der sich in Wirklichkeit hinter der falschen Emanzipation des individualisierten Zugangs zu den Produkten des Marktes alle Fallstricke der Standardisierung der Sprachen, Vorlieben, Verhaltensweisen und vor allem Entscheidungen verberge. Der Konsumismus zerstöre den individuellen Charakter, die partikularistischen Kulturen würden verleugnet, die Sprachen konventionalisiert und verarmten. Belegt wird dies durch das Entschwinden der Dialekte „in Zeit und Raum“26. Für Pasolini degeneriert dadurch jede Art von Sprache und somit auch die Semiotik des Körpers, des Seins. Die Vielfalt, die Unterschiedlichkeit der Handlungsweisen, Gesten, Lebensstile oder vielmehr Existenzweisen, die es doch gegeben hatte, verschwinde: „Die Angleichung … erfolgt vor allem im Gelebten, in der Existenzweise, infolgedessen im Körper und im Verhalten. Hier werden bereits die Werte der neuen Kultur der Konsumzivilisation gelebt“27.

Diese Verarmung beobachtete er mit besonderer Sorge in der Jugend, die sich mehr als die anderen Generationen in ihrer persönlichen Suche nach Diversifizierung auf die Errichtung einer gleichmachenden Subkultur zubewegt habe. Berühmt ist in diesem Sinn Pasolinis Invektive gegen „lange Haare“, die 1966/67 noch zu verteidigen waren, weil sie durch die „Sprache der äußeren Erscheinung“ die Ablehnung einer Norm kommunizierten, die sie schwerlich „so artikuliert“ in der verbalen Sprache hätten ausdrücken können; dagegen nach 1968, als ihre Verbreitung auch durch die Massenmedien transportiert wird, war „die körperliche Präsenz der Haare … in gewisser Weise zum bloßen

25 Obwohl selbst die PCI eine unabwendbare Verbürgerlichung der Massen infolge der laufenden Modernisierung fürchtete, kritisierte Italo Calvino Pasolini hart, weil dieser nur die negativen Aspekte der Modernisierung herausstellen wollte (Wertewandel und vor allem Standardisierung) und damit bürgerliche Thesen vertrat, dieselben, die zum Beispiel, von der laizistischen intellektuellen Gruppe Il Mondo vertreten wurden. Seinerseits glaubte Calvino nicht, dass die Werte der Italiener sich verändert hätten, sondern vielmehr die Art, sie zu leben; und sie hätten sich zusammen mit dem Wandel beispielsweise der kulturellen Geographie Italiens geändert; vgl. G. Crainz, Autobiografia, S. 76. 26 P.P. Pasolini, Lettera aperta a Italo Calvino, in: Paese Sera, 8. Juli 1974. 27 In: P.P. Pasolini, Freibeuterschriften, S. 56.

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Unterscheidungsmerkmal entwertet“28. Sie drückten „in ihrer Wortlosigkeit“ nicht mehr „ein ‚Etwas‘ von linken Inhalten aus“, sondern einfach die Zugehörigkeit zu einer Jugendkultur, die politisch nicht klar umrissen war: „Die herrschende Subkultur hat die oppositionelle Subkultur aufgesogen und sich angeeignet“29. Haare waren für Pasolini also, unabhängig von den Intentionen, zu einem Symbol der grundsätzlichen Angleichung der neuen Generationen geworden, so sehr, dass auch die Werbung inzwischen den Langhaarigen als unverzichtbaren jugendlichen Stereotyp verwendete30. Obgleich Pasolinis Analyse der individualistischen Transformation den erklärtermaßen politischen Zweck einer Konsumkritik hatte, bieten seine Beobachtungen Gedankenanregungen – um auf den Kern des Themas des vorliegenden Beitrags zurückzukommen – zu einigen der wichtigsten Auswirkungen des Prozesses der konsumorientierten Individualisierung auf die italienische Gesellschaft. Die erste Auswirkung lag darin, dass dieser Prozess dazu beitrug, die Krise der wichtigsten normativen Akteure auszulösen (für Pasolini: die Parteien, das Heer, die Großindustrie, aber auch die Kirche, die Familie, die Schule), die von der „Entwicklung“ überrollt wurden oder durch den Konsumprozess in ihrer Funktion als Instanzen zur Setzung maßgeblicher gesellschaftlicher Werte ersetzt wurden. Daraus ergab sich für Pasolini eine neue Form der Macht, die nicht mehr die propagandistische Rhetorik der traditionellen Instanzen ausnutzte31, die darauf abzielten, die primären Bedürfnisse der Italiener zu befriedigen, sondern die Verführung des neuen Wohlstands dazu gebrauchte, künstliche Bedürfnisse zu wecken und durch diese das Individuum zu kontrollieren32. Der Konsumismus, der eine Massenkultur mit ganz „eigenen inneren Gesetzen und einer ideologischen Selbstgenügsamkeit“ hervorbrachte, zeichnete sich nicht so sehr dadurch aus, dass er die Individuen befreite (beispielsweise durch die Eroberung neuer bürgerlicher Freiheiten), sondern vielmehr dadurch, dass er sowohl den Arbeiter als auch den Bürgerlichen dazu brachte, traditionelle kulturelle Bezugsrahmen aufzugeben, was beide zu einem gleichmacherischen Konformismus drängte33.

In: P.P. Pasolini, Freibeuterschriften, S. 22 f. Ebd., S. 23-25. 30 Ders., Contro i capelli lunghi, in: Corriere della Sera, 7. Januar 1973. 31 Chiesa, Patria, Famiglia e altre ubbìe affini, in: P.P. Pasolini, Gli italiani. 32 In diesem Sinn interpretiert er auch die neue (und falsche) sexuelle Permissivität; P.P. Pasolini, Non avere paura di avere un cuore, in: Corrriere della Sera, 1. März 1975. 33 „Kein Mensch musste jemals so normal und konformistisch sein wie der Konsument“; zitiert aus einem Interview Pasolinis von 1975, das in Italien zum ersten Mal 28 29

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Hierzu passt Pasolinis Beispiel zu einem bedeutsamen Vorgang der neueren Zeitgeschichte Italiens perfekt: dem Referendum zur Scheidung vom 12. Mai 1974. Das Referendum bedeutete ganz sicher eine Eroberung neuer Bürgerrechte, und aus heutiger Sicht war es vielleicht die wichtigste Schlacht, die die italienische Zivilgesellschaft für ihre Rechte schlug, vor allem wegen der Kraft der Mobilisierung, die sie dabei erlebte. Für Pasolini, der sich offen für das von einigen Sozialisten und von den Radicali unterstützte Referendum ausgesprochen hatte34, hatten die Italiener (und vor allem die katholischen Mittelschichten) mit ihrem „Nein“ zur Abschaffung des Gesetzes, das die Scheidung in Italien eingeführt hatte, nicht nur gezeigt, dass sie „unendlich fortschrittlicher“ waren als der Vatikan und die PCI dachten35, sondern vor allem, dass sie sich einem neuen kulturellen Modell angepasst bzw. angeglichen hatten. Dieses beruhte auf neuen individualistischen und hedonistischen Werten, die nach den zuvor geltenden Grundsätzen hätten den Italienern nicht gehören dürfen36. Nach seiner Lesart hatte das Referendum nämlich nicht den Sieg des weltlichen und säkularisierten Denkens sanktioniert, sondern zeigte vielmehr, dass die bürgerliche Kultur Italiens jene Grundwerte hinter sich ließ, die schon die Eckpfeiler des Faschismus gewesen waren (Gott, Familie, Vaterland und Heer). Daraus ergibt sich die zweite Auswirkung des konsumorientierten Individualisierungsprozesses: das Ende der traditionellen Geisteshaltungen und der Gesamtheit der mit ihnen verbundenen Werte und Verhaltenscodes, auf die sich die moderne Gesellschaft stützte. Auch diese werden von der „konsumorientierten Entwicklung“ überrollt, die jede Art von Zugehörigkeit neu mischt (zum Beispiel die Klassenzugehörigkeit), die traditionellen Bindungen, Codes und festgeschriebenen Regeln lockert, auf die die Individuen in den zwei vorangegangenen Jahrhunderten geblickt haben, bis sie diese vollkommen zu Fall bringt37.

vom Espresso veröffentlicht wurde: Così Pasolini previde l’Italia di B., in: l’Espresso, 16. Dezember 2011, S. 110-116. 34 Zum Geschehen rund um die Scheidung in Italien vgl. G. Scirè, Il divorzio in Italia. Partiti, Chiesa, società civile dalla legge al referendum (1965-1974), Mailand 2007, S. 163. 35 Der Vatikan war dagegen und die PCI bis zum Schluss unentschlossen, welche Position vertreten werden sollte, vgl. ebd., S. 164. 36 Eine individualistische Interpretation des Votums des Referendums wurde wenige Jahre später in der politikwissenschaftlichen Analyse wieder aufgegriffen in R. Mannheimer / G. Micheli / F. Zajczyk, Mutamento sociale e comportamento elettorale. II caso del referendum sul divorzio, Mailand 1978. 37 „What the idea of individualization carries is the emancipation of the individual from the ascribed, inherited and inborn determination of his or her social character“, Z. Bauman, Identity in the Globalizing World, in: H.S. Shapiro / D. E. Purpel (Hrsg.),

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Was Pasolini im Sommer 1974 beobachtete und kommentierte, finden wir zwei Jahrzehnte später im Werk von Zygmunt Bauman in seinen Reflexionen zu (Post-)Moderne und Konsumismus formalisiert und auf theoretischer Ebene erweitert. Bauman sieht in der Transformation der Bürger von Produzenten zu Konsumenten den Moment, in dem die Moderne und ihr Projekt der vernunftorientierten Herrschaft aus den Angeln gehoben wurden und von einer Phase der Deregulierung und Flexibilisierung der sozialen Beziehungen abgelöst wurde, eine neue Phase, die das Individuum ins Zentrum ihrer Entwicklung rückte38. Das Ende der marxistischen These, nach der die Klassenzugehörigkeit die Grundkoordinaten der Identität bereitstellt39, bringt eine Vielfalt neuer Bezüge für Normen und Werte und einen Machtpluralismus hervor, wodurch der individuellen Entscheidung eine zentrale Rolle verliehen wird40. Obwohl „one’s place in society no longer comes as a gift … and the determination of social standing is replaced with a compulsive and obligatory self-determination“41, bedeutet die daraus folgende Fragmentierung der Identitäten dennoch nicht die totale Atomisierung des Individuums. Im Gegenteil, trotz der Möglichkeit des „shop around in the supermarket of identities“, fügen sich die Identitäten zu neuen Gemeinschaften, zu neuen „tribalen“ Gruppen zusammen, weil der Konsumismus dazu neigt, Begehrlichkeiten zu individualisieren, sie dabei aber gleichzeitig zu standardisieren sowie neue, wenngleich ebenfalls flüssige Verhaltensmuster zu schaffen, die viel gemein haben mit der Wahl neuer gemeinsamer Lebensstrategien42. Critical Social Issues in American Education. Democracy and Meaning in a Globalizing World, London 2005, S. 446. 38 Z. Bauman, Postmodern Ethics, Oxford 1993; ders., Postmodernity and its Discontents, Cambridge 1997; P. Beilharz (Hrsg.), The Bauman Reader, Oxford 2000. 39 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Frankfurt a.M. 1965. Man beachte die Reflexion in: C. El-Ojeili / P. Hayden, Critical Theories of Globalization, Basingstoke 2006, S. 150. In dieser Hinsicht interessant ist auch die von Carla Lonzi unmittelbar nach dem Sessantotto angestellte Reflexion zur Ablehnung der traditionellen Identitäten und Rollen innerhalb der Klassen. Wenn man Lonzis Überlegungen auf das folgende Jahrzehnt überträgt und sie auch auf die Jugend anwendet, zeigen sie mit größerer Evidenz, dass eine solche Ablehnung – ob sie nun vonseiten der Frauen oder vonseiten einer Generation stammt – nicht bedeutet, dass man Marx ablehnt in der These von einem auf die Beziehungen zwischen den Klassen gegründeten Konflikt, sondern die Bedeutung liegt darin, dass man quer durch die Klassen das patriarchale System der Reproduktion von Identitäten und Rollen ablehnt, vgl. C. Lonzi, Sputiamo su Hegel, Mailand 1982, S. 24-57. 40 Vgl. Z. Bauman, Il viaggio non finisce mai: Zygmunt Bauman parla con Peter Beilharz, in: ders., Globalizzazione e glocalizzazione, Rom 2005, S. 379. 41 Z. Bauman, Identity, S. 447. 42 Ders., Liquid Modernity, Cambridge 2000, S. 82-88. Vgl. auch weiter unten die Verweise auf Michel Maffesoli und Bernard Cova zu den postmodernen Stämmen und zur Entdifferenzierungsthese, vgl. Anm. 84 und 85.

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Es ist eine Krise innerhalb der Moderne, die für Bauman den Beginn einer neuen Phase der Moderne oder den Übergang zu einer „flüssigen Moderne“ kennzeichnet, in der die Klassenverhältnisse, die Vorherrschaft der Wirtschaftswelt und der anderen „festen“ Strukturen der traditionellen Moderne an Bedeutung verlieren43. In Bezug auf den Individualisierungsprozess wird die Rationalität der – wenn man so will – „festen Moderne“, also der Fortschrittsglaube, ersetzt durch die Konsumverführung, die, indem sie Sehnsüchte weckt, die Hebel der Subjektivität und damit der Autonomie in Bewegung setzt. Der Konsum ist das Element, das die Norm zum Wegfallen bringt, weil er von der Verführung, vom Verlangen und nicht von einer Vernunftentscheidung geleitet ist, wie sie sich (noch) für die Strukturen der früheren Moderne gehört44. III. Obwohl sie sich auf zwei unterschiedlichen Argumentationsebenen bewegen, bieten die Beobachtungen von Bauman und Pasolini zu den Transformationen der Moderne und zu den Auswirkungen des Wandels auf der Ebene des Individuums wichtige Anregungen zur Reflexion und, zumindest teilweise, zur Überprüfung der Hypothese, von der der vorliegende Beitrag ausgeht. Sie eröffnen eine Interpretationsperspektive zu den Dynamiken innerhalb der Individualisierungsprozesse (und untergeordnet auch der Pluralisierung und der Entnormativierung) im italienischen Kontext zwischen den 1960er und den 1970er Jahren. Die Überprüfung des Einflusses dieser Prozesse und ihrer Auswirkungen auf die Entwicklung der politischen Krise, die ihren Höhepunkt Ende der 1970er Jahre erreichte, erfordert dagegen eine weitere und gründlichere empirische Untersuchung. Hierzu ist ein kurzer Exkurs über die geschichtswissenschaftliche Methode notwendig. Die Transformationen, die aus den Diversifizierungsprozessen der Lebensstile und der individuellen Biographien resultieren, zwingen uns nämlich, die Idee zu überwinden, die Geschichte sei ein einheitlicher und fortschreitender Ablauf von Ereignissen45, in dem die Identitäten sich nach dem modernen Prinzip des „needing to become what one is“46 formen. Im Gegenteil machen es diese Transformationen notwendig, die historische Narration in Relation zu setzen sowohl zur Spezialisierung der Lebenssphären als 43 Vgl. in diesem Sinn das Gesamtwerk Baumans seit 2000, nach der Veröffentlichung von „Liquid modernity“. 44 Vgl. G. Deleuze / F. Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Frankfurt a.M. 1977. 45 Vgl. G. Vattimo, Die transparente Gesellschaft, Wien 2011, S. 8. 46 Z. Bauman, Identity, S. 447.

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auch zur (auch asynchronen) Entwicklung von Strategien und Handlungsweisen zur Umsetzung von Wünschen durch Gruppen und Untergruppen, die aus der Umgestaltung der vielfältigen individuellen Semantiken entstanden sind. Aus diesem Grunde werden wir im Folgenden die Untersuchung auf die Jugend konzentrieren, die als kollektiver Akteur aufgefasst wird, der mehr als jeder andere Ende der 1970er Jahre (und vor allem im „Schicksalsjahr“ 1977) die Sprengkraft der erfolgten Veränderungen in der Art der Selbstwahrnehmung und des Umgangs mit der Welt offensichtlich machte47. Der kollektive Akteur „Jugend“ wandelt sich Ende der 1960er Jahre insofern, als dass sowohl innerhalb der Familie und der Schule als auch in anderen Erziehungseinrichtungen (wie zum Beispiel – wenn auch in eingeschränkterem Maß – in den Parteien und sogar in der nachkonziliaren Kirche) das vertikale, traditionelle und auf Pflichtwerte zentrierte pädagogische Modell (Leben in der Familie, Arbeit schon in jungen Jahren, Erfolg in der Schule)48 obsolet geworden war – ein Modell, nach dem Jugendliche erzogen wurden, die die mentalen Gewohnheiten, Werte und die mit ihnen verbundenen Verhaltenscodes achteten, die sie erben sollten49. Infolgedessen begannen die jungen Leute, die Besonderheit ihres Lebensalters in den Vordergrund zu rücken und eine Identität als Jugend zu determinieren, die quer zu den klassischen Kategorien der Identitätsbildung wie Nationalität, Klasse oder politische Zugehörigkeit verlief50. Beginnend in den 1960er Jahren brachen die jungen Leute ihre „Ausbildung zum Erwachsenwerden“ ab und wurden zu einem neuen sozialen Akteur auf der Suche nach einer eigenen Identität. Sie ließen davon ab, ihre Identität in den traditionellen kulturellen Koordinaten anzulegen und definierten sie stattdessen durch ihre Stellung im biologischen Lebenszyklus. Die Jugendlichen begannen ihre eigene Identität, und das war ein absolutes Novum, mittels der autonomen Nutzung neuer Handels- und Kulturgüter, neuer Moden und neuer Kommunikationsstile (Musik, Kleidung, Reisen usw.) zu bestimmen. Indem sie sich aus den traditionellen kulturellen Rahmenbedingungen befreiten und durch ihre Nutzung der Konsumgüter waren die jungen Leute in der Lage, „ihre eigene Alterität gegenüber der

47 Vgl. den bereits erwähnten Beitrag von Maria Luisa Boccia, in dem sie eine Analyse des Austauschs zwischen Jugend und Frauen mit anderen sozialen Akteuren vorschlägt, wobei sie eine Methode verfolgt, die das perspektivische und nicht biographische „Selbst“ als Ausgangspunkt der historischen Darstellung bevorzugt; M.L. Boccia, Il patriarca, S. 254-282. 48 S. Lanaro, Storia dell’Italia repubblicana. Dalla fine della guerra agli anni novanta, Venedig 1992, S. 322. 49 L. Gorgolini, Il Pci e la „questione giovanile“ nel secondo dopoguerra, in: Storia e Futuro, 6. Mai 2005, S. 9-10. 50 G. Moro, Anni Settanta, S. 39-40.

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Erwachsenenwelt zu determinieren“51 und zu „Trägern eines politischen Unterschieds, eines nie dagewesenen Blickpunkts auf die Geschichte und auf die italienische Gesellschaft zu werden“52. Im Übrigen konnte die Individualisierung der Jugend sich demselben Prozess der Angleichung der Sehnsüchte nicht entziehen, der in diesen Jahren begann, die Bestrebungen und Verhaltensweisen der Italiener zu homogenisieren; vielmehr entwickelte ihre Individualisierung sich ganz innerhalb dieses Prozesses. Kehren wir dafür einen Augenblick zurück zu einem Beispiel Pasolinis, der in den „Freibeuterschriften“ die Tatsache feststellte (und scharf kritisiert), dass die jungen Linken „in jeder Hinsicht mit dem allergrößten Teil ihrer Altersgenossen identisch“ geworden seien: „Kulturell, psychologisch, physisch … gibt es nichts, was sie von den anderen unterscheidet“53. Losgelöst von jeglicher politischer und ideologischer Bewertung und aus der zeitlichen Distanz heraus erscheint uns die Austauschbarkeit der durch die Jugend gewählten, zeichenhaften Ausdrucksformen beziehungsweise die Missverständlichkeit ihrer Semiotik, die von Pasolini kritisiert und – das muss gesagt werden – von der PCI ebenso verleugnet wie vom rechten Movimento Sociale Italiano (MSI) jener Jahre gefürchtet wurde54, heute deutlich als die Entwicklung einer neuen Semantik, die in diesem Fall generationsbezogen war und sich zwischen 1968 und 1977 formierte55. Diese neue Semantik war – entgegen Pasolini – sehr wohl ein Resultat des komplexen Individualisierungsprozesses der italienischen und allgemein der westlichen Gesellschaft und ein Zeichen vor allem einer kulturellen Erneuerung der Jugend, deren Horizont nicht mehr der ideologische des kalten Kriegs war56. Die generationsbezogene Semantik bildete sich durch den Konsum in weitgefasstem Sinn: Sie nährte sich sowohl im Privatleben als auch im öffentlichen und somit politischen Leben von der Rezeption und Vervielfachung A. Di Michele, Storia dell’Italia repubblicana, S. 130-131. M.L. Boccia, Il patriarca, S. 254. 53 P.P. Pasolini, Gli italiani non sono più quelli, in: Corriere della Sera, 10. Juni 1974; Übersetzung in: Freibeuterschriften, S. 51. 54 Vgl. den einleitenden Teil in M. Tarchi (Hrsg.), La Rivoluzione impossibile; Dai Campi Hobbit alla nuova destra, Florenz 2010. 55 Die generationsbezogene Perspektive auf die Protagonisten der „Zeit der Bewegungen“ wird vorgeschlagen in N. Gallerano, La stagione dei movimenti e le sue periodizzazioni, in: P. Ghione / M. Grispigni (Hrsg.), Giovani prima della rivolta, Rom 1998, S. 33-41; vgl. außerdem den Sonderband „Generazioni“, der Zeitschrift: Parolechiave, 16 (1998). Vgl. auch B. Schmidt / H. von Hippel (Hrsg.), Bildung der Generationen, Wiesbaden 2011, die den Versuch unternehmen, den wissenschaftlichen Diskurs zu Generation, Milieu und Ungleichheit zusammenzuführen. 56 L. Annunziata, 1977. L’ultima foto di famiglia, Turin 2007, S. 38. 51 52

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der neuen Ausdrucksformen, die zum Beispiel durch Theater, Kino und andere Medien verbreitet und genutzt wurden; sie manifestierte sich also in einer neuen Sprache. Man denke beispielsweise an die Entstehung des politischen Theaters von Dario Fo und Franca Rame, an die Etablierung der politischen Karikatur durch Künstler, die noch heute Maßstäbe in diesem Bereich setzen, wie Vincino, Staino, Forattini, Ellekappa und andere. Man denke vor allem an die Musik, die den sozialen Konflikt untermalte: nicht nur die Songs von Liedermachern, sondern auch den italienischen Progressive Rock, der sich, indem er mediterrane, klassische und Folk-Elemente mischte, von den angloamerikanischen Vorbildern befreite; nicht zuletzt den Jazz mit seiner Bezugsgröße, dem Festival Umbria Jazz, das 1973 gegründet wurde. Die Musik – so fasst es Giovanni De Luna zusammen – „schlug also definitiv im Zentrum des Universums der Jugend ihr Lager auf; sie griff ihre Stimmungen auf, befeuerte ihre Moden, beeinflusste ihr Verhalten und entfesselte ihre Leidenschaften“57. Und man denke an die Kraft der Musik vor allem in Hinblick auf Musik-Events, Rockkonzerte und die ersten Festivals (Villa Pamphili und der Lido di Ostia in Rom, Parco Lambro in Mailand) in den frühen 70er Jahren, die sich die legendäre Veranstaltung von Woodstock zum Vorbild nahmen. Auch in Italien präsentierten sie sich als junge Bühnen der alternativen Kommunikation und des alternativen Treffens, die, wie auch andere Formen, ein gewollt indirektes Verhältnis zur Politik pflegten, obwohl diese am Ende doch alles durchdrang. Andererseits machte sich das kollektive Meeting der Jugend gerade in jener Leere breit, die die Politik der institutionalisierten Parteien hinterließ, die es nicht schafften, die Einsamkeit des Individuums aufzufangen oder ihm eine Interpretation, eine passende Lesart anzubieten. Wer zum Beispiel zum Parco Lambro ging, tat dies, weil er „in den anderen und in dem Fest etwas Undefiniertes und Besseres“ suchte und dort „die Wirklichkeit, so wie sie ist“, vorfand58. Kollektive Veranstaltungen, ob Rockertreffen oder spontane Happenings, zeigten den damaligen jungen Menschen, dass das individuelle Unwohlsein in Wirklichkeit eine auf tragische Weise kollektive Lebensbedingung war, die kommuniziert werden musste, um überwunden werden zu können59. Daher ist es nicht überraschend, dass auch im rechten Lager ähnliche Wege verfolgt wurden und zwischen 1977 und 1980 die „Hobbit-Camps“ der jungen italienischen Neofaschisten stattfanden, die, da sie nicht außerhalb 57 58 59

G. De Luna, Le ragioni di un decennio, S. 128-129. Sarà un risotto che vi seppellirà, Mailand 1977, S. 71-72. Ebd.

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der Realität bleiben wollten, wie ihre Altersgenossen vom Parco Lambro in ihr zu leben und sich dort neue Instrumente zu schaffen versuchten60. Die Nutzung von alten und neuen Medien, Musik und Poesie, aber auch Graphik und Karikatur sowie die Einführung neuer Themen wie der Ökologie dienten dazu, „einem Universum, das sich gerade in Gemeinschaft gestaltete“61, eine Stimme zu geben; einem Universum, in dem die Notwendigkeit verspürt wurde, eine andere nicht nostalgische Identität zu finden; in einer Welt, von der die jungen Neofaschisten sich selbst ausgeschlossen hatten, „einer Wirklichkeit, der man nicht länger fremd bleiben konnte, indem man sich wieder in trockenen Intellektualismen abschottete oder auf Wunschdenken jeglicher Art zurückgriff“62, nicht zuletzt auf den bewaffneten Kampf. So überrascht es auch nicht weiter, dass neben den „ausrasierten Nacken“ und den „schwarzen Halstüchern“ in den Hobbit-Camps auch „mäßig lange Haartrachten und viele Bärte“ zu sehen waren63, oder, dass im Juni 1977 während des Happenings unter der Sonne von Benevento auf verworrene Art die Fantasy von Tolkien (der für den Kampf gegen den Materialismus und den zeitgenössischen Egoismus den metaphorischen Hintergrund lieferte)64, die Philosophie von Julius Evola, (rechter) alternativer Rock65 und Verweise auf die radikale ideologische Kritik von Massimo Cacciari zusammenfanden66. Obwohl klar ist, dass das Hobbit-Camp nicht einfach ein Parco Lambro der Rechten war, weil seine „kommunitaristische und nicht demokratische, libertäre und nicht liberale, militante und nicht militaristische, pluralische und nicht-westliche, kreative und nicht museale und sogar auch musikalische Natur offensichtlich war“67, ist es genauso evident, dass das, was der Teilnehmer G. Simeone, Perché Campo Hobbit, in: Secolo d’Italia, 8. Juni 1977, S. 6. Giovanni Tassani, zitiert in: L. Guerrieri, All’Hobbit all’Hobbit … siam fascisti! La giovane destra italiana nei Campi Hobbit, in: Giornale di storia costituzionale, 2 (2005), S. 166. 62 M. Tarchi, La Rivoluzione impossibile, S. 23. 63 G. Bessarione, Lambro/Hobbit, Rom 1979, S. 147. 64 Vgl. den sehr interessanten Artikel von R.C. Wood, Tolkien e il post-modernismo, in: Endòre 13 (2010), http://www.endore.it/endore13/content/Tolkien e il postmodernismo di Ralph Wood.pdf (30. März 2013), sowie den Aufsatz von P. Pecere / L. Del Corso, L’anello che non tiene. Tolkien fra letteratura e mistificazione, Rom 2003, in dem die Instrumentalisierung Tolkiens und seiner Fantasywelt erklärt wird. 65 Es waren die Jahre, in denen die Musik wahren „Schauprozessen“ unterzogen wurde, vgl. F. Liperi, La rivoluzione via etere, in: Millenovecentosettantasette, Rom 1997, S. 105-114. 66 M. Cacciari, Pensiero negativo e razionalizzazione, Venedig 1977. 67 P. Buttafuoco, Destra, ultima fermata, in: Il Foglio, 29. März 2010. 60 61

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suchte und teilweise schuf, noch bevor es „rechts“ war, eine Jugendsprache war, die auf das Persönliche „als Grundlage einer Erfahrung, die weitergegeben werden kann“, ausgerichtet war68; und diese Sprache ähnelte daher immer mehr der Sprache der Altersgenossen der Linken. Wie die von Gianni Emilio Simonetti nach dem zweiten Hobbit-Camp veröffentlichte Schriftensammlung deutlich macht, waren Schlüsselbegriffe wie „neue Kultur“, „Alternative“, „Fest“, „Maoismus“ und nicht zuletzt „Gramsci“ Teil eines gemeinsamen Wortschatzes, der sich in der Graphik, im Gesang, in der Suche nach zwischenmenschlicher Beziehung und in anderen Formen der Bestimmung der Beziehung des Selbst zur in der Krise geratenen Moderne zeigte69. Sowohl im rechten wie im linken Lager wurden diese Schlüsselwörter nicht nur als Alternative zu denen der Väter formuliert, die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre in der Gewerkschaft oder in den Jugendorganisationen der Parteien Politik gemacht hatten, sondern auch als Alternative zum Schlüsselwort der älteren Geschwister, die in den außerhalb der traditionellen Parteien (vor allem der PCI) entstandenen Meinungsgruppen aktiv gewesen oder persönlich beim „Sessantotto“ (1968) dabeigewesen waren70.

IV. Die Gruppierungen und sozialen Erfahrungen zur Mitte der 1970er Jahre, welche am Ende des Jahrzehntes das „Movimento del Settantasette“ (die 1977er Bewegung) in Gang brachten, müssen in einem radikal unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Kontext betrachtet werden, als jener des Booms, in dem das Sessantotto herangereift war. Der Kontext der 1970er Jahre war durch eine harte Wirtschafts- und Arbeitskrise, durch die Umstrukturierung der Produktion, durch die Fragmentierung der sozialen Kräfte und durch die Krise der Gruppierungen der Neuen Linken

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M. Tarchi, Progetto, Itinerario, Prospettive, in: ders., La Rivoluzione impossibile,

S. 91. 69 Simonetti, ein Situationist und ehemaliger Mitarbeiter der Gruppe „Re Nudo“, die das Festival des jungen Proletariats im Parco Lambro in Mailand organisiert hatte, veröffentlichte die zitierte Sammlung „Lambro/Hobbit“ unter dem Pseudonym Giuseppe Bessarione mit dem Ziel, alarmierend hinzuweisen auf die Notlage, dass „der Faschismus in seinen wiederaufbereiteten Formen überall ist!“. Die Anthologie enthält unter anderem Texte des Verlegers Giovanni Volpe, von Marco Tarchi und vom Gründer der Nouvelle Droite, Alain de Benoist; vgl. auch G.E. Simonetti, La controcultura nera in Italia. Si può fare d’ogni suono un fascio?, in: Gong. Mensile di musica e cultura progressiva, März 1977, S. 52-54. 70 Zu den Generationen innerhalb der Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre vgl. A. Mangano, Autocritica e politica di classe. Diario teorico degli anni Settanta, Mailand 1978, S. 13-42.

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gekennzeichnet, welche aus dem Übergang der Bewegung des Sessantotto in organisierte Gruppen entstanden waren71. Sowohl die Fragmentierung der sozialen Kräfte als auch die Krise der Gruppierungen der Neuen Linken wurden durch eine substanzielle Eingliederung der traditionellen Kräfte der Arbeiterbewegung in die Verwaltung des Bestehenden verursacht. Diese war 1976 die Folge der Unterstützung durch die PCI der Einparteienregierung von Ministerpräsident Andreotti72. In diesem Rahmen hatte die Jugend 1977 den „psychologischen Elan der Allmacht“ der 1968er-Generation verloren. Die 1968er-Generation wollte Protagonistin einer Veränderung der Gesellschaft sein, die, wiewohl konservativ und bigott, dennoch eine Wohlstandsgesellschaft war, an der – bei allen Ungerechtigkeiten und Verzerrungen – diese Generation dennoch Anteil hatte73. Die 1977er-Generation war dagegen eine Masse frustrierter und zorniger Studenten, prekär beschäftigter Arbeitnehmer und Schwarzarbeiter sowie junger Leute aus den städtischen Peripherien, die nach Asor Rosas Definition die „zweite Gesellschaft“ der Ausgegrenzten bildeten, die der „ersten Gesellschaft“ der Arbeitnehmer in Normalarbeitsverhältnissen gegenüber standen74. Unter den unterschiedlichen Reformen der vorangegangenen Jahren, die direkt auf den Kampf der Studenten von 1967-1969 zurückzuführen waren, hatten die Demokratisierung und die fortschreitende Öffnung der Universitäten für soziale Schichten, die bislang von der höheren Bildung ausgeschlossen geblieben waren, sicherlich die größten Auswirkungen auf das Leben der jungen Italiener gehabt. Diese waren nicht nur positiver Art. Denn die Demokratisierung und die Aufschließung der Universitäten bedeuteten auch die Abwertung der Studienabschlüsse auf symbolischer Ebene, da sie nicht länger eine Garantie für sozialen Aufstieg und beruflichen Erfolg boten. Hinzu kam eine Prekarisierung der Studentinnen und Studenten, die es vorher nie 71 Die Krise wurde noch deutlicher durch die Spaltung von Lotta Continua im Oktober 1976 und andererseits durch das schwache Resultat, dass die Democrazia proletaria bei den Wahlen erzielte (1,5%) – ein Anzeichen der Unfähigkeit, die politischen Resultate eines zehnjährigen Kampfes in der von der Arbeiterbewegung verwendeten gewohnten Form zu stabilisieren. 72 Vgl. F. Billi (Hrsg.), Gli anni della rivolta. 1960-1980: prima, durante e dopo il ’68, Mailand 2001. 73 G. Crainz, Autobiografia, S. 121; P. Craveri, La Repubblica dal 1958 al 1992, Mailand 1996, S. 722-723. 74 Diese Definition erschien in einem Leitartikel in der „Unità“ drei Tage nach den Vorfällen auf der Kundgebung von Luciano Lama an der Universität La Sapienza; vgl. A. Asor Rosa, Forme nuove di anticomunismo, in: l’Unità, 20. Februar 1977, sowie ders., Le due società, ipotesi sulla crisi italiana, Turin 1977, S. 63-68. Zum Geschehen auf der Kundgebung vgl. unten Anm. 124.

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gegeben hatte und die daraus resultierte, dass die jungen Leute neben dem Studium arbeiten mussten. In diesem sozialen Gebiet des Prekariats entstand das Universum der sogenannten „Autonomie“, das sich selbst mit der Kollektivbezeichnung „Jugendproletariat“ definierte. Diese bestand aus Leuten, die innerhalb, außerhalb und am Rande der Politik standen und sich selbst als das neue theoretische Subjekt der Revolution, als neue Protagonisten des sozialen Elends wahrnahm: „Acht Jahre nach [1968] gibt es ein neues soziales Subjekt, das unberechenbar und extrem neu ist … und mit eigenen Konzepten und hochexplosivem Tonfall auf der Bühne des Klassenkampfs oder besser des alltäglichen Lebens erscheint. Es ist das Jugendproletariat, das echte Jugendproletariat, … eine Bewegung, deren Kraft auf der Kreativität basiert (die nicht ein mehr oder minder überflüssiges Accessoire ist, sondern die Substanz) und deren Überleben an die Fähigkeit gebunden ist, Gewalt anzuwenden, weil die Frage für die Jugend heißt: entweder die totale Ausgrenzung oder die totale Macht“75.

Im Unterschied zur 1968er-Generation bestand die des Settantasette aus einem „Heer von jungen Leuten, die ohne zu arbeiten … lebten. Es war ein proletarisches, schulisch gebildetes, nicht auf die Kategorie eines industriellen Reserveheers reduzierbares Heer“; es forderte, „theoretisch-politische Fragen auf die Tagesordnung zu setzen, die mit der Lebensgestaltung, mit dem Bedürfnis nach Befreiung vom Alltag, mit der Kollektivierung des Schreibens als gestaltendem Eingriff in die Realität, und zwar nicht als Nebenthemen, sondern als Elemente der umfassenden Neudefinition der Klassenlinie verbunden sind.“ Um dies zu tun, war es notwendig, die Identifikation der Arbeiterklasse allein aufgrund ihrer „Verortung im Produktionsprozess“ zu überwinden; im Gegenteil sollte die Arbeiterklasse „aufgrund der Form ihrer politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Existenz“76 definiert werden. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich auch die Idee einer Ablehnung der (festen) Arbeitsstelle als Grundlage moderner Existenz. Die Ohnmacht der 1977er-Generation gegenüber dem Umstrukturierungsprozess von Produktion und Beschäftigung, der inzwischen sogar von der PCI unterstützt wurde, drängte viele junge Arbeitnehmer dazu, den Kampf für den „Erhalt des Arbeitsplatzes“ aufzugeben und sich das Thema der Flexibilisierung zu eigen zu machen, indem sie sich bewusst in ein Modell der unregelmäßigen Arbeit eingliederten, wo die „manuelle und intellektuelle Funktionen austauschbar“ waren. Diese fasste „die Arbeitserbringung als eine gelegentliche Gegebenheit“ auf und definierte die Formen der traditionellen Abhängigkeit von der Arbeit als Zwang. Es handelte sich um eine unmittelbare, kreative und unerwartete Antwort auf die Prekarisierung und Flexibilisierung der Arbeit, 75 76

Questa prima non s’ha da fare, in: Viola, 7. Dezember 1976, Nr. 1. Flugblatt des Kollektivs A/traverso, September 1975.

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die von den neuen Produktionsverhältnissen erzwungen wurden. Auf lange Sicht trug diese Antwort dazu bei, die kulturellen Grundlagen für jene „dem Produktionszyklus des Immateriellen und Hypothetischen untergeordneten Berufsbilder“ zu legen, welche sich dann in den 1980er Jahren entwickelten77. Zeichen für die Distanz dieser Generation zur vorangegangenen waren nicht nur die Verlagerung des sozialen Kampfes weg von der Fabrik (die in weitem Sinn als zentraler Ort des produktiven Systems aufgefasst wurde) und die Theoretisierung der politischen Kritik der Arbeit, sondern auch die Ablehnung des Antikonsumismus der 68er. Dass der Protest der Jugend des Settantasette vor allem in diesem Punkt ganz andere ideologische Wege als die 68er verfolgte, wurde deutlich, als im Dezember 1976 die Circoli del proletariato giovanile gegen die Premiere an der Scala von Mailand zu Felde zogen und dabei ihr „Recht auf Kaviar“ einforderten78. Ebenso deutlich wurde, als sie im Januar 1977 ihre ganze Abscheu vor der Kritik an der opulenten Gesellschaft zur Schau stellten, so wie von dem kommunistischen Generalsekretär in seinen beiden Reden zur Sparpolitik als „Gelegenheit, Italien zu verwandeln“ entwickelt hatte; dabei machten sie sich lustig über die moralistische Verurteilung des Kapitalismus und die von Regierung und PCI geforderten Opfer79. Obwohl – wie es Lucia Annunziata in einer Publikation zum Jahr 1977 auf den Punkt bringt – die extremen Aspekte dieser Andersartigkeit Formen annahmen, die zum Beispiel schon die letzte Ausgabe des Festivals des Jugendproletariats in Parco Lambro80 mit Forderungen nach einem „Recht 77 N. Balestrini / P. Moroni, L’orda d’oro 1968-1977, Mailand, 3. Aufl., 2003, S. 531-532 und 604. Man beachte in dieser Hinsicht auch die Analogien zu Deutschland im Beitrag von Detlef Siegfried im vorliegenden Band. 78 Questa prima non s’ha da fare, in: Viola, 7. Dezember 1976, Nr. 1. In einem Interview in „la Repubblica“ einige Tag später sagte einer der jugendlichen Teilnehmer: „Wir fordern nicht nur das Recht auf das Notwendige, sondern auch das Recht auf Luxus. Darum dreht sich die Debatte. Wir fordern das Recht auf Luxus nicht so sehr, weil uns der Kaviar schmeckt, sondern weil wir ihn zu einem Gegenstand des ideologischen, kulturellen und politischen Kampfes machen wollen“; Quello che volevamo marciando sulla Scala era di farvi paura, in: la Repubblica, 12. Dezember 1976. 79 E. Berlinguer, Austerità. Occasione per trasformare l’Italia, Rom 1977. Vgl. M. Gotor, Riflessioni sull’austerità 25 anni dopo, in: Ufficio Documentazione e Studi dei deputati Partito Democratico (Hrsg.), Il coraggio e le ragioni di una scelta, Rom 2009, S. 42; vgl. auch F. Barbagallo, Enrico Berlinguer, Rom 2006, S. 295-297. 80 „Die Insel der Glückseligkeit verwandelt in einen Schauplatz der Guerilla, mit Tränengasgeschossen, die durch die Bäume fliegen und der Androhung, dass die Polizei stürmen und den Park räumen werde; die proletarischen Enteignungen im nahe gelegenen Supermarkt und der Angriff auf einen Motta-Eiswagen; die Aggressivität, die sich auf vielerlei Weise ausdrückte: gegen die Organisatoren; gegen die Sänger; gegen die Hühner (die benutzt wurden, um sich zu sättigen, aber auch, um Fußball zu spielen); gegen die Homosexuellen, deren Stand zerstört wurde; gegen

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auf proletarische Einkäufe, Drogen, gratis Kino, gratis Musik gekennzeichnet“ hatten81, zersplitterten die Motive der Wut nicht nur im atomisierten Individualismus, sondern flossen, wie teilweise schon angedeutet, auch ein in das Movimento del Settantasette. Die oben angeführten und die folgenden Beispiele zeigen tatsächlich, dass der Individualisierungsprozess, obwohl er das Individuum von den Bindungen an die traditionellen (festen) Strukturen der Moderne emanzipiert und es damit „allein“ vor die im individualisierten Leben zu treffenden Entscheidungen stellte82, weder einen Triumph des Individualismus auslöste noch starke kollektive Voraussetzungen und gemeinsame Bezüge für die Bildung neuer subjektiver Identitäten ausschloss83. Ganz im Gegenteil: Wenn der Individualisierungsprozess auch die traditionellen Formen erodiert und zerstört, so schließt er das Gemeinschaftsprinzip nicht aus. In diesem Sinn ist gerade die Schaffung einer neuen (in einem weitgefassten kulturellen Sinn) generationsbezogenen Sprache, durch die die Zwanzigjährigen Ende der 1970er Jahre ihre individuellen Semantiken wieder zu neuen Zugehörigkeitsformen zusammenfügten, ein deutlicher Beleg dafür, dass der Individualismus nur eine Übergangsphase im Individualisierungsprozess darstellt, in dessen Vollendung „a reverse movement of a desperate search for the social link“84 wieder zum Vorschein kommt; eine Rückwärtsbewegung, die die Entstehung neuer Gemeinschaften auslöst85. In der „flüssigen“ Gesellschaft suchen (und finden) die Individuen tatsächlich ihre eigene subjektive Identität in Verhaltensmustern, die denen gemeinsam sind, die dieselben Lebensstrategien gewählt haben und dieselben Erfahrungen „konsumieren“. Daraus folgt, dass eine „(nach objektiven sozialen Merkmalen) nicht notwendigerweise homogene Gesamtheit von Individuen, die aber durch eine einzige Subjektivität, durch einen gemeinsamen emotionalen Antrieb oder ein gemeinsames Ethos die Feministinnen, die sich aber, mit ihren Gitarren bestens verteidigten“, Einführung von Marisa Rusconi zu F. Ortolani, La festa del Parco Lambro, Padua 1978, S. 10. 81 L. Annunziata, 1977. L’ultima foto di famiglia, S. 84. 82 Vgl. die Thesen von U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, S. 152-158, sowie ders., Weltrisikogesellschaft, Frankfurt a.M. 2007. Vgl. auch Anm. 13. 83 Man beachte die Thesen von Michael Vester, die von Detlef Siegfried im vorliegenden Band vorgestellt werden; vgl. M. Vester u.a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt a.M. 2001, S. 311-325. 84 M. Maffesoli, Il tempo delle tribù, Rom 1988; vgl. B. Cova, Community and Consumption. Towards a Definition of the „Linking Value“ of Product or Services, in: European Journal of Marketing, (1997), 3-4, S. 297-316, hier S. 300. 85 „Less than differentiation, it is de-differentiation which seems to be guiding individual action“, B. Cova, Community, S. 300.

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miteinander verbunden sind“86, ihren gemeinsamen Identitätsbezug in diesen neuen, „flüssigen“ Formen der Gemeinschaftszugehörigkeit finden kann. Die französischen Soziologen Michel Maffesoli und Bernard Cova nennen diese Gemeinschaften die „postmodernen Stämme“87. Sicherlich kann man in diesem theoretischen Rahmen die unterschiedlichen Projekte der Transformation der postindustriellen/postmaterialistischen Gesellschaft erkennen und verorten, aus denen das Movimento bestand. Sie bewegten sich in einem Spektrum, das vom Ausprobieren alternativer Lebensund Kommunikationsformen, wie sie durch den kreativen und spontaneistischen Flügel aufgeworfen wurden, bis hin zur (theoretischen) gewaltsamen Umwälzung des Systems, die innerhalb der Autonomia rivoluzionaria diskutiert wurde, reichte. Während es üblicherweise in die politikwissenschaftliche Formel der internen Polarisierung zweier miteinander kämpfender Seelen gefasst wird88, war das Movimento in Wirklichkeit aus einem „Netzwerk von Gruppen“ zusammengesetzt89, die ihr stärkstes Bindeelement in der Kritik an der Modernisierung und in der Ablehnung der Grundgleichung der Moderne, nach der „neu“ ein Synonym für „besser“ sei, fanden90. Die Suche nach Formen der sozialen Transformation, die vom Fortschritt als Leitgedanken der Moderne absehen, wurde zum Antriebsmotor von Stammesgemeinschaften, die nach einer gemeinsamen Semantik von Handlungsweisen zur Erfüllung ihrer Sehnsüchte strebten. Diese Suche war nicht auf eine übergeordnete Narration (die von JeanFrancois Lyotard kritisierte Metanarration) zurückführbar91, da diese nicht imstande ist, den Nicht-Gegensatz zwischen dem Wunsch, autonom auf die Moderne einzuwirken, und der Desillusion gegenüber derselben Moderne zu erfassen92. Aus dieser Perspektive bestand die Polarisierung vielmehr 86 B. Cova, Il marketing tribale. Legame, comunità, autenticità come valori del Marketing Mediterraneo, Mailand 2003, S. 16. 87 Vgl. B. Cova / A. Giordano / M. Pallera, Marketing non convenzionale. Viral, guerrilla, tribal e i 10 principi fondamentali del marketing postmoderno, Mailand 2008. 88 Vgl. unter anderen S. Zavoli, La notte della repubblica, Mailand 1992; S. Cappellini, Rose e pistole. 1977 – Cronache di un anno vissuto con rabbia, Mailand 2007; R. Catanzaro / L. Manconi, Storie di lotta armata, Bologna 1995. Für eine Bibliographie zu 1977 siehe http://www.nuovamente.org/1977/bibliografia.php (30. März 2013). 89 B. Cova, Community, S. 301. 90 Z. Bauman, Il viaggio non finisce mai, S. 383. 91 J.-F. Lyotard, La Condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979 (dt. Ausg. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Bremen 1982). 92 Ein Slogan, der von den römischen „Stadtindianern“ stammte, war zum Beispiel: „Die Lebensmodelle werden jetzt ausprobiert, ohne auf den Kommunismus zu warten“, in: OASK?!, (Sondernummer), 23. März 1977.

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zwischen der vielgestaltigen Gegnerschaft des Movimento gegenüber dem zeitgenössischen normativen Rahmen auf der einen Seite93 und andererseits den Strukturen der „Verwaltung und Verteidigung des Bestehenden“ (in diesem Fall der Parteien und ihres „Systems“, der Gewerkschaft, aber auch „der vormals jungen Leute des Sessantotto, der PCI und des repressiven Staatsapparats“)94, welche versuchten, die Wünsche der Jugend in „Recht und Ordnung“ zu kanalisieren. So wird auch deutlich, wie die Infragestellung der zentralen Rolle der Fabrik als Kampfplatz und des Arbeiters als Subjekt der Revolution zum Markenzeichen einer Generation werden konnte, die gerade auf diese Weise besser als die vorangegangene bewies, die Auswirkungen der Beschleunigung der Transformationen eines Produktionssystems rezipieren zu können, das auf die Auflösung der zentralen Rolle der Industriearbeit ausgerichtet war. Dabei handelt es sich um einen der wichtigsten Übergänge, in denen sich zeigt, wie sehr die Prozesse der Selbstbestimmung der Lebensstile und Pluralisierung der individuellen Biographien die Entwicklung der politischen Krise der 1970er Jahre beeinflussten. Mit der bewussten Entscheidung, sich von den nicht flexiblen Beschäftigungsformen und traditionellen Lebensformen zu lösen, befreite sich die Generation der 1977er nicht nur von den alten kulturellen Bindungen, auf die sich die traditionelle moderne Gesellschaft gestützt hatte. Sie erklärte auch ihre Distanz und Autonomie gegenüber den Parteien, der Gewerkschaft und den anderen festen Strukturen der Moderne, und deckte vor allem die Schwierigkeit dieser festen Strukturen auf, die Wünsche und die Sprache der neuen Subjektivitäten zu erfassen, die sich auf der politischen Bühne präsentierten. Obwohl es Menschen wie Leonardo Sciascia oder Norberto Bobbio gab, die die vom italienischen Staat gegenüber dem Movimento angewandten repressiven Methoden verurteilten, auch wenn sie dessen Forderungen und Methoden nicht zustimmten, bemerkte außer Umberto Eco keiner, dass – schneller als sich Enteignungen, Besetzungen und Schüsse ereigneten – eine neu kodierte Sprache entstanden war, die dechiffriert werden musste.

93 In einem in der „Unità“ Anfang Februar 1977 publizierten Artikel kritisiert Alberto Asor Rosa diese Distanz und schreibt von einer extrem schwierigen Beziehung zwischen dem Movimento und der Politik, der er – andersherum – vorwirft, sie würde das Movimento ansehen als einen Haufen „vermasster, orientierungsloser, ausgegrenzter, unterforderter [junger Leute], die im Dunstkreis der Universität leben“, der, indem er „jegliche Delegierung von Leitung an irgendeine Partei oder politische Gruppe“ ablehne, eine vorpolitische oder transpolitische Identität aufbaue; A. Asor Rosa, Le convulsioni dell’Università, in: l’Unità, 11. Februar 1977. 94 U. Eco, Anno Nove, in: Corriere della Sera, 25. Februar 1977.

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V. In einem Artikel im „Corriere della Sera“ aus dem März 1977, mitten in der heißen Phase des Movimento, fasste Umberto Eco die in der Welt der Jugend erfolgten Veränderungen zusammen und erkannte darin eine neue (jugend)kulturelle Gruppe, die mit einem tief verwurzelten Selbstbewusstsein ausgestattet und in der Lage war, sich als facettenreiche tribale Gemeinschaft zu präsentieren. In dieser Stammesgemeinschaft erkannte er eine neue Generation, die er ironisch als die Neuner Generation definierte (77 minus 68 gleich 9!)95, die im Unterschied zu den vorangegangenen Generationen die Entdeckung oder Wiederentdeckung des Privaten, der Bedürfnisse und der Freiheit der Triebe, in den Mittelpunkt ihrer Existenz rückte. Sie lachte, ironisierte und verwendete eine „transversale“ Sprache, „die die Sehnsucht in Umlauf bringt, hervorbringt, umwandelt und befreit“96. Unter Sehnsucht versteht Eco die Ablehnung von Vernunft, gesundem Menschenverstand, Moral und Politik: „das Hereinbrechen der subversiven Sehnsucht erschüttert die konsolidierten Codes, die Sprache ist nicht länger ein neutrales Werkzeug, sie wird zu einer Praktik der permanenten Subversion; die Diktatur der Bedeutung wird gesprengt, und dies ist die einzige Möglichkeit, die Diktatur des Politischen zu sprengen“97.

Mit einer zu Pasolinis Kritik an der semiotischen Verarmung spiegelsymmetrischen Analyse stellt Eco die Fähigkeit jener Neuner Generation heraus, die Sprache in poststrukturalistischem Sinn weiter zu entwickeln und durch das Experimentieren mit neuen Zugangsformen zu den Medien neue Ausdrucksstile zu erschaffen, die die Krise der Kommunikationsformen und des sermonhaften Sprachstils“ des Sessantotto aufzeigen sollen98. Das Experimentieren mit Sprache und Kommunikation bedeutete, einen Modus zu finden, um „eine Vorstellungswelt mitzuteilen und innerhalb der gerade stattfindenden Transformationsprozesse Propaganda zu betreiben“99. Sprache und Kommunikation waren also nicht länger „ein neutrales Mittel und wurden stattdessen zu einer Praktik der permanenten Subversion“ nach dem Prinzip, dass durch eine Aufbrechung der „Diktatur der Bedeutung“ auch die „Diktatur des Politischen“ aufgesprengt würde100. Ebd. Ebd. 97 Ebd. 98 Dal movimento giovanile al movimento di liberazione dal lavoro, in: A/traverso, Dezember 1976, S. 8. 99 A. Bonomi, La controinformazione, in: N. Balestrini, L’orda d’oro 1968-1977, S. 591. 100 U. Eco, Anno Nove. 95 96

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Die eigensinnige Ironie und das situationistische détournement, das mit Bezug auf Guy Debord wieder aufgegriffen wurde, wurden zu Konstanten, die nicht nur die gesamte schriftliche Produktion des Movimento auszeichneten, sondern auch das Verhalten derer, die dabei waren. In Rom, Neapel und Bologna begannen die situationistischen und mao-dadaistischen Gruppen des Movimento, falsche Meldungen und Schlagzeilen zu verbreiten101, mit dem Ziel, „Räume zu eröffnen, aus den Angeln zu heben, zu zeigen, was nicht länger versteckt gehalten werden kann“, die „explosive Kraft, [den] Genuss am Nihilismus“ herauszuholen und gleichzeitig die Bitterkeit zu verschärfen, die das Wirken der als Annullierung vorgebrachten Ironie hinterließ102. Die Falschmeldungen und die auf Plätzen und Straßen ausgerufenen Slogans, aus denen die Wut der Desillusion ablesbar war103, waren die Umkehrung dessen, was die Herrschenden sagten, jedoch ausgesprochen mit deren eigener Stimme, mit deren eigenen Ausdrucksformen, zum Zweck der Produktion von „Gegeninformation und sozialer Revolution“ durch „Zeichen …, die formal falsch sind, aber den konkreten institutionellen Absichten genau entsprechen“104. Die theoretische Grundlage für die Erschaffung einer neuen Sprache und neuer Kommunikationsformen lieferte dem Movimento das Buch „Alice è il diavolo“, in dem das Bologneser Kollektiv A/traverso sein programmatisches Manifest zur Sprache, zur Beziehung zwischen Kunst und Leben, zur Trennung des Privaten von der gesellschaftlichen und politischen Rolle des Sie verbreiteten auch einen falschen „Briefwechsel mit den Anführern der Neuen Italienischen Linken“ eines ebenso falschen, erfundenen Enrico Berlinguer; er trug den Titel „Briefe an die Ketzer“ und wurde von einer Mailänder situationistischen Gruppe veröffentlicht. Daneben gibt es beispielsweise eine Falschnachricht bezüglich des Treffens zwischen dem Bürgermeister von Rom, Carlo Giulio Argan, und Papst Paul VI., das dazu gedient habe, „gemeinsam den historischen Kompromiss zu verherrlichen“, und die vom Zentrum zur Verbreitung willkürlicher Nachrichten „Centro Diffusione Notizie Arbitrarie“ verbreitet wurde. Es gibt auch Flugblätter und Plakate wie das sehr oft zitierte Flugblatt, in dem der (Pseudo)Unternehmerverband seine aufrichtige Freude über die Entscheidungen der Industriepolitik der PCI zum Ausdruck bringt; dieses Flugblatt zieht die Grenze zwischen der „idiotischen Genugtuung“ der Bürokraten und der Wut derer, die es als sprachliche Dopplung zu interpretieren wussten; vgl. Informazioni false che producano eventi veri, in: A/traverso, Februar 1977, wo all dies von Franco Berardi theoretisiert wird. 102 Ebd. 103 Vgl. z.B. die Slogans: „Godere operaio“ (Arbeiter-Lust, vgl. Potere operaio = Arbeitermacht); „Pagheremo subito, pagheremo tutto!“ (Wir zahlen sofort, wir zahlen alles!, vgl. Pagherete caro, pagherete tutto! = Ihr werdet es teuer bezahlen, ihr werdet für alles zahlen!); „L’ironia distruggerà il potere, e una risata vi seppellirà!“ (Die Ironie wird die Macht zerstören, und ein Lachen wird euch begraben!); „Più lavoro, meno salario!“ (Mehr Arbeit, weniger Lohn!); „Felce e mirtillo“ (Farn und Blaubeere, vgl. Falce e martello = Hammer und Sichel). 104 D. Mariscalco, „A/traverso“ la transizione. Le pratiche culturali del movimento del ’77 e il paradigma artistico, in: ENTHYMEMA, 7 (2012), S. 395. 101

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Individuums und zum Begehren vorstellte105. Dieses Manifest konkretisierte sich dann im Projekt „Radio Alice“106, welches als das Symbol des kreativen und nicht „militanten“ Flügels der Bewegung angesehen werden kann. Das Gerichtsurteil von 1976 zur sogenannten „Libertà d’antenna“ (Antennenfreiheit), mit dem das Verfassungsgericht das Staatsmonopol zur Funkund Fernsehinformation beendete107, erlaubte es einer stetig wachsenden Zahl von Lokalsendern, die rigide institutionelle Einheit der Information zu durchbrechen, indem sie ihre Mikrofone in den Dienst alternativer Informationsformen stellten. Unter den Radiosendern, die an der „Informationsguerilla“ teilnahmen108, war für das Movimento der wichtigste ganz sicher Radio Alice. Radio Alice stellte den Protagonisten der Protestmärsche, die in den Straßen der italienischen Städte tobten, seine Mikrofone zur Verfügung; es schuf über Radioschaltungen Ferndebatten, -foren und -versammlungen und ließ die Zuhörer live und ungefiltert sprechen. Damit antizipierte Radio Alice nicht nur um dreißig Jahre die soziale Information der Datennetze, sondern gab auch wirklich „dem Begehren eine Stimme“109, und auch denen, die sonst nicht zu Wort gekommen wären110. Dadurch wurde Radio Alice zu 105 Collettivo A/traverso, Alice è il diavolo, sulla strada di Majakovskij: testi per una pratica di comunicazione sovversiva, Mailand 1976. 106 Trotz dem, was wir im Folgenden vertiefen werden, ist es wichitg, auch darauf hinzuweisen, dass die Kommunikationsstrategien aus dem Umfeld des Movimento auch außerhalb des Movimento selbst rezipiert und aufgefangen wurden, zum Beispiel von Schauspielern wie Roberto Benigni oder Autoren von Radioprogrammen wie Gianni Boncompagni und Renzo Arbore oder, um noch einmal einen Blick „nach rechts“ zu werfen, von allen denen, die das Experiment „Voce della fogna“ (Stimme der Kloake) voranbrachten, in dem eine scharfe und direkte Loslösung der „Ausdruckskriterien des neofaschistischen Ambiente von den Standards der Publizistik der Partei und des Umfelds“ gesucht wurde, vgl. M. Tarchi, Continuità ed evoluzione della destra italiana negli anni di piombo, in: L’Italia repubblicana nella crisi degli anni Settanta: Sistema politico e istituzioni, Catanzaro 2003, S. 171. 107 Vgl. L. Annunziata, 1977. L’ultima foto di famiglia, S. 63; G. Moro, Anni Settanta, S. 45; A. Giannuli, Bombe a inchiostro, Mailand 2008, S. 392-395. 108 Unter anderen gab es die Radiosender Radio Canale 96, Radio Milano Centrale, Radio Popolare, Radio Onda Rossa und Radio Città Futura. 109 „Unsere Bedürfnisse, der Körper, die Sexualität, die Lust morgens zu schlafen, das Begehren, die Befreiung von der Arbeit … Das Begehren gibt sich eine Stimme. Und für jene ist sie obszön. Gegen die Arbeit spricht außer dem Elend auch der Körper, das Begehren, die Aneignung der Zeit. Radio Alice richtet sich in diesem Raum ein und ist deshalb für jene obszön. Geben wir unserem Begehren eine Stimme – jedem Kollektiv ein Mikrofon – senden wir auf uns drauf“, Collettivo A/Traverso, Alice è il diavolo, S. 34-35. 110 Man denke in diesem Zusammenhang auch daran, dass Radio popolare 1978 in einer Debatte zur politischen Gewalt nach der Ermordung zweier Anhänger des MSI in Rom seine Mikrofone auch Neofaschisten zur Verfügung stellte; A. Giannuli, Bombe a inchiostro, S. 394.

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einem echten „Moment der Selbsterkenntnis und der Aggregation für das Jugendproletariat“111. Die Entscheidung, die Beiträge nicht zu filtern, nicht einmal solche mit den radikalsten Akzenten, ließ den offiziellen Medien, den öffentlichen Behörden und allen politisch-institutionellen Akteuren jedoch genug Interpretationsspielraum, um in der Gegeninformation von Alice und den anderen Radios eine offene und bedingungslose Unterstützung zum bewaffneten Kampf zu sehen112. Auch die PCI, die in den Mittelpunkt ihrer politischen Agenda inzwischen den Eintritt in den Club der regierungsfähigen Parteien stellte, schrieb nach den Zusammenstößen vom 11. und 12. März in Bologna und Rom113 dem Kollektiv A/traverso die Regie über die „Bologneser Guerilla“ zu; diese werde „Minute für Minute von eben dem Radio Alice aus gelenkt, das die Thesen des Kollektivs zur alternativen Kommunikation in praktischere Leitfäden für den Straßenkampf übertragen“ habe114. Ausgehend von ähnlichen Interpretationen wurde Radio Alice am Abend der Protestdemonstrationen in ganz Italien wegen des Mordes an Francesco Lorusso durch die Polizei geschlossen, unter Beschuldigung, die Zusammenstöße jenes Tages auf den Straßen von Bologna aus der Ferne koordiniert zu haben115. Fünf Redakteure wurden wegen „Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und öffentlicher Anstiftung zu Straftaten, in Bezug auf die Tätigkeit der illegalen Radioübertragung, unter dem schwerwiegenden Tatumstand der Störung der öffentlichen

P. Ortoleva / G. Cordoni / N. Verna (Hrsg.), Radio FM 1976-2006: trent’anni di libertà d’antenna, Bologna 2006, S. 182. 112 Vgl. z.B. E. Taviani, Pci, estremismo di sinistra e terrorismo, in: A. Giovagnoli u.a. (Hrsg.), L’Italia repubblicana nella crisi degli anni Settanta: Sistema politico e istituzioni, Catanzaro 2003, S. 235-276. 113 Am 11. März 1977 entgleiste die an der Universität Bologna begonnene Auseinandersetzung zwischen Studenten, die den Gruppen der Autonomia nahe standen, und den katholischen Studenten von Comunione e Liberazione und führte zu einem Zusammenstoß mit Polizei und Carabinieri, in dessen Verlauf Pier Francesco Lorusso getötet wurde. In den folgenden Stunden strömten Tausende junger Menschen des Movimento in der Stadt zusammen. Dabei stießen sie weiterhin mit den Ordnungskräften zusammen und verursachten Krawalle und sehr große Schäden im Stadtzentrum. Auch am folgenden Tag gab es sowohl in Bologna als auch in Rom heftige Ausschreitungen, wo etwa 100.000 Menschen an einer nationalen Demonstration teilnahmen. Nach diesen Ereignissen ordnete der damalige Innenminister Francesco Cossiga die Entsendung von gepanzerten Heeresfahrzeugen ins Zentrum von Bologna an, wodurch sich letztlich der politische Kampf verschärfte; vgl. C. Del Bello, Una sparatoria tranquilla, Rom 1997, S. 316-317. 114 A. Bolaffi / P. Franchi, Il partito della lotta armata, in: Rinascita, 11 (1977), S. 3-5. 115 Die Razzia wurde mit offenen Mikrofonen live vom selben Radio übertragen; vgl. die Mitschrift in: P. Ortoleva u.a. (Hrsg.), Radio FM, S. 184. 111

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Ordnung“116 verhaftet, während von Paris aus Franco Berardi, Gründer und treibende Kraft des Radios, erklärte, er habe „weder Komplotte geschmiedet noch Verbindungen gehalten oder organisiert“, sondern nur „versucht, einen unaufhaltsamen Drang zur Befreiung zu verstehen und ihn auszusprechen“117.

VI. Wie auch die weiteren dramatischen Entwicklungen der folgenden Monate118, so bieten schon die Ankunft der gepanzerten Militärfahrzeuge an der Universität Bologna119 und die Schließung von Radio Alice im März 1977 eine Bestätigung der Eingangshypothese bezüglich der Möglichkeit, in der Repression, in der Gewalt, im Terrorismus, in der Entwicklungskurve der linken Kräfte und in der Verringerung des politischen Gewichts der Arbeiter nicht die Ursachen, sondern die Folgen des Kurzschlusses zu erkennen, der ausgelöst worden war durch die Aphasie von Staat und Parteien gegenüber der Kritik an der Macht und gegenüber den Veränderungsvorschlägen, die von der italienischen Gesellschaft und insbesondere vom Movimento vorgebracht wurden. Insofern man es „isoliert vom Rest der Gesellschaft“ denken kann120, bleibt das Movimento jedenfalls tatsächlich der paradigmatische Ausdruck der Distanz einer individualisierten und pluralisierten Generation zur Moderne, die mitsamt ihren Strukturen in der Krise steckte.

116 Primavera 1977, in: ROSSO, Nr. 19/20, Juni 1977, S. 9. Vgl. auch Movimento Settantasette. Storia di una lotta, Turin 1979, S. 173. 117 So heißt es in dem Heft mit dem Titel „11. März, Zeitschrift der nicht Abgesicherten (praktisch alle)“: „UNDICI MARZO (11 MARZO), Giornale dei nongarantiti (praticamente tutti). Foglio saltuario del Movimento degli Studenti“, N° 0, Bologna 1977. 118 Zusätzlich zu den aufsehenerregenden Todesfällen von Francesco Lorusso und Giorgiana Masi gab es 1977 ungefähr 2000 terroristische Attentate gegenüber den etwa 1000 von 1976, in denen viele Polizisten, Aktivisten, Politiker, Journalisten und Anwälte getötet wurden; vgl. C. Vechio, Ali di piombo. Il 1977, trent’anni dopo. Lotte di piazza e vittime innocenti. Le radio libere, la piaga dell’eroina, il terrorismo. La cronaca, i documenti, le testimonianze, Mailand 2007. 119 In Rom waren gepanzerte Militärfahrzeuge schon nach den Unruhen an der Sapienza gesichtet worden, aber im „roten“ Bologna war es das erste Mal, dass die Carabinieri „Panzer verwendeten, die M113. Der kommunistische Bürgermeister Zangheri dankt ihnen [dem Polizeipräsidenten und den Ordnungskräften], und sagt, dass ‚man die nicht kritisieren kann, die im Krieg sind‘. 100 wurden schon verhaftet, aber ihre Zahl sollte steigen im Lauf der Vorstöße und Razzien, die während des Sonntags durchgeführt wurden“, in: Agenda rossa, Rom 1977, siehe S. 14. Mai. 120 F. Bergoglio, Sartre e la repressione in Italia. 1977 cronaca di un dibattito dimenticato, in: Per il sessantotto, Nr. 16, 1998, S. 1.

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Die PCI war eine dieser Strukturen; trotz des großen Erfolgs, den sie bei den politischen Wahlen 1976 erzielte (34,4%)121, schaffte es die PCI in dem starren System von Machtgleichgewichten, die der Kalte Krieg mit sich gebracht hatte, und im Kontext der Politik der nationalen Einheit weder, sich der aktuellen turbulenten Dynamik angemessen zu stellen, noch in vollem Umfang die neuen Formen der Entwicklung und politischen Organisation neuer Akteure zu erfassen, die anders waren als ihre einzige Bezugsgröße: die Arbeiterklasse in Normalarbeitsverhältnissen. Im Gegenteil, indem sie die Niederschlagung der Besetzung in den wichtigsten Universitäten unterstützte, „schürte“ die PCI de facto „ein Klima der Panik, das darauf abzielte, das Movimento zu isolieren und ihm seine Glaubwürdigkeit zu nehmen“, auch in der Linken122, indem die PCI das Movimento (ohne irgendeine Differenzierung) als Übermittler korporatistischer, in Kampfbünden organisierter und gewalttätiger Strömungen stigmatisierte123. Die wechselseitige Kritik zwischen PCI und Movimento verschärfte sich nach dem 17. Februar 1977, dem Tag des Rauswurfs von Luciano Lama, dem Führer des Gewerkschaftsbunds CGIL, vom Campus der Sapienza124. Dieser Vorgang, der nur wenige Monate 121 4% der Stimmen fehlten der PCI bei diesen Wahlen, um die Democrazia Cristiana, wie befürchtet worden war, zu überholen; vgl. P. Scoppola, La repubblica dei partiti, S. 391-399. 122 S. Gundle, I comunisti italiani tra Hollywood e Mosca. La sfida della cultura di massa, 1943-1991, Florenz 1995, S. 400. 123 Vgl. den Bericht von der Sitzung der PCI-Führung vom 19. März 1977, zitiert in P. Folena, I ragazzi di Berlinguer. Viaggio nella cultura politica di una generazione, Mailand 1997, S. 45. 124 „Für die Kundgebung Lamas innerhalb der Universität kontrollieren Gewerkschaftsaktivisten und Ordnungskräfte der PCI den Piazzale della Minerva von 7:30 Uhr in der Früh an … Während die Bühne für die Kundgebung auf einem Lastwagen montiert wird, montieren die Indianer auf einer Bibliotheksleiter (mit Rollen und einer ‚Minibühne‘ mit Geländer) eine lebensgroße Puppe mit der Aufschrift NON LAMA NESSUNO [Wortspiel: Ihn (Lama) liebt niemand] … Lama beginnt die Kundgebung um 10 Uhr. Irgendwann … werden mit eingefärbtem Wasser (oder mit Lackfarbe) gefüllte Luftballons auf die kommunistischen Aktivisten geworfen. Der Ordnungsdienst der PCI antwortet …, geht in Kontakt und stößt mit der ‚militanten‘ Richtung der Kollektive und der Autonomen zusammen, … es entfesseln sich richtiggehende Kämpfe … Um 10:30 Uhr entscheidet die Gewerkschaft, die Kundgebung aufzulösen, während ein letzter Angriff den Ordnungsdienst von PCI und Gewerkschaften hinwegfegt. Mit dem Ruf ‚Weg! Weg mit der neuen Polizei!‘ wird Lama von einigen Hundert jungen Leuten von der Universität verjagt, die den Lastwagen, der als Bühne dient, stürmen und demolieren. Die Studenten der Kollektive greifen die Aktivisten der PCI und der Gewerkschaften an, sie hauen und schlagen mit Stöcken, Eisenstangen und Schraubenschlüsseln und werfen mit Steinen, während der Lastwagen umgeworfen wird, die Scheiben zerbrochen und die Seitentüren herausgerissen werden. Ruhe kehrt erst ein, als die Kommunisten die Universität verlassen haben und sich außerhalb der Gittertore aufstellen. Die Bilanz beträgt mindestens dreißig Verletzte“; C. Del Bello, Una sparatoria tranquilla, S. 310.

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zuvor für unvorstellbar gehalten worden wäre, setzte die gesamte Linke so sehr unter Schock, dass jemand, der dabei war, Jahre später sogar von einem Vatermord gegenüber der PCI sprach, weil der Rausschmiss „mit dem Tabu und dem Credo der Arbeitermythologie brach“ und der zum Mythos erhobenen Einheit von Arbeitern und Studenten, die Partei und Gewerkschaft „wie einen Rosenkranz“ deklamierten, ein Ende setzte125. Die jungen Leute warfen der PCI vor, dass sie zu einer der herrschenden Eliten geworden war, die jedem außerhalb der Macht liegenden Dissens feindlich gegenüberstehe126, während sie der Arbeiterbewegung vorwarfen, ihren alternativen und kämpferischen Charakter verloren zu haben und eine gemäßigte und konservative Kraft geworden zu sein127. In einer Pressekonferenz in Rom, die die institutionelle Linke und die Studentenbewegung an einen Tisch brachte, hatte „Gandalf il Viola“ (Olivier Turquet), ein Vertreter der „Stadtindianer“, die Aufgabe, die äußerst harte Anklage des Movimento gegenüber der PCI mit beißender Ironie zusammenzufassen: „die Massen aufzufordern, Opfer zu bringen, um den nationalen und internationalen Kapitalismus zu retten; die übelsten Formen des bürgerlichen Moralismus bekennen; jede Form des Dissenses zum Schweigen bringen zu wollen, usw. (wie alle sehen können), und sich dabei weiterhin ‚kommunistisch‘ und somit Verteidigerin der Massen von Arbeitern, Bauern, Arbeitslosen und Frauen zu nennen, gegen die sie doch offensichtlich vorgeht“128.

Die Begriffsstutzigkeit der PCI im Verstehen der durch das Movimento laut gewordenen Forderungen und im Vermitteln dieser Forderungen vor den Institutionen zeigt sich jedoch nicht nur anhand einzelner Ereignisse, sondern vor allem in der schwierigen Koexistenz im symbolischen Raum der Stadt Bologna. Seit drei Jahrzehnten war Bologna nämlich für die italienischen Kommunisten das Bezugsmodell für die „Verwaltung der Gegenwart“ durch die PCI, die jedoch, „als sie in die Amtsführung des Staates einstieg, gezwungenermaßen die Stimme des Protests senken und ihren Tonfall mäßigen L. Annunziata, 1977. L’ultima foto di famiglia, S. 14, 4. „Die Partei, die kommunistisch genannt wird, hat nicht mehr die Kraft, als etwas zu erscheinen, was sie nicht ist. Und da die Stalinisten das Proletariat in der Logik ihrer eigenen Herrschaftsinteressen gefangen halten wollen, ist die PCI zur Bastille der italienischen Revolution geworden: nur indem man sie zerstört, wird die Revolution siegen und wird all ihre anderen Feinde überwinden können“; aus einem Flugblatt mit dem Titel „Benvenuti nella città più libera del mondo“ [Willkommen in der freiheitlichsten Stadt der Welt]: Bologna 23. September 1977. 127 S. Gundle, I comunisti italiani, S. 400. 128 G. Il Viola, Di versi, Rom 1977, S. 8. Vgl. auch das Video „Conferenza stampa di Gandalf il Viola“ (1977) unter: http://youtu.be/0B7Y9iUsJ9Y (zuletzt abgerufen am 25. März 2013). 125 126

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mußte“, womit sie zu ihrer Linken ein Vakuum entstehen ließ, das durch die libertären und utopistischen Forderungen des Movimento gefüllt wurde, zu dessen treibender Kraft und Zentrum Bologna in jenem Jahr geworden war129. Nach den Ereignissen vom März fand die undifferenzierte politische Abschottung der PCI gegenüber dem Movimento eine symbolische Darstellung in der (realen) Verbarrikadierung der Tore der Universität Bologna, die von der Polizei extra zu dem Zweck bewacht wurden, Tausenden von Studenten den Zutritt zu verwehren. Diese hatten Ende April erneut die Stadt für eine zweite nationale Koordinierung der Studenten: das „Secondo coordinamento nazionale degli universitari“, überströmt130. Die „Unità“ rechtfertigte die Isolierung der Studentenversammlung mit der durchaus legitimen Sorge der Stadt gegenüber dem, was die Zeitung selbst als eine Konferenz von ausschließlich extremistischen Gruppen definierte131. Bologna blieb das Symbol des Unverständnisses und der selbstreferentiellen Distanz der Partei zu den Studenten auch als einige Monate später tausende Jugendliche erneut in Bologna für den Anti-Repressions-Kongress zusammenkamen, der de facto das Ende des Movimento markierte. Bologna stellte den Studenten städtischen Raum sowie die notwendige organisatorische Unterstützung zur Verfügung132; das bedeutete aber keine inhaltliche Öffnung, sondern es war der ausdrückliche Versuch der PCI, eine Antwort auf situationsbedingte Probleme der Stadt und der Partei zu finden – sowohl in Bezug auf die öffentliche Ordnung als auch auf die Politik und schließlich auf das eigene Image. Für den kommunistischen Bürgermeister Renato Zangheri war die Unterstützung des Kongresses tatsächlich eine Herausforderung seitens der Stadt gegenüber jenen französischen Intellektuellen, die im vorangegangenen Juli Bologna ins Zentrum des italienischen Repressionsapparats „gegen die Arbeiteraktivisten und gegen die intellektuellen Dissidenten, die gegen den Historischen Kompromiss kämpften“, gerückt hatten133. Die eigentliche 129

M. Brambilla, Dieci anni di illusioni. Storia del Sessantotto, Mailand 1994,

S. 219. Agenda rossa, siehe S. 30. April. Un affannoso avvio dell’assemblea studentesca a Bologna, in: L’Unità, S. 4, 30. April 1977. 132 Z.B. die Piazza Maggiore und den Palazzo dello Sport, außerdem Transport, Campingplätze, Toiletten und subventionierte Mahlzeiten für die hunderttausend jungen Leute, die aus ganz Italien anreisten. 133 Der Haftbefehl gegen Franco Berardi, der in Paris bei Felix Guattari Unterschlupf gefunden hatte, veranlasste eine Gruppe französischer Intellektueller, darunter Sartre, Barthes und Foucault, einen „Appell gegen die Repression in Italien“ nach Belgrad zu schicken, wo gerade eine Ost-West-Konferenz stattfand; M. Brambilla, Dieci anni di illusioni, S. 218 f. Die „Franzosen“ forderten „die sofortige Freilassung aller verhafteten Aktivisten, das Ende der Verfolgung und der Diffamierungskam130 131

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Herausforderung für die PCI lag aber nicht darin, den „Franzosen“ und Europa zu zeigen, dass in Bologna, der freiheitlichsten Stadt der Welt134, keine Experimente in „autoritärer Demokratie“ durchgeführt wurden; die eigentliche Herausforderung lag vielmehr darin, Italien zu zeigen, dass die PCI in der Lage war, die öffentliche Ordnung zu wahren; denn nur, wenn jede Störung der Ordnung vermieden wurde, konnte die politische Katastrophe einer allgemeinen Auseinandersetzung vermieden werden, die eine weitere Verdeutschung des Rechtsstaats mit sich gebracht hätte. In dieser Hinsicht waren kurzfristig die drei Tage Ende September für Bologna und für die PCI ein Erfolg. Die flache Organisation des Kongresses, der sich überall zwischen den Zeltlagern in der Peripherie verteilte, die Vorführungen auf den Plätzen und die Versammlungen im Palazzetto dello Sport135 sowie vor allem die Kontrollen durch Polizei und Carabinieri an den Zufahrtswegen der Stadt trugen sicher dazu bei, Zwischenfälle zu verhindern136. Im Gegenteil war gerade diese von Stadt und Partei verfolgte Strategie der „repressiven Toleranz“137 einer der Hauptfaktoren, die dazu beitrugen, den inzwischen unheilbaren Riss im Inneren des Movimento deutlich sichtbar zu machen. In den offenen Sitzungen, ganz gewollt ohne Tribünen, Bühnen und Vorsitz, zeigte sich nämlich gleich von Anfang an, dass es unmöglich war, diese Hunderte von Stimmen, die die Ablehnung des Existenten zum Ausdruck brachten, in eine Synergie zu bringen. Vor allem zeigte sich hier auch die Unfähigkeit des Movimento, den eingestandenen „Mangel an theoretisch-praktischer Klarheit bezüglich einer strategischen Frage wie der der Waffen“ zu überwinden138. Auf dem „coordinamento nazionale“ vom April pagne gegen das Movimento und seine kulturelle Aktivität, wobei sie sich solidarisch erklären mit allen Dissidenten, gegen die gerade ermittelt wird“; damit inspirierten sie faktisch das Treffen im September; vgl. Parigi: appello degli intellettuali francesi, in: Lotta Continua, 5. Juli 1977; vgl. außerdem G. Orsini / P. Ortoleva, Alto là! Chi va la? Sentinelle o disfattisti?, Rom 1977, S. 101 f. 134 So Bürgermeister Zangheri in seiner Antwort auf den Appell der Franzosen, in: R. Zangheri, In questo luogo d’Europa, in: l’Unità, 10. Juli 1977; vgl. auch G. Orsini / P. Ortoleva, Alto là!, S. 121. 135 G. Invernizzi, Se tutto va bene, se tutto va male, in: l’Espresso, 25. September 1977, S. 19. 136 Es gab tausende Kontrollen und Durchsuchungen sowie 10 Verhaftungen wegen Waffenbesitzes, vgl. C. Del Bello, Una sparatoria tranquilla, S. 345. 137 Dieser Ausdruck wurde von Herbert Marcuse übernommen, für den das Tolerieren von Unordnung die von den Regimes (den USA) verwendete Methode war, im Dienst der Causa der Unterdrückung revolutionäre Regungen niederzuwerfen; vgl. H. Marcuse, La tolleranza repressiva (1965), in: R.P. Wolff / B. Moore / H. Marcuse (Hrsg.), Critica della tolleranza, Turin 1968, S. 77-105. 138 Flugblatt mit dem Titel Benvenuti nella città più libera del mondo, Bologna, 23. September 1977.

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war der Entschluss, eine bewaffnete Konfrontation mit dem Staatsapparat zu vermeiden, noch mehrheitlich gefällt worden139. Aber im September vereitelte schließlich die Schwierigkeit des Movimento, zwischen der evidenten Unmöglichkeit, die rigiden Strukturen, die bis dahin Politik und Gesellschaft verwaltet und geordnet hatten, ohne Waffeneinsatz zu durchbrechen, und dem militarisierten Flügel, der jede Alternative ablehnte, ein Programm und eine Kampfmethode zu dessen gewaltloser Fortsetzung auszuarbeiten, jeden Ansporn zur Erneuerung. Nachdem das Movimento lavoratori per il socialismo, die Avanguardia Operaia und schließlich Lotta Continua aus dem Kongress ausgeschlossen worden waren, übernahmen die extremistischen Gruppen der Autonomia Operaia die Kontrolle über die Versammlung und führten so das Ende des Movimento herbei140. Mit dem Scheitern des Kongresses vollzog sich der definitive Zusammenbruch der Illusion, die auf individueller Ebene bereits erfolgten Transformationen auf die politische Ebene übertragen zu können. Das trieb viele junge Leute in eine allgemeine zerstörerische Desillusion, die mittelfristig sehr weitreichende Auswirkungen auf die italienische Politik und Gesellschaft hatte. Die Gruppen des bewaffneten Kampfes übernahmen tatsächlich auf diese Weise nicht nur die Kontrolle der Versammlung, sondern zeigten einer Generation, die versuchte, den Italienern ihre Enttäuschung über das Scheitern der befreienden und vorwärtstreibenden Verheißung der Moderne mitzuteilen, den bewaffneten Kampf als letzte Möglichkeit, ihre klaustrophobische Wut in Aktion zu übertragen141. Ohne die Komponenten des Movimento einfach auf einen „Nährboden“ des Terrorismus reduzieren zu wollen142: Nach dieser Erfahrung wählten viele junge Leute tatsächlich den Weg des bewaffneten Kampfes und belebten so eine lange Spur terroristischer Verbrechen. Agenda rossa, siehe S. 30. April. C. Venturoli, Stragi fra memoria e storia, Bologna 2007, S. 52; M. Brambilla, Dieci anni di illusioni, S. 221. 141 In dem bereits zitierten Interview zu den Vorfällen an der Scala in Mailand sagte eine andere Teilnehmerin: „Ja, ich bin gewalttätig …, denn es gibt keinen Raum in den Stadtvierteln, es gibt keinen Raum in den Städten, es gibt keinen Raum in der Arbeit, es gibt keinen Raum für gar nichts. Die erste Äußerung ist eine Äußerung der Wut und daher der Gewalttätigkeit. Die Ampel an einer Kreuzung ist nicht wichtig, aber ich schlage sie ein, weil ich eine Wut habe, die ich nicht kontrollieren kann“; Quello che volevamo marciando sulla Scala era di farvi paura, in: la Repubblica, 12. Dezember 1976. 142 Denn ohne die unbestreitbare Anziehungskraft des Terrorismus auf das Movimento negieren zu wollen, war der Terrorismus, wie Marcuse gerade in jenen Tagen bemerkte – in Deutschland wie in Italien –, nicht der legitime Erbe der Studentenbewegung, im Gegenteil: Er bedeutete ihr definitives Auseinanderbrechen; vgl. H. Marcuse, Mord darf keine Waffe der Politik sein, in: Die Zeit, 23. September 1977. 139 140

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Vor allem nach der Eskalation der Roten Brigaden 1978 waren diese Gewalttaten der Schlüssel für den Beginn einer Phase, die auf die hier behandelte folgt und die als Beginn eines hedonistischen Rückzugs ins Private zusammengefasst werden kann, der auf beruflicher Verwirklichung und Profitstreben basierte, auf dem gleichzeitigen Ende des „Panpolitizismus“ der 1970er Jahre, den viele als „riflusso“ (Rückzugsentwicklung)143 bezeichneten, und auf der sich daraus ergebenden Besetzung des gesamten institutionellen Raumes durch die Parteien. Diese Elemente haben de facto die 1980er Jahre bis zum Ende der sogenannten „Ersten Republik“144 charakterisiert.

143 Dieser „riflusso“ leitete allerdings zugleich einen Wandel der Formen des gemeinschaftlichen Engagements und eine Neuorientierung der libertären Bestrebungen und der Politikkritik außerhalb der Parteien ein, zum Beispiel hin zu Themen der Ökologie oder der Anti-Atomkraft. Vgl. beispielsweise G. Crainz, Il Paese mancato. Dal miracolo economico agli anni Ottanta, Roma 2003; S. Di Michele, I magnifici anni del riflusso. Come eravamo negli anni ’80, Venedig 2003; P. Morando, Dancing Days, 1978-1979, i due anni che hanno cambiato l’Italia, Rom / Bari 2009; G. De Luna, Le ragioni di un decennio. 144 Vgl. hierzu M. Gervasoni, Storia d’Italia degli anni Ottanta. Quando eravamo moderni, Venedig 2010.

Konsum und neue kommerzielle Strukturen der Individualisierung Das moderne Fitnessverständnis* Von Roberta Sassatelli

I. Zur Einführung Individualisierung wurde von klassischen Soziologen wie Emile Durkheim und Georg Simmel zusammen mit funktionaler Differenzierung und Rationalisierung als ein Charakteristikum der westlichen Moderne identifiziert. Auf der Grundlage dieser Arbeiten soll unter Individualisierung das soziale Auftauchen des Individuums als einzigartigem Träger von sozialen Rollen, Verantwortung und Funktionen sowie die kulturelle Akzentuierung des Individuums als unabhängiges, abgegrenztes ursprüngliches Wesen verstanden werden. Durch die Prozesse funktionaler Differenzierung und ihre Wirkungen nimmt jeder soziale Akteur eine geradezu einzigartige soziale Position im komplexen Netz von Interdependenzen ein, die den sozialen Raum ausmachen, während die Rationalisierung des Selbst in der Form einer reflexiven Selbstüberwachung integrative Auswirkungen erlaubt. Somit erlangt Individualität einen besonderen moralischen Wert: der individuelle Mensch als eigenständiges Selbst ist – wie Durkheim nahelegt – der Gott der scheinbar säkularen Kultur der Modernität1. Individualisierung ist, dies verdeutlicht Simmel2, ein ambivalentes Phänomen: Individuen sind nämlich nicht einfach frei darin, dass eigene Selbst zu konstituieren. Vielmehr sind sie gezwungen, dies zu tun, wobei ihre Freiheit von sozialen Beziehungen den Weg zu Anomie und Richtungslosigkeit öffnet. Psychologisierung wird zum Standard laienhafter Erklärungen menschlichen Verhaltens, während

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Aus dem Englischen von Annika Hartmann. Eine frühere Fassung dieses Beitrags ist bereits erschienen in: F. Trentmann (Hrsg.), Oxford Handbook of the History of Consumption, Oxford 2012. 1 E. Durkheim, Individualism and the intellectuals, in: R. Bellah (Hrsg.), Emile Durkheim. Selected Writings, Chicago IL 1973, S. 43-57. 2 G. Simmel, Philosophy of Money, 2. Aufl., London 1907.

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Selbstkontrolle die externe Kontrolle im alltäglichen Leiten menschlicher Subjektivität ersetzt3. Das Thema Individualisierung wurde in den 1980er Jahren von Soziologen wie Ulrich Beck und Anthony Giddens im Zusammenhang mit einer Theorie der zweiten oder späten Moderne4 wieder aufgegriffen. In Anlehnung an die Klassiker legt Beck dar, dass individuelles Verhalten weniger durch traditionelle Normen und auf Klassen basierende kollektive Identitäten determiniert ist und argumentiert, dass das Leben zunehmend ein reflexives selbstprogrammiertes Projekt ist. Im Gegensatz zu traditionellen Gesellschaften, in denen soziale Normen vom Kollektiv ausgehen, müssen sich Individuen in modernen Gesellschaften daher „teilweise selbst [Normen] geben, sie durch eigenes Handeln in ihre Biographien einbringen“5. Beck behauptet, dass, obwohl die Individualisierung zu Beginn der Industriellen Revolution entstand, diese sich größtenteils auf Männer der Mittel- und Oberschichten beschränkte. In der Zweiten Moderne hingegen – die weitgehend mit der seit den 1960ern aufkommenden postindustriellen Wirtschaft und der postmodernen Kultur zusammenfällt – dehnte sich die Individualisierung auf alle gesellschaftlichen Schichten aus. Zudem brachte die Erste Moderne einen Prozess der Loslösung und der Wiedereinbettung des Individuums in soziale Strukturen mit sich (d.h. Akteure wurden von traditionellen Strukturen, wie etwa auf Privilegien und Abstammung basierende Hierarchien, losgelöst und wieder in neue, recht stabile Strukturen, wie beispielsweise Bürokratien und Familien, eingebettet), während im Zuge der Zweiten Moderne ein allgemeiner Prozess der Loslösung ohne die spätere Wiedereinbettung stattfand. Auf der Makroebene beinhaltet dies einen sozialen und kulturellen Wandel, der nicht durch den Bruch mit grundlegenden Strukturen der Moderne, sondern durch deren Radikalisierung, bewirkt wird. Zugleich umfasst dies auf der Mikroebene eine Hervorhebung der individuellen Entscheidung und Identität. Auf beiden Ebenen gewinnt der Konsum an Relevanz. Aus dieser Perspektive ist die Marktbeteiligung als Verbraucher entscheidend für das Erlangen individueller Identität im Zeitalter der Individualisierung6. Als Verbraucher sind Individuen – als Selbst und als Körper – mit einer neuen Entscheidungsmacht und Reflexivität versehen worden. Körper 3 N. Elias, The Civilizing Process, 2 Bde., Oxford 1978 und 1982; M. Foucault, The Subject and Power, in: H.L. Dreyfus / P. Rabinow (Hrsg.), Michel Foucault. Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago IL 1983, S. 208-226. 4 S. Lash / B. Wynne, Introduction, in: U. Beck, Risk Society: Towards a New Modernity, London 1992, S. 3, sowie A. Giddens, Modernity and Self-Identity, Redwood City CA 1991. 5 S. Lash / B. Wynne, Introduction, S. 3. 6 Ebd.; A. Giddens, Modernity; ders., The Consequences of Modernity, Redwood City CA 1990; Z. Bauman, Intimations of Post-modernity, London 1992.

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und Selbst sind in der Tat zentral für die Erforschung von Konsum, sowohl im Hinblick auf die Entstehung von Konsummustern und Konsumkultur in der frühen Moderne als auch deren Veränderung und Entwicklung in der späten Moderne. In diesem Aufsatz werde ich unter Zuhilfenahme von geschichtlichen und soziologischen Überlegungen untersuchen, wie der Körper und das Selbst durch die Entwicklung der Konsumkultur beeinflusst worden sind. Mein Ziel ist es, eine Grundlage für eine kritische Neubewertung des Konzeptes der Individualisierung und ihrem Verhältnis zur Organisation von Konsum in der Moderne zu ermöglichen. Hierfür soll ein bestimmtes Fallbeispiel betrachtet werden, das mit dem Körper und dem Selbst die beiden Pole der Individualisierung in der Konsumkultur enthält, nämlich die Fitness-Kultur.

II. Hedonismus, Narzissmus und die öffentliche Darstellung des Privaten Gleichgültig was wir mit „Individualisierung“ meinen, der Begriff deutet offensichtlich auf einen langfristigen historischen Prozess hin, der sich in verschiedenen Erscheinungen von der frühen bis zur späten Moderne entfaltet hat. Ebenso hat sich die „Konsumkultur“ durch eine lange historische Periode hindurch verfestigt. Tatsächlich haben sich Historiker und Soziologen traditionell nicht nur auf die Wirtschafts- und Handelsmetropolen der Renaissance und den Konsum von kolonialen Produkten des 17. und 18. Jahrhunderts konzentriert, sondern auch und besonders auf eine jüngere Periode, die sich ungefähr von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg erstreckt. Studien über das Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich überwiegend mit der Verbreitung von Warenhäusern und der modernen Produktwerbung; die Studien zur Nachkriegszeit befassen sich vor allem mit der Verbreitung massenproduzierter Gebrauchsgüter für den Haushalt. Zu diesen können verschiedene soziologische Studien zu zeitgenössischen Gesellschaften des späten 20. Jahrhunderts hinzugefügt werden, welche die Verschiebung zu einem post-fordistischen Produktionsmodell und die nachfolgende Verbreitung von zunehmend individualisierten flexiblen Konsummodellen, auch dank neuer Kommunikations- und Darstellungstechnologien, hervorheben. Diese unterschiedlichen Studien können durch eine Fokussierung darauf, welche Merkmale Verbrauchern als sozialen Akteuren zugeschrieben wurden, neu gelesen werden. Soziale Akteure wurden in der Tat zunehmend als „Verbraucher“ bezeichnet. Während neueste Forschungen gezeigt haben, dass politische Akteure auch darin involviert waren, ein Bild des Verbrauchers und seiner Rolle bereitzustellen7, wurde die Führung oft den 7 E. Cohen, A Consumers’ Republic. The Politics of Mass Consumption in Postwar America, New York 2003; M. Daunton / M. Hilton (Hrsg.), The Politics of

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Marktakteuren wie den Werbe- und Marketingagenturen zugewiesen. Werbung hat einen wichtigen Platz in den Darstellungen der Entstehung moderner Konsumformen eingenommen, da der Aufstieg einer „Werbekultur“ eng mit der Entstehung des Verbrauchers verbunden zu sein scheint8. Außerdem wird Werbung häufig als offensichtlichstes symbolisches Gegenstück zeitgenössischer Konsumkultur bezeichnet. Die Trennung und Spezialisierung der Institutionen sowohl der Produktion als auch des Konsums deuten darauf hin, dass sich die Handlungsträger, die sich der Werbung für Güter widmen, auch spezialisieren und somit sichtbar werden müssen. Besonders die Verbreitung von Werbenachrichten, die immer weniger sachlich sind, wird häufig als Wurzel der Ausbreitung einer spezifischen Konsumkultur angesehen. Auch ohne den Vergleich mit der heutigen Werbeindustrie anstellen zu können, gab es schon in den Städten der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vor allem in England, Zeitungen, die sich vollständig der Werbung widmeten. In diesem Zeitraum, als Produzenten und Verbraucher nicht länger in direktem Kontakt standen und die Presse begann, sich als erstes Medium für die großflächige Verbreitung von Werbebildern- und Texten zu etablieren, hatte Werbung typischerweise einen sachlichen Ton. Sie forderte die Öffentlichkeit dazu auf, die Existenz eines bestimmten Produkts zu beachten, ohne zu spezifizieren, welchem Zweck es diente, welche Bedürfnisse es erfüllen, in welchen Kontexten es verwendet werden konnte oder für wen es besonders geeignet war. Werbung konstruierte keine artikulierten und komplexen Bedeutungsuniversen, um Produkte zu präsentieren: die Produkte waren sozusagen nackt. Wie Marshall McLuhan nahelegt, gab es eine Tendenz in der Entwicklung der Werbung, das Produkt als wesentlichen Bestandteil größerer sozialer und kultureller Prozesse darzustellen9. Auf diese Weise entwickelte sich die Werbung von einer referentiellen Form, die sich hauptsächlich auf das Produkt richtete, zu einer kontextuellen Form, in welcher das Produkt symbolisch aufgeladen und in breitere Lebenskontexte10 eingefügt wurde. Diese repräsentierten Lebensstile können für Verbraucher als magische Formeln fungieren, so dass die visuellen Zeichen das kollektive Verständnis von Idealen, der Gesellschaft, des Selbst und des Körpers repräsentieren können. Consumption, Oxford 2001; S. Kroen, A Political History of the Consumer, in: The Historical Journal, 47 (2004), 3, S. 709-736. 8 A. Wernick, Promotional Culture. Advertising, Ideology and Symbolic Expression, London 1991; siehe auch S. Ewen, Captain of Consciousness. Advertising and the Social Root of Consumer Culture, New York 1976. 9 M. McLuhan, The Mechanical Bride. Folklore of Industrial Man, Boston MA 1967. 10 A. Hennion / C. Méadel, The Artisans of Desire: the Mediation of Advertising between Product and Consumer, in: Sociological Theory, 7 (1989), 2, S. 191-209; W. Leiss / S. Kline / S. Jhally, Social Communication in Advertising. Persons, Products and Images of Well-being, New York 1991.

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Über heutige Gesellschaften, die gesättigt sind mit Werbemitteilungen und -bildern, wurde geschrieben, dass sie Individuen einladen, freudig Verantwortung für ihren Körper zu übernehmen und in dessen Erhalt zu investieren, um eine kulturell angemessene Selbstpräsentation leisten zu können11. Dieser Ansicht nach sind Körper und Selbst deutlich durch Konsumkultur verbunden und zwar zum Nachteil eines dritten Elementes, der Seele, welche eine zentrale Position in weniger säkularen Kulturen als der unseren einnimmt. Es heißt, dass der Körper zum „sichtbaren Träger des Selbst“ in der heutigen „Konsumkultur“12 geworden ist, da er nicht länger den Gefahren der Sünde unterliegt, welche in der viktorianischen Bildsprache des 19. Jahrhunderts so vorherrschend waren. In Jean Baudrillards Bemerkungen zur Konsumgesellschaft wurde der menschliche Körper an sich als „der perfekte Verbrauchsgegenstand“ definiert: „seine ‚Wiederentdeckung‘“, im Geiste einer physischen und sexuellen Befreiung nach tausend Jahren Puritanismus; seine Omnipräsenz (besonders die Omnipräsenz des weiblichen Körpers) in Werbung, Mode und Massenkultur; der hygienische, diätetische und therapeutische Kult, welcher ihn umgibt, die Obsession mit Jugend, Eleganz, Männlichkeit/Weiblichkeit, Behandlungen und Kuren, sowie die Entsagungshaltung, die mit all dem verbunden ist, bezeugt die Tatsache, dass der Körper heute ein Gegenstand von Rettungsmaßnahmen geworden ist. Er hat buchstäblich die moralische und ideologische Funktion der Seele übernommen13. Baudrillard tritt in die Fußstapfen kritischer Denker wie Marcuse und ist der Meinung, dass die Befreiung des Körpers, die von Werbung und Werbekultur versprochen wird, alles andere als real ist und tatsächlich auf eine Intensivierung von Machtverhältnissen, eine Ausbreitung der kapitalistischen Logik des Profits in die Bereiche von Intimität, Erotik und Genuss hinausläuft. In ähnlicher Weise hat Christopher Lasch behauptet, dass in Konsumgesellschaften die Belohnung für regelmäßige, disziplinierte Arbeit am Körper nicht länger geistige Rettung oder Wohlbefinden ist, sondern eine verbesserte und vermarktbare äußere Erscheinung14.

11 S. Bordo, Unbearable Weight. Feminism, Western Culture and the Body, Berkeley CA 1993; A. Howson, The Body in Society, Cambridge 2004; J. O’Neill, Five Bodies. The Human Shape of Modern Societies, Ithaca NY 1985. Zur Rolle des Körpers in der zeitgenössischen Soziologie siehe N. Crossley, The Social Body, London 2001. 12 M. Featherstone, The Body in Consumer Culture, in: Theory, Culture and Society, 1 (1982), 2, S. 18-33. Zur Geschichte des Körpers allgemein siehe M. Feher / R. Daddaff / N. Tazi (Hrsg.), Fragments for the History of the Human Body, New York 1989; R. Porter, History of the Body, in: P. Burke (Hrsg.), New Perspectives on Historical Writings, Cambridge 1991, S. 206-232. 13 J. Baudrillard, The Consumer Society: Myths and Structures, London 1998, S. 129. 14 C. Lasch, The Culture of Narcissism, New York 1991.

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Baudrillards und Laschs Argumente knüpfen an die kritischen Urteile neuerer sozio-theoretischer Arbeiten an, welche die Investition in die Selbstpräsentation mittels Konsum als eine Krankheit des Willens betrachten, die durch den heutigen westlichen Konsumismus, dem Inbegriff der Transformation von „Verbrauchern in Verbrauchsgüter“ und Beispiel einer tieferen „Charakteraushöhlung“15, hervorgerufen wurde. Allgemein gesagt haben die Entpolitisierung und Säkularisierung der körperlichen Arbeit nach dieser Ansicht einer rein materialistischen und letztendlich aussichtslosen Suche nach physischer Perfektion die Tür geöffnet. Eine Anzahl kommerziell angebotener Waren und Aktivitäten, welche auf die Pflege und die Umgestaltung des Körpers abzielen – von Diätprodukten bis zu Leibesübungen, von Schönheitscremes bis zur plastischen Chirurgie – sind, so Susan Bordo, „ein Projekt im Dienste des Körpers, und nicht der Seele“, und richten sich allein gegen „körperliche Feinde“ wie „Fett“ und „Schwabbel“ anstatt Selbstverwirklichung zu fördern16. Kommerzielle Werbebilder werden als Hauptschuldige ausgemacht – sie ermutigen uns das ideale Äußere zu verfolgen, welches auch immer gerade das Gebot der Stunde sein mag, und führen dazu, dass wir uns unzureichend fühlen, während wir nach einer oberflächlichen, flüchtigen Befriedigung suchen. Frauen sind dabei das beliebteste Opfer dieses Mechanismus, da ihr Selbst unnachsichtiger auf ihre äußere Erscheinung reduziert wird. Krankheiten wie Anorexie und Bulimie verbreiten sich unter jungen Frauen sowie auch die Norm einer Kultur, in welcher die Konsumentin ihren Körper als ein fremdes Objekt betrachtet, welches andauernd kontrolliert werden muss. Allgemeiner gesprochen ist die Loslösung von der Seele ein Schritt hin zur Oberfläche des Körpers. Die rationalisierte Betonung von Leistung, welche in der Arbeitswelt dominiert, hat sich in den Bereich des Konsums ausgebreitet. Von Bedeutung ist, wie Mike Featherstone17 vorschlägt, der „look“: „… consumer culture permits the unashamed display of the human body … clothing is designed to celebrate the ‘natural’ human form, a marked contrast to the 19th century in which clothes were designed to conceal the body“.

Innerhalb der Konsumkultur werden das ‚Äußere‘ (Aussehen, Bewegung und Kontrolle) und das ‚Innere‘ (Funktionstüchtigkeit / functioning, Erhalt und Reparatur) des Körpers verbunden und ergeben eine zunehmende Hervorhebung der Verbesserung des Körpers. Das Ziel der Erhaltung des inneren Körpers konzentriert sich auf das verbesserte Aussehen des äußeren Körpers. Vom Verbraucher wird erwartet die Verantwortung für sein Aussehen zu 15 Z. Baumann, Consuming Life, Cambridge 2007; R. Sennett, The Corrosion of Character, New York 1998. 16 S. Bordo, Unbearable Weight. 17 M. Featherstone, The Body in Consumer Culture, S. 22.

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übernehmen und sich an der Modellierung seines Körpers abzuarbeiten, wobei ein Versagen in diesem Feld ein Zeichen für moralisches Versagen wird18. Polemische Interpretationen, die ihr Augenmerk auf Konsumkultur als kommerzielle Bildhaftigkeit und Konsumismus richten, hatten beträchtlichen Erfolg. Allerdings wäre es unklug, die Rolle zu leugnen, die die Zurschaustellung des menschlichen Körpers in den heutigen visuellen Medien und in der Werbung hat, oder umgekehrt die mögliche Rolle von Medien und Werbung in der Förderung bestimmter Körperideale, die als universal dargestellt werden, aber unterschiedlich zugänglich bleiben. Die Verbreitung von visueller Kultur, die kommerziellen Zwecken folgt (Filme, Fotografien und so weiter), erhöhte die individuelle Sensibilität für das äußere Erscheinungsbild und die körperliche Darstellung. Zum Beispiel legitimierte die wachsende Filmindustrie die öffentliche Zurschaustellungen des Körpers und Körperperfektionierung in der Freizeit (von Sonnenbaden bis hin zu Fitness-Training). Genauer gesagt hat die heutige Werbung den menschlichen Körper benutzt, um für die verschiedensten Produkte und Dienste zu werben. Sie hat so dazu beigetragen, den Körper in einen öffentlichen Ort zu verwandeln. Sie hat Formen, Größen und Texturen seiner Einzelteile betont, Körperpflegeroutinen und sexuelle Erregung dargestellt, Fantasien von Körperveränderungen durchgespielt und durch die fiktive Darstellung ärztlichen (Kunst-)Handwerks auch die unsichtbaren Innenbereiche dem öffentlichen Blick ausgesetzt. In allen Gesellschaften werden bestimmte äußere Merkmale öffentlich gefeiert und mit einem hohen Status verbunden, aber sie werden auch häufig als exklusiv für die Privilegierten und Begünstigten anerkannt. In der heutigen westlichen Konsumkultur werden Körper, die für die Privilegierten zugänglicher sind, durch eine Vielfalt an Bildern in der Massenwerbung idealisiert. Sie werden sowohl als eine Angelegenheit individuellen Willens und als Beweis persönlichen und sozialen Erfolgs für alle kodiert. Unter solchen Umständen wird der Körper durch Kommodifizierung als Ort der Herrschaft gesehen, was letztendlich zur Nachbildung von ethischen sowie geschlechts- und klassenbezogenen Verzerrungseffekten führt19. Durch Arbeiten von Lasch, Baudrillard und Bordo inspirierte polemische Perspektiven auf Konsumentenkörper und -identitäten wurden sowohl positiv als auch negativ aufgenommen. Sie beruhen nicht nur auf einem wertbefrachteten Gegensatz zwischen den Sphären von Konsum und Arbeit, dem im Leben der neuen Mittelklassen, die in kreativen Berufen beschäftigt sind, zunehmend widersprochen wird, sondern sie ziehen außerdem nicht in 18 R. Sassatelli, Fitness Culture. Gyms and the Commercialisation of Discipline and Fun, Basingstoke 2010. 19 A. Wernick, Promotional Culture; M. Wykes / B. Gunter, The Media and Body Image, London 2005.

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Betracht, dass die Konsumkultur, statt einen pathologischen Verbraucher als Maßstab zu produzieren, Vorstellungen von Normalität anbietet, an welchen sich die Menschen ihrerseits orientieren sollen. Durch die Aneignung von ansonsten einigermaßen standardisierten und entfernten Diensten und Waren können Verbraucher mit den Idealen von Körper und Selbst, die zwangsläufig vorherrschend sind, umgehen und sich somit erfolgreich mit ihnen arrangieren und sie neu ausrichten. Das bringt uns zu der zugrundeliegenden moralischen Rahmung der Verbraucher. Statt die Ideologien des Asketismus und der Selbstverleugnung abzuschaffen und sie auf Vorzeigezwang basierenden Emanzipations- und Hedonismusideologien zu ersetzen, hat eine schnell wachsende Werbekultur die Kombination von Hedonismus und Asketismus gefördert, die Waren (und deren institutionellen Rahmen von Beschaffung und Benutzung) als ausgleichende Mittel anbietet20. Durch den angemessenen, gezähmten aber freudigen Genuss bestimmter Waren können Verbraucher die Kontrolle über sich selbst und ihre Körper demonstrieren. Dieses Thema wurde in der Tat in verschiedenen weniger polemischen Arbeiten weiterentwickelt, welche für eine differenziertere Betrachtungsweise der neuen hedonistischen Strömungen der puritanischen Moral in Gesellschaften, die zunehmend durch Konsum und Werbekultur charakterisiert sind, plädieren. Während Colin Campbell21 (1987) die Wurzeln in den aus Großbritannien stammenden Lehren der Romantik vermutet, sehen andere die Mischung von Hedonismus und Asketismus als charakteristisch für die Art materialistischer Kultur, die bereits in den Renaissancestädten eine kommerzielle Moderne begünstigt hatte22. Andere weisen darauf hin, dass dieser Zusammenhang vor allem seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts stärker wurde. Thomas Jackson Lears23 hat belegt, dass die US-Werbebotschaften die Säkularisierung der protestantischen Ethik während der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts gefördert haben. Er sieht im Aufkommen einer neuen Art ethischer Verschmelzung von Hedonismus und Asketismus die Entwicklung eines sozialen Klimas, welches besonders vorteilhaft für den Konsum war: die „therapeutische Ethik der Selbstverwirklichung“, welche die Schauspieler 20 R. Sassatelli, Tamed Hedonism: Choice, Desires and Deviant Pleasures, in: J. Gronow / A. Warde (Hrsg.), Ordinary Consumption, London 2001, S. 93-106. 21 C. Campbell, The Romantic Ethic and the Spirit of Consumerism, Oxford 1987. 22 C. Mukerji, From Graven Images: Patterns of Modern Materialism, New York 1983. 23 T.J.J. Lears, No Place of Grace. Antimodernism and the Transformation of American Culture 1880-1920, New York 1981; ders., From Salvation to Self-realization: Advertising and the Therapeutic Roots of the Consumer Culture 1880-1930, in: ders. / W. Fox (Hrsg.), The Culture of Consumption. Critical Essays in American History 1980-1980, New York 1983, S. 3-38.

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dazu drängte, sich selbst mit Waren und Diensten, die mit Gesundheit und körperlichem Aussehen zu tun hatten, weiterzuentwickeln. Somit wurde es in den USA in kommerziell vermittelten Freizeiträumen praktisch zur Pflicht, ‚Spaß zu haben‘ und sich zu amüsieren. „Spaß zu haben“ hieß, den eigenen Körper als ein Vehikel der Befriedigung und des Vergnügens zu verwenden. Der Körper wurde somit zu einem Schauplatz, der erkundet, sichtbar gemacht und einem neuen Nutzen überantwortet werden konnte und musste. Dies etablierte sich allmählich in den bürgerlichen Schichten. Eine „Suche nach disziplinierter Vitalität“ und „intensiven Erfahrungen“ wurde durch die massive Verfügbarkeit einer Vielzahl von Waren (Kosmetika, Deodorants, Make-Up, usw.) und Dienstleistungen (Friseure, Schönheitssalons, Fitnessstudios, usw.) auf dem Markt sanktioniert24. Dies ist ein Beispiel für eine kulturelle Entwicklungstendenz, in dessen Kontext sich das Konzept des Körpers – zusammen mit einer Anzahl kommerziell vermittelter Objekte und Techniken, die den Körper in all seinen Aspekten wiederentdecken wollen – als Sammelpunkt für das Unterbewusste entwickelte25. Dies ist außerdem Teil eines längeren historischen Prozesses, durch den in verstärkt rationalisierten kapitalistischen Wirtschaftssystemen – in zunehmend langweiligen Gesellschaften, wie Norbert Elias sagen würde –, die kompensierende Funktion von „pleasurable excitement“ selbst in spezialisierten Institutionen organisiert und auf spezifische Praktiken (eine Art „kontrolliertem Kontrollverlust“) ausgerichtet stark zugenommen haben dürfte26. Die ständige, oftmals mühsame, und nicht endende Disziplinierung des Geschmacks vis à vis der eigenen materiellen und symbolischen Bindung an Objekte und Orte ist wesentlich für das Vergnügen am Konsum, keinesfalls aber dem entgegengesetzt. In der Tat hat sich die Normalisierung des Verbrauchers als sozial ausschlaggebender Akteur historisch vor dem Hintergrund einer (zugegebenermaßen instabilen) Harmonisierung von Hedonismus und Asketismus ereignet. Weitere Kritiken, die an die polemischen Sichtweisen – wie oben erörtert – gerichtet waren, behandeln deren textualistische Tendenz. Textualismus entwickelt sich hier auf zwei verschiedenen Ebenen: auf der makrohistorischen Ebene, wobei abstrakten Zeichen oder Bildern erklärende oder verursachende Kraft zugeschrieben wird; und auf mikro-soziologischer Ebene, wobei der Bedeutungsgehalt für Verbraucher durch Analysen objektivierter Werbetexte T.J.J. Lears, No Place of Grace. G. Vigarello, Le corps reddressé, Paris 1978. Dieser Trend, der zwar noch auf dualistischen Geist-Körper/Selbst-Prämissen basiert, ebnet den Weg für die Einbindung östlicher Subjektivitätsvorstellungen, die diesen Dualismus zu überwinden suchen, in die westliche Konsumkultur. 26 N. Elias / E. Dunning, The Quest for Excitement. Sport and Leisure in the Civilizing Process, Oxford 1986, S. 36 ff. 24 25

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wie Reklamebotschaften und -bilder abgeleitet werden. Im ersten Fall bieten sie einen eher kontrastlosen Blick auf die Geschichte, wo Institutionen, Menschen und soziale Beziehungen nur Schatten einer revolutionären post-modernen Herrschaft des Markenzeichens sind. Im Gegenteil, wir müssen bedenken, dass die Geschichte von Werbebildern, so wie sie in breitere historische Prozesse eingebettet ist, lang und abwechslungsreich ist und einhergeht mit der Konsolidierung von neuem Fachwissen und neuen Berufsbildern: Führungskräfte in der Werbebranche, Marketing-Experten und Ladenangestellte – alle mit recht stringenten körperlichen und Selbst- Darstellungsbedürfnissen usw. Die Bereiche Marketing und Werbung wurden durch eine Anzahl anderer, zunehmend professionalisierter Figuren wie Designern und Modejournalisten ergänzt. Diese unterschiedlichen Figuren – die sogenannten „kulturellen Vermittler“27 – nahmen an einem breiten Institutionalisierungsprozess teil, der einer Vielzahl von verschiedenen Akteuren (professionelle Organisationen, Marktbeobachtern / market watchdogs), und Konsumentenbewegungen / consumer movements) den Weg eröffnete, die alle damit beschäftigt waren, ihr eigenes Bild der Verbraucher und ihrer Bedürfnisse und Fähigkeiten bereitzustellen. Im zweiten Fall sah man polemische Sichtweisen als wenig dazu geeignet, die gelebten sozialen Erfahrungen von Verbrauch zu begreifen. Verbraucher werden nicht einfach mit Werbebildern überflutet, sie müssen diese Bilder dechiffrieren; und dies tun sie ganz unterschiedlich je nach örtlich vorhandenen Konsummöglichkeiten, sozialen Beziehungen und institutionellem Umfeld28. Alles in allem wird die Art, wie wir unseren Körper erfahren, unsere körperliche Identität handhaben, an sozialen Ritualen als verkörperte Subjekte teilnehmen, uns als moralisches Selbst präsentieren usw. weitgehend von der Konsumkultur vermittelt. Aber Konsumkultur kann nicht auf Zeichen und ideologische Gegenstände in Werbebildern allein reduziert werden. Sie muss als gelebte Kultur verstanden werden, die sich über situierte Interaktion in spezifischen institutionellen Formationen entfaltet, die ihre eigene historische Tiefe haben. Als gelebte Kultur wird Konsumkultur von lebenden, verkörperten Akteuren geschaffen. Daher müssen wir nicht nur Werbebilder untersuchen, sondern auch Verkörperungspraktiken und deren soziale Organisation.

III. Entscheidung und Geschmack, Habitus und Körperarbeit: Über begrenzte Reflexivität Pierre Bourdieus Werk war für die jüngste Forschung über Konsum, den Körper und das Selbst bahnbrechend. Bourdieu trug wesentlich zu einem 27 28

P. Bourdieu, Distinction: A Social Critique of the Judgement of Taste, London 1984. R. Sassatelli, Consumer Culture. History, Theory, Politics, London 2007.

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breiteren Denkansatz bei, der im Konsum einen zeremoniellen, kommunikativen Akt sieht. Sein spezifischer Schwerpunkt liegt allerdings auf der Verkörperung. Verbraucher handeln mit einem Sinn für Auszeichnung, den sie durch Geschmack verinnerlicht haben. Verbraucher unterscheiden nicht nur zwischen Waren, um sich auszuzeichnen. Sie können nichts tun, außer Waren und sich selbst unterscheiden: das heißt, diese werden verschiedenen Kategorien zugeordnet, eingeschlossen oder ausgeschlossen, je nach ihrer Fähigkeit zur Auszeichnung. Obwohl dies in der scheinbar neutralen und unverfänglichen Sprache individueller Vorlieben ausgedrückt wird, „verbindet [der Geschmack] Farben und auch Menschen, die ‚gut zusammenpassende Paare‘ abgeben, zu Anfang im Hinblick auf den Geschmack“29. Es handelt sich somit um einen produktiven und klassifizierenden Mechanismus, welcher gleichzeitig den Klassifizierer klasssifiziert und hilft, seine oder ihre soziale Position zu festigen. Bourdieu schlägt eine Theorie der Praxis vor, durch welche menschliches Handeln als etwas Greifbares konstruiert wird und menschliche Erfahrung im Sinne von Mimesis verstanden wird: Zu diesem Zweck verwendet er den Begriff „Habitus“, mit dem ein System von Dispositionen gemeint ist, „strukturierte Strukturen, die wie eine strukturierende Struktur funktionieren sollen“, die durch, bis in die ersten Lebensjahre zurückreichende Erfahrungen in den Körper geschrieben sind. Sie funktionieren als unbewusster, aber extrem anpassungsfähiger Mechanismus, der Akteure auf Objekte, sich selbst und andere ausrichtet. Geschmäcker sind subjektive Verwirklichungen des Mechanismus des Habitus, der den Verbrauch organisiert. Bourdieu stellt neben diese komplexe und fein kalibrierte Beschreibung von Habitus eine hierarchische und lineare Vorstellung von sozialer Struktur und ihrer Beziehung zur Strukturierung von Geschmack. Individueller Habitus und die Klasse Habitus (definiert durch strukturelle Formen von Kapital, die sich von der eigenen beruflichen Position und Bildung und aus sozialen Netzwerken herleiten) haben eine homologische Beziehung – d.h. eine Beziehung von „Unterschiedlichkeit in der Homogenität“. Verkörperte Disposition funktioniert somit als symbolische Kraft, die das existierende System von Machtunterschieden naturalisiert. Für Bourdieu ist der Zustand des Körpers an sich die Realisierung einer „politischen Mythologie“: Lifestyle-Regime reflektieren die kulturelle Genese von Geschmack von dem spezifischen Punkt innerhalb der sozialen Sphäre, von welchem Individuen hervorgehen, und sie werden durch die grundlegendsten alltäglichen Bewegungen eingebunden, die die Gleichwertigkeit von physischer und sozialer Sphäre fixieren. Sogar „in seiner natürlichsten Erscheinungsform … Volumen, Größe, Gewicht, usw.“ ist der Körper ein soziales Produkt: „die ungleiche Verteilung von Körpereigenschaften unter sozialen Klassen“ wird sowohl

29

P. Bourdieu, Distinction, S. 243.

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konkret durch „Arbeitsbedingungen“ und „Konsumverhalten“ realisiert, und durch „Kategorien und Klassifizierungssysteme die nicht unabhängig sind“ von einer solchen Verteilung, wahrgenommen30. Man nehme das Beispiel des heutigen Gesundheitsmarkts. Hier findet man viele verschiedene Einstellungen zum Körper und seinem Gesundheitszustand, die wiederum verschiedenen Angeboten im Gesundheitswesen entsprechen. Allgemein gesagt sind Mitglieder des Mittelstandes davon überzeugt, sich selbst, ihre Körper und ihren Gesundheitszustand kontrollieren zu können und zu müssen. Deshalb lassen sie öfter medizinische Vorsorgeuntersuchungen durchführen und haben dementsprechend eine längere Lebenserwartung. Im Unterschied dazu neigen Mitglieder der Arbeiterklasse zu einer fatalistischen Einstellung, sie messen kleinen Krankheiten keinen Wert bei und suchen nur zögerlich bei Notfällen einen Arzt auf. Dies hat eine kürzere Lebenserwartung zur Folge31. Während Habitus nach Bourdieus Theorie ein tiefsitzender, oftmals unbewusster Mechanismus ist, um Geschmack und materielle Kultur anzugleichen, wurde die strategische Dimension der Identitätsgestaltung durch Waren auch von Theorien der späten Moderne in den Vordergrund gerückt. Die Teilnahme am Markt ist in einem Zeitalter, für das Ulrich Beck und Anthony Giddens den Ausdruck „reflexive Individualisierung“32 gebrauchten, ausschlaggebend für das Erreichen von individueller Identität. Die zweckmäßige individuelle Stilisierung des eigenen Selbst und des eigenen Körpers durch Konsumentscheidungen wurde dabei stark hervorgehoben. Im Gegensatz zu den polemischen Ansätzen, die weiter oben besprochen wurden, bietet Giddens ein positiveres Bild der Individualisierung, welches die Idee von „body projects“ beinhaltet: die Idee, dass das Selbst in der späten Moderne ein reflexives und säkulares Projekt wird, das an einem immer weiterentwickelten Niveau von Körperpräsentation arbeitet. In einer Zeit kultureller Deklassifizierung und wachsender Hervorhebung von Individualität, können sich Verbraucher Symbole neu aneignen und diese auf unvorhergesehene Weise anwenden. Dies umfasst unaufhörliche Selbstkontrolle und -prüfung, das Planen und Ordnen von Praktiken und Entscheidungen zwecks einer kohärenten Zurschaustellung von Identität – und all das hat zwar seinen Preis, kann aber dem Verbraucher erlauben, der Tyrannei des Marktes zu widerstehen. Diese positive Sicht auf Individualisierung hat allerdings ihre eigene kritische Grundlage. Wenn für den Liberalismus die Entscheidung nur Freiheit P. Bourdieu, Outline of a Theory of Practice, Cambridge 1977, S. 51. Zu Frankreich siehe P. Bourdieu, Distinction; L. Boltanski, Les usages sociales du corps, in: Annales ECS, 26 (1971), 1, S. 205-233; zum Vereinigten Königreich siehe M. Tomlinson, Lifestyle and Social Class, in: European Sociological Review, 19 (2003), 1, S. 97-111, sowie T. Bennet u.a. (Hrsg.), Culture, Class, Distinction, London 2009. 32 U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne (edition Suhrkamp, 1365), Frankfurt a.M. 1986; A. Giddens, Modernity. 30 31

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bedeutet, ist sie für diese Theoretiker auf eine gewisse Art verbindlich. Wir werden weniger durch die kapitalistische Wirtschaft dazu gezwungen, als durch die Abwesenheit einer stabilen sozialen und kulturellen Ordnung in post-traditionellen Gesellschaften. Wir haben laut Giddens „no choice, but to choose“33. Für Beck setzte der Liberalismus eine kohärente Identität voraus, die es freilich zu wählen galt. Das Selbst ist somit ein Projekt, das wir aus einer pluralisierten Welt erhalten und innerhalb einer solchen verfolgen müssen34. Selbstverständlich gehören Entscheidung und Selbst-Verantwortung für das gewählte Selbst zusammen, und die Risiko-Wahrnehmung verändert sich dementsprechend: Nun liegen Risiken im Bereich der Anomie, verbunden mit der Unfähigkeit, vermittels der eigenen Entscheidungen ein positiv bewertetes Selbst überzeugend darzustellen. Die späte Moderne, so Giddens, konfrontiert das Individuum mit einer „nicht grundlegenden“ komplexen Entscheidungsvielfalt, die Ängste produziert und „wenig Entscheidungshilfe“35 anbietet. Die Lösung für solche Risiken und Ängste in der Konsumkultur, ist für Zygmunt Baumann „technisch“36: Sie löst das Problem des dauerhaften und kohärenten Selbst angesichts einer permanenten und nicht-grundlegenden Komplexität, indem alle Probleme als durch spezifische Verbrauchsartikel lösbar behandelt werden. Jeder einzelne kann für eine bestimmte Aufgabe geeignet sein, aber sie müssen dennoch zu einem kohärenten und glaubwürdigen Ganzen zusammengestellt sein. Als reflexiver Versuch Kohärenz herzustellen, kann Lifestyle einerseits ein Mittel für individuelle Verbraucher sein, den Pluralismus von post-traditioneller Identität handzuhaben, so wie dieser vom Handel organisiert (und ausgenutzt wird). Giddens betont nochmals, dass im Kontext post-traditioneller Gesellschaften „die kumulativen Entscheidungen, die zusammen den Lebensstil bilden, den Kern der Identität einer Person bilden“. Der „innere Kern der eigenen Identität“ ist „mobil“ und „reflexiv“, und besteht aus „Routinehandlungen … die reflexiv für Veränderungen offen sind“37. Lifestyle ordnet Dinge zu einer bestimmten Einheit, reduziert die Pluralität von Entscheidungen und bietet eine Art „ontologische Sicherheit“. Soziale Reproduktion wird so von der traditionellen Kultur auf den Waren- (und Arbeits-)Markt übertragen. Die Vorstellung von individuellen Bedürfnissen wird bestimmend für das wirtschaftliche Wachstum genauso wie standardisierte Konsummuster ausschlaggebend für die wirtschaftliche Stabilität wurden und die Risiken nicht nur für Individuen, sondern auch für Unternehmen reduzierten. Dies kann dazu verleiten, das Selbst als Ware zu konzipieren. Ein Prozess der Selbst-Kommerzialisierung wird in der Tat 33 34 35 36 37

A. Giddens, Modernity, S. 81. Vgl. U. Beck, Risikogesellschaft. Ebd., S. 80. Z. Bauman, Intimations of Post-modernity, London 1992, S. 200. A. Giddens, Modernity, S. 81.

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als „Selbstverwirklichung, die nach Marktkriterien verpackt und vermarktet wird“38, skizziert. Das Bild, das Giddens entstehen lässt, erscheint ziemlich entfernt von dem, welches Bourdieu anbietet, doch trotzdem beschreiben beide die historische Spezifität zeitgenössischer Konsumkultur und stellen Individualisierung und ihre Strukturen dar. Sie haben recht unterschiedliche Kritik hervorgerufen. Auf der theoretischen Ebene wurde Bourdieus Arbeit zu Geschmack und Auszeichnung vorgeworfen, eine ziemlich hierarchische Sicht von sozialer Schichtung sowie ein deterministisches Bild von Reproduktion durch Homologie anzubieten. Konsumsoziologen und -anthropologen haben zu mehr Aufmerksamkeit für die innere Komplexität von Konsumpraktiken aufgerufen, besonders für deren Kreativität und Fähigkeit Klassifikationen und Stile hervorzubringen, die letztendlich selbständig zu der ständigen Strukturierung des Habitus beitragen39. Wir wissen zum Beispiel, dass sich Frauen und Teenager aller Couleur durch populäre kulturelle Waren – Bücher, Filme, Fernsehserien und Musik – wechselseitig beeinflussen und Fankulturen produzieren, die in sich komplex sind, nicht auf die durch die Medien verbreiteten Bedeutungen reduziert werden können und für sehr spezifische Formen kulturellen Kapitals wertschaffend sind40. Während Konsumbereiche oder -kulturen weit davon entfernt sind, unmittelbarer Ausdruck von eigennützigen Akteuren zu sein, können sie freilich Identitäten und Einstellungen konsolidieren, die relativ unabhängig von strukturellen Trennungen wie Klasse, Beruf, Geschlecht oder Ethnie sind. Im Fall von jugendlichen Subkulturen oder amateurhaften Usancen sind es die Konsumpraktiken selbst, die eine Struktur für die Standardisierung von Geschmack schaffen. Deshalb können wir nicht einfach sagen, dass Degustationen ein modischer Zeitvertreib der Mittelschicht sind, der der kulturellen Positionierung der Mittelschicht entspricht. Die Teilnahme an der Weinverkostungskultur ist nicht nur eine Funktion von Klassenzugehörigkeit, sondern erzeugt klassifizierende Prinzipien, die die Teilnehmer mit anderen Kompetenzen als Klassendistinktion ausstatten41. Bourdieus Habitus weist darauf hin, dass es eventuell nicht ausreicht, eine Beziehung zwischen verkörpertem Geschmack und der Welt der Dinge zu postulieren, da letztere den ersten nicht hervorbringt oder umgekehrt. Dennoch dürfen wir die homologischen Auswirkungen nicht übertreiben. Die Begegnung zwischen verkörperten Subjekten und Objekten ist kreativ: Um zu verstehen

Ebd., S. 198. R. Sassatelli, Consumer Culture. 40 J. Radway, Reading the Romance. Women, Patriarchy and Popular Literature, London 1987. 41 A. Hennion / G. Teil, L’attività riflessiva dell’amatore. Un approccio pragmatico al gusto, in: Rassegna Italiana di Sociologia, 45 (2004), 4, S. 519-542. 38 39

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wie Geschmack und materielle Kultur Übereinstimmung finden und sich gegenseitig formen, ist eine aufmerksamere Betrachtung der lokalen Kontexte des Konsums und vor allem der Einrichtungen nötig, die Anschaffung und Anwendung vermitteln, Interaktion und Verhaltensweisen in einer Art und Weise organisieren, die wir als angemessen erachten, und Narrative für die Gestaltung verantwortlicher, moralisch akzeptabler Identitäten vorschlagen. Die Selbstnarration ist für Giddens und Becks Theorien grundlegend. Beide sehen in Reflexivität – entweder mit triumphalem oder besorgtem Unterton – eine vorrangige Charakterisierung des Verbrauchers. Während die Investition in Körperpräsentation und Selbstprojektion in der heutigen Kultur stark mit Konsum verbunden ist, laufen die Theorien reflexiver Individualisierung Gefahr, die Reflexivität überzubetonen. Es besteht die Tendenz, eine relativ abstrakte Charakterisierung von consumer identity zu unterstützen, mit dem Ergebnis, dass alltägliches Konsumverhalten, seine Differenzierung hinsichtlich der Reflexivität und die Verflechtung mit einer Vielzahl von Körpereinstellungen und sozialen Identitäten, die nicht auf Konsum reduziert werden können, übersehen werden. Somit hat der Kauf und das Tragen von Jeans für eine junge, heterosexuelle Italienerin sehr viel damit zu tun, wie sie mit ihrer Sexualität umgeht. Freilich können Jeans dazu verwendet werden, die eigene sexuelle Attraktivität in bestimmten Fällen zu neutralisieren oder in anderen hervorzuheben, während Sexualisierung nicht auf eine beliebige Ware oder eine Kombination von Waren reduziert werden kann, sondern auf verkörperte Veranlagungen zurückgreift, die oftmals als gegensätzlich zur kommerziellen Stofflichkeit aufgefasst werden42. Diese Tendenz entspricht einer Verschmelzung des normativen Aspektes von Identitätsbildung mit dem praktischen Aspekt der Gestaltung von Handlungsfähigkeit, der integrierter, vielseitiger, widersprüchlicher und umstrittener ist, und als normative soziale Identität auf den Verbraucher zurückwirkt. Alles in allem sollten wir skeptisch sein, Konsum als relativ losgelöste, reflexive Tätigkeit zu betrachten und solche „grand-theoretical“ Sichtweisen darauf reduzieren, was unterschiedliche Verbraucher in unterschiedlichen Kontexten tun. Wenn wir konsumieren, denken wir nicht über alles nach, gerade weil wir praktisch vorgehen. Ganz im Gegenteil, die Bedeutungen, die wir unseren Praktiken zuschreiben, und die Narrativierung, mit der wir reflexiv unsere Konsumlinien gestalten und uns präsentieren, spiegeln zumindest teilweise die Bedingungen wider, in denen wir uns befinden und agieren. Diese „bounded reflexivity“ charakterisiert die Dialektik zwischen Konsum und verkörperten Subjekten am besten. Sie entspricht der Tatsache, dass Konsum Identität nicht nur ausdrückt, sondern auch ausführt: Soziale Akteure schaffen sich 42 R. Sassatelli, Indigo Bodies. Fashion, Mirror Work and Sexual Identity in Milan, in: D. Miller / S. Woodward (Hrsg.), Global Denim, Oxford 2011, S. 127-144.

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selbst, indem sie sich als Verbraucher und als verkörpertes Selbst mit spezifischen und verschiedenen Rollen, Objekte zu eigen machen. Diese Rollen sind mit unterschiedlichen Identitätsmarkern wie etwa Ethnie, Geschlecht, Sexualität, usw. verknüpft, die mit speziellen Konsumstilen verbunden sind. Ziemlich aufschlussreich ist die Geschichte funktionaler Gegenstände wie Hörgeräte. Im 19. Jahrhundert wurden Höhrrohre nur von Männern benutzt, auch wenn Schwerhörigkeit auch bei Frauen auftrat; umgekehrt wurden im 20. Jahrhundert Hörgeräte, die fast unsichtbar geworden waren, von Männern und Frauen verwendet; allerdings waren die Tugenden der beiden Geschlechter und die Schwächen, welche die Hörsysteme korrigieren sollten, geschlechtsspezifisch. Durch den Einsatz dieser Geräte könnten Frauen – so die Werbebotschaften – wieder „gute Zuhörerinnen“ werden, während Männer wieder „interaktionsfähiger“ würden; Frauen würden „Nähe zu Mann und Familie“ wiederherstellen können, Männer ihrem „Mangel an Autorität“ oder den Anstrengungen des „Berufslebens“ trotzen43. Durch diese Gegenstände und ihre differenzierte kulturelle Umrahmung und Darstellung fertigen Verbraucher effektiv ein Selbstbild für sich und andere, ein Bild, das insofern glaubwürdig ist, als es angemessen genderspezifisch ist und eine Reflexivität aufweist, die an als selbstverständlich vorausgesetzte Identitäten gebunden ist, welche nicht auf Konsum allein reduziert werden können. Eine Möglichkeit, die Unzulänglichkeiten von Bourdieus Homologie- und Giddens Reflexivitätsthese zu beheben, ist, sie gegeneinander auszuspielen. Kulturelle Deklassifizierung ermöglicht sicherlich wachsende Möglichkeiten der Wiederaneignung, während schon seit Langem bestehende soziale Hierarchien zerfallen. Dennoch ist Wiederaneignung nicht allen gleichermaßen zugänglich. Personen, die unterschiedliche soziale Positionen einnehmen und auf unterschiedliche verkörperte Dispositionen zählen können, scheinen unterschiedliche Möglichkeiten der Aneignung zu haben. Das viel diskutierte Phänomen des kulturellen Allesfressers ist ein typisches Beispiel. Der Soziologe Richard Peterson hat gezeigt, dass sich für so unterschiedliche Waren wie Lebensmittel und Musik Konsumstrategien entwickeln, die nicht nur durch ein Genre, einen Stil oder Geschmack mit einer klaren Unterteilung zwischen Hoch- und Trivialkultur zum Ausdruck gebracht werden, sondern durch eine bunte Mischung verschiedener Genres, Formen und Produkten44. Tatsächlich schätzt der „allesfressende“ Stil Vielfalt in und an sich und erlaubt es dem Einzelnen zwischen unterschiedlichen Waren auf einem Markt zu wählen, wo die verschwindend kleine Differenzierung von Auswahlmöglichkeiten es besonders schwer macht, einen einheitlichen ästhetischen Stil zu kreieren. 43 So H. Schwartz, Hearing Aids. Sweet Nothings or an Ear for an Ear, in: P. Kirkham (Hrsg.), The Gendered Object, Manchester 1996, S. 64-82. 44 R. Peterson, Understanding Audience Segmentation: From Elite and Mass to Omnivore and Unvore, in: Poetics, 21 (1992), 4, S. 243-258.

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Außerdem ermöglicht es der „allesfressende“ Stil dem Einzelnen, mit einer möglichst großen Anzahl sozialer Gruppierungen Schritt zu halten und somit die eigenen Chancen zu erhöhen, als ästhetisch kompetent anerkannt zu werden. Diese Form der Aneignung betont zwar Individualität, scheint aber klassenübergreifend nicht gleichermaßen verfügbar zu sein: tatsächlich scheinen die Arbeiterklassen in vielen westlichen Ländern heutzutage nicht kulturell benachteiligt zu sein, weil sie sich nicht auf ihre eigene Art und Weise die standardisierte Kultur aneignen, sondern weil sie nicht dazu fähig sind, die Auswahl zu überschauen und eine weniger abwechslungsreiche Auswahl kultureller Waren konsumieren45. Die eklektischsten Individuen, die größtenteils aus privilegierten sozialen Gruppierungen kommen, bewahren in ihren verschiedenen Gepflogenheiten durch eine formreflexive Unterscheidung zweiter Ordnung einen Sinn für Hierarchie. Sie konsumieren zwar alle Arten von Kultur, aber sie sind sehr vorsichtig beim Aufbau elaborierter Topographien davon, wo, wann und mit wem sie verschiedene Kulturgüter konsumieren. Insbesondere bevorzugen sie ‚kultivierte‘ Genres für öffentliche und formelle Anlässe und ‚populäre‘ im privaten Rahmen46. Alles in allem zeigen diese Studien, dass Konsum die Aneignung kultureller Hierarchien impliziert, aber dass die Fähigkeit, diese so zu übersetzen und nachzuvollziehen, dass sie symbolisches Kapital herstellen, nicht einheitlich ist. Daher dienen Waren umgekehrt immer noch als Kennzeichen sozialer Unterschiede, und dieser Prozess kann nach einer differenzierten sozialen Vermessung mehr oder weniger reflexiv sein. Giddens „grand-theoretical“ Sichtweise ist mit konkreten empirischen Untersuchungen untermauert worden, zum Beispiel, indem reflexive Körperprojekte mit den speziellen selbstdarstellenden Bedürfnissen der Mitglieder der neuen Mittelschicht in Beziehung gebracht wurden, die auf den Berufs- und Beziehungsmärkten, die ein hohes Niveau an „physical capital“47 erfordern, konkurrieren.

IV. Kommerzielle Strukturen der Individualisierung und Fitnesskultur Nicht nur Homologie und Reflexivität sind je nach sozialer Vermessung der Gesellschaft unterschiedlich verflochten, auch bringen verschiedene Kon-

45 Zu jüngsten empirischen Untersuchungen die Bourdieus Arbeiten zusammen mit Petersons Vorschlägen weiterentwickeln und qualifizieren vgl. T. Bennett / M. Emmison / J. Frow, Accounting for Tastes. Australian Everyday Culture, Cambridge 1999; T. Bennet u.a. (Hrsg.), Culture, Class, Distinction. 46 B. Lahire, La culture des individus. Dissonances culturelles and distinction de soi, Paris 2004. 47 P. Bourdieu, Distinction. Siehe auch M. Featherstone, Consumer Culture and Postmodernism, London 1991.

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sumgüter, Gewohnheiten und Institutionen Homologie und Reflexivität in sehr unterschiedlichem Ausmaß zum Ausdruck. Dies erfordert die Beachtung der spezifischen, hoch dynamischen Verbrauchsbereiche, wo Körper, Selbst und Ware schließlich zusammenkommen. Es gibt Verbrauchsbereiche, wie sportliche Aktivitäten, wo der Habitus reflexiver bearbeitet wird, und die eigene Verkörperung bestimmter Klassen/geschlechtsspezifischer Veranlagungen bezüglich Selbst und Körper absichtlich neu ausgerichtet wird48. Wie ich unten zeigen werde, stimmen im sportlichen Kontext bestimmte Praktiken eher mit der Theorie der Homologie überein und andere sehr viel weniger. Daraus ergibt sich ein anderer Weg, sowohl die Homologie- als auch die Reflexivitätsthesen zu verbessern: nämlich ernst zu nehmen, dass Konsum ein „relativ autonomer und pluralistischer Prozess kultureller Selbstkonstruktion“ ist und „für die Vielfalt ‚lokaler‘ sozialer Netzwerke“ steht49. Die Vielfalt der lokalen Netzwerke wird in den zahlreichen Verbrauchsräumen und -einrichtungen realisiert, die inzwischen die zeitgenössischen urbanen Realitäten charakterisieren. Wir wissen, dass der Aufstieg der Konsumkultur historisch mit der Ausbreitung des städtischen Lebens und seiner vielen Verbrauchsstrukturen verkettet ist – von Cafés zu Theatern, von Kinos zu Touristendörfern, von Restaurants zu Fitnesscentern. Ein Teil ihrer Anziehungskraft besteht darin, dass sie situierte, verkörperte Erfahrungen von lokal relevanter, strukturierter Vielfalt anbieten und somit Menschen in relativ getrennte Realitäten führen, wo sie sich mit einer spezifischen Auswahl an Waren, Aktivitäten, Verhaltensweisen und Identitäten auseinandersetzen können. Sie bieten die Möglichkeit, in organisierte Beteiligungskontexte hineinzugelangen, die eine Welt interner Belohnungen zur Verfügung stellen, die teilweise von breiteren sozialen Regeln der Relevanz getrennt ist und der Eigenheit lokaler Kontingenzen freien Lauf lässt. Dadurch sorgen sie für Lernerfahrungen, die Körper und Selbst recht tiefgreifend mobilisieren können. Pubs sind zum Beispiel Räume, in denen sofortige Beteiligung und augenblickliches Vergnügen als Teil einer bedeutsamen und gutorganisierten Realität gefördert werden. Eine Realität, in der das, was im Beruf und im ernsten Leben relevant ist, zeitweise suspendiert wird. Hier sollten Individuen von ihren normalen Verpflichtungen abstrahieren, um an einem geschlossenen Bereich von „geordnete Unordnung“, wie Elias es definiert hat, teilzuhaben, wo Praktiken, die anderswo peinlich oder sogar gefährlich sein würden, genossen werden können und müssen50. So gesehen bietet der Pub einen Raum, wo die Teilnehmer, durch Verhal48 G. Noble / M. Watkins, So, How did Bourdieu Learn to Play Tennis? Habitus, Consciousness and Habituation, in: Cultural Studies, 17 (2003), 3, S. 520-587; R. Sassatelli, Fitness Culture. 49 D. Miller, Consumption as the Vanguard of History, in: ders., Acknowledging Consumption. A Review of New Studies, London 1995, S. 1-57, hier S. 41. 50 N. Elias / E. Dunning, Quest for Excitement.

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tens-, Erkenntnis- und Gefühlsregeln das Trinken lernen. Unter anderem erlauben diese eine Normalisierung des Trinkens, indem es als Voraussetzung für informelle Geselligkeit und ungehemmte Gefühlsäußerungen inszeniert wird, die ein ansonsten zu stark bürokratisiertes Selbst auf einzigartige Weise neubeleben könne51. Diese Räume mit ihren Zeremonien, Bedeutungen und Narrative für die Gestaltung des Selbst sind Gefäße für begrenzte Reflexivität. Sie sind Handlungsräume, die durch kommerzielle Beziehungen vermittelt werden und in denen wir nicht nur reflexive Entscheidungen kontrollieren müssen, um teilzunehmen, sondern auf das interne Repertoire eines Bereiches zurückgreifen, das meist stillschweigend vorausgesetzt wird. Ein solches Repertoire kann mehr oder weniger Klassen- und Geschlechtsdistinktionen folgen, die außerhalb, also in einer breiteren sozialen Struktur, standardisiert werden.Konsumverhalten spielt somit in der Art und Weise, wie Habitus erzeugt wird, eine Rolle und ist mal mehr und mal weniger eng an soziale Strukturen gebunden. Kommen wir zurück zum Sport und den Unterschieden zwischen zwei zeitgenössischen Institutionen des Konsums, die verschiedene Positionen einnehmen: die Boxhalle und das Fitnessstudio. Die Boxhalle, die von Loic Wacquant ethnographisch untersucht wurde, ist ein wichtiger Ort in den Arbeitervierteln, wo es den meist männlichen Kunden eine „Gegenmittel zur Straße“ bietet, eine „Traummaschine“ und eine Subkultur der „kontrollierten Gewalt“, wodurch der Habitus des Boxens dem Klassenhabitus folgt52. Das Fitnessstudio, das ich ethnographisch untersucht habe, ist ein ganz anderer Fall53. Es umfasst so breitgefächerte soziale Gruppen, dass es kaum darüber definiert werden kann. Gerade weil das Fitnessstudio genauso wie kommerzielle Körpermodifizierungstechniken (von Kosmetik bis hin zur plastischen Chirurgie), Medienbilder und modisches Stadtleben zu Repräsentationszwecken Teil einer eher verschwommenen kulturellen Mainstreamformation ist, fördert es einen weniger klassengebundenen Habitus. Die Sinnlichkeit des Fitnessstudios wird zur keimfreien kontrollierten Erregung: Fitnessfans müssen „angeregt [werden] um standzuhalten“, und die freudige Anstrengung einer Tätigkeit, die nur Training ist, begrüßen, während der Boxer dem Reiz der Gewalt widerstehen muss, indem er lernt unmittelbare Ängste und Gefahren zu kontrollieren54. In beiden Fällen ist jedoch die Kontrolle verkörperter Emotionen – die Fähigkeit, Vergnügen in Disziplin oder Vergnügen in Gefahr zu erzeugen – wesentlich, und Erzählungen des Selbst 51

P. Sulkunen / P. Alasuutari / R. Natkin / M. Kinnunen, The Urban Pub, Helsinki

1997. 52 53 54

L. Wacquant, Body and Soul, Chicago IL 2003, S. 239-240, hier S. 283. R. Sassatelli, Fitness Culture, S. 177-178. Ebd., S. 125-129.

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kreisen darum. Außerdem bezeugen beide Fälle die historisch veränderliche Artikulation zwischen spezifischen Körperpraktiken, deren Bedeutungen und der hierarchischen Struktur der Gesellschaft. Ihre Klassencharakterisierung hat sich durch die Geschichte hindurch genauso wie ihr institutioneller Aufbau verändert. Während Boxen als eine vornehme Beschäftigung der Oberschicht in Eliteclubs begann, war Gymnastik lange im öffentlichen Gesundheitswesen von Interesse und das militärische Ziel von Nationalstaaten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde Boxen immer stärker mit der Arbeiterklasse assoziiert. Fitness entwickelte sich währenddessen weitgehend durch „verweiblichte“ Aerobic und „vermännlichtes“ Bodybuilding weiter, mit Trainingsprogrammen, die auf die Wünsche, Erwartungen und Bedürfnisse der Verbraucher eingingen. Diese unterschiedlichen Geschichten zeigen wie die Sportarten charakteristisch strukturelle Elemente widerspiegeln und formen, indem sie auf die ungleiche Natur und differenzierte Passform lokaler Konsumkulturen und breiteren traditionellen Sozialstrukturen hinweist. Sie veranschaulichen außerdem, dass Subjekte durch Vergnügen und Selbstdisziplin in der Freizeit geformt werden und nicht nur durch Arbeit und politische Einrichtungen. Schließlich zeigen sie, dass Habitus sowohl durch Praktik als auch durch Erzählungen vom Selbst und vom Körper stabilisiert wird, mit denen wir umfangreichen kulturellen Idealen gegenübertreten und unseren Geschmack legitimieren, der für unsere Konsumleidenschaft verantwortlich ist. Wir können dies ein wenig weiter erkunden. Fitnesstraining wird von Fitnessfans als „eine Art Übernehmung von Verantwortung“ empfunden, die „Verbesserungen“ und „Veränderungen“ erlaubt, die „mit dem eigenen Schweiß verdient werden“55. Verglichen mit der Art Geschichte, die im Narrativ des Boxhabitus artikuliert wird, skizzieren diese Behauptungen eine andere Körperlichkeit, emotionale Struktur und Beziehungsaufbau. Fitnessstudios sind weniger in sich geschlossene Räume als Boxhallen56. Sie haben eher den Charakter etablierter urbaner Kultur, als den eines subkulturellen Ortes wie das Bodybuilding-Studio57. In den Vorräumen des Trainings – der Lobby, der Bar, den Entspannungsbereichen – wird genauso über Alltägliches wie über das Training gesprochen. Sicherlich verbessern Kunden, die regelmäßig anwesend sind, generell ihre eigene Leistung. Einige Fitnessfans behaupten, durch die öffentliche Anerkennung ihrer Fähigkeiten durch den Trainer mit Kommentaren oder der Zuweisungen von (schwierigeren) Aufgaben große „Befriedigung“ zu erhalten. Betrachtet man jedoch Trainingsszenen an vielen verschiedenen Schauplätzen, scheint die Bildung privilegierter, exklusiver Ebd., S. 68 ff., 190 ff. L. Wacquant, Body and Soul, S. 29 ff. 57 A.M. Klein, Little Big Men. Bodybuilding Subculture and Gender Construction, New York 1993. 55 56

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Gruppen marginal zu sein, und nicht nur weil diese Prozesse eine kleine Minderheit von Kunden betreffen. Wettbewerb zwischen Kunden und die Bildung exklusiver Eliten bleibt im Allgemeinen diskret und wird ebenso stigmatisiert wie toleriert. Der Kunde spielt eine große Rolle darin, den Wettbewerb in Schach zu halten. Im Gegensatz zu dem, was bei athletischen Sportarten geschieht, leugnen Fitnessstudios den Mangel an Antrieb, Fähigkeit, Auszeichnung und so weiter. Stattdessen gründet dieser Tätigkeitsbereich auf der Erzeugung eines ‚pluralistischen Überflusses‘. Genau wie heutige Konsumkultur, durch die sie hauptsächlich gelenkt wird, löst die Fitnesskultur das Problem des Wettbewerbs, indem sie vor einem endlosen und vielfältigen Wachstumshorizont nicht wettkampforientierte Belohnungen anbietet. Es gibt immer etwas mehr, etwas Anderes, etwas Neues im Fitnessbereich, etwas, das an die Bedürfnisse der Kunden angepasst werden kann. Der Mangel an Herausforderung mit externen Gegnern und die Schwierigkeiten, die eigenen Leistungen von einer offiziellen Hierarchie anerkannt zu bekommen, wird durch den Neuigkeitseffekt und die Betonung von ‚Experimentierfreude‘ ersetzt. Den eigenen Körper durch die regelmäßige Durchführung einer Vielzahl neuer Aktivitäten zu ersehen und zu erfühlen, wird als hervorstechende Eigenschaft von Fitnesscentern präsentiert. Stammgäste behaupten, dass sie fortgesetzt neue Anreize bräuchten, schwierigere Übungen ausprobieren und moderne Techniken und Trainer erkunden müssten, um weiter zu trainieren, wenn sich ihre Übungskapazitäten verbesserten. Desgleichen bestehen Fitnesstrainer und -manager darauf, dass Kunden ihr Fitnessstudio als einen Ort ansehen sollten, wo jeder seine ‚persönliche‘ Trainingsart finden muss, indem eine Reihe von vorhandenen Techniken benutzt und das Beste aus allen Neuheiten gemacht werde. Verbunden mit der Darstellung freudiger Hingabe an die Aufgabe, ist die Erstellung von personalisierten und kontinuierlich erneuerten Trainingsprogrammen selbst ein wichtiges Element für die Beschaffung von nichtkompetitiver Befriedigung und spricht ein starkes Selbst an, das weiß und mag, was am besten für es ist.

V. Abschließende Bemerkungen Abschließend wollen wir die normative Kraft des Begriffs des Subjekts als Verbraucher betrachten. In der Tat braucht typischerweise als individuelle Entscheidung dargestellter privater Konsum weitere Legitimierung, insofern als die Wahl als etwas zu sehen ist, das das wählende Selbst nicht verzehrt. Seit Smith hat die Darstellung des Verbrauchers als rationalem, eigennützigem, vorausschauendem und autonomem Hedonisten, der unmittelbares Vergnügen dosiert, indem er ein längerfristiges Projekt des Wohlbefindens visualisiert, ein spezielles Bild der „Normalität“ angesprochen, das Konsum normalisiert: Um korrekt zu konsumieren, muss man Herr seines

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Willens sein58. Mit anderen Worten sind Verbraucher Herrscher des Marktes insofern sie Herrscher ihrer selbst sind. Die Herrschaft des Verbrauchers ist eine zweischneidige Herrschaft: Hedonismus, das Streben nach Genuss, muss deshalb durch verschiedene Formen der Disziplin gezähmt werden. Dabei wird auf die Fähigkeit des Subjekts Wert gelegt, diese Suche zu lenken, den Genuss zu dosieren, Abhängigkeit zu vermeiden, in einem Wort, als autonom handelnder Mensch erkennbar zu sein. Eine solche Normalisierung selbst kommt größtenteils unter dualistischen Voraussetzungen zustande, wobei der Körper das gefeierte Objekt ist, durch welches das Selbst Wert erlangt. Körperpraktiken sind das entscheidende, wenn auch immer gefährliche Terrain dafür. Die Wahrnehmung der Besonderheiten einzelner Körper sind bezeichnend für ein Individualitätsverständnis, das speziell seit dem späten 19. Jahrhundert gewürdigt wurde, als die Konsumwarenstandardisierung zunehmend als potentielle Bedrohung für die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit gesehen wurde59. In einer bemerkenswerten dualistischen Wendung sind Körper sowohl die Quelle unserer natürlichen Originalität als auch das formbare Objekt, auf das wir unseren Willen anwenden müssen. Sie enthalten Verlangen, den Motor für Entscheidungen, aber sie sorgen auch für Abhängigkeit. Das Paradigma der „Abhängigkeit“ hilft tatsächlich dabei, die Ängste zu erklären, die in der frühen Neuzeit und auch noch heute mit Konsum assoziiert werden60: während feste soziale Hierarchien von Waren und Menschen schwinden, nehmen die Befürchtungen, dass die Waren das Selbst (und nicht umgekehrt) konsumieren werden, einen zunehmend zentralen Platz im kulturellen Repertoire ein, das dazu gebraucht wird Konsumverhalten zu verstehen und zu steuern. „Abhängigkeit“ – verstanden als Krankheit des Willens, hervorgerufen durch eine Substanz oder ein Objekt – artikuliert Bedenken mit Störungen und wirkt als „das Andere“ autonomer Entscheidungen mit verschiedenen „Abhängigkeitsprofilen“ indem sie ein dystopisches Bild des „Verbrauchers“ liefert. Somit erregt zwanghafter Konsum, obwohl er nur einen Bruchteil des Konsumverhaltens ausmacht, Aufmerksamkeit, weil er für die Grenze steht, welche die Verbraucher nicht übertreten dürfen, wenn sie in ihrer Rolle als Herrscher des Marktes überzeugend erscheinen wollen. Im Lauf der Geschichte als charakteristisch konsolidierte Figuren abweichender Identität wie Kleptomanen, maßlose Spieler und Alkoholiker wurden oft als das Ergebnis eines Aufein-

R. Sassatelli, Tamed Hedonism. M. Hilton, The Legacy of Luxury: Moralities of Consumption since the Eighteenth Century, in: Journal of Consumer Culture, 4, 2004, 1, S. 101-23. 60 R. Porter, History of the Body; E. Sedgwick, Epidemics of the Will, in: J. Crary / S. Kwinter (Hrsg.), Incorporations, New York 1992, S. 582-595. 58 59

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andertreffens spezifischer Objekte und Kontexte und gefährlicher sozialer Gruppierungen (Frauen, Mitglieder der Arbeiterklasse, oder Immigranten) chiffriert61. In der Tat werden Waren und Produkte immer noch dahingehend unterschieden, wie stark sie das Bild von Konsumentensouveränität unterstützen. Alkoholische Getränke haben zum Beispiel immer noch ein zweideutiges Ansehen, da ihr Konsum medizinisch leicht als pathologische Abhängigkeit deklariert werden kann. Noch stärker trifft dies auf „Drogen“ zu. „Droge“ ist eine Kategorie, die dazu erschaffen wurde, gewisse diskreditierte, risikoreiche und wirkungsstarke Substanzen zu definieren, die letztendlich als Erzeuger von Abhängigkeit einen quasi-mythischen Status annehmen62. Doch während die Diskussion darüber, welche „Drogen“ suchterzeugend sind und welche nicht, weitergeht, ist „Abhängigkeit“ selbst eine der mächtigsten Instrumente jede Form von Konsum zu stigmatisieren. Das Schreckgespenst der Abhängigkeit kann nicht nur im Hinblick auf Alkohol und Drogen heraufbeschworen werden; jeder Artikel kann als suchterzeugend beschrieben werden. Die Erfahrungen „abhängiger Verbraucher“ werden zunehmend herausgegriffen und untersucht, da sie in einer Ausuferung von Verbraucherpathologien, die als „Epidemie des Willens“63 gebrandmarkt worden ist, mit Konsumkultur oder einer erwerbsorientierten Mentalität, mit Moderne oder Postmoderne in Verbindung gebracht werden. Außerdem werden die Profile Suchtkranker in der modernen Medizin mittels subjektiver Beurteilungen von Kontrollverlust definiert64. Auf diesem Weg können ansonsten gesunde Praktiken wie Diät oder körperliche Betätigung „exzessiv“ werden und, wenn der Einzelne die Kontrolle darüber verliert, krankhaft oder wahnsinnig erscheinen. Gerade weil Konsum als Ausdruck individuellen freien Willens konstituiert sein ‚muss‘, wächst die Sorge um die Fähigkeit von Verbrauchern, ihren Willen in jeder Situation auszuüben. Utopien totaler Autarkie verstecken sich immer hinter dem Druck berechnend und berechenbar zu werden. Zugleich fördern sie, verbunden, mit einem Leib-Seele Dualismus, die Wahrnehmung des Körpers als einem Instrument des Selbst, sogar in Verbraucherbereichen, die auf der Pflege des Körpers oder der Überwindung des Leib-Seele Dualismus basieren.

61 E. Abelson, When Ladies Go A-Thieving: Middle Class Shoplifters in the Victorian Department Store, Oxford 1989; A.F. Collins, The Pathological Gambler and the Government of Gambling, in: History of the Human Sciences, 9 (1996), 3, S. 69-100; M. Valverde, Diseases of the Will. Alcohol and the Dilemma of Freedom, New York 1998. 62 Siehe beispielsweise die Sozialgeschichte des Opiums, V. Berredge / G. Edwards, Opium and the People. Opiate Use in Nineteenth Century England, London 1987. 63 E. Sedgewick, Epidemics of the Will; S. Eccles, The Lived Experiences of Additive Consumers, in: Journal of Research for Consumer Issues, 4 (2002), S. 1-17. 64 G. Reith, Consumption and its Discontents: Addiction, Identity and the Problems of Freedom, in: The British Journal of Sociology, 55 (2004), 2, S. 283-300.

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Wie in diesem Aufsatz gezeigt wurde, ist die Artikulation von Körper, Selbst und Konsum als zunehmend relevant hervorgetreten und hat von der frühen bis zur späten Moderne Zentralität erlangt. Diese Artikulation ist historisch auf mindesten drei Ebenen zustande gekommen, die auch für die Analyse heutiger sozialer Praktiken und Identitäten relevant sind: der subjektiven, der darstellerischen und der institutionellen. Wie sich Individuen selbst als verkörperte Subjekte wahrnehmen – das heißt, wie sie körperliche Identität und soziale Interaktion bewältigen und wie sie Selbst und Körper erfahren und aufführen – geschieht erstens größtenteils durch den Gebrauch von Waren und vor dem Hintergrund von werbender Bildsprache. Und zweitens hat die Bildersprache, die mit Konsum assoziiert wird, die visuelle Repräsentation des Selbst in der Werbekultur beeinflusst, welche sich inzwischen um die Darstellung des Körpers dreht. Schließlich sind in zunehmendem Maße Verbraucherbereiche, Kontexte und Einrichtungen entstanden, die das Individuum wie sinnliches, verkörpertes Subjekt auf der Suche nach persönlicher Befriedigung und sozialer Verbesserung behandeln. Die verschiedenen Prozesse, die auf diesen drei Ebenen stattfinden, haben die individuelle Reflexivität betont, die trotzdem an spezifische Bereiche des Konsums gebunden ist, und deren schwächere oder stärkere Artikulation zumindest mit Klassen- und Genderhabitus. Im Gesamtzusammenhang charakterisiert eine wechselnde Mischung von Hedonismus und Asketismus bei der Kontrolle des eigenen Körpers und verkörperten Dispositionen Konsumpraktiken und -kulturen, indem sie die Ausrichtung der dualistischen Argumentation von der Repression zum Ausdruck des Körpers in gewissen vorgeschriebenen Formen verschoben hat. Richtet man seine Aufmerksamkeit auf die Entwicklung der Konsumkultur und der Individualisierung, darauf wie Kommodifizierung im Westen Körper und Selbst getroffen hat, kann man sagen, dass die genauen historischen und sozialen Konturen dieser Prozesse größtenteils noch erforscht werden müssen, obwohl man über das Gesamtbild zunehmend übereinstimmt. Es muss noch genauer untersucht werden, welche sozialen Akteure und Einrichtungen bestimmte Kombinationen von Hedonismus und Asketismus bevorzugt haben und wie diese gerechtfertigt oder ihnen widerstanden wurde, was zu verschiedenen Bildern und verschiedenen Praktiken des Selbst und des Körpers geführt hat. Es ist notwendig, begrenzte Reflexivität ganz als historischen Prozess anzusehen, der sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten mit sozialen Ausformungen signalisiert, die sich von denjenigen unterscheiden, die mit modernen Verbrauchsmustern assoziiert werden, und der dessen Nuancen würdigt, da er unterschiedliche Verbrauchspraktiken beherbergt und durch unterschiedliche Verbraucher realisiert wird. Aus diesem Grund müssen wir die Grenzen der Reflexivität und die Einbettung des Habitus herausstellen und die Rolle der zentralen Marktinstitutionen (wie Werbesysteme) in diesem Prozess berücksichtigen. So müssen wir notgedrungener Weise in Betracht ziehen, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen der Selbstbeurteilung von

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Verbrauchern, ihrer Fähigkeit Bedeutungen durch Konsum zu produzieren und den Folgen dieser Bedeutungen für umfassendere soziale Arrangements, womit verschiedene Formen der Artikulation etwa zwischen gewöhnlichen Konsumkulturen und Marktinstitutionen bei der Gestaltung von Normalitätsvorstellungen ermöglicht werden. Schlussendlich muss das Zusammenspiel von alltäglichen Praktiken und normativen Konsumdiskursen angesprochen werden, da sie sich auf Formen der Verkörperung und das Selbst beziehen. Dabei ist zu beachten, dass unterschiedliche soziale Akteure sich selbst im Hinblick auf die herrschende Visualisierung von Körpers, Selbst und Verbrauch unterschiedlich positionieren können und dass dieser Unterschied nicht nur Komplexität, sondern auch Dynamik im Bereich des Konsums erzeugt. Kommen wir nun ganz am Ende zur Individualisierung zurück. Offensichtlich ist dieser Prozess in vielerlei Hinsicht breiter als der Konsum. Die erfahrungsbezogene Investition des Selbst zum Beispiel reicht in die Unternehmenskultur hinein, wobei von kreativen Arbeitern erwartet wird, sich gut verkaufen zu können; sie sollen eine unternehmerische, verkaufsfördernde Einstellung zu sich selbst annehmen, sie benötigen ein projektbezogenes, flexibles, kreatives Selbst, das ständig irgendeine Art von Aktivität verfolgt, um nie ohne ein Projekt und ohne Ideen, immer in Erwartung oder in Vorbereitung des nächsten Etwas zu sein65. Unter diesen Voraussetzungen sollten wir reflexive Individualisierung nicht einfach als etwas betrachten, das lediglich mit einem unaufhörlichen Prozess der Kommodifizierung einhergeht, der sich ganz und gar auf das Selbst erstreckt. Sicherlich reichen wirtschaftliche Beziehungen heute in private Bereiche hinein, die zuvor verschlüsselt waren, durch das, was als dem Markt entgegengesetzt und als „affektiv“ und „persönlich“ erachtet wurde. Aber inzwischen schätzen wir das Ausmaß, in welchem Markt und Emotion immer schon miteinander verflochten waren und sich gegenseitig in einer fortwährenden Dialektik aus Konflikten und Anpassungen unterstützten. Wenn wir uns überdies auf Konsum und Identität konzentrieren, sollten wir anerkennen, dass moderne Verbraucher im Grunde genommen dazu aufgerufen werden, aktiv zu sein, sich selbst als Wertquelle zu produzieren, sich am Prozess der Dekommodifizierung zu beteiligen und sich selbst als Akteure eines solchen Prozesses zu konstituieren. Anders ausgedrückt ist Konsum ein Wirkungsbereich, der nach dem kulturellen Prinzip der Eigeninitiative reguliert wird. Natürlich soll damit nicht gesagt werden, dass der Akteur vollkommen frei ist. Die Subjektivität, die für Konsum benötigt wird, ist im Gegenteil in gewisser Weise eine bindende Individualität. Um ihre soziale Rolle als Verbraucher angemessen ausüben zu können, müssen Akteure einen Kompromiss zwischen der gelangweilten Indifferenz des Blasierten, dem Streben des Exzentrikers nach Anderssein als Selbstzweck, und

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P. Du Gay, Consumption and Identity at Work, London 1996.

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dem fremdbestimmten Streben des Snobs nach Distinktion finden. Sie müssen ihre tiefsten und eigentümlichsten Subjektivitäten ausdrücken. Als normative kulturelle Identität erscheint der „Verbraucher“ in auffälliger Übereinstimmung mit modernen hegemonialen Auffassungen von Subjektivität. Die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft hat eine bestimmte Vorstellung des Subjekts konsolidiert und popularisiert: der autonome Akteur in zunehmender Entfernung zu den Dingen66. Dinge werden vermehrt als grundlegend verschieden vom Menschen angesehen, und diese wachsende Distanz zwischen der Natur des Menschen auf der einen Seite, und der der Objekte auf der anderen geht mit der Idee einher, dass Objekte der Menschlichkeit des Menschen schaden können anstatt sie zu vervollständigen. Dennoch stützt sich die moderne Identität seit Locke auch auf materielle Objekte und Besitz. Somit besteht ein grundlegender Widerspruch in der Art, wie wir moderne Identität konzipieren: ein Paradox zwischen Idealismus und Materialismus, das deutlich unsere Beziehung zum Konsum definiert. Kurz, ein solches Paradox bringt es mit sich, dass Subjekte ihre Identität durch Waren als Unterschied zu Waren ausführen. Idealismus stimuliert so Materialismus: Im Unterschied zu vielen Stammesgesellschaften, in denen Menschen zu den Objekten werden, durch welche die Werte einer Kultur festgelegt werden, bekamen Dinge in unserer Kultur tatsächlich eine wesentliche Rolle für die Objektivierung kultureller Kategorien, für die greifbare Festlegung von Bedeutungen und Werten67. Unter solchen Umständen gewinnt die Vorstellung der individuellen Entscheidung als hegemonialer normativer Rahmen an Dynamik, der sowohl durch Expertenwissen getragen, als auch vermittels einer Vielzahl von lokalen Normen und Besonderheiten zur Auswertung von Konsumpraktiken, ihres Wertes, ihrer moralischen Angemessenheit und ihrer Normalität eingesetzt wurde68. Es ist schön und gut, Dinge nur zum Spaß auszusuchen oder anzuprobieren, zum unmittelbaren körperlichen Vergnügen oder zum anspruchsvollen ästhetischen Genuss, solange es das Selbst ist, das das Spiel spielt. Entscheidungen an sich sind auf spezielle anthropologische Voraussetzungen angewiesen: Individuen, die aufgefordert sind sich selbst als Entscheider zu sehen, werden gefragt, ihre Wünsche und Vergnügen als die ultimative Quelle von Wert zu fördern, während sie die Kontrolle über diese behalten. Um richtig zu konsumieren, müssen Menschen die Herren ihres Willens sein. 66

C. Taylor, The Sources of the Self. The Making of Modern Identity, Cambridge

1989. D. Miller, Material Culture and Mass Consumption, Oxford 1987. R. Sassatelli, Tamed Hedonism; dies., Trust, Choice and Routine. Putting the Consumer on Trial, in: Critical Review of International Social and Political Philosophy, 4 (2001), 4, S. 84-105. 67 68

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Anders ausgedrückt beherrschen Verbraucher nur soweit den Markt wie sie sich selbst beherrschen. Wenn es ein Weg vieler Kulturen war, der materiellen Welt abzuschwören, um geistige Berufung zu signalisieren (frühchristliche Anachoreten, Buddhistische Mönche, mittelalterliche Heilige, die Nahrung ablehnen usw.), so ersucht uns unsere Welt (sowohl die idealistische als auch die materialistische), unsere Entscheidungsfähigkeit positiv zu demonstrieren. In dieser Situation kann sogar die Tatsache, dass unsere Wünsche unterschiedliche Objekte entdecken können, dass diese Objekte sich fortlaufend ändern, helfen, das Spiel ein selbstbeherrschtes Selbst zu haben, aufrechtzuerhalten. Die Entwicklung der sogenannten „post-fordistischen“ Wirtschaft kann in diesem Licht gesehen werden: die unaufhörliche Erneuerung von Konsumgütern, fortlaufend neue, den vorausgegangen überflüssig machende Modetrends und die endlose Kombination von Stilen scheinen dem Verbraucher eine kontinuierliche Befreiung von speziellen Objekten zu gewähren, die sie sich ausgesucht haben, womit ihnen erneut eine Wahl zukommt. Dennoch bleibt die Möglichkeit „auszusteigen“ (d.h. zu entscheiden, nicht zu entscheiden) ein kraftvolles Mittel, um zu garantieren, dass das, was uns mit damit verbindet, tatsächlich unsere Entscheidung ist. Dies bedeutet offensichtlich keine Rückkehr zum Asketismus, sondern dass der Schwerpunkt auf dem Subjekt und dessen Fähigkeit bleiben muss, die Welt und sich selbst zu regieren, auf dem Recht des Subjekts, seine eigenen Wünsche mit Objekten zu befriedigen, und nicht auf den Objekten und dem Vergnügen, das man aus diesen zieht. So betrachtet ist Individualisierung sowohl ein Prozess als auch eine Perspektive, der sowohl eine Art von Gesellschaft als auch einen historischen Zeitraum mit verschiedenen Akzentuierungen von der frühen bis zu späten Moderne definiert. Und sie ist ein stark ambivalentes Phänomen, wobei Konsum als individualistische Aktivität gestaltet ist und zunehmend als ein Terrain der Ambivalenz für die Entwicklung von menschlichen Identitäten erscheint. Individualisierung hat einen doppelten Charakter, wobei es möglich sein könnte, die Menschen zu emanzipieren, aber sie an bestimmte Bedingungen zu binden; bedeutende Kapazitäten anzubieten, die starke Belastungen werden können; und bestimmte Probleme zu lösen, aber andere zu verursachen. Mit sowohl kulturellen und sozialen individualisierenden Kräften verliehen, ist Konsum je nach Organisation ein umstrittenes Terrain, das nicht immer Freiheit verkündet, aber trotzdem potentiell zu sozialem Wandel, Kreativität und Zufriedenheit beiträgt. In der (späten) Moderne ist Konsum größtenteils um den Ausdruck des Selbst organisiert worden, mit einer viel zu autonomen, in sich geschlossenen, selbstbeherrschten Vorstellung des Selbst als moralischer Bezugsgröße. Und trotzdem bleibt Konsum eine symbolische und praktische Angelegenheit mit einer zutiefst sozialen Natur: Konsum kann nur teilweise reflexiv sein, da er in institutionellen Ritualen und Interaktionen verankert ist. Konsum kann nur teilweise die Wünsche eines selbstständigen Selbst widerspiegeln, da dieses Selbst sich in Konsum-

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praktiken konstituiert, die grundsätzlich Netzwerke sozialer Beziehungen einschließen. In vielfältiger Weise muss somit die heutige Forschung, die sich mit der Individualisierungsthese befasst, diese zurück zur alltäglichen Realität führen. Sie muss bedenken, welche Grenzen die tief verwurzelten und vielschichtigen gewöhnlichen Praktiken, sozialen Beziehungen, strukturellen Hierarchien sowie die reflexiven Einrichtungen und Selbstprojekte setzen, während sie als selbstverständlich angesehene Wege für Entscheidungen und Vertrauen anbieten. Sie muss untersuchen wie Akteure und Verbraucher in verschiedenen sozialen Positionen, Individualisierung sowohl als Möglichkeit als auch als Begrenzung erfahren und umsetzen, und sie muss prüfen, wie unterschiedliche Waren oder Waren-Domänen unterschiedliche Gelegenheiten für unterschiedliche Formen der Individualisierung verwirklichen. Alles in allem sind die Sozialwissenschaftler dazu aufgerufen, die Individualisierungsthese als groß-theoretisches Schema zu problematisieren, das unterschiedlich nuanciert, wenn nicht gar umgeworfen werden muss, wenn man sich mit der überaus vielseitigen Welt des Konsums beschäftigt.

Konsumverhalten und Wertvorstellungen italienischer Arbeitsmigranten in Turin und München Von Olga Sparschuh

I. Einleitung Individualisierung bedeutet nach Ulrich Beck die Herauslösung des Subjekts aus traditionellen Bindungen, durch die die Möglichkeiten in Lebenslauf und Lebensführung des Einzelnen zunehmen1. In seinem Aufsatz „Jenseits von Stand und Klasse?“, in dem er diese Überlegungen darlegte und der in der Folge breit diskutiert wurde, fanden auch die Arbeitsmigranten Erwähnung, von denen sich Anfang der 1980er Jahre bereits einige Millionen ganz unterschiedlicher nationaler Herkunft in der Bundesrepublik aufhielten2. Das war ein wesentlicher Unterschied zu zahlreichen anderen sozialwissenschaftlichen Zustandsbeschreibungen dieser Jahre, die diese Personengruppe gänzlich aus ihren Betrachtungen ausklammerten, doch auch hier wurden die „Gastarbeiter“ nur knapp erwähnt – buchstäblich in einer Fußnote – und Beck postulierte, dass „Wanderungsbewegungen ganzer Kollektive … kaum mit Individualisierungen verbunden sein dürften“3. Mit Blick auf die Arbeitsmigration innerhalb des Landes geht die italienische historische Forschung vom gegenteiligen Befund aus: Mit der Wanderung von Süd- nach Norditalien sei die Lösung aus traditionellen Bindungen einhergegangen. So betonte Silvio Lanaro rückblickend auf die 1960er Jahre, dass vor allem der Konsum es den Menschen „aus dem Norden und aus dem Süden, aus der Stadt und vom Land, aus gehobenen und niedrigen Schichten“ erlaubt habe, sich gegenseitig mit einer Selbstverständlichkeit

1 U. Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: ders., Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband 2), Göttingen 1983, S. 35-74. 2 Vgl. zur Diskussion um die Individualisierungsthese zuletzt P. Berger / R. Hitzler (Hrsg.), Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert „jenseits von Stand und Klasse“?, Wiesbaden 2010. 3 U. Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, S. 46, Anm. 27.

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anzuerkennen, die es zuvor nie gegeben habe4. Das Ineinandergreifen von Migration und Konsum wurde dabei als ein Faktor für die eigentliche Einigung des Landes, die so letztlich erst hundert Jahre nach der Staatsgründung 1861 erfolgt sei, gedeutet. Anders als in anderen Untersuchungsbereichen, wo die Kollektivität der Arbeitsmigranten aus dem Süden des Landes sehr wohl eine Rolle spielte, wurde sie in Bezug auf den Aspekt des Konsums nicht gesondert in Betracht gezogen. Untersucht man beide Migrationsbewegungen im Vergleich erscheint die unterstellte Statik und Homogenität der Arbeitsmigranten im deutschen Fall als ebenso fraglich wie die scheinbar einfache Diffusion von Mehrheitsgesellschaft und Arbeitsmigranten im italienischen Fall. Im Gegensatz dazu wird hier davon ausgegangen, dass in beiden Migrationsbewegungen, sowohl bei der Wanderung innerhalb Italiens als auch bei der Migration nach Deutschland, die Möglichkeiten der Arbeitsmigranten zunahmen, ihre Biographie selbst zu gestalten. Der Lebensbereich des Konsums wird dabei als Modus der Individualisierung verstanden. Denn, wie Roberta Sassatelli betont, ist die Teilhabe am Markt als Konsument „crucial for the accomplishment of individual identity“, so dass die Individualisierungsthese gerade durch die Betrachtung des Konsums problematisiert werden kann5: Anhand der Untersuchung der Konsumvorstellungen und -realitäten der Arbeitsmigranten soll deshalb greifbar werden, inwiefern sie traditionellen Bindungen und Vorstellungen verhaftet blieben oder sich im Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft als „modern“ bzw. „postmodern“ verstandenen Einstellungen und Werten öffneten. Durch den Vergleich einer Binnen- und einer transnationalen Migration wird dabei vermieden, nationale Differenzen bei der Betrachtung von Migrationsbewegungen absolut zu setzen6. Vielmehr werden beide Wanderungsbewegungen in ihrer Qualität als Verlagerung des Lebensmittelpunktes wahrgenommen und vor dem Hintergrund der beginnenden europäischen Integration in ihrer Gemeinsamkeit als „europäische Binnenwanderung“ untersucht7. Der Zusammenhang zwischen Arbeitsmigration und Konsum sowie zwischen Arbeitsmigration und Wertewandel bleibt sowohl in der italienischen als auch in der deutschen Forschung blass. Aufgrund der zunächst vor4 S. Lanaro, Storia dell’Italia repubblicana, 10. Aufl., Venedig 2011, S. 276: „del nord e del sud, della città e della campagna, delle classi elevate e dei ceti popolari“. 5 Vgl. zur Betrachtung des Bereiches Konsum für die Erforschung von Individualisierungsprozessen den Beitrag von Roberta Sassatelli in diesem Band. 6 S. Gallo, Senza attraversare le frontiere. Le migrazioni interne dall’Unità a oggi, Rom 2012, insbesondere S. VII-XX. 7 S. Ronzani, Arbeitskräftewanderung und gesellschaftliche Entwicklung. Erfahrungen in Italien, in der Schweiz und in der Bundesrepublik Deutschland, Königstein i.T. 1980, S. 223-227.

Konsumverhalten und Wertvorstellungen italienischer Arbeitsmigranten

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herrschenden Annahme, dass die Arbeitsmigranten nur zum Einsatz in der Produktion zuwanderten, setzte eine sozialwissenschaftliche Untersuchung ihres Konsumverhaltens erst spät ein8. In aktuellen konsumgeschichtlichen Untersuchungen in Italien liegt der Schwerpunkt oft auf bestimmten Regionen und deren Mehrheitsbevölkerung, die Arbeitsmigranten verschwinden dabei als italienische Staatsbürger in der Allgemeinheit der Untersuchungsgruppe9. Auch in der deutschsprachigen Forschung gibt es bislang kaum Studien zur Verbindung von Ethnizität bzw. Nationalität und Konsum10. Auch in Bezug auf den Wertewandel erscheint die Forschungslage zu den Arbeitsmigranten mager: Die Wertewandelsforschung zielte in den 1970er Jahre darauf, Veränderungen in den Einstellungen westlicher Gesellschaften genauer zu fassen und diagnostizierte dabei einen „Wertewandelsschub“ zwischen den mittleren 1960er und 1970er Jahren, der sich parallel zur Durchsetzung des Massenwohlstandes und zur Etablierung der Konsumgesellschaft ereignet habe11. Während Inglehart in seinen Untersuchungen einen Wandel von materieller Sicherheit zu postmaterieller Lebensqualität betonte12, kam Klages in Bezug auf den deutschen Fall zu dem Ergebnis, im gesellschaftlichen Werte- und Normengefüge sei es zu einer Verschiebung von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Freiheits- und Selbstentfaltungswerten gekommen13. Bei Befragungen von Zeitgenossen zeigte sich entsprechend, dass diese die Gegenwart stärker betonten als die Zukunft, sie sich zunehmend mehr auf die Interessen des Einzelnen konzentrierten als auf die der Gemeinschaft und dass tendenziell die Betonung des Lebensgenusses im Gegensatz zum 8 Vgl. für Italien die Hinweise bei G. Fofi, L’immigrazione meridionale a Torino, 3. Aufl., Mailand 1976; für die Bundesrepublik die Untersuchungen M. Hefner, Der Gastarbeiter als Konsument. Segmentspezifische Analyse des Konsumverhaltens ausländischer Arbeitnehmer in einer westdeutschen Großstadt, Göttingen 1978; U. Mehrländer, Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer, Köln 1969. 9 Vgl. P. Capuzzo (Hrsg.), Genere, generazioni e consumi. L’Italia degli anni sessanta, Rom 2003. 10 M. Möhring, Ethnizität und Konsum, in: H.-G. Haupt / C. Torp (Hrsg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990. Ein Handbuch, Frankfurt 2009, S. 172189, hier S. 173. Für den Teilbereich der Ernährung wurde diese Forschungslücke kürzlich geschlossen durch dies., Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012. 11 A. Rödder, Werte und Wertewandel. Historisch-politische Perspektiven, in: A. Rödder. / W. Elz, Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 19. Vgl. als sehr hilfreiche Einführung: I. Heinemann, Wertewandel, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.10.2012, http://docupedia.de/zg/. 12 R. Inglehart, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton NJ 1977, S. 3. 13 H. Klages, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M. 1984.

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Aufsparen wuchs14. Sowohl in Italien als auch in Deutschland lag der Fokus des Interesses dabei jedoch auf den Mehrheitsgesellschaften15. Die italienischen Untersuchungen betrachteten die Arbeitsmigranten lediglich als Verursacher von Wertewandel in der norditalienischen Mehrheitsgesellschaft16. In deutschen Analysen spielten die Arbeitsmigranten weder als Verursacher noch als Träger des Wertewandels eine Rolle, sondern wurden – vermutlich entsprechend der lange verbreiteten Annahme, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei – stillschweigend nicht in die Betrachtungen einbezogen17. Und auch Beck, der mit Hilfe der Metapher des „Fahrstuhleffektes“ beschrieb, wie selbst die unteren „Etagen der Gesellschaft“ in Bewegung gerieten und vom Prozess der Individualisierung erfasst wurden, ließ die Arbeitsmigranten in seinen Überlegungen außen vor. Im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen deshalb die italienischen Arbeitsmigranten, die in den 1950er bis 1970er Jahren auf der Suche nach Beschäftigungsmöglichkeiten aus dem Süden Europas in die nördlichen Industrieregionen des Kontinents wanderten: Den im Verlauf dieser Wanderungsbewegung auftretenden Änderungen ihrer Konsumvorstellungen und ihres Konsumverhaltens sowie dem daran möglicherweise ablesbaren Wandel ihrer Werte gilt das Hauptinteresse der Überlegungen. In den Jahren des europäischen Wirtschaftsbooms wanderten Arbeitsmigranten aus dem Mezzogiorno in den Norden Italiens und zwar vor allem in das Gebiet des triangolo industriale Genua-Mailand-Turin. Ebenso migrierten sie in die Bundesrepublik Deutschland und ließen sich außer im Rhein- und 14 Die unreflektierte Übernahme der Ergebnisse der Wertewandelsforschung in die Zeitgeschichte wird gegenwärtig kritisch diskutiert: Einerseits aufgrund der Erhebungsmethoden, die die Ergebnisse stark determinieren, andererseits, da Überlegungen zu einem sozialwissenschaftlichen Konstruktionscharakter des Wertewandels weitgehend fehlen und er als realgeschichtliches Phänomen betrachtet werde, dessen Historisierung unterbleibe. Siehe zur Diskussion I. Heinemann, Wertewandel; R. Graf / K.C. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011), S. 479-495, sowie B. Dietz / C. Neumaier, Vom Nutzen der Sozialwissenschaft für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 60 (2012), S. 293-304. 15 Vgl. darüber hinaus zur Kritik an der Orientierung der Wertewandelsforschung an oberen Berufs-, Einkommens- und Bildungslagen T. Sander, Der Wertewandel der 1960er und 1970er Jahre und soziale Ungleichheit – Neue Befunde zu widersprüchlichen Interpretamenten, in: Comparativ, 17 (2007), S. 101-118, hier S. 101. 16 U. Alfassio-Grimaldi / I. Bertoni, I giovani degli anni sessanta, Bari 1964, S. 28; C. Tullio-Altan, I valori difficili. Inchiesta sulle tendenze ideologiche e politiche dei giovani in Italia, Mailand 1974. 17 Vgl. H. Klages, Wertorientierungen im Wandel; P. Kmieciak, Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1979.

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Ruhrgebiet vor allem in den Industriestandorten Oberbayerns nieder. Turin und München wurden dabei zu Hauptzielen der Migration. Seit Anfang der 1950er Jahre kam es in beiden Städten zu einem enormen wirtschaftlichen Aufschwung18. In der Folge wuchs die Bevölkerung Turins zwischen 1951 und 1961 von 719.300 auf 1.026.997 Einwohner, die Bevölkerung Münchens von 855.003 auf 1.085.924 Einwohner19. Die Zahl der (süd-)italienischen Arbeitsmigranten in den beiden Städten war jedoch sehr unterschiedlich: In Turin stieg die Quote der im Mezzogiorno Geborenen bis 1971 auf 27,1% an, so dass mehr als ein Viertel der Stadtbewohner im Süden des Landes geboren war20. Die Anzahl der Italiener in München stieg zwar ebenfalls rasant von 1.403 im Jahre 1953 bis 1974 auf 29.985 Personen. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung blieb im gesamten Untersuchungszeitraum mit maximal 2,3% vergleichsweise niedrig21. Abgesehen von den zahlenmäßigen Unterschieden werden bei der Betrachtung der sozialen Zusammensetzung der italienischen Arbeitsmigranten in Turin und München aber bemerkenswerte Übereinstimmungen deutlich. Die überragende Mehrheit der Arbeitsmigranten stammte im Untersuchungszeitraum sowohl in Turin als auch in München aus dem strukturschwachen Mezzogiorno22. Die Quote der Zuwanderer aus dem Süden lag in beiden Städten ab 1960 im Durchschnitt bei über 60% und übertraf den Anteil zuwandernder Norditaliener erheblich23. In beiden Städten war auch die Altersstruktur 18 S. Musso, Lo sviluppo e le sue immagini. Un’analisi quantitativa. Torino 19451970, in: F. Levi / B. Maida (Hrsg.), La città e lo sviluppo. Crescita e disordine a Torino 1945-1970, Mailand 2002, S. 39-70, hier S. 44; M. Rieder, 50 Jahre Anwerbevertrag zwischen Deutschland und Italien. Italienische Gastarbeiter und Unternehmer in Bayern und München 2004, http://www.mstatistik-muenchen.de/themen/wirtschaft/ berichte/berichte_2005/mb050301.pdf, S. 3. 19 Landeshauptstadt München, Statistisches Amt (Hrsg.), Statistisches Handbuch der Stadt München 1995, München 1995, S. 35; A. Anfossi, L’immigrazione meridionale a Torino, in: Centro di ricerche industriali e sociali di Torino, Immigrazione e industria, Mailand 1962, S. 169-184, hier S. 169. 20 S. Musso, Il lungo miracolo economico. Industria, economia e società (19501970), in: N. Tranfaglia (Hrsg.), Storia di Torino, Bd. 9: Gli anni della Repubblica, Turin 1999, S. 51-100, hier S. 63. 21 M. Rieder, 50 Jahre Anwerbevertrag, S. 2. Eigene Berechnungen anhand der Italienerzahlen und der Münchner Einwohnerstatistik. 22 Als Mezzogiorno wird der südlich von Rom gelegene Teil Italiens, also die Regionen Abruzzen, Molise, Kampanien, Apulien, Basilicata, Kalabrien und die beiden Hauptinseln Sardinien und Sizilien, bezeichnet. 23 F. Ramella, Immigrazione e traiettorie sociali in città: Salvatore e gli altri negli anni sessanta, in: A. Arru / F. Ramella (Hrsg.), L’Italia delle migrazioni interne. Donne, uomini, mobilità in età moderna e contemporanea, Rom 2003, S. 339-385, hier S. 339 f.; D. von Delhaes-Günther / O.N. Haberl / A. Schölch, Abwanderung von Arbeits-

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der Arbeitsmigranten, die mehrheitlich zwischen 20 und 40 Jahre alt waren, ähnlich24. Zudem waren beide Wanderungen zunächst männlich dominiert, erst später erfolgte Familiennachzug25. Aufschlüsse über die Konsumvorstellungen und das Konsumverhalten der Arbeitsmigranten sollen sowohl aus der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen als auch aus der retrospektiven geschichtswissenschaftlichen Forschungsliteratur zu beiden Städten gewonnen werden. Dabei spiegelt sich die unterschiedliche quantitative Ausprägung der Arbeitsmigration im ungleichmäßigen Aufkommen an Forschungsliteratur, die für Turin ungleich dichter vorliegt als für München, während sich die qualitative Übereinstimmung der Prozesse inhaltlich in den Arbeiten niederschlägt. Für die Betrachtung des Turiner Beispiels wurden drei zeitgenössische Untersuchungen ausgewählt, die versuchten, die städtische Realität der Arbeitsmigranten zu erfassen. Dabei fokussierten sie vor allem auf Fragen der Integration, lassen indirekt aber eine Reihe von Hinweisen auf den Bereich Konsum zu. Zentral ist die zuerst 1964 erschienene und danach mehrmals neu aufgelegte Studie „L’immigrazione meridionale“ von Goffredo Fofi, der zunächst als Lehrer beschäftigt war und im Vorwort betonte „der Autor ist weder Soziologe noch Wirtschaftswissenschaftler oder Statistiker von Beruf, sondern vielmehr ein ,Dilettant‘ – angetrieben durch politische und soziale Interessen“26. Im selben Jahr erschien die Studie „Immigrati a Torino“ von Celestino Canteri, der im Vorwort selbst als Facharbeiter sowie als – im Kindesalter – selbst Zugewanderter präsentiert und dessen Schrift als „lebendiges soziales und nicht soziologisches Zeugnis“ vorgestellt wurde27. Beide führten zahlreiche Interviews mit hauptsächlich männlichen Arbeitsmigranten, die aus dem Süden Italiens zugewandert und im Durchschnitt 30 Jahre alt kräften aus Italien, der Türkei und Jugoslawien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 12 (1976), S. 3-29, hier S. 6, siehe auch Tabelle 29; M. Rieder, 50 Jahre Anwerbevertrag, S. 4. 24 S. Inaudi, La struttura familiare nell’immigrazione dal Mezzogiorno al Nord. Il caso di Torino negli anni ’50 e ’60, unv. Magisterarbeit Turin, 1998, S. 55; Landeshauptstadt München, Stadtentwicklungsreferat (Hrsg.), Kommunalpolitische Aspekte des wachsenden ausländischen Bevölkerungsanteils in München. Problemstudie, München 1972, S. 41. 25 Vgl. zur weiblichen Arbeitsmigration und zum Familiennachzug A. Badino, Tutte a casa? Donne tra migrazione e lavoro nella Torino degli anni sessanta, Rom 2008; M. Mattes, „Gastarbeiterinnen“ in der Bundesrepublik. Anwerbepolitik, Migration und Geschlecht in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a.M. 2005. 26 G. Fofi, L’immigrazione meridionale, S. 10: „l’autore non è ne sociologo nè economista ne statistico di professione, ma piuttosto un ,dilettante‘, mosso da interesse politico e sociale“; ein heute bereits vergriffener Nachdruck erfolgte zuletzt 2011. 27 C. Canteri, Immigrati a Torino, Mailand 1964, S. 6: „vivo contributo di testimonianza sociale e non sociologica“.

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waren28. In der Folge bereiteten sie die Interviews nach verschiedenen Kategorien wie Ankunft, Arbeit, Unterbringung erzählerisch auf. Zehn Jahre später, 1973, beschlossen einige Arbeitsmigranten aus dem Süden, selbst eine Untersuchung unter den jungen, allein nach Turin migrierten Arbeitern durchzuführen29. Ein Kreis von 25 bis 30 Personen tat sich zusammen, um in Gruppengesprächen einzelne Themen zu diskutieren, die Ergebnisse wurden in einem zwanzigseitigen Schreibmaschinenskript festgehalten30. Auch hier handelte es sich bei den Teilnehmern um junge Arbeiter, die alle männlich und fast ausschließlich aus dem Süden waren. Diese Darstellung gibt die Ansichten der Arbeitsmigranten am ungefiltertsten wieder. Alle drei Untersuchungen sind nicht im eigentlichen Sinne sozialwissenschaftlich, bemühen sich durch die Durchführung von Interviews und Gruppengesprächen aber um die Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden. Für das Münchner Beispiel konzentriert sich die Studie auf eine 1964 an der Universität München vorgelegte sozialwissenschaftliche Dissertation. Die Verfasserin Ursula Kurz führte 1962/63 Interviews mit 450 italienischen Arbeitsmigranten, die im Barackenlager eines Bauunternehmers untergebracht waren31. Die dabei beobachteten Phänomene beschrieb sie als „partielle Anpassung“, bei der eine teilweise Anpassung an „ein fremdkulturelles Sozialsystem“ erfolge, die jedoch nicht der Integration in die Aufnahmegesellschaft diene sondern der Erreichung von Zielen in der Herkunftsgesellschaft32. Eine zentrale Rolle spielten bei der Untersuchung Ansichten der Arbeitsmigranten zum Sparen und zum Konsum. In Ermangelung weiterer zeitgenössischer Arbeiten zum migrantischen Konsumverhalten speziell in München werden ergänzend einerseits auf die Bundesrepublik insgesamt bezogene Untersuchungen, die „Gastarbeiter“ als Konsumenten in den Blick nahmen, sowie eine historiografische Studie über Arbeitsmigranten in München herangezogen33. Als Brücke zwischen den italienischen und den deutschen Untersuchungen fungiert eine im Auftrag der Europäischen Kommission 1974 durchgeführte 28 Vgl. zur Zusammensetzung des Samples bei G. Fofi, L’immigrazione meridionale, S. 75 f. und S. 78. 29 Centro Studi Emigrazione Roma (künftig CSER), Giovani operai immigrati a Torino, Schreibmaschinenskript, 17.-19.3.1973. 30 CSER, Giovani operai immigrati a Torino, S. 4. 31 U. Kurz, Partielle Anpassung und Kulturkonflikt. Eine soziologische Untersuchung der Gruppenstruktur und des Anpassungsverhaltens in einem italienischen Arbeiterlager Münchens, unv. Dissertation München, 1967. 32 Ebd., S. 209-214. 33 M. Hefner, Der Gastarbeiter als Konsument; U. Mehrländer, Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer; F. Dunkel / G. Stramaglia-Faggion, „Für 50 Mark einen Italiener“. Zur Geschichte der Gastarbeiter in München, München 2000.

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Studie zu den Wohnbedingungen italienischer Arbeitsmigranten in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft34. In den Wochen vor und nach dem Jahreswechsel 1973/74 befragte eine Forschergruppe um die Anthropologin Amalia Signorelli nach den Vorgaben der Kommission in ausgewählten Ortschaften Süditaliens mit Hilfe eines Fragebogens insgesamt 600 männliche Personen, die für die Feiertage bzw. bereits endgültig in ihre Herkunftsorte zurückgekehrt waren35. Auch dabei ging es zentral um deren Sparund Konsumvorhaben. Durch die Konzentration der Befragung auf die Herkunftsorte wurde nicht wie bei vielen anderen Untersuchungen nach Migration innerhalb Italiens bzw. Europas unterschieden, sondern beide Migrantengruppen wurden gleichermaßen erfasst. Diese Perspektive kommt dem hier gewählten vergleichenden Untersuchungsaufbau entgegen, obwohl nicht systematisch zwischen den Interviews der Arbeitsmigranten, die nach Norditalien bzw. in das europäische Ausland gewandert waren, unterschieden wurde. Zunächst werden die hier kurz skizzierten Studien in Hinblick auf die darin ermittelten Migrationsziele der Arbeitsmigranten untersucht, dann folgt eine Auseinandersetzung mit den sich ändernden Konsumvorstellungen und -realitäten. Zuletzt wird erörtert, inwiefern sich an diesen Wertewandel ablesen lässt und sie als Individualisierung gedeutet werden können.

II. Zukünftige und gegenwärtige Migrationsziele Die Arbeitsmigranten wanderten zunächst mit dem Ziel in die Industriemetropolen Italiens und Deutschlands, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, um anschließend auf verbesserter wirtschaftlicher Grundlage in ihre Herkunftsregion zurückkehren zu können. Insbesondere die Befragung der Arbeitsmigranten in den Herkunftsorten in Süditalien 1973/74 zeigte deutlich, dass die Migration nicht als alltägliche Beschäftigungsmöglichkeit angesehen wurde. Stattdessen wurde der Aufbruch in die Fremde als die eine Gelegenheit im Leben angesehen, die eigenen Lebensbedingungen grundlegend zu verbessern und aus der ökonomischen Prekarität in die finanzielle Sicherheit zu treten. Die Migration sollte die Arbeitsmigranten befähigen, etwas zu erreichen, auf Italienisch also „riuscire a fare qualcosa“36. Damit war in zahlreichen Fällen der Bau eines eigenen Hauses im Herkunftsort gemeint, für den das in der

34 A. Signorelli u.a., Scelte senza potere. Il ritorno degli emigranti nelle zone dell’esodo, Rom 1977. 35 Ebd., S. 30. 36 A. Signorelli, Migrazioni ed incontri etnografici, Palermo 2006, S. 94.

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Fremde verdiente Geld angespart wurde37. Die Migration wurde entsprechend als „sacrificio“ und damit als notwendiges Opfer betrachtet, das für den finanziellen Zugewinn zu erbringen sei38. Im Gegensatz dazu steht die von Paul Ginsborg retrospektiv und von Giovanni Russo zeitgenössisch in Bezug auf die inneritalienische Migration erarbeitete Einschätzung, dass die Stadt als Flucht- und Attraktionspunkt weit über ihre geographischen Grenzen hinaus wirkte und stärker auf die Gegenwart bezogene Wünsche freisetzte. Für die jungen Leute in den Dörfern des südlichen Italien sei die Anziehungskraft der Städte demnach unwiderstehlich gewesen und sie hätten von nichts anderem gesprochen, während der einzige Fernseher des Dorfes Bilder einer Konsumwelt des Nordens, mit Vespas, Kofferradios und sonntäglichen Familienausflügen im Fiat zeigte39. Das Spektrum der Konsumwünsche der Arbeitsmigranten lag demnach zwischen dem traditionellen Migrationsziel, die materielle Grundlage für ein besseres Leben in der Heimat zu schaffen, und den modernen Bedürfnissen eines gesteigerten Konsums, die bereits vor oder im Verlauf der Migration im Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft entstanden.

III. Konsumvorstellungen und Konsumverhalten – Vom Sparen zum Konsumieren Für das Gros der Arbeitsmigranten spielte jedoch zunächst das Sparen eine zentrale Rolle. Sowohl bei der Binnenmigration als auch bei der Migration in die Bundesrepublik erwies sich die Mehrzahl in den ersten Jahren überzeugt von der Notwendigkeit, einen bedeutenden Anteil dessen, was sie in der Migration verdienten, zurückzulegen oder in die Heimat zu schicken. So zeigte sich in den 1973/74 in Süditalien durchgeführten Interviews, dass das Sparmotiv im Bewusstsein der Arbeitsmigranten gegenüber ihrem Konsumverhalten bestimmend blieb40. Die Fähigkeit zu sparen wurde als Voraussetzung für das Gelingen des Migrationsprojektes angesehen, während

37 Y. Rieker, Gli emigranti dal Sud Italia in Germania. Allo stesso tempo „parte integrante“ e „stranieri“. La prospettiva delle storie di vita, in: Studi emigrazione 42 (2005), S. 367-382, hier S. 370; A. Signorelli, Migrazioni, S. 104. 38 A. Signorelli, Migrazioni, S. 94; vgl. dazu auch G. Russo, Chi ha più santi in paradiso, Bari 1965. 39 P. Ginsborg, A History of Contemporary Italy. Society and Politics 1943-1988, London 1990, S. 222; G. Russo, Chi ha più santi, S. 123. 40 M.C. Tiriticco, Gli emigranti come soggetti economici, in: A. Signorelli u.a., Scelte senza potere, S. 225-281.

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das kurzfristige Konsumieren als Schwäche erschien41. Entsprechend betonte ein 33-jähriger Arbeitsmigrant: „Es gelingt ganz wenigen. Man braucht viel Willenskraft und Glück. Hier haben sie so sehr gelitten, dass sie sich im Ausland von der Konsumgesellschaft verlocken lassen“42. In den Interviews erscheint die Konsumgesellschaft also als Gefahr, von der man sich fernhalten müsse, wenn das Ziel der Migration, die langfristige Verbesserung der Lebensumstände, gelingen sollte. Übereinstimmend hatte bereits 1962/63 die Befragung italienischer Arbeitsmigranten in München offenbart, dass die Beträge, die für den Lebensunterhalt ausgegeben wurden, konstant blieben43. Persönliche Ausgaben und Kosten für den Lebensstil wurden auch bei steigendem Verdienst niedrig gehalten. Das zeigt sich daran, dass 55% der Befragten bei unterschiedlichem Einkommen, das je nach Einstufung als Hilfs- oder Facharbeiter zwischen 300 und 700 DM lag, monatlich die gleichen Ausgaben von 100 bis 150 Mark für Lebenshaltungskosten in Deutschland hatten44. Deutlich wird hier also die Kontinuität des Sparwillens, die sich auch in den Meinungen der Arbeitsmigranten über privaten Konsum spiegelte: Auf die Frage „Was sagt man hier im Lager über einen, der z.B. 300,- DM im Monat für sich verbraucht?“ antworteten 71% der Befragten mit „stark negativen Beurteilungen (verbunden mit Beschimpfungen)“. Dabei verwendeten sie für diese Personen teilweise sehr drastische Ausdrücke und meinten diese seien nichts anderes als „Schufte“, „Verbrecher“, „Verschwender“ und „Wahnsinnige“45. Während in der Migration also weiterhin möglichst sparsam gelebt wurde, planten die Arbeitsmigranten für die Zukunft, das erwirtschaftete Geld vor allem in Grundbesitz und Hausbau zu investieren. Die starke Konzentration auf den Hausbau wird anhand von Studien über die Investitionen der in die Heimat zurückkehrenden Süditaliener deutlich: Der prozentuale Anteil dieser Investitionen an den Gesamtaufwendungen der Arbeitsmigranten lag in allen untersuchten Rückkehrregionen bei mehr als 70%46. Auch in der Münchner A. Signorelli, Gli immigranti come soggetti culturali, in: ders. u.a., Scelte senza potere, S. 107. 42 Ebd., S. 111: „Riescono pochi. Ci vuole molta volontà e fortuna. Qui hanno talmente sofferto che all’estero si lasciano prendere dalla società dei consumi“. 43 U. Kurz, Partielle Anpassung, S. 132. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 133 f. 46 Vgl. für Sardinien M.L. Gentileschi, Sardegna, in: M.L. Gentileschi / R. Simoncelli, Rientro degli emigrati e territorio. Risultati di inchieste regionali, Cagliari 1977, S. 265-350, hier S. 332; für die Abruzzen R. Simoncelli, Abruzzo, ebd., S. 211264, hier S. 255. Unter den Aufwendungen für den Hausbau wurde in den Unter41

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Untersuchung antworteten auf die Frage „Was wollen Sie anschaffen, wenn Sie wieder in Italien sind?“ 74% der Befragten „Hauskauf, Hausbau und Hauserneuerung“47. Die Anfang der 1960er Jahre in Turin von Fofi durchgeführte Befragung deutet jedoch in eine andere Richtung: Auffällig ist die offenbar häufig wiederholte Annahme der Zuwanderer aus dem Süden, dass die Turiner „spendaccioni“ und „spreconi“ (Verschwender) seien 48. Während der Arbeitsmigrant nach der Ankunft mit seinen Einkünften streng haushalten müsse, so Fofi, sähe er bei den Turinern „ein größeres Vorhandensein von Mitteln für sogenannte Luxuskäufe, das ihm außergewöhnlich erscheint“49. Erstaunlicherweise spielte im Gegensatz dazu bei der Selbstbeschreibung der Meridionali die Eigenschaft „sparsam“ keine Rolle50. Damit unterscheidet sich dieser Befund von den anderen Untersuchungen: Statt die „Konsumenten“ innerhalb der Migrantengruppe zu kritisieren, wurde nun das Konsumverhalten der Aufnahmegesellschaft hinterfragt und das eigene Sparen für die Zukunft schien mental in den Hintergrund zu rücken. Der geringere Stellenwert des Sparens könnte mit dem unterschiedlichen Ort der Erhebung zu tun haben: Während Fofi Arbeitsmigranten befragte, die sich in der Aufnahmestadt befanden und ihre Rückkehrpläne möglicherweise bereits aufgegeben hatten, rückten bei Signorelli jene in den Blick, die durch ihren Aufenthalt während der Weihnachtsfeiertage eine gewisse Nähe zum Herkunftsort und/oder generelle Rückkehrabsichten vermuten lassen. Die ausgeprägte Sparneigung der Arbeitsmigranten in München erscheint am stärksten als Hinweis auf das Beibehalten der Rückkehrneigung und weist bei allen strukturellen Ähnlichkeiten der beiden Migrationsbewegungen doch auf ein unterschiedliches Maß der Interaktion mit der Aufnahmegesellschaft hin. Aber obwohl sich in Turin bereits früh eine Annäherung an örtliche Konsumvorstellungen abzeichnete, erscheint das langfristige Engagement zur Verbesserung der Lebensbedingungen insgesamt stärker verbreitet gewesen zu sein als die Aufwendung der in der Migration erarbeiteten Mittel zur Befriedigung kurzfristiger Konsumwünsche.

suchungen auch der der eigentlichen Bautätigkeit vorausgehende Grundstückskauf erfasst. 47 U. Kurz, Partielle Anpassung, S. 65; vgl. dazu auch die Untersuchung von G. Russo, Chi ha più santi, insbesondere S. 153-154, der für Köln und Stuttgart zu übereinstimmenden Ergebnissen kommt. 48 G. Fofi, L’immigrazione meridionale, S. 256. 49 Ebd.: „una disponibilità maggiore di mezzi per le spese cosiddette voluttuarie, che gli appare straordinaria“. 50 Ebd.

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Für einen Teil der Arbeitsmigranten schien die Konzentration auf das Sparen jedoch in keinem der beiden Fälle zuzutreffen: für die jüngeren unter ihnen. Dieses Ergebnis entspricht vielfältigen Ergebnissen der Konsumgeschichte des 20. Jahrhunderts, die den Generationswechsel als entscheidenden Faktor eines Kontinuitätsbruchs mit dem Herkunftsmilieu und der Ausdifferenzierung der Lebensstile interpretieren51. So stellte bei der Befragung für die Weihnachtsfeiertage in die Herkunftsorte zurückkehrender Italiener ein 26-jähriger Arbeitsmigrant fest, dass es möglich sei zu arbeiten „nicht für die Zukunft, sondern um das Geld auszugeben, um gut zu leben“52. Diese Aussage betont den Gegensatz zwischen den Meridionali, die für die Zukunft arbeiteten, und in diesem Falle den Schweizern, im weiteren Sinne aber den westeuropäischen Aufnahmegesellschaften, die inzwischen offenbar arbeiteten, um mit dem verdienten Geld das Leben zu genießen. Der Konsum zur Verwirklichung gegenwärtiger Bedürfnisse wird hier nicht mehr als Fehlverhalten angesehen, sondern als legitime Möglichkeit, das Verdiente auszugeben und in ein gutes Leben zu investieren. Diese Tendenz verweist deutlich darauf, dass sich die Migranten zunehmend an der Aufnahmegesellschaft orientierten. Auch in der Turiner Untersuchung Fofis sind es besonders die jungen Arbeitsmigranten, die den Konsummöglichkeiten der Großstadt am aufgeschlossensten gegenüberstehen und sie in ihr Freizeitverhalten integrieren: „Die Jungen, und speziell diejenigen ohne Familie, probieren am meisten verschiedene Formen der Freizeitbeschäftigung aus. Der erstaunte Kommentar: ,hier in Turin ist es als wäre jeder Tag Feiertag, denn das Kino und das Varieté haben immer geöffnet‘“53. Übereinstimmend macht die Münchner Studie deutlich, dass bei der Befragung aller Bewohner des Barackenlagers jüngere Arbeitsmigranten von harschen Urteilen über mangelndes Sparvermögen ausgenommen waren. Gängige Erklärungen – und Entschuldigungen – ihres Verhaltens lauteten demnach: „Er hat keinen Grund zum Sparen, er ist jung“; „Er ist jung, er will eben angeben“ sowie „Er will sich amüsieren, aber er ist nicht schlecht“54. Das zunehmende Interesse jüngerer Arbeitsmigranten am Konsum wird auch in der Studie „Der Gastarbeiter als Konsument“ deutlich. In der Befra51 Vgl. R. Gries, Generation und Konsumgesellschaft, in: H.-G. Haupt / C. Torp, Konsumgesellschaft, S. 190-204; D. Siegfried, Individualisierung, in diesem Band. 52 A. Signorelli, Migrazioni, S. 115, auch dies., Gli immigranti come soggetti culturali, S. 129: „non per l’avvenire, ma per spenderli, per vivere bene“. 53 G. Fofi, L’immigrazione meridionale, S. 260: „I giovani, e specialmente quelli senza famiglia, sono coloro che sperimentano più forme di tempo libero. Il commento stupito: ,qui a Torino è come se fosse festa ogni giorno, perché c’è sempre il cinema e il varietà‘“. 54 U. Kurz, Partielle Anpassung, S. 134.

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gung italienischer und türkischer Arbeitsmigranten in Mannheim zu ihrem Freizeitverhalten war eine Antwortmöglichkeit die Rubrik „so richtig schön lange und in Ruhe einkaufen“55. Die Befragten unter 35 Jahren zeigten an dieser Beschäftigung mit 33,7% ein überdurchschnittlich starkes Interesse. Insgesamt rangierte das Einkaufen bei den Italienern mit 22% immerhin an dritter Stelle, direkt nach den im Fragebogen vorgegebenen Kategorien mit der Familie bzw. mit anderen Italienern Zusammensein und vor allen anderen Hobbies. Die Lösung von Vorstellungen aus den Herkunftsmilieus erscheint hier vor allem als Altersfrage. Während die älteren Arbeitsmigranten an traditionellen Konsumvorstellungen festhielten, akzeptierten sie scheinbar die von vornherein anderen oder in der Migration veränderten Einstellungen der jüngeren. Daneben scheint auch die Familienkonstellation in der Migration eine wichtige Rolle für die Änderung des Konsumverhaltens gespielt zu haben: So war der jeweilige Familienstand und die damit verbundene Aufgabe, die zurückgebliebene oder mitgebrachte Familie zu versorgen, wesentlich. Ebenso zeigte sich bei der Befragung der Arbeitsmigranten in den süditalienischen Herkunftsorten, dass das Sparen in starkem Maße vom Familienstand abhängig war: So gaben 78,8% der Ledigen an, den Großteil ihres monatlichen Einkommens für später zurückzulegen, während es bei den Verheirateten sogar 90% waren56. Auch deutsche Studien zum Sparverhalten der Arbeitsmigranten zeigen eine Diskrepanz zwischen den Ausgaben Lediger und Verheirateter57. Diese Ausdifferenzierung nach unterschiedlichen Lebenssituationen relativiert die homogenisierende Sicht auf die Arbeitsmigranten: Was aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft zeitgenössisch von Beck als „Wanderungsbewegung ganzer Kollektive“ beschrieben wurde oder bis heute in der Migrationssoziologie als „erste Generation“ sehr pauschal abgehandelt wird58, entfaltet sich trotz der allen Arbeitsmigranten gemeinsamen Erfahrung der Migration als ein ganzes Bündel unterschiedlicher Lebensweisen und Einstellungen.

M. Hefner, Der Gastarbeiter als Konsument, S. 41. A. Signorelli, Migrazioni, S. 93. Vgl. dazu auch M.C. Tiriticco, Gli emigranti come soggetti economici, S. 225. 57 M. Hefner, Der Gastarbeiter als Konsument, S. 35. 58 Vgl. zum Gebrauch des Generationsbegriffs in der Migrationssoziologie I. Oswald, Migrationssoziologie, Konstanz 2007, S. 128; A. Treibel, Migration in modernen Gesellschaften. Soziale Folgen von Einwanderung, Gastarbeit und Flucht, 4. Aufl., Weinheim 2008, S. 135. 55 56

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IV. Konsumpraxis materieller und immaterieller Güter – Bekleidung und Tanzbars Unter den gegenständlichen Konsumgütern spielte die Bekleidung eine zentrale Rolle. Bei der Ankunft der Arbeitsmigranten aus dem Süden an den Bahnhöfen der Metropolen wurden die Gegensätze besonders anhand der äußeren Erscheinung deutlich: fremdes Aussehen und altmodische Kleidung „verkörperten“ agrarische Rückständigkeit, der die modern gekleideten Bewohner der Großstadt gegenüberstanden. Immer wieder tauchen in zeitgenössischen Beschreibungen Erzählungen auf, die Arbeitsmigranten als abgerissene Gestalten schildern, die an öffentlichen Plätzen in der Stadt herumlungerten. So erschien zum Beispiel auch Porta Palazzo, der zentrale Markt in Turin, um den sich die Arbeitsmigranten in großen Zahlen ansiedelten, als „piazza, che la domenica è piena di uomini vestiti di scuro“, also sonntags voller typisch süditalienisch in Schwarz gekleideter Männer59. Auch die Arbeitsmigranten selbst bemerkten den Unterschied, der sich zwischen ihrer und der Kleidung der Turiner zeigte, deutlich: „Die Turiner? Wenn die durch Turin laufen erscheinen sie alle als feine Herrschaften: gut gekleidet und mit Brillantine im Haar“60. Noch Anfang der 1970er Jahre stellten die jungen Arbeitsmigranten in ihren Gruppendiskussionen dichotomisch fest: „der Kleidungsstil im Norden unterscheidet sich von dem im Süden, die Stadt unterscheidet sich vom Land“61. Durch den Parallelismus wird dabei auch die Gleichsetzung von Süden/Land und Norden/Großstadt deutlich. Bald nach ihrer Ankunft in der Metropole begann aber offenbar die Anpassung der Arbeitsmigranten an die Bekleidungsgewohnheiten der Großstädter, wiederum waren die jüngeren unter ihnen die Vorreiter. Und so wurden bei der Ankunft von später eintreffenden Arbeitsmigranten am Bahnhof neu entstandene Gegensätze zwischen vor längerer und vor kürzerer Zeit Zugewanderten deutlich: „Endlich liegen sich neue und alte Immigranten gerührt in den Armen … Die Jungen, die schon ‚Turiner‘ geworden sind, mit Kleidern nach städtischem Schnitt und farbenprächtigen Krawatten, lächeln triumphierend und selbstsicher“62. Die jugendlichen Arbeitsmigranten betonten in ihren Gruppengesprächen zehn Jahre später allerdings nicht nur die G. Fofi, L’immigrazione meridionale, S. 103. C. Canteri, Immigrati, S. 77: „I torinesi? Quando girano per Torino sembrano tutti signori: ben vestiti, con la brillantina sulla testa“. 61 CSER, Giovani operai immigrati a Torino, S. 12: „i modi di vestire del nord sono diversi da quelli del sud, la città e diversa dalla campagna“. 62 C. Canteri, Immigrati, S. 45: „Finalmente nuovi e vecchi immigrati si possono abbracciare e baciare commossi … I giovani già diventati ,torinesi‘, in abiti di taglio cittadino e muniti di sgargianti cravatte, sorridono trionfanti, sicuri“. 59 60

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Freude darüber, das in der Migration Erreichte durch eine entsprechende Kleidung nach außen hin demonstrieren zu können. Zugleich unterstrichen sie die Zwänge, die diese Anpassung nötig machten: „die herrschenden Vorbilder beginnen zu gefallen; deshalb fängt man an der Mode zu folgen: aus Angst, sonst keine Freunde zu finden“63. Dabei wurde aber nicht genauer spezifiziert, ob diese Freundschaften innerhalb oder außerhalb der Arbeitsmigrantengruppe gesucht wurden. Auch in der Bundesrepublik spielte die Bekleidung für das Konsumverhalten der Italiener eine wichtige Rolle: So kauften nach einer Ende der 1960er Jahre durchgeführten Untersuchung die Italiener zu 71,3% Kleidung, erst mit Abstand folgten zu 27,8% Radios und zu 14,1% Schallplattenspieler64. Im Gegensatz zu der offenbar erfolgreichen Übernahme der herrschenden Mode im Turiner Fall heißt es in der Münchner Studie „Anpassung an bayerische Kleidung, insbesondere Hutmode, konnte als Scheinanpassung erkannt werden“65. Dabei wird unter der leitenden Fragestellung der Arbeit die modische Annäherung durch bayerische Kopfbedeckungen als eine nur partielle Anpassung gewertet, die das ursprüngliche Gruppenziel der Rückkehr nicht in Frage stelle: Demnach sei die „Hutmode“ als Prestigefaktor im Hinblick auf die Herkunftsgruppe zu sehen, also um in der Gruppe der Italiener gut dazustehen und sei nicht auf die Aufnahmegesellschaft bezogen. Die Autorin setzt diese Beobachtung mit „Verhaltensweisen im modernen Massentourismus“ gleich, bei denen lokal typische Kleidungsstücke ebenfalls nur temporär angenommen würden und es letztlich um die Interaktion innerhalb der Reisegruppe und nicht mit der einheimischen Bevölkerung gehe. Diese Feststellung verweist sehr deutlich auf ihren Entstehungskontext in einer Zeit, in der auf breiter gesellschaftlicher Basis davon ausgegangen wurde, dass die italienischen Arbeitsmigranten aufgrund des Rotationsprinzips nur für die Dauer eines Jahres in der Bundesrepublik verbleiben würden. Die modische Anpassung könnte im Gegensatz dazu jedoch auch als beginnende Öffnung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft gedeutet werden. Am Kauf von modischer Bekleidung in beiden Fällen kann eine Abkehr vom reinen Sparen und eine Hinwendung zum individuellen Konsum abgelesen werden, gleichzeitig schloss der Kauf der relativ kostengünstigen – und

63 CSER, Giovani operai immigrati a Torino, S. 12: „gli ideali proposti finiscono per attrarre; per cui qualcuno incomincia a seguire la moda: ha paura di non riuscire a farsi degli amici“. 64 U. Mehrländer, Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer, S. 122. Durch Mehrfachnennung ergaben sich insgesamt mehr als 100%. Dieser Befund lässt sich leider schlecht in Bezug auf die deutsche Bevölkerung qualifizieren, da das Sample nicht nach Alter, Geschlecht oder Familienstand aufgeschlüsselt ist. 65 U. Kurz, Partielle Anpassung, S. 212-213.

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vor allem portablen – Konsumgüter eine Rückkehr in die Herkunftsgebiete und ein späteres Erreichen des Sparziels nicht aus. Als immaterielle Freizeitkonsummöglichkeiten werden Tanzbars in den Untersuchungen zu beiden Städten gehäuft erwähnt. Fofi wertete die Tanzbars, deren Zahl in den Jahren der Zuwanderung rasant zunahm, als „sehr wichtige Treffpunkte für das Anknüpfen von Liebesbeziehungen, die sowohl von den jungen Immigranten als auch den jungen Turinern häufig genutzt werden“, also als Lokalitäten, wo sich sowohl junge Arbeitsmigranten als auch junge Turiner aufhielten66. Anfang der 1970er Jahre sahen die jungen Arbeitsmigranten diese Orte in ihren Gruppendiskussionen allerdings nicht als Treffpunkte an, sondern sie kritisierten: „Dort hast du keine menschlichen Kontakte. Und du gehst frustrierter nach Hause als du es vorher warst“67. Das Vergnügen an der neuen freizeitlichen Freiheit erschien zudem begrenzt, denn „normalerweise nehmen die Mädchen die Aufforderung zum Tanz nicht an und dann verbringst du den ganzen Nachmittag dort ohne ein einziges Mal zu tanzen“68. Ganz anders erscheinen die rückwärtigen Erinnerungen eines Arbeitsmigranten in München, der 1961 aus Italien in die Bundesrepublik eingereist war: „Damals war ich ein fanatischer Tänzer … Wir gingen also in diese großen Lokale, und für uns war das ein tolles Erlebnis“69. Ebenso betonte eine Arbeitsmigrantin, die 1962 in München eingetroffen war: „Wir waren viele Italiener, auch Mädchen waren dabei … Wir gingen immer viel zum Tanzen … Das war auch ein Gefühl von Freiheit. In Italien hatten wir nichts, da konnten wir von einem solchen Leben nur träumen“70. Sowohl in Turin als auch in München ergab sich also über die Teilnahme an Tanzveranstaltungen eine Öffnung zu großstädtischen Verhaltensweisen. In beiden Fällen konnten sich dabei schnellere oder langsamere Anpassungen an den Freizeitkonsum der Aufnahmegesellschaften vollziehen. Während Fofi in seiner Untersuchung der 1960er Jahre die Gemeinsamkeiten der Freizeitgestaltung von jungen Arbeitsmigranten und Einheimischen hervorhebt, verweisen jedoch die Aussagen der jungen Arbeitsmigranten in Turin Anfang der 1970er Jahre erstaunlicherweise auf eine stärkere Orientierung an der Herkunftsgesellschaft, was die soziale und kulturelle Wirkung auch der Binnenmigration 66 G. Fofi, L’immigrazione meridionale, S. 261: „centri d’incontro importantissimi per i rapporti sentimentali, frequentatissimi dai giovani immigrati come dai giovani torinesi“. 67 Ebd., S. 16: „Non hai contatti umani. Ne esci più frustrato di prima“. 68 CSER, Giovani operai immigrati a Torino, S. 12: „di solito le ragazze non accettano di ballare per cui si finisce per passare tutto il pomeriggio in sala senza riuscire a fare un ballo“. 69 F. Dunkel / G. Stramaglia-Faggion, Geschichte der Gastarbeiter, S. 213. 70 Ebd.

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noch einmal deutlich hervorhebt. Das unterschiedliche Maß an Vergnügen an den Tanzveranstaltungen in beiden Städten lässt sich möglicherweise aber auch mit einer anderen Entwicklung erklären: Während in Norditalien die Attraktivität der gesellschaftlich schlechter gestellten Arbeitsmigranten aus dem Süden als potenzielle Tanzpartner weiterhin begrenzt blieb, begann sich in der Bundesrepublik parallel zur Zunahme des Massentourismus nach Italien ab Mitte der 1960er Jahre das Bild der Italiener zu wandeln und sie wurden als exotische Tanzpartner interessant71. Insgesamt wandten sich die Arbeitsmigranten offenbar in beiden Städten den vielfältigen Möglichkeiten der sich entfaltenden Konsumgesellschaft zu. Gleichzeitig scheint es aber, als könne man dennoch von einem Fortbestehen einer „Traumzeit“ der Konsumgesellschaft ausgehen, einer Epoche also, bei der die Arbeitsmigranten zwar an neuen Konsumvorstellungen partizipierten, die sozialen Grenzen zum Massenkonsum aber erst später überschritten72. So berichtet Fofi, die typische Wochenendbeschäftigung der Arbeitsmigranten in Turin habe folgendermaßen ausgesehen: „der sonntägliche Kinobesuch für die ganze Familie …, und danach der Spaziergang entlang der Schaufenster unter den Arkaden“73. Ganz ähnlich beschrieben die Münchner Arbeitsmigranten ihren sonntäglichen Rundgang durch die Stadt als „Kaufhof – Bahnhof – Baracke – aus“74. Einerseits dokumentieren diese Aussagen ein ausgeprägtes Interesse an der Warenwelt, andererseits erscheint das Schaufensterschauen am verkaufsfreien Wochenende als Sicherheitsmaßnahme, um auf Abstand zu den angebotenen Gütern zu bleiben und möglicherweise doch für die Zukunft anzusparen. In Turin war dabei allerdings der Kinobesuch bereits inbegriffen, während die Arbeitsmigranten in München am Bahnhof vor allem auf Neuigkeiten aus der Heimat hofften, die mit den stetig nachrückenden Neuankömmlingen aus dem Süden anrollten75.

71 O. Janz / R. Sala (Hrsg.), Dolce vita? Das Bild der italienischen Migranten in Deutschland, Frankfurt a.M. 2011. 72 K. Jarausch / M. Geyer, Streben nach Glück. Konsum, Massenkultur und Konsumdenken, in: dies., Zerbrochener Spiegel. Deutsche Geschichten im 20. Jahrhundert, München 2005, S. 303-353, hier S. 320. 73 G. Fofi, L’immigrazione meridionale, S. 259: „il cinema domenicale per la famiglia …, la passeggiata che lo segue sotto i portici e lungo le vetrine“. 74 U. Kurz, Partielle Anpassung, S. 207. 75 Vgl. zuletzt S. Egger, München wird moderner. Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren, Bielefeld 2013, S. 251.

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V. Fazit Anhand von Konsumvorstellungen und Kaufentscheidungen bzw. Kaufverzichten von italienischen Arbeitsmigranten in Turin und München sollten Anzeichen für einen Wandel von traditionellen zu modernen bzw. postmodernen Werten identifiziert werden. Dabei wurde angenommen, dass der Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft in beiden Fällen zu einer Neujustierung der Werte und Einstellungen auch der Arbeitsmigranten führte. Der Vergleich des migrantischen Konsumverhaltens in Italien und der Bundesrepublik zeigte zunächst weitgehende Übereinstimmungen: In beiden Fällen wurde eine zunehmende gedankliche und auch reale Hinwendung der Arbeitsmigranten zu gegenwärtigen Konsumwünschen festgestellt, die den ursprünglichen Migrationszielen des langfristigen Sparens im Wege stand. In bescheidenem Maße investierten nun auch sie in persönlichen Konsum vor Ort, das verdiente Geld legten sie nicht mehr ausschließlich für die Zukunft zurück. Besonders die jüngeren (und auch die ledigen) Arbeitsmigranten partizipierten schrittweise stärker am Markt und wurden so von Produzenten auch zu Konsumenten der von ihnen hergestellten Güter. Betrachtet man die Situation jeweils aber im Detail wird deutlich, dass innerhalb Italiens die Unterschiede zwischen Herkunfts- und Aufnahmegesellschaft – trotz der großen kulturellen Differenzen zwischen dem Süden und dem Norden des Landes – leichter überbrückt werden konnten. So scheint es sich in Italien doch stärker um eine Verwirklichung der neuen Konsumwünsche gehandelt zu haben; in Turin wurde darüber die Rückkehr in die Heimat vielfach auf unbestimmte Zeit verschoben. Demgegenüber wurden die Konsumwünsche in Deutschland zwar artikuliert, aber nicht realisiert: Mehr als in Turin blieben die nach München gewanderten Italiener ihrem ursprünglichen Ziel verbunden, für die Rückkehr in die Heimat zu arbeiten. Der Vergleich zeigt dennoch, dass in Bezug auf das Konsumverhalten der Arbeitsmigranten die Unterschiede zwischen Binnenmigration und transnationaler Migration weniger stark wirkten als anzunehmen gewesen wäre. Für die Realisierung der individuellen Möglichkeiten war eher die generationale Zugehörigkeit bestimmend, während die Bedeutung der nationalen Bindungen demgegenüber zurücktrat. Die Wertewandelsforschung geht gewöhnlich von einem „Wertewandelsschub“ aus, der sich zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre ereignet habe. Versucht man nun die vorliegenden Ergebnisse zu den Arbeitsmigranten in gängige Überlegungen zum Wertewandel einzuordnen, scheint es sich aus zwei Gründen um einen Spezialfall zu handeln: Einerseits waren die Arbeitsmigranten nicht Teil der Mehrheitsgesellschaft, der sie betreffende Wandel vollzog sich demnach nicht nur im Zeitverlauf, sondern

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auch im Raum. Die Arbeitsmigranten, die in den 1950er bis 1970er Jahren nach Turin und München kamen, erlebten im Kontakt mit der Aufnahmegesellschaft ihren jeweils eigenen „Wertewandelsschub“, von dem jeder neu eintreffende Arbeitsmigrant einzeln betroffen war. Ganz ähnlich hat das Klaus Tenfelde am Beispiel der Millionen von Arbeitsmigranten beschrieben, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts „aus ländlichen Herkünften in die großen Industriestädte strebten“ und die „viel mehr an sich, in sich Wert- und Verhaltenskonflikte vollzogen, vollziehen mussten“76. Andererseits greift die in der Wertewandelsforschung aufgeworfene Dichotomie zwischen materialistischen/traditionellen und postmaterialistischen/ fortschrittlichen Werten in Bezug auf die Arbeitsmigranten nicht77. In der vorliegenden Untersuchung zeigt sich, dass die Arbeitsmigranten ihre zunächst langfristigen materiellen Interessen wie den Hausbau in der Heimat auf dem Weg über die Verwirklichung kurzfristigerer materieller Interessen wie den Kauf von Bekleidung und Elektrogeräten hin zu postmateriellen Interessen wie den Tanzbarbesuch wandelten. Während tendenziell die Bereitschaft zu hedonistischem Konsum und zu freizeitlichen Tätigkeiten wuchs – auch wenn der Versuch, daran zu partizipieren, bisweilen misslang – blieben parallel aber offenbar langfristige materielle Interessen bestehen. Im Prozess der Migration scheinen also bestimmte Werte stärker an Bedeutung zugenommen zu haben, während andere an Gewicht verloren: Es ging darum, gleichzeitig zu genießen und darüber die langfristigen Migrationsziele dennoch nicht aus den Augen zu verlieren. Der aus der sozialwissenschaftlichen Forschung entlehnte Begriff der „Wertesynthese“, also die Verbindung von eher fortschrittlichen mit eher traditionellen Wertorientierungen, bringt diese Entwicklung auf den Punkt78. An den hier skizzierten Aspekten zeigt sich demnach, dass die kategorische Ausklammerung der Arbeitsmigranten aus der Individualisierungsthese ebenso fragwürdig ist wie die Annahme, dass sich bei der Migration innerhalb Italiens alle Unterschiede zwischen den Gruppen einfach auflösten. Die Klassifikation der Arbeitsmigration als „Wanderungsbewegung ganzer Kollektive“ greift zu kurz, denn diese Gruppe war keinesfalls homogen. Abhängig von ihrem Alter und Familienstand hatten die Arbeitsmigranten durchaus individualisierte Konsummöglichkeiten und die Freiheit, ihre Einstellungen an die

76 K. Tenfelde, Arbeit – Arbeiterbewegungen – Wertewandel, in: A. Rödder / W. Elz (Hrsg.), Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 37-45, hier S. 29. 77 Die mangelnde Präzision der Begriffe an sich wurde darüber hinaus kürzlich von Isabel Heinemann kritisiert; I. Heinemann, Wertewandel, S. 1. 78 H. Klages, Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 29, 2001, S. 7-14, hier S. 10 ebenso unter http://www. bpb.de/apuz/26130/brauchen-wir-eine-rueckkehr-zu-traditionellen-werten.

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der Bewohner von Turin und München zu adaptieren. Diese Annäherung wurde dabei aber durch strukturelle Faktoren, die innerhalb der Gruppe der Arbeitsmigranten selbst sowie der Aufnahmegesellschaft begründet lagen, begrenzt. Der Wertewandel betraf demnach nicht nur die Aufnahmegesellschaften, sondern in geringerem Maße auch die Zuwandernden. Allein das Leben in der Großstadt und die – wenn auch begrenzte – Entscheidung für oder gegen bestimmte Sparziele oder Konsumausgaben müssen als Loslösung aus dem traditionellen sozialen Milieu und als gelebte Individualisierung gesehen werden.

Moderne und Postmoderne: Eine thematische Bibliographie Von Massimiliano Livi

In diesem Band haben wir versucht, die Transformationsprozesse der Moderne in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in systematischer Weise in den Mittelpunkt der historiographischen Reflexion zu bringen. Die Beiträge zeigen, welche Vielfalt der Ansätze es innerhalb der verschiedenen wissenschaftlichen Kulturen – und sogar innerhalb derselben Disziplin – bei der Definition der interpretativen Kategorien solcher Transformationen gibt. Deswegen halte ich es für sinnvoll, im Anhang dieses Buches einen thematischen, bibliographischen Katalog hinzuzufügen, um diese Vielfalt noch einmal hervorzuheben. Dadurch werden sowohl die theoretischen als auch die empirischen Entwicklungslinien der Forschung über den Drehpunkt Moderne/ Post-Moderne hervorgehoben, die 2011 zunächst die Tagung und dann zwei Jahre später diesen Band inspiriert haben. Gewiss kann hier keine vollständige bibliographische Auflistung zu einem Themenkomplex geboten werden, der in den letzten dreißig Jahren den Schwerpunkt der Reflexion in nahezu allen Bereichen der Wissenschaft und der Kultur bildete, von der Musik zur Politik, von der Literatur zum Marketing und der Kunst usw. Vielmehr soll hier eine Orientierungshilfe für diejenigen bereitgestellt werden, die sich dafür entscheiden, den historiographischen Ansatz dieses Buches weiterzuführen. Zu diesem Zweck wird hier ein thematischer Überblick über die Titel angeboten, die in den einzelnen Beiträgen verwendet wurden. Hinzu kommen einige weitere wichtige Referenztexte, die auch ohne explizite Erwähnung in den Fußnoten dieses Werk und die Tagung inspiriert haben. In beiden Fällen wurde immer die aktuelle Ausgabe oder die Ausgabe eines Titels ausgewählt, die am besten erhältlich war. Trotzdem werden die Titel, um die zeitliche Entwicklung der verschiedenen Themen besser unterstreichen zu können, in chronologischer Reihenfolge gruppiert. Außer einigen Arbeiten über die grundsätzlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen in Italien und Deutschland über eine lange Periodisierung, die in einigen Fällen die gesamte zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts umfasst, Collotti E., Modello Germania. Strutture e problemi della realtà tedesco-occidentale, Bologna 1978

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Lanaro S., Storia dell’Italia repubblicana. Dalla fine della guerra agli anni Novanta, Venedig 1992 Hobsbawm E.J., Age of Extremes, London 1994 Scoppola P., La repubblica dei partiti. Evoluzione e crisi di un sistema politico, 19451996, Bologna 1997 De Felice F., L’Italia repubblicana. Nazione e sviluppo. Nazione e crisi, Turin 2003 Davidson A. / Woolf S. J. (Hrsg.), L’Italia repubblicana vista da fuori (1945-2000), Bologna 2007 Kaelble H., Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2007 Crainz G., Autobiografia di una repubblica. Le radici dell’Italia attuale, Rom 2009 Wehler H.-U., Bundesrepublik und DDR 1949-1990, München 2008 Schildt A. / Siegfried D., Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2009 Nacci M., Storia culturale della Repubblica, Mailand 2009 Woller H., Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010

haben in den letzten zehn Jahren immer mehr Studien das Thema „Wandel und Krise“ zwischen den sechziger und siebziger Jahren behandelt, sowohl aus einer sozio-ökonomischen als auch einer politisch-kulturellen Perspektive: Baldissara L. (Hrsg.), Le radici della crisi. L’Italia tra gli anni Sessanta e Settanta, Rom 2001 Giovagnoli A. / Pons S. / Lussana F. (Hrsg.), L’Italia repubblicana nella crisi degli anni Settanta. Atti del ciclo di Convegni Roma novembre e dicembre 2001, Soveria Mannelli 2003 Moro G., Anni Settanta, Turin 2007 Jarausch K.H., Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008 Doering-Manteuffel A. / Raphael L., Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2010 Ferguson N., The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge MA 2010 Kaelble H., The 1970s in Europe. A Period of Disillusionment or Promise?, London 2010

Dabei haben viele Autoren, vor allem in Italien, ihre besondere Aufmerksamkeit den neuen politischen Kulturen, Protestbewegungen und der politischen Gewalt gewidmet. De Rosa G. / Lussana F. / Marramao G. (Hrsg.), Culture, nuovi soggetti, identità, Soveria Mannelli 2003 Annunziata L., 1977. L’ultima foto di famiglia, Turin 2007 De Luna G., Le ragioni di un decennio. 1969-1979. Militanza, violenza, sconfitta, memoria, Mailand 2009

Eine thematische Bibliographie

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Livi M. / Schmidt D. / Sturm M. (Hrsg.), Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter, Frankfurt a.M. 2010 Cornelißen C. / Mantelli B. / Terhoeven P. (Hrsg.), Il decennio rosso. Contestazione sociale e conflitto politico in Germania e in Italia negli anni Sessanta e Settanta (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni, 85), Bologna 2012 Neri Serneri S., Verso la lotta armata. La politica della violenza nella sinistra radicale degli anni Settanta, Bologna 2012 Mende S., Von der „Anti-Parteien-Partei“ zur „ökologischen Reformpartei“. Die Grünen und der Wandel des Politischen, in: Archiv für Sozialgeschichte, 52 (2012), S. 273-316.

Zur gleichen Zeit haben andere Studien die Forschung über die achtziger Jahre eingeleitet – über die Politikverdrossenheit, den Hedonismus, den Neoliberalismus und die neuen Dynamiken/Tendenzen, welche auf die Veränderungen des vorhergehenden Jahrzehnts folgten. Ginsborg P., L’Italia del tempo presente. Famiglia, società civile, stato, 1980-1996, Turin 1998 Crainz G., Il paese mancato. Dal miracolo economico agli anni Ottanta, Rom 2003 Di Michele S., I magnifici anni del riflusso. Come eravamo negli anni ’80, Venedig 2003 Colarizi S. / Craveri P. et al. (Hrsg.), Gli anni Ottanta come storia, Soveria Mannelli 2004 Acquaviva G., La politica economica italiana negli anni Ottanta, Venedig 2005 Wirsching A., Abschied vom Provisorium. 1982-1990, München 2006 Craveri P., Gli anni Ottanta, la crisi del sistema politico, l’Italia contemporanea, Novara 2007 Morando P., Dancing Days. 1978-1979, i due anni che hanno cambiato l’Italia, Rom / Bari 2009 Wirsching A., Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte), München 2009 Gervasoni M., Storia d’Italia degli anni ottanta. Quando eravamo moderni, Mailand 2011 Balz H. / Friedrichs J.-H. (Hrsg.), „All we ever wanted …“. Eine Kulturgeschichte europäischer Protestbewegungen der 1980er Jahre, Berlin 2012

Crainz G., Il paese reale. Dall’assassinio di Moro all’Italia di oggi, Rom 2012 Schildt A., Das letzte Jahrzehnt der Bonner Republik: Überlegungen zur Erforschung der 1980er Jahre, in: Archiv für Sozialgeschichte, 52 (2012), S. 21-46 Süß D. / Woyke M., Schimanskis Jahrzehnt?: Die 1980er Jahre in historischer Perspektive, in: Archiv für Sozialgeschichte, 52 (2012), S. 3-20 Hoeres P., Von der „Tendenzwende“ zur „geistig-moralischen Wende“. Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, (2013), 1, S. 93-119.

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Die Grundlage der aktuellen Forschung über die Transformationen der Moderne bilden sicherlich die inzwischen klassischen theoretischen Überlegungen von Bauman, Eisenstadt, Giddens, Lyotard und anderen über die veränderte Realitätswahrnehmung in der Moderne und über die postmoderne Dimension des Menschen: Luhmann N., Soziologische Aufklärung, in: Soziale Welt, 18 (1967) 2/3, S. 97-123 –

Soziologische Aufklärung: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Köln 1970

Cacciari M., Pensiero negativo e razionalizzazione, Venedig 1977 Lyotard J.-F., La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979 Habermas J. / Ben-Habib S., Modernity versus Postmodernity, in: New German Critique, 22 (1981), S. 3-14 Habermas J., Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985 Eisenstadt S.N., Patterns of Modernity, London 1987 Vattimo G., La società trasparente, Mailand 1989 Giddens A., The Consequences of Modernity, Stanford CA 1990 –

Modernity and Self-identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge 1991

Bauman Z., Intimations of Postmodernity, London / New York 1992 Fukuyama F., The End of History and the Last Man, New York 1992 Habermas J., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1992, Leipzig 1992 Luhmann N., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992 Bauman Z., Postmodernity and its Discontents, Cambridge 1997 –

Liquid Modernity, Cambridge 2000

Eisenstadt S.N., Multiple Modernities, in: Daedalus, 129 (2000), 1, S. 1-29 –

Comparative Civilizations and Multiple Modernities. A Collection of Essays, Leiden / Boston MA 2003.

Diese Werke stehen zudem wiederum selbst im Mittelpunkt einer umfangreichen Vertiefung, Überprüfung sowie Kritik: Bourdieu P., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1974 Huyssen A., Mapping the Postmodern, in: New German Critique, 33 (1984), S. 5-52 Beck U., Risikogesellschaft auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986 Welsch W., Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987 Harvey D., The Condition of Postmodernity, Hoboken NJ 1989 Lash S., Sociology of Postmodernism, London 1990

Eine thematische Bibliographie

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Bernstein R.J., The New Constellation. The Ethical-political Horizons of Modernity / Postmodernity, Cambridge 1991 Best S. / Kellner D., Postmodern Theory. Critical Interrogations, New York 1991 Jameson F., Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham NC 1991 Engelmann P., Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1991 Welsch W., „Postmoderne“. Genealogie und Bedeutung eines umstrittenen Begriffs, in: P. Kemper (Hrsg.), Postmoderne oder Der Kampf um die Zukunft. Die Kontroverse in Wissenschaft, Kunst und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1991 Schulze G., Die Erlebnis-Gesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992 Taylor C., Sources of the Self. Making of the Modern Identity, Cambridge MA 1992 Touraine A., Critique de la modernité, Paris 1992 Gaonkar D.P., Alternative modernities, Durham NC 1999 Leccardi C., Limiti della modernità. Trasformazioni del mondo e della conoscenza, Rom 1999 Beck U. / Bonß W. (Hrsg.), Die Modernisierung der Moderne, Frankfurt a.M 2001 Geyh P.E., Postmodernism, in: M.C. Horowitz (Hrsg.), New Dictionary of the History of Ideas, vol. 5: Physics to Syncretism, Detroit / New York 2005, S. 1867-1870.

Die historiographische Problematisierung der Postmoderne in Bezug auf die Konsequenzen der Einführung von schwachen oder instabilen Formen von Rationalität, der Annahme eines Vielfaltsparadigmas, des Endes der Ideologien und der großen Erzählungen, Gumbrecht H.U., Modern, Modernität, Moderne, in: O. Brunner / R. Koselleck / W. Conze (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4: Mi-Pre, Köln 1978, S. 93-131 Zagorin P., Historiography and Postmodernism: Reconsiderations, in: History and Theory, 29 (1990), S. 263-274 Ankersmit F., Historiography and Postmodernism: Reconsiderations. Reply to Professor Zagorin, in: History and Theory, 29 (1990), S. 275-296 Duara P., Can Histories be True? Narrativism, Positivism, and the „Metaphorical Turn“, in: History and Theory, 37 (1998), S. 309-329 Zagorin P., History, the Referent and Narrative. Reflections on Postmodernism Now, in: History and Theory, 38 (1999), S. 1-24 Pieters J., New Historicism. Postmodern Historiography between Narrativism and Heterology, in: History and Theory, 39 (2000), S. 21-38 Kablitz A., Geschichte, Tradition, Erinnerung? Wider die Subjektivisierung der Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, 32 (2006), S. 220-237 Budde G.-F. / Conrad S. / Janz O. (Hrsg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006

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Rödder A., Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne. Deutungskategorien für die Geschichte der Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren, in: T. Raithel (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne?, Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 181-201 Graf R. / Priemel K.C., Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 59 (2011), S. 479-508 Dietz B. / Neumaier C., Vom Nutzen der Sozialwissenschaft für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 60 (2012), pp. 293-304

entwickelt sich parallel zu der immer noch nicht ausreichenden Problematisierung der Postmoderne als historiographischer Drehpunkt zwischen der Vollendung eines Zyklus’ und dem Anfang einer neuen Phase der Moderne. Koselleck R., Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1979 Herbert U., Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History, 5 (2007), S. 5-21 Leonhard J., Historik der Ungleichzeitigkeit: Zur Temporalisierung politischer Erfahrung im Europa der 19. Jahrhunderts, in: Journal of Modern European History, 7 (2009), S. 145-168 Jordheim H., Against Periodization: Kosellecks Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory, 51 (2012), S. 151-171 Prodi P., Storia moderna o genesi della modernità?, Bologna 2012.

Aus empirischer Sicht haben Soziologen und Historiker den Paradigmenwechsel der traditionellen Werte, der in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts erfolgte, Inglehart R., The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton NJ 1977 Beck U., Jenseits von Stand und Klasse. Auf dem Weg in die individualisierte Arbeitnehmergesellschaft, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 5 (1984), S. 485-497 Klages H., Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M. 1984 Inglehart R., Modernization and postmodernization Cultural, Economic, and Political Change in 43 Societies, Princeton NJ 1997 Rödder A., Wertewandel und Postmoderne. Gesellschaft und Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965-1990, Stuttgart 2004 Rödder A. / Elz W. (Hrsg.), Alte Werte – neue Werte. Schlaglichter des Werte-wandels, Göttingen 2008

vor allem mit den Basisprozessen der Individualisierung/Pluralisierung der Lebensläufe und Lebensstile in Verbindung gebracht:

Eine thematische Bibliographie

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Landmann M., Das Ende des Individuums. Anthropologische Skizzen, Stuttgart 1971 Vester M., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Köln 1993 Gundle S., I comunisti italiani tra Hollywood e Mosca. La sfida della cultura di massa, 1943-1991, Florenz 1995 Friedrichs J., Die Individualisierungs-These, Opladen 1998 Gozzini G., La mutazione individualista. Gli italiani e la televisione 1954-2011, Rom / Bari 2001 Kolbe W., Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepuplik im Vergleich 1945-2000, Frankfurt a.M. / New York 2002 Reckwitz A., Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006 Kron T. / Horáček M., Individualisierung, Bielefeld 2009 Berger P.A. / Hitzler R. (Hrsg.), Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert „jenseits von Stand und Klasse“?, Wiesbaden 2010 Reichardt S. / Siegfried D. (Hrsg.), Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa. 1968-1983, Göttingen 2010.

Das wurde u.a. sowohl im Bezug auf die Entstehung der Konsumgesellschaft, welcher eine große Anzahl an interdisziplinären Arbeiten gewidmet wurde, Maffesoli M., Le temps des tribus. Le declin de l’individualisme dans les societes de masse, Paris 1988 Piccone-Stella S., La prima generazione. Ragazze e ragazzi nel miracolo economico italiano, Mailand 1993 Schildt A., Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993 du Gay P., Consumption and Identity at Work, London,1996 Cova B., Community and Consumption. Towards a Definition of the „Linking Value“ of Product or Services, in: European Journal of Marketing, 31 (1997), S. 297-316 Hickethier K., Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart 1997 Doering-Manteuffel A., Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999 Cova B., Marketing tribale. Legame, comunità, autenticità come valori del Marketing mediterraneo, Mailand 2003 Capuzzo P., Genere, generazione e consumi. Italia degli anni sessanta, Rom 2003 Trentmann F., Beyond Consumerism. New Historical Perspectives on Consumption, in: Journal of Contemporary History, 39 (2004), S. 373-401 Vidotto V., Italiani/e. Dal miracolo economico a oggi, Rom 2005

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Siegfried D., Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006 Cova B. / Giordano A. / Pallera M., Marketing non-convenzionale. Viral, Guerrilla, Tribal e i 10 principi fondamentali del marketing postmoderno, Mailand 2007 Sassatelli R., Consumer Culture. History, Theory and Politics, Los Angeles CA 2007 Cavazza S. / Scarpellini E., La rivoluzione dei consumi. Società di massa e benessere in Europa, 1945-2000, Bologna 2010 Asquer E., Storia intima dei ceti medi. Una capitale e una periferia nell’Italia del miracolo economico, Rom / Bari, 2011 Gabrielli P., Anni di novità e di grandi cose. Il boom economico fra tradizione e cambiamento, Bologna 2011

als auch im Bezug auf die Auswirkungen von Individualisierung/Pluralisierung auf den Säkularisierungsprozess der Gesellschaft, der durch eine (unerwartete?) Rückkehr der Religion in die Öffentlichkeit seit den siebziger Jahren in Frage gestellt wurde, vertieft: Gabriel K., Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg i.Br. 1992 Wolf C.C., Religiöse Pluralisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: J. Friedrichs / W. Jagodzinski (Hrsg.), Soziale Integration 1999, S. 320-348 Greeley A., Religion in Europe at the End of the Second Millennium. A Sociological Profile, New Brunswick NJ 2002 Pollack D., Säkularisierung – ein moderner Mythos? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland, Tübingen 2003 Graf F.W., Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, Bonn 2004 Gabriel K., Entkirchlichung und (neue) Religion, in: T. Raithel (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne?, Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 99-111 Großbölting T., Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Bonn 2013

Namensregister Adorno, T.W. 21, 117, 218 A/traverso 238, 240 Ankersmit, F.R. 53, 58 Annunziata, L. 233 Arendt, H. 195-197 Argan, C.G. 238 Asor Rosa, A. 231, 236 Balestracci, F. 14 Barthes, R. 244 Bauman, Z. 11, 20, 27, 28, 44, 75, 218, 224, 225, 261, 300 Beck, U. 11, 24, 34, 36, 42, 111-114, 117, 124, 178, 179, 192, 218, 250, 260, 261, 263, 277, 280, 289 Beilmann, I. 150 Bell, D. 11 Benigni, R. 239 Benjamin, W. 71, 90 de Benoist, A. 230 Berardi, F. 238, 241, 244 Berger, P.A. 121 Berlinguer, E. 211-213, 238 Berlusconi, S. 108, 140 Berman, M. 75, 173 Bernardini, G. 13 Bessarione, G. 230 Beveridge, W. 69 Bobbio, N. 236 Boccia, M.L. 226 Bösch, F. 13 Boncompagni, G. 239 Bonß, W. 192 Bourdieu, P. 21, 36, 112, 114, 115, 258260, 262, 264, 265 Boventer, H. 154 Braudel, F. 82 Bretton Woods 17, 46 Cacciari, M. 229 Calvino, I. 221 Campbell, C. 256 Canteri, C. 282 Castells, M. 11, 28, 45

CCCS (Center for Contemporary Cultural Studies) 115 CDU/CSU (Christlich Demokratische Union/ Christlich Soziale Union) 132, 134 Cervi, I. 212 Chakrabarty, D. 87 Chambers, I. 88 CIF (Centro Italiano Femminile) 205 Clausen, L. 184, 185 Comunione e Liberazione 240 Conrad, C. 95 Cossiga, F. 240 Cova, B. 224, 235 Crainz, G. 40, 41 Dahrendorf, R. 21 DC (Democrzia Cristiana) 206-211, 218 DDR 124, 127 De Certau, M. 55 De Felice, F. 39, 208 De Luna, G. 228 Debord, G. 238 Demoll, R. 191 Derrida, J. 24 Die Grünen 132 Dipper, C. 96, 97 Doering-Manteuffel, A. 9 Dombrowsky, W.R. 184 Durkheim, E. 75, 249 Eco, U. 236, 237 Eisenstadt, S.N. 25, 74, 78-84, 87, 88, 90, 92, 93, 300 Ellekappa (Laura Pellegrini) 228 Engels, F. 75 Evola, J. 229 Ferguson, J. 85, 86 Ferguson, N. 68 Fo, D. 228 Forattini, G. 228 Foucault, M. 21, 24, 45, 196, 197, 244 Fourastié, J. 69 Frank, G. 81, 82 Friedeburg, L. von 151

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Namensregister

Fukuyama, F. 21 Galbraith, J.K. 69 Galli, G. 206 Galli della Loggia, E. 41 Gandalf il Viola (Oliver Turquet) 243 Gaonkar, D.P. 80 Ghosh, A. 86 Giddens, A. 21, 34, 37, 218, 250, 260265, 300 Giese, H. 151 Gills, B. 81, 82 Ginsborg, P. 40, 41, 285 Gladstone, W.E. 61 Gramsci, A. 197, 208, 230 Gross, P. 11 Großbölting, T. 13 Guattari, F. 244 Habermas, J. 21, 23, 42, 44, 79, 117, 162, 173, 196 Häring, B. 151 Hannig, N. 13 Hass, E. 191 Heinemann, G. 183 Herzog, D. 148, 157 Hintze, O. 50 Hitler, A. 62 Hobbit-Camp 228, 229, 230 Hobsbawm, E. 35, 219 Hochschild, A.R. 158 Honecker, E. 127 Hradil, S. 136 Inglehart, R. 120, 200, 203, 279 Jäger, F. 96-99 Jäger, W. 184, 185. 191 Jameson, F. 29, 30, 46 Jarausch, K.H. 142 Jedlowski, P. 12, 25, 167, 168 Joas, H. 144 Johannes Paul II. 70 Kablitz, A. 57, 58 Kaelble, H. 125, 137 Kaufmann, F.-X. 180 Kerbs, D. 119 Keynes, J.M. 17, 171, 172 Klages, H. 117, 142, 143, 200, 279 Koselleck, R. 25, 31, 52, 56, 57, 61, 67, 71, 99, 100, 163 KPD (Kommunistische Partei Deutschlands)

118 Krahl, H.-J. 119, 120 Lanaro, S. 277 Landmann, M. 117 LID (Lega Italiana per l’Istituzione del Divorzio) 211 Livi, M. 14 Lorusso, P.F. 240, 241 Luhmann, N. 21, 34, 35, 184 Lyotard, J.-F. 11, 19, 24, 47, 52, 73, 80, 137, 235, 300 Maffesoli, M. 224, 235 Maier, C.S. 42, 68 Marx, K. 36, 75, 82, 112, 121, 197, 224 Mason, T. 195 McLuhan, M. 252 Melucci, A. 73, 92 Menke-Glückert, P. 184 Mergel, T. 96 Mohr, R. 120 Moro, G. 213, 215-217 Morus, T. 163 MSI (Movimento Sociale Italiano) 227, 239 Münkler, H. 179 Nenni, P. 170 Neri Serneri, S. 196 Osterhammel, J. 64, 96 Parsons, T. 34, 76 Pasolini, P.P. 43, 218, 219, 221-225, 227, 237 PCI (Partito Comunista Italiano) 205-212, 215, 218, 221, 223, 227, 230-233, 236, 238, 240, 242-245 Peterson, R. 264 Pfennigstorf, W. 192 Pius XII. 70 Plato, A. von 118 Platon, 118 Plessner, H. 117 Pombeni, P. 12, 27, 173, 174 Popper, K., 136, 168 PSI (Partito Socialista Italiano) 207, 208 Radio Alice 239, 240, 241 Radikale Partei 211 Rame, F. 228 Raphael, L. 9, 12, 28, 161 Reagan, R. 22

Namensregister

Reckwitz, A. 111 Rödder, A. 117, 124, 145 Rölli-Alkemper, L. 152 Rote Brigaden 247 Russo, G. 285 Said, E. 88 Sartre, J.P. 244 Sassatelli, R. 14, 36, 278 Scalfari, E. 220 Schelsky, H. 117, 180 Schildt, A. 39 Schlögel, K. 119 Schmidt, G. 151 Schulze, G. 11, 111 Scoppola, P. 220 Seroni, A. 212, 213 Shakespeare, W. 55 Siegfried, D. 13, 180, 233, 234 Simmel, G. 75, 90, 117, 249 Simonetti, G.E. 230 Spagnolo, C. 12 Sparschuh, O. 14 SPD 134, 169 Staino, S. 228 Stephan, C. 121

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Taguieff, P.-A. 91 Tarchi, M. 230 Tassani, G. 230 Tenbruck, F. 114 Tenfelde, K. 295 Thatcher, M. 22 Tönnies, F., 27 Tolkien, J.R.R. 229 Touraine, A. 11, 21 Toynbee, A.J. 49, 50 UDI (Unione Donne Italiane) 205 Veenstra, J.R. 55 Vester, M. 112, 113, 115, 119, 122, 234 Weber, M. 26, 53, 62, 70, 75, 92, 112, 196 Wehler, H.-U. 112, 121 Welsch, W. 11, 25 White, H. 53, 63 Wolfe, T. 10 Woolf, V. 51 Zagorin, P. 58 Zangheri, R. 241, 244, 245

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Fiammetta Balestracci, Trient Giovanni Bernardini, Trient Frank Bösch, Potsdam Thomas Großbölting, Münster Nicolai Hannig, München Paolo Jedlowski, Cosenza Massimiliano Livi, Münster Paolo Pombeni, Trient - Bologna Lutz Raphael, Trier Roberta Sassatelli, Mailand Detlef Siegfried, Kopenhagen Carlo Spagnolo, Bari Olga Sparschuh, Berlin