Wende, Wandel, Weitermachen? Nachfragen zur Geschichtswissenschaft der 1990er Jahre in Deutschland, Polen und Europa 9783506760661, 9783657760664

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Wende, Wandel, Weitermachen? Nachfragen zur Geschichtswissenschaft der 1990er Jahre in Deutschland, Polen und Europa
 9783506760661, 9783657760664

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Wende, Wandel, Weitermachen?

FOKUS Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas New Studies in Polish and Eastern European History Publikationsserie des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften/Series of the Center for Historical Research Berlin of the Polish Academy of Sciences

Herausgegeben von/Series Editors Wƚodzimierz Borodziej, Hans-Jürgen Bömelburg, Maciej Górny, Igor Kąkolewski, Yvonne Kleinmann, Markus Krzoska Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Hans Henning Hahn Dieter Bingen Eva Hahn Joanna Jabłkowska Kerstin Jobst Beata Halicka Jerzy Kochanowski Magdalena Marszałek Michael G. Müller Jan M. Piskorski Miloš Řezník Isabel Röskau-Rydel Izabella Surynt

Band 4

Markus Krzoska, Kolja Lichy, Konstantin Rometsch (Hg.)

Wende, Wandel, Weitermachen? Nachfragen zur Geschichtswissenschaft der 1990er Jahre in Deutschland, Polen und Europa

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Gießener Zentrum Östliches Europa (GiZo) Umschlagabbildung: Am Tag der Eröffnung der neuen Warschauer Universitätsbibliothek, 15.12.1999 Foto: Arkadiusz Ścichocki / Agencja Gazeta

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2021 Brill Schöningh, Wollmarktstraße 115, D-33098 Paderborn, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2698-5020 ISBN 978-3-506-76066-1 (hardback) ISBN 978-3-657-76066-4 (e-book)

Inhalt 1.

Wende, Wandel, Weitermachen – ein Jahrzehnt historisieren?  . . Markus Krzoska, Kolja Lichy, Konstantin Rometsch

2.

Die polnische Historiographie – eine Bilanz der letzten dreißig Jahre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Jürgen Bömelburg

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3.

„Jetzt ist ja eigentlich Schluss mit dieser traditionellen deutsch-polnischen Geschichte“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Włodzimierz Borodziej

65

4.

„Also eigentlich lief das System in Polen immer weiter“  . . . . . . . . . Bogusław Dybaś

5.

“I was there for three weeks, I knocked on the door and they said, ‘Remont!’” or: “What are you going to do with your life, baby?”  . . . 105 Karin Friedrich, Robert I. Frost

6.

„Ihr solltet Polen nicht nur als Objekt eurer Liebe sehen“  . . . . . . . 137 Hans Henning Hahn

7.

„Meine wichtigste Arbeit war wirklich meine Vermittlerarbeit“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Jürgen Hensel

8.

„Als Historiker soll man wenigstens versuchen, sich aus der Politik herauszuhalten“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Igor Kąkolewski

9.

„Es gab und gibt dauerhaft gewissermaßen eine disziplinäre Inkongruenz“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Norbert Kersken

10.

„Wenn zu viele Emotionen im Spiel sind, betreibt man keine Wissenschaft mehr“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Edmund Kizik

3

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vi

Inhalt

11.

„Ich wusste eigentlich vorher gar nicht, dass es Polen gibt“  . . . . . . 239 Claudia Kraft

12.

„Ich schöpfe daraus ohne Unterlass ein Gefühl der Freiheit“  . . . . 259 Morgane Labbé

13.

„Ich habe die 1990er Jahre persönlich als eine Zeit des großen Staunens in Erinnerung“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Andreas Lawaty

14.

„Nun kann man 30 Jahre danach überlegen, ob es die Mühe wert war“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Michael G. Müller

15.

„Gerade im Mittelalter führte der litauische Weg nach Westen ja zwangsläufig über Polen“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Alvydas Nikžentaitis

16.

„Hey, Du bist aber mutig!“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Gertrud Pickhan

17.

„Ich betrachte diese Jahre als die lebendigsten und ergiebigsten meines Berufslebens“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Rex Rexheuser

18.

„Da war die Rückkehr nach Tschechien dann immer wieder etwas entspannter“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Miloš Řezník

19.

„Als braver Pole muss man einfach mitsingen“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Krzysztof Ruchniewicz

20. „Es geht darum, dass wir Deutsche uns darüber unterhalten, was Polen für uns war und ist“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Katrin Steffen 21.

„Es war ein Glück, dass wir so reif waren, diesen Moment zu nutzen“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 Robert Traba

Inhalt

vii

22. Geschichte(n) zur Geschichte. Über deutsch-polnische historiographische Beziehungen in den 1990er Jahren  . . . . . . . . . . 441 Friedrich Cain, Dietlind Hüchtker Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477

Publikationsreihe des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften FOKUS. Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas In dieser Buchreihe erscheinen wissenschaftliche Monographien und Sammelbände, die der neuesten Forschung zur Geschichte Polens und Osteuropas gewidmet sind. Die darin veröffentlichten Arbeiten verbinden verschiedene Disziplinen der Kultur- und Sozialgeschichte. Auch wenn der thematische Schwerpunkt der Reihe auf Polen und Osteuropa liegt, so sollen in ihr Arbeiten erscheinen, die die Vergangenheit dieses Teils unseres Kontinents im Rahmen einer möglichst breiten Forschungsperspektive behandeln und auf diese Weise die Forschung zu ähnlichen Themen anderer Regionen Europas inspirieren. In der Buchreihe FOKUS: Neue Studien zur Geschichte Polens und Osteuropas werden u.a. auch herausragende akademische Qualifikationsarbeiten erscheinen, wie z.B. für den Wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen in Deutschland eingereichte Dissertationen.

Hans-Jürgen Bömelburg zum 60. Geburtstag

Abb. 1.1 Markus Krzoska – Auf der Fähre von Tallinn nach Helsinki, Sommer 1990. Foto: privat.

Abb. 1.2 Kolja Lichy – Jenseits von Brandenburg, Krajnik Dolny, Sommer 1996. Foto: privat.

Abb. 1.3 Konstantin Rometsch – Polen hinterm Horizont, Bornholm, Sommer 1994. Foto: privat.

Wende, Wandel, Weitermachen – ein Jahrzehnt historisieren? Markus Krzoska, Kolja Lichy, Konstantin Rometsch Die Vergangenheit schien tot, die Zukunft so unbekannt wie neu und nie dagewesen. Schließlich wurde der Umbruch spezifisch zeitlich begriffen: nämlich als Beschleunigung.1

Auch wenn der Bielefelder Schlesier Reinhart Koselleck damit das 19. Jahrhundert im Blick hatte, so passen die Argumente zu Übergang, Umbruch und Beschleunigung im Grunde auf beinahe jede beliebige Zeit. Sind die 1990er Jahre, um die es im folgenden Buch gehen soll, denn überhaupt eine abgrenzbare Dekade jenseits der Jahreszählung? Gilt das auch und gerade für die deutsch-polnischen Historikerkontakte für die Zeit nach 1989? Haben wir es hier wirklich mit der klassischen Zäsur 1989 zu tun, die uns die „Ereignisgeschichte“ suggerieren möchte? Wir blicken dabei in erster Linie auf damalige Akteur*innen des geschichtswissenschaftlichen Dialogs und deren autobiographische Erzählungen in Form von Interviews. Gab es eine Intensivierung der Verflechtungen, die durch eine institutionelle Verdichtung prädisponiert wird? In welchem Verhältnis standen persönliche und wissenschaftliche Erfahrungen zu den politischen Prozessen? Als Herausgeber sind wir in drei verschiedenen Jahrzehnten wissenschaftlich sozialisiert worden und bewegen uns selbst in einem gewissen Maße auf Pfaden des hier behandelten Feldes. Daher dient dieser Band auch einer Art generationeller, systemischer und persönlicher Selbstvergewisserung, obschon klar ist, dass die Grenzen dieses Unterfangens immer auch durch fluide Zeitund Raumwahrnehmungen aller Beteiligten bestimmt werden. Prognosen Über die Ereignisse von 1989 und ihre unmittelbaren Folgen ist in den letzten drei Jahrzehnten viel nachgedacht, geredet und geschrieben worden. Die

1 Reinhart Koselleck (1923-2006) – ders.: Das 19. Jahrhundert – eine Übergangszeit, in: Ders.: Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. v. Carsten Dutt. Berlin 2014, S. 131-150, S. 133.

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Markus Krzoska, Kolja Lichy, Konstantin Rometsch

1990er Jahre als besonderes Jahrzehnt scheinen dagegen unendlich weit weg zu sein. Dies gilt für die gesellschaftliche Wahrnehmung ebenso wie für die wissenschaftliche Erforschung. Für erstere ist nicht in Sicht, dass sich dies demnächst ändern wird, für letztere hingegen schon, allein durch die Tatsache, dass allmählich das Ende der 30-jährigen Sperrfrist für Archivgut neue zentrale Quellen freigeben wird. Vielleicht hat das bisherige Desinteresse an „den Neunzigern“ aber auch damit zu tun, dass sie in Vielem zumindest auf der Mikroebene und in der Wirkung des Öffentlichen auf das Private als ein Jahrzehnt ohne große Einschnitte in Erinnerung geblieben sind. Gewiss, die Kriege im Mittleren Osten oder im ehemaligen Jugoslawien veränderten die allgemeine Wahrnehmung der „Friedenszeit“ seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Für Europa gilt es jedoch zu konstatieren, dass die Euphorie über den Zusammenbruch des kommunistischen Blocks rasch vor allem der Ernüchterung über seine gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Folgen wich. Auch die Debatten der Öffentlichkeit waren weitgehend rückwärtsgewandt. Historiker*innen versuchten sich ein genaueres Bild des geteilten Europas vor 1989 zu machen und wandten sich nur allmählich von allzu holzschnittartigen Urteilen über „den Westen“ und „den Osten“ ab. Mit ganz wenigen Ausnahmen hatte praktisch kein Angehöriger der „westlichen“ intellektuellen Elite den Umbruch vorhergesehen. Es waren auch nicht wenige, die davon nicht begeistert waren, drohte doch vermeintlich die Rückkehr der alten Gespenster des Nationalismus. So berechtigt manche Befürchtungen auch waren, so wenig waren die Bedenkenträger häufig über die Lage jenseits des ehemaligen „Eisernen Vorhangs“ unterrichtet. Die Geschichte der „Peripherie“, wie Mittel- und Osteuropa spätestens seit dem Siegeszug der area studies häufig pauschal bezeichnet wurde, interessierte nur wenige. In Abwandlung einer Äußerung Paul Noltes über das fehlende Interesse Hans-Ulrich Wehlers an der französischsprachigen Welt ließe sich über das Gros der westdeutschen Historiker*innen sagen: Alles Slavische blieb ihnen eher fremd.2 Von deutschen Osteuropaexpert*innen ist ebenfalls nicht überliefert, dass sie tiefgreifendere Veränderungen in und um Deutschland vorausgesehen hätten. Sie beobachteten interessiert, manchmal sogar begeistert, die Reformanstrengungen von Michail Gorbačev3. Immerhin konnten sie jetzt mit Studierenden brandaktuelle Texte aus der Sowjetunion lesen. Letztlich war aber kaum jemand vorbereitet, selbst wenn man durchaus zur Kenntnis 2 Paul Nolte (*1963) – ders.: Innovation aus Kontinuität. Hans-Ulrich Wehler (1931-2014) in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 299 (2014) 3, S. 593-623, hier S. 620. 3 Michail Sergeevič Gorbačev (*1931).

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genommen hatte, was vor allem kreative Denker aus dem „Ostblock“ nun neu interpretierten und was polnische Oppositionelle schon seit 1980 für durchaus möglich gehalten hatten: ein Ende des vermeintlich ewigen Ost-WestBlocksystems, an das sich die meisten im Westen längst gewöhnt hatten und es nicht einmal aufgeben wollten, als es im Osten niemand mehr verteidigte. 1978 träumte der polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski4 davon, dass die Mauern einstürzen und die alte Welt begraben würden. Im Westen sang Franz Josef Degenhardt5 bis weit ins 21. Jahrhundert hinein das Hohelied der DDR. Die selbstkritische, sprachlich leicht schiefe Bemerkung Klaus von Beymes, der den Zusammenbruch des realen Sozialismus als „schwarzen Freitag der Sozialwissenschaften“ bezeichnete, trifft den Kern – zumindest, was den wissenschaftlichen und publizistischen Mainstream angeht,6 während sich Historiker*innen immer damit herausreden können, dass es nicht ihre Aufgabe sei, in die Zukunft zu blicken. Die weltgewandten westdeutschen Intellektuellen empfanden es eher als kurios, als sich bereits Mitte der 1980er Jahre eine Debatte über den aufgrund seiner geopolitischen Vergangenheit verfemten Mitteleuropa-Begriff entwickelte. Nur ganz wenige, die einen biographischen Bezug zu einem eher „habsburgischen“ Verständnis des europäischen Kontinents hatten, wie der SPD-Politiker Peter Glotz, suchten hier Anknüpfungspunkte für ein eigenes Denken über den „Eisernen Vorhang“ hinweg.7 In eine ähnliche Richtung gingen die frühen Überlegungen Karl Schlögels zum „vergessenen deutschen Osten“. Ihm gelang es dabei, das deutsche Kulturerbe von revisionistischen Ideologemen im Geiste der Ostforschung zu befreien.8 Ausgehend von den programmatischen Essays des Tschechen Milan Kundera und des Ungarn György Konrád beteiligte sich auch die polnische Opposition im Untergrund 4 Jacek Kaczmarski (1957-2004). 5 Franz-Josef Degenhardt (1931-2011). 6 Klaus von Beyme (*1934) – ders.: Die vergleichende Politikwissenschaft und der Paradigmenwechsel in der politischen Theorie, in: Politische Vierteljahresschrift  31 (1990), S.  457-474, hier S.  472. Auf frühe anderslautende Prognosen haben dagegen hingewiesen: Outhwaite, William/Ray, Larry: Prediction and Prophecy in Communist Studies, in: Comparative Sociology 10 (2011) 5, S. 691-709. 7 Zu den deutschen Debatten vgl. das Themenheft von „Die neue Gesellschaft“ 33 (1986) 7, zu dem auch Peter Glotz (1939-2005) einen Beitrag beisteuerte. Manch kritische Überlegungen zu dem tatsächlich mitunter germanozentrischen Geschichtsbild von Glotz sind andererseits wiederum völlig frei von jedem Verständnis für die traditionellen deutschböhmischen Milieus. Siehe etwa Hahn, Eva/Hahn, Hans Henning: Peter Glotz und seine Geschichtsbilder, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004) 1, S. 72-80. 8 Schlögel, Karl (*1948) – ders.: Die Mitte liegt ostwärts. Die Deutschen, der verlorene Osten und Mitteleuropa. Berlin 1986.

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Markus Krzoska, Kolja Lichy, Konstantin Rometsch

an diesen Versuchen einer zumindest gedanklichen Überwindung der Blockgrenzen.9 Unmittelbar daran knüpfte nach 1989 zwar kaum jemand an, aber die vor allem österreichischen Diskussionen über Zentraleuropa der späten 1990er und 2000er Jahre, deren Raumkonzept wesentlich flexibler ausfiel als die Denkmuster innerhalb des gehypten Ostmitteleuropa-Begriffs, wären ohne die geistigen Wegbereiter in Paris, Warschau oder Budapest kaum möglich gewesen.10 Auch die sozioökonomischen Schwierigkeiten im Ostblock wurden eher selten wahrgenommen. In den Westen übergelaufene Expert*innen galten, aufgrund ihrer schillernden Biographien vielleicht nachvollziehbar, als wenig zuverlässig.11 In Polen war dies in der Tat anders. Es wäre zwar übertrieben zu behaupten, die seit Mitte der 1970er Jahre agierenden Oppositionellen hätten einmütig das Ende des eigenen politischen Systems in nächster Zukunft erwartet und dann auch noch die Wiederherstellung der deutschen Einheit befürwortet, doch gab es zumindest eine Reihe an Stimmen, die letztere nicht ausschlossen und rieten, sich mit einer solchen Möglichkeit zu befassen.12 Wenn der oppositionelle Publizist Andrzej Kijowski schon 1978 davon schrieb, die innerdeutsche Grenze könne nicht von Dauer sein, weil sie eine Beleidigung für die zivilisierte Welt darstelle, so war dies in erster Linie ein moralisches Urteil.13 Er traf damit aber einen Ton, der in persönlichen Gesprächen mitunter auch bei seinen Historikerkolleg*innen zu finden war.

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Milan Kundera (*1929) – ders.: Un Occident kidnappé ou la tragédie de l’Europe centrale, in: Le Débat 5 (1983) 27, S. 3-23; György Konrád (1933-2019) – ders.: Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt am Main 1985; Rautenberg, Hans-Werner (Bearb.): Trauma oder Traum? Der polnische Beitrag zur Mitteleuropa-Diskussion (1985-1989). Marburg 1991. Siehe auch Schulze Wessel, Martin: Die Mitte liegt westwärts. Mitteleuropa in tschechischer Diskussion, in: Bohemia 29 (1988) 2, S. 325-344. Ther, Philipp: Von Ostmitteleuropa nach Zentraleuropa. Kulturgeschichte als Area Studies, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, https://www.europa.clio-online.de/ essay/id/fdae-1377 (04.01.2021). Vgl. Krzoska, Markus/Lichy, Kolja/Rometsch, Konstantin: Jenseits von Ostmitteleuropa? Zur Aporie einer deutschen Nischenforschung, in: Journal of Modern European History 16 (2018) 1, S. 40-63. Vgl. etwa Berg, Hermann von/Loeser, Franz/Seiffert, Wolfgang: Die DDR auf dem Weg in das Jahr 2000. Politik, Ökonomie, Ideologie. Plädoyer für eine demokratische Erneuerung. Köln 1987. Vgl. u.a. Feindt, Gregor: Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft. Oppositionelles Denken zur Nation im ostmitteleuropäischen Samizdat 1976-1992. Berlin/Boston 2015, S. 189-205. Andrzej Kijowski (1928-1985) – ders.: Deutsche, Polen und andere [1978], in: Klecel, Marek (Hg.): Polen zwischen Ost und West: Polnische Essays des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1996, S. 253-286, hier S. 253.

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Endzeiten Als die sozialistischen Systeme schließlich wie Dominosteine zusammenbrachen, war die Überraschung fast überall groß. Der Fall der Mauer wurde schon von den Zeitgenossen als größte Zäsur seit 1945 wahrgenommen. Es begann eine Phase der Unsicherheit, die bis zum endgültigen Zerfall der Sowjetunion im Jahre 1991 reichte. Historiker*innen in Mittel- und Osteuropa waren nun in erster Linie damit beschäftigt, die „weißen Flecken“ der eigenen Geschichte zu füllen. Dabei konnten sie auf Arbeiten ihrer Kolleg*innen zurückgreifen, die im „westlichen“ Exil jahrzehntelang weitgehend unbemerkt geforscht hatten. Diese nachholenden Prozesse waren mit den Folgen der Öffnung der eigenen Archive verbunden. Nun begannen die Diskussionen über die Unterlagen der Staatssicherheit, die vor allem in Deutschland, mit einer gewissen Verspätung aber auch in Polen oder Rumänien, intensiv und bis ins 21. Jahrhundert hinein geführt wurden.14 Mindestens ebenso wichtig wurden die Debatten über die ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Im Nachgang waren sich die meisten Beobachter*innen einig, dass mit 1989 die Nachkriegszeit, ja das eigentliche 20. Jahrhundert, zu Ende gegangen sei.15 Die Demokratie habe nun ebenso gesiegt wie die überlegene Wirtschaftskraft des Kapitalismus. Nun sei alles gut und der Endpunkt der Geschichte erreicht. Allerdings war 1989 aber eben nicht nur der große Sieg des Westens und der mutigen Bürger*innen Mittel- und Osteuropas. An ebenjenem 4. Juni, als die Polen in den ersten zumindest teilweise freien Wahlen ihre alten Herren davonjagten, metzelte die chinesische Führung die eigene Demokratiebewegung auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens nieder. Global betrachtet gab es also in jenem Jahr Gewinner und Verlierer, und die chinesische Perspektive ist nicht die mitteleuropäische. Wir wissen somit ungefähr, was 1989 zu Ende gegangen ist, aber bis zum Erreichen der nächsten, uns noch nicht bekannten allgemein anerkannten Zäsur ist nicht klar, was damals eigentlich genau angefangen hat.16

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Lau, Carola: Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur nach 1989. Institute für nationales Gedenken im östlichen Europa im Vergleich. Göttingen 2017; Unverhau, Dagmar (Hg.): Lustration, Aktenöffnung, demokratischer Umbruch in Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn. 2. durchg. Aufl. Münster 2005. Stellvertretend, wenngleich kapitalismuskritisch: Hobsbawm, Eric: Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914-1991. London 1994. In diesem Sinne auch Betts, Paul: 1989 At Thirty: A Recast Legacy, in: Past & Present 244 (2019) 1, S. 271-305, hier S. 305.

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Markus Krzoska, Kolja Lichy, Konstantin Rometsch

Nicht nur deshalb stellte sich heraus, dass die Erinnerung an 1989 trotz aller Betonungen des epochalen Charakters für den ganzen Kontinent je nach nationalem Diskurs unterschiedlich ausfiel und dass sich mit der Zeit auch innerhalb der einzelnen Staaten äußerst divergierende Erinnerungscluster entwickelten. War der polnische Runde Tisch eine Erfolgsgeschichte des demokratischen Übergangs oder die versäumte Abrechnung mit den kommunistischen Schergen? Wurden die einstigen DDR-Bürger*innen zu subalternen Befehlsempfänger*innen inkompetenter und hochmütiger Westdeutscher? Erlagen die Tschechen und Slowaken einem Konsumrausch und verdrängten die negativen Erlebnisse der Vergangenheit? Fokussierten sich die Balten zu stark auf das nationalistische Erbe der Zwischenkriegszeit, ohne die zahlreichen Russischsprachigen in ihren Ländern miteinzubeziehen? Die Frage nach der Rolle der einzelnen Generationen, aber auch der schulischen wie familiären Überlieferung in den letzten 30 Jahren ist bisher nicht konsequent genug gestellt worden.17 Angesichts des Übermaßes an Diskussionen zu den ökonomischen Folgen, muss es ebenfalls verwundern, dass die Veränderungen im Bereich der Geschlechterverhältnisse kaum thematisiert worden sind, obwohl doch in manchen Ländern des alten Osteuropas bestimmte gesellschaftliche Errungenschaften von Frauen definitiv bedroht waren oder sogar verlorengegangen sind, wie die weiterhin anhaltenden Debatten über das Abtreibungsrecht in Polen zeigen.18 Die Historiker*innen und Geschichtsphilosoph*innen, immer auf der Suche nach Einschnitten für ihre Epochen, wollten schon bald nach 1989 bei diesen öffentlichen Auseinandersetzungen nicht zurückstehen. Viele glaubten nun, auf dem Höhepunkt ihres gesellschaftlichen Einflusses zu stehen.19 Im Grunde dominierten gleich zu Beginn der 1990er Jahre zwei Modelle die intellektuelle Landschaft. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama erklärte die Geschichte für beendet,20 sein britischer Kollege Timothy Garton Ash, aktiver Beobachter der Veränderungen in Mittel- und Osteuropa, 17

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Zu den osteuropäischen erinnerungspolitischen Unterschieden siehe etwa Mark, James u.a.: 1989 after 1989: Remembering the End of State Socialism in East-Central Europe, in: Michal Kopeček/Piotr Wciślik (Hg.): Thinking through Transition. Liberal Democracy, Authoritarian Pasts, and Intellectual History in East Central Europe After 1989. Budapest 2015, S. 463-504, sowie die von Ferenc Láczo und Joanna Wawrzyniak verantwortete Themenausgabe „The Genealogies of Memory“, in: East European Politics and Societies and Cultures 31 (2017) 3. Siehe zum Thema Gender aber: Chołuj, Bożena/Kraft, Claudia: „Nach 1989“ – ein virtueller Round Table, in: L’Homme 28 (2017) 1, S. 123-138. Beispielsweise Ritter, Gerhard A.: Der Umbruch von 1989/91 und die·Geschichtswissenschaft. München 1995, S. 46. Francis Fukuyama (*1952) – ders.: The End of History and the Last Man. London 1992.

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benannte den gemäßigten Systemwechsel, die „Refolution“, als Vorbild für alle künftigen Ereignisse ähnlicher Art.21 Während Fukuyamas – durchaus melancholisches – Beharren auf einem Ende der Geschichte, wie wir sie kennen, als ein letzter Höhepunkt postmodernistischer Modelle der 1980er Jahre gesehen werden kann, sahen andere Geschichtsphilosophen wie Samuel Huntington neue Krisen globaler Dimension rasch heranziehen.22 Die Suche nach einer Aufgabe für die Geschichte nach 1989 erfasste auch Theoretiker, die mit diesem Thema zuvor kaum etwas am Hut gehabt hatten. So bezog der im nun unabhängigen Estland lebende russische Philosoph Jurij Lotman in seinen letzten Publikationen verstärkt die Geschichte in seine semiotischen Erklärungsmodelle mit ein.23 Vielen dieser Texte gemeinsam ist nicht die Rückschau auf die Vergangenheit, sondern die veränderte Erwartungshaltung in Bezug auf die Zukunft. Zwar wäre es verfehlt, die 1990er Jahre apokalyptisch zu nennen, aber es mehrten sich die Stimmen, die dystopische Entwicklungen aufzeigten. Dies war nicht unbedingt neu, denn schon im Zeitalter der atomaren Bedrohung gehörten Weltuntergangsszenarien zum guten Ton, doch nun breitete sich eine Stimmung aus, die sich im Laufe des 21. Jahrhunderts mit den Debatten um Anthropozän und Posthumanismus immer weiter verstärken sollte: Das Ende der Welt durch den Klimawandel rückte näher, während die Intellektuellen noch in ihrem auf die Gegenwart bezogenen Denken feststeckten. Davon war auch die Geschichte betroffen, wie François Hartog in seinem 2003 erschienenen Buch „Régimes d’historicité“ festmachte, das bezeichnenderweise in Deutschland kaum rezipiert, geschweige denn übersetzt wurde, obwohl er Assistent Reinhart Kosellecks gewesen war. Jener starke „Präsentismus“ führe dazu, dass die Zukunft keine positive Option mehr sei und man nach wie vor in den allzeit gleichen Diskursen über die Vergangenheit feststecke.24 Hier gilt es freilich zu berücksichtigen, dass vor allem die 1990er Jahre einen Paradigmenwechsel bzw. eher einen Wechsel hin zu einer methodischen Vielfalt mit sich brachten, der am ehesten mit der Bezeichnung cultural turn verknüpft werden kann. Auch wenn unter diesem Begriff eine ganze Reihe verschiedenster Ansätze figuriert, so ging doch damit von Anfang 21 22 23 24

Timothy Garton Ash (*1955) – ders.: Refolution: The Springtime of Two Nations, in: New York Review of Books, July 15, 1989, S. 30. Samuel P. Huntington (1927-2008) – ders.: The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York 1996. Jurij Lotman (1922-1993); Monticelli, Daniele: Thinking the New after the Fall of the Berlin Wall: Juri Lotman’s dialogism of history, in: Rethinking History 24 (2020) 2, S. 184-208. François Hartog (*1946) – ders.: Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps. Paris 2003.

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einher, dass die jahrzehntelang dominanten Modelle der Sozialgeschichte, manchmal auch auf quantitativen Deutungsmustern basierend, allmählich durch kulturwissenschaftliche Erklärungen abgelöst wurden.25 Diese waren keineswegs neu, sondern oftmals bereits in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg in Nachbardisziplinen entwickeln worden. Der Siegeszug sprachwissenschaftlicher beziehungsweise allgemein konstruktivistischer Theorien verband sich mit Elementen aus Philosophie, Geographie, Ethnologie oder Literaturwissenschaft – gerne etwas vereinfachend auch French Theory genannt –, wobei die vermeintliche Berechenbarkeit und Einheitlichkeit der Geschichtswissenschaft zweifellos verloren ging. Es ist kein Zufall, dass der vulgäre, allein auf ökonomische Argumente gestützte, doktrinäre Marxismus nach den Veränderungen von 1989 in Reinkultur global kaum noch eine Chance hatte, zugleich aber mittels heterodoxer Modifizierungen in komplexerer Form überdauern konnte. Die Wirkungsgeschichte der als spatial turn neu erfundenen Geopolitik sowie das Comeback der Narration sind gute und folgenreiche Beispiele hierfür.26 Zusammen mit dem Marxismus waren zwar die Utopien untergegangen, in der kompletten Dekonstruktion der Realitäten und der Abkehr von Modellen des immerwährenden Fortschritts begannen nun aber Kulturwissenschaftler*innen damit, die Unvorhersehbarkeit zum entscheidenden historischen Faktor zu erklären, um einen Rückgriff auf zyklische Geschichtsvorstellungen zu vermeiden.27 Dies wiederum ließ die allgemeine Unzufriedenheit mit geschichtstheoretischen Debatten im Laufe der folgenden Jahre noch anwachsen. Sie fanden ihrerseits ihren sinnfälligsten Ausdruck im methodischen Konservatismus des „History Manifesto“ oder Postulaten eines „Neuen Realismus“, die freilich im Grunde über eine

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Bachmann-Medick, Doris: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek 2006. Soja, Edward: Postmodern Geographies: The Reassertion of Space in Critical Social Theory. London/New York 1989; White, Hayden: Tropics of Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore 1978. Trotz des frühzeitigen Erscheinens setzte die eigentliche Wirkung Whites (1928-2018) in den Geschichtswissenschaften jenseits der USA erst in den 1990er Jahren ein, wenngleich etwa die deutsche Ausgabe mit einer Einführung von Koselleck schon 1986 erschienen war. Zur kontroversen Debatte über Zufall und Chaos in der Geschichte vgl. etwa Reisch, George  A.: Chaos, History, and Narrative, in: History and Theory  30 (1991) 1, S.  1-20; McCloskey, Donald N.: History, Differential Equations, and the Problem of Narration, in: Ebd., S. 21-36; Roth, Paul A./Ryckman, Thomas A.: Chaos, Clio, and Scientistic Illusions of Understanding, in: Ebd. 34 (1995) 1, S. 30-44; Makropoulos, Michael: Modernität und Kontingenz. München 1997.

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Verklärung des Historismus des 19. Jahrhunderts kaum hinausgingen.28 Eine gewisse Ausnahme stellte die neue kulturgeschichtliche Forschung zur „Geschichte zweiten Grades“ dar, die in vielen Details auf die älteren Arbeiten von Maurice Halbwachs und das „nationalpolitische“ Erinnerungsorte-Konzept Pierre Noras zurückgeht.29 Und auch Überlegungen zu einer kontrafaktischen, alternativen Geschichte entwickelten sich am Ende des 20. Jahrhunderts, teilweise aus politischen Überzeugungen heraus.30 Sie fanden nicht selten mehr Anklang in der interessierten Öffentlichkeit als die oben beschriebenen komplexeren theoretischen Ansätze. Bilanzierungen Parallel dazu diskutierte die Historikerzunft darüber, ob der Begriff „Zeitgeschichte“ neu definiert werden müsse und welchen Namen die neue Epoche nun tragen solle. Ohne im Detail darauf einzugehen, bleibt doch festzuhalten, dass es sich hierbei in erster Linie doch um eine deutsche Debatte handelte, die sich an methodischen Grundsätzen orientierte, die schon im 19. Jahrhundert entwickelt worden waren.31 Die Aneignung des maßgeblich von Soziolog*innen initiierten Diskurses über die sogenannte „Spätmoderne“ mit der Betonung globaler Verflechtungen und revolutionärer digitaler Veränderungen erfolgte durch die Historiker*innen häufig auch vor dem Hintergrund des Versuches, neue Epocheneinteilungen zu erzeugen.32 Hierbei spielte freilich der Bruch von 1989 keine wesentliche Rolle.33 Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass die Frage nach einer „neuen“ Zeitgeschichte hier „nicht auf methodologische Grundentscheidungen oder theoretische Modelle, sondern auf zeithistorische (politische, soziale, ökonomische und kulturelle) Problemfelder 28 29 30 31 32 33

Guldi, Jo/Armitage, David: The History Manifesto. Cambridge 2014; Ferraris, Maurizio: Introduction to New Realism. London/New York 2015. Maurice Halbwachs (1877-1945) – ders.: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1925; Pierre Nora (*1931) – ders. (Hg.): Les lieux de mémoire. 3 Bde. Paris 1984-1992. Ferguson, Niall (Hg.): Virtual History. Alternatives and Counterfactuals. London u.a. 1997; Cowley, Robert (Hg.): What If? The World’s Foremost Historians Imagine What Might Have Been. New York 1999. Vgl. etwa Lindenberger, Thomas/Sabrow, Martin (Hg.): German Zeitgeschichte. Konturen eines Forschungsfeldes. Göttingen 2016; Doering-Manteuffel, Anselm/Raphael, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970. Göttingen 2008. Giddens, Anthony: The Consequences of Modernity, Stanford 1990; Bauman, Zygmunt: Liquid Modernity. London 2000. Typisch hierfür die Einteilung bei Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München 2014, der das Jahr der Ersten Ölkrise 1973 als Epochenbruch ansetzt.

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des Forschungsgegenstands selbst und der historischen Situation [rekurriert], in der Forscherinnen und Forscher sich selbst jeweils gerade befinden.“34 Was die Geschichtswissenschaft in Mittel- und Osteuropa angeht, so bedeutete 1989 nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in personeller Hinsicht einen Einschnitt. Während die meisten Historiker*innen in der ehemaligen DDR ihre Posten verloren, wobei häufig parteitreue Dogmatiker*innen und Angepasste durch Westimporte ersetzt wurden, konnten in Ländern wie Rumänien, Ungarn, aber auch Polen Angehörige des alten Systems meist weiterforschen, selbst wenn sie als Spitzel der Staatssicherheitsdienste überführt worden waren. Die Veränderungen des Historikermilieus sind durch die Erinnerungen von Betroffenen und einzelne Beiträge zur wissenschaftlichen Aufarbeitung erst stark verspätet in den Blick geraten. Dies gilt besonders für die ehemalige DDR.35 Eine Generation später ist von dieser nun auch schon historischen Debatte nicht viel geblieben, aber die Frage nach der Zäsur von 1989 wird auch im fortschreitenden 21. Jahrhundert noch auf eine bestimmte Art und Weise diskutiert.36 „Paradigmatische Wenden und aufregende Theorieentwicklungen“ als direkte Folge werden ein Vierteljahrhundert danach nicht unbedingt mit den Ereignissen in Verbindung gebracht.37 Viel mehr noch, das Bedürfnis nach historischer Sinnstiftung jenseits der Dekonstruktion scheint wieder stärker zu werden. Manche versuchen sich dabei in einfachen, populistischen Antworten auf die Probleme unserer Zeit und der globalisierten Gesellschaften. Während viele der nun auch schon in die Jahre gekommenen Zeitzeug*innen die damaligen Ereignisse noch einmal feierten und ihre eigenen Rollen herausstrichen, verstärkte sich die Tendenz, die Versäumnisse von 1989 hervorzuheben. Viel mehr noch als etwa 2009 ist im Jahrzehnt danach die Offenheit der Grenzen in die Kritik geraten, die gesellschaftliche Spaltung in Globalisierungsgewinner und -verlierer hat sich deutlich vertieft 34 35

36 37

Haas, Stefan: Theoriemodelle der Zeitgeschichte, Version:  2.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 22.10.2012, http://docupedia.de/zg/haas_theoriemodelle_v2_de_2012 (08.01.2021). Vgl. Berger, Stefan: Former GDR Historians in the Reunified Germany. An Alternative Historical Culture and Its Attempts to Come to Terms with the GDR Past, in: Journal of Contemporary History 38 (2003) 1, S. 63-83; Possekel, Ralf: Kuriositätenkabinett oder Wissenschaftsgeschichte? Zur Historisierung der DDR-Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998) 3, S. 446-462. Panel Dyskusyjny. Rok 1989 – kontynuacja czy przełom, in: Kruszyński, Marcin u.a. (Hg.): Klio na wolności. Historiografia dziejów najnowszych po 1989 roku. Lublin 2016, S. 289-306. Kocka, Jürgen: Umwälzung ohne Utopie. Die Jahre von 1989 bis 1991 läuteten wissenschaftlich keine neue Ära ein, in: WZB Mitteilungen (2014) 146 [Zeitenwende 1989. Umsturz, Wandel und Kontinuitäten], S. 11-14, S. 12.

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und zuletzt hat die Covid-19-Pandemie so ziemlich alles in Frage gestellt, was in den letzten 75 Jahren als sicher gegolten hat. Der Blick auf die Jahre nach 1989 kommt da gerade recht, diesmal aber sowohl im verklärenden als auch im verdammenden Modus. Sie erscheinen einerseits als Zeit des kaltherzigen, seelenlosen Kapitalismus, in der es wahlweise entweder versäumt worden sei, mit den alten kommunistischen Kadern abzurechnen, oder die Errungenschaften des Sozialismus gnadenlos zerstört und viele Menschen um ihr Lebenswerk und ihren Stolz gebracht wurden.38 Andererseits wurde allzu lange ein Loblied auf die Wirkmächtigkeit des marktliberalen Manchester-Kapitalismus in der moderneren Form der Chicago school of economics gesungen. Die theoretischen Grundlagen hierfür wurden schon in den 1980er Jahren gelegt, als sich junge Ökonom*innen aus Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen mit den radikalen Methoden vertraut machten, die sie dann 1989 konsequent umsetzen konnten.39 Die beeindruckenden ökonomischen Erfolge Polens, Tschechiens oder der baltischen Staaten sind rückblickend kaum von der Hand zu weisen. Sie schufen zweifellos die materielle Basis für den Aufstieg und den zunehmenden Wohlstand einiger Teile der Bevölkerung in den jeweiligen Ländern. Zu kurz kam dabei freilich der Blick auf diejenigen, die in den 1990er Jahren eben nicht zu den Gewinnern zählten. Hier konnte der Nationalpopulismus des 21. Jahrhunderts problemlos ansetzen. Historiker*innen sind in den Debatten genauso präsent wie in den Jahrzehnten zuvor. Die alleinige Deutungshoheit, die sie lange noch in ihren Händen glaubten, ist allerdings längst verloren gegangen. Weder der proklamierte Bedeutungsgewinn der historischen Zunft noch die Kritik an einer Hyperhistorisierung der Welt hat sich als nachhaltig erwiesen.40 Schon als 2006 der erste umfassendere Versuch einer Historisierung der letzten Jahrzehnte aus der Feder eines Historikers erschien, Padraic Kenneys Geschichte Osteuropas seit 1989, war klar, dass eine konventionelle Einordnung in die 38

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40

Neller, Katja: DDR-Nostalgie: Dimensionen der Orientierungen der Ostdeutschen gegenüber der ehemaligen DDR, ihre Ursachen und politischen Konnotationen. Wiesbaden 2006; Kornai, János: The Great Transformation of Central Eastern Europe. Success and Disappointment, in: Economics of Transition and Institutional Change  14 (2006) 2, S. 207-244. Fabry, Adam: The Origins of Neoliberalism in Late ‘Socialist’ Hungary: The Case of the Financial Research Institute and ‘Turnabout and Reform’, in: Capital & Class 42 (2018) 1, S. 77-107; Kučera, Rudolf: Making Standards Work. Semantics of Economic Reform in Czechoslovakia, 1985-1992, in: Zeithistorische Forschungen 12 (2015) 3, S. 427-447. Davies, Martin L.: Historics: Why History Dominates Contemporary Society. London/New York 2006.

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Meistererzählungen des 20. Jahrhunderts schwer fallen würde.41 Vier Jahre später stellte Iván  T.  Berend aus vor allem wirtschaftshistorischer Perspektive den Epochenbruch von 1989 zwar nicht direkt in Frage, begann seinen Rückblick aber mit dem Jahr 1980.42 Und wenn man von einer stark ereignisgeschichtlich fokussierten Darstellung wie der Andrzej Chwalbas zu Polen absieht,43 sollte es noch eine Weile dauern, bis – mit veränderter Blickrichtung – das „Wendejahr“ von 1989 und seine Folgen großflächiger thematisiert werden sollte. Der Bedarf an Erklärungen hatte da schon erheblich zugenommen und so fand Philipp Thers, in seinem Kern allerdings bereits 2008 konzipierter Großessay, den er als „Geschichte des neoliberalen Europas“ titulierte, große Aufmerksamkeit.44 Daran knüpfte er einige Jahre später in einer Betrachtung des Transformationsprozesses an, wobei seine Kritik an den ökonomischen wie sozialen Veränderungen der Jahre nach 1989 im Grunde auf einer Weiterentwicklung von Karl Polanyis Thesen beruht, die dieser 1944 in dem Buch „The Great Transformation“ veröffentlicht hatte. Demnach existiere immer eine Art Pendelbewegung zwischen radikalen marktwirtschaftlichen Reformen und ihrer sozialen Abfederung.45 Etwa gleichzeitig argumentierten Ivan Krastev und Stephen Holmes in eine etwas andere Richtung und nicht so stark ökonomisch basiert.46 Ihnen zufolge ist der Liberalismus „westlicher“ Prägung als zentrales Exportprodukt der Jahre nach 1989 – also das, was wir gemeinhin als Transformation bezeichnen – in Osteuropa letztlich zu Tode gekommen und habe Erschöpfung und Abwehrreflexe hinterlassen. Diese wiederum hätten zum Aufschwung populistischer Bewegungen geführt. Somit sei das, was in Mittel- und Osteuropa gerade geschehe, eine emotionale und vorideologische Reaktion auf gescheiterte Nachahmung und Anpassung. Die Imitation von Demokratisierung, Liberalisierung, Erweiterung, Integration oder Europäisierung sei erfolgt, um endlich „normal“ zu werden. Nur so glaubte man, den „westlichen“ Wohlstand und die Freiheit erreichen zu können. Der Westen als Ideal habe in der gesellschaftlichen Praxis 41 42 43 44 45 46

Padraic Kenney (*1963) – ders.: The Burdens of Freedom. Eastern Europe since 1989. London/New York 2006. Iván T. Berend (* 1930) – ders.: Europe Since 1980. Cambridge 2010. Andrzej Chwalba (*1949) – ders.: Historia powszechna 1989-2011. Warszawa 2011. Eine ältere Version hiervon erschien bereits 2005, auch in einer dt. Ausgabe: Kurze Geschichte der Dritten Republik Polen 1989-2005. Wiesbaden 2010. Philipp Ther (*1967) – ders.: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Berlin 2014. Ders.: Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation. Frankfurt am Main 2019. Karl Polanyi (1886-1964) – ders.: The Great Transformation. New York 1944. Ivan Krastev (*1965); Stephen Holmes (*1948) – dies.: The Light that Failed. A Reckoning. London 2019.

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nach 1989 aber seine Werte verspielt, weil die Menschen im Osten durch ihn gedemütigt worden seien. Er habe von den Menschen Dinge wie kaum in einer anderer Region verlangt, damit sie „aufgenommen“ würden. Damit sind vor allem ökonomische Prozesse gemeint, die nicht durch soziale Ausgleichsmaßnahmen abgefedert worden seien. Die gerade wiedergewonnene nationale Identität und die Fähigkeit, über die Zukunft selbst zu bestimmen, seien durch diverse äußere Prozesse unterminiert worden. Den vorläufig letzten Bilanzversuch zu den Jahren nach 1989 mit einer stringenten thematischen Erweiterung auf eine globale Perspektive unternahmen der britische Historiker James Mark und seine Mitarbeiter*innen.47 Sie untersuchten die vier großen Schlagworte Globalisierung, Demokratisierung, Europäisierung und Selbstbestimmung, um danach auf Gegenbewegungen zu schauen und sich zuletzt die Frage zu stellen, welche Zukunftsperspektiven sich ergeben könnten. Ihnen zufolge handelt es sich in Osteuropa um einen spezifischen Teil einer globalen Welle des Populismus, der generell „Dekadenz“ und „Imperialismus“ des Westens bzw. der ihn prägenden gesellschaftlichen Eliten ablehnt. Für Mark ist es zentral darauf hinzuweisen, dass die Keimzelle dieser Überlegungen in überkommenen Vorstellungen einerseits, aber andererseits auch in bestimmten Verfahrensweisen der kommunistischen Regierungen zu suchen ist. 1989 sei eben nicht nur der Markenkern eines demokratischen Durchbruchs gewesen, denn schon damals seien bestimmte nationalistische wie egalitäre Teilströmungen sichtbar gewesen. Der Liberalismus sei eben aus dem Westen importiert worden und keineswegs die Ursache der revolutionären Veränderungen gewesen. Die Furcht vor einer Rückkehr der jahrzehntelang unterdrückten Nationalisierungstendenzen in Mittel- und Osteuropa war von Anfang an präsent. Stellvertretend hierfür mag die Stimme Tony Judts stehen, der 1994 vor negativen Begleiterscheinungen der neuen Freiheit warnte.48 Heute zeigt sich allerdings, dass es sich weniger um eine eindeutige Wiederaufnahme alter Stereotype und Muster, tradierter Feindbilder und bewährter Sündenböcke handelt, als vielmehr um den neuen Kampf gegen als zu weitgehend verstandene Freiheit und den Zusammenbruch konventioneller Strukturen. Das „Böse“ scheint in den Augen der alten, sich an ihre Macht krallenden Männer etwa in Russland, Polen oder der Türkei durch die selbstbewussten Anhänger*innen der Frauen-, LGBTQ-, Klimaschutz- oder Anti-Missbrauchs-Bewegungen verkörpert. Für die autoritären Regimes Polens und Ungarns heißt das, dass der 47 48

James Mark (*1972) – ders. u.a.: 1989. A Global History of Eastern Europe. Cambridge 2019. Tony Judt (1948-2010) – ders.: Nineteen Eighty-Nine. The End of Which European Era?, in: Daedalus 123 (1994) 3, S. 1-19.

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alte Nationalismus der Zwischenkriegszeit nur noch sparsam eingesetzt und durch den migrationsfeindlichen, rassistisch verstandenen Populismus des europäischen Westens ersetzt worden ist.49 Hierbei spielt 1989 keine entscheidende Rolle mehr. Vielmehr sind es bestimmte Frustrationen der 1990er Jahre (das Misslingen der eigenen Netzwerkbildung eines rechten układ50 in Polen, das Unbehagen über den Einfluss von George Soros51 in Ungarn), die in Kombination mit der Migrationskrise von 2015 und einer säkularen, nichtheteronormativen Veränderungswelle in den „westlichen“ Gesellschaften zu den Entwicklungen der 2010er Jahre geführt haben. 1989 bleibt eine Art politikgeschichtlicher Zäsur, im politischen Alltag kommt es aber kaum noch vor. Dekadismus Rückblickend könnte man die 1990er Jahre auch ein Jahrzehnt des Übergangs nennen. Der dominierende Blick zurück konnte sich noch nicht von alten Mustern lösen, zu wirkmächtig waren nach wie vor die Folgen des Zweiten Weltkriegs in Ost und West. Es lässt sich die These vertreten, dass die letzte Generation derjenigen, die den Krieg bewusst miterlebt hatten, noch einmal zum großen „Erinnerungsschlag“ ausholte, um ihre Interpretation der Vergangenheit absolut zu setzen und auf lange Zeit festzulegen. Deutschland, nach wie vor geprägt von den komplett gegensätzlichen Erfahrungen in der Bonner und in der Ost-Berliner Republik, war hier mittendrin. Das Gedenken an die Ermordung der europäischen Juden blieb zentral, wie die Auseinandersetzungen um eine angemessene zentrale Gedenkstätte oder einen HolocaustGedenktag exemplarisch vor Augen führten. Dagegen hatte es den Anschein, als ob die Aufarbeitung des anderen, letztlich doch ungleich harmloseren diktatorischen Systems vor allem eine Sache der davon nicht betroffenen „Wessis“ war, die so ihre vermeintliche moralische Überlegenheit zelebrieren konnten, während die einstigen DDR-Bürger*innen zwischen konsumorientierten Nachholprozessen und Klagen über die alltagsspezifischen wie psychologischen Verluste ihre eigenen Rollen im SED-System kaum kritisch hinterfragten. Zugleich erlebte die von einigen genüsslich zelebrierte Opferrolle Deutschlands ein erstaunliches Comeback, das für einige Beobachter aus dem Ausland 49 50 51

Case, Holly: The Great Substitution, in: Eurozine vom 22.3.2019, https://www.eurozine. com/the-great-substitution/ (04.12.2020). Dt. Seilschaft/Kartell. George Soros (*1930).

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erschreckende Züge annahm und einen Teil des erinnerungspolitischen Diskurses schlagartig in die 1950er Jahre zurückzukatapultieren schien. Die Opfer des Bombenkriegs wurden stellenweise mit anderen Kriegstoten gleichgesetzt,52 die Vertriebenenverbände erlebten ein letztes Hoch, indem ihre Themen gesamtgesellschaftliche Dominanz zu gewinnen schienen. Zwar lässt sich tatsächlich mit guten Gründen attestieren, dass hier die – auch in der alten Bundesrepublik bereits vorhandenen – Wurzeln neu auszuschlagen begannen und den Boden für das nationalistisch-populistische Milieu des 21. Jahrhunderts bereiteten, es gilt hierbei aber zu bedenken, dass die meisten Deutschen in eine andere Richtung gehen und ihr Land weltoffener und toleranter gestalten wollten. Der deutsche Blick zurück fand nun nicht nur neue Themen, sondern Positionen, die in den Jahrzehnten zuvor lediglich Minderheiten vertreten hatten, wurden plötzlich mehrheitsfähig. Idealtypisch hierfür kann die Debatte über den verbrecherischen Charakter der Wehrmacht stehen. Zwar gab es auch hinsichtlich der beiden Wanderausstellungen über den Massenmord im Osten Europas noch heftige Proteste der letzten überlebenden einstigen Soldaten, in Fachkreisen war dies aber ganz anders als beim „Historikerstreit“ über die Einmaligkeit der deutschen Verbrechen zehn Jahre zuvor kein großes Thema mehr.53 Prägend für die 1990er Jahre waren auch die Erfahrungen der JugoslawienKriege mit ihrer im „neuen Europa“ nicht mehr für möglich gehaltenen Grausamkeit, deren Symbol die serbischen Massenmorde von Srebrenica 1995 wurden. Die Abkehr von der vermeintlich unideologischen „Nie wieder Krieg“Rhetorik der alten Bundesrepublik war besonders bei den Grünen auffällig. Die Illusion, die Geschichte sei zu einem glorreichen Ende gelangt, war hiermit endgültig zerstört. Es fällt im Nachhinein allerdings auf, dass der Verweis auf die besondere deutsche Verantwortung, aus der Geschichte zu lernen, eher 52

53

Auch wenn Jörg Friedrichs (*1944) Buch „Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 19401945“ erst 2002 erschien, so propagierten rechtsgerichtete Publizisten und Historiker schon im Nachklang zum „Historikerstreit“ eine historische Neubewertung des Nationalsozialismus. Vgl. Schneider, Michael: „Volkspädagogik“ von rechts. Ernst Nolte, die Bemühungen um die „Historisierung“ des Nationalsozialismus und die „selbstbewußte Nation“. Bonn 1995. Kronenberg, Volker (Hg.): Zeitgeschichte, Wissenschaft und Politik. Der „Historikerstreit“ – 20 Jahre danach. Wiesbaden 2008. Zwischen 1995 und 2004 konzipierte das Hamburger Institut für Sozialforschung zwei Wanderausstellungen, die erstmals umfassend vor allem die von der Wehrmacht während des Krieges gegen die Sowjetunion zwischen 1941 und 1945 verübten Verbrechen dokumentierten. Es entbrannte daraufhin eine heftige öffentliche Debatte über die Rolle der Wehrmacht und die Zuverlässigkeit der gezeigten Fotos. Vgl. Hartmann, Christian/Hürter, Johannes/Jureit, Ulrike (Hg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. München 2005.

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von Publizist*innen und Politiker*innen kam, kaum dagegen von führenden Intellektuellen, und praktisch gar nicht von Historiker*innen. Während deutschsprachige Schriftsteller*innen in den 1990er Jahren immer wieder für geschichtspolitische Skandale gut waren – man denke an die Äußerungen von Günter Grass, Peter Handke oder Martin Walser54 – erreichten Geschichtswissenschaftler*innen kaum einmal die Öffentlichkeit. Nur einige wenige brachten vor allem als Talkshowgäste ihre Zunft zumindest indirekt ins Spiel. In globaler Perspektive endete das Jahrzehnt freilich anders und mindestens ebenso abrupt in den islamistischen Terrorangriffen auf die USA am 11. September 2001. Bleibt die Frage nach der historischen Zäsur 1989. Diese wird in vielerlei Hinsicht nicht anzuzweifeln sein, beendete der Fall der Berliner Mauer doch von einem Moment auf den anderen die internationale Nachkriegsordnung, die letztlich auf ihr beruhte. Ziemlich jede*r Zeitzeug*in weiß, wo er oder sie in diesem Moment gewesen ist, auch wenn er/sie das Ereignis als solches einfach verschlafen hatte. Die Rede von der „Wende“ – der Begriff „Kehre“ war leider schon vergeben –, der „Revolution“ oder eben der „Zäsur“ hat einerseits also ihre Berechtigung, andererseits ist sie in Bezug auf 1989/90 aber auch – mit den Worten Martin Sabrows – „unterfüttert von einem ganz erstaunlichen Maß an Kontinuität, die sich erst zeigt, wenn wir unsere zeithistorische Fokussierung auf den Fluchtpunkt 1989 selbst einer kritischen Befragung unterziehen“.55 Dies gilt insbesondere in Bezug auf das deutsch-polnische Verhältnis, deren eigentliche Wendepunkte die Jahre 1970 und 1980/81 darstellen. Generell ist aber darauf hinzuweisen, dass der Wunsch nach klaren Sinneinheiten zwar offenbar einem Grundbedürfnis vieler Menschen entgegenkommt, aber zugleich eng mit einer linearen Zeitvorstellung verbunden ist. Jene Wegmarken ergeben sich nicht aus dem, was geschehen ist, sondern aus der – meist nachträglichen – Deutung von Ereignissen, womit sie sehr oft in einem Spannungsverhältnis zu einem biographischen Kontinuitätserleben stehen.56 54

55 56

Günter Grass (1929-2015); Peter Handke (*1942); Martin Walser (*1927); Deupmann, Christoph: Die Unmöglichkeit des Dritten. Peter Handke, die Jugoslawienkriege und die Rolle der deutschsprachigen Schriftsteller, in: Zeithistorische Forschungen 5 (2008) 1, S. 87-109; Schirrmacher, Frank (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Frankfurt am Main 1999. Martin Sabrow (*1954); Auf der Abschiedstreppe der postkapitalistischen Alternative. Ein Gespräch mit Martin Sabrow, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Geschichte (2019) 1 [1989], S. 7-24, hier S. 11. Sabrow, Martin: Zäsuren in der Zeitgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 03.06.2013, http://docupedia.de/zg/sabrow_zaesuren_v1_de_2013 (11.01.2021). Vgl. emblematisch auch Brandes, Detlef/Kováč, Dušan/Pešek, Jiří (Hg.): Wendepunkte in den Beziehungen zwischen Deutschen, Tschechen und Slowaken 1848-1989. Essen 2007.

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Somit könnte man argumentieren, dass jegliche Praxis histori(ographi) scher Zäsursetzung dazu geneigt ist, Prägungen im Sinne einer longue durée zu neuer Aufmerksamkeit zu verhelfen und somit zu ihrer eigenen Infragestellung natürlicherweise beizutragen. In den Debatten über Zäsuren wird häufig vernachlässigt, wie stark ihre Wahrnehmung mit Emotionen verbunden ist. Dabei kann es sich um eine ängstliche Erwartung des Kommenden handeln, wie etwa nach den Anschlägen von 2001 und der Covid-19-Pandemie von 2020/2021. Oftmals geht es aber auch um eine Art euphorische Grundstimmung nach dem Ende großen Leids wie nach den beiden Weltkriegen. So ließe sich auch auf das Jahr 1989 blicken, wo die Begeisterung vielerorts ebenfalls keine Grenzen kannte. Der Fall der Mauer und der kommunistischen Regime Mittel- und Osteuropas stellte eine „sinnweltliche Erfahrungszäsur [dar], die das Denken und Handeln der Zeitgenossen, insbesondere der Ostdeutschen unmittelbar beeinflusste“.57 Während die einen durch den „Sieg über den Kommunismus“ eine ewige Herrschaft von Freiheit und Wohlstand verbunden mit dem Ausbau der USamerikanischen Weltmachtstellung prognostizierten, wurden früh Stimmen laut, die auf der Basis historischer Erfahrungen ein Ende des „amerikanischen Jahrhunderts“ vorhersahen.58 Wieder ein anderer, kein geringerer als der französische Soziologe Bruno Latour, erwartete als Folge von 1989 – zunächst ohne große Aufmerksamkeit zu erhalten – den Zusammenbruch der globalen Ordnung des Liberalismus und das Ende der Idee, den Beschränkungen der Natur entkommen zu können.59 30 Jahre später wiederholte er seine damalige Bewertung, dass ähnlich wie 1918 und 1945 ein „Tsunami moralischer Klarheit“ dazu geführt habe, dass die Sieger die Lage völlig falsch eingeschätzt hätten. Der Kapitalismus hatte gesiegt, aber die globale ökologische Krise würde ihn zerstören.60 Warum sich im deutschen Kontext, der Begriff „Wende“ durchgesetzt hat, ist aus der retrospektiven Betrachtung kaum zu erklären. Vielleicht handelte es sich um den unbewussten Wunsch, eine allzu radikale Terminologie aus dem Bereich „Revolution“ zu vermeiden, wenngleich diese Tendenz in der Verbindung mit „friedlicher“ durchaus ihre Anhänger gefunden hat. Im ostdeutschen Kontext wird der „Wende“-Begriff gerne auf den letzten SED-Parteichef Egon Krenz 57 58 59 60

Sabrow, Zäsuren. Kennedy, Paul: The Rise and Fall of the Great Powers. Economic Change and Military Conflict from 1500 to 2000. New York 1987. Bruno Latour (*1947) – ders.: Nous n’avons jamais été modernes. Paris 1991, S. 17f. Ders.: Who needs a Philosophy of History?, in: Bruno Latour/Dipesh Chakrabarty: Conflicts of Planetary Proportions – a Conversation, in: Journal of the Philosophy of History 14 (2020) 3, S. 419-454, hier S. 425.

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zurückgeführt,61 er hatte allerdings auch eine westdeutsche Komponente, die im konservativen Diskurs der alten Bundesrepublik präsent war.62 Offensichtlich ist aber auch, dass die bevorzugten Begrifflichkeiten in den von 1989(-91) betroffenen Staaten bis heute sichtbar variieren. Der Abstand von nunmehr 30 Jahren hat zwar zum einen dazu geführt, dass die damaligen Veränderungen trotz aller weiterhin bestehenden Meinungsunterschiede sozialwissenschaftlich größtenteils aufgearbeitet wurden63, aber dennoch nicht alle Wunden verheilt sind, wie die immer wieder aufflackernden Debatten über die Rolle der Treuhandanstalt in Ostdeutschland, Elitenkontinuitäten in Rumänien oder die vermeintlich versäumte Abrechnung mit den Kommunisten in Polen zeigen. Methodisch betrachtet ist aber klar, dass keiner der verwendeten Begriffe – Wandel, Wende, Transformation, Übergang – eine größere Tiefenschärfe besitzt. Selbst wenn man sie als Voraussetzung allen historischen Denkens akzeptiert, so bedarf es doch bestimmter Rahmungen, um der Komplexität wie der Kontingenz der Ereignisse gerecht zu werden.64 Zu den zu berücksichtigenden Kategorien gehört zudem die der Selbstreflexion der Betrachter*innen. Durch die eigene Verortung in einem bestimmten sozialen, generationellen, historiographischen usw. Kontext ist es immer nur möglich, „einen bestimmten Zuschnitt der ideengeschichtlichen ‚Realität‘ zum Vorschein bringen zu können“.65 Und da die Differenz zwischen der vergangenen Realität und ihrer sprachlichen Aufarbeitung nie geschlossen werden kann, sind Begriffe wie „Wende“ aber auch „Zäsur“ lediglich Hilfskonstruktionen aus der Sicht der späteren Betrachter*innen von Ereignissen oder Prozessen.66 In diesem Sinne helfen sie uns aber, die Ereignisse von 1989 zu strukturieren und das darauffolgende Jahrzehnt in einen größeren historischen Rahmen einzuordnen. Auch und gerade das deutsch-polnische Verhältnis der Jahre nach 1945, in dem die Jahre 1950 (für die DDR), 1970 (für die Bundesrepublik) und 1980/81 zentrale Wegscheiden darstellen, die so nicht unmittelbar auf eine 61 62 63 64 65 66

Egon Krenz (*1937); Lindner, Bernd: Begriffsgeschichte der Friedlichen Revolution. Eine Spurensuche, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2014) 24-26, S. 33-39. Hoeres, Peter: Von der „Tendenzwende“ zur „geistig-moralischen Wende“. Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 61 (2013) 1, S. 93-119. Lewicki, Mikołaj: Przyszłość nie może się zacząć. Polski dyskurs transformacyjny w perspektywie teorii modernizacji i teorii czasu. Warszawa 2018; Ehrhart, Christof: Transformation in Ungarn und der DDR. Eine vergleichende Analyse. Opladen u.a. 1998. Sehr brauchbar in diesem Kontext Klymenko, Iryna: Semantiken des Wandels. Zur Konstruktion von Veränderbarkeit in der Moderne. Bielefeld 2019, S. 7-64, hier S. 20. Ebd., S. 36. Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Frankfurt am Main 2006, S. 55.

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gesamteuropäische oder gar globale Ebene zu übertragen sind, lässt sich durch die Bezugnahme auf solche Zäsuren besser verstehen, zumal sie auch von großen Teilen der Bevölkerung als solche wahrgenommen wurden. Geschichtskulturen Als der polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, im Januar 1991 seine geopolitisch gewandten Gedanken zu einem seiner Ansicht nach wünschenswerten baldigen EG-Beitritt von Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn formulierte, kam die Geschichtswissenschaft zwar nur am Rande vor, doch stellte er klar: „Der Mitteleuropagedanke sollte Künstlern und Historikern überlassen werden. [… Er] hatte eine politische Alibifunktion. Er drückte ganz einfach die Sehnsucht nach Freiheit und nach Demokratie aus, aber auf eine politisch unverbindliche und damit für die Machthaber erträglichere Weise. Ich glaube, daß das Jahr 1989 Polen gezeigt hat, daß das Problem der Freiheit beim Namen genannt werden kann. Dadurch spätestens verlor Mitteleuropa seine Alibifunktion. Politisch wurde diese Idee immer, wenn sie in Verbindung mit Deutschland gesetzt wurde. Dann stieß sie aber auch bei vielen von denen, die sie sonst unterstützen wollten, auf Ablehnung.“67 Gleichzeitig warnte er damit vor dem, was die drei Präsidenten dieser Staaten nur zwei Wochen später, am 15. Februar 1991, in der Tradition jener Konzeptionen der Zwischenkriegszeit im ungarischen Visegrád vereinbaren sollten. Also: Bitte keine Geschichtspolitik mehr von Seiten der Politik! Andersherum gewendet passt hierzu die beschriebene Diagnose, dass der Einfluss der Geschichtswissenschaft auf die gesellschaftlich als verbindlich angesehenen Wissensbestände über die Vergangenheit im Schwinden begriffen gewesen sei. Der scheidende Historikerverbandsvorsitzende Lothar Gall betonte fünf Jahre später in seiner Eröffnungsrede zum Historikertag 1996 in Anwesenheit von Bundespräsident Roman Herzog: „Denn der Geschichte als Argument bedienten und bedienen sich vielfach, ja, mehrheitlich Nichthistoriker, und es ist in den meisten Fällen eher zweifelhaft, ob sie sich dabei auf die neuesten Erkenntnisse der professionellen Historie stützen, ja, an ihnen überhaupt in erster Linie interessiert sind – unsere unmittelbare Gegenwart bietet dafür ja gerade ein sehr anschauliches Beispiel. Denn wer sich 67

Vortrag von Janusz Reiter (*1952) „Die deutsche Entwicklung aus polnischer Sicht“, am 29. Januar 1991 in Bonn im Rahmen der Reihe der Friedrich-Ebert-Stiftung „Wie sehen unsere Nachbarn die deutsche Entwicklung?“, http://library.fes.de/pdf-files/netzquelle/ c91-00673.pdf (13.12.2020).

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der Geschichte als Argument bedient, dem geht es dabei zumeist um etwas anderes als um historische Erkenntnis als solche […] Und der Historiker war über Jahrhunderte oft nicht mehr als ein zur Dienstleistung für andere Zwecke herbeigezogener Knecht, seine Wissenschaft eine Dienstmagd, eine ancilla. Zunächst und zuvörderst der Theologie, dann der Jurisprudenz und immer der Politik.“68 Kurzum: Bitte keine Einmischung in und Andienung der Historiker*innen mehr an die Politik! Geschichtswissenschaft war nie autonom, schon gar nicht von Politik, auch nicht in ihren dekonstruktivistischsten Spielarten. Wer dies versucht zu behaupten, begibt sich in schlagseitige geschichtstheoretische Debatten, die heute vor dem Hintergrund geschichtsrelativistischer Argumentationsformen in Politik und Gesellschaft wieder an Virulenz zu gewinnen scheinen. Ein Streben nach Multiperspektivität, Relativität sowie Reflexivität äußerte sich in den 1990er Jahren vielleicht am deutlichsten in Diskursen von Geschichtskultur(en), Geschichtspolitik und Erinnerungsparadigmata im Gefolge einer sich ausdifferenzierenden Neuen Kulturgeschichte. Die – wenn man so möchte – Heteronomie der Geschichtswissenschaft gegenüber ihrer Umwelt erzeugt in den jüngeren Debatten um die Relevanz von public history einen Widerhall, welche ihren Ausdruck (in Deutschland wie in Polen) seit gut zehn Jahren in neuen Studiengängen und Lehrstühlen findet, mit einem frühen Vorläufer des bereits seit 1985 bestehenden Studienganges „Fachjournalistik Geschichte“ in Gießen, der dahingehende Ansätze erstmals institutionalisiert hatte oder auch in dem Versuch, die Geschichtswissenschaft in eine citizen science einzubinden.69 In der Tradition der Geschichtswerkstätten der 1980er Jahre sowie der Lokalisierung von praxis- und lebensnaher, oder auch „angewandter“ Geschichte lassen sich gerade auch für unseren polnisch-deutschen Kontext der 1990er Jahre Trends und Themen ausmachen, die direkt oder indirekt unter dem Eindruck neuer Möglichkeiten der Forschung, der Verflechtung, sowie verschobener Grenzen des politisch und wissenschaftlich Sagbaren standen. Daneben drehte sich beispielsweise 68

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Lothar Gall (*1936) – ders.: Eröffnung durch den Vorsitzenden des Verbandes der Historiker Deutschlands, in: Frank Martin Siefarth/Stefan Weinfurter (Hg.): Geschichte als Argument.  41. Deutscher Historikertag in München, 17. bis 20. September  1996. Berichtsband. München 1997, S. 1-4, hier S. 1; Roman Herzog (1934-2017). Zündorf, Irmgard: Zeitgeschichte und Public History, Version:  2.0, in: DocupediaZeitgeschichte, 6.9.2016, https://docupedia.de/zg/Zuendorf_public_history_v2_de_2016 (07.12.2020); Arendes, Cord: Historiker als „Mittler zwischen den Welten“? Produktion, Vermittlung und Rezeption historischen Wissens im Zeichen von Citizen Science und OpenScience, in: Heidelberger Jahrbücher Online  2 (2017), S.  19-58, https://heiup.uniheidelberg.de/journals/index.php/hdjbo/article/view/23691 (07.12.2020); Willner, Sarah/Koch, Georg/Samida, Stefanie (Hg.): Doing History. Performative Praktiken in der Geschichtskultur. Münster/New York 2016.

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eine intensive polnische Debatte um die Position der Geschichtswissenschaft gegenüber der polityka historyczna, eines in seiner spezifischen Spielart seit Ende der 1990er Jahre auch in Polen etablierten Konzepts, das auf die (partei-) politische und damit verbunden staatliche Deutungshoheit von Geschichte zielt.70 Im Sinne einer ständigen Differenzierung von Meistererzählungen müssen nun die angesprochenen, seit 30 Jahren in unterschiedlicher Ausprägung immer wieder aktualisierten Narrative der Transformationszeit einer historisierenden Prüfung unterzogen werden. In Polen oszillier(t)en sie zwischen „Verrat am Runden Tisch“ und einer durch Demokratisierung und Liberalisierung gestalteten nachholenden nationalen Erfolgsgeschichte,71 wobei sich die Rede von einer neuen „Stunde Null“ oder einer „gruba kreska“72 schnell als untauglich erwies.73 Letztlich kommt es – was nunmehr als Binsenweisheit gelten mag – auf die angelegte Perspektive, die gesellschaftlichen, politischen und lebensweltlichen Bereiche an, die in den Blick genommen werden, wenn man danach fragt, welches denn die großen Debatten der 1990er Jahre im deutschpolnischen Kontext gewesen sind. Auch kann die Bewertung differieren, wie „groß“ diese wirklich waren, je nach Erinnerungszeitpunkt und -ort, ob sie

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Łuczewski, Michał: Kontrrewolucyjne pojęcie. „Polityka historyczna“ w Polsce, in: Stan Rzeczy 10 (2016) 1, S. 221-257; Kącka, Katarzyna: Polityka historyczna. Kreatorzy, narzędzia, mechanizmy działania – przykład Polski, in: Dies./Joanna Piechowiak-Lamparska/Anna Ratke-Majewska (Hg.): Narracje pamięci. Między polityką a historią. Toruń 2015, S. 59-80; Wójcik, Anna: Polityka historyczna jako forma budowy wizerunku Polski na arenie międzynarodowej, in: Świat Idei i Polityki 15 (2016) 1, S. 438-451. Filipkowski, Piotr: Zwischen Geschichte der „Transformation“ und Transformation der (Zeit-)Geschichte. Einige Bemerkungen aus polnischer Sicht, in: Kerstin Brückweh/ Clemens Villinger/Kathrin Zöller (Hg.): Die lange Geschichte der „Wende“. Geschichtswissenschaft im Dialog. Berlin 2020, S. 87-89; Buras, Piotr/Olschowsky, Burkhard: 1989. Mauerfall & Runder Tisch. Asymmetrische Gründungsmythen, in: Hans Henning Hahn/ Robert Traba (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd.  2 (Geteilt/Gemeinsam). Paderborn 2014, S. 199-224. Dt. „Dicker Strich“. In diesem Sinne auch Feindt, Gregor: Making and Unmaking Socialist Modernities. Seven Interventions into the Writing of Contemporary History on Central and Eastern Europe, in: European History Yearbook  19 (2018), S.  133-154, hier S.  136; Kraft, Claudia: „Pacto de silencio“ und „gruba kreska“. Vom Umgang mit Vergangenheit in Transformationsprozessen, in: Katrin Hammerstein u.a. (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit. Göttingen 2009, S.  97-107. Der damalige polnische Außenminister Władysław Bartoszewski (1922-2015) vermutete in seiner viel beachteten Rede in Bonn vom 28. April 1995 trotzdem noch: „Von der ‚Stunde Null‘ zu reden, hat in Polen erst ab 1989 einen Sinn.“ https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/bartoszewski/rede_ bartoszewski-245134 (11.11.2020).

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sowohl die Historikerzunft als auch eine breitere Öffentlichkeit betrafen oder doch eher in ihrer Reichweite begrenzt waren. Inwiefern die Gesprächsräume disziplinär, national, bilateral oder gar transnational kodiert waren, wird in diesem Band immer wieder zur Sprache kommen. So hatte beispielsweise die Frage nach dem Status nationaler Minderheiten, die im sozialistischen Polen weitgehend tabuisiert worden war, bereits seit den 1980er Jahren Aufmerksamkeit durch Teile der Solidarność74 erhalten, was jedoch aufgrund der starken Betonung nationalkatholischer Werte nicht immer auf Gegenliebe der Minderheitenvertreter*innen stieß. Die Regierung Mazowiecki75 begann dann 1989 zügig, den Rahmen für eine neue Minderheitenpolitik zu setzen, wobei es letztlich bis zur Verabschiedung der neuen polnischen Verfassung im Frühjahr 1997 (Artikel 35) dauern sollte, bis grundlegende Rechte wie die Ausübung der eigenen Religion, Tradition und der Aufbau eigener Bildungseinrichtungen auch gesetzlich garantiert wurden. Zudem wurden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre Klauseln über den Minderheitenschutz (Individuen wie Gruppen) in 13 bilaterale Verträge integriert.76 Vor allem aber wurden die Regionen zunächst literarisch wiederentdeckt, schneller und intensiver als in der Geschichtswissenschaft und befeuert durch lokale Vereinigungen, die sich auf die Fahnen schrieben, das Erbe der eigenen Region in seinen gesamten Facetten in Erinnerung zu rufen sowie deren Kulturleben maßgeblich mitzugestalten. Sie nutzten die neue Offenheit der 1990er Jahre früh und mit einer erstaunlichen Verve und Kreativität,77 und versuchten traditionelle, stereotype und national überformte Narrative zugunsten eines „offenen Regionalismus“ zu überwinden, der nicht selten durch eine multikulturelle Brille betrachtet zu einer Dezentralisierung des Identitätsdiskurses beitrug.78 Die meisten dieser Vereinigungen entstanden als zivilgesellschaftliche Initiativen, wenngleich in seltenen Fällen ihre Vertreter*innen 74

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Zwischen August 1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999. Tadeusz Mazowiecki (1927-2013). Vgl. Sakson, Andrzej: Die Nationalitätenpolitik der III. Republik, in: WeltTrends (2000) 27, S. 61-78. Skórzyńska, Izabela/Wachowiak, Anna: Kryzys definiensu regionalizmu?, in: Przegląd Wielkopolski (2014) 2, S. 30-37, v.a. 33f. Wolff-Powęska, Anna: Strategien der Erinnerung in Polen – die zivilgesellschaftliche Alternative, in: Étienne François u.a. (Hg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich. Göttingen 2013, S.  68-93;

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in expliziten Doppelrollen auftraten, wofür der kaschubische Historiker und Gründungsdirektor des Instytut Kaszubski79, Danziger Vizewoiwode (199096) und polnische Senator (1991-93) Józef Borzyszkowski exemplarisch stehen kann.80 Die Verbindung politisch-historischer Aktivitäten in einer Person war dabei keineswegs der Regelfall und wenn, dann wurde und wird Geschichtspolitik eher selten von Fachhistoriker*innen betrieben, womit der polnische Fall keine Ausnahme darstellte – einmal abgesehen von prominenten Beispielen wie Henryk Samsonowicz, Bronisław Geremek oder Stefan Meller als Historiker in der Politik dieser Dekade.81 Zahlreiche interdisziplinäre Kongresse debattierten regionale Identitäten und ihre historisch-kulturelle Verortung.82 Bis heute hält sich eine reichhaltige Forschung dazu, vor allem literatur- und kulturgeschichtlicher Prägung,83 auch wenn diese durch den Erinnerungsboom mit seinem Höhepunkt um die Jahrtausendwende anhaltende Konkurrenz bekam, der sich im deutschpolnischen Kontext letztlich in dem großen Opus der Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte manifestieren sollte.84 Viele kleine Verlage mit lokalem

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zu Grundlagen des Konzepts des „offenen Regionalismus“ vgl. Otwarty regionalizm. Rozmowa Basila Kerskiego z Robertem Trabą, in: Kultura (1996) 9, S. 102-109. Das Kaschubische Institut in Danzig wurde 1996 gegründet. Es versteht sich als Forum der Regionalforschung auf nationaler und internationaler Ebene, insbesondere der Geschichte und Gegenwart der kaschubischen Region und ihrer Bevölkerung. Józef Borzyszkowski (*1946). Vgl. beispielhaft ders. (Hg.): Gdańsk i Pomorze. Mała ojczyzna Kaszubów. Gdańsk 1995. Henryk Samsonowicz (*1930); Bronisław Geremek (1932-2008); Stefan Meller (1942-2008); François, Étienne u.a. (Hg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich. Göttingen 2013. Vgl. z.B.  Bednarek, Stefan u.a. (Hg.): Czym jest regionalizm? VI Kongres Regionalnych Towarzystw Kultury. Wrocław/Ciechanów 1998; Zarębski, Maciej  A.: Regionalizm a historia. Materiały IV Krajowego Forum Regionalistycznego, Staszów-Sandomierz, 25-27 września 1997 r. Staszów 1998. Auch disziplinär schlug sich dies nieder, so etwa im Thema des XV Zjazd Historyków Polskich (Polnischen Historikertags) vom 19.-21.9.1994 in Danzig/ Gdańsk, unter dem Titel „Wielkie i małe ojczyzny (Große und kleine Vaterländer)“. Vgl. Mikołajczak, Małgorzata: Wstęp. Regionalizm w polskiej refleksji o literaturze (zarys problematyki i historia idei), in: Zbigniew Chojnowski/Małgorzata Mikołajczak (Hg.): Regionalizm literacki w Polsce. Zarys historyczny i wybór źródeł. Kraków 2016, S. 9-83; zur Renaissance der regionalistischen Idee seit 1989 siehe ebd., S.  75-80 sowie auch Krzoska, Markus: Ein Land unterwegs. Kulturgeschichte Polens seit 1945. Paderborn 2015, S. 232-247. Zwischen 2006 und 2015 unter Federführung des CBH PAN Berlin nach französischem Vorbild, aber bald darüber hinausgehend, durchgeführtes Forschungsprojekt zur „Geschichte zweiten Grades“ mit transnationalem Fokus. Vgl. Hahn, Hans Henning/ Traba, Robert (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte“. 5 Bde. Paderborn 2012-2015; poln. Ausgabe: Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Tom  1-4. Warszawa 2012-2015; dies. (Hg.): 20 deutsch-polnische Erinnerungsorte. Paderborn 2017.

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Bezug entstanden wie etwa „Borussia“ in Allenstein/Olsztyn.85 1993 lancierte die Thorner Fundacja Kultury das Programm „Małe ojczyzny – tradycja dla przyszłości“ (Kleine Vaterländer – Tradition für die Zukunft)86, woran unter anderem Akteure wie das Lubliner Kulturzentrum „(Brama Grodzka) TeatrNN“ oder die Stiftung „Pogranicze“ aus Sejny teilnahmen.87 Dabei dominierte zuweilen bei einem sich aktualisierenden Verständnis von „Heimat“ die Erinnerung an die ehemaligen polnischen Ostgebiete, gerade auch in den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Ein nicht selten romantisierendes Interesse an der „multikulturellen Vergangenheit“ (wielokulturowość, międzykulturowość) von Schlesien, Ostpreußen oder den Kresy hatte in dieser Form kein Pendant in Deutschland.88 Die allgemeine polnische Entwicklung fand im Übrigen ihren entsprechenden Niederschlag auch etwa in der universitären Frühneuzeitforschung, wo der multireligiöse und multiethnische Charakter Polen-Litauens vom 16. bis 18. Jahrhundert zu einer der dominierenden Forschungsperspektiven wurde.89 Aus einem zeithistorischen Blickwinkel traf man sich aber nicht zuletzt über die konkreten Regionen mit den Vertreibungsdebatten – wenn auch unter zumeist anderen, noch weniger

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Wspólnota Kulturowa Borussia (Kulturgemeinschaft Borussia), gegründet 1990 in Olsztyn. Verein und Verlag, der sich in der masurisch-ermländischen Regionalgeschichte und Kultur engagiert, u.a. mit wissenschaftlichen und denkmalschützerischen Aktivitäten sowie in der Jugendarbeit. Der Verein hat zwischen 1991-2017 die gleichnamige Zeitschrift „Borussia“ herausgegeben. Vgl. auch Chromiec, Elżbieta: Dialog międzykulturowy w działalności polskich organizacji pozarządowych okresu transformacji systemowej. Wrocław 2011, S. 109-111, 117-130, 145-153. Vgl. Bieńkowska, Małgorzata: Przestrzeń w małej ojczyźnie na przykładzie działań podejmowanych przez społeczności lokalne w trakcie realizacji programu „Małe ojczyzny – tradycja dla przyszłości“, in: Pogranicze. Studia społeczne 7 (1998), S. 39-50. Das Kultur- und Theaterzentrum „Brama Grodzka“ wurde 1990 in Lublin gegründet. Vgl. Kubiszyn, Marta: Edukacja wielokulturowa w środowisku lokalnym. Studium teoretyczno-empiryczne na przykładzie ośrodka „Brama Grodzka – Teatr NN“ w Lublinie. Toruń 2007. „Pogranicze“ ist ein 1991 in Sejny, nahe der litauischen Grenze, gegründetes Kulturzentrum. Vgl. Chromiec, Dialog międzykulturowy, S. 112-113, 116, 154-162. Vgl. beispielhaft Liedke, Marzena/Sadowska, Joanna/Trynkowski, Jan (Hg.): Granice i Pogranicza. Historia codzienności i doświadczeń. Bd. 2. Białystok 1999. Beispielsweise Litwin, Henryk: Narody Pierwszej Rzeczypospolitej, in: Anna SucheniGrabowska/Alicja Dybkowska (Hg.): Tradycje polityczne dawnej Polski. Warszawa 1993, S. 168-218; Link-Lenczowski, Andrzej K. (Hg.): Rzeczpospolita wielu narodów i jej tradycje. Materiały z konferencji „Trzysta lat od pocza̜tku unii polsko-saskiej: Rzeczpospolita wielu narodów i jej tradycje“, Kraków 15-17 IX 1997 r. Kraków 1999; Kaźmierczyk, Adam (Hg.): Rzeczpospolita wielu wyznań. Materiały z międzynarodowej konferencji, Kraków 18-20 listopada 2002. Kraków 2004.

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dialogischen Prämissen. Zwar rückten Zwangsmigrationen und Bevölkerungsaustausch verstärkt als inter- und transnationale Phänomene in den Fokus, dennoch blieb die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung damit zunächst noch sehr national dominiert. Vor allem Erinnerungsliteratur und historische Romane wiesen hier schon deutlich eher auf die verwobenen Dimensionen einer gemeinsamen Geschichte hin. Jan Józef Lipskis „Zwei Vaterländer, zwei Patriotismen  …“90, sein im Untergrund sowie im Ausland (u.a. in der FAZ) viel rezipierter Essay von 1981, der die polnischen Verflechtungen mit dem Schicksal von Sowjetbürgern, Deutschen und Juden vor Augen geführt hatte, ließ der von 1981 bis 2002 im Exil lebende Schriftsteller Adam Zagajewski zu wiederum seinem literarischen Essay „Zwei Städte“ verschmelzen, in dem er 1991 (1995 ins Deutsche übertragen) die untrennbare Verbundenheit von Lemberg/Lwów/L’viv mit Gleiwitz/Gliwice als Orte von Verlassen und Ankunft beschrieb.91 Zur Problematik unterschiedlicher generationeller Wahrnehmung von neuer und alter „Heimat“ erschienen gerade in den 1990er Jahren Werke, die aus autobiographischer Perspektive heraus in Tagebuchform oder als Erinnerungsroman publiziert wurden.92 Prominente Vertreter*innen jener neuen Regional- und Heimatliteratur sowie einer geopoetyka, die das Erbe der eigenen familiären und/oder einer vermeintlich „fremden“ Herkunftsregion durchdrangen, waren unter anderem Paweł Huelle93, Stefan Chwin94,

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Jan Józef Lipski (1926-1991) – ders.: Zwei Vaterländer – Zwei Patriotismen. Bemerkungen zum nationalen Größenwahn und zur Xenophobie der Polen, in: Kontinent. Ost-WestForum  8 (1982) 22, S.  3-48; poln. Original: Dwie ojczyzny – dwa patriotyzmy. Uwagi o megalomanii narodowej i ksenofobii Polaków, in: Kultura (1981) 10, S. 3-29. Adam Zagajewski (1945-2021) – ders.: Zwei Städte. Aus dem Polnischen von Henryk Bereska, in: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 47 (1995) 5, S. 613-637 & 6, S. 765-784; poln. Original: Dwa miasta, in: Ders.: Dwa miasta. Paryż 1991, S. 7-46. Exemplarisch seien hier zwei Werke genannt, die den Vater-Tochter-Konflikt in ehemaligen Lemberger Familien in Breslau/Wrocław anschaulich schildern: Konopińska, Joanna: We Wrocławiu jest mój dom. Dziennik z lat 1946-1948. Wrocław 1991; Złotorzycka, Jadwiga: Dwugłos pokoleń. Wrocław 1996. Paweł Huelle (*1957) – ders.: Opowiadania na czas przeprowadzki. Londyn/Warszawa 1991; dt. Ausgabe: Schnecken, Pfützen, Regen und andere Geschichten aus Gdańsk. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Hamburg/Zürich 1992. Ders.: Pierwsza miłość i inne opowiadania. Londyn 1996; dt. Ausgabe: Silberregen. Danziger Erzählungen. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin 2000. Stefan Chwin (*1949) – ders.: Hanemann. Gdańsk 1995; dt. Ausgabe: Tod in Danzig. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Berlin 1997.

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Artur Daniel Liskowacki95, Kazimierz Brakoniecki96 oder Olga Tokarczuk97, und nicht zuletzt Andrzej Stasiuk.98 Institutionen Nicht nur hier zeigte sich, dass „gerade im ideell-geistigen Bereich die Rolle des Jahres 1989 als Epochengrenze nicht überbetont werden“ sollte, sondern Themen- und Perspektivverschiebungen vielmehr auch als eine Folge von Generationenwandel, durch den die Nachkriegskinder nun immer vernehmbarer wurden, gelesen werden sollte.99 Dies gilt nicht nur für die Literatur, sondern ebenso für die Geschichtswissenschaft, wenngleich für letztere – nicht überraschend – eine gewisse Verzögerung zu konstatieren wäre. Erst als Polen, nachdem es 1996 bereits Partnerland in Leipzig gewesen war, Gastland der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2000 wurde, sollten diese Autor*innen einer mittleren und jüngeren Kohorte auch in dessen Nachbarland im Westen einem größeren Publikum bekannt werden.100 Nicht selten wurde hier retrospektiv von einem positiven Wendepunkt der Resonanz Polens über seine Literatur in Deutschland gesprochen,101 zu dem auch solche Großprojekte wie die ebenfalls 2000 abgeschlossene „Polnische Bibliothek“102 des Suhrkamp95 96 97 98

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Artur Daniel Liskowacki (*1956) – ders.: Eine kleine. Szczecin 2000; dt. Ausgabe: Sonate für S. Aus dem Polnischen von Joanna Manc. München 2003. Kazimierz Brakoniecki (*1952) – ders.: Atlantyda Północy/Atlantis des Nordens. Aus dem Polnischen von Winfried Lipscher. Olsztyn 1998. Olga Tokarczuk (*1962) – dies.: Prawiek i inne czasy. Warszawa 1996; dt. Ausgabe: Ur und andere Zeiten. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Berlin 2000. Andrzej Stasiuk (*1960). Vgl. zur sich dezidiert mitteleuropäisch gerierenden Literatur der kleinen Heimat: Hänschen, Steffen: Mitteleuropa redivivus? Stasiuk, Andruchovyč und der Geist der Zeit, in: Osteuropa 54 (2004) 1, S. 43-56; Browarny, Wojciech: Literatura i literaturoznawstwo regionów. W stronę polilogu, otwartości i zaangażowania, in: Politeja 16 (2020) 3, S. 227-239, 228f; Meer, Evelyn: Die Dezentralisierungstendenzen in der polnischen Prosa nach 1989. Regensburg (Diss.) 2006. Vgl. Krzoska, Markus: Ein Land unterwegs. Kulturgeschichte Polens seit 1945. Paderborn 2015, S. 271, auch S. 243f. Stelmaszyk, Natasza: Polonica nova. Die polnische Literatur der Nachwendezeit und ihre Situation im deutschsprachigen Raum seit 1989. Siegen (Diss.) 2008, S. 220-258. Vgl. z.B.  das  Interview von Andrea Lütkewitz mit dem Übersetzer Bernhard Hartmann: „Man braucht ein Gefühl für Rhythmus“, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 29.10.2019, https://www.pnn.de/kultur/interview-mit-literaturuebersetzer-bernhard-hartmannman-braucht-ein-gefuehl-fuer-rhythmus/25160706.html (21.12.2020). Dedecius, Karl (Hg.): Polnische Bibliothek. Eine Edition der polnischen Literatur in 50 Bänden. Frankfurt am Main 1982-2000. Vgl. auch Zielińska, Mirosława: Auf dem Weg vom

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Verlags beitrugen. Sie entstand unter maßgeblicher Unterstützung der Robert Bosch Stiftung103 am 1980 von Karl Dedecius gegründeten Deutschen PolenInstitut104 in Darmstadt, ähnlich wie das in Kooperation mit der Thorner Universitätsbibliothek verwirklichte Mammutprojekt der Bibliographie der Deutsch-Polnischen Beziehungen.105 Die Förderung der polnischen Literatur konnte durch das 1993 neu gegründete Polnische Institut Düsseldorf106 dabei auch in den westdeutschen Bundesländern auf eine neue Basis gestellt werden. Allgemein muss die sich ausweitende institutionelle Unterstützung sowohl im kulturellen als auch im engeren wissenschaftlichen Bereich als ein Signum der 1990er Jahre gelten, welche durch politische Unterstützung des „Weimarer Dreiecks“107 auch solche Orte der Wissens- und Sprachvermittlung wie das Collegium Polonicum in Słubice schuf, getragen von der ebenfalls 1991 neu gegründeten Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und der AdamMickiewicz-Universität in Posen/Poznań.108 Als Vorbild diente hier unter anderem die bereits 1950 entstandene Europäische Universität des Saarlandes,

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Monolog im Schatten des Zweiten Weltkriegs zum Polylog der global citizen. Kulturtransfer der polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum (1989/1990-2010), in: Dieter Bingen u.a. (Hg.): Erwachsene Nachbarschaft. Die deutsch-polnischen Beziehungen 1991 bis 2011. Wiesbaden 2011, S. 377-392. In der Gegenrichtung als ein Fallbeispiel in Polen etwa Żyliński, Leszek: Die Eigenart der polnischen Rezeption von Günter Grass. Oldenburg 2009. 1964 gegründet, engagierte sich die Robert Bosch Stiftung schon früh aktiv in den deutschpolnischen Beziehungen. Vgl. Rogall, Joachim (Hg.): Die Robert-Bosch-Stiftung und die Beziehungen zu den Ländern Mittel- und Osteuropas, 1974-2000. Stuttgart 2000. Das DPI wurde 1980 auf Initiative des Übersetzers Karl Dedecius (1921-2016), finanziert durch die Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz, die Stadt Darmstadt und den Bund, in Darmstadt gegründet. Es widmete sich in den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens vor allem literarischen und historischen, später dann überwiegend politikwissenschaftlichen und allgemein kulturellen Themen. Vgl. Mack, Manfred/Wierczimok, Jutta (Hg.): Zwanzig Jahre Deutsches Polen-Institut Darmstadt. Bilanz und Ausblick. Darmstadt 2000. Lawaty, Andreas/Mincer, Wiesław (Hg.): Deutsch-Polnische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart. Bibliographie (1900-1998). 4 Bde. Wiesbaden 2000. Neben den schon zu DDR-Zeiten gegründeten Polnischen Instituten in Ost-Berlin (gegr. 1956) und Leipzig (gegr. 1969) errichtete das polnische Außenministerium im Jahre 1993 eine ähnliche Einrichtung in Düsseldorf als weiteres Organ der auswärtigen Kulturpolitik. Vgl. Fortuna, Katarzyna (Hg.): 20 lat Instytutu Polskiego w Düsseldorfie / 20 Jahre Polnisches Institut Düsseldorf. Düsseldorf 2013. Ulatowski, Rafał: Das Weimarer Dreieck. Ein transnationales Thema in der deutschen und der polnischen Öffentlichkeit, in: Revue d’Allemagne et des pays de langue allemande 48 (2016) 2, S. 357-370. Experiment und Wissen: 25 Jahre Collegium Polonicum / Eksperyment i wiedza: 25 lat Collegium Polonicum. Poznań u.a. 2016; Knefelkamp, Ulrich (Hg.): „Blütenträume“ und

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so wie auch das Deutsch-Französische Jugendwerk Modell für das DeutschPolnische Jugendwerk stehen sollte, das ebenfalls 1991 gegründet wurde. Insgesamt kann somit für die 1990er Jahre sicherlich von einer stärkeren Institutionalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen gesprochen werden. Grundlage hierfür war auf deutscher Seite zumindest teilweise die Förderung der Zusammenarbeit mit Mittel- und Osteuropa im Rahmen des §96 des Bundesvertriebenengesetzes. Auf diesem Wege orientierten sich Forschungsinstitute wie das Nordostdeutsche Kulturwerk109 in Lüneburg oder das Marburger Herder-Institut110 teilweise neu. Auch gemeinsame „traditionskritische[..] Aufräumarbeiten“ wurden in den 1990er Jahren angegangen, wie das Beispiel einer Konferenz in Posen 1998 zeigt, auf der erstmals ein umfassender „Kassensturz“ von deutscher Ost- und polnischer Westforschung vorgenommen wurde.111 Die Frage nach der Persistenz jener politischen Legitimationswissenschaften in zeitgenössischen Forschungsparadigmen wurde dagegen selten mit allzu großer Offenheit reflektiert. Hinzu kamen die

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„Wolkenkuckucksheim“ in „Timbuktu“. 10 Jahre Europa-Universität Viadrina 1991-2001. Berlin 2001. 1951 als Nordostdeutsches Kulturwerk (NOKW) in Lüneburg gegründet, 2001 überführt in das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Nordosteuropas (IKGN) als An-Institut der Universität Hamburg. Vgl. hierzu das an die Sektion „Deutsche ‚Ostforschung‘ – Ihre Bilder und Vorstellungen von der Geschichte des polnischen Nachbarn (1918-1989)“ auf dem Historikertag 1996 anknüpfende Themenheft der Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung  46 (1997) 3, die erst 1995 ihren vorherigen Namen „Zeitschrift für Ostforschung“ abgelegt hatte. Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.unioldenburg.de/53980.html (02.06.2015). So in der daraus hervorgegangenen Publikation Jaworski, Rudolf: Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung in ihren historisch-politischen Bezügen, in: Jan  M.  Piskorski/Jörg Hackmann/Ders. (Hg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich. Osnabrück 2002, S.  11-24, hier S.  12. Vgl. dazu auch Krzoska, Markus: Deutsche Ostforschung – polnische Westforschung. Prolegomena zu einem Vergleich, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 52 (2003) 3, S. 398-419.

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Neugründungen des GWZO112 in Leipzig, des DHI Warschau113 und des BoKG114 in Oldenburg. Auch die von verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen getragenen Akademien in den deutschen Bundesländern sowie in Polen verstärkten ihre Aktivitäten bezüglich der deutsch-polnischen Kontakte und trugen so maßgeblich dazu bei, dass die neue Ausrichtung gerade auch der historischen Forschung in Deutschland wie in Polen ein breiteres Publikum erreichte. Die Dominanz von Bi- gegenüber Multilateralismus kann sowohl politisch als auch institutionell als ein weiteres Merkmal der 1990er Jahre ausgemacht werden, welches auch auf die Art und Weise, wie Geschichtswissenschaft betrieben wurde, abfärbte. Als einer der ersten versuchte sich hier der Stettiner Mediävist Jan M. Piskorski an einer neuen Programmatik für eine entmythisierte deutsch-polnische Beziehungsgeschichte.115 Die 1991 gegründete und in ihren Gremien paritätisch besetzte Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit116 engagierte sich neben bereits etablierten Akteuren wie

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1996 in Leipzig gegründetes Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas. Vorgänger war der 1992 eingerichtete Forschungsschwerpunkt „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“, der in Teilen an die Aktivitäten der Akademie der Wissenschaften der DDR anknüpfte. Seit 2017 firmiert das Institut unter dem Namen Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO). Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Siehe dazu auch das Nachwort von Dietlind Hüchtker und Friedrich Cain in diesem Band, insbes. S. 453-465. Das Bundesinstitut für ostdeutsche Kultur und Geschichte wurde 1989 gegründet und 2000 in Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) umbenannt und zu einem An-Institut der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Jan M. Piskorski (*1956) – ders.: Przeciw Nacjonalizmowi w badaniach naukowych nad przeszłością stosunków polsko-niemieckich, in: Przegląd Historyczny  81 (1990) 1/2, S. 319-324. 1991 per Regierungsabkommen gegründete Stiftung, die – finanziell ausgestattet mit umgewidmeten Mitteln aus westdeutschen Krediten an Polen der 1970er Jahre – seitdem gemeinsame deutsch-polnische Projekte kofinanziert. Vgl. Sajdak, Katarzyna (Hg.): Fundacja Współpracy Polsko-Niemieckiej / Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit 1991-2011. Warszawa 2011.

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der Bosch-, der ZEIT-Stiftung117 oder den Goethe-Instituten118 und finanzierte und förderte Wissenschafts- und Kulturaustausch in nicht unbedeutendem Maße. Die Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses in den Feldern der in den 2000er Jahren etwas unglücklich so benannten „deutschen Polenforschung“, und somit auch für den Bedarf an Mitarbeiter*innen der neu gegründeten Forschungsinstitute, erfolgte auch in den 1990er Jahren fast ausschließlich an den Universitäten. Die Zahl der Lehrstühle, die sich explizit mit polnischer Geschichte beschäftigten, war dabei nicht besonders hoch.119 Der Konsolidierungsprozess der Osteuropäischen Geschichte als Fach, der selbstverständlich eine unmittelbare Folge der Ereignisse zwischen 1989 und 1991 war, trug trotz der nicht unberechtigten Kritik Jörg Baberowskis120 aber dazu bei, dass insgesamt in diesem Jahrzehnt die Zahl derjenigen, die sich Polen widmeten, eher zunahm. Allein an der Professur Klaus Zernacks121 an der Freien Universität Berlin entstand zwischen 1989 und 2005 eine zweistellige Zahl polenbezogener Doktorarbeiten. Die institutionalisierte und somit systemkonforme historische und sozialwissenschaftliche Deutschlandforschung in Polen löste sich nach 1989 oftmals nur schwer von ihren ideologischen Scheuklappen. Zu Hilfe kam ihr dabei, dass viele ihrer Vertreter*innen immer schon nur notdürftig marxistisch übertünchte „nationale“ Positionen

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1964 gegründet, engagierte sich die Robert Bosch Stiftung schon früh aktiv in den deutschpolnischen Beziehungen, vgl. Rüdiger Stephan: Die Robert Bosch Stiftung und die deutschpolnischen Beziehungen, in: Werner Plum (Hg.): Ungewöhnliche Normalisierung. Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland zu Polen. Bonn 1984, S.  281-285. – Die 1971 gegründete ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius hat sich ab den 1990er Jahren intensiv im östlichen Europa engagiert. Zahlreiche deutsche Historiker*innen, die sich mit Polen beschäftigen haben dabei Promotionsstipendien der Stiftung erhalten, die auch eng mit der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder) verbunden war. Das Goethe-Institut wurde 1951 zur Förderung der deutschen Sprache im Ausland und der kulturellen Zusammenarbeit gegründet. Ende der 1980er und in den beginnenden 1990er Jahren gab es eine ganze Gründungswelle von Außenstellen im ehemaligen Ostblock. 1990 wurde das erste Goethe-Institut in Warschau eröffnet, 1992 in Krakau. Vgl. Kathe, Steffen R.: Kulturpolitik um jeden Preis. Die Geschichte des Goethe-Instituts von 1951 bis 1990. München 2005. Als Überblick liegt leider nur bis 1989 vor: Oberländer, Erwin (Hg.): Geschichte Osteuropas. Zur Entwicklung einer historischen Disziplin in Deutschland, Österreich und der Schweiz 1945-1990. Stuttgart 1992. Jörg Baberowski (*1961) – ders.: Das Ende der Osteuropäischen Geschichte. Bemerkungen zur Lage einer geschichtswissenschaftlichen Disziplin, in: Osteuropa  48 (1998) 8/9, S. 784-799. Klaus Zernack (1931-2017).

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vertreten hatten, wie es die Geschichte des Posener West-Instituts122 nach 1945 illustriert. Es zeigte sich aber doch, dass andernorts Wissenschaftler*innen der jüngeren Generation, die mit dem einst oppositionellen Lager verbunden waren, neue Zugänge suchten. Gerade im Kontext der deutsch-polnischen Historikerbeziehungen der 1990er Jahre sollte sich diese Annäherung auf vielen Ebenen deutlich zeigen, die Aufbruchstimmung war fast überall spürbar. Institutionelle Folgen sollte diese Zusammenarbeit erst zu Beginn des neuen Jahrtausends haben, vor allem durch die Gründung des Willy Brandt Zentrums123 in Breslau/Wrocław. Debatten Die historisch hohe Emotionalität in den Auseinandersetzungen um Geschichtsbilder und -narrationen ist dabei kein deutsch-polnisches Spezifikum der 1990er Jahre, ebenso wenig wie eine verstärkte Symbolpolitik, die nichtsdestotrotz 1994 die Rede vom „Versöhnungskitsch“ aufkommen ließ.124 Klaus Bachmann forderte, die Normalisierung der Beziehungen als eine solche anzuerkennen und auch Differenzen auszudiskutieren. Man solle sich darüber keine Illusionen machen, dass im lebensweltlichen Empfinden der Nachbarschaftsvertrag sowie die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze beispielsweise der Aufhebung der Visapflicht 1991 erheblich nachgestanden hätten.125 122

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Das Instytut Zachodni (Westinstitut), 1945 in Posen gegründete Forschungseinrichtung zur Beschäftigung mit den „Wiedergewonnenen Gebieten“ und den deutsch-polnischen Beziehungen. Vor 1989 propagandistisches Zentrum der national-kommunistischen „Westforschung“. Vgl. Zwierzycka, Romualda (Hg.): Instytut Zachodni. 50 lat. Poznań 1994. Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław / Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. W.  Brandta, 2002 als gemeinsame Gründung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Universität Wrocław ins Leben gerufen. Vgl. Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław in den Jahren 2002-2012. Wrocław 2010. 1994 von dem in Polen lebenden deutschen Journalisten Klaus Bachmann (*1963) ausgelöste Debatte darüber, ob die fortwährenden Reden über Versöhnung in ihrer Oberflächlichkeit der Komplexität der deutsch-polnischen Beziehungen nicht gerecht werden. Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muss von Polen ausgehen, in: taz vom 5. August 1994, S.  12; Hahn, Hans Henning/Hein-Kircher, Heidi/Kochanowska-Nieborak, Anna (Hg.): Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch. Marburg 2008. Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November  1990 & über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Vgl. Góralski, Witold  M. (Hg.): Historischer Umbruch und Herausforderung für die Zukunft. Der deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und Freundschaftliche

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Bisweilen wurde nach einer Phase der Euphorie die Rückkehr zu ungeklärten Fragen, wenn nicht als neue „Wende“, so doch als „Klimaverschlechterung“ und „Umschwung“ im deutsch-polnischen Verhältnis gewertet.126 Der „Vertreibungskomplex“127 wurde eines der zentralen Themen der polnischen Zeithistorie Mitte der 1990er Jahre, wobei die Fachhistorie, anders als bei der polnisch-jüdischen Thematik und anders als die schöngeistige Literatur, trotz der bereits Denkgrenzen aufweichenden Solidarność-Zeit kaum besser darauf vorbereitet schien als große Teile der polnischen Öffentlichkeit, die nach einer weitreichenden Verdrängung (mit Ausnahmen des Bischofsbriefs 1965128 oder von Stimmen wie Lipski) in den vorangegangenen Jahrzehnten die Thematik nun auch von politischer und publizistischer Seite aus prominent präsentiert bekamen.129 Für die SBZ/DDR und Polen behandelte die Dissertation von Philipp Ther das Thema erstmals eingehend.130 Viele international-kooperative

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Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Ein Rückblick nach zwei Jahrzehnten. Warschau 2011; Barcz, Jan/Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Akt historyczny. 30 lat Traktatu o potwierdzeniu granicy polsko-niemieckie na Odrze i Nysie Łużyckiej. Wrocław/Warszawa 2021. Vgl. Bachmann rückblickend mit einem Plädoyer für eine Stärkung des „Weimarer Dreiecks“: Bachmann, Klaus: Von der Euphorie zum Mißtrauen. Deutsch-polnische Beziehungen nach der Wende, in: Osteuropa 50 (2000) 8, S. 853-871. Ein durch die Robert Schumann Stiftung finanziertes Projekt mit diesem Namen mündete in der Dokumentation der Auseinandersetzung mit der Thematik in Polen: Borodziej, Włodzimierz/Hajnicz, Artur (Hg.): Kompleks wypẹdzenia. Kraków 1998. Vgl. auch Krzoska, Markus: Wypędzenie Niemców z Polski. Debata publiczna w Polsce i najnowsze wyniki badań naukowych, in: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 56 (2001) 2, S. 191-211, hier S. 203-210. Zur Diskussion in Polen bis 1990 vgl. Borodziej, Włodzimierz: Historiografia polska o „wypędzeniu“ Niemców, in: Polska 1944/1945-1989. Studia i materiały 2 (1996[7]), S. 249-269. Kerski, Basil/Kycia, Thomas/Żurek, Robert (Hg.) „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965 und seine Wirkung. Osnabrück 2006; poln.: „Przebaczamy i prosimy o przebaczenie“. Orędzie biskupów polskich i odpowiedź niemieckiego episkopatu z 1965 roku. Geneza, kontekst, spuścizna; Gawlitta, Severin: „Aus dem Geist des Konzils! Aus der Sorge der Nachbarn!“ Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe von 1965. Marburg 2016. Bömelburg, Hans-Jürgen: Gestörte Kommunikation. Der polnische Monolog über Flucht und Vertreibung und seine deutsch-polnischen Ursachen, in: Mittelweg  36 (2005) 3, S.  35-52, hier S.  38-41; Kraft, Claudia: Erinnerung im Zentrum und an der Peripherie. Zwangsmigrationen als Gegenstand von zentraler Geschichtspolitik und regionalen Initiativen in Polen, in: Peter Haslinger/K.  Erik  Franzen/Martin Schulze Wessel (Hg.): Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989. München 2008, S. 59-75; auch Röger, Maren: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989. Marburg 2011, v.a. S. 56-78. Ther, Philipp: Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956. Göttingen 1998.

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Ansätze entstanden zwar erst im neuen Jahrtausend, waren aber durch die politische, gesellschaftliche sowie literarische Beschäftigung damit bereits angelegt.131 Sie wurden somit neben jenem memory-Boom und vielleicht auch den „Grenzland/Pogranicze“-Forschungen zu einem der Aushängeschilder deutsch-polnischer Kooperation am Anfang des 21. Jahrhunderts. 1989 als Chiffre für eine „Entfesselung der Erzählungen“ in einem sich erst langsam etablierenden gesamteuropäischen Diskursraum, welcher durch die Dissident*innen und den Austausch auf Konferenzen wie denen der Schulbuchkommission132 teils schon vorbereitet war, sollte also auch historiographisch neue Gräben und Konfliktlinien aufwerfen, sei es verständnisvoll oder schonungslos.133 Produkte der Bemühungen zum Umgang hiermit kamen dann vermehrt erst im neuen Jahrtausend heraus, was nicht weiter überraschen darf, führt man sich beispielsweise die nun seit 20 Jahren andauernde, deutschpolnisch dominierte Kontroverse über ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ und seines Ortes vor Augen. Als emblematischer Ausdruck ihrer Zeit kann hier auf die in einer Art Anthologie gemündete deutsch-polnische Kooperationsunternehmung „Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern

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Kurcz, Zbigniew: Aussiedlungen und Umsiedlungen in den östlichen und westlichen Grenzgebieten Polens, in: Helga Schultz (Hg.): Bevölkerungstransfer und Systemwandel. Ostmitteleuropäische Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg. Berlin 1998, S. 39-54; Beer, Mathias: Umsiedlungen, Deportationen und Vertreibungen im Europa des 20. Jahrhunderts. Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit, in: Dieter Bingen/Włodzimierz Borodziej/ Stefan Troebst (Hg.): Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Wiesbaden 2003, S.  208-214; Żytyniec, Rafał: Heimatverlust in der polnischen und deutschen Literatur nach 1945 – ein Topos, zwei Erinnerungskulturen, in: Bernd Neumann (Hg.): Literatur, Grenzen, Erinnerungsräume. Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraums als einer Literaturlandschaft. Würzburg 2004, S. 211-245. Unter der Schirmherrschaft der UNESCO 1972 gegründete Kommission deutscher und polnischer Historiker*innen sowie Geograph*innen. Vgl. Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015. Auch Guth, Stefan: Geschichte als Politik. Der deutsch-polnische Historikerdialog im 20. Jahrhundert. Berlin/Boston 2009, S. 373-454. Schlögel, Karl: Nach der Rechthaberei. Umsiedlung und Vertreibung als europäisches Problem, in: Dieter Bingen/Włodzimierz Borodziej/Stefan Troebst (Hg.): Vertreibungen europäisch Erinnern? Historische Erfahrungen, Vergangenheitspolitik, Zukunftskonzeptionen. Wiesbaden 2003, S. 11-38, 16f.

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sich“ verwiesen werden.134 Nach einem von der Stiftung „Karta“135 und dem Karlsruher „Verein der Freunde Polens“ ausgeschriebenen Wettbewerb, der für sich die am 28. April 1995 gehaltene Rede des damaligen polnischen Außenministers und Auschwitzüberlebenden Władysław Bartoszewski vor Bundesrat und Bundestag und dessen Rezeption als Auslösemoment reklamiert, wurden in Deutschland und Polen Stimmen von 214 Zeitzeug*innen gesammelt und von einer paritätisch besetzten deutsch-polnischen Jury nach unterschiedlichen Kriterien prämiert und für den letztlich bei „Borussia“ erschienenen Band ausgewählt. In vergleichender Perspektive muss hier der Hinweis genügen, dass eine intensive Debatte über Zwangsmigrationen, Flucht und Vertreibung in Polen wesentlich später als in der Tschechischen Republik einsetzte.136 Allerdings gilt es hier zu berücksichtigen, dass in den 1990er und frühen 2000er Jahren eine Reihe zentraler Arbeiten zum Schicksal von Deutschen auf polnischem Territorium nach 1945 publiziert wurden, die qualitativ keine Äquivalente auf deutscher Seite besaßen.137 Der politische Einfluss des Bundes der Vertriebenen sowie der Landsmannschaften war enorm. 1998 fand er in der Entschließung des Bundestages, die finanzielle Forderungen der Vertriebenen ziemlich direkt unterstützte, und der ablehnenden Antwort der polnischen Sejms, der noch einmal die Unumstößlichkeit des politischen Konsenses zu Grenz- und Eigentumsfragen unterstrich, einen Kulminationspunkt. Eine große Quellenedition138 wurde dann nach einem mehrjährigen Projekt als Gemeinschafts134 135

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Bömelburg, Hans-Jürgen/Stößinger, Renate/Traba, Robert (Hg.): Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich. Olsztyn 2000; poln. Ausgabe: Wypędzeni ze Wschodu. Wspomnienia Polaków i Niemców. Olsztyn 2001. Die 1990 gegründete Stiftung „Karta“ in Warschau ging auf einen seit 1982 existierenden Untergrundverlag zurück, dessen Vertreter es sich zum Ziel gesetzt hatten, die neuere Geschichte Polens ohne Einschränkungen und ‚von unten‘ zu dokumentieren. „Karta“ gehört zu den Wegbereitern der oral history in Polen. Majewski, Piotr  M.: Zwischen Versöhnung und Verteidigung nationaler Interessen. Die polnische Debatte über die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem Hintergrund der Diskussionen in der Tschechischen Republik 19892003, in: Peter Haslinger/K.  Erik  Franzen/Martin Schulze Wessel (Hg.): Diskurse über Zwangsmigrationen in Zentraleuropa. Geschichtspolitik, Fachdebatten, literarisches und lokales Erinnern seit 1989. München 2008, S. 31-57. Siehe etwa Kochanowski, Jerzy: W polskiej niewoli. Warszawa 2001; Linek, Bernard: „Odniemczanie“ województwa śląskiego w latach 1945-1950. Opole 1997; Madajczyk, Piotr: Przyłączenie Śląska Opolskiego do Polski 1945-1948. Warszawa 1996; Stankowski, Witold: Obozy i inne miejsca odosobnienia dla niemieckiej ludności cywilnej w Polsce w latach 1945-1950. Bydgoszcz 2002. Von der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit sowie Robert Bosch Stiftung gefördertes, vom DHI Warschau koordiniertes Projekt: Borodziej, Włodzimierz/Lemberg, Hans (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven.  4 Bde.

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werk deutscher und polnischer Historiker*innen ebenfalls auf der Buchmesse 2000 präsentiert, wobei auch die in der Folge zur deutsch-polnischen Reizfigur schlechthin avancierende Präsidentin des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach im Publikum saß und bemerkte: „Wissenschaftler gehen offener mit dem Problem um als Politiker“139. In der bereits erwähnten Rede erinnerte Bartoszewski  50 Jahre nach Kriegsende in Anknüpfung an Lipski daran, „daß zu den Tätern auch Polen gehören“.140 Eine publizistische Debatte entfaltete sich in Polen mit besonderer Intensität dann im Sommer und Herbst desselben Jahres in Tagesund Wochenzeitungen. Dabei war die Reichweite der Debatten über polnische Verbrechen und Schuld bei Aussiedlungen und Vertreibungen von Deutschen ungleich größer als dies zum Beispiel für andere historisch nun aufgreifbare Themen- und Minenfelder galt, sie beschränkte sich dennoch weitestgehend auf die intellektuelle Öffentlichkeit.141 So wurde beispielsweise die Ende der 1990er Jahre einsetzende Debatte um polnische Schuld und Mitverantwortung am Holocaust auch durch Fernsehproduktionen und populärwissenschaftliche Publikationen begleitet, deren Aufmerksamkeitshöhepunkt letztlich aber erst mit Erscheinen von Jan Tomasz Gross’ Buch „Nachbarn“ im Jahr 2000/2001 erreicht war.142 Zuvor hatte eine TV-Dokumentation von Agnieszka Arnold das Thema bereits 1999 aufgenommen.143 Die Hitzigkeit, mit der diese Geschichtsdebatte in breiter Öffentlichkeit geführt wurde, war in Polen seit 1989 einmalig. Sie fand ihre Fortsetzung dann erst 2008 mit dem Erscheinen der polnischen

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Marburg 2000-2004; poln. Ausgabe: Niemcy w Polsce 1945-1950. Wybór dokumentów. 4 Bde. Warszawa 2000-2001. Zuvor auch Kranz, Jerzy/Bachmann, Klaus (Hg.): Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen. Bonn 1998 (poln.: Przeprosić za wypędzenie? O wysiedleniu Niemców po II wojnie światowej. Kraków 1997). Erika Steinbach (*1943). Zitiert nach Blasius, Rainer: Die Vertreibung der Deutschen. Eine Quellenedition aus polnischen Archiven, in: FAZ, 21.10.2000, S. 5. Bartoszewski, Rede. Zur publizistischen Auseinandersetzung vgl. Krzoska, Wypędzenie Niemców, hier S. 199203; Bömelburg, Der polnische Monolog, hier S. 41-44. Innenpolitische Debatte in Polen als Reaktion auf Jan Tomasz Gross’ (*1947) Buch „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. München 2001“ (poln. Original: Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka. Sejny 2000), in dem der amerikanischpolnische Soziologe nachgewiesen hatte, dass es polnische Einwohner des podlachischen Städtchens Jedwabne gewesen waren, die unter Aufsicht der deutschen Besatzer ihre jüdischen Mitbürger am 10. Juli 1941 auf dem Marktplatz zusammengetrieben und anschließend in einer Scheune am Ortsrand verbrannt hatten. Nationalkonservative Kreise lehnen diese Deutung bis heute ab. Zusammenfassend zur Debatte vgl. Polonsky, Antony/Michlic, Joanna (Hg.): The neighbors respond. The Controversy over the Jedwabne Massacre in Poland. Princeton 2004. Gdzie mój starszy syn Kain? (1999). Die zweite Dokumentation Arnolds (*1947) mit seit Ende der 1990er Jahre u.a. in Jedwabne geführten Interviews trug ebenfalls den Namen Sąsiedzi (2001).

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Ausgabe von wiederum Gross’ Buch „Fear“ über den polnischen Nachkriegsantisemitismus,144 und war von ihrer Form her am ehesten vergleichbar mit der Goldhagen-Debatte145 in Deutschland 1996, die ebenfalls durch Beteiligte und Themenstellung eine transnationale Dimension besaß, jedoch effektiv – wie auch im polnischen Fall – die Grenzen des jeweiligen nationalen Diskursraums über das historische Selbstverständnis nicht nachhaltig überschreiten sollte. Auf den ersten Blick galt dies in ähnlichem Maße für die oben bereits erwähnte Wehrmachtsausstellung, die – nach dem „Täterschock“ – zu der einsetzenden Überwindung der Fokussierung auf hochrangige Schreibtischoder Exzesstäter beitrug.146 Nachdem die Singularitätsthese infolge des „Historikerstreits“ nicht nur im deutschen Kontext die Oberhand gewonnen hatte, verzahnte sich die Ausstellung auch mit einer nach und nach raumgreifenden Auseinandersetzung mit eigener Kollaboration in den ehemals besetzten Ländern des Zweiten Weltkriegs, welche jedoch – gerade auch im polnischen Fall – zum Teil von unsäglichen Opferkonkurrenzdebatten begleitet wurde.147 Der damalige DHI-Mitarbeiter Bogdan Musiał, der sich später auch als Hauptgegenspieler von Gross in der Jedwabne-Debatte hervortun sollte, stellte in Bezug auf die Wehrmachtsausstellung vordergründig die Frage nach der korrekten Zuordnung einzelner ausgestellter Fotographien und Texterklärungen.148 In Polen sollte aber auch das Fehlen von auf polnischem Territorium begangenen Taten für Unverständnis sorgen, sodass es nicht zu 144 145

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Gross, Jan Tomasz: Fear. Anti-Semitism in Poland After Auschwitz. New York 2006 (poln.: Strach. Antysemityzm w Polsce tuż po wojnie. Historia moralnej zapaści. Kraków 2008). Daniel Goldhagens (*1959) Buch „Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust“ (New York 1996) löste u.a. in Deutschland eine heftige Debatte darüber aus, wie viele Deutsche am Genozid an den Juden beteiligt waren und ob das Prinzip der Kollektivschuld angewendet werden kann. Vgl. Schneider, Michael: Die „GoldhagenDebatte“. Ein Historikerstreit in der Mediengesellschaft. Bonn 1997; Frei, Norbert: Goldhagen, die Deutschen und die Historiker. Über die Repräsentation des Holocaust im Zeitalter der Visualisierung, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München 2003, S. 138-151. Vgl. Große Kracht, Klaus: Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945. Göttingen 2005, S. 155. Borodziej, Włodzimierz: Abschied von der Martyrologie in Polen?, in: Martin Sabrow/ Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München 2003, S. 288-305. Bogdan Musiał (*1960) – ders.: Bilder einer Ausstellung. Kritische Anmerkungen zur Wanderausstellung „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999) 4, S. 563-591. Pięciak, Wojciech: Goldhagen, die Wehrmachtsausstellung und die jüngsten Historikerdebatten aus dem polnischen Blickwinkel, in: Ansichten. Jahrbuch des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt 9 (1998), S. 15-31.

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einer Präsentation der Ausstellung in Warschau kam, sondern 2004/2005 eine neue durch das DHI in Kooperation mit dem IPN149 konzipierte Ausstellung diese Lücke zu schließen versuchte.150 Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt betrifft in diesem Zusammenhang die weitgehende Öffnung der Archive und die zwar unaufhaltsame, wenn auch mit unterschiedlich hohem Tempo voranschreitende (in Polen vom IPN mitangestoßene) Umstellung von analoger zu digitaler Datenverarbeitung, die in den 1990er Jahren nicht nur technologisch bedeutende Neuerungen brachte, sondern zu einer Anpassungsnotwendigkeit des geschichtswissenschaftlichen Arbeitens und Denkens führte (und noch immer führt).151 Das vordergründig für die Aufarbeitung der Akten der Sicherheitsdienste gegründete IPN – heute der Regierungstanker im Meer polnischer Wissenschaftsfinanzierung und -lenkung – wurde 1998 mit einem mindestens dreifachen Auftrag ausgestattet, wissenschaftlich/archivarisch, pädagogisch sowie juristisch tätig zu werden. In dieser Umfänglichkeit der ihm angetragenen Funktionen ging es über die schon 1991 eingerichtete deutsche Stasiunterlagenbehörde152 hinaus, auch, da das IPN jene doppelte Okkupationserfahrung mit abdecken sollte, welche durchaus in der Tradition der Reaktivierung der Totalitarismustheorie sowohl im östlichen Europa als auch in Deutschland (siehe die Gründung des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung 1993) stand.153 Jüngst wurde von der Lubliner Abteilung des IPN erstmals versucht, die Geschichtswissenschaft in Polen seit 1989 einer systematischen, multiperspektivischen Betrachtung zu unterziehen, sowohl thematisch als auch

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Instytut Pamięci Narodowej (Institut für Nationales Gedenken). 1998/1999 in der Tradition der „Hauptkommission für die Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen in Polen“ gegründete zentrale wissenschaftliche Einrichtung, die historische Forschung, öffentliche Bildungsarbeit und juristische Ermittlungstätigkeit zur Zeitgeschichte Polens zwischen 1939 und 1989 betreibt. Vgl. Lau, Erinnerungsverwaltung, S. 145-280. Die zunächst im Warschauer Königsschloss gezeigte Ausstellung wanderte danach durch zahlreiche Orte in Polen und in Deutschland. Vgl. Böhler, Jochen (Hg.): „Größte Härte …“ Verbrechen der Wehrmacht in Polen September/Oktober 1939. Ausstellungskatalog. Osnabrück 2005. Ernst, Wolfgang: Medien- und/oder Geschichtszeit. Vom Ende der Erzählbarkeit, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft (2017) 3 [Nullerjahre], S. 93-100. 1990 errichtetes Archiv für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), umgangssprachlich nach der jeweils leitenden Person der Behörde benannt, somit zunächst nach Pastor Joachim Gauck (*1940). Mittelfristig werden die Bestände ins Bundesarchiv überführt werden. Vgl. Friszke, Andrzej: Spór o PRL w III Rzeczypospolitej (1989-2001), in: Pamięć i Sprawiedliwość 1 (2002) 1, S.  9-28; auch die daran anschließende Diskussion: Polityka wobec historii, historiografia wobec polityki. PRL i III Rzeczpospolita, in: Ebd., S. 29-54.

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institutionell und methodisch.154 Dabei steht fest, dass die Kontroversen darüber, wie die Geschichtswissenschaft der Zeit der Volksrepublik zu bewerten sei, in den 1990er und 2000er Jahren heftig und wiederholt geführt wurden.155 Nicht erst im Rückblick wurde dabei deutlich, dass ganze Bereiche der eigenen historiographischen Traditionen um Jahrzehnte zurückgeworfen wurden. Neben der Wirtschafts- und Globalgeschichte gehörten hierzu insbesondere die Geschichtstheorie und ganz allgemein interdisziplinäre Forschungen, die – unter marxistischem Generalverdacht stehend – ihren Anschluss an die internationalen Diskurse verloren.156 Setzte man sich nun eine deutsch-polnische bzw. besser: abwechselnd eine deutsche und eine polnische Brille auf, so wäre – wenn man denn möchte – einerseits jene Frankfurter Buchmesse im Jahr 2000 als ein das in diesem Band im Mittelpunkt stehende Jahrzehnt beschließende Ereignis wählbar. Auf einer anderen, politischen Ebene wären natürlich der Nato- (1999) sowie EU-Beitritt (2004) Polens als weitere markante Einschnitte denkbar, die weniger direkten Einfluss auf die Geschichtswissenschaft in beiden Ländern hatten als vielmehr auf das Selbstverständnis der Gesellschaften im Sinne einer „Neuen Ordnung auf dem alten Kontinent“157. Die Historisierung der jüngsten Zeitgeschichte, wozu der vorliegende Band einen Beitrag leisten soll, stellt alle Beteiligten vor Herausforderungen, die in der Zunft vielfach diskutiert wurden. Die eigene Zugehörigkeit zur Erlebnisgeneration und somit das Dilemma von fehlender Distanz zum Geschehenen erfordern ein höheres, zumindest anderes Maß, mit dem sich um wissenschaftliche Objektivität bemüht werden muss, als dies für ältere Epochen der Fall ist. Zeugnissen lebender, an den Geschehnissen beteiligter Personen kommt damit ein wichtiger Stellenwert zu, die aber auch danach verlangen, problematisiert, kontextualisiert und gewichtet zu werden.

154 155

156

157

Kruszyński, Marcin u.a. (Hg.): Klio na wolności. Historiografia dziejów najnowszych po 1989 roku. Lublin 2016. Siehe dazu etwa Stobiecki, Rafał: Historiografia PRL. Zamiast podręcznika. Łódź 2020; ders.: Die Zeitgeschichte in der Republik Polen seit 1989/90, in: Alexander Nützenadel/ Wolfgang Schieder (Hg.): Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven in Europa. Göttingen 2004, S. 329-346. Ders.: Polen – Zeitgeschichte seit 1989/90, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.04.2011, https://docupedia.de/zg/Polen_-_Zeitgeschichte_seit_1989. (29.01.2021). Zuletzt gab es jedoch ernsthafte Bestrebungen, auch die methodischen Beiträge der Zeit der Volksrepublik historiographisch zu würdigen. Siehe dazu vier Beiträge in „Historyka. Studia Metodologiczne  50 (2020)“ für das Wirken des Wirtschaftshistorikers Jerzy Topolski (1928-1998). Ther, Ordnung.

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Nicht zuletzt haben sich Historiker*innen der „langen Geschichte von 1989“ wissensgeschichtlich mit dezidiert soziologischem Interesse genähert.158 Selbstmemorialisierung Im Jahr 2002 erschien eine Sondernummer der Zeitschrift „Borussia“. Sie feierte nicht nur eine Dekade der Existenz des gleichnamigen Vereins und seines Publikationsorgans, sondern sollte dabei zugleich eine Bilanz des geschichtswissenschaftlichen Feldes zwischen Deutschland und Polen nach 1990 ziehen.159 Damit verbunden befleißigten sich die Verantwortlichen einer Form, die in der polnischen Geschichtswissenschaft als ankieta etabliert ist, einer Sammlung von kurzen reflektierenden Stellungnahmen besonders zu Fragen des eigenen Faches. Programmatisch war der Band dieser polnischdeutschen Stellungnahmen explizit mit der Hoffnung verbunden, dass „unsere Leistungen der vergangenen zehn Jahre auch in der Zukunft nicht ignoriert werden.“160 Der Versuch von Historiker*innen, ihre Zusammenarbeit im deutschpolnischen Kontext zu thematisieren, begann also noch auf der Schwelle eben jener ausgehenden Dekade, die sie sich selbst als Thema schufen. Die Bilanz, die sie zogen, bestand zu nicht unerheblichen Teilen aus der Sammlung von Forschungsdesiderata und zukünftigen Aufgaben. Dies alles geschah jedoch eben unter dem dräuenden memento, die Errungenschaften der 1990er Jahre nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So war es weniger eine Selbsthistorisierung als eine Selbstmemorialisierung, die die Autor*innen umgehend anstrebten – und es entbehrt nicht einer feinen Ironie, dass sich darin die gleiche Gruppe von Historiker*innen engagierte, die nur kurze Zeit später teils federführend die deutsch-polnische Erinnerungsgeschichte in den thematischen wie den methodischen Fokus ihres Arbeitens rückte beziehungsweise sich daran maßgeblich beteiligte. Den Fokus auf die Erinnerungsgeschichte mag 158

159 160

Brückweh, Kerstin/Zöller, Kathrin: Transformation Research and the Longue Durée of 1989. Combining Qualitative and Quantitative Data, in: Przegląd Socjologii Jakościowej 15 (2019) 1, S.  72-91. Siehe auch das von Michal Kopeček und Ned Richardson-Little herausgegebene Themenheft des Journal of Modern European History 18 (2020) 3 „(Re-) constituting the State and Law during the ‘Long Transformation of 1989’ in East Central Europe“. Für die ostdeutsche Gesellschaft hier beispielhaft die Projektdokumentation: Brückweh/Villinger/Zöller (Hg.), Die lange Geschichte. Borussia (2002) 27, vgl. etwa hierin Traba, Robert: Dialog oder mehr?, S. 3-5. Borodziej, Włodzimierz: Die deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert in der Historiographie des vergangenen Jahrzehnts, in: Ebd., S. 9-15, S. 15.

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man in erster Linie als eine Schwerpunktverlagerung von historiographischen Erkenntnisinteressen und weniger als einen harten innerfachlichen Bruch gegenüber vorherigen Ansätzen verstehen. Denn auch wenn diese „Geschichte zweiten Grades“ die Erinnerung epistemologisch überformt und systematisiert, entspricht sie auf ihre Weise ebenso wie alle anderen heuristischen Modelle der Notwendigkeit von Leitnarrativen und befriedigt zugleich das chronische Bedürfnis der Geschichtswissenschaften, als gesellschaftliche Leitwissenschaft wahrgenommen zu werden.161 Für die Zeitgeschichte stellt sich überdies angesichts der oral history und dem Problem des Umgangs mit Zeitzeugenschaft die Frage nach der Verquickung von geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis und Erinnerung.162 Nichtsdestoweniger ist das schon immer eng miteinander verbundene „inzestuöse Paar Geschichte–Erinnerung“163 seit den 1970er Jahren zu besonderer Innigkeit gelangt. In den 1980er und vor allem dann in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren fand dabei der historiographische Enthusiasmus für die „Geschichte zweiten Grades“ im Kontext eines – bis heute anhaltenden – gesamtgesellschaftlichen Erinnerungsbooms seinen vorläufigen frenetischen Höhepunkt.164 Auch die blitzartige Selbstmemorialisierung der polnisch-deutschen Geschichtswissenschaften der 1990er Jahre durch deren Vertreter im Jahre 2002 entkommt dieser Tendenz nicht. Zugleich verweist sie damit auf eine klimaktische Logik, die Hermann Lübbe schon 1991 als „Komplementärzusammenhang von steigender Neuerungsrate einerseits und wachsendem Vergangenheitskonservierungsinteresse andererseits“ beschrieben hat.165 Die Beschleunigung166 als konstitutiver Bestandteil einer Hochmoderne, ganz besonders dann auch einer für die Zeit ab den 1970er Jahren konstatierten

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Górny, Maciej: Die Historiographie im Gedächtnis und das Gedächtnis der Historiographie, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 4 (Reflexionen). Paderborn 2013, S. 205-220, S. 218. Vgl. etwa Jarausch, Konrad H.: Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskonkurrenz oder Interdependenz?, in: Ders./Martin Sabrow (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt am Main 2002, S. 9-37. Dosse, François: L’empire du sens. L’humanisation des sciences humaines. Paris 1997, S. 271. François, Étienne: Commémorer en Europe, in: Inflexions  25 (2014) 1, S.  71-77; Droit, Emmanuel: Les lieux de mémoire germano-polonais, ou la fin d’un moment historiographique?, in: Revue d’histoire moderne & contemporaine 64 (2017) 1, S. 85-96. Hermann Lübbe (*1926) – ders.: Im Zug der Zeit. Verkürzter Aufenthalt in der Gegenwart. 3. Aufl. Berlin/Heidelberg 2003, S. 3. Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main 2005.

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„flüssigen“ Moderne bedingt den oben schon erwähnten „Präsentismus“.167 Innerhalb dessen setzten die Akteur*innen jedoch der ständigen Beschleunigung und rapide abnehmenden Halbwertzeit ihrer Gegenwart auch deren Konservierung in entsprechendem Tempo entgegen. So wird jeglichem Geschehenen bereits in seinem Moment des Auftretens eine retrospektive Dimension verliehen, die das unmittelbare Erinnern des Geschehens als Vergangenem noch vor dessen eigenem Vergehen hervorbringt.168 Folgerichtig wurde nicht nur die Themen- und Methodenwahl von Historiker*innen vom Prozess kurzgetakteter Erinnerungstätigkeit unter den Bedingungen der Beschleunigung ganz allgemein erfasst. Auch die historischen Wissenschaften selbst haben sich zusehends ihrer eigenen Selbstmemorialisierung unterzogen. Allein mit Blick auf den deutsch-polnischen Wissenschaftsaustausch im Besonderen wie die Osteuropäische Geschichte im etwas Allgemeineren lässt sich entsprechend eine erhöhte reflexive Publikationstätigkeit seit den beginnenden 2000er Jahren feststellen. Hierbei geht es nicht nur, aber durchaus auch und nicht nur randständig, um eben jenes kaum vergangene Jahrzehnt, zu dessen Hervortreten als Erinnerungseinheit auch diese Bände beitragen. In diesem Zusammenhang ist jedoch zwischen der methodisch-theoretisch abstrahierten Standortbestimmung169 und der expliziten und auf einzelne Individuen fokussierten Erinnerungsnarration170 oder auch einer Mischform171 zu unterscheiden. Dass dabei nicht zuletzt Festschriften – wie auch der vorliegende Band – oder Jubiläen im Allgemeinen gerade die Form individualisierter Erinnerung induzieren, ist keine Überraschung. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, gerade die Form der individuellen Erinnerung im wissenschaftsinternen Kontext allein auf 167 168 169

170 171

Hartog, Régimes d’historicité. Zu einem Kumulations- und Endpunkt der „Hochmoderne“: Herbert, Ulrich: Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007) 1, S. 5-21. Hartog, Régimes d’historicité, S. 114. Creuzberger, Stefan u.a. (Hg.): Wohin steuert die Osteuropaforschung? Eine Diskussion. Köln 2000; Ivanišević, Alojz u.a. (Hg.): Klio ohne Fesseln? Historiographie im östlichen Europa nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Wien u.a. 2002 (Österreichische Osthefte  44 (2002) 1/2); Antohi, Sorin/Trencsényi, Balázs/Apor, Péter (Hg.): Narratives Unbound. Historical Studies in Post-Communist Eastern Europe. Budapest/New York 2007. Orłowski, Hubert (Hg.): Moje Niemcy – moi Niemcy. Odpominania polskie. Poznań 2009; Danyel, Jürgen/Behrends, Jan  C. (Hg.): Grenzgänger und Brückenbauer. Zeitgeschichte durch den Eisernen Vorhang (Festschrift für Christoph Kleßmann). Göttingen 2019. Nur mit Bezug auf den deutsche Kontext: Lindenberger, Thomas/Sabrow, Martin (Hg.): German Zeitgeschichte. Konturen eines Forschungsfeldes (Festschrift für Konrad Jarausch). Göttingen 2016.

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die gedruckte Nostalgie von Altersgenossen eines in die Jahre gekommenen Universitätslehrers oder einer -lehrerin zu reduzieren. Hubert Orłowski etwa hat selbstreflexiv zu den von ihm herausgegebenen Selbstreflexionen geisteswissenschaftlicher Akteur*innen der deutsch-polnischen Beziehungen bemerkt, dass sein Band gerade keiner musealisierten Erinnerungskultur Vorschub leisten solle.172 Selbstbespiegelung Autobiographische Entwürfe von Historiker*innen im 20. Jahrhundert fanden auf den ersten Blick im Allgemeinen ihre Schreibanlässe in gesellschaftlichen und systemischen Umbrüchen. Für die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft galt dies für jene Fachvertreter*innen, die in der einen oder anderen Form die eigene lebensgeschichtliche Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus zu interpretieren suchten.173 Komplementär dazu fanden sich dann ab den 1990er, vor allem dann in den frühen 2000er Jahren die Autobiographien verfolgter und emigrierter Historiker*innen, die altersbedingt ihre Zeitzeugenschaft verewigten.174 Annähernd zeitgleich erfasste auch viele ehemalige DDR-Historiker*innen das Bedürfnis, ihre Lebensgeschichte nach dem Systembruch von 1989/90 einer „Selbstprüfung“ zu unterziehen175 oder auch mit weniger selbstkritischer Distanz den rechten Sinn zu verleihen.176 Auch 172 173

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175 176

Hubert Orłowski (*1937) – ders.: Odpominania polskie, in: Ders. (Hg.): Moje Niemcy, S. 13-26, S. 18f. Sabrow, Martin: Der Historiker als Zeitzeuge. Autobiographische Umbruchsreflexionen deutscher Fachgelehrter nach 1945 und 1989, in: Ders./Konrad  H.  Jarausch (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt. Frankfurt am Main 2002, S. 125-152. Gay, Peter: My German Question. Growing Up in Nazi Berlin. New Haven 1998; Iggers, Wilma und Georg: Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten. Göttingen 2002; Hobsbawm, Eric: Interesting Times. A Twentieth-Century Life. London 2002; Stern, Fritz: Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München 2007. Zu den diversen Motivationen für das Anfertigen von Autobiographien siehe Depkat, Volker: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. München 2007, S. 65-128. Klein, Fritz: Drinnen und Draußen. Ein Historiker in der DDR – Erinnerungen. Frankfurt am Main 2000, S. 13. Kowalczuk, Ilko-Sascha: Rezension zu Schmidt, Walter: Erinnerungen eines deutschen Historikers. Vom schlesischen Auras an der Oder übers vogtländische Greiz und thüringische Jena nach Berlin. Berlin 2018, in: H-Soz-Kult, 10.04.2019, https://www. hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28109 (08.01.2021); ders.: Betrogen von der Wende? Der Historiker Siegfried Prokop. Eine Buchkritik von Ilko-Sascha Kowalczuk, in: Deutschland-Archiv online, 07.01.2021, https://www.bpb.de/324990 (08.01.2021).

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im Zusammenhang mit dem Problem, wie der eigene Lebensweg im Angesicht von politisch-gesellschaftlichen Umbrüchen erzählt werden kann, überrascht es dabei nicht, dass auch Historiker*innen nur enttäuschend normale Menschen sind. Martin Sabrow hat mit Blick auf Historikerautobiographien entsprechend formuliert, dass sich hier „sinnweltliche[r] Gegenwartsanspruch und fachliche[r] Objektivierungsanspruch“ mit „antagonistische[r] Inszenierung der autobiographischen Beziehung von Ich und Umwelt und schließlich ihre[r] authentifizierende[n] Präsentation“ zu einer Kohärenz schaffenden Narration verbinden.177 Das Verlangen, fachliche wie persönliche und gesellschaftlich-politische Stränge zu einer autobiographischen Erzählung zusammenzuführen, erfasste in erheblichem Maße dabei auch die polnischen Historiker*innen. Insbesondere seit den 2000er Jahren hat hier eine ganze Welle von autobiographischen Veröffentlichungen von Historiker*innen eingesetzt, die zwischen der Mitte der 1920er und der Mitte der 1930er Jahre geboren worden sind.178 Diese Lebenserzählungen wiederum umfassen in der Regel gleich mehrere Brüche, so die deutsche Besetzung und Verfolgung, teils noch Aktivitäten in der polnischen Heimatarmee (AK)179, die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus, durchgehend oppositionelle Erfahrungen in der Volksrepublik und schließlich den Umschwung der Jahre 1989/90. Die in einem Text kohärent gemachte Erzählung eines Lebens in den erwähnten Autobiographien steht 177 178

179

Sabrow, Der Historiker als Zeitzeuge, S. 145. Beispielsweise: Kula, Witold: Rozdziałki, hg. v. Marcin Kula. Warszawa 1996; Serczyk, Jerzy: Minęło życie. Toruń 1999; Mączak, Antoni: Historia jest we mnie. Warszawa 2004; Dunin-Wąsowicz, Krzysztof: Historia i trochę polityki. Wspomnienia. Warszawa 2006; Walicki, Andrzej: Idee i ludzie. Próba autobiografii. Warszawa 2010; Holzer, Jerzy: Historyk w trybach historii. Kraków 2013; Modzelewski, Karol: Zajeździmy kobyłę historii. Wyznania poobijanego jeźdźca. Warszawa 2013; Salmonowicz, Stanisław: Życie jak osioł ucieka. Wspomnienia. Gdańsk 2014; Borejsza, Jerzy: Ostaniec czyli ostatni świadek. Warszawa 2018. Diese Reihe setzt sich nun auch mit der jüngeren Generation fort: Kula, Marcin: Wizytówka historyka. Warszawa 2021. Bezeichnenderweise scheint ansonsten das Autobiographiebedürfnis in erster Linie und gemessen an der Zahl der Historikerinnen in der Volksrepublik überproportional Männer erfasst zu haben. Zu Autobiographien von Historikerinnen vgl. etwa Brodowska-Kubicz, Helena: Z chłopskiej łąki. Wspomnienia. Łódź 1994; posthum publiziert: Śreniowska, Krystyna: Moje życie, hg. v. Jolanta Kolbuszewska und Rafał Stobiecki. Łódź 2018; teils autobiographisch: Bogucka, Maria: Ludzie z Kresów. Warszawa 2010. Die Polnische Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) war der militärische Zweig des polnischen Untergrundstaates, der gegen die deutsche Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkriegs kämpfte. Von der Sowjetunion wurden in der Folge viele Mitglieder entwaffnet, deportiert oder exekutiert. Vgl. Chiari, Bernhard (Hg.): Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg. München 2003.

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unter der Bedingung eines „Referentialitätspaktes“, denn ihr „Ziel ist nicht die einfache Wahrscheinlichkeit, sondern die Ähnlichkeit mit dem Wahren.“180 Im polnischen Kontext hat sich dabei ab den 1970er Jahren die Suche nach einer vermeintlichen Authentizität der autobiographischen Erzählung in einem neuen Genre zugespitzt. Das sogenannte „Gespräch im Fluss (wywiad rzeka)“, ausführliche Interviewbände, wahlweise auch als „Gespräch im Delta (wywiad delta)“ mit mehreren Gesprächspartner*innen, wurde zeitweise sogar zur wichtigsten Form „gesprochener Memoiren“.181 Gerade die Suggestion persönlicher Anwesenheit und persönlichen Zeugnisses in direkter Rede bildete unter den Bedingungen der Volksrepublik einen Kontrast zu offiziellen propagandistischen Aussagen.182 So erwuchs die Popularität von Gesprächsbänden in den 1970er und 80er Jahren aus dem Prinzip des Fragens und der Dialogizität gegen ein herrschaftlich monologisch ausgerichtetes Politik- und Gesellschaftsmodell.183 Entsprechend war es gerade die Gesprächsform, in der etwa 1986 die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus aufzunehmen versucht wurde.184 Im selben Jahr, in dem dieser – heute legendäre – Band über die „heimatliche Schande“ im Verlag der Pariser Exilzeitschrift „Kultura“ erschien, war in der Zeitschrift selbst ein autobiographisch gefärbtes Gespräch mit dem britischen Historiker Norman Davies zu lesen.185 Und auch wenn für die 1990er Jahre gleichzeitig „die Rückkehr der Autobiographie“ in monographischer Form für Polen konstatiert wurde,186 ist die Welle von „Gesprächen im Fluss“ mit den 1990er Jahren nicht abgebrochen. Dies gilt sowohl für eine eher journalistisch orientierte Ausformung des Genres wie für Gespräche, die von Fachvertreter*innen oder Journalist*innen mit Fachvertreter*innen besonders wieder ab den 2000er Jahren geführt wurden und werden.187 Allgemein ist 180 181 182 183 184 185 186 187

Lejeune, Philippe: Le pacte autobiographique. Paris 1975, S. 36. Maciąg, Kazimierz: W kręgu problematyki „pamiętników mówionych“. Rzeszów 2001, S.  27-43, hier zur Kritik an der verbreiteten Terminologie des „wywiad rzeka“ und der Betonung des Genres als „gesprochene Memoiren“ S. 32. Różański, Marcin: Wywiad-rzeka. Między teorią a praktyką gatunku, in: Białostockie Zeszyty Literackie 13 (2018), S. 163-177, hier S. 168. Czapliński, Przemysław: Rozmowa przeciw ekstazie. O kłopotach z autobiografią (nie tylko) komunistyczną, in: Teksty drugie 6 (2018), S. 11-30, hier S. 26. Trznadel, Jacek (Hg.): Hańba domowa. Rozmowy z pisarzami. Paryż 1986. Norman Davies (*1939). Zgubiło Was powodzenie  … Rozmowa Ewy Berberyusz z Normanem Daviesem, in: Kultura (1986) 11, S. 56-64. Czapliński, Rozmowa, S. 22, 27. Beispielsweise Mączak, Antoni/Tygielski, Wojciech: Latem w Tocznabieli. Warszawa 2000; Meller, Stefan/Komar, Michał: Świat według Mellera. Życie i historia – ku wolności. Warszawa 2008; Samsonowicz, Henryk/Sowa, Andrzej: Świadek epoki. Wywiad rzeka.

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argumentiert worden, dass den Gesprächsbänden der späten 1980er, aber gerade auch der 1990er und 2000er Jahre dabei eine wichtige Rolle in den Auseinandersetzungen um die Verarbeitung der politisch-gesellschaftlichen Umbrüche zukommt.188 An dieser Stelle wird wiederum die Verschmelzung von Geschichtswissenschaften und Erinnerung augenfällig, wurde doch die Publikation von Historikergesprächsbänden zu einer Stellungnahme in den breiten Konflikten um die Erinnerung an die Volksrepublik Polen.189 Diese Erinnerungskonflikte finden wiederum ihr Echo in den teils polemischen Auseinandersetzungen um die historiographiegeschichtliche Interpretation der Geschichtswissenschaft in der Volksrepublik.190 Solch eine Konstellation erinnert dabei an die deutschen Debatten um die Rolle der Historiker*innen im Nationalsozialismus in den ausgehenden 1990er und beginnenden 2000er Jahren. Bezeichnenderweise erschienen auch in diesem Rahmen nicht allein fachhistorisch-analytische Texte, sondern auch der Interviewband „Versäumte Fragen“.191 Letzterer sattelte auf die sowohl fachintern als auch von einer breiteren medialen Öffentlichkeit wahrgenommenen Konflikte auf dem Historikertag von 1998 auf.192

188 189

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Warszawa 2009; Gross, Jan Tomasz/Pawlicka, Aleksandra: … bardzo dawno temu, mniej więcej w zeszły piątek. Warszawa 2018; Paczkowski, Andrzej/Pleskot, Patryk: Góry i teczki. Opowieść człowieka umiarkowanego. Biografia mówiona Andrzeja Paczkowskiego. Warszawa 2019. Główczewski, Aleksander: Poetyka i pragmatyka „Rozmów z …“. Toruń 2005, S. 15. Allgemein zu den Erinnerungskämpfen etwa Wołowiec, Grzegorz: PRL w biografii. Uwagi wstępne, in: Teksty drugie 3 (2013), S. 52-59; Chmielewska, Katarzyna: Współczesny dyskurs historyczny o polskim komunizmie w perspektywie narratologii, in: Ebd., S. 36-51; zur Verschmelzung erinnerungspolitischer und historiographischer Debatten beispielsweise: Kostro, Robert/Wóycicki, Kazimierz/Wysocki, Michał (Hg.): Historia Polski odnowa. Nowe narracje historii i muzealne reprezentacje przeszłości. Warszawa 2014; für einen Historikergesprächsband, der mit der Publikation von Gesprächen der 1980er Jahre explizit eine Position in der Debatte um die Interpretation polnischer Geschichte beziehen will vgl. Nowak, Andrzej (Hg.): O historii nie dla idiotów. Kraków 2019. Dyskusja wokół książki Rafała Stobieckiego. Historiografia PRL. Ani dobra, ani mądra, ani piękna … ale skomplikowana, in: Kwartalnik Historyczny 116 (2009) 1, S. 103-131. Hohls, Rüdiger/Jarausch, Konrad  H. (Hg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus. Stuttgart/München 2000; Rezensionen dazu u.a.: Evans, Richard  J.: Rehkeule statt Assistenten, in: taz vom 08.08.2000, S.  17; Hettling, Manfred: Schweigen im Konsens, in: Die ZEIT vom 27.07.2000, S.  43f. Stellvertretend für die umfangreiche historiographische Literatur zum Thema: Schöttler, Peter (Hg.): Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945. Frankfurt am Main 1997. Beispielsweise: Ullrich, Volker: Späte Reue der Zunft, in: Die ZEIT vom 8.10.1998; Behringer, Wolfgang: Schuldige Väter, milde Söhne, strenge Enkel, in: Berliner Zeitung vom 14.09.1998; Augstein, Franziska: Schlangen in der Grube, in: FAZ vom 14.09.1998.

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Das Buch zu den „Versäumten Fragen“ der Schülergeneration von Historiker*innen der Bundesrepublik an ihre akademischen Lehrer*innen verortete sich explizit selbst im methodischen Rahmen der oral history.193 Wie die Herausgeber bemerkten, kam der Publikation dabei ein gewisser Pioniercharakter zu. Denn neben monographisch angelegten Historikerautobiographien stellte gerade die Form des autobiographisch ausgerichteten Historikergesprächs in der deutschen Geschichtswissenschaft ein sehr vereinzeltes Phänomen dar und war bis dahin noch nie als umfängliche Buchveröffentlichung praktiziert worden.194 Tatsächlich sind dann erst insbesondere ab den 2010er Jahren einige deutsche Interviewbände mit historiographiegeschichtlichem Impetus entstanden.195 Gerade hierin unterscheidet sich die deutsche Situation aber von der polnischen, wobei wiederum die ausgebaute Tradition der als populäreres Genre verstandenen „gesprochenen Memoiren“ in die verstärkt betriebene und reflektierte Auseinandersetzung mit der oral history zu integrieren versucht wird.196 Oral history ist dabei ein essentieller Bestandteil der Geschichte unserer Gegenwart. Sie zu vernachlässigen, würde bedeuten, dass wertvolle Möglichkeiten zur Historisierung auch deutscher und polnischer Geschichtsschreibung seit 1989 vergeben werden, auch vor dem Hintergrund neuer Archivierungsherausforderungen in einem digitalen 21. Jahrhundert.197 Oral history-Forschung war dabei – in Deutschland wie in Polen – lange auf die Zeitzeug*innen des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust konzentriert. Erst in den letzten Jahren werden nun auch die Jahrzehnte der Systemkonkurrenz sowie die Transformationszeit von dieser vermehrt in den Blick genommen.198 Zwei digitale 193 194 195

196

197 198

Hohls, Rüdiger/Jarausch, Konrad H.: Brechung von Biographie und Wissenschaft. Interviews mit deutschen Historiker/innen der Nachkriegsgeneration, in: Dies. (Hg.), Versäumte Fragen, S. 15-54, S. 22. Ebd., S. 26f. Etwa Kohtz, Birte/Kraus, Alexander (Hg.): Geschichte als Passion. Über das Entdecken und Erzählen der Vergangenheit. Zehn Gespräche. Frankfurt am Main/New York 2011; Sandkühler, Thomas (Hg.): Historisches Lernen denken. Gespräche mit Geschichtsdidaktikern der Jahrgänge 1928-1947. Göttingen 2014; Danyel/Behrends, Grenzgänger. Lewandowska, Izabela: Wywiad-rzeka jako źródło historyczne. Próba analizy gatunku, in: Dies. (Hg.): Konserwatorskie zwierzenia. Rozmowy z Lucjanem Czubielem konserwatorem zabytków w Olsztynie 1956-1993. Wywiad-rzeka. Materiały źródłowe. Olsztyn 2015, S. 7-35. König, Mareike: Geschichte digital. Zehn Herausforderungen, in: Cord Arendes u.a.: Geschichtswissenschaft im 21. Jahrhundert. Interventionen zu aktuellen Debatten. Berlin/Boston 2020, S. 67-76. Leyk, Aleksandra/Wawrzyniak, Joanna: Cięcia. Mówiona historia transformacji. Warszawa 2020. Siehe dazu auch die oft regional verankerten Projekte zum Aufbau von verschiedenen „Archiwa Historii Mówionej“. Vgl. beispielhaft das von der Stiftung „Karta“

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Projekte in den USA haben dabei im Sinne der oral history in mehr oder weniger systematischer Form begonnen, speziell Historiker*innen zu deren Erfahrungen mit dem Jahr 1989 und den historiographischen Entwicklungen danach zu befragen.199 In kleinerem Rahmen einer Fachzeitschrift hat es auch französische Ansätze hierzu gegeben.200 In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage nach der generationellen Dimension der fachinternen geschichtswissenschaftlichen Zeitzeugenbefragung auf. Während sich die wenigen deutschen Bände mit dem Anspruch der oral history teils explizit an der Kategorie von Alterskohorten ausrichten201, ist im polnischen Fall der Historikergespräche die retrospektive Konzentration insbesondere auf die Akteur*innen der 1980er Jahre auffällig.202 In den 1980er und 90er Jahren erlebte der Generationenbegriff zumindest in der deutschen Geschichtswissenschaft seine Hochkonjunktur und erfreut sich überdies bis heute einer ungebrochen breitenwirksamen Popularität. Angesichts dessen hat sich in der historischen Fachdebatte der Konsens eingestellt, im Sinne der „Generationalität“ die Zugehörigkeit zu Alterskohorten in erster Linie als Ergebnis von Selbst- und Fremdzuschreibungen zu verstehen.203 Ganz ähnlich ist die Frage nach der Möglichkeit, „Historikergenerationen“ zu differenzieren, beantwortet worden. Deren Kohäsion zeichne sich demnach einerseits durch die Prägung durch bestimmte fachliche Debatten und Kontroversen zu einem gegebenen Zeitpunkt sowie andererseits durch die aktive diskursive

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und dem Warschauer Dom Spotkań z Historią betriebene https://relacjebiograficzne. pl, die Posener Variante http://historiamowiona.poznan.pl (07.01.2021) oder jene der Lubliner Kulturvereinigung „Brama Grodzka – Teatr NN“. Im tschechischen Kontext sind die Kontinuitätslinien über 1989 hinaus thematisiert worden in: Vaněk, Miroslav/Mücke, Pavel: Velvet Revolutions: An Oral History of Czech Society. Oxford 2016. Vgl. das am Roy Rosenzweig Center for History and New Media der George Mason University angesiedelte Projekt „Making the History of 1989“, https://chnm.gmu.edu/1989/ interviews (04.01.2021) oder das von Holly Case (*1975) 2008 initiierte Interviewblog projekt „East-Central Europe Past and Present“, https://ecepastandpresent.blogspot. com/p/about-east-central-europe.html (04.01.2021). Revue d’études comparatives Est-Ouest 50 (2019) 2/3. Hier: Bazin, Anne/Perron, Catherine: Entretien avec Jacques Rupnik, S. 175-200; Daucé, Françoise: Entretien avec Maire-Claude Maurel, S.  201-214; Bonnard, Pascal/Vargovčíková, Jana: Entretien avec Georges Mink, S. 215-232. Hohls/Jarausch (Hg.), Versäumte Fragen; Sandkühler (Hg.), Historisches Lernen. Nowak, O historii; Stemplowski, Ryszard (Hg.): Żywoty historyczne. Tadeusz Łepkowski, Marian Małowist, Janusz Tazbir i Aleksander Gieysztor w wywiadach z lat 1986-1989. Kęty 2020. Reulecke, Jürgen: Einführung: Lebensgeschichten des 20 Jahrhunderts – im „Generationencontainer“?, in: Ders. (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. VII-XVI, S. VIII.

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Selbstabgrenzung gegenüber vorhergehenden und nachfolgenden Altersgruppen aus.204 Allerdings wird allgemein weiter die Frage nach dem Einfluss von Erfahrungen im Kontext von politischen Umbrüchen und Krisen auf abgrenzbare Altersgruppen diskutiert.205 Vor diesem Hintergrund scheint im Übrigen die Klage darüber, dass „die 89er […] zerredet [werden], bevor sie richtig als politische Generation zur Welt gekommen sind“206, das analytische Problem im Umgang mit dem Generationenbegriff ungewollt widersprüchlich zusammenzufassen. Einen mehr oder weniger reflektierten generationellen Einschlag besaß auch ein selbstreflexiver Sammelband der Fachakteur*innen deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte im Jahr 2011. Wie Hans-Jürgen Bömelburg in seinen resümierenden Bemerkungen zu den Kurzstellungnahmen der Beteiligten feststellte, müssten dabei unter den Beteiligten drei Generationen deutscher Polenhistoriker*innen gegen zwei Generationen polnischer Deutschlandhistoriker*innen gesetzt werden.207 Wie Bömelburg selbst bemerkt, entstand die Umfrage von 2011 noch nicht einmal zehn Jahre nach der letzten fachlichen Selbstbesinnung – an der teils dieselben Akteur*innen beteiligt waren –, nämlich der bereits erwähnten in der „Borussia“. Auch Robert Traba als Herausgeber beider Umfragen kam nicht umhin zu konstatieren, dass viele der auch 2011 zu reflektierenden geschichtswissenschaftlichen Projekte noch nicht einmal abgeschlossen worden seien. Allein, die seit 2002 aufgetretenen bilateralen Meinungsverschiedenheiten und die „Diskrepanz zwischen gemeinsam durchgeführten Forschungen und ihrer Rezeption in der Öffentlichkeit beider Länder“ erfordere eine erneute Selbstbesinnung.208

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Potin, Yann/Sirinelli, Jean-François (Hg.): Introduction, in: Dies. (Hg.): Générations historiennes (XIX-XXIe siècle). Paris 2019, S. 13-17, S. 14. Weisbrod, Bernd: Generation und Generationalität in der neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte  52 (2005) 8, S.  3-9; Cornelißen, Christoph: Wolfgang  J.  Mommsen – der Repräsentant einer Historikergeneration?, in: Ders. (Hg.): Geschichtswissenschaft im Geist der Demokratie. Wolfgang  J.  Mommsen und seine Generation. Berlin 2010, S. 11-42, S. 19f. Leggewie, Claus: Die 89er. Portrait einer Generation. Hamburg 1995, S. 300. Vgl. hierzu auch: Sabrow, Martin: „1989“ als Erzählung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2019) 35-37, S. 25-33. Eine grundsätzliche Kritik an der Vorstellung einer Generation „1989“ bei: Gloger, Martin: Generation 1989? Zur Kritik einer populären Zeitdiagnose. Bielefeld 2012. Bömelburg, Hans-Jürgen: Auswertung der Umfrage, in: Historie  4 (2010/11), S.  214-220, S. 215. Robert Traba (*1958) – ders.: Stand und Perspektiven der Erforschung deutsch-polnischer Beziehungen. Einladung, in: Ebd., S. 145-147, S. 146.

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Die Verunsicherung der wissenschaftlichen Akteur*innen der polnischdeutschen Beziehungsgeschichte über die eigene Wirksamkeit ist augenfällig. Die Zweifel gegenüber der Wahrnehmung des wissenschaftlichen Ertrages in einer breiteren Öffentlichkeit und die etwa daraus potentiell auch resultierenden Gefährdungen von Wissenschaftsförderung sind ebenso nachvollziehbar wie in der Geschichtswissenschaft chronisch wiederkehrende Befürchtungen. Die im Laufe des 20. Jahrhunderts immer stärkere Wandlung der geschichtswissenschaftlichen Akteur*innen hin zu „segmentierten Eliten“ oder überspezialisierten „Expert*innen“ ohne nennenswerten Einfluss auf außerwissenschaftliche Debatten und Geschichtsbilder ist für die (bundes-) deutsche Situation209 ebenso reflektiert worden wie für die polnische polityka historyczna. Im Fall des hohen Selbstbespiegelungsrhythmus der Akteur*innen polnischdeutscher Beziehungsgeschichte mögen unterschiedliche allgemeinere Hintergründe die fachwissenschaftlichen Memorialisierungsbestrebungen katalysieren. In Deutschland wie in Polen jedenfalls lässt sich die seit längerem anhaltende Konjunktur von autobiographischen Monographien, reflexiven Stellungnahmen und nicht zuletzt von Gesprächs- beziehungsweise Interviewbänden auch als ein Versuch lesen, sich der eigenen fachlichen Existenz zu versichern. Dies geschieht dabei eben oft genug in der Form der Erinnerung, die somit nicht nur als methodisch-narrative Option geschichtswissenschaftlichen Arbeitens im Allgemeinen erscheint, sondern auf der Suche nach Selbstwirksamkeit das eigene Fach diskursiv stabilisiert. Schließlich findet auf diese Weise eine individuell gewendete Form von Traditionsbildung statt. Aus einer Makroperspektive der Diskussionen um die Moderne heraus gesehen, ist dies zum einen konsequent, wenn man die Geschichtswissenschaft als kleine Untereinheit innerhalb einer ausdifferenzierten Gesellschaft begreift. Zum anderen ist es genauso für die einzelnen Fachakteur*innen innerhalb des Wissenschaftssystems nur folgerichtig. In beiden Fällen mag nämlich cum grano salis die Feststellung von Markus Schroer gelten, dass der mit der Moderne einhergehende Differenzierungs- und Individualisierungsprozess für das Individuum eine Zumutung darstelle. Er führe eben dazu, „dass die Notwendigkeit zur Selbstrepräsentation, Selbstdarstellung und Selbstinszenierung […] zugenommen hat. Individualisierung bedeutet eben auch, dass sich das 209

Walach, Thomas: Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit. Theorie und Methode einer öffentlichen Geschichte. Wiesbaden 2019, S. 52; Lehn, Marcel vom: Westdeutsche und italienische Historiker als Intellektuelle? Ihr Umgang mit Nationalsozialismus und Faschismus in den Massenmedien (1943/45-1960). Göttingen 2012, S. 310-316.

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Individuum nicht mehr ohne weiteres auf die Bestätigung seiner selbst durch die ihn umgebende soziale Umwelt verlassen kann.“210 Selbstreflexionsgemeinschaft Auch der vorliegende Band ist in seiner Form und seinem Thema den eben reflektierten engeren und weiteren Kontexten von innerfachlicher Erinnerungsproduktion der Geschichtswissenschaft geschuldet. Seinen konkreten Entstehungsanlass hat er hingegen im 60. Geburtstag von Hans-Jürgen Bömelburg. Er ist nicht nur Mitautor der erwähnten selbstreflexiven Publikationen zur polnisch-deutschen Beziehungsgeschichte, sondern prägt seit den 1990er Jahren in verschiedenen Zusammenhängen die polnisch-deutschen Historikerkontakte mit. In geradezu idealtypischer biographischer Kondensation war er dabei sukzessive einer großen Anzahl ebenjener Institutionen verbunden, die seit 1990 auf deutscher Seite die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Polen getragen haben – angefangen vom Forschungsschwerpunkt „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“ (dem späteren GWZO), über seine langjährige Tätigkeit am Deutschen Historischen Institut Warschau, später am NordostInstitut in Lüneburg, bis hin zu seiner Arbeit im Rahmen der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission. Seit 2008 hat er eine Professur mit dem Schwerpunkt Ostmitteleuropäische Geschichte in Gießen inne. Die Jubiläumsgepflogenheiten des deutschen Universitätsbetriebs boten also Gelegenheit, die biographischen Stationen Bömelburgs mit systematischen Überlegungen zur verknüpfen. Denn dessen Position im Feld der polnisch-deutschen Geschichtswissenschaft und die daraus entstandenen Kontakte bieten einen idealen Ausgangspunkt, um mit einem Abstand von 20 bis 30 Jahren einen historiographiegeschichtlichen Blick auf die 1990er Jahre zu werfen. Dies geschieht in Form von Interviews, mit einer beschränkten Zahl an Gesprächspartner*innen. Der vorliegende Band kann und will dabei seine doppelte Motivation und Bestimmung als allgemeiner historiographiegeschichtlicher Beitrag wie als Festschrift nicht verhehlen. Zwar verorten Festschriften ihre Adressat*innen im wissenschaftlichen Feld, indem sie diese in eine enge Beziehung zu den Autor*innen setzen. Zugleich aber hat es der/die Adressat*in eben nicht unbedingt immer in der Hand, wen 210

Markus Schroer (*1964) – ders.: Individualisierung als Zumutung. Von der Notwendigkeit zur Selbstinszenierung in der visuellen Kultur, in: Peter A. Berger/Ronald Hitzler (Hg.): Individualisierungen. Ein Vierteljahrhundert „jenseits von Stand und Klasse“?. Wiesbaden 2010, S. 275-289, hier S. 277.

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die Herausgeber*innen einer Festschrift für eine Beteiligung an einer solchen Publikation auswählen.211 Nicht zuletzt hat der/die Adressat*in aber auch keinen Einfluss darauf, wer überhaupt die Entscheidung trifft, solch eine Veröffentlichung zu unternehmen. Beim vorliegenden Band jedenfalls ist dies ganz entschieden der Fall. Mit der Auswahl der Gesprächspartner*innen haben die Herausgeber dabei versucht, eine möglichst repräsentative personelle Zusammenstellung im Spannungsfeld verschiedener Kriterien zu erzeugen. Neben gewissen persönlichen und wissenschaftlichen Verbindungen mit dem Jubilar ging es darum, Gesprächspartner*innen zu gewinnen, die an den polnisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen der 1990er Jahre in verschiedenen Stadien ihrer wissenschaftlicher Karrieren aktiv beteiligt waren, ohne damit a priori einen generationellen Filter anlegen zu wollen. Darüber hinaus war es Ziel, Personen mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten einzubeziehen – von epochalen Spezialisierungen (Mittelalter, Frühe Neuzeit, Neuere Geschichte, Zeitgeschichte) bis hin zu inhaltlichen Orientierungen (etwa Beziehungsgeschichte, Erinnerungsgeschichte, Adels- und Verfassungsgeschichte, jüdische Geschichte). Hierbei sollte wiederum – im Rahmen des Möglichen – auch eine angemessene Einbeziehung von Frauen neben den vielen Männern erfolgen, die die Geschichtswissenschaften in den 1990er Jahren noch dominierten. Schließlich war es ein Anliegen der Herausgeber, die Perspektive um einen Blick aus benachbarten Historiographien (Litauen, Tschechien, England, Frankreich) auf die polnisch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen zu erweitern. Dass die aus diesen grundsätzlichen Überlegungen heraus erwachsene Gruppe von Gesprächspartner*innen bei weitem nicht alle wichtigen und engen Freund*innen, Kolleg*innen und Weggefährt*innen des Jubilars umfasst, ist ebenso misslich wie angesichts der begrenzten Möglichkeiten der Herausgeber bei der Vorbereitung des Bandes leider unausweichlich. Die Auswahl der Gesprächspartner*innen leidet schließlich unter einem Phänomen, das schon in Bezug auf andere Gesprächsbände dieser Art kritisch angemerkt worden ist: Befragt wurden nur Personen, die innerhalb des Wissenschaftssystems verblieben sind und Karriere gemacht haben, während Akteur*innen der 1990er Jahre, die aus dem System mittlerweile ausgeschieden sind, fehlen. Zudem haben nicht alle ursprünglich angefragten Personen geantwortet oder sich zu einem Gespräch bereit erklärt. Der Band basiert auf Interviews, die die drei Herausgeber zwischen Juni und September 2020 mittels Videokonferenzen geführt haben. Die Gespräche 211

Mohnhaupt, Heinz: Rechtsgeschichte und Recht in Festschriften für Rechtshistoriker und Juristen, in: Joachim Rückert/Dietmar Willoweit (Hg.): Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS-Zeit. Ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen. Tübingen 1995, S. 139-176, S. 140.

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dauerten zwischen 60 und 90 Minuten und wurden vom Grundsatz her als Leitfadeninterviews geführt, wobei sie Raum für auf die jeweilige Person angepasste Modifizierungen ließen. Die Transkripte der Interviews wurden den Gesprächspartner*innen vorgelegt, die sie dann in jeweils unterschiedlichem Ausmaß verändert haben, wobei ein mündlicher Duktus nicht grundsätzlich getilgt werden sollte.212 Eine Ausnahme stellt das Interview mit Morgane Labbé dar, dass als Schreibgespräch per Email geführt und anschließend übersetzt wurde. Die Fußnoten in den Interviews stammen von den Herausgebern und wurden so gesetzt, dass jeder der Beiträge, die in alphabetischer Reihenfolge abgedruckt sind, für sich lesbar ist.213 Den Interviews vorangestellt ist die deutschsprachige Version einer Antwort von Hans-Jürgen Bömelburg auf eine 2020 von Andrzej Nowak organisierte Umfrage (ankieta), die 2021 im Heft 1 des „Kwartalnik Historyczny“ erschienen ist. Die Umfrage macht sich eine Reflexion zur Situation der Geschichtswissenschaft in Polen der letzten drei Jahrzehnte seit dem Umbruch der späten 1980er Jahre zur Aufgabe.214 *** Der vorliegende Band wäre ohne Hilfe und Mitwirkung anderer nicht möglich gewesen. Zu besonderem Dank verpflichtet sind die Herausgeber dem Centrum Badań Historycznych der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, das in Gestalt seines Direktors Igor Kąkolewski anbot, das Buch in der wissenschaftlichen Reihe des Zentrums zu veröffentlichen sowie die Mitwirkung seiner Mitarbeiter*innen und Praktikant*innen Agnieszka Zawadzka, Maciej Gugała, Milena Woźniak-Koch, Katarzyna Wróblewska und Carina Fretter bei der Transkription der Aufzeichnungen in die Wege leitete. Bei diesem Prozess half uns zudem Sebastian Müller außerordentlich. Ohne den genauen Zweck zu kennen, unterstützte uns Filip Emanuel Schuffert in Gießen bei der Suche nach ergänzender Literatur, wohingegen Lidia Gläsmann uns diskret 212 213

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Bei Orts- und Geschlechterbezeichnungen wurden die von den Interviewten verwendeten Varianten beibehalten. In den Fragen der Interviewer wurde die so im Gespräch verwendete binäre Geschlechterunterscheidung beibehalten. Die Angaben zu Personen in den Fußnoten beschränken sich auf die Lebensdaten, weitere Informationen finden sich im Register. Die Kürze der Einträge im Personenregister ist praktischen Umständen geschuldet. Der teils daraus resultierenden unfreiwilligen Komik sind sich die Herausgeber bewusst. An dieser Stelle gebührt Andrzej Nowak Dank dafür, uns den Abdruck einer deutschsprachigen Fassung der Antworten Hans-Jürgen Bömelburgs erlaubt zu haben und HansJürgen Bömelburg selbst, dass er die für ihn unwissentliche Aufnahme des Textes in den vorliegenden Band akzeptiert haben wird.

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und wissend den Rücken freihielt. Für die vertrauensvolle Zusammenarbeit danken wir auch den Mitarbeiter*innen des Schöningh Verlages, insbesondere Diethard Sawicki und Jehona Kicaj. Das Gießener Zentrum Östliches Europa (GiZo) hat die Veröffentlichung freundlicherweise finanziell unterstützt. Zu Dank verpflichtet sind wir auch Dietlind Hüchtker und Friedrich Cain für die Bereitschaft, das Nachwort zu diesem Buch zu verfassen. Berlin, Luxemburg, Dortmund im Januar 2021

Abb. 2.1 In der Warschauer Wohnung, ul. Złota 9/21, gegenüber dem Kulturpalast, 1997. Foto: privat.

Hans-Jürgen Bömelburg (*1961) ist in Höxter geboren. Sein Studium der Geschichte, Slavistik und Romanistik begann er in Münster, um dann an die Universität Mainz zu wechseln. Er studierte hier – unterbrochen von einem Auslandsaufenthalt in Besançon – bei Erwin Oberländer, bei dem er mit der Arbeit „Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat“ promoviert wurde. Es folgte eine Zeit als Stipendiat am Forschungsschwerpunkt „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“ in Berlin, von wo er 1994-2003 als wiss. Mitarbeiter, später dann Bibliotheksleiter und stellv. Direktor, an das DHI Warschau wechselte. Nach einem Zwischenspiel an der HU Berlin ging er 2004-2007 als wiss. Mitarbeiter an das Nordost-Institut Lüneburg. In dieser Zeit habilitierte er sich (2005) bei Michael G. Müller in Halle mit einer Arbeit zu „Frühneuzeitliche[n] Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (1500-1700)“. Seit 2008 hat er eine Professur an der Justus-Liebig-Universität Gießen inne. Er ist u.a. deutscher Vorsitzender der DPSK sowie Mitherausgeber der Reihe „Deutsch-Polnische Geschichte“ des DPI und des Handbuchprojekts „Polen in der Europäischen Geschichte“.

Die polnische Historiographie – eine Bilanz der letzten dreißig Jahre Hans-Jürgen Bömelburg [Der nachfolgende Text ist die deutschsprachige Version der Antworten Hans-Jürgen Bömelburgs auf eine 2020 durch Andrzej Nowak für den „Kwartalnik Historyczny“, einer der wichtigsten geschichtswissenschaftlichen Zeitschriften in Polen, organisierte Umfrage. Die Originalversion ist erschienen im Kwartalnik Historyczny 128 (2021) 1, S. 35-40.]

Was sind Ihrer Ansicht nach die wichtigsten und inspirierendsten wissenschaftlichen Errungenschaften der polnischen Historiographie der letzten 30 Jahre? Beginnen möchte ich mit einer persönlichen Vorbemerkung: Ich habe die polnische Historiographie vor gut 30 Jahren kennengelernt, 1986 und 1987 habe ich intensiv Polnisch gelernt und war seit dieser Zeit als junger Doktorand häufig in Polen. Warum Polen? Diese Frage haben mir Kollegen, manchmal auch Studenten oft gestellt. Letztendlich spielte eine ehrliche Faszination für Diskussionsstil und Themenwahl unter den polnischen Historikern um 1990 eine Rolle. Ihre Vielsprachigkeit und Weltläufigkeit, ihre Ironie und ihr Anspielungsreichtum – trotz vielfach extremer materieller Armut in den klassischen Dreizimmerwohnungen in den Wohnblocks der Gierek-Epoche – haben mich als junger Mann fasziniert. Als Beispiel möchte ich das Klima in Thorn um 1990 nennen. Ich habe an der UMK Toruń um 1990 an Tagungen teilgenommen, bei denen internationale Teilnehmende – für alle verständlich – in russischer, belarussischer, polnischer, englischer und deutscher Sprache vortrugen und gemeinsam diskutierten – wären solche Konferenzen in Polen heute noch mit einem Fachpublikum möglich? In Toruń habe ich mit Stanisław Salmonowicz auf Französisch, mit Zenon Hubert Nowak und Marian Biskup – letzterer hatte dies als Zwangsarbeiter gelernt – auf Deutsch diskutiert. Parallel dazu betreute ich an der Universität Mainz, wo ich damals lebte, Janusz Małłek und Karol Sauerland – hinter beiden Persönlichkeiten verbargen sich exzeptionelle Familiengeschichten. Historiographiegeschichtlich war das noch ein letzter Abglanz polnischer – nicht immer freiwilliger – Vielsprachigkeit und Multikulturalität. Auch die älteren deutschen Kollegen, die ich in dieser Zeit kennenlernte, schienen

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mir von dieser Internationalität angesteckt. Klaus Zernack entwickelte und interessierte mich für sein breites Polonitätskonzept, Michael  G.  Müller und Hans Henning Hahn verbanden selbstverständlich west- und südeuropäische wie auch osteuropäische Geschichte, Andreas Lawaty polnische und ostslavische Geschichte. Und, nicht selbstverständlich, jüngere polnische Historiker meiner Generation teilten diese Faszination. Robert Traba analysierte die offene Regionalität der Borussia – Prussia – Prusy – Preußen, Edmund Kizik die Ostseewelt, Bogusław Dybaś und Igor Kąkolewski die frühneuzeitlichen Verflechtungen der Rzeczpospolita. So blieb ich bei Polen hängen. Ich bin ein Kind der offenen, internationalen, sich zunehmend ins Transnationale öffnenden Atmosphäre der 1980er und 90er Jahre und bezweifle, dass mich die zunehmend nationalistischen Diskussionen der letzten 20 Jahre innerhalb eines mittelgroßen Staates in Ostmitteleuropa und um diesen hätten begeistern können. Was mich stets faszinierte, waren die offenen Blicke aus Polen auf Europa und eine frühe globalgeschichtliche Ausrichtung bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich halte deshalb die wissenschaftlichen Publikationen aus der Schule von Marian Małowist, etwa die Arbeiten von Antoni Mączak über europäische Klientelverbände und Mobilität oder die von Andrzej Wyczański und Tadeusz Łepkowski für wichtig. International leider zu wenig zur Kenntnis genommen und in der polnischen Gesellschaft kaum angekommen sind auch die wichtigen Arbeiten von Jacek Staszewski und Wojciech Kriegseisen zur „epoka saska“. Hier gelang eine Loslösung von älteren nationalgeschichtlichen Verengungen und ein deutlicher Erkenntnisfortschritt. Beeindruckend finde ich ebenfalls die Weiterentwicklung der Osmanischen Studien in Polen. Die Arbeiten von Dariusz Kołodziejczyk zu osmanisch-polnischen Verflechtungen füllen erhebliche weiße Flecken. In meinen Warschauer Jahren 1994-2003 hat mich besonders der Aufschwung der Jüdischen Studien fasziniert, den ich über Feliks Tych, Jerzy Tomaszewski und das Jüdische Historische Institut (ŻIH) auch aus der Nähe erlebte. Ich halte die Qualität, die die Jüdischen Studien in Polen inzwischen erreicht haben (um das POLIN-Museum mit Dariusz Stola, bei Marcin Wodziński und seinen Kollegen in Breslau) für die bedeutendste historiographische Entwicklung in der polnischen Historiographie der letzten 30 Jahre. Welche wesentlichen Themen, „Stränge“ oder Interpretationsansätze der Vergangenheit sollten Ihrer Ansicht nach besondere Aufmerksamkeit in der Fachwissenschaft/akademischen Historiographie in den kommenden Jahren erfahren (wir setzen voraus, dass die Geschichte nicht geendet hat)? Diese Fragen betreffen

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nicht nur das enge Gebiet fachlicher Spezialisierung (z.B. Mediävistik, Militärgeschichte oder Kulturgeschichte), sondern auch die „Gesamtheit“ der polnischen Historiographie(n). Mit anderen Worten: Wie stellen Sie sich die Entwicklung unseres gemeinsamen Wissens- oder Interessensgebietes vor? Es ist ein Gemeinplatz zu sagen, Polen liege in der Mitte Europas am Kreuzungspunkt zahlreicher Einflüsse. Aber was heißt das für die Geschichtsschreibung? Ein polnischer Historiker sollte unbedingt Russisch, Deutsch, Französisch und dann vielleicht Englisch und Italienisch beherrschen, das haben mir ältere polnische Kollegen um 1990 immer wieder vermittelt. Die alleinige Konzentration auf das Englische als Wissenschaftssprache sehe ich deshalb sehr kritisch, ich fürchte, dass damit zukünftig für polnische Historiker erhebliche Felder einer polnischen und europäischen Geschichte verschlossen bleiben, ja die polnische Geschichtsschreibung für ausländische Historiker langweiliger wird. In meinem engeren Arbeitsfeld der Frühneuzeitforschung sind bereits jetzt die polnisch-französischen, aber auch die polnisch-deutschen Verflechtungen drastisch unterrepräsentiert. Durch den Rückbau der Polnischen Akademie der Wissenschaften verschwanden Forschungszentren in Posen und Thorn. Welche jüngeren polnischen Historiker beschäftigen sich noch mit preußischer Geschichte und können deutsche Handschriften lesen? Welche Historiker der jüngeren Generation lesen noch fließend russische Akten und können die russisch-polnischen Verflechtungen in einen europäischen Kontext einordnen? Ich möchte deshalb dringend für eine Internationalisierung (nicht Anglisierung oder Amerikanisierung) der polnischen Geschichtswissenschaft plädieren. Aus meiner Sicht am wichtigsten wäre ein massives Stipendienprogramm für Studierende und Doktoranden der Geschichte für Sprach- und Studienaufenthalte in Frankreich, Deutschland, Russland und der Ukraine! Themen einer solchen offenen europäischen Geschichte Polens liegen auf der Straße: Wer schreibt in Zukunft auf der Basis der Dresdner Aktenbestände eine Geschichte der sächsisch-polnischen Union? Wer schreibt eine moderne Biographie von Jan Henryk Dąbrowski, die auch die deutschen und französischen Bezüge angemessen aufgreift? Wo bleibt die (erste) polnische Wanda-Wasilewska- oder eine aktuelle polnische Rosa-LuxemburgBiographie? Wer untersucht die Tätigkeit polnischer Spezialisten in den neugegründeten afrikanischen Staaten der 1960er und 70er Jahre? Für die polnische Geschichte insgesamt, aber auch für das 20. und 21. Jahrhundert bedeutet das, dass auch die transnationalen Verflechtungen polnischer Geschichte stärker zu berücksichtigen sind. Selbst arbeite ich an einer Geschichte von Lodz, aber wer schreibt eine moderne Geschichte von

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Lemberg, Grodno und Wilna im 20. Jahrhundert, die auch die nichtpolnischen Teile der Stadtgeschichte gleichberechtigt berücksichtigt? Einige aktuelle Aspekte einer europäischen Geschichte können aus einer polnischen Perspektive besonders aussagekräftig und anschaulich bearbeitet werden. Etwa die Migrationsgeschichte: Die Erste Rzeczpospolita war ein Zentrum von Zuwanderung, seit dem 19. Jahrhundert zählen die Polen europaweit zu den mobilitäts- und migrationsaktivsten Gesellschaften. Für wichtige Fragestellungen der europäischen Geschichte, so Exil und Nationsbildung, politische Emigration, situative politische Loyalitäten, Grenzverschiebungen und Phantomgrenzen oder Akkulturation und Assimilation bietet Polen spannende Anschauungsbeispiele. Kann denn die Historiographie eine gemeinsame Basis behalten? Gibt es in der/n Historiographie(n) Polens einen Platz für die Synthese? Wie, wenn überhaupt, stellen Sie sich solche Synthesen vor? In den 1990er und 2000er Jahren entstanden eine ganze Reihe von Synthesen der polnischen Geschichte, die die Zensurfreiheit nutzten, jedoch aufgrund der eher traditionellen Darstellung und fehlender Leitideen in der Fachwelt wenig Interesse fanden. In deutscher Sprache haben Kollegen und ich zwei Bände „Polen in der europäischen Geschichte“ (1500-1914) vorgelegt, die jedoch stark den deutschen Traditionen einer abgesicherten und auf lange Dauer angelegten Handbuchdarstellung folgen. In englischer Sprache liegt zudem die Darstellung von Robert Frost vor, ein zweiter Band ist in Vorbereitung. Ich fürchte also, dass es im Moment zumindest auf internationaler Ebene keinen Bedarf nach klassischen Synthesen einer Geschichte Polens gibt. Man muss bei Synthesen jedoch nicht stets in den Kategorien einer Nationalgeschichte denken. Innovativ wäre eine „Weltgeschichte Polens“, die nicht dem sprichwörtlichen „Słoń a sprawa polska“ („Der Elephant und die polnische Frage“) folgte, sondern realistisch die Verflechtungen (oder auch die ausgebliebenen Einflüsse) Polens im globalen Rahmen untersuchte, etwa nach dem Vorbild der „Histoire mondiale de la France“, herausgegeben von Patrick Boucheron. Denken könnte man auch an eine bi- oder multilaterale Beziehungsgeschichte. Aktuell erscheint in deutscher Sprache eine „DeutschPolnische Geschichte“, verfasst jeweils von deutsch-polnischen Autorenteams. Eine polnisch-ostslavische Geschichte, die angemessen jeweils polnische, litauische, belarussische, ukrainische und russische Einflüsse berücksichtigen würde, wäre eine echte Herausforderung. Synthesen können aber auch völlig anders aufgebaut sein. 2018 erschien leider kein polnischer Band „Das Jahr 1918“, der eine Globalgeschichte unter

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angemessener Berücksichtigung Polens vorgestellt hätte – das hätte spannend sein und auch internationale Resonanz wecken können. Für 2022 wäre eine Synthese „Das Jahr 1772“, das eine Globalgeschichte unter polnischer Perspektive böte, sicher interessant. Oder noch anders: Eine Parallelgeschichte Polens und Koreas (im Anschluss an Joachim Lelewels „Historyczna paralela Hiszpanii z Polską“) böte einen interessanten Beitrag zu Nationalgeschichten in der Nachbarschaft von Imperien und knüpfte an innovative historiographische Traditionen an. Dazu dringend erforderlich ist jedoch eine vertiefte historiographische Reflexion. Die vor allem in Lodz von Andrzej Feliks Grabski und Rafał Stobiecki vertretene Spezialisierung auf Historiographiegeschichte ermöglicht einen solchen Reflexionsraum und sollte unbedingt fortgeführt und intensiviert werden. Wie schätzen Sie schließlich das Problem ein, welche gesellschaftliche Funktion die Geschichtsschreibung in der Zukunft einnehmen soll? In der Entstehungszeit des „Kwartalnik Historyczny“ und auch noch viele Jahre später wurde sie über den Imperativ des Dienstes (służba) an der Gesellschaft/Nation (aber nicht der Andienung an jene, wie es Władysław Konopczyński subtil unterschieden hat) verstanden. Nehmen Sie – und wenn ja, wie – diese Rolle oder Funktion im Jahr 2020 und darüber hinaus wahr? Geschichte hat nach 1989 die traditionelle Rolle als Leitwissenschaft in der polnischen Gesellschaft verloren. Dabei spielte paradoxerweise die Immunisierung der polnischen Geschichtswissenschaft durch einen harten Positivismus in der PRL eine zentrale Rolle: Je detailversessener und quellenkundlich abgesicherter polnische Historiker erzählten, umso mehr verlor die Öffentlichkeit das Interesse. In den letzten 30 Jahren vermisse ich stärker theoriegeleitete Debatten in der polnischen Geschichtswissenschaft. Noch in der PRL gab es durch die Verarbeitung eines liberalen Marxismus und die Einflüsse der Annales viele interessante Arbeiten und methodische Überlegungen – deutlich mehr als zeitgleich in der BR Deutschland. Heute vermisse ich in Polen solche Fachdiskussionen. Die zurückgenommene nationale Funktion kann auch gut für das Fach Geschichte sein, denn durch den Verlust des nationalen Imperativs könnte die Forschung freier und offener agieren. Der „nationale Beruf“ (ich zitiere hier Heinrich von Treitschke) setzte in der Vergangenheit vielfach Historiker unter Druck und verengte ihre Perspektive. Erzwungene Indienstnahmen, das Gefängnis einer zwanghaften Identitätsbildung oder eine falsch verstandene patriotische Pflicht belasteten Generationen, mehr Freiheit ist so gut. Unter

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den spezifischen aktuellen Bedingungen relativiert diese hinzugewonnene wissenschaftliche Freiheit allerdings, dass ca. die Hälfte aller wissenschaftlichen Stellen in der polnischen Zeitgeschichte mit dem Institut für Nationales Gedenken (IPN) verbunden sind und hier klaren, auch national-staatlichen und geschichtspolitischen Vorgaben folgen (müssen). Als deutscher Historiker habe ich zu dem Begriff „służba“, den man im Deutschen mit „Dienst“ übersetzen müsste, was zudem stark militärische Konnotationen aufwürfe, ein zwiespältiges Verhältnis. Mir ist bewusst, dass die polnischen Bezüge zu militärischen Traditionen andere sind. Ich würde jedoch einen anderen Begriff vorschlagen, den eines „kritischen Resonanzbodens“ der Gesellschaft. Geschichte verfügt über ein nicht gegenwartsabhängiges Reflexions- und Vergleichspotential, das sich öffentlich einbringen sollte. Sei es über Monographien, die „populärwissenschaftliche Synthese“ besitzt in Polen große Traditionen, sei es in kürzeren Beiträgen von Historikern für eine breitere Öffentlichkeit. Um den Öffentlichkeitsbezug des Geschichtsstudiums zu stärken, würde ich vorschlagen, an mehreren Historischen Instituten einen Master-Studiengang „Public History“ einzurichten. Dort könnten auch Fragen zu Geschichte und Öffentlichkeit grundsätzlicher diskutiert werden, zum Nutzen für die Institute und die polnische Gesellschaft.

Abb. 3.1

In Warschau Ende der 1990er Jahre. Foto: privat.

Włodzimierz Borodziej (*1956) ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Warschau. Er leitete von 2010 bis 2016 zusammen mit Joachim von Puttkamer das Imre Kertész Kolleg Jena. 2009-2019 war er Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel. Er ist Begründer und Chefherausgeber der „Polskie Dokumenty Dyplomatyczne (Polnische Diplomatische Akten)“ (bislang 27 Bände).

„Jetzt ist ja eigentlich Schluss mit dieser traditionellen deutsch-polnischen Geschichte“ Włodzimierz Borodziej Beginnen wir mit einer harmlosen Frage. Sie haben ja deutsche und österreichische Schulen besucht, waren in den 1980er Jahren auch Stipendiat am Institut für Europäische Geschichte in Mainz. Deshalb einfach nur drei Begriffe: Kawa po turecku1, Filterkaffee oder Kleiner Brauner? Moment … Kleiner Brauner. In einem Interview 2014 stellten Sie einmal sinngemäß fest, dass im Juni 1989 in Polen niemand aus Anlass der Wahlen auf die Straße gegangen sei. Die Menschen wären sich im Klaren darüber gewesen, dass es weniger ein Moment der Befreiung als der Beginn einer neuen langen Etappe hin zu einer veränderten Gesellschaft und einem demokratischen Staat war.2 Hat sich nun für Sie persönlich 1989 eigentlich etwas Entscheidendes verändert oder würden Sie eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen? Ganz eindeutig ist in meinem Fall 1989 eine Zäsur gewesen, und das fängt mit ganz banalen, heute nur noch technisch wichtigen Dingen an, wie, dass man den Pass zu Hause hatte und nicht jede Auslandsreise beantragen musste. Und obwohl Schengen3 noch überhaupt nicht in Sichtweite war, hat die Reisefreiheit ganz neue Horizonte eröffnet. Zudem wurde die Zugänglichkeit der sogenannten westlichen Literatur mit jedem Jahr größer. Und dann kamen die Globalisierung und das Internet, nochmal ein ganz anderer Faktor in meinem, auch wissenschaftlichen, Leben. 1989 bedeutete: Ich lebe in einem freien Staat, der zwar furchtbar arm ist – 1989 war er wirklich völlig bankrott –, aber ich 1 Dt. Türkischer Kaffee (mit Kaffeesatz). 2 Włodzimierz Borodziej about 1989. Interview für das Projekt ‚Freedom Express’ des Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität, 11.08.2014, https://enrs.eu/video/ wlodzimierz-borodziej-about-1989 (04.07.2020). 3 Luxemburgische Metropole. Hier wurde 1985 der Abbau von Grenzkontrollen innerhalb der EU beschlossen, der seit 1995 für alle Mitgliedsstaaten außer Irland, Rumänien, Bulgarien und Zypern, sowie für die Schweiz, Liechtenstein, Island und Norwegen in die Tat umgesetzt wurde. Vgl. Siebold, Angela: ZwischenGrenzen. Die Geschichte des Schengen-Raums aus deutschen, französischen und polnischen Perspektiven. Paderborn 2013.

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habe jetzt ganz andere Arbeitsmöglichkeiten als vorher, wo auch vieles ging, was in anderen sogenannten Ostblockländern nicht möglich war. Aber es war doch weit von einer Normalität entfernt. Sie waren dann Anfang der 1990er Jahre an nicht unwichtiger Stelle in der Kanzlei des Sejms tätig. Wie wirkte sich denn aus Ihrer Perspektive die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften in Polen und auch in Deutschland aus? Und haben Historikerinnen und Historiker zu dieser Zeit in irgendeiner Art und Weise Einfluss auf die Politik genommen? Ich würde sagen, dass sie auf keinen Fall mehr Einfluss auf die deutschpolnischen Beziehungen genommen haben als vor 1989 und vielleicht sogar weniger, weil es in dem Augenblick, wo zwei demokratisch legitimierte Staatsorgane miteinander kommunizieren, ganz anders wird. Die Geschichte war bis 1989 doch weitgehend – natürlich gab es viele Ausnahmen – eine Geisel der Politik und der ideologischen Vorgaben im staatsozialistischen Polen. In Deutschland hatte das einen sehr viel komplizierteren Hintergrund, den wir alle kennen. Stichworte: Vertriebene, Republikaner, Rechtsansprüche usw. Ich war von 1991 bis 1994 in der Sejmkanzlei und die meiste Zeit davon als Generaldirektor. Ich würde behaupten, dass in dieser Phase symbolische Gesten durchaus wichtig waren, paradoxerweise – dies ist eine Provokation – nicht so wichtig wie heute allerdings, wo sie ja manchmal die wirkliche Politik ersetzen. Das ging damals nicht, weil in der Politik zu viel anstand, was man auch nach der Unterzeichnung des Grenz- und des Nachbarschaftsvertrages4 verarbeiten musste. Aber auf Gesten hat man auch damals Wert gelegt. Ich kann mich z.B. an die damalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth5 erinnern, der ich alleine 1994 zweimal begegnet bin. Einmal war das in Auschwitz, anlässlich des 49. Jahrestags der Befreiung des Lagers, d.h. am 27. Januar 1994, der damals noch kein Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus war. Ich bat Frau Süssmuth, sich einem der exklusivsten Klubs der Welt anzuschließen: dem der „Speakers of Parliament, die sich auf Polnisch unterhalten“. Zusammen mit 4 Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November  1990 sowie über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Vgl. Góralski, Witold M. (Hg.): Historischer Umbruch und Herausforderung für die Zukunft. Der deutschpolnische Vertrag über gute Nachbarschaft und Freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Ein Rückblick nach zwei Jahrzehnten. Warschau 2011; Barcz, Jan/Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Akt historyczny. 30 lat Traktatu o potwierdzeniu granicy polsko-niemieckie na Odrze i Nysie Łużyckiej. Wrocław/Warszawa 2021. 5 Rita Süssmuth (*1937).

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dem Vorsitzenden der Knesset Schewach Weiss und dem Sejmmarschall Józef Oleksy saßen wir dann zu viert im Bus, ich als Übersetzer.6 Es war sichtbar, dass sich irgendwas zwischen diesen nicht unbedingt Champions-League-, aber doch wichtigen Politikern tut. Und das andere Mal war es die Feier zum 50. Jahrestag des Anschlags auf Hitler am 20. Juli 1994, wo Oleksy und Frau Süssmuth extra in die Wolfsschanze geflogen sind und lange Zeit für Gespräche hatten. Und diese polnische Geste – denn der 20. Juli ist kein Feiertag für die Polen, aber durchaus einer für die Deutschen – war nicht selbstverständlich. Dann kommt ein postkommunistischer – das Etikett ‚sozialdemokratischer‘ war damals noch heftig umstritten – Parlamentsvorsitzender und sagt: „Ja, natürlich, machen wir, als Gastgeber und mit den Deutschen“. Er hielt eine eindrucksvolle Rede über die den Polen bekannte, in Deutschland 1944 abstrakte Wertschätzung des Ungehorsams gegenüber einer Diktatur. Als Oleksy den Entwurf gelesen hatte, akzeptierte er ihn sofort. Dann grinste er: „Mit der Tradition des Ungehorsams meinen sie KOR7, nicht wahr?“ Das zeigte, dass man die Andersartigkeit der Tradition, der Kultur, der Wahrnehmung von Geschichte auf beiden Seiten in der Politik akzeptiert – das bezieht sich dann auch auf die Geschichtswissenschaft und die breitere Öffentlichkeit, aber ich konzentriere mich hier auf die Politik –, dass man sie respektiert, weil sie immer anders bleiben wird, denn es sind andere symbolische Taten, andere symbolische Gehalte, es dennoch auch eine Schnittmenge gibt. Und das war in diesem Fall die Tradition des 20. Juli 1944, als ein preußischer Militär, Stauffenberg8, von dem man ja wusste, was er in der ersten Phase des Weltkriegs über Polen geschrieben hat, den Tyrannen umbringen will entgegen dem Eid, der ihm einmal heilig gewesen war. Wir haben das dann so formuliert, dass dieses Beispiel von der Überwindung seiner bisherigen Biographie auch in Polen eine Entsprechung hat, wo ja auch die Lebensläufe vieler sehr gebrochen waren und sind: Dass wir seinen Mut schätzen und diese Konsequenz, die er gezogen hat, und er insofern für die Polen ein besseres Deutschland repräsentiert, obwohl wir schon damals wussten, was er seiner Frau 1939/40 aus Polen zu berichten hatte.

6 Józef Oleksy (1946-2015); Schewach Weiss (*1935). 7 Das Komitet Obrony Robotników (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) entstand nach den Unruhen von 1976 als Versuch zur intellektuellen und juristischen Unterstützung der Protestierenden und stellte eine wichtige Keimzelle der Solidarność-Bewegung dar. Siehe dazu Lipski, Jan Józef: KOR. A History of the Workers’ Defense Committee in Poland, 19761981. Berkeley 1985. 8 Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907-1944).

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Wie würden Sie sich in diesem Kontext rückblickend zum Begriff des „Versöhnungskitsches“ positionieren, den ja Ihr Schüler Klaus Bachmann9 geprägt hat? Klaus hatte völlig recht. Er meinte es damals etwas anders, aber mit der ihm eigenen Intelligenz traf er den Punkt, den ich bereits erwähnt habe: „Versöhnungskitsch“ ersetzt Politik, wo es um unterschiedliche, verhandlungsbedürftige Interessen geht. In den 1990er Jahren haben die deutschen Politiker – das sage ich jetzt etwas ironisch, aber ohne Übertreibung – gemerkt, dass, wenn man den Polen 20 Minuten lang davon erzählt, wie groß und was für ein geschichtliches Vorbild sie sind und wie toll die Solidarność10 war, und dass alles in Danzig begonnen hat, wenn sie das in Warschau erzählen zum Einstieg der Gespräche, dass sie dann in den Sachfragen, um die es eigentlich gehen sollte, sozusagen ‚aufgeweichten‘ Gesprächspartnern begegnen. Das war die Zuspitzung des „Versöhnungskitsches“, der tatsächlich überall spürbar war. Eine Falle. Letztlich für beide Seiten. Weil das Gespräch über die Vergangenheit, die angeblich gemeinsame Vergangenheit, ja nur teilweise ehrlich geführt wurde. Es sollte die Lösung der konkreten Probleme, die sich in den 1990er und 2000er Jahren ergaben, ersetzen. Hatten denn die Historikerinnen und Historiker auch ihren Anteil daran, dass dieser Versöhnungsduktus unter Ausklammerung heikler Fragen auf eine gewisse Art und Weise überhandgenommen hat? Oder würden Sie sagen, dass es eher ein Problem des publizistischen, medialen Raums war? Ganz definitiv letzteres. Es war ein Phänomen des medialen Raums und wie die Politik damit gespielt hat. Bei den Historikern war es anders. Wir hatten – sehr viel stärker auf polnischer Seite, da wir soeben eine Diktatur friedlich zum Sturz gebracht hatten; die westdeutschen Kollegen und Freunde meiner Generation haben schon immer in einer Demokratie gelebt – das Gefühl, dass wir jetzt endlich loskommen können von diesem traditionellen, binationalen Geschichtsverständnis, dass jedes Gebiet im Grenzraum zwischen Polen und Deutschland seine Monographie erhalten soll, in der nachgewiesen 9 10

Klaus Bachmann (*1963). Zwischen August 1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999.

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wird, dass es entweder schon immer deutsch und von den Polen okkupiert war, oder eben eine alte Gründung der polnischen Piasten war. Es war enorm wichtig, dass wir jetzt endlich aus diesem ganzen Quatsch herauskommen und die deutsch-polnischen Beziehungen als Teil der europäischen bilateralen Geschichten anfangen zu sehen, die es überall gibt von Irland über Schottland bis England, von Triest bis zum serbisch-kroatisch Geschichtsknoten. Deutschland-Frankreich ist natürlich das bekannteste Beispiel. Und zu dieser Öffnung ist man über diesen Vergleich kommen, dass es anderswo ebenso kompliziert war, dass es auch sprachliche, kulturelle Grenzen und Gegensätze und schmerzhafte Erfahrungen gegeben hat, dass man sich auch eventuell in seinem Nationalstaat von dem heutigen Nachbarn wirklich bedroht oder gar gedemütigt gefühlt hat. Vor allem in meiner Generation und unter den Jüngeren hat man sich zum Beispiel nach 1989 die Geschichte der Grenzorte in den ehemals deutschen Ostgebieten angeschaut, mit anderen Fragestellungen, die nicht das Exzeptionelle, sondern die europäische Normalität dieser Streitbeziehung zum Maßstab genommen haben. In meinem persönlichen Fall ist es von zwei Personen11 verbürgt, dass ich etwa 1994 – da müsste man die Zeitzeugen fragen – gesagt habe: „Jetzt ist ja eigentlich Schluss mit dieser traditionellen deutsch-polnischen Geschichte, mit all dem Hervorheben der Konflikthaftigkeit, der Opfer des Zweiten Weltkriegs und so weiter. Damit können wir jetzt aufhören. Das einzige Thema, was wir noch aufarbeiten müssen, ist die Vertreibung.“ Und daraus ist das Projekt mit Hans Lemberg12 entstanden. Das reicht dann bis in die 2000er Jahre hinein und war letztlich eine relativ entmutigende Erfahrung. Wir haben ja vier Bände produziert jeweils auf Polnisch und auf Deutsch.13 Gleich nachdem der letzte Band auf Deutsch erschienen war, 2002, folgte die große Kontroverse, mit Frau Steinbach14, der „Preußischen Treuhand“15, und auch der Versuch, 11 12 13

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Claudia Kraft (*1968); Jerzy Kochanowski (*1960). Hans Lemberg (1933-2009). Borodziej, Włodzimierz/Lemberg, Hans (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden  …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven. 4 Bde. Marburg 2000-2004; poln. Ausgabe: Niemcy w Polsce 19451950. Wybór dokumentów. Tom 1-4. Warszawa 2000-2001. Erika Steinbach (*1943). Die preußische Treuhand ist ein unter Beteiligung der Landsmannschaft Ostpreußen, dann auch der Landsmannschaft Schlesien im Jahr 2000 gegründetes Privatunternehmen, das den polnischen Staat auf Rückgabe von nach dem Zweiten Weltkrieg enteignetem Eigentum verklagt. Im Jahr 2008 hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die Klagen für unzulässig erklärt. Vgl. Jasińska, Anna: International Legal Issues in the Case of the Prussian Trust (Preussische Treuhand) against the Republic of Poland before the ECtHR, in: Polish Yearbook of International Law 29 (2009), S. 175-195.

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etwas Ähnliches auf polnischer Seite zu machen, eine Art „Polnische Treuhand“. Es hat sich dann herausgestellt, dass niemand in der Umgebung der Entscheidungsträger auch nur einige Seiten des Werkes wenigstens durchgeblättert hätte. Keine Übertreibung: Aus der Sicht der Politik waren die acht Bände Makulatur, überflüssig und inakzeptabel, weil man lieber davon sprach, was der jeweilige Nachbar noch alles aufzuarbeiten habe. Die Rezensionen (es gab nur wenige) waren ebenfalls kurios. Über den ersten Band, der 2000 auf Deutsch erschienen ist, hieß es in einer Besprechung der FAZ: Es sei doch irgendwie seltsam, dass die Polen das gemeinsam mit den Deutschen aufarbeiten und offenbar weder inhaltliche noch methodische Unterschiede bestünden. Man würde den Quellen ansehen, dass sie wirklich ehrlich ausgewählt worden seien und polnische Schuld nicht verschwiegen wird. Aber man müsse doch abwarten, bis der vierte Band erschienen sei.16 Diese erste Reaktion der FAZ wäre heute übrigens nicht mehr denkbar. Heute wäre dieser erste Band wohl als ziemlich sensationell empfunden worden und die Besprechung wäre sicher nicht so zurückhaltend ausgefallen wie um die Jahrtausendwende. Hier sieht man, dass man auf deutscher Seite dem nicht ganz getraut hat, dass die Polen es wirklich ernst meinen. Auf polnischer Seite sah es übrigens nicht besser aus. Welche Rolle spielten in den 1990er Jahren generell wissenschaftliche oder private Netzwerke? War der persönliche Umgang miteinander anders als in den 1980ern zum Beispiel? Der persönliche Umgang war durch die 1980er Jahre geprägt worden, wo es eine sichtbare Öffnung gegeben hat, polnischer- und deutscherseits, auch innerhalb der Generation meiner oder Michael Müllers17 Doktorväter. In meinem Fall begannen die 1990er Jahre ziemlich atypisch: 1989/90 war ich Stipendiat der Humboldt-Stiftung18 in Tübingen, wohin mich Dietrich Geyer19 eingeladen hatte. Ich hatte 1986 in seinem Seminar einen Vortrag über Polen in der Übergangsphase 1945-47 gehalten, der ihm offenbar gefallen hat. Er war 16 17 18

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Blasius, Rainer: Die Vertreibung der Deutschen. Eine Quellenedition aus polnischen Archiven, in: FAZ vom 20.10.2000. Michael G. Müller (*1950). Förderprogramm für Forschungsaufenthalte ausländischer Gastwissenschaftler in Deutschland durch die von der Bundesrepublik 1953 neu eingerichtete Alexander-vonHumboldt-Stiftung. Zur Stiftungsgeschichte: Jansen, Christian: Exzellenz weltweit. Die Alexander von Humboldt-Stiftung zwischen Wissenschaftsförderung und auswärtiger Kulturpolitik (1953-2003). Köln 2004. Dietrich Geyer (*1928).

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damals der Russlandhistoriker Westdeutschlands. Er verdient übrigens eine Biographie, in der Polen vorkommt, denn es wissen nur wenige, dass er dieses Land wirklich mochte, sich in Warschau wohlfühlte. Anfang der 1990er Jahre wurde diskutiert, ob das nächste Deutsche Historische Institut in Warschau oder in Moskau gegründet werden soll. Ich kenne die Geschichte nur aus zweiter Hand. Der entsprechende Ausschuss wartete auf eine eindeutiges Plädoyer Geyers für Moskau. Er schwieg, was auch einer Stellungnahme gleichkam. Sitz des neuen DHI wurde damit Warschau.20 Mit seinen Schülern hatte ich nach 1990 privat denkbar wenig Kontakte: Rudolf Jaworski, dessen Schüler Manfred Mack, Christoph Mick waren und sind die Ausnahmen.21 Wie gesagt, ein untypischer Fall, denn Geyer war aus meiner Sicht ein ausgesprochen kompetenter, anspruchsvoller, väterlicher Kollege, kein supervisor. In den anderen Fällen war die Rolle der Doktorväter unübersehbar. Es gab nämlich eine Tradition der ‚Vererbung‘. Die Ausnahme heißt Hans Henning Hahn, Schüler von Theodor Schieder, Jahrgang 1908, also um eine Generation älter als die Doktorväter, um die es gleich gehen wird.22 Hans Henning kam auf ganz anderen Wegen auf Polen. Bei ihm spielten seine Sympathie und aktive Unterstützung der polnischen Opposition eine wichtige Rolle. Er hatte jahrelang Einreiseverbot in die Volksrepublik. Ich habe ihn über Michael G. Müller 1981 kennengelernt, Michael selbst bereits 1980 und ich bin bis heute mit ihm befreundet, Norbert Frei23 Anfang der 1990er. Er war Schüler von Broszat, ich von Wojciechowski.24 Broszat und Wojciechowski kannten sich seit 1958 und hatten trotz aller Gegensätze eine Art freundschaftliches Verhältnis. Für uns war es selbstverständlich, dass wir dieses Verhältnis, vorausgesetzt die ‚Chemie‘ stimmt, eine Generation später fortsetzen, ohne ‚Gegensätze‘ aus der Zeit des Kalten Kriegs. Dieses Jahr ist er in Rente gegangen. Ich werde das bald tun. Ich kannte Norbert Frei wie Ulrich Herbert und Lutz Niethammer seit 1990, Joachim von Puttkamer (mit seinem Doktorvater Gottfried Schramm verbinden mich ausschließlich angenehme Erfahrungen, ohne dass sie für meine spätere Freundschaft mit Joachim bedeutend gewesen wären) seit mehr 20

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Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Rudolf Jaworski (*1944); Manfred Mack (*1955); Christoph Mick (*1961). Hans Henning Hahn (*1947); Theodor Schieder (1908-1984). Norbert Frei (*1955). Martin Broszat (1926-1989); Marian Wojciechowski (1927-2006).

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als 20 Jahren.25 Und dann Hans Lemberg (über ihn habe ich die damaligen Studentinnen Claudia Kraft und Tatjana Tönsmeyer26 kennengelernt), der sich – bei aller reichsgermanischen Korrektheit – bei näherem Kontakt als ein sensibler Mensch öffnete, auf den das ständige Pendeln zwischen Deutschen und Tschechen formativen Einfluss ausgeübt hatte. Unvergesslich, wie er mir seine Erinnerungen über die Prager Erlebnisse in den Jahren unmittelbar vor 1968 erzählte. Dieses Element der persönlichen Offenheit, dass man einander nicht im Namen der Politik oder irgendeiner erdachten Staatsräson betrügt, über den Tisch ziehen will, hat eine aus meiner Sicht entscheidende Bedeutung. Und das hat wiederum auf die jüngere, dritte Generation unserer Schüler, die meistens um 1980 geboren sind, abgefärbt. Es gibt jetzt schon mehrere Professoren unter ihnen. Es gibt natürlich Ausnahmen wie den ein wenig älteren Klaus Bachmann, der Deutscher ist und der mein erster Promovend war. Diese jungen Menschen, die Anfang der 2000er Jahre Magister gemacht haben und dann irgendwann 2005 oder so Doktoren wurden, sind nie auf die Idee gekommen, dass die deutschen Kolleginnen und Kollegen irgendwas von uns wollten, damit sie uns über den Tisch ziehen können. Es gibt gute und schlechte Historiker, das ist klar, wir sind alle national geprägt, kulturell, sprachlich, in unseren Bezugsräumen, in unseren Vorstellungswelten, aber dass hier der politische Wille dominiert, dass die Historiker als Boten und Vollstrecker einer Geschichtspolitik agieren, das ist dieser dritten Generation, glaube ich, nie in den Sinn gekommen. Sie haben jetzt schon eine Reihe von Namen genannt, aber vielleicht gibt es ja noch weitere, die als Einzelpersönlichkeiten in den 1990er Jahren für Sie besonders wichtig gewesen sind? Fangen wir mal mit der polnischen Seite an. Da war es relativ schwierig, weil die polnischen Historiker, auch meine gleichaltrigen Kollegen, damals eine ziemlich positivistische Geschichtswissenschaft betrieben haben. Maciej Górny27 hat die leider bis heute kaum bekannte These entwickelt – ich finde sie überzeugend –, dass diese Abwehrhaltung gegenüber neuen Großtheorien durch den berühmten „Hegelschen Biss“, wie ihn Miłosz28 genannt hat, aus25 26 27 28

Ulrich Herbert (*1951); Lutz Niethammer (*1939); Joachim von Puttkamer (*1964); Gottfried Schramm (1929-2017). Tatjana Tönsmeyer (*1968). Maciej Górny (*1976). Czesław Miłosz (1911-2004) bezeichnete mit ukąszenie heglowskie das Phänomen, dass vor allem marxistische Intellektuelle im 20. Jahrhundert in ihrem auf Hegel zurückgeführten

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gelöst worden ist. Ein beachtlicher Teil der polnischen Intelligenz, die den Krieg überlebt hat, hat sich hinreißen lassen, halb wissend, halb nichtwissend, den Stalinismus zu stützen, die größten Dummheiten, die der Vulgärmarxismus je produziert hat, nach Polen zu verpflanzen. Sie haben sich dann nach 1956 ihrer Biographie geschämt. Die Zeithistoriker haben dann eben positivistisch Fakten an Fakten aneinandergereiht, weil das der sichere und auch der ehrlichere Weg schien, diesen Beruf auszuüben. Also insofern weiß ich nicht, ob ich irgendein Vorbild hatte. Jerzy Holzer29 war sicher eine wichtige Person in meiner Biographie, aber er war ja auch ein traditioneller Politikhistoriker, und die besten Bücher hat er in den 2010er Jahren geschrieben, also lange nach der Emeritierung, wo er angefangen hat, anders zu schreiben, auch andere Zusammenhänge zu sehen. In den 1980er Jahren war das reine Politikgeschichte, ob jetzt die Geschichte der Solidarność, die Wahlen in der Weimarer Republik oder was auch immer.30 Also insofern hatte ich es hier auf polnischer Seite etwas schwer mit Vorbildern. Und auf deutscher Seite habe ich immer wieder gespürt, dass nicht in der Generation der Doktorväter, sondern der meiner Gleichaltrigen und deren Schüler Fragestellungen aufkommen, die meiner Generation in Polen bislang überhaupt nicht eingefallen sind. Verbunden war ich mit der Kulturgeschichte, mit der Imagologie, die Hans Henning Hahns Steckenpferd war, auch mit der Ethnologie, also mit all den benachbarten Humanwissenschaften, zu denen ich in diesem Fall auch die Soziologie zählen würde, obwohl einige Soziologen nicht damit einverstanden wären. Die Deutschen waren uns damals um einige Jahre voraus. Wenn ich jetzt diesen ganzen Prozess noch nicht so sehr der 1990er, aber der letzten 20 Jahre betrachte, dann sind wir heute – ich sehe das nur aus der Warschauer Perspektive – deutlich weiter. Ich will hier nicht über andere akademische Orte sprechen, wo es etwas anders aussehen mag. Wir haben zwischen 2000 und 2020 ziemlich viel aufgeholt, und mittlerweile sind ja die memory studies und das Monsterwerk von Hans Henning Hahn und Robert Traba31 über deutsch-polnische Beziehungsgeschichte mit starken kulturgeschichtlichen Ansätzen durchzogen.32 Das hat uns methodisch, im

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Glauben an die Zwangsläufigkeit des historischen Ablaufs für alternative Modelle nicht frei waren. Vgl. Miłosz, Czesław: Biesy, in: Ders.: Ogród nauk. Paryż 1979, S. 116-120, S. 119. Jerzy Holzer (1930-2015). Ders.: Solidarność 1980-1981. Geneza i historia. Paryż 1984 (dt.: 1985); ders.: Od Wilhelma do Hitlera. Warszawa 1963. Robert Traba (*1958). Zwischen 2006 und 2015 unter Federführung des CBH PAN Berlin nach französischem Vorbild, aber bald darüber hinausgehend, durchgeführtes Forschungsprojekt zur Geschichte zweiten Grades mit transnationalem Fokus. Vgl. Hahn, Hans Henning/Traba,

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professionellen Selbstverständnis, in der Definierung, was Geschichtswissenschaft kann (oder auch nicht) und was sie soll, sehr viel näher gebracht. Sie wollten immer, so scheint es zumindest, lesbare Bücher schreiben. In einem Interview erwähnten Sie einmal, dass Golo Mann in gewisser Hinsicht für Sie ein Vorbild gewesen ist.33 Golo Mann hat mich eigentlich dazu gebracht, Geschichte zu studieren, weil meine Mutter sein wohl – neben der Wallenstein-Biographie – größtes Buch seltsamerweise in ihrer privaten Bibliothek hatte, aus Gründen, die ich nicht kenne. Ich habe es34 1975 oder 76 gelesen und fand: Ja, so soll man Geschichte erzählen, und das konnten damals in Polen ebenso wie in Deutschland nur wenige. Über die deutsche Wissenschaftssprache brauchen wir keine Worte zu verlieren; eine Zumutung für den Leser. Auf beiden Seiten gab es Außenseiter, die Geschichte anders erzählt haben. Sie bewegten sich oft innerhalb eines konventionellen Geschichtsverständnisses, aber eben schön formuliert und pointiert. Es waren andere Bücher als die, die wir normalerweise als Studenten lesen mussten, aber eben in Deutschland wie in Polen Ausnahmen. In der Festschrift für Michael G. Müller haben die Herausgeber dieses durchaus lösbare Dilemma – wie vereinbart man Analyse mit Konstruktion? – mit dem Titel auf eine treffende Formel gebracht: „Dekonstruieren und doch erzählen“.35 Waren die Historikerkontakte nach 1989 denn in erster Linie geprägt von Männern? Oder wo waren die Frauen eigentlich damals? Es gab sie ganz selten. Auf polnischer Seite natürlich Maria Wawrykowa36, KZ-Häftling, Vertreterin der Neueren Geschichte. Bei den polnischen Zeithistorikern war es Krystyna Kersten37, aber die hatte mit Deutschland über-

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Robert (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte.  5 Bde. Paderborn 2012-2015; poln. Ausgabe: Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Tom  1-4. Warszawa 2012-2015; dies. (Hg.): 20 deutsch-polnische Erinnerungsorte. Paderborn 2017; poln. Ausgabe: Wyobrażenia przeszłości. Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Warszawa 2017. Golo Mann (1909-1994). – „Ich halte die auswärtige Kulturpolitik der Bundesrepublik für das Größte, was sie überhaupt geschaffen hat.“ Gespräch mit Włodzimierz Borodziej, in: Jürgen Danyel/Jan  C.  Behrends (Hg.): Grenzgänger und Brückenbauer. Zeitgeschichte durch den Eisernen Vorhang. Göttingen 2019, S. 101-122, hier S. 105. Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1958. Heyde, Jürgen u.a. (Hg.): Dekonstruieren und doch erzählen. Polnische und andere Geschichten. Göttingen 2015. Maria Wawrykowa (1925-2006). Krystyna Kersten (1931-2008).

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haupt nichts am Hut. Und auf deutscher Seite, wenn ich mir anschaue, wem ich begegnet bin, war die erste wichtige Kollegin (nicht aus der Generation unserer wissenschaftlichen ‚Kinder‘, sondern in etwa gleichaltrig und bereits arriviert) Ute Frevert38, vermutlich 1996. Unsere ersten Gespräche in Konstanz und Warschau haben mich an die Abende, einige Jahre zuvor, mit Uli Herbert oder Norbert Frei erinnert, wo ich gedacht habe: die haben noch eine steile Karriere vor sich! Die ‚Sache mit den Frauen‘ hat sich seitdem bekanntlich gravierend verändert. Ich sage immer über Claudia Kraft, sie sei meine erste Studentin (weil sie an meinem Seminar in Marburg 1994-95 über Galizien in der Habsburgermonarchie nach dem Ausgleich von 1867 teilgenommen hat), die eine professoressa geworden ist, zuerst in Deutschland, heute in Wien. Historiker waren in dieser Hinsicht weder besser noch schlechter als andere Humanwissenschaften. Insgesamt würde ich sagen, dass es erst die 2000er und 2010er Jahre gewesen sind, als sich dieses Bild prozentmäßig erfassbar verändert hat. Mit erstaunlich angenehmen wie unerwarteten Folgen, die mit den deutsch-polnischen Historikerbeziehungen wenig zu tun haben. Sie haben nun auch schon Gemeinsamkeiten und Unterschiede angesprochen. Konnte man für die 1990er Jahre in Deutschland und in Polen dezidiert von anderen Wissenschaftskulturen sprechen? Ich glaube schon. Es sind andere ‚Schulen‘, in denen wir alle aufgewachsen sind, andere kulturelle Bezüge, vielleicht bei mir als jemand, der zwischen diesen beiden Kultursphären immer wanderte, weniger, aber doch ist das irgendwie im Hintergrund vorhanden. Damit kommen wir auf ganz grundsätzliche Unterschiede. Zunächst einmal ist es die wissenschaftliche Sprache. Ich habe immer die Kollegen bewundert, die deutsche wissenschaftliche Bücher gelesen haben, ohne perfekt Deutsch zu können, mit all diesen furchtbaren Schachtelsätzen, dieses schon erwähnte Unlesbare, das die Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum zu einer Wissenschaft machen sollte. Das hat es in Polen so nicht gegeben. Hier war die Art (nach 1956) zu schreiben, würde ich sagen, völlig farblos, losgelöst von jeder Emotion. Das hat auch mit diesem erwähnten, betont zurückhaltenden, positivistischen Ansatz zu tun, mit Fokus auf die Rekonstruktion von Prozessen und auf die Zusammenstellung von Fakten. Also das eine wäre die kulturelle Prägung, das andere, wie wir über die Geschichte geschrieben haben. Am wenigsten war es in unserem Umgang mit Studenten sichtbar, denn der ähnelte sich bereits in den 1990er Jahren weitgehend. Bei uns ist es seit 38

Ute Frevert (*1954).

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Jahrzehnten nicht mehr üblich, dass der Magister, der die Veranstaltung leitet, mit „Panie Magistrze“39 angesprochen wird oder dass man im selben Satz dreimal „Panie Profesorze“40 zu sagen braucht. Unser Umgang mit Doktoranden ist dem deutschen ebenfalls seit langer Zeit ähnlich: Keine Fronarbeit (die es u.a. an Technischen und Medizinischen Universitäten weiterhin geben soll); kein Professor, der den Beitrag des Doktoranden mit unterzeichnet, obwohl er an ihm nicht mitgearbeitet hat; kein Sexismus. Das Institut für Geschichte an der Universität Warschau war sowieso das liberalste westlich von Moskau. Und wir hatten schon in den 1980er Jahren eine ganze Reihe von Freiräumen für Studenten, die anderswo undenkbar waren. Es ging immer um die Interpretation von Quellen, egal ob sie offiziell, im Untergrund oder im Exil publiziert worden waren. Es waren in der Regel Quellenübungen, über die man lernen sollte, was wir so alles sehen und nicht bemerken und was irgendwie eine Rolle spielt. Die Stärke der deutschen Seminare, an denen ich teilgenommen habe als Dozent oder Co-Dozent, liegt in der Betonung der Auswertung von Sekundärliteratur. Wenn mein Eindruck nicht täuscht, versucht man sehr früh, die Studenten auf ein anderes, nicht unbedingt höheres Level zu heben, aber dass man nicht eine Quelle zum Hauptgegenstand der Diskussion nimmt, sondern die unterschiedliche Verarbeitung dieser Quelle in wissenschaftlichen Aufsätzen. Dann gibt es im didaktischen Betrieb noch den grundsätzlichen Unterschied, dass in Polen kaum das System von Referaten verwendet wird, sondern es immer um ein gemeinsames Thema geht, eine Lektüre, Quelle plus Literatur dazu, die alle Teilnehmer zu lesen haben. Ich finde das polnische System in dieser Hinsicht wesentlich besser, weil man bei den Referaten von vielen Studenten wirklich einschlafen (oder sich zu Tode ärgern) kann, sagen wir es doch mal ehrlich. Und wenn es sich um eine Quelle handelt, hat man manchmal die Chance, diese Schweigenden aus der zweiten und dritten Reihe besser an den Geschmack dieser Sache heranzuführen, als wenn ein Kommilitone oder eine Kommilitonin das referiert, und das, wie gesagt, nicht immer geschickt tut. Aber insgesamt gab und geht es um Unterschiede in der Didaktik, die nichts mit dem Umbruch von 1989 zu tun haben. Vielleicht sollte ich noch ergänzen, dass das deutsche und polnische Wissenschaftssystem heute – in den 1990er Jahren noch nicht so sehr, eher bereits in Deutschland – geprägt werden von der Ökonomisierung der Wissenschaft, auf Polnisch heißt das punktoza, also die Parametrisierung von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, ziemlich absurd in unserem Zusammenhang. In Deutschland sind es die Drittmittel, die man einwirbt oder nicht, und dann 39 40

Dt. Herr Magister. Dt. Herr Professor.

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den Lehrstuhl bekommt oder auch nicht. Wir befinden uns da in einer unterschiedlichen Logik des Wissenschaftssystems, die aber gleichermaßen stressig ist, im Grunde ausgerichtet auf Zahlen dieser oder jener Art. Und in Bezug auf diese strukturelle oder traditionsbedingte Differenz würde ich hinzufügen, dass es ja auch eine extreme Differenz der finanziellen Mittel gab und gibt. Meine These ist von 1989 bis heute durchgehend dieselbe: Was in Polen einen Złoty kostet, kostet in Deutschland einen Euro (vorher eine DM)! Unsere Haushalte liegen, wenn man sie ganz grob vergleicht, wahrscheinlich in der Gegend von eins zu vier. Und das macht natürlich aus den Deutschen hochinteressante Partner für die polnische Seite. Das ist dann wieder das Positive an der polnischen Parametrisierung, dass sie dazu zwingt, sich für andere Sprachräume zu öffnen, vor allem in Richtung der englischsprachigen Wissenschaft oder Wissenschaftskulturen, und dass man über diese internationalen Netzwerke dieses deutsche finanzielle Übergewicht ein wenig kompensieren kann, weil immer mehr Gelder aus Brüssel kommen. Sie haben kürzlich einmal in dem Band für Christoph Kleßmann41 von einem „erdrückende[n] qualitative[n] Übergewicht der polnischen Seite“ für bestimmte Themenbereiche der Geschichtswissenschaft zu Beginn der 1990er Jahre gesprochen.42 Welche Schieflagen oder Asymmetrien würden Sie da konstatieren? Muss man es auch vor dem Hintergrund alter Komplexe und Verhaltensmuster in den deutsch-polnischen Beziehungen sehen? Es war in den 1960er, 70er, 80er Jahren so, dass es deutsche Historiker, die ähnlich kompetent gewesen wären in Bezug auf Deutschordensgeschichte, im weiteren Sinne Geschichte Ostpreußens, auch Westpreußens oder Posens, sehr viel weniger gab als polnische, was natürlich ein quantitativer Unterschied ist, aber der hatte schon etwas damit zu tun, dass die Polen sich die Mühe gemacht haben, die deutschen Manuskripte aus dem 15.-17. Jahrhundert lesen zu lernen. Die Ostforscher wie die Preußenhistoriker haben sich in der Regel keine Mühe gemacht, die Sprache des Landes zu lernen, über das sie forschten. Die Ausnahme war Russland, dessen Sprache und Kultur man bereits in den 1920er Jahren in Berlin oder Paris dank der Exilrussen hervorragend lernen konnte. Eine nicht ganz unwichtige Nebenbemerkung: Dies ist der intellektuelle, auch emotionale Background für den Aufruhr der wenigen wie Klaus Zernack, der

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Christoph Kleßmann (*1938). Gespräch mit Włodzimierz Borodziej, in: Danyel/Behrends, Grenzgänger, S. 116.

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es auf die einfache Formel brachte: polonica non leguntur.43 Er setzte gegen alle Widerstände die Grundregel durch: polonica leguntur. Dieses Milieu dürfte auch für Hans-Jürgen Bömelburg44 ein wichtiger Bezugspunkt gewesen sein, anders formuliert: Ohne Zernack hätte er sich nicht bei Michael  G.  Müller habilitieren können. Kommen wir nun auf das eigentliche Thema zurück: Die Schieflage, die Sie erwähnt haben, war um 1990 mit bloßem Auge sichtbar. Mittlerweile ist das völlig anders. Da muss man wieder Institutionen in den Blick nehmen. Als erste wäre da das DHI Warschau, wo eigentlich Zweisprachigkeit, wenn ich das richtig sehe, Voraussetzung ist für ein Stipendium, für Projektmitarbeit oder was auch immer. Und mittlerweile ist dieses deutsche historische Wissen über Polen erstens ganz anders und zweitens sehr viel umfangreicher als es noch in den 1980er Jahren der Fall war. Die deutschen Doktoranden und dann Postdocs haben alle möglichen Themen aufgegriffen, die in Ostgalizien ihr Zentrum haben, in Wilna, oder in Grodno, was vor 1989 unvorstellbar war. Zum Beispiel Felix Ackermann45, um mal einen Namen zu nennen, wäre vor 1989 schwer denkbar gewesen. Die Schieflage ist damit mehr als gekippt, die Gewichte im 21. Jahrhundert haben sich gewissermaßen umgekehrt. Ich glaube, es gibt wesentlich mehr Arbeiten deutscher Historiker über Polen als polnische Historiker, die etwas Wichtiges zur deutschen Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert in den letzten 30 Jahren beigetragen hätten. Das hat mit Komplexen nichts zu tun, sondern mit dem schlicht sprachlichen Vorteil – ich klammere mich selbst jetzt mal aus –, dass man natürlich, wenn man in einem deutschen Verlag publizieren und damit für ein deutschsprachiges Fachpublikum zugänglich werden will, als polnischer Historiker die Übersetzungskosten beschaffen muss. Nicht immer einfach. Umgekehrt gibt es das Problem nicht. Vor allem dank des DHI Warschau hat sich die Sicht der deutschen Historikerinnen und Historiker auf Polen extrem erweitert und vertieft, auch weil man von den traditionellen Themen wie tausendjähriger deutscher ‚Drang nach Osten‘ oder ‚Vertreibung‘ wegkommen durfte. Auf polnischer Seite gibt es das Centrum Badań Historycznych46 in Berlin, das sich unter Robert Traba innerhalb von 43

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Klaus Zernack (1931-2017) – ders.: Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Ders./Wolfgang H. Fritze (Hg.): Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Berlin 1976, S. 3-46, S. 3. Hans-Jürgen Bömelburg (*1961). Felix Ackermann (*1978). Centrum Badań Historycznych Polskiej Akademii Nauk w Berlinie / Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. 2006 gegründete Außenstelle der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Pankow.

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zwölf Jahren (2006-2018) mit den gewaltigen Büchern über deutsch-polnische Erinnerungsorte einen erstaunlichen Rang gesichert hat. Dort werden natürlich auch viele traditionelle deutsch-polnische Themen behandelt, aber anders erzählt. Insgesamt geht es um eine Öffnung, deren Gründe ich nicht nur im methodischen Bereich, sondern in dem Wegfall außenpolitischer Zwänge sehen würde, dem – wieder grob gesprochen – eine andere Mentalität ihr Entstehen verdankt. Und ich glaube, um das nochmal zu pointieren, dass das deutsche historische Wissen, das heute in Büchern oder Zeitschriften nachlesbar ist, doch entscheidend tiefer und breiter ist als das entsprechende Fachpotenzial auf polnischer Seite. Gab es für Sie in den 1990er Jahren noch andere Institutionen, vielleicht auch neben dem DHI, die in der Verdichtung einer deutsch-polnischen Wissenschaftskommunikation eine entscheidende Rolle gespielt haben? Sicher die Humboldt-Stiftung, die DFG47 und der DAAD48 (der eher für Studenten, Diplomstudenten, Magistranden und Doktoranden gedacht ist), wobei wir hier natürlich auf das alte Thema stoßen, dass die Zahl der Anfragen von polnischen Staatsbürgern für einen Forschungsaufenthalt in Deutschland – und in der Regel ist das von den 1990ern bis heute so gewesen – unvergleichlich höher liegt als die entsprechende Zahl der Deutschen, die etwas in Polen oder über Polen schreiben wollen. Und wenn wir dann etwas höher schauen, dann sind die polnischen Doktoranden, wenn sie in Deutschland arbeiten wollen, letztlich doch auf deutsche Stipendien angewiesen. Es gibt kein Programm, dass eine breite Förderung von polnischen Doktoranden, die sich für Deutschland interessieren, ermöglichen würde, von Ausnahmen abgesehen, die ich möglicherweise einfach nicht kenne. Und dann wird es wieder besser mit den DFG-Postdocs und internationalen Projekten, wo sich auch Polen und Deutsche begegnen. Wir haben übrigens 2017 versucht, mit PIASt49 ein 47

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Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ist die 1920 (als Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft) entstandene zentrale Organisation zur finanziellen Koordination der wissenschaftlichen Forschung in Deutschland. Vgl. Orth, Karin/ Oberkrome, Willi (Hg.): Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920-1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Stuttgart 2010. Deutscher Akademischer Austauschdienst, 1925 gegründet. Vgl. Alter, Peter (Hg.): Der DAAD in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben – vierzehn Essays. Berlin 2000. Polski Instytut Studiów Zaawansowanych (Polish Institute for Advanced Studies). 2017 im Rahmen der Polnischen Akademie der Wissenschaften gegründetes Zentrum zur Verbesserung der internationalen Kooperation mit Polen, etwa durch die Vergabe von Fellowships an ausländische Forscher*innen.

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humanwissenschaftliches Institut zu gründen, das man wahrscheinlich vom Anspruch her mit dem Imre Kertész Kolleg50 in Jena vergleichen sollte. Es ist finanziell gut ausgestattet, dennoch scheint es nach drei Jahren Tätigkeit noch in den Kinderschuhen zu stecken. Möglicherweise bin ich da ungerecht, weil nicht hinreichend informiert. Aber das Förderungspotenzial auf deutscher Seite ist sowohl für die deutschen als auch für die polnischen Bewerber auf diesem Markt unvergleichlich höher. Wie haben Sie auf einer alltagskulturell-praktischen Ebene die Unterschiede in der Arbeit als Historiker, in Archiven, Bibliotheken und so weiter, zwischen Polen und Deutschland in den 1990er Jahren empfunden? Die Westdeutschen haben sozusagen unwissentlich einen Exportartikel gebastelt, nämlich die sogenannte Gauck-Behörde51, die sehr früh, schon Anfang der 1990er Jahre, arbeitsfähig geworden ist. Die polnische Entsprechung, das IPN52, hat erst 1999 zu arbeiten begonnen. Das war in den 1990er Jahren das Element des deutschen Übergewichts hinsichtlich der Einsehbarkeit der Archive. Auf polnischer Seite stellte sich dann heraus, dass mit einer einfachen Verordnung des damaligen konservativen Kulturministers praktisch alle Archivbestände – bis auf Akten der ‚Aufklärung‘, also Spionage im Westen – von Staats- und Parteiorganen, die vor dem 10. Mai 1990, egal aus welchen Gründen dieses Datum jetzt ausgewählt wurde, entstanden sind, für die Wissenschaft frei zugänglich sind. Damit erreichte Polen ein ziemliches Übergewicht (man stelle sich solche ‚Umstände‘ in Frankreich oder Großbritannien vor – undenkbar!), das jetzt ausläuft. Ab 2020 gilt wieder die übliche Sperrfrist von 30 Jahren, genauso wie anderswo. Damit sind wir wieder auf demselben Level, die polnischen Zeithistoriker, wie alle über Polen 50 51

52

Das Imre Kertész Kolleg wurde als 9. Käte Hamburger Kolleg des BMBF 2010 in Jena gegründet. Es befasst sich mit der Geschichte der Länder zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer. 1990 errichtetes Archiv für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), umgangssprachlich nach der jeweils leitenden Person der Behörde benannt, somit zunächst nach Pastor Joachim Gauck (*1940). Mittelfristig werden die Bestände ins Bundesarchiv überführt werden. Instytut Pamięci Narodowej (Institut für Nationales Gedenken). 1998/1999 in der Tradition der „Hauptkommission für die Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen in Polen“ gegründete zentrale wissenschaftliche Einrichtung, die historische Forschung, öffentliche Bildungsarbeit und juristische Ermittlungstätigkeit zur Zeitgeschichte Polens zwischen 1939 und 1989 betreibt. Vgl. Lau, Carola: Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur nach 1989. Institute für nationales Gedenken im östlichen Europa im Vergleich. Göttingen 2017, S. 145-280.

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arbeitenden Historiker, haben den ‚Heimvorteil‘ verloren. Ich habe immer wieder meine Gesprächspartner mit der Feststellung erstaunt, dass der Archivzugang in Polen eigentlich mustergültig und optimal für einen Historiker ist, was die Akten, die zwischen 1944 und 1989 entstanden sind, betrifft. Also es gab hier Wellen, und dieses deutsche Übergewicht durch die Gauck-Behörde in den 1990er Jahren ist dann aufgehoben worden durch diese extrem liberale und wissenschaftsfreundliche Regelung vom Ende der 1990er Jahre in Polen, wo 99,99 Prozent der Akten zugänglich geworden sind. Wenn Sie es nochmal zuspitzen müssten: Gab es so etwas wie transnationalen methodischen Austausch? Wurden Ansätze und Fragestellungen verfolgt, die über den nationalen, gerade auch bilateralen Rahmen hinausgingen? Oder waren das dann schon eher die Ausnahmen? Ich würde schon sagen, dass die Abkehr von einem bestimmten Tenor der Geschichtsschreibung, dass eben das Deutsch-Polnische so schrecklich und so ausnahmehaft ist, eine andere Art des Denkens über Geschichte und darüber wie man Geschichte nicht nur erforschen, aber auch erzählen soll, bewirkt hat. Dieser Transfer an methodischem Wissen ist, glaube ich, aber relativ gering gewesen und zwar auf beiden Seiten, weil diese von mir bereits erwähnten polnischen memory studies eindeutig trotz aller Verbundenheit zu oral history und zu Lutz Niethammer, nicht auf Deutschland als Bezugspunkt, als Quellenspender fixiert sind, sondern eher auf diesen völlig internationalen Hintergrund, wo die Deutschen natürlich auch wichtig sind, aber nicht entscheidend. Und methodische Ansätze, die von Polen aus in die deutsche Geschichtswissenschaft transferiert worden sind? Ich hätte Schwierigkeiten, in der Zeitgeschichte auch nur ein einziges Beispiel zu benennen. Wenn Sie Publikationen benennen müssten, die für Sie in den 1990er Jahren am einflussreichsten waren und vielleicht sogar bis heute sind, welche wären das? Eine sehr schwierige Frage, aber mich haben Romane seit eh und je viel mehr beeindruckt als wissenschaftliche Literatur. Das ist auf jeden Fall sicher. Aber die Entdeckung dieser angelsächsischen Art, Geschichte zu schreiben, die ist in den 1990er Jahren wichtig gewesen. Timothy Snyders Dissertation hat mich tief beeindruckt.53 Timothy Garton Ash54, der manchmal als Historiker, 53 54

Timothy Snyder (*1969) – ders.: Nationalism, Marxism, and modern Central Europe. A biography of Kazimierz Kelles-Krauz (1872-1905). Cambridge, Mass. 1997. Timothy Garton Ash (*1955).

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manchmal als Publizist auftritt, war auch ein wichtiger Bezugspunkt, eine ganze Reihe von seinen Büchern, die von historischer Reportage bis zu wissenschaftlich fundierten Monographien gehen. Und unter den Deutschen? Nicht zufälligerweise waren es Ulrich Herbert mit seiner Werner Best-Biographie, Fritz Stern mit der Bleichröder-Biographie, die mir neue Horizonte eröffnet haben.55 Aber sonst müsste ich nachdenken … von Philipp Roth über William Somerset Maugham und John le Carré, die frühen Theaterstücke von Friedrich Dürrenmatt, dann Max Frisch, Heinrich Böll, Aleksej Tolstoj, mehrere sog. Iberoamerikaner, die ich meist schon in den 1970er und 80er Jahren gelesen habe, bis hin zu in Deutschland kaum bekannten polnischen Romanautoren.56 Ich habe in den 2010er Jahren viele Meter von Büchern abgegeben an Studenten, weil Bibliotheken ja keine Bücher mehr haben wollen. Auf meinem Buchregal geblieben ist aber zum Beispiel ein total vergessener sowjetischer Schriftsteller, Jurij Trifonov57. Dann Spanier, vielleicht nicht ganz so niveauvoll für die Hochgeistigen: Perez-Réverte, den ich sehr mag, und Cercas.58 Unter den polnischen Autoren sind es eigentlich die sogenannten autorzy jednego tytułu, die ein gutes Buch geschrieben haben und dann hätten aufhören sollen zu schreiben, aber sie schreiben trotzdem weiter. Schade. Zusammenfassend würde ich sagen: deutsch- und englischsprachige, polnische, russische, spanischsprachige und tschechische Romane. Und dann kommt das neue Jahrtausend, in dem es immer mehr autorzy jednego tytułu gibt, aber auch Kehlmann59 und andere waren für mich in den letzten 30 Jahren, glaube ich, insgesamt wichtiger als polnische Schöne Literatur. Welches waren denn die wichtigsten Themen und Leitnarrative der letzten 30 Jahre für Sie und wie würden Sie Ihre eigenen Forschungen da verorten? In meinem Fall ist es ganz eindeutig so, dass ich aus diesem polnisch-deutschen Kontext heraus bin, seitdem ich am Imre Kertész Kolleg 2010 bis 2016 55

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Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft (1903-1989). Bonn 1997; Fritz Stern (1926-2016) – ders.: Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder. Frankfurt am Main/Berlin 1978. Die engl. Originalausgabe erschien 1977. William Somerset Maugham (1874-1965); David John Moore Cornwell (John le Carré) (1931-2020); Friedrich Dürrenmatt (1921-1990); Max Frisch (1911-1991); Heinrich Böll (19171985); Aleksej N. Tolstoj (1883-1945). Jurij Trifonov (1925-1981). Arturo Pérez-Reverte (*1951); Javier Cercas (*1962). Daniel Kehlmann (*1975).

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Co-Direktor war und sehr viel mehr Spaß an anderen Themen fand. Warum? Weil mich die Geschichte der ungarischen Variante des ‚Judäobolschewismus‘ mehr interessiert als die polnische (die ich so halbwegs zu kennen glaube), weil in der Südslowakei und in Siebenbürgen 1945 eben kein 100%iger Bevölkerungsaustausch stattgefunden hat, weil ich Tito als Großverbrecher und Staatsmann weniger verstehe als den irgendwie vertrauten Gomułka,60 weil ich weiterhin schwer begreife, was die Rumänen getrieben hat, ihre und andere Juden in schlicht sadistischer Weise zu ermorden … you name it. Überdies habe ich gerade in Jena mit Maciej Górny (der bei mir Magister geworden ist; in den folgenden zehn Jahren war dann der Kontakt eher sporadisch) einen kongenialen und beneidenswert intellektuell gut ausgestatteten Partner gefunden, der längst ein besserer Historiker ist als ich. Deutschland und Polen bleiben natürlich wichtig, aber Tschechien und Ungarn, das ehemalige Jugoslawien und Rumänien ebenso. Finnland ist für mich in den letzten Jahren wichtig geworden. Dieses Interesse an der Region überwiegt bei mir ganz eindeutig das Interesse an rein deutsch-polnischen Problemen. Aber auch wenn ich etwas über Länder wie Irland und Spanien lese, über die ich nie geforscht habe, dann eröffnen sich ganz neue, unter anderem vergleichende Perspektiven. Wenn man zum Beispiel die Todesopfer des Bürgerkriegs 1945-47 oder des Stalinismus in Polen mit dem Spanien Francos zwischen 1939 und 1949 vergleicht, bei einer vergleichbaren Größe von Populationen, war es in Spanien unendlich brutaler – was die polnische Rechte nie als Tatsache akzeptieren wird … Oder wie die Iren sich ihre Unabhängigkeit erkämpft und verhandelt haben, obwohl sie keine ‚eigene‘ Landes- und Staatssprache hatten, das sind alles faszinierende Sachen, die dann ihre Entsprechungen irgendwo in ‚meinem‘ Teil Europas finden. Insofern bleibe ich ein großer Anhänger von Europäischer Geschichte, die ich aber nicht mehr schreiben werde. Sie waren ja auch federführend an der Konzeption des Hauses der Europäischen Geschichte61 in Brüssel mitbeteiligt. Vor zehn Jahren schrieben Sie: „Vor 100 Jahren zweifelte man, wo Polen überhaupt liegt – ebenso wo es hingehöre, falls es mal wieder entstünde, was alles andere als gewiss war. Es gibt Fragen an 60 61

Josip Broz (Tito) (1892-1980); Władysław Gomułka (1905-1982). 2017 in Brüssel entstandenes Museum. Vgl. auch Borodziej, Włodzimierz: Das Haus der Europäischen Geschichte – ein Erinnerungskonzept mit dem Mut zur Lücke, in: Volkhard Knigge u.a. (Hg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung. Köln/Weimar/Wien 2011, S.  139-146; Fickers, Andreas: Kompromissgeschichte, serviert auf dem „Tablet“. Das Haus der europäischen Geschichte in Brüssel, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15 (2018) 1, S. 173-183.

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die Geschichte, die sich im Laufe der Zeit erübrigen“.62 Welche Fragen an die Geschichte werden sich also in Zukunft erübrigen? Und wie wird angesichts dessen die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Polen, Deutschland und Europa im Jahr 2030 aussehen? Auf die erste Frage eine schrecklich banale Antwort: Dass wir aus der Geschichte bestenfalls lernen, was man nicht machen soll, ist bekannt. Dass man innerhalb des letzten Jahrhunderts in der République des Lettres gelernt hat, dass Miroslav Krleža, Milan Kundera, Sándor Márai oder Czesław Miłosz keine Hinterwäldler sind, die nur klagen, betteln oder beten können, wie die Polen von Sławomir Mrożek karikiert werden, sondern ihren ‚westlichen‘ Zeitgenossen in nichts nachstehen.63 Sie haben halt das historische Pech, keine englischen oder französischen Muttersprachler zu sein. Und als letzte der obsolet gewordenen Fragen: Das Schicksal Russlands ebenso wie die Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas im 20. Jahrhundert lässt sich aus dem Gedächtnis Europas nicht wegdenken – wie im Haus der Europäischen Geschichte demonstriert wird. Zur zweiten, bescheideneren Frage: Sie wissen ja, dass Historiker die schlechtesten Propheten sind, aber wenn ich mal spekulieren sollte, würde ich sagen, dass es erstens in Polen einen Rückgang von diesem Unsinn der zahlenmäßigen Erfassungsmethode geben wird, weil sich das einfach nicht bewährt. Ich weiß nicht, wie das in Deutschland laufen wird, weil die Drittmittelkultur dort sehr viel älter ist als die polnische Parametrisierung. Aber die grundsätzliche Idee, dass man die polnische Wissenschaft europäisieren, international zugänglich und attraktiv machen will, ist durchaus richtig. Nur: Mit diesen Mitteln, dass man rein mechanisch Punkte zählt, wird es ein moving target, ein unerreichbares Ziel bleiben – wir sammeln Punkte, müssen in Zeitschriften publizieren. Ich hatte es in den letzten paar Jahren in verschiedener Eigenschaft (Autor, Herausgeber, der Geehrte) mit mindestens vier Festschriften zu tun. Festschriften bringen keinen einzigen Punkt, genauso wie Sammelbände nach einer Konferenz. Bleiben wir aber bei den Festschriften: Sollte jemand behaupten, diese mir bekannten vier lägen qualitativ nicht weit oberhalb der meisten Zeitschriften, würde ich ihm abraten, als peer reviewer seinen Ruf aufs Spiel zu setzen. Das wird hoffentlich der wichtigste Trend sein zwischen 2020 und 2030, wo sich die besten polnischen Universitäten langsam neu erfinden (in den USA, wohl auch in Kanada haben sie das Punktesystem meines Wissens 62 63

Borodziej, Włodzimierz: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 411. Miroslav Krleža (1893-1981); Milan Kundera (*1929); Sándor Márai (1900-1989); Sławomir Mrożek (1930-2013).

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von vornherein abgelehnt; insofern gibt es da nichts, was man aufräumen müsste). Nachdem das Pendel soweit ausgeschlagen hat, sollten sie in einer vernünftigen Mitte landen, wo das Renommee des Verlags oder der Zeitschrift wichtig bleibt, dennoch die Qualität des Beitrags, die wir selbst beurteilen, mitberücksichtigt wird. Das neue Hochschulgesetz hat übrigens mit der Parametrisierung nichts zu tun, obwohl viele es anders glauben wollen.64 Zweitens betrachte ich die deutsche Wissenschaftslandschaft, hauptsächlich die humanwissenschaftliche, mit Beunruhigung. Einerseits sind selbst die Humanwissenschaften an manchen Orten üppig ausgestattet, andererseits aber eröffnet die Logik des Systems allzu viele Sackgassen. Jemand ist promoviert, mit einer sehr guten Arbeit, landet aber nicht auf dem tenure track. Dafür gibt es die Postdoc-Projekte. Dann ist diese Person irgendwann habilitiert, Privatdozent. Und dann stellt sich heraus, dass es auf einen Lehrstuhl, der in der Kompetenz dieser Person liegt, 100 Bewerbungen gibt. Das deutsche Wissenschaftssystem ist also extrem gefährlich in dem Sinne, dass man dann mit 40 oder so dasteht, eben ohne tenure track und sich das wissenschaftliche, oder nein, eigentlich das ganze Berufsleben und damit das Leben überhaupt anders überlegen muss, ganz neu. Da sind wir mit unserem aus dem Staatssozialismus geerbten Gewohnheitsrecht, dass – verkürzt gesagt – die Stelle für einen Habilitierten in der Regel eine tenure ist, ganz gut dran. Wenn man will, kann man riskieren, dass man aus diesem tenure track, um schneller aufzusteigen, für einen Augenblick hinausgeht. Das passiert aber eher selten, weil es ziemlich riskant ist. Insgesamt, glaube ich, ist die Zahl der individuellen biographischen Sackgassen, die das polnische System eröffnet, zumindest im Augenblick noch wesentlich geringer als in Deutschland, wo so viele gute Leute, die ich kenne, keinen Lehrstuhl bekommen haben, arbeitslos geworden sind oder sich mit verschiedenen anderen Projekten herumschlagen, aber nie die Chance bekommen haben, das zu verwerten, was sie sich innerhalb von 20 Jahren zwischen Studium und Habilitation intellektuell angeeignet haben. Und damit ist auch die Hälfte des Lebens vorbei, mindestens. Ich glaube, das ist europäisch gesehen in jedem Land ziemlich unterschiedlich. Aber wenn ich das richtig sehe, gibt es grob gesagt zwei Modelle: Eines, wo man mit dieser gesicherten Stelle, also dem tenure track, mehr oder minder schlecht verdient, das dürfte in einer ganzen Reihe von Ländern, nicht nur im ehemals kommunistischen Europa, der Fall sein. Das italienische System funktioniert wohl nicht wesentlich anders. Und dann gibt es dieses andere, das 64

Das neue polnische Hochschulgesetz trat am 1.10.2018 in Kraft und wird seitdem schrittweise umgesetzt. Es strukturiert u.a. die Universitätsverfassung neu, gibt der jeweiligen Rektorin oder dem jeweiligen Rektor mehr Macht und gliedert die Fakultäten neu.

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höchst kompetitiv angelegt ist, wie in Deutschland. Ich kenne das schwedische Gegenbeispiel kaum, aber nach dem, was ich gehört habe, ist es ebenfalls kompetitiv, dennoch anders. Die Schweden scheinen viel rationaler mit Stipendien umzugehen, die offenbar nur an Doktoranden vergeben werden, die Aussichten mit sich bringen, dass aus einigen von ihnen einmal ein full professor wird. Sie gehen damit wesentlich sparsamer um. Deshalb gibt es vermutlich weniger Leichen auf dem Friedhof ihrer Wissenschaftsförderung. Insgesamt halte ich das deutsche System für nicht menschenfreundlich, anders formuliert: nicht konsequent durchdacht. Den Gewinnern geht es gut. Die Verlierer – 80? 90%? der Doktoranden, ziemlich viele Menschen also – scheinen nur als Kollateralschaden in der Statistik aufzutauchen. Die anderen Systeme haben ihre Nachteile in Gestalt von schlechter Finanzierung der Wissenschaft. Darüber könnte man natürlich endlos klagen, es macht aber keinen Sinn. Sie bieten eine gewisse soziale Sicherheit, die nicht erst inmitten der Corona-Krise ein ganz bedeutender Faktor für das Wohlbefinden im Alltag ist.

Abb. 4.1 Im Thorner Rathaus (Muzeum Okręgowe w Toruniu), Januar 1998. Foto: privat.

Bogusław Dybaś (*1958) hat Geschichte an der Universität in Thorn/Toruń (UMK) studiert. Er ist Professor ebendort sowie am IH PAN. Er war in den Jahren 20072019 Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Seine Forschungsgebiete sind die Geschichte der polnischlitauischen Adelsrepublik, Militärgeschichte und die Geschichte Livlands.

„Also eigentlich lief das System in Polen immer weiter“ Bogusław Dybaś Herr Dybaś, Sie sind in Warschau geboren und in Thorn aufgewachsen. Nicht ganz genau in Thorn, aber die Oberschule habe ich in Thorn besucht. Ich bin in der Nähe von Thorn aufgewachsen. Und hat diese Thorner Umgebung Ihr Interesse für polnisch-deutsche Verflechtungen in der Geschichte geweckt, oder kam dieses Interesse dann eher während Ihres Studiums bei Jacek Staszewski1 und der Beschäftigung mit der polnisch-sächsischen Union2? Eigentlich erst nach dem Studium. Meine Magisterarbeit habe ich Ende der 1970er Jahre über innere Aspekte der polnischen Geschichte geschrieben, nämlich über das Verhältnis und Konflikte von den Magnaten mit der Szlachta in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Damals war es noch nicht leicht, Kontakte ins Ausland zu knüpfen. Nach dem Studium befand ich mich hingegen gleich in einigen Kreisen, die Kontakte zu Deutschland, zu deutschen Historikern hatten. Einerseits war das die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Staszewski. Dank Staszewski habe ich nach dem Studium – das war 1981, also ein ziemlich historischer Moment – meine Arbeit im Institut für Kunstforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften begonnen. Das war dort eher eine dokumentarische Arbeit. Also das war eine Stelle in Bydgoszcz/ Bromberg und dann später in Thorn, um historische Quellen für Kunsthistoriker aufzubereiten. Ich sah aber damals in dieser Stelle keine deutliche Perspektive für die weitere wissenschaftliche Entwicklung, um eine Doktorarbeit zu schreiben. Und deswegen wandte ich mich dann an Staszewski: „Herr Professor, vielleicht könnte ich meine Forschungen bei Ihnen fortsetzen?“ Somit war ich 1 Jacek Staszewski (1933-2013). 2 Hierbei handelt es sich um die von 1697 bis 1763 mit einer kurzen Unterbrechung (17061709) existierende Personalunion zwischen dem Kurfürstentum Sachsen und Polen-Litauen durch die sukzessiven Wahlen Friedrich Augusts  I.  von  Wettin (1670-1733) (als August II.) und dessen Sohn Friedrich Augusts II. von Wettin (1696-1763) (als August III.) zu Königen von Polen. Vgl. Rexheuser, Rex (Hg.): Die Personalunionen von Sachsen-Polen 1697-1763 und Hannover-England 1714-1837. Ein Vergleich. Wiesbaden 2005.

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in den 1980er Jahren quasi zweigleisig tätig. Nach meinem Militärdienst, das war 1982/83, arbeitete ich einerseits in diesem Institut für Kunstforschung und andererseits machte ich meine Doktorarbeit bei Staszewski. Und da ging es natürlich um die polnisch-sächsische Union. Ich schrieb meine Dissertation über den Reichstag von 1699.3 Aber damals war ich nicht mit einer Universität verbunden und hatte praktisch keine Möglichkeiten zum Beispiel nach Westdeutschland oder in die DDR zu fahren, um Forschungen in Archiven, z.B.  in  Dresden, durchzuführen. Sie basierten somit nur auf den Quellen in Polen, also klassischen Quellen aus Krakau und Warschau, aber auch in ziemlich großem Ausmaß Quellen aus Danzig, aus dem Danziger Staatsarchiv und der Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Ich konnte damals schon Deutsch und arbeitete mit Quelleneditionen, die meistens in deutscher Sprache waren. Aber dann gab es eben noch diese Arbeit im Institut für Kunstforschung, das seit 1983 von Marian Arszyński4 geleitet wurde, also einem Kunsthistoriker, der viele Kontakte nach Deutschland, mit deutschen Historikern, mit Historikern des Deutschen Ordens hatte, mit Zenon Hubert Nowak5 und anderen. Und über Arszyński hatte ich auch damals schon Kontakt mit Marian Biskup6. Also das waren meine zwei Gleise in den 1980er Jahren, um irgendwelche Kontakte mit der deutschen Wissenschaft zu entwickeln. Diese Mischung war damals schon etwas exotisch. Wenn man dann auf das Jahr 1989 schaut, hat sich in Ihrer Erinnerung in diesem Jahr irgendetwas Entscheidendes verändert, sowohl politisch – gut, das liegt nahe –, aber auch geschichtswissenschaftlich oder für die Wissenschaften insgesamt? Oder würden Sie eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen, die vielleicht wichtiger gewesen sind? Das hängt natürlich von der Perspektive ab. Meine persönliche Perspektive ist davon geprägt, dass ich einige kleine familiäre Probleme damals hatte und das war gerade im Juni 1989 für mich am wichtigsten. Und wenn es um meine Arbeit geht: Ich arbeitete damals noch in diesem Institut für Kunstforschung, hatte nicht die Perspektive der Historiker, gehörte da also nicht offiziell zur Zunft der Historiker. Für mich war eher der Anfang meiner Arbeit am Institut

3 4 5 6

Dybaś, Bogusław: Sejm pacyfikacyjny w 1699 roku. Toruń 1991. Marian Arszyński (*1929). Zenon Hubert Nowak (1934-1999). Marian Biskup (1922-2012).

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für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften7 ein Wendepunkt, das war im Dezember 1992. Ich dachte schon seit Ende der 1980er Jahre an meine Habilitation, weil ich Ende 1987 promoviert hatte und nun versuchte, sozusagen als zweite Stufe, eher etwas im Bereich der Kunstgeschichte zu machen. Und aus diesem Grund entstand die Idee mit der Arbeit über die Festungen in Polen-Litauen.8 Ich suchte Möglichkeiten, nach Deutschland zu fahren und in den deutschen Bibliotheken und Archiven zu arbeiten, und schon im Oktober 1990 war ich als Stipendiat der Historischen Kommission9 für einen Monat in Berlin und ich konnte – was auch ein Wendemoment war – die Vereinigung Deutschlands miterleben. Für mich war auch sehr interessant, dass man dort während des Aufenthaltes an den Treffen der Kommission teilnehmen konnte. Das war da ganz üblich. Unter der Gruppe von Stipendiaten waren unter anderem auch Marian Biskup und Jan Kosim10. Und bei einem Treffen mit Klaus Zernack11 konnte ich kurz meine Idee für meine Habilitation referieren. Und das war – denke ich – mein erster öffentlicher Kontakt mit deutschen Historikern. Klaus Zernack hatte ich jedoch schon früher kennengelernt, bei einer Tagung in Poznań 1988. Ich spreche hier darüber ziemlich ausführlich, weil ich in dieser Zeit wohl keine breitere Perspektive hatte, um das zu beurteilen oder eine genaue Zäsur zu setzen. Also für mich ist es leider eine Tatsache, dass mir in den 1990er Jahren eher meine private Perspektive wichtiger war als der Blick auf das Allgemeine. Ich begann wie gesagt erst im Dezember 1992 mit meiner Arbeit im Institut für Geschichte. Aber auch danach konzentrierte ich mich noch ein paar Jahre lang 7

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Das Instytut Historii Polskiej Akademii Nauk (Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften) entstand 1953 in Warschau unter der Leitung Tadeusz Manteuffels (1902-1970) als integraler Bestandteil der neuen, kommunistisch indoktrinierten Polnischen Akademie der Wissenschaften. Heute verfügt das Institut über Zweigstellen in Danzig/Gdańsk, Krakau/Kraków, Posen/Poznań und Thorn/Toruń. Dybaś, Bogusław: Fortece Rzeczypospolitej. Studium z dziejów budowy fortyfikacji stałych w państwie polsko-litewskim w XVII wieku. Toruń 1998 (²2018). Wissenschaftliche Vereinigung mit landesgeschichtlichem Schwerpunkt, wiederbegründet 1959 als Berliner Historische Kommission, dann 1963 als Historische Kommission zu Berlin mit enger Bindung an die FU Berlin. Sie verfügte über verschiedene Sektionen, u.a. für deutsch-jüdische und deutsch-polnische Geschichte. Zur Anfangszeit der Kommission bis zu den 1970er Jahren vgl. Neitmann, Klaus: Eine wissenschaftliche Antwort auf die politische Herausforderung des geteilten Deutschland und Europa. Walter Schlesinger, die ost(mittel)deutsche Landesgeschichte und die deutsche Ostforschung, in: Ders.: Land und Landeshistoriographie. Beiträge zur Geschichte der brandenburgischpreußischen und deutschen Landesgeschichtsforschung. Berlin/Boston 2015, S. 293-356, S. 302-305. Jan Kosim (1924-1991). Klaus Zernack (1931-2017).

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auf meine Habilitation. Das war natürlich auch interessant und wichtig, weil ich so ein halbes Jahr 1994 in der Herzog August Bibliothek12 in Wolfenbüttel verbrachte. Aber das war eben immer noch diese sozusagen kunsthistorische Schiene. Am Institut für Geschichte wurde ich dann von Marian Biskup engagiert, damit ich mich mit der livländischen Geschichte beschäftigen konnte. Erneut arbeitete ich also zweigleisig. Einerseits die Habilitation, andererseits Livland. 1995 war ich zum ersten Mal in Riga und habe dort Erwin Oberländer13 getroffen. Das war für mich auch ein sehr wichtiger Kontakt in den 1990er Jahren und weiterhin im 21. Jahrhundert. Wenn wir noch mal auf diese Berliner Erfahrung zurückkommen, die Sie an anderer Stelle ja auch schon einmal beschrieben haben.14 Wie haben Sie denn damals dieses wissenschaftliche Milieu in West-Berlin wahrgenommen? Anders als Sie das von Polen her kannten? Ja. Also zweifellos war das etwas Neues. Gerade Zernack. Ich kannte damals schon Michael Müller15 zum Beispiel, weil er einmal Gast im Seminar von Staszewski war. Ich denke, diese Erfahrungen mit den Historikern waren für einen Menschen, der damals um die 30 Jahre alt war, vor allem von persönlichen Aspekten geprägt. Ich hatte Glück, dass ich zunächst während meines Studiums und bei der Doktorarbeit mit Staszewski zu tun hatte, eine große Persönlichkeit, und dazu hatte ich auch Glück, ziemlich früh Kontakt mit Marian Biskup zu haben. Das waren die Leute, die unter den polnischen Historikern relativ offen waren, was das Ausland und vor allem Deutschland anging. Und natürlich war Klaus Zernack für mich auch eine sehr, sehr wichtige Person der älteren Generation, unter den deutschen Historikern auf jeden Fall, wenn ich an jene denke, mit denen ich einen näheren Kontakt hatte. Erwin Oberländer ein bisschen später, Udo Arnold16 natürlich, mit dem ich gute Kontakte hatte und immer noch habe. Ich habe später auch Herrn Professor Schramm17 getroffen. Aber das war nur episodisch. Natürlich war 12 13 14 15 16 17

Die 1572 durch Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg gegründete Einrichtung ist heute eine der wichtigsten Bibliotheken Deutschlands zur Erforschung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Erwin Oberländer (*1937). Dybaś, Bogusław: Scriptura franca. Wśród niemieckich źródeł i historyków, in: Hubert Orłowski (Hg.): Moje Niemcy – moi Niemcy. Odpominania polskie. Poznań 2009, S. 415-425. Michael G. Müller (*1950). Udo Arnold (*1940). Gottfried Schramm (1929-2017).

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auch Salmonowicz sehr wichtig in meiner Arbeit, ich hatte auch ziemlich gute Kontakte mit Henryk Samsonowicz auf der polnischen Seite.18 Das waren Leute aus verschiedenen Milieus, aber sie waren sehr offen eingestellt, also der Unterschied war nicht so dramatisch. Sie haben jetzt viele Namen genannt und ganz viele Kontakte: Können Sie sich auch erinnern, dass irgendwelche Frauen dabei waren? Ja natürlich. Ich war ja 1990 in Berlin und dann wieder 1995 zwei Monate als Stipendiat des Forschungsschwerpunkts Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, also dieses Vorgängers des heutigen GWZO.19 Und damals gab es sehr interessante Treffen. Ich hatte Professor Adelheid Simsch20 schon zuvor kennengelernt – im Jahre 1995 wurde ich von ihr nach Hause eingeladen zu einem Abendessen und das war ein sehr, sehr interessantes Gespräch. Fünf Jahre nach der Vereinigung Deutschlands erzählte sie mir über ihre Erfahrungen, über die Situation in Berlin, die immer noch bestehende Teilung der Stadt, das alles war sehr, sehr spannend. Und natürlich hatte ich – das war dann schon später – viele Kontakte mit der jüngeren Generation: Gertrud Pickhan zum Beispiel, Karen Lambrecht.21 Aber wenn es um nähere Kontakte in dieser früheren Phase geht, denke ich, ist nur Frau Simsch für mich eine solche weibliche Erinnerung. Sie haben vorhin gesagt, dass für Sie in Bezug auf die 1990er Jahre die persönlichen Zäsuren dominierten. Trotzdem: Hatten Sie damals das Gefühl, dass die ‚große‘ Politik auf irgendeine Weise auf die Geschichtswissenschaft in Deutschland und in Polen eingewirkt hat oder umgekehrt, dass Historikerinnen und Historiker sich bemüht haben, in der Politik Einfluss zu nehmen? In Polen waren die Historiker eine ziemlich wichtige Gruppe nach der Wende. Selbstverständlich. Also da kann man vor allem Bronisław Geremek22 als Abgeordneten und Außenminister nennen; auch Henryk Samsonowicz, der 18 19

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Stanisław Salmonowicz (*1931); Henryk Samsonowicz (*1930). 1996 in Leipzig gegründetes Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas. Vorgänger war der 1992 eingerichtete Forschungsschwerpunkt „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“, der in Teilen an die Aktivitäten der Akademie der Wissenschaften der DDR anknüpfte, seit 2017 firmiert das Institut unter dem Namen Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO). Adelheid Simsch (1937-1999). Gertrud Pickhan (*1956); Karen Lambrecht (*1962). Bronisław Geremek (1932-2008).

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Minister für Bildung war. Sehr viele Historiker wurden auch Diplomaten und waren politisch sehr aktiv. Aus meinem livländischen Bereich war das zum Beispiel Jan Kostrzak23. Er war Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften, promovierte bei Marian Biskup, und wurde zunächst Botschaftssekretär in Riga und dann Chargé d’Affaires in Estland, später Konsul in Kaliningrad. Er ist leider schon gestorben. Aber auch viele andere. Tadeusz Wasilewski24 – er war für mich ziemlich wichtig am Anfang meiner wissenschaftlichen Karriere, weil er sich mit litauischer Geschichte beschäftigte – er wurde später auch ein Botschafter, in Bulgarien. Ich denke, das war in Polen eine Frage der Kader für die neue Politik. Und gerade die Historiker waren selbstverständlich ein ziemlich gutes Reservoir für diese Politik. Die Situation in Deutschland in diesem Zusammenhang kenne ich nicht näher. Haben sich in den 1990er Jahren denn im Bereich der Wissenschaftskultur, in der Art und Weise wie Wissenschaft betrieben wurde, wie das System funktioniert hat, Unterschiede zwischen Polen und Deutschland gezeigt, andere als noch in den 1980er Jahren oder als vielleicht auch heute? Also eigentlich lief das System in Polen immer weiter. Natürlich gab es verschiedene Neuerungen, wenn es zum Beispiel um die neuen Möglichkeiten der Finanzierung der Wissenschaft ging und so weiter. Aber eigentlich funktionierte es nach alten Regeln. Es waren dieselben Personen, dieselben Wissenschaftler, die die Wissenschaft führten. Aus meiner Perspektive neu war die Chance, die Systeme in Polen und Deutschland zu vergleichen. Jenes System der Lehrstühle oder die auch gesellschaftliche Rolle der Professoren und zum Teil der wissenschaftlichen Mitarbeiter – das war sehr, sehr sichtbar und anders. Aber ich denke, diese älteren Professoren, die bereits vor der Wende wirkten, machten einfach weiter. Und ich hatte wie gesagt das Glück, viele Kontakte mit den Leuten zu haben, die früh international tätig gewesen waren. Es gibt aber auch heute noch eine große Diskussion in Polen darüber, in welchem Ausmaß die Wissenschaft reformiert und verändert und an die neue Zeit angepasst wurde. Oder war es eine direkte Fortsetzung der Situation von vor der Wende? Die Wissenschaft war in Polen im Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Bereichen schon vor 1989 relativ ‚modern‘. Und natürlich ist die Generation, die in den 1990er Jahren tätig war, nun nicht mehr da, die nächste Generation hat ihren Platz übernommen. Es gibt also einerseits 23 24

Jan Kostrzak (1946-2004). Tadeusz Wasilewski (1933-2005).

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positive Entwicklungen wie die Internationalisierung der Wissenschaft, es gibt eine relativ große Gruppe von Leuten, die international tätig sind. Aber andererseits muss ich gestehen, dass es in Polen noch ziemlich zahlreiche Vertreter der traditionellen Wissenschaft gibt, also Leute, die noch in den alten Systemen denken. In diesem Sinne ist das vielleicht ein Problem und eine große Frage. Zuletzt wurde sehr heftig über die Reformen diskutiert, die in den letzten fünf Jahren eingeführt wurden, also die große Reform von Jarosław Gowin25 in Polen, die fast von allen kritisiert wird. Aber manchmal sehe ich bei einigen Leuten auch eine Kritik, die gegen Innovationen, gegen positive Veränderungen gerichtet ist. Das ist die polnische Situation. Es ist aber sicher eine große Errungenschaft der neuen Zeiten, dass wir unser System mit dem in Deutschland, in Österreich und anderen westeuropäischen Ländern vergleichen können. Sie waren ja 1992 auch einmal in einem ganz anderen Kontext in Deutschland, nämlich in Göppingen, in einer Waldorfschule. Hatten Sie denn das Gefühl, dass alte Verhaltensmuster oder Komplexe im deutsch-polnischen Kontext in die 1990er Jahren hinein weitergewirkt haben – zum Beispiel bei diesen Schülerinnen und Schülern? Blieben Schieflagen und Asymmetrien, die es vorher schon gab, einfach bestehen oder entwickelten sich gar ganz andere? Also dieser Kontakt war eine kleine Ausnahme. Die Waldorfschulen sind eine relativ kleine Gruppe und das ist aus meiner Perspektive auch eher eine kleine Episode. Ich habe zwei oder drei Jahre in einer Privatschule in Polen gearbeitet. Das war schon etwas Neues, in der neuen Realität. Diese Schulen entstanden 1989 und ganz zufällig habe ich einmal hier in der Nähe von Thorn, in Gollub, auf dem Schloss Gollub, einen Mann aus Göppingen getroffen. Und dank dieses zufälligen Kontaktes entstand jene Verbindung mit der Waldorfschule, die ein paar Jahre bestand. In unserer Schule versuchten wir, eine neue Sicht auf die Geschichte zu entwickeln. Zum Beispiel organisierten wir regelmäßig Ausflüge für die Schüler (auch für unsere Gäste aus Göppingen) nach Marienburg, nach Malbork. Also nicht nur, um die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, sondern überhaupt die Geschichte ein bisschen unter neuen Blickwinkeln zu zeigen. Die Frage ist, wie es sich dann im Laufe der 1990er Jahre und in den folgenden Jahrzehnten änderte, denn gerade heute erleben wir wieder antideutsche Ressentiments in der Politik. Und diese Stereotypen funktionieren leider. In diesen Zusammenhang beurteile ich die 1990er Jahre 25

Jarosław Gowin (*1961).

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viel positiver. Das war damals eine neue Entwicklung in diesem Bereich, wenn wir von Geschichtsbildern sprechen. Wenn wir noch einmal auf eventuelle Asymmetrien zurückkommen, und zwar im wissenschaftlichen Kontext: Hatten Sie damals und vielleicht auch bis heute das Gefühl, dass es bei der Beschäftigung mit den Themen, mit denen Sie sich vor allem befasst haben, Schwierigkeiten gab, überhaupt deutsche Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner zu finden, die das auch interessiert? Am Ende der 1990er Jahre und am Anfang des 21. Jahrhunderts war die Geschichte Livlands in der Frühen Neuzeit für mich das wichtigste Forschungsthema. Ich hoffe, dass ich in diesem Bereich noch etwas schaffe nach meiner Rückkehr aus Wien, denn ich hatte eine relativ lange Pause. Das ist für mich eine große Herausforderung. Es gibt natürlich eine Menge Wissenschaftler in Deutschland, die sich mit livländischer Geschichte beschäftigen. Persönlich habe ich viel Kontakt mit ihnen sowie mit den Leuten in Lettland, in Estland, in Tartu. Aber ich habe auch das Gefühl, dass der sogenannte ‚polnische Faktor‘ in der livländischen Geschichte (nach Marian Biskup) ein bisschen am Rand dieser Beschäftigung steht. Ich bin einer der wenigen polnischen Mitglieder der Baltischen Historischen Kommission26, ich habe gute Kontakte mit Matthias Thumser27. Mit meinem jüngeren Kollegen Paweł A. Jeziorski28 habe ich den Beitrag über Polnisch-Livland für den zweiten Band des Handbuchs zur Geschichte des Baltikums verfasst, der 2021 erscheinen wird. Vor kurzem habe ich beantragt, mein Buch über die livländische Geschichte – über den Kreis Pilten – auf Deutsch herausgeben zu können, eben über die Baltische Historische Kommission.29 Aber immer noch habe ich den Eindruck, dass diese polnischen Fragen ein bisschen exotisch sind, also aus der Perspektive der livländischen Forschungen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Langsam, langsam gibt es mehr Aufmerksamkeit dafür und diese Kontakte 26

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1951 unter maßgeblicher Beteiligung Reinhard Wittrams (1902-1973) in Göttingen gegründete Vereinigung mit dem Ziel der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der – zunächst vor allem deutschen – Geschichte der baltischen Länder Estland und Lettland, am Rande auch Litauens. Vgl. Kaegbein, Paul/Lenz, Wilhelm: Fünfzig Jahre baltische Geschichtsforschung, 1947-1996. Die Baltische Historische Kommission und die Baltischen Historikertreffen in Göttingen. Veröffentlichungen, Vorträge, Mitglieder. Köln 1997. Matthias Thumser (*1953). Paweł A. Jeziorski (*1978). Bogusław Dybaś: Na obrzeżach Rzeczypospolitej. Sejmik piltyński w latach 1617-1717. Z dziejów instytucji stanowej. Toruń 2004.

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entwickeln sich, aber nicht so schnell, wie man es sich erhoffen würde. Und wenn es um die polnisch-sächsische Union geht, das Thema meiner Dissertation, so war das natürlich immer auf der deutschen Seite eine eher regionale Frage, denke ich. 2013 fand zum Beispiel eine Tagung in Chemnitz statt, das war eine Initiative von Herrn Kroll von der TU, auch mit Miloš Řezník und anderen.30 Es war eine ziemlich gelungene Tagung, aber das ist eher ein Thema für die Historiker aus Leipzig, Dresden, also die sächsischen. Das ist vielleicht etwas, wo man noch mehr tun könnte, was den polnischen Anteil angeht. Andererseits muss man sagen, dass auch in Polen die Periode der Union mit Sachsen nicht so bekannt ist. Obwohl, naja, sie ist in den letzten Jahrzehnten schon als ein Begriff bekannt geworden und ist nun nicht mehr etwas gänzlich Neues wie noch in der Zeit von Staszewski oder Gierowski31. Aber, naja, das ist auf der deutschen Seite vielleicht tatsächlich noch ein bisschen weiterzuentwickeln. Welche Institutionen – sie haben ja schon einige Beispiele angesprochen – haben denn Ihrer Ansicht nach in den 1990er Jahren hauptsächlich dazu beigetragen, dass es im Kontakt der Geschichtswissenschaften zwischen Deutschland und Polen möglicherweise eine kommunikative Verdichtung gegeben hat? Da muss ich sagen, dass ich das Glück hatte, mit den wichtigsten Institutionen Kontakte zu haben. Ich habe schon die Herzog August Bibliothek erwähnt, die natürlich ein Weltzentrum – das kann man wohl sagen – für die Barockforschung ist. Sie ist aber auch erwähnenswert, weil in diese Bibliothek schon in den 1980er Jahren polnische Wissenschaftler kamen. Aber natürlich, wenn es um die deutsch-polnischen wissenschaftlichen Kontakte geht, dann ist es vor allem das Deutsche Historische Institut32 in Warschau, 1993 gegründet. Und auch mit diesem hatte ich ziemlich lebendige Kontakte, obwohl es wieder um ein Randthema ging. Ich war an einem Projekt zur Edition der 30 31 32

Frank-Lothar Kroll (*1959); Miloš Řezník (*1970). Siehe auch den Bericht zur Tagung „Zwei Staaten – eine Krone. Die polnisch-sächsische Union 1697-1763“ unter https://www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5129 (9.9.2020). Józef Gierowski (1922-2006). Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018.

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Gruneweg-Aufzeichnungen beteiligt.33 Das war in den 1990er Jahren. Ich hatte praktisch mit allen Direktoren zu tun und in letzter Zeit war ich auch Mitglied des Beirats des DHI. Die zweite Institution, das ist der „Forschungsschwerpunkt“ und dann das Geisteswissenschaftliche Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, zunächst in Berlin und dann in Leipzig. Und dort war ich sogar wissenschaftlicher Mitarbeiter, drei Jahre im Ständeprojekt von Michael Müller.34 Und dann sind da natürlich noch die älteren, nicht neugegründeten Institutionen wie das NOKW, später IKGN in Lüneburg,35 aber vor allem das Herder-Institut36 in Marburg. Das sind Institutionen, die wichtig waren und ihre Kontakte auch in Richtung Polen ausbauten. Wie empfanden Sie denn – nochmal explizit nachgefragt – die ganz praktische Arbeit in Deutschland, z.B. in Wolfenbüttel oder dann im Geheimen Staatsarchiv für Ihre Habilitationsschrift im Vergleich zu den Arbeitsbedingungen, die man in Polen zu der Zeit vorgefunden hat? Jede Institution, die historische Quellen aufbewahrt, ist eine separate Welt. Bedeutende Unterschiede gibt es da vor allem zwischen europäischen und z.B. russischen Institutionen. Ich hatte die Möglichkeit vor einigen Jahren in St. Petersburg zu arbeiten und das war wirklich eine Herausforderung. Aber alle wichtigen Archive, in denen ich gearbeitet habe – Geheimes Staatsarchiv, Historisches Archiv in Riga, Archiv Thorn, Archiv Danzig, auch Österreichisches Staatsarchiv –, sind letztlich jedes für sich sehr unterschiedlich. Meist ist es eine persönliche Frage, eine Frage der konkreten Personen, mit denen man da zu tun hat. Aber eigentlich gab es keine großen Probleme. Es geht nur darum, das System zu erkennen, wie es funktioniert. Meistens habe ich daher sehr gute Erfahrungen mit allen diesen Archiven gemacht. Eine Ausnahme ist vielleicht die Herzog August Bibliothek, aber das ist eine Bibliothek, das ist etwas anderes, aber diese ist eine Qualität für sich selbst, wenn es um 33 34 35 36

Bues, Almut (Hg.): Die Aufzeichnungen des Dominikaners Martin Gruneweg (1562ca. 1618) über seine Familie in Danzig, seine Handelsreisen in Osteuropa und sein Klosterleben in Polen. 4 Bde. Warschau 2008. Aus diesem Projekt ging in erster Linie Dybaś, Na obrzeżach Rzeczypospolitej, hervor. 1951 als Nordostdeutsches Kulturwerk (NOKW) in Lüneburg gegründet, 2001 überführt in das Zweite Reformation und städtische Autonomienstitut für deutsche Kultur und Geschichte Nordosteuropas (IKGN) als An-Institut der Universität Hamburg. Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft und trägt seit 2012 seinen heutigen Namen. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53980.html (02.06.2015).

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die Anreichung der Materialien geht und so weiter. Nein, eine ‚zivilisatorische Barriere‘ sehe ich hier nicht, vielleicht mit Ausnahme der russischen Archive, aber hier ist meine Erfahrung nicht besonders groß. In Wilna arbeite ich auch ziemlich viel, aber da ist alles unproblematisch. Wenn man auf diese internationale Zusammenarbeit zurückschaut, gab es so etwas wie transnationalen methodischen Austausch, wurden Fragestellungen und Ansätze weiterverfolgt, die über diesen nationalen, bilateralen deutschpolnischen Rahmen hinausgegangen sind? Also wenn ich es so beobachte, dann ist für mich die deutsche Historiographie eine Art von Brücke zu den modernen Methoden der Geschichtswissenschaft. Da geht es um verschiedene Themen, verschiedene Ansätze. Naja, wir unterhalten uns hier ja anlässlich des Jubiläums von Hans-Jürgen Bömelburg37. Und zum Beispiel war für mich persönlich seine Dissertation über die Entstehung von Westpreußen, die Übernahme von Königlich-Preußen, etwas sehr Faszinierendes, wie er diesen Funktionalismus darstellte, wo doch in der polnischen Geschichte so vieles eher heroisch, tragisch und so weiter ist.38 Auch das Buch über die Teilungen aus dem Jahr 2013 enthält für mich sehr interessante, neue Aspekte.39 Und dann natürlich seine Habilitation!40 Das war für mich ein sehr, sehr großes Erlebnis. Ich hatte das Glück, diese Arbeit als ein Gutachter zu lesen. Diese Problematik hatte ich zuvor eigentlich als ziemlich langweilig empfunden, mit diesem Buch wurde ich dann aber auf viele neue, interessante Aspekte gestoßen. Aber auch jenseits dieses Beispiels erscheint es mir so, dass viele neue Dinge über deutsche Einflüsse in die polnische Geschichtswissenschaft kamen. Natürlich ist das eine Frage der Sprache. Für die Leute, die eher französisch orientiert sind, waren vielleicht die Kontakte mit der französischen Geschichtsschreibung wichtiger. Aber für mich und die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, ist diese Schiene des Transfers neuer Methoden, neuer Sichtweisen, neuer Fragestellungen ziemlich bedeutend gewesen. 37 38 39 40

Hans-Jürgen Bömelburg (*1961). Ders.: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preussischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756-1806). München 1995. Ders./Gestrich, Andreas/Schnabel-Schüle, Helga (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013. Bömelburg, Hans-Jürgen: Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (15001700). Wiesbaden 2006.

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Welche Themen und Leitnarrative in den Geschichtswissenschaften der letzten 30 Jahre würden Sie rückblickend als die wichtigsten ansehen? Wie haben Sie das wahrgenommen und wie würden Sie hier Ihre eigenen Forschungen verorten? Wenn es um meine Wenigkeit geht, habe ich jedenfalls das Gefühl, dass die Themen, die ich erforsche (wie die polnisch-sächsische Union, Festungen, Livland), eher randständig oder ziemlich exotisch sind. Das ist teilweise mit meinem Berufsweg verbunden. Wenn es um die gemeinsamen deutschpolnischen Themen geht, ist für mich vielleicht der Vergleich der PolnischLitauischen Republik und des Heiligen Römischen Reiches am wichtigsten, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Und hier habe auch ich einige eigene Erfahrungen gemacht. Dank Hans-Jürgen Bömelburg konnte ich an dem Historikertag in Halle 2002 teilnehmen. Da gab es eine Sektion, die gerade dieser Problematik gewidmet war.41 Also ein Vergleich dieser beiden Reiche, aber auch anderer Strukturen dieser Art in Ostmitteleuropa. Und ein paar Jahre später machten wir auch in Thorn eine solche Tagung unter dem Titel „Rzeczpospolita. Państwo czy wspólnota?”, also „Die Rzeczpospolita. Ein Staat oder eine Gemeinschaft“.42 Bömelburg, Müller und einige andere Kollegen waren dabei. Und das war für mich, für mich persönlich, ein Thema für die Zukunft. In Wien konnte ich es nur am Rande machen, aber das Thema war für mich immer sehr faszinierend. Das Interesse daran ist im Umfeld meiner Habilitation entstanden – über die Militärgeschichte, das Funktionieren solcher Strukturen, anhand kleinerer oder größerer Festungen als ein Element des Systems der Verteidigung des Landes konnte ich auch einige Aspekte des Funktionierens von Staatlichkeit herausarbeiten. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Bömelburg, in dem es um die verschiedenen Begriffe ging, die wir benutzen für die Geschichte, die Ältere Geschichte, die Neuere Geschichte. Zum Beispiel: In Polen gibt es den Begriff „urzędnicy“. Es geht dabei um Leute, die in den staatlichen Systemen in Polen-Litauen tätig waren, und das wird manchmal automatisch mit „Beamte“ ins Deutsche übersetzt. Und einmal sagte mir Bömelburg, dass das keine Beamten im modernen Sinne waren. Also dieses kleine Beispiel zeigt, wie man von den Kollegen und dem Vergleich der verschiedenen Dinge lernen kann. 41

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Die Sektion „Die Tradition einer multinationalen Reichsgeschichte heute – Historiographische Konzepte im Umgang mit dem Alten Reich und der polnisch-litauischen Adelsrepublik“ auf dem 44. Deutschen Historikertag vom 10.-13. September 2002, unter Leitung von H.-J. Bömelburg. Dybaś, Bogusław/Hanczewski, Paweł/Kempa, Tomasz (Hg.): Rzeczpospolita w XVI – XVIII wieku. Państwo czy wspólnota?. Toruń 2007.

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Ich denke, aus Thorner Perspektive sind diese Tagungen über den Deutschen Orden und die Ritterorden überhaupt auch ein ziemlich wichtiges Projekt, das schon 1981 begonnen wurde, von Zenon Hubert Nowak, und das es bis heute gibt. Ich bin natürlich kein Spezialist dafür, das ist nicht mein Thema, aber ich habe Kontakt zu den Leuten und besuche diese Tagungen. Und das ist wirklich eine interessante Verbindung zwischen den verschiedenen Welten der Historiker, der Wissenschaftler. Ich habe da eher die frühneuzeitliche Perspektive, obwohl ich ja in Wien auch viel mit der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu tun hatte. Daher machte ich einige Tagungen über die NS-Konzentrationslager. Und das war für mich eine große Erfahrung, ein interessantes Erlebnis. Der andere Schwerpunkt aus Wiener Perspektive, das war die Geschichte Galiziens und der Habsburgermonarchie. Somit muss ich gestehen, dass meine Erfahrungen ein bisschen zersplittert, vereinzelt sind, dass sie sich nicht wissenschaftlich geordnet entwickelten. Ich habe mich mit ganz verschiedenen Sachen beschäftigt und so auch ein bisschen chaotische Erfahrungen gesammelt. Sie haben ja schon einige Beispiele genannt, aber wenn Sie auf die 1990er Jahre zurückblicken: Gibt es noch irgendwelche anderen Publikationen, die Sie damals geprägt haben oder die so wichtig waren, dass Sie sagen würden, die sind auch heute noch wichtig für mich? Ich habe erst in den 1990er Jahren das Buch von Michael G. Müller über die Teilungen Polens gelesen.43 Auch seine 1997 veröffentlichte Habilitation über die sog. „zweite Reformation“ in den Städten im Königlichen Preußen war für mich sehr wichtig und inspirierend, weil ich mich auch mit der Geschichte Thorns beschäftigte, u.a. in der „Historia Torunia“.44 Im Zusammenhang meiner Habilitation über Festungen sehr wichtig war das erste deutschsprachige Buch, das ich rezensierte, und zwar die Monographie des Marburger Kunsthistorikers Ulrich Schütte über das Schloss als Wehranlage.45 Schütte war auch Herausgeber des Ausstellungskatalogs „Architekt und Ingenieur.

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Müller, Michael G.: Die Teilungen Polens: 1772, 1793, 1795. München 1984. Ders.: Zweite Reformation und städtische Autonomie im Königlichen Preußen, Danzig, Elbing und Thorn während der Konfessionalisierung (1557-1660). Berlin 1997; Dybaś, Bogusław: Dzieje wojskowe Torunia w latach 1548-1660, in: Marian Biskup (Hg.): Historia Torunia. Bd. 2,2. Toruń 1994, S. 141-168. Ulrich Schütte (*1948) – ders.: Das Schloss als Wehranlage. Befestigte Schlossbauten der Frühen Neuzeit. Darmstadt 1994. Die Rezension von Bogusław Dybaś erschien dann im „Kwartalnik Architektury i Urbanistyki“ 40 (1995) 3/4, S. 251-253.

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Baumeister in Krieg und Frieden“.46 Die Ausstellung wurde 1984 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel veranstaltet, der Katalog, der inzwischen eine Bibel für alle ‚Festungsforscher‘ wurde, war für mich erst in den 1990er Jahren zugänglich. Wenn es um meine livländischen Forschungen geht, erinnere ich mich, dass Klaus Zernack mich 1995 auf das Buch von Manfred Hellmann47 über Lettgallen (1954) aufmerksam gemacht hatte. Und sehr wichtig war der erste Sammelband über die Geschichte Kurlands, den Erwin Oberländer und Ilgvars Misāns 1993 herausgaben.48 Wir wollen es zum Schluss nicht versäumen, Sie um Ihre hellseherischen Fähigkeiten zu bitten, auch wenn man davon ausgeht, dass wir alle als Historiker nicht besonders prognosefähig sind. Sie waren ja jetzt zuletzt sehr lange in Österreich, haben da auch vielleicht nochmal eine andere Perspektive erlebt, selbst vielleicht auch einnehmen müssen oder können. Was denken Sie, wie wird die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen? Das hängt davon ab, ob wir realistische Prognosen oder unsere Träume artikulieren möchten. Ich denke, es gibt keinen anderen Weg als die immer stärkere Verbindung der nationalen Historiographien. Einerseits. Aber ich denke auch, dass ein besseres Erkennen der regionalen und der konkreten Ländergeschichten notwendig ist. Die große Frage ist, ob unsere Wissenschaft nur auf Englisch stattfinden wird oder umgekehrt, mehr Menschen andere Sprachen lernen werden, um konkrete Geschichten zu erkennen und diese mit anderen Ländern verbinden werden. Wenn es um meine Erfahrungen geht, sollte ich vielleicht noch einen Aspekt erwähnen: Ich war elf Jahre lang (20042014) als Nachfolger von Marian Biskup Herausgeber der Zeitschrift „Zapiski Historyczne“, und jetzt, nach der Rückkehr nach Thorn, möchte ich wieder aktiv bei dieser Zeitschrift mitarbeiten. Ich sehe es als die Aufgabe für eine solche Zeitschrift, die Entwicklung der Kontakte, die bessere Verständigung mit anderen Wissenschaften, anderen Milieus von Wissenschaftlern voranzutreiben, obwohl es heute ein bisschen anders als vor zehn oder 20 Jahren funktioniert, also sprachlich. Ich habe keine großen Hoffnungen, wenn es um 46 47 48

Schütte, Ulrich (Bearb.): Architekt und Ingenieur. Baumeister in Krieg und Frieden. Braunschweig 1984. Manfred Hellmann (1912-1992) – ders.: Das Lettenland im Mittelalter. Studien zur ostbaltischen Frühzeit und lettischen Stammesgeschichte, insbesondere Lettgallens. Münster 1954. Oberländer, Erwin/Misāns, Ilgvars (Hg.): Das Herzogtum Kurland, 1561-1795. Verfassung, Wirtschaft, Gesellschaft. Lüneburg 1993; Ilgvars Misāns (*1955).

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große Projekte geht, wie ERC49 Grants und so etwas. Aber diese Projekte sind doch die Lokomotiven von Kontakten, von Entwicklungen. Und ich beobachte zum Beispiel viele meiner Kollegen, die Mediävisten, die regelmäßig aus Thorn, aus Danzig nach Leeds zu einem mediävistischen Kongress fahren. Und ich hoffe, dass sich diese Kontakte weiterentwickeln werden. Wenn wir nicht in einem beschränkten, nationalistischen Meinungsbild landen, dann werden wir weiter hoffentlich in internationalen Kontakten, nicht nur europäisch, agieren. Aber wie gesagt, mir ist bewusst, dass das vielleicht ein bisschen mehr Hoffnung ist, aber naja, ich habe das Recht, Hoffnungen zu formulieren. Ich bin ein paar Jahre vor meiner Pensionierung, aber ich fühle mich nicht so schlecht, ich sehe noch viele Perspektiven vor mir. Ich war vor kurzem in Stettin bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde an Michael North50, wofür ich auch ein Gutachten geschrieben habe. In diesem Gutachten habe ich folgende Anekdote zitiert: Als Marian Biskup  60 Jahre alt wurde (1982), hat er eine Festschrift bekommen. Und dort hat Karol Górski, der 20 Jahre älter als Biskup war, geschrieben: „Mit  60 ist eigentlich der Anfang der wissenschaftlichen Arbeit“51. Und für die Franzosen sind die 60-Jährigen so wie die Anfänger. Deswegen versuche ich, optimistisch zu sein.

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European Research Council. Michael North (*1954). Karol Górski (1903-1988) – ders.: Słowo wstępne, in: Zapiski Historyczne 47 (1982) 4, S. 7-8, hier S. 8, letzter Absatz: „Sześćdziesiąt lat życia to pełnia sił i rozwoju. U Francuzów to człowiek ‚młody, początkujący‘, który pełnię rozwoju uzyskuje po siedemdziesiątce i osiemdziesiątce. Życzymy, by ta przyszła ‚pełnia rozwoju‘ zaznaczyła się w dorobku kultury polskiej na Pomorzu tak, jak zaznaczył się dotychczasowy rozwój“.

Abb. 5.1 Im Frühsommer 1995 vor den Houses of Parliament, London. Foto: privat.

Karin Friedrich (*1963) studied History and Politics in Munich, Lyon and Toruń, and received her doctorate from Georgetown University in 1995. Lecturer/senior lecturer at SSEES/UCL (1995-2004), 2005 University of Aberdeen, from 2013 Professor. She has published on the history of Royal and Ducal Prussia, the political history of ideas, constitutional and religious history of Poland, as well as on the history of the Polish-Lithuanian nobility and on urban history. Robert I. Frost (*1958) studied in St Andrews, London and Kraków. He holds the Burnett Fletcher Chair of History at the University of Aberdeen having previously taught at Kings College London. His latest book, “The Making of the Polish-Lithuanian Union, 1385-1569” (2015), won the Pro Historia Polonorum Prize in 2017. He is a Fellow of the British Academy, the Royal Society of Edinburgh.

“I was there for three weeks, I knocked on the door and they said, ‘Remont!’” or: “What are you going to do with your life, baby?” Karin Friedrich, Robert I. Frost Let’s start with a very simple question: Has Polish history brought you together and how did you get involved with Poland in the first place? Frost: The answer to the first question is: yes, because we first met at a conference in Toruń where we went out for lunch and didn’t come back to the conference.1 How did I get into Polish history? My standard answer to that in Poland is: because I didn’t want to deliver furniture. I was at university in St. Andrews in Scotland, doing an undergraduate degree in modern history. My father had a furniture shop and I delivered furniture in Edinburgh for three summers. I was fed up and looking for something more exciting to do in my last long vacation before my final year: I thought I’d have to join the real world at some point. And I saw an advert that said, “An exchange on a summer school, three places, paid for by the university in Kraków”. And I thought: I don’t care – Kraków, Bulgaria, just not Edinburgh. I had done three years of Russian at school. So I thought, well, Polish is a Slavic language. My professor was Geoffrey Parker2, the military historian, actually much more than a military historian, but that’s what he taught us in St. Andrews. I needed a reference, so I said, “Will you give me a reference?” And he said, “Are you thinking of doing a Ph.D. on Polish history?” And I said, “No.” Well, I didn’t actually. I thought “No”, because I was thinking of doing a Ph.D. on Irish history. He’d just come back from Warsaw and he said, “No, seriously, we all know that Poland was very important in the 16th and 17th centuries, but we know nothing about it because we can’t read Polish. Look what Michael Roberts3 did for Sweden. You’ll be the only person who knows about it. You can write whatever you like and nobody will be in a position to contradict you. You’d never get a job doing British history because there’s hundreds of British historians.” So, I went in the summer of 1979 to Poland and had 1 Symposium “Szlachta i ziemiaństwo na Pomorzu w dobie nowożytnej XVI-XX wieku”, 9 April 1992. 2 Geoffrey Parker (*1943). 3 Michael Roberts (1908-1996).

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six weeks on a summer school. I enjoyed myself enormously, and I thought studying Polish history might indeed be a good career choice. It was not a good career choice to do a Ph.D. in 1980, because there were no jobs in British universities. But I thought, well, it’s an interesting time … I arrived to study the Polish language for a year at the Jagiellonian University on the day that they signed the Gdańsk Agreement4 and that year was extremely interesting. I went back to start a Ph.D. in London with Norman Davies5 and came back for a year in 1982/3 to collect material for my doctorate. So that’s how I got into it. I was lucky enough to spend those two years in communist Poland and actually to do historical work in the communist period whereas Karin arrived right at the end when it was all falling apart. So I have some idea of what the differences were: my opiekun6 in Kraków, was Józef Gierowski7 who at that time was the first elected rector of the Jagiellonian University in the communist period. So he gave me some insight into what was going on. Friedrich: Yes, we met in a lift, actually, in student housing in Toruń, and I thought: I don’t think that’s a Pole. And then we did meet at the conference and – as Robert says – we went to a Hungarian restaurant and just kept talking and thought: Oh, the conference, let’s not go back there. How did I get into Polish history? This idea of a niche place was quite important to me, because in Munich, German history was just a mass event. I studied with Thomas Nipperdey8 at the time. It was a Hauptseminar with approx. 35 people or even more and it was the most boring thing I’ve ever done. Nipperdey regularly fell asleep over one student after another giving a paper about Bismarck’s foreign policy. It was just dreadful. And so I discovered Eastern Europe or rather East Central Europe, where the seminars were really small and people knew each other, and we went to Andechs9 and had socials there … In particular I discovered Silesia, so I actually approached Polish history through Silesian history. And then I got a fellowship to Georgetown, and that’s when I met Andrzej Sulima Kamiński10 and he really is the reason that 4

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The Gdańsk Agreement was one of several accords in August 1980 making concessions to the opposition. It was signed by Lech Wałęsa (*1943) on behalf of the strike committee and the Deputy Prime Minister Mieczysław Jagielski (1924-1997) for the government on 31 August 1980. Cf. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985, pp. 110-134. Norman Davies (*1939). Engl. supervisor. Józef Gierowski (1922-2006). Thomas Nipperdey (1927-1992). Benedictine monastery in Upper Bavaria, first and foremost famous for its brewery. Andrzej Sulima Kamiński (*1935).

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I came into Polish history! I also went to the Kraków summer school just for a few weeks and learned some Polish and I had a wonderful time. I did go back to Munich, because it was just a year of exchange I had in Georgetown, and finished my Master’s and at the same time as I was learning Polish. I tried Russian in a course for Slavicists which progressed too quickly, and I dropped out without much success. Certainly, Polish was the one I really liked as I had a great teacher from Kraków, Professor Jan Michalik11, who is an academic in theatre history. And so that’s how I found Polish history. It was really Andrzej Kamiński who … Frost: Go on. Do your Kamiński impression! Friedrich: Ok, fine. I’ll do my Kamiński impression: After the one year of exchange, he called me into his office and said, “What are you going to do with your life, baby?” So I said, “Well, actually I want to become a journalist.” One of the reasons I did politics and history at the university. And he said, “Don’t waste your brain.” So I said, “Well, what should I do?” So he said, “Well, come back here and study with me.” And so I did apply, I got the fellowship and became a teaching assistant. The alternative would have been to go to Stuttgart – I had an offer from Norbert Conrads12. But because Georgetown provided the finances and was just a bit more exotic, I went to Georgetown. And the rest is history. Is it right that you actually experienced 1989 from London and Washington respectively? Looking back, has this year changed something decisively for you, or would you name other turning points, earlier or later ones? Friedrich: In 1989, I was in Washington, D.C., and I saw the wall fall on American television. I was on the phone with a friend from Germany, whom I had met at Georgetown, just watching the events. She works as a medical psychologist and is still in the States now. It was all very emotional. But it was unreal as well, because I was so far away. I still remember the events in Romania a few months later, I was back in Munich for Christmas and watched what was essentially the elimination of the Ceaușescu couple13 on the German news. And it was just an unbelievable time. For the fall of the wall, I was slightly distanced from it because of being in the States. I did come back in the summers, but I just 11 12 13

Jan Michalik (*1938). Norbert Conrads (*1938). On  25  December  1989 Nicolae (1918-1989) and Elena Ceaușescu (1916-1989) were condemned to death by an exceptional military tribunal and immediately executed.

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wasn’t quite as involved reading about it or talking about it with other people in America. In American news you get the highlights, but it wasn’t any deep analysis or anything like that. And I was just probably also too involved with my own life to take too much of an interest in reading around it. Of course, I did this subsequently, but it was all a bit removed from my reality. Besides, so much changed anyway; these were the years when I was studying in the States and I was getting my Ph.D. But what is definitely interesting: when I did go to Poland for the first time in 1989, I had been behind the Iron Curtain before, to Prague and Romania. I never actually went to East Germany while it was behind the Iron Curtain, because coming from Munich one didn’t necessarily go north and east that much. I regret that because I did go through the GDR to Prague where I had friends. And that was really interesting. I also spent three weeks in Romania in 1983. And I knew people at Radio Free Europe and wrote an article for “Die Welt” under a pseudonym about Ceaușescu’s Romania. So I was interested in what was going on behind the Iron Curtain, but I wasn’t focused at that point on Poland or on Germany so much. But, of course, 1989 in Poland was really interesting and communism was falling apart. Just being there in the summer for a few weeks, I met lots of people. My Polish then was still ropey, it was just awful. I would have liked to understand more what people were telling me at that point. But I sensed, you know, the new beginning. It was just very, very exciting. It was a fantastic atmosphere to be in. I was then in Warsaw mainly. Robert was more connected with Kraków. Frost: It was slightly different for me: I was in London in 1989. I had lived for a year in Kraków under Solidarity14 when I attended the language course. It was a very special year to be on the language course because of so much that was happening; so much politics going on around you. I then went back to London and I came back for a year under martial law where the atmosphere was entirely different. My Polish by then was pretty good. So I knew what was going on. I then had a job as a school teacher for three years, so I didn’t go back to Poland until 1987 when I went back to check my sources for the Ph.D. that I

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Between August 1980 and 13 December 1981 the Polish anti-communist trade union and opposition movement “Solidarność” was operating officially. After years underground it reappeared on the political stage in autumn 1988 and split into diverse factions after the regime change. Cf. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999.

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submitted finally in 1989.15 Martial law had ended by then. Everything was dull and grey and nothing seemed to be happening. Of course, we all assumed that this would continue forever. I had no sense in 1987 that anything was going to occur. I was there for about two or three weeks. I always tell my students about the footnote you will find if you read Richard Evans’s “In Defence of History”.16 There’s a bit where he says something about historians being lousy prophets and he’s talking about the Berlin Wall: ‘One Richard J. Evans went into print in early 1989 to say the Berlin Wall will not come down in my lifetime’. That was the general assumption! So none of us saw it coming. Actually, in 1989 I was already working in King’s College London, I’d been there for two years. My housemate, who I’d met on the language course, Liz Rembowska – I shared a house with her and one of her friends in London – she got a job for the BBC and she ran the BBC office in Moscow in 1989. So I was getting reports from her as to what was going on and how the Soviets were taking it. I then went back to Poland in 1990 after the fall of the wall and stayed with Liz’s cousin. His wife was a Russian teacher. She was in despair because she said, “I’m a teacher of Russian, I love the Russian language, I love Russian literature, but I have no students any more. I’m being retrained as an English teacher.” And I asked, “Do you speak English?” And she said, “No.” And I remember her grandmother came back from the market and said, “Buraczki za 700 zł!”17 She was just outraged. The prices had remained stable for all her life. And it occurred to me then that the generation that had the most difficulty adjusting after 1990 was the generation that had been young during the war, now pensioners, who had lived through communism, hated it, attacked it. But when it fell, many didn’t have the mental resources to adjust very quickly. And so that’s how I experienced the Wende. Friedrich: If I can perhaps add one thing about predictions: When I was in the States as an exchange student, when I first met Kamiński, I also did an internship with the Voice of America. At that point, I was still planning a journalistic career and I met a journalist there who actually predicted that the wall would fall very soon. And that was 1987/88. He’s not alive any more, alas. But I always remember that when Robert tells the story about Richard Evans. 15 16 17

Frost, Robert I.: After the Deluge. Poland-Lithuania and the Second Northern War 16551660. Cambridge 1993. Richard J. Evans (*1947) – idem: In Defense of History. New York 1999 [London 1997], p. 51 (or 230), footnote 25. There, he refers to his publication “In Hitler’s Shadow. West German Historians and the Attempt to Escape from the Nazi Past. New York 1989, p. 105-106”. Engl. “Beetroot for 700 złoty!”.

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From your perspective: How did ‘big’ politics affect the historical research in the 1990s? Did you observe anything notable, especially in Poland and Germany, during this period of time? And conversely, how did historians try perhaps to influence politics? Frost: I’ll confess that I didn’t actually take that close an interest in Polish politics in the 1990s. I was once rung up by Sky News, who said, “There are elections in Poland, can you say something about them?” And I said, “Are there? I can tell you about the election to the Sejm of 1658.” I didn’t even know the parties, so I was not terribly well placed to comment on the politics of it. I can say something about my experience of the historical world. I think, the great thing after 1990 was, suddenly historians wanted to look at the 20th century. When I was doing my doctorate, all the best historians in Poland worked on the medieval and early modern period, because why would you want to work on the 20th century when you couldn’t say anything critical? And the restrictions were so much stricter. My experience of the ‘change’ was more seeing how historians, I’d known for 10 years, could actually research everything and write everything that they wanted to write. It seemed to me – and I’ve said this in public in Poland – that the historians in Poland were able to keep their integrity as historians to a greater extent than they were in any other of the Eastern Bloc countries. There’s now some very interesting scholarship on that, on the attempts by the party to take over the Polskie Towarzystwo Historyczne at the end of the war18. I had a discussion with Gierowski about this. In about 1994 I went back to Kraków to give a paper in his seminar. The quality of Polish historiography on the early modern period in the 1970s and 80s was actually very, very high. They couldn’t get out to the West much. They didn’t have access to a lot of the Western material. Some of them did, like Antoni Mączak19, whom I knew well, because he could speak both English and German. I believe he spoke French as well. I first met him in St. Andrews in 1979 when Parker brought him over. And I asked Gierowski, “How did you do it?” And he said, “Well, we kept control of the habilitacja: the academics. You can always tell who the party hack was in the department because they had the title docent. The first thing we did in 1990 was abolish the title docent. The habilitacja was the key.” That was how they did it. I don’t know much about it, but there were others around who were 18

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The PTH was founded as local history society in Lwów in 1886. Since 1925, the general Polish Historical Society with 46 branches; organises quinquennially the Congress of Polish Historians. Cf. Rutkowski, Tadeusz Paweł: Polskie Towarzystwo Historyczne w latach 1945-1958. Zarys dziejów. Toruń 2009. Antoni Mączak (1928-2003).

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members of the party. Maciszewski20 in Warsaw was one, and I know a lot of his students who speak very highly of him. There was a sense of relief in those early years after 1990: ‘We know all this stuff, we can now write exactly what we want to about it’, and that was a very exciting time. Friedrich: I was in a similar position in the 1990s in terms of not knowing much about the landscape of parties. Obviously, Solidarity split up and various parties developed. But what is more important is actually – and I think the question is also aimed at that – to what extent the political development or the general atmosphere, the political atmosphere, changed in history writing or historians’ positions. What I think is interesting is that the same battle was going on, for example, in the GDR after the fall of the Wall where clearly the relationship to West Germany had played a great role. Careers ended. A lot of people were sacked. There was a clearing out and some tragic biographies. But in Poland there was continuity because first of all, there wasn’t a West Germany to take it over, but also because I think the integrity of the historical profession was greater. As Robert said, everybody knew who the communists were, those who were not very good. But those who actually were very good had reached high positions and there was a continuity there, with a few exceptions. I think there wasn’t that sort of ideological battle, a battle for survival going on in the same way. At least that’s what I perceived. Maybe it passed me by. But certainly the people that were there before, that we respected, were there afterwards. Also, there was this incredible relief that one didn’t have to pretend any more and one could write about social history again. The influence of the Annales School and the Roczniki [Historyczne] and so on, I think that tradition really continued in a very beneficial way throughout the 90s.21 Krzysztof Mikulski22, for example, has always written about social history in a wonderful way and now that could be done in a freer way without putting a sort of ideological stamp on it. They can actually now write about peasants and workers without all that Marxist stuff. So in that sense it was a liberation, but also a continuity of the best traditions which still goes on.

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Jarema Maciszewski (1930-2006). The French Annales School has had considerable influence on parts of the historians in the People’s Republic of Poland, partly due to an active French foreign cultural policy. Cf. Pleskot, Patryk: Intelektualni sąsiedzi. Kontakty historyków polskich ze środowiskiem ‚Annales’ 1945-1989. Warszawa 2010. Krzysztof Mikulski (*1960).

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Frost: Let me illustrate the point about people switching to the 20th century. Perhaps the most electric public seminar I’ve ever attended, given by a historian, was in the Solidarity period, when I was doing the language course. There was this feeling in society of the importance of history. I remember teaching on a two-week language camp for Polish gymnasium students at Muszyna, in the snow, in February 1981: My first conversation class, we came in and sat down and they said, “What do you do?” And I said, “Well, I’m writing a Ph.D. in history.” If you said that in Scotland at the time, the reaction would be: why don’t you get a proper job and what the hell use is that? And they said, “Oh, that’s wonderful! History is the most important subject there is, because we’re not allowed to know things about our past.” So History was important. The public meeting I attended was about Katyń, and the speaker was Andrzej Sowa23 from the Jagiellonian University, a Gierowski student, who wrote a splendid doctorate on the mental world of the ministers of Augustus the Strong, using Annaliste conceptions of collective mentality. But he was talking about Katyń, and the room was full; the atmosphere was electric. With regard to the point about the integrity of historians, Andrzej said, “Well, we will not know for sure what happened at Katyń until we get access to the Soviet archives.” The publiczność24 didn’t want to let him get away with that, and they were shouting at him saying, “We know what happened, we know what happened!” He said, “No. As a historian, I cannot prove it. I cannot say what happened until I get access to those records.” He really had a hard time; he was shouted at and I thought, there’s a historian who has integrity. The second story is about a conference that we were both at in Dresden in 1997,25 I think Hans-Jürgen26 was there too. It was a comparison of the Polish-Saxon and the British-Hanoverian Union, and Blaschke27 was there, who had been a dissident under the GDR and thus retained a position. There was this wonderful session, where Blaschke gave a paper in German and it was quite amusing, because all the Poles were listening to the simultaneous translation, I was listening to the German. And there was a point where Blaschke 23

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Andrzej Leon Sowa (*1946) – idem: Mentalność elity rządzącej w Rzeczypospolitej w okresie panowania Augusta II. Kraków 1977 (maszynopis pracy doktorskiej UJ). It came out as a book: Świat Ministrów Augusta II. Wartości i poglądy funkcjonujące w kręgu ministrów Rzeczypospolitej w latach 1702-1728. Kraków 1995. Engl. audience. The conference took place in Dresden from 20 to 22 November 1997 with Polish, British and German participation. Cf. the resulting publication: Rexheuser, Rex (ed.): Die Personalunion von Sachsen-Polen (1697-1763) und Hannover-England (1714-1837). Ein Vergleich. Wiesbaden 2005. Hans-Jürgen Bömelburg (*1961). Karlheinz Blaschke (1927-2020).

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really lost it and he started saying things like, “The Polish-Saxon Union was the worst thing that ever happened to Saxony! It was a disaster because Poland was not a proper state! It had no taxes!” And I thought, this will be interesting. I started counting until the translation caught up: one, two, three, four, five, six. Then all the Poles took their headphones off. Gierowski stood up and Staszewski28 stood up and they started waving their arms. But I thought, well, there you see the difference between the two historical worlds, really. It was seven years after the Fall of the Wall. Friedrich: To be fair: Blaschke, he was not really a communist. He was actually attacked for doing regional history, this big debate about Saxon Landesgeschichte. But yes, certainly, he definitely didn’t know anything about Poland. Frost: And that’s the thing that has changed! You already mentioned some names, but perhaps more explicitly: which personalities have been most important to you in this period of the 1990s? Frost: The person who had the greatest impact on me was Adam Kersten29 in Warsaw, whom I only met once. I started my Ph.D. in London under Norman Davies. The problem was I’d looked for someone who would supervise a Ph.D. on 17th-century Poland, and they all said, “No”. I went to Robert Evans and he said, “No, I’m a Bohemian historian, a Hungarian historian, I can’t supervise a Ph.D. on Polish history, go to Norman Davies.” And I went to Norman, but I knew that Norman was an expert on the 20th century. So Norman said, “Good! You’ve got a great book on the Second Northern War, which has no book in English on it, but you haven’t got a Ph.D., find the topic!” So I spent a year in London reading around the subject. Then I came to Kraków. As I said, Gierowski was my opiekun, who was very helpful, but he was rector, he had no time. And anyway, he was a Saxon expert, not a 17th-century expert. Czapliński30 in Wrocław had just died. I talked to Kazimierz Przyboś31 in Kraków and he said, “Oh, yes, you had better go and read Kubala32!” And I said, “Yes, I’ve read Kubala.” And then he said, “You had better read this.” And I said, “I’ve read that.” He was perfectly 28 29 30 31 32

Jacek Staszewski (1933-2013). Adam Kersten (1930-1983). Władysław Czapliński (1905-1981). Kazimierz Przyboś (*1944). Ludwik Kubala (1838-1918).

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helpful, but was an expert on a later period, and I’d read the stuff he asked me to read. His father, Adam Przyboś33, who published many source editions on the seventeenth century, was charming. He had spent time in Scotland in the war, if I remember correctly, and he invited me for tea in his flat. I went to see Janusz Tazbir34, who couldn’t have had less time for me. Friedrich: For anyone … Frost: “What do you want?! … Oh!” And then I went to see Adam Kersten. I explained that I was researching the Second Northern War and I said, “I’ve read all this stuff and this is what strikes me as bizarre.” And he took me for coffee from AGAD35 to a little kawiarnia on the other side of the square there and he said, “Right! Between 1655 and 1658, you know, they had three years without a Sejm. It was the longest period without a Sejm after 1572. By law (under the Henrician Articles36), they had to have one every two years. Find out what was going on!” Then I thought, that’s the first person who has actually given me a problem. And he said, “The next time you come to Warsaw, I’ll tell you which sources to read.” This was around November 1982. I returned to Kraków. My next visit was February, and Kersten had died of a heart attack at the age of 52 in January. So he never told me which sources to use. So I had to figure that out for myself. But he was the man who gave me the idea of the Ph.D. and subsequently for the book.37 So in that one meeting he had the greatest influence on me. Of course, Gierowski was tremendously helpful, his signature got me in everywhere. But in Kraków, Gierowski and his students were all Sasolodzy38, so I didn’t really have anybody to talk to. Hence Warsaw, Kersten, and then others among the older generation, like Mączak. A great historian of the economy and society, though I completely disagreed with him on the politics of the old Rzeczpospolita. I’m afraid my entire career has been devoted to questioning his model of Klientela: the idea that clientage explains the whole political 33 34 35 36

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Adam Przyboś (1906-1990). Janusz Tazbir (1927-2016). Archiwum Główne Akt Dawnych w Warszawie. Institution founded in 1808 as the Central State Archive for the collection of older sources on the history of Poland. After the election of Henry of Valois as Polish-Lithuanian king in 1573, he and the nobility set the legal basics for the functioning of the Commonwealth. The rights and obligations of kings and nobility took the form of two documents, the Henrician Articles and the Pacta Conventa, and more or less remained in effect until the end of the Commonwealth in 1795. Makiłła, Dariusz: Artykuły Henrykowskie (1573-1576). Geneza – obowiązywanie – stosowanie. Studium historyczno-prawne. Warszawa 2012. Frost, After the Deluge. Engl. students of the Saxon period.

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system in Poland-Lithuania and above all his claim that the monarch was terribly weak … But he was a charismatic and splendid figure, and an excellent historian in many ways. As a historian you need something to react against and I was motivated to show that this assumption makes it difficult to explain Polish-Lithuanian politics in the sixteenth and seventeenth centuries. We used to do a double act at conferences in Oxford, in London, and elsewhere, where Mączak would say this and I would say, “Well, Professor Mączak, I don’t entirely agree.” But he was a lovely man, and he did invite me back to his seminar so that I could try out my odd ideas. Friedrich: It was usually the same question you asked over and over again. He must have been really tired of it. Frost: Well, he always gave the same answer. Friedrich: Exactly! Not satisfactory. But while Robert was more influenced, obviously, by Kraków and Warsaw, I started in Toruń, and the Toruń School of History had a great influence on me. When Kamiński sent me off to Toruń, he did not tell me about Staszewski with whom he had spent quite a lot of time, because they both were students of Gierowski. And another student of Gierowski, or rather somebody they knew from that period when they were young, was Salmonowicz.39 Although Janusz Małłek40 was my proper opiekun, Salmonowicz popped up and said, “Well, I have to tell her what to do.” I remember that he took me to the library once, opened this card catalogue on the ‘S’ and showed me everything under ‘Salmonowicz’, which he had written about ‘Prusy Królewskie’ (Royal Prussia) and said, “Once you have read all of this, there’s is no more to know about ‘Prusy Królewskie’”. I did read all of that and much more. I also went to Staszewski’s doctoral seminars. And my Polish was ever improving. I probably caught not even half of what was going on at the beginning; but began to understand more and more during the year I was there, which was really exhausting, I spent hours listening to guest speakers and Staszewski’s Ph.D. students. It was really an intellectual focus. He was the main power in Toruń. I later asked Kamiński why he never told me about Staszewski. It wasn’t quite clear why but he just said, “I don’t have to tell you everything” or something like that. So, I suspect, they didn’t get along … Staszewski had been to the Dresden archives but had not seen the Moscow archives, and Kamiński had seen the Moscow archives partly, I was 39 40

Stanisław Salmonowicz (*1931). Janusz Małłek (*1937).

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told, because he ‘knew’ the daughter of the director of the Moscow archive. But Kamiński had not seen the Dresden archives. The two were really competing for authority on the Saxon era. Frost: I spoke to Staszewski about it once and he said, “Well, of course Kamiński doesn’t know the Polish archives either.” Friedrich: Which is not true, but he left Poland and that was heartbreaking for Kamiński, because he couldn’t go back to Poland for such a long time to see the archives that mattered for him. Frost: One other person who influenced me, was not a Pole but Frank Sysyn41 in Canada, who was in Kraków when I was there, because he couldn’t get into Ukraine and he was using the sources in Kraków to write Ukrainian history. And he said, “You have Russian.” I said, “Yes, but my Russian is crap.” He said, “But you’ve got to learn it because you can’t do Polish history without Russian.” So, he set me up with Włodko Mokry42, a Polish-Ukrainian lecturer at the Jagiellonian. And so, I went along every week and tried to teach Włodko English, because Frank wanted to take him to Harvard, where Frank was then. And Włodko read ‘War and Peace’ with me and Pushkin, to get my reading knowledge of Russian up. It was a wonderfully stimulating way to learn Russian. But it was Frank’s influence that started me thinking about the non-Polish parts of the Rzeczpospolita. So, when Robert Evans43 invited me to Oxford for lunch and asked me, “Will you write the history of early modern Poland for the Oxford University Press series on the History of Early Modern Europe?” I answered, “No! I want to write the history of the Union.” I had already started thinking about Frank’s point that you can’t write the history of Poland in that period without writing a history of Ukraine and Lithuania. So Frank was quite an influence on me; he was going to Gierowski’s seminar, he was very much around in Kraków, trying to persuade people to take Ukrainians and Ukrainian history seriously as part of the Commonwealth’s history. Friedrich: Can I add perhaps one more point to that? I think what I always admired in Poland was that so many women were in professorships, and I also met quite a few of them. In contrast to the German History landscape at the university, at least in Munich, where so few women were in professorships. 41 42 43

Frank E. Sysyn (*1946). Włodzimierz Mokry (*1949). Robert John Weston Evans (*1943).

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I still remember when I finished my M.A. and one of the professors I talked to said, “There is not much chance. We don’t have much Mittelbau in East European History here, you better go elsewhere.” And somebody said, “Well, we have fewer female professors in Germany than they have in Turkey.” That has changed a lot since then. Certainly, although she didn’t have a professorship when I first met her, Jola Choińska-Mika44 was a great influence on me and I always admired her very much. I think she is one of the best historians of the 17th century because she has an incredible knowledge of the sources. She has a certain approach to history that I really admire. More recently I have also come to admire Urszula Augustyniak45 very much. And some of the older women in professorships that I didn’t really get to know much because they were in Warsaw and not in Toruń. But I read their literature and I was always impressed by the fact that Poland had them. Frost: And Maria Bogucka46 who was at the wonderful first methodological Congress of Polish historians in Otwock in 1951/52.47 She was the belle of the ball. Friedrich: Yes, I heard some stories from Kamiński there … Frost: I think the number of younger women who’ve come through since 1990 is impressive. And they’ve introduced new approaches and there’s a lot of younger female Polish historians that I admire greatly. The next question would have asked you for the role of women in historiography. It seems that historians have prophetic powers after all. More generally: what role did private and academic networks play in the 1990s and how was the personal contact – you already mentioned some points – with each other? Frost: The 1990s was quite an odd decade for me because I didn’t really go back to Poland a great deal. I finished my book and was starting off on the next project, which was the book on the Northern Wars, and having criticized Michael 44 45 46 47

Jolanta Choińska-Mika (*1957). Urszula Augustyniak (*1950). Maria Bogucka (1929-2020). Herbst, Stanisław/Kula, Witold/Manteuffel, Tadeusz (eds.): Pierwsza Konferencja Metodologiczna Historyków Polskich. Przemówienia, referaty, dyskusja. Vols.  1-2. Warszawa 1953. About the conference p.e.: Stobiecki, Rafał: Historia i historycy wobec nowej rzeczywistości. Z dziejów polskiej nauki historycznej w latach 1945-1951, in: Acta Universitatis Lodziensis. Folia Historica 22 (1991), pp. 163-187.

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Roberts for not knowing Polish I decided that I had to learn Swedish. So in the 1990s, I was focused more on Scandinavia. Karin will tell you that we never had a honeymoon, because the day after our wedding I got on a plane and flew from Munich to Estonia where I spent a month in the archives. But I was looking more for Swedish and Danish stuff than Polish or Russian material. I felt I knew the Polish material well enough. So I spent the 1990s learning Swedish and Danish and reading up on their historiography. My research trips were to Stockholm and Berlin rather than to Poland, and it was not until I’d finished that book in 2000 that I turned back fully to Poland-Lithuania; by that time I had signed the contract with OUP for the history of the Union,48 I actually finished the Northern Wars book in Leipzig where I was visiting Karin at the GWZO49. And then I had to switch back to Poland intensively in the 2000s. So the visit to Toruń in 1992 on which we met was one of my few trips to Poland in the 1990s. Fate. Friedrich: Well, I was establishing my career in London in the 1990s. It was about building up connections between Germany and Poland. I always had these two legs: I was never just a historian of Poland and I was already researching my book on Royal Prussia that was pretty much written by the late 90s.50 At SSEES51 I was employed as a historian of Germany with a focus on the Germans in East Central Europe. And I was invited to join the Beirat for the German Historical Institute in Warsaw,52 which really gave me exposure to the 48 49

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Frost, Robert I.: The Northern Wars. War, State and Society in Northeastern Europe, 15581721. Harlow 2000. Established in Leipzig in 1996, the Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas was successor to the research centre “History and Culture of East Central Europe”, which had partly resumed the work of the Academy of Sciences of the GDR. In 2017, it adopted the name Leibniz Institute for the History and Culture of Eastern Europe (GWZO). Friedrich, Karin: The Other Prussia. Royal Prussia, Poland and Liberty, 1569-1772. Cambridge 2000. School of Slavonic and East European Studies (SSEES), founded 1915, initially part of King’s College London, in 1932 it became an institute of the University of London, since 1999 part of the University College London. Cf. Roberts, Ian W.: History of the School of Slavonic and East European Studies, 1915-1990. London 1991. The German Historical Institute Warsaw (DHI) was founded in 1993. Since 2002 it has been affiliated with the Max Weber Foundation – German Humanities Institutes Abroad and thus receives its funding from the Federal Ministry of Education and Research. Initially, it was headquartered in the Palace of Culture and Science, since 2002 based in the Karnicki Palace. Since 2017, the DHI has outposts in Vilnius and Prague. Cf.  25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018.

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German historians of Poland, and historians of Prussia, such as Neugebauer53. Historians of Prussia in Germany at that point were rather strange. It was a very small group. I did go back to Poland regularly, but mainly to buy books and meet up with Jola Choińska-Mika or for some conferences. It was an odd time! I had started working on my next book, which was the history of Brandenburg-Prussia as a composite monarchy.54 Also, I did half a book with Sara Smart on the Prussian coronation of 1701.55 I was more of a Prussian historian then, because I had signed a contract to do that book on Prussia and Polish historiography on Prussia. So I didn’t follow Polish historiography on Poland quite as much at that point. That only started in the 2000s again. Frost: But concerning the networks, I think, a lot of it was people that you knew and kept in contact with and you could get material from. So I think private relationships have always played an important part. That came out of the communist era where historians would sit and talk about things that they couldn’t actually print. Gierowski, I think, he was involved in the underground university during the war. I wish I’d asked him, I never did: ‘How did you manage to publish a doctorate on the Masovian Szlachta in 1948?56 Who allowed you to do that?’ So that generation had a lot to tell about dealing with the problems of the Communist years, and, about private networks and private discussions. But, as we say, it was only after 2000 that we both started more intensively getting back into Polish history. Friedrich: What was interesting is that we fed on each other’s contacts, which is the advantage when you’re both as a couple involved in Polish history, because we sort of swapped znajomych, people we knew and friends, and were exposed to each other’s networks.

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Wolfgang Neugebauer (*1953). Friedrich, Karin: Brandenburg-Prussia, 1466-1806. The Rise of a Composite State. Basingstoke 2011. Friedrich, Karin/Smart, Sara: The Cultivation of Monarchy and the Rise of Berlin. Brandenburg-Prussia 1700. Farnham 2010; Sara Smart (*1956). Gierowski, Józef Andrzej: Sejmik generalny Księstwa Mazowieckiego na tle ustroju sejmikowego Mazowsza. Wrocław 1948.

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Frost: The Polish historian I did on a couple of occasions go and stay with privately in the 1990s was Mirek Nagielski57 in Warsaw when I was writing the Northern Wars book. As the leading military historian of 17th century Poland, Mirek was very helpful in terms of pointing me in various directions. And he felt very much that military history was frowned upon by the establishment and that he wanted to make military history a perfectly respectable subject, which he has done a great deal to achieve. It was so much easier by then. In 1987 Mączak had invited me to Warsaw and he set me up with a stypendium for a month. I went to the Warsaw University offices to sign the papers and they said, “You’ll get your stypendium at the end of the month.” And I said, “So I get the money that I’m going to need to live at the end of the month?” “Yes. We don’t give you the money z góry (in advance), we give it to you z dołu (in arrears).” I thought, “Well, what use is that?. I’m only here for a month.” I said, “I can’t use these złotys anywhere else.” That rather summed up the communist system to me. Friedrich: Let’s not forget Jan Piskorski58, of course, who visited us in London. And Igor Kąkolewski59 as well. They stayed in our flat and then our house in London. I have to thank Jan a lot because he took the initiative to translate The Other Prussia into Polish.60 Frost: Jan Piskorski came to London because he realized, having been so involved in the German Sprachraum, that he had very little English, and that it was important for him to learn it. We went off for the summer and he housesat for us, and read Robert Bartlett’s book on the expansion of Europe, which he found on our bookshelf.61 He arranged for it to be translated into Polish because he was so impressed, even though I don’t know how easily he read it. But I’ll never forget him heading off to London on his first day. I said, “I’ll take you down to the centre and the British Library.” He refused, being an independent soul: “No, I want to go on my own.” And he came back at about five o’clock in a complete rage and we asked, “What’s wrong?” He said, “The buses

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Mirosław Nagielski (*1952). Jan M. Piskorski (*1956). Igor Kąkolewski (*1963). Friedrich, Karin: Inne Prusy. Prusy Królewskie i Polska między wolnością a wolnościami (1569-1772), przeł. Grażyna Waluga. Poznań 2005. Bartlett, Robert: The Making of Europe. Conquest, Colonization, and Cultural Change, 950-1350. Princeton 1993 (pol. edition: Tworzenie Europy. Podbój, kolonizacja i przemiany kulturowe 950-1350, przeł. Grażyna Waluga. Poznań 2003).

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don’t run according to the timetable.” So I said, “You really are a Prussian!” In London? A bus timetable? It’s a polite work of fiction. Did you have the impression – at that time and retrospectively – that old complexes and patterns of behavior continued to dominate? Or did you possibly notice new or other asymmetries? Frost: Having said all that I have said about the general quality and the integrity of Polish historians under communism, I think that one of the problems Polish historiography faced after 1990 was that the older generation kept going on and on and on because in many cases they couldn’t afford to retire. And a lot of the younger ones had to get several jobs, since initially at least academic salaries were challenged by inflation. It was not so much of a problem as it was in Lithuania and elsewhere, but many historians from Warsaw were also working at Pułtusk, one of many private universities that were founded in Poland after 1990.62 They were dashing back and forth. Some older professors hung on perhaps longer than they might have. And I think that perhaps in the 90s this slightly delayed the opening up to Western influences. I felt there was a difficulty in getting younger scholars to the West so that they could be exposed to the new kinds of historiography. It’s taken 30 years. Around 1997 I secured a scholarship for Igor Kąkolewski to come to King’s College London for a year. Also German universities and research centres made a substantial contribution and played a really significant role in this. One of the most positive developments since 1990 has been the opening up of Polish, Lithuanian, Ukrainian and Belarusian historians to each other’s work. In general, it has been a pretty positive experience, there has been access to each other’s archives. I’ve had two Lithuanian doctoral students. The first one came to me in London, Artūras Vasiliauskas63, in the early 1990s. I set him up to go to Warsaw for six months and the Warsaw historians were welcoming and helpful. Artūras is from Vilnius; I arranged for him to be looked after by the distinguished historian of the grand duchy, Tadeusz Wasilewski64, born in Vilnius, and whose name is the Polish form of Vasiliauskas. I enjoy such ironies. The number of bilateral conferences that were rapidly organised helped 62

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In Pułtusk works one of the numerous private universities which popped up in Poland since the 1990s: Wyższa Szkoła Humanistyczna im. Aleksandra Gieysztora (founded 1994), since 2019 Akademia im. Aleksandra Gieysztora w Pułtusku – filia Akademii Finansów i Biznesu Vistula. Artūras Vasiliauskas (*1970) – idem: Local Politics and Clientage in the Grand Duchy of Lithuania 1587-1632. London 2001. Tadeusz Wasilewski (1933-2005).

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break down the barriers. I think that the generational problem was worse in Lithuania and elsewhere, because the older generation that was trained in the Soviet period perhaps took longer to escape the shadow of the Soviet system. One can see that in Ukraine where those structures were more embedded than in Lithuania. And Belarus is a different story entirely, where historians have suffered considerably, and several were dismissed from their posts for challenging the old Soviet pieties: men such as Hienadź Sahanovič65 who has led a nomadic existence around Eastern Europe for ages. God knows what he lived on, but I believe he’s finally secured a proper post in Warsaw, which is very good news, as he is an excellent historian. Friedrich: I think that sometimes we were able to help Polish historians to talk to each other. Sometimes I felt that the universities and the academies within Poland were a little like silos. They knew each other, but under communism they didn’t talk as much as one might expect … Kraków didn’t talk to Warsaw, Toruń didn’t talk to Kraków. Sometimes we felt like facilitators when we went to conferences with them: “I know this was happening in Toruń.” “Oh, really? I didn’t know about that.” It was a bit like the wydawnictwa66: The problem you could only buy books in Kraków which were published in Kraków, but you couldn’t get them in Toruń. So it was this sort of silo structure, which was really problematic for spreading of ideas and cooperation in Poland. And that has improved beyond recognition. But also, as Robert says, the talking to the other successor states of the Rzeczpospolita, that has really changed. In the 90s at first that was still very entrenched. There has so much been written about that, this resurgent nationalism after 1990 or the ‘coming out of the freezer’, as it was often described. It was for a while quite difficult to have a conversation between Lithuanians and Poles or Ukrainians and Poles. Alas it’s perhaps getting worse again on the official level under the PiS67 government, though relations between historians are still strong. One important initiative was launched by Kłoczowski68 in Lublin, with the commissioning of histories of all the successor states’ national histories in the context of the Rzeczpospolita and the translation of these books into the other languages of the Rzeczpospolita. Kamiński wrote the one on Poland, Sahanovič on Belarus, Jakovenko69 on Ukraine and so on. That was a really great initiative 65 66 67 68 69

Hienadź Sahanovič (*1961). Engl. publishing houses. Prawo i Sprawiedliwość (Law and Justice), national conservative party, founded in 2001. Jerzy Kłoczowski (1924-2017). Natalja Jakovenko (*1942) – idem: Historia Ukrainy od czasów najdawniejszych do końca XVIII wieku. Lublin 2000; Kamiński, Andrzej Sulima: Historia Rzeczypospolitej Wielu

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to encourage them to talk to each other and to have assembled the nations of the old Rzeczpospolita in a common task. Furthermore, I wanted to mention that Kamiński organized regularly – not this year, obviously, because of Covid, but every year for the last 15 years or so – textbook conferences in Warsaw where he invited Western scholars: American, British, French and others, who were mostly not scholars of Poland, but who wrote about Poland in some way in their work on French, British, Russian or German history, to come to Warsaw and to get to know Poland, partly as tourists, but also to have meetings with specialists and publishers to go through their books to improve the way in which they depict Eastern Europe and particularly Poland, and discuss mutual perceptions, which was a really interesting initiative that will hopefully continue after Covid.70 So these are all things that happened in the late 90s and 2000s, which I think really made people talk to each other much more. There’s a completely new generation there now. We talked a lot about personal contacts and networks now. Conjoined with this historiographical, methodological, narrative liberation in the 1990s, would you say that one could also talk about an intensification of institutional contacts? And which role did certain institutions play? Frost: As I said, I was only marginally involved in the Polish history side around that time, but it certainly got easier to visit: you didn’t have to go through the whole bureaucracy. The archives got easier, slowly. When we went to Gdańsk in the late 1990s, there was still the Naczelna Dyrekcja Archiwów Państwowych71 and Pani Dyrektor had to phone from Gdańsk to allow us in. I remember having to write my podanie72 every time I went to Warsaw: “Uprzejmie zwracam się …”73 just to get in. So that lasted into the 1990s and I think it took some time for that to change and now of course, it’s much easier. But those old communist structures didn’t make things terribly easy. And of course it took them some time to work things out. Individuals in the system could be very helpful,

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Narodów, 1505-1795. Lublin 2000; Sahanovič, Hienadź: Historia Białorusi. Od czasów najdawniejszych do końca XVIII wieku. Lublin 2002. “Recovering Forgotten History. The Image of East-Central Europe in English-Language Academic and Text Books” organized by the Foundation for Civic Space and Public Policy on a regular basis since 2006. The General Directorate of State Archives is the Supreme authority of all Polish State Archives, established in 1951 and subordinated to the Ministry of Culture. Engl. application form. Engl. “I address you most politely …”

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as they usually were in the universities. But there were one or two directors of archives who were less than helpful, whereas I remember the accountant in Gdańsk being really helpful. She would always complain about her boss who was being obstructive. Friedrich: Yes, she was. On the other hand, I had wonderful experiences in Toruń, where Jarek Poraziński74 invited me for coffee. At the beginning, I didn’t understand more than half of what he was saying to me. But they were extremely helpful there, they brought me good sources. And I remember in Kórnik75 being served tea next to 17th century manuscripts and I thought, oh my God, that would be absolutely impossible in Berlin. And I was probably just lucky. I found AGAD one of the sternest and I think the worst was the Ossolineum76. But the ‘Prussian archives’ – Gdańsk, Toruń, Olsztyn – they were all very accessible in the early 1990s. Frost: It depended on the director. That went back into the communist period. I remember 1987, when I came back and I was wanting to check the references I’ve made for my doctorate. Because in 1982/83 it was difficult to make microfilms, you couldn’t photograph in the archives, everything had to be copied out in longhand. So, I wanted just to check my sources and I went to the Czartoryski77. I was there for three weeks, I knocked on the door and they said, “Remont!” And I said, “But I’ve come all the way from London to check my sources, I need to get in here.” “Well, I’ll go and talk to the director.” And she went away and talked to the director. And he listened and said, “Ok, that’s all right, you can work in my office and I’ll bring you the stuff myself.” And I thought: What? I’m checking references! I was calling up trolley loads of documents, looking at them, going to page 300, saying ‘yes, that’s right’, closing it and saying ‘next, please’. But he did; he ferried the stuff up from the magazine. That was still under communism. I was a foreigner who had just turned up, and he was terribly helpful. It didn’t always work like that in Poland; it depended on who was in charge. 74 75 76 77

Jarosław Poraziński (*1950). Biblioteka Kórnicka PAN, Kórnik, Greater Poland. One of the most important Polish research libraries as well as a substantial archive for the history of Early Modern Times. Zakład Narodowy im. Ossolińskich (National Ossoliński Institute). Research library and archive, founded 1817 in Lwów, since 1947 in Wrocław. Biblioteka Książąt Czartoryskich. Research library in Cracow. Founded for the collections of the magnate family of Czartoryski; since 1876 located in Cracow as a public library. Today, as a foundation established by the family, it is part of the Cracow section of the National Museum.

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Friedrich: But that happened to me two, three years ago, when I went to Warsaw and I had misread the opening hours at the end of August. Wajs78 just let me work in his office for four or five days. And he had a colleague carrying the manuscripts up. But there is a continuity from communist times which is possibly a very positive one, that if you got the right person, you could actually get around prescriptions and regulations. I think, 2004, with the accession of Poland to the European Union, a lot changed. But the ground was prepared in the 1990s. By 2004 they really were ready: They sent their students via the Erasmus scheme. We have a lot of Polish students in Britain who come and study with us. And I think there is also a huge change in institutional cooperation in Britain. SSEES in London, for example, cooperated very closely with Polish, Czech and other universities. As you already anticipated the question with regard to the historian’s very practical working conditions, we would like to address methodology once again: Retrospectively, can you recall any transnational exchange in this context? What about approaches that perhaps transcended purely national and bilateral perspectives? Frost: I think it was relatively slow, but that’s partly because of the problems of getting hold of Western materials in the Communist period, and of actually getting to the West. Germany, I think, played a very important role after 1990, in getting Polish academics into various programs in Germany where they were exposed to seminars and different approaches. And that has changed enormously. Of course, these days the debates are standard on post-colonial approaches to Polish history and transnational approaches. But it took some time because they were starting from almost ground zero – except in the Annaliste methodology and others that were well established from before the War. Friedrich: I think there are some approaches or attempts that were slightly less successful, particularly by very established people. But I think there is a new generation that really understands new methodology. One of the places that contributed early to fostering that knowledge for the early modernists was the Herzog August Library in Wolfenbüttel,79 which had this fellowship pro78 79

Hubert Wajs (*1957). Founded in 1572 by Duke Julius of Braunschweig-Lüneburg, the institution is today one of Germany’s most important libraries for the study of the Middle Ages and the early modern period.

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gramme for a long time. I was quite closely connected with the Herzog August Bibliothek. So I met quite a lot of young Polish scholars when I was there during the summers. And they learned a lot from exchange there on cultural perspectives, but also on transnational history. That fostered a lot of the innovations that were imported. Again, Germany, as Robert says, played a key role. I think that’s where they learned a lot. Frost: One thing that has always impressed me, has to do with what I said about the integrity of Polish historians. If you look at Toruń in particular and the way in which it has curated the German legacy that it inherited in 1945, the sort of pride in local history, the way in which they have transformed the writing about the Teutonic Knights, for example, which of course was this terrible political problem for generations. And people like Adam Szweda, Roman Czaja and others, they’ve almost become local patriots.80 They’ve said, we are going to challenge an older nationalist German historiography on this, but we’re not going to set it against the nationalist Polish historiography. We are proud of the libraries, archives and materials that we have inherited. The communists rebuilt Danzig as Gdańsk, but there is a pride in that German heritage, which, if you go to Klaipėda, is almost gone. Under the Soviets there was no attempt to reconstruct old Memel. There wasn’t much left in Danzig in 1945 either. They could have leveled it and said, right, we’re going to build a modern communist city here, but they curated that German heritage in a way which I think has been very positive and helpful. They’ve developed their own local patriotisms which are astonishing. We attended the dress rehearsal for the reenactment of Grunwald, of Tannenberg. And I have upstairs the Gazeta Ostródzka which said: “Nasi Rycerze też poszli pod Grunwald!”81 Friedrich: “Nasi Krzyżacy!”82 Frost: “Nasi także tam walczyli!”83 But they’re talking about the Teutonic Knights because it was guys from Ostróda (Osterode) and the Prussian towns who came out and played the role of the Teutonic Knights. I read this piece and thought ‘this is astonishing’: These are our boys. It is not – these are Poles playing Germans. These are our boys who are fighting there because our region was on the side of the Teutonic Knights. 80 81 82 83

Adam Szweda (*1968); Roman Czaja (*1960). Engl. “Our Knights also made it to Grunwald!” – Gazeta Ostródzka, 15 July 2010. Engl. “Our Crusaders!” Engl. “Ours also fought there!”

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I remember a tour I made with the director of the Landesmuseum in Münster, Klaus Bußmann84, for the 1998 Westphalian exhibition. We drove through Poland to look for objects to put in the exhibition. We went to Silesia, to Wrocław and we had this interview with the director of one of the Wrocław museums, who spoke good German, of course. And so we were talking in German. And he started to get agitated and the more agitated he got, the worse his German got. At the end, I was translating from Polish into German for him at some points. He was saying, “The people who live in this city don’t understand its history. You know, this is the place that built Berlin.” And he started reeling off lists of famous Germans who’d been born in Wrocław. And he said, “They get taught all this nationalist crap in the schools and I have no time for it.” And I thought, this is really interesting. He was a local patriot who was intensely proud of the German heritage. That this has happened bears testimony, I believe, to the general acceptance of Poles and Germans that they must overlook – though not forget – the dark periods in the recent past. I believe that has greatly helped to normalise relations since 1945, in a way that relations between Poles and Ukrainians have been much more difficult, although considerable progress was made down to 2015. Friedrich: But can I just remind you of a conversation I had with Krzysztof Mikulski about the cemeteries in Toruń where he said, “You know, many people here they don’t care enough. We should actually look after these cemeteries. And there isn’t enough done.” His initiative led to a revival. He was terribly upset and said, “It’s local history, even though there are so many German names on these stones, and what is left, we have to preserve.” He was very concerned about that. And I think that’s something that people like Krzysztof and also museum directors or local officials have taken up across Poland. Again, it depends a little bit on the person who does it and I’m sure there are some people who would not be interested in that or would be nationalistic about it. I think these ideas of working together in Europe fostered an understanding of actually preserving the transnational history of borderlands that so many parts of Poland share with their neighbours. The money coming from the European Union has helped, but often just as a beginning, then they discovered actually a history behind it. And it works, I think that’s something that has really spread. I hope it is not under threat from political directives of the current government.

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Klaus Bußmann (1941-2019).

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Frost: It’s very noticeable in relations with Ukraine. Down to 2015, there were major political efforts to take account of the legacy of the past, but since 2015 things have gone the other way, and that is sad. So I think the way that the local areas in Wrocław and Toruń and other places have dealt with the German question has helped in many ways. It could have been very difficult and, of course, there are going to be problems and individuals and groups that don’t like it and get upset. But on the whole the academic, scholarly, world, and local institutions have behaved well. Which publication(s) influenced you the most in the 1990s? And is this influence still lasting perhaps? Friedrich: I think there is one that was neither published in Poland nor in Germany: One of the most interesting social histories, Bill Hagen’s “Ordinary Prussians  …”85 that I think is a phenomenal work because there are about 25 years of archival research in there, in a way that very few historians can afford to do research now. And I met Bill Hagen on one of these textbook events that Kamiński organized in Warsaw. I think even now, they still do things in a similar way, which is a good way because some people say, “Oh, it’s just faktografia!” But a lot of it is very detailed, archival social research that really gives you a richness of texture, I am thinking, for example, about what Urszula Augustyniak is doing. Wonderful biographies, very detailed accounts, all of that. And in many ways it’s a good thing they’re not too bothered about fashions, about all sorts of approaches about the cultural turn and all that. So I think it can be one of the strengths of Polish historiography. Frost: In general? Published in the 1990s? Gosh! I can certainly give you a list of publications from the 1980s, but 1990… I mean, I would say, I’m struggling to think of one, but what I would say is, I think to take Karin’s point about how long it took Bill Hagen to write that book, is I think what the 1990s did was – it caused institutional and structural changes that enabled people to start work, whose fruits came later. If you ask me what has been transformed most since 1990, Karin mentioned social and economic history and I think we are now seeing a lot of books coming out that have transformed our understanding of

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William W. Hagen (*1942) – idem: Ordinary Prussians. Brandenburg Junkers and Villagers, 1500-1840. Cambridge 2002.

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the folwark86, of serfdom, of the way the rural economy worked. There was a lot of good work done before 1990. One individual I would highlight is Andrzej Wyczański87, who published his doctorate in 1953 on the folwark. And if you read the introduction it says – I am not going to discuss class struggle in this work because I do not find it in my sources. I thought – this is published under Stalinism! How did you get this published? But then that’s what the historians were doing. They were using the system. Wyczański wrote a seminal article in 1978 entitled ‘How bad was life for Polish peasants at the end of the 16th century?’88 which says actually it wasn’t that bad at all. I think in the 1990s, people began working on those ideas: Wyczański’s students and others have been profoundly influenced by him. Their work is now coming out because they’ve had the time to take on board those different ideas … People like Cezary Kuklo and Piotr Guzowski in Białystok for example.89 Guzowski has been to Britain, he’s been around, he’s absorbed the different approaches from scholars outside Poland, and the sort of the questions that have been raised. The scholarship took time to germinate. And that’s my evasive way of saying that I can’t think of a book published in the 1990s off the top of my head. I might, perhaps, nominate Antoni Mączak’s “Klientela”90 as a book that was tremendously influential, partly because Mączak was interested in the international literature on clienteles. He’d been in Munich for a year, at the Historisches Kolleg and had talked to all kinds of European scholars about it and really knew what was going on in Europe. He took that and applied it within a Polish context, but within a comparative framework. I got emails from him in the 1990s saying, “There’s this article on clientage in modern Nigeria. Could you find it for me?” I answered, “Well, I’m not sure that is relevant for the early modern period, but here you go.” Although I think he took it too far, it’s something for me to react against and to think about. It has been immensely influential in Poland, and Mączak inspired a whole series of excellent studies

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A folwark was a form of (noble) farming unit that had existed since the Middle Ages, which was initially based on the labour of serf peasants and aimed at relatively high agricultural production. Cf. Muszyńska, Jadwiga/Kazusek, Szymon/Pielas, Jacek (eds.): Folwark – wieś – latyfundium. Gospodarstwo wiejskie w Rzeczypospolitej XVI-XVIII wieku. Kielce 2009. Wyczański, Andrzej (1924-2008). Idem: Czy chłopu było źle w Polsce XVI wieku?, in: Kwartalnik Historyczny 85 (1978) 3, pp. 627-641. Cezary Kuklo (*1954); Piotr Guzowski (*1975). Mączak, Antoni: Klientela. Nieformalne systemy władzy w Polsce i Europie XVI-XVIII w. Warszawa 1994.

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of how magnate clienteles operated. And so, his students like Tygielski91, who looked at the Zamoyski clientele, have produced some wonderful material, which has made everybody rethink. Mączak had to work in the communist epoch and he was influenced strongly by the Annalistes, but then he took on board much more. And so he was in a position to publish that in the 1990s and unleash a wave of other scholarship. But it took time. It was a decade of transformation … Looking back, which have been the most important topics and narratives of the last 30 years? And how then would you place your own research therein? Frost: I think, what I said about serfdom and the folwark is vital because – call me old-fashioned – but I think that economic history matters and you can’t understand much without it. And that’s some of the work I find most exciting in Poland currently. But it’s been a slow-burner. I have benefited from the ability to rethink the Union partly because I am an outsider. One of the problems is that, for obvious reasons, political history tends to be written in national silos, and sometimes economic history too. So sometimes work in Lithuania on the Lithuanian nobility in the early modern period, really means: Lithuanians who are noble on the territory of what is now Lithuania. And I think there are problems writing about the nobility of the Grand Duchy in that way. So that would be my slight criticism, but the quality of the scholarship produced across the successor states has given me the opportunity of using those national scholarships to try and pull it together and say: this is not a national history, this is a history of something different, a political union. For example the school of Natalja Jakovenko in Kyiv has transformed Ukrainian ideas of the culture of the Ruthenian nobility, and her pupils are continuing that work. Thus I could not have written what I have written without what Karin has mentioned: 1990 freed historians up to go back into the archives. I don’t do much archival work these days myself, though I do visit from time to time. I read what scholars have written, which provides me with the essential raw material for my work. I do think that it’s been a very productive and exciting time in Polish historiography, precisely because the shackles have come off. There’s a market for popular history in Poland that goes back to what I said about history being important. And on the whole, I’ve been very impressed at what Polish historians have done with their liberty. It is a pity that the current government wishes to instrumentalise History and present a sugar-coated version of Polish history; 91

Wojciech Tygielski (*1953) – idem: Politics of Patronage in Renaissance Poland. Chancellor Jan Zamoyski, his supporters and the political map of Poland, 1572-1605. Warszawa 1990.

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it may play well to some of their supporters, but it is not, perhaps, as effective as they might hope beyond that constituency. I have no problems with the tackling of foreign myths and misconceptions about Polish history – that is something that I have spent much time on – but nationalist history never has much positive resonance beyond one’s own borders. Friedrich: But again, this is more pertinent to modern and latest 20th century history really. They will be hit much more by that politics of history than the early modernists. So, I think the early modernists are relatively safe from that interference. At least I would hope so. I’ve been working for quite a while now on this book on Bogusław Radziwiłł92. Whenever I say that in Poland, you immediately hear: “Oh, zdrajca93!” So, you get that Sienkiewicz94 perspective immediately as an almost natural reaction. Perhaps with the exception of Sławek Augusiewicz95 in Olsztyn, who has been working also on the Prussian sources and said, “Oh, that’s wonderful that you’re working on him because we Poles, we don’t really work on him from both sides, many couldn’t work on the Prussian and the Polish sources.” So, in many ways, some welcome that there is a transnational approach, and they almost admit their own limitations that they would actually just be able to do a national history of that. But there are many things that I also got inspired by, such as the Elitenforschung that’s happening in Poland, which is again, I think an approach that has grown out of that social and economic history and has taken up impulses from abroad and is looking at a more rounded picture of elites. So, if you asked me where I see myself, I’m in between – as usual. I have taken impulses from German historiography and developments there from the Münster School of symbolic communication and cultural history of politics. But also, I’ve picked up things from the Polish side. Although Robert has some doubts about the Klientela of Mączak, I agree that there are some really important ideas there that also inspired me. So, I would see myself as benefiting from both sides and standing in between and trying to be transnational and making the best of what I can contribute, because of the languages and the approaches that I know. And of course, being not bound into a national mould that is either German or Polish.

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Bogusław Radziwiłł (1620-1669). Engl. traitor. Henryk Sienkiewicz (1846-1916). Sławomir Augusiewicz (*1968).

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At the very beginning of our conversation, you mentioned the problem of prophecy and prognostics, the non-existent capacity of historians to foresee the future. We ask you nevertheless: what will academic history in Germany, Poland and Europe look like in 2030? Frost: It probably depends on how politics goes. If history goes down the route of victimology and national breast-beating and claiming that particular nations are better than everybody else, or are more persecuted than anybody else, that will be unfortunate. It is, nevertheless, positive that Poles take such an interest in history. History is ever-present. But for an audience outside Poland, Polish history also has an increasing appeal, now that we are moving away from national history written for a national audience. And interest in early modern Polish history has grown substantially since I started out in 1979/80, when what Parker said to me at the start was absolutely right, “If you do this, you’ll be the only person who knows anything about it and you’ll be able to say what you like.” There was only a handful of people working on early modern Poland in Britain: Lucjan Lewitter and his pupil George Lukowski and almost nobody else.96 We’ve perhaps contributed something, but very important work was done in Germany, and there is now a substantial scholarship on early modern Poland-Lithuania available in English and in German. Klaus Zernack97 in Berlin and others across Germany, Hans-Jürgen Bömelburg and Michael Müller98, all of these names and many more have taken, in both Germany and in the Anglophone world, the history of Poland far away from what it was in 1945. I have in my archives something I came across and xeroxed in Marburg, in the Herder Institute, which was the briefing that Rhode99 made in 1943 for the SS about Polish-Prussian relations, which is not quite the version he published in his subsequent history of Poland, shall we say. We know what the situation was in the 1940s. The progress has been astonishing, the contacts, the opening up. And I think German historians of Poland have done an immense amount to bury the ghosts of the past and the Poles have contributed as well. So, I think we’re actually very well placed. You can now teach Polish history in the early modern period at the undergraduate level to people who don’t read Polish, because there’s enough material that’s come out. For example, Dorota Pietrzyk-Reeves’s excellent book on

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Lucjan Lewitter (1922-2007); Jerzy/George Lukowski (*1949). Klaus Zernack (1931-2017). Michael G. Müller (*1950). Gotthold Rhode (1916-1990) – idem: Kleine Geschichte Polens. Darmstadt 1965.

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Polish Republicanism in the 16th century has just come out in English.100 You can give your students material, which means that Polish history will no longer be determined in the Anglophone world by historians of Russia and historians of Germany who don’t know Poland – I’ve been fighting against those versions all my career. So, I think there’s been a great deal of positive development, I think the historical profession in Poland is in a healthy place. In one sense, there is a danger in that the government is pouring more money into the Instytut Pamięci Narodowej101 than it is into academic history, which is a big concern. But … in ten years’ time … will they still be in power and following the same agenda? I don’t know. I hope that the historians who work with them can persuade them to be more moderate. I have seen signs that it’s not as bad there as it might be. I was at the Zjazd Historyków in Lublin in September 2019.102 There was free and frank exchange of views. But there was nothing that shocked me and I did attend some of the modern 20th century sessions. I’m on the optimistic rather than on the pessimistic side on that front. I think Polish historians have experience of defying systems that try to tell them what to do. When I was presented with my prize103 in Kraków by Karczewski104, the Marshal of the Senate in 2017, I said in my speech, “I pay tribute to the integrity of historians under communism”, and I paused and said, “It is never a good idea for governments to tell historians what they can and cannot write!” And the room burst out in applause. Karczewski, after a couple of seconds, realized what I’d said … he clearly took the point. But I think the Polish historical profession is robust enough. Particularly with support from their colleagues

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Dorota Pietrzyk-Reeves (*1975) – eadem: Polish Republican Discourse in the Sixteenth Century, transl. Teresa Bałuk-Ulewiczowa. Cambridge 2020 (pol. edition: Ład rzeczypospolitej. Polska myśl polityczna XVI wieku a klasyczna tradycja republikańska. Kraków 2012). The Institute of National Remembrance (IPN). Central scientific institution founded in 1998/1999 in the tradition of the “Main Commission for Investigation of Nazi Crimes in Poland”, which conducts historical research, public education and legal investigation work on Poland’s contemporary history between 1939 and 1989. Cf. Goddeeris, Idesbald: History Riding on the Waves of Government Coalitions: The First Fifteen Years of the Institute of National Remembrance in Poland (2001-2016), in: Berber Bevernage/Nico Wouters (eds.): The Palgrave Handbook of State-Sponsored History After 1945. London 2018, pp. 255-269. XX Powszechny Zjazd Historyków Polskich, Lublin, 18-20.09.2019. The prize Pro Historia Polonorum for: Frost, Robert I: Oxford History of Poland-Lithuania. Vol. 1, The Making of the Polish-Lithuanian Union, 1385-1569. Oxford 2015. Stanisław Karczewski (*1955).

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outside Poland. So, I’m moderately optimistic. They’ve made great progress, we’ve all made great progress since the 1940s and long may it continue. Friedrich: I haven’t got much to add to this, apart from one thing perhaps, that I am a bit afraid about the public view of history and the public way of depicting history, too, these two poles in PiS-Poland, not so much about academia itself. I think academia will always do what they did and they keep their integrity. Hopefully it will continue that they will not be interfered with. But what I am a bit afraid of is how public history is being done there: just walking through the streets of Warsaw last year seeing the heroes of resistance everywhere. I have nothing against praise for the people of the underground. And there are old films about that, which we all love. But the problem is the way they do it, it’s the tone, the hyperbole, the exaggeration and the one-dimensional way of public history that’s being done in the visual, in the posters that were hanging there in the Warsaw streets. I took a step back and thought, “Uuh, that’s just too much!” It’s too much of a romanticisation of Polish history in a way we really don’t want as historians. In 2015, just before PiS took over, it was the last days of Komorowski105 as president of Poland, I gave the official 3rd of May anniversary presentation in front of the Trybunał Konstytucyjny106 in Warsaw, and that was the last lecture of that kind. It was a whole series where foreign historians were invited to give a keynote in front of the Trybunał. Now that tradition has stopped. They would not have a foreigner there now to talk about Polish history. But I am confident that academic history will survive, as it has survived so far. Frost: Cautious optimism, yes.

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Bronisław Komorowski (*1952). Engl. Constitutional Tribunal.

Abb. 6.1

Nad Vltavou im Sommer 1999, Davle, Tschechien. Foto: privat.

Hans Henning Hahn (*1947) hat in Köln und Freiburg studiert und wurde 1976 in Köln promoviert, wo auch 1986 die Habilitation erfolgte. 1992-2016 war er Professor für Moderne Osteuropäische Geschichte mit Schwerpunkt Polen in Oldenburg und 2000 Gastprofessor in Krakau. Seine Forschungsgebiete sind die polnische und tschechische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Beziehungsgeschichte, das Europäische Staatensystem im 19. Jh., Historische Stereotypenforschung und Erinnerungskultur.

„Ihr solltet Polen nicht nur als Objekt eurer Liebe sehen“ Hans Henning Hahn Herr Hahn, die 1990er Jahre haben für Sie auf einer Vertretungsprofessur in Warschau begonnen. Haben Sie sich dort als Deutscher exotischer gefühlt als 1992 auf einer Professur mit Polenschwerpunkt in Oldenburg? Kann ich mit etwas Persönlichem anfangen, das vielleicht nicht ganz unwichtig ist? Im September 1989 – in Warschau wurde gerade die Regierung Mazowiecki gebildet – fand in Łódź der 14. Polnische Historikertag statt.1 Dort wurde Henryk Samsonowicz2 praktisch dauernd von uns, den dort versammelten Historikern, ausgefragt, ob er das ihm angebotene Ministerium nimmt. Er verhandelte gerade mit der Sejm-Kommission und wurde dann ja MEN – Minister Edukacji Narodowej3. Im Zusammenhang mit unserem Thema war aber etwas anderes wichtig, was während dieses Polnischen Historikertags passierte: Die deutschen Teilnehmer wurden vom Rektor der Universität Łódź eingeladen, und zwar nur die deutschen, das heißt eine etwas größere DDR-Delegation und zwei oder drei Westdeutsche. Ich war mit dabei und fand es interessant, dass alle anderen Ausländer nicht eingeladen wurden. Wenn Sie so wollen, war das eine Art vorweggenommene polnische DDR-BRD Aktion noch vor dem Fall der Mauer. Es gab zwar einen offiziellen Übersetzer, aber da die meisten Mitglieder der DDR-Delegation nicht Polnisch konnten, habe ich sie größtenteils übersetzt. Und insofern war das vor dem Fall der Mauer praktisch eine gemeinsame deutsch-polnische Initiative, die aber vom Rektor der Uni Łódź4 initiiert wurde. Ich wurde vorher gefragt, ob ich einverstanden bin und ich sagte: „Ja, natürlich. Ich habe keine Berührungsängste mit meinen DDRKollegen.“ Das zweite Wichtige, was meine Biographie betrifft und was Sie ja in Ihrer Frage angesprochen haben: Ich war ab Mitte Februar bis zum Sommer 1990 Gastdozent an der Uni Warschau und habe dort quasi den Lehrstuhl Maria 1 XIV Powszechny Zjazd Historyków Polskich, Łódź, 7.-10. September  1989. Meller, Stefan (Hg.): Pamiętnik XIV Powszechnego Zjazdu Historyków Polskich (Łódź 7-10 września 1989 roku). Referaty, komunikaty – sekcje. Toruń 1990. 2 Henryk Samsonowicz (*1930). 3 Dt. Minister für nationale Erziehung. 4 Leszek Wojtczak (1938-2018).

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Wawrykowas5 vertreten. Das wurde von der Robert Bosch Stiftung6 finanziert und insofern war ich – ganz offiziell – der erste westdeutsche Dozent an einer polnischen Uni mit einem ganz normalen Lehrdeputat. Ich habe ganz normale polnischsprachige Vorlesungen, Hauptseminare und Übungen veranstaltet. Das zeugte von einer ganz anderen Atmosphäre der polnisch-deutschen Historikerbeziehungen als noch in den 1970er und 80er Jahren. Für mich war dabei insbesondere wichtig: Ich hatte in den 1980er Jahren Einreiseverbot in Polen wegen meiner Kontakte mit dem KOR7 in den 1970er Jahren. 1979 war mir bedeutet worden, ich bekäme nie mehr ein Visum nach Polen.8 Das haben die polnischen Behörden bis 1986 durchgehalten; danach haben sie mich bei offiziellen Einladungen reingelassen, also zur Schulbuchkonferenz 1987 in Posen zum Beispiel. Aber sobald ich privat, also etwa forschungsmäßig rein wollte, haben sie mir immer das Visum abgelehnt, und erst im Dezember 1988 fiel in Warschau die Entscheidung, dass ich wieder nach Polen könne. Ich bin dann im Frühjahr 1989 während des Runden Tisches in Warschau gewesen. Insofern war dann dieses 1989/90 für mich natürlich auch etwas Besonderes. Letztlich war dann Oldenburg sehr viel exotischer. Um das zu erklären, sollte ich wohl kurz die Entwicklung meiner Polenreisen skizzieren. Ich war das erste Mal 1969 und in den 1970er Jahren sehr häufig in Polen gewesen. Ich hatte schließlich die ganzen Forschungen für meine Doktorarbeit dort absolviert. Insofern fühlte ich mich in Polen überhaupt nicht exotisch und auch meine zahlreichen polnischen Freunde und Kollegen haben mich eigentlich sehr in ihre Kreise mit hineingenommen.9 Ich habe in den 1970er Jahren in Oppositionskreisen – was man später dann Dissidenten genannt hat – zum Teil an Diskussionen teilgenommen, ohne dass ein Teil der Teilnehmer wusste, dass ich nicht Pole war. Ich bin zwar nicht polnischer Herkunft, habe mit 5 Maria Wawrykowa (1925-2006). 6 1964 gegründet, engagierte sich die Robert Bosch Stiftung schon früh aktiv in den deutschpolnischen Beziehungen. Vgl. Rogall, Joachim (Hg.): Die Robert-Bosch-Stiftung und die Beziehungen zu den Ländern Mittel- und Osteuropas, 1974-2000. Stuttgart 2000. 7 Das Komitet Obrony Robotników (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter) entstand nach den Unruhen von 1976 als Versuch zur intellektuellen und juristischen Unterstützung der Protestierenden und stellte eine wichtige Keimzelle der Solidarność-Bewegung dar. Siehe dazu Lipski, Jan Józef: KOR. A history of the Workers’ Defense Committee in Poland, 19761981. Berkeley 1985. 8 Siehe hierzu auch das Gespräch mit Hans Henning Hahn in: Danyel, Jürgen/Behrends, Jan C. (Hg.): Grenzgänger und Brückenbauer. Zeitgeschichte durch den Eisernen Vorhang. Göttingen 2019, S. 187-206, hier v.a. S. 196f. 9 Zu den Kontakten Hahns zu polnischen Oppositionellen seit den 1970er Jahren und der Rolle seines damaligen Schwiegervaters, Janusz Radziejowski (1925-2002) siehe das Gespräch mit Hahn in: Danyel/Behrends (Hg.), Grenzgänger, S. 193f.

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22 Jahren das erste Mal in meinem Leben einen Polnischkurs gemacht. Insofern war das für mich eine neue Sprache gewesen, aber ich beherrschte die Sprache immerhin so, dass ich mich in einer polnischen Umgebung bewegen konnte, ohne dass man sofort bemerkte, dass ich Deutscher war. Wenn man merkte, dass ich doch nicht heimisch war, dann fragte man meist, ob ich polnischer Emigrant aus Frankreich sei. Ja, ich habe einen leicht rheinischen Akzent, und dementsprechend meinte man, das sei ein Polnisch, was so ein bisschen französisch klänge. Also die Art und Weise, wie ich Polnisch sprach, passte nicht in das polnische Deutschlandbild. Würden Sie denn sagen, dass sich 1989 tatsächlich irgendetwas Entscheidendes verändert hat? Oder eher, dass man – wenn man das denn möchte – ganz andere Zäsuren setzen könnte? Das kommt darauf an, wovon man redet. Was die Beziehungen zwischen den Historikern angeht, war es eigentlich nichts Neues. Es gab sehr viele Leute aus Polen und aus anderen Ländern Osteuropas, die – etwa über die Humboldt-Stiftung10 oder über den DAAD11 – in den 1970er und 80er Jahren in Westdeutschland gewesen waren. Es hatte in jenen Jahren auch eine Reihe junger westdeutscher Historiker meiner Generation gegeben, die nach Polen gefahren waren, um dort zu forschen – Jaworski, Michael Müller und wer auch immer.12 Und es gab Verabredungen unter den Historikern, zum Beispiel in der Gemeinsamen Schulbuchkommission,13 um eben diesen Historikerdialog jenseits aller politischen Belastungen weiterzuführen. Insofern mussten nicht die Kontakte zwischen den Historikern ganz neu mit irgendwelchen großen Schwierigkeiten angeleiert werden.

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Förderprogramm für Forschungsaufenthalte ausländischer Gastwissenschaftler in Deutschland durch die von der Bundesrepublik 1953 neu eingerichtete Alexander von Humboldt-Stiftung. Zur Stiftungsgeschichte: Jansen, Christian: Exzellenz weltweit. Die Alexander von Humboldt-Stiftung zwischen Wissenschaftsförderung und auswärtiger Kulturpolitik (1953-2003). Köln 2004. Deutscher Akademischer Austauschdienst, 1925 gegründet. Vgl. Alter, Peter (Hg.): Der DAAD in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben – vierzehn Essays. Berlin 2000. Rudolf Jaworski (*1944); Michael G. Müller (*1950). Unter der Schirmherrschaft der UNESCO 1972 gegründete Kommission deutscher und polnischer Historiker*innen sowie Geograph*innen. Vgl. Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015.

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Aber auf der anderen Seite war es natürlich für beide Seiten sicher eine Zäsur. Ein polnischer Historiker, der nach Deutschland wollte, musste seine Behörden nach 1990 nicht mehr fragen, ob er das darf oder nicht; als Deutscher musste man nicht mehr hochkompliziert ein Visum beantragen, sondern fuhr einfach hin und her. Das hat natürlich nach 1990 die Kontakte erheblich erleichtert. Auch innerhalb der Schulbuchkommission ergaben sich größere Veränderungen: Wir wussten in der Schulbuchkommission vor 1989 immer genau, wer auf der polnischen Seite von der Regierung beziehungsweise von bestimmten Parteistellen da hineingesetzt worden war. Das wurde uns nicht gesagt, das wussten wir, und mit „wir“ meine ich sowohl die deutschen wie die polnischen Historikerkollegen. Denn das hat trotzdem nicht verhindert, dass man sehr vertraut miteinander sprach. Das war jetzt, ab 1990, natürlich völlig anders. Zunächst einmal hat die Leitung der polnischen Seite der Schulbuchkommission Jerzy Holzer übernommen, der nun nicht von der Partei kam, sondern damals ja schon ein sehr prominenter Oppositioneller gewesen war und zum Beispiel 1989 von Mazowiecki erst einmal die Aufsicht über das Parteiarchiv bekam.14 Sie haben bereits Ihre Kontakte zur Opposition in der Volksrepublik angesprochen, die Sie ja schon intensiv in den 1970er und 80er Jahren geknüpft hatten. In diesem Zusammenhang: Wie wirkte sich in den 1990er Jahren die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften aus bzw. wie haben eventuell Historikerinnen und Historiker auf die Politik eingewirkt und sich ihr gegenüber positioniert? Wollen wir es mal so sagen: In der Oppositionszeit, schon in den 1960er, aber vor allem in den 1970er und frühen 80er Jahren waren in Polen die Historiker und das, was Historiker sagten, wichtig für die nationale Identitätsbildung und den nationalen Identitätsdiskurs in Polen. Deswegen spielten Leute wie Geremek15, Holzer, Samsonowicz und Tadeusz Łepkowski16 eine ganz erhebliche Rolle. Das wussten wir als deutsche Poleninteressierte natürlich. Wir waren immer ein bisschen neidisch, denn die Rolle der Historiker für den deutschen Diskurs war und ist sehr viel geringer. Gut, es hat irgendwann einmal in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre auch eine deutsche Historikerdebatte17 14 15 16 17

Jerzy Holzer (1930-2015); Tadeusz Mazowiecki (1927-2013). Bronisław Geremek (1932-2008). Tadeusz Łepkowski (1927-1989). Der deutsche Historikerstreit entzündete sich u.a. an Andreas Hillgrubers (1925-1989) Buch „Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums“ von 1986 an der Frage, ob die deutsche Judenvernichtung ein einmaliges Ereignis gewesen sei. Vgl. Große Kracht, Klaus: Debatte. Der Historikerstreit,

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gegeben. Aber das war ein interner Streit innerhalb der Historikerzunft. In Polen war es dies nicht: Auch wenn die Parteihistoriker kaum eine Rolle mehr spielten, dann spielten dies die Historiker insgesamt für den nationalen Diskurs sehr wohl, nicht nur für die Debatten über das 20. Jahrhundert, sondern überhaupt für die Fragen, was Nation ist, wie man mit Nationen umgeht. Die polnischen Historiker mussten sich dann im Laufe der 1990er Jahre daran gewöhnen, dass sich die Gesellschaft immer weniger um die Geschichte kümmerte. Die Geschichte wurde in den 1990er Jahren immer weniger identitätsrelevant, sondern es wurden sehr viel stärker Gegenwartsfragen unterschiedlicher Art, Verfassungsauseinandersetzungen und so weiter diskutiert. Es kam dann auch heraus, dass es unter den verschiedenen Richtungen sehr unterschiedliche Nationsvorstellungen oder Nationskonzepte gab – ob sie nun eher in der ethnischen, eher in der Endecja-Tradition18, oder eher in der PPS-Tradition19 standen, also ein eher politisches Nationskonzept vertraten (wie zum Beispiel Jan Józef Lipski20). Da gab es doch sehr unterschiedliche Entwicklungen, die im politischen Diskurs der 1990er Jahre eine Rolle spielten und bis heute eine wichtige Rolle einnehmen. Es ist ja in Polen keineswegs so, dass jeder, der über naród21 redet, dasselbe darunter versteht. Das hat aber auch dazu geführt, dass der Respekt, den die Historikerschaft – das środowisko historyków22 – in der Gesellschaft genoss, geringer geworden ist. Die Historiker wurden nun viel stärker als Fachwissenschaftler und nicht mehr als nationale Leitfiguren angesehen. Das sieht man ja auch daran, dass heute kaum mehr Historiker eine große politische Rolle spielen, wenn man das mit dem vergleicht, was in den 1990er Jahren ein Samsonowicz, ein Geremek und so weiter noch für Positionen eingenommen haben. Insofern hat sich da einiges

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Version:  1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.01.2010, http://docupedia.de/zg/kracht_ historikerstreit_v1_de_2010 (07.09.2020). Die Bezeichnung Endecja ist vom Akronym ND (Narodowa Demokracja/Nationaldemokratie) abgeleitet und steht für das nationalistisch-antisemitische Lager der polnischen politischen Szene seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Vgl. Hausmann, Kurt Georg: Die politischen Ideen Roman Dmowskis. Ein Beitrag zur Geschichte des Nationalismus in Ostmitteleuropa vor dem Ersten Weltkrieg. Kiel 1968. Polska Partia Socjalistyczna (Polnische Sozialistische Partei). Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, war sie unter ihrem Anführer Józef Piłsudski (1867-1935) eine der dominierenden Parteien Polens bis zum Zweiten Weltkrieg. 1948 wurden große Teile von ihr mit der kommunistischen Arbeiterpartei zur PZPR zwangsvereinigt. Vgl. Stefanowski, Roman: PPS 1892-1992. Warszawa 1992. Jan Józef Lipski (1926-1991). Dt. Nation. Dt. Historikermilieu. Vgl. zur Übersetzungsproblematik auch das Nachwort in diesem Band, S. 456.

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in Polen verändert – weniger, was die Rolle der Geschichtswissenschaft als Wissenschaft betrifft, sondern wie die Geschichtswissenschaft, die Historiker als ein środowisko (wie man so schön auf Polnisch sagt – das deutsche Wort „Milieu“ passt da nicht so ganz) anerkannt war. Das war natürlich für mich eine sehr spannende Angelegenheit, weil ich es eben vorher oft erlebt hatte, wie sehr viel wichtiger ‚die Geschichte‘ im polnischen Diskurs war, als sie im deutschen Diskurs gewesen ist, wo sich das, wenn überhaupt, dann nur auf die Debatten über das ‚Dritte Reich‘ beschränkte. Aber das ist ja, weiß Gott, nicht die gesamte deutsche Geschichte. Hatten Sie denn an irgendeiner Stelle den Eindruck oder das Gefühl, dass in Deutschland selber in der Politik, in der Gesellschaft und in der Wissenschaft das Interesse an Polen in den 1990er Jahren zugenommen hat? Jein. Also zunächst einmal, ja. Nicht umsonst habe ich 1992 einen Lehrstuhl in Oldenburg bekommen, der ganz offiziell „Moderne Geschichte Osteuropas mit Schwerpunkt Geschichte Polens“ hieß. Das hatte erst einmal den praktischen Hintergrund, dass in Bremen der Schwerpunkt eher auf sowjetischer oder russischer Geschichte lag. So sagte man, dass man 50 km weiter nicht unbedingt nochmal einen Russlandschwerpunkt haben müsse, also machte man einen Polenschwerpunkt. Dieser Lehrstuhl wurde 1992 neu gegründet, vorher hatte es in Oldenburg keinen Osteuropalehrstuhl gegeben. Insofern war das zunächst einmal für mich selber sehr wichtig. Ich merkte allerdings dann seit spätestens Ende der 1990er Jahre, dass in der Historikerschaft doch und generell in Deutschland das Interesse an Polen, überhaupt aber an Osteuropa langsam zurückging – es war nicht mehr die Gegner-Erforschung, die man vorher während des Kalten Krieges betrieben hatte. Insofern ist die Geschichte meines Lehrstuhls doch kennzeichnend: Anfang der 1990er Jahre hielt man die Gründung eines solchen Lehrstuhls für nötig. Im Vorfeld meiner Emeritierung 2016 tauchte dann der Vorschlag auf, den Lehrstuhl auf Public History umzuwidmen. Das scheiterte zwar, aber es ist ebenso kennzeichnend, dass es einige Kollegen im Institut gab, die die Osteuropäische Geschichte wieder für entbehrlich hielten. Auch das, was einen an der Geschichte überhaupt interessierte, veränderte sich: von Politikgeschichte eher zu bestimmten Aspekten der Kulturgeschichte. Das hat natürlich dann dazu geführt, dass auch die Regionalisierung erst einmal etwas zurückgefahren wurde.

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Sie haben schon angedeutet, dass die Kontakte der Historikerinnen und Historiker untereinander eine andere Form angenommen haben, aber im Kern teilweise schon existierten. Welche Rolle spielten Ihrer Meinung nach in diesem deutsch-polnischen Verhältnis denn wissenschaftliche oder private Netzwerke? Und war der persönliche Umgang miteinander in Polen anders als Sie das aus dem deutschen Kontext kannten? Ehrlich gesagt ist das für mich schwierig zu beantworten. Ich hatte Folgendes schon vor allem in den 1970er Jahren festgestellt: Ich war junger deutscher Doktorand oder ab 1976 junger Doktor, aber ich war ein Deutscher, der sich mit Polen befasste, und hatte kein Problem, die berühmtesten polnischen Historiker kennenzulernen. Deutsche ohne polnischen Familienhintergrund, mit denen aber polnische Historiker Polnisch sprechen konnten, waren einfach nicht so häufig. Ich hatte beste Beziehungen zu Henryk Wereszycki, Stefan Kieniewicz und allen möglichen weiteren Historikern, und wo ich auch immer hinkam, wurde ich von einem zum anderen weitergereicht.23 Denn natürlich war für polnische Historiker ein Westdeutscher, vor allem ein junger Westdeutscher, etwas exotisch. Das hörte in den 1990er Jahren auf beziehungsweise wurde weniger. Denn man brauchte sich nicht mehr vorher ein Visum zu besorgen, und es kamen nicht nur mehr Deutsche, sondern auch mehr Engländer, Amerikaner, Franzosen, Italiener und alle möglichen anderen. Die wurden genauso herumgereicht und daran musste man sich auch gewöhnen. Ich hatte da weniger Probleme, da ich in Polen ausschließlich Polnisch kommunizierte. Aber deutsche Kollegen, die weniger Polnisch konnten, sondern nur auf Deutsch oder Englisch kommunizierten, hatten natürlich nur Zugang zu deutsch- oder englischsprachigen Polen und nur ein Teil der polnischen Historikerschaft verstand und sprach Deutsch. Es war im kommunistischen Polen so gewesen, dass die Leute meist nur eine westliche Fremdsprache so gut sprachen, dass sie darin kommunizieren konnten. Nur wenige Leute sprachen mehrere Sprachen; Kieniewicz etwa konnte, glaube ich, genauso gut Deutsch, Englisch und Französisch, dazu noch Russisch. Aber ansonsten konnten die meisten Historiker, nicht nur meiner Generationen, sondern auch noch Menschen, die 10 oder 15 Jahre älter waren als ich, entweder auf Deutsch, Englisch oder Französisch kommunizieren, aber selten in allen drei Sprachen. Entsprechend kam ein amerikanischer Kollege nicht zu einem deutschsprachigen polnischen Historiker, sondern eben nur zu einem, der auch Englisch konnte, und so weiter. 23

Henryk Wereszycki (1898-1990); Stefan Kieniewicz (1907-1992).

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Wenn Sie sich die entsprechenden ‚środowiska‘ – bleiben wir einmal bei diesem Wort – auf beiden Seiten der Grenze angucken: War das nicht trotz alledem nur die Widerspiegelung einer männlich dominierten Gesellschaft? Spielte das in Ihrer Wahrnehmung in irgendeiner Form eine Rolle? Also damals, zumindest in den 1970er Jahren, war dies für mich nicht erstaunlich, auch wenn es doch diesbezüglich Unterschiede zwischen beiden Ländern gab. In Polen habe ich eine ganze Menge wissenschaftlich tätiger Frauen kennengelernt: Meine engste wissenschaftliche Bezugsperson in Warschau war Maria Wawrykowa, die dort als Spezialistin für deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert eine große Rolle spielte. Es gab auf der anderen Seite als berühmteste Parteihistorikerin Celina Bobińska in Krakau, die weibliche Ausgabe von Jerzy Topolski, wenn man so will.24 Bobińska, die unter anderem das polnische Marxbild prägte, wurde mir 1972, wenn ich mich recht erinnere, vorgestellt. Und da gab es noch einige andere, in Krakau beispielsweise Anna Owsińska, eine eminente Kennerin der französischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, auch in meiner Generation gab es schon junge Historikerinnen, so z.B. Aleksandra Kasznik25, die über die französische Fremdenlegion in Nordafrika und später über Ägypten im 19. Jahrhundert arbeitete. Damals in den 1970er Jahren zumindest gab es nach meiner Erinnerung mehr Frauen in der polnischen als in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft. Das hat sich inzwischen verändert und ist wohl in beiden Ländern recht ähnlich geworden. Natürlich gab es sowohl bei den Historikern als auch bei den Oppositionellen immer eine Mehrzahl von Männern, aber, ehrlich gesagt, bevor ich Adam Michnik kennenlernte, lernte ich seine damalige Freundin Barbara Toruńczyk kennen, die mich dann Adam weiterempfahl.26 Damals in den 1970er Jahren spielten in meiner Wahrnehmung die Frauen in Polen eine größere Rolle als in Deutschland, zumindest eine größere Rolle als in Westdeutschland. Das hat sich in den 1990er Jahren verändert, und ich weiß jetzt nicht, ob man von einer Verweiblichung, einer partiellen Verweiblichung unserer Wissenschaft reden kann, aber in gewisser Weise schon. Zumindest kann man schon ein gewisses Nachholphänomen feststellen. Aber in Polen gab es weniger die Notwendigkeit, man empfand auch weniger das Bedürfnis.

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Celina Bobińska (1913-1997); Jerzy Topolski (1928-1998). Anna Owsińska (1923-1981); Aleksandra Kasznik (*1943). Adam Michnik (*1946); Barbara Toruńczyk (*1946).

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Neben bereits Erwähnten: Welche Einzelpersönlichkeiten waren für Sie denn damals, oder sind vielleicht auch heute noch unter den Historikerinnen und Historikern besonders wichtig gewesen? Wie gesagt, Maria Wawrykowa war sicherlich eine der wichtigsten. Da ich einen großen Teil des Jahres 1971 in Krakau zugebracht habe, waren damals natürlich Henryk Wereszycki und Wacław Felczak27, dessen Schüler, wichtig. Ich hatte dann Kontakt mit Felczak-Schülern aus meiner Generation wie Cetnarowicz und Zbigniew Voynar, die beide damals Angestellte der Krakauer CzartoryskiBibliothek waren.28 Damals war die Czartoryski-Bibliothek29 eigentlich fest in der Hand von Wereszycki-Schülern, die habe ich alle sehr geschätzt. In Warschau waren es sicherlich Stefan Kieniewicz und Jerzy Skowronek, mit denen als zwei Spezialisten u.a. für die polnische Große Emigration ich am ehesten im Kontakt stand – und mit Jerzy W. Borejsza und Tomasz Szarota.30 Ich hatte auch relativ engen Kontakt zu den Thorner Historikern, ganz eng befreundet war ich mit Sławomir Kalembka, Janusz Małłek und Kazimierz Wajda.31 Das waren die drei, die ich fast jedes Jahr, wenn ich in Polen war, gesehen habe. Manchmal bin ich nur nach Toruń gefahren, um die drei zu sehen. Die Posener Historiker Lech Trzeciakowski, Jerzy Topolski und Gerard Labuda, daneben auch Witold Molik, und vor allem die überragende Polonistin Zofia Trojanowiczowa kannte ich auch, zu den Breslauern und Łódźern hatte ich weniger Kontakt.32 Die habe ich gelegentlich gesehen, aber als Spezialist des 19. Jahrhunderts habe ich mich in den einzelnen Unis natürlich immer mit Leuten getroffen, die auch in meiner Epoche geforscht haben. Und welche Rolle haben Institutionen bei der Verdichtung einer deutschpolnischen Kommunikation gespielt? In den 1990er Jahren spielte natürlich das damals dann gegründete Deutsche Historische Institut eine ziemlich wichtige Rolle. Noch vor der Wende hat 27 28 29

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Wacław Felczak (1916-1993). Antoni Cetnarowicz (* 1944); Zbigniew Voynar (*1944). Biblioteka Książąt Czartoryskich. Forschungsbibliothek in Krakau, begründet aus den Sammlungen der Fürstenfamilie Czartoryski, seit 1876 als öffentliche Bibliothek in Krakau angesiedelt. Heute als von der Familie begründete Stiftung Teil der Krakauer Abteilung des Nationalmuseums. Jerzy Skowronek (1937-1996); Jerzy Borejsza (1935-2019); Tomasz Szarota (*1940). Sławomir Kalembka (1936-2009); Janusz Małłek (*1937); Kazimierz Wajda (1930-2020). Lech Trzeciakowski (1931-2017); Gerard Labuda (1916-2010); Witold Molik (*1949); Zofia Trojanowiczowa (1936-2015).

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ein deutscher Freund, Andreas Lawaty33, mir einmal gesagt: „Hör mal, du redest doch dauernd davon, dass man ein Deutsches Historisches Institut in Warschau gründen solle. Schreib einmal darüber!“ Ich habe dann 1989 einen Aufsatz darüber veröffentlicht, der in der „Zeitschrift für Kulturaustausch“ erschien.34 Als ich 1990 in Warschau den Lehrstuhl Maria Wawrykowas vertreten habe, wurde ich plötzlich gebeten, ganz schnell nach Berlin zu kommen. Dort traf sich eine Runde von Osteuropahistorikern: Zernack, Schramm und andere, und auch Wolfgang Mommsen, der der einzige NichtOsteuropahistoriker war.35 Man beriet, ob man ein Deutsches Historisches Institut in Warschau oder in Moskau gründen solle, wobei auch Mommsen sagte: „In Moskau, das hat überhaupt keinen Sinn. Machen wir das doch in Warschau.“ Auch Dietrich Geyer36 aus Tübingen, der mit dabei war, sagte: „In Moskau, da versinkt man in irgendeinem Vorort. Machen wir das in Warschau, da haben wir so viele persönliche Kontakte mit Historikern.“ Kurze Zeit später ist ja auch das Deutsche Historische Institut in Warschau gegründet worden. Das kam faktisch sehr schnell. Es dauerte nur zwei Jahre und dann war das beschlossen. Ich habe 1990 mit Samsonowicz, dem damaligen zuständigen Minister, den ich ganz gut kannte, darüber gesprochen und ihm gesagt: „Sie sind Minister, machen Sie das von polnischer Seite, drängen Sie darauf, dass das gemacht wird.“ Ich hatte allerdings kein deutsches Mandat, darüber zu sprechen, ich habe es einfach als mein persönliches Engagement angesehen. Wichtig war und ist bis heute für die deutsch-polnischen Historikerkontakte auch die Gemeinsame Schulbuchkommission. Da konnte eine ganze Menge zwischen den deutschen Polenhistorikern und den polnischen Deutschlandhistorikern verabredet werden – wie man jeweils im anderen Land mit der Regierung umgeht, um gewisse Dinge zu verwirklichen. Das ging sowohl in den 1970er und 80er Jahren, wie dann auch in den 90er Jahren und danach. Man konnte sich, vertraut untereinander, beratschlagen, wie man mit bestimmten politischen Institutionen umgeht, weil wir in dieser Gemeinsamen Schulbuchkommission die andere Seite jeweils nicht als Regierungsvertreter ansahen, sondern als Kollegen. Das hatte so auch schon in der kommunistischen Zeit funktioniert, was damals höchstens dann gewisse Probleme bereitet hatte, wenn man zum Beispiel unseren Dialog den Medien klarmachen wollte. Denn die Medien beider Seiten sahen natürlich die Historiker der jeweils anderen 33 34 35 36

Andreas Lawaty (*1953). Hahn, Hans Henning: Plädoyer für ein Deutsches Historisches Institut in Warschau, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 39 (1989) 4, S. 466-471. Klaus Zernack (1931-2017); Gottfried Schramm (1929-2017); Wolfgang  J.  Mommsen (1930-2004). Dietrich Geyer (*1928).

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Seite als Regierungsvertreter an, und wenn man denen versuchte zu erklären, dass sie das eigentlich gar nicht seien, dann gab es manche Journalisten, die das einfach nicht glauben wollten. Sie sind im Prinzip ja einer der Väter des DHI Warschau gewesen, das kann man wohl ohne Übertreibung sagen. Hat es Sie eigentlich damals sehr getroffen, dass Sie nicht dessen Direktor geworden sind? Denn das hätte sich doch angeboten, von Ihren Vorkenntnissen, den Sprachkompetenzen und den wissenschaftlichen Erträgen her. Naja, von polnischer Seite ist dies wohl erwartet worden, jedenfalls ist mir das in Gesprächen gesagt worden. Ich habe mich zweimal beworben. Einmal 1992 und dann noch einmal danach, weil mir derjenige, der es zuvor geworden war,37 am Ende gesagt hat: „Hören Sie, bewerben Sie sich doch auf meine Nachfolge, hier wollen Sie eigentlich alle deutschen Angestellten des DHI gerne als Nächsten haben.“ Ich bin jedes Mal nicht genommen worden. Das hat mit der deutschen Seite zu tun gehabt, mit der deutschen Regierung. Mir ist nie gesagt worden, warum man mich nicht genommen hat, deswegen möchte ich jetzt auch nicht darüber spekulieren. Wahrscheinlich hat man damals befürchtet, dass ich eher polnische Interessen als deutsche Interessen vertreten würde. In deutsch-polnischen Beziehungssachen habe ich oft dafür plädiert, dass eigentlich die polnische Haltung nicht selten viel verständlicher sei, und dass ich nicht meine Aufgabe darin sehe, deutsche Interessen in Polen zu vertreten. Ich habe eher in Deutschland in Debatten versucht zu erklären, warum man in Polen so denkt oder die Geschichte so sieht und nicht anders. Jedenfalls bin ich es nicht geworden. Ich war zweimal im Gespräch, bin auch zweimal zur jeweiligen Anhörung eingeladen worden. Es gab offensichtlich ziemliche interne Streitigkeiten politischer Art und offensichtlich einen erheblichen Einfluss des Bundeskanzleramts bei der Nominierung des Direktors. Es ist mir zumindest immer wieder gesagt worden, dass das nicht unter Historikern entschieden werde, sondern letztlich komme die Entscheidung auf der deutschen Seite vom Kanzleramt, auch nicht vom Außenministerium. Das ist mir informell immer wieder gesagt worden. Ich kann das nicht nachweisen, ich kann nur sagen, so ist es mir bedeutet worden. Offensichtlich war ich für das deutsche Kanzleramt in den 1990er Jahren nicht so ganz verträglich – also gab es andere, die da interessanter waren. Oder warum auch immer.

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Rex Rexheuser (*1933).

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Wenn Sie also schon als zu polonisiert wahrgenommen wurden: Hatten Sie aus dieser Position heraus das Gefühl, dass alte Komplexe oder Verhaltensmuster – vielleicht würden Sie das auch eher Stereotype nennen – in den 1990er Jahren in den wissenschaftlichen Kontakten weitergewirkt haben? Und haben sich eventuell auch neue Schieflagen oder Asymmetrien entwickelt? Natürlich hat es Schieflagen gegeben. Wenn man über deutsch-polnische Beziehungsgeschichte redet, dann war die Beziehungsgeschichte als methodisches Paradigma – Zernack hat darüber ja in den 1970er Jahren mal einen wichtigen Aufsatz geschrieben38 – dem Fachpublikum in Deutschland wohl schwieriger klarzumachen als in Polen. Der Zernack-Aufsatz ist damals von allen polnischen Kollegen, die Deutsch lesen konnten, sehr positiv aufgenommen worden. Man sagte: „Ja, das ist genau das, wie wir arbeiten müssen.“ Das bezog sich auch darauf, dass es bei Beziehungsgeschichte nicht nur um Staatenbeziehungen geht. Es geht auch um Beziehungen von Nationalbewegungen oder zwischen Staat und Nationalbewegung, auch um Beziehungsgeschichte zwischen Kulturen und so weiter. Das war von polnischer Seite zunächst einmal eine Selbstverständlichkeit, während ich es auf deutscher Seite immer wieder erlebt habe, dass man sagte: „Vor allem wenn es nicht nur um die Gegenwart geht und nicht nur um das 20. Jahrhundert, wie können wir da von einer Kontinuität von Beziehungsgeschichte von 200 Jahren oder von 500 Jahren oder sogar von 1000 Jahren reden? Ist das nicht viel zu sehr Konstruktion?“ Natürlich ist es das, aber der Konstruktivismus war damals noch nicht so ganz entdeckt worden. Heute wird der Begriff Beziehungsgeschichte häufig mit Verflechtungsgeschichte ersetzt – gemeint ist weitgehend das Gleiche, vor allem wenn es um kulturgeschichtliche Fragestellungen geht. Es gab auch noch ein Gebiet, auf dem die polnische Geschichtswissenschaft, wie ich glaube, einen gewissen Vorsprung hatte, und das war die Frage der Völkerbilder bzw. der nationalen Stereotype. Eine historische Stereotypenforschung hat es in Polen seit spätestens den 1970er Jahren gegeben. Ich betreibe es in Deutschland und stelle immer wieder fest, dass es hier eher bei Literaturwissenschaftlern oder Ethnologen Interesse weckt als bei Historikern. Stereotype sind etwas, was als Forschungsgebiet in der deutschen Historikerzunft nicht besonders ankommt. Ich habe auch noch als Emeritus eine Arbeitsstelle für historische Stereotypenforschung und wir 38

Zernack, Klaus: Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Ders./Wolfgang  H.  Fritze (Hg.): Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Berlin 1976, S. 3-46.

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treffen uns auch regelmäßig. Aber in Deutschland ist das noch immer kein willkommener Forschungsansatz. Auf der anderen Seite hat sich in Deutschland zum Beispiel die Forschung zur Erinnerungskultur oder zur Kulturgeschichte sehr entwickelt. Das hat ab Ende der 1990er Jahre in den letzten 20 Jahren in westlichen Ländern und vor allem auch in Deutschland einen ziemlichen Aufschwung genommen. Als Robert Traba39 mich 2006, kurz vor der Gründung des Zentrums für historische Forschung40 in Berlin, einlud und wir anfingen, an den „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorten“41 zu arbeiten, sagte er: „Es ist erst einmal schwierig. Wir haben noch nicht das Vokabular auf Polnisch. Und das kannst du uns nach Polen bringen.“ Und ich sagte: „Nein, ich werde nicht nach Polen gehen und deutsche Paradigmata in Polen erklären. Das müsst ihr schon selber machen. Ich werde nicht den deutschen Oberlehrer in Polen spielen. Das halte ich für völlig kontraproduktiv.“ Robert Traba hat es dann auch selber gemacht, auch wenn man heute in Polen immer noch nicht genau weiß, ob miejsce pamięci nun ein Erinnerungsort oder eine Gedenkstätte ist. Auf Deutsch haben wir zwei verschiedene Worte, während in Polen dafür oft derselbe Begriff benutzt wird, und je nachdem, ob ein Historiker, ein Ethnologe oder ein Journalist das Wort benutzt, ist damit etwas anderes gemeint. Im Bereich der kulturgeschichtlichen Forschung gab es also, gerade bei Historikern, Einfluss von Deutschland auf die polnische Geschichtswissenschaft. Die Mehrzahl der polnischen Historiker meiner Generation ist noch immer relativ politikgeschichtlich oder sozialgeschichtlich orientiert. Kulturgeschichte gibt es auch, aber wenn ich mir die „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte“ anschaue, dann haben da polnischerseits in der Großzahl nicht Historiker mitgearbeitet, sondern Ethnologen oder Philologen. Auf der anderen Seite arbeiten gewisse Wissenschaften, die in Deutschland relativ unhistorisch arbeiten, in Polen sehr historisch – eben gerade die Ethnologen oder Philologen. Sehr oft sind die Nachbarwissenschaften in Polen sehr viel stärker vom historischen Denken geprägt, während die polnischen Historiker noch immer – zum Beispiel unter 39 40 41

Robert Traba (*1958). Centrum Badań Historycznych Polskiej Akademii Nauk w Berlinie / Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. 2006 gegründete Außenstelle der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Pankow. Zwischen 2006 und 2015 unter Federführung des CBH PAN Berlin nach französischem Vorbild, aber bald darüber hinausgehend, durchgeführtes Forschungsprojekt zur Geschichte zweiten Grades mit transnationalem Fokus. Vgl. Hahn, Hans Henning/Traba, Robert (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. 5 Bde. Paderborn 2012-2015; poln. Ausgabe: Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Tom  1-4. Warszawa 2012-2015; dies. (Hg.): 20 deutsch-polnische Erinnerungsorte. Paderborn 2017.

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Beziehungsgeschichte – lieber reine Politikgeschichte verstehen. Nur die wirklich Jüngeren haben die Kulturgeschichte entdeckt. Welches waren rückblickend gesehen die Publikationen in den 1990er Jahren, die den größten Einfluss auf Sie hatten? Dabei müssen es nicht zwangsläufig historische Bücher sein. Die polnische Veröffentlichung, die mich in den 1990er Jahren ehrlich gesagt am meisten beeinflusst hat – aber das war mein persönliches Interesse –, war das Buch von Adam Schaff über „Stereotypen und das menschliche Handeln“42. Das ist schon zehn Jahre früher erschienen, aber in den 1990er Jahren habe ich mit meinen Doktoranden und fortgeschrittenen Studenten zwei Oberseminare allein über dieses Buch veranstaltet, um eine Theorie und Methodik der Stereotypenforschung zu entwickeln. Darauf war ich hingewiesen worden von meinem Thorner Kollegen Kazimierz Wajda, der selber damals dort eine Forschungsstelle für Stereotypenforschung aufzubauen versuchte. Er hat einmal einen Sammelband43 darüber herausgebracht und dann mit mir zusammen zwei Tagungen in Oldenburg über Stereotypenforschung veranstaltet.44 Wir gingen dabei eigentlich von Adam Schaffs Buch aus, der ja kein Historiker, sondern Philosoph war und der das Buch zunächst auf Deutsch in Wien und dann erst zwei Jahre später auf Polnisch in Warschau veröffentlicht hatte. Das hat sehr stark auf mich gewirkt. Dann hat mich damals ein französisches Buch stark beeinflusst und zwar Pierre Noras „Lieux de mémoire“45. Es war ja die Idee Robert Trabas, dass wir versucht haben, die lieux de mémoire eben nicht wie Nora als nationales Phänomen zu fassen, sondern als bilaterales, als nachbarschaftliches Beziehungsphänomen – davon ausgehend, dass Nachbarn oft sehr ähnliche oder gleiche Erinnerungsobjekte haben, aber diese Objekte dann sehr unterschiedlich erinnern. Wie geht man damit um? Pierre Nora hat uns nicht nur durch eine Begrifflichkeit stark beeinflusst, sondern auch, indem er die Identitätsrelevanz von Erinnerung für nationale Diskurse gezeigt 42 43 44

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Adam Schaff (1913-2006) – ders.: Stereotypen und das menschliche Handeln. Wien 1980 (poln.: Stereotyp i działanie ludzkie. Warszawa 1981). Wajda, Kazimierz (Hg.): Polacy i Niemcy. Z badań nad kształtowaniem heterostereotypów etnicznych. Toruń 1991. Hahn, Hans Henning (Hg.): Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Oldenburg 1995; ders. (Hg.): Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt am Main u.a. 2002. Pierre Nora (*1931) – ders.: (Hg.): Les lieux de mémoire. 3 Bde. Paris 1984-1992. Eine deutsche Übersetzung existiert als Kurzauszug mit ausgewählten Artikeln: Ders. (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005.

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hat. Was macht man, wenn Gesellschaften so unterschiedliche Nationaldiskurse wie den deutschen und den polnischen haben, aber gleiche Dinge oder gleiche Ereignisse, gleiche Personen, gleiche geographische Orte kollektiv erinnern? Das hat auch meine spätere methodische Entwicklung sehr beeinflusst. Seit der Jahrtausendwende habe ich mich vor allem mit diesen beiden Bereichen – Erinnerungskultur und Stereotypenforschung – ziemlich viel beschäftigt und versucht, das alles auch beziehungsgeschichtlich weiterzuentwickeln, methodisch und dann auch praktisch in konkreten Forschungen. Ich habe auch eine Reihe von Promotionen in diese Richtungen angeregt. Sie haben schon die für Sie wichtigsten Themen und Leitnarrative der letzten 30 Jahre angesprochen und auch wie Sie Ihre eigenen Forschungen darin verorten und gewichten würden. Man könnte darüber hinaus eventuell auch noch den Forschungsbereich nennen, den Sie gemeinsam mit Ihrer Frau, Eva Hahn46, bearbeitet haben, die sogenannten ‚völkischen Wissenschaften‘. Sie fragen nach meinen Forschungsbereichen. Stereotypenforschung ist sicherlich wichtig und ich glaube auch, dass es für die deutsche Geschichtswissenschaft da einen Nachholbedarf gibt. Dabei gehe ich davon aus, dass man sich mit Stereotypen nicht rein beschreibend befasst, sondern nach den Funktionen von Stereotypen in den einzelnen Epochen und den einzelnen Gesellschaften fragt. Der andere Bereich befasst sich mit Erinnerungskulturen: damit habe ich mich zumindest ziemlich lange beschäftigt. „Deutsch-Polnische Erinnerungsorte“ war das größte Projekt, an dem ich beteiligt war. Immerhin haben wir, Robert Traba und ich, fünf deutsche Bände (daneben einen Auszugsband), vier polnische Bände mit 120 Autoren und doch sehr vielen Übersetzern zusammengebracht – das war schon eine ziemlich große Sache. Der dritte Forschungsbereich entstand unter dem Einfluss meiner Frau und stellt meinen einzigen Ausflug in die Geschichte des 20. Jahrhunderts dar. Ich habe ja sonst sowohl meine Promotion wie Habilitation im 19. Jahrhundert angesiedelt.47 Im 20. Jahrhundert befassten wir uns mit der ‚völkischen Wissenschaft‘ und dem Erinnern an die Vertreibung; da haben wir dann ‚meine‘ Erinnerungskultur auf ein zeithistorisches Thema angewandt. Wir hatten uns 46 47

Eva Hahn (* 1946). Hahn, Hans Henning: Außenpolitik in der Emigration. Die Exildiplomatie Adam Jerzy Czartoryskis 1830-1840. München; Wien 1978; ders.: Internationale Beziehungen und europäische Revolution: Das europäische Staatensystem in der Revolution von 1848. Köln (unveröff. Habilitationsschrift) 1986.

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vor 20 Jahren in einer ziemlich scharfen Auseinandersetzung mit Frau Erika Steinbach48, der damaligen Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, über das Zentrum für (dann gegen) Vertreibung engagiert. Dann haben wir beschlossen, über das Vertreibungsthema ein Buch zu schreiben, das ursprünglich einmal 200 Seiten umfassen sollte; es wurden dann 800 Seiten daraus, auf denen es darum geht, wie eigentlich in Deutschland die Vertreibung erinnert wurde und wird.49 Ein viertes Thema, zu dem ich heute eigentlich wieder zurückkehren möchte, wenn ich nochmal Zeit und Kraft finde, das ist das „Staatensystem“. Meine Habil-Arbeit befasste sich mit dem europäischen Staatensystem des 19. Jahrhunderts. Konkret habe ich damals das europäische Staatensystem im Jahre 1848 behandelt, den Zusammenhang zwischen internationaler Politik und internationaler Revolution. Ich würde gerne heute über etwas anderes schreiben, nämlich über den Zusammenhang zwischen Staatensystem als System, als Beziehungen zwischen Großmächten, und der Rolle aller NichtGroßmächte und auch der Nationalbewegungen, und zwar sowohl als Objekte wie auch als Subjekte. Für mich ist das 19. Jahrhundert auf der einen Seite das Jahrhundert eines relativ geordneten Staatensystems, und daraus ergibt sich natürlich die Frage, warum dieses System im Ersten Weltkrieg so desaströs endete. Aber andererseits ist das 19. Jahrhundert ein Jahrhundert der Nationalbewegungen, der erfolgreichen und der weniger erfolgreichen. Wie hängen diese beiden Phänomene eigentlich zusammen? Es ist sehr beliebt zu behaupten, der Erste Weltkrieg sei aus dem Nationalismus der Nationalbewegungen heraus entstanden. Der Erste Weltkrieg zeigt, was mit einem Staatensystem imperialer Mächte passiert, wenn diese Mächte nicht ihre Interessen miteinander absprechen und dann in einen schlimmen Krieg ziehen. In diesem Sinne zeigt der Erste Weltkrieg, dass es eigentlich nicht die unerfüllten Nationalbewegungen waren, sondern eben der Nationalismus der Großmächte, die ihn hervorgerufen haben. Es bleibt dann aber die Frage, welche Rolle die Nationalbewegungen spielen – und da rede ich, wie gesagt, nicht nur von Polen, Tschechen, Slowaken, Iren und Finnen, sondern auch von Deutschen, Franzosen, Italienern, Engländern, Russen usw., die auch alle ‚nationalisiert‘ worden sind. Wie das miteinander zusammenhängt, darüber würde ich gerne noch einmal ein Buch schreiben. Das hat jetzt mit DeutschPolnischem nur noch wenig zu tun, obwohl natürlich dabei schon Polen als ein ehemaliges Imperium, das zwar im 19. Jahrhundert nicht mehr existiert, 48 49

Erika Steinbach (*1943). Hahn, Eva/Henning, Hans: Die Vertreibung im deutschen Erinnern. Legenden, Mythos, Geschichte. Paderborn 2010.

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was aber jeder im Kopf hat, eine wichtige Rolle spielt. Ich glaube, wenn man das vergisst, kann man das europäische Staatensystem des 19. Jahrhunderts nicht so richtig verstehen. Das betrifft die meisten Kollegen, die über das europäische Staatensystem auf Deutsch, Englisch, Französisch oder Polnisch schreiben – also die Polen schreiben weniger darüber, für die ist Polen im 19. Jahrhundert einfach nicht existent; und im Staatensystem überhaupt nicht. (Henryk Wereszyckis Geschichte des Dreikaiserbündnisses vor einem halben Jahrhundert war da eine große Ausnahme.50) Ich finde, sie übersehen da etwas sehr Wichtiges, was natürlich politisch nicht existent war, aber in den Köpfen aller Politiker vorhanden war. Metternich wusste ganz genau, was er sagte, was Polen gewesen ist, und der russische Außenminister Nesselrode wusste das ebenso.51 Und auch Bismarck52 wusste das noch, auch wenn er es negativ besetzt hat. Man müsste also einmal eine Geschichte des Staatensystems schreiben, wo auch die nicht mehr vorhandenen Reiche und die offiziell nicht vorhandenen Faktoren mitbehandelt werden. Ich weiß nicht, ob mir das je noch gelingen wird, immerhin bin ich jetzt über 70. Das hätte ich sicherlich, solange ich in der Uni tätig war, nicht machen können, denn dazu braucht man wahrscheinlich viel Zeit, um einfach in Ruhe nachzudenken. Aber, wie gesagt, ich kann Ihnen nicht versprechen, ob mir das gelingt. Wie würden Sie denn die Entwicklung eines Polenbildes in der Bundesrepublik der 1990er Jahre beschreiben? Sie haben ja selbst einen reflektierenden Band zum „Versöhnungskitsch“ mitherausgegeben.53 Ich glaube, die Frage hat eine ganze Reihe von Aspekten. Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, jetzt alle zusammenzubringen. „Versöhnungskitsch“ ist ja nicht etwas, was ich erfunden habe. Das ist ein Begriff, den Klaus Bachmann54 das erste Mal benutzt hat, und ich habe ihn lediglich aufgenommen, weil er etwas benannte, was ich sehr gut verstand und was mir häufiger auf die Nerven gegangen war, wenn Deutsche, die von Polen keine Ahnung hatten, 50 51 52 53 54

Wereszycki, Henryk: Sojusz trzech cesarzy. Geneza 1866-1872. Warszawa 1965; ders.: Koniec sojuszu trzech cesarzy. Warszawa 1977. Klemens Wenzel von Metternich (1773-1859); Karl Robert von Nesselrode (1780-1862). Otto von Bismarck (1815-1898). Hahn, Hans Henning/Hein-Kircher, Heidi/Kochanowska-Nieborak, Anna (Hg.): Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch. Marburg 2008. 1994 von dem in Polen lebenden deutschen Journalisten Klaus Bachmann (*1963) ausgelöste Debatte darüber, ob die fortwährenden Reden über Versöhnung in ihrer Oberflächlichkeit der Komplexität der deutsch-polnischen Beziehungen nicht gerecht werden. Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muss von Polen ausgehen, in: taz vom 5. August 1994, S. 12.

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mir dauernd erklärten, wie sehr sie Polen lieben. Und dann dachte ich: „Jaja, ist ja gut, ist ja schön, dass ihr das alles liebt, aber ihr solltet Polen nicht nur als Objekt eurer Liebe sehen, sondern nehmt es als Subjekt, das sind handelnde Leute, eine handelnde Gesellschaft, eine sehr differenzierte Gesellschaft“. Das gilt auch für die polnische Historiographie und die polnischen Geschichtsbilder. Die sind auch sehr differenziert und manchmal recht widersprüchlich. Im „Polenkitsch“ oder „Versöhnungskitsch“ kamen immer unheimlich viele einseitige, positive Stereotype vor, das war sehr beliebt. Und das ging mir, ehrlich gesagt, ziemlich auf die Nerven. Deswegen habe ich damals extra eine Tagung darüber mit dem Herder-Institut55 und der Posener Germanistik, das heißt Hubert Orłowski56 veranstaltet, woraus der erwähnte Band entstanden ist. Das hat ja auch ganz gut geklappt. Aber es kommt noch etwas anderes hinzu. Wir sind alle gewohnt, von bilateralen Beziehungen zu sprechen und das ist in gewisser Weise aus der Entwicklung der Zernack’schen Beziehungsgeschichte zu erklären. Das ist okay, wir können alle möglichen bilateralen Beziehungsgeschichten erforschen. Nicht nur die deutsch-polnische, ich habe mich auch mit anderen Beziehungsgeschichten, der deutsch-tschechischen, polnisch-tschechischen, deutsch-französischen usw. befasst. Aber gleichzeitig müssen wir uns ja sagen, dass konkrete Politiker, konkrete kulturell aktive Menschen, auch Historiker, sich nicht nur mit Dingen aus einem anderen Land beschäftigen, nicht nur Beziehungen zu einem Land haben, sondern dass wir alle in multilateralen Beziehungsgeflechten leben. Ich kann zum Beispiel im 19. Jahrhundert alle möglichen bilateralen Beziehungsgeschichten aufarbeiten, aber wenn ich von einem Staatensystem oder von einer Vielfalt von Nationalbewegungen rede, muss ich natürlich sagen, dass es aber auch multilaterale Beziehungssysteme, multilaterale Beziehungsverflechtungen gibt. Wenn ich das irgendwo unter Kollegen diskutiere, dann wird mir gesagt: „Siehst du es endlich ein? Diese bilateralen Beziehungen, die müssen wir jetzt ausschalten und eben nur über multilaterale reden.“ Das halte ich für einen Denkfehler. Ich glaube nicht, dass es keine bilateralen Beziehungen mehr gibt, wenn ich mich mit multilateralen Beziehungen befasse. Die gibt es auch, aber wenn ich versuche, europäische Geschichte zu schreiben, kann ich ja nicht die bilateralen Dinge und die einzelnen Nationen ausschalten, sondern ich muss das denkerisch, forschungsmäßig und darstellungsmäßig zusammenbekommen. 55

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Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft und trägt seit 2012 seinen heutigen Namen. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53980.html (02.06.2015). Hubert Orłowski (*1937).

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Wenn ich über ein Europa-Bild sowohl von heute wie aber auch über ein Europa-Bild des 19. Jahrhunderts schreiben will, eine europäische Geschichte, dann muss ich sowohl multilaterale Beziehungsgeflechte als auch einzelne bilaterale Beziehungen, Beziehungsgeschichten berücksichtigen. Verflechtung heißt nicht, dass es keine einzelnen, in diesem Fall nationalen Subjekte mehr gibt. Und wie man das miteinander zusammenbringt, das ist das, was mich beschäftigt – und dazu dann auch noch, wie zu der Zeit Stereotype entstanden sind. Denn die meisten Nationalstereotype, die wir heute haben, stammen aus dem 19. Jahrhundert, und diese nationalen Stereotype sind fast alle bilateral geprägt worden. Wenn ich mir nicht nur die deutschen, sondern auch die polnischen, die französischen, die englischen, die italienischen Nationalstereotype anschaue, dann kann ich in den einzelnen Diskursen immer feststellen, dass fast alle aus dem 19. Jahrhundert stammen. Selten sind manche Stereotypen ein bisschen älter; unsere Türkenstereotype sind fast alle schon aus der Frühen Neuzeit, weil sie meist von der Religion geprägt sind. Aber wie man das miteinander verbindet, wie man Beziehungsgeschichte, Völkerbildergeschichte, multilaterale Verflechtungen miteinander verbindet, das ist etwas, was mich unheimlich reizt. Mein Ehrgeiz ist es, eine Koexistenz dieser verschiedenen Aspekte in eine historische Darstellung hineinzubekommen. Trotz der apodiktischen Feststellung von zum Beispiel Dieter Langewiesche, dass Historikerinnen und Historiker nicht prognosefähig seien, weil Vergangenheit nicht linear in Zukunft hochrechenbar sei,57 wagen wir Sie abschließend zu fragen: Wie wird die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland und Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen? 2030, das sind jetzt nur 10 Jahre. Da gibt es verschiedene mögliche Varianten: Eine der Varianten – was ich hoffe – wäre natürlich, dass nationale Identitäten und eine europäische Identität, also Vorstellungen von einer europäischen Identität miteinander vereinbar sind und sich nicht gegenseitig ausschließen. Auf der anderen Seite – negativ gesehen – würde ich sagen, finden in politischen Diskursen eine Wiederentdeckung nationaler Identitäten in einer Art und Weise statt, die sie mir oft ein wenig bedenklich erscheinen lässt. Schließlich gibt es unter vielen meiner intellektuellen Freunde, auch Jüngeren, die Meinung, Nationen spielen überhaupt keine Rolle mehr und alle Leute, die über Nationen reden, sind zurückgeblieben, reaktionär, nationalistisch. 57

Dieter Langewiesche (*1943) – ders.: ‚Postmoderne‘ als Ende der ‚Moderne‘? Überlegungen eines Historikers in einem interdisziplinären Gespräch, in: Ders.: Zeitwende: Geschichtsdenken heute, hg. v. Nikolas Buschmann & Ute Planert. Göttingen 2008, S. 69-84, S. 69.

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Sehr oft werden „national“, „Nationalbewegung“ und „Nationalismus“ wie Synonyme verwendet. Man kann nicht mehr nationalbewegt sein, man redet nur von nationalistisch, was ein pejorativer Begriff ist. Ich wäre da ein wenig vorsichtig. Nicht jede nationale Identität ist in meinen Augen schon nationalistisch. Aber darauf läuft das Gerede hinaus, und das ist etwas, was ich mit Besorgnis betrachte. Es gibt einen Widerspruch zwischen dem, was zurzeit unter Historikern und unter Intellektuellen als nationalistisch und auch nicht mehr ernst zu nehmen erachtet wird, und dem, was die nationale Identität eigentlich in den verschiedenen Konzepten bedeutet. Denn es gibt viele verschiedene Nationskonzepte. Ich habe immer gesagt, in Europa gibt es keine zwei Länder, die das gleiche Nationskonzept haben. Jedes Land hat seine eigene Definition oder jeder Mehrheitsdiskurs zumindest hat seine eigene Vorstellung davon, was eine Nation ist. Wenn ich von der Ukraine bis nach Irland die verschiedenen nationalen Diskurse in Europa vergleiche, da finde ich ja kaum zwei nationale Diskurse, in denen „Nation“ gleich konzeptualisiert wird. Aber ich habe meine Zweifel, ob das zusammenfindet oder ob wir nicht eine ziemliche Trennung zwischen dem haben, was sich auf der politischen Ebene und in den medialen Diskursen als Identitätsbildung abspielt, und dem, was sich in der Wissenschaft abspielt – heute redet kaum mehr ein Mensch über europäische Identität, ohne dass zu ironisieren. Und dann frage ich mich natürlich: Offensichtlich gelten Europa und Nation als absolut unvereinbar. Aber das ist völlig unhistorisch. Das begreift gar nicht, wie Europa gewesen ist. Ich finde zum Beispiel das Museum für Europäische Geschichte58 in Brüssel, an dem ja unter anderem auch mein Freund Borodziej59 teilgenommen hat, auf einer ziemlichen Fehleinschätzung beruht, denn die Geschichte beschränkt sich dort praktisch auf das 20. Jahrhundert, mit nur wenig 19. Jahrhundert. Aber, dass die europäischen Nationen viel größere Erinnerungen haben und diese Erinnerungen zusammengebracht werden müssen und nicht nur in Bezug auf das 20. Jahrhundert, und dass wir nicht nur auf Europa als Gegensatz zur Nation setzen können, das kommt da nicht vor. Insofern hat mich das Museum etwas enttäuscht, weil ich glaube: Das blickt so richtig von oben herab, geht aber nicht von den realen Geschichtsbildern aus, die in Europa überall herrschen. Diese Gegenüberstellung jedenfalls, entweder 58

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2017 in Brüssel entstandenes Museum. Vgl. auch Borodziej, Włodzimierz: Das Haus der Europäischen Geschichte – ein Erinnerungskonzept mit dem Mut zur Lücke, in: Volkhard Knigge u.a. (Hg.): Arbeit am europäischen Gedächtnis. Diktaturerfahrungen und Demokratieentwicklung. Köln/Weimar/Wien 2011, S.  139-146; Fickers, Andreas: Kompromissgeschichte, serviert auf dem „Tablet“. Das Haus der europäischen Geschichte in Brüssel, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15 (2018) 1, S. 173-183. Włodzimierz Borodziej (*1956).

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Nation oder Europa, halte ich für einen politischen Grundfehler; ich halte sie auch für völlig unhistorisch. Ich bin, weiß Gott, für eine europäische Identität, aber die europäische Identität kann die nationalen Identitäten nicht ersetzen und das soll sie auch nicht. Jeder von uns vereint in sich eine ganze Reihe verschiedener Identitäten – nationale, ethnische, regionale, konfessionelle, professionelle, sexuelle. Warum können wir nicht nationale und europäische Identität miteinander verbinden, auch in Diskursen? Das wäre etwas, worauf man hinzielen sollte. Aber die Entwicklung unserer Diskurse, vor allem in Deutschland, geht in eine ziemlich andere Richtung. Ich sehe da eine Spaltung der diversen Diskursrichtungen, wobei wir uns noch darüber streiten können, was der Mehrheitsdiskurs ist und was der Mehrheits- und der Minderheitsdiskurs in 10 Jahren, im Jahr 2030 sein wird. Schwierig zu sagen, aber die Spaltung an sich ist ja schon bedenklich.

Abb. 7.1

In Warschau mit Rex Rexheuser (l.) Mitte der 1990er Jahre. Quelle: DHI Warschau/Archiv.

Jürgen Hensel (*1939) ist in Hameln geboren, dort machte er 1959 am SchillerGymnasium Abitur. Er hat Osteuropäische und Neuere Geschichte sowie Slavistik studiert und war 1972/73 erster DAAD-Stipendiat in der VR Polen am IH PAN Warschau. 1976 wurde er in Heidelberg promoviert, seit Januar 1978 wohnt er in Warschau. Er hat als Freier Übersetzer und Historiker gearbeitet. 1993-1998 war er wiss. Mitarbeiter am DHI Warschau, 1998-2015 am ŻIH. Er hat u.a. an der Edition des Ringelblumarchivs mitgearbeitet (Bde. 1-3). 2017 erhielt er das Bundesverdienstkreuz.

„Meine wichtigste Arbeit war wirklich meine Vermittlerarbeit“ Jürgen Hensel Herr Hensel, sie leben ja nun seit über 40 Jahren in Polen. Führen wir dieses Gespräch jetzt mit einem deutschen oder einem polnischen Historiker? Wieso polnisch? Ich bin nicht emigriert, ich bin lediglich umgezogen! Folglich mit einem bundesdeutschen Historiker, seit längerem ansässig in Warschau. Ich wurde im Oktober 1939 in Hameln an der Weser geboren, als mein Vater dort als jüngster Sohn eines Gastwirts und Müllers ‚diente‘. Vor Stalingrad wurde er zum Hauptmann befördert. Die „Rattenfängerstadt“ war erst 1866 mit dem Ende des Königreichs Hannover an Preußen gefallen, seit 1946 liegt sie – immer noch als „Perle der Weserrenaissance“ – im Bundesland Niedersachsen. Unsere Familie stammt beiderseits aus Hinterpommern, womit ich dem inzwischen aussterbenden Stamm der Pommeraner angehöre. Meine Mutter (geboren in Stolp/Słupsk) zog nach der Geburt meiner Schwester 1943 – ebenfalls in Hameln – wohl auch der Bombenangriffe wegen zu ihren Eltern, die inzwischen in Wusterwitz (Ostrowice)/Kreis Schlawe (Sławno) in Pommern lebten, behielt aber die Mietwohnung in Hameln bei. Diese damals wohl selbstverständliche Entscheidung hatte jedoch infolge des Kriegsausgangs Auswirkungen, die schließlich meinen gesamten – nicht gerade alltäglichen – Lebenslauf beeinflussen sollten und somit letztlich dazu führten, dass ich Ihnen hier und heute als Zeit-, Augen- und Ohrenzeuge verschiedenster Ereignisse dienen kann, die – wenn überhaupt – nicht mehr viel mit Hinterpommern zu tun haben. Damals bedeutete sie zunächst, dass wir im Frühsommer 1946 aus Koszalin (Köslin), das wir nach einem Fußmarsch von knapp 80km erreichten, als „Hamelenser“ in die britische Besatzungszone ausgesiedelt werden konnten und nicht – wie auch die meisten unserer Verwandten – einige Monate später in die sowjetische Zone geschickt wurden. Mein Vater hatte inzwischen am Polenfeldzug und der Siegesparade in Warschau teilgenommen, hatte dann mitgeholfen, den Frankreichfeldzug zu gewinnen und erheblich verletzt die Schlacht um Stalingrad sowie anschließend die Gefangenschaft u.a. in Workuta überlebt. Von dort war er erst im Januar 1953 nach Hameln entlassen worden, zwei Jahre bevor Bundeskanzler Adenauer1 die letzten deutschen Kriegsgefangenen – wohl dank seines 1 Konrad Adenauer (1876-1967).

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Besuchs in Moskau – „nach Hause holte“. Bis dahin hatte es einmal monatlich mittels Rotkreuz-Postkarten einen extrem begrenzten Informationsaustausch gegeben; im Grunde wussten wir nur, dass der Mann bzw. Vater lebte und dieser, dass wir wieder in Hameln lebten. Dorthin waren wir schließlich im Sommer 1946 über Szczecin (Stettin) nach Rieseby in Schleswig-Holstein gebracht worden, ab Koszalin in einem Güterzug stehend. Von Rieseby aus fuhr meine Mutter zunächst allein nach Hameln, um festzustellen, ob Haus bzw. Wohnung noch vorhanden waren – was zum Glück auch der Fall war. Es fehlte auch nicht viel daraus – was fehlte, ließ sich zudem dank des auffälligen Monogramms meiner Mutter (roter Kreuzstich) an Waschtagen leichter auf den Wäscheleinen in der Umgebung entdecken. Aus den letzten Tagen in Pommern habe ich folgende Erinnerung: Meine Mutter, meine Großmutter und ich sitzen um einen Tisch, auf dem meine Puppe Christian liegt: der Kopf abgetrennt vom Körper – vermutlich hatten sie etwas Wertvolleres im Puppenkörper oder -kopf versteckt – und ich höre meine Mutter zu mir sagen: „Wenn Dich unterwegs jemand fragt, darfst Du nicht sagen, dass wir aus Wusterwitz sind.“ Diesen Satz habe ich nicht vergessen, aber lange Zeit auch nicht verstanden, was er bedeutete oder bezweckte, insbesondere als wir später im Westen als Flüchtlinge oder Heimatvertriebene galten. Dabei hatte uns niemand vertrieben, wir waren freiwillig heimlich selbst gegangen. Ich habe jahrelang – auch im Studium noch – vergeblich versucht, dahinterzukommen – bis ich vor einigen Monaten noch einmal Andrzej Leders „Prześniona rewolucja“ las – diesmal gründlicher in deutscher Übersetzung – sodass ich endlich begriff, worum es ging:2 Deutsche aus dem sowjetisch besetzten Gebiet sollten nur in die sowjetische Besatzungszone ausgesiedelt werden dürfen, da die Westmächte sich nicht für Ausgesiedelte aus dem nunmehr sowjetischen Hoheitsgebiet verantwortlich fühlten. Die Polen waren natürlich daran interessiert, die Deutschen so schnell wie möglich aus den neu gewonnenen Gebieten zu entfernen, aber die Russen passten auf, dass dieses mit Rücksicht auf die Westalliierten nicht geschah; deswegen die Warnung: „Du darfst nicht sagen, dass wir aus Wusterwitz sind!“ Wir springen jetzt ein wenig und würden Sie gerne nach dem Jahr 1989 fragen: Hat sich da etwas Entscheidendes verändert? Oder würden Sie eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen?

2 Andrzej Leder (*1960) – ders.: Prześniona rewolucja. Ćwiczenie z logiki historycznej. Warszawa 2014 (dt.: Polen im Wachtraum. Die Revolution 1939-1956 und ihre Folgen. Osnabrück 2019).

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1989 war ich bereits in Polen, seit 1977 verheiratet mit einer Warschauer Chemikerin. Die Hochzeit fand in Gdańsk statt, die ihre dortigen Freunde in dem gerade wieder eröffneten Danziger Traditionslokal „Zum Lachs“ (Danziger Goldwasser)3 spendierten. Unser erster Sohn wurde 1981 in Warschau geboren, der zweite 1984 ebenfalls hier. Da hat sich 1989 nicht viel geändert. Ich bin mir nicht sicher, ob es irgendein Anzeichen war, dass ich im April 1984 etwa eine halbe Stunde im Warschauer Standesamt in Praga warten musste, bis ich die Genehmigung bekam, unseren zweiten Sohn Thomas Antoni zu nennen – wohlgemerkt: Thomas, nicht Tomasz. Der ältere Sohn heißt Jakub Wilhelm. Und an die späte Volksrepublik habe ich insgesamt nur die besten Erinnerungen. 1968 war ich noch nicht in Polen und anderweitig beschäftigt. Seitdem ich hierher kam, bin ich nie angefeindet worden, nur weil ich Deutscher bin oder Deutsch gesprochen hätte. Andererseits gab es in der Bevölkerung auch Verhaltensweisen, die wohl auf ein tieferliegendes Problem hinwiesen: Als unser jüngerer Sohn auf die polnische Schule wechselte, (sie lag buchstäblich auf der anderen Zaunseite, und die deutschen Schüler benutzten auf der polnischen Seite das Schwimmbad und den Chemie-Saal), weil damals an der Deutschen Schule Warschau4 noch kein Abitur abgenommen wurde, ließ ein polnischer Klassenkamerad, der aus demselben Grund auf die polnische Schule gewechselt war, dort alle ungefragt wissen, dass Thomas auf die deutsche Schule gegangen sei! Wir horchten wohl auf, aber Probleme gab es nicht. Beide Söhne bestanden auch das polnische Abitur ohne Schwierigkeiten beim ersten Mal. Untereinander und mit ihrer Mutter sprechen sie Polnisch; sind wir nur zu dritt, sprechen wir Deutsch. Ich hatte ja – wie gesagt – vorher bereits in Polen gearbeitet, zunächst als Übersetzer aus dem Polnischen ins Deutsche für „Polska Zachód“5, die längste

3 Die Likörmanufaktur „Zum Lachs“ wurde bereits Ende des 16. Jahrhunderts von einem Danziger Neubürger niederländischer Herkunft gegründet. Vgl. Samp, Jerzy: Cztery wieki gdańskiego Goldwassera. Z dziejów lokalu „Pod Łososiem“, in: Pomerania  33 (1997) 4/5, S. 52-56. 4 Die 1978 als Botschaftsschule gegründete „Willy-Brandt-Schule“ in Warschau ist seit 2005 eine zweisprachige deutsch-polnische Begegnungsschule. 5 Die in Warschau erscheinende Illustrierte „Polska“ hatte für ihre fremdsprachigen Ausgaben zwei unterschiedliche Redaktionen: „Polska Zachód“ (Polen West) und „Polska Wschód“ (Polen Ost). Als „Monatsschrift Polen” erschien von 1960-81 eine westdeutsche, von 1954-81 eine ostdeutsche und von 1986-89 eine deutsche Ausgabe. Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Zeitschrift u.a. Solová, Regina: Przekład jako narzędzie propagandy Miesięcznik „Polska: czasopismo ilustrowane“ w latach 1954-1956, in: Przekłady Literatur Słowiańskich 9 (2019) 2, S. 55-76.

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Zeit dann wohl beim PKZ6 Radom, einer Institution, die sich um historische Quellen insbesondere in der Landschaft, an einem Ort und in der Architektur kümmerte. Meine Tätigkeit betraf da vor allem deutsche Kriegsgräber aus der Zeit des Ersten Weltkriegs in der Umgebung von Radom, die wiederhergerichtet zu Erinnerungsstätten wurden. Dabei ging es um das Ablesen beziehungsweise Entziffern der Grabsteine, um die Namen oder die Tatsachen, die angegeben waren. Sonst hatte ich aber auch noch Kontakt mit Prof. Eisenbach7, der weiterhin derselben IH-PAN-pracownia8 angehörte, die mich einst als Stipendiaten, von November  1970 bis Oktober 1971, aufgenommen hatte. Jerzy Jedlicki9, der inzwischen eine eigene pracownia führte, vermied es weiterhin, mit mir über mein Promotionsthema zu sprechen. Als er aber eines Tages doch dazu Bereitschaft zeigte, lehnte Eisenbach eine Teilnahme ab, und es kam wieder nicht zum Gespräch. Wenn Sie jetzt an die 1990er Jahre denken: Gab es Versuche der politischen Einflussnahme von Historikerinnen und Historikern und hat in dieser neuen gesellschaftlichen, politischen Lage die Politik historisches Arbeiten beeinflusst? Da gab es doch auch einige Debatten in Ihrem Umfeld, zum Beispiel im Kontext der „Wehrmachtsausstellung“10. Das war wirklich ein Streitpunkt. Die große Ausstellung in Deutschland bezog sich ja nur auf das Gebiet der damaligen Sowjetunion! Polen wurde überhaupt nicht erwähnt. Soviel ich weiß, lag da ein Angebot vor oder aber Direktor 6

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(Przedsiębiorstwo Państwowe) Pracownie Konserwacji Zabytków (Staatliche Werkstätten für Denkmalpflege). 1950 gegründete staatliche Organisation der Denkmalpflege sowie der Gebäude- und Kunstwerkrestaurierung, die sich seitdem in Polen wie im Ausland hohen Ansehens erfreut. Vgl. Pilch, Józef: Pracownie Konserwacji Zabytków 19511986. Warszawa 1986. Artur Eisenbach (1906-1992). Dt. Abteilung. Das Instytut Historii Polskiej Akademii Nauk (Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften) entstand 1953 in Warschau unter der Leitung Tadeusz Manteuffels (1902-1970) als integraler Bestandteil der neuen, kommunistisch indoktrinierten Polnischen Akademie der Wissenschaften. Heute verfügt das Institut über Zweigstellen in Danzig/Gdańsk, Krakau/Kraków, Posen/Poznań und Thorn/Toruń. Jerzy Jedlicki (1930-2018). Zwischen 1995 und 2004 konzipierte das Hamburger Institut für Sozialforschung zwei Wanderausstellungen, die erstmals umfassend vor allem die von der Wehrmacht während des Krieges gegen die Sowjetunion zwischen 1941 und 1945 verübten Verbrechen dokumentierten. Es entbrannte daraufhin eine heftige öffentliche Debatte über die Rolle der Wehrmacht und die Zuverlässigkeit der gezeigten Fotos. Vgl. Hartmann, Christian/ Hürter, Johannes/Jureit, Ulrike (Hg.): Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte. München 2005.

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Rexheuser11 hatte selbst nachgefragt – jedenfalls sollte diese Ausstellung nun auch nach Warschau kommen. Für Rexheuser war dabei aber Bedingung, dass nachgearbeitet, aufgearbeitet werden müsse, damit auch die in Polen begangenen Verbrechen der Wehrmacht thematisiert werden könnten – was wiederum Horst Möller12 ablehnte. Das führte zu weiteren Querelen, aber schließlich auch zu einer Mitarbeiterversammlung, die Rexheuser einberief und so führte, dass von einem offenen Bruch zwischen Warschauer Institut13 und Münchner Direktion nicht die Rede sein konnte. Ich war damals zuständig für die Veranstaltungen des Instituts und habe folglich Referenten zum Thema „Wehrmachtsausstellung in der BRD“ eingeladen. An ein volles Haus kann ich mich nicht erinnern, aber es kamen einige interessante Referenten, die nichts verschwiegen. Allerdings sind wir hier an der wohl kritischsten Stelle in der bisherigen DHI-Geschichte angekommen und pikanter-, aber nicht zufälligerweise ist hierin auch der Jubilar14 verwickelt. Woran sich eigentlich der Streit zwischen Bogdan Musiał und ihm entzündete, weiß ich bis heute nicht.15 Ich stand natürlich auf seiner Seite. Sie hätten sich einmal beinahe geprügelt. Nicht nur, weil Bogdan eher rein politisch und nicht wissenschaftlich, d.h. nach Fakten argumentierte. Bei ihm ging es nicht um die Fakten, sondern um sein Leben, d.h. nicht, dass er fälschte, aber er argumentierte damit. Er hat es mir einmal etwa drei Stunden lang erzählt. Ich hätte das nicht überlebt! Also: wie der weise Rex es formulierte: „Bogdan muss man vor sich selbst schützen!“ Natürlich stehe ich auf Bömelburgs Seite, aber eher wohl deswegen, weil ich seit eh und je der Meinung war, dass er nach Rexheuser der einzig richtige Direktor für das DHI gewesen wäre. Einmal habe ich ihm mit dem Thema wohl einen Institutsausflug vermasselt.

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Rex Rexheuser (*1933). Horst Möller (*1943). Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Hans-Jürgen Bömelburg (*1961). Bogdan Musiał (*1960). Der Konflikt erreichte damals auch die mediale Berichterstattung: Brössler, Daniel: Verschwörung in Theorie und Praxis. Am Deutschen Historischen Institut Warschau verdächtigt so ziemlich jeder jeden, in: Süddeutsche Zeitung vom 7. März 2003, S. 13.

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Wenn Sie nun auf die 1990er Jahre zurückblicken: Welche Einzelpersönlichkeiten waren für Sie besonders wichtig? Das ist ganz eindeutig, das war Feliks Tych16. Denn, wie gesagt, zwischen 1993 und 1998 hatte ich meinen Vertrag am DHI. Dann musste ich mir überlegen, ja Gott, ich werde weiter in Polen bleiben, ich werde weiterhin als Historiker arbeiten und übersetzen – das alles so weitermachen, aber vor allen Dingen habe ich dann auch gemerkt, dass die Sprache sich ändert, noch nicht so sehr wie heute, aber es fing schon an. Und ich hatte eigentlich vor, entweder alleine oder auch mit der Familie für eine längere Zeit nach Deutschland zu gehen und dann aber wiederzukommen. Diese Überlegungen waren dann aber mit einem Moment obsolet, denn auf der Verabschiedung von Rexheuser war auch Feliks Tych. Er war damals gerade Direktor vom ŻIH17 geworden. Ich kannte ihn etwas, weil ich damals auch schon für ihn übersetzt hatte. Er fragte mich, was ich denn machen würde, wenn jetzt Schluss sei und ich vom DHI wegginge. Da habe ich ihm gesagt, was ich ungefähr vorhabe, woraufhin er mir anbot, ich solle ans ŻIH kommen – und zwar als sekretarz naukowy18, also als Vertreter des Direktors für wissenschaftliche Angelegenheiten. Das habe ich mir, glaube ich, gar nicht groß überlegt. Gut, ich hatte natürlich meine Arbeit über jüdische Geschichte gemacht, aber das war eigentlich mehr Sozialgeschichte und polnische Agrargeschichte, aber nichts Besonderes. Aber von Tych wusste ich eigentlich nicht so viel. Natürlich war ich schon einmal am ŻIH gewesen, hatte vorher da gearbeitet, aber nicht länger und nicht so viel. Denn das war durch meine Arbeit, die ich damals am DHI machte, etwas in den Hintergrund getreten. Aber in dem Moment war mir das ‚wurscht‘, ich hatte damit gar keine Schwierigkeiten und ich habe gesagt: „Ja, mache ich!“ So habe ich, ohne zu zögern, ohne Pause dann gleich am ŻIH weitergearbeitet. Am Freitag war mein letzter Arbeitstag im DHI, und am Montag habe ich im ŻIH angefangen. Dort habe ich dann auch bis 2015 gearbeitet. Mit der Zeit habe ich auch verstanden, warum Feliks Tych mich gefragt hatte. Er wusste ganz genau, dass das ŻIH damals kurz vor dem Untergang war, also wortwörtlich, das Wasser stand im Keller. Da war damals das Archiv noch nicht, wie jetzt, im obersten Stockwerk, und die Bibliothek war auch da unten. Es war also wirklich Gefahr im Verzug, aber in Polen hätte damals kein Mensch etwas für das ŻIH gegeben. 16 17

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Feliks Tych (1929-2015). Żydowski Instytut Historyczny (Jüdisches Historisches Institut) in Warschau, 1947 gegründet knüpfte es an die Tätigkeit des Instytut Nauk Judaistycznych (Institut für Judaistische Studien) der Zwischenkriegszeit an. Vgl. Żbikowski, Andrzej: Żydowski Instytut Historyczny. 70 lat badań nad dziejami polskich Żydów. Warszawa 2018. Dt. Wissenschaftlicher Sekretär.

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Feliks Tych selbst hatte sich zuvor eigentlich nicht mit jüdischer Geschichte beschäftigt, er hatte Partei- und Sozialgeschichte gemacht. Aber er ist ausgesucht worden, weil er Kontakte zur Bundesrepublik hatte, zur Sozialdemokratie. Ich war dann in diesem Falle sozusagen der Vermittler. Das war also die einzige Möglichkeit gewesen, das Institut zu retten. Das haben die Leute in Feliks’ Umfeld auch verstanden. Denn alle diese Sachen, die wir dann angekurbelt haben, die Vereine oder Institute, die dann mit dem ŻIH zusammengearbeitet haben, das ist über mich gelaufen. Wir haben die Leute angefragt, ich bin nach Deutschland gefahren und habe da Vorträge gehalten, mit den Leuten geredet. Das war meine Aufgabe. Ich bin dann am ŻIH geblieben. Auch als ich nicht mehr mein Amt hatte und Feliks als Direktor abgetreten war, sind wir noch beide dageblieben. Er ist dann leider 2015 gestorben. Lassen Sie uns noch einmal kurz zum DHI zurückkommen: Sie haben dort mit der ersten Mannschaft angefangen und die kam, bis auf Robert Traba19, fast ausnahmslos aus Deutschland. Wie haben Sie das damals empfunden? Eigentlich waren es zwei Polen, Bogdan Musiał und Robert. Ersterer hatte in den 1980er Jahren politisches Asyl in der BRD beantragt und damit auch einen deutschen Pass. Was mir aber viel mehr aufgefallen ist: Mit Marc Löwener20 war nur ein einziger Mitarbeiter aus der ehemaligen DDR mit dabei. Robert Traba, das war eine Empfehlung von Rexheuser, ja. Dass so etwas wie das DHI notwendig war, das wussten wir alle. „Wir alle“ heißt in dem Fall: die Leute in Polen. Und ja, da lief es wirklich gut für mich, gut für die Polen, gut für das DHI. Zum Glück war ich im rechten Moment an der richtigen Stelle, weil ich die Leute vorher kannte und sie dann ohne weiteres, ohne größere Schwierigkeiten einfach ins DHI holen konnte. Und sie haben dann auch mit uns zusammengearbeitet. Das wichtigste Beispiel ist vielleicht das Projekt über die Vertreibung oder Aussiedlung der Deutschen gewesen, das dann Hans Lemberg und Włodzimierz Borodziej gemacht haben.21 Dieses Thema war ja damals das heftigste Problem. Das war genau das Richtige für mich oder da war ich der richtige Mann, denn dieses Unternehmen – ich glaube, 4 Bände sind daraus geworden – ist eigentlich eine Idee von Marian Wojciechowski22 gewesen, 19 20 21

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Robert Traba (*1958). Marc Löwener (*1965). Hans Lemberg (1933-2009); Włodzimierz Borodziej (*1956) – dies.: (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 19451950. Dokumente aus polnischen Archiven.  4 Bde. Marburg 2000-2004; poln. Ausgabe: Niemcy w Polsce 1945-1950. Wybór dokumentów. Tom 1-4. Warszawa 2000-2001. Marian Wojciechowski (1927-2006).

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der damals der Chef der polnischen Archive war. Er hatte diese Idee schon lange gehabt, und zwar zusammen mit Martin Broszat23. Jedenfalls hatte mich Rexheuser aufgrund dessen, dass ich schon die Umgebung da kannte, gebeten, ich solle eine Liste für ihn aufstellen, welche polnischen Historiker man dazunehmen könnte. Da habe ich habe ich natürlich Wojciechowski genannt, weil ich sein Interesse an dem Thema schon aus meinen Privatbeziehungen mit ihm kannte und natürlich weil er Chef der polnischen Archive24 war. Ich weiß auch nicht mehr, ob an erster Stelle oder ob ich die Liste alphabetisch gemacht habe. Aber auf jeden Fall erinnere ich mich noch genau an den Moment, als ich Rexheuser diese Liste gab. Er guckte sie sich an und rief auf einmal ganz empört aus: „Wojciechowski?! Diesen Kommunisten?!“ Er war dann doch etwas erstaunt und ich konnte sagen: „Herr Rexheuser, das ist der Direktor der polnischen Archive.“ Das hat er dann auch eingesehen und Wojciechowski ist dann auch Mitglied dieser Projektgruppe geworden. Durch ihn zum Beispiel ist dann Borodziej dazugekommen, der das dann mit Lemberg weiter gemacht hat. Wojciechowski hatte Borodziej sicherlich auch herangeholt, um näher dran zu sein. Er selbst wusste, dass er das nicht konnte oder wollte, oder wie auch immer. Und Borodziej, das habe ich auf diese Art und Weise erst dort erfahren, ist interessanterweise nicht nur sein Schüler, sondern auch sein Patensohn. Sie haben einmal in einem Bericht zu einer Tagung in Posen 1994, bei der es um den Stand der deutsch-polnischen Beziehungen ging, festgestellt, dass auf dieser Tagung nur drei von mehr als 50 Teilnehmenden Frauen waren. Wo sind die Frauen eigentlich gewesen, die Historikerinnen dieser Zeit? Gab es die nicht oder wurden sie versteckt? Nein, die gab es schon und sie wurden auch nicht versteckt. Das war in der damaligen Zeit – heute ändert sich das ja etwas – einfach ganz üblich. Sie waren da. Vor allem ist mir natürlich aufgefallen, als ich am IH PAN war, dass in dieser pracownia viele Frauen waren, wenn sie auch nicht die Mehrheit bildeten. Aus diesen Reihen bekam ich dann auch eine Tutorin zugeteilt – und keinen Mann. Das war mir sofort aufgefallen, dass es jedenfalls hier in Warschau und jedenfalls an der Akademie der Wissenschaften schon sehr viele Frauen waren. Und ich nehme sicherlich an, dass das auch ein Grund war für diese meine Bemerkung. 23 24

Martin Broszat (1926-1989). Die „Hauptdirektion der Polnischen Staatsarchive“ (Naczelna Dyrekcja Archiwów Państwowych) ist die oberste Körperschaft der staatlichen Archive Polens. 1951 gegründet ist sie beim Kulturministerium angesiedelt.

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Einen Einfluss auf meine Bemerkung hatte sicher auch, dass der beste Ansatzpunkt, den ich in Polen hatte, Magdalena Sokołowska25 war, eine Soziologin. Und Magdalena Sokołowska habe ich in Heidelberg 1968 in den Zeiten der höchsten „Revolution“ kennengelernt. Da war ich gerade im Heidelberger AStA der Zuständige für Ost- oder Ostmitteleuropa, wie es hieß, geworden. Die Bekanntschaft mit ihr hatte ich sozusagen von meinem Vorgänger übernommen, der schon die Kontakte nach Polen angeleiert und Magdalena kennengelernt hatte. Der hatte sie nach Heidelberg eingeladen und auf diese Art und Weise habe auch ich sie kennengelernt. Und Magdalena hatte hier erheblichen Einfluss an der Akademie der Wissenschaften und sie hatte auch Kontakte in die Sowjetunion und nach Amerika, was viel geholfen hat. Wie würden Sie denn diese Wissenschaftskultur im Polen der 1990er Jahre beschreiben? Wie haben Sie das empfunden? Als Vorbild, als vorbildlich. Ich habe das als fortschrittlich und als besser empfunden als das, was ich in der Bundesrepublik zuvor kennengelernt hatte. Inzwischen ist das langsam aber wieder anders geworden. Ich glaube zum Beispiel jetzt – mit Vorbehalt – sind nicht mehr so viele Frauen da. Unter Soziologen zum Beispiel spielen die Frauen aber doch weiterhin eine große Rolle. Wenn wir noch einmal zu einem allgemeineren Betrachtungsrahmen kommen: Haben Sie das Gefühl, dass in den 1990er Jahren im deutsch-polnischen Verhältnis alte Komplexe oder Verhaltensmuster weitergewirkt oder sich vielleicht neue Asymmetrien gebildet haben? Ja, das hat es gegeben. Sehen Sie, das merkt man aber auch heute noch. Es ist sehr typisch geworden. Das läuft aber alles über die Frage des Holocaust. Natürlich war ich parteiisch, als ich zum ŻIH gegangen bin. Ich wusste, wie gesagt, weswegen Feliks Tych mich dahin geholt hatte. Er brauchte einen Deutschen. Manchmal hat man Glück im Leben – ich hatte wissenschaftlich darüber gearbeitet, ich war politisch in demselben Spektrum, ich wusste etwas von Rosa Luxemburg26, und er ist ja nun der große Rosa-Luxemburg-Spezialist. Das hat mir geholfen. Aber, wenn ich das jetzt so bedenke – wir haben einfach weitergearbeitet und es ist uns eigentlich nichts in den Weg geworfen worden. Ich glaube, die Polen hatten das noch gar nicht so gemerkt. Denn man hat immer gesagt: „Gott, das haben die Deutschen gemacht …“ Aber die Polen doch

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Magdalena Sokołowska (1922-1989). Rosa Luxemburg (1871-1919).

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auch! Ich habe das auch erst lernen müssen. Es hat schon in den 1960er Jahren eine ganze Flut in der polnischen Literatur, auch in der schönen Literatur, über die polnisch-jüdischen Beziehungen während der Besatzungszeit gegeben; und zwar massenhaft, das kommt jetzt langsam erst wieder zum Vorschein. Davon habe ich zunächst überhaupt nichts gewusst, bis ich einmal mit den Leuten geredet habe, die ich kannte und die sich als Erste damit beschäftigt haben. Das ist später dann einfach untergegangen, woraus auch zum großen Teil die Schwierigkeiten heute resultieren. Die Sachen, die jetzt geschrieben werden, die jetzt veröffentlicht werden, die sind phantastisch, qualitätsmäßig unwahrscheinlich gut. Und die holen auch alte Sachen wieder hervor, die verschüttgegangen waren. Eine Zeit lang war die allgemeine Haltung: „Na gut, es hat Juden gegeben, sie sind nicht mehr da, aber reden wir nicht mehr darüber.“ Da konnte man das machen. Aber jetzt redet man wirklich darüber, sodass es natürlich für Leute, die bisher so gedacht hatten, unangenehm wird. Darum ist es jetzt eben völlig anders. Würden Sie sagen, dass sich die jüdisch-polnisch-deutschen Beziehungen erst mit der Jedwabne-Debatte27 noch einmal deutlich verändert haben beziehungsweise: welche Entwicklungen haben Sie in den 1990er Jahren wahrgenommen? Diese Beziehungen haben sich in den 1990er Jahren schon geändert. Das war ja zum Beispiel die andere Sache bei Feliks Tych: Er ist ein Überlebender gewesen, aber wissenschaftlich hatte er sich mit dem Problem der polnischjüdischen Geschichte nie befasst. Nun ging es darum, diese Problematik öffentlich zu machen. Damals wurde zum ersten Mal eine Ausstellung über das Ghetto gemacht. Und diese Ausstellung, das war eine Wanderausstellung. Die haben wir nach Deutschland gebracht. Ich habe die Ausstellung begleitet und habe Vorträge gehalten. Wir waren in Nordrhein-Westfalen, da waren die Mittelsmänner von Feliks vor allen Dingen und nach Österreich sind wir auch gefahren. Es hat auch zum ersten Mal geordnete Informationen, ein Handbuch 27

Innenpolitische Debatte in Polen als Reaktion auf Jan Tomasz Gross’ (*1947) Buch „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. München 2001“ (poln. Original: Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka. Sejny 2000), in dem der amerikanischpolnische Soziologe nachgewiesen hatte, dass es polnische Einwohner des podlachischen Städtchens Jedwabne gewesen waren, die unter Aufsicht der deutschen Besatzer ihre jüdischen Mitbürger am 10. Juli 1941 auf dem Marktplatz zusammengetrieben und anschließend in einer Scheune am Ortsrand verbrannt hatten. Nationalkonservative Kreise lehnen diese Deutung bis heute ab. Zusammenfassend zur Debatte vgl. Polonsky, Antony/Michlic, Joanna (Hg.): The neighbors respond. The Controversy over the Jedwabne Massacre in Poland. Princeton 2004.

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wäre viel zu viel gesagt, über das ŻIH gegeben. Wir haben also damals im ŻIH zunächst langsam damit angefangen, die polnisch-jüdische Geschichte wieder auszugraben – das war ja alles ‚zugeschneit‘. Welche Rolle spielten in den 1990er Jahren Institutionen bei der Verdichtung der deutsch-polnischen Kommunikation? Sie haben schon angedeutet, dass das DHI Warschau extrem wichtig war: Wie haben denn die polnischen Kollegen auf diese Gründung und auf dessen Arbeit reagiert? Oh, ganz gut. Die waren sehr mitarbeitswillig und das ging hin bis zu, ich rede jetzt ganz offen, bis zu wirklich unangenehmen Fällen. Da war etwa der Fall Holzer – Jerzy Holzer, der ja dann bekannt wurde durch seine überraschende Arbeit über die Solidarność.28 Das war in der Zeit, wo davon geredet wurde, oder daran gearbeitet wurde, dass so etwas wie das DHI in Polen entsteht. Und da sprach mich eines Tages Holzer auf der Straße an – ich kannte ihn, wusste, wer es ist, hatte aber vorher nie mit ihm gesprochen; er wusste natürlich, wer ich war, da ich einer der wenigen Deutschen damals war. Vielmehr schnauzte Holzer mich regelrecht auf der Straße an und sagte, was uns – ich weiß nicht, wen er damit meinte – eigentlich einfiele, den und den in den Vorstand zu holen – wovon ich überhaupt nichts wusste, wie gesagt, ich hatte damit gar nichts zu tun und wusste nur, dass da etwas passiert. Holzer aber meinte, der und der hätte doch überhaupt keine Ahnung davon, eigentlich müsste er das doch sein. Ich war also richtig platt, habe gestaunt und habe ihm dann überhaupt nichts mehr gesagt, mit den Schultern gezuckt oder gesagt, da müssen sie mich nicht fragen. Ich weiß noch, dass ich ratlos weggegangen bin. Ich habe auch nie wieder mit ihm geredet. Also in diesem Falle muss man sagen, war es sehr bekannt, dass da etwas passierte, und sehr begehrt. Es ging darum, aus dem herauszukommen, was gewesen war. Es mussten alle weitersehen. Und da ging es einfach auch um Posten und Geld. Die andere Sache war etwas amüsanter: Rexheuser lud als erstes praktisch ganz Warschau zum Kennenlernen am Abend in das Institut ein und sie erschienen auch alle. Irgendwie war die Atmosphäre aber etwas kühl. Das lag nicht an der Sprache, die konnten ja alle irgendwie andere Sprachen. Von 28

Jerzy Holzer (1930-2015) – ders.: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985. Die Solidarność war die zwischen August 1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Neben der Arbeit von Holzer vgl. Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999.

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uns waren auch Leute dabei, und ich habe auch gedolmetscht. Dann, ich weiß nicht, ob das später war oder aber bereits auf dem Heimweg, haben sie mit mir natürlich auch offener gesprochen. Denn ich kannte die Leute ja fast alle schon von früher her. Dabei erinnere ich mich nur an Tomasz Szarota29. Er war empört über diesen Empfang, aus dem einfachen Grund, dass Rexheuser nur Wasser und Salzstangen angeboten hatte und nicht mehr. Offensichtlich muss das, nach den Vorstellungen dieser Leute, etwas mickrig gewesen sein und sie hatten sich vom reichen Westen auch etwas anderes vorgestellt. Aber das hat natürlich nicht dazu geführt, dass der Umgang, sagen wir mal, lockerer geworden ist. Andererseits war das DHI von Anfang an immer gut besucht. Damals war ich verantwortlich für die Veranstaltungen des Instituts und ich habe nie Schwierigkeiten gehabt, polnische Kolleginnen und Kollegen einzuladen. An eine Ablehnung kann ich mich nicht erinnern. Wie sind Sie denn da überhaupt ‚reingerutscht‘? Das ist letztlich auch eine ganz interessante Sache, wie die Wissenschaft so läuft. Es war natürlich bekanntgeworden, dass ein deutsches Institut gegründet werden sollte, woran viele sehr interessiert gewesen waren. Und da waren dann auch Leute aus Berlin involviert, die mich kannten. Ich meine damit erst die Bekanntschaft und dann sehr enge Freundschaft mit Stefi Jersch-Wenzel und ihrem Mann Thomas Jersch.30 Und diese wiederum hatten ihre Kolleginnen und Kollegen in Deutschland, die natürlich auch wussten, dass das DHI gegründet werden sollte. Ich weiß jetzt nicht mehr genau, von wem ich das zuerst erfuhr, möglicherweise sogar von Wojciechowski selbst. Es muss tatsächlich Wojciechowski gewesen sein, denn eines Tages sprach mich Borodziej an, den ich nur vom Hörensagen kannte oder mal gesehen hatte, aber mit dem ich vorher gar keinen näheren Kontakt hatte. Er dürfte einen Hinweis von Wojciechowski gehabt haben und sprach mich jedenfalls an, wie das so sei mit dem Institut, ob ich etwas wüsste und, ja, wie ich das sah und warum ich eigentlich in Polen sei. „Gott“, habe ich gesagt, „naja, Arbeit und so weiter.“ Darauf fragte er mich, ob ich dann an das Deutsche Historische Institut gehen würde. Ich aber wusste so gut wie nichts davon, nur ein bisschen durch meine Bekannten in Berlin. Denn ein Schüler von Stefi, das war Michael G. Müller31, der war da involviert. Daher wusste ich nun auch ein paar Dinge und darüber kamen wohl die Kontakte. Jedenfalls zurück zum Gespräch 29 30 31

Thomas Szarota (*1940). Stefi Jersch-Wenzel (1937-2013); Thomas Jersch (1937-2010). Michael G. Müller (*1950).

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mit Borodziej: Wir unterhielten uns also, und wie gesagt, ich wusste wirklich nichts oder nicht viel. Er wusste sicherlich viel, viel mehr, und infolgedessen muss er wohl den Eindruck gehabt haben, ich halte aus einem ganz bestimmten Grund mit meinen Informationen zurück. Plötzlich brach er dann mitten in der Unterhaltung ab, so ist jedenfalls meine Erinnerung, und sagte: „Und Sie sind hier, um am DHI zu arbeiten“ oder auch sogar „um das DHI zu übernehmen“ oder so ungefähr. Als sei ich einer, der ganz heimlich im Untergrund vorher schon erforscht hätte, was man da so machen könnte. Das muss damals wohl die Meinung gewesen sein. Dass da irgendetwas passierte, das ist mir dann hinterher auch klar geworden. Borodziej jedenfalls war mit Müller bekannt und Henning Hahn32 und das waren ja nun die Betreiber des Projekts. Vermutlich wollte er sich erkundigen oder die Sicherheit haben, inwieweit ich auch etwas Näheres wüsste. Auf alle Fälle hat mich das damals ziemlich amüsiert. Wenn wir nun noch einmal von den Personen zu den Werken kommen: Welche Publikation ist denn in den 1990er Jahren am einflussreichsten auf Sie gewesen? Was ist für Sie da vielleicht bis heute noch wichtig geblieben? Das sind weniger Publikationen gewesen. Was ganz wichtig war, das war die Bekanntschaft mit Wojciechowski. Wojciechowski war natürlich mit allen Wassern gewaschen. Dass wir miteinander bekannt geworden sind, das ist von ihm ausgegangen. Ich weiß gar nicht, ob ich damals wusste, dass er der Chef der Archive war. Aber er musste davon gewusst haben, dass ich damals der erste DAAD33-Stipendiat dort im Archiv, im AGAD34, war. Als ich dann wiederkam bzw. wiederauftauchte, hat er – das war mir auch schon damals klar – versucht, Informationen über mich zu bekommen. Da ich im Allgemeinen etwas harmlos bin, habe ich ihm auch sicherlich einiges an Informationen geboten, von denen ich gar nicht wusste, dass sie wichtig für ihn waren. Ich war damals in der Zeit, wo alles noch unbekannt war, eine Art Mittelsperson. Zum Beispiel konnte ich Sachen erledigen, die damals doch wichtig waren, etwa Visa und Einreiseerlaubnisse beschaffen. Thomas, der Mann von Stefi Jersch-Wenzel,

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Hans Henning Hahn (*1947). Deutscher Akademischer Austauschdienst, 1925 gegründet. Vgl. Alter, Peter (Hg.): Der DAAD in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben – vierzehn Essays. Berlin 2000. Archiwum Główne Akt Dawnych w Warszawie (Hauptarchiv Alter Akten in Warschau). 1808 als Archiwum Ogólne Krajowe (Zentrales Landesarchiv) gegründete Einrichtung für die älteren Quellenbestände zur Geschichte Polens.

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war einer der Ersten, die ich so kennengelernt habe. Von ihm habe ich auch viel über den Nationalsozialismus gelernt. Er war in der Lage, aus dem Effeff eine Rede zu halten, aber er war nicht in der Lage, sie zu schreiben. Er wusste, dass ein großer Teil der noch vorhandenen deutschen Akten in polnischen Archiven ist. Und ich war natürlich dann der Mann für ihn. Ich konnte dolmetschen und ich konnte ihm den Weg öffnen, damit er da arbeiten konnte. Er wollte zum Beispiel einmal ins Archiv und wusste, dass die Akten in Breslau liegen. Als er aber versuchte, da weiter hineinzukommen, war nichts zu machen. Diese Sache hat er mir dann nahegebracht und ich habe ihm gesagt: „Naja, so wie ich das kenne, da kann ja vielleicht Wojciechowski etwas machen.“ Jersch war, muss man dazusagen, ein Westberliner, das war noch etwas anderes, das war nicht Bundesrepublik. Mit der Bundesrepublik war das schon viel leichter, aber mit Westberlin nicht, das ging einfach nicht. Tatsächlich habe ich das dann mit Wojciechowski beredet und er guckte mich nur ganz belustigt an, fing zu lächeln an und sagte: „Ja, dann machen wir einfach die Lex Jersch.“ Und so war es dann auch. Dann hat er sich dafür eingesetzt und Thomas Jersch kriegte sein Visum, nahm mich mit und sagte: „So, Hensel, jetzt fahren wir nach Breslau.“ Dann habe ich ihm in Breslau eine Wohnung besorgt. Die Gegend hatte aber schon er ausgesucht. Sie musste nah am Archiv liegen, und es mussten Läden in der Nähe sein, wo er ohne Polnischkenntnisse einkaufen konnte. Und so ist das oft gelaufen, dass ich wie in diesem Fall eine große Mittlerrolle hatte. Wenn Sie auf Ihre wissenschaftliche Karriere zurückblicken: Was war am wichtigsten für Sie, auch in Bezug auf Ihre eigenen Forschungen? Erst einmal hatte ich keine wissenschaftliche Karriere. Meine Doktorarbeit war ein polnisch-jüdisches Thema: „Über den vergeblichen Versuch einer Judenemanzipation in einer nicht emanzipierten Gesellschaft“ hieß das.35 Das war vielleicht nicht das erste Buch mit einem polnisch-jüdischen Thema in Deutschland, aber das erste, glaube ich doch, das nach langer Zeit erschienen war. Die Arbeit bezog sich nur auf das Königreich Polen, also das Polen nach dem Wiener Kongress. Ich habe noch einmal nachgesehen anhand der Bibliothek des ŻIH – bis jetzt gab es nur drei Arbeiten, alle von Frauen, über diese Zeit. Ich habe sie noch nicht gelesen, aber ich habe mir das jetzt einmal vorgenommen. Sonst habe ich zwar ein paar Aufsätze geschrieben, aber meine wichtigste Arbeit war wirklich meine Vermittlerarbeit, die ich im ŻIH gemacht 35

Hensel, Jürgen: Polnische Adelsnation und jüdische Vermittler, 1815-30. Über den vergeblichen Versuch einer Judenemanzipation in einer nicht emanzipierten Gesellschaft. Wiesbaden 1983.

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habe. Das DHI war natürlich auch wichtig, weil ich da auch wissenschaftlich gearbeitet habe. Aber die wichtigste Arbeit, die ich gemacht habe, die war tatsächlich im ŻIH und das war, die Deutschen mit dem Problem des Holocaust bekanntzumachen. Das mache ich auch noch immer ‚privat‘ oder wie auch immer man das nennen kann, auf alle möglichen Weisen: Ich helfe Leuten, Zugang zu Archiven oder Bibliotheken zu bekommen oder Informationen zu besorgen oder ich gebe sonstige Auskünfte. In den letzten Jahren habe ich mich dann aber auch vor allem mit dem Nachlass von Feliks Tych beschäftigt. Denn als Feliks Tych krank wurde und irgendwann abzusehen war, dass es wirklich zu Ende geht, saßen wir, das heißt er, seine Frau36 und ich, eines Tages da und redeten darüber und sagten: „Ja, dann müssen wir das mal aufräumen. Was machen wir denn nun damit? Was willst Du damit machen?“ Da habe ich damals, ohne darüber nachzudenken, gesagt: „Ja, da helfe ich Euch, das zu ordnen. Das nehme ich dann erst einmal, dann ist es sicher, dann können wir weitersehen.“ So haben wir das dann tatsächlich gemacht. Wie gesagt, war ich ja vorher schon sozusagen der Rettungsanker nach Deutschland, wo die Leute saßen, die ihm helfen konnten und die ihm helfen wollten; da blieb mir nun nichts weiter übrig. Ein Großteil – und der wichtigste Teil – seines Nachlasses ist dann an die RosaLuxemburg-Stiftung hier in Warschau verkauft worden. Bis Tych Direktor vom ŻIH wurde, hatte er überhaupt nichts mit jüdischer Geschichte zu tun, auch wenn er natürlich darüber und über den Holocaust trotzdem sehr wohl genau Bescheid wusste. Aber die letzte Aufgabe, die sich Feliks Tych gestellt hatte, war die Geschichte des Entstehens der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) und Leo Jogiches37 zu schreiben. Jogiches war der zeitweilige Partner von Rosa Luxemburg und gleichzeitig Politiker im Untergrund und der Gründer der KPD. Er war litauischer Jude, der im Allgemeinen unbekannt war und das auch sein wollte. Er kam aus einer jüdischen Unternehmerfamilie, ist dann aber praktisch Zeit seines Lebens im Untergrund gewesen und daher ist auch sehr wenig bekannt. Dieter Langewiesche hat zwar einmal apodiktisch konstatiert, Historikerinnen und Historiker seien nicht prognosefähig, weil die Vergangenheit nicht linear in die Zukunft hochrechenbar ist.38 Wir fragen Sie trotzdem: Wie wird die 36 37 38

Lucyna Tych (1930-2019). Leo Jogiches (1867-1919). Eine edierte Ausgabe der nicht abgeschlossenen JogichesBiographie von Tych ist in Planung. Dieter Langewiesche (*1943) – ders.: ‚Postmoderne‘ als Ende der ‚Moderne‘? Überlegungen eines Historikers in einem interdisziplinären Gespräch, in: Ders.: Zeitwende. Geschichtsdenken heute, hg. v. Nikolas Buschmann & Ute Planert. Göttingen 2008, S. 69-84, S. 69.

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geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen? Es dürfte schwer werden, in Polen noch jemanden zu finden, der Deutsch lernen und nicht in die BRD auswandern oder dort arbeiten will. So wird wohl auch deutsche Geschichte zwangsläufig vermehrt anhand englischer Sekundärliteratur geschrieben werden müssen. Vice versa dürfte es in Deutschland nicht viel anders laufen. Noch in den 1990er Jahren, als ich am Warschauer GoetheInstitut39 Deutschkurse gegeben habe, wollten mehr Menschen Deutsch als Englisch lernen. Dennoch wäre und bliebe Englisch lediglich ein mehr als ungenügender Ersatz. Insbesondere eine bereits existierende spezielle Lücke dieser Art in der Geschichte der europäischen Juden – die hebräisch-jiddische – sollte zu denken geben. Um den eigenen Hof zu fegen: Wer unter den deutschen Holocaust-Historikerinnen und -Historikern hat jiddische oder gar hebräische Quellen verwenden können? Nicht einmal Hannah Arendt40, wollte man sie nach Geburtsort (Hannover-)Linden, späterem Schulort Königsberg i. Pr. und Studienort Marburg dazuzählen! Man wird Wege finden müssen, damit umzugehen, auch bezüglich der europäischen Geschichte und einer europäischen Geschichtserzählung. Dann hängt es davon ab, wie sich die (wissenschafts)politische Situation hier weiterentwickelt. Sollte die popularisierte Darstellung polnischer Größe weiterhin in Richtung einer Art infantil-nationalistischer Selbstanbetung gehen wie zurzeit, und dies mit massiver staatlicher ‚Förderung‘, dann werden andere und für die europäische Geschichte wichtige Themen das Nachsehen haben. Dabei hätten die ‚Patrioten‘ ein blendendes Muster zur Hand, das allerdings aus der von ihnen vermaledeiten Volksrepublik stammt: Die bereits erwähnte Zeitschrift „Polska (Zachód)“, deren Aufgabe es war, die oft große und tatsächlich unbekannte Bedeutung der in die Emigration getriebenen polnischen Patrioten für die technische, zivilisatorische und kulturelle Entwicklung praktisch auf der ganzen Welt nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

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Das Goethe-Institut wurde 1951 zur Förderung der deutschen Sprache im Ausland und der kulturellen Zusammenarbeit gegründet. Ende der 1980er und in den beginnenden 1990er Jahren gab es eine ganze Gründungswelle von Außenstellen im ehemaligen Ostblock. 1990 wurde das erste Goethe-Institut in Warschau eröffnet, 1992 in Krakau. Vgl. Kathe, Steffen R.: Kulturpolitik um jeden Preis. Die Geschichte des Goethe-Instituts von 1951 bis 1990. München 2005. Hannah Arendt (1906-1975).

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Man kann nicht sagen, wie es in zehn Jahren aussehen wird, aber wahrscheinlich wird es noch ein Thema geben: und zwar die Wiedergutmachungsfrage, also die ‚Reparationen‘! Neulich hat mich ein Satz bei der Lektüre der Zeitschrift „Konkret“ vom Sessel gerissen: Gezahlt werden müsse immer, „im Festzelt wie im Generalgouvernement“.41

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Schneider, Frank Apunkt: Mit Musik geht alles besser, in: Konkret (2020) 9, https:// www.konkret-magazin.de/aktuell/514-mit-musik-geht-alles-besser (01.11.2020). In dem Artikel geht es um das Karnevalslied „Wer soll das bezahlen?“ aus dem Jahr 1949 von Jupp Schmitz (Musik) und Kurt Feltz (Text). Aus der Serie „konkret erzählt die Geschichte der Bundesrepublik anhand ihrer Hitparaden“.

Abb. 8.1 Ca. 20-30 Jahre nach den 1990er Jahren. Quelle: CBH PAN Berlin.

Igor Kąkolewski (*1963) war 1992-2005 Dozent an der Universität Warschau und 20052010 wiss. Mitarbeiter am DHI Warschau. Seit 2011 ist er außerordentlicher Professor an der Ermländisch-Masurischen Universität in Olsztyn und seit 2018 Direktor des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2016 ist er Mitglied der DPSK.

„Als Historiker soll man wenigstens versuchen, sich aus der Politik herauszuhalten“ Igor Kąkolewski Wie kommt man an der Warschauer Universität in den späten 1980er und 90er Jahren mit preußischer Geschichte und auf diese Weise irgendwie auch mit der deutsch-polnischen Thematik in Berührung? Gab es dafür auch schon frühere biographische Ansatzpunkte? Ich komme aus dem Magisterseminar vom Marian Małowist1, einem Gründer der Schule der vergleichenden Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Warschauer Universität in den 1950er und 60er Jahren. Małowist hatte sich selber mit der Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen eher am Rande seiner Hauptforschungen schon in den späten 1940er Jahren auseinandergesetzt. Später haben das auch etliche von seinen Schülern, vor allem Marian Dygo2, gemacht. Aber auch Bronisław Geremek3, einer der bekanntesten von Małowists Schülern, den man am meisten mit seinen Forschungen zu Randgruppen im spätmittelalterlichen Paris assoziiert,4 begann seine Karriere in den 1950er Jahren mit einer Magisterarbeit zur Wirtschaftsgeschichte des Deutschen Ordens im Preußen des 15. Jahrhunderts.5 Während der Seminare, die Małowist schon als Emeritus in den 1980er Jahren in seiner Wohnung in der Warschauer Altstadt geführt hatte, fiel mein Blick oft auf die Bücher in seiner privaten Bibliothek – unter anderem auf die neunbändige „Geschichte Preußens“ von Johannes Voigt6. Małowist bezog sich auch oft in seinen Gesprächen mit uns auf die Veröffentlichungen von Vertretern der deutschen Ostforschung. Er pflegte zu sagen: „Ja, zwar stand dieser oder jener dem 1 2 3 4

Marian Małowist (1909-1988). Marian Dygo (*1951). Bronisław Geremek (1932-2008). Ders.: Najemna siła robocza w rzemiośle Paryża XIII-XV w. Studium o średniowiecznym rynku siły roboczej. Warszawa 1962 ( franz.: Le Salariat dans l’artisanat parisien aux XIII”-XVe siècles. Etude sur le marché de la main-d’œuvre au Moyen Age. Paris/La Haye 1968); ders.: Ludzie marginesu w Paryżu w XIV-XVw. Warszawa 1971 ( franz.: Les marginaux parisiens aux XIVe et XVe siècles. Paris 1976). 5 Ders.: Ze studiów nad stosunkami gospodarczymi między miastem a wsią w Prusach Krzyżackich w pierwszej połowie XV w., in: Przegląd Historyczny 47 (1956) 1, S. 48-102. 6 Johannes Voigt (1786-1863) – ders.: Geschichte Preußens von den ältesten Zeiten bis zum Untergange der Herrschaft des Deutschen Ordens. 9 Bde. Königsberg 1827-39.

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NS-Regime nah, aber im Grunde genommen war er ein guter Historiker.“ Und diese Meinung äußerte ein polnisch-jüdischer Historiker, der die Hölle des Holocausts hautnah erlebt hatte … Natürlich, in meiner Kindheit habe ich gerne Romane von Henryk Sienkiewicz gelesen und war, wie viele Generationen der Polen vor und nach mir, von seinem Roman „Krzyżacy“ stark beeinflusst.7 Und wo habe ich Sienkiewiczs „Krzyżacy“ gelesen? In Oberschlesien, in Gleiwitz, wo ich in einer Familie gemischter galizischer und oberschlesischer Herkunft aufgewachsen bin und wo man das Fluchwort „Ty Krzyżaku!“8 in Bezug auf die deutsch-, aber manchmal auch polnischsprachigen Oberschlesier gehört hat. Erst später, als ich nach Warschau umgezogen bin und an der Warschauer Universität studierte, wollte ich traditionelle polnische Geschichtsvorstellungen, die im Laufe des 19. oder zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden und in die früheren Perioden der Geschichte zurückprojiziert wurden, kritisch bewerten. Und zwar nicht durch die Brillen der national state building Epoche oder der nationalistisch-kommunistisch eingefärbten Propagandaklischees aus der Zeit der Volksrepublik Polen, wo Krzyżacy mit „westdeutschen Revisionisten“ gleichgesetzt wurden, sondern aus der mittelalterlichen Perspektive. Dies verdanke ich vor allem eben Marian Małowist. Natürlich verbarg sich in meiner Haltung damals auch eine gewisse Trotzigkeit. Aber das war in der Zeit des Kriegsrechts9 und überhaupt in den 1980er Jahren ganz typisch für viele junge Polen. Małowist versuchte uns während seiner Seminare beizubringen, dass ein Historiker trotzig, d.h. selbständig und unorthodox in seinem Denken und seinen Einschätzungen sein sollte und das, was selbstverständlich und offensichtlich für die Mehrheit erschien, in Frage stellen soll. Aber auch als ich 1989 Doktorand am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften10 wurde, blieb etwas von dieser „trotzigen“ Einstellung übrig. Damals habe ich die Entscheidung getroffen, mich in meiner Dissertation mit der in Polen kaum erforschten Geschichte des 7 8 9

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Henryk Sienkiewicz (1846-1916) – ders.: Krzyżacy. Powieść historyczna. Gdańsk 1900 (dt.: Die Kreuzritter. Historischer Roman. Leipzig 1901). Dt. „Du Kreuzritter!“ Der Kriegszustand wurde am 13. Dezember 1981 von General Wojciech Jaruzelski (19262014) zur Unterdrückung der Opposition verhängt und erst im Juli 1983 wieder aufgehoben. Vgl. Paczkowski, Andrzej: Wojna polsko-jaruzelska. Stan wojenny w Polsce 13 XII 1981-22 VII 1983. Warszawa 2006. Das Instytut Historii Polskiej Akademii Nauk (Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften) entstand 1953 in Warschau unter der Leitung Tadeusz Manteuffels (1902-1970) als integraler Bestandteil der neuen, kommunistisch indoktrinierten Polnischen Akademie der Wissenschaften. Heute verfügt das Institut über Zweigstellen in Danzig/Gdańsk, Krakau/Kraków, Posen/Poznań und Thorn/Toruń.

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Herzogtum Preußens auseinanderzusetzen. Durch meinen Doktorvater, Andrzej Wyczański, habe ich den Kontakt mit Janusz Małłek von der Universität in Thorn aufgenommen, der zu wenigen polnischen Experten im Bereich frühneuzeitliche Geschichte Preußens zählte.11 Małłek war ein Schüler des in der polnischen, aber auch westdeutschen Zunft der Mediävisten anerkannten Karol Górski12. So bin ich mit den für die Volksrepublik ‚unorthodoxen‘ Arbeiten von Karol Górski aus den 1960er und 70er Jahren zur Geschichte des Deutschen Ordens, aber auch jenen zur Geschichte Preußens von einem anderen Thorner Historiker, und zwar Stanisław Salmonowicz13, in Berührung gekommen. Ich denke, dass für mich damals die Lektüre seines Preußen-Buches14 entscheidend war, das von der sogenannten „Preußenwelle“ in der Bundesrepublik beeinflusst war. Darüber hinaus habe ich frühere Monographien von Walther Hubatsch15 und seinen Schülern, die in der Thorner Universitätsbibliothek zugänglich waren, intensiv gelesen. Unter dem Einfluss von Małłek habe ich mich entschlossen, meine Doktorarbeit zum Thema Korruption im Herzogtum Preußen zu schreiben.16 Damals waren meine Archivforschungen stark eingeschränkt und vor allem auf Mikrofilme aus dem Archiv in Allenstein beschränkt. Zum ersten Mal bekam ich 1993 ein Stipendium bei der Historischen Kommission zu Berlin17 und konnte ein paar Monate im Geheimen Staatsarchiv in Berlin-Dahlem arbeiten, um meine Dissertation für die Veröffentlichung vorzubereiten. Erst dort habe ich persönlich den Kontakt mit meinen deutschen Kollegen aufgenommen, wie Christian Lübke oder Hans-Jürgen Bömelburg.18 Damals habe ich auch den großen Klaus

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Andrzej Wyczański (1924-2008); Janusz Małłek (*1937). Karol Górski (1903-1988). Stanisław Salmonowicz (*1931). Salmonowicz, Stanisław: Prusy. Dzieje państwa i społeczeństwa. Poznań 1987. Walther Hubatsch (1915-1984). Kąkolewski, Igor: Nadużycia władzy i korupcja w Prusach Książęcych w połowie XVI wieku. Narodziny państwa wczesnonowożytnego. Warszawa 2000. Wissenschaftliche Vereinigung mit landesgeschichtlichem Schwerpunkt, wiederbegründet 1959 als Berliner Historische Kommission, dann 1963 als Historische Kommission zu Berlin mit enger Bindung an die FU Berlin. Sie verfügte über verschiedene Sektionen, u.a. für deutsch-jüdische und deutsch-polnische Geschichte. Zur Anfangszeit der Kommission bis zu den 1970er Jahren vgl. Neitmann, Klaus: Eine wissenschaftliche Antwort auf die politische Herausforderung des geteilten Deutschland und Europa. Walter Schlesinger, die ost(mittel)deutsche Landesgeschichte und die deutsche Ostforschung, in: Ders.: Land und Landeshistoriographie. Beiträge zur Geschichte der brandenburgischpreußischen und deutschen Landesgeschichtsforschung. Berlin/Boston 2015, S. 293-356, S. 302-305. Christian Lübke (*1953); Hans-Jürgen Bömelburg (*1961).

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Zernack19 kennengelernt, der zu meinem Gastvortrag an der FU kam. Das, was mir besonders bei Zernack sowie bei Lübke und Bömelburg gefiel, waren ihre ‚unorthodoxen‘ Meinungen und ihr sozusagen ‚historischer Revisionismus‘, der meinen „trotzigen Ansätzen“ aus der Małowist-Schule entsprach. Wenn Sie es für sich persönlich reflektieren, hat sich 1989 auch etwas Entscheidendes in der damaligen Wahrnehmung verändert, oder würden Sie aus Ihrer Perspektive ganz andere, frühere oder vielleicht auch spätere Zäsuren setzen? Ich bin kein Zeithistoriker und auch in der Rolle eines Augenzeugen fühle ich mich nicht besonders wohl. Deswegen: meine Ausführungen können sich hier vor allem auf die Entwicklungen in der polnischen Geschichtsschreibung beziehen. Natürlich gilt 1989 als Wende in vielen Bereichen, nicht nur in Bezug auf die Politik und Wirtschaft, sondern auch auf die Geschichtswissenschaft. In diesem Zusammenhang muss man aber auch gewisse Kontinuitäten betonen. Das war kein Zufall, dass mein Forschungsaufenthalt 1993 bei der Historischen Kommission zu Berlin stattfand und meine Wege mich zu Klaus Zernack und seinen Schülern geführt haben. Man muss hier auf schon lange vor 1989 existierende Kontakte und Netzwerke zwischen Historikern aus der Volkrepublik Polen und der BRD über den Eisernen Vorgang hinweg verweisen. Dazu hat unter anderem das Humboldt-Stipendienprogramm20 beigetragen. Viele von meinen älteren Kollegen aus der Małowist-Schule oder akademischen Lehrern aus der Warschauer Universität, unter anderem Antoni Mączak oder Benedykt Zientara,21 waren schon in den 1970er Jahren Humboldt-Stipendiaten und während ihrer Stipendienaufenthalte haben sie sich mit westdeutschen Historikern nicht nur besser bekannt gemacht, sondern auch angefreundet. So kam ich 1993 mit einem Empfehlungsbrief von Antoni Mączak nach Berlin und schon vor meiner Reise habe ich viel von Mączak über die Forschungen von Klaus Zernack gehört. Darüber hinaus waren auch die Kontakte zwischen polnischen und deutschen Historikern seit den frühen 1970er Jahren im Rahmen der Gemeinsamen

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Klaus Zernack (1931-2017). Förderprogramm für Forschungsaufenthalte ausländischer Gastwissenschaftler*innen in Deutschland durch die von der Bundesrepublik 1953 neu eingerichtete Alexander-vonHumboldt-Stiftung. Zur Stiftungsgeschichte: Jansen, Christian: Exzellenz weltweit. Die Alexander von Humboldt-Stiftung zwischen Wissenschaftsförderung und auswärtiger Kulturpolitik (1953-2003). Köln 2004. Antoni Mączak (1928-2003); Benedykt Zientara (1928-1983).

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Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission (DPSK)22 in vielerlei Hinsicht von großer Bedeutung. Über die Rolle des Instytut Zachodni23 in Poznań braucht man in diesem Zusammenhang nicht viel zu reden. Vielleicht sollte man dagegen über Poznań und Warschau hinaus die Aufmerksamkeit auf die UMK24 in Thorn richten. Für mich selbst besonders wichtig waren die von der Schulbuchkommission unter der Schirmherrschaft der UNESCO seit 1974 initiierten Konferenzen zum Thema Deutscher Orden in Preußen und daraus entstandene Kontakte zwischen der Universität Thorn und den deutschen Historikern. In diesem Zusammenhang muss man vor allem die Konferenzen und die Buchreihe „Ordines militares”25 erwähnen. Gerade in Thorn in den 1980er Jahren entstanden auch die Veröffentlichungen von Stanislaw Salmonowicz zur Geschichte des Königreichs Preußen, die in der polnischen Historiographie mit Paradigmen brachen. Neue Perspektiven auf die Geschichte der polnisch-sächsischen Beziehungen gab es auch in den Arbeiten von Jacek Staszewski26, für den vor allem seine Archivreisen nach Dresden, also in die damalige DDR, wichtig waren. Im Großen und Ganzen waren aber die Netzwerke und Kontakte zwischen den Historikern aus der Volksrepublik Polen und der DDR in den 1970er oder 80er Jahren viel schwächer als zwischen den polnischen und westdeutschen Forschern. Für letztere, würde ich sagen, schufen sie eine gute und solide Grundlage für weitere Kooperationen nach der Wende 1989. Daher ist es kein Zufall, dass das DHI Warschau 1993

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Unter der Schirmherrschaft der UNESCO 1972 gegründete Kommission deutscher und polnischer Historiker*innen sowie Geograph*innen. Vgl. Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015. Das Instytut Zachodni (Westinstitut), 1945 in Posen/Poznań gegründete Forschungseinrichtung zur Beschäftigung mit den „Wiedergewonnenen Gebieten“ und den deutsch-polnischen Beziehungen. Vor 1989 propagandistisches Zentrum der nationalkommunistischen „Westforschung“. Vgl. Zwierzycka, Romualda (Hg.): Instytut Zachodni. 50 lat. Poznań 1994. Uniwersytet Mikołaja Kopernika, gegründet 1945 in Thorn/Toruń in der Tradition der alten Universität Wilna. Vgl. Supruniuk, Anna/Supruniuk, Mirosław Adam: Tajemnicze początki Uniwersytetu Mikołaja Kopernika (Wilno i Lwów w Toruniu). Toruń 2017. „Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica“, erscheint seit 1983 als Schriftenreihe, seit 2012 als Zeitschrift mit dem Nebentitel „Yearbook for the Study of the Military Orders“. Jacek Staszewski (1933-2013).

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entstand27, also etwa 15 Jahre vor der Gründung des DHI Moskau28, oder dass Hubert Orłowski und Christoph Kleßmann seit 1996 die Buchreihe „Poznańska Biblioteka Niemiecka“ in Poznań herausgeben.29 Aber auch die wissenschaftlichen Einrichtungen, die in der nächsten Dekade entstanden sind, wie die Polska Misja Historyczna30, deren Entstehung den Historikern von der UMK in Thorn zu verdanken ist, oder das Willy Brandt Zentrum für Deutschlandund Europastudien der Universität Wrocław31, haben ihren Ursprung in den langjährigen Kontakten der polnischen und deutschen Historiker sowohl vor 1989 als auch in den 1990er Jahren. So würde ich das Jahr 1989 ohne weiteres als Zäsur betrachten, obwohl für die Entwicklung der polnisch-deutschen Kontakte im Bereich der Geschichtswissenschaften seit den 1990er Jahren die Kontinuitäten, deren Ursprünge in die 1970er und 80er Jahren zurückgehen, bis heute prägend sind. Wenn wir also über die institutionalisierte Wissenschaft sprechen: Welche Rolle hatten bestimmte Institutionen in den 1990er Jahren, auch im Verhältnis zu eher privaten Netzwerken, bei der Verdichtung der polnisch-deutschen Kontakte? Als Warschauer kann ich hier vor allem noch einmal auf das im Jahre 1993 entstandene DHI Warschau verweisen. Ich habe noch die Besuche vom ehemaligen Direktor Rex Rexheuser und seiner Stellvertretenden Direktorin Almut Bues 27

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Das Deutsche Historische Institut Warschau ist seit 2002 der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Das Deutsche Historische Institut Moskau wurde 2005 gegründet und bis zur Überführung in die Bundesförderung im Jahr 2009 durch die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung sowie die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius getragen. Hubert Orłowski (*1937); Christoph Kleßmann (*1938). „Poznańska Biblioteka Niemiecka“/ „Posener Deutsche Bibliothek“. Von 1996 bis 2020 erscheinende, von dem Germanisten Orłowski initiierte Buchreihe mit wissenschaftlichen Texten. Vgl. Orłowski, Hubert/ Wryk, Ryszard (Hg.): 50 tomów Poznańskiej Biblioteki Niemieckiej. Poznań 2020. Polnische Historische Mission. Seit dem Jahr 2001 am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen angesiedelt, nach dessen Schließung seit 2009 an der Julius-MaximilianUniversität Würzburg. Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. W. Brandta / Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien (WBZ) der Universität Wrocław, 2002 als gemeinsame Gründung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Universität Wrocław ins Leben gerufen. Vgl. Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław in den Jahren 2002-2012. Wrocław 2010.

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im Doktorandenseminar von Antoni Mączak und Henryk Samsonowicz am Historischen Institut der Warschauer Universität in Erinnerung.32 Besonders Mączak hat damals intensiven Kontakt zum DHI aufgenommen. Der Austausch zwischen dem Historischen Institut der Warschauer Universität und dem DHI Warschau überlebte die 1990er Jahre. Später arbeiteten am DHI auch Dozenten vom IH UW 33 wie Jerzy Kochanowski, letztlich Piotr Szlanta und ich.34 In den letzten Jahren ist auch eine gute Dynamik in die Kontakte zwischen dem DHI Warschau und dem CBH PAN35 in Berlin gekommen. Vor zwei Jahren hat der jetzige Direktor des DHI Warschau, Miloš Řezník36, sogar gescherzt, dass das CBH dem DHI neue wissenschaftliche Mitarbeiter liefert und im Gegenzug die Direktoren bekommt. Denn sowohl Robert Traba37, der Gründungsvater des CBH, als auch ich haben wichtige Jahre unseres Lebens am DHI Warschau verbracht. Sie haben auch in Redaktionen von populärwissenschaftlichen Zeitschriften mitgearbeitet und waren später – im neuen Jahrtausend – an der Vorbereitung von Ausstellungen beteiligt. Wie würden Sie in den 1990er Jahren das Spannungsfeld zwischen den Bereichen Politik und Geschichtswissenschaft einschätzen? Wie wirkte in den 1990er Jahren die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften in Deutschland und in Polen ein und umgekehrt, wie die Historikerinnen und Historiker auf die Politik? Hier würde ich mich gern eher auf Polen konzentrieren. Mein Einblick in die Wandlungen der Geschichtswissenschaft in Deutschland in den 1990er Jahren war damals sehr eingeschränkt und vor allem durch meine eigenen Forschungen zum Herzogtum Preußen geprägt. Den Einfluss der ‚großen‘ Politik auf die Geschichtswissenschaft in Polen seit den 1990er Jahren bis heute kann man zweifellos als bedeutend charakterisieren. Ich weiß nicht, ob man sagen kann, dass nach der Wende 1989 in Polen der Geschichtswissenschaft die Rolle einer Leitwissenschaft zukam. Aber eine kollektive Geschichtskultur – verstanden als vielschichtiges von der Geschichtspublizistik, dem Geschichtsunterricht und der Historiographie 32 33 34 35 36 37

Rex Rexheuser (*1933); Almut Bues (*1953); Henryk Samsonowicz (*1930). Dt. Historisches Institut der Universität Warschau. Jerzy Kochanowski (*1960); Piotr Szlanta (* 1971). Centrum Badań Historycznych Polskiej Akademii Nauk w Berlinie / Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. 2006 gegründete Außenstelle der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Pankow. Miloš Řezník (*1970). Robert Traba (*1958).

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geprägtes Phänomen – spielte und spielt eine wesentliche Rolle im öffentlichen Leben. Es hängt nicht nur mit der Geschichtspolitik der jetzigen oder vorherigen Regierungen in Warschau zusammen, sondern auch mit der Spezifik der polnischen Erinnerungskultur sowie mit unterschiedlichen Minderwertigkeitskomplexen im kollektiven Bewusstsein, die man durch die Bezüge auf Geschichte zu kompensieren versucht. Dazu kommt noch die Tatsache, dass nach der Wende 1989 und während der Transformationszeit viele herausragende polnische Historiker eine wichtige Rolle auf verschiedenen Ebenen der ‚großen‘ Politik spielten, etwa Professoren wie Bronisław Geremek und Stefan Meller oder Absolventen des Faches Geschichte wie Adam Michnik, Jacek Kuroń oder Donald Tusk.38 Zugleich muss man aber auf ein anderes interessantes Phänomen verweisen. Die wichtigsten Debatten in der polnischen Historiographie in der Transformationsperiode in Polen sind, im Gegensatz zum berühmten Historikerstreit in der Bundesrepublik in den 1980er Jahren,39 nicht durch professionelle Historiker sondern durch Vertreter anderer Fächer angeregt worden. So wurde die Debatte über die Rolle der nichtjüdischen Polen im Holocaust von Jan Tomasz Gross, also einem Soziologen, ausgelöst, die Debatte über das Phänomen und Bedeutung der Geschichtspolitik durch Marek Aleksander Cichocki, also einem Philosophen und Politologen, oder die letzte Debatte zum Thema Stalinismus in Polen wurde durch den Philosophen Andrzej Leder geprägt.40 Genauso wurde die Debatte über die alte Rzeczpospolita, die sich zwar an einen engeren Kreis der Experten richtete und kein so großes Echo in der breiteren Öffentlichkeit gefunden hat, aus der Perspektive der postcolonial studies durch den Soziologen Jan Sowa41 angespornt. So sprach man in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in Polen sogar von einer „Flucht der Historiker vor der Geschichte“42. Man hat dabei betont, dass die meisten professionellen Historiker ihre Forschungen vor allem im alten positivistischen Geiste führen oder sich mit Themen auseinandersetzen, die ausschließlich für 38 39

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Stefan Meller (1942-2008); Adam Michnik (* 1946); Jacek Kuroń (1934-2004); Donald Tusk (* 1957). Der deutsche Historikerstreit entzündete sich u.a. an Andreas Hillgrubers (1925-1989) Buch „Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums“ von 1986 an der Frage, ob die deutsche Judenvernichtung ein einmaliges Ereignis gewesen sei. Vgl. Große Kracht, Klaus: Debatte. Der Historikerstreit, Version:  1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.01.2010, http://docupedia.de/zg/kracht_ historikerstreit_v1_de_2010 (07.09.2020). Jan Tomasz Gross (*1947); Marek Cichocki (* 1966); Andrzej Leder (*1960). Jan Sowa (* 1976). Gablankowski, Maciej: Ucieczka historyków od historii, in: Gazeta Wyborcza vom 23.7.2007.

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eine professionelle Historikerzunft bestimmt sind und ohne Einfluss auf die breitere Öffentlichkeit bleiben. Würden Sie denn in diesem Zusammenhang sagen, dass Sie selbst im Spannungsfeld zwischen Geschichtswissenschaft und Politik eine Rolle gespielt haben oder haben Sie sich aus allzu politisierten Diskursen herausgehalten? Als Historiker soll man wenigstens versuchen, sich aus der Politik herauszuhalten. Natürlich gelingt das nicht immer. Es ist mir auch nicht ganz gelungen, muss ich sagen, obwohl ich nie direkt in die Politik involviert war. Naja, vielleicht ganz kurzfristig. Und zwar war ich im Mai und Juni 1989 als Kurier zwischen dem Komitet Obywatelski43 (KO) der Solidarność44 in Warschau und dem der Region Śląsko-Dąbrowski aktiv. Das war die Zeit der intensiven Wahlkampagne vor den ersten freien – oder eher halbfreien – Wahlen in Polen am 4. Juni 1989. Natürlich habe ich da nur eine ganz marginale Rolle gespielt. Aufgrund meiner früheren, eher sehr bescheidenen Kontakte mit den Solidarność-Aktivisten in Oberschlesien wurde ich beauftragt, ein von der Regierung unabhängiges Kommunikationsnetzwerk zwischen Warschau und Katowice mitzugestalten. In der Zentrale des KO in Warschau habe ich damals etliche Historiker getroffen, oder genau gesagt, von Ferne gesehen, die die Elite der demokratischen Opposition in der Volksrepublik bildeten, wie Adam Michnik, Jacek Kuroń und am meisten Bronisław Geremek, den ich schon vorher kannte. Nach dem Sieg der Solidarność in den Parlamentswahlen am 4. Juni 1989 bekam ich ein Angebot, als Beamter des Auslandsausschusses im Sejm zu arbeiten. Das Angebot lehnte ich aber sofort ab. Ich wusste, dass die Politik nichts für mich war. Natürlich war ich glücklich, dass der Kommunismus in Polen kollabierte, aber die Gegenwart war nicht 43

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Komitet Obywatelski ‚Solidarność‘ (Bürgerkomitee ‚Solidarność‘), zuvor auch Komitet Obywatelski przy Przewodniczącym NSZZ ‚Solidarność‘ Lechu Wałęsie (Bürgerkomitee beim Vorsitzenden der Gewerkschaft ‚Solidarność‘), Ende 1988 gebildete Organisation der Opposition, die nach dem Ende des Runden Tisches eine entscheidende Rolle bei den halbfreien Wahlen im Juni 1989 spielte. Vgl. auch Friszke, Andrzej: Geneza i historia Komitetu Obywatelskiego, in: Małgorzata Strasz (Hg.): Komitet Obywatelski przy Przewodniczącym NSZZ ‚Solidarność‘ Lechu Wałęsie. Stenogramy posiedzeń, 1987-1989. Warszawa 2006, S. 5-69. Zwischen August 1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999.

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meine Domäne. Die Umbruchzeit aktiv zu erleben, war selbstverständlich für einen Historiker eine interessante Erfahrung. Ich habe bemerkt, wie die Zeit während einer – friedlichen – Revolution, blitzschnell laufen kann und wie das Tempo der Ereignisse sich im Vergleich zum Marasmus des Lebens in einem autoritären Regime der Volksrepublik Polen immens beschleunigte. In jenem Augenblick hat sich etwas Neues, Unerwartetes ereignet. Ich habe damals empfunden, dass die Zeit in der Geschichte ein sehr relatives Phänomen ist und nicht immer im gleichen Tempo voranschreitet. Aber nach dem Sieg in den Parlamentswahlen und nach der Wahl von Tadeusz Mazowiecki45 zum Premierminister wollte ich mich mit der Geschichte und nicht mit der Politik befassen. Ich wollte in die weit entfernte Vergangenheit, vor allem in das 16. Jahrhundert zurück, um mich wieder auf meine Dissertation über das Herzogtum Preußen unter Herzog Albrecht zu konzentrieren. Ich wollte die Prozesse in der Gegenwart aus einer zeitentfernteren Perspektive, sozusagen in der longue durée, beobachten und verstehen. Konnte man für die 1990er Jahre von einer anderen Wissenschaftskultur in Polen als in Deutschland sprechen? Hatten Sie das Gefühl, dass alte Komplexe bzw. Verhaltensmuster weitergewirkt haben? Blieben Schieflagen und Asymmetrien bestehen oder entwickelten sich neue oder andere? Ja, das ist eine sehr gute Frage. Die Geschichtswissenschaftskulturen in Deutschland und Polen sind nicht nur in den 1990er Jahren, sondern auch zuvor und danach unterschiedlich gewesen. Besonders viel sagt hier ein Blick auf unterschiedliche Kulturen der Geschichtsdidaktik in beiden Ländern. So ist mir während meiner Arbeit im Rahmen des gemeinsamen Schulbuchprojektes nach 2012 aufgefallen, dass die für die deutsche Geschichtsdidaktik typischen Prinzipien der Multiperspektivität und Kontroversität in der polnischen Geschichtsdidaktik überhaupt nicht vertreten sind. Dagegen kommen Themen, die die Erinnerungskultur thematisieren, in polnischen Lehrwerken viel mehr zum Ausdruck. Das ist nur ein Beispiel, das die Differenzen im Geschichtsunterricht in beiden Ländern veranschaulicht. Aber nehmen wir auch die Sprache der wissenschaftlichen Monographien in Polen und Deutschland unter die Lupe: Die meisten deutschen wissenschaftlichen Werke aus dem Fach Geschichte wurden und werden in einer für deutsche Geschichtsschreibung typischen Metasprache verfasst, die sehr stark durch Philosophie, Rechtswissenschaften und Soziologie – also multidisziplinär – geprägt ist, während die klassischen polnischen Geschichtswerke über keine so 45

Tadeusz Mazowiecki (1927-2013).

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stark verwissenschaftliche Metasprache verfügen. Daraus entstehen manchmal Herausforderungen bei der Übersetzung besonders aus dem Deutschen ins Polnische, was ich als Herausgeber der Buchreihe „Klio w Niemczech“46 des DHI Warschau zwischen 2006 und 2010 erlebt habe. Außerdem gibt es Genres in der polnischen Geschichtswissenschaftskultur, die in der deutschen prinzipiell eher geringgeschätzt werden. Hier meine ich das in Polen populäre Genre des historischen Essays, esej historyczny, oder der sog. historischen Reportage, reportaż historyczny. Natürlich wurden die berühmten populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen von Stanisław CatMackiewicz oder Paweł Jasienica sehr oft von universitären Historikern herablassend betrachtet und scharf kritisiert.47 Zugleich zeigten sich deren Bücher sehr inspirierend für die Geschichtsdebatten, die man in den 1960er oder 70er Jahren in Polen geführt hatte. Bis heute ist es für Akademiker nobilitierend, in den populärwissenschaftlichen Zeitschriften wie „Mówią wieki“48, „Ale Historia“49 oder „Pomocnik Historyczny“50 ihre Essays zu veröffentlichen. Dazu kommen noch unterschiedliche Traditionen der akademischen Handbücher für Geschichte in Deutschland und der sogenannten syntezy historyczne51 in Polen. Erstere werden fast immer mit zahlreichen und ausgebauten Fußnoten versehen, was eher selten der Fall in den meisten polnischen syntezy historyczne ist. Dass habe ich als Mitautor des zweiten Bandes und Mitherausgeber des dritten Bandes des Handbuchs „Polen in der europäischen Geschichte“52 mehrmals erlebt, als wir die Texte der polnischen Autoren an die deutschen Normen anpassen mussten. Aber sogar der Aufbau von Beiträgen in Sammelbänden oder von Konferenzreferaten sind oft unterschiedlich strukturiert. Genauso sieht das mit der Struktur und dem Aufbau von Master- oder Semesterarbeiten der Studierenden im Fach Geschichte an polnischen und deutschen Universitäten aus. Diese Unterschiede sieht man übrigens nicht nur in Bezug auf polnische und deutsche akademische Geschichtswissenschaftskulturen, sondern auch zwischen Deutschland und Frankreich, wie Étienne François53 behauptet. 46 47 48 49 50 51 52

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Seit 1996 sind bislang 25 Bände in der Reihe erschienen. Stanisław Mackiewicz (1896-1966); Paweł Jasienica (1909-1970). 1958 gegründetes historisches Magazin. Wöchentliche Beilage zur „Gazeta Wyborcza“. Sonderhefte der Wochenzeitschrift „Polityka“, erscheinen seit 2006. Dt. Historische Synthesen. Müller, Michael G. u.a. (Hg.): Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden. Stuttgart. Bislang sind 2017 Band 2 (Bömelburg, Hans-Jürgen (Hg.): Frühe Neuzeit: 16. bis 18. Jahrhundert) und 2020 Band 3 (Müller, Michael G. u.a. (Hg.): Die polnischlitauischen Länder unter der Herrschaft der Teilungsmächte (1772/1795-1914)) erschienen. Étienne François (*1943).

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Last but not least muss man feststellen, dass relativ viele unter den bedeutendsten polnischen Mediävisten und Frühneuzeitlern seit den 1950er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts unter dem starken Einfluss der französischen Annales-Schule blieben.54 Ich würde behaupten, dass der Einfluss der Annales viel stärker in Polen als in Deutschland zu spüren war. Auch international betrachtet ist es kein Zufall, dass Immanuel Wallerstein in der Einführung zum ersten Band seines „Modern World System“55 in einem Atemzug die Forschungen von Fernand Braudel56 und Marian Małowist erwähnt. Die Inspirationen, die polnische Historiker aus der Annales-Schule geschöpft haben, führten auch zur Entstehung einer der wichtigsten Schulen in der polnischen Historiographie in der Nachkriegszeit, nämlich der historii kultury materialnej57. Natürlich haben sich nicht alle herausragenden polnischen Historiker mit den Leistungen der Annales-Schule begnügt. Zum Beispiel Benedykt Zientara suchte Inspirationen in der deutschen Historiographie und Antoni Mączak vor allem in den angelsächsischen Geschichtswissenschaften. Sie haben ja schon viele Beispiele für einzelne Persönlichkeiten genannt, die Sie beeinflusst haben. Haben Sie das damals so wahrgenommen, dass es vor allem eine Welt von Männern gewesen ist? Oder ist das eher eine rückwirkende Beobachtung? Naja, eine der herausragenden polnischen Historikerin der Frühen Neuzeit war natürlich Maria Bogucka58, die am Institut für Geschichte der Polnischen 54

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Gegründet 1929 von Marc Bloch (1886-1944) und Lucien Febvre (1878-1956) unter dem Namen „Annales d’histoire économique et sociale“, erschien nach mehreren vorherigen Modifikationen des Titels zwischen 1946 und 1993 als „Annales. Économies, Sociétés, Civilisations (Annales ESC)“, seit 1994 trägt die Zeitschrift den Titel „Annales. Histoire, Sciences sociales (Annales HSS)“. Zum erheblichen Einfluss der Annales-Schule auf Teile der Historiker*innen in der Volksrepublik Polen, auch gefördert durch die französische Kulturaußenpolitik vgl. Pleskot, Patryk: Intelektualni sąsiedzi. Kontakty historyków polskich ze środowiskiem ‚Annales‘ 1945-1989. Warszawa 2010. Immanuel Wallerstein (1930-2019) – ders.: The Modern World-System  I. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century. New York/London 1974, hier S. xi. Fernand Braudel (1902-1985). Dt. Geschichte der materiellen Kultur. Die Etablierung dieses Forschungsbereichs ging 1953 einher mit der Gründung eines eigenen Instituts, des Instytut Historii Kultury Materialnej, nach 1992 dann umbenannt in Instytut Archeologii i Etnologii Polskiej Akademii Nauk (Institut für Archäologie und Ethnologie der Polnischen Akademie der Wissenschaften) sowie der seit 1953 erscheinenden Zeitschrift „Kwartalnik Historii Kultury Materialnej“ („Vierteljahresschrift für Materielle Kultur“). Maria Bogucka (1929-2020).

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Akademie der Wissenschaften seit den 1950er Jahren bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts arbeitete. Zugleich habe ich relativ viele wichtige polnische Historikerinnen am Historischen Institut der Warschauer Universität getroffen bzw. aus ihren Veröffentlichungen als Student gelernt. Das war unter anderem die schon damals emeritierte Iza Bieżuńska-Małowist, die viele Generationen von polnischen Althistorikerinnen und Althistorikern erzog, unter anderen Ewa Wipszycka-Bravo, deren Proseminar ich Anfang der 1980er Jahre besuchte.59 Zur jüngeren Generation der Dozenten gehörte damals die Mediävistin Maria Koczerska60. Unter den Professorinnen war natürlich Maria Wawrykowa61 ganz prominent, die deutsche Geschichte der Neuzeit lehrte. Ich habe auch die Lehrveranstaltungen von Izabella Rusinowa zur US-Geschichte besucht und meine Freunde, die sich für die Geschichte Polens im 18. Jahrhundert interessierten, gingen in die Seminare von Zofia Zielińska, für die Geschichte des 19. Jahrhunderts gab es die Lehrveranstaltungen von Maria Nietyksza.62 Schon als Doktorand am IH PAN habe ich dann Anna Sucheni-Grabowska63 kennengelernt, die die Geschichte Polen-Litauens unter den letzten Jagiellonen erforschte und von jüngeren Historikerinnen und Historikern hoch geschätzt war. Später als Adjunkt am Historischen Institut der Warschauer Universität habe ich Anna Żarnowska64 persönlich kennengelernt, die als Pionierin der Gender Studies in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren in Polen galt. Nein, wenigstens in Warschau war damals die Geschichtswissenschaft keine nur von Männern dominierte Welt. Sie haben 2010 mit Blick auf die 1970er und 80er Jahre einmal in Anlehnung an Hans Henning Hahn von einem „Polen-Fanclub“ deutscher Historiker gesprochen.65 Ließe sich ähnliches auch umgekehrt für die polnische Seite konstatieren? Gab es so eine Art Deutschland-Fanclub polnischer Historikerinnen und Historiker? In Warschau würde ich zu diesem Deutschen-Fanclub der polnischen Historiker mit Blick auf die 1970er und 80er Jahre Maria Wawrykowa rechnen. Für manche kann es erstaunlich sein, wenn man ihre biographischen Erfahrungen 59 60 61 62 63 64 65

Iza Bieżuńska-Małowist (1917-1995); Ewa Wipszycka-Bravo (*1933). Maria Koczerska (*1944). Maria Wawrykowa (1925-2006). Izabella Rusinowa (*1942); Zofia Zielińska (*1944); Maria Nietyksza (1936-2017). Anna Sucheni-Grabowska (1920-2012). Anna Żarnowska (1931-2007). Hans Henning Hahn (*1947); Kąkolewski, Igor: Stand und Perspektiven der Erforschung der deutsch-polnischen Beziehungen, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin 4 (2010/2011), S. 171-174, hier S. 171f.

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berücksichtigt, denn sie war ein KL-Häftling in Auschwitz und Ravensbrück. In den 1970er und 80er Jahren war sie dann Mitglied des DPSK-Präsidiums. Ich würde sagen, dass die im Jahre 1972 gegründete DPSK ein Milieu war, aus dem die Mitglieder dieses polnischen Deutschland-Historikerfanclubs stammten, wie Jerzy Holzer66, der übrigens auch in seiner Kindheit als jüdischer Pole von der NS-Besatzung betroffen war. Er unterstützte die Idee der Vereinigung Deutschlands als eine für Polen günstige Lösung schon in den frühen 1980er Jahren. Auch nach der Wende 1989 würde ich generell die Mitglieder dieses polnischen Deutschland-Fanclubs unter den Historikern vor allem in den Reihen der DPSK suchen, so zum Beispiel Włodzimierz Borodziej67, der als junger Dozent zu meinem akademischen Lehrer in Warschau zählte. Etwas später hat er mich auf Stanisław Stomma68 und seine damals völlig neue Einschätzung der polnisch-deutschen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert aufmerksam gemacht. Ich glaube, dass Stommas Buch „Czy fatalizm wrogości?“69 sich als wegweisend für viele Personen erwies, die zu diesem informellen polnischen Deutschland-Fanclub gehörten. Natürlich zählen neben Leuten wie Kazimierz Wóycicki und Waldemar Czachur auch solche prominenten Posener Intellektuellen wie Anna Wolff-Powęska dazu, trotz aller schwieriger Kriegserfahrungen in ihrem Leben, oder Hubert Orłowski, der übrigens aus dem Ermland stammt und mit dem Kulturverein „Borussia“ in Allenstein verbunden ist.70 Auch dessen Gründungsväter Robert Traba und Kazimierz Brakoniecki muss man nennen. Brakonieckis Buch „Polak, Niemiec i Pan Bóg“71, gehört – wie Kazik Wóycicki sagt – zu den Pflichtlektüren für diejenigen, die die polnisch-deutschen Beziehungen nach 1945, das Phänomen der polnisch-deutschen Annäherung eingeschlossen, zu verstehen versuchen.

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Jerzy Holzer (1930-2015). Włodzimierz Borodziej (*1956). Stanisław Stomma (1908-2005). Ders.: Czy fatalizm wrogości? Refleksje o stosunkach polsko-niemieckich 1871-1933. Kraków 2008. Kazimierz Wóycicki (*1949); Waldemar Czachur (*1977); Anna Wolff-Powęska (*1941). Wspólnota Kulturowa Borussia (Kulturgemeinschaft Borussia), gegründet 1990 in Allenstein/Olsztyn. Verein und Verlag, der sich in der masurisch-ermländischen Regionalgeschichte und Kultur engagiert, u.a. mit wissenschaftlichen und denkmalschützerischen Aktivitäten sowie in der Jugendarbeit. Der Verein hat zwischen 1991-2017 die gleichnamige Zeitschrift „Borussia“ herausgegeben. Vgl. auch Chromiec, Elżbieta: Dialog międzykulturowy w działalności polskich organizacji pozarządowych okresu transformacji systemowej. Wrocław 2011, S. 109-111, 117-130, 145-153. Kazimierz Brakoniecki (*1952) – ders.: Polak, Niemiec i Pan Bóg. Olsztyńskie szkice osobiste. Olsztyn 2009.

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Nun stellt sich die Frage, was diese Mitglieder des polnischen DeutschlandFanclubs, die zu verschiedenen Generationen gehören, verband und verbindet? Ihre persönlichen Erfahrungen mit Deutschland, deutscher Kultur und Sprache sowie ihre Stellungnahme zu konkreten politischen Fragen in Bezug auf die polnisch-deutschen Beziehungen bleiben oft unterschiedlich. Vielleicht eine Erklärung, wenigstens teilweise, bietet das Konzept der Beziehungsgeschichte von Klaus Zernack: Die Geschichte unseres Nachbarlandes lässt uns als Gemeinschaft besser unsere eigene Vergangenheit verstehen und dadurch wird sie auch Teil unserer eigenen kollektiven Identität. Man kann dies wohl auf Lebensgeschichten und Identitäten der Einzelnen transponieren: Sogar wenn ein Teil meiner Vergangenheit auch mit meinen persönlichen oder familiären Traumata zusammenhängt, kann ich aufgrund meiner Empathie gegenüber meinen deutschen Nachbarn und ihrer Geschichte mich selber besser verstehen und meine eigene Identität als Pole, Europäer und Mensch genauer definieren. Dazu kommt noch etwas, was die Mitglieder des polnisch-deutschen Fanclubs sowohl in Deutschland als in Polen verbindet. Es ist nämlich eine gewisse Dosis Nonkonformismus. Am Anfang unseres Gesprächs habe ich meine eigene „Trotzigkeit“ erwähnt, in dem ich die durch Sienkiewicz geprägte traditionellen polnischen Klischees der Krzyżacy, also die polnische schwarze Legende des Deutschen Ordens, dekonstruieren wollte. Aber um dies zu erreichen, muss man erstmal die deutsche weiße Legende der Deutschordensritter analysieren und sie als ein geschichtliches Phänomen multiperspektivisch begreifen. Um das umzusetzen, muss man in sich selbst eine gewisse Empathie für diejenigen wecken, die sowohl die schwarze als auch die weiße Legende des Deutschen Ordens geschaffen oder mitgestaltet haben. In diesem Sinne kann man die Mitglieder des polnisch-deutschen Fanclubs als „emphatische Nonkonformisten“ bezeichnen. Wie positionieren Sie sich vor diesem Hintergrund zur Polemik des „Versöhnungskitsches“72? Die 1990er Jahre waren natürlich durch das Phänomen der polnischdeutschen Versöhnung auf vielen Ebenen gekennzeichnet. Für die Politik 72

1994 von dem in Polen lebenden deutschen Journalisten Klaus Bachmann (*1963) ausgelöste Debatte darüber, ob die fortwährenden Reden über Versöhnung in ihrer Oberflächlichkeit der Komplexität der deutsch-polnischen Beziehungen nicht gerecht werden. Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muss von Polen ausgehen, in: taz vom 5. August 1994, S.  12; Hahn, Hans Henning/Hein-Kircher, Heidi/Kochanowska-Nieborak, Anna (Hg.): Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch. Marburg 2008.

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des großen Wandels in den polnisch-deutschen Beziehungen waren sowohl die symbolische Geste, nämlich die berühmte Umarmung von Kohl73 und Mazowiecki in Kreisau 1989 während der sogenannten Versöhnungsmesse, von großer Bedeutung als auch der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag74 1991 und später diplomatische Besuche auf der obersten Ebene, die eine politischsymbolische Dimension hatten, vor allem der Besuch des Bundespräsidenten Johannes Rau75 in Danzig 1999 zum 60. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges. Aber vielleicht war für die polnisch-deutsche Versöhnung viel wichtiger, was sich damals auf unteren gesellschaftlichen Ebenen und in den Regionen abspielte, die ehemalige deutsche Gebiete, also die sogenannten ziemie odzyskane76, umfassen. Da kann man – neben so etwas wie Robert Trabas „Borussia“ – zahlreiche lokale Initiativen und NGOs nennen, die sich etwa um deutsche Gräber oder Denkmale kümmerten oder sich intensiv mit der regionalen oder lokalen Geschichte der deutschen Territorien befassten, die nach 1945 Polen angeschlossen wurden. Sie wollten sich das deutsche Erbe als Teil ihres eigenen multikulturellen Erbes aneignen. Immer wenn ich die Stimmen über den polnisch-deutschen „Versöhnungskitsch“ Anfang des 21. Jahrhunderts gehört habe, waren für mich die Besuche in der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung77 erfrischend. Dort habe ich nicht nur Schüler und junge Aktivisten oder Lehrer und Studierende aus Polen und Deutschland getroffen, die über die schwierigen Kapitel der polnisch-deutschen Geschichte diskutieren wollten, sondern auch Jugendliche und Studierende aus anderen Ländern, zum Beispiel aus der Ukraine oder vom Westbalkan, die gemeinsam mit den polnischen und deutschen 73 74

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Helmut Kohl (1930-2017). Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November 1990 & über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Vgl. Góralski, Witold  M. (Hg.): Historischer Umbruch und Herausforderung für die Zukunft. Der deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und Freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Ein Rückblick nach zwei Jahrzehnten. Warschau 2011; Barcz, Jan/ Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Akt historyczny. 30 lat Traktatu o potwierdzeniu granicy polsko-niemieckie na Odrze i Nysie Łużyckiej. Wrocław/Warszawa 2021. Johannes Rau (1931-2006). Dt. Wiedergewonnene Gebiete. Die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung/Fundacja Krzyżowa dla Porozumienia Europejskiego auf dem ehemaligen Gut der Familie von Moltke in Kreisau/Krzyżowa in Niederschlesien wurde 1990 gegründet, die dortige Jugendbegegnungsstätte entstand 1998. Vgl. Franke, Annemarie: Das neue Kreisau. Die Entstehungsgeschichte der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung 1989-1998. Augsburg 2017.

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Teilnehmern dieselben Veranstaltungen besuchten. Für diese jungen Leute ist die polnisch-deutsche Versöhnung – genauso wie es für Polen und Deutschen in den 1990er Jahren die französisch-deutsche Versöhnung war – ein Muster, auf das sie sich immer im Kontext der schwierigen Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine oder Russland oder zwischen den Ländern des ehemaligen Jugoslawien beziehen können. In diesem Sinne ist die Bezeichnung „polnisch-deutscher Versöhnungskitsch“ völlig irrelevant. Ziel jeder Versöhnung sind gute nachbarliche Beziehungen und man muss sich immer, in jeder Generation neu, darum kümmern, sie aufrechtzuerhalten. Nun vielleicht eine ganz andere Frage, die praktische Dinge angeht. Haben Sie in den 1990er Jahren vielleicht Unterschiede in der praktischen Arbeit, in Archiven und Bibliotheken, zwischen Deutschland und Polen empfunden? Als ich das erste Mal 1993 nach Berlin kam, um meine Archivrecherchen durchzuführen, konnte ich im Geheimen Staatsarchiv in Dahlem die ausgeliehenen Archivalien auf meinem Arbeitstisch mehrere Tage beibehalten, ohne sie an jedem Tag nach Schluss meiner Arbeit im Magazin aufzuheben oder zurückgeben müssen. Das war für mich eine nette Überraschung. In Polen wäre so etwas nicht denkbar gewesen. Im Laufe der nächsten paar Jahre wurden die Vorschriften in Dahlem strenger, aber die Arbeitsatmosphäre blieb trotzdem sehr angenehm. Ich war ganz positiv durch die Hilfsbereitschaft und freundliche Einstellung der Archivare dort beeindruckt. Das war auch damals in Polen anders. Und letztlich war ich erstaunt, oder sogar neidisch darauf, wie viele Forscher im Lesesaal schon damals Laptops benutzten. Aber Ende der 1990er Jahre glichen sich die Arbeitsbedingungen in den Archiven, wenigstens in Berlin und Warschau, immer mehr an. Haben Sie in den 1990er Jahren denn auch bereits transnationalen methodischen Austausch feststellen können? Sie haben ja schon einige Ansatzpunkte angesprochen. Haben Sie eine zentrale methodische Inspiration aus den 1990er Jahren mitgenommen? Ich habe schon mehrmals den großen Namen erwähnt: Klaus Zernack. Das ist kein Zufall, dass der Gründungsvater des CBH PAN in Berlin, Robert Traba, sich entschloss, die wichtigste regelmäßige Veranstaltung am CBH „Klaus Zernack Colloquium“ zu nennen. Zernacks Konzept der Beziehungsgeschichte erwies sich fruchtbar und inspirierend nicht nur für die Entwicklung anderer Konzepte (Verflechtungsgeschichte), die einen wichtigen Beitrag zur internationalen Geschichtsforschung leisteten, sondern auch

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für die polnisch-deutsche vergleichende Geschichtswissenschaft sowie gemeinsame Projekte, die in den ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts umgesetzt worden sind. Daher ist es wichtig zu erwähnen, dass die polnische Übersetzung von Zernacks Hauptwerk „Polen und Russland“ 2000 in Warschau erschien.78 In diesem Zusammenhang muss man auf etwas spätere Projekte verweisen, die das Konzept der Beziehungsgeschichte in Anspruch genommen haben und die für mich, auch wegen meines persönlichen Engagements, wichtig sind: Erstens das Projekt der erwähnten Handbuchreihe „Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden“, die um 2004 initiiert wurde. Zweitens bleibt unter dem Einfluss des Beziehungsgeschichte-Konzepts auch das Projekt des gemeinsamen polnisch-deutschen Schulbuches, das von der DPSK seit 2008 mitgestaltet wird.79 Eine enorme Wirkung auf dessen Inhalte hatten die Experten aus der Zernack-Schule. Die Schulbuchreihe soll man als Versuch einer binationalen Geschichte im breiteren Rahmen der Weltgeschichte sehen. Was stellen wir aber nun fest, wenn wir uns anschauen, was sich eigentlich in der polnischen Historiographie in den 1990er Jahren geändert hat und inwiefern es durch einen transnationalen, methodischen Austausch bedingt war? Das wichtigste damals war für mich die Entstehung einer neuen Definition der „polnischen Geschichte“ (dzieje Polski) im Rahmen der neuen „revisionistischen Tendenzen“, wie es Rafał Stobiecki in seinen neueren Veröffentlichungen nennt,80 die sich in der polnischen Historiographie der ersten zwei Dekaden der Transformationsperiode durchsetzen. Dies geht vor allem auf den Krakauer Doyen der polnischen Geschichtsschreibung Józef Andrzej Gierowski zurück, der sich im Jahr 1994 gegen die Geschichte der Rzeczpospolita aus ausschließlich „polonozentrischer“ Perspektive ausgesprochen hatte und forderte, die vormoderne Geschichte des Polnisch-Litauischen Unionstaates als Geschichte einer Koexistenz vieler Nationen und nicht der Dominanz einer (d.h. der polnischen) Nation zu betrachten.81 Es scheint, dass dieser Ansatz sich in vielen in den 1990er Jahren und bald darauf verfassten Handbüchern zur Geschichte Polens, auch die sich auf spätere Zeitperioden beziehen, 78 79 80 81

Zernack, Klaus: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin 1994; poln. Ausgabe: Polska i Rosja. Dwie drogi w dziejach Europy. Warszawa 2000. Europa – Unsere Geschichte. Bde.  1-4. Wiesbaden 2016-2020; poln. Ausgabe: Europa. Nasza historia. Tom 1-4. Warszawa 2017-2020. Rafał Stobiecki (*1962) – ders.: Różne oblicza historycznego rewizjonizmu, in: Sensus Historiae 19 (2015) 2, S. 17-37. Józef Gierowski (1922-2006) – ders.: O nowe ujęcie dziejów Rzeczypospolitej. In: Acta Universitatis Wratislaviensis. Historia 96 (1994), S. 7-14.

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durchgesetzt hat. Dazu haben vor allem bedeutsam zwei polnische Exilhistoriker in den USA, Andrzej Sulima Kamiński von der Georgetown University und Piotr Stefan Wandycz aus Yale, beigetragen.82 Die beiden bewegten sich in den Kreisen der internationalen scientific community schon seit den 1960er Jahren, hatten gute Kontakte u.a. mit ukrainischen Exilhistorikern, aber wurden auch von der sog. ULB-Doktrin83 von Jerzy Giedroyc84 beeinflusst. Also kurz und bündig: Ohne die Geschichte aber auch Erinnerungskulturen unserer Nachbarn zu berücksichtigen, können wir die eigene Geschichte und überhaupt uns selbst nicht verstehen. Das klingt schon sehr nach Zernacks Beziehungsgeschichte.85 Für mich ist aber noch eine weitere Tendenz des „Revisionismus“, um diesen Begriff nach Stobiecki zu verwenden, in der polnischen Geschichtsschreibung nach 1989 bedeutend. Es geht mir um einen Umbruch im historischen Narrativ, in dem die Dichotomie „Unsere – Fremde“ (swoi – obcy) allmählich durch eine offenere und nuanciertere Stellung ersetzt wird, indem der Beitrag der „Anderen“ oder „Fremden“ zur Entwicklung der polnischen Kultur oder Wirtschaft positiv eingeschätzt wird. Daher, so auch Stobiecki,86 erfolgte in Polen nach 1989 eine echte Veröffentlichungsflut an Monographien zur Geschichte der polnisch-deutschen, polnisch-ukrainischen, polnischjüdischen oder polnisch-russischen Beziehungen. In diesem Zusammenhang waren für mich vor allem die Forschungen und Veröffentlichungen aus den 1990er Jahren zu deutsch-polnischen Stereotypen von Tomasz Szarota87 und Hubert Orłowski bahnbrechend, besonders die meisterhafte Monographie 82 83

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Piotr Wandycz (1923-2017); Andrzej Sulima Kamiński (*1935). ULB = Ukraine, Litauen, Belarus. Bei der sogenannten Doktrin handelt es sich um ein von Jerzy Giedroyc (1906-2000) und Juliusz Mieroszewski (1906-1976) im Exil entwickeltes und propagiertes außenpolitisches Konzept, das sich für die europäische Integration Polens und seine engen nachbarschaftlichen Beziehungen zu seinen drei östlichen Nachbarländern einsetzte. Vgl. Urbańczyk, Michał: Idea ULB (Ukraina-Litwa-Białoruś) w myśli Jerzego Giedroycia i Juliusza Mieroszewskiego, in: Paweł Fiktus/Henryk Malewski/Maciej Marszał (Hg.): Rodzinna Europa. Europejska myśl polityczno-prawna u progu XXI wieku. Wrocław 2015, S. 309-322. Jerzy Giedroyc (1906-2000). Zernack, Klaus: Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Ders./Wolfgang  H.  Fritze (Hg.): Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Berlin 1976, S. 3-46. Stobiecki, Różne oblicza, S. 24. Thomas Szarota (*1940) – ders.: Niemcy i Polacy. Wzajemne postrzeganie i stereotypy. Warszawa 1996.

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zur „Polnischen Wirtschaft“,88 die ich parallel zu Arbeiten von Hans Henning Hahn auf der deutschen Seite las. Unter dem Einfluss dieser Lektüren habe ich mir erste Gedanken über die Rolle der Stereotypen, aber auch der Strukturen und Nachhaltigkeit solch eines historischen Narrativs gemacht. Gerade diese Forschungen zu polnisch-deutschen Stereotypen aus den 1990er Jahren zeigen deutlich einen transnational-methodischen Austausch und waren auch auf mehr oder weniger direkte Weise inspirierend für weitere polnisch-deutsche Projekte, vor allem für die „Polnisch-Deutschen Erinnerungsorte“.89 Diese „revisionistische Tendenz“ hat auch zur Überwindung der alten Klischees, wie z.B. über „Tausend Jahre der polnisch-deutschen Konflikten“ beigetragen. Ein gutes Beispiel dafür ist die populärwissenschaftliche Buchreihe „A to Polska właśnie“90 vom Wydawnictwo Dolnośląskie. Für mich war daraus das Buch „Niemcy w Polsce“ von Marek Zybura besonders wichtig,91 in dem der positive Beitrag der Deutschen zur polnischen Kultur seit dem Mittelalter bis in die Moderne geschildert wurde. In diesem Zusammenhang muss man auch etwa spätere wertvolle wissenschaftliche Monographien des Willy Brandt Zentrums in Breslau unter der Leitung von Krzysztof Ruchniewicz92, erwähnen, die ein neues Narrativ bieten, in dem die gegenseitigen polnischdeutschen kulturellen Transfers zum Vorschein kommen. Sie haben vor zehn Jahren relativ optimistisch konstatiert: „Je besser es ist, desto mehr gibt es zu tun.“93 Würden Sie das heutzutage so wiederholen? Auch wenn Historiker vielleicht keine guten Prognostiker sind: Welche Vorhersage würden Sie für die Situation der geschichtswissenschaftlichen Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 treffen? Trotz der Behauptung mangelnder Prognosefähigkeit wird immer von Historikern erwartet, dass sie als Propheten auftreten. Das sieht man auch 88 89

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Orłowski, Hubert: „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden 1996; poln.: „Polnische Wirtschaft“. Nowoczesny niemiecki dyskurs o Polsce. Olsztyn 1998. Zwischen 2006 und 2015 unter Federführung des CBH PAN Berlin nach französischem Vorbild, aber bald darüber hinausgehend, durchgeführtes Forschungsprojekt zur Geschichte zweiten Grades mit transnationalem Fokus. Vgl. Hahn, Hans Henning/Traba, Robert (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. 5 Bde. Paderborn 2012-2015; poln. Ausgabe: Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Tom  1-4. Warszawa 2012-2015; dies. (Hg.): 20 deutsch-polnische Erinnerungsorte. Paderborn 2017. Dt. „Das ist Polen“. Die Reihe wurde in den Jahren 1995 bis 2010 herausgegeben. Marek Zybura (*1958) – ders.: Niemcy w Polsce. Wrocław 2001. Krzysztof Ruchniewicz (*1967). Kąkolewski, Stand und Perspektiven, S. 171.

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deutlich in „The History Manifesto“ von Jo Guldi und David Armitage.94 Im Kontext der populistischen und autoritären Tendenzen der letzten Jahre haben auch viele Historiker die Vergleiche zwischen der Krise der Demokratie der 1930er Jahre und der aktuellen Lage gemacht. Auch am Anfang der CoronaKrise wurden etlichen anerkannten Historikern Fragen nach ähnlichen von Seuchen ausgelösten Krisen in der Vergangenheit gestellt und zwar in der Hoffnung, dass sie prognosefähig seien. Aber im Großen und Ganzen bin ich damit einverstanden, dass Historiker nicht prognosefähig sind. Deswegen würde ich nur ganz kurz meine drei Wünsche für die Zukunft der geschichtswissenschaftlichen Landschaften in Deutschland, Polen und Europa äußern wollen: Erstens würde ich mir wünschen, dass das polnisch-deutsche Geschichtsschulbuch „Europa – Unsere Geschichte“ zur Debatte beitragen wird, wie man den Geschichtsunterricht im „Klassenraum-Europa“ in der Zukunft gestalten soll. Vielleicht könnte man daraus auch Inspiration für die Idee eines binationalen Museums schöpfen? Warum soll man in der heutigen EU entweder Museen für europäische Geschichte oder Museen für nationale Geschichten gründen und nicht auch binationale Museen? Es wäre wunderbar, wenn wir einmal in der Zukunft ein gemeinsames „Museum für PolnischDeutsche Geschichte“ z.B. in Frankfurt an der Oder gründen könnten. Zweitens, dass wir das Projekt der Buchreihe „Polen in der europäischen Geschichte. Ein Handbuch in vier Bänden“ erfolgreich zu Ende bringen und dass dieses Werk für die Geschichtswissenschaft in Polen, Deutschland aber auch anderen europäischen Ländern inspirierend wird, u.a. in Bezug auf die Debatte über die inneren Grenzräume und historisch-kulturellen Einteilungen Europas. Drittens, dass das CBH PAN in Berlin und das DHI Warschau ein Teil eines neuen institutionellen Netzwerkes werden und zwar der transnationalen Europäischen Zentren für Geschichte. Natürlich geht es mir nicht nur um diese zwei wissenschaftlichen Einrichtungen, sondern vielmehr um einen Denkanstoß, unsere transnationalen Debatten innerhalb der EU und überhaupt in Europa durch eine transnationale institutionelle Struktur stärker zu fördern – trotz aller Widrigkeiten, die wir momentan erleben!

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Jo(anna) Guldi (*1978); David Armitage (*1965) – dies.: The History Manifesto. Cambridge 2014.

Abb. 9.1 1991 oder 1992 in privatem Zusammenhang. Foto: privat.

Norbert Kersken (*1955) hat mittelalterliche, osteuropäische Geschichte und Slavistik in Münster studiert und wurde dort 1993 promoviert. Er war u.a. 1983-1987 wiss. Mitarbeiter im Glossar zur frühmittelalterlichen Geschichte im östlichen Europa und 1993-1995 am Forschungsschwerpunkt Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas. Von 1996 bis 2021 war er wiss. Mitarbeiter im Herder-Institut Marburg und war 2010-2013 in eben dieser Funktion am DHI Warschau. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des östlichen Mitteleuropa im Mittelalter und die Geschichte von Geschichtsschreibung und -denken in der Vormoderne.

„Es gab und gibt dauerhaft gewissermaßen eine disziplinäre Inkongruenz“ Norbert Kersken Wenn man in Münster studiert, wie kommt man dort zu Osteuropa und zu Polen? Münster ist meiner Wahrnehmung nach zu meiner Zeit (das ist der Blick seit der Mitte der 1970er Jahre) und im Grunde seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einige Jahrzehnte ein Zentrum der universitär betriebenen Osteuropäischen Geschichte gewesen. Die Osteuropäische Geschichte war organisiert als eine Abteilung innerhalb des Historischen Seminars, sie war also kein eigenes (Ost)Institut, wie es angesichts von entsprechenden Bezügen etwa in den Philologien (Slavistik), in der Kirchengeschichte und Philosophie, denkbar gewesen wäre. Für Studienanfänger war damit praktisch der Zugang zu osteuropäischen Themen vom ersten Semester an offen. Ich erinnere mich noch daran, dass auch der Vertreter der Osteuropäischen Geschichte sein Fach und sein Thema vorstellte. Ich gebe zu, dass ich einfach aus dem Grund schon im ersten Semester mit der Osteuropäischen Geschichte in Berührung gekommen bin, weil ich zu dem, was da als Proseminarthema vorgestellt wurde, überhaupt keine Anknüpfungspunkte und Bezugspunkte hatte, so dass mir alles neu war und mir für das erste Semester der größte Lerneffekt versprochen schien. Ich bin dann also 1974 in dieses erste Proseminar zur mittelalterlichen Geschichte gegangen. Man hatte mir vorher von der Fachschaft gesagt, es wäre empfehlenswert, mit dem Mittelalter zu beginnen, weil man da am besten mit dem Handwerkszeug und den Grundkenntnissen des historischen Arbeitens vertraut gemacht würde. Thematisch ging es im ersten Semester um die Sozialgeschichte Livlands im Mittelalter. Die Abteilung für Osteuropäische Geschichte hatte eine große Seminarbibliothek, die getrennt aufgestellt war, erkennbar an Sondersignaturen. Wie ich später erfahren habe wurde das Fach dort seit den späten 1940er Jahren vertreten, zunächst durch Herbert Ludat und dann, von 1956 bis 1978 durch Manfred Hellmann, bei dem ich dann auch noch studiert habe.1 Münster war für Osteuropa meiner Wahrnehmung nach auch grundsätzlich ein wichtiger Studien- und Forschungsort. In seiner Ausrichtung, im Verständnis des östlichen Europa war man nicht so stark auf Russland bezogen, wie das in einigen anderen Studienorten üblich war. In Münster 1 Herbert Ludat (1910-1993); Manfred Hellmann (1912-1992).

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etwa, auch in Gießen hatten die Osteuropalehrstühle bzw. deren Inhaber ein starkes Interesse am östlichen Mitteleuropa, mit Polen als Schwerpunkt. Dieter Wojtecki2 war als Akademischer Oberrat tätig und bot Themen zur Geschichte der böhmischen und polnischen Länder und auch zur livländischen Geschichte an. Hellmann selbst hat die Ordensgeschichte, aber auch polnische Geschichte behandelt, dann natürlich viel russische Geschichte. Also, Polen, Russland, Baltikum, das preußische Ordensland, das waren die Dinge, die man dort angeboten bekam. Hellmann hatte zusammen mit Ludat seit den frühen 1960ern ein später von der DFG gefördertes Projekt initiiert, das „Glossar zur frühmittelalterlichen Geschichte im östlichen Europa“. Nach dem Grundstudium habe ich dort als Hilfskraft mitgearbeitet. Das Ziel, das Hellmann und Ludat sich damals gestellt hatten, war, die gesamte ältestes schriftliche Überlieferung zum östlichen Europa systematisch zu erfassen und das Namenmaterial (Personen, Völker, geographische Namen) in Artikeln zu sammeln. Die lateinische Überlieferung ist dann auch für die ersten Buchstaben des Alphabets publiziert worden.3 Es gab da noch eine Abteilung für die griechische Überlieferung, die byzantinische Überlieferung und die slavische Überlieferung sollte auch erfasst werden. Das ist aber aus den Anfängen nicht herausgekommen. In diesem Kontext, in einem Team mit zwei wissenschaftlichen Mitarbeitern und mehreren schon fortgeschrittenen oder examinierten Studenten, lernt man sehr viel über die intensive Lektüre lateinischer Texte, über die Art, wie man exzerpiert, wie man Texte zusammenfasst und wie die Überlieferung historisch einzuordnen ist. Das war während meiner ganzen Studienzeit mein Hintergrund und auch meine finanzielle Basis des Studiums. Das hat mich auch langfristig geprägt hat in der Arbeit im Blick auf die Quellen und das Interesse für die mittelalterliche Geschichtsschreibung. Wir springen nun an den Anfang der 1990er Jahre, als Sie nach Berlin gegangen sind. Der Kontext war dort ein ganz anderer, wenn man an die Abwicklung oder Auflösung der DDR-Akademie denkt. Wie haben Sie den dortigen ostmitteleuropäischen Kontext sowohl in Hinblick auf die Menschen, die da gearbeitet haben, als auch hinsichtlich der Themen wahrgenommen?

2 Dieter Wojtecki (*1937). 3 Kämpfer, Frank/Ferluga, Jadran (Hg.): Glossar zur frühmittelalterlichen Geschichte im östlichen Europa. Ser. A: Lateinische Namen bis 900. Bde. 1-3. Wiesbaden 1973-1989.

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Das war damals der Forschungsschwerpunkt Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas4, der 1992 aufgrund der Wissenschaftsrats-Empfehlung aus der Aufnahme von positiv evaluierten Projekten und Forschern der Akademie der Wissenschaften entstanden war und zu denen dann westliche Wissenschaftler hinzugeworben wurden. Da wurden Projekte entwickelt, Arbeitsgruppen zusammengestellt, das war für alle Beteiligten eine sehr belebende oder anregende Konstellation. Man hat also mit ganz unterschiedlichen Projekten, Personen, wissenschaftlichen Erfahrungen Kontakt bekommen. Es gab dort neue Projekte und Projekte, die Themen und Arbeitsweisen fortsetzten, die mit der Abwicklung der DDR-Forschung unterzugehen drohten. Die Interdisziplinarität dort in Berlin war sehr spannend, das Zusammenwirken mit sprach- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen, mit archäologischen, landesgeschichtlichen, siedlungsgeschichtlichen Methoden, mit der Adelsforschung. Es gab auch die ganze Breite der historischen Forschung vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert und zur Zeitgeschichte. Es gab regelmäßig Institutsvorträge und internationale Fachtagungen, die von den einzelnen Arbeitsgruppen organisiert worden waren. Manches war aber schwer umzusetzen, weil für einige Wissenschaftler im Grunde Auslaufverträge organisiert wurden oder Abschlussbeschäftigungen. Das zeigte sich auch an diesem Gebäude am Potsdamer Platz, in dem der Schwerpunkt untergebracht war. Zu Beginn des Jahres 1996 wurde der Arbeitsbereich auf neuer Grundlage nach Leipzig transferiert, wurde zum GWZO. Für die deutsche Ostmitteleuropaforschung bedeutete diese Berlin-Leipziger Zentrumsgründung ein enormes Innovationspotential. Wenn Sie noch einmal an Ihre persönlichen Eindrücke und Erfahrungen an die Jahre 1989 und 1990 denken: Hat sich da rückblickend etwas Entscheidendes verändert oder würden Sie eventuell andere frühere oder auch spätere Zäsuren setzen? Um 1989/90 hat sich natürlich auch in der Geschichtswissenschaft, die auf das östliche Europa blickt, erheblich etwas verändert. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sich die Rahmenbedingungen, die politische Realität verändert hatten. Beschränkungen und Erschwernisse in den wissenschaftlichen 4 Der 1992 eingerichtete Forschungsschwerpunkt „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“, der in Teilen an die Aktivitäten der Akademie der Wissenschaften der DDR anknüpfte, war der Vorgänger des 1996 in Leipzig gegründeten Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas. Seit 2017 firmiert das Institut unter dem Namen Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO).

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Kontakten waren aufgehoben. Dementsprechend konnte auch im wissenschaftlichen Austausch vieles neu gestaltet werden. Es war vor allen Dingen aus der deutschen Sicht durch die Zusammenführung von DDR-Forschung und bundesrepublikanischer Forschung ein Neuanfang. Das Zäsurdatum der politischen Geschichte hatte auch für die außeruniversitäre Osteuropaforschung große Bedeutung. So wurde das Institut, in dem ich dann lange tätig war, das Herder-Institut5, nach einer Evaluierungsempfehlung von 1992 dann 1994/95 vom Herder-Forschungsrat6 gelöst und neu gegründet. Ferner sind in diesem Zeitraum neue Institute hinzugekommen. Dazu gehört das schon genannte GWZO. Das DHI in Warschau wurde wenig später gegründet7. Also die frühen 1990er Jahre wurden, meine ich, durch diese außeruniversitären Impulse und Neuorientierungen geprägt, die sich jeweils in Kontakt mit universitären Entwicklungen abspielten. Dadurch kam viel an neuen Forschungsmöglichkeiten, Forschungsprogrammen hinzu, die vorher nicht bestanden haben. Es war also eine Fülle von Angeboten für jüngere Wissenschaftler da, sich zu beteiligen oder Fuß zu fassen, auf Stellen, die vorher nicht da waren. Haben Sie das auch zeitgenössisch auf persönlicher Ebene als Zäsur wahrgenommen? Oder haben Sie das eher als eine Kontinuität der Bundesrepublik erlebt, in der die Forschung zu Osteuropa und der Kontakt zu den dortigen Kolleginnen und Kollegen vielleicht ein wenig einfacher möglich war? Ich denke, alle haben gesehen, dass sich da etwas Neues entwickelt. Es war jedenfalls kein normaler Fortgang, auch für mich im wissenschaftlichen Umfeld. Man sah die Einladungen, die Anzeigen und die Hinweise auf neue 5 Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft und trägt seit 2012 seinen heutigen Namen. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53980.html (02.06.2015). 6 Gegründet 1950 in Marburg, bis zur Umstrukturierung 1994 Trägerverein des HerderInstituts, danach eigenständige wissenschaftlich tätige Vereinigung. Vgl. Weber, Matthias: Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53981.html (17.07.2013). 7 Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl.  25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018.

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Stellen und Projekte. Das war bei der Arbeit im Forschungsschwerpunkt in Berlin der Fall, beim Herder-Institut wurden Stellen ausgeschrieben, beim DHI in Warschau war es der Fall. Die Neuanstöße im wissenschaftlichen Bereich waren deutlich sichtbar. Den politischen Wandel haben Sie schon angesprochen. Wie hat sich nach Ihrem Eindruck die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaft ausgewirkt und in welcher Form haben Historikerinnen und Historiker eventuell auf die Politik eingewirkt? Kam der Geschichtswissenschaft in Polen und in Deutschland überhaupt noch die Rolle einer Leitwissenschaft zu? Man muss vielleicht unterscheiden zwischen der Geschichtswissenschaft allgemein und ihren Bereichen, die auf Osteuropa ausgerichtet sind. Ich erinnere mich zum Beispiel an den Bochumer Historikertag 1990.8 Da habe ich das so wahrgenommen, dass da ein sehr großes Engagement, aber auch eine große Unsicherheit war, wie man mit der DDR-Geschichtswissenschaft verfahren soll. Die Aufregung und die Beteiligung waren immens bei den Personen, die ich als Wortführer wahrgenommen habe, aber es war auch alles sehr unsicher, und ich spürte, dass da manche Beiträge ungeschickt oder „unfertig“ vorgetragen wurden. Im Grunde ist, meiner Ansicht nach, eine widersprüchliche Situation mit Blick auf die Osteuropäische Geschichte eingetreten. Es waren zum einen viele neue Möglichkeiten, neue Ideen, Projekte, an denen man jetzt mitarbeiten konnte. Auf der anderen Seite wurde aber schon in den 1990er Jahren spürbar, dass das Interesse an Ostmitteleuropa gegenüber der Situation in den 1970/80er Jahren (in Reaktion auf die neue Ostpolitik, auf Solidarność9) abnahm. In der universitären Landschaft wurden Stellen abgebaut, auch in der Slavistik war der Zuspruch geringer. Vieles von dem verschwand, was es vielleicht auch für junge Leute reizvoll gemacht hatte, sich mit dem schwierigen, unübersichtlichen Raum des östlichen Europa zu beschäftigen. Das hat meiner Ansicht nach dazu geführt, dass die universitären Ausstattungen und Angebote allmählich zurückgingen.

8 Schmale, Wolfgang (Hg.): Bericht über die 38. Versammlung Deutscher Historiker in Bochum, 26. bis 29. September 1990. Stuttgart 1991. 9 Zwischen August  1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999.

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Wenn wir uns jetzt noch einmal auf das deutsch-polnische Verhältnis dieser Jahre konzentrieren: Welche Rolle spielten dabei für Sie wissenschaftliche oder private Netzwerke, das heißt welche Art von Kontakten kamen damals zustande, und wie war der persönliche Umgang miteinander? Die Träger solcher Kontakte waren unterschiedlicher Art. Da waren zum einen die normalen universitären Kontakte. In Münster hatte Hellmann Kontakte zu polnischen Forschern, vor allen Dingen aus Warschau und Thorn. Marian Biskup10 war mehrfach in Münster, ebenso etwa Andrzej Poppe.11 Das waren also bestehende Netzwerke, die sich nach meiner Wahrnehmung vor allem auf Polen richteten. Bei den außeruniversitären Einrichtungen, dem HerderInstitut, dem GWZO, dem DHI gehörten der Aufbau und die Pflege von Kontakten und Arbeitsbeziehungen zu den Partnern im östlichen Europa zum Programm. Weiterhin gab es die Historischen Kommissionen für die östlichen Gebiete, für die böhmischen Länder, Schlesien, Preußen und die baltischen Gebiete.12 Die Historische Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung hatte schon lange enge Kontakte nach Thorn, hier ist auf polnischer Seite vor allem Zenon Hubert Nowak13 zu nennen, der diese Begegnungen, die Internationalisierung der Ordensforschung geprägt und deutsch-polnische Konferenzen ausgerichtet hat, deren Ergebnisse regelmäßig publiziert wurden.14 Das war im Grunde im deutsch-polnischen Verhältnis der früheste regelmäßige, bis heute dauerhafte Kontakt, der zwischen der deutschen und polnischen Mediävistik entwickelt wurde. Es gab eben unterschiedliche Träger: Universitäten, außeruniversitäre Einrichtungen und diese Kommissionen, die wissenschaftliche Kontakte fortführten, neu belebten oder auch neue Arbeitsfelder schufen.

10 11 12

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Marian Biskup (1922-2012). Andrzej Poppe (1926-2019). Zur Vergangenheit der deutschen Historischen Kommissionen fand 2017 in Tübingen eine Tagung unter dem Titel „Landesgeschichte mit und ohne Land. West- und ostdeutsche Historische Kommissionen nach 1945 im Vergleich“ statt. Ein Tagungsband hierzu ist angekündigt. Zenon Hubert Nowak (1934-1999). „Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica“, erscheint seit 1983 als Schriftenreihe, seit 2012 als Zeitschrift mit dem Nebentitel „Yearbook for the Study of the Military Orders“.

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Sie haben Ende der 1990er Jahre einen Aufsatz über die Ostforschung in der Mediävistik geschrieben.15 Haben Sie das damals als einen Wendepunkt wahrgenommen, an dem sozusagen die berühmte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen eintrat? Einerseits existierte die Ostforschung in den Kommissionen, teilweise auch im Herder-Institut, zumindest in der ersten Hälfte der 1990er Jahre weiter, andererseits gab es neue Ansätze. Hatten Sie auch für die Mediävistik das Gefühl, dass sich im deutsch-polnischen Verhältnis die Fragestellungen verändern? Es war spürbar, dass man in der allgemeinen Mediävistik, und zum Teil habe ich das auch für die Frühneuzeitforschung so wahrgenommen, für bestimmte Themen, etwa wenn Jubiläen anstanden, – etwa ‚1000 Jahre Akt von Gnesen‘ im Jahr 2000 – gezielt polnische Kollegen angesprochen hat, die dann eingebunden wurden von Kreisen, die vorher Osteuropa nicht wahrgenommen hatten und die keinen Bezug dazu hatten.16 Das nahm auffällig zu. Man musste natürlich Personen finden, die Deutsch kommunizieren konnten, um an Tagungen teilnehmen zu können. Aber die fand man, und es gab dann auch praktisch Belebungen und die Einbindung von Forschern in die allgemeine Geschichtswissenschaft, was es vorher weniger gab oder was sich auf die Osteuropäische Geschichte konzentrierte. Auch bei größeren Kongressen war sichtbar, dass man nun auch polnische Forscher einlud. Natürlich hatte es Anfang der 1970er Jahre zum Beispiel auf der Reichenau auch schon Kontakte gegeben, etwa bei der von Zernack17 mitorganisierten Tagung zur Ostsiedlung, an der auch damals schon polnische Kollegen teilnahmen.18 Auch diese Tagung ist in einem allgemeinmediävistischen, nicht osteuropageschichtlichen Kontext zu sehen. Seit den 1990er Jahren gab es eine deutlich steigende Zahl solcher Kontakte. Auf der Reichenau hat Thomas Wünsch19 im Herbst 15 16 17 18

19

Kersken, Norbert: Bilder und Vorstellungen deutscher „Ostforschung“ zu Fragen der mittelalterlichen polnischen Geschichte, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 46 (1997) 3, S. 351-375. Borgolte, Michael (Hg.): Polen und Deutschland vor 1000 Jahren. Die Berliner Tagung über den „Akt von Gnesen“ am 28. und 29. Januar 2000. Berlin 2002. Klaus Zernack (1931-2017). Unter der Federführung von Walter Schlesinger fand im Rahmen der Tagungsreihe des Konstanzer Arbeitskreises auf der Insel Reichenau zwischen 1970 und 1972 eine Serie von drei Veranstaltungen zur Ostsiedlung statt. Schlesinger, Walter (Hg.): Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte. Sigmaringen 1975; von polnischer Seite nahmen Benedykt Zientara (1928-1983) und Stanisław Trawkowski (1920-2008) aus Warschau teil. Thomas Wünsch (*1962) – ders. (Hg.): Das Reich und Polen. Parallelen, Interaktionen und Formen der Akkulturation im hohen und späten Mittelalter. Ostfildern 2003.

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2000 eine Tagung über Deutsche und Polen organisiert. Hier wurde eine spezifisch polengeschichtliche Thematik im Kontext der allgemeinen deutschen Mediävistik verhandelt, und das scheint mir neu. Vorher waren es einzelne Sonderfälle, wo auf allgemeinen wissenschaftlichen Tagungen ein Pole, ein Russe oder ein Tscheche hinzugezogen wurde. Das wurde jetzt deutlich offener und das war, glaube ich, schon eine Veränderung der Praxis. Wo waren eigentlich die Frauen in dieser Zeit? Gab es eigentlich in diesem Kontext viele Historikerinnen? Oder war das quasi eine reine Männerdomäne? Die Frage nach den Frauen in der damaligen Geschichtswissenschaft, besonders der auf das östliche Europa ausgerichteten, eröffnet den Blick auf unterschiedliche Wissenschaftskulturen, freilich nicht nur im nationalen Sinn. Ohne hier auf einzelne Personen eingehen zu können, lässt sich sagen, dass es in Deutschland in den 1990er Jahren eine Reihe von jungen promovierten Wissenschaftlerinnen gab, aber wohl keine in leitenden Funktionen: das gilt sowohl für die Universitäten als auch für die außeruniversitären Einrichtungen. Demgegenüber zeigte sich die polnische Geschichtswissenschaft, auch für die Historiographie der älteren Zeit deutlich weiblicher. Schon in der Zeit der Volksrepublik hatte sich eine Reihe von Historikerinnen profilieren können, wenn man nur – ohne Vollständigkeit anzustreben – etwa an Wanda Moszczeńska und Zofia Kozłowska-Budkowa in Krakau, Jadwiga Karwasińska, Teresa Dunin-Wąsowicz und Maria Bogucka in Warschau, Ewa Maleczyńska in Breslau, Maria Wojciechowska und Brygida Kürbis in Posen, Halina EvertKappesowa und Krystyna Śreniowska in Lodz denkt.20 Dieser Befund lässt sich für die 1990er und folgende Jahre fortschreiben. Es wäre lohnenswert, wissenschaftsgeschichtlich und -soziologisch den Hintergründen für die unterschiedlichen Entwicklungen in den Wissenschaftskulturen nachzugehen. Sie hatten bereits den Kontakt von Marian Biskup mit den Historischen Kommissionen erwähnt, von dem man sich vorstellen kann, dass er wohl nicht immer leicht gewesen war. Sie haben darüber aber auch die bilateralen Konferenzen angesprochen, die es durchaus gab. Würden Sie sagen, dass man für die 1990er Jahre von einer deutlich anderen Wissenschaftskultur in Polen als in Deutschland sprechen kann? 20

Wanda Moszczeńska (1896-1972); Zofia Kozłowska-Budkowa (1893-1986); Jadwiga Karwasińska (1900-1986), Teresa Dunin-Wąsowicz (1926-2004); Maria Bogucka (19292020), Ewa Maleczyńska (1900-1972), Maria Wojciechowska (1902-1990); Brygida Kürbis (1921-2001), Halina Evert-Kappesowa (1904-1985); Krystyna Śreniowska (1914-2013).

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Vielleicht eine kleine Beobachtung: Es gab und gibt dauerhaft gewissermaßen eine disziplinäre Inkongruenz. Die Hauptpartner, die auf deutscher Seite die polnische Geschichtswissenschaft ansprechen, sind Osteuropahistoriker. Die Kollegen, die im östlichen Europa angesprochen werden, sind Allgemeinhistoriker, also Mediävisten, Frühneuzeithistoriker oder ähnliches. Und die treffen jetzt also in aller Regel zunächst nicht auf den Kollegen, der das 11. Jahrhundert, das 15. Jahrhundert oder die Frühe Neuzeit bearbeitet, sondern sie treffen auf Osteuropahistoriker, die an der Universität einen anderen Auftrag wahrnehmen – nämlich, das Fach Osteuropäische Geschichte in ganzer zeitlicher und räumlicher Breite zu vertreten (obwohl freilich dabei jeder Forschungsschwerpunkte ausbildet). Aber das ist im Grunde eine andere Disziplin, was die Kommunikation manchmal schwieriger macht. Die deutsche Mediävistik behandelt in der Regel Fragestellungen, die aus der Reichsgeschichte abgeleitet sind. Methodisch sind in den letzten zwei, drei Jahrzehnten Herangehensweisen entwickelt worden, basierend auf der Erkenntnis der begrenzten Reichweite schriftlicher Kommunikation, der Urkundenschriftlichkeit, das Funktionieren von Gesellschaft aus der Analyse der in der schriftlichen Überlieferung erkennbaren Symbolen, Aktionen, Formen zu verstehen und sich damit zugleich von der älteren, rein nationalgeschichtlichen Perspektive zu lösen. Diese Anstöße der sogenannten Althoff-Schule21 sind in der polnischen Mediävistik aufmerksam verfolgt worden. Ein wichtiger Anstoß für die Mittelalterforschung, denke ich, kam von Jacek Banaszkiewicz22 und von ihm angeregten Arbeiten. Er griff Methoden aus der Literaturwissenschaft für die Analyse mittelalterlicher historiographischer Texte auf und führte neue Interpretationen und Wahrnehmungsformen ein. Er ist durch deutsche und französische Erzählforschung geprägt worden, hat sich auch lange Zeit in den frühen 1980er Jahren immer wieder zu Forschungsaufenthalten an deutschen Universitäten aufgehalten. Er ist aber in der polnischen Mediävistik ein Sonderfall und in der Art seiner Frageweise vielleicht weniger ein Einzelgänger, aber doch zumindest jemand, der ganz neue Sichtweisen vorgeschlagen hat. Die Tagungskultur, die in den letzten Jahrzehnten eine zuvor unbekannte Intensität entfaltet hat, hat, wie angedeutet, auch durch das gegenseitige Kennenlernen die deutsche und polnische Mediävistik beeinflusst, auch wenn es

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Gerd Althoff (*1943). Althoff hat mit seinen Arbeiten zur symbolischen Kommunikation und Herrschaftsrepräsentation erheblichen Einfluss auf die deutsche Mediävistik ausgeübt. Etwa: ders.: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997. Jacek Banaszkiewicz (*1947).

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Unterschiede in der Art des Vortrags (das oft zu schnelle Ablesen des Referats) oder des Diskussionsverhaltens gab. Inwieweit gab es denn aus Ihrer Sicht zu dieser Zeit methodische Transfers und Inspirationen, in die eine wie in die andere Richtung? Ich habe es bei den Dingen wahrgenommen, die mit der Adelsforschung, der Memorialkultur zusammenhingen, die in den 1970er Jahren in Freiburg und Münster von der deutschen Geschichtswissenschaft entwickelt worden sind. Ein prominenter Vertreter dieser Richtung, der in Polen wahrgenommen und übersetzt wurde, war Otto Gerhard Oexle, Direktor des Max-Planck-Instituts in Göttingen.23 Das wurde in Polen sehr aufmerksam wahrgenommen, so erschien in Thorn eine Auswahl seiner Aufsätze in Übersetzung24 und auch die Memorialforschung wurde produktiv aufgegriffen, etwa durch die Arbeiten von Piotr Oliński.25 Und dann sind da auch die Dinge, die aus Münster von Althoff angestoßen worden sind, intensiv wahrgenommen und aufgegriffen worden, etwa in den Forschungen von Zbigniew Dalewski26. Auf der anderen Seite ist aber eben auch das, was Banaszkiewicz gemacht hat, in der deutschen Mediävistik, in der deutschen Forschung rezipiert worden. Er hat zum Beispiel unter anderem in „Saeculum“ veröffentlicht.27 Das waren Dinge, die neu waren und wo es, glaube ich, von beiden Seiten her Anregungen gab. Es waren in vermittelter und Ping-Pong-artiger Weise Wahrnehmungen oder Anstöße aus der deutschen oder französischen Mediävistik und dann eben auch von polnischen Kollegen, die beide Wissenschaftskulturen rezipiert haben. 23

24 25

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Otto Gerhard Oexle (1939-2016). Das Max-Planck-Institut für Geschichte, gegründet 1956, wurde 2006 auf Betreiben der Max-Planck-Gesellschaft geschlossen. Zu seiner Geschichte vgl. Rösener, Werner: Das Max-Planck-Institut für Geschichte (1956-2006). Fünfzig Jahre Geschichtsforschung. Göttingen 2014; Schöttler, Peter: Das Max-PlanckInstitut für Geschichte im historischen Kontext, 1972-2006. Zwischen Sozialgeschichte, Historischer Anthropologie und Historischer Kulturwissenschaft. Berlin 2020. Oexle, Otto Gerhard: Społeczeństwo średniowiecza – mentalność, grupy społeczne, formy życia. Toruń 2000. Piotr Oliński (*1965) – ders.: Mieszczanin w trosce o zbawienie. Uwagi o memoratywnych funkcjach fundacji mieszczańskich w wielkich miastach pruskich, in: Halina Manikowska/Hanna Zaremska (Hg.): Ecclesia et civitas. Kościół i życie religijne w mieście średniowiecznym. Warszawa 2002, S. 347-359. Zbigniew Dalewski (*1962) – ders.: Ritual and Politics. Writing the History of a Dynastic Conflict in Medieval Poland. Leiden/Boston 2008. Banaszkiewicz, Jacek: Königliche Karrieren von Hirten, Gärtnern und Pflügern. Zu einem mittelalterlichen Erzählschema vom Erwerb der Königsherrschaft, in: Saeculum 33 (1982), S. 265-286.

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Spielten in den 1990er Jahren auch noch Bronisław Geremek28 oder Henryk Samsonowicz29 mit ihren Arbeiten in Richtung Deutschland eine Rolle? Hier muss man unterscheiden: Geremek war ja im eigentlichen Sinn weder ein Osteuropa- noch ein Polenhistoriker, sondern ein allgemeiner Mediävist mit starken Bezügen zur französischen Forschung. In Deutschland ist er wissenschaftlich wohl hauptsächlich durch seine Geschichte der Armut30 bekannt geworden und als Solidarność-Politiker wahrgenommen worden. Anders verhält es sich mit Samsonowicz, der seine wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten (Stadt-, Bürgertums-, Handelsgeschichte) seit den frühen 1960er Jahren auch in deutscher Sprache publizierte (allerdings erst seit Ende der 1970er Jahre auch im Westen). Er gehört jenseits der „Thorner Schule“ wohl zu den in der deutschen Mediävistik am stärksten wahrgenommenen Historikern, wovon sicher später (2009) auch der an ihn verliehene Historikerpreis der Stadt Münster zeugt. Neben den Genannten möchte ich aber noch an einen weiteren polnischen Mediävisten erinnern, an Benedykt Zientara, auch wenn er schon 1983, im Alter von 55 Jahren, verstorben war. Er hatte eine Reihe von Studien zu Fragen des hochmittelalterlichen Landesausbaus veröffentlicht, die ein neues Verständnis der damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche angestoßen haben; als Summe hieraus muss auf seine postum, 2002, in deutscher Übersetzung veröffentlichte Monographie über Heinrich den Bärtigen31 verwiesen werden. Daneben ist an seine ebenfalls postum, 1997, erschienene Studie über die „Frühzeit der europäischen Nationen“ zu erinnern32, mit der er einen wichtigen Beitrag zu dem Problem der europäischen Nationenbildung geleistet hat, das damals unter Neuzeithistorikern und Historikern der Vormoderne kontrovers diskutiert wurde. Sie haben ja schon in den 1990er Jahren transnational gearbeitet, wobei man diese Terminologie in Bezug auf die Mediävistik wahrscheinlich anders definieren müsste. Es gab zumindest immer die Vergleichsmöglichkeiten zu Böhmen, zu 28 29 30 31 32

Bronisław Geremek (1932-2008). Henryk Samsonowicz (*1930). Geremek, Bronisław: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München u.a. 1988. Zientara, Benedykt: Heinrich der Bärtige und seine Zeit. Politik und Gesellschaft im mittelalterlichen Schlesien. München 2002 (poln. Ausgabe: Henryk Brodaty i jego czasy. Warszawa 1975). Ders.: Frühzeit der europäischen Nationen. Die Entstehung von Nationalbewusstsein im nachkarolingischen Europa. Osnabrück 1997 (poln. Ausgabe: Świt narodów europejskich. Powstawanie świadomości narodowej na obszarze Europy pokarolińskiej. Warszawa 1985).

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Ungarn, zum Reich. Waren Sie damit mehrheitsfähig, haben das Mediävisten vielleicht immer schon so gemacht, weil sie eben anders gedacht haben? Man könnte umgekehrt natürlich auch sagen, Mediävisten haben auf eine gewisse Weise die mittelalterliche Nation erst erfunden. Inwieweit spielten diese grenzüberschreitenden Forschungen vielleicht eine stärkere Rolle, als sie es in der Zeitgeschichte damals noch gespielt haben? Für die Zeitgeschichte kann ich schlecht sprechen, aber die Aufgeschlossenheit nahm meiner Ansicht nach in den 1990er Jahren sichtbar zu. Wie gesagt, bei allgemeinmediävistischen Tagungen wurden polnische Kollegen, die man als konferenzfähig eingestuft hatte, eingeladen, vereinzelt aufgrund persönlicher Kontakte schon vor 1990, seitdem in wachsendem Maße. Im Grunde scheint mir die Situation in der Mittelalterforschung sehr offen gewesen zu sein, es gab immer wieder Kontakte und Grenzüberschreitungen, auch im deutsch-polnischen Bereich. Die Ordensforschung ist schon angesprochen worden, aber auch die Landesgeschichte verdient hier erwähnt zu werden: Die landesgeschichtliche Forschung, vor allen Dingen für Schlesien, hat in diesen Jahren enormen Aufschwung genommen und hat auch hinsichtlich der deutsch-polnischen Zusammenarbeit vielleicht wichtigen Vorbild- und Beispielcharakter entwickelt. Keine Landesgeschichte hat das vermutlich so intensiv gemacht wie die schlesische landesgeschichtliche Forschung, die zum Teil getragen ist von der Historischen Kommission. Das schlesische Thema ist von Mediävisten, Frühneuzeithistorikern, auch Historikern des 19. Jahrhunderts, ganz entschieden in verschiedenen Projekten getragen worden: zur Adelskultur in Schlesien, zur Erinnerungskultur, zur Kirchengeschichte Schlesiens. Das ist, glaube ich, ein ganz besonderer Fall des Austauschs und der Kommunikation. Das mehrbändige Werk über die schlesische Gelehrtenrepublik ist entstanden.33 Das muss man aber vielleicht gesondert sehen, denn es betrifft nicht die gesamte Geschichtswissenschaft oder geht auch nicht in deren Wahrnehmung ein. Aber die Personen oder die Kreise, die sich mit dieser Landesgeschichte beschäftigen, haben in den letzten 20 Jahren einen sehr engen, kollegialen Austausch aufgebaut.

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Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych / Schlesische Gelehrtenrepublik / Slezská vědecká obec. Bde. 1-3. Wrocław 2004-2008; Bde. 1-4: Hałub, Marek (Hg.): Śląska republika uczonych / Schlesische Gelehrtenrepublik / Slezská vědecká obec. Bde. 4-6. Dresden 2010-2014; ab Band 7 fortlaufend: Hałub, Marek (Hg.): Śląska republika uczonych / Schlesische Gelehrtenrepublik / Slezská vědecká obec. Bd. 7Dresden/Wrocław 2017-.

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Neben solch guter Zusammenarbeit im Bereich der Landesgeschichte klangen ja eben auch immer wieder konfrontativere deutsch-polnische Konstellationen an: Hatten Sie für die 1990er Jahre das Gefühl, dass alte Komplexe und Verhaltensmuster weitergewirkt haben oder sich möglicherweise auch neue Schieflagen und Asymmetrien entwickelt haben? Es hat ja einen Generationswechsel gegeben. Die Personen, die vor 1990 die Kommunikation und den Austausch, die Methoden geprägt haben, sind allmählich ersetzt worden durch Personen, die anders sozialisiert worden sind. Aber auch bei den Wissenschaftlern, die in dem Zeitraum zuvor, in den 1970/80er Jahren prägend waren, kann in den Bereichen der älteren Geschichte nicht von einer konfrontativen Einstellung gesprochen werden. Inwieweit hat sich denn die Auflösung der alten Ostforschungstradition auf die gegenseitige deutsch-polnische Wahrnehmung ausgewirkt? Der Ostforschungsansatz ist im Bereich der mittelalterlichen Geschichte schon seit mehr als einer Generation kein Paradigma mehr, das man fördert oder (ein)fordert. Aber erst seit der Mitte der 1990er Jahre sind explizite Neuorientierungen (sichtbar etwa im Titelwechsel der „Zeitschrift für Ostforschung“ zur „Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung“34) und zum Teil Selbstreflexionen angestoßen worden, in denen Personen und Traditionen, Themen und Methoden überdacht wurden – ob das jetzt in Berlin, Leipzig, beim DHI in Warschau oder beim Herder-Institut war. Zum Teil waren die Einrichtungen selbst auch an der historiographiegeschichtlichen Selbstreflexion beteiligt, die Arbeiten zur Ostforschung von Eduard Mühle35, als er Institutsdirektor war, sind da beispielhaft. Das sind sichtbare und signifikante Paradigmenwechsel, die auch in der polnischen Wissenschaft wahrgenommen worden sind. Aus der Marburger Perspektive glaube ich auch sagen zu können, dass dieser Paradigmenwechsel zeitnah bei den polnischen Kollegen ankam. Wir hatten in diesen Jahren immer ein sehr intensives Programm an Stipendiaten, die zu einem nennenswerten Teil mit mediävistischen oder frühneuzeitlichen Forschungsthemen aus Polen kamen. Sie haben an den Einladungen, Gesprächen und Diskussionen gesehen, dass da etwas Neues war. Die Offenheit des Instituts und des sie tragenden Personen und Einrichtungen ist wahrgenommen worden. Es gab auch verschiedene Kooperationsprojekte, 34 35

Die vom Herder-Institut in Marburg herausgegebene ZfO änderte den Namen 1995. Eduard Mühle (*1957) – ders.: Für Volk und Deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung. Düsseldorf 2005.

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wo man sich anfänglich sehr vorsichtig und mühselig in Verträgen und Absprachen zusammengefunden hat. Welche Publikationen sind Ihnen aus den 1990er Jahren in Erinnerung geblieben? Was war damals für Sie wichtig und was wirkt vielleicht auch noch bis heute nach? Ein wichtiges Buch war zunächst Zernacks „Polen und Russland“, diese inhaltlich und methodisch überaus erhellende Parallelgeschichte zweier benachbarter Völker und Herrschaftsbildungen im östlichen Europa.36 Sie ist auch in Polen wahrgenommen worden und übersetzt worden. Für die deutsche Mediävistik sowie die deutsche Osteuropaforschung war auch Christian Lübkes Band „Das östliche Europa“ in der Siedler-Reihe wichtig.37 Von Seiten der polnischen Mediävistik möchte ich Ansätze hervorheben, die nicht nur auf die polnische Geschichte gerichtet waren. Dazu im Einzelnen drei Hinweise: einflussreich waren zum einen die Arbeiten, die man der Warschauer Handelsman-Małowist-Schule zuordnen kann.38 Hier seien nur der erwähnte „Morgenröte“-Band Zientaras und die Klientel-Studien von Antoni Mączak39 genannt; in Lublin hat der Kirchenhistoriker Jerzy Kłoczowski40 große Synthesen zum östlichen Europa vorgelegt; schließlich ist in Posen Jerzy Strzelczyk41 zu nennen, der ausgehend von eigenen Studien zu Germania Slavica und zum völkerwanderungszeitlichen Europa neue kulturgeschichtliche Studien angeregt hat, etwa von Adam Krawiec zur Sexualität42 oder von Malgorzata Delimata zur Kindheit43 im mittelalterlichen Polen. Welches waren rückblickend die wichtigsten Themen und Leitnarrative der letzten 30 Jahre? Und wie würden Sie ihre eigenen Forschungen hier verorten? Ich möchte drei Gesichtspunkte benennen. Zunächst sind es Forschungen, die die ostmitteleuropäische Geschichte aus transnationaler und komparativer 36 37 38 39 40 41 42 43

Zernack, Klaus: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin 1994 (poln. Ausgabe: Polska i Rosja. Dwie drogi w dziejach Europy. Warszawa 2000). Christian Lübke (*1953) – ders.: Die Deutschen und das europäische Mittelalter. Das östliche Europa. Berlin 2004. Marceli Handelsman (1882-1945); Marian Małowist (1909-1988). Antoni Mączak (1928-2003) – ders.: Klientela. Nieformalne systemy władzy w Polsce i Europie XVI-XVIII w. Warszawa 1994; ders.: Ungleiche Freundschaft. Klientelbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart. Osnabrück 2005. Jerzy Kłoczowski (1924-2017) – ders.: Młodsza Europa. Europa Środkowo-Wschodnia w kręgu cywilizacji chrześcijańskiej średniowiecza. Warszawa 1998. Jerzy Strzelczyk (*1941). Adam Krawiec (*1970) – ders.: Seksualność w średniowiecznej Polsce. Poznań 2000. Delimata-Proch, Małgorzata: Dziecko w Polsce średniowiecznej. Poznań 2004.

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Perspektive begreifen, worum ich mich auch bemühe und wozu auch wichtige Beiträge aus polnischer Perspektive geleistet werden. Damit hängt zusammen, dass der wissenschaftliche Austausch und die gegenseitige Wahrnehmung viel intensiver geworden sind, was freilich meiner Beobachtung nach auf polnischer Seite eher gelingt als auf deutscher wegen der Sprachbarrieren und der angesprochenen Inkongruenz der allgemeinmediävistischen und osteuropageschichtlichen Fundierung der Diskutanten. Ein zweiter Aspekt ist die Verstetigung und Intensivierung der Erforschung der deutsch-polnischen Kontaktlandschaften Schlesien und des Preußenlandes. Schließlich ist auf der einen Seite eine andauernde Konjunktur nationalgeschichtlicher Zugriffe, vor allem fassbar in der Form biographischer Darstellungen prägender Persönlichkeiten, von denen es von deutscher wie polnischer Seite eine Fülle von Beispielen gibt und auf der anderen Seite die Wendung von Versuchen der Rekonstruktion vergangener Wirklichkeiten zur Erforschung von Geschichtsbildern und Wahrnehmungsmustern. Als Anreger dürfen vielleicht auf deutscher Seite Hans-Werner Goetz mit Schülern wie Volker Scior, David Fraesdorff, Anna Aurast, auf polnischer Seite Jacek Banaszkiewicz mit Schülern wie Andrzej Pleszczyński oder Michał Tomaszek genannt werden.44 Die mittelalterliche Geschichtsschreibung ist ja den modernen Historikerinnen und Historikern gewissermaßen etwas voraus, weil sie ihren Blick bis zum Jüngsten Gericht lenken kann. So lange wollen wir gar nicht vorausschauen, sondern Sie einfach fragen, wie die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, in Polen und in Europa im Jahr 2030 aussehen wird? 2030… Die Geschichtswissenschaft ist schon lange nicht mehr eine gesellschaftswissenschaftliche Leitwissenschaft, die sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert gewesen war und wird von daher auch anders in der außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit wahrgenommen. Für die nahe, überschaubare Zukunft von etwa zehn Jahren möchte ich eine problematische Entwicklung ansprechen und eine Hoffnung formulieren. Ich sehe ein Problem für die historische Selbstverständigung der westlichen Gesellschaften darin, dass es eine Tendenz in der öffentlichen Diskussion, aber auch in der Wissenschaft gibt, sich auf die Geschichte der jüngsten Zeit, des 20. Jahrhunderts, zu beschränken. Diese Verkürzung des historischen Blicks scheint mir langfristig problematisch zu sein. Unsere heutigen Gesellschaften leben nicht nur in ihren historischen Bindungen aus den Folgen des Ersten und

44

Hans-Werner Goetz (*1947); Volker Scior (*1967); David Fraesdorff (*1974); Anna Aurast (*1975); Andrzej Pleszczyński (*1963); Michał Tomaszek (*1972).

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Zweiten Weltkriegs. Die Geschichte ist weitgreifender. Die Zurückdrängung der vormodernen Geschichte aus dem öffentlichen Raum wird sicher weiter zunehmen, bei weitem jedoch nicht so stark in Polen wie in Deutschland. Das hat aber auch den Hintergrund, dass die polnische Geschichtswissenschaft noch sehr viel anders alimentiert und nach anderen Ratien gefördert, dementsprechend auch für die Mediävistik, die vormoderne Geschichtswissenschaft besser aufgestellt zu sein scheint. Aber der Blick in die Zukunft lässt insgesamt eine weitere sehr bedenkliche Verkürzung im zeitlichen Horizont erwarten, wodurch die institutionelle Verankerung von Forschung, die sich mit der älteren Geschichte beschäftigt, in sehr großem Maße gefährdet ist. Das verkürzt auch die Möglichkeiten der kulturgeschichtlichen Potentiale der Geschichtswissenschaft als einer Reflexionswissenschaft, die Alteritätserfahrungen zur Diskussion stellen kann. Dieses Potential erscheint mir angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen der westlichen Gesellschaften angesichts neuer Erfahrungen (Migration, Verletzlichkeit von Infrastrukturen, Epidemien) erheblich zu sein. Die Hoffnung richtet sich auf Möglichkeiten des geschichtswissenschaftlichen Diskurses und ist an die politischen Entwicklungen in Europa gebunden. Es geht darum, ob es in Europa zu einer Stärkung transnationaler politischer Handlungsformen und -orientierungen kommt. Geschichtswissenschaftlich würde es dies erleichtern, jenseits der in mancher Hinsicht auserzählten Nationalgeschichten transnationale kulturwissenschaftliche Fragestellungen zu befördern.

Abb. 10.1

Im Dom zu Magdeburg, September 1992. Foto: privat.

Edmund Kizik (*1960) studierte 1979-1986 Geschichte und Religionswissenschaften an den Universitäten Danzig und Warschau. 1992 wurde er in Danzig promoviert und 1998 habilitiert. Er ist seit 2004 Titularprofessor und Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte der Neuzeit an der Universität Danzig sowie ebenfalls ab 2004 wiss. Mitarbeiter am IH PAN. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Alltagskultur in den urbanisierten hanseatischen Gesellschaften vom Spätmittelalter bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, die dt.-poln. Beziehungen sowie die materielle Kultur und Ikonographie des 16. bis 19. Jh. und die Geschichte Danzigs.

„Wenn zu viele Emotionen im Spiel sind, betreibt man keine Wissenschaft mehr“ Edmund Kizik Sie kommen ja aus der Region Danzig. Wenn man sich dort für Geschichte interessiert, kommt man da eigentlich um das deutsch-polnische Verhältnis herum? Gab es bei Ihnen jenseits der an anderer Stelle beschriebenen Kinderspiele mit der Schlacht von Monte Cassino1 schon solche Interessen oder verlief Ihr Weg dann doch eher über die Mennoniten? Naja, ich muss schon sagen, ich habe damals viele ‚Feinde‘ in den Wäldern von Oliva bei Danzig umgelegt. Das waren ganz normale Kinderspiele. Aber man wollte da auf keinen Fall der ‚Deutsche‘ sein, denn dann war das Spiel für einen ziemlich schnell aus. Das war sehr typisch, entweder Cowboy und Indianer oder Zweiter Weltkrieg: „Vier Panzersoldaten und ein Hund“ oder Hauptmann Kloss – also das, was im polnischen Fernsehen so lief.2 Aber ich würde sagen, das war nicht nur für Danzig normal, sondern für ganz Polen. Mein Interesse für Geschichte hat sich auch eher unabhängig von der Geschichte der Region entwickelt. Ich wollte eigentlich Archäologie studieren oder Kunstgeschichte, das war nicht ganz klar. Aber Geschichtsbücher habe ich schon immer gerne gelesen, und so hat sich das dann entwickelt. Ohne Zweifel haben mich historische und auch politische Fragen mehr interessiert als viele meiner Altersgenossen. Schon in der Oberschule habe ich ein paar Leute getroffen, 1 Kizik, Edmund: Przedsłowie, in: Ders. (Hg.): Po co nam historia? Gdynia 2013, S. 7-10, S. 8. – In und um Monte Cassino schlugen britische und polnische Soldaten im ersten Halbjahr 1944 nach schweren Kämpfen die deutschen Besatzer. Der Mythos der heldenhaften Kämpfer zählt bis heute zu den wichtigsten Erinnerungsorten der polnischen Weltkriegsüberlieferung. Siehe dazu Miglio, Camilla/Morawski, Paolo: Monte Cassino, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 1 (Geteilt/Gemeinsam). Paderborn 2015, S. 401-414. 2 „Czterej pancerni i pies“ (dt. „Vier Panzersoldaten und ein Hund“), populäre polnische Fernsehserie aus den Jahren 1966-1970, die regelmäßig wieder ausgestrahlt wurde, vgl. zum Einfluss der Serie Kaźmierska, Kaja/Pałka, Jarosław: Żołnierze ludowego Wojska Polskiego. Historie mówione. Łódź 2018, S. 29-31; Stanisław Kolicki (Codename J-23) alias Hans Kloss war als polnischer Agent in der deutschen Abwehr der Held einer populären Fernsehserie unter dem Namen „Stawka większa niż życie“ (dt. „Sekunden entscheiden“), die 1967-68 gedreht wurde, vgl. Loose, Ingo: Hans Kloss – ein „roter James Bond“? Deutsche, Polen und der Zweite Weltkrieg in der Kultserie ‚Sekunden Entscheiden‘, in: Konrad Klejsa (Hg.): Deutschland und Polen. Filmische Grenzen und Nachbarschaften. Marburg 2011, S. 44-60.

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die sich für politische Fragen interessierten und mit der Zeit wollte ich einfach mehr wissen. Ich habe schon früh Radio Free Europe gehört und Voice of America.3 Aber für neuere Geschichte habe ich mich irgendwie weniger interessiert, ältere Dinge waren immer viel interessanter für mich. Obwohl die neuere Geschichte Polens für mich natürlich immer präsent war, was sicherlich mit meinem Vater zusammenhängt. Er war Soldat in der Heimatarmee4 und ist von den Russen gefangen genommen worden. Erst sehr spät, 1957, ist er aus russischer Gefangenschaft nach Polen zurückgekommen. Als ich klein war, wollte niemand darüber sprechen, wenn die Kinder dabei waren. Das war ein heikles Thema. Aber mein Vater hat nachts im Schlaf immer geschrien. Er hat da offenbar wirklich viel gesehen und erlebt, aber eigentlich nie darüber gesprochen, was ich später als Student merkwürdig fand. Ich habe dann versucht, ihn auszufragen, was da geschehen sei. Da hat er nur lakonisch geantwortet, er habe schreckliche Sachen gesehen und schreckliche Dinge getan. Danach habe ich nicht weiter nachgefragt, das schien irgendwie nicht mehr notwendig. Wenn ich nicht einmal in der Lage war, von meinem Vater etwas über diese Zeit zu erfahren, was hätte ich dann aus anderen Quellen erfahren können? In all dem war viel zu viel Emotion, zu viel Unklares und Paradoxes. Nur als Beispiel: Später stellte sich heraus, dass mein Vater in demselben Gefangenenlager in Workuta gewesen war wie der Vater meines engen deutschen Freundes, des Historikers Jürgen Hensel5. Das schien einem doch zunächst absolut unverständlich, dass an einem solchen Ort Gefangene der beiden gegnerischen Lager aufeinandertreffen könnten. Eine Sache hat mein Vater aber immer wieder erzählt: Da seien viele junge ukrainische Bauern ins Lager gekommen, groß und blond, die dachten, wenn sie fleißig arbeiteten, könnten sie die Verhältnisse dort überleben. Aber das haben sie nicht, sie sind dann trotz all ihrer Körperkräfte am Ende elend zugrunde gegangen. Mehr habe ich aus meinem Vater nicht herausgekriegt, er wollte nicht über diese Zeiten sprechen. 3 Radio Free Europe ist eine 1949 gegründete und bis 1995 in München ansässige Rundfunkeinrichtung, die sich mit finanziellen Mitteln des US-Kongress zum Ziel gesetzt hat, demokratische Werte in den Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs zu verbreiten. Voice of America ist der offizielle Auslandssender der Vereinigten Staaten. Vgl. Machcewicz, Paweł: Poland’s War on Radio Free Europe, 1950-1989. Washington D.C. 2015; Heil Jr., Alan L.: Voice of America. A History. New York 2003. 4 Die Polnische Heimatarmee (Armia Krajowa, AK) war der militärische Zweig des polnischen Untergrundstaates, der gegen die deutsche Besatzungsmacht während des Zweiten Weltkriegs kämpfte. Von der Sowjetunion wurden in der Folge viele Mitglieder entwaffnet, deportiert oder exekutiert. Vgl. Chiari, Bernhard (Hg.): Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg. München 2003. 5 Jürgen Hensel (*1939).

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Es war einfacher für mich, mich mit der älteren Geschichte zu beschäftigen und mit Fragen, zu denen sich reichhaltige Quellen in den Danziger Archiven fanden. Noch als Student habe ich die Chronik des Johann Donner im Danziger Staatsarchiv entdeckt, eines mennonitischen Geistlichen aus dem Danziger Werder vom Ende des 18. Jahrhunderts, ich habe mich dann mit der Alltagsgeschichte des Danziger Werders befasst.6 Und das ist eine Wahl, die ich bis heute nicht bereut habe. Emotionen und die enge Verflechtung von Politik und Zeitgeschichte können aus meiner Sicht wissenschaftliche Diskussionen ziemlich erschweren. Wenn wir nun in Richtung der 1990er Jahre springen: Hat sich 1989 eigentlich für Sie etwas Entscheidendes verändert bzw. würden Sie eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen? Im Nachhinein muss man natürlich feststellen, dass das Jahr 1989 unheimlich wichtig war. Ich habe mehrere solcher historischen Momente erlebt. Aber ich würde sagen, 1980/81, als die Solidarność-Bewegung7 entstand, war für meine persönliche Entwicklung fast noch wichtiger. Ich hatte damals gerade angefangen zu studieren, ich war im ersten Studienjahr, da habe ich zum ersten Mal Lech Wałęsa8 gesehen – also zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass das Lech Wałęsa war – und ich habe gespürt, dass da jetzt etwas Besonderes passiert. Und der Kriegszustand in Polen, das war dann ein wirklich tiefgehendes Erlebnis.9 Ich war damals nicht besonders politisch aktiv, nein, das war ich nicht, aber ich habe den Kriegszustand als persönliche Niederlage empfunden. Bücherlesen, Studieren, das schien ein möglicher Ausweg aus dieser Misere. Die ganze Zeit war wirklich verdammt schwierig. Ich habe 1989 6 Johann Donner (1771-1830); er beendete die von seinem Vater Heinrich begonnene Chronik, vgl. Kizik, Edmund: Die Chronik Heinrich Donners. Eine wichtige Quelle zur Geschichte der Mennoniten in Westpreußen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, in: Mennonitische Geschichtsblätter 45 (1988), S. 54-66. 7 Zwischen August  1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999. 8 Lech Wałęsa (*1943). 9 Der Kriegszustand wurde am 13. Dezember 1981 von General Wojciech Jaruzelski (1926-2014) zur Unterdrückung der Opposition verhängt und erst im Juli 1983 wieder aufgehoben. Vgl. Paczkowski, Andrzej: Wojna polsko-jaruzelska. Stan wojenny w Polsce 13 XII 1981-22 VII 1983. Warszawa 2006.

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dagegen nicht so als Einschnitt erlebt. Ich dachte schon, vielleicht passiert jetzt etwas Wichtiges, aber ich wusste nicht wirklich, was das sein könnte. Wir waren einfach alle sehr erschöpft und deprimiert in dieser Zeit des Stillstands vor 1989, das muss man schon so sehen. 1985/86 hatte ich schon angefangen zu arbeiten. Diese Misere, dieser Abstand, diese Kluft zwischen Ost und West hatte sich so vergrößert, der Ostblock war so zubetoniert, dass wir dachten: Nun ja, in dieser Misere bleiben wir jetzt für immer stecken. Hoffnung war damals wirklich rar. Aber sogar in solchen Situationen muss man ja irgendwie leben und arbeiten und auch seine Würde bewahren, also ein Stück Normalität versuchen. Und plötzlich hat sich da dann etwas bewegt und erst allmählich hat sich gezeigt, dass man sich immer mehr als freier Mensch fühlen konnte. Gleich zu Beginn kam dieses Gefühl sicherlich nicht auf, erst nach und nach. Historiker können heute natürlich sagen: „Gut. Ja, das war eine Zäsur!“ Aber ich habe das damals nicht so empfunden, es war eher ein allmählicher Übergang. Wie wirkte denn in den 1990er Jahren die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften in Deutschland und in Polen ein? Und umgekehrt, haben Historikerinnen und Historiker da vielleicht auch eine spezielle gesellschaftliche oder gar politische Rolle gehabt? Für Leute, die sich, wie ich, mit der Geschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts beschäftigen, mit Fragen der Alltags- und der Kulturgeschichte der vorindustriellen Epoche, stellten die 1990er Jahre keine so entscheidende Zäsur dar. Natürlich wurde der Zugang zur Fachliteratur einfacher, auch zu bestimmten Archiven. Aber die historische Diskussion in Polen war unter methodologischen wie inhaltlichen Gesichtspunkten auch vorher schon auf einem ziemlich hohen Niveau gewesen. Auch Kontakte zwischen polnischen und westdeutschen Historikern hatten bestanden und selbst viele studentische Kontakte vom Anfang der 1980er Jahre überdauerten den Ausnahmezustand in Polen und die Isolation des Landes. Nach 1989 nahm das alles natürlich Tempo auf und viele persönliche Kontakte wurden intensiver. Und vor allem für die Erforschung der Zeitgeschichte wurden viele Türen zu Tabu-Themen geöffnet. Eben die Zeitgeschichte begann dann ja auch, die allgemeine historische Debatte zu dominieren. An der Danziger Uni hatten Donald Tusk und Aleksander Hall,10 auch viele andere, später führende Politiker, in den 1970er Jahren Geschichte studiert. Ich habe diesen Kreis damals relativ gut gekannt, ich bin zu verschiedenen Treffen und Veranstaltungen gegangen, war aber davon auch unabhängig. Ich dachte, 10

Donald Tusk (*1957); Aleksander Hall (*1953).

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Politik ist nicht mein Ding, ich muss da nicht unbedingt mitmachen, wie viele meiner Kollegen das taten. Ich dachte, für mich ist Wissenschaft wichtiger als Politik. Natürlich war da auch meine Bekanntschaft mit Camilla11, meiner späteren Frau. Sie stammt aus der DDR (aus Ost-Berlin). Wir haben uns 1980 kennengelernt und obwohl wir uns dann längere Zeit nicht sehen konnten, hat diese Freundschaft und Liebe überdauert. Sicherlich haben mich auch meine Schwiegereltern ziemlich geprägt, die sind beide Kunsthistoriker.12 Das war etwas, das mich persönlich geformt hat – zum einen hat sich mein Interesse für Kunstgeschichte und Kulturgeschichte verstärkt, zum anderen hat diese Verbindung mein Interesse dann auch auf innerdeutsche Angelegenheiten gelenkt. Durch Camilla, ihre Familie und ihren Freundeskreis habe ich eine Welt der oft verdeckten deutschen – ostdeutschen – Emotionen, Sympathien und Antipathien kennengelernt, auch Anzeichen einer gewissen Verbitterung nach der Wiedervereinigung. Ich denke, ich kenne mich in DDRAngelegenheiten ziemlich gut aus, ich habe viel gelesen und auch viel gehört und gesehen. Welche Rolle spielten in der Geschichtswissenschaft wissenschaftliche oder private Netzwerke, wenn man gerade auch auf die 1990er Jahre schaut? Wie war der persönliche Umgang deutscher und polnischer Historikerinnen und Historiker miteinander? Das kann ich gut beantworten. Ich war am Institut für Geschichte an der Danziger Uni Vorsitzender des studentischen Koło naukowe historyków13 und wir hatten in den Jahren 1980-81 sehr rege Kontakte nach Bremen. Aus Bremen ist mehrmals eine Gruppe von Studenten zusammen mit Imanuel Geiss14 zu Besuch gekommen. Ich habe sie damals von der deutsch-polnischen Grenze bei Kunowice15 abgeholt, sie hatten keine polnischen Tickets, ich habe dort auf sie gewartet und Fahrkarten für sie gekauft. Imanuel Geiss war eine denkwürdige Erscheinung: Einmal musste ich mit ihm die polnische Nationalhymne im Zug singen und dann alles übersetzen. Er hat – auf Deutsch – den historischen Kontext der Hymne erklärt und laut mitgesungen. Die Leute haben ganz schön geguckt. Das war mir damals schon ein bisschen peinlich. 11 12 13 14 15

Camilla Badstübner-Kizik (*1962). Ernst Badstübner (*1931); Sibylle Badstübner-Gröger (*1935). Dt. Wissenschaftlicher Arbeitskreis der Geschichtsstudenten. Selbstverwaltete Organisation an einer Reihe polnischer Universitäten. Imanuel Geiss (1931-2012). Dt. Kunersdorf. Zwischen 1945 und 1990 offizieller Grenzbahnhof auf der Strecke Warschau-Berlin bei Słubice.

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Aber er wollte das unbedingt und fand das alles wahnsinnig interessant und offenbar ein bisschen wie in einem Spionagefilm. Diese Kontakte waren für uns damals wirklich wichtig. Wir sind auch mehrmals in Bremen gewesen. Bei einem unserer Besuche dort haben die Studenten gerade gestreikt, im AStA. Wir fanden das ein bisschen komisch, dass da überall so rote Sterne waren und Plakate mit ‚linken Parolen‘. Wir haben einfach kaum verstanden, worum es ihnen ging. Natürlich waren solche Kanäle des Austauschs sehr wichtig, andere Kanäle gab es eigentlich nicht. Das war für uns die erste Möglichkeit, überhaupt mit Studenten aus Westdeutschland zu sprechen, andere Sichtweisen zu rezipieren, zu verstehen, dass sie zum Teil völlig anders denken und leben. Das war für uns damals sehr interessant. Zum letzten Mal waren wir im Dezember 1981 in Bremen. Ich bin damals während der Rückreise auf dem Gebiet der DDR aus dem Bus ausgestiegen, obwohl das nicht legal war und bin ein paar Tage dortgeblieben. Ich wollte Camilla in Jena besuchen, wo sie studierte. Natürlich war unsere Busreise eine Transitreise und niemand durfte aussteigen. An der Grenze zu Polen haben die DDR-Grenzsoldaten dann gefragt: „Wo ist Kizik?“ Und unser Professor (Romuald Godlewski16) antwortete: „Kizik ist nicht mehr da.“ Das ist dann eine Zeitlang so etwas wie ein geflügeltes Wort am Institut gewesen. Nach Polen bin ich erst am 12./13. Dezember zurückgefahren, dieser Zufall ist kaum zu fassen. An der polnische Grenze haben sie mich komisch angeguckt: „Normalerweise fährt man heute in die entgegengesetzte Richtung!“ Ich bin tatsächlich in Richtung Polen gefahren, ohne zu wissen, was dort los war  … Es war kurz vor Mitternacht, als ich die Grenze passierte.17 Manche polnischen Studenten sind gleich in Bremen geblieben und gar nicht erst nach Polen zurückgekehrt. Aber das wollte ich eigentlich nicht. Hinterher sind die Kontakte zwischen Polen und Deutschland erst einmal eingeschlafen. Drei bis vier Jahre lang gab es fast gar keine Verbindungen in Richtung Westen mehr, auch nicht in die DDR. Nur diese Sache mit den westdeutschen Päckchen nach Polen, also die deutsche Polenhilfe.18 Aber Kontakte, die die Wissenschaft betreffen, gab es – soviel ich weiß – erst einmal nicht mehr. Ab 1984/85 hat sich dann allmählich wieder etwas entwickelt, aber ein paar Jahre lang, zwischen 1981 und 1983, war wenig los, eigentlich fast gar nichts. Das wurde erst später aufgebaut. Man durfte dann auch langsam das Land wieder verlassen, es gab Dienstreisen, aber für Studenten und junge 16 17 18

Romuald Godlewski (1926-1989). Das Kriegsrecht trat in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember 1981 in Kraft. Nach Verhängung des Kriegszustandes startete eine humanitäre Aktion in der Bundesrepublik, die in den folgenden Jahren Millionen von Päckchen nach Polen schickte. Vgl. Cöllen, Barbara/Dudek, Bartosz/Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Polenhilfe. Als Schmuggler für Polen unterwegs. Dresden/Wrocław 2011.

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Assistenten waren sie so gut wie ausgeschlossen. Nach 1986/87 haben sich die Kontakte wieder ein wenig belebt, es gab auch verschiedene Stipendien. Da war diese Lethargie dann nicht mehr so penetrant. Nach 1990 sind dann ab und zu Historiker aus Deutschland nach Warschau gekommen. Aber in Danzig … nein, das weiß ich nicht, ob sich da wirklich etwas in dieser Zeit bewegte, eher nicht. Natürlich, es gab Bogusław Drewniak19, der hat sich mit dem deutschen Theater in der Nazi-Zeit beschäftigt, und auch Marek Andrzejewski20, der zur Freien Stadt Danzig forscht, die hatten natürlich ihre Kontakte. Aber in den Kreisen der Danziger Historiker hat man sich sonst eigentlich nicht mit deutsch-polnischen Fragen beschäftigt. Die führende Rolle hatte hier eher die Universität in Thorn übernommen (Marian Biskup, Stanisław Salmonowicz).21 Wir hatten am Institut kaum Kontakte nach Deutschland, die ich als impulsgebend und wichtig empfunden hätte. Ich glaube, das lief eher in Warschau, Krakau, vielleicht in Posen, in Breslau, und, wie gesagt, in Thorn. Danzig blieb ein bisschen abseits. Es kamen schon Historiker nach Danzig, um hier in den Archiven zu recherchieren, aber Kontakte zu ihnen, die gab es im Grunde genommen nicht – oder nicht, dass ich das wüsste. Das politische Leben und die wissenschaftlichen Kontakte verlagerten sich nach Warschau. Danzig mit seiner älteren und jüngeren Vergangenheit verlor an Bedeutung, wie es sie noch in den Jahrzehnten davor genossen hatte. Die Danziger Geschichte hatten zunächst Maria Bogucka, Henryk Samsonowicz und Edmund Cieślak erforscht und in den 1960er und 70er Jahren hatten sich einige polnische Forscher mit dem Königlichen Preußen beziehungsweise mit Danzig als Handelsstadt beschäftigt, z.B. Antoni Mączak.22 Aber nach 1990 interessierte das nicht mehr so. Danzig hatte seine Rolle als historisch wichtiger Ort, als Nebenhauptstadt Polens, die es zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war, für die Forschung verloren. Eine ganze Generation polnischer Historiker hatte sich damit beschäftigt, aber dann wurde das nicht mehr als besonders wichtig empfunden. Ich merke das heute noch bei einigen Kollegen aus Warschau: Die schauen nicht selten mit Skepsis nach Danzig, sie zweifeln daran, ob wir wirklich „richtige polnische“ Geschichte betreiben. Ich übertreibe ein wenig, aber ich empfinde das eben so. Sie verstehen auch nicht ganz, wie man fast ausschließlich mit deutschen Quellen arbeiten kann. 19 20 21 22

Bogusław Drewniak (1927-2017) – ders.: Das Theater im NS-Staat. Szenarium deutscher Zeitgeschichte, 1933-1945. Düsseldorf 1983. Marek Andrzejewski (*1947) – ders.: Socjaldemokratyczna Partia Wolnego Miasta Gdańska 1920-1936. Gdańsk 1980. Marian Biskup (1922-2012); Stanisław Salmonowicz (*1931). Maria Bogucka (1929-2020); Henryk Samsonowicz (*1930); Edmund Cieślak (1922-2007); Antoni Mączak (1928-2003).

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Meine Kontakte zu westdeutschen Wissenschaftlern beschränkten sich damals auf Kunsthistoriker, die sich mit der niederländischen Kunst des 15.-17. Jahrhunderts beschäftigen (z.B. Till-Holger Borchert23), und auf Epigraphiker. Ich war eine Zeitlang für das „Corpus inscriptionum Poloniae“24 tätig, da gab es deutsche Wissenschaftler, die sich mit den Inschriften im Ordensland, in Pommern und im Ermland beschäftigt haben (Renate Neumüllers-Klauser, Christine Wulf).25 Und im Zusammenhang mit meinem Interesse an den Mennoniten hatte ich eher Kontakte zu amerikanischen bzw. kanadischen Historikern.26 Wenn man das jetzt auf Personen umbricht, würden Sie noch jemanden – neben den bereits Erwähnten – nennen wollen, der oder die Ihr wissenschaftliches Leben beeinflusst hat? Da ist auf jeden Fall Roman Wapiński27 zu nennen, der war ein echter Intellektueller und ein brillanter Erzähler, das muss man sagen. Er war damals Direktor des Historischen Instituts in Danzig und sorgte für eine liberale Atmosphäre, die sich auch günstig auf die Entwicklung alternativer wissenschaftlicher Initiativen unter Studenten auswirkte. In vielerlei Hinsicht hat mich auch der bereits erwähnte Jürgen Hensel geprägt. Ich habe ihn 1981 zum ersten Mal getroffen, das war für mich etwas Unglaubliches: Ich war noch Student und habe als Vorsitzender des wissenschaftlichen Arbeitskreises der Danziger Geschichtsstudenten an einer Konferenz in Kielce28 teilgenommen. Da tauchte plötzlich Jürgen Hensel auf, wir waren im selben Zimmer untergebracht (zusammen mit Tadeusz Stegner29). Er sprach fließend Polnisch und hatte schon damals rege am wissenschaftlichen Leben in Polen teilgenommen, 23 24

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Till-Holger Borchert (*1967). Das „Corpus inscriptionum Poloniae“ ist seit den 1970er Jahren als eine das ganze Land umfassende epigraphische Quellensammlung entstanden. Der erste Band wurde 1975 herausgegeben: Trelińska, Barbara/Szymański, Józef (Hg.): Corpus inscriptionum Poloniae. Tom  1. Zeszyt  1: Województwo Kieleckie. Kielce 1975. Zur Entwicklungsgeschichte vgl. Kizik, Edmund: Współczesne badania polskie z zakresu historii kultury materialnej epoki wczesnonowożytnej, in: Czasy nowożytne 32 (2019), S. 11-52, S. 32-35. Renate Neumüllers-Klauser (1925-2014); Christine Wulf (*1957). Kizik, Edmund: Mennonici w Gdańsku, Elblągu i na Żuławach Wiślanych w drugiej połowie XVII i w XVIII wieku. Studium z dziejów małej społeczności wyznaniowej. Gdańsk 1994. Roman Wapiński (1931-2008). Die Tagung fand im September 1981 in Kielce-Ameliówka statt. Wegen der anschließenden Verhängung des Kriegsrechts kam keine Tagungspublikation zustande. Tadeusz Stegner (*1952).

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das war für mich schon sehr interessant. Jürgen hatte Bekannte in Danzig, er war sehr oft dort und kannte auch eine Familie von alten Danzigern. Wir haben uns oft dort getroffen. Er hat mich damals schon sehr stark geprägt, das kann ich wirklich nicht anders sagen. Er hatte sich intensiv mit jüdischer Geschichte beschäftigt, war damals frisch gebackener Doktor aus Heidelberg. Seine Doktorarbeit hatte er über Juden aus Kongresspolen geschrieben, die habe ich mit großem Interesse gelesen.30 Und er war, und ist es immer noch, ein links Denkender. Die Art und Weise, wie er Geschichte wahrgenommen hat, das war für die damaligen Verhältnisse in Polen schon etwas ungewöhnlich – er hat wirklich alles irgendwie anders interpretiert. Das war für mich damals, und nicht nur für mich, ziemlich exotisch. Gleichzeitig war er ein festes Bindeglied zwischen polnischen und westdeutschen Historikern. Es gab ja auch nicht so viele, die in Polen geblieben sind. Jürgen war eben auch ‚einer von uns‘, das war klar. Aber insgesamt habe ich nicht so viele Kontakte gehabt. Gab es denn damals auch Frauen in der Geschichtswissenschaft oder war das eine reine Männergesellschaft? Das war eine reine Männergesellschaft, also in Danzig ganz bestimmt. Typisch war, dass die Frauen sich mit Didaktik beschäftigten, also sozusagen mit dem ‚Trivialem‘, wie man das damals sah. Die Danziger Universität war zweitrangig, hier befand sich nicht das wichtigste Zentrum für Geschichtswissenschaft in Polen. Polen war immer sehr zentralisiert und im Grunde genommen waren die Besten immer in Warschau – entweder an der Warschauer Universität oder am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften31. Aber Danzig … Die Danziger Uni war im Bereich Geschichte nicht besonders aktiv, allerdings haben hier viele Leute studiert. Man wusste in den 1980er Jahren nicht so richtig, was man studieren sollte. Geschichte galt ein bisschen als Fluchtmöglichkeit – wie soll ich das sagen? – als Alternative zum NichtStudieren. Das Studium war recht anregend, die Atmosphäre galt als relativ locker und man konnte für osteuropäische Verhältnisse ziemlich frei miteinander sprechen. Und es gab viel weniger Themen, die tabuisiert waren. 30 31

Hensel, Jürgen: Polnische Adelsnation und jüdische Vermittler, 1815-30. Über den vergeblichen Versuch einer Judenemanzipation in einer nicht emanzipierten Gesellschaft. Wiesbaden 1983. Das Instytut Historii Polskiej Akademii Nauk (Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften) entstand 1953 in Warschau unter der Leitung Tadeusz Manteuffels (1902-1970) als integraler Bestandteil der neuen, kommunistisch indoktrinierten Polnischen Akademie der Wissenschaften. Heute verfügt das Institut über Zweigstellen in Danzig/Gdańsk, Krakau/Kraków, Posen/Poznań und Thorn/Toruń.

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Unsere Professoren waren relativ offen und wir haben uns an der Uni recht wohl gefühlt. Was für mich sehr wichtig war, war das Studentenleben. Im Rahmen des wissenschaftlichen studentischen Arbeitskreises hatte sich eine aktive und interessante Gruppe gefunden und in dieser Gruppe konnte man all das irgendwie aushalten. Ich will das gar nicht schönreden, die Zeiten waren nicht angenehm, aber wir haben schon unseren Spaß gehabt, das gebe ich zu. Zusammen mit einigen Kommilitonen und Assistenten lebten wir damals in so etwas wie einer ‚Blase‘, einer Art Parallelwelt, die es uns erlaubte, aus dem misslichen polnischen Alltag in die Vergangenheit zu entfliehen – nicht nur in eine Welt von Büchern und archivalischen Dokumenten, sondern auch hautnah erlebter Gegenstände, Artefakte. Ich war damals schon als Student wissenschaftlich tätig, ich habe das ja schon erwähnt: Ich habe Inschriften für das „Corpus inscriptionum Poloniae“ gesammelt. Fast jede Sommerferien zwischen 1980 und 1985 habe ich mit solchen Inventarisationsarbeiten verbracht. Wir waren in Kirchen und auf Friedhöfen unterwegs, in ganz Westpommern, in Pommerellen und auch im Ermland und Masuren. Das war für mich schon sehr prägend. Nicht die Kontakte mit anderen Historikern, sondern die Kontakte mit Artefakten: mit Kirchengebäuden, mit Glocken, mit Grabplatten, Epitaphien, Denkmälern. Später musste ich immer wieder feststellen, dass viele deutsche Historiker – auch relativ gut ausgebildete – recht wenig Ahnung von Kunst und Kunstgeschichte, von der Aussagekraft kirchlicher Ausstattungsgegenstände haben. Sie haben vielleicht hin und wieder Kirchen besucht, aber die Glocken in einem Turm haben sie meist nicht gesehen – eine Glocke angefasst, ihre Inschriften abgelesen haben sie selten. Ich glaube im Nachhinein, das war für mich sehr wichtig. Fast alle Inschriften, die man hier in der Gegend fand, waren auf Deutsch und Latein, eher selten auf Polnisch. Dadurch konnte ich die Vergangenheit, nicht nur des Danziger Werders, sondern des ganzen Gebiets entdecken und die prägenden kulturellen Verflechtungen zwischen der polnischen Gegenwart und der deutschen Vergangenheit in Westpommern oder Westpreußen erkennen. Dass die Inschriften auf Deutsch, Polnisch und Latein waren, das hat mich schon sehr fasziniert. Wie gesagt: In der Zeit hat mich nicht so sehr meine Gegenwart interessiert, sondern eher Gegenstände aus der Vergangenheit und dann natürlich die Menschen, die sie hergestellt hatten. Wir haben nicht nur ältere, also spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Gegenstände ‚entdeckt‘, sondern auch welche aus dem 19. Jahrhundert, z.B. ‚preußische‘ Herrenhäuser mit Resten von Ausstattung. Das war schon sehr interessant, weil man auch sehen konnte, wie die Leute, die von woanders gekommen sind, aus Ostpolen oder aus den Gebieten, die an die Sowjetunion abgetreten worden waren, mit dieser, für sie fremden Vergangenheit dann umgegangen sind. Ich konnte das wirklich hautnah miterleben. Das

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waren die letzten Jahre einer Zeit, wo die Leute in den polnischen LPGs, den PGRs32, gewissermaßen für sich lebten und sich irgendwie mit dieser vorgefundenen Vergangenheit abfinden mussten. Sie haben oft versucht, sie auf vielerlei Weise auszulöschen: Deutsche Inschriften wurden z.B.  mit  Ölfarbe überstrichen bzw. weggeschliffen, aber ab und zu kamen sie auch wieder zum Vorschein. Das war wirklich spannend zu sehen, wie da eine protestantische Vergangenheit re-katholisiert wurde, z.B. auf den Friedhöfen, und wie eine deutsche Vergangenheit polonisiert wurde. Aber wie gesagt, dieses Thema galt damals nicht als besonders attraktiv, schon gar nicht für die deutschen Studenten, die zu Besuch kamen. Die Mehrheit von ihnen hatte nicht nur keine besondere Ahnung von Polen, viele waren sogar noch nie in Ostdeutschland gewesen. Wir haben ziemlich schnell festgestellt, dass unsere Ausbildung – z.B. im Bereich Paläographie und Quellenkenntnisse – gar nicht so schlecht war, wir konnten z.B. relativ gut Handschriften und Inschriften lesen. Wenn wir Studenten aus Deutschland trafen, mussten wir feststellen, dass die das nicht konnten und das war für uns schon überraschend. Aber natürlich muss man sehen, dass der historische Raum, in dem wir uns bewegten, Danzig, Pommern, das Ermland, ein kulturelles Palimpsest darstellte, das uns als angehende Historiker gleichsam dazu zwang, verblichene Spuren lesen zu lernen. Sie haben in einem Text von 2013 die Geschichtswissenschaft als emotionalste aller Wissenschaften bezeichnet.33 In Deutschland würde sich wohl kaum eine Historikerin oder ein Historiker trauen, so etwas zu sagen. Konnte man auch in diesem Sinne für die 1990er Jahre von einer anderen Wissenschaftskultur in Polen als in Deutschland sprechen? Selbstverständlich, es war schon ein bisschen anders. Wir haben Geschichte miterlebt, Geschichte war immer dabei. Einerseits hat sie uns immer begleitet, sie war da, wo wir lebten und auch unsere Eltern haben sie auf ihre Art an uns weitergegeben. Andererseits haben wir aber nicht gelernt, Distanz zur Vergangenheit zu wahren, wir haben sie eher als immanenten Bestandteil der Gegenwart gesehen. Natürlich konnte man zwischen 1990 und 2000 Dinge entdecken, über die man vorher nicht offen sprechen konnte. Das hat schon sehr, sehr viele Historiker beeinflusst. Ich habe das etwas skeptisch betrachtet, weil ich das manchmal ein bisschen übertrieben fand. Ich wollte auch immer ein 32 33

Państwowe Gospodarstwo Rolne (Staatlicher landwirtschaftlicher Betrieb), eigentlich das Pendant zu den Volkseigenen Gütern (VEG) in der DDR, umgangssprachlich auch oft mit der LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) gleichgesetzt. Kizik, Edmund: Przedsłowie, in: Ders. (Hg.): Po co nam historia?. Gdynia 2013, S. 7-10, S. 8.

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wenig Abstand zu den Ereignissen wahren. Ich habe schon ein paarmal gesagt, und das auch schon damals so empfunden: Geschichte kann sehr gefährlich sein, mit Geschichte muss man umsichtig umgehen. Und auch Historiker können gefährlich werden, vor allem diejenigen, die erfolgreich sind und dann versuchen, ihren Erfolg zu missbrauchen, politisch zu nutzen. Viele Historiker waren in den 1990er Jahren in den Medien allgegenwärtig, sie sprachen über alles Mögliche, nicht nur über das, was sie erforscht hatten und wo sie sich auskannten, sondern auch von Dingen, von denen sie keine so große Ahnung hatten. Sie haben nicht selten versucht, die Rolle von Philosophen zu übernehmen und der Gesellschaft den Weg zu zeigen. Das schien mir viel zu gefährlich, das hat mich zum Teil auch wirklich gestört. Deswegen wollte ich mich nie mit moderner Geschichte befassen, eben weil mir diese Geschichte zu sehr mit Emotionen aufgeladen war. Wenn zu viele Emotionen im Spiel sind, betreibt man keine Wissenschaft mehr, dann verliert man seine Objektivität. Dann ist man kein Historiker und Wissenschaftler mehr, sondern Politiker, der sich mit Geschichte beschäftigt und sie für seine Zwecke zu nutzen versucht. Hat denn gerade in diesem Punkt in den 1990er Jahren nach Ihrer Einschätzung ein eklatanter Unterschied zwischen deutschen und polnischen Historikerinnen und Historikern bestanden? Natürlich gab es in Deutschland große historische Debatten, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie nach der Wende so eine Rolle gespielt haben, dass die Themen so ‚heiß‘ waren wie die, die man in Polen in dieser Zeit ansprach. Ich meine hier z.B. das Thema Holocaust, bestimmte Ausprägungen eines polnischen Antisemitismus, die „Schmalzowniks“34, die Gleichgültigkeit breiter Kreise gegenüber der Ermordung ihrer Mitbürger. Nicht nur wir Historiker, sondern das breite Spektrum der Öffentlichkeit war auf bestimmte Dinge gar nicht richtig vorbereitet. Viele haben das überhaupt nicht verarbeiten können, das kam einfach alles zu schnell. Aber das liegt vielleicht weniger an den Historikern, sondern eher am Geschichtsunterricht. Das betrifft in großem Maße die gesamte deutsche Vergangenheit eines großen Teils des gegenwärtigen Polen. Die Interpretation der Vergangenheit und die Geschichtsdidaktik sind seit einigen Jahren immer mehr zum Gegenstand einer aufgeheizten politischen Debatte in Polen geworden. Und gegenwärtig

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Ein „Schmalzownik“ („Szmalcownik“) war jemand, der während der deutschen Besetzung Polens Juden und Personen, die diese versteckten, erpresste oder verriet. Vgl. Grabowski, Jan: „Ja tego Żyda znam!“. Szantażowanie Żydów w Warszawie 1939-1943. Warszawa 2004.

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haben wir es mit einem Berg von Scherben zu tun, die man irgendwie, irgendwann wieder zusammenkleben muss. Hatten Sie somit das Gefühl, dass alte Komplexe bzw. Verhaltensmuster in den Geschichtswissenschaften und in den historischen Narrativen zwischen Deutschland und Polen weitergewirkt haben? Blieben Schieflagen und Asymmetrien bestehen oder entwickelten sich gar neue oder andere? Zum einen kann ich sagen, dass das, was man sich methodologisch in Polen in den 1960er und 70er Jahren in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte ausgedacht hat, wirklich grandios war. Erst später habe ich auch Arbeiten von deutschen Wirtschaftshistorikern gelesen und da musste ich feststellen, dass die Schule von Jerzy Topolski, Witold Kula und Antoni Mączak wirklich originell und selbstständig war,35 und sich über starke Kontakte mit der AnnalesSchule36 und angelsächsischen Richtungen entwickelt hatte. Sie war zu ihrer Zeit wirklich modern, progressiv und prägend. Die deutsche Historiographie hat dies kaum oder nur mit großer Verspätung rezipiert. Die Erkenntnisse der polnischen Geschichtsschreibung zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen der Zeit zwischen dem 15. und dem Beginn des 19. Jahrhunderts wurden von der deutschen Forschung erst dann zur Kenntnis genommen, als deren Autoren schon fast nicht mehr lebten. Diese Generation polnischer Historiker ist zwischen 1990 und 2000 verstorben und sie hat kaum Nachfolger, die dieses Erbe weiter pflegen könnten. Die jüngere Historiker-Generation in Polen hat sich dann aber buchstäblich auf die Moderne gestürzt, und das Beste, was es in der polnischen historischen Forschung nach 1945 gegeben hatte, wurde weitgehend vernachlässigt. Was die Methoden angeht, so nehmen wir ja im Allgemeinen das, was uns zur Verfügung steht, was angeboten wird. Man kann immer wieder Versuche beobachten, westeuropäische, auch deutsche Forschungsansätze in Polen zu übernehmen. Das geschieht mit unterschiedlichem Erfolg. Ich habe nicht selten den Eindruck, dass wir Historiker in Polen kaum in der Lage sind, mit diesen Werkzeugen entsprechend umzugehen – ob gender studies 35

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Jerzy Topolski (1928-1998); Witold Kula (1916-1988). Zu den Modellbildungen Topolskis, Kulas und Mączaks im Vergleich: Sosnowska, Anna: Models of East European Backwardness in Post-1945 Polish Historiography, in: East Central Europe 32 (2005) 1-2, S. 125-145. Zum erheblichen Einfluss der Annales-Schule auf weite Kreise polnischer Historiker, auch gefördert durch die französische Kulturaußenpolitik vgl. Patryk, Pleskot: Intelektualni sa̜siedzi. Kontakty historyków polskich ze środowiskiem ‚Annales‘ 1945-1989. Warszawa 2010.

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oder Sozialdisziplinierung37, diese Werkzeuge werden in der polnischen historischen Forschung eigentlich eher wenig genutzt. Möglicherweise verhält es sich ja mit der Erforschung von Erinnerungskulturen anders. Sie hat in der polnischen Forschung ein recht breites Echo gefunden, aber die erste Welle der Faszination scheint auch abzuklingen. Und wenn Sie an die Behandlung deutscher und polnischer Geschichte in einer Beziehungsgeschichte denken, wie würden Sie das für die 1990er Jahre sehen? Würden Sie sagen, dass das deutsch-polnische Geschichtsbild sich in den 1990er Jahren angeglichen hat? Für polnische Historiker waren alle, die aus Westeuropa kamen, immer erfrischend, und sie wurden eher unkritisch aufgenommen. Wir waren ‚ausgehungert‘ und wollten diese Kontakte so gut wie möglich ausnutzen. Egal, wer kam und womit, die Leute waren immer herzlich willkommen. Man wollte diese Kontakte, weil man vorher eben keine hatte. Ich habe auch erlebt, dass viele Kollegen sie nicht nur als Chance für die eigene wissenschaftliche Entwicklung sahen. Stipendien waren damals für junge polnische Assistenten fast lebenswichtig, man konnte mit solchen Stipendien in Polen eine ganze Weile lang gut überleben. Wenn man die ungleichen Verhältnisse vor Augen hat, die in den 1990er Jahren sehr prägend waren … Das, was in Westdeutschland als ganz normal galt, das war für uns neu: Zum Beispiel der Zugang zu Büchern, das war wirklich phantastisch, und … wir konnten kopieren! Das war für mich ein wunderbares Erlebnis, ich habe eine Zeitlang gar nichts anderes gemacht. Ich habe Bücher kopiert und erst hinterher stellte sich heraus, dass darin gar nicht so viel Neues stand, aber das wusste ich ja erstmal nicht. Damals musste man sich zunächst auch Visa besorgen, es war nicht sofort alles frei. Stipendien zu bekommen, das war etwas Besonderes, das wollte man unbedingt. Es gab natürlich auch Kollegen, die in Deutschland von Stipendium zu Stipendium lebten, sie waren quasi Stipendien-Fänger. Sie hatten Kontakte und gute deutsche Freunde, die immer ein Gutachten, eine Empfehlung schreiben konnten. Viele haben sich wissenschaftlich gar nicht so sehr entwickelt, sondern sich einfach ein gutes Auto gekauft und gut gelebt. Das war schon 37

Bei „Sozialdisziplinierung“ handelt es sich um eine bis in die späten 1990er Jahre in der deutschen Frühneuzeitforschung äußerst einflussreiche Denkfigur Gerhard Oestreichs (1910-1978). Vgl. ders.: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55 (1968) 3, S. 329-347. Zur Forschungsdiskussion hierüber vgl. etwa Freitag, Winfried: Mißverständnis eines ‚Konzepts‘. Zu Gerhard Oestreichs ,Fundamentalprozeß‘ der Sozialdisziplinierung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 28 (2001) 4, S. 513-538.

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eine wahnsinnige Zeit. Ich habe das nicht so gemacht, es war mir immer etwas unangenehm, um etwas bitten zu müssen. Ich wollte möglichst schnell meine Dissertation über die Mennoniten fertig bringen und mich dann mit anderen Dingen beschäftigen. Aber ich kann verraten, dass ich schwarzgearbeitet habe: Ich habe 1986 mitgeholfen, in West-Berlin Wohnungen zu renovieren, zusammen mit der Hilfe der Familie hat das dann für eine eigene Wohnung in Polen gereicht. Obwohl ich auch hinzufügen will: Während eines dieser Aufenthalte war ich immerhin im Archiv in Dahlem38 und konnte mich eine Woche lang dort mit den Mennoniten beschäftigen. Vor allem wegen des zum Teil irrwitzigen Umtauschkurses für die D-Mark in Polen waren viele junge polnische Historiker geradezu dazu gezwungen, Stipendien und Auslandsaufenthalte auch als Einkommensquellen zu sehen, die es ihnen irgendwie gestatteten, sich eine normale Existenz aufzubauen. Wir wollten ja einfach auch ganz normal leben. Aus heutiger Sicht waren wir damals (zwischen 1980 und 2000) bitterarm. Das hat sich erst später, nach 2000, oder vielleicht auch erst nach dem EU-Beitritt Polens 2004, rapide verbessert. Wenn Sie nun schon auf die Bedeutung von Stipendien hingewiesen haben, drängt sich die Frage auf, welche Rolle bestimmte Institutionen bei der Verdichtung der deutsch-polnischen Kommunikation gespielt haben? Ich hatte ja schon gesagt, Danzig hatte zu Bremen als Partnerstadt sehr enge Kontakte und die Universität Danzig hatte auch solche Verbindungen zur Universität Bremen. Aber nach 1990 brauchte es nicht mehr so enge Kontakte zwischen zwei Universitäten, um zu reisen und Austausch zu pflegen, da gab es auch andere Möglichkeiten und das hat sich dann schnell entwickelt. Das Deutsche Historische Institut in Warschau spielte seit seiner Gründung 1993 dabei eine wirklich wichtige Rolle. Sein Sitz war damals noch im Warschauer Kulturpalast.39 Da gab es dann eben eine Gruppe von deutschen Historikern, die dort vor Ort saßen und Bücher und Zeitschriften mitbrachten. Was Bücher 38 39

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK) mit Sitz in Berlin-Dahlem. Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. – Der Pałac Kultury i Nauki (Kultur- und Wissenschaftspalast) ist ein stalinistisches Bauwerk im Herzen Warschaus. Vgl. Murawski, Michał: The Palace Complex. A Stalinist Skyscraper, Capitalist Warsaw, and a City Transfixed. Bloomington (Ind.) 2019.

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angeht, so konnte man ja immer jemanden in Deutschland bitten, diese zu kopieren, aber dieses Spektrum an Zeitschriften am DHI, vor Ort, das war schon enorm wichtig, auch für mich persönlich. Ich bin immer wieder nach Warschau gefahren, um in Fachzeitschriften zu blättern, obwohl damals wegen einer Streckenerneuerung die Zugverbindungen extrem schlecht waren: Man fuhr über mehrere Jahre hinweg etwa sieben Stunden von Danzig nach Warschau! Plötzlich stellte sich dann auch heraus, dass viele dieser deutschen Historiker in Warschau Polnisch sprachen und dass das für sie ganz selbstverständlich war – das war für mich schon wirklich interessant. Dazu gehörten natürlich Hans-Jürgen Bömelburg, Jürgen Hensel und jede Menge jüngerer Kollegen aus Deutschland, Peter Oliver Loew zum Beispiel, der nach 1990 auch längere Zeit in Danzig gelebt hat.40 Seine Entwicklung konnte ich fast von Anfang an miterleben und mitverfolgen. Das hat mir Spaß gemacht, auch die Art, wie er Geschichte sieht, sie interpretiert. Aber man muss auch sagen, dass das DHI schon immer zentralistisch auf Warschau orientiert war. Um diese Zeit herum erlitt Danzig einen Aderlass, die Stadt war auch verkehrstechnisch über längere Zeit faktisch abgehängt. Man konnte dabei zusehen, wie es immer mehr ambitionierte Leute nach Warschau zog. Das waren junge Politiker, klar, aber auch Juristen und Historiker. Wir fühlten uns in Danzig eine Zeitlang ziemlich abgeschnitten. Natürlich profitierte Posen davon, Krakau sowieso, vielleicht Breslau, aber Danzig nicht so sehr. Aber damals hing das auch damit zusammen, dass es keine richtigen Ansprechpartner unter den Historikern in Danzig gab. Als Roman Wapiński starb, brach eine wichtige Verbindung nach Warschau ab. Und die Jüngeren, die damals so zwischen 40 und 50 waren, interessierten sich nicht so für deutsch-polnische Themen. Ich habe mich immer dafür interessiert – aber eben nicht im Kontext des 20. Jahrhunderts. Mit der Frühen Neuzeit beschäftigt man sich heute in Polen eher weniger, nur mit der Moderne oder dem Mittelalter, man macht gleichsam einen großen Sprung über die drei Jahrhunderte der Frühen Neuzeit hinweg und landet dann im Umkreis des Jahres 1900, ab dem man sich bequem mit all den Dingen befassen kann, die in den Zeitungen publiziert wurden. Das Problem handschriftlicher Quellen entfällt somit. Unter Mittelalter- und Neuzeithistoriker werden diese Forscher etwas spöttisch gerne als „Zeitungsforscher“ bezeichnet.

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Hans-Jürgen Bömelburg (*1961); Peter Oliver Loew (*1967).

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Sie haben ja selbst schon sehr früh kultur- und alltagsgeschichtlich gearbeitet, auch dann im Rahmen Ihrer Habilitation41. Was ist Ihnen an methodischen Innovationen in Erinnerung geblieben ist, die Sie in den 1990er Jahren inspiriert haben und die vielleicht auch jenseits rein nationalgeschichtlicher Fragestellungen angesiedelt waren? Ich habe immer gerne Norbert Elias42 gelesen. Ich bin schon stark von seiner Denkweise geprägt, von seiner soziologischen Sicht auf Geschichte und natürlich vom Konzept der Sozialdisziplinierung. Das merkt man sicherlich meiner Arbeit über Begräbnisse an. Ich versuchte schon früh, wirtschaftliche und rechtliche Quellen miteinander zu verknüpfen, und ich möchte an dieser Stelle auch ergänzen: Ich bin ausgebildeter Wirtschaftshistoriker. Ich bin eigentlich ein akademischer Enkelsohn von Stanislaw Hoszowski43. Mein Doktorvater Stanisław Gierszewski44 war ein Schüler von Hoszowski, er gehörte in diese Lemberger wirtschaftsgeschichtliche Schule, die die polnische Wahrnehmung von Quellen sehr stark beeinflusst hat. Ich habe das dann natürlich umgestaltet und daraus entnommen, was für mich besonders wichtig war, und so ist es schwer, hier über eigene Methoden zu sprechen. Mein methodisches Instrumentarium hat sich allmählich entwickelt und ist nicht nur für schriftliche Quellen offen. Ich profitiere immer noch von meinen Erfahrungen aus den 1980er Jahren, als ich in den Sommermonaten viele Museen, Kirchen, Ruinen und Friedhöfe besucht habe. Ich arbeite sehr intensiv mit Gegenständen, also mit Artefakten und Denkmalen. Ich versuche, daraus Informationen zu entnehmen, was Historiker sonst eigentlich ja nicht tun, sondern eher Kunsthistoriker. Nicht überraschend ist dann sicher, dass auch Ikonologie und Ikonographie eine wichtige Rolle für mich spielen – genauso wie Rechtsarchäologie oder eben Sozialdisziplinierung. Man könnte also eher von einem methodologischen Eklektizismus sprechen, nicht so sehr von einer geschlossenen Methodologie innerhalb nur einer klar theoretisch festgelegten Vorgehensweise. Konsequent meide ich allerdings das Psychologisieren, mich irritieren Aussagen zur vermeintlichen Mentalität gesellschaftlicher Gruppen in der Frühen Neuzeit. Zu oft scheint mir, als ob hier moderne Perspektiven, 41

42 43 44

Kizik, Edmund: Śmierć w mieście hanzeatyckim w XVI-XVIII wieku. Studium z nowożytnej kultury funeralnej. Gdańsk 1998. Vgl. auch ders.: Wesele, kilka chrztów i pogrzebów. Uroczystości rodzinne w mieście hanzeatyckim od XVI do XVIII wieku. Gdańsk 2001 (dt. Ausgabe: Die reglementierte Feier. Hochzeiten, Taufen und Begräbnisse in der frühneuzeitlichen Hansestadt. Osnabrück 2008). Norbert Elias (1897-1990). Stanisław Hoszowski (1904-1987). Stanisław Gierszewski (1929-1993).

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zeitgenössische Fragestellungen und Interpretationsmuster auf frühere Gesellschaften übertragen werden. Gibt es denn Publikationen aus den 1990er Jahren, die wichtig für Sie waren? Es gab ja auch in der deutschen Forschung ein paar Arbeiten über die Regionen, mit denen Sie sich beschäftigt haben. Oder würden Sie sagen, Sie sind eher von den Quellen ausgegangen und haben von dort aus ihren eigenen Weg gesucht? Über Danzig und das Königliche Preußen hat man auf deutscher Seite nach 1945 ja nicht so sehr viel geschrieben, abgesehen von Peter Oliver Loew und Hans-Jürgen Bömelburg. Das sind vor allem Publikationen aus den letzten 20 Jahren. Hans-Jürgen Bömelburgs Bücher habe ich alle gelesen, sie sind grandios. Besonders begeistert war ich von seiner Habilschrift über die polnische Historiographie bis 1700.45 Zum einen knüpft er an Fragen an, die in der polnischen Forschung in den 1950er und 60er Jahren erstmals diskutiert wurden und führt sie auf eine interessante Art weiter. Zum anderen zeigt er auf ungewöhnlich innovative Weise, wie Vergangenheit und Gegenwart im polnischen historischen Diskurs des 16. und 17. Jahrhunderts ‚gemacht‘ wurden. Und ganz wichtig: Am damaligen Diskurs nahmen deutsche Historiker aus Thorn, Danzig und Elbing teil, Untertanen polnischer Könige. Das ist wirklich eine sehr wichtige Arbeit. Derzeit aber beschäftigt sich in Polen niemand ernsthaft mit „sarmatischer” Geschichtsschreibung und auch der besondere Charakter des „Sarmatismus” wird wenig beforscht. Ich habe mit Kollegen darüber gesprochen und es stellte sich heraus: Keiner hat diese Arbeit von Bömelburg wirklich gründlich gelesen. Da merkt man, dass polnische und deutsche Forschung manchmal geradezu parallel nebeneinander existieren – mit unterschiedlichem Timing. Die polnische historische Forschung war in den 1960er Jahren, naja, vielleicht nicht gerade modern. Aber es war methodologisch großartig, was sich da, in dieser polnischen Abgeschiedenheit, entwickeln konnte. Und dann sind wir von den Kollegen aus Westeuropa, aus Deutschland, meist überholt worden – methodologisch jedenfalls. Ein zweifellos innovatives Moment allerdings war, wie etwa Robert Traba46 die Diskussion zur Erinnerungskultur auf Ostpreußen, Masuren und das Ermland übertragen hat, auch auf einer publizistischen Ebene. Das hatte (und hat) schon Einfluss 45 46

Bömelburg, Hans-Jürgen: Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (15001700). Wiesbaden 2006. Robert Traba (*1958) – ders.: Wschodniopruskość. Tożsamość regionalna i narodowa w kulturze politycznej Niemiec. Olsztyn 2007 (dt. Ausgabe: Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 1914-1933. Osnabrück 2010).

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auf die historische Mentalität der heutigen Bewohner dort, auf ihr Bewusstsein von der deutschen Vergangenheit dieser Regionen. Viele Kollegen haben diesen Ansatz auf andere Regionen angewendet, in Deutschland z.B. Stefan Dyroff47 auf Bromberg und seine Umgebung. Für Danzig sind in diesem Kontext auch die Arbeiten von Peter Oliver Loew wichtig.48 Ich selbst bin aber kein aktiver Teilnehmer an diesem Diskurs, eher ein aufmerksamer, interessierter Leser. In der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, die Sie 2014 zusammen mit Hans-Jürgen Bömelburg veröffentlicht haben, konstatieren Sie immer noch existierende Rezeptionsbarrieren auf beiden Seiten. Zugleich betonen Sie, die doppelte deutsch-polnische Perspektive berge auch Gefahren einer übermäßigen Parallelisierung.49 Vor diesem Hintergrund stellen wir Ihnen die Frage: Wie wird die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen? Zunächst einmal habe ich den Eindruck, dass die Deutschen immer wieder versuchen, anderen die Geschichte Polens zu erzählen und zu erklären. Obwohl wir unsere direkten Kontakte nach Westeuropa haben und viele polnische Kollegen sehr intensive Kontakte mit Frankreich, England und so weiter pflegen, scheint es so, als ob wir selbst nicht in der Lage seien, diese Geschichte zu erzählen. Wir brauchen offensichtlich jemanden, der in der Lage ist, diese Geschichte für andere ‚zu übersetzen‘ – sprachlich ist das verständlich, aber mental nicht so sehr. Für mich bildet das eine gewisse Parallele zu einigen Danziger Historikern des 18. Jahrhunderts, zum Beispiel zu Gottfried Lengnich oder Mizler de Koloff,50 notabene zwei der von Hans-Jürgen Bömelburg besonders geschätzten Historiographen. Lengnich hatte im Grunde genommen eine Geschichte Polens für Deutsche geschrieben, beziehungsweise er wollte den Danzigern die Geschichte Polens erklären, aber die brauchten das wahrscheinlich gar nicht. Ab 1697 kommen dann die Sachsen dazu, mit der polnisch-sächsischen Union51, die ebenfalls angefangen haben, sich Polen 47 48 49 50 51

Stefan Dyroff (*1976) – ders.: Erinnerungskultur im deutsch-polnischen Kontaktbereich. Bromberg und der Nordosten der Provinz Posen (Wojewodschaft Poznań), 1871-1939. Osnabrück 2007. Loew, Peter Oliver: Danzig und seine Vergangenheit 1793-1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen. Osnabrück 2003. Bömelburg, Hans-Jürgen/Kizik, Edmund: Altes Reich und Alte Republik. Deutschpolnische Beziehungen und Verflechtungen 1500-1806. Darmstadt 2014, S. 17. Gottfried Lengnich (1689-1774) – ders.: Geschichte der Preußischen Lande KöniglichPolnischen Antheils seit dem Jahre 1526. Bde.  1-5. Danzig 1722-1727; Lorenz Mizler de Koloff (1711-1778). Hierbei handelt es sich um die von 1697 bis 1763 mit einer kurzen Unterbrechung (1706-1709) existierende Personalunion zwischen dem Kurfürstentum Sachsen und

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und seine Geschichte zu erklären. Sie wollten natürlich wissen, in was für einer merkwürdigen Kultur sie da gelandet waren. Wie soll man das auch verstehen können, dass dort einerseits Latein gesprochen und diese imposanten Barockkirchen gebaut wurden und dass sich die Menschen andererseits merkwürdig verhielten, dass sie Trachten trugen, die sonst keiner in Europa trug und sich die Köpfe kahlrasierten. Wie sollte man dieses Unikum, das da zwischen Ost und West entstanden war, den Europäern erklären? Auch gegenwärtig, im 21. Jahrhundert, ist das offenbar nicht so einfach. Wir brauchen jemanden, der das ‚übersetzt‘: Ich habe den Eindruck, dass die Generation nach Klaus Zernack eben das versucht, auch zum Beispiel Michael Müller.52 Dank HansJürgen Bömelburg und anderer von mir erwähnter deutscher Historiker gelingt so vielleicht eine Abkehr von der „Schwarzen Legende“, wie sie seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts die deutsche historiographische Narration in Bezug auf Polen dominiert hat. Und noch eine Sache würde ich gerne erwähnen: Mehrmals habe ich deutsche Kollegen getroffen, die sich über Antoni Mączak und Witold Kula gestritten haben, die damit wirklich zeigen wollten, dass sie deren Texte auf Polnisch gelesen und verstanden hatten. Das fand ich damals ein bisschen grotesk, aber im Grunde sehr interessant und für uns ermutigend. Das ist jetzt passé, Polen ist bei weitem nicht mehr so interessant für deutsche Historiker wie noch in den 1990er Jahren. Gegenwärtig habe ich den Eindruck, dass sich die Interessen der Osteuropaforschung in Deutschland verlagern, in Richtung auf die Geschichte der Ukraine etwa und von Belarus. Aber eine Prognose, wie das weiter läuft, wage ich kaum zu geben. Ich weiß ja nicht einmal, in welche Richtung sich das polnische Hochschulwesen entwickelt. Eines muss man aber feststellen: Es ist für polnische Historiker sehr viel einfacher, eine Karriere am Institut für Nationales Gedenken, dem IPN53, zu machen, mit Themen, die sich mit der Leidensgeschichte des polnischen Volkes oder dem Zweiten Weltkrieg beschäftigen, als mit Themen aus dem Kontext der Frühen Neuzeit.

52 53

Polen-Litauen durch die sukzessiven Wahlen Friedrich Augusts I. von Wettin (1670-1733) (als August II.) und dessen Sohn Friedrich Augusts II. von Wettin (1696-1763) (als August III.) zu Königen von Polen. Vgl. Rexheuser, Rex (Hg.): Die Personalunionen von SachsenPolen 1697-1763 und Hannover-England 1714-1837. Ein Vergleich. Wiesbaden 2005. Klaus Zernack (1931-2017); Michael G. Müller (*1950). Instytut Pamięci Narodowej (Institut für Nationales Gedenken). 1998/1999 in der Tradition der „Hauptkommission für die Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen in Polen“ gegründete zentrale wissenschaftliche Einrichtung, die historische Forschung, öffentliche Bildungsarbeit und juristische Ermittlungstätigkeit zur Zeitgeschichte Polens zwischen 1939 und 1989 betreibt. Vgl. Lau, Carola: Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur nach 1989. Institute für nationales Gedenken im östlichen Europa im Vergleich. Göttingen 2017, S. 145-280.

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Um sich als Historiker mit der Frühen Neuzeit zu beschäftigen, braucht man, so meine Erfahrung, doppelt so viel Vorbereitung und Geduld, schon im Hinblick auf die erforderlichen Sprachkenntnisse, die Paläographie, die Kenntnis der Quellen, die haufenweise überliefert sind. Es ist unglaublich, was es noch an ungehobenen Schätzen in den Archiven von Danzig oder Thorn gibt. Aber ich merke natürlich, dass nur wenige Studenten in den Lesesälen der Archive sitzen und dass nur noch wenige Historiker in der Lage sind, frühneuzeitliche Quellen zu lesen. An Sprachkenntnissen wird jetzt vor allem das Englische ausgebaut, Deutsch ist nicht mehr so gefragt. Wenn also die Erforschung der älteren Geschichte nicht weiter forciert wird – und das wird sie nicht – dann bleibt nur die Moderne. Ich kenne keine genauen Zahlen, aber statistisch gesehen beschäftigt sich wohl inzwischen jeder zweite Historiker in Polen mit der Nachkriegszeit, mit den Żołnierze wyklęci54 oder mit dem Kommunismus. Das läuft aber oft recht einseitig ab, es werden einfach Fakten zusammengestellt. Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, demographischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts werden derzeit eigentlich kaum ernsthaft thematisiert. Ich kann mich hier auf Erfahrungen aus einem meiner Seminare berufen: Auf der Suche nach Materialien zur Wirtschaftsgeschichte Polens nach dem Zweiten Weltkrieg habe ich wirklich kaum etwas Brauchbares gefunden. Was hat die Produktion einer Tonne Stahl gekostet? Wie hoch waren die Gesamtkosten der PGRs in Polen? Welche Kosten hat die Produktion von Schiffen für die Sowjetunion verursacht? Wir sind ja kaum in der Lage, die sozialistischen Transferrubel in Gold umzurechnen beziehungsweise in Währungen, die wirklich irgendetwas plausibel erklären könnten. Das wird einfach nicht gemacht, da fehlen Untersuchungen, da fehlen die Grundlagen. In näherer Zukunft werden – das ist meine Prognose – vor allem politische und biographische Fragen erforscht werden, keine Wirtschaftsfragen, obwohl gerade die manchmal primär, grundlegend für Historiker sind. Ohne diese Grundlagenforschung aber werden wir auf längere Sicht weder in der Lage sein, die Geschichte der Gesellschaft und des Staatswesens zu erforschen, das nach 1945 zum Teil auf ehemals deutschen Gebieten errichtet wurde, noch werden wir die Wirtschaftskrise erklären können, die 1989-91 zum Sturz des Ostblocks führte. Aber vielleicht irre ich mich ja auch. 54

Dt. Verfemte Soldaten. Der Begriff bezeichnet die polnischen Soldaten, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs im Untergrund gegen die sowjetischen Besatzer weiterkämpften und dabei teilweise nicht vor zweifelhaften Mitteln gegen die Zivilbevölkerung zurückschreckten. In den 2000er Jahren wurden sie, gefördert von der neuen Geschichtspolitik der PiS und des IPN, zu Ikonen der polnischen Kriegserinnerung. Siehe beispielhaft die IPN-Publikation: Krajewski, Kazimierz/Łabuszewski, Tomasz (Hg.): Wyklęci 1944-1963. Żołnierze podziemia niepodległościowego w latach 1944-1963. Warszawa 2017.

Abb. 11.1

Als es noch Utopien gab … in der Fregestraße 35 mit Katrin Steffen (l.), Berlin 1998. Foto: privat.

Claudia Kraft (*1968) ist Professorin für Kultur-, Wissens- und Geschlechtergeschichte an der Universität Wien. Zuvor lehrte sie Europäische Zeitgeschichte seit 1945 an der Universität Siegen (2011-2018) und Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Erfurt (2005-2011). Sie arbeitet zur vergleichenden europäischen Zeitgeschichte mit einem besonderen Fokus auf Mittel- und Osteuropa.

„Ich wusste eigentlich vorher gar nicht, dass es Polen gibt“ Claudia Kraft Die späten 1980er und die frühen 1990er Jahre waren für Sie zweifellos geprägt von der Studienzeit. Wie sind Sie darauf gekommen, ausgerechnet Osteuropäische Geschichte und Slavistik zu studieren? Und wie kam dann Polen ins Spiel? Ich habe 1988 angefangen, Geschichte zu studieren und habe relativ schnell gemerkt, dass ich als recht schüchterner Mensch in so einem Massenfach total untergehe. Ich habe dann schon früh im Studium damit begonnen, Russisch zu lernen, weil ich gedacht habe, das macht nicht jeder. Auf Russisch bin ich gekommen, weil ich als Abiturientin oder auch schon als Teenager totaler Gorbačev-Fan war und das Gefühl hatte, mit Gorbačev1 – und der kam ja 1985 an die Macht, da war ich 17 – fing für mich das erwachsene Leben an! Und zwar in dem Sinne, dass ich nicht mehr in dieser langweiligen, konservativen – auch familiär war es bei mir ein sehr konservativer Hintergrund – alten Bundesrepublik und dem Kalten Krieg feststecke, sondern dass mit Gorbačev irgendetwas Neues kommt, sich etwas verändert. Natürlich kann das nun auch schon sehr stark aus der Rückschau gedacht sein, weil, dass sich etwas verändern würde, das wusste man natürlich 1985, ‘86, ‘87 noch gar nicht so genau. Aber da entstand meine Faszination für das Russische. Ich habe es zu lernen angefangen, um als Osteuropahistorikerin aus dieser Masse der Allgemeinhistoriker herauszuragen. Und dann bin ich eher zufällig auf das Mainzer Polonicum2 gestoßen. Zuvor hatte ich mir überhaupt noch nie Gedanken über Polen gemacht. So eine typisch deutsche Haltung: Es gibt Osteuropa und das ist Russland, und zwischen uns Deutschen und den Russen, da gibt es nichts. Zufällig hat mich dann eine Kollegin, Katrin Steffen3, auf dieses Polonicum aufmerksam gemacht und ich habe gedacht: „Ach, das ist ja cool, und es kostet nix. Und in einem Semester eine Fremdsprache lernen? Toll, das mache ich.“ Auch familiär habe ich überhaupt keine Verbindung nach Polen, es kam auch niemand aus den ehemaligen Ostgebieten, meine Vorfahren kommen schon 1 Michail Sergeevič Gorbačev (*1931). 2 Das Mainzer Polonicum (bis 1983: Mainzer Modell) ist ein 1979 ins Leben gerufenes System studienbegleitender Sprachkurse des Polnischen. 3 Katrin Steffen (*1967).

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immer aus Hessen. Dieses Polonicum hat mich dann richtig begeistert. In wenigen Wochen war ich eine total polonophile Person geworden, die diese Sprache und diese Grammatik in sich reinprügelte, aber auch alles drumherum, diese landeskundlichen Sachen, in sich aufsog. Und dann sind wir schon im Jahr 1990/91 – da gab es jetzt schon Mazowiecki und den 4. Juni 19894 und Wałęsa etc.5 Für mich waren das im Prinzip so ikonenhafte Freiheitsbewegungen, die ich total naiv bewundert habe. Ich erinnere mich noch, es gab im Rahmen des landeskundlichen Programms des Polonicums mal einen Vortrag, in dem von diesem Wojna na górze6 berichtet wurde, also jenem Konflikt in der Oppositionsbewegung, der 1990/91 schon ganz klar war. Und ich war erschüttert. Ich hätte heulen können, weil ich gedacht habe, das kann nicht sein, diese tolle, moralisch blütenreine Solidarność7 ist so ein zerstrittener Haufen. Letztlich hat mich das dann aber noch mehr begeistert und elektrisiert, wie es da weitergeht. Ich war quasi reingesogen. Nachdem ich in Mainz beim Polonicum war, bin ich nach Marburg gegangen und habe vor allem bei Hans Lemberg8 studiert. Und der hat dann – wie es seine nette Art und Weise war – gesagt: „Ach Frau Kraft, machen Sie doch auch mal böhmische Geschichte. Machen Sie doch mal Tschechien, Tschechoslowakei.“ Und ich habe immer gesagt: „Nee, interessiert mich alles nicht.“ Ich habe dann zwar bei Lemberg auch noch Hausarbeiten zur russischen Geschichte geschrieben, weil Lemberg eben wollte, dass man breiter aufgestellt ist. Aber für mich war ganz klar: Polen, das ist so faszinierend, dieses Land, das will ich machen. Und es war wirklich ein reiner Zufall. Wie gesagt, ich wusste eigentlich vorher gar nicht, dass es Polen gibt. Als ich mich für das Polonicum entschlossen habe, habe ich gerade in Tübingen das Grundstudium gemacht und hatte dort auch die Möglichkeit, ganz selten zwar, noch Vorlesungen von Dietrich Geyer9 zu besuchen. Und der hat mich natürlich auch total begeistert, in seiner heroenhaften Intellektualität und Zurückgenommenheit und Klugheit. Er hat mich schon auch für die russische, für die sowjetische Geschichte begeistern können. In Tübingen 4 5 6 7

Erste halbfreie Wahlen in einem Land des „Ostblocks“. Tadeusz Mazowiecki (1927-2013); Lech Wałęsa (*1943). Dt. Krieg an der Spitze. Zwischen August  1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999. 8 Hans Lemberg (1933-2009). 9 Dietrich Geyer (*1928).

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gab es ja eine große Osteuropaabteilung und daher selbstverständlich auch Polonistik. Dort habe ich auch Seminare zur polnischen Geschichte belegt, etwa zur Teilungszeit bei Bianca Pietrow-Ennker10. Als ich dann in Mainz das Polonicum machte, war dort gerade Janusz Małłek11 als Gastprofessor, und der war einfach – obwohl er Frühneuzeitler war, und ich mich schon immer eher fürs 19./20. Jahrhundert interessiert habe – eine total coole Type in seiner Verschrobenheit. Das hat mich auch wiederum darin bestärkt, dass das Land toll ist. In Mainz hielt mich dann nach dem Polonicum nicht viel, so dass ich dann auch aus privaten Gründen nach Marburg gegangen bin. Ich wusste ehrlich gesagt gar nicht, dass da das Herder-Institut12 ist. Und dann fand ich Lemberg eben unglaublich toll, klug und lustig und überhaupt nicht langweilig. Ich habe dann relativ schnell festgestellt, dass ich da nur die Treppe hochlaufen und ins Herder-Institut gehen muss und da alles habe, was man nur lesen kann, muss oder darf. Es war einfach eine super Kombination von einem tollen Chef, der mich dann als Hiwi eingestellt hat, und einem tollen kleinen, aber sehr intensiven wissenschaftlichen Umfeld. Dort waren dann ja ganz viele Leute, die uns heute auch immer wieder unterkommen: Tatjana Tönsmeyer war da und Ingo Eser.13 Das war schon sehr schön da und auch so eine tolle Mischung zwischen ostmitteleuropäischer, aber dann auch klassischer osteuropäischrussischer Geschichte. Hat sich 1989/90 also in Ihrer Wahrnehmung etwas Entscheidendes verändert? Oder würden Sie eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen? Wie gesagt, für Sie persönlich? Die Transformationsforschung begleitet Sie ja schon länger in Ihrer wissenschaftlichen Biographie. Für mich ist – wie gesagt – dieser Gorbačev unglaublich wichtig. Ich war eben so eine typische deutsche Gorbačev-Verehrerin. Als ich dann zum ersten Mal 1990 in Polen war, und immer noch Gorbačev-Fan war, haben mir polnische Kolleginnen gesagt: „Wir mögen den Gorbačev nicht.“ Und ich so: „Wieso mögt ihr den nicht?“ Da haben die gesagt: „Wir mögen keine Genseken!“ Also keine Generalsekretäre. Dann habe ich noch versucht zu sagen: „Der war doch 10 11 12

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Bianka Pietrow-Ennker (*1951) Janusz Małłek (*1937). Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft und trägt seit 2012 seinen heutigen Namen. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53980.html (02.06.2015). Tatjana Tönsmeyer (*1968); Ingo Eser (*1971).

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ein toller Gensek!“ Aber das kam bei den Polinnen und Polen nicht so gut an. Für mich persönlich ist diese Gorbačev-Zeit einfach eine Zeit, in der der Kalte Krieg zu Ende geht und wo diese unglaublich langweilige, feststeckende Bundesrepublik irgendwie – zumindest in meiner Rückschau – in Bewegung geraten ist. Das Jahr 1989, die Wiedervereinigung, habe ich dann gar nicht als so wahnsinnig wichtig, historisch wichtig gesehen. Ich fand es eher popkulturell irgendwie lustig. Da war ich gerade zu der Zeit viel in Gießen14 und dann fielen da die Ossis ein und haben nach dem Karstadt gefragt. Das fand ich alles lustig und schön, aber jetzt nicht historisch so fürchterlich umwerfend relevant. Das würde ich jetzt aus der Rückschau natürlich anders sehen! Da passierte natürlich Unglaubliches, politisch, ökonomisch, was auch spätere soziale Verwerfungen angeht, aber in der Zeit sah ich das gar nicht so. Da war ich eher der Meinung, es würde immer alles besser. Im Sinne von: jetzt kommen da in Ostmitteleuropa diese ganzen coolen Oppositionellen an die Macht. Deswegen habe ich, glaube ich, auch Deutschland so ein bisschen ausgeblendet. Denn da sah man ganz schnell, dass es nicht so war. Sehr rasch wurde in der ehemaligen DDR ja das westdeutsche Parteiensystem und vor allem die WestCDU wichtig. Für mich war zum Beispiel auch dieser Zusammenschluss von Bündnis90/Die Grünen ganz logisch, wobei das natürlich eine ziemliche Fehlgeburt war, weil die Politikvorstellungen überhaupt nicht zusammenpassten. Aber auch das ist alles noch so ein bisschen idealistischer Teenager-Duktus gewesen. Also 1989/90 ist für mich eher ein Datum der ostmitteleuropäischpolnischen Geschichte, mit einem starken Fokus auf der Geschichte der Dissidenz. Wirklich erst ganz spät ist mir klar geworden, was da eigentlich auch sozioökonomisch passiert ist. Ich hab ja dann in den 1990er Jahren meine Diss geschrieben über die Zeit nach 1918 und habe im Prinzip die Fragestellung daraus entwickelt, was passiert eigentlich, wenn sich wie 1918 (und 1989) auf einmal so viel ändert für bestimmte Länder, sowohl im inneren als auch im äußeren Umfeld?15 Das ist ja 1989 und 1918 ganz ähnlich. Das habe ich aber eher auf einer relativ abstrakten und damals ja auch noch sehr stark geistes-, ideen- und rechtsgeschichtlichen Ebene betrachtet. In der Rückschau würde ich also sagen, diese wahnsinnige Dimension, die das in ökonomischer sowie

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Eine Mittelstadt in Mittelhessen. Kraft, Claudia: Europa im Blick der polnischen Juristen. Rechtsordnung und juristische Profession in Polen im Spannungsfeld zwischen Nation und Europa 1918-1939. Frankfurt am Main 2002.

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mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht hatte, die habe ich als Zeitzeugin völlig verpennt. Das habe ich gar nicht gesehen. Deswegen, würde ich sagen, habe ich jetzt so eine ‚zweite Phase‘ als Transformationsforscherin seit vielleicht 2014/15, wo mir wirklich klar geworden ist, wie wichtig es ist, die Zeit nach 1989 quasi als eigene Epoche zu denken und zu fragen: Wie kann ich die denn sinnvoll historisieren? Das ist ja eine wichtige Frage, wenn man sich etwa die Bücher von Andreas Wirsching auf der einen Seite oder Steffen Mau auf der anderen Seite anschaut, in denen das jeweilige weltanschauliche Gepäck doch eine wichtige Rolle spielt.16 Es macht mir unglaublich Spaß, über diese Historisierung nachzudenken. Aber ich kann nicht behaupten, dass ich da schon sehr viel weiter bin und jetzt eine klügere Idee habe. Ich fand zum Beispiel Philipp Thers Buch von 2014 über das neoliberale Europa unglaublich toll und mutig, weil er der erste war, der mal richtig versucht hat, das systematisch anzugehen.17 Auch wenn einiges in diesem Buch einem etwas holzschnittartig vorkommt, ist es doch ein kluges Angebot, über Transformation nachzudenken. Wie wirkte denn die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften in den 1990er Jahren in Deutschland und in Polen ein? Und umgekehrt, wie vielleicht die Historikerinnen und Historiker auch auf die Politik? Wie sah es da mit ‚public historians‘ aus? Na, ich bin ja wissenschaftlich aufgewachsen in den 1990er Jahren in Marburg bei Lemberg in dem Spannungsfeld, dass ich einen fantastischen akademischen Lehrer hatte, der einen ganz breiten Horizont hatte und der gleichzeitig das Herder-Institut in einer ganz schwierigen Phase gemanagt hat, jetzt nicht als Chef, aber quasi als Moderator in dieser Übergangsphase von der Ostforschung zu einer modernisierten Osteuropaforschung. Und deswegen war für mich von Anfang an diese politisierte alte Ostforschung immer da, die ich dann aber durch die Lemberg’sche Brille gesehen habe und ich wusste: Das ist total wichtig. Dieses Material, das da liegt, und das Wissen, das da akkumuliert ist, das muss irgendwie in die neue Zeit gerettet werden. Und deswegen ist die alte Ostforschung problematisch, aber wichtig.

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Andreas Wirsching (*1959); Steffen Mau (*1968) – Wirsching, Andreas: Demokratie und Globalisierung. Europa seit 1989. München 2015; Mau, Steffen: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin 2019. Philipp Ther (*1967) – ders.: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europas. Berlin 2014.

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Und gleichzeitig hatte ich Anfang der 1990er Jahre für mich entschieden: Ich werde mich niemals mit den Ostgebieten beschäftigen, weil ich das als politisch verbrannt empfand. Und dann kam 1994 – da habe ich gerade meine Magisterarbeit geschrieben – Włodek Borodziej18 als Gastprof nach Marburg und hat zu Lemberg gesagt: „Hans, wir machen dieses Vertreibungsprojekt.“ Lemberg hat aufgrund der politischen Dimension zunächst etwas zögernd reagiert. Und ich auch, weil mir das Thema bzw. generell die Beschäftigung mit den deutschen Ostgebieten verstaubt und politisch kontaminiert vorkam. Als die beiden dann aber einen erfolgreichen Projektantrag gestellt hatten, war ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin quasi mittendrin.19 Dann war ich Teil der alten Ostforschung, und gleichzeitig habe ich natürlich versucht, eben nicht Teil dieser Ostforschung zu sein, sondern dieses ja von vornherein als hochpolitisches Thema gelabelte Ding irgendwie zu bearbeiten. Das fand ich unglaublich spannend. Die Osteuropaforschung ist einfach von Geburt an in Deutschland, auch schon aus dem 19. Jahrhundert kommend natürlich, eine politisierte Wissenschaft und für eine linksliberale Studentin war das eigentlich ein rotes Tuch. Aber ich bin dann irgendwie doch sehr nah herangekommen und reingekommen und fand es im Endeffekt eher interessant als eklig. Das ist so das eine. In Polen in den 1990ern war alles total politisiert. Als ich 1995/96 mit einem Promotionsstipendium ans DHI20 ging, da konnte man im Prinzip keine Diskussion führen, die nicht politisch war und die gleichzeitig irgendwie historisch unterlegt war. Alles, was passierte, auch in dieser Zeit der sich abwechselnden Regierungen in den frühen 1990er Jahren, war immer eingebunden in ein großes historisches Narrativ. Entweder dieses Narrativ der immer aufbegehrenden Polen oder das Narrativ – schon damals –, dass der Kommunismus eben nicht vorbei ist und wie man damit umgeht. Da fand ich die Politisierung der Geschichtswissenschaft einerseits ganz toll, weil das alles unglaublich spannend machte, aber auch unglaublich mühsam. 18 19

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Włodzimierz Borodziej (*1956). Borodziej, Włodzimierz/Lemberg, Hans (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden  …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven. 4 Bde. Marburg 2000-2004; poln. Ausgabe: Niemcy w Polsce 19451950. Wybór dokumentów. Tom 1-4. Warszawa 2000-2001. Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018.

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Und gleichzeitig war die polnische Geschichtswissenschaft so eine Art ganz großes Monument mit vielen, vielen alten Männern, die aber alle auf ihre Art und Weise auch bewundernswert waren, Leute wie Wojciechowski oder Modzelewski, die eben nicht nur Historiker waren, sondern auf ja sehr unterschiedliche Weise auch zeithistorisch interessante Biographien hatten.21 Dann gab es wirklich viele, wenn man so möchte, public historians in Polen, die nicht unbedingt alle historians waren, wie zum Beispiel Kazimierz Wóycicki22, der auch sehr früh dieses Vertreibungsthema stark moralisch behandelt hat und es uns jungen Deutschen damit noch mehr als politisch relevant dargeboten hat. Włodek Borodziej hat es ja auch gemacht. Er hat gesagt: „Da haben wir eine Leiche im Keller und die müssen wir jetzt irgendwie beseitigen.“ Dass das Thema politisch relevant war, sieht man an den ganzen Konferenzen, die in den 1990er Jahren dazu stattfanden und den unglaublich vielen Sammelbänden und Zeitungsartikeln, in denen sich Historiker, vor allem Männer, zum Thema der Vertreibungen (und zur Frage der Kontextualisierung mit dem Zweiten Weltkrieg) geäußert haben. Ich weiß noch, als ich in Breslau mal zu einem Vortrag eingeladen war, in dem ich ganz freudig meine Vertreibungseditionsergebnisse vorgestellt habe, wie ich unglaublich angefeindet wurde, ich würde den Zweiten Weltkrieg vergessen. Nun war es in der Tat so, weil ich gedacht habe, für meine Generation ist das erledigt. Ich habe mich als Historikerin auch nie so für den Zweiten Weltkrieg interessiert, das muss ich dazu sagen. Mir ist eigentlich erst bei der Beschäftigung mit dem Vertreibungsthema aufgefallen, wie alles zusammenhängt, dass man eben nicht über Vertreibung sprechen kann, ohne über den Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Auch die geschichtspolitische Implikation der Schieder-Dokumentation, den Zweiten Weltkrieg wegzudrücken und die deutschen Opfer nach vorne zu schieben,23 habe ich dann nach und nach verstanden. Ich glaube vieles, was wir jetzt an der PiS24-Geschichtspolitik beklagen, da hätte man vorher mit mehr Reflexion und mit mehr Zusammendenken von Vertreibung und Weltkrieg schon mehr Dämme aufrichten können, sodass die PiS da jetzt nicht ihr Geschäft mit machen kann. Also mit dem Vorwurf, die Deutschen redeten nur noch über die eigenen Opfer, maximal vielleicht noch über die ermordeten Juden, aber auf keinen Fall über die polnischen Opfer. 21 22 23 24

Marian Wojciechowski (1927-2006); Karol Modzelewski (1937-2019). Kazimierz Wóycicki (*1949). Schieder, Theodor (1908-1984) – Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus OstMitteleuropa, bearb. von Theodor Schieder, hg. vom Bundesministerium für Vertriebene und Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte. 5 Bde. Bonn 1953-1962. Prawo i Sprawiedliwość (dt. Recht und Gerechtigkeit), 2001 gegründete nationalkonservative Partei.

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Hatten Sie denn damals das Gefühl, dass es auch irgendwie umschlagen könnte, dass man sozusagen zu sehr die positiven Seiten des deutsch-polnischen Verhältnisses betont? Wie positionieren Sie sich zur Polemik des „Versöhnungskitsches“? Ich hatte ja wirklich das große Glück, dass wir in diesem Vertreibungsprojekt drei deutsche Forscher*innen und drei Polen waren, die auch ähnlich alt waren – Jurek Kochanowski war ein bisschen älter, aber Witold Stankowski ist ja so alt wie wir ungefähr.25 Wir haben also mehr oder weniger auf Augenhöhe, zumindest was das Generationelle anging, miteinander diskutiert und das geriet nie in die Nähe von „Versöhnungskitsch“, sondern vielmehr eher dann in eine totale Sackgasse, wenn wir über methodische Fragen redeten. Aber inhaltlich gab es da weder große Versöhnungsorgien noch große Konflikte, das war einfach ein Projekt, was man gemacht hat. Aber das hat natürlich Implikationen, ob man rein quellenpositivistisch arbeitet, oder ob es nicht auch darum geht, für die Ergebnisse der Quellenarbeit ein Narrativ zu finden. Das war in dieser deutsch-polnischen Kooperation ein bisschen schwierig zusammenzubringen. Es klang ja bereits an, aber ist die deutsch-polnische Geschichte im Endeffekt eine Geschichte ‚alter, weißer Männer‘ gewesen – um in der heutigen Terminologie zu sprechen? Wo waren die Frauen, als Sie mit Mitte 20 nach Polen kamen? Gab es sie nicht, waren sie einfach nicht sichtbar, oder hatten sie keine Stimme? Es gab wenige Frauen, aber die Frauen, die es gab, die waren unglaublich stark, die waren unglaublich mächtig. Solche Frauen habe ich in Deutschland in den 1990er Jahren nicht getroffen. Das ist für mich vor allem Anna Żarnowska26, die in Warschau über Jahre hinweg diese frauengeschichtlichen Konferenzen gemacht hat, und ganz systematisch aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive das Feld der Frauengeschichte beackert hat. Und von Anna Żarnowska kommen ganz viele tolle Schülerinnen, etwa Katarzyna Sierakowska (Professorin am IH PAN) oder Agnieszka Janiak-Jasińska aus Warschau oder auch Kolleginnen aus Krakau wie Dobrochna Kałwa und Barbara KlichKluczewska, die ebenfalls von Żarnowska beeinflusst waren.27 Żarnowska hat damals schon richtig Networking betrieben und war auch geschickt darin, 25 26 27

Die Projektgruppe bestand aus Ingo Eser, Stanisław Jankowiak (*1958), Jerzy Kochanowski (*1960), Claudia Kraft, Witold Stankowski (*1966) und Katrin Steffen. Anna Żarnowska (1931-2007). Agnieszka Janiak-Jasińska (*1973); Dobrochna Kałwa (*1969); Barbara Klich-Kluczewska (*1974).

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Männer für die Frauengeschichte als sozialhistorisch relevantes Thema zu begeistern. Aber wenn man jetzt auf die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte blickt, sieht es mit den Frauen weniger gut aus. Ich erinnere mich auch an ganz viele Momente, in denen ich mich total fremd gefühlt und gedacht habe, ich werde hier sowieso keine Karriere machen, weil ich irgendwie gar nicht wahrgenommen werde, ich existiere für die ja gar nicht. Im Feld der Beziehungsgeschichte tummelten sich vor allem (gar nicht unsympathische) Männer, die aber alle auch gerne unter sich blieben. Man kann das vielleicht auch am Beispiel der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission28 deutlich machen: Dort gibt es inzwischen (lange war das anders) auch einige Frauen, aber die Kommission kommt einem weiterhin als ein ziemlich geschlossener Kreis vor; das betrifft nicht nur die immer noch recht geringe Zahl an Historikerinnen dort, sondern auch andere Gruppen. Ich denke, dass es nicht schlecht wäre, neben der Polenexpertise auch Menschen mit Didaktik- oder schulischen Lehrerfahrungen zu kooptieren. Es sind auf jeden Fall immer mehrere Kategorien, die es erschweren, in solche relativ geschlossenen Kreise hineinzukommen. So habe ich mich in den 1990ern auch immer in Polen gefühlt: Du bist eine junge Frau, die behauptet, Polnisch zu können. Und dann hältst du irgendeinen Vortrag und zeigst offensichtlich, dass du dir jede Menge polnische Rechtsgeschichte draufgeschafft und monatelang im Archiv, im AAN29, gesessen hast. Und am Ende kommt die erste Frage: „Czy Pani mówi po polsku?“30 Da fällst du vom Glauben ab, weil du denkst, die nehmen mich hier null ernst. Natürlich ist das jetzt sehr impressionistisch und lebensgeschichtlich, aber natürlich hat das auch einen Einfluss auf die Art und Weise, wie Geschichte geschrieben wird, wenn da nur Männer sind und wenn da nur Leute sind, die im Prinzip diese deutsch-polnischen Beziehungen zu einem Lebensthema und zu etwas ganz, ganz politisch, aber auch geschichtspolitisch Wichtigem, Ernsthaftem machen. Diese Ernsthaftigkeit – wie sie etwa Klaus Zernack31 vertreten hat – war natürlich immens wichtig, nicht nur für die deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen, sondern generell für die deutsch-polnischen 28

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Unter der Schirmherrschaft der UNESCO 1972 gegründete Kommission deutscher und polnischer Historiker*innen sowie Geograph*innen. Vgl. Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015. Archiwum Akt Nowych (Archiv Neuer Akten), Warschau. 1919 als Archiwum Wojskowe (Militärarchiv) gegründetes staatliches Archiv zur Sammlung aller Akten aus zentralen Organen seit der Wiederentstehung Polens. Den heutigen Namen trägt es ab 1930. dt. „Sprechen Sie Polnisch?“ Klaus Zernack (1931-2017).

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Beziehungen, aber sie kreierte auch einen gewissen Habitus, der dann in gewisser Weise hegemonial wurde. Es gab im Selbstverständnis der damals mit der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte Befassten so ein politisches Sendungsbewusstsein, das für uns Jüngere nicht mehr so zentral war. Netzwerke gab es immer und überall. Auch wenn Sie persönlich nur schwer einen Vergleich zu den 1970er und 80er Jahren ziehen können, aber waren das jetzt andere Netzwerke? Wie haben Sie die menschliche und inhaltliche Zusammenarbeit wahrgenommen? Die Netzwerke, die dann in den 1990er entstanden, unterschieden sich schon von den älteren Netzwerken. Es ist ein bisschen schwierig einzuschätzen, weil jenes Vertreibungsprojekt mein erstes kollaboratives Projekt war. Aber es war unglaublich schwierig aufgrund der schon von mir erwähnten methodisch unterschiedlichen Herangehensweisen. Es war schwierig, weil auch da so eine Gender-Geschichte eine Rolle spielte. Also Katrin (Steffen) und ich hatten durchaus Probleme, unsere claims zu machen, gerade wenn wir in einem größeren Kreis waren. Das Projekt hatte einen wissenschaftlichen Beirat, darin saßen u.a. mit Wojciechowski, Jacobmeyer und Kleßmann auch nur Männer.32 Da war es unglaublich schwierig, überhaupt ernst genommen zu werden. Mit den polnischen Kollegen im Projekt war es zum Glück anders (auch weil da die Unterschiede in Hinblick auf Alter und Status nicht so groß waren). Und mit Jerzy Kochanowski sind wir bis heute sehr eng befreundet, auch wenn wir total unterschiedlich ticken. Ich gehe manchmal die Wände hoch – ich mache ja noch heute gemeinsame Forschungsprojekte mit ihm –, nicht so sehr was das Methodische angeht, aber die Art und Weise, wie die so administrativ-institutionell funktionieren, die Polen. Einfach schwierig. Und das kann man, glaube ich, auch nicht lernen. Ich sehe es ja hier in Österreich, das lerne ich auch nicht mehr. Andere Länder haben andere Administrationsund Institutionalisierungsregime. Es ist schwer, damit klarzukommen. Verglichen mit den 1970er und 80er Jahren, der Generation von Michael Müller33 und anderen, waren wir weniger romantisch im Hinblick auf die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte. Wir haben das schon wirklich auch – Ingo, Katrin und ich – als eine gute Karrieremöglichkeit gesehen. Wir sind damit ja auch bekannt geworden. Ich bin nie wieder zu so vielen Vorträgen

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Wolfgang Jacobmeyer (*1940); Christoph Kleßmann (*1938). Michael G. Müller (*1950).

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angefragt worden wie in diesem Vertreibungskontext. Das haben wir schon sehr pragmatisch gesehen und genutzt. Wenn man das jetzt noch einmal zuspitzt, würden Sie sagen, dass man für die 1990er Jahre von einer anderen Wissenschaftskultur in Polen als in Deutschland sprechen kann? Definitiv. Also die Polen waren, was die historischen Grundwissenschaften angeht, viel besser ausgebildet als wir. Ich weiß nicht, ob es vielleicht nur an mir lag, dass ich diesen Teil der Geschichtswissenschaft irgendwie ein bisschen negiert habe und eher ‚luftige‘ Themen gemacht habe, oder ob es wirklich so ist, dass die historische, grundwissenschaftliche Ausbildung in Polen sehr, sehr stark und gut war. Die polnische Gesellschaft ist als solche auch eine historisch interessierte Gesellschaft, in der das Geschichtswissen sehr viel breiter ist – in der Gesamtgesellschaft, aber auch speziell bei den Historikern. Ich kann eigentlich nur über ‚mein‘ 20. Jahrhundert reden, während du mit polnischen Historikern meistens über alle möglichen Epochen sprechen kannst. Es ist nicht immer alles in methodischer Hinsicht interessant, was die erzählen, aber die haben diesen weiten Blick. Das fand ich sehr beeindruckend. Es hat mich auch echt eingeschüchtert. Gleichzeitig habe ich dann sehr schnell gemerkt, dass dieser häufig ja gnadenlose Positivismus unglaublich anstrengend ist, weil das so hermetisch ist. Geschichtswissenschaft macht ja Spaß, wenn du gegenseitig miteinander Fragen zu entwickeln versuchst und feststellst, du kommst irgendwie nicht auf eine gemeinsame Frage, weil die Forschungstraditionen so unterschiedlich sind. Aber wenn da immer so eine Mauer an Quellen zwischen allem steht, die quasi alles andere erst einmal abblocken, dann kommen diese Diskussionen nicht zustande. Und das finde ich bis heute bei vielen polnischen Kolleginnen und Kollegen schwierig. Da fühle ich mich in Deutschland (bzw. in Österreich, wobei ich Österreich in dieser Hinsicht etwa in der Mitte zwischen Deutschland und Polen positionieren würde) tatsächlich wohler, wobei ich dann aber manchmal auch denke: Ach, das ist so ehrlich in Polen! Die sind echt gut ausgebildet und wissen, wovon sie reden. Ich meine, bei uns wird ja alles immer abstrakter und immer abgefahrener, weil man sonst gar keine Chance mehr hat, irgendwo Aufmerksamkeit zu erfahren. Und auch das ist wiederum ein bisschen problematisch. Das mag ich an Polen dann doch sehr: Dieses Basiswissen und auch die Lust, so grundsätzliche Fragen, die auch vielleicht zunächst positivistisch erscheinen mögen, zu stellen. Daraus ergibt sich dann oftmals auch wieder ein ganz toller Forschungskontext.

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Dieses „Wir forschen jetzt einfach mal drauf los, wir gehen ins Archiv“ hat mich gleichzeitig immer aufgeregt. Ich erinnere mich noch, wie Włodek Borodziej gesagt hat, als wir da mit diesem Vertreibungsprojekt zugange waren, dass wir das Thema jetzt so gründlich erforschen, dass es danach nichts mehr Neues dazu zu sagen gibt. Dabei wissen wir doch, dass das totaler Humbug ist, weil sich Fragestellungen permanent ändern. Wer weiß schon, wie in 15 Jahren über das Thema nachgedacht und diskutiert wird? In Polen gibt es durchaus die Auffassung, dass Themen ausgeforscht sein können, wenn man nur alle Quellen gelesen hat. Das ist eine Haltung, die ist schon sehr anders als das, was man in Deutschland in guten Proseminaren lernt. Hatten Sie also das Gefühl, dass in den 1990er Jahren alte Komplexe bzw. Verhaltensmuster weitergewirkt haben? Inwieweit blieben Schieflagen und Asymmetrien bestehen oder entwickelten sich neue, andere? Das ist eine ganz wichtige Frage. Für Lemberg zum Beispiel war das Vertreibungsthema erst einmal ja ganz problematisch. Dabei ist er eigentlich lebensgeschichtlich prädestiniert gewesen, es zu machen. Er hat das – ja ganz im Gegensatz zu vielen anderen Vertriebenen – immer sehr dezent behandelt. Und ich bin ja auch so sozialisiert worden, dass man eigentlich mit Vertreibungsgeschichte nichts zu tun haben wollte, weil das so wahnsinnig stark besetzt war durch den Bund der Vertriebenen und durch dieses ganze Narrativ, das sich durch die alte Bundesrepublik zog. Das ist natürlich schon ganz oft beschrieben worden. Das hat dazu geführt, dass sich moderne politikund sozialgeschichtliche Forschung nicht damit beschäftigt hat, sondern dass diese ganze ‚Erinnerungsliteratur in politischer Absicht‘ – begonnen mit der Schieder-Dokumentation, dann aber auch in vielen anderen Varianten – am Anfang der 1990er Jahre noch im Raum stand. Das war sozusagen noch unser Wissensstand in Deutschland. Der wissenschaftliche Impuls, sich damit zu beschäftigen, das muss man ganz klar sagen, kam aus Polen. Und wir fanden das gut, weil man so mal etwas dagegensetzen und wirklich mal über Vertreibung reden konnte, aber eben anders, weil man sich hingesetzt hat und die polnischen Quellen gelesen hat. Ich erinnere mich noch, dass Lemberg mich mal nach zwei Jahren Quellenarchivarbeit gefragt hat, wie ich jetzt den Ablauf der Vertreibungen beurteilen würde. Ich habe dann ziemlich lange und umständlich geantwortet, weil die Quellen unglaublich vielschichtig waren: Einerseits Berichte über die Behandlung bzw. Nichtbehandlung von deutschen Typhuskranken in Lagern, die zeigten, dass deren Leben so überhaupt nichts wert war. Und andererseits Quellen, die davon berichteten, wie Beamte in Olsztyn händeringend versucht hatten, die deutschen Leben zu

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retten, sie im Winter irgendwie zu versorgen, obwohl die eigenen Leute nichts zu essen hatten. In der Zusammenschau der Quellen wird die ganze Komplexität der Nachkriegszeit deutlich, in der sowohl geopolitisch als auch vor Ort so viel und so Widersprüchliches gleichzeitig passierte, dass man das eigentlich geschichtspolitisch gar nicht verwenden kann, weil es einfach viel zu komplex ist. Für Lemberg, der sich ja in historischen Debatten immer sehr vorsichtig verhielt, war das irgendwie eine gute Nachricht: Wir als Historiker*innen, wir können sagen „Ja, es war komplex, schwierig, und der Kontext muss beachtet werden“. Ich weiß noch, dass bei der Vorstellung auf der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2000 Erika Steinbach34 im Publikum saß. Wir waren uns schon auch unserer Verantwortung bewusst und haben gewusst, dass wir klarmachen müssen, dass wir jetzt nicht eine modernisierte, in deutsch-polnischer Kooperation entstandene Schieder-Dokumentation präsentieren, sondern dass man das ganz differenziert und in seiner ganzen Kompliziertheit erzählen muss. Im Prinzip haben alle guten polnischen Zeithistoriker sich in den 1990er Jahren sehr, sehr intensiv entweder wirklich im Archiv mit der Vertreibung beschäftigt oder in diesen geschichtspolitischen Debatten, das heißt, das war das ‚Master‘-Thema. Und dann kam Mitte, Ende der 1990er Jahre immer stärker auch das Thema der jüdischen Opfer auf und die Frage von Polen als bystanders im Holocaust. Daraus entwickelte sich eine ganz intensive, interessante Forschung, auch schon vor Gross35. Das hat dazu geführt, dass in der Tat für Leute, die oberflächlich auf dieses Themenfeld drauf geschaut haben, die polnischen Opfer der klassischen polnischen Erzählung des Zweiten Weltkriegs, der sechs Jahre Okkupation, ja auch des Vernichtungswillens der Deutschen gegenüber der polnischen Nation, dass das irgendwie in den Hintergrund trat. Bei Leuten wie zum Beispiel Broszat36 in den 1960er, 70er, 80er Jahren war das viel stärker präsent und dann haben wir vielleicht gedacht: Das hat der Broszat ja schon alles gemacht. Heute wissen wir, wie wenig das eigentlich war. Wie viel da dann noch kam in den 1990er und 2000er Jahren. Das war schon dumm, dass man nicht auf dem Schirm hatte, dass das problematisch werden kann. Wenn man sich diese ganzen Konflikte um das Zentrum gegen Vertreibungen anschaut, ist ja ganz klar, dass die Gründung des Museums des Zweiten Weltkriegs in Danzig eine Reaktion auf diese vermeintliche bzw. tatsächliche thematische Engführung war und dass man in Polen damit der polnischen Erfahrung in dieser Debatte einen sichtbaren Ort geben 34 35 36

Erika Steinbach (*1943). Jan Tomasz Gross (*1947). Martin Broszat (1926-1989).

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wollte. Und das geschah glücklicherweise zunächst ja durch die Konzeption des ersten Direktors, Machcewicz37, in einer sehr guten Art und Weise, die eben auch die europäischen Erfahrungen miteinbezog, was jetzt wiederum problematisch geworden ist. Aber das ist wirklich angestoßen worden durch diese Schieflage, dass es – nicht nur für böswillige Beobachter – erstmal nur noch um Opfer ging, die in erster Linie nicht polnisch waren. Wir haben bislang sehr viel über einzelne Personen gesprochen. Welche Institutionen – vielleicht neben dem schon erwähnten Herder-Institut und der Schulbuchkommission – haben in den 1990er Jahren bei einer angenommenen Verdichtung der deutsch-polnischen Kommunikation eine Rolle gespielt? Da ich in den 1990er Jahren ja mehr noch so am Rand dabei war, ist das etwas schwierig zu beurteilen. Ich habe das DHI so ab 1995, als ich dann in Warschau war, schon als eine sehr wichtige Institution empfunden, die einerseits ein Schaufenster war für die polnische Geschichtswissenschaft in Deutschland, aber gleichzeitig auch ein Ort, wo man als polnischer Historiker in Warschau hinging, um sich Vorträge anzuhören und um Leute zu treffen, eben nicht nur Osteuropa-Historiker. Rexheuser38 hat das auf eine schöne Art und Weise, glaube ich, ganz gut hingekriegt, dass das so ein Begegnungsort war. Und dann haben die Leute aus der ersten Generation des DHI, wie Sophia Kemlein39, sehr stark versucht, mit der Institution DHI im Rücken, zum Beispiel die Geschlechtergeschichte in Polen zu stärken. Rexheuser hat im Prinzip mit der Geschlechtergeschichte und mit der jüdischen Geschichte zwei Themen gesetzt, die durch Leute, die dafür zuständig waren, quasi institutionalisiert wurden, weil er gesagt hat: „Darüber muss man im deutsch-polnischen Verhältnis sprechen!“ Da fand ich das DHI im Vergleich zu seiner späteren, weniger konzeptuell betriebenen Ausrichtung strategisch sehr klug. Das hat der Rexheuser wirklich sehr, sehr gut gemacht. Daneben war das Herder-Institut unglaublich wichtig, weil im HerderInstitut ja auch schon früh in den 1990er Jahren – ich kann nicht für die Zeit davor sprechen, nur ab meiner Studienzeit – sehr, sehr viele Leute aus Osteuropa forschten. Das war für uns Marburger Studierende einfach toll zu sehen, dass sie, die eigentlich relativ weit weg sind, im Herder-Institut alle verdichtet zusammenkommen und man über diese Leute einen Einblick in die Historiographien, aber auch in die Lebenswelten bekam. So 37 38 39

Paweł Machcewicz (*1966). Rex Rexheuser (*1933). Sophia Kemlein (*1960).

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gesehen war das Herder-Institut für uns junge Forscher*innen sehr wichtig, obwohl dort in den 1990er Jahren eben auch noch eher traditionelle und sehr deutschtumszentrierte Forschung zu Osteuropa betrieben wurde. Man könnte ja auch sagen, dass auch die Vertriebenenverbände natürlich wichtig waren, weil sie sich wenigstens für Osteuropa interessiert haben, zwar auf eine politisch teilweise zweifelhafte Art und Weise, aber die sind da hingefahren und die haben erzählt, wie schön der Osten ist und so. In der deutschen Sozialgeschichtsschreibung, die einem politisch vielleicht näher war, erfuhr man darüber ja nichts. Ich meine, Geschichte lebt ja auch immer irgendwie davon, dass man von etwas angezogen wird. Das gab es nicht in der deutschen Politik- und Sozialgeschichte, dass Osteuropa ein interessanter kultureller Raum ist, das war eine Tabula rasa. Dafür waren dann selbst diese alten Ostforschungsinstitute unglaublich wichtig, um dieses Bild aufzulockern. Wie war das damals, sich als deutsche Historikerin in den polnischen Forschungsinfrastrukturen zu bewegen, wenn man sich die ganz praktische Dimension von Wissensproduktion oder -aneignung anschaut? Das war toll und gleichzeitig total angsteinflößend! Ich kam da hin in dieses AAN – ich war vorher in meinem ganzen Leben noch nie im Archiv – mit einem Dissertationsthema, das total unklar war, so irgendwas mit Rechtsunifizierung. Und dann hast du gemerkt, du kommst da als Deutsche hin und wirst erstmal total misstrauisch angeguckt. Und zwar nicht aufgrund historischer (durchaus verständlicher) Vorbehalte gegenüber Deutschen, sondern die Blicke sagten: Was will diese Deutsche hier, die zu einem genuin polnischen Thema arbeitet? Ich habe ja auch nicht beziehungsgeschichtlich oder so gearbeitet. Das war sozusagen die erste lebensweltliche Fremdheit. Sich dann in diesem knarzenden Raum mit diesen riesigen schweren Kästen, die man aus den Schränken ziehen, zum Tisch schleppen und dann irgendwie händisch durchblättern musste, zu bewegen, war unglaublich schwierig und furchteinflößend, weil man dachte: Ich komme hier ja nie auf einen grünen Zweig! Das Empfinden ist wahrscheinlich aus der Rückschau stärker ausgeprägt, weil man heute mit allen möglichen elektronischen Findmitteln ganz anders vorgeht. Aber alles war irgendwie schwierig, allein sich in so eine Bibliothek wie die Nationalbibliothek hineinzubegeben, diesen Wissenstempel! Da saßen dann die ganzen Alten – ich weiß nicht, ob sie da heute noch sitzen – und haben mindestens zwei, drei Stunden am Tag gelesen, was ich bewundert habe. Also auch richtige gestandene Professoren, die immer wieder in der Nationalbibliothek aufschlugen und einfach lasen.

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Und das fand ich alles unglaublich toll – selber nicht aus so einem intellektuellen Milieu kommend – auf einmal von null auf hundert in so einem ganz vergeistigten Milieu zu sein. Gleichzeitig erschien mir alles so wahnsinnig altmodisch und verstaubt und volksrepublikanisch oder vielleicht noch wie im 19. Jahrhundert. Ich fremdle damit noch heute. Abgesehen davon bin ich sowieso nicht so eine gute Archivarbeiterin. Ich habe da immer Angst, dass ich nichts finde und dass ich da was falsch mache. Es war also in vielerlei Hinsicht fremd. Wenn wir nun an Inspirationsquellen denken: Gab es – aus der Rückschau betrachtet – so etwas wie methodische Transfers in die eine oder andere Richtung? Wurden Fragestellungen und Ansätze weiterverfolgt, die über den nationalen, bilateralen Rahmen hinausgingen? Meine Diss ist ja im Prinzip der Versuch – das habe ich damals nicht so genannt, weil der Begriff damals noch nicht so geläufig war –‚ eine transnationale Rechtsgeschichte zu schreiben. Für mich war die polnische Geschichte ganz früh ein sehr gutes Beispiel – schon mit den Teilungsgebieten im 19. Jahrhundert und dann auch mit der permanenten Verschiebungsgeschichte im 20. Jahrhundert – dafür, wie man leicht aus diesen nationalen Containern herauskommt und anfängt, darüber nachzudenken, dass man, auch wenn man nationalgeschichtlich arbeitet, immer ganz viel mitbedenken muss. Somit war die polnische Geschichte für mich eine prototypisch transnational angelegte Geschichte. Heute würde ich sagen, das ist wahrscheinlich jede Geschichte. Aber in den 1990er Jahren, als eben dieses Konzept des Transnationalen noch nicht so verbreitet war oder gerade erst aufkam, habe ich gedacht, dass wir Osteuropahistoriker da total wichtig sind, weil wir es im Prinzip in unserem Material schon angelegt haben. Als dann in den frühen 2000ern diese Transnationalismus-Diskussion richtig losging und wichtig war, da haben ja gerade viele Allgemeinhistoriker gesagt: „Da können wir viel von den Osteuropäern lernen.“ Beispielhaft könnte man hier den Kocka-Aufsatz in der ZfO von 2000 nennen.40 In so einem Klima bin ich groß geworden und habe irgendwann gedacht: Wir sind zwar irgendwie immer so am Rand und werden auch immer ein bisschen belächelt von den Allgemeinhistorikern, aber wir haben schon ziemlich viel zu sagen. Ich fand die Narrative der Allgemeinhistoriker immer etwas blutleer, da ging es etwa um solche Makroprozesse 40

Jürgen Kocka (*1941) – ders.: Das östliche Mitteleuropa als Herausforderung für eine vergleichende Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 49 (2000) 2, S. 159-174.

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wie die Industrialisierung etc. Das geriet in den 1990er Jahren allerdings schon etwas in die Defensive durch das Erstarken der Neuen Kulturgeschichte. Mir fehlten aber einfach irgendwie die Nuancen, denen man in dem kleinteiligen Ostmitteleuropa besser nachspüren konnte. Das war auch etwas, was man bei Lemberg gelernt hat, dass es eben diese sehr unterschiedlichen Prägungen gibt, die sich nicht in einer eindimensionalen Geschichte erzählen lassen. Für ihn waren solche langen Prägungen, worüber ich jetzt in den Phantomgrenzen41 wieder nachgedacht habe, total wichtig und er wollte von uns, dass wir das verstehen, was er in den Prüfungen auch immer abgefragt hat: dass wir wissen, dass es da eben eine andere zum Beispiel rechts- oder politikgeschichtliche Tradition gibt und dass es andere Verwaltungsorganisationen gibt als in anderen Teilen Osteuropas. Und das hat auch unseren Blick dafür geschärft, für diese Heterogenität, die sowieso der Geschichte anhaftet. Und ich glaube, dass man die mit solchen transnationalen – oder damals hätte ich gesagt: beziehungsgeschichtlichen – Ansätzen besser in den Blick bekommt. Ich glaube, ich war – und bin es immer noch – eine begeisterte Zernackianerin, vielleicht mehr als viele andere Leute, die bei ihm promoviert haben. Diesen beziehungsgeschichtlichen Ansatz fand ich so super. Es gibt ja diesen einen Band von Zernacks Aufsätzen aus den 1970er Jahren, in dem er in diesem total trockenen Zernack-Duktus diese Beziehungsgeschichte entfaltet.42 Das fand ich so augenöffnend, da es ja damals schon verflechtungsgeschichtlich gedacht war. Ich habe mich immer gefragt, wie es sein kann, dass er das so früh macht und das Paradigma so wenig rezipiert wurde? Also die Beziehungsgeschichte ist schon bekannt geworden, aber eher als deutsch-polnisches Paradigma und nicht so sehr als wirklich methodisch tolles Ding. Welche Publikation(en) aus den 1990er Jahren hatte(n) damals Einfluss auf Sie? Und was ist davon für Sie heute noch wichtig, vielleicht auch noch heute ein Standardwerk?

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Zwischen 2011 und 2017 tätiges, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziertes Netzwerk, das sich von Berlin aus in verschiedenen Teilprojekten interdisziplinär mit dem Weiterwirken alter Grenzregionen im östlichen Europa beschäftigte. Vgl. Hirschhausen, Béatrice von u.a. (Hg.): Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken. Göttingen 2015. Zernack, Klaus: Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Ders./Wolfgang  H.  Fritze (Hg.): Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Berlin 1976, S. 3-46.

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Das ist eine schwierige Frage, weil die 1990er Jahre echt schon lange her sind … Was ich ganz, ganz großartig fand und woran ich mich – ohne dass es jetzt methodisch viel Einfluss auf meine Diss gehabt hätte – am Anfang auch ein bisschen orientiert habe, war das Buch von Baberowski über russische Rechtsreformen im 19. Jahrhundert.43 Baberowski versucht dort die Rechtsgeschichte, die ja so unglaublich stark in normativen festen Systemen denkt, für einen innovativen Blick auf Russland zu nutzen, ohne einfach nur die Abweichung Russlands vom rechtshistorischen ‚Normalfall‘ zu konstatieren. Das fand ich unglaublich klug und inspirierend für mein eigenes Nachdenken über Polen. Dieses Buch hat mich unglaublich begeistert, weil es so richtig tolle Osteuropäische Geschichte war, die im Prinzip ein disziplinäres Verständnis von Rechtsgeschichte zusammenbringt mit einer großartigen Regionalkenntnis, einem Regionalverständnis – ohne diesen Fatalismus über Russland bzw. die Sowjetunion, der in den späteren Büchern Baberowskis dominiert. Und dann habe ich schon auch diese ‚rote Bibel‘ gehabt, also wenn man den Außenumschlag abmachte, Zernacks „Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte“.44 Das ist auch ein Buch, in das ich in den 1990er Jahren immer wieder hineingeguckt habe und aus dem ich mir auch nach der Diss immer wieder Inspiration herausgezogen habe, gerade auch für diesen Polen-Spanien-Vergleich45, weil ich das einfach auch unglaublich klug fand. Inzwischen bin ich da vielleicht ein bisschen kritischer, Zernack dreht da schon vieles hin, um sein Argument zu machen. Aber das Buch hat mich beeindruckt. Bezeichnenderweise nenne ich hier keine Autorin, es wird mir gerade nochmal klar, wie wenig heterogen die auf Osteuropa bezogene Geschichtswissenschaft – so wie ich sie in den 1990ern erlebt habe – war. Auf einem Workshop zur polnischen Zeitgeschichte im Jahr 2012 haben Sie damals „die Beschäftigung mit Polen innerhalb der allgemeinen Geschichte an deutschen Hochschulen“ als Problem identifiziert, „wofür in der Zukunft neue

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Jörg Baberowski (*1961) – ders.: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864-1914. Frankfurt am Main 1996. Zernack, Klaus: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin 1994. Kraft, Claudia: „Pacto de silencio“ und „gruba kreska“. Vom Umgang mit Vergangenheit in Transformationsprozessen, in: Katrin Hammerstein u.a. (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit. Göttingen 2009, S. 97-107.

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Wege und Methoden gesucht werden müssten“.46 Wie sieht Ihre Prognose heute dafür aus, wie die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen wird? Ich glaube, dass diese klassischen area studies verschwinden werden und ersetzt werden durch einerseits globalhistorische Zugänge, aber dann eben auch durch gezielte Perspektiven der Migrationsgeschichte, der Wissenstransfergeschichte, der Netzwerkgeschichte. Und in diesen Perspektiven wird Polen, je nach Fragestellung, eine wichtige Rolle spielen. Es wird im Prinzip darum gehen, die großen Fragen an kleinen, genau beschriebenen Kontexten zu exemplifizieren. Und ich bin ganz optimistisch, dass man wegkommt von dieser Geschichtsschreibung der 1990er/2000er Jahre, als von Europa die Rede war, aber über Deutschland und England und Frankreich gesprochen wurde, oder von der Welt die Rede war und dann Kolonialgeschichte vor allem in der Perspektive englischer oder französischer Literatur betrieben wurde. Ich glaube, das wird sich ändern. Es sind so viele unglaublich gute Nachwuchsleute am Start, die auch hervorragende Sprachkenntnisse haben, sodass ich das eigentlich ganz positiv sehe, dass sich diese area studies vielleicht verflüchtigen werden, ohne dass die einzelnen Regionen aus der Geschichtsschreibung verschwinden. Was ich auch im Moment noch total negativ sehe – und da komme ich auf 2012 zurück –, ist die Tatsache, dass, wenn du was mit Polen machst, in der allgemeinen Geschichte immer noch nicht so richtig ernst genommen wirst, weil man doch weiterhin in einer eher landeskundlichen Ecke platziert wird, in der schöne Beispiele für konzeptuelle Überlegungen zu finden sind, letztere jedoch in der ‚allgemeinen‘ Geschichte entwickelt werden. Ich habe für dieses Dilemma keine Lösung, es geht wohl eher um das Bohren dicker Bretter: das ‚Allgemeine‘ wird ja ohnehin immer prekärer, das hat bereits die Geschlechtergeschichte gezeigt, die einerseits die allgemeine Geschichte mächtig herausgefordert hat, jetzt aber auch schon wieder von den queer studies herausgefordert wird. So gesehen sollten sich nicht nur die mit Polen Beschäftigten permanent auf die Suche nach neuen Wegen und Methoden machen.

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Krzoska, Markus: Tagungsbericht zum Workshop „Polnische Zeitgeschichte – heute und morgen“, 22.-24.06.2012 in Breslau, in: H-Soz-Kult, 27.07.2012, https://www.hsozkult.de/ conferencereport/id/tagungsberichte-4326 (02.07.2020).

Abb. 12.1

1998, in einem Rapsfeld in Thüringen. Foto: privat.

Morgane Labbé (*1960) ist Demographin und Historikerin. Sie arbeitet an der EHESS zur Wissenschaftsgeschichte und zu Bevölkerungspolitiken in Mittel- und Osteuropa. Sie ist in den Sozialwissenschaften mit einem Thema zur vergleichenden Demographie promoviert worden. Ihr folgendes Buch ist aus ihrer Hinwendung zur Geschichte der Bevölkerungsstatistik im 19. Jahrhundert entstanden, während sich ihr aktuelles Forschungsinteresse auf Sozialpolitiken in Mitteleuropa vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Nachkriegszeit konzentriert. Seit 2000 koordiniert sie das Austauschprogramm zwischen der EHESS und der Universität Warschau.

„Ich schöpfe daraus ohne Unterlass ein Gefühl der Freiheit“ Morgane Labbé Wie sind Sie eigentlich zur (geschichts-)wissenschaftlichen Beschäftigung mit Deutschland und Polen gekommen? Mein Interesse hat sich im Rahmen der Reflexionen und Diskussionen über das Wiederaufleben des Nationalismus in Ost- und Südosteuropa entwickelt, die nach 1989 aufgekommen sind. Diese Reflexionen stützten sich auf die damals neuen Arbeiten zu Nationen und nationalen Identitäten, die zur Strömung des Sozialkonstruktivismus gehörten wie Hobsbawm, Gellner usw.1 Auf dem Forschungsgebiet der Bevölkerungsstudien – der Demographie – und der Bevölkerungsgeschichte hatte diese Frage angesichts der Kategorien, die für Volkszählungen verwendet wurden, besondere Bedeutung. Ich musste mich in vergleichender Perspektive mit den Klassifizierungen alter Volkszählungen befassen, mit den Debatten der Statistiker, wie man nationale Zugehörigkeiten über die Statistik objektivieren könne. Diese Debatten knüpften auch an universitäre Diskussionen über Nationskonzepte an, etwa mit dem Buch von Brubaker und speziell in Frankreich mit dem Buch von Noiriel,2 in dem es um die Stichhaltigkeit eines Idealtyps ging, der eine kulturelle und eine politische Definition von Nation einander gegenüberstellte. In Frankreich drehte sich eine andere Debatte um die Möglichkeit, die von Demograph*innen und Soziolog*innen verteidigt wurde, in Umfragen Unterscheidungen bezüglich der sogenannten ‚ethnischen Herkunft‘ der Bevölkerung einzuführen, was in Verbindung damit stand, dass man die Politik gegenüber Immigrant*innen und deren Nachkommen in Frage stellte. Mitte der 1990er Jahre habe ich dann ein Postdoc-Stipendium für einen Aufenthalt am Centre Marc Bloch3 in Berlin erhalten, anschließend am 1 Eric Hobsbawm (1917-2012) – ders.: Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality. Cambridge 1990; Ernest Gellner (1925-1995) – ders.: Nations and Nationalism. Oxford 1983. 2 Rogers Brubaker (*1956) – ders.: Nationalism Reframed. Nationhood and the National Question in the New Europe. New York u.a. 1996; Gérard Noiriel (*1950) – ders.: Population, immigration et identité nationale en France (XIXe-XXe siècle). Paris 1992. 3 Centre Marc Bloch, gegründet 1992, französisches Auslandsforschungsinstitut für Sozialund Geisteswissenschaften in Berlin in der Trägerschaft der französischen Außen- und

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Max-Planck-Institut4, und ich habe es in Angriff genommen, diese ‚nationalen‘ Kategorien am deutschen Fall genauer zu untersuchen – zunächst anhand des ‚Dritten Reichs‘. Ich habe mich also für die Geschichte der Zählungen von Nationalitäten interessiert, nicht um nach Abstammungen zu suchen, sondern um zu verstehen, wie die Art und Weise des Gebrauchs solcher Kategorien unter diktatorischen Bedingungen instrumentalisiert wurden. Die Arbeit mit ethnischen und politischen Bevölkerungsstatistiken in Preußen und dann im ‚Dritten Reich‘ hat mich dazu gebracht, mich mit den polnischen Gebieten und deutsch-polnischer Geschichte zu beschäftigen. Während meiner Zeit am Centre Marc Bloch war ich auch mit Doktorand*innen im Austausch, die begannen, sich für die deutsch-polnische Geschichte zu interessieren – wie etwa Thomas Serrier5. Die Möglichkeit, anschließend nach Polen zu gehen, um mich dort um ein Kooperationsprogramm zwischen der EHESS6 und der Universität Warschau zu kümmern, hat dann mein Interesse für die Geschichte Polens wirklich erst ausgelöst. Ich habe zwei Jahre in Warschau an der Universität verbracht, habe die Sprache gelernt und begonnen, in den Bibliotheken und Archiven zu arbeiten. Von da aus haben sich dann neue Themen ergeben. Von Beginn meines Aufenthaltes an wollte ich dabei Kontakt mit dem Deutschen Historischen Institut Warschau7 aufnehmen. Thomas Serrier hatte

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Forschungsministerien und des Centre nationale des recherches scientifiques (CNRS) sowie seit 2001 auch des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung, An-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte (Aufenthalt 1996-1998) und für Geschichte (Aufenthalt 1998-1999). Das MPI für Wissenschaftsgeschichte ist ein seit 1994 in Berlin ansässiges Zentrum für interdisziplinäre Forschungen. Das MPI für Geschichte in Göttingen, gegründet 1956, wurde 2006 auf Betreiben der Max-Planck-Gesellschaft geschlossen. Zu seiner Geschichte vgl. Rösener, Werner: Das Max-Planck-Institut für Geschichte (1956-2006). Fünfzig Jahre Geschichtsforschung. Göttingen 2014; Schöttler, Peter: Das Max-Planck-Institut für Geschichte im historischen Kontext, 1972-2006. Zwischen Sozialgeschichte, Historischer Anthropologie und Historischer Kulturwissenschaft. Berlin 2020. Thomas Serrier (*1971). Die École des hautes études en sciences sociales (EHESS) ging aus seiner amerikanischen Exilgründung französischer Wissenschaftler*innen hervor und war ab 1947 als sogenannte VIe Section Teil der École Pratique des Hautes Études (EPHE). Seit 1975 existiert die EHESS als eigenständige Institution. In den Geistes- und Sozialwissenschaften lehrten hier die bedeutendsten französischen Intellektuellen der Nachkriegszeit. Vgl. Revel, Jacques/ Wachtel, Nathan (Hg.): Une école pour les sciences sociales. De la VIe Section à l’École des hautes études en sciences sociales. Paris 1995. Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl.  25 Jahre

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mir empfohlen, Hans-Jürgen Bömelburg und Robert Traba zu treffen.8 Beide haben mich sehr herzlich aufgenommen, und über ihre Vermittlung habe ich dann andere Wissenschaftler*innen wie Michael Esch und Ute Caumanns kennengelernt, die über Themen gearbeitet haben, die den meinigen sehr nahe waren.9 Vor dem Hintergrund Ihrer breiten Arbeiten zu ‚Ost‘ und ‚West‘ und Ihres Blickes aus der Sozial – wie der Geschichtswissenschaft: Wo haben Sie 1989 überhaupt erlebt und hat sich 1989 für Sie eigentlich etwas Entscheidendes verändert bzw. würden Sie denn eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen? Ich habe 1989 in Frankreich erlebt, aber als eine politische Erschütterung. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Europa und vor allem Deutschland so wiedervereinigt würden, wenn auch die Glasnost-Politik schon einigen Wandel vorbereitet hatte. Ich habe 1989 – vielleicht ein wenig naiv – wie eine Befreiung wahrgenommen, aber auf jeden Fall war die europäische Einigung, die nun möglich wurde, wichtig für mich. Meine einzigen Kontakte mit der Welt hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘ hatte ich mit den Demograph*innen, die vom INED10 eingeladen worden waren und die vor allem aus Russland und der Tschechoslowakei kamen. Aber 1989 hat für mich auf jeden Fall die Forschungen zu meiner Doktorarbeit verändert, die ich vorbereitete: Ich beschloss, die demographischen Entwicklungen zwischen West- und Osteuropa zu untersuchen. Osteuropa war nun ein Thema für die vergleichende Demographie gegenwärtiger Gesellschaften geworden – wegen der Bevölkerungspolitiken in den Ländern Osteuropas, etwa in Hinsicht auf die Geburtenförderung und AntiAbtreibungs-Maßnahmen, aber auch wegen der immer differenzierteren Bevölkerungsentwicklungen. Wie wirkte damals aus einer französischen Sicht die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften ein – sei ist direkt oder indirekt? Gab es aus dieser Perspektive Besonderheiten mit Blick auf Deutschland und Polen? Und umgekehrt, welche Rolle spielten eventuell Historikerinnen und Historiker in der Politik und in einer breiteren Öffentlichkeit?

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Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Hans-Jürgen Bömelburg (*1961); Robert Traba (*1958). Michael G. Esch (*1959); Ute Caumanns (*1960). Institut national d’études démographiques (INED). 1945 gegründetes staatliches Forschungsinstitut.

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Ich denke, dass die Politik zwischen beiden Ländern durchaus einen Einfluss auf die Geschichtswissenschaft und den Geschichtsunterricht hatte, vor allem, weil es bereits einen harten Kern von Historiker*innen gab, die sich um gegenseitige Annäherung bemüht hatten. Ohne die Historiker*innen wäre sie weniger erfolgreich und vor allem zerbrechlich geblieben. Die bilaterale Politik hat dabei die Geschichte finanziell durch Publikationsprogramme, Übersetzungen, universitären Austausch, die Einrichtung von Instituten und den Zugang zu Archiven gefördert. Historiker*innen selbst interessierten sich weniger dafür, die ‚große‘ Politik zu beeinflussen, als die Wirkung von offensiven Erinnerungspolitiken zu kontern (zum Beispiel die Forderungen der Vertriebenen), einen kritischen Blick darauf zu haben, wie die Vergangenheit benutzt wird. In diesem Zusammenhang fand ich die Einstellung der französischen Historiker*innen ziemlich zaghaft – einerseits, weil ein Teil von ihnen ihr politisches Engagement nur auf die Geschichte Frankreichs und in sehr geringem Maße auf einen europäischen Kontext bezog und andererseits, weil sich auf der Ebene der französischen Geschichte die Überlegungen auf die Vichy-Periode bezogen, noch kaum auf die Kolonialpolitik. Nur in wenigen Fällen, und zwar genau bei denjenigen, die sich mit Deutschland beschäftigten – ich denke hier an Étienne François11, der als Direktor des Centre Marc Bloch eine grundlegende Rolle gespielt hat –, haben sich die französischen Historiker*innen für die Geschichte Europas interessiert. Am Centre Marc Bloch waren die französischen Mitarbeiter*innen daher zunächst Politologen, Soziologen und Philosophen. Würden Sie denn sagen, dass sich die Ambitionen eines „Weimarer Dreiecks“ jemals mit Leben gefüllt haben? Das Projekt des Weimarer Dreiecks war zugleich zu diplomatisch und zu idealistisch. Es hat die strukturellen Differenzen zwischen den universitären Ausbildungen und der Forschung in den drei Ländern überhaupt nicht berücksichtigt. In Frankreich zum Beispiel ist die Geschichte Polens immer noch Teil der Slavistik (Études slaves), zusammen mit der Sprache und Literatur, und verbleibt in diesem Sinne in einer rein nationalen Perspektive. Die Forschung zur deutschen Geschichte hat sich aus den philologischen Fachbereichen emanzipiert, und die französisch-deutsche Geschichte hat wirklich in fortschrittlicher Weise neue Wege in den Sozial- und Geschichtswissenschaften beschritten. Die französisch-polnische Geschichte hingegen ist konservativ geblieben, dort herrschen noch alte anti-deutsche Gefühle. Es sind die jungen 11

Étienne François (*1943).

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Wissenschaftler*innen, die diese Vorstellungen und Strukturen durch ihre empirische Forschung verändern, Forschungsfelder übergreifend, indem sie transversale Fragen stellen und mehrere Sprachen lernen. Dabei spielen auch Reisen nach und Aufenthalte in Berlin, Warschau und allen Städten Mittelund Osteuropas eine Rolle, die eine große Anziehungskraft auf französische Studierende ausüben. Was mich in Bezug auf die Veränderungen darüber hinaus verblüfft, sind die Fähigkeiten der Universitäten der drei Länder, Beziehungen jenseits der Hauptstädte untereinander aufzubauen. Heutzutage beschränken sich die Austauschbeziehungen zwischen den drei Ländern eben nicht nur auf die Hauptstädte, sondern finden sich zwischen Straßburg, Posen, Leipzig, Halle, Lille, Breslau, Lublin usw. Die ersten französischen Kontakte waren im diplomatischen Rahmen organisiert worden, innerhalb des vom Außenministerium aufgelegten Programms zur Unterstützung universitärer Zusammenarbeit. Gewichtige finanzielle Mittel haben dabei geholfen, diese Austauschmaßnahmen zu unterstützen, und das vermittelt über die EHESS, wo – gerade dank Le Goff12, aber nicht nur ihm – enge Verbindungen nach Polen bestanden. Es wurden gewissermaßen ältere Verbindungen reaktiviert, die schon unter Braudel13 etabliert worden waren. Eine ganze polnische Historikergeneration – etwa Geremek, Kula usw. – hatte enge Kontakte mit den französischen Historiker*innen behalten.14 Die ganze zweite Hälfte der 1990er Jahre haben Sie in Deutschland und den Beginn der 2000er Jahre in Warschau verbracht. Welche Einzelpersönlichkeiten in Ihren Kontakten nach Deutschland und Polen waren für Sie damals besonders wichtig? Ich hatte keine Kontakte zu deutschen Wissenschaftler*innen, bevor ich in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen bin, weil meine Kontakte mit Deutschland privater Natur waren, familiär, aber nicht universitär. Mein Professor an der EHESS hatte für mich in Berlin den Kontakt zu Hartmut Kaelble15 hergestellt, da er ihn kannte, wie viele Forscher*innen in 12 13 14

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Jacques LeGoff (1924-2014). LeGoff hatte schon früh Kontakte nach Polen, wo er auch seine Frau kennenlernte. Vgl. ders.: Avec Hanka. Paris 2008. Fernand Braudel (1902-1985). Bronisław Geremek (1932-2008); Witold Kula (1916-1988). Zu Kulas Verbindung zur Annales-Schule vgl. Echterhölter, Anna: Quantification as Conflict. Witold Kula’s Political Metrology and Its Reception in the West, in: Historyka. Studia metodologiczne 49 (2019), S. 117-141, allgemein zum Einfluss der Annales-Schule auf Teile der Historiker in der Volksrepublik Polen: Pleskot, Patryk: Intelektualni sa̜siedzi. Kontakty historyków polskich ze środowiskiem ‚Annales‘ 1945-1989. Warszawa 2010. Hartmut Kaelble (*1940).

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Frankreich, wo Kaelble regelmäßig hinfuhr. Kaelble half mir, deutsche Doktorand*innen kennenzulernen. Als Demographin war ich zunächst am Institut für Demographie der Humboldt-Universität angesiedelt, das sich in einer sehr angespannten Situation befand, denn der neue Direktor war ein Professor16 aus Wien, während die anderen Mitarbeiter*innen aus alten DDRInstituten kamen. Dort befleißigte man sich keiner historischen Perspektiven oder auch nur eines kritischen Blicks auf Demographie und Politik. Darum habe ich das Institut dann verlassen. Ich bekam auch Kontakte dank einiger Doktorand*innen – so hat Jakob Vogel mir Dieter Gosewinkel und Christoph Conrad vorgestellt – und dank einiger deutscher Mitarbeiter*innen am Centre Marc Bloch, vor allem Peter Schöttler.17 Am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte habe ich wenige deutsche Wissenschaftler*innen getroffen, dort war das Umfeld sehr angelsächsisch, was sich seitdem verändert hat. Aber dann am MPI Göttingen habe ich Jürgen Schlumbohm und Alf Lüdtke kennengelernt und mit ihnen eine deutsche Sozialgeschichte, die ich zuvor nicht gekannt hatte und die eine Offenbarung für mich war.18 Als ich in Warschau eintraf, waren die Bedingungen ganz andere, weil ich mich um ein bereits existierendes französisch-polnisches Programm kümmerte. Ich wurde sofort Marcin Kula19 vorgestellt, und das war ein echter Glücksfall, denn er war ein sehr engagierter Partner. Er interessierte sich für eine vergleichende Geschichte des Kommunismus und nahm den Vorschlag des Centre Marc Bloch mit sehr viel Interesse auf, eine Begegnung zwischen Doktorand*innen und jungen Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Polen und Frankreich zu organisieren. Das war die erste Initiative für eine Begegnung zwischen Studierenden aus den drei Ländern und ging auf Catherine Colliot-Thélène20 zurück, die als Direktorin das Centre Marc Bloch zu einem Zentrum machen wollte, das offen nach Osteuropa war. Über Kulas Vermittlung habe ich auch Jerzy Kochanowski kennengelernt, während ich Włodzimierz Borodziej nur dem Namen nach kannte und nie persönlich getroffen habe.21 Schließlich habe ich, wie bereits erwähnt, durch meine Kontaktaufnahme mit dem DHI, die mir Thomas Serrier geraten hatte, Hans-Jürgen Bömelburg und Michael Esch kennengelernt. Hinterher habe ich dann über Jakob Vogel Bekanntschaft

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Rainer Münz (*1954). Jakob Vogel (*1963); Dieter Gosewinkel (*1956); Christoph Conrad (*1956); Peter Schöttler (*1950). Jürgen Schlumbohm (*1942); Alf Lüdtke (1943-2019). Marcin Kula (*1943). Catherine Colliot-Thélène (*1950). Jerzy Kochanowski (*1960); Włodzimierz Borodziej (*1956).

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mit Martin Kohlrausch22 gemacht und wir haben erneut versucht, französischdeutsch-polnische Begegnungen für Doktorand*innen zu organisieren, aber uns fehlte die Unterstützung der Verantwortlichen. Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die deutsch-polnischen Kontakte auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft nach 1989 stark von Männern geprägt waren. Würden Sie dies auch im Vergleich zur französischen Landschaft so bestätigen wollen? Diesen Eindruck teile ich, aber es ist letztlich das Spiegelbild des geringen Frauenanteils auf Lehrstühlen und im polnischen Fall auch des geringen Anteils an Studentinnen. Ich war bestürzt, wie gering die Zahl an polnischen Doktorandinnen in den Programmen war, die ich koordiniert habe. Und keine hat in diesem französisch-polnischen Rahmen ihre Doktorarbeit abgeschlossen – nicht wegen mangelnder Fähigkeiten, sondern weil die Familiengründung für sie Vorrang hatten. Welche Rolle spielten für Sie bei den Kontakten nach Deutschland und Polen wissenschaftliche beziehungsweise private Netzwerke? Wie war der persönliche Umgang im Vergleich in Deutschland und Polen miteinander? In den 1990er Jahren hatte ich, bevor ich in beide Länder kam, noch keine privaten Kontakte dorthin. Im Laufe meiner Aufenthalte schließlich habe ich im universitären Milieu Bekanntschaften gemacht, aus denen Freundschaften erwachsen sind, die bis heute halten. Manchmal habe ich gerade im Rahmen gesellschaftlicher Anlässe die Last universitärer Hierarchien gespürt, die in Deutschland und Polen drückender war als in Frankreich. Letztlich sind die Beziehungen zu deutschen und polnischen Wissenschaftler*innen für mich zentral geworden, von einer großen Loyalität getragen. Ich schöpfe daraus ohne Unterlass ein Gefühl der Freiheit, um aus dem französischen universitären Milieu auszubrechen, das ich immer noch als zu national und verschlossen empfinde, und so habe ich das Gefühl und die Überzeugung, mich in einem europäischen Raum zu bewegen. Wie schätzen Sie für die 1990er Jahren die Intensität und den Charakter der deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen im Vergleich zu den französischdeutschen und französisch-polnischen ein? 22

Martin Kohlrausch (*1973).

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Es scheint mir, dass in diesen Jahren die Wissenschaftspolitik in Frankreich weniger auf die Unterstützung gut etablierter bilateraler Beziehungen ausgerichtet war als auf eine Politik der Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Ländern, die auf Stipendienprogramme und die Einrichtung von Zentren setzte – wie das Centre Marc Bloch und das CEFRES23. Das war eigentlich eine asymmetrische Politik, da sie annahm, dass die Eliten dieser Länder in Frankreich ausgebildet werden müssten. Sie hat mehr den Austausch nach Frankreich als in die Gegenrichtung unterstützt. Die französischen Doktorand*innen, die ihre Forschungsarbeit in Polen gemacht haben, wurden wenig gefördert. Sie bekamen Stipendien, um Sprachkurse zu machen, aber nicht um ein Semester Geschichtswissenschaft oder Soziologie an einer polnischen Universität zu studieren. Linguistische und literaturwissenschaftliche Studienprogramme wurden bevorzugt. Hatten Sie das Gefühl, dass alte Komplexe bzw. Verhaltensmuster weitergewirkt haben? Blieben Schieflagen und Asymmetrien bestehen, entwickelten sich neue oder andere? Ich denke nicht. Die neuen Generationen in Polen sind außergewöhnlich kosmopolitisch gewesen, und selbst wenn sie von einem Rückzug ins Nationale angesprochen wurden, glaube ich nicht, dass die Verhaltensweisen mit denen der Vergangenheit identisch waren. Was wir allerdings entdecken, sind tiefe Verwerfungen zwischen den Offenen, den ‚Europäer*innen‘, und den anderen Nationalistischeren, Xenophoben. Was andauert, das sind die Ungleichheiten in den Lebensbedingungen, den Einkommen und sogar der Freiheit für Wissenschaftler*innen und Studierende. Da sollte die Solidarität stärker sein. Und welche Rolle spielten aus Ihrer Sicht bei der Verdichtung der deutschpolnischen Kommunikation bestimmte Institutionen? Wie würden Sie dabei vergleichend die Rolle französischer Wissenschaftseinrichtungen einschätzen? Wie ich bereits angedeutet habe, hatte die EHESS traditionell Kontakte durch die Annales-Schule, die von einem institutionellen Rahmen – über 23

Centre français de recherche en sciences sociales (CEFRES). In Prag 1991 vom französischen Außenministerium und dem Centre nationale des recherches scientifiques (CNRS) gegründetes sozial- und geisteswissenschaftliches Forschungsinstitut, das den wissenschaftlichen Austausch zwischen Frankreich und der Tschechischen Republik sowie den Visegrád-Staaten fördern soll. Seit 2014 wird das CEFRES in verstärkter Kooperation mit der Karls-Universität und der Tschechischen Akademie der Wissenschaften betrieben.

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Einladungen, Stipendien usw. – profitierten, der von Braudel mit viel Durchsetzungskraft auf die Beine gestellt worden war. Aus dieser Perspektive sieht man, dass es nicht ausreicht, intellektuelle Kontakte zu haben, sondern dass allein Institutionen sie wirksam werden lassen. Braudel, dann Revel und schließlich Rose-Marie Lagrave hatten diese luzide Einsicht und diese politische Wirkkraft.24 Ich denke, dass dieser politische Blick den Vorsprung der EHESS in der Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Ländern erklärt. Er hat von 1990 an dazu geführt, dass neue Arbeitseinheiten geschaffen wurden und dazu, dass sich die EHESS am Aufbau neuer Forschungszentren wie eben dem Centre Marc Bloch, dem CEFRES usw. beteiligt hat. Andererseits hat es die EHESS meiner Ansicht nach nicht vermocht, eine vermittelnde Rolle hin zu anderen französischen Universitäten zu spielen – daher jene Zersplitterung der Kontakte – und vor allem hin zu den deutschen Universitäten. Daraus erklärt sich auch das Scheitern des Weimarer Projektes. Die Rolle der deutschpolnischen Institutionen wiederum ist grundlegend für die Annäherung. Es gibt Ausbildungsinstitutionen und Forschungsinstitute wie das DHI. Die gleiche Form der Annäherung kann man für die französisch-polnische Geschichte nicht erwarten, die es eigentlich gar nicht gibt. Die Annäherungen hier waren vor allem politischer Natur, namentlich in den Perioden eines antideutschen Nationalismus. Diesem Modell der Beziehungen folgend haben sich die Forschungen der Franzosen über Polen entwickelt: Slavistik, Internationale Beziehungen, aber sehr wenig Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Haben Sie Unterschiede in der praktischen wissenschaftlichen Arbeit zwischen Frankreich sowie Deutschland und Polen empfunden (Archive, Bibliotheken etc.)? Ich denke, es gibt immer Unterschiede, weil die Forschungspraxis immer an konzeptuelle und methodologische Traditionen gebunden ist. Gerade darin liegt aber der Wert der Zusammenarbeit, denn sie nähert die unterschiedlichen Traditionen und Praktiken einander an und lehrt uns, daraus eher eine Bereicherung zu ziehen, als Hürden zu bauen. Auch für die Studierenden ist es wichtig, sich darüber bewusst zu werden, dass die Praxis der Sozial- und Geschichtswissenschaften von einem zum anderen Land differiert. Das beginnt mit den Archiven, deren Aufbewahrungs- und Ordnungslogiken unterschiedlich sind, was uns auch zu einem konstruktiveren Blick auf die Quellen bringt. In Deutschland beispielsweise findet man bemerkenswerte Sammlungen gedruckter Quellen. Tatsächlich aber ist es schwierig, objektive Unterschiede 24

Jacques Revel (*1942); Rose-Marie Lagrave (*1944).

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wahrzunehmen, weil die konkreten Praktiken für mich nicht vergleichbar sind. Ich suche nicht nach den gleichen Quellen in den drei Ländern. Wenn es allerdings einen bemerkenswerten Unterschied zwischen den drei Ländern für mich gibt, dann sind dies die französischen Bibliotheken, die immer französischsprachige Veröffentlichungen zur Geschichte Polens vorziehen, sei es zur Literatur, zur Kunst, zu der Ereignisgeschichte oder den Internationalen Beziehungen. Man findet keine bedeutenden polnischsprachigen Bücher zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Die bibliothekarischen Bestände sind immer noch ein Spiegelbild der bilateralen diplomatischen Beziehungen. Genauso finde ich aber leider auch im DHI Paris25 nur Bücher zur deutschfranzösischen Geschichte. Es müsste natürlich in virtueller Form geschehen, dass jedes DHI einen Zugang zu den digitalen Sammlungen der jeweils anderen Institute zur Verfügung stellt. Und schließlich wäre ein ‚Weimarer‘ DHI ideal! Gab es in den 1990er Jahren so etwas wie transnationalen methodischen Austausch? Wurden Fragestellungen und Ansätze weiterverfolgt, die über den nationalen, bilateralen Rahmen hinausgingen? Nicht im heutigen Sinne, aber in Form einer vergleichenden Geschichte, einer alten, gut etablierten Methode, die es erlaubt, Forschungen gründlich und mit methodischer Strenge durchzuführen. In der Wissenschafts- und Statistikgeschichte gab es ein neues Interesse für die internationalen Kongresse des 19. Jahrhunderts, die sehr wichtige Foren, Transmissionsriemen für eine Standardisierung der Wissenschaft wurden, für die Konsolidierung von deren Autonomie und die transnationale Verbreitung von Ideen und Methoden. Man kann die Geschichte der Statistik, der Bevölkerungserhebungen in Europa nicht verstehen, ohne diese Kongresse zu berücksichtigen. Eben diese Kongresse haben dazu geführt, dass ich mich für Nationalitätenfragen interessiert habe. Die Ansätze der transnationalen Geschichte sind transgressiver, das heißt, dass sie es erlauben, die einzelnen Historiographien zu ‚denationalisieren‘. Ich schließe in diese Sichtweise die bilateralen Zugänge ein, die im französischpolnischen Fall auch nationales Gelände sind, die den Mythos einer ‚Freundschaft‘ gegen den ‚deutschen Feind‘ ausbilden. Aus dieser Perspektive sind 25

Als „Deutsche Historische Forschungsstelle“ (Centre allemand de recherche historique) 1958 in Paris gegründet, ist das Deutsche Historische Institut Paris (DHIP) seit 1964 ein Bundesinstitut. Seit 2002 ist es Teil der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland. Vgl. Babel, Rainer/Große, Rolf (Hg.): Das Deutsche Historische Institut Paris / L’Institut historique allemand, 1958-2008. Ostfildern 2008.

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Einflüsse und Austauschprozesse zwischen polnischen intellektuellen Eliten und deutschen und österreichischen Universitätskreisen ausgeschlossen. Dabei haben die polnischen Staatsmänner mindestens ebenso, wenn nicht sogar viel stärker, ihre Ausbildung in Kontakt mit den Rechts- und Verwaltungswissenschaften, mit der Soziologie und Geographie in Wien, Berlin, Leipzig und Halle wie in Paris gefunden. Heute noch feiert man den gelehrten Austausch zwischen Frankreich und Polen, während man den Rest der Welt ignoriert. In der Zwischenkriegszeit schickte das Stipendienprogramm der Rockefeller Foundation26, mit dem ich mich beschäftigt habe, die jungen Polen in die Vereinigten Staaten, nach England, nach Deutschland und nach Österreich, aber kaum nach Frankreich. Könnte man sagen, dass die alten demographischen Traditionen sowohl in Frankreich als auch in Deutschland und Polen mit marxistischen Methoden verbunden waren? Im Vergleich scheint nach 1989 das Verschwinden eines Großteils dieser Forschung ein großer Unterschied gegenüber Frankreich. Ja, das ist eine Erklärung, aber nur in Teilen. In den 1990er Jahren war die Demographie in Frankreich wie in anderen Ländern durch Sorgen um Geburtenförderung bestimmt, die man in allen politischen Strömungen findet. Ich denke, dass in Polen eher die quantitative Sozialgeschichte und die Wirtschaftsgeschichte mit dem Marxismus assoziiert wurden und diese gegenüber den Reizen der Kulturgeschichte und aller Arten von studies zurückgewichen sind. Welche Publikationen hatten damals in den 1990er Jahren Einfluss auf Sie? Und was ist davon für Sie heute noch wichtig? Das waren die historischen und anthropologischen Arbeiten über den Nationalismus, die ich zu Beginn schon erwähnt habe. Was die Geschichte des ‚Dritten Reichs‘ und die Politik in den polnischen Gebieten betrifft, waren es die Arbeiten zur Rassenpolitik und zur Eugenik. Dazu gehörten aber nicht 26

Stiftung mit breitem philanthropischem Anspruch, 1913 in New York durch John D. Rockefeller (1839-1937) gegründet. – Labbé, Morgane: The Rockefeller Foundation Turns to the East. Polish Social Sciences Fellows during the Interwar Period, in: Rockefeller Archive Centre, RAC, Research Reports, 2011, https://rockarch.issuelab.org/resource/rockefellerfoundation-turns-to-the-east-polish-social-sciences-fellows-during-the-interwar-period. html (06.12.2020); dies.: De la philanthropie à la protection sociale en Europe centrale et du Sud-Est (fin du XIXe siècle-entre-deux-guerres), in: Revue d’histoire de la protection sociale 11 (2018) 1, S. 13-22.

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die polnischen Forschungen, die ich noch nicht kannte. Der erste polnische Historiker, den ich im Rahmen meiner Forschungen schätzen gelernt habe, war Maciej Janowski, dem ich auch über das Centre Marc Bloch bei einer Sektion des Historikertags begegnete, die Bernhard Struck von der Freien Universität Berlin organisiert hatte und wo Janowski als Diskutant auftrat.27 Hier sieht man den entscheidenden Einfluss der deutschen Kolleg*innen. Struck hat in seiner Dissertation auch Pionierarbeit vollbracht, indem er die Berichte deutscher Reisender in Frankreich und in Polen verglich.28 Er war auch ein Produkt des französisch-deutschen Austauschs, einer älteren Form der Förderung von Jugendaustausch. Er ist perfekt französischsprachig. Wie Thomas Serrier hatte er eine Schlüsselrolle und hat sie noch heute. Indem er in St. Andrews lehrt, verkörpert er eine erfolgreiche europäische Universitätskarriere, wobei er sich in einer sehr internationalen Elite bewegt, innerhalb derer die deutschen und österreichischen Wissenschaftler*innen mehr Erfolg haben als die französischen, ich denke da auch an Philipp Ther29. Ansonsten waren es in den 1990er Jahren weniger Bücher, weniger die Literatur als das Kino, das Einfluss auf meine Wahrnehmung hatte, allen voran die Filme von Kieślowski30. Welches waren rückblickend die wichtigsten Themen und Leitnarrative der letzten 30 Jahre? Und wie würden Sie ihre eigenen Forschungen hier verorten? Die Erinnerungsforschung bildet das spektakulärste Feld. Das ist ganz und gar nicht mein Gebiet, aber ich erkenne an, dass das ein absolut neues Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften ist, das die Vorbehalte gegenüber diesem Thema umgestoßen hat. Es ist ein sehr integratives Forschungsfeld – von der Literatur bis hin zu Gedenkfeiern. Ich bin erstaunt von seiner Vielfalt und Fruchtbarkeit. Hinzu kommen die Themen der transnationalen Geschichte, insbesondere in der Geschichte des Nationalismus, die angelsächsischen Arbeiten zur „nationalen Indifferenz“31 und zu allen hybriden, lokalen Formen der Kombination von Zugehörigkeiten. Ich denke auch, dass Brubaker mit seiner soziologischen Herangehensweise wirklich einen anderen Blick auf den 27 28 29 30 31

Maciej Janowski (*1963); Bernhard Struck (*1972). Struck, Bernhard: Nicht West – nicht Ost. Frankreich und Polen in der Wahrnehmung deutscher Reisender zwischen 1750 und 1850. Göttingen 2006. Philipp Ther (*1967). Krzysztof Kieślowski (1941-1996). Zahra, Tara: Imagined Noncommunities. National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (2010) 1, S. 93-119.

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Nationalismus erlaubt hat, einen stärker relationalen und kontextualisierten. In der Wissenschaftsgeschichte und in der Geschichte der Wissenszirkulation waren die Folgen auch durchschlagend, indem man wissenschaftliche Innovation nicht alleine mehr in westlichen Ländern verortete und sich auch für Praktiken des Wissens interessierte. Alle Arbeiten zur Geschichte der Medizin in Polen sind bemerkenswert. Auch die Studien über Expert*innen und die Moderne von Kohlrausch und Steffen haben neue Perspektiven auf die Verbindungen zwischen gelehrten Eliten und der Konstruktion des Staates eröffnet.32 Sie haben mich sehr inspiriert. Im Jahr 1941 hatte Marc Bloch zumindest in Bezug auf die methodische Entwicklung der Geschichtswissenschaft die Hoffnung: „Si incertaine que demeure, sur tant de points, notre route, nous sommes, me semble-t-il, à l’heure présente mieux placés que nos prédécesseurs immédiats pour y voir un peu clair.“33 Würden Sie diese Hoffnung heute teilen und wie wird allgemein die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen, Frankreich und Europa im Jahr 2030 aussehen? Es ist sehr schwer, so nicht zu denken. Bei den Studierenden gibt es eine methodologische Vielfalt und einen Wagemut auf der Suche nach neuen Wegen oder epistemologischen Herausforderungen und Perspektiven, Globalgeschichte zu denken, die einmalig sind. Ich hege manchmal Befürchtungen, dass die Vervielfachung von thematischen Spezialisierungen, die man Études nennt, in Übersetzung der angelsächsischen studies, die methodologische Basis der Fachdisziplinen bedroht. Der Enthusiasmus für die Études – Gender, Umwelt, Nationalismus, Stadt … – kann auch mit einer neuen Form von Blindheit, von Verschlossenheit oder methodologischem Relativismus einhergehen. Die Gefahr kommt aber auch von den politischen Regimen und deren Eingriffen in den Geschichtsunterricht und in die Forschungsfinanzierung. In politischer wie finanzieller Hinsicht ist die Lage der Universitäten in Mitteleuropa besorgniserregend. Wir nehmen dabei auch klarer die Schwäche und Anfälligkeit unserer Tätigkeit wahr und die der Situation von Historiker*innen innerhalb ihres jeweiligen Landes. 32

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Martin Kohlrausch (*1973); Katrin Steffen (*1967). Kohlrausch, Martin/Steffen, Katrin/ Wiederkehr, Stefan (Hg.): Expert Cultures in Central Eastern Europe. The Internationalization of Knowledge and the Transformation of Nation States since World War  I. Osnabrück 2010. Marc Bloch (1886-1944) – ders.: Apologie pour l’histoire ou Métier d’historien, hg. v. Étienne Bloch. Paris 2005, S. 43.

Abb. 13.1 Mit Tochter im Schwarzwald, 1998. Foto: privat.

Andreas Lawaty (*1953) ist in Bytom geboren und hat in Portland, Oregon, USA, und in Frankfurt am Main studiert. Promoviert wurde er 1982 an der Universität Gießen. Er ist Historiker und Slavist und war in verschiedenen Funktionen tätig an der Historischen Kommission zu Berlin (1979-1981), dem Deutschen Polen-Institut in Darmstadt (19822002) und am Nordost-Institut in Lüneburg (2002-2016). Seit 2018 ist er im Ruhestand.

„Ich habe die 1990er Jahre persönlich als eine Zeit des großen Staunens in Erinnerung“ Andreas Lawaty Sie sind in Polen geboren und aufgewachsen. Dann haben Sie einige Jahre in den USA gelebt und studiert, und sind – erst 1972 – aus Portland, Oregon nach Deutschland gekommen. Welche Rolle spielten kulturelle Brüche und Übergänge in Ihrem Leben? Sie haben es 2015 einmal so formuliert: „Bis heute fühle ich mich etwas wie ein Ankömmling von einem anderen Planeten, der von jedem Ort seines Aufenthaltes fasziniert ist. Je bereitwilliger man ihn erforscht, desto weniger verständlich werden die Prinzipien seines Funktionierens.“1 Da hat sich an der Sicht von damals nicht viel verändert, weil ich in der Tat nie so etwas wie eine Art Heimat, ein intensives Heimatgefühl entwickelt habe, wie ich das dann später bei vielen Menschen festgestellt habe, also eine Sehnsucht nach den Orten, in denen man aufgewachsen ist oder in denen man lange Zeit verbracht hat. Ich hatte immer eine positive Beziehung zu den Orten entwickelt, zu den Ländern, zu den Kulturen, aber mich immer auch ein bisschen, ich will nicht sagen ‚deplatziert‘, gefühlt, aber doch leicht fremd oder etwas ‚anders‘. Diese Andersartigkeit kultureller Art hat mich allerdings auch schon sehr früh geprägt, schon in der Kindheit. Ich bin in einem für mich fremden religiösen Umfeld aufgewachsen. Kulturell und sprachlich natürlich im Polnischen, aber mein Vater war Pastor einer kleinen protestantischen Gemeinde amerikanischer Provenienz und ich lebte quasi, sobald ich auf die Straße ging oder in die Schule kam, mit dem Gefühl, irgendwie anders zu sein. Denn selbst im kommunistischen Polen war die katholische Kirche extrem präsent, auch in der Schule. Denn zumindest als ich 1960 in die Schule kam, gab es dort ja noch Religionsunterricht. An diesem nahm ich aber nicht teil, ebenso wenig am Schulunterricht samstags, weil das eben zu Hause unser religiöser Feiertag war. Jedenfalls ist dieses Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein und trotzdem ein bisschen fremd, sozusagen von Anfang an dabei gewesen. Und ich habe auch 1 Lawaty, Andreas: Intelektualne wizje i rewizje w dziejach stosunków polsko-niemieckich XVIII-XXI wieku. Kraków 2015, S. 10. Vgl. auch die Würdigungen in Ruchniewicz, Krzysztof/ Troebst, Stefan/Zybura, Marek (Hg.): In officio amicitiae. Andreas Lawaty, dem Grenzgänger und Freund, zum 65. Geburtstag. Dresden 2018.

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erst sehr spät verstanden, dass meine Familie starke deutsche Wurzeln hat, zumindest die meines Vaters aus Lodz, meine Mutter kam aus Oberschlesien, und dass das alles nicht so ganz klar ist, wie ich es als Jugendlicher zuerst aus den Romanen von Sienkiewicz2 gelernt hatte. Wenn wir nun einen Schwenk in Richtung der 1990er Jahre machen, würden Sie sagen, dass sich 1989 wirklich etwas Entscheidendes verändert hat? Oder würden Sie eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen? Das betrifft einerseits die persönliche Wahrnehmung direkt in der Zeit, andererseits vielleicht auch die Reflexionsebene, die sich daraufgesetzt hat. 1989 haben wir, glaube ich – alle, die damals schon bewusst mit dabei waren – als eine enorme Zäsur erlebt, weil es ja nicht nur bei mir biographisch im deutsch-polnischen Bereich um etwas Neues ging, sondern es gab doch eine gewaltige Veränderung im Weltgefüge. Ich habe allerdings die Veränderung womöglich stärker an der deutsch-deutschen Grenze wahrgenommen als an der deutsch-polnischen, weil ich aus den 1980er Jahren – ich war seit 1982 am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt beschäftigt – relativ unproblematische Kontakte nach Polen hatte und gar nicht so einfache – also formal jedenfalls – in die DDR mit Übersetzern, Polonisten dort, mit denen ich damals sehr gut zusammengearbeitet habe. Aber jeder Besuch, etwa bei Joachim Zeller3 an der Mauer in Ostberlin, war für mich, als osteuropäischer Junge, der das noch von früher kannte, ein mit gewisser Unruhe und Angst gefülltes Erlebnis. Bei den Besuchen in Polen habe ich das weniger erlebt, weil die 1980er Jahre von der Solidarność4-Erfahrung und natürlich auch vom Kriegsrecht5 geprägt waren. Dieses Kriegsrecht hat man schon dramatisch erlebt, aber irgendwie ‚ungläubig‘, weil man das Gefühl hatte, dass es in Polen dann doch nicht so leicht zu extremen Handlungen kommen kann. Also ich habe 1989 schon als eine enorme Befreiung, auch Befreiung des Diskurses empfunden, der zwar 2 Henryk Sienkiewicz (1846-1916). 3 Joachim Zeller (*1952). 4 Zwischen August  1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999. 5 Der Kriegszustand wurde am 13. Dezember 1981 von General Wojciech Jaruzelski (1926-2014) zur Unterdrückung der Opposition verhängt und erst im Juli 1983 wieder aufgehoben. Vgl. Paczkowski, Andrzej: Wojna polsko-jaruzelska. Stan wojenny w Polsce 13 XII 1981-22 VII 1983. Warszawa 2006.

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schon in den 1980er Jahren offen gelaufen, aber doch immer an irgendwelche formalen Grenzen gestoßen ist. Und ich habe 1989 noch anders als eine wichtige Zäsur im deutsch-polnischen Bereich erlebt, weil es damals auch das 50. Jahr des Kriegsbeginns war. Man vergisst über die politischen Ereignisse der Zeit eigentlich diese Erinnerungszäsur. Ich habe es deswegen besonders intensiv erlebt, weil wir damals vom Deutschen Polen-Institut Kontakte zur Lufthansa hatten, so lustig das klingt. Lufthansa war wahrscheinlich wirtschaftlich interessiert an der Öffnung nach Polen. Und sie wollten aus Anlass des Jahrestags etwas machen und haben uns gefragt: „Was könnten wir da tun, Kulturelles und so weiter?“ Wir kamen dann auf die Idee, eine Tagung in Krakau zu machen zu diesem Jahrestag. Und das war ein besonderes Erlebnis, weil wir uns entschieden haben, jetzt nicht ausschließlich an den Krieg zu erinnern, sondern eine andere Frage in den Mittelpunkt zu stellen, und dazu quasi jüngere Menschen aus Deutschland und Polen einzuladen. Wir stellten den polnischen und deutschen Referenten die Frage, was der Wunsch, Europäer zu sein, bedeutet.6 Wir haben also schon damals über diese europäische Umwandlung miteinander sprechen wollen. Das war ein besonderes Erlebnis, weil damals auch Jan Józef Lipski gekommen ist, der dann wenige Jahre später verstarb; Jerzy Borejsza war dabei, aber auch Dichterinnen wie Wisława Szymborska oder Ewa Lipska.7 Dazu Günter Gaus und Frank Schirrmacher, der junge Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki als Feuilletonchef der FAZ.8 Also ich habe, wenn man mich jetzt persönlich fragt, auch das in Erinnerung und nicht nur die Öffnung der Grenzen oder die Veränderungen in diesem Zusammenhang. Ich habe damals einen Katalog von Fragen entwickelt, zu dem zwei junge polnische Kolleginnen Ergänzungen formuliert haben. Und die Ergänzungen begannen mit der Frage an die Deutschen, die ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Nation hätten, und die europäische Identität nun quasi als Ersatz behandeln würden, ob das überhaupt eine richtige europäische Grundhaltung sei, wenn man seine eigene nationale Identität selbst nicht unkompliziert wahrnimmt. Also da hat man schon diese deutsch-polnische unterschiedliche Herangehensweise bei jungen Leuten erlebt, und das habe ich quasi moderiert, der irgendwo dazwischen war als ein damals noch relativ junger Deutscher mit deutschem Pass, aber mit

6 Lawaty, Andreas (Hg.): Der Wunsch, Europäer zu sein? Nation und Europa: ein deutschpolnisches Symposion zum 1. September 1989 in Krakau. Darmstadt 1990. 7 Jan Józef Lipski (1926-1991); Jerzy W. Borejsza (1935-2019); Wisława Szymborska (1923-2012); Ewa Lipska (*1945). 8 Günter Gaus (1929-2004); Frank Schirrmacher (1959-2014); Marcel Reich-Ranicki (1920-2013).

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einem Vertriebenenausweis und einer polnischen Vergangenheit und einer irgendwie unklaren amerikanischen Zwischenphase usw. Man wusste mich in Polen oft nicht einzuordnen, weil die Leute manchmal enttäuscht waren, wenn ich mit ihnen sprach: „Ach, ich dachte, Du bist ein echter Deutscher!“ Das war nie ein Problem, aber ich habe das trotzdem gerade in einem solchen Kontext – Erinnerungen an 1939, deutsch-polnischer Dialog, kultureller Dialog, Europa – erlebt. Wie hat denn Ihrem Empfinden nach die ‚große‘ Politik speziell auf die Geschichtswissenschaft in den 1990er Jahren in Deutschland und Polen eingewirkt und vielleicht auch umgekehrt, (wie) haben die Historikerinnen und Historiker versucht, auf die Politik einzuwirken? Ich komme ja aus der Schule von Klaus Zernack9. Und da habe ich eigentlich zwei Grunderfahrungen gemacht im Verhältnis zur Geschichte: die eine ist das Prinzip der Verwissenschaftlichung in der Geschichtswissenschaft und auf der anderen Seite gibt es diese enorme Präsenz der Politik in der Geschichte. Denn als ich 1972 nach Deutschland kam, später meine ersten Schritte an der Uni in Frankfurt gemacht habe und dann irgendwie 1973/74 bei Zernack in einer Vorlesung gelandet bin, da erinnere ich mich noch wie heute, wie er uns Studenten nach der Vorlesung vertraulich zur Seite nahm und uns über die Schulbuchkonferenz erzählt hat. Da ging es natürlich um das, was später in der Diskussion immer wieder problematisiert wurde, nämlich, inwiefern man über Geschichte, politisch letztlich, verhandeln kann. Ich war einerseits mit der wissenschaftlichen Versachlichung und auch mit einem, wie soll ich sagen, hohen, fast philologischen oder positivistischen Ideal der Rekonstruktion von historischer Wahrheit oder historischer Realität konfrontiert und hatte andererseits das Problem, dass man eben die Geschichte extrem unterschiedlich betrachten kann, aus der Betroffenheit durch diese Geschichte heraus, aber auch aus verschiedenen politischen Zwängen heraus, in die man sich verfangen kann. Bei der Schulbuchkonferenz10 gab es ja, in den 1970er Jahren vor allem, einige Themen, die infolge des Ost-West-Konflikts einfach tabu waren und dann natürlich wegen der Tabuisierung indirekt auch auf die Verhandlung anderer Themen Einfluss hatten. Das ist ein Vorlauf, weil die 1970er Jahre – die 9 10

Klaus Zernack (1931-2017). Unter der Schirmherrschaft der UNESCO 1972 gegründete Kommission deutscher und polnischer Historiker*innen sowie Geograph*innen. Vgl. Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015.

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Zeit meines Studiums – und die 1980er Jahre dann am Deutschen PolenInstitut von einer intensiven Debattenkultur geprägt waren. Obwohl es auch russische Kontakte gab – in meinem Fall allerdings weniger, auch wenn ich eigentlich mit der russischen Geschichte angefangen hatte –, habe ich das im Deutsch-Polnischen intensiv erlebt. Insofern gab es einen Einfluss der Politik, auch im Sinne der Abwehr von politischen Einflüssen. Im marxistischen Sinne war dies eher wenig der Fall, eher im politisch-systemischen Sinne, weil die Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir zu tun hatten, alles waren, nur keine Marxisten, in Polen jedenfalls. Auf der anderen Seite, in Deutschland, hatten wir es seitens der Vertriebenenorganisationen oder der national eingestellten Gruppierungen auch am Deutschen Polen-Institut mit dem Vorwurf zu tun, dass wir die deutschen Interessen aufgegeben, dass wir uns quasi den Polen verkauft hätten. Das hat auch enormen Einfluss auf das Verständnis der Geschichte. Ich bin also irgendwie mit dieser Spannung konfrontiert gewesen. Selbst bei so scheinbar neutralen Dingen wie literarischen Editionen hatte ich ständig mit der Frage des politischen oder ‚ideologischen‘ Einflusses zu tun. Und die 1980er und die 1990er Jahre sind auch die Jahre der „Polnischen Bibliothek“, also die 50 Bände der polnischen Literatur.11 Der letzte Band war Aleksander Wats Buch „Mój wiek“.12 Wir konnten das bloß nicht als „Mein Jahrhundert“ übersetzen, weil Günter Grass damals genau ein Buch unter diesem Titel herausgegeben hat.13 Wie auch immer. Ich kann jetzt nicht die Geschichte von Wat erzählen, aber die Reaktion darauf: „Wie könnt ihr in der ‚Polnischen Bibliothek‘ einen alten Kommunisten veröffentlichen!?“ Das war genauso ein politischer Versuch der Einflussnahme wie bei den ersten Bänden, als etwa Kruczkowskis „Rebell und Bauer“ neu erschienen war14, also auch eines Kommunisten, bloß eben nicht wie Wat später konvertiert oder überhaupt anti-kommunistisch eingestellt. Also wie man es auch nahm, hat man immer mit dem Problem der politischen Verortung der Literatur und der Geschichte zu tun gehabt. Insofern hat die Politik in die Geschichte stark 11 12

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Die „Polnische Bibliothek“ ist eine zwischen 1982 und 2000 von Karl Dedecius herausgegebene 50-bändige Buchreihe mit Übersetzungen belletristischer und Sachbuchtitel aus dem Polnischen, die im Suhrkamp-Verlag erschienen ist. Aleksander Wat (1900-1967) – ders.: Mój wiek. Londyn 1977. (dt.: Jenseits von Wahrheit und Lüge. Erinnerungen. Mit einem Vorwort von Czesław Miłosz. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky, hg. und mit einem Nachwort versehen von Matthias Freise. Frankfurt am Main 2000). Siehe dazu auch Freise, Matthias/Lawaty, Andreas (Hg.): Aleksander Wat und „sein“ Jahrhundert. Wiesbaden 2002. Günter Grass (1929-2015) – ders.: Mein Jahrhundert. Göttingen 1999. Leon Kruczkowski (1900-1962) – ders.: Kordian i cham. Warszawa 1932 (dt.: Rebell und Bauer. Frankfurt am Main 1982). Das Buch war in der Übersetzung von Karl Dedecius erstmals bereits 1952 in der DDR in Weimar auf Deutsch erschienen.

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hineingewirkt – ich verstehe jetzt Geschichte in einem sehr breiten Sinne und ich schließe da die Arbeit an der Literaturgeschichte mit ein –, andererseits war das auch gut, da es einem immer auch die gegenwärtige Wirkung von Geschichtsvorstellungen bewusst gemacht und einen dafür sensibilisiert hat. Und ich denke, es war dann schon enorm wichtig, dass es in den 1980er Jahren den Historikerstreit15 gegeben hat. Der hat sehr viel beeinflusst auf der deutschen Seite; auf der polnischen wurde er rezipiert, aber nicht so intensiv, soweit ich das beobachtet habe. Und in den 1990er Jahren haben wir dann beobachtet, ohne dass etwa ich daran beteiligt war, mit welcher Vehemenz und Intensität man sich mit bestimmten Themen beschäftigt hat. Ich habe vor allem die polnischen Diskussionen über das Thema Vertreibung und polnische Westgebiete usw. beobachtet, wie man sich der Themen angenommen hat, die in den 1980er Jahren am meisten politisiert waren und die notwendig waren, um das eigene nationale, historische Selbstverständnis zu kontextualisieren und irgendwie für diesen Dialog zu öffnen. Das geschah einerseits politisch, andererseits war das auch eine Befreiung von einem politischen Druck, weil man wirklich bestimmte Tabuthemen normal aufgreifen konnte. Aber welchen Einfluss die Historiker auf die Politik hatten? Das weiß ich nicht! Wie haben Sie damals vor diesem Hintergrund die Debatte oder Polemik um das Stichwort „Versöhnungskitsch“ empfunden? Meine erste Reaktion auf diesen Begriff, den ja wohl Klaus Bachmann16 geprägt hat, war, als ich es damals irgendwo las oder hörte, eine Art Schmunzeln. Möglicherweise hat man in der Tat den letztlich religiösen Begriff „Versöhnung“ mit einem gewissen Pathos verwendet, der auch „kitschig“ wirken konnte. Selbstironie ist nicht grundsätzlich verkehrt. Allerdings muss ich sagen, dass ich für die 1990er Jahre den deutsch-polnischen Dialog auf der wissenschaftlichen wie auch auf der politischen Ebene eigentlich als enorm befreiend empfand. 15

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Der deutsche Historikerstreit entzündete sich u.a. an Andreas Hillgrubers (1925-1989) Buch „Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums“ von 1986 an der Frage, ob die deutsche Judenvernichtung ein einmaliges Ereignis gewesen sei. Vgl. Große Kracht, Klaus: Debatte. Der Historikerstreit, Version:  1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.01.2010, http://docupedia.de/zg/kracht_ historikerstreit_v1_de_2010 (07.09.2020). 1994 von dem in Polen lebenden deutschen Journalisten Klaus Bachmann (*1963) ausgelöste Debatte darüber, ob die fortwährenden Reden über Versöhnung in ihrer Oberflächlichkeit der Komplexität der deutsch-polnischen Beziehungen nicht gerecht werden. Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muss von Polen ausgehen, in: taz vom 5. August 1994, S.  12; Hahn, Hans Henning/Hein-Kircher, Heidi/Kochanowska-Nieborak, Anna (Hg.): Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch. Marburg 2008.

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Insofern war der Begriff für mich nicht kitschig und sollte nicht entwertet werden. Es ist eigentlich dann erst später, in den 2000er Jahren, als die Debatte mit Steinbach17 aufgekommen ist und der Begriff der „Geschichtspolitik“ sich breitmachte, schwierig geworden. Das war für mich wirklich ein Schock, weil ich mich wahrscheinlich in diesem Gefühl gewogen hatte: Ja, wir haben uns eigentlich Unmögliches sagen können und dann darüber verständigen können, und das auf der sachlichen Ebene, nicht im Sinne von Kitsch. Und plötzlich stellte sich heraus, dass es vielleicht doch etwas oberflächlich gewesen ist. Ich habe 1997 in einem deutschen Sonderheft der Warschauer liberalen Zeitschrift „Res Publica Nowa“ einen kleinen Artikel über die Spaltung innerhalb Polens veröffentlicht,18 die wir heute so extrem erleben. Ich stand damals unter dem Eindruck eines Kolloquiums über das Aufkommen der „neuen Rechten“, das ich mit Ewa Kobylińska ausgerichtet habe und an dem u.a. Zdzisław Krasnodębski, Marek Cichocki und Heinz Bude teilgenommen hatten.19 Also mir war bewusst, welche Spannungen innerhalb der polnischen Diskussion stattfinden. Es gab eine ideologische Spannung, aber nicht zwischen marxistisch und liberal, sondern zwischen konservativ, nationalkonservativ und liberal in einer offenen Gesellschaft. Die war für mich extrem wichtig und so ein Aha-Erlebnis aus meiner Studienzeit infolge der Beschäftigung mit Karl Popper20: „Offene Gesellschaft“ ist das, was wir quasi als reale Zukunftsvorstellung für ein europäisches Zusammensein gedacht haben. Und dann musste ich plötzlich Carl Schmitt21 lesen und polnische Rechtfertigungen dafür, dass Schmitt zwar für die Deutschen ein Problem ist, aber für die Polen nicht, weil sie seine Nazivergangenheit quasi ignorieren und sich auf seine katholische Identität konzentrieren können – Hauptsache, er hilft ihnen, im antiliberalen Gestus zu klären, wer ‚Freund‘ und wer ‚Feind‘ ist, was man vereinfacht gesagt eigentlich ohnehin schon wusste. Das war alles irgendwie für mich nicht nachvollziehbar. Und da habe ich erst gemerkt, dass ich in meinen Vorstellungen von Geschichte oft völlig ahnungslos oder blind war für bestimmte Positionen.

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Erika Steinbach (*1943). Lawaty, Andreas: Die Trennungslinien, in: Res Publica Nowa  12 (1997), Sonderheft: Deutsches Polen-Institut Darmstadt, S. 18-21. Ewa Kobylińska (*1954); Zdzisław Krasnodębski (*1953); Marek A. Cichocki (*1966); Heinz Bude (*1954). Karl Popper (1902-1994) – ders.: The Open Society and Its Enemies. 2 Vols. London 1945 (dt.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. 2 Bde. Bern 1957/58). Carl Schmitt (1888-1985) – Zur polnischen Schmitt-Rezeption der Jahre 1990 bis 2012: Cichocki Marek, A./ Krawczyk, Tomasz F.: Secondary Literature of Carl Schmitt in Poland (1990-2012) [2014], https://www.carl-schmitt.de/sec_CS_poland.pdf (2.10.2020).

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Aber eigentlich waren die 1990er Jahre für mich von der Erfahrung des Dialogs geprägt. Wir haben uns über die verschiedensten Themen ‚in vergleichender Absicht‘ unterhalten können, wir haben Tagungen mit Ewa Kobylińska dazu gemacht, über Erinnerungskultur oder Religion und Kirchen in Deutschland und Polen, ohne Schaden an der Seele zu nehmen.22 Und das war Teil einer offenen Debatte in der Wahrnehmung unterschiedlicher, auch teilweise ideologischer Positionen, aber nicht als ein deutsch-polnischer Konflikt, wie man es dann später im Zusammenhang etwa mit dem Vertreibungsthema gesehen hat, nachdem man doch eigentlich vorher schon mit Fukuyama23 das Ende dieser Geschichte erlebt zu haben meinte. Welche Einzelpersönlichkeiten waren für Sie – vor allem auf den wissenschaftlichen Kontext bezogen – in den 1990er Jahren besonders wichtig? Durch meine Tätigkeit am Deutschen Polen-Institut hatte ich das Glück, viele Menschen gekannt zu haben, die auf dem Gebiet Kultur und Wissenschaft in Deutschland und Polen aktiv waren. Viele Kontakte zu Persönlichkeiten, die in den 1990er Jahren für mich wichtig waren, stammen allerdings schon aus den 1980ern. Sie hielten auch nach dem politischen Umbruch, auch wenn sich die materiellen, logistischen und politischen Lebensumstände sehr stark verändert haben. Es ist unmöglich, die Wahl der ‚besonders wichtigen‘ für mich gerecht zu treffen. Deshalb nur pars pro toto: In der Geschichtswissenschaft war zum Beispiel Jerzy Borejsza für mich sehr wichtig, der mir schon bei meiner Dissertation24 erstmal ein Bein gestellt und dann geholfen hat, wieder aufzustehen. Das waren prägende Erfahrungen eines Studenten und noch jungen Wissenschaftlers. Für mich sehr wichtig waren Kontakte mit Gerard Labuda und Marian Biskup aus Thorn,25 weil sie Gäste am Wissenschaftskolleg zu Berlin26 waren, als ich Anfang der 1980er Jahre an der Historischen Kommission zu Berlin27 tätig war. Auch der früh 22 23 24 25 26 27

Kobylińska, Ewa/Lawaty, Andreas (Hg.): Religion und Kirche in der modernen Gesellschaft. Polnische und deutsche Erfahrungen. Wiesbaden 1994; dies. (Hg.): erinnern, vergessen, verdrängen. Polnische und deutsche Erfahrungen. Wiesbaden 1998. Francis Fukuyama (*1952) – ders: The End of History?, in: The National Interest (1989) 16, S. 3-18; ders.: The End of History and the Last Man. New York 1992. Lawaty, Andreas: Das Ende Preußens in polnischer Sicht. Berlin 1986. Gerard Labuda (1916-2010); Marian Biskup (1922-2012). 1981 in Berlin-Grunewald gegründetes interdisziplinäres Institute for Advanced Studies. Vgl. Grimm, Dieter (Hg.): 25 Jahre Wissenschaftskolleg zu Berlin (1981-2006). Berlin 2006. Wissenschaftliche Vereinigung mit landesgeschichtlichem Schwerpunkt, wiederbegründet 1959 als Berliner Historische Kommission, dann 1963 als Historische Kommission zu Berlin mit enger Bindung an die FU Berlin. Sie verfügte über verschiedene

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verstorbene Kunsthistoriker und Denkmalpfleger Andrzej Tomaszewski28 war sehr prägend für mich. Unter den jüngeren polnischen Historikern verbindet mich viel mit Włodzimierz Borodziej und Jerzy Kochanowski.29 Aus derselben Zeit stammt der nicht so intensive, aber wichtige Kontakt zu Maria Janion30, dieser Polonistin, die den Romantik-Begriff schon früh als ein zentrales Element des innerpolnischen Kultur- und Geschichtsdialogs verstanden hat. Mit ihrer Hilfe habe ich dann auch die polnische Geschichtswissenschaft ein bisschen durch die literatur- und kulturhistorische Brille wahrgenommen; der cultural turn hat sich sozusagen in mir vollzogen durch den Kontakt mit den Literaturwissenschaftlern und nicht nur mit der Geschichtswissenschaft. Einen sehr intensiven Kontakt hatte ich zu Tomasz Szarota gepflegt, der mich für viele Dinge sensibilisiert hat im Verständnis, im Umgang mit der deutschen Besatzung in Polen, aber auch mit dem Problem der Imagologie – auch so ein Bereich, der dann wichtig war im deutsch-polnischen Verhältnis, in der gegenseitigen Wahrnehmung, was man auch an vielen Arbeiten des für mich sehr wichtigen Kollegen und Freundes Hans Henning Hahn ablesen kann.31 Und wie kann ich angemessen auf die polnischen Germanisten verweisen, die mir im menschlichen wie im ‚wissenschaftlichen‘ Kontext eine intellektuelle Heimat waren: Hubert Orłowski, Tadeusz Namowicz, Marek Zybura, Leszek Żyliński und andere.32 Auf der deutschen Seite war das dann natürlich neben Zernack meine Generation, also die Generation von Michael Müller, Fikret Adanir und Michael Ludwig, der nach 1990 Korrespondent der FAZ in Warschau wurde.33 Aber natürlich hatte ich auch hier wieder sehr intensiven Kontakt zu den Polonisten auch in Deutschland. Noch aus der DDR-Zeit zu Heinrich Olschowsky oder Dietrich Scholze, aber auch in der Schweiz zu German Ritz, oder in Österreich

28 29 30 31 32 33

Sektionen, u.a. für deutsch-jüdische und deutsch-polnische Geschichte. Zur Anfangszeit der Kommission bis zu den 1970er Jahren vgl. Neitmann, Klaus: Eine wissenschaftliche Antwort auf die politische Herausforderung des geteilten Deutschland und Europa. Walter Schlesinger, die ost(mittel)deutsche Landesgeschichte und die deutsche Ostforschung, in: Ders.: Land und Landeshistoriographie. Beiträge zur Geschichte der brandenburgischpreußischen und deutschen Landesgeschichtsforschung. Berlin/Boston 2015, S. 293-356, S. 302-305. Andrzej Tomaszewski (1934-2010). Włodzimierz Borodziej (*1956); Jerzy Kochanowski (*1960). Maria Janion (1926-2020). Tomasz Szarota (*1940); Hans Henning Hahn (*1947). Hubert Orłowski (*1937); Tadeusz Namowicz (1938-2003); Marek Zybura (*1957); Leszek Żyliński (*1954). Michael G. Müller (*1950); Fikret Adanir (*1941); Michael Ludwig (*1948).

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zu Alois Woldan.34 Karl Dedecius35, Gründer und Direktor des Deutschen Polen-Instituts war für mich in den 1980er und in den 1990ern Jahren so etwas wie die Bezugsperson, von der aus ich mir in Polen, neben Zernack auf der anderen Seite, dieses Milieu erschlossen habe. Es war aber wieder ein Historiker, Jerzy Jedlicki36, der mir mit seinen Arbeiten geholfen hat, mit Mitteln der Diskurs- und Mentalitätsgeschichte verschiedene Ebenen der Geschichtsanalyse – von Ideengeschichte, Intellektuellengeschichte, Sozialgeschichte und Weltanschauung – miteinander zu verbinden. Persönlich kannte ich ihn aber kaum. War es denn – vor allem auf die geschichtswissenschaftliche Landschaft bezogen – letztlich eine Gesellschaft von Männern? Wenn man an den literaturwissenschaftlichen, polonistischen Bereich denkt, ist das vielleicht ein bisschen anders gewesen, oder nicht? Gute Frage! Also es gab in der älteren Generation, wenn man es statistisch betrachtet, schon eine starke männliche Dominanz in der Geschichtswissenschaft, die auch die Aufgabe hatte, ‚Herrschaftswissen‘ zu produzieren. Allerdings gab es Frauen, die eine wichtige Rolle gespielt haben. Gerade auch im deutsch-polnischen Verhältnis. Maria Wawrykowa37 war sozusagen die Symbolfigur der Historikerinnen. Dann war da noch Krystyna Kersten38, eine wichtige, leider auch früh verstorbene Zeithistorikerin, wichtig in der erinnerungspolitischen, geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Volksrepublik Polen; aber auch Anna Wolff-Powęska39, die in den deutsch-polnischen Beziehungen intellektuell, wissenschaftlich und publizistisch sehr viel bewegt hat. In den Literaturwissenschaften waren der Anteil und die Bedeutung der Frauen wesentlich größer. Ich habe Maria Janion genannt, auf der deutschen Seite habe ich mit der Polonistin Brigitte Schultze40 sehr intensiven Kontakt erlebt. Aber wenn ich so direkt gefragt werde, ist das in der Tat stellvertretend für das Gesellschaftsbild. Auch in der Schulbuchkonferenz war es, glaube ich, eine sehr starke Männergesellschaft. Wenn man sich die Schulbuchkonferenzbände 34 35 36 37 38 39 40

Heinrich Olschowsky (*1939); Dietrich Scholze (*1950); German Ritz (*1951); Alois Woldan (*1954). Karl Dedecius (1921-2016). Jerzy Jedlicki (1930-2018). Maria Wawrykowa (1925-2006). Krystyna Kersten (1931-2008). Anna Wolff-Powęska (*1941). Brigitte Schultze (*1940).

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anguckt, waren Autorinnen doch eher Mangelware. Ich habe das vielleicht nicht so stark erlebt, weil ich ja zum Beispiel noch viel mit Übersetzern zu tun hatte, und da waren sehr viele Frauen darunter – also polnische Übersetzerinnen deutscher Literatur, umgekehrt waren das auch eher Männer, erst später kamen etliche Frauen dazu, wie meine Kollegin Renate Schmidgall41 am DPI, das stimmt. Also ich kann das jetzt schlecht kompetent genderkritisch analysieren, außerdem hat sich das Bild in der nächsten Generation bereits sehr stark verändert. Persönlich habe ich viel mit Kolleginnen zusammengearbeitet, auf Augenhöhe und mit dem Gefühl komplementärer Inspiration: in den 1990er Jahren am Institut insbesondere mit Jutta Wierczimok42 in der Redaktion und mit Ewa Kobylińska, mit der ich etwa „Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe“43 herausgegeben habe. Also es gab durchaus wichtige Frauenpräsenz in allen genannten Bereichen, aber das wäre vielleicht ein bisschen verniedlichend oder entschärfend gesagt, wenn man nicht zugeben würde, dass es doch eine starke männliche Dominanz gegeben hat. Welche Rolle spielten wissenschaftliche oder private Netzwerke und wie war der persönliche Umgang miteinander, auch vielleicht im Unterschied zu rein bundesrepublikanischen Milieus? Also in Polen gibt es ja neben den universitären Strukturen eine Einrichtung, – ob man es ‚Netzwerk‘ nennen kann, weiß ich nicht so recht, aber vielleicht doch – nämlich die Akademie der Wissenschaften. Außerordentlich wichtig war für mich der Kontakt zum IBL, dem Instytut Badań Literackich44 der Akademie der Wissenschaften, einerseits und zum Historischen Institut an der Akademie andererseits. Das IBL war vielleicht noch etwas wichtiger, weil wir ja sehr viel mit Literatur zu tun hatten. Es war schon ein besonderes Milieu dort, weil die Akademie etwas, naja, freier oder unabhängiger war. Dazu kann man es vielleicht als Netzwerk betrachten, dass es die polnischen Germanisten gab, die ja auch im deutsch-polnischen Dialog enorm wichtig, wenn auch nicht immer einig waren. Und es gab eine große Germanistik in Polen: in Breslau, Posen, Thorn, Warschau, Krakau. Da sind sozusagen ständig Kontakte gelaufen. Ich glaube, dass ich (bzw. das DPI45) in gewisser Weise in 41 42 43 44 45

Renate Schmidgall (*1955). Jutta Wierczimok (*1949). Lawaty, Andreas/Kobylińska, Ewa/Stephan, Rüdiger (Hg.): Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe. München 1992. Dt. Institut für Literaturforschung. Das DPI wurde 1980 auf Initiative des Übersetzers Karl Dedecius, finanziert durch die Bundesländer Hessen und Rheinland-Pfalz, die Stadt Darmstadt und den Bund, in

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einer privilegierten Situation war, weil wir quasi etwas für Polen getan haben und natürlich an diesem Kontakt sehr interessiert waren, sei es zu Polonisten oder auch Germanisten oder Historikern, um hier auch irgendwie präsent zu sein, um mitzuwirken. Ich meine das jetzt tatsächlich inhaltlich und gar nicht zwingend finanziell. Wir haben ja nicht mit Scheinen herumwerfen können. Es war schier Idealismus gefordert in den 1980er, aber auch in den 1990er Jahren, als sich die Sache etwas gewendet hat. Also ich habe wirklich sehr intensive und positive Erfahrungen aus den 1980er und 90er Jahren. In den 1990er Jahren habe ich allerdings schon eine Atomisierung dieser Netzwerke erleben müssen. Einerseits war paradoxerweise der ökonomische Existenzdruck durch die liberale Kultur- und Wissenschaftspolitik im neokapitalistischen Polen größer. Zum anderen schlich sich in Polen ein Prozess der politischen Ausdifferenzierung ein. Die Leute haben unterschiedliche Ansichten gehabt, waren sich selber dann gegenseitig nicht immer ganz grün. So sehr sie alle früher, im Prinzip zu 99%, irgendwo in der Opposition gewesen waren, so waren sie dann jeder für sich oder mit eigenen Netzwerken ausgestattet, zu denen ich dann auch nicht immer Zugang hatte. Ich habe dann schon etliche Abzweigungen miterlebt, erforschen und wahrnehmen können, aber ich fühlte mich merkwürdigerweise nicht mehr so frei, in diese Sachen hineinzukommen. Die ganzen 1990er Jahre sind aber für mich persönlich zusätzlich von einem neuen Netzwerk geprägt gewesen, das im Zusammenhang mit der Arbeit an der Bibliographie der deutsch-polnischen Beziehungen46 entstanden ist. Im Jahr 2000 zur Buchmesse in Frankfurt war dann die „Polnische Bibliothek“ abgeschlossen, die Bibliographie ist erschienen und Dedecius war auch mit seinem „Panorama“47 fertig, an dem viele in Polen und Deutschland mitgearbeitet haben, am Institut vor allem Hans-Peter Hoelscher-Obermaier und Manfred Mack.48 Noch weitere und neue Kreise zog vom Institut aus Albrecht Lempp49, der schließlich auch für die Präsentation des Partnerlandes Polen auf der Buchmesse 2000 verantwortlich war. Das Buch war der Knoten, mit

46 47 48 49

Darmstadt gegründet. Es widmete sich in den ersten beiden Jahrzehnten seines Bestehens vor allem literarischen und historischen, später dann überwiegend politikwissenschaftlichen und allgemein kulturellen Themen. Vgl. Mack, Manfred/Wierczimok, Jutta (Hg.): Zwanzig Jahre Deutsches Polen-Institut Darmstadt. Bilanz und Ausblick. Darmstadt 2000. Lawaty, Andreas/Mincer, Wiesław (Hg.): Deutsch-Polnische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart. Bibliographie (1900-1998). 4 Bde. Wiesbaden 2000. Dedecius, Karl (Hg.): Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. 5 Abt. in 7 Bde. Zürich 1996-2000. Hans-Peter Hoelscher-Obermaier (*1956); Manfred Mack (*1955). Albrecht Lempp (1953-2012).

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dem Netzwerke verschiedener Art gleichsam transnational miteinander verbunden waren. Ich habe es als einen außergewöhnlichen Höhepunkt deutschpolnischer kultureller Begegnung in Erinnerung, die sich so, in dieser Quantität und Qualität, nicht wiederholt hat. Es gibt wahrscheinlich niemanden, der in den 1990er Jahren so viele Bibliotheken von innen gesehen hat wie Sie. Gerade im Kontext der Entstehung der eben erwähnten Bibliographie hätte die Zusammenarbeit mit der Universitätsbibliothek in Thorn über 10 Jahre ja kaum enger sein können. Haben Sie das Gefühl gehabt, dass es in der praktischen Arbeit Unterschiede zwischen Deutschland und Polen gab, in der Art und Weise, wie man Wissenschaft betreibt? Nun, das Projekt „Bibliographie“ und die Kooperation mit der Thorner UniBibliothek ist zwar Wissenschaft, aber es ist eine andere Welt. Bibliothekare sind Menschen, die anders mit diesen Dingen umgehen, Bibliographen (damals) ja auch. Ich war insofern auch wieder in zwei Kulturen unterwegs, weil ich mich einerseits inhaltlich mit dem Problem der deutsch-polnischen Geschichte oder der deutsch-polnischen Beziehungen beschäftigt habe und mit der Geschichte des Schrifttums, aber zugleich habe ich Menschen erlebt, die tatsächlich in einem Netzwerk verbunden waren, nämlich einem bibliothekarischen, dokumentarischen Netzwerk. Markus Krzoska50, der an dem Projekt beteiligt war, kann es vielleicht bezeugen. Da habe ich in Thorn unglaubliche Erfahrungen gemacht. ‚Unglaublich‘ im Sinne von Zuwendung derer, die mir entgegenkamen sowohl von der Uni-Bibliothek und deren Direktoren, von Stefan Czaja51 am Schluss, aber auch vom Rektorat. Die Universität selbst war außerordentlich engagiert, das Projekt zu unterstützen; ein Projekt, das durchaus viel Kraft gekostet hat und auch viele Ressourcen, denn ich kam ja eigentlich fast ohne Geld nach Thorn, und die haben die Arbeit weitgehend aus eigenen Mitteln finanziert. Von der Robert Bosch Stiftung52 hatte ich Mittel für die Publikation, die auch erheblich waren. Und ich kam in einer Phase – es begann Ende der 1980er Jahre, aber eigentlich waren dann die 1990er entscheidend –, wo man langsam spüren konnte, dass im Wissenschaftsbetrieb die deutsche Karte etwas an Bedeutung verliert. Man hat sich viel stärker angelsächsisch orientiert, vielleicht noch mehr in den 50 51 52

Markus Krzoska (*1967). Stefan Czaja (1943-2003). 1964 gegründet, engagierte sich die Robert Bosch Stiftung schon früh aktiv in den deutschpolnischen Beziehungen. Vgl. Rogall, Joachim (Hg.): Die Robert-Bosch-Stiftung und die Beziehungen zu den Ländern Mittel- und Osteuropas, 1974-2000. Stuttgart 2000.

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Naturwissenschaften, aber auch in den Geisteswissenschaften. Das heißt, ich war dann in den 1990er Jahren auf einem Feld tätig, dass nicht mehr so zentral zu sein schien. Und trotzdem oder gerade deswegen hat man auch mit diesem Projekt an der Thorner Universität und in der Bibliothek immer versucht, ein bisschen gegenzusteuern, also diese deutschen Verbindungen aufrechtzuerhalten. Und die waren in Bezug auf Thorn sowohl in Richtung Deutschland sehr intensiv – aufgrund der Lage, auch aufgrund der Geschichte – als auch in Richtung Vilnius, weil die Stefan-Batory-Universität53 ja nach dem Kriegsende weitgehend von dort nach Thorn umgezogen ist. Das habe ich eben schon als sehr international ausgerichtet wahrgenommen, den Kreis der Bibliothekarinnen und Bibliothekare, die sehr offen waren für diese Netzwerke, vielleicht stärker als in Deutschland, auch weil die großen Bibliotheken natürlich selbstgenügsam sind. In deutschen Bibliotheken war es nicht so leicht, sich karrenweise Bücher bringen zu lassen. Dagegen konnte ich in Polen, vor allem in Thorn, aber auch in manchen anderen, durchaus jenseits von normalen Arbeitsstunden im Vertrauen arbeiten. Also insofern ist das Solidaritätsnetzwerk dieser Bibliothekare dann doch ein sehr wichtiges. Sie haben gegen Ende der 1990er Jahre in einem Text geschrieben, dass gegenseitige Schuldgefühle das deutsch-polnische Verhältnis immer noch stark prägten.54 Hatten Sie damals das Gefühl, dass alte Komplexe und Verhaltensmuster auch in diesen ‚freieren‘ 1990ern weitergewirkt haben? Blieben Schieflagen und Asymmetrien bestehen oder entwickelten sich sogar neue, andere? Also ich habe die 1990er Jahre persönlich als eine Zeit des großen Staunens in Erinnerung, des Staunens erlebt, dass eben die ganzen Ängste in der gegenseitigen Wahrnehmung oder auch Schuldzuweisungen oder die Verantwortung, die man ja historisch durchaus hatte, wirklich keine Rolle spielten. Ich staunte, dass man sehr offen ist und miteinander darüber spricht: dass man in Polen mit den ‚weißen Flecken‘ beschäftigt war, das ist klar, aber auch mit den Stellen der eigenen Geschichte, die problematisch waren, auch im Kontext 53

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1578 vom polnischen König unter maßgeblicher Beteiligung der Jesuiten in Wilna gegründete, zweitälteste Universität Polen-Litauens. Nach dem Novemberaufstand 1832 vom Zaren aufgelöst, entstand sie 1919 neu und erhielt den Namen ihres Gründers. 1944 wurde sie unter sowjetischer Herrschaft wiedereröffnet, seit 1990 ist sie als Universität Vilnius die bedeutendste Hochschule des unabhängigen Litauen. Vgl. GawrońskaGarstka, Magdalena: Uniwersytet Stefana Batorego w Wilnie. Uczelnia ziem północnowschodnich Drugiej Rzeczypospolitej (1919-1939) w świetle źródeł. Poznań 2016. Lawaty, Andreas/Kobylińska, Ewa: Vorwort, in: Dies. (Hg.): erinnern, vergessen, verdrängen, S. 9-12.

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mit Deutschland. Und obwohl ich wirklich enorm viel Literatur durchforstet hatte und viel Kontakt hatte, habe ich mich, glaube ich, durch diese Erfahrung oder die Wahrnehmungen, die ich damals gemacht habe, einlullen lassen in Bezug auf unterschwellige Probleme, die dann später in den „dziadek z Wehrmachtu“-Geschichten55 usw. hervortraten, d.h. Animositäten, Ressentiments und Ängste gegenüber Deutschland, die durchaus präsent waren, die ich nur nicht so wahrgenommen habe, weil ich damals nicht so wahnsinnig viel Zeit hatte, um die richtigen Zeitungen und Zeitschriften zu lesen. Ich habe in Erinnerung, dass es in den frühen 1990er Jahren oder in der Wendezeit noch so ein paar linksnationalistische Gruppierungen wie „Grunwald“56 gegeben hat, die diese antideutsche Karte ausspielen wollten, sodass man eigentlich den Eindruck hatte, wenn antideutsche Stimmung kommt, dann sind das eher kommunistische oder spätkommunistische Manipulationen, während man den polnischen Nationaldiskurs als liberal wahrgenommen hat, als einen Versuch, auch mal die Geschichte Geschichte sein zu lassen, wenngleich die Beschäftigung mit der Erinnerungskultur durchaus im Aufwind begriffen war. Die 1990er Jahre waren auch nicht, soweit ich das in Erinnerung habe, so stark vom polnischen Interesse an der Besatzung, am Zweiten Weltkrieg geprägt – also natürlich Katyń und manch andere Themen. So waren die deutsch-polnischen Beziehungen irgendwie entspannter, auch historisch betrachtet. Der Rollback geschichtspolitischer Identitätspolitik in Polen ist dann spätestens mit der Gründung des Instituts für Nationales Gedenken (IPN)57 1999 und der Debatte um Jan Tomasz Gross58 2001 erfolgt. Das ist dann 55

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Die politisch instrumentalisierte Debatte um die nationale Zuverlässigkeit polnischer Politiker entzündete sich während des Präsidentschaftswahlkampfs 2005 an der zeitweiligen Zugehörigkeit eines (kaschubischen) Großvaters von Donald Tusk (*1957) zur deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs. Vgl. Szczepuła, Barbara: Dziadek w Wehrmachcie. Gdańsk 2007; auch Loew, Peter Oliver: Zwillinge zwischen Endecja und Sanacja. Die neue polnische Rechtsregierung und ihre historischen Wurzeln, in: Osteuropa 55 (2005) 11, S. 9-20, S. 15f. Die „Zjednoczenie Patriotyczne Grunwald“, eine nationalkommunistische Vereinigung, existierte von 1981 bis 1995. Vgl. Gasztold-Seń, Przemysław: Koncesjonowany nacjonalizm. Zjednoczenie Patriotyczne Grunwald 1980-1990. Warszawa 2012. Instytut Pamięci Narodowej (Institut für Nationales Gedenken). 1998/1999 in der Tradition der „Hauptkommission für die Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen in Polen“ gegründete zentrale wissenschaftliche Einrichtung, die historische Forschung, öffentliche Bildungsarbeit und juristische Ermittlungstätigkeit zur Zeitgeschichte Polens zwischen 1939 und 1989 betreibt. Vgl. Lau, Carola: Erinnerungsverwaltung, Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur nach 1989. Institute für nationales Gedenken im östlichen Europa im Vergleich. Göttingen 2017, S. 145-280. Innenpolitische Debatte in Polen als Reaktion auf Jan Tomasz Gross’ (*1947) Buch „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. München 2001“ (poln. Original: Sąsiedzi.

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die ganze Debatte der Schuldfrage und der innerpolnischen Diskussion um die Verantwortung, der eventuellen Beteiligung von Polen am Holocaust etc., die bis heute eine zentrale Rolle spielt. Welche Rolle spielten in den 1990er Jahren bei der Verdichtung der deutschpolnischen Kommunikation bestimmte Institutionen? Würden Ihnen außer den genannten noch weitere Einrichtungen einfallen? Wenn man sie als Institution begreifen will, war es für mich zum Beispiel die im Wesentlichen von Robert Traba betriebene Entstehung der „Borussia“, eine Art Verlag und Zeitschrift und eine Vereinigung zugleich.59 Das ist, finde ich, für die 1990er Jahre eine enorm wichtige Einrichtung gewesen, weil sie einen neuen Zugang sowohl zu deutsch-polnischen Fragen wie auch zu regionalhistorischen Beziehungen eröffnet hat, einen entspannteren Zugang, und einen, der nicht nur auf der polnischen Seite wichtig war, sondern auch auf der deutschen gezeigt hat, dass ein Dialog möglich ist. Die andere wichtige Gründung ist dann schon sehr früh die Zeitschrift „Dialog“60 gewesen als Organ der Deutsch-Polnischen Gesellschaften, damals noch mit Adam Krzemiński61. Adam hat da, von „Polityka“ kommend und damit auch eine Art Brücke bauend zwischen den 1980er und 90er Jahren, eine enorme Rolle im deutschpolnischen Dialog gespielt. Und bei der Zeitschrift selbst hat man sich, als sie gegründet wurde – ich war ja als Zuschauer ein bisschen dabei – nicht vorstellen können, dass es sie so lange geben wird, weil die Finanzierung unklar war, weil man nicht wusste, wer da überhaupt mitmachen würde, das war alles

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Historia zagłady żydowskiego miasteczka. Sejny 2000), in dem der amerikanischpolnische Soziologe nachgewiesen hatte, dass es polnische Einwohner des podlachischen Städtchens Jedwabne gewesen waren, die unter Aufsicht der deutschen Besatzer ihre jüdischen Mitbürger am 10. Juli 1941 auf dem Marktplatz zusammengetrieben und anschließend in einer Scheune am Ortsrand verbrannt hatten. Nationalkonservative Kreise lehnen diese Deutung bis heute ab. Zusammenfassend zur Debatte vgl. Polonsky, Antony/Michlic, Joanna (Hg.): The Neighbors Respond. The Controversy over the Jedwabne Massacre in Poland. Princeton 2004. Robert Traba (*1958) – Wspólnota Kulturowa Borussia (Kulturgemeinschaft Borussia), gegründet 1990 in Allenstein/Olsztyn. Verein und Verlag, der sich in der masurischermländischen Regionalgeschichte und Kultur engagiert, u.a. mit wissenschaftlichen und denkmalschützerischen Aktivitäten sowie in der Jugendarbeit. Der Verein hat zwischen 1991-2017 die gleichnamige Zeitschrift „Borussia“ herausgegeben. Vgl. auch Chromiec, Elżbieta: Dialog międzykulturowy w działalności polskich organizacji pozarządowych okresu transformacji systemowej. Wrocław 2011, S. 109-111, 117-130, 145-153. Das deutsch-polnische Magazin „Dialog“ erscheint seit 1987 mehrfach jährlich in einer zweisprachigen Ausgabe. Adam Krzemiński (*1945).

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so ein bisschen aus dem Stegreif. Es gab zwei begeisterte Führungspersonen, neben Krzemiński noch Günter Filter, die die Initiative ergriffen haben. Und es ist zu einer Institution geworden. Hinzu kamen dann das Jahrbuch zur deutschpolnischen Beziehungsgeschichte „Inter Finitimos“ oder das Germanistische Jahrbuch Polen „Convivium“ – beides keine Massenpublikationen, sehr wohl aber Institutionen sui generis.62 In der Geschichtswissenschaft nicht zu vergessen ist die Gründung des Deutschen Historischen Instituts63 in Warschau, einer Einrichtung, wie man sie sich vorher in Polen auch nicht hätte denken können. Klar, es gab das Deutsche Polen-Institut, so bisschen ein Ersatz auch für Polnische Kulturinstitute in Deutschland. Aber jetzt hatten wir eine deutsche Einrichtung in Polen, gegründet 1993! Ich erinnere mich noch an Gespräche im Verband der Osteuropahistoriker, weil die Kolleginnen und Kollegen natürlich nach Moskau wollten, nicht nach Warschau. Moskau war aber damals noch nicht machbar und auch nicht sinnvoll, und man hat sich dann auf Warschau geeinigt. Das DHI, mit dem Gründungsdirektor Rex Rexheuser und mehreren Kolleginnen und Kollegen, die ich dort kennen- und schätzen gelernt hatte (darunter Mathias Niendorf, Hans-Jürgen Bömelburg, Claudia Kraft, Katrin Steffen), war auch symbolisch eine sehr wichtige Einrichtung, nicht nur für den Wissenschaftsdialog.64 Dann gibt es die Gründung des GWZO65, die etwas in Stufen gelaufen ist, aber auch eine sehr wichtige Institution im Dialog zwischen Geschichtswissenschaften im breiten ostmitteleuropäischen, aber auch im deutsch-polnischen Bereich. Und es gab diese Veränderung, die ich in den 1990er Jahren nicht so richtig wahrgenommen habe, obwohl ich ihm 62

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Inter Finitimos. Wissenschaftlicher Informationsdienst deutsch-polnische Beziehungen / Informator naukowy do badań nad stosunkami niemiecko-polskimi. Erschien als private Initiative erstmals 1992, später als Jahrbuch bis zur Einstellung 2014; Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen. 1993 vom DAAD begründet. Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Rex Rexheuser (*1933); Mathias Niendorf (*1961); Hans-Jürgen Bömelburg (*1961); Claudia Kraft (*1968); Katrin Steffen (*1967). 1996 in Leipzig gegründetes Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas. Vorgänger war der 1992 eingerichtete Forschungsschwerpunkt „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“, der in Teilen an die Aktivitäten der Akademie der Wissenschaften der DDR anknüpfte. Seit 2017 firmiert das Institut unter dem Namen Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO).

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geographisch recht nah war, am Herder-Institut66. Es ist ja für die spätere Zeit auch in gewisser Weise eine Einrichtung im deutsch-polnischen Dialog geworden, aber das ist eine andere Geschichte. Würden Sie mit Rückblick auf die 1990er Jahre sagen, dass man tatsächlich schon von einem transnationalen, auch methodischen Austausch sprechen konnte? Wurden Fragestellungen und Ansätze weiterverfolgt, die über den nationalen oder vielleicht auch über den bilateralen Rahmen hinausgingen? Die polnische Geschichtswissenschaft ist in meinen Augen in der Zeit vor 1989 durch einen stark positivistischen Schlag geprägt gewesen. Aber sie war keineswegs methodisch isoliert von den Entwicklungen andernorts. Davon zeugen allein schon die intensiven Kontakte polnischer Historiker zu der Annales-Schule in Frankreich.67 Polnische Geschichtsschreibung hat zunächst vielleicht wenig an jenen cultural turns partizipiert, die ja in Deutschland auch eigentlich erst in den späten 1980er Jahren zum Tragen kamen, aber sie hat auch auf methodisch hohem Niveau starke Forschungsgebiete entwickelt, von der Mediävistik, über Gesellschafts-, Rechts- oder Diplomatiegeschichte, bis hin zur Ideengeschichte, betrieben etwa von Historikern und Philosophen der Warszawska Szkoła Historii Idei68. Bei aller Konzentration auf die Geschichte Polens und der ‚polnischen Frage‘ gab es nichtsdestotrotz auch Interesse für beziehungsgeschichtliche und vergleichende Fragen, und 66

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Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft und trägt seit 2012 seinen heutigen Namen. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53980.html (02.06.2015). Gegründet 1929 von Marc Bloch (1886-1944) und Lucien Febvre (1878-1956) unter dem Namen „Annales d’histoire économique et sociale“, erschien die Zeitschrift nach mehreren vorherigen Modifikationen des Titels zwischen 1946 und 1993 als „Annales. Économies, Sociétés, Civilisations (Annales ESC)“, seit 1994 trägt die Zeitschrift den Titel „Annales. Histoire, Sciences sociales (Annales HSS)“. Zum erheblichen Einfluss der Annales-Schule auf Teile der Historiker*innen in der Volksrepublik Polen, auch gefördert durch die französische Kulturaußenpolitik vgl. Pleskot, Patryk: Intelektualni sąsiedzi. Kontakty historyków polskich ze środowiskiem ‚Annales’ 1945-1989. Warszawa 2010. Dt.: Warschauer Ideenhistorische Schule. Sie bezeichnet einen Kreis von Warschauer Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen, die sich bis zum Ende der 1960er Jahre intellektuell auch intensiv mit dem Marxismus auseinandersetzen und zu dem u.a. Leszek Kołakowski (1927-2009), Krzysztof Pomian (*1934), Jerzy Szacki (1929-2016) oder Andrzej Walicki (1930-2020) gehörten. Dieser Kreis zerfiel unter dem Eindruck der Ereignisse des Jahres 1968 in Polen zusehends. Vgl. hierzu Grad, Paweł (Hg.): Warszawska Szkoła Historii Idei. Tożsamość – Tradycja – Obecność. Warszawa 2014.

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damit auch für die Geschichte Ostmitteleuropas. Die 1990er Jahre brachten insbesondere in der Zeitgeschichte einen Ausbruch des Interesses für die ‚historische Wahrheit‘, die zuvor eher in Exil- und Untergrundpublikationen zu finden war. Aber auch eine Fortsetzung der kritischen Beschäftigung mit der Historiographiegeschichte fand statt, etwa bei Rafał Stobiecki69 in Lodz. Schließlich darf man die intensive Rezeption und Auseinandersetzung mit methodologischen und geschichtstheoretischen Fragen bei Wojciech Wrzosek oder Ewa Domańska in Posen nicht unerwähnt lassen.70 In der klassischen Beschäftigung mit Geschichte tauchen neben politik-, zunehmend auch regional- und mentalitätsgeschichtliche Arbeiten sowie postkoloniale Ansätze auf. Einen besonderen Platz nimmt die Geschichte der Erinnerungskultur ein, die in den 2000er Jahren in der Edition „Deutsch-Polnische Erinnerungsorte“, herausgegeben von Hans Henning Hahn und Robert Traba, ihren Höhepunkt und gleichsam Vollendung findet.71 Gerade letzteres Projekt war ein in der theoretischen Durchdringung und der wissenschaftlichen Praxis zutiefst transnationales Unternehmen. Welche Publikationen hatten denn in den 1990er Jahren Einfluss auf Sie, und was ist davon geblieben? Mein Problem ist, dass ich den 1990er Jahren, tief im Wald verirrt, die einzelnen Bäume nicht mehr sah, weil ich nur noch für die Erfassung der Literatur im bibliographischen Zusammenhang oder für die „Polnische Bibliothek“ gelesen habe. Auch war ich in der Zeit vielleicht stärker von Belletristik beeinflusst als von geschichtswissenschaftlicher Literatur. Oder auch von Philosophie und politischer Theorie. Für mich spielten in dieser Zeit Leszek Kołakowski eine sehr wichtige Rolle und Józef Tischner, oder Marcin Król und Adam Michnik.72 Das war natürlich auch durch persönliche Begegnungen mitgeprägt. Beim zweiten Nachdenken kann ich aber natürlich sehr wohl Autoren und Lektüren dieser Zeit benennen, die wichtig für mich waren, und zwar nachhaltig, weil 69 70 71

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Rafał Stobiecki (*1962). Wojciech Wrzosek (*1952); Ewa Domańska (*1963). Zwischen 2006 und 2015 unter Federführung des CBH PAN Berlin nach französischem Vorbild, aber bald darüber hinausgehend, durchgeführtes Forschungsprojekt zur Geschichte zweiten Grades mit transnationalem Fokus. Vgl. Hahn, Hans Henning/Traba, Robert (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte.  5 Bde. Paderborn 2012-2015; poln. Ausgabe: Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Tom  1-4. Warszawa 2012-2015; dies. (Hg.): 20 deutsch-polnische Erinnerungsorte. Paderborn 2017; poln. Ausgabe: Wyobrażenia przeszłości. Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Warszawa 2017. Józef Tischner (1931-2000); Marcin Król (*1944); Adam Michnik (*1946).

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ich mich nie von ihnen ‚getrennt‘ habe. Dazu gehören Reinhart Koselleck (verschiedene Texte und natürlich das Konzept „Historische Grundbegriffe“), Jerzy Jedlicki, Klaus Zernack, Tomasz Szarota, Hubert Orłowski, Antonina Kłoskowska.73 Es gibt Bücher, die man glaubt schon immer gekannt zu haben. Es ist dann schwierig, deren Lektüre zeitlich zu verorten. Wenn wir jetzt noch mal auf die Ebene der Themen gehen: Welches waren rückblickend die Leitnarrative der letzten 30 Jahre für Sie? Und wie würden Sie Ihre eigenen Forschungen darin verorten? Als ich die Epochenbände der „Polnischen Bibliothek“ betreute, entwickelte ich ein besonderes Interesse für überepochale und interkulturelle Vergleiche, außerdem für die Spiegelung des historischen Prozesses in der Literatur, im Text, im Begriff. Als Historiker habe ich kaum etwas zur Wirtschaftsoder Sozialgeschichte oder zur reinen Politikgeschichte gemacht. Meine Beschäftigung war immer auf eine untergründige, sekundäre Ebene gerichtet. Und insofern bilde ich mir ein, dass ich eine gewisse Leidenschaft entwickelt habe für die Verbindung von Idee und Mensch, wenn man das so sagen darf, weil für mich biographische Zusammenhänge auch immer für die Ideengeschichte sehr wichtig waren. Für mich ist der Autor nie gestorben, ich habe den Text, den ich las, immer im Kontext seiner Biographie versucht zu verstehen. Das hat allerdings auch mit mir persönlich zu tun, weil ich ständig in dieser Spannung lebte, wie ich am Anfang sagte, nirgendwo zu Hause und in einem ständigen Wandel begriffen zu sein und ständig nicht wirklich das Thema zu ‚beherrschen‘, mit dem ich mich befasse. Ohne dass ich jetzt irgendwie ethisch ‚entgleist‘ wäre, war ich oft mit sehr unterschiedlichen grundsätzlichen Perspektiven beschäftigt und damit, diese unter einen Hut zu bringen. Ich habe selbst eine ideelle Entwicklung durchgemacht und neigte dazu, diese Entwicklung auch bei anderen Personen oder Gruppen zu verfolgen. Sie fragen aber nicht nach Motivationen, sondern nach Leitnarrativen. Ich habe also, um das mal konkret zu formulieren, mit dem 18. Jahrhundert angefangen im Kontext der russischen Kulturgeschichte. Mich hat das Russische sehr stark geprägt, weil ich neben Zernack eine zweite Person in 73

Reinhart Koselleck (1923-2006); Jerzy Jedlicki (1930-2018) – ders.: Jakiej cywilizacji Polacy potrzebują. Studia z dziejów idei i wyobraźni XIX wieku. Warszawa 1988; Zernack, Klaus: Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin 1994; Szarota, Tomasz: Der deutsche Michel. Die Geschichte eines nationalen Symbols und Autostereotyps. Osnabrück 1998 (poln. Original: Niemiecki Michel. Dzieje narodowego symbolu i stereotypu. Warszawa 1988); Hubert Orłowski: „Polnische Wirtschaft“. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit. Wiesbaden 1996; Antonina Kłoskowska (1919-2001) – dies.: Kultury narodowe u korzeni. Warszawa 1996.

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meinem wissenschaftlichen Leben hatte, die mich besonders beeinflusst hat, das war Hildegard Schaeder74. Mit ihrer Dissertation über „Moskau, das Dritte Rom“ (1929) und Vorlesungen über Orthodoxie und die russische Geistesgeschichte in Frankfurt am Main in den 1970er Jahren hatte sie eine enorme Wirkung auf mich gehabt in Bezug auf die Wahrnehmung von Geschichte als einer Geschichte von Ideen, von Überzeugungen, von Weltanschauungen, von Leidenschaften: beginnend für Russland und dann später auch für Polen. Aufklärung war für mich ein sehr wichtiges Thema, später Romantik, als Epochen mentaler Transformation, mit enormer Wirkung auf Begriffe und Identitätskonstruktionen der Moderne und Postmoderne. Das war mir freilich nicht immer bewusst, aber ganz offensichtlich war meine Beschäftigung mit der polnischen Sicht auf Deutschland und Preußen, mit Prozessen des Wandels nationaler, kultureller Identität, mit dem Leben und Werk einzelner polnischer Literaten, mit Erinnern und Vergessen usw. von dem Vorverständnis sich wandelnden religiösen und intellektuellen Selbstverständnisses geprägt. Meine Neigung zum Edieren und zum Dokumentieren mag mit dem Bedürfnis verbunden sein, ‚Meinung‘ eher zu suchen als zu verkünden. Möglicherweise war gerade dies das unausgesprochene Leitnarrativ von mehr als 30 Jahren eigener Forschungen. Verstehen war nicht gleichbedeutend mit Verständnis, das war mir klar. Nur langsam dämmerte es mir aber, wie fragil Hermeneutik sein kann, wie hilflos gegenüber Fundamentalismen, Autoritarismen und Dezisionismen diverser Art, gegenüber Insinuation, Manipulation und – falscher Umarmung. Vor zehn Jahren haben Sie sich einmal im Rahmen der Beschäftigung mit der Zeitgeschichte in Deutschland und Polen ganz optimistisch über die Existenz einer transnationalen deutsch-polnischen Forschungsgemeinschaft geäußert, die sich in den 2000er Jahren etabliert habe.75 Wenn Sie nun aus heutiger Sicht prognostizieren würden: Wie wird die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen? Im Jahr 2030 wird entweder ein geschichtspolitischer Overkill stattfinden oder eine Phase der Besinnung einsetzen, eine gewisse Rückkehr zur ‚normalen‘ Geschichtsschreibung, zu einem Interesse an dem Phänomen Mensch in seiner historischen Dimension. 74 75

Hildegard Schaeder (1902-1984) – dies.: Moskau, das Dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt. Hamburg 1929. Lawaty, Andreas: Polska XX wieku w niemieckiej Zeitgeschichte. Metodologiczne i ideologiczne samoprzezwyciężanie (2007/2011), in: Ders.: Intelektualne wizje i rewizje w dziejach stosunków polsko-niemieckich XVIII – XXI wieku. Kraków 2015, S. 418-449, S. 449.

Abb. 14.1 Bologna, Piazza Maggiore, im Herbst 1994. Foto: privat.

Michael G. Müller (*1950) ist in Frankfurt/Main geboren. Dort hat er 1970-1974 Slavistik und Geschichte studiert und wurde 1978 promoviert. Nach 1974 war er wiss. Mitarbeiter an den Universitäten Frankfurt/Main und Gießen sowie bei der Historischen Kommission zu Berlin. Nach der Habilitation an der FU Berlin wurde er 1992 Professor am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Seit 1996 Professor für Osteuropäische Geschichte in Halle.

„Nun kann man 30 Jahre danach überlegen, ob es die Mühe wert war“ Michael G. Müller Sie haben in den 1970er Jahren in Frankfurt Geschichte und Slavistik studiert. Wie kam damals Ihr Interesse an Russland und an Polen zustande und empfanden Sie das damals als in irgendeiner Weise exotisch? Es gab eine vorwissenschaftliche Motivation, das war das tiefe Misstrauen gegen die Rhetoriken des Kalten Kriegs. Ich war fest davon überzeugt, dass die Hälfte bis Dreiviertel von dem, was wir über Osteuropa gelernt hatten, gelogen war, und dann wollte ich mir doch ein eigenes Bild machen. Wie es dann weiter ging bei Klaus Zernack1, bei dem ich angefangen habe zu studieren, das ist gewissen Zufällen ausgesetzt gewesen. In der Slavistik habe ich ursprünglich hauptsächlich mit dem Ziel, Staatsexamen zu machen, Russisch studiert. Aber dann kam es dadurch, dass Klaus Zernack in diesen Jahren sehr intensiv über Polen gearbeitet hat, dazu, dass ich angefangen habe, mir mehr an Kenntnissen über polnische Geschichte anzueignen. Dann hatte ich auch – was damals ja relativ leicht war – ein Stipendium zum Spracherwerb nach Polen bekommen. Und so ist diese Konzentration auf Polen selbsttätig in den Vordergrund getreten, ohne dass das eine fundamentale Entscheidung gewesen wäre. Sie waren ja in jüngerer Zeit an dem großen Forschungsprojekt „Phantomgrenzen“2 beteiligt, dass sich mit historischen Raum-Zeit-Denken in der longue durée befasst hat. Würden Sie sagen, dass sich 1989 etwas Entscheidendes verändert hat oder würden Sie eventuell andere Zäsuren setzen? Geändert hat sich 1989 natürlich unendlich viel. Aber wenn ich das aus der Perspektive der mit Polen beschäftigten Geschichtswissenschaft und besonders aus der Perspektive der Frühneuzeitler sehe, dann würde ich sagen: Nein, 1989 hat nicht sehr viel geändert. In unseren Kontakten ist der 1 Klaus Zernack (1931-2017). 2 Zwischen 2011 und 2017 tätiges, durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziertes Netzwerk, das sich von Berlin aus in verschiedenen Teilprojekten interdisziplinär mit dem Weiterwirken alter Grenzregionen im östlichen Europa beschäftigte. Vgl. Hirschhausen, Béatrice von u.a. (Hg.): Phantomgrenzen. Räume und Akteure in der Zeit neu denken. Göttingen 2015.

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Kalte Krieg einen langen Tod gestorben und das begann buchstäblich mit Solidarność3 und auch mit den Zeiten nach Verhängung des Kriegsrechts4. Die Intensivierung unserer Beziehungen zu den Kolleginnen und Kollegen in Polen ist über die 1980er Jahre lange gewachsen und hatte schon am Ende der 1980er Jahre einen Höhepunkt erreicht (auch meine persönliche Freundschaft mit Włodzimierz Borodziej begann 1980!). Das sehen natürlich Zeithistoriker anders, für die sich durch 1989 ganz neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnet haben – ich denke an das große Projekt von Borodziej und Lemberg in Marburg über den Komplex der Vertreibungen.5 Man konnte ja zu frühneuzeitlichen Themen die ganzen 1980er Jahre hindurch auch mit großer Freiheit, großer Unterstützung in jedem polnischen Archiv arbeiten. Was sich sicher geändert hat, das war die Legitimation der Teildisziplin Osteuropäische Geschichte. Also Sie kennen ja diesen schönen Band, der für Christoph Kleßmann gemacht worden ist, „Brückenbauer“.6 Man kann sagen, von Klaus Zernack über Kleßmann bis zu Hans Henning Hahn7 und Włodzimierz Borodziej – alle konnten wir uns immer auf die Brust schlagen und sagen: „Wir waren die Brückenbauer vor 1989!“ Nach 1989 musste man keine Brücken bauen, sondern man musste den Sinn unserer Beschäftigung neu erfinden. Das ist wiederum eine Sache, die die Alterskohorte nach mir, zu der etwa Robert Traba oder, wenn wir über die Frühe Neuzeit sprechen, Hans-Jürgen Bömelburg und Karin Friedrich gehören, quasi hat neu erfinden müssen.8 Würden Sie aber für sich persönlich sagen, dass die Zeit um 1989 einen Einschnitt in Ihrem Erleben dargestellt hat? 3 Zwischen August  1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999. 4 Der Kriegszustand wurde am 13. Dezember 1981 von General Wojciech Jaruzelski (1926-2014) zur Unterdrückung der Opposition verhängt und erst im Juli 1983 wieder aufgehoben. Vgl. Paczkowski, Andrzej: Wojna polsko-jaruzelska. Stan wojenny w Polsce 13 XII 1981-22 VII 1983. Warszawa 2006. 5 Włodzimierz Borodziej (*1956); Hans Lemberg (1933-2009) – dies. (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven. 4 Bde. Marburg 2000-2004; poln. Ausgabe: Niemcy w Polsce 1945-1950. Wybór dokumentów. Tom 1-4. Warszawa 2000-2001. 6 Kleßmann, Christoph (*1938); Danyel, Jürgen/Behrends, Jan  C. (Hg.): Grenzgänger und Brückenbauer. Zeitgeschichte durch den Eisernen Vorhang. Göttingen 2019. 7 Hans Henning Hahn (*1947). 8 Robert Traba (*1958); Hans-Jürgen Bömelburg (*1961); Karin Friedrich (*1963).

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Ja natürlich. Meine Frau – sie war Journalistin beim polnischen Fernsehen in Warschau – ist nach der Verhängung des Kriegsrechts entlassen worden und unter sehr schwierigen Umständen nach Deutschland gekommen. Unser Leben ist natürlich im hohen Maße durch die Verhältnisse vor 1989 und die radikale Veränderung danach geprägt worden. Ich habe den Mauerfall von Berlin nicht in Berlin erlebt, obwohl meine Frau und ich unseren Wohnsitz dort hatten, sondern mit polnischen Freunden in Danzig vor dem Fernseher. Das waren natürlich große Erfahrungen, große Erlebnisse. Wenn wir in die 1990er Jahre hineingehen – wie wirkte die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaft in Deutschland und in Polen ein? Und umgekehrt, wie die Historikerinnen und Historiker auf die Politik? Es kommt sehr stark darauf an, in welchem Gebiet der Geschichtswissenschaft man unterwegs ist. Ich würde der Vereinfachung halber sagen, für die Frühe Neuzeit-Forschung hat sich buchstäblich nichts geändert. In einem sehr langen Prozess haben sich die Möglichkeiten der polnischen Kolleginnen und Kollegen erweitert, will sagen: durch ihr Reisen, aber eben auch intellektuell und methodisch internationale Erfahrungen zu machen. Und das hat sich natürlich sehr deutlich am Ende der 1990er Jahre und im Jahrzehnt nach 2000 in methodischen Neuausrichtungen niedergeschlagen. Sehr unterschiedlich waren die Verbindungen zwischen Politik und Geschichtswissenschaft. In Deutschland ist das wohl nicht weiter der Rede wert. Aber wir wissen ja alle, wie viele unserer Kollegen in Polen – Henryk Samsonowicz9 zum Beispiel, aber auch Włodzimierz Borodziej – auf einmal für eine Weile in wichtige Positionen der Politik eingerückt sind. Und sicher haben diese in der Zeit vor 1989 kritischen Historiker in der Gründungsphase der neuen politischen Kultur in Polen eine große Rolle gespielt. Aber wir wissen ja auch, dass das seine Grenzen hatte, schon bald, gar nicht so lange nach 1989. Auch wenn rückblickend die 1980er und 90er Jahre für Sie dann beruflich vielleicht weniger zu trennen wären, wie bewerten Sie die Rolle wissenschaftlicher und privater Netzwerke und inwieweit war der persönliche Umgang in Polen eine anderer als Sie ihn aus dem deutschen Kontext kannten? Meine Erfahrung mit polnischen Kolleginnen und Kollegen seit den 1980er Jahren war ungeheuer bereichernd. Das war eine neue Welt von Kollegialität, von gegenseitiger Neugier, von intellektuellen Freundschaften auch, das war 9 Henryk Samsonowicz (*1930).

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eine ganz große Sache. Insofern hat mich das sehr stark geprägt. Was die Kultur in unseren jeweiligen, teildisziplinären Beziehungen angeht, war der Unterschied tatsächlich nicht so groß. Was wir alle sehr stark gespürt haben, war der große politische Rückenwind, den unsere älteren, lange schon existierenden Kontakte auf einmal bekommen haben. Sie haben nun sehr stark betont, wie bereichernd die persönlichen Kontakte nach Polen für Sie selbst gewesen sind. Wie haben Sie es denn damals wahrgenommen, als plötzlich die Rede war vom „Versöhnungskitsch“? Hat Sie das gestört, oder dachten Sie: Vielleicht hat Klaus Bachmann10 doch nicht ganz Unrecht? Ich hole ein bisschen aus: Klaus Zernack war sehr empört, ins Herz getroffen davon, dass man Versöhnung und Kitsch zusammenbringen kann. Mir ging es doch anders. Was ich in der Zeit sehr stark, sehr bewusst erlebt habe, war die diskursive Aneignung der Versöhnung durch Menschen, die vor 1989 überhaupt nichts damit am Hut hatten. Auf einmal war es Mainstream und politisch korrekt. Es gab ganz viele Leute, die auf einmal im Vordergrund standen, obwohl sie sich vorher keinen Deut um Polen und um unsere Nachbarschaft mit Osteuropa überhaupt geschert haben. Das fand ich auch problematisch. Ich kann mich gut erinnern, dass ich eben oft das Gefühl hatte, dass die Kommunikation zwischen Polen und Deutschen auf einmal viele falsche Freunde hatte. Insofern war das keine falsche Diskussion, die Bachmann damals vom Zaun gebrochen hat. Wenn Sie überlegen, welche Einzelpersönlichkeiten in Deutschland und in Polen in der Wissenschaft damals für Sie wichtig gewesen sind, wen würden Sie da nennen? In den 1990er Jahren waren das in Deutschland sowohl noch die Altmeister, vor allem Zernack und auch Gottfried Schramm11, als auch die Kohorte der Jüngeren. Ich sage bewusst nicht Generation, weil es auch eine Zuschreibung ist, zu sagen, etwa Hans-Jürgen Bömelburg oder Robert Traba gehören einer anderen Generation an als ich. Generation ist deshalb nicht richtig, auch wenn 10

11

1994 von dem in Polen lebenden deutschen Journalisten Klaus Bachmann (*1963) ausgelöste Debatte darüber, ob die fortwährenden Reden über Versöhnung in ihrer Oberflächlichkeit der Komplexität der deutsch-polnischen Beziehungen nicht gerecht werden. Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muss von Polen ausgehen, in: taz vom 5. August 1994, S.  12; Hahn, Hans Henning/Hein-Kircher, Heidi/Kochanowska-Nieborak, Anna (Hg.): Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch. Marburg 2008. Gottfried Schramm (1929-2017).

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diese Alterskohorte der um 1960 Geborenen, in den 1990er Jahren für mich deutlich wichtiger wurde, und zwar auf beiden Seiten der Grenze. Auch aufgrund der Tatsache, dass es so stark erweiterte Möglichkeiten der täglichen Begegnung gab. Davor war es doch entweder die einsame – nicht immer einsame, manchmal auch gar nicht einsame – Archivreise nach Polen oder die Schulbuchkommission12 als das große Forum. Nach 1989 gab es der Foren ganz viele und ganz viele Reiseaktivitäten in beide Richtungen. Für mich waren die Bekanntschaften oder die kollegialen Gespräche, Beziehungen in den 1990er Jahren eine Mischung aus dem Alterprobten, zu dem ja auch noch Kontakte zu Janusz Tazbir, Jerzy Topolski, Witold Molik, Janusz Małłek und ganz vielen anderen gehörten,13 und Neuem: Es kamen nun Menschen wie Robert Traba oder Edmund Kizik14 dazu, eben die um 1960 Geborenen. Dazu zählt auch Wojciech Kriegseisen15, der 1955 geboren, aber erst in den 1990er Jahren aufgrund unserer vielfältigen gemeinsamen Interessen in der Reformationsforschung zu einem guten Freund geworden ist, aber eben erst dann. Ich denke, für mich persönlich war diese intellektuelle und kommunikative Erweiterung hauptsächlich ein Ergebnis der Vervielfältigung halbinstitutioneller Kontakte und vor allem der Kontakte zu denjenigen, die ungefähr zehn Jahre oder noch mehr jünger waren als ich. Sie haben jetzt viele Namen genannt, bleibt natürlich die Frage: Gab es damals eigentlich auch schon Frauen? Oh ja, die gab es. Und es gab sie natürlich in Polen in größerer Zahl als in Deutschland. Immerhin muss ich sagen, dass für mich in Deutschland, für meinen eigenen Weg zur Reformationsforschung, auch eine Frau eine fast entscheidende Rolle gespielt hat: Luise Schorn-Schütte16, mit der ich weiterhin in Kontakt bin. In Polen hat für mich Maria Wawrykowa17 eine zentrale Rolle gespielt, aber das schon seit den 1970er Jahren. Sie hat sich ganz mütterlich meiner angenommen, wie sie sich überhaupt mütterlich aller möglichen 12

13 14 15 16 17

Unter der Schirmherrschaft der UNESCO 1972 gegründete Kommission deutscher und polnischer Historiker*innen sowie Geograph*innen. Vgl. Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015. Janusz Tazbir (1927-2016); Jerzy Topolski (1928-1998); Witold Molik (*1949); Janusz Małłek (*1937). Edmund Kizik (*1960). Wojciech Kriegseisen (*1955). Luise Schorn-Schütte (*1949). Maria Wawrykowa (1925-2006).

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Menschen angenommen hat. Aber ich verdanke ihr eben auch frühe Einladungen 1983 zu einem ersten längeren Forschungsaufenthalt von drei Monaten nach Warschau. Und zu den Frauen, die ich erwähnen muss, aber doch mit einer anderen Konnotation, gehört natürlich Maria Bogucka18, die Frühe Neuzeit-Historikerin in Danzig. Sie gehört zu den wenigen Frühe Neuzeit-Historikerinnen und -Historikern, die eine eher dunkle Vergangenheit im Stalinismus hatten, in der stalinistischen Geschichtswissenschaft. Ich habe sie getroffen, aber keine weiteren Kontakte mit ihr unterhalten. Aber auch die Kontakte mit Zofia Zielińska19, der großen Expertin für das 18. Jahrhundert in Warschau, mit der ich auf jeden Fall seit den 1990er Jahren auch immer wieder Kontakt habe, gehören dazu. Die für mich intellektuell und auch als Freundinnen wichtigsten Historiker-Kolleginnen sind alle deutlich jünger als ich: Karin Friedrich in Aberdeen, Dietlind Hüchtker in Leipzig und jetzt Wien, Yvonne Kleinmann in Halle und Katrin Steffen in Lüneburg, aber auch Dobrochna Kałwa, jetzt in Warschau, früher in Krakau.20 Sie gehören aber wirklich einer anderen Generation an. Können Sie vielleicht noch einmal auf einer abstrakteren Ebene zuspitzen, ob man für die 1990er Jahre von einer anderen Wissenschaftskultur in Polen als in Deutschland sprechen konnte? Ob man nun von einer anderen Wissenschaftskultur sprechen kann, weiß ich nicht genau. Habituell, rhetorisch, institutionell war die polnische Wissenschaft der deutschen schon sehr ähnlich. Vielleicht der deutschen der 1960er Jahre ähnlicher als der der 1980er oder 1990er Jahre. Es gab aber eine völlig andere intellektuelle Kultur unter den polnischen Kolleginnen und Kollegen. Sie waren sehr viel weniger fachidiotische, sehr viel stärker engagierte, sehr oft auch breiter orientierte Intellektuelle, mit weiterreichenden Interessen als viele meiner deutschen Kolleginnen und Kollegen. Jetzt ein extrem subjektiver Eindruck: Wenn ich in Deutschland mit Kolleginnen und Kollegen außerhalb des Seminars zusammensaß, hatte ich oft das Gefühl, dass über Berufungskommissionen, über allen möglichen Ärger und Frustrationen im Universitätsbetrieb geredet wurde, weniger über Inhalte. Da wurde bei meinen polnischen Kolleginnen und Kollegen sehr viel leidenschaftlicher über alles gestritten, über Filme und auch über große Themen. 18 19 20

Maria Bogucka (1929-2020). Zofia Zielińska (*1944). Dietlind Hüchtker (*1962); Yvonne Kleinmann (*1970); Katrin Steffen (*1967); Dobrochna Kałwa (*1969).

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Sie haben einmal konstatiert, dass der „Rückgang des gegenseitigen [deutschpolnischen] Interesses bei einem Teil der Historikerschaft [nach 1989] als eine Art positiver Normalisierung“ zu werten gewesen sei.21 Hatten Sie in Bezug auf die 1990er Jahre das Gefühl, dass alte Komplexe bzw. Verhaltensmuster weiter gewirkt haben? Blieben Schieflagen und Asymmetrien bestehen oder haben sich auch neue oder andere entwickelt? Ja, es blieben Schieflagen bestehen, und ich glaube, die gibt es genauso heute noch. Als starke Erinnerung aus den späten 1980er und den 1990er Jahren ist geblieben, dass es in der deutschen Geschichtswissenschaft ein demonstrativ betontes Interesse an Polen gab. Nicht nur ich, sondern viele andere auch, wurden oft eingeladen, um über Polen zu sprechen, über aktuelle Entwicklungen, auch über große Themen der deutsch-polnischen Historikerkontroverse. Denn es wurde uns immer unterstellt, dass es große Kontroversen geben müsse, wenn wir mit polnischen Historikerinnen und Historikern diskutieren. Damit konnten wir in unserer Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission aber nicht aufwarten. Wir waren uns eigentlich meistens einig, und wenn wir uns nicht einig waren, dann verlief die Konfliktlinie quer zu den nationalen Fronten. Das rhetorisch stark betonte Interesse für Polen in den späten 1980er und den 1990er Jahren hatte aber etwas Beliebiges. Es ist mir passiert, dass ein lieber, von mir intellektuell sehr geschätzter Kollege, drei Vorträge über polnische Themen im Abstand von anderthalb Jahren von mir gehört und mir jedes Mal hinterher gesagt hat: „Herr Müller, das ist ja wahnsinnig interessant. Ich verstehe natürlich gar nichts davon, aber …“ Wir konnten also reden, was wir wollten, das Verständnis ist dadurch eigentlich gar nicht gewachsen, sondern es war eine habituelle Zuwendung: „Unsere lieben Freunde in Polen, uns liegt so sehr an ihnen  …“. An dieser Asymmetrie des Interesses und des Wissens hat sich nicht viel geändert. Nun kann man heute wirklich nicht mehr sagen, dass es keine in westlichen Sprachen zugängliche, relevante Literatur über die großen Themen der polnischen Geschichte und der deutsch-polnischen Beziehungen gäbe. Aber es ist immer noch erlaubt zu sagen: „Ach, davon verstehe ich ja gar nichts.“ Solche Sätze würden wir nicht sagen, wenn man über Italien oder Frankreich spricht. Die Asymmetrie ist also stark geblieben, und ich bin auch inzwischen ziemlich pessimistisch, dass wir als Historikerinnen und Historiker daran viel ändern können.

21

Müller, Michael G.: Dekade der Enttäuschung?, in: Borussia (2002) 27, S. 97-99.

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Welche Rolle, auch im Vergleich zu privaten Netzwerken, haben überhaupt Institutionen – neben der schon angesprochenen Schulbuchkommission – bei der Verdichtung so einer deutschen-polnischen Kommunikation gespielt? Es reicht ja das Stichwort „Gründung des DHI Warschau“22 1993 zu erwähnen … vorher hätte man so etwas überhaupt nicht denken können. Und das war eine natürlich sehr positive Angelegenheit. Parallel muss man aber auch an die Gründung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Kultur und Geschichte Ostmitteleuropas23 in Leipzig denken, auch ein Nachwende-Ereignis. Nun würde ich nicht sagen, dass beide Gründungen alle Hoffnungen erfüllt haben. Dennoch muss man im Nachhinein einfach zugeben, dass durch diese Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen die institutionelle Absicherung von Forschungsarbeit, von Themen, die uns interessiert haben, ein großer Gewinn, eine große Erleichterung war. Klaus Zernack gehörte für beide Projekte ja eigentlich zu den Urvätern, obwohl er nie eine spektakuläre Rolle spielte – er war nie Direktor des GWZO, und er war auch nicht Gründungsdirektor des DHI. Aber beide Projekte gehen auf ihn zurück und sind nur zu Stande gekommen, weil er sehr hartnäckig dafür gekämpft hat. Nun kann man 30 Jahre danach überlegen, ob es die Mühe wert war. Das war es schon, weil viele von uns davon profitierten – und zeitweise gehöre ich selber dazu als Begünstigter von Drittmittelförderung beim GWZO, Hans-Jürgen Bömelburg gehört auch mit dazu als langjähriger Mitarbeiter des DHI Warschau. Aber lässt sich das ewig so fortschreiben, und hat das eigentlich einen Sinn? Da, würde ich sagen, sollte man nach 30 Jahren noch einmal gut nachdenken. Sicher darf man auch das Herder-Institut24 in Marburg nicht vergessen, das nach seiner Post-Kalte-Kriegs-Wende eine doch wichtige Rolle gespielt hat. 22

23

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Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. 1996 in Leipzig gegründetes Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas. Vorgänger war der 1992 eingerichtete Forschungsschwerpunkt „Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas“, der in Teilen an die Aktivitäten der Akademie der Wissenschaften der DDR anknüpfte. Seit 2017 firmiert das Institut unter dem Namen Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO). Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon

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Mainz hat eine wichtige Rolle gespielt, sowohl das Institut für Europäische Geschichte25, als auch der Schwerpunkt Polen26 an der Universität. Diese Institutionen waren auf jeden Fall sehr wichtig, schon deshalb, weil nach 1989 die ökonomische Asymmetrie zwischen den beiden Wissenschaftsbetrieben ganz krass zu Tage getreten ist. Nun durften unsere Kolleginnen und Kollegen reisen, wohin sie wollten. Aber womit und wovon leben? Das habe ich als sehr quälend empfunden. Das haben, glaube ich, auch viele Kolleginnen und Kollegen in Polen als demütigend empfunden, gewissermaßen Bittsteller in Deutschland zu sein. Mir ist im Nachhinein klar geworden, warum Robert Traba sowohl im Rahmen seiner Arbeit in Berlin als auch als Vorsitzender der Schulbuchkommission immer so beharrlich auf Parität bestanden hat, dass jeder aus eigener Kraft das zum gemeinsamen Arbeiten beiträgt, was er kann. Das war ein Problem. Trotzdem sind natürlich die veränderten und die neuen Institutionen enorm wichtig gewesen. Beim GWZO gab es zum Teil helle Punkte. Dort wurden auch immer wieder Kolleginnen und Kollegen aus Polen einfach als normale Mitarbeiter angestellt. Ich denke immer noch mit Freude daran zurück, dass Miloš Řezník Mitarbeiter in einem meiner Projekte war, ebenso wie Bogusław Dybaś.27 Das ist dann eben ein längerer Zeitraum, in dem man zusammenhockt, sich nicht nur ab und zu für Projekttreffen sieht, sondern wirklich buchstäblich Tag für Tag zusammen arbeitet. Und ja, das verdanken wir unter anderem auch diesen institutionellen Strukturen, die in den 1990er Jahren entstanden sind. Gleichzeitig glaube ich, dass in der längeren Sicht das DHI Warschau nicht zu einer solchen Plattform geworden ist. Da will ich jetzt gar nicht irgendwelche Schuld zuweisen. Anfangs dachten wir alle, dass das eine super Sache ist, dass man dieses Institut aufmacht, dass es ein ständiges Dialogforum bietet und die Bibliothek ein wichtiges Hilfsmittel für Kolleginnen und Kollegen in Polen ist, die nicht so leicht an deutsche und westliche Literatur kommen. Das hat sicher am Anfang auch gestimmt, aber

25

26 27

zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.unioldenburg.de/53980.html (02.06.2015). Das Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz, seit 2012 Leibniz-Institut, wurde im Zuge der internationalen Historikergespräche durch die Kulturabteilung der französischen Militärregierung 1950 gegründet und verfolgt einen Schwerpunkt in Kultur-, Religions- und Universalgeschichte. Vgl. Vom Kalten Krieg zum europäischen Umbruch. Das Institut für Europäische Geschichte 1950-1990. Eine Ausstellung des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte (IEG) Mainz, hg. v. Joachim Berger. Berlin/Mainz 12.9.2020, https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/ieg2020 (09.01.2021). Das Mainzer Polonicum (bis 1983: Mainzer Modell) ist ein 1979 ins Leben gerufenes System studienbegleitender Sprachkurse des Polnischen. Miloš Řezník (*1970); Bogusław Dybaś (*1958).

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als langjähriges Mitglied des Beirats des DHI konnte ich beobachten, dass die Benutzerfrequenz erstaunlich gering war und immer geringer wurde. Denn die Kolleginnen und Kollegen aus Danzig zum Beispiel haben gesagt: „Ich setze mich lieber in den Zug und fahre nach Berlin und nicht nach Warschau, um dort selektiv deutsche Literatur zu lesen.“ Die Forumsfunktion des DHI hat sich immer nur dort bewährt, wo es genug Anschlussstellen gab. So sehr ich die Forschungsanstrengungen von Eduard Mühle28 als Mediävist schätze und er hat sicher prima Sachen gemacht in seiner Zeit als DHI-Direktor – das hat dennoch nicht Scharen von Warschauer Historikerinnen und Historikern dazu gebracht, einmal in der Woche ins DHI zu gehen. Das Institut kämpft, wie übrigens alle DHIs, weiter darum, seinen Ort im Gastland zu finden. Ich bin gar nicht so sehr ein Kritiker des DHI Warschau im Besonderen, immer mehr aber ein Kritiker dieses Institutionenverbunds, dieses unendlich teuren Tankers der DHIs im Plural. Ich glaube, das ist ein strukturelles Problem und vielleicht sollten die DHIs intensiv nachdenken, ob sie sich noch einmal neu erfinden könnten. Vielleicht etwas weniger institutionelle und budgetäre Masse, vielleicht intellektuell ein bisschen peppiger. Sie haben gerade das DHI als Bibliotheksplattform angesprochen. Haben Sie eigentlich Unterschiede in der praktischen Arbeit eines Historikers zwischen Polen und Deutschland empfunden? In der Tat, die Unterschiede waren sehr groß. Ich sage jetzt etwas flapsig – unter beiden Strukturen konnte man leiden. Was mich in Deutschland manchmal an den Rand der Verzweiflung gebracht hat, war etwa das Geheime Staatsarchiv in Berlin. Man hatte den Eindruck, dass das ein Bollwerk war, eine Festung, so wie die Marienburg stand es mitten in der Stadt, und da waren Kreuzritter auf allen Mauern, die das kostbare Gut gegen die üblen Benutzer verteidigten. Vielen polnischen Kolleginnen und Kollegen hat man in den 1980er Jahren gesagt: „Nein, das ist jetzt in Eigenbenutzung oder in Restaurierung.“ Die Archivare haben schon immer von Weitem befürchtet, dass zum Beispiel Marian Biskup29 aus Thorn kommt und irgendwelche prekären Quellen zur Ordensgeschichte entdeckt und die haben sie immer schnell in Sicherheit gebracht, bevor der sie benutzen konnte. Das war bei meinen Bedürfnissen nicht der Fall. Trotzdem, es gab immer Belehrungen durch die ‚eigentlichen‘ Fachleute vor Ort, die alles besser wussten und die auch die Deutungshoheit über die Quellen verteidigt haben. Sie waren freilich nie in einem polnischen Archiv 28 29

Eduard Mühle (*1957). Marian Biskup (1922-2012).

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gewesen – wozu auch? Wenn man im eigenen Staatsarchiv sitzt, da muss man auch keine polnischen Quellen lesen. Das war sehr unerfreulich. In Polen war es extrem locker, aber diese extreme Lockerheit hatte auch ihre Tücken. Danzig war noch relativ hoch organisiert, da gab es auch einen akademischen Archivar. Wenn ich aber zum Beispiel in Thorn ins Archiv ging, gab es nur solche Kräfte mit grauen Kitteln, die dann alles gemacht haben und unendlich freundlich waren. Sie wussten aber nie, wo sie nach meinen Sachen (Kirchenakten des 16. Jahrhunderts) suchen sollten, die auf Deutsch waren und überhaupt … Aber wenn gar nichts mehr ging, haben sie gesagt: „Ach, wissen Sie was, kommen Sie mit, wir gehen mal zusammen ins Magazin und dann gucken Sie mal da nach.“ Das war eine unendlich erfreuliche Situation, da hat man sich so gefühlt wie ein richtiger Historiker auf seiner Entdeckungsreise – der nimmt sich die Akten vor und dann blättert er darin … In Danzig habe ich auch einmal in einem riesigen Folianten mit vermischten Dokumenten über innerprotestantische Streitigkeiten einen lose eingelegten Brief von Martin Luther30 gefunden, der auch nicht registriert war. Dann denkt man: „Nee, das kann ja jetzt nicht sein.“ Das waren ungeheuer sympathische und schöne Arbeitsverhältnisse, aber auch extrem mühsame, weil man fast keine professionelle Hilfe hatte. Die Öffnungszeiten waren völlig restriktiv, also einen Großteil meiner Zeit musste ich dann irgendwo totschlagen, mit endlosen Spaziergängen durch die Stadt, weil nichts offen war. Dann gab es den Unterschied, dass die polnischen Kolleginnen und Kollegen, wie man auf Polnisch sagt: warsztatowo, also handwerklich, natürlich um Klassen besser waren als wir. Erstens lag es an ihrer Ausbildung, da kam ja keiner daran vorbei. Ich habe in meinem Studium nie erlebt, dass irgendeine lehrende Person mit uns in ein Archiv gegangen wäre. Und zweitens, ja, die Kolleginnen und Kollegen, nicht nur die an der Akademie, aber die natürlich besonders, die hatten unendlich viel mehr Zeit als wir deutschen UniBeschäftigten. Marian Biskup hat mir erzählt, er verbringe jeden Vormittag im Archiv. Das waren so etwa zehn Minuten zu Fuß von seiner Wohnung, und – naja, damals, das waren noch Zeiten – er nahm immer seine Frau31 mit. Und die Frau saß neben ihm und er hat ihr gesagt, was sie jetzt abschreiben soll aus den Akten. Also die Nähe zu den Materialien, mit denen man arbeitet, und die verfügbare Zeit, das war schon was anderes als bei uns, schon (teilweise!) beneidenswert … eine andere Welt, muss ich wirklich sagen!

30 31

Martin Luther (1483-1546). Irena Janosz-Biskupowa (1925-2011).

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Sie haben in der Vergangenheit verschiedentlich betont, dass Europäische Geschichte kaum mehr als eine Redensart sein könne, und Sie haben stattdessen für europäische Geschichten plädiert, sich dafür ausgesprochen, geographischräumliches Containerdenken nicht in den Mittelpunkt zu stellen. Gab es denn bereits in den 1990er Jahren einen transnationalen methodischen Austausch, der über nationale wie auch bilaterale Rahmen hinausging? Relativ früh habe ich festgestellt, dass die ältere polnische Geschichtswissenschaft der 1960er und 70er Jahre sehr viel mehr auf transnationale Geschichte ausgerichtet war als die deutsche. Für mich war es eine unendlich wichtige Entdeckung zu sehen, dass die polnische Geschichtswissenschaft seit der so genannten Małowist-Kontroverse32 in den 1950er Jahren immer an der vordersten Front internationaler Diskussionen stand. In Bezug auf das europäische Weltsystem im Sinne von Wallerstein33, auf internationale ökonomische Arbeitsteilung im Mittelalter und der Frühen Neuzeit, auf Methoden der quantitativen Geschichtswissenschaft war die polnische Geschichtswissenschaft jahrzehntelang der deutschen weit voraus. Das war in den 1990er Jahren mit dem Niedergang der polnischen Wirtschaftshistorie aber eigentlich schon Vergangenheit. Wer hat sich in dieser Zeit noch für die uralten Fragen von Wirtschaftsgeschichte interessiert? Die großen Forschungen zur vergleichenden Geschichte der Landwirtschaft und der Bauern waren völlig out. Gleichzeitig fing man in Deutschland erst an, mit dem Transnationalen das Rad neu zu erfinden. Ich fand die Diskussionsstränge sehr widersprüchlich. Einerseits kann man nicht unter den Tisch kehren, dass Klaus Zernack mit seinem Entwurf zur Beziehungsgeschichte einen wirklich großen methodischen Beitrag geleistet hat.34 Aber das hat außer uns nur kein Aas gelesen. 20 Jahre später kommen dann Leute vorbei und sagen: „Da gibt es doch so etwas wie 32

33 34

Die polnische Frühneuzeitforschung der 1950er und 60er Jahre mit Marian Małowist (1909-1988) an der Spitze vertrat in Anlehnung an Marx und Engels die Ansicht, dass die Entstehung der „zweiten Leibeigenschaft“ in Osteuropa durch die Einbindung als Peripherie in ein neues kapitalistisches Weltsystem erfolgt sei. Diese „Kolonialthese“ wurde von anderen Historikern abgelehnt. Siehe dazu etwa Sosnowska, Anna: Models of East European Backwardness in Post-1945 Polish Historiography, in: East Central Europe  32 (2005) 1-2, S.  125-145, hier S.  138f; Kąkolewski, Igor/Olendzki, Krzysztof: The Twentieth Meridian Zone: Myth or Reality? On Marian Malowist’s Studies on Central-East European History, in: European Review of History / Revue européenne d’histoire (1993) 1, S. 57-72. Immanuel Wallerstein (1930-2019) – ders.: The Modern World-System. 4 Bde. New York/ Berkeley 1974-2011. Zernack, Klaus: Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Ders./Wolfgang  H.  Fritze (Hg.): Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Berlin 1976, S. 3-46.

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transnationale Geschichte und Frankreich und überhaupt und das muss jetzt bei uns auch mal gemacht werden.“ Das fand ich zum Teil uninspiriert und auch ein bisschen verlogen. Das hängt in gewisser Weise auch damit zusammen, dass unsere Themen, das Transnationale in der Geschichte Ostmitteleuropas, einfach nicht als wichtig galten. In Beziehung zu Frankreich, zu Italien, in der méditerranée ist das ganz spontan überzeugend gewesen, unsere Ansätze waren es nicht. Für mich persönlich waren die vier Jahre in Florenz dann ein Erweckungserlebnis ziemlich brutaler Art. Ich musste, aber ich habe es dann natürlich gerne getan, von einem auf den anderen Tag plötzlich eine Methodik des Transnationalen zur Kenntnis nehmen und für mich nutzbar machen, die für viele Kollegen aus Großbritannien, Italien, Frankreich ganz selbstverständlich war. Das war ein methodischer Crashkurs in vielem, das in Deutschland auch noch nicht sehr weit vorangekommen war, als ich dann ganz am Ende der 1990er Jahre zurückkam. Was ich generell sagen würde, ist aber, dass damals in Polen und in Deutschland der Prozess der methodischen Modernisierung große Fortschritte gemacht hat. Er hat früher angefangen, aber aus meiner biographischen Perspektive ist es noch nicht so lange her, dass man eine sehr erfolgreiche Person in der Osteuropäischen Geschichte sein konnte, ohne – vorsichtig gesagt – methodisch sehr brillant zu sein. Früher reichte es schon einmal, Polnisch oder Russisch und die Standards des Handwerks zu können, dann war man schon der große Zampano. Das hat sich in den 1980er Jahren zu ändern begonnen. Für diese neue Kohorte der um 1960 Geborenen, die in den 1990er Jahren schnell eine große Rolle zu spielen begonnen haben, war es gar keine Frage mehr, dass man methodisch auf dem Stand der internationalen Diskussionen sein muss – in beiden Ländern! Man musste wissen, was new intellectual history ist; man musste wissen, welche Debatten in der Kulturgeschichte eine Rolle spielen; man musste selbstverständlich mit gender history und daran angeknüpften Fragen umgehen können. Wenn wir unsere um 1970 geborenen Kolleginnen und Kollegen in Polen und Deutschland anschauen, arbeiten sie von Anfang an auf demselben Niveau, auf Augenhöhe miteinander und beide wiederum auf Augenhöhe mit Kolleginnen und Kollegen in England, in den USA, in Frankreich und in Italien. Nur, Italien ist dann doch irgendwie meine große Liebe. Eine meiner großen Entdeckungen war vor allem die italienische Geschichtswissenschaft. Bevor ich nach Italien ging, hatte ich – ehrlich gesagt – überhaupt nie daran gedacht, irgendwelche Produkte der italienischen Geschichtswissenschaft zu lesen, die nicht direkt mit meinem Feld zusammenhingen. Aber wenn ich daran denke, was ich etwa durch die Bekanntschaft mit Luisa Passerini35 und durch deren Forschungen 35

Luisa Passerini (*1941).

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zur Autobiographie und zu oral history gelernt habe, kann ich nur sagen: Mon Dieu! Kann‘s nur weiterempfehlen. Welche Publikationen aus den 1990er Jahren hatten also bedeutenden Einfluss auf Sie? Was davon ist heute noch wichtig? Gerade schon erwähnt habe ich Luisa Passerini, deren „Autobiography of a Generation“36 mir sozusagen die Augen geöffnet hat für die Möglichkeiten biographischen und autobiographischen Schreibens. Mit ähnlich staunender Bewunderung habe ich Krzysztof Pomians „L’Europe et ses nations“37 gelesen, aber auch Jerzy Jedlickis „Jakiej cywilizacji Polacy potrzebują“38. Für die Forschung über Polen-Litauen in der Frühen Neuzeit fand ich sehr wichtig Robert I. Frosts „After the Deluge“39. Aber es gab zum Beispiel auch so was wie die beiden Bände, die – jedoch schon in diesem Jahrtausend – in der Folge des „Ersten Kongresses der ausländischen Erforscher der polnischen Geschichte“ entstanden sind.40 Im Tagungsprogramm gab es noch den komischen Titel „O nas, bez nas“.41 So als würden wir über polnische Geschichte reden, ohne die polnische Geschichtsschreibung zur Kenntnis zu nehmen. Das war natürlich nicht so gemeint, und das von Andrzej Chwalba42 in Krakau realisierte Unternehmen war eine sehr schöne Sache. Diese beiden Bände sind eine Spätfolge dieser plötzlichen Neuentdeckung von Möglichkeiten formeller oder halbformeller Kommunikation. Vorher hat es so etwas nicht gegeben, es wäre auch nicht denkbar gewesen eigentlich. Und ich erinnere mich an die Historikerkongresse noch der 1990er Jahre in Polen – an denen der 1980er Jahre habe ich noch gar nicht teilgenommen – da war man als Ausländer schon ein extrem bunter Vogel und man ist auch nicht ernst genommen worden. Und meine ersten beiden Bücher sind auch kaum rezensiert worden oder wenn, dann so: „Das war aber sehr interessant.“ Punkt. Was da jetzt interessant ist oder was blöd erschien, das hat 36 37 38 39 40 41 42

Dies.: Autobiography of a Generation. Italy 1968. Hanover/London 1996. Krzysztof Pomian (*1934) – ders.: L’Europe et ses nations. Paris 1990. Jerzy Jedlicki (1930-2018) – ders.: Jakiej cywilizacji Polacy potrzebują. Studia z dziejów idei i wyobraźni XIX wieku. Warszawa 1988. Robert  I.  Frost (*1958) – ders.: After the Deluge. Poland-Lithuania and the Second Northern War 1655-1660. Cambridge 1993. I Kongres Zagranicznych Badaczy Dziejów Polski, 28.-30. Juni 2007 in Krakau; Baczkowski, Michał et al. (Hg.): Widziane z zewnątrz. 2 Bde. Warszawa 2011. Dt. „Über uns, ohne uns“; Molik, Witold/Zaliński, Henryk (Hg.): „O nas bez nas“. Historia Polski w historiografiach obcojęzycznych. Poznań 2007. Andrzej Chwalba (*1949).

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mir niemand gesagt. Ich glaube, das hat sich wirklich sehr stark geändert aufgrund von Impulsen aus den 1990er Jahren. Hätten Sie denn ein Erklärungsansatz, warum diese Reaktionen damals so gewesen sind? Einfach, weil ‚Ausländer‘ nicht über die polnische Geschichte schreiben sollten? Oder weil das einfach zu ungewohnt vielleicht gewesen ist? Ich würde es darauf zurückführen, dass das die normale Leseerfahrung von polnischen Leserinnen und Lesern in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war, dass man aus dem Ausland, gar aus Deutschland, in der Regel nur halbprofessionelle und rhetorisch höchst problematische Publikationen zu sehen bekommen hat. Ich will nicht sagen, dass zum Beispiel Gotthold Rhodes „Geschichte Polens“ immer nur verdammt worden wäre in Polen.43 Sie wurde schon gelesen und auch mit einem gewissen Wohlwollen. Aber die darin enthaltenen Biases waren natürlich allen offensichtlich. Und dann dieser hoffnungslose Dilettantismus  … ich erinnere mich natürlich auch daran, dass ich während der Recherchen für meine Habil-Schrift in den späten 1980er Jahren nie einen deutschen Kollegen oder eine deutsche Kollegin im Archiv getroffen habe. Da redeten die beim Herder-Forschungsrat44 noch davon, da könne man ja nicht hin. „Wie jetzt, kann man nicht hin?“ Natürlich hätte man jederzeit ins Archiv gehen können, wenn man sich denn mal eine Fahrkarte gekauft hätte. Oder ich erinnere mich daran, dass noch um 1997 beim Herder-Institut ein wissenschaftlicher Mitarbeiter damit beschäftigt war, mit detektivischen Mitteln einen Stadtplan von Königsberg herzustellen. Er hätte einfach mal hinfahren und am Kiosk einen kaufen können, das wäre auch möglich gewesen. Diese Unprofessionalität, die Sachferne der deutschen Geschichtswissenschaft dieser Zeit, glaube ich, hat dazu geführt, dass man in Polen lange Zeit danach auch noch glaubte: „Ach Gott, ja, das ist so …“ Und unter den Blinden ist der Einäugige dann König. Und ich erinnere mich dann, dass ich bei einem Workshop in Thorn – das muss 1991 gewesen sein – einen Vortrag gehalten habe, der sich mit der Reformationsgeschichte in Danzig beschäftigte, irgendwas über Calvinisten und Lutheraner in Danzig habe ich da vorgetragen. Am Anfang war es so eine etwas lustlose Zuhörerschaft, und 43 44

Gotthold Rhode (1916-1990) – ders.: Kleine Geschichte Polens. Darmstadt 1965. Gegründet 1950 in Marburg, bis zur Umstrukturierung 1994 Trägerverein des HerderInstituts, danach eigenständige wissenschaftlich tätige Vereinigung. Vgl. Weber, Matthias: Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53981.html (17.07.2013).

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irgendjemand sagte dann aber: „Ale ten się przecież zna!“45 Als wäre ein Wunder geschehen, dass ein deutscher Historiker irgendwelche Quellen in polnischen Archiven gesehen hat, die polnische Historiker noch nicht kannten. Und ich glaube, das hat sich doch – es ist gut, dass Sie danach fragen – das hat sich dann doch in den 1990er Jahren schnell geändert, dieses Ernstnehmen, dort, wo es Grund gab, ausländische Historiker ernst zu nehmen. Was waren Ihrer Meinung nach die wichtigsten Themen und Leitnarrative seit den 1990er Jahren und wo würden Sie sich selbst und Ihre Forschungen dort einreihen? Ich kann nicht wirklich sagen, was die Leitnarrative tatsächlich waren. So eine Perspektive traue ich mir eigentlich nicht zu. Ich habe natürlich zur Kenntnis genommen, dass seit den 1990er Jahren die politische Geschichte und die Zeitgeschichte besonders – natürlich aus uns allen bekannten Gründen – sehr stark in den Vordergrund getreten ist. Das war nie mein Ding. Und das ging zurück auf eine bewusste Entscheidung. Ich wusste genau, dass mich das intellektuell nicht interessiert, ‚detektivische‘ Arbeit zu machen, die darauf hinausläuft herauszukriegen, wie das denn jetzt wirklich war nach dem HitlerStalin-Pakt oder wann auch immer. Außerdem war mir völlig klar und daran hat sich nichts geändert, dass ich dem emotional nicht gewachsen war. Also wenn ich mich mit Polen beschäftige, dann kann ich mich nicht – wie andere, auch deutsche Kolleginnen und Kollegen das auf bewundernswerte Weise tun – mit aller Nüchternheit dem Völkermord in Bełżec widmen. Das kann ich nicht, das kriege ich emotional nicht gebacken. Das macht mich immer noch sprachlos und ratlos, wenn ich damit konfrontiert werde, das macht mich auch stumm. Insofern habe ich nicht das Gefühl, dass meine Themen irgendwie mit Leitnarrativen zusammenhingen. Für mich standen am Anfang, also bei meiner Dissertation über das 18. Jahrhundert und dann auch noch bei dem kleinen Buch über die Teilungen Polens, Fragen im Mittelpunkt, die sich aus der Tradition der geschichtswissenschaftlichen Debatten über das Ende des alten Polen stellten und besonders von Jacek Staszewski46 in sozusagen revisionistischer Perspektive neu aufgeworfen worden waren.47 Das heißt, es ging um eine kritische, weniger auf die Endzeitgeschichte des alten Polens zielende Beschäftigung mit dem 18. Jahrhundert: 45 46 47

Dt. „Aber er versteht wirklich etwas davon!“ Jacek Staszewski (1933-2013). Müller, Michael  G.: Polen zwischen Preußen und Rußland. Souveränitätskrise und Reformpolitik 1736-1752. Berlin 1983; ders.: Die Teilungen Polens: 1772, 1793, 1795. München 1984.

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„Gucken wir, was denn da sonst noch los war, außer dem liberum veto (das es ja nie gegeben hat!), oder außer dem Niedergang, dem Sarmatismus usw.“ Aber dieses Forschungsinteresse hat in Polen dann nach den 1980er Jahren nicht angehalten. Erst in den letzten Jahren gibt es in Warschau auf einmal wieder Leute, die sagen: „Eigentlich könnten wir noch einmal darüber nachdenken, über dieses polnische 18. Jahrhundert.“ Ebenso wenig ist natürlich mein Interesse an Kirchengeschichte, Bekenntnisgeschichte, Frömmigkeitsgeschichte ein wirklich großes, mit Leitnarrativen verbundenes Thema gewesen – das ist es weiterhin nicht. Ich schaue da ja auch nicht im Sinne von Janusz Tazbir auf eine große Geschichte der Toleranzkultur, sondern auf potentiell dekonstruktivistische Ansätze und so war ich – glaube ich – nie Mainstream. Ich bin nicht stolz darauf, nicht zum Mainstream zu gehören, überhaupt nicht; aber ich glaube, ich kann dazu wenig sagen. Doch wo ich auch eigene Erwartungen und Hoffnungen in gewisser Weise bestätigt sehe, das hängt doch sehr stark mit Entwicklungen seit den 1990er Jahren zusammen: Das ist die Entbilateralisierung der Beschäftigung mit der Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen! Wir haben uns freigeschwommen von dem Zwang, immer alles unter nationalen Wechselwirkungen und den Gesichtspunkten, wie hat das auf die Nation gewirkt, zu sehen. Und diese neuen Regionalisierungen, die kleinen Regionen, die so viel Interesse gefunden haben jetzt seit den 1990er Jahren, das entspricht meinen Vorstellungen von dem, was nötig ist oder was ich damals schon für nötig hielt. Auch dieses neue Nachdenken über Räume … da habe ich mal einen wenig beachteten Beitrag zusammen mit dem Kollegen Cornelius Torp geschrieben über transnational spaces in history.48 Wir haben uns beide Gedanken darüber gemacht – und ich halte auch daran fest –, dass es keine Räume an sich gibt, sondern dass Räume immer durch Handeln, Wahrnehmung, Kommunikation entstehen und jeder Handlungszusammenhang und Kommunikationszusammenhang seine eigenen Räume hat. Und diese Sensibilität für Räume, die weder nationale noch regionale sind, die ist – glaube ich – seit den 1990er Jahren kontinuierlich gestiegen. Obwohl ich im Nachhinein enttäuscht bin von dem spatial turn in der Geschichtswissenschaft … ich glaube, der hat gar nicht stattgefunden. Es hat viel Gerede über die spaces gegeben, aber er hat nicht wirklich stattgefunden. Aber man soll die Hoffnung nicht aufgeben. Irgendwie bin ich zufrieden nach diesen 30 Jahren, dass man nun mit Ostmitteleuropa nicht mehr so vollmundig hausieren geht als einer Geschichtsregion. Ich hatte vor einigen Monaten das Glück, in Prag sowohl Miroslav Hroch als auch Jóhann

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Müller, Michael G./Torp, Cornelius: Conceptualising transnational spaces in history, in: European Review of History 16 (2009) 5, S. 609-617; Cornelius Torp (*1967).

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Árnason wiederzutreffen.49 Beide haben sich über Jahrzehnte gestritten: Gibt es Ostmitteleuropa oder nicht? Árnason sagt: „Jaja, unbedingt!“ und argumentiert ähnlich wie Klaus Zernack mit strukturellen Konstanten; Hroch sagt: „Ach, Unsinn! Das ist immer konstruiert! Da, wo die Europäer jeweils das Gefühl haben, hinter uns beginnt der Orient oder die asiatische Steppe, da ist Ostmitteleuropa, aber alles andere ist eigentlich eine Fiktion.“ Und ich habe da für Hrochs Position mehr Sympathien als für die von Árnason. Aber überhaupt glaube ich eben, es ist eigentlich eine ganz gute Sache, dass es inzwischen genug Menschen gibt, die tief misstrauisch sind gegenüber solchen, im Grunde stocktraditionellen, historischen Regionenbeschreibungen. 2002 haben Sie angenommen, dass „unter den Themen von morgen […] unweigerlich auch wieder manche der Themen von vorgestern sein [werden]“50. Würden Sie knapp 20 Jahre später noch einmal für uns prognostizieren, wie Sie die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 sehen? Meine Halbprognose von 2002 hat sich so nicht erfüllt und – ehrlich gesagt – weiß ich nicht, wohin das geht. Ich rechne mit einer immer stärkeren Segmentierung beim Umgang mit Geschichte, auch dem wissenschaftlichen Umgang. Was eigentlich komplett an mir vorbeigegangen ist, ist die Erinnerungskulturforschung. Das hat eine wichtige Funktion für uns gehabt, als Pierre Nora mit den lieux de mémoire irgendwann auch allgemein rezipiert worden ist.51 Aber nachdem wir den Kerngedanken verstanden haben, war mein Gefühl, brauchte man das nicht bis ins Unendliche immer neu zu deklinieren. Mein liebstes Produkt sind in diesem Zusammenhang nicht die unbestreitbar gelungenen „Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte”,52 sondern die „Lieux de mémoire au Luxembourg“.53 Das ist ein dicker Band, der eine 49 50 51 52

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Miroslav Hroch (*1932); Jóhann Páll Árnason (*1940). Müller, Dekade. Pierre Nora (*1931) – ders.: (Hg.): Les lieux de mémoire. 3 Bde. Paris 1984-1992. Eine deutsche Übersetzung existiert als Kurzauszug mit ausgewählten Artikeln: Ders. (Hg.): Erinnerungsorte Frankreichs. München 2005. Zwischen 2006 und 2015 unter Federführung des CBH PAN Berlin nach französischem Vorbild, aber bald darüber hinausgehend, durchgeführtes Forschungsprojekt zur Geschichte zweiten Grades mit transnationalem Fokus. Vgl. Hahn, Hans Henning/Traba, Robert (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte.  5 Bde. Paderborn 2012-2015; poln. Ausgabe: Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Tom  1-4. Warszawa 2012-2015; dies. (Hg.): 20 deutsch-polnische Erinnerungsorte. Paderborn 2017; poln. Ausgabe: Wyobrażenia przeszłości. Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Warszawa 2017. Kmec, Sonja et  al. (Hg.): Lieux de mémoire au Luxembourg. Usages du passé et construction nationale. Erinnerungsorte in Luxemburg. Umgang mit der Vergangenheit

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Parodie auf das Ganze ist: Luxemburger Erinnerungsorte! Die Autorinnen und Autoren haben das eigentlich auch so gesehen, wobei es in Luxemburg aber ganz anders, nämlich sehr patriotisch rezipiert worden ist. Diese Erinnerungskulturforschung hat auf Dauer keine Zukunft. Denn die Aha-Erlebnisse, die Historikerinnen und Historiker bei der Beschäftigung damit hatten, sind irgendwann eingetreten, und dann kann man auch mal weitergehen. Das Gleiche gilt für Orientalism und Inventing Eastern Europe, das muss man nicht für jeden Winkel neu durchspielen, wenn man kapiert hat, worum es geht.54 Auch die Dekonstruktion von Nationalgeschichten kennen wir jetzt und das ist nie ganz falsch. Bei der Arbeit an einem Schulbuch – das verbindet ja auch Hans-Jürgen Bömelburg und mich – darf man das nicht aus dem Blick verlieren. Aber das sind Dinge, die Historikerinnen und Historiker, die auch immer neue intellektuelle Erfahrungen für sich selber machen wollen, nicht auf die Dauer beschäftigt halten können. Man muss sich dann was anderes ausdenken. Es gibt ganz viele, ganz spannende methodologische Subdifferenzierungen, die sich aber nicht mehr zu einem Mainstream zusammenbinden werden. In der Biographieforschung zum Beispiel wird noch so viel passieren, aber sie wird nicht in einen europäischen oder internationalen Mainstream zurückkommen. Auch in der Imperienforschung gibt es noch viel zu tun. Woran ich hingegen nicht glaube – da wage ich die Prognose –, was nicht stattfinden wird, ist so etwas wie eine Europageschichtsschreibung. Ich finde das auch nicht unbedingt erforderlich. Europa wie überhaupt alles Globale findet immer in einem Wann und Wo statt, dies oft sehr kleinräumig, da kann man es auch beschreiben. Aber Historikerinnen und Historiker müssen immer vom Wann und Wo reden, sonst hat das alles gar keinen Sinn. Und das kann man lokal vielleicht am überzeugendsten tun. Ich bin eigentlich immer noch optimistisch, dass es irgendwann nicht mehr anrüchig oder lächerlich ist, wenn wir unsere Themen, unsere großen Fragen etwa in der Beschäftigung mit Białowieża, mit Rzeszów in Südostpolen oder mit Thorn entfalten. Irgendwann kommt das an, oder wir sind jetzt dabei, dass auch Historiker weltweit verstehen, dass es nicht immer Ravenna sein muss oder das Languedoc, sondern dass es auch andere Teile der Welt gibt, die eine globale und eine europäische Geschichte haben. Da bin ich optimistisch, dass wir eine Zukunft haben, d.h. Sie – nicht ich, aber Sie!

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und Konstruktion der Nation. Luxembourg 2007. Danach erschien noch ein zweiter, sich einiger Kritik annehmender Band: Kmec, Sonja/Péporté, Pit (Hg.): Lieux de mémoire au Luxembourg II: Jeux d’échelles. Erinnerungsorte in Luxemburg II: Perspektivenwechsel. Luxembourg 2012. Said, Edward W.: Orientalism. New York 1978; Wolff, Larry: Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment. Stanford 1994.

Abb. 15.1 Litauen, im Januar 1991. Foto: privat.

Alvydas Nikžentaitis (*1961) ist in Panemunė geboren. Er hat Geschichte in Vilnius studiert und war 1984-1992 wiss. Mitarbeiter am Litauischen Historischen Institut. 1989 wurde er promoviert. 1922-1993 war er Gründungsdirektor des Instituts für die Geschichte Westlitauens und Preußens an der Universität Klaipėda und wurde ebendort Lehrstuhlinhaber für Geschichte sowie auch in Vilnius (VPU). Er habilitierte sich 1999 und war 2000-2008 Direktor des Litauischen Historischen Instituts in Vilnius, erneut seit 2019.

„Gerade im Mittelalter führte der litauische Weg nach Westen ja zwangsläufig über Polen“ Alvydas Nikžentaitis Ihre Biographie ist ja eng verbunden mit der Memelregion, die sehr stark von historischen Verflechtungen zwischen Litauern, Deutschen, Russen und Juden geprägt ist. Hat Sie das in Ihrer Entscheidung, Geschichte zu studieren und dann Historiker zu werden, beeinflusst? Eigentlich nicht. Es war für mich von Anfang an klar, dass ich mich nicht mit moderner Geschichte beschäftigen will. Ich habe ja in der Sowjetzeit studiert und habe schnell bemerkt, dass eine reguläre Beschäftigung mit der Zeitgeschichte nicht möglich ist. Ich habe mich dann für das Mittelalter entschieden. Mit Klaipėda und seiner Region war es eigentlich eine ganz andere Geschichte, weil ich Anfang der 1990er Jahren, konkret nach den Januarereignissen1, mich entscheiden musste, ob ich als Historiker tätig bleibe oder etwas anderes mache. Während der Ereignisse beim Fernsehturm war ich als Korrespondent des Schweizer Fernsehens tätig. Es gab damals viele andere Dinge, und Historiker zu werden, schien nicht so wichtig zu sein. Aber bereits zu dieser Zeit habe ich erste Kontakte mit meinen polnischen und auch deutschen Kollegen geknüpft. Die Entscheidung nach Klaipėda/Memel zu gehen, wo die Universität im Entstehen war, sah ich als Möglichkeit, irgendetwas für mein Land zu machen. Aber die Geschichte und Vorgeschichte der Forschungen in der und über die Region war für mich natürlich auch ein wichtiger Punkt. Die Forschungen zur Regionalgeschichte fingen da eigentlich erst an und es war wichtig, diese weiterzuführen. Es war auch die Zeit, in der das Land sich nach und nach gen Westen geöffnet hat. Die Gegenwart des damaligen Litauens und die Vergangenheit dieser Region, mit Berücksichtigung der verschiedenen Nachbarländer und der Verflechtung mit anderen Regionen – das war damals sehr, sehr wichtig.

1 Beim „Vilniuser Blutsonntag“ am 13.01.1991 kam mehr als ein Dutzend Zivilisten ums Leben, als sie sowjetische Truppen an der Einnahme des Fernsehturms von Vilnius zu hindern versuchten. Vgl. Lašas, Ainius: Bloody Sunday. What Did Gorbachev Know About the January 1991 Events in Vilnius and Riga?, in: Journal of Baltic Studies 38 (2007) 2, S. 179-194.

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Sie haben gerade bereits die Fernsehturmereignisse angesprochen. Hat sich denn für Sie persönlich 1989/90/91 etwas Entscheidendes verändert oder würden Sie den Zäsurcharakter – dann auch mit Hinblick auf die geschichtswissenschaftliche Landschaft – hier nicht so stark machen? Diese Jahre waren schon sehr entscheidend für die Geschichte meines Landes. Es ging darum, ob wir weiter in einem geschlossenen Block ohne Kontakt mit dem Westen verharren oder nach Westen zurückkehren würden. Und diese Frage war natürlich sehr eng mit der Frage nach der Zukunft der Geschichtswissenschaft in Litauen verbunden: Bleiben wir in diesem Rahmen der ideologisierten Geschichtsschreibung oder werden wir endlich zum Teil einer westlichen Geschichtsschreibung? Diese zwei Dinge waren damals sehr eng miteinander verbunden. Mein Wunsch war nicht nur, dass Litauen zukünftig ein Teil des Westens wird – das konnte ich auch wenig beeinflussen –, sondern dass sich dies auch im Universitätsbetrieb niederschlug. Bereits im neuen Jahrtausend konstatierten Sie einmal: „[Die Entfernung von nationalistischer Geschichtsbetrachtung und Identitätspolitik] ist allein von Historikern nicht zu lösen, dazu ist eine Kooperation mit Politik, Massenmedien und anderen Multiplikatoren in der eigenen Gesellschaft notwendig.“2 Wir fragen Sie nun mit Blick auf die 1990er Jahre: Wie hat sich die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften ausgewirkt? Und auch umgekehrt, wie haben Historikerinnen und Historiker auf die Politik eingewirkt? Gab es bereits ‚public historians‘ oder gar eine wahrnehmbare Lobbyarbeit? Man sollte nicht glauben, dass Geschichtswissenschaft nur Wissenschaft ist. Geschichtswissenschaft ist ein sehr wichtiger Teil unserer Identität, aber auch ein wichtiger Bestandteil von Innen- und Außenpolitik. Und deswegen ist sie letztlich wichtiger als Forschungsleistungen der Naturwissenschaften oder sogar der Covid-19-Forschung. Sie ist umfassender und für zahlreiche Lebensund Gesellschaftsbereiche von Bedeutung. Die Situation war damals zwiegespalten. Einerseits wollten wir weg von einer Ideologisierung der Geschichte, weg von Tabuisierungen und Einschränkungen, endlich ohne Hindernisse forschen. Wenn wir dann jedoch auf die gesellschaftliche Lage zurückblicken, kann man von dem Bestreben nach einer „Rückkehr in die Normalität“ sprechen. Denn alle post-kommunistischen 2 Nikžentaitis, Alvydas: Auf der Suche nach der eigenen Geschichte. Litauen – Polen – Europa, in: Georg Michels (Hg.): Auf der Suche nach einem Phantom? Widerspiegelungen Europas in der Geschichtswissenschaft. Baden-Baden 2003, S. 109-124, hier S. 123.

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Länder – mit der Ausnahme von Polen – betrachteten die kommunistische Phase als etwas ‚Anormales‘. Nach dem Zerfall des sowjetischen Blocks ging es ihnen dann um die Anknüpfung an eine ‚Normalität‘ der vorsozialistischen Zeit. Außer in Polen bedeutete dies jedoch in allen jenen Ländern die Rückkehr des Nationalismus. Es entstand also in den 1990er Jahren diese Konfrontation zwischen dem Wunsch der wissenschaftlichen community, ohne irgendwelche Zensur arbeiten zu können, und dem gesellschaftlichen Zwang, die nationale Identität hervorzuheben. Sowohl mit Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen insgesamt als auch auf die Geschichtsschreibung im Speziellen war zu beobachten, dass zwar ‚weiße Flecken‘ entfernt wurden, an ihre Stelle jedoch verschiedene nationale Ideen traten. Man hätte eigentlich einen neuen Weg finden und gewisse Inseln schaffen müssen, auf denen Wissenschaftlern die Möglichkeit gegeben worden wäre, frei zu diskutieren. Natürlich gab es Wege vor dieser nationalistischen Realität zu flüchten – und ganz verschiedene dazu: Zum Glück konnte man eine nicht-nationalistische Umgebung bei den Exillitauern gerade auch in Deutschland finden, ganz anders als im Exilmilieu in den USA. Eine andere ‚Zufluchtsmöglichkeit‘ waren neben Deutschland vor allem die skandinavischen Länder. Dank meiner Kontakte nach Deutschland, auch nach Polen und eben nach Skandinavien habe ich gesehen, wie solche Diskussionen anders aussehen können. Ich hatte bereits da sehr gute Kontakte zur Ostsee-Akademie3, deren Leiter Dr. Albrecht4 Tagungen mit einer wunderbaren Diskussionskultur organisierte. Für mich war es eine Zeit der Selbstfindung und der Suche nach verschiedenen – auch geschichtswissenschaftlichen – Perspektiven, jenseits von nationalistischen. Und diesen Ansatz haben wir auch in der Praxis bei uns in der Lehre umzusetzen versucht, nicht nur an der neugegründeten Universität, mit guten Kollegen, bei deren Auswahl ich freie Hand hatte. Einer, der mich damals sehr stark unterstützt hat, war der leider bereits verstorbene bekannte Philosoph Leonidas Donskis5. Mit diesen Leuten, aber auch mit Unterstützung meiner deutschen und polnischen Kollegen, haben wir 1996 das Thomas-Mann-Kulturzentrum6 in Nida/Nidden gegründet. Wir haben dort vielfältige Aktivitäten organisiert. Meine litauischen Kollegen sagten damals oft: „Wir kommen gerne zu euch, da es eine gewisse Insel der Freiheit ist, wo man frei diskutieren kann.“ Gleichzeitig war aber auch glücklicherweise 3 Ostsee-Akademie, gegründet 1988 als Teil des Pommern-Zentrums in Lübeck-Travemünde, seit 2001 Academia Baltica (seit 2011 in Sankelmark). 4 Dietmar Albrecht (*1941). 5 Leonidas Donskis (1962-2016). 6 1996 im ehemaligen Ferienhaus des Schriftstellers in Nidden/Nida auf der Kurischen Nehrung eröffnete litauisch-deutsche Einrichtung.

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die Stadt Klaipėda/Memel damals für viele neue Ideen offen. Diese spezielle Atmosphäre dort hat Diskussionen ermöglicht, die man in Vilnius nicht hätte führen können. Sie haben verschiedene Netzwerke, die damals entstanden sind, erwähnt. Neben den angesprochenen deutschen, wie sahen die Verbindungen nach Polen konkret aus? Welche Zentren und auch Einzelpersönlichkeiten sind für Sie damals besonders von Bedeutung gewesen? Meine erste Reise nach Polen war 1989 – ich erinnere mich gut – nach Toruń/ Thorn. Die polnischen Kollegen damals haben die Situation in der Sowjetunion ausgenutzt und es sollte dort in Toruń eigentlich – wenn ich mich gut erinnere – ein Treffen von sowjetischen und polnischen Historikern stattfinden. Aber die Polen haben gesagt: „Wir wollen nicht nur mit sowjetischen Historikern diskutieren, sondern auch mit litauischen.“ Einige Kollegen und ich wurden also eingeladen und so waren dies meine ersten Kontakte mit polnischen Kollegen: Die Historiker aus Toruń und vor allem Professor Biskup7. Schon bei diesem ersten Treffen haben wir uns mit Professor Biskup angefreundet und danach entwickelten sich teils enge Freundschaften mit vielen der polnischen Kollegen. Es ging sogar soweit, dass ich für einen Thorner gehalten wurde und ich viel Mühe hatte zu erklären, dass Professor Biskup nicht mein Doktorvater war … Wir waren einfach befreundet. Gerade im Mittelalter führte der litauische Weg nach Westen ja zwangsläufig über Polen. Das trifft auch für mich persönlich zu: Mein Weg zum Kontakt mit westlichen Kollegen ging auch über Polen. Professor Biskup war ja sehr einflussreich bei verschiedenen Kommissionen zur Geschichte des Deutschen Ordens. Und eben aufgrund meiner Beschäftigung mit mittelalterlichen Themen bekam ich bereits kurz nach dem ersten Treffen eine Einladung im (vermutlich) November 1989 zu den „Ordines militares“8 nach Toruń. Dort habe ich dann erste deutsche Kollegen wie Professor Arnold oder Klaus Militzer getroffen, auch schwedische wie Sven Ekdahl, dessen Arbeiten ich als Student bereits gelesen hatte.9 Diese und andere halfen mir sehr beim Knüpfen von Kontakten nach Deutschland, nicht nur mit Mediävisten. Und natürlich darf ich auch nicht Professor Oberländer10 in Mainz vergessen, mit 7 8 9 10

Marian Biskup (1922-2012). „Ordines militares. Colloquia Torunensia Historica“, erscheint seit 1983 als Schriftenreihe, seit 2012 als Zeitschrift mit dem Nebentitel „Yearbook for the Study of the Military Orders“. Udo Arnold (*1940); Klaus Militzer (*1940); Sven Ekdahl (*1935). Erwin Oberländer (*1937).

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dem wir oft diskutiert haben. Nur ein Beispiel dafür, dass man immer Glück haben muss, zur richtigen Zeit geboren worden zu sein. Sie haben ja nun eine ganze Reihe an Personen genannt. Vielleicht etwas provokant gefragt: Wo waren eigentlich die Frauen damals? Es war tatsächlich eine ‚Männergesellschaft‘. Frauen kamen hier erst später. Dank der eben erwähnten Kontakte hatte ich auch das Glück gehabt, einmal – wenn auch nur per Telefon – mit Manfred Hellmann11 zu sprechen. Er fertigte sogar ein Gutachten für einen Beitrag für die Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas an, worauf ich sehr stolz war. An Frauen kann ich mich zu dieser Zeit weniger erinnern. Natürlich habe ich auch solche herausragenden Leute wie Professor Zernack12 kennengelernt, der uns dann auch sehr als Beiratsmitglied des Forschungszentrums13 in Klaipėda unterstützt hat. Aber Frauen als Wissenschaftlerinnen sind mir dann tatsächlich erst im neuen Jahrtausend vermehrt begegnet. Anders gesagt: Aus meiner Perspektive gehörte das 20. Jahrhundert den Männern, die Frauen kamen erst im 21. Jahrhundert. Wie würden Sie denn für die 1990er Jahren aus einer litauischen Perspektive die Intensität und den Charakter der deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen im Vergleich zu den litauisch-deutschen und litauisch-polnischen einschätzen? Also eigentlich kann man das gar nicht vergleichen. Die Beziehungen zwischen deutschen und polnischen Historikern hatten schon eine viel längere Geschichte. Wenn wir über Kontakte zwischen litauischen und deutschen Historikern reden, da war ich oft der erste Litauer, den ein deutscher Professor gesehen hat. Denn in der sozialistischen Zeit gab es da praktisch überhaupt keinen Kontakt. Heute sehen wir das natürlich weniger in solch nationalen Kategorien, es kommt vielmehr auf die Qualität der Forschung an – wenn sie gut ist, ergeben sich auch Möglichkeiten zur Kontaktknüpfung, egal aus welchen Ländern die Leute stammen. Wir sind also nun in der glücklichen Lage, wo wir uns nicht immer hinterfragen müssen, welche Kontakte wir mit Deutschen, welche mit Polen, welche mit Amerikanern haben. Es ist – genauso 11 12 13

Manfred Hellmann (1912-1992). Klaus Zernack (1931-2017). Das Forschungszentrum für die Geschichte Westlitauens und Preußens (Vakarų Lietuvos ir Prūsijos istorijos centras) wurde 1992 an der Universität Klaipėda/Memel errichtet, seit 2003 Institut für Geschichte und Archäologie der Ostseeregion (Baltijos regiono istorijos ir archeologijos institutas).

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wie für zum Beispiel die deutschen Kollegen – zur Normalität geworden und hängt eher von den jeweiligen Forschungsinteressen ab. Damals Anfang der 1990er Jahre spielte da dann aber auch die Gründung deutscher Institutionen im ehemaligen kommunistischen Block eine wichtige Rolle. An erster Stelle denke ich da an das Deutsche Historische Institut in Warschau,14 welches nicht nur eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Kontakten zwischen deutschen und polnischen Kollegen spielte, sondern auch mit uns Litauern. Ich war dort lange Zeit im Beirat. Der damalige Gründungsdirektor Rexheuser15, mit dem wir gut kooperiert haben, hat da seine Aufgabe auch viel breiter verstanden. Dort habe ich auch Hans-Jürgen Bömelburg kennengelernt, diesen jungen Kollegen, obwohl ich dann feststellen musste, dass er so alt wie ich oder sogar schon älter war.16 Sie haben ja bereits die Ostsee-Akademie und das DHI Warschau angesprochen. Waren dies aus Ihrer Sicht auch die wichtigsten Institutionen bei einer mal angenommenen Verdichtung der wissenschaftlichen Kommunikation im ganzen ostmitteleuropäischen, baltischen Raum oder würden Sie noch andere nennen wollen? Die ‚Wichtigkeit‘ bemisst sich letztlich für einen selbst daran, mit wem du überhaupt Kontakte pflegst und dann auch enger kooperierst. Insofern ist das natürlich alles sehr subjektiv. Wenn wir an den deutschen Wissenschaftsraum denken, dann muss man immer an die Universitäten denken und dort an sehr konkrete Professoren. Das war in Berlin zum Beispiel Professor Zernack. Als er dann nicht mehr dort war, gab es auch kaum noch Kontakt. Ich habe die Academia Baltica erwähnt, weil dies ein Ort war, an dem ich lernte, mit anderen zu diskutieren, wo ich lernte, wie man historisches Wissen an NichtHistoriker weitergeben kann. Das war für mich sehr von Bedeutung. Und ich habe das DHI erwähnt, weil dies institutionell natürlich sehr wichtig war – auch für mich. Aber ansonsten kann ich nur über sehr konkrete Personen 14

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Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Rex Rexheuser (*1933). Dies trifft zu, jedoch geht es hier lediglich um 4½ Monate. Hans-Jürgen Bömelburg (*1961).

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sprechen – Menschen waren wichtig für mich! –, viele deutsche und polnische Professoren, mit denen wir oft bis heute in sehr engem Kontakt sind. Wenn Sie an die polnisch-litauischen, und mit einem Außenblick auch an die polnisch-deutschen Beziehungen in den 1990er Jahren denken: Hatten Sie das Gefühl, dass alte Komplexe oder Verhaltensmuster weitergewirkt haben? Oder haben sich vielleicht neue Asymmetrien entwickelt? Sicherlich gab es ein gewisses Misstrauen, vor allem was die polnischen Kollegen betrifft. Die lange Zeit der Kontaktarmut während der Sowjetzeit hat da natürlich einen nicht unbedeutenden Anteil dran gehabt, dass alte Stereotype überlebt haben, die es galt langsam in den 1990ern und auch noch im neuen Jahrtausend zu bewältigen. Mit den Deutschen gab es da eher weniger Probleme. Wenn überhaupt, dann in den ersten Jahren nach der litauischen Unabhängigkeit, aber das war im Rückblick letztlich nicht so bedeutend. Die viel größere Herausforderung für die Geschichtswissenschaft war nicht das Verhältnis zu Polen oder Deutschland, sondern zu jüdischen Themen. Und wieder dank der zahlreichen Diskussionen an der Ostsee-Akademie und inoffizielleren Gesprächen mit deutschen Kollegen haben wir in den 1990er Jahren, wenn ich mich nicht irre 1996/97, zusammen mit der University of Cambridge eine der ersten internationalen Tagungen zum Holocaust auf der Kurischen Nehrung veranstalten können.17 Das war die einzige – und hoffentlich auch erste und letzte – Tagung, auf der wir von der Polizei bewacht wurden. Die Kurische Nehrung im Herbst ist eigentlich ein sehr ruhiger Ort und wir hatten auch nicht darum gebeten. Jedoch war die Atmosphäre damals so, dass die Behörden der Stadt Neringa es als besser ansahen, dass die Polizei in der Nähe anwesend war. Schon allein diese Tatsache zeigt, mit welchen Herausforderungen es die Geschichtsschreibung damals in Litauen zu tun hatte. Die Geschichte von litauischen Juden wurde dann eigentlich erst in diesem Jahrtausend von Litauern geschrieben. Bis dahin war das Thema ein totales Tabu. Wenn man also über Probleme in der Geschichtsschreibung zwischen Deutschen, Polen und Litauern spricht, geht es nicht ohne das Thema der jüdischen Geschichte.

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Die Konferenz „Istorija ir genocidas Lietuvoje“ fand vom 8.-13. September 1997 in Nidden/ Nida statt.

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Gab es eigentlich so etwas wie transnationalen methodischen Austausch? Wurden Fragestellungen und Ansätze weiterverfolgt, die über den nationalen, bilateralen Rahmen hinausgingen? Von welchen Konzepten haben Sie sich damals inspirieren lassen? Das ist eine schwierige Frage. Es gab natürlich viele modische Ansätze, die man auch versucht hat in Litauen umzusetzen. In den 1990er Jahren war die Stereotypen-Forschung sehr verbreitet, nach 2000 dann vermehrt Forschungen zu verschiedenen Erinnerungskulturen. Aber wissen Sie  … wenn ich über diese unterschiedlichen Einflüssen nachdenke … das wichtigste waren nicht die Theorien. Ich habe wohl auch schon einige vergessen, von denen ich früher sehr begeistert war. Was geblieben ist, ist wohl eher der Umgangsmodus mit komplizierten Fragen der Vergangenheit, also wie man mit transnationaler Geschichte umgeht, die mit verschiedenen Deutungen versehen wird, wie man es erreicht, andere besser zu verstehen, und somit Reflexionen über das Ziel von gemeinsamer Arbeit von Historikern aus verschiedenen Ländern. Hierzu hilft es nicht nur weiter, Geschichtstheorien zu kennen, sondern zu schauen, wie andere das machen und wie man so etwas mit Erfolg betreibt. Wenn Sie noch einmal konkret daran denken, was Sie geprägt hat: Welche Publikationen aus den 1990er Jahren hatten Einfluss auf Sie? Und was ist davon für Sie eventuell heute noch wichtig? Was ich intensiv gelesen habe, waren die Arbeiten von Professor Zernack. Und nicht nur die Bücher, denn ich habe auch die Möglichkeit gehabt, über vieles mit ihm persönlich zu sprechen und zu diskutieren. Ich bin vermutlich kein Historiker, wenn ich hier nicht so sehr an konkrete Bücher, sondern an Gespräche mich konkreten Leuten denke … Beispielsweise hatte auch Professor Ruffmann18 großen Einfluss auf mich. Er war damals an der Universität Erlangen und ich habe leider nur für eine kurze Zeit mit ihm zu tun gehabt. Er gab mir Einblick in eine Periode der Geschichte, von der ich eigentlich sehr wenig Ahnung hatte. Die Gespräche mit ihm drehten sich immer um die NaziZeit und den Umgang von Deutschen mit den anderen usw. Die Publikation, die mich zuerst sehr genervt, dann aber durchaus inspiriert hat, war ein Ausstellungskatalog zu 800 Jahren Geschichte des Deutschen Ordens.19 Zunächst habe ich mich geärgert, da es darin Texte über den Deutschen Orden in der 18 19

Karl-Heinz Ruffmann (1922-1996). Arnold, Udo/Bott, Gerhard (Hg.): 800 Jahre Deutscher Orden. Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg in Zusammenarbeit mit der Internationalen

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polnischen Publizistik und Geschichtsschreibung gab, viele deutsche Texte und keinen einzigen Text aus litauischer Perspektive. Das hat mich dahingehend sehr beeinflusst, dass ich dadurch mit der Stereotypen-Forschung begonnen habe. Aber vor allem habe ich dadurch gelernt, dass wir solche Fehler nicht wiederholen sollten und auch die Bilder der Geschichte von unseren Nachbarn integrieren müssen. Damals ging es da auch zuerst um weißrussische Geschichtsbilder. Aber – wie gesagt – nicht die Bücher waren für mich entscheidend, sondern die Menschen, die mir in persönlichen Gesprächen viel erzählt haben und die die Nerven hatten, mit mir – einem damals jungen litauischen Nationalisten – zu diskutieren! Sie haben mich damals gelehrt: „Du bist ein doofer junger Nationalist, aber das Leben ist nicht so einfach!“ Natürlich wurde das subtiler ausgedrückt, aber nach vielen Jahren interpretiere ich das heute so. Sie haben wirklich sehr viel Geduld mit mir gehabt und stundenlang diskutiert. Es war letztlich eine sehr schöne Zeit. Ähnlich war es in Polen. Vielleicht war es auch das Glück, wenn man aus einem der jungen Länder kam, die eine neue Freiheit von der Sowjetunion erlangt hatten. Wir waren einfach interessant. Ich war oft einer der ersten ‚Botschafter‘ aus jenen Ländern, was mir die Tür zu Leuten öffnete, wovon andere, oft viel begabtere Wissenschaftler meines Alters, nur träumen konnten. Ich bin wirklich zur richtigen Zeit am richtigen Ort geboren worden. Haben Sie jenseits dieser gemeinsamen Gesprächskultur Unterschiede in der praktischen Arbeit des Historikers zwischen Deutschland, Polen und Litauen empfunden? Diese Unterschiede habe ich sehr deutlich etwa um 2000 bemerkt, als ich dann schon als Direktor des Litauischen Historischen Instituts versucht habe, die Kontakte mit russischen Historikern zu intensivieren. Projekte zu realisieren, wie wir es sonst gewohnt waren, stellte sich dabei jedoch als nicht möglich heraus, dabei waren die Bedingungen nur zehn Jahre zuvor auch bei uns noch sehr ähnlich gewesen. In den 1990er Jahren hatten wir sehr viel Lust, etwas Neues zu lernen und man hat nicht so stark reflektiert, wie es bei einem selbst aussieht. Erst mit Blick auf diese russischen Verhältnisse wurde man wieder daran erinnert, an die Unterschiede in der Wissenschaftskultur. Und lassen Sie mich noch ein anderes Beispiel für ein ‚Missverständnis‘ erzählen: Ich war 1990 zum ersten Mal für längere Zeit in Deutschland. Ich kam in Berlin einen Tag vor der Wiedervereinigung an als Stipendiat des Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens, 30.6.-30.9. 1990. Gütersloh/München 1990.

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Max-Planck-Instituts20 in Göttingen. Während des Aufenthaltes habe ich verschiedene Kontakte zu deutschen Professoren aufgebaut. Als ich dann zurückkam, habe ich allen erzählt, dass es unvorstellbar ist, wie korrupt deutsche Wissenschaftler seien und ich nicht verstehe, wie das deutsche Wissenschaftssystem so noch funktionieren könne. Wie kam ich dazu? Naja, es hatte ausgereicht, dass ein Professor, mit dem ich bekannt war, einen anderen Professor anrief und sofort war alles erledigt. So einfach ging das alles. Ich habe damals gar nicht verstanden, was es bedeutet, eine andere Person zu empfehlen – dass es nichts mit Korruption zu tun hat, sondern mit einer Kultur, die auf Vertrauen basiert. Aus meinen damaligen Vorstellungen und Erfahrungen heraus war das unvorstellbar. Wir hatten ja in einem Wissenschaftssystem gelebt, in dem es viele Regelungen gab, es aber kein Platz für Menschenvertrauen gab. Daher war jenes einfache Vertrauen in Menschen für mich damals ein Zeichen für Korruption … natürlich ist das lächerlich. Aber ich erinnere mich heutzutage noch gut an diese ersten Eindrücke, die damals ganz neu für mich waren und sehr deutlich diesen Unterschied zwischen Litauen und Deutschland zeigten – und was es alles noch zu lernen gab. Wenn Sie einmal versuchen zu bilanzieren: Welches waren rückblickend Ihre wichtigsten Themen und die Leitnarrative der letzten 30 Jahre? Und wie würden Sie Ihre eigenen Forschungen hier verorten? Wenn ich es mit einem Satz zusammenfassen sollte: Das war die transnationale Geschichte und die verschiedenen Deutungen dieser. Und ich glaube, diese transnationale Geschichte bleibt auch in Zukunft eines der aktuellsten Themen der historischen Forschung. Denn aus der transnationalen Geschichte kann man sehr gut lernen, wie verschiedene Menschen zusammenleben, miteinander umgehen könnten. Das muss jede Generation wieder für sich neu lernen und ich glaube, diese Themen bleiben weiter genauso aktuell wie vor 30 oder auch 50 Jahren.

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Das Max-Planck-Institut für Geschichte, gegründet 1956, wurde 2006 auf Betreiben der Max-Planck-Gesellschaft geschlossen. Zu seiner Geschichte vgl. Rösener, Werner: Das Max-Planck-Institut für Geschichte (1956-2006). Fünfzig Jahre Geschichtsforschung. Göttingen 2014; Schöttler, Peter: Das Max-Planck-Institut für Geschichte im historischen Kontext, 1972-2006. Zwischen Sozialgeschichte, Historischer Anthropologie und Historischer Kulturwissenschaft. Berlin 2020.

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Wenn Sie – daran anknüpfend – von heute aus gesehen prognostisch in die Zukunft blicken: Welche gesellschaftlichen Aufgaben kommen auf die Geschichtswissenschaft in den nächsten Jahren zu und wie wird die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Litauen, Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen? Wenn wir also über die letzten 30 Jahre einmal hinausdenken, sehen wir auch gewisse Fehler der Geschichtsschreibung, die zum Beispiel in der Zwischenkriegszeit gemacht wurden. Ich erinnere mich immer an dieses Versagen der Historiker in der Zwischenkriegszeit, wenn ich an die Herausforderungen der kommenden Jahre und vielleicht Jahrzehnte denke. Es gibt heutzutage leider gewisse Tendenzen, die uns wieder an die Zwischenkriegszeit erinnern: die Rückkehr von Nationalismus, verschiedener nationaler Egoismen, der Verzicht auf Dialog von Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion usw. Und mit Blick auf die eben erwähnte Aktualität der transnationalen Geschichte, sollte man vielleicht ziemlich bald ein Projekt starten, in dem verschiedene Nationalismen aus unterschiedlichen Perspektiven im Vergleich untersucht werden, nicht mit Beschränkung auf eine historische Zeit, das 19. Jahrhundert oder die Zwischenkriegszeit, sondern vergleichend diachron bis heute. Die Frage, die Historiker eigentlich beantworten sollten, ist, warum eine solche Epoche, die eigentlich schon als vorübergegangen galt, wieder zurückkommt? Wie konnte dies passieren? Wo liegen die Ursachen und wie kann man dafür sorgen, dass die die Menschen weiter im Austausch über historische Fragen bleiben?

Abb. 16.1 Silvester 1993 in Warschau. Foto: privat.

Gertrud Pickhan (*1956) war 1993-1997 als wiss. Mitarbeiterin am DHI Warschau tätig. Anschließend wechselte sie an das Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur Leipzig. 2000 wurde sie als Professorin für polnische Landes- und Kulturstudien an die TU Dresden berufen; seit 2003 ist sie Professorin für Geschichte am Osteuropa-Institut der FU Berlin.

„Hey, Du bist aber mutig!“ Gertrud Pickhan Sie kommen ja aus Dortmund, sind da sozialisiert worden, auch politisch, und dies vor allem in einem deutsch-russischen Kontext.1 Nach Ihrem Studium waren Sie dann zunächst an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg beschäftigt und haben an der Universität Hamburg zu einem altrussischen Thema promoviert. Sind Sie damals schon mit der polnischen bzw. mit der polnisch-jüdischen Geschichte in Berührung gekommen? Ja, das begann bereits früher. Ich habe ja Slavistik studiert und hatte die beiden Sprachen Russisch und Polnisch gewählt. Noch als Studentin war ich zweimal zu spannenden Zeiten 1979 und 1980 zu Sommersprachkursen in Polen – jeweils sechs Wochen, das erste Mal in Krakau, das zweite Mal in Warschau, das war 1980, zur Solidarność-Zeit2, im Sommer, als die Streiks in Danzig waren. Die Lage war da schon sehr angespannt. Das zeigte sich daran, als die Botschaften anfingen, die eigenen Landsleute zu registrieren und einige auf Anweisung der Eltern, denen das zu gefährlich war, abreisen mussten. Wir sind geblieben! Also diese Sommerkurse an den polnischen Unis, die waren ja ganz international besetzt: mit italienischen Studierenden, britischen, westdeutschen, ostdeutschen … das war eine tolle Mischung! Wir waren dann aber doch ein bisschen besorgt. Es gab damals einen schwedischen Journalisten, der gerne Polnisch lernen wollte, deshalb teilnahm. Der fuhr nach Danzig, war in der Werft, kam zurück, und erzählte  … Wir haben auch immer versucht, über Radio Free Europe etwas herauszukriegen. Und am Tag unserer Abreise – das werde ich nie vergessen – wir saßen im Zug, warteten, dass der abfuhr. Auch wenn der Zugverkehr damals sowieso unregelmäßig war, es dauerte und dauerte und dauerte. Dann kamen plötzlich unsere polnischen Betreuer – das 1 „Ich verdanke mein Interesse für Russland, seine Geschichte und Kultur Willy Brandt, der Neuen Ostpolitik und der Rheinisch-Westfälischen Auslandsgesellschaft in Dortmund.“ Pickhan, Gertrud: Mein Russland. Anfänge, Themen und Bilder, in: Quaestio Rossica (2014) 1, S. 35-52, hier S. 38. 2 Zwischen August  1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999.

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waren nur Jungs – zum Zug gerannt und riefen total happy: „Sie haben unterschrieben!“ Da ist in Danzig eben dieses Abkommen in der Werft unterschrieben worden.3 Das waren meine frühen direkten Begegnungen mit Polen. Und natürlich war auch mein Interesse an der polnisch-jüdischen Geschichte dadurch groß, dass ich sehr früh – und ich werde darüber jetzt auch in anderer Hinsicht noch einen Aufsatz schreiben – Janusz Korczak4 entdeckt habe, wohl durch die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1972 posthum an ihn. Das war in der Zeit – da war ich 15 –, in der man eben so seine wichtigsten Interessen entdeckt. Und ich erinnere mich, dass ich dann damals in den sechs Wochen 1979 und 1980 schon auf den jüdischen Friedhöfen in Warschau und Krakau war. Ich habe auch die Pädagogik-Prüfung im Staatsexamen über Janusz Korczak machen können, weil es an der Universität Hamburg zu meiner Freude einen Pädagogik-Professor gab, der ein Seminar zu Korczak anbot, was ich besucht habe. Also so ging das los. Dann war da ja auch noch der Kniefall von Willy Brandt5, der mich, sozusagen, auch auf dieses Thema gestoßen hat. Ich habe mich im Studium für Russisch und Polnisch entschieden und eigentlich das Polnische stärker berücksichtigt als das Russische, musste dann aber für die Staatsexamensprüfung wieder auf das Russische zurück, weil Polnisch – anders als Russisch – kein Schulfach war. Und dann kam eben die Dissertationszeit, in der ich ganz mit dem russischen Mittelalter beschäftigt war.6 Wenn wir nun einmal in Richtung 1989/90 schauen, hat sich da für Sie eigentlich irgendetwas Entscheidendes verändert? Oder würden Sie vielleicht sogar andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen? Nein, ich denke, dass 1989/90 schon ganz entscheidende Zäsuren waren. Sie haben ja richtig erwähnt: Ich komme aus dem tiefsten Westen! Da war natürlich die Welt hinter dem Eisernen Vorhang eine andere Welt, die spannend, interessant, aber völlig anders war. Und ich denke, das hat sich ja tatsächlich mit 1989 verändert. Bei jungen Menschen ist heute nicht mehr zu unterscheiden, ob sie östlich oder westlich sozialisiert sind. Das war, so denke ich, 3 Als eines der „Augustabkommen“ wurde das Danziger Abkommen am 31. August 1980 von Lech Wałęsa (*1943) für das Streikkomitee und dem Vize-Premier Mieczysław Jagielski (19241997) für die Regierung unterschrieben und enthielt weitgehende Zugeständnisse an die Opposition. Vgl. Holzer, Solidarität, S. 110-134. 4 Janusz Korczak (1878/1879-1942). 5 Willy Brandt (1913-1992). 6 Pickhan, Gertrud: Gospodin Pskov. Entstehung und Entwicklung eines städtischen Herrschaftszentrums in Altrussland, Wiesbaden 1992.

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bis 1989 noch sehr, sehr anders. Da ist wirklich sehr viel passiert. Ich würde fast sagen in erster Linie atmosphärisch. Die Grenzübertritte waren vor 1989 immer mit einer gewissen Angst verbunden, auch wenn man keinen „Spiegel“ im Gepäck hatte oder nicht angemeldete Devisen oder so. Die Wachhunde, die Grenzpolizisten, die nicht freundlich waren … So betrat man den Ostblock schon mit einer gewissen Angst. Und diese Angst war ab Ende 1989/90 weg. Ich denke, das ist für mich der wichtigste Aspekt daran. Ich habe auch Verwandtschaft in der DDR gehabt, die ich mit meiner Mutter als Kind häufig in den Herbstferien besucht habe und ich fand das total spannend – die Leipziger Verwandten, Onkel und Tante. Obwohl wir das gar nicht durften – man durfte sich ja nur in einem 50km Umkreis bewegen –, sind wir zusammen in Potsdam, Wittenberg oder Dresden gewesen. Das habe ich alles eben auch in den tiefsten DDR-Zeiten wahrgenommen. Und was ich nie vergessen werde und damals überhaupt nicht verstand, war, dass Onkel und Tante auf dem Leipziger Bahnhof weinten, als ich dann mit meiner Mutter in den Interzonenzug Richtung Dortmund stieg. Ich war da so 9, 10 Jahre alt und habe meine Mutter gefragt: „Sag mal, warum weinen die jetzt, bloß weil wir wegfahren?“ Meine Mutter versuchte mir das dann ungefähr so kindgerecht zu erklären: „Weißt Du, Onkel Herbert und Tante Ilse würden gern auch mal mit uns in den Zug steigen und zu uns nach Dortmund kommen, aber die dürfen das nicht.“ Und dass erwachsene Menschen auf dem Bahnhof weinen, das vergisst man nicht. Ich merke auch jetzt noch, wie mich das irgendwie emotional berührt … Und das alles war eben mit 1989 vorbei. Sie haben ja 1989 auch promoviert, waren somit wissenschaftlich schon erwachsen geworden, haben dann allerdings noch einmal einen kleinen Ausflug 1992 als Referentin in die SPD-Zentrale nach Bonn gemacht und waren vielleicht in politische Entscheidungsfindungsprozesse involviert. Wie wirkte denn aus Ihrer Sicht die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften in Deutschland und in Polen ein? Und haben andererseits auch Historikerinnen und Historiker versucht explizit politisch Stellung oder gar Einfluss zu nehmen? Ehrlich gesagt habe ich in diesem deutsch-polnischen Kontext deutlich hörbare Stimmen von historisch Forschenden in der breiten Öffentlichkeit nicht wirklich wahrgenommen. Ich hatte damals ein „ZEIT“-Abo – das habe ich jetzt nicht mehr – und da war bestenfalls Adam Krzemiński7 präsent, schon sehr präsent, soweit ich mich erinnere. Er hat natürlich auch zu der 7 Adam Krzemiński (*1945).

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schwierigen deutsch-polnischen Geschichte Dinge geschrieben. Aber an Fachhistorikerinnen oder Fachhistoriker kann ich mich eigentlich nicht erinnern. Wenn wir in die 1990er Jahren blicken, dann sind wir auch schon in meiner Warschauer Zeit. Ich bin ja 1993 nach Warschau gekommen, als das DHI8 gegründet wurde. Dort waren wir zunächst ja nur vier Leute: Jürgen Hensel und ich als wissenschaftliche Mitarbeiter, Frau Bues als stellvertretende Direktorin, Herr Rexheuser, der wunderbare Herr Rexheuser, als Direktor plus noch zwei Verwaltungsleute.9 Also das war ja ein ganz kleiner Anfang. Und das fing bei mir damit an, als ich von Herrn Rexheuser erfuhr, dass ich die Stelle bekommen konnte. Ich war natürlich heilfroh, da ich vorher bei der SPD gekündigt hatte, weil diese drei Monate so waren, dass ich die einfach verdränge, denn von politischem Einfluss war da überhaupt keine Rede. Meine Aufgabe damals eben bei der SPD war, diverse, sich sozialdemokratisch nennende Delegationen aus Georgien und sonst woher durch die Bonner Kaufhäuser zu führen, damit für die Gattin Geschenke eingekauft werden konnten. Das war so mehr oder weniger mein Job – also das vergessen wir. Und da habe ich mich dann Ende 1992 beim DHI beworben. Und dann bekam ich von Herrn Rexheuser die Info, dass er mich gerne als Mitarbeiterin haben wollte. Ich bin bereits vorher nach Warschau gefahren, um einfach mal zu gucken, wie das da jetzt so ist. Ich war zwar ein paar Mal kurz in Polen gewesen, habe zum Beispiel mal eine Schulklasse begleitet als Studentin, aber ich wollte dann einfach ein paar Tage da haben und gucken: „Passt das jetzt?“ Ich weiß, dass ich dann wieder auf den jüdischen Friedhof gegangen bin, da war ich ja schon mit der Geschichte des Jüdischen Arbeiterbunds10 beschäftigt, und hatte dort ganz stark das Gefühl: „Ja, das ist jetzt genau das, was sein muss.“ Und wieso? Ich habe damals eben auch Jürgen Hensel kennengelernt, der mir sehr geholfen hat bei meinem Einstieg in Warschau. Und es gab damals dann zufällig eine

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Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Jürgen Hensel (*1939); Almut Bues (*1953); Rex Rexheuser (*1933). Der Allgemeine jüdische Arbeiterbund in Litauen, Polen und Russland (algemeyner yidisher arbeter-bund) wurde 1897 in Wilna gegründet. Nach 1918 war er eine wichtige politische Gruppierung in Polen. Im Zweiten Weltkrieg im Untergrund tätig, 1949 aufgelöst. Vgl. Pickhan, Gertrud: „Gegen den Strom“. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund „Bund“ in Polen 1918-1939. Stuttgart 2001.

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Konferenz im Jüdischen Historischen Institut, im ŻIH.11 Und da kam es – für mich durchaus überraschend – zu heftigen Auseinandersetzungen im Hinblick auf den wenig thematisierten polnischen Antisemitismus. Es ging vor allem darum, dass Polen und Polinnen, die Juden und Jüdinnen versteckt, gerettet hatten, sich nicht trauten, das zu sagen, weil sie Angst hatten, dafür angefeindet zu werden. Also das war schon sehr viel, was da in der kurzen Zeit auf mich eingewirkt hat. Und dieser kurze Aufenthalt hat dann dazu geführt, dass ich mir gesagt habe: „Ja, das kannst Du machen!“ Aber ich muss auch erzählen, wie das wahrgenommen wurde in meinem Hamburger Freundesund Freundinnenkreis. Auch das werde ich nie vergessen, als ich dann da gesagt habe „Leute, ich gehe jetzt für fünf Jahre nach Warschau!“, war die Reaktion von einem sehr ‚gestandenen‘ Freund: „Hey, Du bist aber mutig!“ Es war offensichtlich 1993 noch nicht selbstverständlich, dass man jetzt mal für fünf Jahre nach Warschau geht, um da zu arbeiten. Ich fand mich nicht besonders mutig, ich fand das wichtig für mich und spannend und großartig. Aber dass das von Freunden eben als eine mutige Handlung gedeutet wurde, dass ich nun für fünf Jahre ‚da in den Osten‘ gehe, das fand ich auch sehr bezeichnend. Als Sie dann angefangen haben, im DHI zu arbeiten, hatten Sie auch verstärkt Kontakt mit polnischen Historikerinnen und Historikern. Hatten Sie damals das Gefühl, dass der Umgang miteinander, mit Ihnen, ein speziellerer, ein anderer war, als Sie ihn aus Deutschland kannten? Gab es andere Formen von Netzwerken? Naja, durch die polnisch-jüdische Thematik, die ich dort verfolgt habe, kann man da nicht wirklich von Netzwerken reden. Ich erwähnte bereits Jürgen Hensel. Er hat mich quasi sofort mit Feliks Tych12 bekannt gemacht. Und ich habe auch sehr schnell den Kontakt zu Jerzy Tomaszewski13 gesucht. Ich war viel im ŻIH, dort war Ruta Sakowska14, die ja für das Ghetto-Archiv zuständig war, und Ruta Sakowska hat mir immer geholfen. Ich habe damals in der Nationalbibliothek die jiddische „Bund“-Presse gelesen. Der „Bund“ hatte nie viel Geld, deshalb konnten sie das alles nicht ganz so sorgfältig edieren und wenn dann bei hebräischen Wörtern im Jiddischen irgendwelche Buchstaben verdreht waren, dann war ich verloren. Daher bin ich einmal in der Woche zu 11

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Żydowski Instytut Historyczny (Jüdisches Historisches Institut) in Warschau, 1947 gegründet knüpfte es an die Tätigkeit des Instytut Nauk Judaistycznych (Institut für Judaistische Studien) der Zwischenkriegszeit an. Vgl. Żbikowski, Andrzej: Żydowski Instytut Historyczny. 70 lat badań nad dziejami polskich Żydów. Warszawa 2018. Feliks Tych (1929-2015). Jerzy Tomaszewski (1930-2014). Ruta Sakowska (1922-2011).

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Ruta Sakowska gegangen und habe das dann mit ihr geklärt. Also da hat sie mir sehr geholfen. Das heißt, das ŻIH war für mich wichtig. Das waren so meine Hauptkontakte. Natalia Aleksiun15 war damals Doktorandin von Tomaszewski, auch zu ihr hatte ich einen sehr guten Kontakt. Das kann man aber nicht wirklich als Netzwerk bezeichnen, denn so viele Personen, die sich mit polnischjüdischer Geschichte beschäftigten, gab es damals eben nicht. Die andere sehr spannende Schiene war folgende: 1995 fand ja der fünfte World Congress der ICCEES16 in Warschau statt. Herr Rexheuser wollte da unbedingt ein Panel machen. Und ich hatte dann vorgeschlagen, wir machen was zur Frauengeschichte, zum Zweiten Weltkrieg und Frauen. Und wenn man so etwas vorschlägt, dann hat man da natürlich auch sofort den Hut auf und muss das organisieren. Ich war sehr froh, dass ich Svetlana Aleksievič gewinnen konnte, deren Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“, welches ich gelesen hatte, da ja auch schon ins Deutsche übersetzt worden war.17 Zudem hatte ich eine – mittlerweile befreundete – deutsche Kollegin, Gunilla Budde18, mit der ich dann später in Berlin auch sehr viel zu tun haben sollte, eingeladen. Sie hatte da bereits über Bürgertum und Frauen gearbeitet. Von polnischer Seite auf dem Panel war Dorota Mazurczak19 dabei. Das Ganze war dann ja auch die Initialzündung für die Reihe zur Frauen- und Geschlechtergeschichte des DHI. Ausgehend von dieser Suche nach Referentinnen für das Panel hatte ich die Feststellung zu machen: Da war eigentlich 1995 in Polen noch relativ wenig los im Hinblick auf Frauen oder Gender. Erstaunlicherweise gab es – nach meiner damaligen Beobachtung – in Russland mehr, da war es leichter, Leute zu finden. Ich habe dann dieses Thema weiterverfolgt und – ich glaube – ein Jahr später in dem wunderbaren Schlösschen in Obory einen Workshop gemacht, bei dem einfach die Idee war, Gender-/Frauenforscherinnen aus dem Westen mit Frauenforscherinnen aus dem Osten überhaupt mal ins Gespräch zu bringen. Bis dahin gab es sowas nicht. Es war auch daher sehr schön, weil es eine sehr persönliche, sehr intime Atmosphäre in diesem wundervollen Schlösschen gab. Und das haben ja dann meine Kolleginnen, Ute Caumanns20 und andere, fortgesetzt. In regelmäßigen Abständen fanden in der Folge ja 15 16 17 18 19 20

Natalia Aleksiun (*1971). International Council for Central and East European Studies. 1974 gegründetes multidisziplinäres, globales Netzwerk für Russland- und Osteuropastudien. Aleksievič, Svetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Berlin 1987 (belarus. Orig.: Minsk 1985); Svetlana Aleksandrovna Aleksievič (*1948). Gunilla Budde (*1960). Dorota Mazurczak (*1950). Ute Caumanns (*1960).

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immer wieder diese Konferenzen zur Geschlechtergeschichte in Obory statt, aus denen einige Bände hervorgegangen sind. Damals habe ich dann auch den Kontakt zu Anna Żarnowska21 gesucht, die ich sehr verehrt habe, weil sie eben schon sehr früh mit der Frauengeschichte angefangen hat und es ihr zu verdanken ist, dass sie ‚Nachwuchsförderung‘ betrieben hat, indem sie viele junge Historikerinnen auf diese Spur gesetzt hat. Sie hat auch diese zahlreichen Bände „Kobieta i …“ herausgegeben, irgendwie kam jedes Jahr ein Band wie „Kobieta i kultura“, „Kobieta i polityka“ usw., was ich sehr mutig fand.22 Mit Frau Żarnowska und Feliks Tych habe ich zwei historisch forschende Menschen kennengelernt, die auch in der Zeit des Ostblocks bereits viele Kontakte in den Westen hatten. Żarnowska war sehr versiert in Sozialgeschichte, ebenso Feliks Tych. Er war ja gefühlt ständig in Österreich oder auch in Westdeutschland unterwegs. Da war schon auch eine große, methodische Offenheit, die – und daher kann man vielleicht diesen ‚Bruch‘ von 1989 ein bisschen in Frage stellen – eben schon weit vor 1989 bei polnischen Historikern und Historikerinnen, im Gegensatz zu vielen anderen, vorhanden war. Mit Feliks Tych ist dann eine richtige Freundschaft entstanden und das war für mich eben auch die größte Motivation. Als ich Feliks Tych kennenlernte, da ist er mit mir in das kleine Archiv gegangen, was er aufgebaut hatte zu diesem ja leider dann nicht vollendeten „Słownik biograficzny“ der polnischen Arbeiterbewegung, und da gab es eine riesengroße Karteikartensammlung.23 Das war so ungefähr unsere erste Begegnung und er wollte mit mir einfach mal ein bisschen gucken, welche Bundisten und Bundistinnen da drin sind, ob er noch Material hat, was für mich interessant sein könnte. Man ist ja, wenn man an einer so großen Studie arbeitet, immer auch – oder ich jedenfalls, aber ich denke, das geht anderen auch so – von Selbstzweifeln geplagt. Ich weiß, dass ich damals auch mit Feliks Tych darüber gesprochen habe: Ist das wirklich richtig, wenn ich eine Habil-Schrift über den „Bund“ mache vor dem Hintergrund, dass je mehr ich mich mit diesem beschäftigte, ich umso mehr von dessen politischen Konzepten, von dessen innerparteilichem Umgang beeindruckt bin? Also ich kann hier etwas sehr Persönliches sagen, wofür ich mich eigentlich auch nicht schämen muss: Je mehr ich mich mit dem „Bund“ beschäftigt habe, desto mehr habe ich mich von der SPD entfernt! Und ich bin irgendwann auch ausgetreten, weil ich – einfach gesprochen – beim 21 22 23

Anna Żarnowska (1931-2007). Żarnowska, Anna[/Szwarc, Andrzej] (Hg.): Kobieta i… . 9 Bde. Warszawa 1990-2006. Tych, Feliks (Hg.): Słownik biograficzny działaczy polskiego ruchu robotniczego, 3 Bde. (Buchstaben A-K). (1967) 1985-1992.

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„Bund“ gesehen habe, es geht auch anders. Also: Ich entwickelte sehr große persönliche Sympathien für meinen wissenschaftlichen Gegenstand, worüber ich auch mit Feliks Tych gesprochen habe, und ich werde nicht vergessen, was er mir damals gesagt hat, denn es war so motivierend für mich: „Wissen Sie, es ist gut, dass Sie dieses Thema machen, und es ist gut, dass Sie dieses Thema machen!“ Ich habe immer Kontakt zu Feliks Tych gehabt. Er hat mir auch den Kontakt mit Jack Jacobs24 vermittelt, als ich nach New York fuhr, um dort im YIVO25 zu arbeiten. Feliks Tych war auf polnischer Seite wirklich der wichtigste Berater und auch Freund für mich – und gerade das war sehr schön. Auch wenn Sie die nächste Frage eigentlich schon erahnt haben, ob nämlich die deutsch-polnischen Kontakte in der Geschichtswissenschaft der 1990er Jahre letztlich doch eine Domäne von Männern gewesen sind, vielleicht trotzdem: Wie schätzen Sie das historische Milieu damals in dieser Hinsicht ein? Das war natürlich sehr männlich geprägt und außer Anna Żarnowska war da ja auf der professoralen Ebene am Historischen Seminar und an anderen Instituten niemand. Sie war wirklich der ‚weibliche Leuchtturm‘. Ich glaube, dass sie an der Uni ein sehr gutes standing hatte. Sie war eine sehr selbstbewusste Frau und war nicht benachteiligt durch ihr Frau-Sein, so habe ich das jedenfalls wahrgenommen. Ich nahm ja in den 1990er Jahren auch an einigen ihrer Konferenzen teil, und da waren natürlich auch männliche Kollegen. Ich gehe mal davon aus, dass mancher das auch nicht so toll fand, dass sie sich so auf die Frauen konzentrierte. Aber sie war eben eine wichtige Person am Historischen Seminar und auch für mich prägend. Ansonsten ist sicherlich der Befund richtig, dass die polnische Geschichtswissenschaft zu diesem Zeitpunkt noch stärker als die deutsche männlich dominiert war. Vor gut 10 Jahren war hier in Berlin eine Konferenz – da ist bei „Osteuropa“ ja auch ein Band erschienen –26, da hat François Guesnet27 in einem RoundTable-Gespräch erwähnt, dass ihm aufgefallen sei, dass es vor allem Frauen sind, die sich mit jüdischer Geschichte beschäftigen. Das hat sich ein bisschen 24 25

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Jack Jacobs (*1953). Yidisher visnshaftlekher institut, seit der Gründung 1925 zunächst im damals polnischen Wilno ansässig. Als Yiddish Scientific Institute (später YIVO Institute for Jewish Research) seit 1940 in New York eines der wichtigsten Zentren zur Erforschung des osteuropäischen Judentums. Vgl. Kassow, Samuel D.: YIVO, in: Dan Diner (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 6. Stuttgart/Weimar 2015, S. 479-485. Osteuropa 58 (2008) 8-10 [Themenheft: Impulse für Europa. Tradition und Moderne der Juden Osteuropas]. François Guesnet (*1962).

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geändert mittlerweile, aber das war in Deutschland so, also was die deutschjüdische Geschichte angeht: Es waren vor allem Frauen. Klar, Reinhard Rürup28. Aber das ist eine interessante Beobachtung gewesen. Würden Sie denn sagen, dass man für die 1990er Jahre von einer deutlich erkennbar unterschiedlichen Wissenschaftskultur in Deutschland und in Polen ausgehen konnte? Also ein Punkt waren vielleicht die Konferenzerfahrungen, die ich in den 1990er Jahren häufiger gemacht habe: Da waren diese endlosen Co-Referate von Konferenzteilnehmenden. Das hat mich unheimlich genervt und das kannte ich so aus Deutschland nicht! Es ist das, wie man auf Konferenzen miteinander umgeht und das ist ja nicht ganz unwichtig, was mir als erstes einfällt als Unterschied. Andere Aspekte hatten dann eher mit meiner Fokussierung auf die polnisch-jüdische Geschichte zu tun. Dazu vielleicht ein Beispiel: Wir hatten schon sehr früh die Idee zusammen mit Kollegen in Łódź eine Tagung zu machen, woraus auch ein Sammelband entstanden ist.29 Da ging es um die multiethnische Geschichte dieser Stadt. Das wurde damals von den Kollegen dort sehr wohlwollend aufgenommen. Aber ich habe dann von Jacob Goldberg erfahren, dass eine Referentin aus Łódź, Barbara Wachowska, die von den Lodzer Kollegen aufs Programm gesetzt wurde, 1968 maßgeblich daran beteiligt war, dass er die Uni und dann das Land verlassen musste.30 Das war natürlich ein Hammer! Und so etwas wäre vermutlich zu diesem Zeitpunkt in Deutschland nicht mehr möglich gewesen. Das Ganze lief dann so, dass ich mit Herrn Rexheuser darüber gesprochen habe. Er war da sehr konsequent und hat gesagt: „Wir haben die Vereinbarung: Die polnischen Kollegen nominieren die polnischen Teilnehmenden an der Konferenz, wir nominieren die deutschen, israelischen, und weiteren ausländischen.“ Jacob Goldberg hat klar und deutlich gesagt: „Wenn diese Frau auf der Konferenz einen Vortrag hält, komme ich nicht!“ Daraufhin habe ich zu Herrn Rexheuser gesagt: „Tut mir leid, also dann kann ich auch diese Konferenz nicht weiter organisieren.“ Das hat dann Jürgen Hensel übernommen. Dies vielleicht als eine weitere persönliche Erfahrung, die auch gewisse Schwierigkeiten deutlich macht.

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Reinhard Rürup (1934-2018). Hensel, Jürgen (Hg.): Polen, Deutsche und Juden in Lodz 1820-1939. Eine schwierige Nachbarschaft. Osnabrück 1999. Jacob Goldberg (1924-2011); Barbara Wachowska (1929-2005).

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Inwieweit haben also in den 1990er Jahren im deutsch-polnischen, deutschpolnisch-jüdischen Verhältnis alte Komplexe und Verhaltensmuster weitergewirkt? Blieben Schieflagen und Asymmetrien erhalten oder haben sich vielleicht auch neue gebildet, auch mit Auswirkungen auf die Wissenschaft? Ich denke, dass die polnisch-jüdische Geschichte in den 1990er Jahren immer noch sehr, sehr marginalisiert war, sodass ich mich selber da eben auch in einem Randgebiet bewegt habe. Bei den Leuten, mit denen ich zu tun hatte, Feliks Tych, Jerzy Tomaszewski, ihren Schülerinnen und Schülern, da gab es keinerlei Unterschiede in der Wahrnehmung der polnisch-jüdischen Geschichte. Das kann ich einfach mal so festhalten. Ich weiß aber – das wurde mir zugetragen – dass es unter prominenten polnischen Historikern durchaus Stimmen gegeben hat, dass da so etwas gesagt wurde wie: „Ja, jetzt haben wir ein Deutsches Historisches Institut in Warschau, und was machen die? Jüdische Geschichte.“ Das Bewusstsein, dass die jüdische Geschichte ein Teil der polnischen ist, war in den 1990er Jahren überhaupt nicht verbreitet. Das ist heute ganz anders, wenngleich auch noch nicht wirklich flächendeckend. Dieses Statement macht deutlich, dass eine solche Sichtweise, stärker noch als das in Deutschland der Fall war, vorherrschte. Aber auch in Deutschland waren es nicht die institutionalisierten Geschichtswissenschaften, sondern die Geschichtswerkstätten, die angefangen haben, sich wirklich mit lokaler deutsch-jüdischer Geschichte zu beschäftigen. Ich kannte das aus Hamburg – die Geschichtswerkstatt Eimsbüttel war da ständig unterwegs schon in den 1970er Jahren … Also das war schon anders in Polen. Fallen Ihnen – neben dem ŻIH und dem DHI – noch andere Institutionen ein, die an dieser kommunikativen deutsch-polnisch-jüdischen Verdichtung der 1990er Jahre in irgendeiner Weise maßgeblich mitgewirkt haben? Nein. Es war Tomaszewski an der Uni. Es war das ŻIH. Und ich würde sagen: das war’s. Klar, es war in der damaligen Zeit so – das muss ich ehrlicherweise sagen –, dass ich sehr auf Warschau konzentriert war. In Łódź zum Beispiel, da war damals nichts. Es fing in Krakau an, das habe ich bei eher touristischen Besuchen dort feststellen können. Kazimierz war natürlich da, und es ist dann auch ein bisschen mehr wissenschaftlich gemacht worden, aber nicht wirklich wahrnehmbar. Also ich denke wirklich, das war tatsächlich so. Haben Sie auch Unterschiede in der praktischen, historischen Arbeit empfunden? Also wir denken da an Sachen wie Archive, Bibliotheken, wie man sich in diesen wirklich sehr handfesten, praktischen Kontexten bewegen musste oder konnte?

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Das kann ich schwer vergleichen, weil ich für meine Dissertation ja nicht im Archiv war. Meine Archivarbeit hat tatsächlich erst 1993 im AAN31 in Warschau angefangen. Und da erinnere ich eigentlich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Archiven, in den Bibliotheken als – soweit das in ihren Möglichkeiten lag – sehr hilfsbereit und freundlich. Da habe ich eigentlich keine negativen Erfahrungen gemacht. Gab es auch so etwas wie transnationalen methodischen Austausch, Fragestellungen und Ansätze, die über den nationalen und bilateralen Rahmen hinausgingen? Eigentlich nicht. Ich denke, dieser methodische Nationalismus war in den 1990er Jahren doch noch sehr stark. Da stach Klaus Zernack32 mit seiner Beziehungsgeschichte heraus, aber ansonsten tat sich da ja nicht viel. Diese nationalen Container waren da doch noch sehr stark vorhanden. Aber klar, wenn man sich mit jüdischer Geschichte beschäftigt, dann ist das nicht in nationalen Kategorien zu fassen. Insofern war mein eigener Zugang damals schon ein anderer. Würden Sie sagen, es gibt Publikationen aus dieser Zeit, die vielleicht bis heute auch wichtig geblieben sind, oder welche zumindest damals besonders prägend für Sie waren? Das waren vor allem die Sachen, die Tomaszewski veröffentlicht hat, seine „Rzeczpospolita wielu narodów“, „Ojczyzna nie tylko Polaków“, das ist ja beides schon 1985 erschienen.33 Und diese Titel sprechen ja für sich. Eine Heimat nicht nur für Polen … Diese Bücher würde ich wirklich als Meilensteine der polnischen Geschichtsschreibung bezeichnen.

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Archiwum Akt Nowych (Archiv Neuer Akten), Warschau. 1919 als Archiwum Wojskowe (Militärarchiv) gegründetes staatliches Archiv zur Sammlung aller Akten aus zentralen Organen seit der Wiederentstehung Polens. Den heutigen Namen trägt es ab 1930. Klaus Zernack (1931-2017) – ders.: Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Ders./Wolfgang H. Fritze (Hg.): Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Berlin 1976, S. 3-46. Tomaszewski, Jerzy: Rzeczpospolita wielu narodów. Warszawa 1985; ders.: Ojczyzna nie tylko Polaków. Mniejszości narodowe w Polsce w latach 1918-1939. Warszawa 1985.

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Hatten Sie denn damals eine Ahnung, dass sich so etwas wie diese Debatten, die sich dann als Konsequenz der Arbeiten von Jan Tomasz Gross34 ab 2000/2001 entwickeln sollten, auch im polnischen Rahmen andeuteten? Ich erinnere mich da – das war jetzt allerdings kein Historiker, sondern ein junger Soziologe – an Ireneusz Krzemiński, der 1996 ein Buch mit dem sehr prägnanten Titel „Sind die Polen Antisemiten?“ veröffentlicht hat.35 Er hat soziologisch gearbeitet, auf Interviewbasis. Es gab da Riesendiskussionen in Warschau. Er hat angefangen mit dem Begriff der „Opferkonkurrenz“ zu arbeiten, über polnischen und jüdischen Messianismus geschrieben. Ich bin da bei einer Podiumsdiskussion gewesen, als das Buch vorgestellt wurde – und das war heftig, das war wirklich sehr, sehr heftig. Das Thema der polnischen Beteiligung am Holocaust klingt da an, steht jedoch – glaube ich – nicht im Zentrum. Aber das war ein Warschauer Soziologe, der diese mehrjährigen Studien gemacht hat und dann dieses Buch veröffentlicht hatte. Also das war schon beeindruckend für mich damals – eine sehr, sehr zentrale Erfahrung. Sie haben einmal geäußert, dass Sie vor allem Emanzipations- und Selbstermächtigungsprozesse, aber auch Rückständigkeitsparadigmata der osteuropäischen Geschichte interessiert haben und dass Ihnen eigentlich immer Außenseiter und ‚beautiful losers‘ die interessanteren Themen in der Geschichte gewesen seien.36 Wenn Sie jetzt auf Ihre wissenschaftliche Arbeit zurückblicken in diesen letzten 30 Jahren: Haben Sie das umsetzen können, was Sie für interessant gehalten haben? Ja, das kann ich schon sagen. Als ich nach Berlin kam, das war 2003, und mir dann überlegen musste, was ich denn jetzt für ein Drittmittelprojekt machen will, da kam mir sofort der Polski Jazz in den Kopf. Und das ist eben ein Thema, 34

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Innenpolitische Debatte in Polen als Reaktion auf Jan Tomasz Gross’ (*1947) Buch „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. München 2001“ (poln. Original: Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka. Sejny 2000), in dem der amerikanischpolnische Soziologe nachgewiesen hatte, dass es polnische Einwohner des podlachischen Städtchens Jedwabne gewesen waren, die unter Aufsicht der deutschen Besatzer ihre jüdischen Mitbürger am 10. Juli 1941 auf dem Marktplatz zusammengetrieben und anschließend in einer Scheune am Ortsrand verbrannt hatten. Nationalkonservative Kreise lehnen diese Deutung bis heute ab. Zusammenfassend zur Debatte vgl. Polonsky, Antony/Michlic, Joanna (Hg.): The neighbors respond. The Controversy over the Jedwabne Massacre in Poland. Princeton 2004. Ireneusz Krzemiński (*1949) – ders. (Hg.): Czy Polacy są antysemitami? Wyniki badania sondażowego. Warszawa 1996. Pickhan, Mein Russland, S. 40f.

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was in meine Warschauer Zeit zurückgeht, weil ich damals, bevor ich nach Warschau kam, überhaupt kein Interesse am Jazz hatte. Eine Warschauer Freundin jedoch nahm mich oft auf diese tollen Jazz-Konzerte mit. Ich habe dann im Polskie Radio die Jazzsendungen gehört und war sehr überrascht über die große Bedeutung, die der Jazz auch in den 1990er Jahren noch in Polen hatte, aber eben auch immer mit Rückblick auf den Jazz in der Volksrepublik Polen. Und da habe ich gedacht: Ja Mensch, also das wäre doch jetzt mal ein spannendes Projekt. Da könnte ich dann selber für mich auch noch ein bisschen mehr darüber herausfinden, warum der Jazz in Polen eine so große Bedeutung hatte. Und das hat dann ja auch geklappt.37 Also insofern hat das eigentlich immer funktioniert so mit den Themenschwerpunkten. Und wie würden Sie Ihre eigenen Forschungen insgesamt da verorten – in dieser deutsch-polnischen, deutsch-polnisch-jüdischen Geschichtslandschaft der 1990er Jahre mit ihren großen Leitnarrativen und Themen? Spontan gesagt: Eindeutig randständig, nicht zentral. Um Leitnarrative habe ich mich – ehrlich gesagt – damals gar nicht so gekümmert. Was ich spannend und wichtig fand, auch im Hinblick auf die Arbeit des Deutschen Historischen Instituts, war, die Geschichte der Polen und Polinnen in Deutschland einfach bekannter, wahrnehmbarer zu machen und darauf hinzuweisen, dass diese Geschichte eben auch sehr viel mit deutscher Schuld zu tun hat. Gleichzeitig ging es mir aber auch darum, die sehr eigene polnische Geschichte vermitteln zu können … also das Kennenlernen, das Wahrnehmen, das Bekanntmachen. Das ist kein großes Narrativ, aber ich glaube, das ist das, was mir wichtig erscheint, und worum es mir ging und geht. 2006 haben Sie sich da schon ganz optimistisch gezeigt, dass im deutschpolnischen Verhältnis „nicht nur im wissenschaftlichen Bereich der antagonistisch-konfrontative Dialog schon seit längerem einer vielstimmigen Diskussion gewichen“ sei.38 Würden Sie diese Einschätzung heute aufrechterhalten und welche Prognose geben Sie für die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 ab? 37 38

Jazz im „Ostblock“ – Widerständigkeit durch Kulturtransfer, gefördert von der VolkswagenStiftung (2007-2010). Pickhan, Gertrud: Rede anlässlich der Eröffnung des Zentrums für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften am 23.11.2006 an der Freien Universität Berlin, in: Historie. Jahrbuch des Zentrums für Historische Forschung Berlin  1 (2008), S. 26-28, hier S. 27.

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Ich sage ganz ehrlich, dass ich da nicht mehr so optimistisch bin. Nach meiner Wahrnehmung hat die polnische Wissenschaft immer noch eine gewisse Selbstständigkeit, aber es bröckelt. Und das stimmt mich bedenklich. Ich bin aber gleichzeitig auch wieder optimistisch. Durch die Präsidentschaftswahl, die ja nun sehr knapp ausgegangen ist, hoffe ich wirklich sehr, dass das andere Polen bald wieder die Oberhand gewinnt und das wird sich selbstverständlich auch auf die Wissenschaft auswirken. Würden Sie diesen Optimismus denn auch für das polnisch-jüdische Verhältnis so gelten lassen, in Bezug zur Wissenschaft vor allem, ohne von allgemeineren gesellschaftlichen Tendenzen zu reden? Wenn man sich aktuelle Debatten wie zum Beispiel diese um Jan Grabowski und sein Buch anschaut?39 Ich bin zwar überhaupt nicht begeistert von der Gestaltung des Museums POLIN. Aber immer wenn ich da war, waren auch sehr viele Polinnen und Polen da. Und ich denke, das wird wirklich bleiben. Ich habe damals in den 1990er Jahren interessehalber ein paar Mal bei Fortbildungen für polnische Lehrer und Lehrerinnen zugeguckt, die das ŻIH da noch machte. Das waren ganz junge Lehrer und Lehrerinnen, die heute immer noch Lehrer und Lehrerinnen sind. Das ist nicht zurückzudrehen, diese Grundlage, die da ist, die nicht verloren gehen wird und die irgendwann wieder in der Öffentlichkeit größere Bedeutung haben wird.

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Jan Grabowski (*1962) – ders.: Na posterunku. Udział polskiej policji granatowej i kryminalnej w zagładzie Żydów. Wołowiec 2020.

Abb. 17.1 1993, im ersten Warschauer Jahr. Foto: privat.

Rex Rexheuser (*1933) wurde in Weimar geboren. Nach der Flucht in die Bundesrepublik 1951/52 studierte er Geschichte und Germanistik in Wilhelmshaven, Braunschweig, Göttingen und Paris. 1971 wurde er in Erlangen-Nürnberg promoviert, die Habilitation erfolgte dort 1977. 1977-81 war er wiss. Mitarbeiter an einem DFG-Projekt, in diesem Rahmen auch 1977/78 an der Akademie der Wissenschaften in Moskau. 198183 arbeitete er als Dozent an der Universität Erlangen-Nürnberg, 1983-93 als wiss. Mitarbeiter am NOKW in Lüneburg. 1993-1998 war er Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Instituts Warschau.

„Ich betrachte diese Jahre als die lebendigsten und ergiebigsten meines Berufslebens“ Rex Rexheuser Herr Rexheuser, Sie waren zu Beginn der 1990er Jahre am Institut Nordostdeutsches Kulturwerk in Lüneburg tätig1. Haben Sie damals schon mit polnischen Themen zu tun gehabt oder war das mehr oder weniger die Fortsetzung dessen, was Sie vorher schon in Bezug auf russische und baltische Geschichte gemacht haben? Es war, das Baltikum ausgenommen, etwas vollkommen Neues. Mit baltischen Fragen bin ich ja durch Wittram2 schon früh in Kontakt gekommen. Sonst war Lüneburg ein Sprung ins Unbekannte. Ich hatte mich jahrzehntelang fast ausschließlich mit Russlands innerer Geschichte beschäftigt. Im Kulturwerk ging es um deutsche Geschichte im östlichen Europa, ein Arbeitsfeld, dem ich mich anfangs nur mit größten Bedenken genähert habe. Das Institut war einst von Vertriebenen und zur Vertretung von Vertriebeneninteressen gegründet worden, die damals, neben der Integration ins Nachkriegsdeutschland, auf Revision der östlichen Grenzen, Rückkehr in die verlorene Heimat und die historische Rechtfertigung dieser Ansprüche gerichtet waren. Ich hing seit den 1960er Jahren der Brandt’schen3 Ostpolitik an und hatte mit einem Programm, das jede Verständigung mit unseren östlichen Nachbarn unmöglich machte, nichts im Sinn. Als 1982 der sozialliberalen Koalition die Regierung Kohl4 folgte, begann in der Ostpolitik ein Lavieren, das nach außen über Jahre offen ließ, welcher Kurs sich durchsetzen werde. Das Lüneburger Institut jedenfalls war finanziell und in seinem Spielraum von Bonn abhängig, und nichts lag mir ferner, als in dieser ungewissen Sphäre einen Arbeitsplatz zu suchen. Dennoch gab es Anlass dazu. Karl-Heinz Ruffmann5, mein langjähriger Erlanger Mentor, kannte den amtierenden Direktor und hatte den Eindruck gewonnen, das Profil des Hauses habe sich deutlich verändert. Ich glaubte ihm kaum, fuhr 1 1951 als Nordostdeutsches Kulturwerk (NOKW) in Lüneburg gegründet, 2001 überführt in das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Nordosteuropas (IKGN) als An-Institut der Universität Hamburg. 2 Reinhard Wittram (1902-1973). 3 Willy Brandt (1913-1992). 4 Helmut Kohl (1930-2017). 5 Karl-Heinz Ruffmann (1922-1996).

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aber zu einer Erkundung nach Lüneburg und sah überrascht, dass er recht hatte. Dr. Matthes6, der Direktor, versicherte mir, es gebe keine politischen Auflagen für die Mitarbeiter, man sei weitgehend frei in der Wahl und Behandlung historischer Themen und stehe in regem Austausch mit Historikern im östlichen Europa. Zum Beleg machte er mich bekannt mit Dr. Ischreyt7, einst Mitarbeiter, später Direktor des Instituts, der einen „Studienkreis für Kulturbeziehungen in Mittel- und Osteuropa“ ersonnen und, sobald dies politisch seit den 1970er Jahren möglich geworden war, in den kommunistischen Machtbereich hinein ein imponierendes Netz wissenschaftlicher Kontakte geknüpft hatte, sogar dorthin, wo es am schwersten fiel, zur Sowjetunion und DDR. Ich staunte, wie weit das Kulturwerk sich von seinen Anfängen entfernt hatte. Ich staunte noch mehr, dass es über die ‚Wende‘ von 1982 hinweg an der Revision seiner Richtung mit Wissen und Billigung der neuen Regierung hatte festhalten können und festhalten wollte. Also schob ich meine Zweifel beiseite, bewarb mich, wurde genommen und habe den Entschluss, nach Lüneburg zu gehen, nie bereut. Wenn es noch äußere Umstände gab, die unsere Arbeit hemmten, lagen sie nicht in Bonn, sondern an den politischen Verhältnissen im sowjetischen Herrschaftsbereich. Als er 1989/90 zerbrach, brauchten wir, was historische Konzepte und wissenschaftliche Kontakte anging, nur in voller Freiheit fortzusetzen, was unter Restriktionen längst begonnen worden war. Eine sonderbar paradoxe, aber solide Bestätigung dafür schenkte dem Institut der nächste Regierungswechsel auf deutscher Seite, das Ende der Ära Kohl im Jahre 1999. Die neue rot-grüne Koalition wollte mit allen institutionellen Resten der Vertriebenenpolitik ein Ende machen, zu denen sie, der deutschtümelnde Name schien es zu rechtfertigen, auch das Lüneburger Kulturwerk rechnete. Die Ankündigung, das Haus solle geschlossen werden, alarmierte aber dessen Kollegen und Kooperationspartner in Polen und den baltischen Ländern. Sie protestierten in Berlin, aus Litauen, Lettland und Estland sogar mit persönlicher Unterstützung der Staatspräsidenten. Der Einspruch von außen war unverdächtig und besser als jede Beschwörung aus Lüneburg geeignet, ein stehengebliebenes Urteil zu korrigieren, das zum Vorurteil geworden war. Die Regierung lenkte ein und beließ es beim Umbau und einer Umbenennung des Instituts, die übrigens Dr. Matthes schon in den 1980er Jahren betrieben hatte, damals freilich noch ohne Erfolg. 6 Eckhard Matthes (*1940). 7 Der Deutschbalte Heinz Ischreyt (1917-1993) versammelte seit 1972 in Lüneburg im Rahmen multidisziplinärer Tagungen neben deutschen vor allem polnische, ungarische und rumänische Wissenschaftler. Siehe dazu etwa Salmonowicz, Stanisław: Między NRD i RFN. Ze wspomnień historyka, in: Zapiski Historyczne 78 (2013) 2, S. 117-154, hier S. 142-144.

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Als ich 1983 nach Lüneburg kam, war es mein vordringlicher Wunsch, mich einzuarbeiten in die Landesgeschichten der 1945 abgetrennten deutschen Ostgebiete, die Geschichte der Deutschbalten und die Geschichte deutscher Minderheiten im litauischen, polnischen und ukrainischen Raum. Überall hatten Deutsche hier, ob in Krieg oder Frieden, ständig in nächster Nachbarschaft mit anderen Völkern gelebt. Es war die erklärte Lüneburger Maxime, dass diese Verschränkungen unvoreingenommen wahrgenommen, also immer auch unter dem Blickpunkt der Anderen beurteilt werden sollten. Die Vorgabe hatte für mich die unerwartete Folge, dass sie mir die Freiheit gab, auch die Erfahrungen der deutschen Vertriebenen mit offeneren Augen zu betrachten. Das Unheil, das wir im Zweiten Weltkrieg im östlichen Europa angerichtet haben, verantworten die Deutschen in ihrer Gesamtheit. Die vertriebenen Deutschen aber haben dafür in einem Maße bezahlt, das denen, die daheim bleiben konnten, in aller Regel erspart geblieben ist. Dass ich in Lüneburg begann, tiefer in die Geschichte der baltischen Länder und zum ersten Mal in die polnische Vergangenheit einzudringen, hat mich gelehrt, die Deutschen im Osten nicht nur im Lichte der Vertriebenenpolitik zu sehen. Mit meiner Lüneburger Stelle waren der Aufbau und die Leitung eines erst entstehenden Archives verbunden. Das setzte meinen historischen Studien leider Grenzen, angefangen beim Erlernen des Polnischen. Zu eigentlicher Forschung fand ich nie hinreichend Zeit. Bei Rezeption und Vermittlung ostmitteleuropäischer, insbesondere polnischer Themen aber hatte ich freie Hand. Sie waren Gegenstand meiner Lehrveranstaltungen, die ich, immer unterstützt von der Institutsleitung, an der Universität Hannover abhielt, anfangs als Lehrbeauftragter, später als Privatdozent. Auf Tagungen der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission8, des Herder-Instituts9 in Marburg, der Baltischen Historischen Kommission10 machte ich die Bekanntschaft deutscher und aus8

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Unter der Schirmherrschaft der UNESCO 1972 gegründete Kommission deutscher und polnischer Historiker*innen sowie Geograph*innen. Vgl. Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015. Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft und trägt seit 2012 seinen heutigen Namen. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53980.html (02.06.2015). 1951 unter maßgeblicher Beteiligung Reinhard Wittrams (1902-1973) in Göttingen gegründete Vereinigung mit dem Ziel der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der – zunächst vor allem deutschen – Geschichte der baltischen Länder Estland und Lettland, am Rande auch Litauens. Vgl. Kaegbein, Paul/Lenz, Wilhelm: Fünfzig Jahre baltische Geschichtsforschung, 1947-1996. Die Baltische Historische Kommission und die

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ländischer Fachleute. Viel verdanke ich den persönlichen Begegnungen in Ischreyts Studienkreis. Thorner Kollegen wie der Rechtshistoriker Stanisław Salmonowicz und die Historiker Jerzy Wojtowicz und Henryk Rietz gehörten zu seinen ständigen Teilnehmern.11 Außerhalb des Kreises begegnete ich schon damals dem Posener Historiker Witold Molik12, der mir später in den DHI13Jahren oft beigestanden hat. Wenn Lüneburg der erste große Sprung war, dann gab es in den frühen 1990er Jahren den zweiten großen Sprung – die Gründung des DHI. Sie wurden 1993 Gründungsdirektor dieses Instituts. Wie kam es eigentlich dazu? Weil ich dazu gedrängt worden bin und wenig Mitbewerber hatte. Angesichts meiner bescheidenen Stellung in der Polonistik wäre ich selbst im Traume nicht darauf verfallen, mich zu bewerben. Der Anstoß kam von Schramm und Zernack.14 Schramm kannte ich noch aus meiner russischen Zeit. Zernack begegnete ich in Lüneburg, weil er Mitglied im Trägerverein des Institutes war. Russland hat unter den deutschen Osteuropahistorikern immer weit mehr Aufmerksamkeit gefunden als Polen. Verglichen mit heute war hier der Bestand an ausgewiesenen Fachleuten sogar hauchdünn. Michael Müller15, der mit Abstand zuerst in Frage gekommen wäre, hat sich für die Warschauer Stelle nicht interessiert. Damit stiegen die Chancen für den Rest der Bewerber noch weiter. Dass ich am Ende Glück hatte, war dennoch eine Überraschung. Robert Traba hat Ihnen in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Kavalierskreuzes des Verdienstordens der Republik Polen im Jahre 2014 unterstellt, dass Sie „auf besonders reizvolle wissenschaftliche Weise allgemein gültige Zäsuren

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Baltischen Historikertreffen in Göttingen. Veröffentlichungen, Vorträge, Mitglieder. Köln 1997. Stanisław Salmonowicz (*1931); Jerzy Wojtowicz (1924-1996). Witold Molik (*1949). Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Gottfried Schramm (1929-2017), Klaus Zernack (1931-2017). Michael G. Müller (*1950).

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aufzubrechen [vermochten], um neue Forschungsperspektiven [zu schaffen]“.16 Wenn Sie also gut im Aufbrechen von Zäsuren waren oder immer noch sind, hat sich 1989 für Sie eigentlich etwas Entscheidendes verändert, oder würden Sie eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen? Von meiner angeblichen Gabe, historische Zäsuren zu versetzen, weiß ich nichts. Mir ist aber schmerzlich bewusst, wie die tatsächliche Zäsur von 1989 mich als Historiker überrumpelt hat. Mein Jahrgang bewirkt, dass ich das Zeitalter, das damals zu Ende ging, schon mit halbwegs offenen Augen habe anbrechen sehen. Ich war zwölf, als 1945 in Jena, meiner Heimatstadt, die Sieger kurz nacheinander einrückten, erst die Amerikaner hochmotorisiert, dann die Rote Armee mit Leiterwagen und Panjepferden17 zwischen den Panzern. Obwohl nur atmosphärisch aufgefasst, war das bereits eine Epochenerfahrung, die es in sich hatte. Ihre Folgen prägten mein ganzes Leben, die Schulzeit in der SBZ und frühen DDR, 1951 die Flucht in die Bundesrepublik, mittelbar den Entschluss, Geschichte zu studieren, und ganz unmittelbar, dass es die russische geworden ist. Immer wieder hatten das Sowjetsystem und – was es mit zu verantworten hatte: – die Spaltung der Nachkriegswelt ihre Hand im Spiel. 1989/90 verschwand auch dieser Hauptakteur, diese Grundsituation aus meinem Leben. Ich empfand den Umbruch als das Ende eines Alptraums und begrüßte die neue Welt als ungeheure Befreiung. Ich hatte sie aber nie für möglich gehalten, geschweige denn vorhergesehen. Wie die meisten Ostexperten in der Bundesrepublik war ich geblendet vom Beharrungsvermögen einer politischen Herrschaft, die alle Verfügungsgewalt über Menschen und materielle Ressourcen in ihrer Hand monopolisiert hatte. Das System schien mir verdammt zur Unsterblichkeit, ein Fehlurteil, das mir als Historiker nie hätte unterlaufen dürfen. Wie viel klarer andere Zeitgenossen sahen, ging mir erst auf, als ich wenig später in Warschau mit polnischen Bekannten über das Wendejahr gesprochen habe. Sie berichteten, dass die Solidarność18 der 1980er Jahre systematisch polnische Gastarbeiter, die aus der DDR heimgekehrt 16

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Robert Traba (*1958). – Laudatio von Robert Traba zur Verleihung des Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen an Professor Rex Rexheuser am 24.03.2014, http://serwer1512673.home.pl/cbhold/images/stories/2014/rexheuser/laudatio_ rexheuser_23.04.2014_de_end.pdf (23.06.2020). In der Landwirtschaft Osteuropas eingesetzte, genügsame und robuste Pferde. Zwischen August 1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999.

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waren, über den Zustand der dortigen Industrie befragt hatten. Die Summe der Antworten habe zwingend zu einer Katastrophen-Prognose geführt. Diese Wirtschaft habe unweigerlich zusammenbrechen müssen, weil die Rohstoffe immer knapper, die Störanfälligkeit eines überalterten Maschinenparks immer größer, Produktionsausfälle immer häufiger geworden seien. Die Frage sei nur gewesen, wann es so weit sein werde, schon Ende der 1980er Jahre oder vielleicht erst Mitte der 1990er? Wie wir heute wissen, war der historische Augenblick, in dem das Erwartete tatsächlich eingetreten ist, jedenfalls genau getroffen. Hat sich denn in der deutsch-polnischen geschichtswissenschaftlichen Landschaft, von der professionellen Seite her, ihrem Empfinden nach 1989 auch viel geändert, oder hat sich nur etwas intensiviert? Ich hatte damals den Eindruck und bin heute noch mehr davon überzeugt, dass es, bei wichtigen Veränderungen im Einzelnen, sich in der Hauptsache um Intensivierung gehandelt hat. Was den politischen Rahmen angeht, der zwar keinesfalls in jeder, aber doch in vieler Hinsicht die Arbeit der Historiker beeinflusst, ist das Übergewicht der Kontinuität offensichtlich. Die auf deutscher wie polnischer Seite alles entscheidende Anerkennung der Grenze und der Zwangsaussiedlung der Deutschen war schon 197019 gefallen und ist dann doch 1990 nachdrücklich bestätigt worden. Möglich geworden aber war beides erst, weil sich bereits vorher bei uns, unter den Deutschen, in einer noch tieferen Schicht eine sehr alte, sehr verfestigte Einstellung gegenüber Polen verändert hatte. Jene „negative Polenpolitik“20, die im 18. Jahrhundert von der preußischen Monarchie begonnen, vom bismarckschen Nationalstaat dramatisch verschärft, von der Weimarer Republik nur zu Teilen zurückgenommen, vom Dritten Reich blutig auf die Spitze getrieben worden ist, hat für unseren östlichen Nachbarn den Anspruch auf selbständige staatliche Existenz geschmälert oder ganz bestritten, immer mit Berufung auf zeitspezifisch wechselnde Ideologeme. Lange diente dazu „die polnische Wirtschaft“, später kam „rassische Minderwertigkeit der Slaven“ hinzu. Bekanntlich ziehen sich Spuren dieser Mentalität bis heute durch unsere Gesellschaft. Radikal 19

20

Vertrag vom 7.12.1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (Warschauer Vertrag). Vgl. Eisler, Jerzy: Grudzień 1970. Geneza, przebieg, konsekwencje. Warszawa 2017. Zernack, Klaus: Negative Polenpolitik als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jahrhunderts, in: Uwe Liszkowski (Hg.): Rußland und Deutschland. Stuttgart 1974, S. 144-159.

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verändert aber hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg (und vermutlich unter seinem nachwirkenden Schock) die deutsche Einstellung zur polnischen Staatlichkeit. Deren Anerkennung ist, ohne dass wir von dem Umbruch sonderlich Notiz genommen haben, zur Selbstverständlichkeit, zu einem ungefragt hingenommenen Recht geworden, in stummer Übereinstimmung zwischen Ost- und Westdeutschen überdies, eine Gemeinsamkeit, die hoffentlich der Wiederkehr des Nationalismus in unseren Tagen standhalten wird. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich den langfristigen Trends wie den kurzzeitigen Abwandlungen im Verhältnis zu Polen im Allgemeinen angepasst, sie meist auch mit Nachdruck unterstützt. Auch die Lockerung der feindseligen Traditionen nach 1945 hat zu einem historiographischen Umbruch geführt, gleich ob er im Osten sehr uniform unter staatlicher Nötigung erfolgte oder aus einer Vielzahl persönlicher Entscheidungen im Westen. Hier wie dort war man überdies bereit, eine kritische Überprüfung der deutschen Polenhistoriographie gemeinsam mit Vertretern der polnischen Deutschlandhistoriographie zu unternehmen. Wie weit die Praxis der Revision und das Bedürfnis nach Kooperation in der Bundesrepublik gediehen war, wurde sichtbar, als 1972, nur zwei Jahre nach Abschluss des Warschauer Vertrages, die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission zu ihrer ersten Sitzung zusammentreten konnte. Die Erträge ihrer Arbeit fanden in beiden Ländern neben mancher Kritik überwiegend Zustimmung und waren so beträchtlich, dass 20 Jahre später nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in genau derselben Taktfolge allgemeinpolitische und wissenschaftspolitische Entscheidungen aufeinander folgen konnten: 1990/1991 der Abschluss der deutsch-polnischen Grenz- und Nachbarschaftsverträge, 1993 die Gründung des Deutschen Historischen Instituts in Warschau. Keine Frage, dass die Möglichkeiten wissenschaftlicher Kooperation sich damals deutlich erweitert haben. Aber das DHI stand in jeder Hinsicht auf Fundamenten, die von der Schulbuchkommission gelegt worden waren. Wenn wir in die 1990er Jahre hineinschauen, würden Sie da im deutsch-polnischen Kontext noch weitere Momente identifizieren, wo die ‚große‘ Politik Einfluss auf die Geschichtswissenschaft genommen hat, jenseits derer, die Sie schon genannt haben? Und haben umgekehrt Historikerinnen und Historiker sich berufen gefühlt, in die Politik hineinzuwirken? Welche Rolle spielte dabei die Geschichtswissenschaft als gesellschaftliche Leitwissenschaft in beiden Ländern? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in einem unserer Länder damals einzelne Historikerinnen oder Historiker in Person eine besonders hervorgehobene Rolle gespielt hätten. In Deutschland mag dies damit

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zusammenhängen, dass der Zusammenbruch des Kommunismus und eine Chance der Wiedervereinigung sich vollkommen überraschend vor uns aufgetan haben. In der Historikerschaft des Westens hatte wie bei den Menschen ringsum in beiden Fragen eine Stimmung der Resignation vorgeherrscht. Man erwartete bestenfalls Erleichterungen in der DDR und den Fortbestand der Entspannung zur Bundesrepublik. Der plötzliche Umschlag der Situation überließ alles Handeln der amtierenden Bonner Regierung, die davon bekanntlich höchst effektiv Gebrauch gemacht hat. Sie handelte längst, als die Historiker sich noch die Augen rieben und sich erst langsam anschickten, sich in der veränderten Welt zurechtzufinden. In Polen, so scheint mir, war für die Historie das Neue an der Situation, dass die Politik ihr völlig freie Hand ließ. Der Partei-Zugriff, der hier ohnehin weniger gedrückt hatte als in anderen kommunistischen Ländern, war ganz verschwunden. Die frei gewählten, schnell wechselnden Regierungen hatten dringlichere Sorgen als Geschichtspolitik. Und obwohl künftige Konflikte sich bereits abzeichneten, war doch Genugtuung über die lang ersehnte, gemeinsam erkämpfte Selbständigkeit noch immer die Grundstimmung im Lande, die von den Historikern geteilt wurde. Sie meldeten sich, wie andere Bürger auch, als Einzelne öffentlich zu Wort und nutzten mit Elan die neue Zugänglichkeit der zeitgeschichtlichen Archive. Als Sie 1993 nach Warschau kamen, war vieles für Sie sicher ja auch Neuland, trotz der schon existierenden Bekanntschaften. Hatten Sie damals das Gefühl, dass der persönliche Umgang miteinander in diesem Milieu der Historikerinnen und Historiker ein anderer als in Deutschland gewesen ist? Gab es andere Formen von Zusammenkünften? Ich bin nicht tief genug ins polnische Neuland eingedrungen, um mir ein Urteil zu erlauben. Was mir aber schnell, schon im Herbst 1993 bei einer Vorstellungsreise zu Universitäten und Archiven aufgefallen ist, sind die andersartigen Beziehungen zwischen den lokalen Institutionen. Wir haben wie die Polen eine Hauptstadt, aber es gibt bei uns keine Hauptstadt, auch keine Provinz der Historiker. In Berlin lehren mehr und weniger angesehene, einflussreichere und -ärmere Damen und Herren, aber die Mischung trifft man auch anderswo, mit wechselnden Übergewichten dieser oder jener Seite. Nach Warschau aber blickt man aus Poznań und Białystok hinauf, mit Hochachtung oder Neid, aus Spott oder Wut, doch immer in einer besonderen Gefühlsspannung. Empfindet und pflegt man in Polen auch stärker die Bindung an den Ort, die Identität der lokalen Institution? Ich hatte manchmal den Eindruck und könnte ihn mir damit erklären, dass, anders als in Deutschland, der wissenschaftliche

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Nachwuchs immer aus der eigenen Studentenschaft gezogen wird und innerhalb der einzelnen Institute eine langfristige Schulenbildung möglich wird, die der ständige Personalfluss zwischen unseren Universitäten eher hemmt. Gab es – neben schon erwähnten – weitere Persönlichkeiten, von denen Sie damals besonders beeindruckt waren? Und wie stand es um die Frauen? Aber ja, und nicht wenige. Ich beginne dann gleich bei den Frauen: Maria Bogucka, die Danzig-Spezialistin und Kennerin Altpolens, Anna WolffPowęska, damals Direktorin des Posener West-Instituts, oder Ruta Sakowska vom ŻIH21, die so viel für die Erschließung des Ringelblum-Archivs getan hat.22 Von den Warschauer Kollegen kannte ich vorher nur Jerzy Holzer, der dann eine wichtige Rolle im Beirat des DHI gespielt und mich vor allem als Zeithistoriker der Solidarność gefesselt hat.23 1992 bei einem Zusammentreffen in Lüneburg, als wir über die geplante Gründung des Instituts sprachen, hatte er mich skeptisch gefragt, welcher deutsche Historiker dort Direktor werden solle, keiner sei da, der es machen könne oder, wenn er könne, machen wolle. Ich war in der peinlichen Lage, ihm sagen zu müssen, dass ich mich beworben hatte. Er rettete die Situation, indem er, falls das Unmögliche einträte, mir doch Loyalität versprach. Ein Wort, das er gehalten hat. Unter den Historikern der Warschauer Universität hatte Schramm mir Zugang zu Antoni Mączak24 vermittelt. Später kam die Bekanntschaft mit Henryk Samsonowicz25 hinzu. Im Doktoranden-Kolloquium, das die beiden abhielten, habe ich spannende Sitzungen erlebt. Häufige Debatten, nicht nur über seinen „Deutschen Michel“, verbanden mich mit Tomasz Szarota26 vom Historischen Institut der PAN27. 21

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Żydowski Instytut Historyczny (Jüdisches Historisches Institut) in Warschau, 1947 gegründet knüpfte es an die Tätigkeit des Instytut Nauk Judaistycznych (Institut für Judaistische Studien) der Zwischenkriegszeit an. Vgl. Żbikowski, Andrzej: Żydowski Instytut Historyczny. 70 lat badań nad dziejami polskich Żydów. Warszawa 2018. Maria Bogucka (1929-2020); Anna Wolff-Powęska (*1941); Ruta Sakowska (1922-2011); Emanuel Ringelblum (1900-1944). Jerzy Holzer (1930-2015). Antoni Mączak (1928-2003). Henryk Samsonowicz (*1930). Tomasz Szarota (*1940) – ders.: Der deutsche Michel. Die Geschichte eines nationalen Symbols und Autostereotyps. Osnabrück 1998 (poln. Original: Niemiecki Michel. Dzieje narodowego symbolu i stereotypum. Warszawa 1988). Das Instytut Historii Polskiej Akademii Nauk (Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften) entstand 1953 in Warschau unter der Leitung Tadeusz Manteuffels (1902-1970) als integraler Bestandteil der neuen, kommunistisch indoktrinierten Polnischen Akademie der Wissenschaften. Heute verfügt das Institut über Zweigstellen in Danzig/Gdańsk, Krakau/Kraków, Posen/Poznań und Thorn/Toruń.

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Viel lag mir an der Zusammenarbeit mit dem ŻIH und dem freundschaftlichen Verhältnis zu Feliks Tych28, seinem Direktor. Nahegekommen ist mir auch Jerzy Axer29, der Warschauer Altphilologe, der damals bereits die große Schriften-Edition des Danziger Humanisten Johannes Dantiscus in Angriff genommen hatte. Merklich erweiterte sich der schon mitgebrachte Thorner Bekanntenkreis. Ich nenne nur Marian Biskup, dessen gemeinsam mit Gerard Labuda verfasste Geschichte des Deutschen Ordens einer der ersten Titel unserer Übersetzungsreihe „Clio in Polen“ geworden ist;30 Jacek Staszewski31, eine starke Stütze bei unserer internationalen Konferenz über Personalunionen des 18. Jahrhunderts; und Bogusław Dybaś32, dessen paläographische Kenntnisse des frühneuzeitlichen Niederdeutsch ich zu bewundern lernte, als er die Textvorlage der späteren Martin Gruneweg-Publikation33 des DHI zu transkribieren begann. Haben Sie denn während Ihrer Zeit in Warschau festgestellt, dass es verschiedene Eigenlogiken jener Milieus und somit vielleicht auch eine unterschiedliche Wissenschaftskultur in Deutschland und Polen gab? Auffallend im wissenschaftlichen wie geselligen Austausch mit polnischen Kollegen und Kolleginnen, und nicht allein mit ihnen, war für mich natürlich die andere Temperatur der nationalen Identitätsgefühle. Sie lag hier unvergleichlich höher, als einem Nachkriegsdeutschen aus der Bundesrepublik vertraut war. Ich war zwar vorbereitet auf die Differenz, doch immer wieder betroffen von ihrer Stärke. In mir saß, in uns sitzt der Schrecken über unsere jüngste Vergangenheit, die Skepsis gegenüber unseren Traditionen, der entschiedene Wunsch auf eine veränderte Nation. Deutschtum? Das Wort ist lexikalisch genaues Pendant zu polskość (‚Polonizität‘), hat aber einen radikal anderen Klang. Was auf Deutsch in Verruf gekommen ist (oder wenigstens in den 1990er Jahren noch war), ist auf Polnisch ein Ehrenwort, ein Aufruf zur Solidarität, der heftigste Gegensätze, die auch die polnische Gesellschaft teilen, zurücktreten lässt hinter Gemeinsamkeiten, denen sich alle verpflichtet 28 29 30 31 32 33

Feliks Tych (1929-2015). Jerzy Axer (*1946) – ders./Skolimowska, Anna: Corpus Epistularum Ioannis Dantisci. Warsaw/Cracow 2004-2016. Marian Biskup (1922-2012); Gerard Labuda (1916-2010) – dies. (Hg.): Die Geschichte des Deutschen Ordens in Preußen: Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Ideologie. Osnabrück 2000. Jacek Staszewski (1933-2013). Bogusław Dybaś (*1958). Bues, Almut (Hg.): Die Aufzeichnungen des Dominikaners Martin Gruneweg (1562-ca. 1618) über seine Familie in Danzig, seine Handelsreisen in Osteuropa und sein Klosterleben in Polen, 4 Bde. Wiesbaden 2008.

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fühlen. In beiden Fällen sind wir Erben unserer Vorgeschichten, einer, die in einem Unmaß von Untaten gestrandet, einer anderen, die durch ein Unmaß von Opfern gegangen ist. Kein Wunder, dass mir damals in wissenschaftlichen Debatten wie im privaten Umgang immer wieder die Differenz der nationalen Prägungen begegnet ist. Aber es war auch die Signatur und das Glück dieser Jahre, dass kaum jemand darin einen Grund sah, Umgang und Debatten abzubrechen. Würden Sie sagen, dass eine solche Unterschiedlichkeit der Gefühlslagen sich eventuell auch auf das Funktionieren der wissenschaftlichen Milieus auswirkte? Und wie haben Sie vor diesem Hintergrund die damaligen Arbeitsbedingungen in Polen empfunden? Denn man kann die Existenz des DHIs ja auch so verstehen, dass es mit dazu beitragen sollte, deutschen Historikerinnen und Historikern den Zugang zu erleichtern. Zur ersten Frage: Zweimal in meinen fünf Warschauer Jahren habe ich wohl Spuren davon zu spüren bekommen, jedes Mal in gleicher Situation. Ich war mit der Leitung einer Institution auf Tag und Uhrzeit verabredet und verließ nach Stunden vergeblichen Wartens auf Einlass oder eine Erklärung das Vorzimmer. Vermutlich hing der Affront immer mit den Örtlichkeiten zusammen, an denen er spielte; sie lagen beide im ehemals deutschen Osten. Es handelte sich aber um krasse Ausnahmefälle. Sonst haben das DHI, seine Mitarbeiter und ich persönlich im ganzen Land, auch im Westen, offene Türen und ausgestreckte Hände gefunden. Die Bereitschaft, uns zu helfen, mit uns zu kooperieren, ging so weit, dass wir ihr nicht genügen konnten. Wir waren damals Nutznießer einer Art von Deutschlandeuphorie. Eigentlich beantwortet dies schon Ihre zweite Frage. Das DHI war unter anderem gedacht als Serviceeinrichtung für beide Seiten und hat dem Auftrag von Anfang an zu dienen gesucht – für deutsche Studierende etwa mit Stipendien, Praktikantenstellen oder gemeinsamen Seminaren mit polnischen Studierenden, für deutsche Forschende etwa mit der Vermittlung von Kontakten zu polnischen Fachleuten oder Archiven. Für die polnische Seite war angesichts der wirtschaftlichen Entbehrungen in sozialistischer Zeit die Bibliothek des DHI von besonderem Interesse. Ältere und neue Literatur aus der Bundesrepublik hatten die historischen Institute im Lande wenig anschaffen können. Der Bibliotheksetat des DHI war von Bonn großzügig bemessen und erlaubte unserem Bibliotheksleiter Bömelburg34 einen schnellen Ausbau der Bestände. Sie sind von polnischen Gästen sofort rege genutzt worden. 34

Hans-Jürgen Bömelburg (*1961).

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In wie ärmlichen Verhältnissen die Wissenschaft manchenorts damals arbeiten musste, ist mir schon bei meiner Vorstellungsreise durchs Land klargeworden. Als ich in Łódź im Historischen Institut mich mit einem Kollegen unterhielt, sagte er mir mit dem Unterton der Verzweiflung: „Wir sind in Asien und werden nie daraus entkommen“. Zum Glück hatte er Unrecht. Hatten sie das Gefühl, dass sich in den 1990er Jahren vielleicht auch neue Schieflagen zwischen deutschen und polnischen Historikerinnen und Historikern entwickelt haben? Und erinnern Sie sich an Publikationen aus dieser Zeit, die auf Sie großen Einfluss hatten? Ihre Frage erinnert mich an die bedauerlichen Handicaps meiner fünf Warschauer Jahre. Ich hatte erzählt, dass ich das Land ohne hinreichende Sprachkenntnisse betreten habe und mit keinem Teil seiner Geschichte als forschender Historiker vertraut geworden war. Aufs Polnischlernen habe ich dann viel Mühe verwandt, mit Erfolg beim Lesen, weniger im Sprechen. In der Geschichtskenntnis aber bin ich über die Grenzen eines versierten Laien erst nach der Rückkehr nach Deutschland hinausgekommen. Was hieß, ich war inner – wie außerhalb des DHI ständig umgeben von Leuten, die sich besser, oft sehr viel besser in polnischer Geschichte auskannten als ich. Im Institut kam hinzu, dass ich der Älteste war. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter, fast alle deutlich jünger, hatten die Stelle nur bekommen können, weil sie ihre Dissertation bereits über ein Spezialgebiet der polnischen Geschichte geschrieben hatten und sich nun schon in ein anderes, wieder polnisches Thema einarbeiteten. Außerhalb des Instituts traf ich auf eine ähnliche Situation beim wissenschaftlichen Nachwuchs unseres Gastlandes. Und der stand an Qualifikation natürlich noch einmal zurück hinter seinen Lehrern, den vielen Professoren. Wollte ich da weder verzweifeln noch hochstapeln, blieb mir nur eines übrig: Ich musste mich bescheiden, zuzuhören, zu fragen und allenfalls bei der Erhellung eines Sachverhalts mit meinen Fragen zu helfen. Denn die überall gleichen Arsenalien der Geschichtswissenschaft waren mir ja geläufig, ich hatte sie lang genug an meinen russischen Themen geübt. Wieweit meine polnischen Gegenüber diese schlichte Taktik durchschaut, sie belächelt oder mir gutgeschrieben haben, hat mir niemand verraten. Ich selbst aber habe dabei unentwegt dazugelernt. Beim Lernen durch Zuhören und den vielen Amtsgeschäften, die damit einhergingen, blieb mir freilich, wie schon in Lüneburg, zum Lesen und zum Vergleich des Gelesenen wenig Zeit. Meine Kenntnis der polnischen Historiographie vor 1989 und in den Jahren danach reicht deshalb nicht aus, dass ich Ihre Frage nach Veränderungen, womöglich auch der Entstehung „neuer

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Schieflagen“ zwischen deutschen und polnischen Historikern beantworten könnte. Deutlich ist mir heute nur, dass ich, verführt von der Hochstimmung der 1990er Jahre, den Grad der Annäherung, das Maß der Übereinstimmung, die damals erreicht schienen, überschätzt habe. Der alte Widerpart unserer Verständigung, die Stellung zur Nation, bedroht unter völlig veränderten Umständen in neuer Gestalt unsere Beziehungen. Ich kann nur hoffen, dass auf politischer wie auf wissenschaftlicher Ebene, zwischen Institutionen wie zwischen Personen in den vergangenen Jahrzehnten Verklammerungen entstanden sind, die sich nicht wieder lösen lassen. Wenn wir an die Methoden und Konzepte, die damals en vogue waren, denken: Würden Sie sagen, da gab es auch methodische Transfers in die eine oder andere Richtung? Und gab es eventuell auch bereits in den 1990er Jahren Ansätze, die über diesen nationalen, binationalen, beziehungsgeschichtlichen Rahmen hinausgingen? In zwei Forschungsbereichen, die damals in der Bundesrepublik erst schrittweise, in Polen noch kaum erschlossen wurden, hat das DHI einen Versuch unternommen: in der Gendergeschichte und in historischer Komparatistik. Schauplatz waren zwei Konferenzen, die eine mit Themen der Frauenforschung, die andere über die Personalunionen zwischen Polen und Sachsen und zwischen England und Hannover.35 Hier kamen Historiker und Historikerinnen zweier deutscher Länder und dreier europäischer Nationen zusammen und machten die Erfahrung, wie ungewohnt, anstrengend und ergiebig der gemeinsame Versuch sein konnte, über Dinge zu sprechen, von denen alle vorher nur Teilstücke gekannt hatten. Auf der Genderkonferenz machten die Angehörigen unseres Institutes zum ersten Mal die Erfahrung, nicht dass sie Frauen und Männer waren, aber weil sie es waren, Mühe hatten, sich miteinander über den Verlauf der Tagung zu verständigen; auch dies ein Beweis, dass der Versuch sich gelohnt hat.

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Kemlein, Sophia (Hg.): Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848-1918. Osnabrück 2000; Rexheuser, Rex (Hg.): Die Personalunionen von Sachsen-Polen 16971763 und Hannover-England 1714-837. Ein Vergleich. Beiträge einer Konferenz polnischer, britischer und deutscher Historiker in Dresden vom 20. bis zum 22. November 1997. Wiesbaden 2005.

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Kommen wir noch einmal auf Robert Trabas Laudatio zurück, in der er unter anderem sagte: „Professor Rexheuser war und ist ein Meister des Wortes, der Inspiration und der freundschaftlichen Atmosphäre. Ich erinnere mich nicht daran, jemals im Leben so viel Zeit mit Gesprächen verbracht zu haben, die Sinn stifteten und die Forschungsperspektive so sehr vertieften.“36 Da muss natürlich die Frage gestellt werden: Wie viel Glück hatten Sie auch mit den Leuten, mit denen Sie in Warschau zusammengearbeitet haben, mit dem Team? Dass Sie alle loben, liegt natürlich an Ihnen. Aber es ist ja auch wichtig, mit wem man in dieser Zeit, in sehr schwierigen Zeiten zusammenarbeitet. Wie würden Sie das im Nachhinein einschätzen? Es war ein Glücksfall sondergleichen. Ich hatte nur mit Menschen zu tun, denen Polen, seine Sprache, seine Geschichte wichtig waren, die ein Sensorium dafür mitbrachten und den Aufbau des DHI mit gleicher Leidenschaft betrieben wie ihre eigenen Forschungen. In der Vorbereitungsphase hatte ich darauf gedrängt, dass nicht nur deutsche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in dem Institut zusammensaßen. Hinzukommen sollte, was ursprünglich nicht vorgesehen war, mindestens ein native speaker des Landes. So ist Robert Traba ziemlich von Anfang an in unserer Mitte gewesen und hat ausnahmslos an allem teilgenommen, was wir unternommen haben. Dass Wissenschaft ein soziales Ereignis ist, habe ich damals mit einer Intensität erfahren wie niemals zuvor und niemals wieder. Ich betrachte diese Jahre als die lebendigsten und ergiebigsten meines Berufslebens. Zum Abschluss schlagen wir noch einmal den Bogen zum Anfang des Gespräches, wo Sie ja Ihre Prognosefähigkeiten in Frage gestellt hatten. Nichtsdestoweniger haben Sie sich zum Beispiel 1994 ganz optimistisch gezeigt, dass die deutschpolnische Zusammenarbeit in der Geschichtswissenschaft eine günstige Entwicklung erfahren würde.37 Und darum müssen wir Sie jetzt trotz allem fragen: Wie wird nach Ihrer Prognose die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen? Wie soll ich das ahnen! Gewiss könnte ich die zuversichtliche Aussage von damals heute nicht wiederholen, schon allein deshalb nicht, weil der 36 37

Traba, Laudatio. Rexheuser, Rex: Perspektiven deutsch-polnische Zusammenarbeit in der Geschichtswissenschaft, in: Weczerka Hugo (Hg.): Aspekte der Zusammenarbeit in der Ostmitteleuropa-Forschung. Tagung des Herder-Instituts und des J.-G.-HerderForschungsrates am 22./23. Februar 1994. Marburg 1996, S. 7-16.

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politischen Euphorie jener Jahre ein Alltag mühsam zu bewältigender Friktionen zwischen unseren Ländern gefolgt ist. Das seit langem gewachsene Geflecht institutioneller und insbesondere persönlicher Beziehungen innerhalb der Geschichtswissenschaft wird so leicht nicht wieder zerreißen können. Wir haben die Pflicht und sicher eine Chance, es zu erhalten.

Abb. 18.1

Böhme am Meer, Gdańsk-Jelitkowo, 1997. Foto: privat.

Miloš Řezník (*1970) wurde in Rychnov nad Kněžnou geboren und studierte Geschichte an der Karls-Universität Prag, wo er auch 1999 promoviert wurde. 2007 erfolgte seine Habilitation an der Universität Olmütz. 1995-96 war er im tschechischen Außenministerium, dann an den Universitäten Prag und Liberec und dem GWZO Leipzig tätig. Seit 2009 ist er Professor für Europäische Regionalgeschichte an der Universität Chemnitz, seit 2014 Direktor des DHI Warschau.

„Da war die Rückkehr nach Tschechien dann immer wieder etwas entspannter“ Miloš Řezník Vielleicht etwas provokant gefragt: Wie sind Sie eigentlich als Tscheche und als Historiker darauf gekommen, sich gleich mit zwei großen und nicht unproblematischen Nachbarn zu beschäftigen? Naja, die Frage ist provokant, weil auch die Geschichte ein bisschen provokant war. Zunächst würde ich sagen, Tschechien – ähnlich wie die meisten Länder – hat historisch gesehen eigentlich keine unproblematischen Nachbarn. Aber vielleicht sind diese zwei die problematischsten in dem traditionellen Narrativ. Es war auch ein bisschen ‚subversiv‘ von mir, sich mit polnischer Geschichte zu beschäftigen. Ich habe in der ersten Hälfte der 1990er Jahre studiert. Die Prager Universität war damals – und ist es heute noch mehr – in Tschechien die einzige, die in großem Umfang auch die allgemeine Geschichte behandelt, und diese in der Lehre auch an anderen Materialien und Quellen als rein tschechischen erläutert. Aber wir hatten damals zwei Hauptprobleme als Studenten: Ein Teil der Dozenten konzentrierte sich auf die allgemeine Geschichte als traditionelle Weltgeschichte, eben nicht als Globalgeschichte, sondern als Weltgeschichte im Verständnis des tiefen 20. Jahrhunderts, das heißt das war eine additive Reihung von Ländergeschichten. Und zweitens beschäftigte man sich nur mit der Geschichte einer kleinen Gruppe von Ländern. In der allgemeinen Geschichte/Weltgeschichte hatten wir deutsche Geschichte, französische, englische, etwas weniger Italien, Spanien war dabei, und Russland, und das war es. Und alles andere tauchte ab und zu auf, wenn ein Beispiel aus dem Osmanischen Reich vorkam, aber wir hatten ganz wenig Balkan, ungarische Geschichte, polnische, skandinavische, ganz zu schweigen von außereuropäischer Geschichte  … die lag damals ganz weit außerhalb meines Horizonts. Irgendwann hielt ich dann ein Referat in einem Seminar zur polnischen Geschichte. Ich las mich ein wenig ein und dachte, ach das ist ja interessant. Das waren so traditionelle Darstellungen der polnischen Geschichte – da gab es Hetmane1, mir hat das gefallen, und 1 Oberste Heerführer der frühneuzeitlichen polnischen und litauischen Truppen, wobei die Entstehung des Amtes historisch stark umstritten ist. Vgl. Gawron, Przemysław: Hetman koronny w systemie ustrojowym Rzeczypospolitej w latach 1581-1646. Warszawa 2010.

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ich fand das interessant, war es doch etwas anderes als das, was alle gemacht haben – so ein bisschen Befindlichkeit, ein bisschen Romantik. Und so bin ich dazu gekommen. Also teilweise war es Zufall. Gerade den Sommer, bevor ich zu studieren begann, hatte ich in Polen verbracht. Das war mein erster längerer Aufenthalt in Polen, in Lublin, gleich nach dem Abitur, und da habe ich erfahren, dass es so etwas wie die Lubliner Union2 gab, wovon dann auch, glaube ich, mein Referat handelte. Es war also – wie vielleicht häufiger – ein Zusammenspiel von Umständen, von Zufällen. Ich könnte jetzt keine biographischen, ideologischen oder sonstigen, klassischen oder gar rationellen Gründe nennen. Mit der deutschen Geschichte habe ich mich eigentlich nicht so richtig beschäftigt. Das kam dann über die polnische und die böhmische Geschichte, wobei ich mich auch nie als Tschechien-Historiker verstanden habe. Erst aus Deutschland begann ich später viel mehr tschechische Geschichte zu machen als früher. Mit einem Initiationsmoment ist es also auch da schwierig, es war ein Prozess. 1989 war ja für Sie ganz persönlich eh ein biographischer Einschnitt, da Sie da Ihr Abitur gemacht haben. Aber auch sonst: Hat sich 1989 eigentlich etwas Entscheidendes verändert bzw. würden Sie eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen? Damals bin ich im Herbst 19 geworden, im Juni hatte ich Abitur gemacht. Im September begann ich mit dem Studium der Geschichte und der Ethnographie, wie man das damals noch an der Prager Uni nannte. Ich war also gerade Erstsemester und zwei Monate an der Uni, als die Wende in der Tschechoslowakei kam. Und ich glaube schon ein Mitglied dieser ‚Generation 89‘ zu sein. Es war für mich und meine Umgebung ein generationsprägendes Erlebnis in mehrfacher Hinsicht, nicht nur politisch oder gesellschaftlich. Ich kam ja fast aus der Provinz, sodass es für mich auch der Weg nach Prag war, da bin ich erst Prager geworden. Das war ein Einschnitt, weil man in Prag viele Sachen anders mitbekommen hat. Ich kann mich daran erinnern, dass im September 1989 all die Trabis in den Straßen standen. Das war die Fluchtwelle aus der DDR über die Botschaft und das war für mich der erste Moment, wo ich gemerkt habe, da stimmt etwas nicht mit dem Sozialismus. Es ist interessant: Das Gefühl brachte ich nicht aus Polen anderthalb Monate früher mit, wo ich ja alles gesehen 2 Die 1569 geschlossene Realunion zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen. Vgl. Frost, Robert: The Oxford History of Poland-Lithuania. Vol 1: The Making of the Polish-Lithuanian Union, 1385-1569. Oxford 2015, S. 36-46.

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hatte. Dort war es ja auch schon nach der Wahl, die ich live miterlebt habe. Auch war es der erste Schock der Deregulierung, also ein schwieriger Sommer in Polen. Aber das hat mich nicht wirklich dazu gebracht, dass ich ernsthaft gedacht hätte, da stimmt was nicht, da geht vielleicht etwas zu Ende. Erst als die Ostdeutschen in Prag waren, in der Botschaft, da habe ich gedacht: „Nanu, da ist was los!“ Es wird mir immer mehr bewusst, dass mich vielleicht diese Identität ‚Generation  89‘ zunehmend prägt. Man kommt ja mittlerweile in ein Alter, wo die neue Generation schon nachwächst und sie hat – wie es halt immer so ist – zu unseren Werten des Jahres 1989 eine reservierte Einstellung. Sie schätzen es nicht richtig und wir beobachten in verschiedenen Ländern vielleicht dasselbe. Von dem Ethos des Jahres 1989 scheint nicht mehr so viel übriggeblieben. Dazu kommt noch, dass ich aus einer Familie kam, die relativ regimekonform war, eine typische tschechoslowakische Familie, bei der man zuhause über das Regime und die Umstände schimpfte, aber auch nur dort im Privaten. Vielleicht hat mich auch diese doppelte Moral aus den 1980er Jahren irgendwie geprägt. Diese typische Situation, in der ich sozialisiert worden war zwischen der Normalisierung der 1970er Jahre und der Wende, dieses Spezifikum der 1980er Jahre ließ dann 1989 in jeder Hinsicht für mich zu einem Durchbruch werden, nicht nur politisch. Für mich hat sich eine andere Welt geöffnet! Dazu kam das rein Biographische mit dem Studium. Wir konnten nach der Wende sofort, also nach dem ersten Semester, unsere Studiengänge ‚umbasteln‘: Ich habe damals leider – eine dumme Entscheidung – die Ethnographie gestrichen und mich entschieden, nur Geschichte zu studieren. Sie haben ja als Historiker im tschechischen Außenministerium Mitte der 1990er Jahre gewissermaßen direkten politischen Einfluss nehmen können. Wie wirkte damals aus Ihrer Sicht die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften in Tschechien, Deutschland und in Polen ein? Und vielleicht auch umgekehrt, wie die Historikerinnen und Historiker auf die Politik? Das, was prägend war für Tschechien, Polen, aber doch vor allem für Tschechien, war gleich nach 1990 so ein Ethos einer angeblich ununterbrochenen Kontinuität der tschechischen Geschichtswissenschaft. Das erste, worauf man schaute, war nicht die westliche Geisteswissenschaft, nicht die deutsche, nicht die amerikanische oder französische. Natürlich hat man das beobachtet, aber an allererster Stelle wurde die tschechische Geschichtswissenschaft aus der Zwischenkriegszeit als Ideal gesehen. Für uns beginnende Studenten und

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unsere Dozenten, damals 1989 und auch in der Folge, waren solche Namen wie Šusta3 oder Pekař4 die objektiven Historiker und es gab dieses Ethos der objektiven Geschichtswissenschaft, die jetzt die Geschichte beschreiben kann und darf, wie sie war. Und das lief parallel zu diesem Narrativ der Bereinigung der Geschichte von den Lügen. Man hat es in einem Paket gesehen, dass durch die Rückkehr zu den Traditionen die Objektivität der Geschichtswissenschaft gesichert sei. Natürlich gab es auch bei uns an der Uni viele Historiker, die das viel reflektierter gesehen haben. Es waren aber 1990 meist nicht diejenigen, die an der Uni federführend waren. Bei uns Studenten war das vorerst auch nicht viel anders. Das kann man heute kritisieren, aber ich glaube, es dauerte nicht allzu lange, bis wirklich die ersten Reflexionen darüber einsetzten, dass das nicht ausreicht, oder dass es historisch sehr gut begründete, situative Kurzschlüsse waren darüber, wie sich die Geschichtswissenschaft entwickelt hat. Ich erinnere mich da an kunsthistorische Tagungen, bei denen es alle vehement unterstützt haben, wenn gesagt wurde: „Nur freie Kunst ist eine echte Kunst!“ Und das bezog man dann auch auf die Geschichtswissenschaft. Aber diese problematischen Aspekte brachten, glaube ich, langfristig auch etwas Positives mit sich und zwar, dass die Geschichtswissenschaft in Tschechien und in Polen das ‚Ethos‘ der Unabhängigkeit von der Politik gepflegt hat und dass bis heute die Geschichtswissenschaft in ihrer Gestaltung, nicht nur darin, wie man die Themen bearbeitet und interpretiert, sondern auch welche Schwerpunkte man überhaupt setzt, relativ unabhängig geblieben ist – relativ natürlich im komparativen Sinne. Und dort, wo man nicht unabhängig war, gab es ein Bewusstsein darüber, dass das ein Problem ist, und die Bereitschaft sich situativ zu wehren, zumindest verbal, war und ist recht hoch. Das ist also ein zentrales Thema an der Schnittstelle zwischen Geschichtswissenschaft, Wissenstransfer und öffentlicher Geschichtspolitik. Ein weiterer Punkt, in dem sich die Berührung der Politik mit der Geschichte, der Geschichtswissenschaft spiegelte, war an einer völlig anderen Stelle: Und zwar bei der Finanzierung! Das Hauptthema der ersten Hälfte der 1990er Jahre war: Wie soll die Geschichtswissenschaft funktionieren, wenn sie kein Geld hat?! Wenn die größten Universitäten nicht einmal die wichtigsten Zeitschriften besaßen – sogar diejenigen nicht, die vor der Wende aus dem Westen bezogen werden durften? Wie sollte man Schritt halten mit der internationalen Geschichtswissenschaft, wenn die Institute kein ausreichendes Geld für die Ausstattung hatten? Wenn Stellen gestrichen wurden, die Institute wegrationalisiert wurden zwecks Einsparung von Geldern? In diesem Sinne 3 Josef Šusta (1874-1945). 4 Josef Pekař (1870-1937).

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war der Anfang der 1990er Jahre keine allzu gute Zeit. Man hat die Lage durchaus mehr und mehr hoffnungslos gesehen, aber das hat sich dann ganz langsam geändert. In Polen war es dahingehend anders, weil die polnische Geschichtswissenschaft rund um die Wende in einer völlig anderen Lage war. Bereits in den 1980er Jahren war die Offenheit viel höher, man konnte in Polen viele Bücher sogar in polnischer Übersetzung lesen. Ich kann mich erinnern, dass wir damals solche klassischen Sachen wie die Annales5, die französischen Autoren, in den 1980er, aber auch noch in den 1990er Jahren alle auf Polnisch gelesen haben. Seit den 1970er Jahren war das alles übersetzt worden und man konnte es entweder in Polen kaufen oder über das Polnische Kulturzentrum in Prag bekommen. In der polnischen Geisteswissenschaft gab es auch viele, die das mitgetragen haben, diese Internationalisierung in verschiedene Richtungen. Daher war der Anschluss an die internationale Geisteswissenschaft in Polen dann viel schneller möglich, weil er vor der Wende schon teilweise vorhanden war. Wenn man sich zum Beispiel bis in die 1990er Jahre hinein anschaut, wer die Stipendiaten des Herder-Instituts6 in Marburg waren: Da sehen Sie lauter Polen, kaum Tschechen oder Slowaken, die sind nicht dabei. Erst in den 1990er Jahren merkte man tatsächlich die Größe dieses Unterschieds. Gab es bestimmte Einzelpersönlichkeiten, die besonders wichtig für Sie waren, als Sie angefangen haben, sich mit Polen wissenschaftlich zu beschäftigen? Es ist eigentlich interessant, dass ich erst über das Thema auch Kontakte zu polnischen Historikern bekommen habe. Ich muss sagen, die tschechischen Historiker der polnischen Geschichte, von denen ich etwas gelesen habe, haben mich nicht besonders angesprochen. Gleichzeitig hat mich nie die Geschichte der tschechisch-polnischen Beziehungen sonderlich interessiert. Die Geschichte Polens war in der tschechischen Geschichtswissenschaft immer 5 Gegründet 1929 von Marc Bloch (1886-1944) und Lucien Febvre (1878-1956) unter dem Namen „Annales d’histoire économique et sociale“, erschien die Zeitschrift nach mehreren vorherigen Modifikationen des Titels zwischen 1946 und 1993 als „Annales. Économies, Sociétés, Civilisations (Annales ESC)“, seit 1994 trägt die Zeitschrift den Titel „Annales. Histoire, Sciences sociales (Annales HSS)“. Zum erheblichen Einfluss der Annales-Schule auf Teile der Historiker*innen in der Volksrepublik Polen, auch gefördert durch die französische Kulturaußenpolitik vgl. Pleskot, Patryk: Intelektualni sąsiedzi. Kontakty historyków polskich ze środowiskiem ‚Annales’ 1945-1989. Warszawa 2010. 6 Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft und trägt seit 2012 seinen heutigen Namen. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53980.html (02.06.2015).

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sehr stark geprägt von dieser Beziehungsgeschichte. Die polnische Geschichte wurde häufig über die Folie der böhmischen oder der tschechischen Geschichte geschrieben, die Folie der Kontakte. Und dazu kam noch, dass diese klassische Schule der tschechischen historischen Polonistik in den 1990ern verschwand. Die polnische Geschichte als solche endete, weil das Institut für Osteuropäische Geschichte der Akademie aufgelöst und mit dem Historischen Institut vereinigt wurde. Und diese klassischen tschechischen Polen-Historiker, die gingen in Rente oder starben; und sowieso waren die mehr in Brno als in Prag. Ich habe nichtsdestotrotz in Seminaren meine Sachen gelesen, meine Referate, meine Seminararbeiten gemacht. Da gab es Dozenten, die keine Polen-Spezialisten waren, die mich dabei unterstützt haben, vor allem Miroslav Hroch7. Er führte mich dazu über die Schiene der Komparatistik, des historischen Vergleichs, was ja seine Domäne in den 1990er Jahren war. Aber es gab auch andere, die in ihren Perspektiven, in ihren Kursen, ihren Monographien und Forschungen die polnische Geschichte berücksichtigt haben, zumindest komparativ. Die kürzlich verstorbene Nachfolgerin von Hroch, Luďa Klusáková8 zum Beispiel, die war sehr prägend. Mein erster bedeutender Kontakt zu einem Polen-Historiker wurde dann auch von Hroch vermittelt. Aber das war kein Pole, das war Michael Müller9. Der kam 1995 zu einer Tagung nach Prag.10 Uns ist vor kurzem erst bewusst geworden, dass wir jetzt ‚silberne Bekanntschaft‘ feiern können, wir kennen uns seit 25 Jahren. Damals kam ich auch zu meinem Promotionsthema, über das Königliche Preußen im 18. Jahrhundert, und so entwickelten sich die ersten Kontakte nach Polen.11 Michael Müller war ein Spezialist für das Königliche Preußen. Bei einer anderen Prager Tagung ungefähr zur gleichen Zeit12 war auch Jerzy Topolski13, den ich dann mehrmals in Poznań besucht habe, bevor er starb. Er war für mich insoweit interessant unter den polnischen Historikern, weil wir ihn schon seit den 1980er Jahren wahrgenommen haben als einen der wenigen, die marxistische Zugänge innovativ in die internationale Debatte einbringen konnten, wie es auch Hroch tat. In Polen würde man 7 8 9 10 11 12 13

Miroslav Hroch (*1932). Luďa Klusáková (1950-2020). Michael G. Müller (*1950). Die Tagung „Patriotismus in der Spätphase des alten Reiches“ fand im Mai 1995 in Řež bei Prag statt. Řezník, Miloš: Pomoří mezi Polskem a Pruskem. Patriotismus a identity v Královských Prusech v době dělení Polska. Praha 2001. Die Tagung „Criteria and indicators of backwardness“ fand im Dezember 1994 an der Karls-Universität Prag statt. Jerzy Topolski (1928-1998).

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natürlich noch weitere finden, und auch in der Sowjetunion. Seit 1995 kam ich dann auch regelmäßig in die Archive nach Danzig und Toruń und habe dort Kontakte geknüpft, zum Beispiel mit Edmund Cieślak14 in Danzig und Jacek Staszewski15 in Toruń, der für mich jahrelang der wichtigste polnische Kontakt bleiben sollte. Gab es damals auch Frauen? Ouh. Unter den Kontakten? Wenig, wenig. Ich habe junge Frauen kennengelernt, würde ich sagen, also nicht in den hohen Positionen in den akademischen Strukturen. Da müsste ich jetzt lange, lange nachdenken. Bei Topolski habe ich Ewa Domańska16 kennengelernt, direkt 1995. Forscherinnen hat man natürlich kennengelernt, wenn man mit ihnen gelegentlich gesprochen hat, weil man sie als Autorinnen wichtiger Arbeiten kannte, es waren aber keine kontinuierlichen, langfristigen Kontakte, nur gelegentliche, punktuelle. Zu ihnen gehörte zum Beispiel auch Magdalena Niedzielska17, die über den preußischen Liberalismus forschte. Haben Sie denn irgendwelche Unterschiede im persönlichen Umgang miteinander wahrgenommen in Polen, auch vielleicht in Deutschland später, im Vergleich zu dem, was Sie aus Tschechien kannten, oder war es ähnlich, weil es ja Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren? Und wie haben Sie die praktische Arbeit des Historikers empfunden? Das war ähnlich, aber natürlich hat man verschiedene Nuancen gesehen. Für mich war es zum Beispiel lange Zeit, bevor ich regelmäßig nach Deutschland kam, unvorstellbar, dass man Professoren einfach als ‚Herr‘ anredet, also ohne Titel, das geht halt nicht, weder in Polen noch in Tschechien und schon gar nicht in Österreich. In dieser Hinsicht war das tschechische System wesentlich hierarchischer als in Deutschland, aber wiederum weniger hierarchisch, zumindest was die Symbolhierarchien betrifft, als in Polen oder in Österreich. Da war die Rückkehr nach Tschechien dann immer wieder etwas entspannter. Aber ich habe schon in Polen beobachtet, dass diese symbolischen Hierarchien – ich konnte nicht beurteilen, inwieweit sich das ins Herrschaftliche, in die Strukturen an den Unis überträgt – sehr stark waren, was aber 14 15 16 17

Edmund Cieślak (1922-2007). Jacek Staszewski (1933-2013). Ewa Domańska (*1963). Magdalena Niedzielska (*1958).

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keineswegs verbunden war mit irgendeinem unfreundlichen Umgang miteinander. Höflichkeit und Entgegengekommen gehörte auch in Polen dazu. Das erste jedoch, was ich bemerkt habe, war natürlich die Tatsache, dass der Name Hroch die Türen öffnet. Vielleicht nicht aus hierarchischen Gründen, sondern weil er mit einigen jahrzehntelang bereits Kontakte hatte. Bevor ich mich nach Danzig begeben habe, hat er einfach ein Schreiben an Edmund Cieślak geschickt, weil sie sich aus den 1950er oder 60er Jahren kannten, als Hroch zur Hanse forschte. Und darauf konnte man sich auch nach 30 Jahren noch berufen. Das waren die ersten Eindrücke. Noch stärker als an der Uni funktionierte der Status in Archiven und Bibliotheken. Wenn man irgendwo in die Czytelnia Pracowników Naukowych18 wollte, da wurde man wirklich richtig geprüft und man musste irgendwelche Bestätigungen haben. Auch im Archiv musste mir ein Professor bestätigen, dass ich da wirklich forschen sollte. Ich war damals 25/26 Jahre alt und sah noch jünger aus. Diese Neigung, mich da nicht rein zu lassen, war schon sehr oft sichtbar. Es war immer das Erste, wonach ich gefragt wurde im Archiv: ob ich irgendein Schreiben hätte. Wie würden Sie denn – noch einmal zugespitzt – für die 1990er Jahre die Intensität und den Charakter der deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen im Vergleich zu den tschechisch-deutschen und den tschechisch-polnischen einschätzen? In diesem ‚Dreieck‘ waren die deutsch-polnischen eindeutig die intensivsten Kontakte, war es die intensivste Zusammenarbeit, und zwar deswegen, weil sie nicht themengebunden war. Wie ich schon gesagt habe, hatte das ja eine lange Tradition. Es gab gewissermaßen eine Kontinuität und man musste nicht erst etwas aufbauen. Michael Müller sagte einmal viel später, dass sie versucht hätten, gegenüber den deutschen Institutionen mit dem Beispiel Deutschland-Frankreich zu argumentieren, als man versuchte in den 1990er Jahren die deutsch-polnischen Forschungsstrukturen aufzubauen. Als sie dann geschaut haben, was es alles auf deutsch-französischer und was es auf deutsch-polnischer Ebene gibt, hat das nicht funktioniert. Er hat erzählt: „Wir haben zu unserer großen Überraschung festgestellt, dass es schon damals mehr deutsch-polnische Strukturen gab als deutsch-französische.“ Im tschechisch-deutschen Bereich gab es da viel weniger. Was man in den 1990er Jahren aufgebaut hat, war sehr stark orientiert an der deutschtschechischen Beziehungsgeschichte, mit dem dominanten Thema der 1990er Jahre: Vertreibung. Manchmal wurde dann spöttisch gesagt, das sei keine 18

Dt. Wissenschaftlicher Lesesaal.

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deutsch-tschechische Zusammenarbeit, kein deutsch-tschechischer Diskurs, sondern ein sudetendeutsch-tschechischer Diskurs. Damals setzte auch die letzte der drei Phasen des Generationswechsels in Deutschland ein, was die Forschung über die ehemaligen deutschen Gebiete im Osten, das Sudetenland und andere anbetrifft. Auf diesem Gebiet waren also die ganzen 1990er Jahre die Suche nach einem Weg zu einer normalen Zusammenarbeit, gerade auch für andere Themen. Als einen Meilenstein würde ich die Gründung der Deutsch-Tschechoslowakischen Historikerkommission19 betrachten, die sich eben mit den Problemen der deutsch-tschechischen Geschichte in der Tschechoslowakei und in den böhmischen Ländern beschäftigte. Aber in ihrem Statut20 war davon keine Rede. Es ist interessant, wenn man sich das Gründungsdokument anschaut, da wird nur von gegenseitigem Verständnis und der Übersetzung der Geschichte von beiden Ländern gesprochen, damit diese im jeweils anderen Land und dessen Forschungslandschaft verständlicher und bekannter wird. Da steht wenig von Aufarbeitung oder Verständigung, schon gar nichts von Vertreibung oder den Sudetendeutschen. Daran konnte man dann später anknüpfen, als dieses Thema nicht mehr so dominiert hat. Wenn man sich die 1990er Jahre anschaut, dann war da das Narrativ der tragischen Geschichte, und das wurde auch von den Historikern bedient. Man hat die deutschtschechische Beziehungsgeschichte über die Folie einer besonderen Tragik und Trauma erzählt. Und was die tschechisch-polnische Seite anbetrifft: da gab es fast nichts, jedenfalls nur ganz wenig. Die Zusammenarbeit war geschrumpft, allein wenn man sich den Bücher- oder Zeitschriftenaustausch anschaut, gab es da einen Kollaps in den 1990er Jahren. Und mit dem Ableben der tschechischen historischen Polonistik kam wirklich eine Krise. Man kann sagen, dass in den 1990er Jahren die polnische Geschichte nicht attraktiv für die jungen Historiker war. Ich war damals so etwas wie ein Einzelgänger. Das war schon schlimm. Heute ist das völlig anders. Es gab Kontakte und Zusammenarbeit eben im Umfeld der Beziehungsgeschichte, in Breslau oder Katowice. Es gab damals immer noch die Schwierigkeit des Themas ‚Teschen‘. Dazu wurde geforscht und es hat auch damals noch manche persönliche Feindschaften verursacht zwischen polnischen und tschechischen Kollegen, aber es gab 19 20

1990 gegründet, seit 1993 dann getrennt in eine Deutsch-Tschechische und eine DeutschSlowakische Historikerkommission, weiterhin aber eng zusammenarbeitend. Vgl. Die Deutsch-Tschechische und Deutsch-Slowakische Historikerkommission 1990-2015, hg. von der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission. München 2015.

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auch Zusammenarbeit natürlich. Es entstand schon in den 1990er Jahren eine Arbeitsgruppe zur Geschichte des Glatzer Landes,21 zwischen Breslau und Königgrätz und lokalen Akteuren. Aber das sind solche Themen, die mit der gemeinsamen Geschichte oder Beziehungsgeschichte zu tun hatten. Die Idee einer trilateralen schlesischen Geschichte, die kam aus Deutschland und ist am stärksten in der deutschen Geschichtswissenschaft vertreten gewesen, und dann erst später in der tschechischen und polnischen Geschichtswissenschaft angekommen. Die tschechisch-polnischen Kontakte waren also nicht wirklich lebhaft. Es entsprach aber damals insgesamt der gegenseitigen polnischtschechischen Wahrnehmung im kulturellen und gesellschaftlichen Bereich. Gerade auf der tschechischen Seite, mehr als auf der polnischen, herrschte großes Desinteresse. Aber man muss auch sagen, dass das einen Kontrast zur politischen Entwicklung darstellte, weil spätestens ab Mitte der 1990er Jahre man in Warschau und Prag ganz stark auf diese bilaterale Zusammenarbeit gesetzt hat. Gab es denn nichtsdestoweniger Ihrem Eindruck nach bereits so etwas wie transnationalen methodischen Austausch? Wurden Fragestellungen und Ansätze weiterverfolgt, die über den nationalen, bilateralen Rahmen hinausgingen? Zwar weniger intensiv als heute, aber ja, auch schon Mitte der 1990 Jahre würden sie solche finden lassen. Was ich in meinem Umfeld beobachten konnte, das waren die internationalen Debatten über Ungleichzeitigkeiten und Ungleichheiten der Geschichte, der historischen Entwicklung, vor allem in der Frühen Neuzeit. Teilweise war es eine Wiederaufnahme der Debatte über die Krise des 17. Jahrhunderts, aber nun auch im Kontext der Diskussion über die Moderne, in der das 19. Jahrhundert eine Hauptrolle spielte. Und da war auch der tschechisch-polnisch-deutsche Austausch im Rahmen einer internationalen Debatte nicht unwichtig. Er betraf aber letztlich nur einzelne Institutionen und einzelne Kollegen. Ähnlich war es mit der Diskussion über (spät-)frühneuzeitlichen Patriotismus in Mitteleuropa, wo neben einer tschechisch-deutschen Zusammenarbeit auch Historiker – Historikerinnen kaum – aus anderen Ländern involviert waren, von Slowenien bis nach Polen, die Slowakei, Ungarn, Österreich. Aus letzterem waren doch auch einige Historikerinnen dabei. Und wenn man sich genauer die Mediävistik anschauen würde – da bin ich aber kein Spezialist–, da vielleicht würde man noch mehr sehen. 21

Die Glatzer Historikerkommission (Kladská komise historiků) bzw. Kommission zur Erforschung des Glatzer Landes (Komisja do spraw Badań Ziemi Kłodzkiej) wurde im Herbst 1993 in Königgrätz/Hradec Králové gegründet.

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Sie haben sich ja immer auch mit Regionalgeschichte beschäftigt. Hat das allgemein damals auch schon eine Rolle gespielt? Beim schlesischen Beispiel oder dem Glatzer Land gibt es natürlich schon eine direkte Verbindung zur Nationalhistoriographie. Nein, das kann man nicht sagen. In Tschechien gab es keine Systematik der Regionalgeschichte, obwohl man seit den 1950er Jahren an der Uni in Olmütz versucht hat – aber das war bis heute das einzige Beispiel – eine Arbeitsstelle zur Regionalgeschichte zu gründen und zu etablieren, die nicht verstanden wurde als Geschichte der eigenen Region, sondern als allgemeine Subdisziplin.22 Aber dabei ist es auch geblieben und die Akteure, die seit den 1950er/60er Jahren dabei waren, die waren auch noch 2008 die federführenden dort. In den Regionen, in denen ich mich in Polen bewegte, war das schon eine interessante Umbruchzeit, was ich bei meinen Kontakten beobachten konnte. Gerade bei solchen Regionen wie Schlesien – mit dem ich mich nie beschäftigt habe –, aber auch da oben im Ermland, im ehemaligen Westpreußen, also im Wybrzeże, Weichselland, Pomorze Wschodnie, da konnte man eine Entwicklung beobachten hin zu einer Regionalgeschichte der Gebiete und zu irgendetwas, was man polnische Landesgeschichte des Pommernlandes und Pommerellens und Schlesiens nennen könnte. Das war jetzt nicht frei von den Themen der Polonität und der Rolle in der polnischen Geschichte und des polnischen Charakters und so weiter. Aber diese Perspektiven waren nicht mehr dominant. In diesem Sinne hat sich seit den 1980er Jahren, würde ich sagen, die Geschichte da im Norden und auch in Schlesien von dem Polonitätsschwerpunkt weitgehend entfernt und die Regionen anders erforscht. Dazu kamen noch Bewegungen an der Grenze zwischen Wissenschaft, Kultur und Politik sogar, Lokal- und Regionalpolitik, die eine völlig neue Stoßrichtung hatten. Wir waren schon beeindruckt von dieser „Borussia“23Gruppe und dem ganzen Umfeld da in Olsztyn. Und dann haben in den 1990er Jahren lokale und regionale Politiker in Zusammenarbeit mit Kulturschaffenden und teilweise auch mit Kulturinstitutionen und Forschenden das 22 23

Kabinet regionálních dějin Filozofické Fakulty Univerzity Palackého v Olomouci. Wspólnota Kulturowa Borussia (Kulturgemeinschaft Borussia), gegründet 1990 in Allenstein/Olsztyn. Verein und Verlag, der sich in der masurisch-ermländischen Regionalgeschichte und Kultur engagiert, u.a. mit wissenschaftlichen und denkmalschützerischen Aktivitäten sowie in der Jugendarbeit. Der Verein hat zwischen 1991-2017 die gleichnamige Zeitschrift „Borussia“ herausgegeben. Vgl. auch Chromiec, Elżbieta: Dialog międzykulturowy w działalności polskich organizacji pozarządowych okresu transformacji systemowej. Wrocław 2011, S. 109-111, 117-130, 145-153.

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Thema der Multikulturalität entdeckt und eingesetzt in ihrem Marketing – in ihrer lokalen, regionalen Identitätsbildung nach innen, aber auch in der Imagebildung nach außen bis hin zum touristischen Marketing. Vielleicht war Danzig das erste große Beispiel, wo man sich schon in der ersten Hälfte der 1990er diese Losung ausgedacht hat: ‚Miasto Hanzy i Solidarności‘, also ‚Hanse- und Solidarność-Stadt‘. Das war genial, denn mit dieser Losung hat man internationale, transnationale, transregionale Geschichte mit lokaler Bedeutung verbinden können. Das eigentlich nationalgeschichtliche Thema Solidarność24 war international wohlbekannt. Wer damals diese Idee gehabt hat, hatte eine gute Idee. Bald tauchte das auch in Breslau, und natürlich in Krakau auf, im ganzen ehemaligen Galizien. Wenn man sich heute die große, nicht nur polnischsprachige, Literatur zum Thema ‚Danziger Identität‘ anschaut, ist das schon beeindruckend. Ich kenne keine Stadt – zumindest in Zentraleuropa –, wo man sich seit 25 Jahren so stark, so intensiv in der Politik, in der Geschichtswissenschaft, in der Kultur mit der Identität der eigenen Stadt beschäftigt hätte. Welche Publikationen hatten damals in den 1990er Jahren Einfluss auf Sie? Und was davon empfinden Sie eventuell heute noch als wichtig? Naja, man hat, soweit man konnte und soweit man dazu kam, Publikationen, Texte gelesen, die die damalige Entwicklung der Geschichtswissenschaft, des historischen Diskurses beeinflusst haben, das Denken über historische Methoden, Methodologie und Interpretationen. Sowohl in der ‚eigensprachigen‘ Geschichtswissenschaft, die doch ihre spezifischen Probleme oder Themen hatte, als auch international. Wir begannen gleich 1990 mit Fukuyama.25 Wir waren, glaube ich, im zweiten Semester, als das erschien. Es wurde auch sofort ins Tschechische übersetzt, sehr schnell, zunächst nur ein Artikel und dann das ganze Buch irgendwann. Das hat uns intensiv beschäftigt. Wir haben damals die ersten Projekte der Europäischen Geschichte gelesen, 24

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Zwischen August 1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999. Francis Fukuyama (*1952) – ders.: The End of History?, in: The National Interest (1989) 16, S. 3-18. (tschech. Übersetzung: Konec dějin, in: 150000 slov 9.25 (1990), 167-179); ders.: The End of History and the Last Man. New York 1992 (tschech. Übersetzung: Konec dějin a poslední člověk. Praha 2002).

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auch das französische Lehrbuch für Europäische Geschichte – die „Histoire de l‘Europe“ von 1992, von Frédéric Delouche26 koordiniert. Vieles wurde natürlich auch mit großer Verspätung entdeckt. Erst gegen Mitte der 1990er ereignete sich ja der Durchbruch der Spätmoderne und der Dekonstruktion, was sich in großen Debatten widerspiegelte. In der tschechischen Geschichtswissenschaft war das vorerst nicht einflussreich. Und die erste Rezeption war manchmal eher kindlich oder naiv, aber trotzdem sehr wichtig. Wir haben auch die „Geschichte des Wahnsinns“ von Foucault gelesen, das war das erste von dieser Literatur, das auf Tschechisch erschienen ist.27 Das hat mich aber nicht besonders stark geprägt. Man hat das zur Kenntnis genommen, aber ich gehörte nicht zu denjenigen, die das alles mit großer Begeisterung aufgenommen hätten. Aber man muss auch sagen, dass wir erst in den 1990er Jahren ernsthaft die Werke der Historischen Sozialwissenschaft der 1970er Jahre gelesen haben und ganz angetan davon waren. Was meine Forschungsthemen betrifft, da waren das ganz konkrete Arbeiten, während ich meine Dissertation geschrieben habe, die auch damals erst oder kurz zuvor erschienen sind. Und ich sage das jetzt nicht aus Höflichkeit und nicht wegen des Adressaten, aber für mich war natürlich Bömelburgs „Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen“ sehr wichtig, das für mich grundlegend war.28 Ich habe das Buch von ihm bei meinem ersten Besuch am DHI29, noch im PKiN30 bekommen. Das muss gleich 1996 gewesen sein, da hat Staszewski gesagt: „Sie müssen Bömelburg kennenlernen!“ Er hat mich ins 26 27

28 29

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Frédéric Delouche (*1938) – ders. (Hg.): Histoire de l’Europe. Paris 1992 (dt. Übersetzung: Europäisches Geschichtsbuch. Stuttgart 1992). Michel Foucault (1926-1984) – ders.: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main 1969 ( frz. Original: Folie et Déraison. Histoire de la folie à l’âge classique. Paris 1961; tschech. Übersetzung: Dějiny šílenství v době osvícenství. Praha 1994). Hans-Jürgen Bömelburg (*1961) – ders.: Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756-1806). München 1995. Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Pałac Kultury i Nauki (Kultur- und Wissenschaftspalast). Stalinistisches Bauwerk im Herzen Warschaus, bis 2002 Sitz des DHI vor dem Umzug in das Karnicki-Palais. Vgl. Murawski, Michał: The Palace Complex. A Stalinist Skyscraper, Capitalist Warsaw, and a City Transfixed. Bloomington (Ind.) 2019.

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Auto gesetzt und ist mit mir aus Toruń nach Warschau gefahren. Bömelburg gab mir dort nach großem Zögern das Buch, weil er meinte, das sei jetzt sein letztes Exemplar. Aus derselben Zeit erinnere ich mich an Jörg Hackmanns „Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht“.31 Das war für uns damals ein neues Format, das aufzeigte, wie man die Geschichte eines Landes darstellen konnte, indem man die Historiographien beschreibt und analysiert. Das war etwas, was uns auch für Böhmen, für das Sudetenland und für andere Regionen vorschwebte. Heute klingt das alles ein bisschen banal, wenn ich das erzähle, aber damals war das für uns eine Entdeckung. Das war aber schon in einem Moment, wo man über diese Phase vom Anfang der 1990er Jahre ein wenig hinweg war, also von dieser naiven Vorstellung einer objektiven Geschichtswissenschaft. Zeitgleich damit begann der Einfluss der Dekonstruktion. Ich und meine Kommilitonen waren damals gerade nach dem Magister-Abschluss und wir begannen uns sehr stark für die Geschichtswissenschaft und ihre Methodologie und vor allem für die Geschichte der Geschichtswissenschaft zu interessieren. Das war spannend für uns. Wir sagten ein paar Jahre lang zugespitzt, aber wir meinten das auch ernst: „Die Geschichte an sich ist nicht interessant. Viel interessanter ist das, was die Geschichtswissenschaft und die Geschichtsschreibung im Allgemeinen oder die Kultur damit gemacht haben.“ Und was mich damals auch noch beeinflusst hat – heute nicht mehr so –, was ich immer machen wollte, das war die literarische und historische Semiologie. Richtig dazu gekommen bin ich eigentlich nie. Wir hatten einen Dozenten, der dazu ein bisschen gelehrt hat in Prag und wir haben alles Mögliche dazu gelesen. In Polen war das stark, nicht historische, aber die literaturwissenschaftliche Semiotik. Die war auf einem sehr guten intellektuellen, theoretischen Niveau. Zuerst haben wir alles von Umberto Eco32 gelesen, und das auf Polnisch! Die meisten Sachen kamen schneller auf Polnisch heraus, auch die kleineren, also die literarischen Essays wie „Lector in Fabula“33, „Sześć przechadzek po lesie fikcji“,34 und anderes. 31 32 33

34

Jörg Hackmann (*1962) – ders.: Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem. Wiesbaden 1996. Umberto Eco (1932-2016). Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München 1987 (ital. Original: Lector in fabula. La cooperazione interpretativa nei testi narrativi. Milano 1979; poln. Übersetzung: Lector in fabula. Współdziałanie w interpretacji tekstów narracyjnych. Warszawa 1994). Ders.: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. München 1994 (ital. Original: Sei passeggiate nei boschi narrativi. Harvard University, Norton Lectures, 19921993. Milano 1994; poln. Übersetzung: Sześć przechadzek po lesie fikcji. Kraków 1995).

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Was für mich damals in den 1990er Jahren auch ein Vorbild war, bzw. wo wir dachten, das müsste man in der tschechischen Geschichtswissenschaft auch irgendwie einführen, das war die polnische historische Essayistik, gerade weil sie von namhaften akademischen Historikern geschrieben wurde wie Janusz Tazbir oder Henryk Samsonowicz.35 Wie würden Sie denn Ihre eigenen Forschungen in diesen Kontext einordnen? Haben Sie das damals als einen Beitrag zu einer Regionalgeschichte verstanden oder als Beitrag zur Geschichte der Frühen Neuzeit? Ich habe das jetzt nicht als Regionalgeschichte verstanden. Ich hätte mich dagegen nicht gewehrt, dass es auch Regionalgeschichte ist, aber es war für mich nicht wichtig. Auch als Beitrag zur Frühen Neuzeit habe ich es nicht gesehen, und schon gar nicht in einem deutsch-polnischen Kontext. Das ist nicht so selbstverständlich, weil ich damit sehr häufig konfrontiert wurde, manchmal in Deutschland, aber noch viel mehr in Polen. Ich weiß nicht, wie viele Male ich den Hinweis gehört habe: „Sie müssen dazu auch die polnische Forschung berücksichtigen.“ Dabei habe die ich mehr gelesen als die deutsche, zumindest in der Anfangsphase. Aber viele Kollegen in Polen hatten nicht den Eindruck, dass in meiner Darstellung die polnische Sichtweise sehr präsent ist. Aber das hat dann irgendwann langsam aufgehört. Aber um die Frage nun einmal positiv zu beantworten: Für mich war das ein Teil einer Forschung zu vornationalen kollektiven Identitäten bzw. zu vornationalem Landespatriotismus. In den 1990er Jahren – vielleicht auch schon seit den 1980ern – war das eine neue Phase, wo man sich vor dem Hintergrund der Forschung zur Nationsbildung und der Nationalismus-Forschungen immer stärker zu fragen begann: Wenn die Nation als Produkt der Moderne im 19. Jahrhundert entsteht, was waren dann vorher die Zugehörigkeiten, Loyalitäten, Identitäten, auf denen der Nationalismus im Sinne der nationalen Bewegungen aufbaute? Also: Was waren die vornationalen Formen der gesellschaftlichen Gruppenzugehörigkeit und woran knüpft im Sinne dieser Kontinuität das Nationale an, was nimmt es sich aus den älteren, historischen Substraten? Diese Prägung hatte wiederum auch viel mit meiner eigenen Affiliation zu tun: Ich war im Seminar bei Hroch, Hroch war mein Doktorvater und ich war dann auch Mitarbeiter an seiner Professur. Anderseits könnte man mein Dissertationsprojekt auch im Kontext eines internationalen Projekts zum Patriotismus am Ende des Heiligen Römischen 35

Janusz Tazbir (1927-2016); Henryk Samsonowicz (*1930).

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Reiches einordnen.36 Das war ein VW-gefördertes Projekt, das von Miroslav Hroch und Otto Dann37 gemeinsam koordiniert wurde. Es ging da um Grenzregionen des Heiligen Römischen Reiches in den letzten Jahrzehnten seiner Existenz und kurz danach und um Regionen, die an des Alte Reich grenzten. Da waren zum Beispiel Forschungen zu Slowenien dabei. Aus diesem Projekt wurden meine Forschungsreisen bezahlt, und ich würde meine Forschung zum Königlichen Preußen, zu Danzig und Toruń auch in diesem thematischen Kontext verorten. Sie haben mal vor ein paar Jahren – auch in einem Interview – zum Thema ‚Transregionale Studien‘ hervorgehoben, dass für die Zukunft „die Tatsache, dass über die Definition der zentralen Kategorien Region und Regionalität absolut kein Konsens besteht, […] nicht zum Verhängnis, sondern zu einem perspektivischen Vorteil“ wird.38 Dieses Potential des permanenten Streitens über zentrale, teils gehypte, aber oft unklare Kategorien, würden Sie das jetzt auch übertragen auf die Geschichtswissenschaften an sich? Wenn Sie sich die Zukunft der geschichtswissenschaftlichen Landschaft in Deutschland, Tschechien, Polen und Europa im Jahr 2030 vorstellen, wie wird sie aussehen? Vermutlich ähnlich wie heute, weil es nicht so weit hin ist. Man müsste noch weiter in die Zukunft denken. Meine Worte aus dem Interview sind natürlich etwas aus dem Kontext gerissen, daher muss ich kurz erläutern, wie ich das meine. Man redet sehr viel über regionale und transregionale Geschichte, aber man weiß nicht, was die Region ist. Man kann das auch nicht wissen, denn ‚Region‘ kann alles sein. Ich vertrete hier die Position einer funktionalen Einschränkung, die es sinnvoll macht, von Region als Region zu sprechen und sie nicht einfach nur als Synonym von Raum oder Gebiet zu verwenden: Die Region ist ein funktionaler Teil von einem größeren Zusammenhang. Das bedeutet, eine Region kann eine funktional untergeordnete Einheit für andere Einheiten sein, die wiederum Regionen heißen können und so weiter. In welchem funktionalen Zusammenhang ist/wird das eine Region und in welchem nicht (mehr)? Das wäre jetzt eine längere Debatte. Ich sage dann jedenfalls, das ist das absolute Minimum, der kleinste gemeinsame Nenner einer Regionsdefinition. Mehr wissen wir nicht. Aber gerade diese umstrittenen, offenen Begriffe 36 37 38

Dann, Otto/Hroch, Miroslav/Koll, Johannes (Hg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches. Köln 2003. Otto Dann (1937-2014). „All Things Transregional?“ in conversation with … Miloš Řezník, in: TRAFO – Blog for Transregional Research, 26.01.2016, https://trafo.hypotheses.org/3444 (03.07.2020).

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machen es möglich, eine produktive Reaktion darauf zu finden. Wir müssen diese flüssigen Begriffe zu einem methodischen Vorteil für uns machen, weil wir bei Kategorien, wo wir selbst nicht richtig wissen oder nicht einig sind, was das am Ende ist, da können wir diese Frage an die historischen Akteure selbst stellen. Was war für wen, warum und wann eine Region und warum war das wichtig oder eben nicht? Daher glaube ich, dass begriffliche Unschärfe an sich kein Hindernis ist, sondern Innovationen bringen kann, durch die Debatten, durch den Streit. Wir können auch heute keine eindeutige Definition geben von solchen Kategorien wie ‚Kultur‘ oder ‚Identität‘, nicht einmal ‚Gemeinschaft‘ oder ‚Gesellschaft‘, aber trotzdem forschen wir dazu und lassen uns davon inspirieren, gelegentlich stören sie natürlich auch. Ich sehe da keine Hürde, die die Geschichtswissenschaft oder andere Wissenschaften lahmlegen sollte. Man sollte Zweifel nicht als Hemmungen verstehen, zumal ich glaube, dass begriffliche Missverständnisse manchmal sehr produktiv sind. Und da komme ich noch einmal zu meinem akademischen Lehrer Miroslav Hroch. Überall wird diese Phase A, B & C der Nationalbewegungen zitiert. Er ist darüber unglücklich geworden, weil es für ihn nicht das Wichtigste war, sondern nur ein empirisches und methodisches Hilfsmittel, damit man die Bewegungen vergleichen kann. Was ich noch interessanter finde: In einer überwiegenden Zahl der Fälle, wo das zitiert wird und darauf verwiesen wird, in der Literatur, bei Diskussionen bei Tagungen, bei Referaten, wird das völlig falsch verstanden. Es ist entweder auf eine oberflächliche Lektüre oder eine Lektüre vor vielen Jahrzehnten oder auf andere Missverständnisse zurückzuführen. Aber es ist auch egal, weil man durch diese missverständliche Heranziehung des 3-Phasen-Modells doch zu sehr interessanten Beobachtungen, Interpretationen und Erkenntnissen kommt. Das ist also mein Glaube an die Produktivität der konzeptuellen und begrifflichen Missverständnisse. Und der letzte Punkt dazu: Womit mich die deutsche wissenschaftliche Kultur sehr beeinflusst hat in den 1990er Jahren – ich habe das bewundert –, das war dieser Sinn für begriffliche Schärfe und für die Ausarbeitung der Begriffe immer im einleitenden Teil von allen Qualifikationsschriften. Das haben wir in den 1990 Jahren für etwas gehalten, was man auch endlich machen muss, sich klarzuwerden über die Begrifflichkeiten. Heute sehe ich das teilweise auch noch so, aber teilweise auch nicht unkritisch, weil man sich der Potentiale beraubt. Während der Corona-Krise habe ich mich endlich einmal eingelesen in die fundamentalen Texte des wissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts und da habe ich gestaunt, wie viele Grundsätze des reinsten Positivismus in unsere spätmoderne Wissenschaftskultur, so wie ein Palimpsest, da durchgewachsen sind in unsere tägliche Arbeit. Und dazu gehört auch dieser feste Glauben, eine Wissenschaft könne nur dann Fortschritt machen, wenn

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man Begriffe geschliffen und eindeutig definiert, und wenn man sich über die Begriffe und Konzepte einigt. Nur dann kann die Wissenschaft die Welt beschreiben. Das scheint mir ein Residuum des Positivismus auch in der heutigen Geschichtswissenschaft zu sein. Letztlich befürchte und hoffe ich zugleich, dass sich in den nächsten zehn Jahren nicht so viel ändert. Einige Entwicklungen sehe ich nämlich mit Sorge. Einerseits werden wir bis dahin bestimmt einiges im methodischen, konzeptuellen Bereich erleben, einiges werden die übliche Blasen sein, die nicht viel Neues bringen, einiges wird sehr neu sein und vielleicht auch prägend für lange Zeit. Die Frage ist, ob wir 2030 schon wissen, was das ist? Manchmal kommt dieses Wissen mit Verspätung. Aber vielleicht merken wir eben in diesem Jahrzehnt etwas, was wir aus der bisherigen Entwicklung bis dato nicht richtig gewürdigt oder beachtet haben. Da warte ich mit Spannung und wage jetzt keine Prognosen. Was ich mit ein bisschen Sorge beobachte, liegt eher auf der Ebene, wie Geschichtswissenschaft als Betrieb funktioniert. Das ist für niemanden neu und wir beobachten das täglich an Universitäten und außeruniversitären Einrichtungen: wir haben mit dem systemischen Effekt zu tun, dass die Leute immer weniger das machen, wozu sie genuin da sind. Die Institutionen beschäftigen sich immer mehr mit sich selbst. Und das sind Ressourcen, die quasi in die wissenschaftliche Forschung fließen, aber letztlich anderswo landen. Mir scheint, dass wir uns international – in Deutschland vielleicht mehr als in den östlichen Nachbarstaaten, aber das ist nur eine chronologisch ungleiche Entwicklung – langsam an eine Grenze bewegen, wo wir sehen müssen, ob die Geschichtswissenschaft noch wirklich frei forschen kann. Nicht weil sie politisch unterdrückt wäre, sondern weil sie unter dem systemischen Zwang leidet, ihre Ressourcen für bestimmte Zwecke zu verwenden und nicht für die Forschung. Ein Beispiel dafür wäre die politische Definition von gesellschaftlich relevanten Themen, die dann gefördert werden oder nicht gefördert werden. Das ist auch ein internationales Phänomen. Ich behaupte, dass das mittlerweile schon auch die wissenschaftliche Forschung praktisch einschränkt. Wenn sie sich heute auf eine Professur bewerben wollen, dann müssen sie manchmal mehr als die Ergebnisse ihrer Forschung die gesammelten Drittmittel vorweisen. Das ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte. Und an die Drittmittel kommen sie statistisch gesehen leichter, wenn sie Themen machen, die als gesellschaftlich relevant angesehen werden und deswegen mehr gefördert werden als die anderen. Da habe ich manchmal den Eindruck, als würde sich schleichend – systemisch, nicht politisch – das verbreiten, was wir in den 1980er Jahren im Spätsozialismus erlebt haben. Das war in der Wissenschaft keine harte Diktatur, das war das ständige Aushandeln

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von Freiräumen und Möglichkeiten. Ich weiß nicht, wohin das weiter führen wird. Das zweite ist natürlich, wie sich die Rolle der Geschichtswissenschaft und der Geschichte im kulturellen, sozialen, politischen, öffentlichen Kontext verändert. Das bietet vielleicht auch viele Chancen für eine neue Relevanz der Geschichtswissenschaft, aber es birgt auch viele, viele große Fragezeichen, viele Risiken. Es bleibt abzuwarten. Interessant für mich zu beobachten ist – auch transnational in Polen, in Tschechien, in Deutschland und in anderen Ländern –, dass es ein durchaus neues Verständnis bei einem Teil der jungen Generation von Historikerinnen und Historikern gibt, wo ganz wenig übrig ist von unserem Ethos vom Anfang der 1990er Jahre, also diese naive Objektivität, dieser Anspruch weitgehend apolitisch zu sein. Heute haben viele junge Historikerinnen und Historikern auch kein Problem damit zu sagen: „Ja, meine Geschichtswissenschaft oder Forschung ist politisch, es ist politische Arbeit, ist politisches Engagement, und das will ich auch nicht mehr trennen.“ Ob das wirklich repräsentativ ist oder nicht, da bin ich nicht sicher. Den offen ausgesprochenen Satz „Geschichtswissenschaft muss gesellschaftlich und politisch engagiert sein“ habe ich übrigens schon vor etwa 15 Jahren von jungen Historikern in Tschechien gehört. Da spielen verschiedene Zusammenhänge mit hinein: die politische Lage im Land, aber auch die politische Orientierung, die Radikalisierung, zu der auch natürlich eine biographische Ebene kommt, und die Tatsache, dass die Perspektiven von jungen Leuten, die diese Studienfächer absolviert haben, nicht gerade rosig sind. Das ist für mich alles nachvollziehbar. Aber wohin das führt? Ich bin gespannt.

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Zuhause in der ul. Długa, Wrocław, in der 2. Hälfte der 1990er Jahre. Foto: privat.

Krzysztof Ruchniewicz (*1967) ist in Wrocław/Breslau geboren. Er ist Historiker, Deutschlandforscher, Titularprofessor an der Universität Wrocław, Direktor und Lehrstuhlinhaber für Zeitgeschichte des WBZ der Universität Wrocław. Seine Forschungsschwerpunkte sind Geschichte Deutschlands und der deutsch-polnischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Geschichte der europäischen Integration, Fragen der Geschichtskultur und -politik, Public History und Visual History, Geschichte der Polen in Deutschland und Internationale Schulbuchforschung. In der Freizeit ist er engagierter Blogger, leidenschaftlicher Fotograf und passionierter Podcaster.

„Als braver Pole muss man einfach mitsingen“ Krzysztof Ruchniewicz 3. Oktober 1990. Ein polnischer Historiker steht auf dem Bonner Marktplatz und feiert die deutsche Wiedervereinigung. Eine vielleicht etwas ungewöhnliche Situation. Wie kam es dazu und wie war Ihre Stimmung damals in diesem Moment? Ich habe mit den Deutschen mitgesungen. Das klingt komisch! Es war ein Zufall, dass ich damals in Bonn war. Durch Vermittlung hatte ich ein Stipendium bekommen. Ich weiß es nicht mehr genau, es war aber wahrscheinlich ein DAAD1-Stipendium. Auf jeden Fall gab es eine Zusammenarbeit zwischen unserer Universität, der Universität Wrocław, und der Friedrich-WilhelmsUniversität in Bonn. Besonders intensiv war diese Zusammenarbeit zwischen den Lehrstühlen von Hans-Adolf Jacobsen und Karol Jonca.2 Die beiden waren befreundet und Jonca fragte mich eines Tages, ob ich nicht nach Bonn fahren möchte. Er hätte ein, zwei Monate angeboten bekommen, finde jetzt aber keinen Interessierten, der dort hinfahren könnte. Ich habe damals gleich zugesagt. Dazu muss ich sagen, dass ich auch zufällig bei dem Fall der Berliner Mauer dabei war. Das war auch eine Geschichte, die mich sehr geprägt, sehr beeindruckt hat. Aber vielleicht kommen wir darauf später zurück. Auf jeden Fall bekam ich dieses Stipendium und konnte auch kurz im Archiv des Auswärtigen Amtes arbeiten. Kurz deshalb, weil ich keine Genehmigung bekommen habe. Ich wusste auch nicht, dass man überhaupt irgendwelche Genehmigungen organisieren musste. Ich bin einfach hingegangen, habe meinen Pass abgegeben und habe dann im Lesesaal Platz genommen und die Akten für meine Dissertation bestellt. Die habe ich sogar bekommen. Da war ich total überrascht. Ich habe zwar von meinen Kollegen gelesen (Gelles3 und anderen), dass sie große Probleme gehabt haben. Ich habe gedacht: Ok, vielleicht ist das die neue Zeit, die Öffnung und so weiter. Aber dann kam Frau Keipert auf mich zu, eine leitende Mitarbeiterin des Archivs damals, und

1 Deutscher Akademischer Austauschdienst, 1925 gegründet. Vgl. Alter, Peter (Hg.): Der DAAD in der Zeit. Geschichte, Gegenwart und zukünftige Aufgaben – vierzehn Essays. Berlin 2000. 2 Hans-Adolf Jacobsen (1925-2016); Karol Jonca (1930-2008). 3 Romuald Gelles (*1941).

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fragte mich, ob ich die Genehmigung habe, um überhaupt diese Materialien einzusehen. Und dann stellte sich heraus, dass ich so etwas nicht hatte, und ich musste den Saal verlassen. Damit war der wissenschaftliche Teil meines Aufenthalts in Bonn vorbei. Deswegen habe ich mich riesig gefreut, dass ich auf einmal an diesem wichtigen Datum in Bonn mitfeiern durfte, auf dem Platz mit anderen Deutschen. Das fand ich ganz nett. Es war irgendwie ein Abschluss eines kurzen Weges, den ich beschritten habe. Ich war 1986 während meines Studiums in der DDR gewesen, und zwar habe ich in Tribsees – das ist ein Ort bei Rostock – in einer LPG gearbeitet. Wir haben damals ziemlich lange geschuftet in dieser LPG, zwölf bis 18 Stunden am Tag, und wir haben wirklich sehr viel Geld verdient, aber wir konnten dieses Geld nicht so richtig ausgeben. Deswegen haben wir, ein Kommilitone und ich, unseren Leiter damals überredet, dass wir für zwei bis drei Tage nach Berlin fahren durften. Und noch heute staune ich, dass ich damals die Grenze nicht so richtig wahrgenommen habe, ich habe es einfach hingenommen: „Es war immer so, nicht anders“. Wir sind sogar auf den Fernsehturm gegangen und haben auf die West-Berliner Seite geschaut, aber irgendwie war das für uns alles selbstverständlich. Ich staune immer wieder, wie die Schule uns geprägt hat: Es gibt zwei Staaten, die DDR und die Bundesrepublik, die sind getrennt, das war immer so, und das war also auch meine Wahrnehmung. Dann kam 1989 und das war wieder etwas Anderes. Im Juni hatte ich in Breslau an einer Konferenz teilgenommen, die sich mit dem Thema des deutschen Widerstandes beschäftigt hat. Es ging um den Kreisauer Kreis, um Helmuth James von Moltke4 und so weiter. Und dort lernte ich viele Deutsche kennen aus Ost und West, auch DDR-Oppositionelle wie Ludwig Mehlhorn5 und andere. Ich stand kurz vor dem Abschluss meiner Magisterarbeit und wollte unbedingt rüberfahren. Also für uns Polen war es seit 1988 möglich, mit dem Ausweis nach West-Berlin zu fahren, aber nur im Transit durch die DDR. Und so bin ich dann im November nach Berlin gefahren, also zuerst habe ich an einem Seminar in der St.-Bartholomäus-Kirche in Ost-Berlin teilgenommen. Da ging es um Polen, deutsch-polnische Fragen. Damals wurde auch das Buch von Strzelecki von Ludwig Mehlhorn ins Deutsche übersetzt und als samizdat herausgegeben.6 Ich nahm an der Buchvorstellung dazu teil.

4 Helmuth James Graf von Moltke (1907-1945). 5 Ludwig Mehlhorn (1950-2011). 6 Strzelecki, Jan: Próby świadectwa – Erproben im Zeugnis. Berlin 1989 (Originalausgabe: Warszawa 1971).

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Ich habe damals die ganze Zeit bei meinem Freund Klaus Matußek7 in WestBerlin gewohnt, und dann kamen wir eines Tages zurück nach Hause, von der Arbeit, also ich von der Bibliothek, er war Mitarbeiter des Pädagogischen Zentrums und hat als Geschichtslehrer Lehrer ausgebildet. Und zu Hause umarmte ihn seine Frau sofort und begann zu weinen, also das war für mich ein bisschen unheimlich und ich wollte mich zurückziehen. Aber er sagte: „Brauchst du nicht, das sind Freudentränen!“ Ich habe nicht so richtig verstanden, um was es geht und da sagte er: „Ja, die Mauer ist weg!“ Meine erste Reaktion darauf war: „Welche Mauer?“ Am nächsten Tag musste ich Berlin verlassen und das war auch eine interessante Erfahrung, dass ich an der Grenze, wo ich normalerweise – das war immer so – gefilzt wurde, beladen mit vielen Büchern, von Ostzonlern in der Friedrichstraße gefragt wurde, ob ich DDRMark habe. Natürlich hatte jeder von uns DDR-Mark, weil wir in BerlinLichtenberg Bier gekauft haben, was wir durften, weil wir im Transit waren. Ich erzähle das, weil mir eben erst 1989 dann so richtig in den Sinn gekommen ist, was diese Grenze ausmachte. Und dann habe ich diese riesige Freude gesehen, in Kreisau fand diese Versöhnungsmesse statt. Diese Bilder haben mich einfach geprägt. Ich kann sagen, ich bin dabei gewesen. Und dann gab es den bereits angesprochenen zweiten oder dritten – wenn man so will – Zufall: Bonn 1990, wo ich tatsächlich dann, mehr oder weniger, an diesem wichtigen Ereignis für die Deutschen und auch für mich, weil mich dieses Ereignis auch geprägt hat für mein weiteres Berufsleben, ja, mitmachen konnte. Sie werden wahrscheinlich lachen, aber ich habe damals auch gelernt, die deutsche Nationalhymne mitzusingen. Ja! Da steht man einfach auf dem Platz und was macht man? Als braver Pole muss man einfach mitsingen, das gehört einfach dazu, oder? Würden Sie denn mit dem Blick von heute sagen, dass sich 1989/90 etwas Entscheidendes verändert hat? Oder gab es eventuell andere Zäsuren? Nein, das würde ich nicht sagen. Es hängt auch davon ab, ob wir über die Geschichte Deutschlands oder deutsch-polnische Fragen sprechen. Für meine Generation spielt doch das Jahr 1989 eine ganz wichtige Rolle. Es war schon eine Zäsur, weil ich durch meine persönlichen Aufenthalte und die Eindrücke, die ich dabei sammeln konnte, auf einmal einen anderen Zugang bekommen habe. Ich bin 1967 geboren. In diesem Jahr ist Adenauer gestorben. Also wirklich ein guter Jahrgang. Ich war um die 20 herum und plötzlich war vieles anders. Ich hatte vorher schon an den Breslauer Studentenstreiks teilgenommen und bin dann auf einmal durch diese Kreisau-Geschichte auch 7 Klaus Matußek (*1940).

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sofort in diese oppositionelle Szene in der DDR hineingerutscht. Also für mich, der ich mehr oder weniger mit Solidarność8 groß geworden bin, wo samizdat oder der ‚Zweiter Umlauf‘9 etwas Selbstverständliches waren, war dann dieser erste DDR-Aufenthalt sonderbar. Ich habe gedacht: „Oh Gott, wo bin ich hier denn gelandet? Man kann nicht so frei reden“. Und dann habe ich 1989 ein ganz anderes Bild von der DDR bekommen, durch die Opposition, ihre Flugblätter usw. Ich habe dann sogar am Historischen Institut in Wrocław meinen ersten Vortrag überhaupt darüber gehalten, was die DDR-Opposition über Polen sagte, über die Oder-Neiße-Grenze. Das waren Themen, die schon damals für uns sehr relevant waren. Also 1989/90 war auf jeden Fall eine Zäsur für meine Generation. Für einen Historiker ist es klar, dass man auch andere Zäsuren nennen muss. Ich bin in einer Familie groß geworden, in der der Umgang mit der schwierigen Vergangenheit gang und gäbe war, sowohl was die polnisch-deutschen Beziehungen als auch die polnisch-sowjetischen Beziehungen anbetrifft. Aus dieser Perspektive hatte ich durch die Erzählungen meiner Familienmitglieder einen ganz anderen Zugang, also zum Beispiel über die Deportationen der Deutschen ins Innere der Sowjetunion oder deutsche Zwangsarbeiter dort. Zum Beispiel ist mein als Wehrmachtssoldat verhafteter, deportierter und internierter Großvater 1946 an Lungenentzündung gestorben. Das sind Geschichten, die vielleicht nicht zu den Erinnerungen eines Durchschnittspolen gehören. In der eigenen Familie hat sich die komplizierte Geschichte also immer wieder gespiegelt. In der Schule haben wir selbstverständlich ein sehr negatives Bild von Deutschland vermittelt bekommen, bis auf die DDR. Aber für die DDR hat sich keiner von uns interessiert. Das richtige Deutschland war die Bundesrepublik. Und dieses Bild war nicht ganz eindeutig: auf der eine Seite sehr negativ in der Schule und dann ein bisschen konfrontativ in der Familie: einerseits die Erfahrungen des Krieges, andererseits die Pakete von Verwandten aus Westdeutschland. Während des Studiums bin ich durch Zufall in unserer Bibliothek auf eine kleine Schrift des Geschichtslehrers Enno Meyer10 gestoßen. Er erzählt in seinen Memoiren, wie er sich mit Polen 8

9 10

Zwischen August 1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999. Poln. drugi obieg. Bezeichnet den samizdat. Enno Meyer (1913-1996) – ders.: Wie ich dazu gekommen bin. Die Vorgeschichte der deutsch-polnischen Schulbuchgespräche 1948-1971. Frankfurt am Main 1988.

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zu beschäftigen begann. Und das hat mich sehr interessiert. Dann habe ich weitergesucht nach anderen Sachen von ihm und bin auf zwei Klett-Bändchen aufmerksam geworden über die deutsch-polnischen Beziehungen.11 Die Bändchen waren sehr ausgewogen, und für mich war das eine kleine Entdeckung: „Also so kann man auch über deutsch-polnische Fragen schreiben!“ Ich war, auch wegen meines Abiturs in Deutsch, auf einmal nicht mehr auf die polnische Sprache bzw. auf die polnischen Arbeiten beschränkt, sondern ich konnte nun auch die deutsche Forschungsliteratur einbeziehen und mir so ein etwas differenziertes Bild machen. Also die Familie hat mich geprägt, meine Lektüren und selbstverständlich die Sprache. Über Enno Meyer kam ich dann sofort auf ganz andere Themen, z.B. auf das polnische Exil und seine Haltung zu Deutschland in den 1950er Jahren, auf den Anfang der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission12, den Dialog deutscher Osteuropahistoriker mit polnischen Exilhistorikern, also mit Leuten wie Leon Koczy13 und all den anderen, mit denen sich damals keiner beschäftigte. Das war wirklich spannend, weil ich auf einmal ein ganz anderes Bild bekommen konnte: Diese Exilhistoriker, was haben sie eigentlich gedacht, geschrieben? Gut, man konnte im Untergrund vereinzelte Arbeiten lesen, aber da war kein Deutschlandbezug vorhanden. Und dann kam ich auf den Zweiten Weltkrieg, wieder familiär und durch die Lektüren, also einen Bereich, der in den deutsch-polnischen Fragen immer noch von Bedeutung ist. Weniger jetzt die Frage der Konzentrationslager oder der deutschen Okkupation und so weiter, das hat mich damals nicht interessiert. Das heißt: wir sind natürlich alle groß geworden mit diesen Bildern. Nein, es ging eher um das, was uns damals verboten war bzw. als Tabuthema galt, nämlich die Zusammenarbeit zwischen NS-Deutschland und der Sowjetunion, also der Hitler-Stalin Pakt und seine Folgen. Dann stieß ich, noch in den 1980er Jahren, auf dieses Buch von Bregman und das war wirklich eine Entdeckung.14 Man hatte Beweise.

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Meyer, Enno: Deutschland und Polen, 1772-1914 (Quellen- und Arbeitshefte zu Geschichte und Gemeinschaftskunde). Stuttgart 1964; ders.: Deutschland und Polen, 1914-1970. Stuttgart 1971. Unter der Schirmherrschaft der UNESCO 1972 gegründete Kommission deutscher und polnischer Historiker*innen sowie Geograph*innen. Vgl. Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015. Leon Koczy (1900-1981). Bregman, Aleksander: Najlepszy sojusznik Hitlera. Studium o wspólpracy niemieckosowieckiej 1939-1941. Londyn 1958; Aleksander Bregman (1906-1967).

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Nicht ein einzelnes, sondern jedes konkrete Ereignis, bestimmte Daten, Personen, die mich geprägt haben, haben somit einen Vorwand geliefert, sich weiter damit zu beschäftigen. Heute kann man Sie, da wird keiner widersprechen, als einen wichtigen Akteur der Geschichtspolitik im deutsch-polnischen Kontext bezeichnen. Wie wirkte sich in den 1990er Jahren die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften aus, in Deutschland und in Polen? Und umgekehrt: Inwieweit gab es damals schon ‚public historians‘ und wirkten diese auf die Politik ein? Ich glaube, der Anfang des Jahrzehnts war zunächst geprägt von der Aufdeckung der so genannten „weißen Flecken“ in den deutsch-polnischen Beziehungen. Das heißt, mehr oder weniger hatten wir damals – verkürzt gesagt – beschlossen, jetzt Schluss zu machen mit dem, was uns getrennt hat, also der Zweite Weltkrieg sollte zunächst ad acta gelegt werden. Das sind sehr schwierige Dinge. Wir hatten sehr viel über ihn nachgedacht, geschrieben, aber das war keine gute Grundlage für den Start neuer Beziehungen. Aber wir waren es jetzt den Deutschen schuldig, zwei Kapitel zu betrachten, die bisher nicht besonders beachtet worden waren, nämlich die Vertreibung der Deutschen, also die Zwangsmigration, und das deutsche Kulturerbe. Das waren aus meiner Perspektive in den 1990er Jahren zwei große Themenkomplexe, mit denen wir uns sehr ausgiebig beschäftigt haben. Sie haben uns sehr geprägt. Ich habe selber an mehreren Projekten teilgenommen, wo es nicht nur um große Geschichte ging, also auf der Metaebene, sondern auch um regionale Aspekte. Zum Beispiel bin ich von dem vorhin schon genannten Juristen und Rechtshistoriker Karol Jonca zu einem Projekt eingeladen worden, wo wir an einem Quellenband gearbeitet haben über die Aussiedlung der deutschen und die Ansiedlung der polnischen Bevölkerung im Raum Schweidnitz-Kreisau.15 Ich habe damals im Koblenzer Bundesarchiv dazu gearbeitet. Wir wollten diese schwierigen Themen aufgreifen, unsere Sicht auf die Dinge dann mit den deutschen Kollegen durchdiskutieren, damit wir danach weitergehen konnten. Und damit war auch das Thema des deutschen Kulturerbes verbunden: Also wie gehen wir, und ausgerechnet hier in Breslau oder überhaupt in Niederschlesien, damit um? Daraus ist dann eine Unzahl von Projekten entstanden, aus denen wir gelernt haben zu verstehen, was dieses Erbe für uns Polen 15

Jonca, Karol (Hg.): Wysiedlenia Niemców i osadnictwo ludności polskiej na obszarze Krzyżowa-Świdnica (Kreisau-Schweidnitz) w latach 1945-1948. Wybór dokumentów = Die Aussiedlung der Deutschen und die Ansiedlung der polnischen Bevölkerung im Raum Krzyżowa-Świdnica (Kreisau-Schweidnitz) 1945-1948. Wrocław 1997.

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bedeutet. Bisher war es so gewesen, dass man gesagt hatte: „Ab 1945 ist Polen und das ist jetzt alles polnisch.“ Was davor war, interessierte keinen bzw. wurde ausgeklammert – mehr oder weniger. Vielleicht wurde noch eine Brücke zum „polnischen“ Mittelalter gebaut und das war es. Und dann haben wir entdeckt – ja, da sind noch andere Themen. Da sind nicht nur die Deutschen, da sind auch die Juden. Das waren Themen, die uns besonders interessierten, nicht nur lokal, regional, sondern man konnte das auf alle Gebiete, die zu Polen gekommen sind, übertragen. Ich spreche hier als Historiker, der sich besonders mit Regionalgeschichte, also mit Niederschlesien, mit Stadtgeschichte und deutsch-polnischen Fragen beschäftigt hat. Meine Frau16, die eher östliche Themen behandelt, stellte auch fest, dass es eine Zeit in Polen gab, gerade in den 1990er Jahren, wo man sich sehr stark mit den Kresy befasst hat, also mit den polnischen Ostgebieten, und auch da sind zahlreiche Arbeiten entstanden, weil das auch ein ganz großes Manko der polnischen Wissenschaft war, die aufgrund der politischen Situation diese Themen nicht behandeln konnte. Und für uns, die sich für diese westliche Geschichte interessiert haben, war es spannend zu sehen, wie die polnischen Historiker, die sich mit dem Osten beschäftigten, mit unserer ehemaligen Geschichte im Osten umgehen. Also wie sind die Ukrainer mit dem polnischen Kulturerbe umgegangen, oder die Belarussen? Und auf einmal sehen wir: Na ja, das, was wir mit den Deutschen gemacht haben, das war vielleicht auch nicht so besonders toll, und da muss man schon etwas dagegen tun. Und ich möchte daran erinnern, dass es auch Texte gab, die uns damals sehr geprägt haben. Ein solcher war der Text, den Jan Józef Lipski über das Depositum geschrieben hat, sehr umstritten, aber auf jeden Fall hat er darauf hingewiesen, dass wir mehr oder weniger verpflichtet sind, uns darum zu kümmern.17 Mein Kollege Marek Zybura ist im Zuge dieser Debatte einen Schritt weitergegangen und hat die Formulierung „gemeinsames europäisches Erbe” vorgeschlagen.18 Das war damals für uns eine tolle Entdeckung: Wir können jetzt diese Debatte etwas höher heben, das heißt, wir müssen nichts zurückgeben, was ja letztlich „Depositum” bedeutet, sondern auf die europäische Ebene übertragen, bedeutet es, dass wir alle zur Bewahrung verpflichtet sind, egal ob Deutsche, Polen und andere, denn es ist jetzt für uns etwas Gemeinsames. Und dann kamen die Arbeiten von Schlögel und seine 16 17 18

Małgorzata Ruchniewicz (*1970). Jan Józef Lipski (1926-1991) – ders.: Depozyt, in: Gazeta Wyborcza vom 1.3.1990; dt.: Depositum. Deutsches kulturelles Erbe in Polen, in: Ders.: Wir müssen uns alles sagen … Essays zur deutsch-polnischen Nachbarschaft. Gliwice/Warszawa 1998, S. 264-266. Marek Zybura (*1957) – ders.: Der Umgang mit dem deutschen Kulturerbe in Schlesien nach 1945. Görlitz 2005.

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Erkundungen der historischen Räumlichkeiten und diese Formulierung, dass wir „im Raum die Zeit lesen“.19 Das war auch so eine Entdeckung. Das heißt: weg von diesem nationalen Denken, hier etwas Polnisches, da etwas Deutsches, sondern zu arbeiten wie die Archäologen, mittels Stratographie, das heißt, wir können als Historiker jede Schicht nach und nach aufdecken und beschreiben, in ihrer ganzen Vielfalt. Das waren die 1990er Jahre, wo ich gedacht habe, das ist wirklich eine richtige Aufbruchsstimmung, wo man denkt – ja, da gibt es neue Zugänge, neue Arbeit und so weiter. Es gibt jedoch ein ‚Aber‘: Wir waren vielleicht etwas blauäugig und dachten, es reicht auch für die deutschen Kollegen, diese Sachen jetzt kritisch zu behandeln. Nur weil ich mich jetzt mit dem ganzen Komplex von Flucht und Vertreibung, auch mit dem deutschen Kulturerbe, beschäftige, heißt das längst nicht, dass das in Deutschland als unser Beitrag, unsere Leistung so ankommt. Ein Beispiel: Klaus Bachmann und Jerzy Kranz brachten damals ein Buch heraus, das die Vertreibungsdebatte in Polen dokumentierte.20 Ein Jahr später erhielten die Autoren vom Bouvier-Verlag das Angebot, die restlichen Exemplare günstig aufzukaufen, denn sonst würden sie mangels Interesses makuliert werden. Das war 1999. Wir sahen also, dass wir Debatten haben, die ungleichzeitig verlaufen. Wir dachten vielleicht ursprünglich: Wir können jetzt gemeinsam diskutieren und das wirkt dann in die deutsche Gesellschaft hinein. Aber da mussten wir lernen, dass das nicht der Fall war. 1998 kam dann auch dieser bekannte Aufruf von Frau Steinbach, „Berliner Appell“ genannt, wo sie uns, also Polen und Tschechen, vorgeworfen hat, dass wir nicht reif genug seien, weil wir uns mit dem Thema Vertreibung nicht auseinandergesetzt hätten.21 In diese Zeit fiel dann auch das Projekt von Lemberg und Borodziej über die Deutschen und Polen.22 2000 wurde dann auf der Frankfurter Buchmesse – ich war damals dabei – der erste Band des Projekts im Beisein von Frau Steinbach als gemeinsame Leistung der polnischen und der deutschen Historiker vorgestellt. Was mich damals bei der Titelwahl sehr beeindruckt hat, das war gleichzeitig auch das Programm: Beide Kollegen, 19 20 21 22

Karl Schlögel (*1948) – ders.: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München 2003. Klaus Bachmann (*1963); Jerzy Kranz (*1948) – dies.: (Hg.): Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen. Bonn 1998. „Berliner Appell“, in: Das Ostpreußenblatt Nr. 37 vom 12.9.1998, https://archiv.preussischeallgemeine.de/1998/1998_09_12_37.pdf (22.8.2020); Erika Steinbach (*1943). Hans Lemberg (1933-2009); Włodzimierz Borodziej (*1956) – dies. (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 19451950. Dokumente aus polnischen Archiven.  4 Bde. Marburg 2000-2004; poln. Ausgabe: Niemcy w Polsce 1945-1950. Wybór dokumentów. Tom 1-4. Warszawa 2000-2001.

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also die Ideengeber Borodziej und Lemberg, haben ganz bewusst auf diesen Vorgang der Vertreibung verzichtet, denn in dieser Dokumentation ging es nicht um diese, sondern um die Deutschen in Polen, das heißt um diejenigen Deutschen, die nicht vertrieben worden, sondern in Polen geblieben waren, um ihren Alltag. Und das war wieder so ein interessanter Zugang, wo wir in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre feststellen mussten, dass die Wege zwar festgefahren fahren, es keine Lösung für das Problem gibt, aber man durch solche neuen Zugänge einen Freiraum für Debatte schaffen konnte. Bekanntlich wurde diese Debatte dann im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts unter ganz anderen Vorzeichen fortgesetzt, also stichwortartig: Zentrum gegen Vertreibungen23, Preußische Treuhand24, und, und, und. Aber aus meiner Perspektive damals war es so, dass ich die Sache schon als erledigt empfunden habe, weil wir unsere Arbeit schon getan hatten. Jetzt komme ich auf Ihre Frage zurück. Ich war damals kein public historian, ich hätte auch gar nicht gewusst, was das bedeutet. Dass man an Tagungen teilnimmt, klar. Wir wurden damals z.B. von Präsident Kwaśniewski25 zu einer Debatte in den Präsidentenpalast eingeladen – als Historiker, die sich mit deutsch-polnischen Fragen beschäftigten, einfach, um sich auszutauschen. Da waren wir natürlich sehr beeindruckt, dass das Staatsoberhaupt jetzt Interesse hat zu hören, was wir zu dem Thema Vertreibung, zu deutsch-polnischen Fragen zu sagen haben, wie wir die Zukunft sehen. Das ist aber nicht das, was ich heute unter public historian verstehe, nämlich dass man in Polen oder Deutschland an einem Dialog teilnimmt. Man muss dazu natürlich auch sagen: Ich war damals ein einfacher Magister, dann war ich ein Doktor. Und

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Das Zentrum gegen Vertreibungen war ein 1999/2000 vom Bund der Vertriebenen (BdV) unter Federführung von Erika Steinbach lanciertes Projekt, das 2008 vom Deutschen Bundestag zugunsten der dann errichteten Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung verworfen wurde. Vgl. Online-Ressourcen zur Debatte um das Zentrum gegen Vertreibungen und zum Diskurs zum Thema der Flucht und Vertreibung. Eine Auswahl, in: Zeitgeschichte-online, Januar 2006, https://zeitgeschichte-online.de/themen/onlineressourcen-zur-debatte-um-das-zentrum-gegen-vetreibungen-und-zum-diskurs-zumthema-der (23.09.2020). Die preußische Treuhand ist ein unter Beteiligung der Landsmannschaft Ostpreußen, dann auch der Landsmannschaft Schlesien im Jahr 2000 gegründetes Privatunternehmen, das den polnischen Staat auf Rückgabe von nach dem Zweiten Weltkrieg enteignetem Eigentum verklagt. Im Jahr 2008 hat der Europäische Menschenrechtsgerichtshof die Klagen für unzulässig erklärt. Vgl. Jasińska, Anna: International Legal Issues in the Case of the Prussian Trust (Preussische Treuhand) against the Republic of Poland before the ECtHR, in: Polish Yearbook of International Law 29 (2009), S. 175-195. Aleksander Kwaśniewski (*1954).

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wer hört schon auf so jemanden? Also ich glaube, da findet man heute doch etwas leichter Gehör als damals. Jetzt ist vielleicht unsere Generation dran, würde ich sagen: Jahrgang 1967, Leute wie Markus Krzoska, Peter Oliver Loew oder Philipp Ther.26 Aber ich glaube, ich habe mich damals nicht so definiert und wusste nicht, dass ich so aktiv werden würde, weil ich auch nicht die Mittel, die Möglichkeiten hatte. Wer dachte damals an irgendwelche Blogs, an social media, wo man sich heute sehr schön austauschen kann. Wir hatten 1999 eine ganz spannende Sache mit dem Polnischen Historikertag in Breslau, wo ich damals einer der beiden Sekretäre war, und haben zum ersten Mal mit den deutschen Kollegen eine Diskussion über die Geschichte Schlesiens organisiert. Damals ist der Band von Conrads27 erschienen und mein Chef Wrzesiński28, mein Doktorvater, kam auf die Idee, eine solche Debatte mit deutschen Historikern zu machen. Und das war auch für uns eine Entdeckung, dass man in der Öffentlichkeit im Rathaus in Breslau so eine Podiumsdiskussion zwischen polnischen und deutschen Historikern zu dem Thema des Buches veranstalten konnte. Aber das waren alles Formate, die wir schon aus der Wissenschaft kannten. Interviews für die Presse, das hat es auch gegeben, im Fernsehen. Aber ansonsten hatten wir nicht diese Möglichkeiten, die wir heute haben. Sie haben schon Enno Meyer als wichtige Bezugsperson genannt, zumindest durch seine Arbeiten. Welche anderen Personen waren in den 1990er Jahren besonders zentral für Sie? An erster Stelle würde ich meine akademischen Lehrer nennen. Es gibt schon einige. Also zwei habe ich schon genannt: meinen Doktorvater Wojciech Wrzesiński, ein Deutschlandforscher, der sich mit dem 20. Jahrhundert beschäftigte, ausgewiesener Kenner der deutsch-polnischen Fragen. Und dann war da noch Karol Jonca, der mir Zugang zur Zeit des Nationalsozialismus verschafft hat. Mein Chef war Wrzesiński, er war ein Generalist. Um das ein bisschen zu verdeutlichen: Er hat einen Aufsatz über Konrad Adenauer geschrieben. Ob er Adenauers Schriften gelesen hat, weiß ich nicht. Aber er hat einen Beitrag verfasst, den ich sofort unterschreiben konnte. Dafür musste man schon eine Gabe haben, um sich nicht mit solchen Kleinklein-Dingen zu beschäftigen, sondern zu versuchen, zu einer Synthese zu gelangen. Das war 26 27 28

Markus Krzoska (*1967); Peter Oliver Loew (*1967); Philipp Ther (*1967). Norbert Conrads (*1938) – ders.: Deutsche Geschichte im Osten Europas: Schlesien. Berlin 1994. Wojciech Wrzesiński (1934-2013).

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bei ihm wirklich sehr bezeichnend. Bei Jonca dagegen war es diese Vorliebe für das Detail. Es war wirklich faszinierend zu sehen, welch detailliertes Wissen er hatte und gleichzeitig auch, wie gut er dieses Wissen anwenden konnte, beim Erzählen, bei Vorträgen und mit seinen Sprachkenntnissen. Für uns junge Leute damals war wirklich sehr beeindruckend, dass jemand im polnischen Kommunismus drei, vier Sprachen spricht. Also ich würde die beiden nennen, die mich damals geprägt haben am Anfang und die ich bis heute schätze und auf die ich mich immer wieder beziehe. Bei den Deutschen waren etwas mehr, nicht nur zwei. Also zunächst Jörg K. Hoensch29. Er hatte mich damals nach Saarbrücken eingeladen und bei ihm habe ich studiert und ich habe diese Zeit in Saarbrücken 1990/1991 sehr genossen. Ich kannte ihn aus der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission vom Namen her und war sehr beeindruckt von seiner Arbeit. Ich bin auch nicht enttäuscht worden. Ich war in seinem Seminar und durfte an den Vorlesungen teilnehmen. Zu letzteren kamen auch immer Zeitzeugen, das war beeindruckend. Er hat z.B. damals über den Krieg gegen die Sowjetunion gelesen und da kamen die alten Frontsoldaten und plötzlich saßen in einem Saal die jungen Menschen und die Zeitzeugen. Und das Tolle war, dass sie dann immer wieder miteinander ins Gespräch gekommen sind, was mich damals sehr beeindruckt hat: „Herr Professor, so war es nicht! Ich erinnere mich anders“. Und dann war da die Art und Weise, wie Hoensch gesprochen hat: „Ja, das stimmt, aber …“, und dann kam der Historiker und er versuchte zu erklären. Gut. Hoensch, muss man dazu sagen, hat geschriebene Sprache gesprochen. Man hätte einfach mitschreiben und sofort Bücher veröffentlichen können. Er hatte ziemlich spät Deutsch gelernt und vor allem diese geschriebene Sprache, und das war wirklich sehr anspruchsvoll für mich. Ich konnte damals nicht so gut Deutsch. Aber er wirkte als Vorbild. Also Hoensch, der erste. Der zweite – Wolfgang Jacobmeyer30. Er wird wahrscheinlich staunen, dass ich ihn erwähne. Wolfgang Jacobmeyer aus Braunschweig war damals stellvertretender Direktor des Georg-Eckert-Instituts31. Er hat mir damals den Weg zu Enno Meyer aufgezeigt. Meyer lebte damals noch. Ich bin nach Braunschweig gekommen, weil ich die Archivalien des Instituts ansehen wollte. Aber dann stellte sich heraus, dass ich doch Meyer kontaktieren konnte, aber ich brauchte damals auch eine Empfehlung und da hat mir Jacobmeyer geholfen. Und so habe 29 30 31

Jörg K. Hoensch (1935-2001). Wolfgang Jacobmeyer (*1940). 1975 gegründete Einrichtung zur internationalen Erforschung von Schulbüchern, seit 2011 Leibniz-Institut. Es koordiniert u.a. die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission. Vgl. Fuchs, Eckhardt/Henne, Kathrin/Semmler, Steffen: Schulbuch als Mission. Die Geschichte des Georg-Eckert-Institutes. Wien/Köln/Weimar 2018.

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ich von Enno Mayer selbst Materialien für die Magisterarbeit bekommen.32 Er hat auch über ein Thema geforscht, dass mich damals sehr interessiert hat, nämlich über Displaced Persons, und da hat er bei Vandenhoeck & Ruprecht dieses bekannte Buch darüber veröffentlicht, wovon ich sehr angetan war.33 Das war mein erster Zugang zu den Polen in Deutschland. Also das heißt, unter diesen Displaced Persons gab es auch sehr viele Polen und darüber haben wir uns immer wieder ausgetauscht. Wieder ein anderes Kapitel, das meinen Horizont ein bisschen erweitert hat: nicht nur deutsche Geschichte, sondern auch polnische Geschichte in Deutschland. Und dann war da Hans Lemberg, der mich in Breslau angesprochen und dann sofort zu seinem Seminar nach Marburg eingeladen hat. Er hat uns immer wieder bei unterschiedlichen Anlässen aus seinen unfertigen oder fertigen, aber nicht veröffentlichten Aufsätzen vorgelesen. Wir kamen sofort ins Gespräch und da hatten wir wieder einen anderen Zugang. Diejenigen, die an seinem Seminar teilgenommen haben, konnten auch seine ‚Werkstatt‘ besser kennenlernen – das waren tolle Gespräche, eine tolle Zeit. Diese Jahre 1994-96 waren für mich so prägend, weil ich auch andere Historiker kennengelernt habe, die etwas jünger waren als meine Breslauer Chefs. Mit einigen von ihnen wie Borodziej bin ich bis heute befreundet. Er war damals Gastprofessor in Marburg. Es gab dort auch andere Teilnehmende des Seminars von Hans Lemberg wie Claudia Kraft34, die damals dort studiert, dann promoviert hat. All diese Menschen waren wirklich eine tolle Begleitung. Zum Schluss haben Sie zum Glück noch den Namen Claudia Kraft erwähnt. Aber trotzdem: Wo waren die Frauen damals? Gab es überhaupt welche? Ja. Und zwar in Saarbrücken. Da war die Sekretärin von Jörg Hoensch, eine sehr hübsche Frau. So meinten wir das aber nicht … eher wissenschaftlich! Was heißt wissenschaftlich? Wenn du als kurz vor dem Abschluss stehender Student in eine fremde Stadt kommst und auf einmal lernst, dass man den Frauen doch die Türe nicht aufmachen darf – ich bin aus dem Kommunismus 32 33 34

Ruchniewicz, Krzysztof: Enno Meyer a Polska i Polacy (1939-1990). Z badań nad początkami Wspólnej Komisji Podręcznikowej PRL-RFN. Wrocław 1994. Jacobmeyer, Wolfgang: Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951. Göttingen 1985. Claudia Kraft (*1968).

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gekommen –, dann bist du mit einer ganz anderen Geschichte konfrontiert. Aber jetzt im Ernst. Die erste Historikerin habe ich tatsächlich in Saarbrücken kennengelernt, das war bei Hoensch, nämlich seine Mitarbeiterin Bärbel Kuhn35. Auf jeden Fall habe ich dann bei Richard van Dülmen36 Frauen getroffen, mit denen ich mich auch ausgetauscht habe. Und dann in Marburg, etwas schwierig. Auf polnischer Seite auch nicht? Na ja, vielleicht muss ich eine kurze Erklärung abgeben. In meinem Jahrgang gab es fast nur Männer, die Geschichte studiert haben. Geschichte war bei uns ein Männerfach. Um einen Ausgleich zu bekommen, habe ich begonnen, Germanistik zu studieren, dort waren im Gegenteil nur Frauen. Aber ich habe es nicht geschafft, also irgendwie konnte ich mich nicht so richtig anfreunden mit der Germanistik und habe nach dem ersten Semester damit aufgehört. In meinem Studienjahrgang, also von 1986 bis 1991, gab es nur wenige Frauen, sonst nur Männer. Ebenfalls an unserem Institut arbeiteten damals wenige Historikerinnen. Eine unserer Kommilitoninnen, eine Althistorikerin, wurde nach dem Studium zur Assistentin und war eher eine Ausnahme. Also Frauen waren selten bei uns und deswegen konnten sie mich nicht prägen. Also scheint es da eine große Übereinstimmung der polnischen und der deutschen Wissenschaftskultur gegeben zu haben, was die Geschlechterfrage angeht. Würden Sie denn generell sagen, dass man in jenen Jahren doch von einer unterschiedlichen Wissenschaftskultur in Polen und in Deutschland sprechen kann? Es ist nicht einfach, auf diese Frage zu antworten. Das waren ganz unterschiedliche Kulturen, auch Wissenschaftskulturen. Allein unser Studium ist mit eurem Studium nicht zu vergleichen. Um das auf den Punkt zu bringen: Worum ich euch beneidet habe, und das war für mich immer ein Vorteil, dass ich von Personen oder Autoren wusste, die in Polen überhaupt nicht bekannt waren oder erst nach und nach bekannt wurden. Also das, was in Deutschland inzwischen gang und gäbe war, da waren wir noch nicht ganz so weit, jedenfalls nicht in allen Epochen. Was die Zeitgeschichte betrifft, da waren wir wirklich mit ganz anderen Themen beschäftigt. Und mehr Grundlagenforschung wurde betrieben, würde ich heute sagen. Es gab da sehr viele Arbeiten, die damals gedruckt worden sind, diese quellengesättigten Studien, die eine ganz wichtige 35 36

Bärbel Kuhn (*1957). Richard van Dülmen (1937-2004).

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Rolle gespielt haben. Das ist eine gewisse Parallele zur DDR-Forschung am Anfang, wo man auch gesehen hat, dass eine Vielzahl von Arbeiten entsteht, die vor allem auf neuen Quellen basieren. Aber das war diese erste Etappe. Was ich immer beeindruckend fand, war, dass man z.B. Sozialgeschichte betreiben konnte, ohne Marxist zu sein, oder dass es diese Bielefelder Schule gab, dass es auch andere Schulen gab, die für Historiker ganz anregend sein konnten, dass es große Debatten gegeben hat. Die kannte ich in Polen in den 1980er Jahren z.B. nicht oder habe sie nicht wahrgenommen. In den 1990er Jahren kamen diese großen Diskussionen auch in Polen nach und nach an. Es gab sehr viele dieser Ungleichzeitigkeiten, wo wir etwas rezipiert, gelernt, gelesen und für unsere Arbeit verwendet haben. Würden Sie denn sagen, dass es in dieser Zeit noch alte Schieflagen und Asymmetrien in diesem deutsch-polnischen Verhältnis gegeben hat oder haben sich dann vielleicht gar neue entwickelt? Es gab gleichzeitig ganz neue Impulse. Ich habe nicht zufällig diese Breslauer Diskussion über die Geschichte Schlesiens erwähnt, wo die deutschen Historiker ihre Sicht auf diese dargestellt haben und die polnischen haben mehr oder weniger darauf geantwortet. Das war eine ganz vertraute Arbeitsweise. In den 1930er Jahren gab es auch solche Dokumentationen, wo auf der einen Seite unter Brackmann37 ein Band über die deutsch-polnischen Fragen herausgegeben wurde. Darauf haben dann die Polen geantwortet und so weiter.38 Das war so ein Dialog, der eigentlich keiner war. Aber gleichzeitig entstanden in den 1990er Jahren sehr interessante Initiativen, vor allem im kulturellen Bereich, und sie sind nicht immer von Historikern begonnen worden, sondern z.B. von Museumsleuten. Ich denke etwa an ein Projekt, an dem ich selbst mitgewirkt habe: „Wach auf, mein Herz, und denke“ oder die Fortsetzung „Die imposante Landschaft“ über Künstlerkolonien.39 Ersteres war ein Projekt, bei dem Polen und Deutsche zur Mitwirkung eingeladen worden sind und sie dann über die Beziehungen zwischen Brandenburg und Schlesien 37 38 39

Albert Brackmann (1871-1952). Brackmann, Albert (Hg.): Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen. München/Berlin 1933; Niemcy i Polska. Dyskusja z powodu książki „Deutschland und Polen“. Lwów 1934. Bździach, Klaus (Hg.): „Wach auf, mein Herz, und denke“. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und Berlin-Brandenburg von 1740 bis heute = „Przebudź sie̜, serce moje, i pomyśl“. Przyczynek do historii stosunków między Śląskiem a Berlinem-Brandenburgią od 1740 roku do dziś. Berlin/Opole 1995; ders.: Die imposante Landschaft. Künstler und Künstlerkolonien im Riesengebirge im 20. Jahrhundert = Wspaniały krajobraz. Artyści i kolonie artystyczne w Karkonoszach w XX wieku. Berlin/Jelenia Góra 1999.

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nachgedacht haben. Zum ersten Mal erschien in den 1990er-Jahren ein Band auf Polnisch und auf Deutsch gleichzeitig. Da musste man sich ein bisschen Mühe geben, das heißt nicht davon ausgehen, dass alle Deutsch oder Polnisch können. Bei dieser Dokumentation bei Jonca über die Aussiedlung war von vornherein klar, dass wir diesen Band in beiden Sprachen herausbringen. Auch das Projekt von Borodziej und Lemberg war zweisprachig bzw. ist parallel in der anderen Sprache erschienen. Ich glaube, das war wirklich etwas Neues, und wir haben gedacht: ja, wenn wir jetzt miteinander reden wollen, dann sollten wir dieselbe Grundlage haben. Es sollten auch die mitreden können, die keine Polen- oder Deutschlandspezialisten sind, sondern sich einfach für die Themen Migration oder Zwangsmigration etc. interessieren. Unser „polnischer Anspruch“ war: Auch wir erzählen euch unsere Geschichten. Man kann wirklich zig Projekte nennen. Sie haben das jetzt an verschiedenen Akteuren und Projekten sehr deutlich gemacht. Welche Institutionen haben in dieser deutsch-polnischen Verdichtung eine wichtige Rolle gespielt? Ich würde sagen, das waren ganz klar die Universitäten, von denen die meisten Impulse ausgegangen sind. Diese Beziehungen bestanden schon seit den 1970er Jahren. Das heißt, wir mussten nicht ganz von vorne beginnen, sondern wir konnten an etwas anknüpfen; und nach 1989 sind alle politischen Einschränkungen weggefallen. Es gab aber auch Quasi-Institutionen, wie die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission. Auch für sie war 1989 ein Einschnitt, weil man nun beschlossen hat, sich nicht nur bilateral auszutauschen, sondern auch Themen wie z.B. die polnisch-jüdischen Beziehungen zuzulassen. Man hat gesagt: ja, das ist ein ganz wichtiges Forum für den wissenschaftlichen Austausch, aber auch für die Umsetzung dieser Arbeiten in den Schulen. Und dann kamen Initiativen von jüngeren Historikern zustande, polnischen wie deutschen, die Stipendien hatten und die immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass wir voneinander eigentlich nicht wissen, obwohl wir uns mit ähnlichen Themen beschäftigen. Dazu gehörte z.B. die Initiative, an der auch Markus beteiligt war, „Inter Finitimos“.40 Zunächst gab es das nur auf Deutsch und jeder von uns hat damals auf die nächste Nummer gewartet, weil wir ganz schnell einen Einblick bekommen haben, woran die jüngeren

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Inter Finitimos. Wissenschaftlicher Informationsdienst deutsch-polnische Beziehungen / Informator naukowy do badań nad stosunkami niemiecko-polskimi. Erschien als private Initiative erstmals 1992, später als Jahrbuch bis zur Einstellung 2014.

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Kollegen arbeiten, welche Themen sie aufgreifen. Es gab damals kein Internet in dem Sinne, ok, man konnte Mails schreiben. Aber so etwas wie Blogs oder Webseiten kannte man natürlich noch nicht. Ich habe zum Beispiel schon in Marburg eine E-Mail-Adresse gehabt. Klar, ich musste zur Uni-Bibliothek gehen, um meine E-Mails zu lesen. Eine andere Möglichkeit gab es einfach nicht. Wichtig waren auch NGOs, zum Beispiel die Stiftung Kreisau41, auch eine Institution, wo man praktisch jedes Jahr im Mai eine wissenschaftliche Tagung veranstaltet hat, zum deutschen Widerstand zum Beispiel oder zum polnischen Widerstand. Weiter war da die Zusammenarbeit zwischen Museen, also etwa zwischen dem Kreuzberg-Museum und dem Museum in Breslau bei der erwähnten Ausstellung zu den Kontakten zwischen Brandenburg und Schlesien. Jedoch ging auf deutscher Seite die Zahl derjenigen, die sich mit der Geschichte Schlesiens oder mit der deutschen Geschichte im Osten beschäftigt haben, immer mehr zurück. Wir haben auf einmal Partner verloren. Ich habe in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Nachwuchstagungen über die Geschichte Schlesiens organisiert.42 Für das 20. Jahrhundert war das eigentlich kein Problem, Polen, Deutsche und Tschechen irgendwie zusammenzuführen. Für die früheren Epochen, vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert war es immer schwieriger. Wir haben uns dann noch ein zweites Mal getroffen, wo wir das 19. Jahrhundert behandelt haben. Aber dann konnten wir keine Referenten mehr finden, also unter den jüngeren Historikern. Das heißt, wir mussten feststellen, es gibt immer noch Schlesienforscher, die wir kennenlernen können, aber unter den jüngeren Kolleginnen und Kollegen gab es schon damals immer weniger deutsche Historiker, die mit solchen Themen Karrierechancen für sich sahen. Und dann kommt so eine Situation zustande, apropos Asymmetrien, dass wir diejenigen sind, die jetzt die Geschichte Deutschlands machen. Was ist mit der Geschichte Schlesiens oder des NS in Schlesien? Wer macht das in Deutschland? Keiner. Bestenfalls kann ich das an den Fingern einer Hand abzählen.

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Die Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung/Fundacja Krzyżowa dla Porozumienia Europejskiego auf dem ehemaligen Gut der Familie von Moltke in Kreisau/Krzyżowa in Niederschlesien wurde 1990 gegründet, die dortige Jugendbegegnungsstätte entstand 1998. Vgl. Franke, Annemarie: Das neue Kreisau. Die Entstehungsgeschichte der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung 1989-1998. Augsburg 2017. Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Dzieje Śląska w XX w. w świetle badań młodych historyków z Polski, Czech i Niemiec = Geschichte Schlesiens in den Forschungen junger Nachwuchswissenschaftler aus Polen, Tschechen und Deutschland. Wrocław 1998.

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Gab es denn wichtige Ansätze, Einflüsse, die in Ihrem Umfeld aufgenommen wurden oder die Sie rezipiert haben, die über diesen nationalen und binationalen Kontext hinausgingen. Haben Sie sich auch außerhalb dieser Kontexte inspirieren lassen, vielleicht auch methodisch? Also in meiner Dissertation war das ein ganz schwieriges Unterfangen. Ich hatte mir vorgenommen, eine Beziehungsgeschichte zu schreiben, die ich heute eher Verflechtungsgeschichte nennen würde. Ich habe damals nur diesen Begriff nicht gekannt. Eine Verflechtungsgeschichte über die Beziehungen zwischen Ost-Berlin, Warschau und Bonn. Deswegen habe ich versucht, das im Rahmen eines solchen Dreiecks zu machen. Klar, das war ein Stück politische Geschichte, es war Diplomatiegeschichte, aber auch gleichzeitig eine Verflechtungsgeschichte.43 Es war ein Versuch zu schauen, wie sich die Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland, auf die zwischen Polen und der DDR auswirkten. Für mich war damals ganz klar – was in den 1990er Jahren nicht selbstverständlich war – so anzusetzen. Viele Arbeiten entstanden damals noch mit Titeln wie „Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in polnischen Akten“; es war völlig typisch, dass man über die Unterzeichnung des Normalisierungsvertrages44 mit der Bundesrepublik 1970 auf Grundlage der Akten des polnischen Außenministeriums schreibt. Für mich war das zu wenig. Es hätte geheißen, ich kenne oder lerne nur die eine Seite kennen. Aber wo ist die zweite, also die deutsche Seite? Wie wurde das auf der deutschen Seite gesehen? Methodisch gesehen fand ich es spannend zu schauen, wie das auf der anderen Seite war und auch den etwas größeren Kontext über das Bilaterale hinaus einzubeziehen. Ich konnte das damals vielleicht nicht so richtig benennen, so wie wir heute von public history sprechen. Für uns ist das alles heureka! Mehr oder weniger. Aber ich glaube, es gab eine Zeit, in der wir sehr intensiv miteinander diskutiert haben, auch mit Markus, mit vielen anderen, wo wir immer selber reflektiert haben: „Wo stehe ich jetzt eigentlich mit meinen Arbeiten? Wo sind die Kollegen?“ Von diesem Dialog, von diesem Austausch habe ich sehr profitiert. Ich glaube, nur durch diese Gespräche konnte ich dann doch eine Art Crash-Kurs machen. Also etwas nachholen oder etwas lernen, was nicht meine Sozialisation, also polnisches Geschichtsstudium, war. Im Nachhinein, wenn ich jetzt auf meine 43 44

Ruchniewicz, Krzysztof: Warszawa – Berlin – Bonn. Stosunki polityczne 1949-1958. Wrocław 2003. Vertrag vom 7.12.1970 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (Warschauer Vertrag). Vgl. Eisler, Jerzy: Grudzień 1970. Geneza, przebieg, konsekwencje. Warszawa 2017.

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Arbeiten zurückblicke, könnte ich heute ganz gut verorten oder benennen, was ich damals gemacht habe. Das würde mir heute leichter fallen, weil wir inzwischen dafür auch Bezeichnungen gefunden haben. Zum Beispiel die Zernack’sche „Beziehungsgeschichte“.45 Wir haben damals solche Texte gelesen, sie aber nicht als Programm verstanden. Es gab so eine Art Ferment, wo man sehen konnte, dass sehr viel im Fluss ist, auch im deutsch-polnischen Bereich. Sinnvoll eingesetzt, konnten wirklich neue Sachen entstehen. Es war auch eine sehr produktive Zeit für mich, die meisten meiner ersten größeren Arbeiten fallen in die 1990er Jahre. Sie haben vorhin schon Schlögel als ein Beispiel für diese innovativen Arbeiten der 1990er Jahre genannt. Fällt Ihnen noch etwas anderes an wichtigen Lektüren von damals ein, die Sie bis heute prägen? Da ist zum Beispiel Reinhart Koselleck46. Das war für mich auch so ein Name. Aber durch einen ganz anderen Zugang, nämlich durch die Breslau-Kontakte, das heißt von den deutschen Historikern, die mit Breslau etwas zu tun hatten. Rhode47 in gewisser Weise, kein großer Erneuerer der Geschichte, aber immerhin einer, der versucht hat, immer wieder Zugänge zu Polen zu finden. Dann für mich als Deutschlandhistoriker Wehler und Nipperdey, also beide.48 Als Student oder Stipendiat habe ich Geld gespart, um mir einen Band von Nipperdey zu kaufen. Das war wirklich sehr teuer für mich. Trotzdem habe ich mir gedacht, das musst du einmal haben, nicht nur im Regal, sondern das musst du rezipieren, weil das jetzt eine andere Sicht ist. Dann kam Winkler49 mit seinen Ansichten zur „deutschen Frage“ und wie man damit umgeht. Lektüren, die vielleicht für einen durchschnittlichen Geschichtsstudenten selbstverständlich sind, aber die man in Polen auch erst später rezipiert hat. Und dann kam noch diese ganz große Sache mit Orłowski und Kleßmann,50 nämlich diese „Posener Deutsche Bibliothek“51, wo man auf einmal deutsche Autoren in Übersetzung bekommen hat, die für Polen in polnischer Sprache 45

46 47 48 49 50 51

Klaus Zernack (1931-2017) – ders.: Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Ders./Wolfgang H. Fritze (Hg.): Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Berlin 1976, S. 3-46. Reinhart Koselleck (1923-2006). Gotthold Rhode (1916-1990). Hans-Ulrich Wehler (1931-2014); Thomas Nipperdey (1927-1992). Heinrich August Winkler (*1938). Hubert Orłowski (*1937); Christoph Kleßmann (*1938). „Poznańska Biblioteka Niemiecka“/„Posener Deutsche Bibliothek“. Von 1996 bis 2020 erscheinende, von dem Germanisten Hubert Orłowski initiierte Buchreihe mit

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zuvor praktisch nicht zugänglich waren. Das würde ich schon nennen als etwas, das über die 1990er Jahre hinausgeht und ja bis heute existiert. Wir waren nicht so besonders theorieaffin. Das hängt damit zusammen, dass wir zur Zeit des Kommunismus sozialisiert worden waren, also marxistische Philosophie gehabt haben. Unsere Methodologie der Geschichte war marxistisch definiert. In den 1990er Jahren haben wir uns riesig gefreut, dass dieser Ballast endlich weggefallen ist. Trotzdem haben wir auch gesehen, dass die deutschen Historiker zum Beispiel im Unterschied zu uns doch sehr viel mit Theorie arbeiten. Sie haben programmatische Texte verfasst, wie man die Geschichte deuten kann. Im Grunde wussten wir also, dass wir ein bisschen über den eigenen Tellerrand schauen sollten. Es ist interessant, dass jenes Projekt nicht von einem Historiker initiiert worden ist, sondern von einem Germanisten, einem Kulturwissenschaftler, von Hubert Orłowski. Und er hat sich über uns unheimlich lustig gemacht, dass wir Historiker keine Ahnung von der Geschichtstheorie haben und er derjenige ist, der uns das näherbringt. Vielleicht war das lustig gemeint, aber da hat er wirklich recht gehabt. Durch seine Bände haben wir sehr viel Material bekommen, das uns bisher – oft auch sprachlich – vorenthalten war, von Leuten wie Kocka52 und wie sie alle heißen. Um solche Dinge im Original zu lesen, braucht man tatsächlich mehr Hintergrund und Orłowski ist es gelungen, durch die exzellente Übersetzung uns diese Denker tatsächlich näherzubringen. Vor kurzem haben Sie sich in Bezug auf das geplante Berliner Polendenkmal sehr kritisch geäußert und die Ansicht vertreten, dass sich 2050 niemand mehr an den Grund zur Errichtung eines Denkmals erinnern würde.53 Allgemein haben Sie eine sehr zurückhaltende Position gegenüber dem Erfolg einer gegenseitigen geschichtspolitischen Annäherung eingenommen. Wie wird denn Ihrer Meinung nach die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen? Ich tue mich schwer, darauf zu antworten. Ich fange mit den Sprachkenntnissen an: Da beobachte ich einen großen Rückgang der deutschen Sprache

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wissenschaftlichen Texten. Vgl. Orłowski, Hubert/Wryk, Ryszard (Hg.): 50 tomów Poznańskiej Biblioteki Niemieckiej. Poznań 2020. Jürgen Kocka (*1941). Ruchniewicz, Krzysztof: Już lepiej zrezygnować z polskiego pomnika, in: #Blogihistoria vom 11.6.2020, https://krzysztofruchniewicz.eu/juz-lepiej-zrezygnowac-z-polskiegopomnika (26.8.2020).

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in Polen. Zum Beispiel haben wir am Willy Brandt Zentrum54 zwar Mitarbeiter, die Deutsch können, aber verstärkt auch solche, die nur Englisch kommunizieren. Bei den Studierenden ist es auch nicht besser. Wenn ich zum Beispiel zwei, drei Studierende in einer Gruppe von 20 finde, die passables Deutsch können, dann stellt sich sehr schnell heraus, dass es Angehörige der deutschen Minderheit sind. Bei den Polen ist es also ganz schwierig. In den 1990er Jahren war das noch umgekehrt. Das heißt, wir konnten Deutsch, wir konnten uns mit den deutschen Kollegen auseinandersetzen. Und es kamen die ersten deutschen Kollegen wie Markus Krzoska zum Beispiel oder andere, die Polnisch konnten. Diejenigen, die sich mit Polen beschäftigten und auch Polnisch konnten, waren damals noch eine klare Minderheit unter deutschen Historikern. Bei der älteren Generation war das eben nicht so. Hoensch konnte passiv Polnisch, Polnisch sprechen habe ich ihn nie gehört, bei Lemberg war es genauso. Heute ist das bei deutschen Polenhistorikern ganz selbstverständlich. Ich würde also sagen, dass wir eine neue Entwicklung beobachten. Und das wird sich sicherlich auch auf den deutsch-polnischen Historikerdialog auswirken. Wir werden dann wahrscheinlich nicht mehr dieselben Zugänge haben, also zum Beispiel zur deutschen Forschungsliteratur. Wenn es sie noch gibt, wird sie in den nächsten Jahren keiner mehr rezipieren, wenn sie nicht übersetzt wird, ins Englische oder ins Polnische. Das betrifft aber gerade auch die Quellen. Wir haben in Breslau die meisten Quellen auf Deutsch. Gut, man kann sagen, 2030 sind Breslau und Niederschlesien fast 100 Jahre polnisch und haben inzwischen auch genug polnische Materialien produziert. Aber der Großteil des Materials in Archiven und Bibliotheken liegt eben doch auf Deutsch vor. Das Sprachproblem wird sich sicherlich auf die Intensität des Dialogs auswirken. Oder wir finden ganz andere Zugänge, etwa indem Projekte entstehen, bei denen die Sprache keine Rolle spielt. Aber die Frage für mich ist dann wieder: Wie können wir die deutschen Materialien rezipieren als Grundlage für die historische Forschung? Man kann nicht alles übersetzen, das ist einfach ausgeschlossen. Ich könnte mir auch nicht vorstellen, um das plakativ zu machen, Goethe auf Englisch zu lesen. Für mich wäre das undenkbar. Neben diesem Problem ist es eine Tatsache, dass wir über Deutschland hinausblicken. Deutschland ist nicht mehr Referenz. Für viele Politologen, Soziologen und so weiter geht es darum, was in Amerika passiert oder in 54

Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. W. Brandta / Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien (WBZ) der Universität Wrocław, 2002 als gemeinsame Gründung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes und der Universität Wrocław ins Leben gerufen. Vgl. Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław in den Jahren 2002-2012. Wrocław 2010.

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Großbritannien. Das ist vielleicht normal. Ich weiß es nicht. Ich habe keine Antwort darauf parat, aber ich habe eben durch meine Familie oder meine Erlebnisse einen ganz anderen, persönlichen Zugang zu diesen deutschen Themen. Wenn wir heute Studierende im Rahmen des Erasmus+-Programms fragen, ob sie nicht nach Deutschland fahren möchten, sagen sie: „Nein. Wir fahren woanders hin. Deutschland ist für uns uninteressant.“ Das, was für meine Generation noch spannend, anregend war, dass man immer so den Eindruck hatte, wenn man rüberfuhr, dass man die Batterien auflud, das ist heute wahrscheinlich für niemanden mehr so. Was bedeutet das jetzt für unsere Beziehungen? Wenn ich nun an meinen Blog denke, ist mir in der Tat aufgefallen, dass man sogar bei solch einer Diskussion über ein Denkmal auf deutscher Seite trotz aller wirklich intensiven Kontakte, die man in den letzten drei Jahrzehnten gehabt hat, nicht einmal versucht hat, sich Gedanken zu machen, wie man gegenüber den polnischen Partnern zuvorkommend handeln kann. Das heißt, dass man sensibel reagiert und doch versucht einen Ort in Deutschland zu finden, an dem man auch fremde Opfer betrauern kann, dass man sie jetzt als gleichberechtigt anerkennt. Aber ok., so ist das, es ist jetzt eure, deutsche Entscheidung, eine politische Entscheidung, was auch immer. Was nun die Zukunft angeht, da müssen wir auch andere Formate ausprobieren. Das heißt eine neue Erzählung entwickeln, um, durch die Epidemie mehr oder weniger gezwungen, die Lehre jetzt im Internet zu organisieren. Ich mache zum Beispiel mit einem Kollegen einen Podcast, wo wir uns über historische Themen austauschen.55 Das müsste eigentlich auch zu unserer Ausbildung als Historiker gehören, dass wir aktiv sind, auch in den social media. Hier sind wir jetzt gefragt als Spezialisten, die Stellung nehmen können und ich glaube, dass es eine bestimmte Verantwortung für die Gesellschaft gibt, und da hätte ich mir etwas mehr davon gewünscht. Für 2030 hoffe ich dann, dass wir nicht mehr nur in unseren kleinen Kämmerchen sitzen und unser eigenes Süppchen kochen, sondern dass wir uns verstärkt anderen Aufgaben gesellschaftlicher Art zuwenden, etwa den Herausforderungen durch die Entwicklung der Technik, wo Geschichte immer eine ganz wichtige Rolle spielt. Vielleicht können wir ja durch unsere aktive Beteiligung das Potenzial von Konfliktsituationen reduzieren, wie sie durch Renationalisierungstendenzen in Europa entstehen. Was die Technik uns noch bringen wird, dass wissen wir im Moment nicht, das entwickelt sich ständig. Aber immerhin, so glaube ich, müsste es auch zu unserer Ausbildung als Historiker dazugehören. 55

Ruchniewicz, Krzysztof/Wiszewski, Przemysław: Podcast #2historykow1mikrofon, http:// 2historykow1mikrofon.pl (26.8.2020).

Abb. 20.1

Im Convivium mit Claudia Kraft (l.) und Ingo Eser (r.), ul. Fabryczna, Warschau im Sommer 1997. Foto: privat.

Katrin Steffen (*1967) hat nach ihrer Dissertation zur „Jüdischen Polonität“ am DHI Warschau, an der Universität Halle-Wittenberg und am Nordost-Institut in Lüneburg gearbeitet und war 2017 Gastprofessorin an der EHESS in Paris. 2019 hat sie sich mit der Arbeit „Blut und Metall. Jan Czochralski und Ludwik Hirszfeld in ihren transnationalen Wissensräumen“ in Halle-Wittenberg habilitiert. Sie ist seit 2020 DAAD Professor of European and Jewish History and Culture an der University of Sussex in Brighton.

„Es geht darum, dass wir Deutsche uns darüber unterhalten, was Polen für uns war und ist“ Katrin Steffen Wie kommt man im tiefsten Niedersachsen in den 1980er Jahren auf die Idee, Osteuropäische Geschichte und Slavistik zu studieren? Und warum dann gerade auch noch in Gießen1? Ich bin nach Gießen gegangen, weil ich Fachjournalismus Geschichte studieren wollte – da wusste ich noch gar nicht, dass es so etwas wie Osteuropäische Geschichte überhaupt gibt. Weil ich vorher in Osnabrück, wo ich aufgewachsen bin, schon journalistisch für die „Neue Osnabrücker Zeitung“ gearbeitet hatte und ein Interesse an Geschichte hatte, fand ich diese Kombination in Gießen ideal und fing dort an zu studieren. Dazu gehörte, ein Proseminar bzw. damals ein Grundseminar, in Geschichte zu belegen. Ich bin damals nicht in das Grundseminar zur Frühen Neuzeit bei Luise Schorn-Schütte2 reingekommen, weil es überbelegt war. Das veränderte mein Leben, weil ich das Grundseminar zur „Neuen ökonomischen Politik in der Sowjetunion“ bei Klaus Heller3 belegen musste – ein Zufall. Das Seminar war dann sehr spannend und schon bin ich bei der sowjetischen Geschichte hängengeblieben. Es war das Jahr 1988/89, Gorbačev4 usw., das war alles sehr aufregend und der Assistent von Heller vermittelte mir damals einen privaten dreiwöchigen Aufenthalt in Leningrad, eine ganz andere Welt. Ich bin dann bei Osteuropa geblieben und habe die Fachjournalistik Geschichte wieder aufgegeben, weil ich gedacht habe: Okay, man kann auch Journalistin werden, wenn man nicht diese Ausbildung hat. Ich habe dann angefangen, ‚wirklich‘ Osteuropäische Geschichte zu studieren und erst einmal Russisch gelernt, und das aber immer in Kursen von zwei bis vier Semesterwochenstunden, was mühsam war. Für die zweite slavische Sprache, die für das Slavistik-Studium, das ich dann im Nebenfach begonnen habe, Pflicht war, habe ich mich deswegen nach einem Intensivkurs umgeschaut und da bot sich das Mainzer Polonicum5 an. Das kostete damals 1 2 3 4 5

Eine Mittelstadt in Mittelhessen. Luise Schorn-Schütte (*1949). Klaus Heller (*1937). Michail Sergeevič Gorbačev (*1931). Das Mainzer Polonicum (bis 1983: Mainzer Modell) ist ein 1979 ins Leben gerufenes System studienbegleitender Sprachkurse des Polnischen.

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200 Mark für das ganze Semester plus einen Monat in Krakau, glaube ich. So fing die Beschäftigung mit Polen an. Jetzt könnte ich noch eine andere Geschichte erzählen, nämlich die, dass meine Familie väterlicherseits aus Königsberg stammt. Vor allem mein Onkel war es, der in der Familie ein Interesse an Osteuropa hatte und das auch gelebt hat. Er ist Pastor und war über den Martin-Luther-Bund6 mit Osteuropa und Russland beschäftigt. Er meinte dann irgendwann einmal zu mir, als ich schon angefangen hatte, mich mit Osteuropa zu beschäftigen: „Der Osten liegt anscheinend irgendwie in unseren Genen.“ Auch wenn ‚der Osten‘ dort natürlich nicht lag, war aber wohl doch eine unterbewusste Bindung an Königsberg vorhanden, wenngleich diese ganze Frage von Vertreibung eine Geschichte war, über die in der Familie eher wenig gesprochen wurde, was vielleicht für westdeutsche Familien nicht untypisch war. Was ich erfahren habe, war, dass mein Vater aus Königsberg 1944 mit dem Schiff gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Urgroßmutter geflüchtet ist, im Alter von zwei Jahren, und er sich daran erinnern konnte, dass er damals auf dem Schiff Geburtstag hatte und ein Spiel bekam – „Spitz, paß auf“. Mein Großvater, der mein Stief-Großvater war, weil der erste Großvater in Russland gefallen war, war glaube ich nicht dabei. Aber, wie gesagt, darüber wurde wenig gesprochen, auch darüber nicht, was die Familie zwischen 1933 und 1945 gemacht hat. Ich habe einmal konkret danach gefragt und definitiv keine Antwort bekommen. Die Vertreibung wiederum wurde als ganz schrecklich wahrgenommen und als sehr ungerecht. Mein Opa sprach immer von dem ‚Ivan‘, was man deswegen verstehen kann, weil seine Eltern damals in Königsberg verblieben sind und zu denjenigen gehörten, die systematisch ausgehungert wurden. Letztlich haben sie sich, um diesem Hungertodschicksal zu entgehen, selbst umgebracht. Deswegen war dieser ‚Osten‘, die Sowjetunion in der Familie als irgendwie ‚böse‘ konnotiert, aber natürlich auch interessant, weil es im Unterbewussten immer ein Teil der Familiengeschichte war, ein nicht thematisierter, verdrängter, und damit etwas, was geheimnisumwoben war, was ich herausfinden wollte. Das hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass ich diesen Weg eingeschlagen habe. Während der Schulzeit hatte ich eigentlich keinerlei Affinität dazu, aber mit dem Beginn des Studiums, als ich mit der Osteuropäischen Geschichte in Berührung kam, hat das vielleicht doch mit reingespielt.

6 Diasporawerk der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Deutschlands (VELKD). Vgl. Vismann, Dieter (Hg.): Vom Gotteskasten zum Martin-Luther-Bund. 150 Jahre Diasporafürsorge in Hannover. Erlangen 2003.

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Ich bin dann nach dem Mainzer Polonicum Anfang der 1990er Jahre nach Berlin gegangen, weil Klaus Zernack7 dort war. Es zog mich zum – in meiner Vorstellung – besten Professor für polnische und osteuropäische Geschichte. Ich wollte jetzt die polnischen Studien unbedingt fortsetzen, weil ich letztlich die polnische Geschichte interessanter fand als die sowjetische, facettenreicher. Nicht, dass ich das damals hätte wirklich beurteilen können, so kurz nach der Zwischenprüfung, aber das war mein Anliegen. Außerdem war es während des Polonicums in Krakau einfach toll. Es war noch kurz nach der Wende, das war alles sehr aufregend und spannend, sehr ungewohnt. Da fingen die ersten Debatten über das polnisch-jüdische, polnisch-deutsche Verhältnis dann, das war alles ungemein interessant. Und ja, deswegen bin ich dann bei Polen geblieben. Und die Seminare bei Zernack waren sehr, sehr lehrreich, wenn auch etwas anders als wir heute unsere eigenen Seminare gestalten – es war eine alte Gelehrtenkultur, kaum verschult, freies Denken und Assoziieren war gefragt, und sehr viel Lesen. Wenn Zernack sprach, war das fast immer druckreif, darin war er wohl einmalig. Nach pädagogisch-didaktischen Methoden oder Richtlinien hat damals hingegen niemand gefragt. Heute, da ich in England unterrichte, wo es sehr viel verschulter zugeht (aber auch sehr viel gelesen wird), wünsche ich mir etwas von dieser alten Gelehrtenkultur zurück, obwohl ich mich erinnere, dass es damals nicht immer einfach war, nicht von der Ehrfurcht vor so viel Wissen gehemmt zu sein, trotz der prinzipiell sehr offenen Atmosphäre. Und wir haben natürlich eine Menge gelernt. Außerdem ist besonders aus dem Doktoranden-Kolloquium ein toller Kolleginnen- und Kollegenkreis entstanden, wenngleich ich auch sagen muss, dass ich mich eigentlich nie so richtig in diese Schüler-Lehrer-Geschichte einordnen konnte. Zum einen, weil ich mit meinem polnisch-jüdischen Thema in diesem Kreis ein wenig exotisch war, wobei ich dazu sagen muss, das Zernack das Thema und mich uneingeschränkt gefördert hat, in seiner unaufdringlichen Art, die sehr angenehm war. Er hat mir zum Beispiel den Kontakt zu Jacob Goldberg8 vermittelt, was sehr hilfreich war. Zum anderen merkte ich natürlich auch, dass ich eine von sehr wenigen Frauen war, die bei Zernack promoviert haben – das war schon eine sehr männlich geprägte Kultur, die osteuropäische Geschichte, der Doktorandenkreis, und das begann sich nur sehr langsam zu ändern. Aber mit dem Kollegenkreis habe ich immer noch viel Kontakt, z.B. auch zu Claudia Kraft9, die ich schon aus Gießen kannte und mit der ich gemeinsam im Polonicum war, und die damals auch in Berlin lebte. 7 Klaus Zernack (1931-2017). 8 Jacob Goldberg (1924-2011). 9 Claudia Kraft (*1968).

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Hier sind auch Freundschaften entstanden und die Zeit an der FU Berlin war eine tolle und produktive Zeit. Wie haben Sie denn eigentlich die ‚Wende‘ konkret erlebt? Hat sich 1989/90 für Sie etwas Entscheidendes verändert? Oder würden Sie eventuell sogar andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen? 1989 hat sich natürlich etwas verändert, weil man auf einmal reisen konnte. Damals war ich noch in Gießen, wo viele DDR-Übersiedler in einem Aufnahmelager ankamen.10 Und wir sind damals mit unserer WG da hingefahren und haben mit den Übersiedlerinnen und Übersiedlern gesprochen. Das war ein bisschen wie im Zoo, ich gebe es zu: Wir wollten sie sehen, und wir wollten von ihren Erfahrungen hören. Wobei es für mich so war, dass ich die DDR eigentlich kannte, denn ein Teil meiner Familie, die Schwester von meiner Oma, lebte in Naumburg, und meine Oma kam aus Thüringen. Ich bin als Kind häufiger – eine weitere Osterfahrung eigentlich – in der DDR gewesen. Weil die Familie dort ein sehr schönes Haus verloren hat, weil es von der SED übernommen wurde und meine Oma es letztlich verschenkt hat, war auch dieses Land in meiner Familie eher negativ konnotiert – die DDR galt als das zweite ‚Böse‘ nach der Sowjetunion. Insofern war 1989 ein ziemlicher Einschnitt, weil sich alles änderte. Man konnte hin- und herfahren, wir konnten auch die Familie auf einmal ganz anders besuchen. Für die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte sind vielleicht spätere Daten noch wichtiger, aber natürlich war die Öffnung der Grenzen und der Archive, dass man hinreisen konnte usw., sehr einschneidend. Sie sind in den 1990er ja wissenschaftlich ‚erwachsen‘ geworden, wenn man so will. Wie hat sich in Ihrer Erinnerung die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaft in Deutschland und in Polen ausgewirkt, wie hat sie darauf eingewirkt? Oder auch umgekehrt, wie haben Historikerinnen und Historiker auf die Politik versucht Einfluss zu nehmen? War das eine starke Politisierung, die da zu spüren war, oder eher weniger? Mit dem Begriff der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft hat man schon versucht, die deutsch-polnischen Beziehungen auf eine andere Basis zu stellen, aber zum Teil ohne echte Debatten auf Augenhöhe zu führen, da ist auch viel unter dem Schlagwort der „Versöhnung“ geschönt worden. Man 10

Laak, Jeanette van: Das Notaufnahmelager Gießen, in: Deutschland Archiv Online, 27.3.2013, http://www.bpb.de/157195 (21.10.2020).

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wollte sich näherkommen, aber es hat nicht immer ganz funktioniert, weil es ganz viele unterschiedliche Interessen gab, die sich alle artikuliert haben. Das haben dann ja diese ganzen Debatten gezeigt: die Vertreibungsdebatte, und dann darauffolgend bzw. im Wechselspiel damit die Jedwabne-Debatte11. Die Politik, wenn sie von Personen wie Erika Steinbach12 repräsentiert wurde bzw. ihr über Gebühr auf beiden Seiten der Oder Aufmerksamkeit geschenkt wurde, hat dann eine unselige Rolle gespielt. Sie hat ja 1990 gegen den deutschpolnischen Grenzvertrag13 gestimmt und wollte dennoch als ernsthafte Stimme wahrgenommen werden – sie hat aber eigentlich der Beteiligung der Vertriebenen an der Diskussion darüber, wie man an die Vertreibung der Deutschen erinnern sollte, dadurch den Boden entzogen. Denn Voraussetzung dafür musste es sein, die Grenzen anzuerkennen. Ich fand damals, ihr Verhalten hätte eigentlich dazu führen müssen, dass der Bund der Vertriebenen als Partner nicht mehr hätte in Frage kommen dürfen, weil Steinbach diesen Grenzvertrag in Frage gestellt hatte. Und das hatte Auswirkungen: Dann sind Verhärtungen eingetreten, die man in Polen beobachten konnte, und mit denen hat man es dann auch in der Geschichtswissenschaft zu tun gehabt. In Polen sind ja schon früh Debatten über Vertreibung angestoßen worden, was zum Beispiel an dem Projekt von Jerzy Kranz und Klaus Bachmann deutlich wurde.14 Das ist teilweise in Deutschland nicht richtig wahrgenommen worden, und dann wurde von deutscher Seite behauptet, die Polen hätten 11

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Innenpolitische Debatte in Polen als Reaktion auf Jan Tomasz Gross’ (*1947) Buch „Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne. München 2001“ (poln. Original: Sąsiedzi. Historia zagłady żydowskiego miasteczka. Sejny 2000), in dem der amerikanischpolnische Soziologe nachgewiesen hatte, dass es polnische Einwohner des podlachischen Städtchens Jedwabne gewesen waren, die unter Aufsicht der deutschen Besatzer ihre jüdischen Mitbürger am 10. Juli 1941 auf dem Marktplatz zusammengetrieben und anschließend in einer Scheune am Ortsrand verbrannt hatten. Nationalkonservative Kreise lehnen diese Deutung bis heute ab. Zusammenfassend zur Debatte vgl. Polonsky, Antony/Michlic, Joanna (Hg.): The neighbors respond. The Controversy over the Jedwabne Massacre in Poland. Princeton 2004. Erika Steinbach (*1943). Verträge zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze vom 14. November 1990 & über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Vgl. Góralski, Witold  M. (Hg.): Historischer Umbruch und Herausforderung für die Zukunft. Der deutsch-polnische Vertrag über gute Nachbarschaft und Freundschaftliche Zusammenarbeit vom 17. Juni 1991. Ein Rückblick nach zwei Jahrzehnten. Warschau 2011; Barcz, Jan/ Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Akt historyczny. 30 lat Traktatu o potwierdzeniu granicy polsko-niemieckie na Odrze i Nysie Łużyckiej. Wrocław/Warszawa 2021. Jerzy Kranz (*1948); Klaus Bachmann (*1963) – dies. (Hg.): Verlorene Heimat. Die Vertreibungsdebatte in Polen. Bonn 1998 (poln.: Przeprosić za wypędzenie? O wysiedleniu Niemców po II wojnie światowej. Kraków 1997).

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sich überhaupt nicht damit beschäftigt. Das waren alles hoch politisierte, geschichtspolitische Debatten. Natürlich hat sich heute einiges verändert, aber vieles bleibt auch immer noch politisierbar und instrumentalisierbar. Und bestimmte Themen – Zweiter Weltkrieg, Holocaust, deutsch-polnischjüdisches Beziehungsdreieck – können immer noch explosiv sein, und das wird vermutlich auch noch eine Zeit so bleiben. Hatten Sie denn das Gefühl, dass alte Komplexe bzw. Verhaltensmuster weitergewirkt haben? Am Beginn des neuen Jahrtausends konstatierten Sie, dass die sich seit 1989 langsam entwickelnden „diskursiven Kommunikationsblockaden […] vielfältige Ursachen“ gehabt hätten.15 Würden Sie sagen, dass Schieflagen und Asymmetrien in diesen deutsch-polnischen Beziehungen bestehen blieben oder sich neue, andere entwickelten? Ich glaube tatsächlich, dass viele Verhaltensmuster oder Bilder lange bestehen blieben bzw. lange und immer wieder einsetzbar sind, bewusst und unbewusst, und das gilt für beide Seiten. Dazu gehört zum einen, dass manche Kreise in Polen versuchen, ein Bild aufrecht zu erhalten, dass „die Deutschen an sich den Polen immer Böses wollen“ und prinzipiell feindlich gesinnt sind. Natürlich stimmt es, dass es lange Phasen in der Geschichte gab, in der von deutschen Landen aus antipolnische Politik gemacht wurde, unter anderem, um Preußens Aufstieg zu ermöglichen und die Deutschen zu einen. Es wurde aber ebenso zu bestimmten Zeiten in Polen systematisch geschürt. Ich glaube, das ist ein stabiles, langlebiges Denkmuster, das aktiviert werden kann, ich bin aber ebenso davon überzeugt, dass nicht jeder Pole und jede Polin, also die ganze Gesellschaft von einem deutschen Erzfeind ausgeht, sondern dass nationalistische Politiker immer mal wieder versuchen, das Wahlvolk davon zu überzeugen. Und dann fällt es immer wieder auf einen fruchtbaren Boden, auch bei Wahlen, das letzte Mal mit Tusks Opa in der Wehrmacht.16 Das hat nach 1945 funktioniert, es nimmt ab, weil es heute anders besetzt wird und weil 15 16

Steffen, Katrin: Deutsch-polnische Gedächtnisblockaden – Krise und Chance, in: OSTWEST. Europäische Perspektiven  5 (2004) 4, S.  268-279, https://www.owep.de/artikel/ 120-deutsch-polnische-gedaechtnisblockaden-krise-und-chance (07.07.2020). Die politisch instrumentalisierte Debatte um die nationale Zuverlässigkeit polnischer Politiker entzündete sich während des Präsidentschaftswahlkampfs 2005 an der zeitweiligen Zugehörigkeit eines (kaschubischen) Großvaters von Donald Tusk (*1957) zur deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs. Vgl. Szczepuła, Barbara: Dziadek w Wehrmachcie. Gdańsk 2007; auch Loew, Peter Oliver: Zwillinge zwischen Endecja und Sanacja. Die neue polnische Rechtsregierung und ihre historischen Wurzeln, in: Osteuropa 55 (2005) 11, S. 9-20, S. 15f.

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viele jüngere Menschen Deutschland selbst gut kennen, aber dass Deutschland heute – sei es über die Flüchtlingspolitik oder seine Rolle in der EU – Polen potentiell nach wie vor schaden kann – dieses Denkmuster kann immer noch verwendet werden, es wird halt immer wieder mit neuen ‚Argumenten‘ gefüllt. Und auf deutscher Seite glaube ich, dass die Tatsache, dass sich die deutsche Gesellschaft eigentlich nie mit dem Verhältnis zu Polen wirklich auseinandergesetzt hat, problematisch ist. Deutsche haben sich in langen und mühsamen Prozessen mit dem Verhältnis zu den Juden, zum Antisemitismus, zu den Franzosen, ein bisschen zu den Amerikanern auseinandergesetzt, aber nie intensiver mit antipolnischer Politik und den polnischen Opfern des Zweiten Weltkriegs. Der Erste, der überhaupt irgendwann mal alle Opfer genannt hatte, war 1985 Richard von Weizsäcker17 in seiner berühmten Rede, aber an die Polen als solche wurde auch danach nicht gesondert erinnert. Und ich glaube schon, dass nach wie vor eine diffuse Grundhaltung in Deutschland existiert, vieles im ‚Osten‘ – das gilt jetzt nicht nur unbedingt für Polen, obwohl das Verhältnis zu Russland natürlich ein anderes ist – erstmal als defizitär wahrzunehmen. Man versichert sich damit seiner eigenen Modernität, als westlich, postnationalistisch usw. und ‚da hinten‘ ist der ‚Osten‘, das kulturell Andere, fremd und defizitär. Das hat sich früher in Schlagworten wie „Polnische Wirtschaft“ geäußert, heute macht man dann eher einen übersteigerten Nationalismus oder eine fundamentalistische Religiosität aus. Dabei wird auch leicht mal von einer nationalistischen Regierung auf die ganze Gesellschaft geschlossen. Ich denke, da hat die Debatte um einen Gedenkort für Polinnen und Polen jetzt etwas angestoßen, meiner Meinung nach eine überfällige Debatte, in der die tatsächlich lange Geschichte antipolnischer Emotionen und Einstellungen verhandelt werden sollte. Es geht hier nicht darum, ‚den Polen‘ ein Denkmal zu schenken und damit ihrer Regierung Legitimation zu verleihen (so ja teilweise das Argument der Kritikerinnen und Kritiker), sondern es geht darum, dass wir Deutsche uns darüber unterhalten, was Polen für uns war und ist, wozu wir Polen gebraucht haben, wie wir die Abgrenzung für unsere eigene Identitätsbildung eingesetzt haben. Es gibt eine lange Tradition von „negativer Polenpolitik“18 und antipolnischen Einstellungen. Meiner Meinung nach sind also auf beiden Seiten noch Verhaltensmuster aktivierbar, die durch die vielen Debatten, die bereits stattgefunden haben, abgeschwächt wurden, die aber 17 18

Richard von Weizsäcker (1920-2015) – Rede des Bundespräsidenten zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1985 im Bundestag. Zernack, Klaus: Negative Polenpolitik als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jahrhunderts, in: Uwe Liszkowski (Hg.): Rußland und Deutschland. Stuttgart 1974, S. 144-159.

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trotzdem nach wie vor weiterwirken – sie verändern sich von Generation zu Generation und jede Generation handelt neu aus, wie sie damit umgeht. Wie würden Sie sich denn zur Debatte um Klaus Bachmanns Formulierung vom „Versöhnungskitsch“19 positionieren? War das völlig verständlich für Sie, dass man das auch so sehen konnte, oder würden Sie sagen: Das war eigentlich übertrieben, das hat niemandem gutgetan, oder das hat gar vielen Unrecht getan? Man konnte schon von „Versöhnungskitsch“ sprechen, weil man damals überall auf einmal „Versöhnung“ draufschrieb. Die Konflikte oder unterschiedlichen Meinungen wurden dann alle unter diesem Versöhnungsmantel verpackt. Da ist oft kein richtiger Dialog zustande gekommen. Das ist aber generell bis heute manchmal ein Problem in den deutsch-polnischen Beziehungen, dass es teilweise keinen Dialog gibt, sondern ein monologisches Erzählen vom jeweiligen eigenen Standpunkt aus. Da hat man dann gesagt: „Ja, wir müssen uns jetzt versöhnen“ und: „Versöhnung ist wichtig“, stimmt ja auch. Aber es hat auch vieles verdeckt. Mir hätte es besser gefallen, man hätte mehr argumentiert und sich mehr ausgetauscht, auch die schmerzhaften Seiten der Geschichte auf beiden Seiten mehr angesprochen. Und vor allem auch nicht nur im Rahmen der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte als Selbstbeschau, sondern europäisch erweitert, und auch um die jüdische Geschichte. Bis heute kommt die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte noch zu häufig ohne die jüdische Geschichte aus. Welche Einzelpersönlichkeiten waren damals für Sie besonders wichtig im Fach? Sind die deutsch-polnischen Historikerkontakte nach 1989 letztlich geprägt gewesen von älteren Männern? Das ist eine sehr berechtigte Frage. Also ich habe ja schon gesagt, dass für mich Zernack tatsächlich sehr wichtig war. Ich habe damals an der FU studiert und muss gestehen, dass jemand wie Wolfgang Wippermann20 mich auch zeitweilig beeindruckt hat, weil er als ein politisch eher links stehender Historiker Themen anders verhandelt hat, viel politisierter, und bei ihm habe ich zum 19

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1994 von dem in Polen lebenden deutschen Journalisten Klaus Bachmann ausgelöste Debatte darüber, ob die fortwährenden Reden über Versöhnung in ihrer Oberflächlichkeit der Komplexität der deutsch-polnischen Beziehungen nicht gerecht werden. Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muss von Polen ausgehen, in: taz vom 5. August 1994, S. 12; Hahn, Hans Henning/Hein-Kircher, Heidi/Kochanowska-Nieborak, Anna (Hg.): Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch. Marburg 2008. Wolfgang Wippermann (1945-2021).

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Beispiel viel über die Ostforschung und die Verstrickung etwa von Oberländer21 mit dem Nationalsozialismus gelernt; Themen, über die zu jener Zeit noch nicht so wahnsinnig viel geredet wurde, unmittelbar nach 1990. Ich hatte damals die Idee, meine Magisterarbeit über ein Ostforschungsthema zu schreiben, aber bei Zernack. Er fand aber das polnisch-jüdische Thema besser, und da ich diese Idee selbst aus Polen mitgebracht hatte, habe ich mich gerne darauf eingelassen. Und ja, das waren überwiegend „weiße, alte Männer“, von denen ich viel gelernt habe, und dazu möchte ich auch noch Reinhard Rürup22 von der TU Berlin zählen, der ein großartiger Lehrer für die jüdische Geschichte war. Ebenso wichtig war Jacob Goldberg, mit dem Klaus Zernack befreundet war, ein polnisch-jüdischer Historiker aus Jerusalem, der immer gesagt hat: „Es gibt keine polnische Geschichte ohne die jüdische Geschichte und umgekehrt.“ Es gab tatsächlich in meiner historischen Sozialisation nur wenige Frauen. Auf polnischer Seite war das immer Anna Wolff-Powęska23, die ja wirklich sehr gute Bücher geschrieben hat zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte. Aber damit sind wir natürlich sehr viel später erst in Verbindung gekommen. An der FU, in Gießen oder in Mainz kann ich mich eigentlich sehr wenig an Historikerinnen erinnern, die da unterrichtet hätten, Frau Schorn-Schütte natürlich, und eine Professorin24 in der Alten Geschichte. In Mainz habe ich dann Hans-Jürgen Bömelburg25 kennengelernt, der hat mich damals durch sein wahnsinnig umfassendes Wissen zur polnischen Geschichte beeindruckt. Wie er in den Seminaren mit Janusz Małłek26 diskutiert hat, der damals Gastprofessor in Mainz war, das hat mich sogar eine Zeitlang für die Frühe Neuzeit begeistert. Es war einfach sehr anregend, wie sie sich dort PolenKenner austauschten: Auch diese Zeit hat mich geprägt. Später in Polen war es wiederum Jerzy Tomaszewski27, dessen Arbeiten sehr wichtig für meine eigene Dissertation28 wurde. Im Rahmen des Vertreibungsprojekts wiederum waren Hans Lemberg, Włodek Borodziej und Jurek Kochanowski überaus gut informierte, humorvolle und sehr angenehme Kollegen, die beiden 21 22 23 24 25 26 27 28

Theodor Oberländer (1905-1998). Die Debatten bezogen sich auf die Rolle des späteren Bundesministers für Vertriebene (1953-60) innerhalb des nationalsozialistischen Systems, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs. Reinhard Rürup (1934-2018). Anna Wolff-Powęska (*1941). Helga Gesche (*1942). Hans-Jürgen Bömelburg (*1961). Janusz Małłek (*1937). Jerzy Tomaszewski (1930-2014). Steffen, Katrin: Jüdische Polonität. Ethnizität und Nation im Spiegel der polnischsprachigen jüdischen Presse 1918-1939. Göttingen 2004.

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letztgenannten sind es bis heute.29 In dieser Zeit in Polen konnte ich dann auch noch Krystyna Kersten30 kennenlernen. Und obwohl Maria Janion31 nichts mit den deutsch-polnischen Kontakten zu tun hatte, hat sie mich mit ihren Arbeiten beeindruckt, weil sie konsequent und mutig scheinbare Gewissheiten der polnischen Geschichte in Frage gestellt hat. Welche Rolle haben generell wissenschaftliche oder auch private Netzwerke damals gespielt, und wie war der persönliche Umgang miteinander, gerade zwischen Deutschen und Polen? Und könnte man das beispielhaft auch an dem Vertreibungsprojekt festmachen, weil es doch etwas Neues war? Ja, das war für uns alle neu. Ich hatte während der Dissertation zwar auch schon Kontakte zu polnischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geknüpft, aber dieses bilaterale Projekt war definitiv neu. Wir sind zu dritt, Claudia Kraft, Ingo Eser32 und ich, sofort nach Warschau gezogen und ins kalte Wasser geworfen worden. Wir lebten zu dritt in einer WG, in einem Convivium, wie Herr Lemberg zu sagen pflegte, und machten eigentlich ein dreiviertel Jahr nichts anderes als morgens aufzustehen, in die Archive zu gehen und abends wieder nach Hause. Ab und zu haben wir uns mit den polnischen Kollegen getroffen. Ich finde, das war schon extrem wichtig, obwohl es auch sehr unterschiedliche Charaktere in diesem Vertreibungsprojekt gab und mit einigen war die Zusammenarbeit ganz hervorragend, wie gesagt, mit Borodziej und Jerzy Kochanowski.33 Mit anderen war es etwas schwieriger, weil wir doch zum Teil unterschiedlich historisch sozialisiert waren und andere Konventionen mitbrachten – wir wollten zum Beispiel die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass die Kategorie Gender in der Geschichte von Zwangsmigration und etwas auch der Gewalt, die damit einhergeht, wichtig für die Analyse des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens war. Wir haben uns ja mit dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Polen von 1945-49 befasst und die Menschen, um die es da ging, waren eben hauptsächlich Frauen und Kinder. Und das war 29

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Hans Lemberg (1933-2009); Włodzimierz Borodziej (*1956); Jerzy Kochanowski (*1960) – Borodziej, Włodzimierz/Lemberg, Hans (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden  …“. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven. 4 Bde. Marburg 2000-2004; poln. Ausgabe: Niemcy w Polsce 19451950. Wybór dokumentów. Tom 1-4. Warszawa 2000-2001. Krystyna Kersten (1931-2008). Maria Janion (1926-2020). Ingo Eser (*1971). Die Projektgruppe bestand aus Ingo Eser, Stanisław Jankowiak (*1958), Jerzy Kochanowski, Claudia Kraft, Witold Stankowski (*1966) und Katrin Steffen.

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eine Perspektive, um die Claudia und ich kämpfen mussten, dass sie als Wahrnehmung stattfinden konnte. Das fand ich damals etwas problematisch. In Polen war eben die warsztat34 zuweilen wichtiger als Methodologie. Ich will das jetzt nicht für die polnische Geschichtswissenschaft an sich konstatieren, das wäre ganz falsch, aber auf jeden Fall war es in dem Vertreibungsprojekt teilweise ein Problem, aber eben auch nicht für alle. Das ist wiederum nicht überraschend – wir kamen ja schließlich aus unterschiedlichen historischen Sozialisationen. Die Netzwerke, die damals entstanden sind, aber vor allem auch das konkrete Ergebnis der Arbeit, die Quellenedition, waren natürlich wichtig für uns, auch für den weiteren Weg – für Claudia und mich zum Beispiel in das DHI Warschau.35 Diese Kontakte waren sehr hilfreich, diese wissenschaftlichen Netzwerke, die wir allmählich knüpfen konnten. Wenn man sich als Deutsche mit den deutsch-polnischen Beziehungen beschäftigte, dann war das auch überall akzeptiert. Mit meiner Dissertation lag es ein bisschen anders, weil ich mich als Deutsche mit den polnischen Juden beschäftigt habe, was ich natürlich auch aus einer deutschen Perspektive getan habe, einfach von der Herangehensweise her. Ich bin überhaupt auf die Fragestellung gekommen, weil ich vergleichend die deutsch-jüdische Geschichte im Kopf hatte (die Jüdinnen und Juden, die längst Deutsche geworden waren), während ich in Polen immer nur hörte: Polen und Juden, ganz getrennt … was ich kaum glauben konnte. Deswegen habe ich mir dann die polnischsprachigen Jüdinnen und Juden angeschaut Als ich das Projekt damals im ŻIH36 vorgestellt habe, hat irgendjemand gesagt: „Das geht ja gar nicht! Wir haben genau zwei Bücher in diesem Land über die polnischsprachigen Juden und das eine Buch ist von einem Amerikaner und das andere ist eben von Dir, von einer Deutschen! Ihr könnt das doch eigentlich gar nicht verstehen, wir müssen das jetzt unbedingt selbst erforschen.“ Das war in den deutsch-polnischen Beziehungen nie der Fall, dass so ein Problem aufgetreten ist, das war immer von vornherein legitimiert. Das 34 35

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Dt. Werkstatt. Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl. 25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. Żydowski Instytut Historyczny (Jüdisches Historisches Institut) in Warschau, 1947 gegründet knüpfte es an die Tätigkeit des Instytut Nauk Judaistycznych (Institut für Judaistische Studien) der Zwischenkriegszeit an. Vgl. Żbikowski, Andrzej: Żydowski Instytut Historyczny. 70 lat badań nad dziejami polskich Żydów. Warszawa 2018.

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hat sich aber, finde ich, heute ein bisschen geändert, die jüdische Geschichte hat sich in Polen auch erheblich geöffnet, jedenfalls was die Transnationalität der Forschenden angeht. Sie haben jetzt schon an mehreren Stellen darauf rekurriert, deshalb noch einmal verallgemeinernd: Würden Sie sagen, dass man für die 1990er Jahre von verschiedenen Wissenschaftskulturen in Polen und in Deutschland sprechen könnte? Ja, das liegt aber aufgrund der historischen Entwicklung auch auf der Hand. Ich meine, die Herangehensweise an Geschichtswissenschaft ist in verschiedenen Kreisen unterschiedlich, wobei das natürlich auch innerhalb der jeweiligen Länder so ist. Aber ich glaube, dass die „Werkstatt des Historikers“, die quellenorientierte Arbeit, in Polen weiterhin funktioniert. Menschen gehen ins Archiv, finden irgendetwas sehr Interessantes und schreiben darüber Aufsätze. Das ist auch vollkommen legitim. Ich finde es aber immer wieder sehr erhellend, auch mit Theorien zu arbeiten, mit Bourdieu und Foucault zum Beispiel, oder mit der von Bruno Latour geprägten Actor-Network Theory, die unter anderem für meine Habilitation wichtig war.37 Das wiederum ist etwas, was in Polen sehr stark in der Soziologie passiert. All dies ändert sich in der jüngeren Generation, aber in den 1990er Jahren fand ich es noch auffällig. Ich will jetzt auf keinen Fall sagen, dass ‚wir‘ irgendwie besser waren, das ist gar nicht der Punkt. Es war anders – das war ja auch die Frage –, die Wissenschaftskulturen waren anders, und sie waren auch deswegen anders, weil in Polen bis 1989 bis zu einem gewissen Grad freier Austausch eingefroren war und der Zugang zu Literatur, zu methodischen Narrativen eingeschränkt war. Dafür gab es andere, und auch während dieser Zeit sind ja in Polen großartige historische Werke entstanden, man denke an die Arbeiten von Witold Kula oder Jerzy Jedlicki,38 die wiederum einen ganz eigenen und sehr modernen Zugang zu Geschichte eröffneten – dies spricht natürlich für die Existenz von multiple modernities unter ganz unterschiedlichen Bedingungen. Und später gab es dann den ‚Zweiten Umlauf‘39, aber der Zugang zu bestimmten Werken blieb eingeschränkt. Da gab es in Deutschland andere Möglichkeiten, sich mit denjenigen Theorien auseinanderzusetzen, die damals die Diskussionen zumindest in der westlichen Welt bestimmten. Und in manchen Feldern, wie zum Beispiel der Wissenschaftsgeschichte, hat dies auch noch Nachwirkungen. 37 38 39

Pierre Bourdieu (1930-2002); Michel Foucault (1926-1984); Bruno Latour (*1947). Witold Kula (1916-1988); Jerzy Jedlicki (1930-2018). Poln. drugi obieg. Bezeichnet den samizdat.

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Wo wir schon bei der berühmten „warsztat“ sind, wie haben Sie denn die Unterschiede in der praktischen historischen Arbeit empfunden, wenn man da an Archive, an Bibliotheken denkt? Bei dem Vertreibungsprojekt hatten wir dadurch, dass die polnischen Projektpartner sehr anerkannte Historiker in Polen waren und sind, eigentlich keinerlei Probleme an Akten zu kommen. Wir sind sehr freundlich aufgenommen worden, so viele Deutsche gab es damals dort noch nicht, die in den Archiven saßen, und wir konnten Polnisch; das war auch wichtig und noch nicht so verbreitet. Das war alles kein Problem. Wir haben auch fast alles bekommen: Nur die Archive der katholischen Kirche waren verschlossen, und das sind sie auch, glaube ich, bis heute. Das ist extrem bedauerlich, weil die Kirche schon eine sehr wichtige Rolle in diesen „Vertreibungsgebieten“ gespielt hat. Auch in den Bibliotheken gab es forschungspraktisch eigentlich weniger Probleme. Ich war damals für die Forschungen zu meiner Dissertation auch in der Ukraine, in Lemberg, das war schwieriger. Da musste man noch Kaffee, Pralinen oder auch Geld in die Archive tragen, und alles war wahnsinnig teuer: Jede Kopie kostete ungefähr eine Mark, was für Doktorandinnen und Doktoranden viel Geld war. Auch die Frage, warum ich mich eigentlich mit polnischen Juden beschäftige, ist mir in der Ukraine häufiger gestellt worden: „Was machen Sie da eigentlich, wieso ist das interessant?“ Das fanden sie damals eher exotisch. Und ich weiß noch, wie ich in der Universitätsbibliothek in Lemberg, in L’viv, saß und die Zeitung „Chwila“ für die Dissertation las, die dort komplett vorhanden war und zwar als Papier in großen Folianten. Und dann wollte ich Kopien bestellen, aber das ging nicht, weil sie keinen Kopierer hatten. Dann haben sie mir tatsächlich die Originale in die Hand gedrückt, und ich musste damit zum Copyshop gehen. Das war natürlich total nett. Sie haben zwar überhaupt nicht verstanden, warum ich das machen wollte, aber sie waren unglaublich hilfsbereit – und eigentlich habe ich das in Polen auch immer so empfunden. Einige Institutionen sind ja zwangsläufig schon im Laufe des Gesprächs namentlich aufgetaucht. Welche Rolle haben denn in den 1990er Jahren bestimmte Institutionen bei der Verdichtung einer deutsch-polnischen Wissenschaftskommunikation gespielt? Da ist natürlich das DHI. Das war ein Ort, an dem sich Deutsche und Polen und deutsche Studierende und Stipendiaten treffen konnten, ein sehr freier und inspirierender Kommunikationsraum, an dem viele gute Projekte entstanden sind – Robert Traba hat viel gemacht zu Ostpreußen, sehr viel wurde

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in der frühen Zeit unter Rex Rexheuser angeregt.40 Ich fand es auch wichtig, dass später mit dem CBH41 ein Pendant in Berlin entstanden ist. Diese beiden Institutionen haben sehr zu einer Verdichtung der Kommunikation beigetragen und tun es bis heute. Als ich selbst dort am DHI war, von 2002-2007, war es aber leider ein eher unruhiger Ort, ein Ort, wo sich bestimmte Menschen auf Kosten anderer profilieren wollten. Leider ließ man sie gewähren. Letztlich hat das die Lebenszeit von vielen gekostet, die über Monate hinweg damit beschäftigt waren, die Scherben beiseite zu räumen. Die Süddeutsche Zeitung hat es damals ja publik gemacht …42 Ja, genau. Zum Glück sieht es heute wieder ganz anders aus. Diese Institutionen, DHI und CBH, haben auch viel Gutes geleistet. Man könnte natürlich auch noch über das Westinstitut43 in Posen sprechen, das sich eine Zeitlang auch intensiv mit den Nachkriegsjahren und der Aufarbeitung der Geschichte der Vertreibung beschäftigt hat. Allerdings gab es dort auch Stimmen, die den Ergebnissen ‚unseres‘ Vertreibungsprojektes – das ja durchaus neue Ansätze und neue Blicke auf das Vertreibungsgeschehen generiert hat und polnische Narrative etwa zu Nationalitätenfragen oder zur Beteiligung an den konkreten Prozessen infrage gestellt hat – sehr kritisch und undifferenziert gegenüberstanden. Das ist bei konfliktgeladenen Themen zwar fast normal, dass es Kritik und unterschiedliche Meinungen gibt. Die Kritik war aber damals auch unsachlich und damit wenig hilfreich. Aber insgesamt gehört das natürlich zur Geschichtswissenschaft, Narrative oder Meistererzählungen immer wieder neu infrage zu stellen, und das gefällt nicht immer allen, das ist ja auch klar, und schon gar nicht denjenigen, die schon jahrelang über etwas geforscht haben, und dann auf einmal von ‚außen‘ mit anderen Sichtweisen konfrontiert

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Robert Traba (*1958); Rex Rexheuser (*1933). Centrum Badań Historycznych Polskiej Akademii Nauk w Berlinie / Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. 2006 gegründete Außenstelle der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Pankow. Brössler, Daniel: Verschwörung in Theorie und Praxis. Am Deutschen Historischen Institut Warschau verdächtigt so ziemlich jeder jeden, in: Süddeutsche Zeitung vom 7.3.2003, S. 13. Das Instytut Zachodni (Westinstitut), 1945 in Posen/Poznań gegründete Forschungseinrichtung zur Beschäftigung mit den „Wiedergewonnenen Gebieten“ und den deutsch-polnischen Beziehungen. Vor 1989 propagandistisches Zentrum der nationalkommunistischen „Westforschung“. Vgl. Zwierzycka, Romualda (Hg.): Instytut Zachodni. 50 lat. Poznań 1994.

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werden. Das war in Deutschland während der Goldhagen-Debatte44 auch nicht anders. Gab es in den 1990er Jahren dann trotzdem so etwas wie transnationalen methodischen Austausch? Wurden Fragestellungen oder Ansätze weiterverfolgt, die über den rein nationalen und auch den rein bilateralen Rahmen hinausgingen? Oder kam das erst später? Nein, es gab auch damals in der Geschichtswissenschaft verschiedene Arbeiten, die das gemacht haben. Klaus Zernack hat ja mit seiner Geschichte Polens und Russland schon einen nationalen Rahmen verlassen.45 Und es gab die neue Herangehensweise an Ostpreußen, von Robert Traba oder auch von Andreas Kossert46 zum Beispiel. Es gab diesen neuen Blick auf multikonfessionelle und multiethnische Regionen, das wurde nicht alles weiter in dieser alten nationalgeschichtlichen Perspektive geschrieben. Auch in unserem Vertreibungsprojekt haben wir zum Beispiel versucht, die sowjetische, russische Komponente miteinzubeziehen, weil das nicht nur als bilaterale Geschichte von Deutschen und Polen zu verstehen war, da die sowjetischen Militärkommandanten eine sehr wichtige Rolle in den Regionen selbst, in Pommern oder Niederschlesien, gespielt und lange Jahre mehr oder weniger die Politik bestimmt haben. Wenig wird das bis heute noch in der Holocaust-Forschung gemacht, denn die ist in Polen noch sehr stark auf Polen fixiert. Das ist verständlich, weil es da noch viel zu entdecken gilt. Aber gelegentlich könnte es hilfreich sein, Vergleiche zu ziehen. Deutsche Historikerinnen und Historiker sind ja heute zum Teil verdutzt, wenn sie auf polnische geschichtswissenschaftliche Ergebnisse gucken und sich fragen müssen, wo die deutschen Täter geblieben sind. In der Holocaust-Forschung hat sich auch in Deutschland erst allmählich eine detaillierte Forschungslandschaft etabliert, die „transnational“ zu nennen wäre und um ‚den Osten‘ erweitert wurde, etwa mit den Arbeiten von 44

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Daniel Goldhagens (*1959) Buch „Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust“ (New York 1996) löste u.a. in Deutschland eine heftige Debatte darüber aus, wie viele Deutsche am Genozid an den Juden beteiligt waren und ob das Prinzip der Kollektivschuld angewendet werden kann. Vgl. Schneider, Michael: Die „GoldhagenDebatte“. Ein Historikerstreit in der Mediengesellschaft. Bonn 1997; Frei, Norbert: Goldhagen, die Deutschen und die Historiker. Über die Repräsentation des Holocaust im Zeitalter der Visualisierung, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München 2003, S. 138-151. Zernack, Klaus: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin 1994; poln. Ausgabe: Polska i Rosja. Dwie drogi w dziejach Europy. Warszawa 2000. Andreas Kossert (*1970).

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Sandkühler oder Dieter Pohl.47 Für die Geschichte der Juden kommt es noch etwas später. Also: Es gab Ansätze und Anfänge, viele wegweisende Arbeiten sind dann später entstanden. Sie haben ja schon einige genannt, aber welche Publikationen hatten damals in den 1990er Jahren besonderen Einfluss auf Sie, und welche davon sind eventuell auch später und heute noch wichtig geblieben? Ich fand es damals wichtig, die Bücher zu lesen, die schon in der SolidarnośćZeit48 herausgekommen sind, also die Texte von Lipski49 oder „Hańba domowa“50, also Dinge, die einen dazu gebracht haben zu verstehen, wie die polnische Gesellschaft funktioniert, wie sie tickt. Es ist ja nie einfach, Gesellschaften zu verstehen, in denen man nicht aufgewachsen ist (wiewohl es manchmal sogar einfacher ist, als die zu verstehen, in der man aufgewachsen ist). Ich habe damals versucht, viele solche Bücher zu lesen, die mir die polnische Geschichte nähergebracht haben, weil ich verstehen wollte, warum bestimmte Narrative in Polen so laufen, wie sie laufen. Für die deutschpolnische Beziehungsgeschichte fand ich einen älteren Aufsatz von Klaus Zernack sehr hilfreich, in dem er das Konzept vorgestellt hat und der wahnsinnig präzise geschrieben war,51 wie auch seine Polen-Russland-Geschichte. Zudem war ich sehr daran interessiert, warum es eigentlich keine integrierte polnisch-jüdische Geschichte gibt – dafür waren das Buch „Żydzi w kulturze polskiej“ von Aleksander Hertz aus dem Jahre 1961,52 das 1988 in Polen erschien, und die Werke von Jerzy Tomaszewski und auch von Jerzy Jedlicki sehr hilfreich. Und dann gab es zwei Bücher zum Ende der 1990er Jahre, die mich beide sehr beeindruckt haben, das war Czesław Miłosz’s „Wyprawa 47 48

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Thomas Sandkühler (*1962); Dieter Pohl (*1964). Zwischen August 1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999. Jan Józef Lipski (1926-1991). Trznadel, Jacek: Hańba domowa. Paryż 1986. Zernack, Klaus: Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Ders./Wolfgang  H.  Fritze (Hg.): Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Berlin 1976, S. 3-46. Aleksander Hertz (1895-1983) – ders.: Żydzi w kulturze polskiej. Warszawa 1988 [Paryż 1961].

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w dwudziestolecie“ und Maria Janions „Do Europy tak, ale razem z naszymi umarłymi“.53 Aus beiden Büchern habe ich sehr viel über das Polen gelernt, das mir damals sehr nahe war: das multiethnische, das multikonfessionelle, auch das wilde, das etwas anarchische Polen, das sich heute vielleicht am ehesten in dem Protest der polnischen Frauen wiederfindet. Vielleicht noch etwas weiter gefasst: Welches waren generell, rückblickend auf die letzten 30 Jahre, die wichtigsten Themen und Leitnarrative? Und wie würden Sie Ihre eigenen Forschungen da verorten? Das ist schwierig, denn in den letzten 30 Jahren ist ja zu den deutsch-polnischen Beziehungen wirklich wahnsinnig viel geschrieben worden. Am Anfang waren es die ‚schwierigen‘ Themen: Westforschung, Ostforschung, Vertreibung, die Forschung über den Holocaust in Polen, anfangs nur Täterforschung, dann immer mehr auch Einbeziehung der Opfer. Aber ich meine, es ist genauso wichtig, dass viel zur Frühen Neuzeit entstanden ist, auch durch das Handbuch, zum Beispiel, oder Hans-Jürgens Buch.54 Ich würde nochmal auf das Defizit verweisen wollen, dass das polnisch-deutsch-jüdische Beziehungsdreieck immer noch zu kurz kommt. Man sieht das zum Beispiel daran, dass es von den Polin-Jahrbüchern, die von Antony Polonsky55 herausgegeben werden, inzwischen fast 33 Bände gibt. Es gibt da Bände zu „Die polnischen Juden und Ungarn“ und „… Litauen“ und „… die Ukraine“, aber es ist niemand auf den Gedanken gekommen, die deutschen und die polnischen Juden zueinander in Beziehung zu setzen, jenseits der Shoah. Und das ist, finde ich, ein komisches Defizit, weil die deutsch-polnische und die deutsch-jüdische und die polnischjüdische eine enge Beziehungsgeschichte war, in Preußen und um Preußen herum. Da ist komischerweise nicht so wahnsinnig viel erschienen. Hingegen haben wir viele Bücher zu den deutsch-polnischen Beziehungen, die mal mehr, und mal weniger spannend sind. Und um nochmal auf meine eigenen Forschungen zu kommen: Ich finde, dass die Tendenz, polnische Geschichte mehr in europäischen Bezügen zu verorten, sehr positiv zu bewerten ist. Also dadurch, dass die Geschichte des Landes 53 54

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Czesław Miłosz (1911-2004) – ders.: Wyprawa w dwudziestolecie. Kraków 1999; Janion, Maria: Do Europy tak, ale razem z naszymi umarłymi. Warszawa 2000. Bömelburg, Hans-Jürgen (Hg.): Polen in der europäischen Geschichte. Band 2: Frühe Neuzeit. Stuttgart 2017; ders.: Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (15001700). Wiesbaden 2006. Antony Polonsky (*1940). „Polin. Studies in Polish Jewry“ ist eine seit 1986 in Großbritannien herausgegebene historische Reihe.

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so ist, wie sie ist, hat man häufig mit Themen wie Diversität, uneindeutigen Mehrfachidentifikationen etwa von polnischen Jüdinnen und Juden, mit denen ich mich in meiner Dissertation beschäftigt habe, aber auch mit vielen anderen Gruppen und Leben in unglaublich vielen Regionen, unterschiedlichen Kulturräumen, transnationalem Wissenstransfer oder -zirkulation zu tun. Das ist etwas, was in den 1990er oder 2000er Jahren noch zu kurz kam, was aber in den letzten Jahren viel stärker aufgearbeitet wird. Ich habe immer versucht, nicht so sehr die nationalen Perspektiven einzunehmen, sondern sie zu überschreiten, sowohl in der Beschäftigung mit der jüdischen Thematik als auch in der Habilitation56 mit den Wissenschaftlern, von denen zumindest einer lange Zeit in Polen gar nicht wahrgenommen wurde, während er heute als nationaler Held gefeiert wird. Menschen wie Czochralski57 gelten plötzlich als große Polen auf der Welt. Ich finde, das wird dem Leben dieser Menschen nicht so richtig gerecht, weil sie eben andere Leben hatten, teilweise auch in Deutschland, oder in den USA. Von diesen go-betweeners gibt es in der polnischen Geschichte wahnsinnig viele. Dazu noch ein kleines Beispiel: Das POLIN-Museum58 erweitert gerade seine Ausstellung um einen Raum, der heißt „Legacy“, also so eine Art Hall of Fame der polnischen Juden. Und ich sollte da jetzt gerade einen Artikel zu „Jews and Science“ schreiben, was übrigens auch zeigt, dass sich manches geändert hat. Vor 20 Jahren hätte man vielleicht nicht jemanden aus Deutschland gefragt, so einen Aufsatz zu schreiben. Bei der Beschäftigung mit dem Thema ist mir aufgefallen, dass elf Nobelpreisträger, die aus Polen kommen, einen jüdischen Hintergrund haben. Die kennt aber kein Mensch in Polen, weil sie in den polnischen Kanon von Nobelpreisträgern einfach nicht eingeschlossen werden. Der besteht aus Tokarczuk, Wałęsa, Szymborska und so weiter.59 Aber es gibt eine Reihe von Physikern, Chemikern, auch Medizinern, die sind einfach nicht dabei, weil man sie nicht mitzählt. Sie sind nicht in Polen gestorben, aber dort geboren und aufgewachsen, viele mit Polnisch als Muttersprache. Auch hier ändert sich die Wahrnehmung langsam, aber das Wissen hat sich noch nicht überall durchgesetzt, dass man polnische Geschichte anders begreifen muss. Es gibt – jedenfalls in der Neuzeit – sehr viele unterschiedliche Räume, in denen sich diese Menschen bewegt haben und man kann manchmal nicht so eindeutig 56 57 58 59

Steffen, Katrin: Blut und Metall. Die transnationalen Wissensräume von Ludwig Hirszfeld und Jan Czochralski im 20. Jahrhundert (in Vorbereitung). Jan Czochralski (1885-1953). Muzeum Historii Żydów Polskich (Museum der Geschichte der polnischen Juden), 2013/14 in Warschau eröffnet, in direkter Nachbarschaft zum Ghetto-Denkmal auf dem Willy-Brandt-Platz in Muranów im Zentrum des ehemaligen Warschauer Ghettos. Olga Tokarczuk (*1962); Lech Wałęsa (*1943); Szymborska, Wisława (1923-2012).

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sagen: Ist das jetzt ein Pole, ein Deutscher oder ein  …? Vielleicht war diese Frage auch einfach gar nicht so wichtig und es wäre schön, wenn das Denken in nationalen Kategorien noch ein bisschen weniger werden würde, auch in der Geschichtswissenschaft. In einem Text aus dem Jahre 2006 haben Sie ganz mutig prophezeit: „[Es] werden auch künftig Geschichtsnarrative in Polen frei diskutiert werden können, anstatt daß eines oder mehrere von ihnen a priori einer simplifizierenden Instrumentalisierung zum Opfer fallen müssen.“60 Würden Sie das heute noch genauso formulieren bzw. wie wird Ihrer Ansicht nach die geschichtswissenschaftliche Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030 aussehen? Das würde ich vielleicht heute anders formulieren, aber im Prinzip bin ich natürlich doch der Meinung, dass man nach wie vor in Polen eigentlich alles sagen darf, trotz aller möglichen Scheren im Kopf, die sich manche vielleicht jetzt als eigene, kleine Zäsur-Scheren in den Kopf reinschrauben oder montieren, oder tatsächlich auch durch Druck, der inzwischen ausgeübt wird. Ich habe davon gehört, dass man bestimmte Dinge nicht mehr schreiben darf oder sie nicht mehr veröffentlicht werden – es gibt zwar keine offizielle Zensurbehörde, aber man soll nicht unterschätzen, welche Auswirkungen so ein Art indirekter Druck auch haben kann. Deswegen war das eine sehr optimistische Sicht damals. Trotzdem ist Polen heute kein totalitärer Staat, in dem man bestimmte Dinge überhaupt gar nicht mehr sagen kann. Das ist nicht so, sondern viele meiner Kollegen und Kolleginnen können schreiben, was sie wollen, und es wird nicht zensiert, wobei man die Schere im Kopf nicht unterschätzen sollte. Ich war neulich bei einem Auswahlgremium des NCN61, bei dem Projektmittel vergeben werden. Polnisch-jüdische Themen oder solche, die Multikonfessionalität, Multiethnizität behandelten, hatten es dort nicht schwerer als andere, im Gegenteil. Allerdings kann sich dies natürlich ändern, je länger die derzeitige Regierung weiterhin versucht, verschiedene Posten allmählich mit Gefolgsleuten zu besetzen – es ist eine durchaus ambivalente Situation, in der die Regierung versucht, immer mehr Linien zu bestimmen, aber die Strukturen doch auch so sind, dass das nicht ganz so einfach ist. Ich habe das damals sehr optimistisch formuliert, weil das die Hoffnung war, dass 60 61

Steffen, Katrin: Ambivalenzen des affirmativen Patriotismus. Geschichtspolitik in Polen, in: Osteuropa 56 (2006) 11/12 (Quo vadis, Polonia? Kritik der polnischen Vernunft), S. 219234, hier S. 232. Das Narodowe Centrum Nauki (Nationales Wissenschaftszentrum) ist die 2010 gegründete staatliche polnische Wissenschaftsagentur zur Koordinierung, Finanzierung und Internationalisierung des wissenschaftlichen Lebens.

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wir in freien, pluralen Gesellschaften miteinander kommunizieren können. Ich wäre jetzt ein bisschen vorsichtiger und hoffe gleichwohl, dass wir uns auch 2030 noch frei und pluralistisch im deutsch-polnischen Wissenschaftsaustausch werden begegnen können. Vielleicht ist auch das zu optimistisch, aber dann ist das vielleicht mein optimistisches Wesen, das mich so denken und hoffen lässt. Und ich kann mir auch eigentlich keine andere Geschichtswissenschaft vorstellen. Klar, ideologisierte oder simplifizierende geschichtswissenschaftliche Werke, die gibt es; die gibt es in Polen, die gibt es aber auch teilweise in Deutschland oder anderswo, und damit muss man leben. Aber das muss man als Demokratie aushalten und ich hoffe, und ich bin mir eigentlich sicher, dass das sowohl in Deutschland als auch in Polen aushaltbar bleibt.

Abb. 21.1 Ende 1999/Anfang 2000 mit dem Jubilar (l.) im DHI Warschau. Foto: privat.

Robert Traba (*1958) ist Historiker und Politikwissenschaftler. Er arbeitet als Professor am ISP PAN in Warschau. 2006-2018 war er Gründungsdirektor CBH PAN in Berlin; Seit 2007 ist er Co-Vorsitzender der DPSK. Er wohnt in Olsztyn/Allenstein, wo er 1990 die Gesellschaft „Borussia“ gründete, deren Vorsitzender er bis 2006 war. Bis 2018 war Robert Traba zudem Chefredakteur der Zeitschrift „Borussia“.

„Es war ein Glück, dass wir so reif waren, diesen Moment zu nutzen“ Robert Traba Die 1990er Jahre begannen in einer nordostpolnischen Stadt mit einem Paukenschlag: „Wir stammen aus Ermland und Masuren, dem ehemaligen Ostpreußen. […] Wir streben danach, durch ein vollständiges Kennenlernen der Vergangenheit unserer Region, […] kritisch und kreativ an einem neuen Wissen und Kulturgefühl, einer neuen Lebenseinstellung der hier lebenden Menschen zu bauen“.1 Das waren komplett neue Töne und entscheidend mitverfasst wurden Sie von einem damals knapp 30-jährigen Historiker, der aus Węgorzewo stammte und in Thorn Geschichte studiert hatte. Wie hatte sich bei Ihnen ein solches Verhältnis zur deutsch-polnischen Geschichte im Allgemeinen und zur Geschichte dieser Region im Besonderen entwickeln können? Das waren Formulierungen aus dem Manifest der Gesellschaft „Borussia“2. Ich finde das Manifest und seine Leitmotive bis zum heutigen Tage aktuell. Wie ist es dazu gekommen? Ja, ich kam aus Węgorzewo, aber die familiäre Situation war viel komplizierter. Mein Vater war 1940 als französischer Kriegsgefangener in Angerburg gewesen. Auf Wunsch des Familienoberhauptes, meines Großvaters im französischen Montceau-les-Mines, kehrte die gesamte Familie im Jahre 1947 nach Polen zurück, in die „Wiedergewonnenen Gebiete“. Und es ergab sich, dass sie ausgerechnet nach Węgorzewo kamen. Nach einigen Wochen entdeckte mein Vater dann die Baracken, wo er ein paar Jahre zuvor mehrere Wochen als Gefangener verbracht hatte. Den Rest des Krieges hatte er dann in Neubrandenburg-Fünfeichen in Mecklenburg verbracht. Überhaupt hatte die Familie, wie man heute sagt, einen Migrationshintergrund. Meine Mutter stammte aus dem Dąbrowa-Gebiet, mein Vater aus der weiteren Umgebung 1 Zit. n. Michnik, Adam: Laudatio zur Verleihung des Lew-Kopelew-Preises an die Kulturstiftung „Borussia” in Allenstein, in: Borussia (2004) 38, S. 14-17. 2 Wspólnota Kulturowa Borussia (Kulturgemeinschaft Borussia), gegründet 1990 in Allenstein/ Olsztyn. Verein und Verlag, der sich in der masurisch-ermländischen Regionalgeschichte und Kultur engagiert, u.a. mit wissenschaftlichen und denkmalschützerischen Aktivitäten sowie in der Jugendarbeit. Der Verein hat zwischen 1991-2017 die gleichnamige Zeitschrift „Borussia“ herausgegeben. Vgl. auch Chromiec, Elżbieta: Dialog międzykulturowy w działalności polskich organizacji pozarządowych okresu transformacji systemowej. Wrocław 2011, S. 109-111, 117-130, 145-153.

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von Krakau. Als Kinder waren sie beide in dieses schöne Städtchen in Burgund gekommen und sind dort aufgewachsen. Dieses Gefühl der Fremdheit, das Leben im Fremden, das Sich-Anpassen, Akkulturieren, das waren Elemente, mit denen auch ich von Anfang an unbewusst gelebt hatte. Die merkwürdige Entdeckung des Ortes, an dem ich aufgewachsen bin, hatte für mich nicht mit dem deutschen Angerburg zu tun. Es waren Ruinen, die ich in meiner Vorstellungskraft eher mit dem antiken Griechenland verband. Lange Zeit sah ich hier eher die klassischen Mythen der Griechen als die deutsche Geschichte. Die Konfrontation damit erfolgte eher während meines Studiums in Thorn. Danach bin ich eher per Zufall zurückgekommen, also nach Olsztyn. Prägend war für mich damals Wojciech Wrzesiński3. Er war eine zentrale Figur der 1990er Jahre der deutsch-polnischen Thematik in der Geschichtswissenschaft. Und er sagte zu mir: „Herr Traba, machen Sie etwas Deutsches!“ Ich kann nicht sagen, dass er mir sehr geholfen hat, aber er hatte ein Gefühl, instinktiv, dass ich etwas anderes machen sollte. Und da habe ich dann angefangen nicht mit der Problematik der polnischen Ermländer als Minderheit im regionalen Kontext, sondern inmitten der deutschen Erzählung und des deutschen Verhaltens in dieser Grenzregion zu forschen. Das war dann Schritt für Schritt die Entdeckung von etwas Neuem, das ich zuvor nicht gekannt hatte: die manchmal nicht schlechten, aber doch in gewissen nationalen Tönen geschriebenen Arbeiten der Generation von Wrzesiński oder die Literatur aus dem Umfeld der deutschen Ostforschung. Ich habe nun also gewissermaßen unbestelltes Feld vorgefunden, den Platz für etwas Neues: aus der Perspektive des Deutschen zu schreiben. Das waren meine ersten Schritte in diese Richtung. Und dann kamen Zufälle hinzu. Ich hatte kein staatliches Stipendium bekommen. Ich wollte instinktiv auch keines. Damals erfuhr ich aber von der GFPS4 quasi in letzter Minute, denn ich war schon 30 und eigentlich kein Studierender mehr, und erhielt von der Auswahlkommission an der Katholischen Universität Lublin ein Stipendium zugesprochen. Ich studierte also ein Semester in Bonn und hatte dann dank der GFPS in dieser Zeit so etwas wie eine Erleuchtung. Wir dachten in Polen in den 1980er Jahren, dass wir quasi in einem freien Staat leben würden. Anders als etwa in der DDR gab es bei uns solche Gefühle wie Angst nicht. Wir konnten trotz des politischen Drucks fast alles machen. In Bonn, wo ich ja auch den Mauerfall erlebt habe, habe ich dann gelernt, wie 3 Wojciech Wrzesiński (1934-2013). 4 Die Gemeinschaft zur Förderung von Studienaufenthalten polnischer Studenten in der Bundesrepublik Deutschland (GFPS) wurde 1984 in Freiburg gegründet. Später weitete sie unter dem Namen Gemeinschaft für studentischen Austausch in Mittel- und Osteuropa ihre Tätigkeit auf Tschechien, die Ukraine und Belarus aus. Vgl. Lorek, Andreas (Hg.): 25 Jahre GFPS. Freiburg [2009].

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man eigene Ideen mit praktischer Arbeit umsetzen kann. Die GFPS war eine einfache studentische Organisation. Leute wie Georg Ziegler oder Gabriele Lesser hatten erkannt,5 dass man etwas ‚von unten‘ machen kann. Das war ein Impuls für mich. Die Skizze des Manifests der „Borussia“ habe ich noch in Bonn geschrieben. Es ging in dieser Zeit des Umbruchs darum, mit eigener Stimme zu sprechen, zu zeigen, was unsere Generationserfahrung war und dass man etwas Neues zustande bringen kann. Und deshalb auch das DeutschPolnische. Wir kamen ja nicht vom Mond. Wir wurden nach dem Krieg in Ermland, Masuren, Ostpreußen geboren und waren mit dieser Landschaft anders konfrontiert als unsere Mütter und unsere Väter. Schon in den ersten Tagen, nachdem ich nach Olsztyn zurückgekommen war, begann ich – noch ohne den Namen „Borussia“ – eine Art Gruppe von Leuten zusammenzustellen, die neu dachten. Mit 15 Personen und zusammen mit Kazimierz Brakoniecki6, der als Dichter damals schon bekannter und reifer war, haben wir dann diese Stiftung ins Leben gerufen. Manche Worte dieses erwähnten Manifests sind pathetisch, aber wenn wir es ganz kühl und nüchtern betrachten, dann ist seine Botschaft heute nach wie vor aktuell. Diese Rede von der „ethischen Heimat“ im gemeinsamen Europa, das uns verbindet, das waren nicht nur schöne Worte. Dann bin ich immer wieder zwischen der Wissenschaft und diesen praktischen Tätigkeiten hin und her gewechselt. 1995 hat mich mein neuer Chef am DHI7, Prof. Rexheuser8, gefragt: „Herr Traba, wenn Sie von ‚wir‘ sprechen. Was meinen Sie damit eigentlich? Meinen Sie ‚Borussia‘, das DHI, Ihre Familie oder noch etwas anderes?“ Und genau so war es. Diese ganzen verschiedenen Ebenen waren eine ungeheure Bereicherung für mich. Das war nicht immer einfach, aber diese Vielfalt war wichtig. Ohne dieses politische Erdbeben von 1989/90, ohne die familiengeschichtliche Erfahrung und ohne die Erfahrung der ersten Revolution der Solidarność9 5 Georg Ziegler (*1958); Gabriele Lesser (*1960). 6 Kazimierz Brakoniecki (*1952). 7 Das Deutsche Historische Institut Warschau wurde 1993 gegründet. Seit 2002 ist es der Max Weber Stiftung – Deutsche Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland zugeordnet und bezieht seine Gelder damit vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Sein Sitz befand sich zunächst im Kultur- und Wissenschaftspalast, seit 2002 ist es im Karnicki-Palais ansässig. Seit 2017 verfügt das DHI über Außenstellen in Vilnius und Prag. Vgl.  25 Jahre Deutsches Historisches Institut Warschau. Vom Kulturpalast zum Palais Karnicki. Warschau 2018. 8 Rex Rexheuser (*1933). 9 Zwischen August  1980 und dem 13.12.1981 offiziell tätige polnische antikommunistische Gewerkschaft und Oppositionsbewegung. Nach Jahren im Untergrund kehrte sie im Herbst 1988 auf die politische Bühne zurück und zerfiel nach dem Regimewechsel in mehrere, sich einander teilweise bekämpfende Teile. Vgl. Holzer, Jerzy: Solidarität. Die Geschichte einer

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1980/1981 wäre das alles unmöglich gewesen. So aber wurden Wissenschaft und die Erfahrungen des Bürgers kompatibel miteinander. Hat sich 1989 denn etwas Entscheidendes verändert bzw. würden Sie denn eventuell andere, frühere oder spätere Zäsuren setzen, sei es für Sie persönlich oder in der geschichtswissenschaftlichen Landschaft? Wir sind alle Historiker und wir wissen sehr gut, dass es keine ‚Stunde Null‘ gibt. Aber dennoch war „Borussia“ meine Initiation. All das, was ich im Kopf hatte, praktisch, inhaltlich, intellektuell, habe ich aufgearbeitet und neue Werte daraus gemacht. Aber ich bin aus der Perspektive der Zeit auch sicher, dass ohne die Öffnung der 1970er Jahre vor allem, etwa infolge der ersten Städtepartnerschaft Danzig-Bremen, ohne die generelle Atmosphäre der freien Auseinandersetzung, für meine Generation aber vor allem die Revolution von 1980/81 das, was sich 1989/90 ereignet hat, nicht möglich gewesen wäre. Für meine Generation funktionierten die Begriffe Angst oder Bedrohung nicht. Vielleicht bei sehr engagierten Oppositionellen, die unter starkem Druck des SB10 standen, da war es vielleicht anders. Die Nische der Freiheit für die Gesellschaft war aber sehr groß. Natürlich habe ich bei meinem vierwöchigen Aufenthalt in Frankreich 1980 und dann während der sechs Monate in Bonn und Berlin 1990 festgestellt, dass sich die liberalen Demokratien des Westens und die späte Volksrepublik voneinander unterschieden. Wenn ich heute von den staatlichen Versuchen höre, sich die Geschichte der PRL als schwarz-weiß vorzustellen, dann habe ich den Eindruck, dass ich auf dem Mond lebe, weil das so ahistorisch ist. Meine Reflexion nach diesen Erfahrungen daraus ist, dass die Totalitarismusforschung zwar wichtig ist, der Begriff selbst als Schlüssel zum Verstehen dieser in Polen, der DDR oder Rumänien doch so unterschiedlichen Systeme aber ungeeignet ist. Wir brauchen immer Verallgemeinerungen, aber ansonsten … Naja, ich will dieses Thema jetzt nicht weiter vertiefen. Jedenfalls sehe ich die Entwicklung in erster Linie als einen Prozess, so dass 1989 eine Folge war, und kein Auslöser. Natürlich war es in rechtlicher Hinsicht vor 1989 anders als danach, aber eben nur in dieser Hinsicht. Es war ein Glück, dass wir so reif waren, diesen Moment zu nutzen und ihn in eine praktische Tätigkeit umzuwandeln.

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freien Gewerkschaft in Polen. München 1985; Kühn, Hartmut: Das Jahrzehnt der Solidarność. Die politische Geschichte Polens 1980-1990. Berlin 1999. Służba Bezpieczeństwa (Sicherheitsdienst) war der Name der Geheimpolizei im kommunistischen Polen seit 1956. Vgl. Wojtaszyn, Dariusz: Stasi und Ubecja. Die Wächter des Systems vor dem Gericht der Geschichte, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 3 (Parallelen). Paderborn 2012, S. 381-395.

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Wie wirkte in den 1990er Jahren die ‚große‘ Politik auf die Geschichtswissenschaften in Deutschland und in Polen ein? Und umgekehrt, wie die Historikerinnen und Historiker auf die Politik – sei es direkt oder indirekt? Ich denke, dass man aus zwei Perspektiven auf diese Frage antworten kann. Erstens aus der polnisch-deutschen Perspektive und zweitens aus den Erfahrungen am DHI heraus. Die 1990er Jahre waren ein Jahrzehnt der großen Öffnung, was die historischen Debatten in Polen angeht. Hier waren weniger die Verträge von 1990 und 1991 entscheidend, so sehr sie die bilateralen Beziehungen geprägt haben, sondern der Text, den Maria Podlasek in der „Polityka“ unter dem Titel „In der Haut eines Deutschen“ veröffentlicht hat.11 Hier wurde zum ersten Mal die Problematik der Aussiedlung aus der Perspektive der Deutschen präsentiert. Die Diskussion wurde immer intensiver, so wie überhaupt die 1990er Jahre das Jahrzehnt waren, in dem vermehrt versucht wurde, die deutsch-polnische Geschichte aufzuarbeiten. Dies wurde sogar zum Mainstream der Debatten. Viele Themen, die bisher gar nicht oder einseitig dargestellt wurden, man denke nur an den polnischen Antisemitismus oder den Warschauer Aufstand, wurden nun aus einer anderen Perspektive kritisch bearbeitet. Auch wir von der „Borussia“ haben damals, ohne dass wir den Umfang zunächst ahnten, eine der größten Konferenzen in Polen über Krieg, Flucht und Aussiedlung unter dem Titel „Ostpreußen. Erbe und neue Identität“ organisiert.12 Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie die deutschen Kollegen Probleme mit dem Wort „Erbe“ hatten. Das war eine große vielsprachige Tagung in Olsztyn mit hundert Teilnehmern, auch aus Deutschland, Russland, der Ukraine und Litauen. Die gesamte polnische Presse hat damals darüber berichtet, das war für uns ein Schock. Damit positionierten wir uns gleich sehr stark in dieser Diskussion. In Deutschland galten wir fast als eine Filiale des Vertriebenenverbandes, in Polen fast alle als Verräter. Beides war natürlich falsch. Es war einfach eine Folge dieses neuen Denkens. Wir wollten Polen anders erzählen. Mitte der 1990er Jahre kam dann die Erfahrung mit dem DHI. Dort befand ich mich dann wirklich inmitten der deutsch-polnischen wissenschaftlichen Arbeit. Damals habe ich für ein Heft der „Borussia“, das im Übrigen der Rettung des Geburtshauses des Architekten Erich Mendelsohn13 in Olsztyn gewidmet 11 12 13

Maria Podlasek (*1964) – dies.: Ten kraj już nie był ich ojczyzną. W skórze Niemca, in: Polityka Nr. 20 vom 15.5.1993, S. 16-22. Rexheuser, Rex: Tagungsbericht: Ostpreußen – Erbe und neue Identität. Eine Konferenz in Allenstein, 7. bis 9. November 1991, in: Nordost-Archiv 1 (1992) 1, S. 175-180. Erich Mendelsohn (1887-1953).

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war, einen Text meines neuen Warschauer Kollegen Hans-Jürgen Bömelburg14 eingeworben. Dieser Beitrag war für mich sehr wichtig. Es handelte sich um eine scharfe Kritik an der alten deutschen Ostforschungsliteratur in Gestalt einer Rezension des Buches „Das nördliche Ostpreußen“ von Gilbert Gornig.15 Bömelburg ließ keinen Stein auf dem anderen. So konnte man sehen, dass nicht nur wir gegenüber der polnischen Historiographie kritisch waren, sondern dass auch die parallele deutsche Generation von Historikern ihrer eigenen Historiographie gegenüber kritisch war. Das passte wunderbar zu meiner idée fixe aus der Anfangszeit der „Borussia“: Wir können nicht kritisch gegenüber anderen sein, ohne es gegenüber uns selbst auch zu sein. Nur so kann ein ehrlicher Dialog zustande kommen. Nun saßen wir in keiner nationalen Festung mehr, die wir um jeden Preis verteidigen mussten. Wie würden Sie sich denn zu der 1994 aufkommenden Debatte über den Begriff „Versöhnungskitsch“16 positionieren? Fanden Sie damals, dass das zutraf? Oder tat das den beteiligten Akteuren vielleicht auch Unrecht? Für mich war dieser Begriff Klaus Bachmanns so eine Art Aha-Erlebnis nach dem Motto „So kann man die ganze Sache also auch betrachten“. Das war außerhalb meines Blickfelds. Es war ein Impuls, darüber nachzudenken. Ich hatte aber von Anfang an eine gewisse Distanz zu diesem Begriff. Intelligente Menschen wie Bachmann sind in der Lage, bestimmte Dinge auf den Punkt zu bringen, sie in einem Begriff zu fixieren. Es war aber nicht mein Begriff. Ich suchte allerdings auch nach einem Begriff, um die Lage in den 1990er Jahren kurz zu definieren. Ich stellte damals Gabriele Lesser die Frage, wie man diese neue Prägung des Deutsch-Polnischen, also „Versöhnung“ für unsere Generation, bezeichnen könnte. Wir sind damals dann nicht bei „Versöhnung“ geblieben, sondern kamen auf „Verständnis“. Wir als damals 30-Jährige brauchten Versöhnung, um uns zu verstehen. Das war aber sehr allgemein und Gabriele Lesser hat den Text, den sie darüber schreiben wollte, nie geschrieben. 14 15 16

Hans-Jürgen Bömelburg (*1961). Bömelburg, Hans-Jürgen: Prusy Wschodnie w krzywym zwierciadle [Gilbert H. Gornig, „Das Nördliche Ostpreußen. Gestern und heute. Eine historische und rechtliche Betrachtung“. Bonn 1995], in: Borussia (1998) 16, S. 356-358; Gilbert Gornig (*1950). 1994 von dem in Polen lebenden deutschen Journalisten Klaus Bachmann (*1963) ausgelöste Debatte darüber, ob die fortwährenden Reden über Versöhnung in ihrer Oberflächlichkeit der Komplexität der deutsch-polnischen Beziehungen nicht gerecht werden. Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muss von Polen ausgehen, in: taz vom 5. August 1994, S.  12; Hahn, Hans Henning/Hein-Kircher, Heidi/Kochanowska-Nieborak, Anna (Hg.): Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch. Marburg 2008.

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So warte ich bis heute auf einen neuen Begriff, der dieses Jahrzehnt prägnant zusammenfasst. Ich bin also auch weiterhin für „Verständnis“, was vielleicht langweilig ist, aber es ist das, was wir immer und überall brauchen. Die zahlreichen Workshops mit jungen Leuten, damals 20-Jährigen, die wir mit „Borussia“ gemacht haben, hatten genau dieses Ziel: die Menschen sollten sich zu verstehen lernen. Ich war damals nicht viel älter als die Teilnehmenden. Wir haben mit dem Deutsch-Polnischen angefangen 1995/96, dann kam Litauen 1997, dann jüdische, ukrainische, russische Themen. Es ging nicht mehr darum, sich über die Geschichte zu streiten, sondern über die Geschichte in unseren Köpfen zu diskutieren – über das historische Bewusstsein, Geschichtsbilder, die identitätsstiftend sind. Die Ergebnisse dieser Workshops erschienen dann in Buchform. Welche Einzelpersönlichkeiten waren in den 1990er Jahren für Sie besonders wichtig? Ich habe keinen Lehrmeister  … Die Rolle des schon erwähnten Wojciech Wrzesińskis darf man aber nicht unterschätzen. Er hat eine Art Schirmherrschaft über mich übernommen. Das war wichtig. Ich hatte damals zu ihm gesagt: „Wissen Sie, ich will nicht in diesem Olsztyn sterben! Ich brauche Kontakte mit anderen Milieus.“ „Was brauchen Sie?“, fragte er. „Naja, ich will nach Poznań, nach Wrocław.“ Nach zwei Monaten hatte ich eine Art Stipendium und konnte eine gewisse Zeit an diesen Orten verbringen. Eigenständig war ich auch in Toruń, und das war alles eine Bereicherung. Heute ist es anders als früher. Jetzt habe ich gerade wieder ein Buch herausgebracht und ich habe da geschrieben, wovon ich inspiriert wurde.17 Aus dieser Perspektive waren meine Lehrmeister Leute wie Andrzej Walicki, Antonina Kłoskowska, Jerzy Jedlicki, Tadeusz Łepkowski, Jerzy Szacki.18 Aber das ist heute, ich bin eben in ganz andere Dimensionen der Geschichtsschreibung gegangen. Damals waren es eher Historiker wie Lech Trzeciakowski für die deutschen Themen, Jan Kieniewicz, Ludwik Bazylow für die russischen.19 Man darf auch nicht vergessen, dass ich von der Ausbildung her Althistoriker bin. Deshalb fällt mir auch Romuald Turasiewicz20 ein, damals Professor an der Jagiellonen-Universität, der eine 17 18 19 20

Traba, Robert (Hg.): Niedokończona wojna? „Polskość“ jako zadanie pokoleniowe. Warszawa 2020. Andrzej Walicki (1930-2020); Antonina Kłoskowska (1919-2001); Jerzy Jedlicki (1930-2018); Tadeusz Łepkowski (1927-1989); Jerzy Szacki (1929-2016). Lech Trzeciakowski (1931-2017); Jan Kieniewicz (*1938); Ludwik Bazylow (1915-1985). Romuald Turasiewicz (1930-2005) – ders.: Życie polityczne w Atenach V i IV w. przed n.e. w ocenie krytycznej współczesnych autorów ateńskich. Wrocław 1968.

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wunderbare Geschichte Athens geschrieben hat, die für mich ein Vorbild dafür war, wie man ein Buch schreiben soll. Das war schon in der Studienzeit. Ich bin bis heute aber auch durch die antiken Werke immer wieder selbst inspiriert worden. Die Auseinandersetzung mit der alten Geschichte war einer der wichtigsten Impulse überhaupt für mich. Und dann kam die deutsche Historiographie. Nipperdey war besser als Wehler, wahrscheinlich, weil er besser geschrieben hat.21 Wichtig war auch der Einfluss von Marcin Kula22 auf mich. Seine Seminare, zu denen er viele verschiedene Historiker und Soziologen eingeladen hat, besuchte ich schon kurz nach meiner Promotion seit 1994. Diese Warschauer Zeit erlaubte es mir, auch jenseits des DHI, eine neue Perspektive auf die Historiographie generell zu entwickeln. Sie haben jetzt eine ganze Reihe von Personen genannt. Dabei tauchte nahezu keine Frau auf. Ist das Zufall oder spiegelt das die damalige Realität wider? Naja, da wäre doch Krystyna Kersten23 zu nennen, die ich nur einmal getroffen habe. Ich habe aber große Achtung vor ihr und ihrem Mut. Die Bücher über die Volksrepublik, die sie Ende der 1980er Jahre geschrieben hat, sind bis heute aktuell. Ich hatte in Thorn damals auch bei der Althistorikerin Maria Jaczynowska24 studiert, aber ihre Rolle war für mich nicht so bedeutend. Welchen Eindruck hatten Sie von den deutschen Historikerinnen und Historikern, mit denen Sie in Kontakt kamen? Meine ersten Kontakte entwickelten sich eigentlich über das Forschungsinstitut der Polnischen Historischen Gesellschaft25, wo ich zunächst tätig war. Mein damaliger Chef Koziełło-Poklewski hatte damals Verbindungen zu deutschen Ermland-Historikern, vor allem zu Brigitte Poschmann und 21 22 23 24 25

Hans-Ulrich Wehler (1931-2014); Thomas Nipperdey (1927-1992). Marcin Kula (*1943). Krystyna Kersten (1931-2008). Maria Jaczynowska (1928-2008). Die Stacja Naukowa Polskiego Towarzystwa Historycznego (PTH) in Allenstein/Olsztyn wurde 1953 gegründet und existierte bis 1992. Vgl. Gancewski, Jan/Gieszczyński, Witold/ Korytko, Andrzej: Wierni Klio.  60 lat Oddziału Polskiego Towarzystwa Historycznego w Olsztynie. Olsztyn 2008. Die PTH wurde 1886 in Lemberg/Lwów/L’viv als lokaler Geschichtsverein gegründet, seit 1925 gesamtpolnischer Historikerverband mit 46 Abteilungen; organisiert alle fünf Jahre den Polnischen Historikertag. Vgl. Rutkowski, Tadeusz Paweł: Polskie Towarzystwo Historyczne w latach 1945-1958. Zarys dziejów. Toruń 2009.

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Hans-Jürgen Karp.26 Zu letzterem noch eine eher anekdotische Geschichte: Als er 1989 erstmals wieder nach Olsztyn kam, machte ich ein Interview mit ihm. Ich wollte jedoch nicht, dass dieses Interview in der „Gazeta Olsztyńska“ erschien, die damals noch fest in den Händen der PZPR war, und so erschien es erst ein gutes Jahr später. Karp war der erste Vertreter der traditionellen deutschen Regionalhistoriographie, den ich kennenlernte, auch wenn diese kein weißer Fleck für mich war, weil ich schon in den 1980er Jahren viel davon gelesen hatte. Dazu gehörten auch damals junge Stipendiaten aus der Bundesrepublik, die sich in Poznań aufhielten, wie Sophia Kemlein oder Joachim Rogall.27 Ich hatte mich auch von Anfang an mit DDR-Literatur auseinandergesetzt und war drei Monate im Merseburger Archiv gewesen, um die dortigen Akten zum politischen Katholizismus in Preußen zu sichten. Aufgrund dieser ganzen Vorarbeiten habe ich in den 1990er Jahre dann meine Kenntnisse der deutschen Historiographie vertieft. Damals war Jürgen Kocka28 ein Stern für mich, mit dem ich mich später dann auch kritisch auseinandergesetzt habe. Gleiches gilt für Hans Medick29 und seine Alltagsgeschichte. Hier war eben auch die deutsche Sprache entscheidend, sodass ich die neuen Perspektiven nicht aus italienischen oder französischen Arbeiten kennenlernte. So habe ich 1994 auch Pierre Nora30 zuerst auf Deutsch gelesen. Sehr früh habe ich Assmann31 gelesen. Sie haben eben schon die methodische Seite angesprochen. Könnte man denn für die 1990er Jahre von einer deutlich anderen Wissenschaftskultur in Deutschland als in Polen sprechen? Aus meiner Perspektive deutlich ja. Wir haben das bei der Arbeit bei „Borussia“ gemerkt. Wir haben uns damals intuitiv mit Fragen der Erinnerung beschäftigt. Und zwar früher als die akademischen Milieus in Warschau, also diese klassischen Soziologen wie Barbara32 und Jerzy Szacki, damit begonnen haben. Das, was nicht-universitäre Einrichtungen wie „Borussia“, aber auch

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Bohdan Koziełło-Poklewski (*1934); Brigitte Poschmann (1932-2008); Hans-Jürgen Karp (*1935). Sophia Kemlein (*1960); Joachim Rogall (*1959). Jürgen Kocka (*1941). Hans Medick (*1939). Pierre Nora (*1931). Aleida Assmann (*1947). Barbara Szacka (*1930).

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die Warschauer „Karta“33 gemacht haben, unterschied sich sehr stark von der traditionellen historiographischen Landschaft in Deutschland zum Beispiel. Im Nachhinein merkte ich, dass die ersten Texte von Nora oder Assmann auf Polnisch in unserer kleinen Zeitschrift „Borussia“ erschienen waren. Auch Oexle34 hat damals extra für uns geschrieben. In den universitären Milieus mit ihren Zeitschriften fand das alles damals noch nicht statt. Das ist der größte Unterschied zur ‚klassischen‘ Entwicklung in Deutschland und der Grund hierfür liegt natürlich in der Wende von 1989. Die intellektuelle Bedeutung der beiden erwähnten Journale, aber auch von „Pogranicze“ in Sejny oder „Brama Grodzka“ in Lublin,35 für das intellektuelle Leben Polens ist bis zum heutigen Tage nicht historisch aufgearbeitet worden. Wie stand es denn um die methodische Vielfalt? Gab es da einen transnationalen, auch vielleicht über den bilateralen Rahmen hinausgehenden Austausch? Als ich also damals im DHI arbeitete, hatte ich schon eine gewisse Erfahrung im Umgang mit Historiographie. Ich wusste, was ich wollte. Das erste Buch, das ich damals in der Reihe „Klio in Deutschland“ herausgebracht habe, war ein Trialog zwischen Mikrogeschichte, Sozial- und Alltagsgeschichte.36 Die Beiträge waren aus einer Sektion des Leipziger Historikertags im Jahre 1994 hervorgegangen. Ich hatte erkannt, dass es damals in Polen an methodologischer Vielfalt fehlte. Es ging nicht um Methodologie als Selbstzweck, sondern um ein Nebeneinander verschiedener Methoden, die uns von einer positivistischen Ranke37-Historiographie befreien konnte. Dies sollte eben geschehen, indem ich deutsche Historiographie in polnischer Sprache präsentierte. Es folgten Übersetzungen von Ute Frevert38 zur Gender-Thematik, sozialgeschichtlicher Beiträge von Wehler und von Nipperdey. Das waren zwar nicht meine Bücher, 33

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Die 1990 gegründete Stiftung „Karta“ in Warschau ging auf einen seit 1982 existierenden Untergrundverlag zurück, dessen Vertreter es sich zum Ziel gesetzt hatten, die neuere Geschichte Polens ohne Einschränkungen und ‚von unten‘ zu dokumentieren. „Karta“ gehört zu den Wegbereitern der oral history in Polen. Otto Gerhard Oexle (1939-2016). „Pogranicze“ ist ein 1991 in Sejny, nahe der litauischen Grenze, gegründetes Kulturzentrum. Vgl. Chromiec, Dialog międzykulturowy, S. 112-113, 116, 154-162. Das Kultur- und Theaterzentrum „Brama Grodzka“ wurde 1990 in Lublin gegründet. Vgl. Kubiszyn, Marta: Edukacja wielokulturowa w środowisku lokalnym. Studium teoretyczno-empiryczne na przykładzie ośrodka „Brama Grodzka – Teatr NN“ w Lublinie. Toruń 2007. Schulze, Winfried (Hg.): Historia społeczna. Historia codzienności. Mikrohistoria. Warszawa 1996. Leopold von Ranke (1795-1886). Ute Frevert (*1954).

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aber ich hatte freie Hand, sie auszuwählen und dem polnischen Publikum zu präsentieren. Inwieweit hatten Sie denn das Gefühl, das alte Komplexe und Verhaltensmuster in den deutsch-polnischen Kontakten der 1990er Jahre weitergewirkt haben? Blieben denn Schieflagen und Asymmetrien bestehen oder haben sich vielleicht sogar neue entwickelt? Ich habe persönlich keine Komplexe. Das ist weniger lustig, als es zunächst klingt. 2006 bin ich nach Berlin gekommen, als ob es meine eigene Stadt war. Wir wollten damals unter anderem auch „Inter Finitimos“39 gemeinsam herausgeben, was dann personell so nicht zustande gekommen ist. Ich wollte mich nicht anpassen, ich hatte auch keine Mission, aber ich wollte gleichberechtigter Partner mit den anderen Herausgebern sein. Und es war sehr angenehm, dass dieser Impuls von meinen deutschen Kollegen sofort erwidert und akzeptiert wurde. Allerdings war das zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Um jedoch die 1990er Jahre zu verstehen, muss hier auch gesagt werden, dass manchmal Leute mit Komplexen aus Polen nach Deutschland kamen. Solche schrieben dann zum Beispiel zum Thema Erinnerung. Ich schaute in die Literaturverzeichnisse und fand dort keine polnischen Autoren. Ich bekam dann oft zu hören: „Ach wissen Sie, ich muss mich anpassen!“. Junge Leute, die theoretisch gar keine schlechten Erfahrungen gemacht haben konnten, bemühten sich, sich anzupassen. Bis heute verstehe ich nicht, warum, aber diese Tendenz ist manchmal sehr stark. Ich dagegen wusste damals, was ich wollte. Würden Sie denn sagen, dass das in den 1990er Jahren eine verbreitete Position gewesen ist? Ich bin nicht sicher, ob es eine allgemeine Tendenz war. Es gab unter meinen Kollegen solche, die schon lange Kontakte mit Deutschland hatten. Aus meiner Generation war dies z.B.  Włodek  Borodziej40. Aus der älteren Generation etwa die bereits verstorbenen Jerzy Holzer, Marian Wojciechowski oder viele andere.41 Man muss bei dieser Frage also nach Generationen, nach Milieus, 39 40 41

Inter Finitimos. Wissenschaftlicher Informationsdienst deutsch-polnische Beziehungen / Informator naukowy do badań nad stosunkami niemiecko-polskimi. Erschien als private Initiative erstmals 1992, später als Jahrbuch bis zur Einstellung 2014. Włodzimierz Borodziej (*1956). Jerzy Holzer (1930-2015); Marian Wojciechowski (1927-2006).

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aber auch einfach nach einzelnen Personen unterscheiden. Es ist schwierig das zu verallgemeinern. Bestimmt gab es einen Nachholbedarf gegenüber der westdeutschen Historiographie und dabei ging es nicht um die Ostforschung. Es ging um die erwähnte Modernisierung der Historiographie durch verschiedene Forschungsperspektiven. Man muss allerdings zugeben, dass diese unterschiedlichen Perspektiven in Polen bis heute nicht dominieren. Ich habe das neulich wieder gemerkt, nachdem ich in der „Gazeta Wyborcza“ einen Text über die Plebiszite nach dem Ersten Weltkrieg verfasst hatte.42 Marcin Kula sagte mir daraufhin: „Wie kannst Du über eine so kleine Sache so schreiben, als ob Du über Weltgeschichte geschrieben hättest?“ Aber das war eben vor allem der Einfluss der aus Deutschland kommenden Methodik auf mich. Welche Rolle bei der Verdichtung der deutsch-polnischen Wissenschaftskommunikation spielten denn Institutionen? Ich entdecke Amerika nicht neu, wenn ich jetzt darauf hinweise, dass die Wurzeln hierfür vor allem in den 1970er Jahren bei der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission43 liegen. Nicht so sehr, was die Schulbücher selbst angeht, sondern viel allgemeiner, was die deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen, die historiographischen Beziehungen betrifft, wären wir in den 1990er Jahren an einem ganz anderen Punkt gestanden, ohne die Kommission und die Grundlagen, die sie gelegt hat. Ich erinnere mich an die halböffentliche Diskussion darüber, wo das neue Deutsche Historische Institut entstehen soll. In Frage kamen neben Warschau auch Moskau und andere Städte Osteuropas. Polen bekam den Zuschlag, weil die bilateralen Beziehungen eindeutig die reifsten gewesen sind. Es gab eben gemeinsame Gremien, die schon jahrzehntelang miteinander kommuniziert haben. Zur Tradition der polnischen Beschäftigung mit Deutschland gehörten aber auch Institutionen wie das Instytut Zachodni44 in Poznań, sozusagen die Gegeneinrichtung 42 43

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Traba, Robert: Jak pamiętać o klęsce Polaków w Prusach?, in: Gazeta Wyborcza (Olsztyn) vom 10.7.2020. Unter der Schirmherrschaft der UNESCO 1972 gegründete Kommission deutscher und polnischer Historiker*innen sowie Geograph*innen. Vgl. Strobel, Thomas: Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015. Das Instytut Zachodni (Westinstitut), 1945 in Posen/Poznań gegründete Forschungseinrichtung zur Beschäftigung mit den „Wiedergewonnenen Gebieten“ und den deutsch-polnischen Beziehungen. Vor 1989 propagandistisches Zentrum der nationalkommunistischen „Westforschung“. Vgl. Zwierzycka, Romualda (Hg.): Instytut Zachodni. 50 lat. Poznań 1994.

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zum Marburger Herder-Institut45. Es gab hier auch nicht nur die politischen Einflüsse, sondern auch positive Traditionen der Konkurrenz im wissenschaftlichen Sinne. Erwähnen müsste man hier auch die Forschungen zum Deutschen Orden in Toruń, die damals Karol Górski angeregt hatte und die seine Nachfolger bis zu Roman Czaja heute erfolgreich weitergeführt haben.46 Die Wurzeln reichen teilweise in die Zeit vor dem Krieg zurück und es war eben nicht immer nur Feindforschung. Heute nehmen die deutschen Historiker, Leute wie Bömelburg, Krzoska, aus der älteren Generation Müller oder Hahn ganz selbstverständlich an polnischen historischen Debatten teil.47 Und ich, Borodziej, Ruchniewicz, Kochanowski und die anderen sind auch ganz natürlich als Partner ein Teil der deutschen Diskussionen.48 Das ist vielleicht im deutsch-tschechischen Verhältnis ähnlich, sicher aber nicht in Bezug auf Russland oder die Ukraine. Auf dieser Grundlage konnte sich in den 1970er Jahren dann auch die Zusammenarbeit einzelner Universitäten relativ spontan entwickeln, etwa zwischen Gießen und Łódź oder zwischen Tübingen und Warschau. 1989 hat das dann nochmal intensiviert. Wie haben Sie eigentlich die Unterschiede in der praktischen historischen Arbeit zwischen Polen und Deutschland empfunden? Vielleicht hatte ich Glück, aber ich habe fast überall nur nette Leute getroffen, sogar in Merseburg. Die eigentliche Entdeckung für mich war aber der Reichtum der Bibliothekssammlungen. Die Mitarbeiter in kirchlichen Archiven waren in Polen und in Deutschland ähnlich skeptisch gegenüber meinen Vorhaben. In den staatlichen Archiven in beiden Ländern hatte ich nie Probleme, was vielleicht daran lag, dass ich mich damals mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt habe, und nicht mit dem 20. Ich habe allerdings in meiner Bonner Zeit die Unterschiede in der Universitätspraxis rasch bemerkt. Es gab da einen anderen Typus Akademiker. Sie waren freier, diskussionsfreudiger und nicht so steif wie die in Polen. Diese kulturelle Erfahrung war für mich ein riesiger Impuls. Ich erinnere mich noch gut an die Vorlesungen von Hillgruber,

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Das Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, gegründet 1950, ist Teil der Leibniz-Gemeinschaft und trägt seit 2012 seinen heutigen Namen. Vgl. Schutte, Christoph: Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz Gemeinschaft, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2012, ome-lexikon.uni-oldenburg.de/53980.html (02.06.2015). Karol Górski (1903-1988); Roman Czaja (*1960). Markus Krzoska (*1967); Michael G. Müller (*1950); Hans Henning Hahn (*1947). Krzysztof Ruchniewicz (*1967); Jerzy Kochanowski (*1960).

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wo die Leute überall saßen, um ihn zu hören. Aber das waren natürlich noch die Folgen des Historikerstreits.49 Welches waren rückblickend die wichtigsten Themen und Leitnarrative der letzten 30 Jahre? Und wie würden Sie Ihre eigenen Forschungen hier verorten? In gewisser Weise waren die Begegnungen mit Klaus Zernack die Krönung meiner deutsch-polnischen Erfahrungen. Zuerst habe ich gemeinsam mit Basil Kerski 1996 ein langes Gespräch mit ihm geführt, nachdem sein Buch „Polen und Russland“ erschienen war.50 Dann brachte ich seine Texte auf Polnisch mit heraus. Das, was er damals „Beziehungsgeschichte“ nannte,51 führte ich als „Geschichte der wechselseitigen Beziehungen“ weiter und übertrug es dann auf die Arbeit des 2006 gegründeten Zentrums für Historische Forschungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin.52 Während sich Zernack vor allem auf Staaten und Nationen bezog, sah ich darin ein Paradigma für moderne Forschungen zur Kulturgeschichte überhaupt, und zwar nicht als Methode, sondern als Forschungsperspektive, die bei jedem Gegenstand nicht nur endogene, sondern auch exogene Faktoren wahrnimmt, die sein historisches Bild formen. Ich wundere mich etwas, dass niemand aus dem Spektrum der Schüler Zernacks, die heute alle anerkannte deutsche Historiker sind, den Versuch unternommen hat, sein Werk theoretischer zu definieren, wo er doch der heute so populären transnationalen Geschichte oder der Verflechtungsgeschichte die Bahn bereitet hat.

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Der deutsche Historikerstreit entzündete sich u.a. an Andreas Hillgrubers (1925-1989) Buch „Zweierlei Untergang. Die Zerschlagung des Deutschen Reiches und das Ende des europäischen Judentums“ von 1986 an der Frage, ob die deutsche Judenvernichtung ein einmaliges Ereignis gewesen sei. Vgl. Große Kracht, Klaus: Debatte. Der Historikerstreit, Version:  1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.01.2010, http://docupedia.de/zg/kracht_ historikerstreit_v1_de_2010 (07.09.2020). Klaus Zernack (1931-2017) – ders.: Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin 1994; poln. Ausgabe: Polska i Rosja. Dwie drogi w dziejach Europy. Warszawa 2000; Polska i Rosja: dwie drogi w historii Europy. Z profesorem Klausem Zernackiem rozmawiają Robert Traba i Basil Kerski, in: Borussia (1997) 15, S. 267-273; Basil Kerski (*1969). Zernack, Klaus: Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Ders./Wolfgang  H.  Fritze (Hg.): Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Berlin 1976, S. 3-46. Centrum Badań Historycznych Polskiej Akademii Nauk w Berlinie / Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften. 2006 gegründete Außenstelle der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Berlin-Pankow.

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Eine zweite, vollkommen andere deutsch-polnische Initiation der 1990er Jahre war die Entstehung einer Variante der public history oder angewandten Geschichte. Zum wissenschaftlichen Hauptmotiv des Lesens der Landschaft wurden die Präsenz der Vergangenheit im öffentlichen Raum und der Versuch, ihn in Gestalt der angewandten Geschichte neu zu formatieren. Hier trafen dann verschiedene Felder zusammen: Politologie, Geschichtswissenschaft, Museumskunde. Die Anwendungsformen waren auch diverse. Sommerschulen führten Studenten und Doktoranden unter Wahrung ihrer disziplinären Fähigkeiten zusammen, so dass es vor allem mit den Worten Marc Blochs53 immer darum ging, den Menschen in der Zeit zu verstehen. Die bedeutendste Wende für mich war der Sprung zur Erinnerungsforschung, die Auseinandersetzung von Moderne und Postmoderne, Hayden White und Rüsen z.B. auch,54 vor allem aber aus meiner Perspektive jene neue „Geschichte zweiten Grades“. Ich hatte das Glück, dass nach mehr oder weniger zufälligen Anfängen, sich meine Forschungen in die Richtung des Mainstreams bewegten. Das geschah aber nicht konjunkturell, sondern war eine Art natürliche Entwicklung. Es ist dabei nicht zu vergessen, dass ich meine Magisterarbeit über die politischen Ideen von Isokrates55 geschrieben habe. Wenn ich mich heute vor allem mit Mentalitätsgeschichte und weniger mit Ereignisgeschichte beschäftige, so ist das vielleicht die Folge jener frühen Begeisterung für die alte Geschichte. Ich freue mich heute, dass ich weder reiner Regionalhistoriker bin noch jemand, der sich nur mit Deutsch-Polnischem beschäftigt hat, sondern dass ich verschiedene Rollen gespielt und etwas Eigenes gemacht habe. Diese ständige Öffnung für Impulse von außen, diese Bereitschaft, für Bereicherungen offen zu sein, ist für mich das eigentlich Faszinierende an der Geschichte. Vor elf Jahren (2009) haben Sie sich in einem Interview mit tagesschau.de optimistisch gezeigt und gesagt: „Ich denke, wir haben, trotz aller noch vorhandenen Mängel, wirklich das Zeug dazu, ein richtiges Paradebeispiel für eine gelungene Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte zu werden.“56 Wie schätzen Sie die Situation heute ein und welche Zukunft prognostizieren Sie der geschichtswissenschaftlichen Landschaft in Deutschland, Polen und Europa im Jahr 2030? 53 54 55 56

Marc Bloch (1886-1944). Hayden White (1928-2018); Jörn Rüsen (*1938). Isokrates (436-338 v. Chr.). „In Deutschland fehlt es an Interesse“, in: tagesschau.de vom 1.9.2009, https://www. tagesschau.de/ausland/interviewroberttraba100.html (4.8.2020).

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Diese optimistische Aussage war sicherlich geprägt durch das größte deutschpolnische Projekt, das ich gemacht habe, nämlich die Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte57. 117 Autoren, elf Bände. Das war eine einmalige Erfahrung. Ich bin sicher, dass es in keinem anderen bilateralen Fall etwas von dieser Größenordnung gegeben hat. Wir hatten das Potenzial an Forschern als Folge der langjährigen Zusammenarbeit. Für die Zukunft kann ich aus der heutigen Perspektive wenig Innovatives vorhersagen. Die Forschungen der Zukunft werden wohl weniger bilateral sein. Das Bilaterale ist immer wichtig, seine Vertiefung, gerade angesichts der Lage mitten in Europa. Das Potenzial ist nicht erschöpft, aber natürlicherweise brauchen wir auch einen multiperspektivischen europäischen Blick. Es ist unglaublich schwierig und ich bin doch sehr skeptisch, wenn man sich die Wirkung dieser riesigen, mit gewaltigen Summen finanzierten Projekte wie „Horizon 2020“58 ansieht. Mikrogeschichte dagegen kann europäischer sein als jedes quasi-europäische, multilaterale Projekt. Es muss immer darum gehen, Menschen zu verstehen. Das ist für mich immer noch eine Prämisse für die Zukunft. Das kann man natürlich unterschiedlich machen. Trotz der Entwicklung der modernen Medien und ihrer Kulturen ist es nach wie vor wichtig, die humanistische Perspektive beizubehalten. Daran wird sich auch in zehn Jahren nichts geändert haben.

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Zwischen 2006 und 2015 unter Federführung des CBH PAN Berlin nach französischem Vorbild, aber bald darüber hinausgehend, durchgeführtes Forschungsprojekt zur Geschichte zweiten Grades mit transnationalem Fokus. Vgl. Hahn, Hans Henning/Traba, Robert (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte.  5 Bde. Paderborn 2012-2015; poln. Ausgabe: Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Tom  1-4. Warszawa 2012-2015; dies. (Hg.): 20 deutsch-polnische Erinnerungsorte. Paderborn 2017; poln. Ausgabe: Wyobrażenia przeszłości. Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Warszawa 2017. Zwischen 2014 und 2020 umgesetztes Forschungsförderungsprogramm der Europäischen Union.

Abb. 22.1 Friedrich Cain – Am Zinödl 1998. Foto: privat.

Abb. 22.2 Dietlind Hüchtker – Paris im März 1992. Foto: privat.

Geschichte(n) zur Geschichte. Über deutsch-polnische historiographische Beziehungen in den 1990er Jahren Friedrich Cain, Dietlind Hüchtker Prolog 2030 Wie war das damals wohl, in den 1990ern, mag sich – vielleicht – in knapp 10 Jahren jemand fragen, während sie sich überlegt, wie es nach einem Mitte der 2020er Jahre aufgenommenen und nun frisch abgeschlossenen Studium der Geschichte weitergehen könnte. Nach erfolgreich absolvierten grundständigen und konsekutiven Studiengängen, diversen Praktika und Studiensemestern im Ausland steht diese Person dann vielleicht vor der Aufgabe, passende Fallstudien für ein anstehendes Promotionsvorhaben zu suchen. Die anvisierte Graduate School for Contemporary History behandelt in etwa die Entwicklung internationaler Forschungslandschaften unter besonderer Berücksichtigung politisch-wissenschaftlicher Vorstellungswelten. Irgendwelche marginalen Zufälle haben diese Person Polnisch und Deutsch lernen lassen, insofern wecken die Verbindungen zwischen beiden Ländern ohnehin das Interesse unserer*s Kandidat*in und so zeigt die Beta-Version des OnlineRecherchetools nach kurzer Suche einen 2021 erschienenen Band mit Nachfragen zur Geschichtswissenschaft der 1990er Jahre in Deutschland, Polen und Europa an. Achselzuckend klickt die Person auf den Link, ein neuer Tab öffnet sich und mit leichter Verzögerung lassen sich nach und nach die einzelnen Kapitel öffnen. Was mag dieser Person durch den Kopf gehen, die nun Interviews mit Historiker*innen lesen wird, die im Sommer 2020 – ja, das war doch das Corona-Jahr – aufgezeichnet wurden …? Wie diese Gedanken im Jahr 2030 aussehen werden, darüber lässt sich heute höchstens fabulieren. Auch wie die Forschungslandschaft strukturiert sein wird, in die sich die Person einschreiben wird, ist nur mit Vorsicht vorherzusagen. Dies zeigen die Interviews im vorliegenden Band. Mit etwas mehr Bestimmtheit lassen sich jedoch Ideen sammeln, die sich vielleicht zu einer Fallstudie ausbauen ließen. Welche Überlegungen einer solchen Geschichte voranstehen und welche Materialien ihr aus heutiger Perspektive zugrunde liegen könnten, soll hier versuchsweise skizziert werden. Es soll also darum gehen, Signaturen einer Geschichtsforschung im deutsch-polnischen Kontext der 1990er Jahre zu umschreiben, dominante Narrative und Topoi zu benennen

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und schließlich einen Ausblick auf die Imaginationswelten von Wissenschaft und Politik zu wagen. Einleitung: Historiker*innen als Zeitzeug*innen Igor Kąkolewski begründet in diesem Band den Ansatz einer Beziehungsgeschichte nach Klaus Zernack damit, dass die Geschichte eines Nachbarlandes es ermöglicht, die jeweils eigene besser zu verstehen.1 Dem hält Katrin Steffen entgegen, dass „[es] ja nie einfach [sei], Gesellschaften zu verstehen, in denen man nicht aufgewachsen ist (wiewohl es manchmal sogar einfacher ist, als die zu verstehen, in der man aufgewachsen ist).“2 Ganz ähnlich geht es uns mit dem eingangs angestellten Gedankenexperiment, das räumliche in zeitliche Entfernung übersetzt. Es wird uns nicht vollends aus unserer eigenen Daseinswirklichkeit herausführen, so sehr wir uns auch bemühen, uns aus ihr hinauszudenken. Trotz aller epistemischen Hürden, die ein solches Experiment bereitet, kann es aber dazu dienen, Fremdheitseffekte herzustellen. Der Gegenstand von Interesse, hier die Geschichte der Geschichtswissenschaften der 1990er Jahre im deutsch-polnischen Kontext, kann so aus anderem Blickwinkel betrachtet werden. Warum aber scheint uns, die wir diesen Text schreiben, eine solche Perspektivierung nötig? Nun, vor allem liegt es an den vielen beruflichen und biographischen Aspekten, die wir mit den Interviewten teilen. Dazu gleich mehr. Die Entwicklung, die Geschichte in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts nahm, hat sicherlich auch uns geprägt und die Veränderungen, die alle zu Wort kommenden Zeitzeug*innen konstatieren, haben wir mit ihnen erlebt, so unterschiedlich die Wahrnehmungen (und Erinnerungen) auch immer sein mögen. Teils werden langsame, bereits seit den 1970er Jahren laufende Prozesse angesprochen, teils rapide Brüche im Zuge der politischen Wende. In den Interviews verbinden sich zwei Aspekte 1 Kąkolewski in diesem Band, S. 191. Ähnlich auch Hahn, Hans Henning/Traba, Robert: Wovon die deutsch-polnischen Erinnerungsorte (nicht) erzählen, in: Dies. (Hg.): Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Bd.  1. Paderborn 2015, S.  11-49, S.  19. Weitere Beispiele ließen sich unter anderem rund um die deutsch-polnischen Schulbuch-Diskussionen oder auch aus dem deutsch-französischen Kontext anführen. Vgl. Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission (Hg.): Schulbuch Geschichte. Ein deutsch-polnisches Projekt – Empfehlungen. Göttingen 2012, S. 13-15; und ein Beispiel aus der Schulpraxis https://www.cbg-ladenburg.de/ index.php/unsere-schule/portraet/profile/ (22.1.2021). Allgemein zur Geschichte der Schulbuchkonferenzen: Strobel, Thomas. Transnationale Wissenschafts- und Verhandlungskultur. Die Gemeinsame Deutsch-Polnische Schulbuchkommission 1972-1990. Göttingen 2015; Klaus Zernack (1931-2017). 2 Steffen in diesem Band, S. 416.

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des Historischen: die akademische Disziplin und das Geschehene, das sie beschreibt und aus dem sie wiederum erst hervorgeht. Wenn wir uns nun mit der Geschichte dieser Geschichte(n) befassen, so sollten beide Ebenen gleichberechtigt zur Sprache kommen. Um diesem Ideal möglichst nahe zu kommen, wollen wir zurücktreten und die Annahme abstreifen, zu wissen, worum es geht in diesen Geschichten über Geschichte. Michael  G.  Müller, der inzwischen emeritierte Professor für Osteuropäische Geschichte an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, wurde auf der Internetseite des dortigen Instituts jahrelang mit dem Gedanken zitiert, Geschichte sei „wie ein fremdes Land“. In diesem Sinne wollen wir die Interviews als Material zur Geschichtswissenschaft der 1990er Jahre begreifen und Bedeutungen de- bzw. rekonstruieren. Die interviewten Historiker*innen werden uns zu Zeitzeug*innen. Zunächst wäre zu fragen, ob die individuellen Sichtweisen Rückschlüsse auf Formen sozialer Integration, auf Strukturen von Gemeinschaft oder Gesellschaft erlauben. Sollte das der Fall sein, ließe sich die Entwicklung der Soziokultur dieser Gruppe in ihrer spezifischen Zeit-Umwelt untersuchen, wobei den Zugangsvoraussetzungen, den (Initiations-)Ritualen und Praktiken besonderes Augenmerk zukommen sollte. Wir entscheiden uns also für einen ethnologisch informierten Ansatz, um den Sinnstiftungen auf den Grund zu gehen. Als Hans Medick, den – das sei festgehalten – Robert Traba in seinem Interview als Lektüre erwähnt,3 1984 unter dem Titel Missionare im Ruderboot forderte, ethnologische Erkenntnisweisen in die Sozialgeschichte einzubeziehen, tobte bereits der Kampf zwischen den Historischen Sozialwissenschaften, die sich in der westdeutschen Geschichtswissenschaft soeben durchgesetzt hatten, und der aufkommenden Mikrogeschichte. Es waren vor allem die Historiker*innen am damaligen Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen – unter ihnen Medick –, die auf eine „Anthropologisierung“ der Geschichtswissenschaft drängten.4 Wie dieser in seinem Aufsatz formulierte, zielte die „Anthropologisierung“ darauf, den Eurozentrismus infrage zu 3 Traba in diesem Band, S. 431. 4 Siehe dazu die aus den 1980ern stammenden Publikationen der Gruppe um Hans Medick (*1939), David Sabean (*1939) und Alf Lüdtke (1943-2019), die am Max-Planck-Institut für Geschichte arbeiteten: Berdahl, Robert M. u.a.: Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main 1982; Medick, Hans/Sabean, David (Hg.): Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung. Göttingen 1984; Lüdtke, Alf (Hg.): Herrschaft als soziale Praxis. Historische und sozial-anthropologische Studien. Göttingen 1991; siehe zur Geschichte der Gruppe Schöttler, Peter: Das Max-Planck-Institut für Geschichte im historischen Kontext, 1972-2006. Zwischen Sozialgeschichte, Historischer Anthropologie und Historischer Kulturwissenschaft. Berlin 2020.

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stellen, der nicht nur die historische Kategorienbildung, sondern auch das Geschichtsverständnis selbst präge. Die „Unterschiedlichkeit und Fremdheit anderer Kulturen und Zeiten“ zu untersuchen war das Programm, das von der Peripherie aus entwickelt wurde, in Feldern wie „der Volkskultur, der Frauengeschichte, der Geschichte der Geschlechterbeziehungen, […] der Alltagsgeschichte und der Arbeitergeschichte“.5 Wie die Ethnologie sich fremden Gesellschaften zuwandte, so sollte die Historiographie das Fremde in der eigenen Geschichte untersuchen.6 Der Versuch der Entfremdung, wie Carlo Ginzburg es einmal genannt hat,7 ist keineswegs Spielerei. So produktiv das Feld geschichtswissenschaftlicher Forschung im deutsch-polnischen Kontext ist, so überschaubar ist es zugleich. Man kennt sich. Diese Überschaubarkeit weist zurück auf ein Kernproblem historischer Anthropologie. Wie distanziert man sich von einem Gegenstand, den man selbst mitgestaltet (hat) – so klein der eigene Beitrag auch sein mag? Der Aufforderung zur Entfremdung nachzukommen ist nicht einfach, erst recht nicht, wenn der Gegenstand so „nah“ an die eigene Sozialisation als Historiker*in herankommt, die uns zu teils persönlich bekannten Personen und Zusammenhängen zurückführt. Wir Autor*innen sind seit den späten 1990er bzw. den späten 2000er Jahren mit der deutsch-polnischen historischen Forschung verbunden. Beide stammen wir aus Westdeutschland, unsere akademische Sozialisation fand an verschiedenen Stationen in den alten und neuen Bundesländern sowie im Rahmen einiger Auslandsaufenthalte statt, unter anderem in Polen. Unterschiedliche Perspektiven haben wir hinsichtlich des Geschlechts, der Forschungswege und der Generation. Der ethnologische Zugang soll helfen, unsere eigene Sozialisation, unseren wissenschaftlichen Habitus, unsere (geschichts-)wissenschaftliche Persona mitsamt aller Selbsterzählung, die historischer Arbeit den Grund legt, zu reflektieren, denn mitunter überschneiden sich unsere Wege mit denen der Interviewten: Es kommen neun Historiker*innen aus Deutschland zur Sprache und sechs Historiker (keine Historikerinnen) aus Polen, schließlich eine Historikerin aus 5 Medick, Hans: „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft  10 (1984), S.  295-319, S. 300-301. 6 Siehe auch Schindler, Norbert: Spuren in der Geschichte der „anderen“ Zivilisation. Probleme und Perspektiven einer historischen Volkskulturforschung, in: Richard van Dülmen/Norbert Schindler (Hg.): Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert). Frankfurt am Main 1984, S. 13-77. 7 Carlo Ginzburg (*1939) – ders.: Geschichte und Geschichten. Über Archive, Marlene Dietrich und die Lust an der Geschichte, Carlo Ginzburg im Gespräch mit Adriano Sofri, in: Ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis. Berlin 1983, S. 7-28, 22-23.

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Frankreich und je ein Historiker aus Großbritannien, Tschechien und Litauen. Die Interviewten mit deutschem Hintergrund wurden in der Bundesrepublik ausgebildet und waren später teils in den „neuen“ Bundesländern tätig. Männer bilden die große Mehrheit, nur fünf der insgesamt 20 Interviewten sind weiblich. Die meisten sind zwischen 50 und 70 Jahre alt, sie erinnern eine Zeit, die etwa 25 bis 30 Jahre zurückliegt. Die Interviewer, drei männliche Historiker mit (west-)deutscher, polnischer und tschechischer wissenschaftlicher Sozialisation umfassen wie wir Autor*innen dieser Überlegungen zwei Generationen. Der Sprung ins Jahr 2030 soll uns als heuristischer Zugang zu dem sich hier ausbreitenden Material dienen. Aus dieser Entfremdungsperspektive nehmen wir die uns vorliegenden Interviews als Texte über Bedeutungen, Sinnzusammenhänge, als überschießenden Selbstausdruck der Interviewten und werden versuchen, das Gewand der „Missionare im Ruderboot“ abzustreifen, um „notwendigen Respekt vor der Interpretation und Selbstauslegung der Kultur der Fremden“ walten zu lassen.8 Wir beobachten Praktiken, diskursive Knotenpunkte und Institutionalisierungen deutsch-polnischer Wissenschaftsbeziehungen. Wir betrachten Akteur*innen in einem eher randständigen Feld – ignoriert vom Mainstream der deutschen wie der polnischen Geschichtswissenschaft. Wir sehen Gegenstände und Methoden, die neue Perspektiven etablieren sollten. Wir sehen – wie fast zeitgleich zum historischethnologischen Dialog am Max-Planck-Institut – Engagement und Enthusiasmus, Hoffnung auf Überwindung dessen, was als hinderlich, dominant und ignorant wahrgenommen wurde (und wird). Im ersten Teil werden wir eine vorläufige Liste zentraler Narrative und Topoi skizzieren und blinde Flecken sammeln, die bei der Lektüre besonders ins Auge springen. Ein Ort, der in fast allen Interviews angesprochen wird, soll im zweiten Teil im Mittelpunkt stehen, um die Beobachtungen anschließend zu kontextualisieren. Eine wichtige Neuerung für die Beziehungen der deutschen und polnischen Geschichtswissenschaften, die die 1990er Jahre brachten, war die Möglichkeit, Institutionen zu bilden. So wurde 1993 das Deutsche Historische Institut in Warschau gegründet, das sich schnell zu der zentralen Institution entwickelte, die es bis heute ist. Im dritten Teil werden wir schließlich das Verhältnis von Geschichte und Politik beleuchten, dessen Problematik nicht in seiner Existenz überhaupt, sondern vielmehr in der Verdrängung seiner Normalität zu liegen scheint, werden doch deutsch-polnische Themen immer wieder und immer noch als „besonders politisch“ und „mit besonderer Vorsicht“ zu behandeln gedacht. 8 Medick, Missionare, S. 307.

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Narrative, Topoi und blinde Flecken

Die im Folgenden vorgestellten Aspekte verdichten sich in den Interviews zu Topoi oder Narrativen oder bleiben auffällig unbestimmt. Wir werden sie als Zeichen in ihren Bedeutungszusammenhängen beschreiben. Dabei spielen die Praktiken historischen Forschens, die „großen Ereignisse“ der Zeit, der wissenschaftliche Habitus und die Machtverhältnisse in der Wissenschaft eine Rolle, genauso wie das Feld der deutsch-polnischen Wissenschaftsgeschichte. Unsere allenfalls anfänglichen Beobachtungen bleiben notwendigerweise eklektizistisch – subjektiv, wenn man so will –, werden aber im zweiten Teil an eine Fallstudie zurückgebunden und abschließend mit übergreifenden Fragen geschichtswissenschaftlichen Wirkens verknüpft. Beziehungsgeschichte der Lesesäle Ein Topos historiographischer Selbsterzählung überhaupt ist der Widerstand des Archivs. Liederliche Handschriften, schlechtes Papier, fehlende Blätter, wer kennt es nicht. Lässt sich dem methodisch beikommen – Vorteil hat, wer die sogenannten Hilfswissenschaften beherrscht9 –, ist die soundscape des Archivs unweigerlich vom kaum vermeidbaren Seufzen ob bürokratischer Hürden durchzogen. In diesem Band steht der Lesesaal des Preußischen Geheimen Staatsarchivs in Berlin emblematisch für den deutsch-polnischen Kontext. In den Interviews mehrfach erwähnt, zeigt sich dort, welch verwundene Wege die Vorstellung vom gegenseitigen Verständnis bisweilen zu nehmen hat. Während deutsche Interviewte erinnern, wie zurückhaltend, ja geradezu repressiv die Akteneinsicht in den 1980er Jahren bisweilen gehandhabt worden sei, insbesondere wenn polnische Kolleg*innen wegen ostpreußischer Akten vorsprachen, und im selben Atemzug die unglaublich arbeitsfreundlichen und auskunftsfreudigen Archive in Polen betonen, wird dieser Eindruck in den Interviews der polnischen Kollegen kaum bestätigt, sondern vielmehr ins Gegenteil verkehrt: In den 1990er Jahren hätten sich im Geheimen Staatsarchiv Möglichkeiten ergeben, von denen man damals in polnischen Archiven nur hätte träumen können, wohl nicht nur bedingt durch die bewundernd registrierten Laptops.10 Womöglich gab es aber auch gar keine

9 10

Vgl. etwa Müller in diesem Band, S. 305. Kąkolewski in diesem Band, S. 193.

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großen Unterschiede, ging es vielleicht einzig darum, die Strukturen zu verstehen, wie Bogusław Dybaś an einer Stelle bemerkt.11 Das Archiv kann als ein natürlicher Ort der Historiker*innen gelten. Es hat einen festen Platz in ihren Identitätserzählungen und die Archivanekdote ist ein klassisches Genre. Ein Blick in die Danksagungen und Vorworte historiographischer Monographien genügt, um das Archiv als Schlüsselort zu verstehen. Kaum einmal kritisiert diese Textsorte Umgangsformen, vielmehr erscheint hier die Figur der*s unbekannten Archivar*in, ohne die unübersichtliche Aktenmassen kaum zu durchdringen gewesen seien. Es öffnen sich – vorsichtig – ganze Gefühlswelten: die Einsamkeit der Doktorand*innen, die (außer-)akademischen Fremdheitserfahrungen fernab heimatlicher Gefilde, die teils angestrengte professionelle Performance, die Demonstration von Kommunikations- und Anpassungskompetenzen und so weiter. Das Geheime Staatsarchiv und die dort lagernden Akten zu Ostpreußen verbinden sich zu einem zentralen Topos in deutsch-polnischen Transfererzählungen, der jedoch im Grunde lediglich allgemeine Elemente der Archiverfahrung in spezifischer Weise zueinander in Beziehung setzt. Die Austauschpraktiken zwischen Nutzer*innen und Archivar*innen lassen antipolnischen Chauvinismus erzählen. Sie lassen davon ausgehend den selbst gewählten politischen Auftrag einer ersten auf Annäherung bedachten Historiker*innengeneration in Deutschland deutlich werden, die sich seit den Ostverträgen zur Aufgabe machte, dieses Misstrauen zu überwinden.12 Zugleich ist es Spiegel und Gegenbild zu dem durchweg freundlichen und hilfsbereiten Zugang, den deutsche Forscher*innen in polnischen Archiven und Bibliotheken erinnern. Schließlich lassen sich hier klassische Transformationserfahrungen des ‚Westlichen und Modernen‘ nachvollziehen, die auf polnischer Seite häufig als Inspiration oder Erneuerungsdruck erinnert werden. Die hervorgehobene Stellung des Lesesaals mit den dahinterliegenden Magazinen, mit seinen Zugangsregeln und den teils undurchsichtigen Regimen der archivarischen Praxis entsteht in seiner epistemischen Offenheit. Wo, wenn nicht hier erfährt historisches Arbeiten Dynamik? In der Euphorie emblematisch fasst es Michael  G.  Müller zusammen: „Da hat man sich so gefühlt wie ein richtiger Historiker auf seiner Entdeckungsreise – der nimmt sich die Akten vor und dann blättert er darin …“13 11 12 13

Dybaś in diesem Band, S. 94. Vgl. dazu umfassend Guth, Stefan: Geschichte als Politik. Der deutsch-polnische Historikerdialog im 20. Jahrhundert. München 2015. Müller in diesem Band, S. 305. Siehe dazu weiterführend Trüper, Henning: Topography of a Method. François Louis Ganshof and the Writing of History. Tübingen 2014; Farge, Arlette: Der Geschmack des Archivs. Göttingen 2011.

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‚Leerstelle DDR‘ Die in diesem Band erinnerten Beziehungen durchdrangen anscheinend geschlossene Räume und Grenzen, vor allem aber überwanden sie den Raum der DDR. Diese findet kaum Erwähnung und spielt in der Konstruktion der deutsch-polnischen Beziehungen keine Rolle – auch dann nicht, wenn historisch weiter zurückgegriffen wird. Sicher, es geht eigentlich vor allem um die 1990er Jahre, also das vereinigte Deutschland, doch lässt sich nicht leugnen, dass die in den Interviews erwähnten deutschen Institutionen und Personen fast ausnahmslos westdeutscher Herkunft sind. Die Geschichte der 1990er Jahre, die immer stärker in den Fokus der Zeitgeschichte rückt, funktioniert in den hier versammelten Interviews als westdeutsch-polnische Geschichte. Die neuen Bundesländer spielen keine Rolle oder erst dann, als sie vom Westen her auch institutionell erschlossen werden – hier stellen die deutsch-polnischen Beziehungen in den Geschichtswissenschaften sicher keinen Einzelfall dar. Dies spiegelt sich in den Interviews, in denen ostdeutsche Kontakte oder Biographien nach 1990 nur zweimal erwähnt werden, und zwar als Leerstelle.14 Diese ‚Leerstelle DDR‘ mag sich vor 1990 damit erklären, dass die repressive (Geschichts-)Politik der SED sowie die Ähnlichkeit der Strukturen und Maximen einen Austausch zwischen polnischen und DDR-Historiker*innen sinnlos, jedenfalls unproduktiv erscheinen ließ und heute nicht mehr erinnert wird.15 Die Hoffnung auf Revision lag im Westen. Wer in diesem Band zu Wort kommt, reiste eher aus privaten Gründen in die DDR und nur ganz selten, um Archive zu besuchen. Man musste durch, aber nicht hin; es gab dort höchstens „gute Ostmark“, nicht aber akademische Meriten zu verdienen; man hatte dort private, aber keine wissenschaftlichen Kontakte. Die westdeutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen scheinen in der Spätphase des Kalten Kriegs die Ost-West-Polarität und ihre Überwindung, also Austausch über den Eisernen Vorhang hinweg sowie Transformationserfahrungen wie Ungleichheit und Fortschrittsparadigma widerzuspiegeln. Der Weg zur Beschäftigung mit deutsch-polnischen Themen wird oft als kontingent, aber überwiegend als kontraintuitive Handlung beschrieben. Die osteuropäischen Historiker*innen, die sich mit deutsch-polnischer Geschichte beschäftigten, waren, so der Tenor der Interviews, auf der Suche nach neuen Erzählungen. In Polen kritisierten sie die politisch wohlgelittenen Darstellungen als eindimensional und allzu national orientiert. Durch die Beschäftigung mit deutschen Themen hätten sie einen Wandel initiieren 14 15

Kizik in diesem Band, S. 222; Kersken in diesem Band, S. 201; Hensel in diesem Band, S. 165. Dazu erneut Guth, Geschichte, v.a. Kap. 5.

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wollen. In den Darstellungen wird die Geschichtswissenschaft im Westen zum Transmissionsriemen international diskutierter Ansätze, sie bot Zugang zu Büchern, Personen und Institutionen. Ob diese deutsch, französisch oder englisch waren, hängt oder hing meist von den persönlichen Verbindungen und Sprachkenntnissen der ost(mittel)europäischen Historiker*innen ab. Die ‚Leerstelle DDR‘ hat daher etwas mit den Motivationen und Wünschen zu tun, die mit den jeweiligen area studies (und eben nicht Nachbarschaften) verbunden wurden. Wird die Hinwendung zur polnischen Geschichte auf der (west-)deutschen (und britischen oder französischen) Seite vielfach mit lebensgeschichtlichen, oft politischen Motiven begründet, die sich auch mit einem spezifischen Kontext der Ostforschung auseinanderzusetzen hatten, bemühen die Erinnerungen aus polnischer, tschechischer oder litauischer Sicht Narrative des Perspektivenwechsels, des Bedürfnisses nach neuen Ansätzen und Denkweisen. Mit Blick auf die Vertiefung oder zumindest Denomination der Spezialdisziplin trafen hier unterschiedliche Gruppen aufeinander: in Polen Historiker*innen, die antraten, das (nationalgeschichtliche) master narrative ihres Fachs zu hinterfragen, und ihre Kolleg*innen in Deutschland, die sich auf die Geschichte des östlichen Europas, Ostmitteleuropas bzw. Polens als Spezialfall im Sinne heutiger area studies konzentrierten. Ihre Hoffnung auf Revision der im Kern ebenfalls national argumentierenden so genannten Allgemeinen Geschichte in Deutschland blieb unerfüllt.16 Gesetzte Helden: Klaus Zernack und Marian Biskup Die Interviewten waren und sind Teil eines Netzwerks, das sich in Institutionen verdichtete: mit der deutsch-polnischen Schulbuchkonferenz, dem DHI in Warschau, der Universität Thorn war die Mehrzahl auf irgendeine Art und Weise verbunden. Letztere stellt in vielen Schilderungen einen Ort der Begegnung dar. Dort trafen Historiker*innen zusammen, dort fanden Tagungen mit lebhaften Diskussionen statt, Forschungsthemen wurden vermittelt, Auslandsaufenthalte (in beide Richtungen) organisiert und damit neue Perspektiven eröffnet. Immer wieder werden Studien zur sächsischen Zeit erwähnt, genauso die Geschichte des Deutschen Ordens – mithin frühneuzeitliche Forschungsfelder, die sich engen nationalgeschichtlichen Narrativen entzogen und deren Infragestellung „von der Sache her“ ermöglichten. Hier sei daran erinnert, dass im Laufe der 1980er und 90er Jahre auch in der ‚westlichen‘ Frühneuzeitforschung einige Forschungszusammenhänge 16

Müller in diesem Band, S. 301.

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und -institutionen entstanden, die antraten, mit neuen Perspektiven und Ansätzen die gesamte Geschichtswissenschaft zu erneuern, wie die oben schon erwähnte Mikrogeschichte. Diese Möglichkeiten, die Erfahrungen von Offenheit und Wandel, wurden nicht nur in Polen vor der Wende eingeleitet. Ihre historisierende Kontextualisierung vor dem Hintergrund eines breiten gesellschaftlichen und politischen Wandels – transnationaler Reformbewegungen und konkreter Ereignisse – steht noch aus. Die Erfahrungen der Historiker*innen im westdeutsch-polnischen Kontext bieten dazu aber eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten. Nicht nur Institutionen stellten solche Knotenpunkte inhaltlicher, struktureller und persönlicher Fäden dar. In den Interviews stechen mit Klaus Zernack und Marian Biskup17 zwei Namen heraus. Beide werden als aktive Wegbereiter des deutsch-polnischen Wissenschaftsaustausches wie auch thematischer und konzeptioneller Anregungen gezeichnet. Sie figurieren als Hochschullehrer und Förderer und werden zu wichtigen Scharnierstellen. Dass sie diese zentralen Positionen in den Erinnerungen einnehmen, ist wohl wenig verwunderlich, interessant ist viel eher die Struktur der Schilderungen. In Westdeutschland galt Zernack jungen poleninteressierten Historiker*innen der 1980er und 90er Jahre als Doyen: Wer polnische Geschichte studieren wollte – aus welchen Gründen auch immer – fuhr nach BerlinDahlem. Auffallend ist die oft selbstverständliche Nennung seines Namens („und natürlich Zernack“). Wer Zernack nicht oder nicht gut persönlich kannte, betont, seine Bücher gelesen zu haben. Zernack wird zur Metonymie. Sein Name steht in den Interviews für einen spezifischen Zugang, ein Forschungsprogramm, für die Freie Universität, für einen neuen Ursprung deutschpolnischer Historiographie, aus einer bestimmten Perspektive vielleicht für Polen selbst. Er wird für eine gewisse Zeit zum Rahmen und zur Bedingung von Geschichtsstudium und Promotion und das weit über alte Lehrstuhlhegemonien und -dynastien hinaus. Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so herausgehobene Position erfährt die Figur Biskup. Stärker als Zernack wird Biskup in den Interviews mit konkreten Praktiken verbunden, etwa mit der Vermittlung von Stipendien in (West-)Deutschland, der Erschließung neuer, randständiger Themen usw. In den Erzählungen zu konkreten wissenschaftlichen Projekten, thematischen Kooperationen etc. entfalten diese Figuren ihre Wirkung gerade durch die Knappheit, mit der ihre Namen genannt werden. Sie entrücken, scheinen unerreichbar und sind gleichzeitig ganz nah, weil überall. Ihre Erwähnung unterstreicht die Relevanz des Erzählten und forciert die Einschreibung 17

Marian Biskup (1922-2012).

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der eigenen Person in den fraglichen Kontext. Nebenbei bemerkt sind diese rhetorischen Praktiken nicht spezifisch für die deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen, sondern Teil der allgemeinen Struktur von Lehrer-SchülerBeziehungen (hier im Westen noch weniger als im Osten eine weibliche Form nötig) in beiden Wissenschaftssystemen. Wissenschaftler*innen versicherten sich auf diese Weise der wissenschaftlichen Relevanz ihrer Begegnungen. Austausch fand statt und zwar auf höchstem wissenschaftlichen Niveau. Diese Versicherungen auch und gerade vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche, der De-Legitimierung der osteuropäischen Wissenschaftssysteme, mancher im polemischen Duktus bisweilen als kolonial bezeichneter Übernahmepraktiken und ‚westlicher‘ Überheblichkeit hatten hohe Relevanz, ermöglichten sie doch den immer wieder betonten Austausch auf Augenhöhe. Diese Stärkung hatte allerdings ihren Preis in einer an Ausschluss grenzenden geringen Beachtung von Frauen, die kaum in solche Beziehungen integriert waren. Wie stark sich diese und andere Mechanismen der Selbstversicherung nach wie vor halten, spiegelt sich ebenfalls in den Interviews – wenn auch häufig implizit. Die ‚Frauenfrage‘ Die Dominanz von Männlichkeit der Geschichtswissenschaft springt ins Auge. „Aus meiner Perspektive gehörte das 20. Jahrhundert den Männern, die Frauen kamen erst im 21. Jahrhundert“, bringt Alvydas Nikžentaitis diesen Topos auf den Punkt.18 Auch wenn Frauen erwähnt werden, geschieht dies fast ausschließlich auf Nachfrage im hinteren Teil der Gespräche und meist verliert sich dieser Faden im weiteren Verlauf rasch. Dies verwundert angesichts der bis heute feststellbaren Männer-Dominanz im gesamten Fach wenig. Deutlich wird allerdings, wie sich diese Struktur perpetuierte: Frauen wurden nicht zu Knotenpunkten – sie waren weder Zentren der Politik, noch Zentren der Förderung oder der Projekte. Selbst Anna Żarnowska19, die die Frauen- und Geschlechtergeschichte in Polen aufgebaut und dabei ihre Kontakte nach Österreich und Deutschland genutzt und ausgebaut hat, wird nur dreimal erwähnt. Für die interviewten Frauen ist sie eine wichtige Innovationsfigur, die am Historischen Seminar in Warschau ein hervorragendes standing hatte. Allerdings steht sie stärker für Frauen- und Geschlechtergeschichte als für

18 19

Nikžentaitis in diesem Band, S. 319; vgl. auch Kizik in diesem Band, S. 225. Anna Żarnowska (1931-2007).

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transnationale Wissenschaftskontakte – und damit für ein Feld, das selbst exotisiert und als Teil der ‚Frauenfrage‘ betrachtet wird. Denn männlich konnotiert sind nicht nur die Zentren, sondern auch die ‚großen‘ Themen der deutsch-polnischen Wissenschaftsbeziehungen seit den 1970er Jahren. Die Themen der Frühneuzeitforschung waren auf beiden Seiten mit dem Deutschen Orden, einer politisch akzentuierten Beziehungsgeschichte und mit den Teilungen Polens verbunden – Themen, die eine männlich konnotierte und von Männern dominierte Politikgeschichte stärkten. Katrin Steffen erwähnt die Schwierigkeit, im Vertreibungsprojekt Geschlecht als Untersuchungskategorie zu etablieren – vielleicht auch, darüber spricht sie nicht, weil in der Projektgruppe Frauen insgesamt unterrepräsentiert waren.20 Die deutsch-polnische Geschichtswissenschaft war seit den 1970er Jahren ein männlich geführtes und konnotiertes Wissenschaftsnetzwerk, das sich aus Freundschaften, Lehrer-Schüler-Verhältnissen, aus politischen und wissenschaftlichen Ambitionen zu Neuerungen und Öffnungen ergab, das über Themen Relevanz zu erzeugen bestrebt war und Institutionen aufbaute. Die Praktiken der Relevanzerzeugung, der Netzwerke, der Institutionalisierung haben viel mit der Wahrnehmung eigener gesellschaftlicher Relevanz und zugleich Randständigkeit und geringer Beachtung zu tun. Der Anspruch, Politik und Wissenschaft zu verändern, war hoch und schwierig zugleich. Erst in dem Moment, als sich das Feld verbreiterte, als deutsch-polnische (Wissenschafts-) Beziehungen zu einem Thema unter vielen anderen wurde, wurden auch Frauen zu Knotenpunkten, die Themen, Institutionen und Strukturen verbanden. Dass solche Praktiken einen Bias bedingten oder bestärkten, haben die zeitgenössischen Forschungen zu Geschlecht in der Wissenschaft gezeigt21 – ob daher dieser Bias nicht vielleicht zu den Grundstrukturen der geschichtswissenschaftlichen Felder der 1990er überhaupt gehörte, wäre zu prüfen.22 *** Alles in allem nehmen die Interviewten die deutsch-polnischen geschichtswissenschaftlichen Beziehungen der 1990er Jahre als ein sich selbst 20 21 22

Steffen in diesem Band, S. 410f. Zu den frühen Forschungen gehört der Sammelband Hausen, Karin/Nowotny, Helga (Hg.): Wie männlich ist die Wissenschaft? Frankfurt am Main 1986. Anregungen können beispielsweise aus der Geschichte der Arbeiterbewegungen gewonnen werden, die ebenso Anerkennung, Deutungshoheit und Veränderungsanspruch verbanden und dabei immer wieder Frauen, geschlechtsspezifische Forderungen und weiblich konnotierte Politikfelder hintanstellten.

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generierendes Feld wahr, das an den Rändern ausfranste, aber strukturell doch recht stabil geblieben zu sein scheint. Im folgenden Abschnitt soll nun mit dem DHI Warschau eine Institution skizziert werden, die zu einem zentralen hub der Beziehungen auf diesem Feld wurde. Werden hier vor allem zentrale Praktiken sowie persönliche und institutionelle Knotenpunkte angesprochen, müssten alle folgenden Untersuchungen vor allem die Leerstellen untersuchen, die von uns lediglich ahnungsvoll identifiziert werden können. So wäre mit Blick auf die ‚Leerstelle DDR‘ oder die ‚Frauenfrage‘ zu analysieren, wie die Zugänge zum betreffenden Feld strukturiert waren, wie das Scheitern funktionierte, welchen Lebenswegen und akademischen Routen kein Einlass gewährt wurde; kurzum, es wäre zu ergründen, wer nicht in die Position kam, hier interviewt oder erwähnt zu werden und aus welchen Gründen. 2.

Ein DHI in Warschau, oder: Notizen zur Konsolidierung und Dynamisierung

Kommen wir auf die Figur des Anfangs zurück: Stellen wir uns noch einmal das Jahr 2030 vor, stellen wir uns vor, jemand spaziert durch Warschau. Sie oder er folgt dem Königstrakt von Süden her, macht vielleicht einen Abstecher in den Łazienki-Park und hat dessen Ruhe wenige Meter weiter schon fast wieder vergessen, irgendwo zwischen den Ampeln am plac na Rozdrożu. Auf dem Weg entlang der aleje Ujazdowskie mag ein kurzer Seitenblick beim Queren einer Straße die flache Kuppel des Sejm streifen – Ach, hier also …! – und während die drei Flaggen im Vorgarten der litauischen Botschaft rechts aus dem Augenwinkel schwinden, drängt linker Hand das Palais Karnicki in seiner ganzen Breite in den Blick. Während es nicht schwer wäre, mehr über die jüngere Geschichte des Hauses mit der Nummer 16 zu erfahren, in dessen Schatten die Person nun steht,23 können wir heute noch nicht sagen, wie viel über die Geschichte der Nummer 39, die drüben jenseits der Fahrbahn liegt, geschrieben sein wird. Der aus heutiger Perspektive jüngste Abschnitt dieser Geschichte beginnt aber in den frühen 1990er Jahren, etwas mehr als einen Kilometer Luftlinie entfernt, im Pałac Kultury i Nauki, dem Kulturpalast, und darüber wissen die Gesprächsprotokolle, die dieser Band versammelt, eine Menge zu erzählen. Heute, im Jahr 2021, sind nahezu 30 Jahre vergangen, seitdem das Deutsche Historische Institut Warschau als fünftes von mittlerweile zehn 23

Auerbach, Karen: The House at Ujazdowskie  16. Jewish Families in Warsaw After the Holocaust. Bloomington 2013.

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Schwesterinstitutionen seine Arbeit aufgenommen hat.24 Seit seinen Anfängen hoch oben im Kulturpalast hat sich das Institut, das im Jahr 2002 das Palais Karnicki bezog, in kürzester Zeit zu einem zentralen Referenzpunkt einer Forschungslandschaft der deutsch-polnischen Geschichte entwickelt. Kaum jemand, ja wahrscheinlich niemand, die oder der sich mit diesem Themenbereich beschäftigt, kommt auf deutscher oder polnischer Seite daran vorbei, das DHI in forschungspragmatische Erwägungen miteinzubeziehen, ein Stipendium zu beantragen oder dort eine Konferenz zu besuchen. Unübersehbar ist das DHI in die CVs und Biogramme der historischen Polenstudien in Deutschland eingekerbt. Zugleich ist es wichtiger Anlaufort für polnische Historiker*innen, deren Themen irgendwelche deutschen Bezüge haben. So verwundert es auch nicht, dass das DHI die vielleicht meistgenannte Institution in diesem Band ist, obwohl es doch erst 1993 seine Arbeit aufnahm. Das DHI der 1990er Jahre kann uns als Folie dienen, um zentrale Aspekte des Felds besonders plastisch hervortreten zu lassen. Vielleicht kann es gelingen, über die Historisierung dieser Institution auch die größeren Konstellationen in den Blick zu bekommen, innerhalb derer sich das Feld konstituierte. Wir können die Umstände betrachten, denen im Jahr 1993 ein Deutsches Historisches Institut in Warschau entwuchs, und diese augenscheinlich so zentrale Institution auf Entwicklungen, Inhibierungen und auch blinde Flecken befragen, die Geschichtswissenschaft in den 1990er Jahren ausmachten. Bemerkenswert ist, wie schnell sich das DHI zur Schlüsselstelle entwickelte. Dabei war es wohl entscheidend, dass die erste Equipe keineswegs karges Land urbar machen, sondern auf durchaus beackertem Boden darum bemüht sein musste, Arbeiten zu koordinieren. Es galt die vielen feinen Stränge deutsch-polnischer geschichtswissenschaftlicher Kontakte, die zuvor bereits gewachsen waren, zu bündeln und zu einem sichtbaren und gleichzeitig niedrigschwelligen Knotenpunkt auszubauen. Viel mehr als eine Expedition ins Unbekannte muss das DHI in seiner Anfangszeit also als Ort von Verdichtung verstanden werden. Es entwickelte sich aus einem Geflecht von Beziehungen, das bereits über zwei Jahrzehnte gewachsen war und nun institutionalisiert werden konnte. Wie insbesondere anekdotische Passagen der Interviews zeigen, sorgte die Gründung für helle Aufregung – nicht nur die 24

Zuvor existierten bereits DHIs in Rom (seit 1888), Paris (1958/64), London (1976) und Washington (1986) sowie das Orient-Institut Beirut (1961) und das Deutsche Institut für Japanstudien Tokio (1988). Nach 1993 wurden das DHI Moskau (2005) sowie das Deutsche Forum für Kunstgeschichte Paris (1997/2006) und das Orient-Institut Istanbul (1987/2009) geschaffen.

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Spatzen pfiffen es von den Dächern, sondern auch die Historiker*innen auf den Straßen konnten ein Lied davon singen.25 Wer auch immer dereinst die Gründung des DHI aufarbeiten mag, wird eine große Bandbreite an Quellen zu Rate zu ziehen haben, die weit über Jahresberichte, Direktorenkorrespondenzen und persönliche Nachlässe hinaus bis in Presseberichterstattung, Ministerialakten und diplomatische Dokumente hineinreichen. Sicherlich werden die Protokolle der Treffen zwischen Jan Krzysztof Bielecki und seinem deutschen Pendant Helmut Kohl zitiert werden.26 Beide Regierungschefs stehen nicht nur für die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags im Juni 1991, sondern auch für das Abkommen über die Gründung des Deutsch-Polnischen Jugendwerks und eben die Initiative zur Gründung des DHI im Jahr 1991 Pate, das schließlich im Mai 1993 begann, die „Geschichte des Gastlandes, seiner Beziehungen zu Deutschland und der Zusammenhänge beider mit der allgemeinen Geschichte Europas“ zu erforschen, wie Gründungsdirektor Rex Rexheuser den Auftrag 1995 wiedergab.27 Wer sich darüber hinaus anschickt, eine kritische Geschichte des DHI zu schreiben, wird einen viel weiteren Hintergrund berücksichtigen müssen. Er oder sie wird vor allem vor der komplizierten Aufgabe stehen, informelle Treffen zu rekonstruieren, in deren Rahmen überlegt wurde, wie der politische Wille zu nutzen sei, wie zukünftig freiwerdende Ressourcen in ein historisches Forschungsinstitut im Osten geleitet werden könnten. Ein solches Treffen, von denen es mehrere gegeben haben mag, fand 1990 in Berlin-Dahlem statt, ein anderes, so die Gründungserzählungen in diesem Band, an einer Warschauer Kreuzung.28 Wie insbesondere die Gesprächspartner hervorheben, die bereits um 1990 einflussreiche Positionen besetzten, sei die Wahl vor allem deswegen auf Warschau gefallen, weil dort umfangreiche persönliche und institutionelle Kontakte zu polnischen Kolleg*innen existierten. Das DHI wurde in einem Umfeld vorbereitet, in dem die Deutsch-Polnische Schulbuchkommission seit 1972 soziale Kohäsion geschmiedet hatte. Man war miteinander ins Gespräch gekommen und hatte sich gegenseitig besucht – in Thorn und WestBerlin oder in Warschau und Marburg, ebenso in Danzig und Bremen, in Tübingen, Gießen, Breslau und Krakau. Man sprach in jeder Hinsicht mehrere gemeinsame Sprachen. 25 26 27 28

Hensel in diesem Band, S. 169. Jan Krzysztof Bielecki (*1951); Helmut Kohl (1930-2017). Rexheuser, Rex: Gründung und Anfänge des Deutschen Historischen Instituts Warschau, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin  1. Warschau 1995, S. 48-53, S. 49. Auch das Gegeninstitut auf deutscher Seite wurde schon 1991 geplant. Vgl. Hensel in diesem Band, S. 169; Hahn in diesem Band, S. 146.

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Wie ließe sich das systematisieren und analytisch fassen? Ein Schritt zurück erhellt die Verbindungen von offiziellen und persönlichen Verbindungen. Hans Henning Hahn erwähnt an einer Stelle den polnischen Ausdruck środowisko und fügt gleich an, dass er kaum adäquat ins Deutsche zu übersetzen sei und immer Erklärung fordere.29 Versuchsweise ließe sich von Kreisen sprechen oder von einem Milieu. „Clique“ oder „grono“ wären wohl zu negativ belegt und zu klein gedacht. Wie dem auch sei, es wird eine bestimmte Vergemeinschaftung, eine vergesellschaftete Gruppe oder Konstellation benannt werden müssen, die im und durch das DHI sichtbar wurde. Die Überlagerungen des Politischen und Privaten lassen Erinnerungen an die geschichtswissenschaftlichen Debatten der Zeit wach werden, die heute selbstverständlich erscheinen: die Kritik an einer modernisierungsgeschichtlichen Begriffsbildung, die eine klare Trennung von Bereichen, Interessen und Strukturen vorsah. Welcher Vokabulare könnte man sich im Weiteren also bedienen? Von unserem ethnografischen Ausgangspunkt aus bieten sich vielleicht Ludwik Flecks30 Überlegungen an. Ließe sich ein Denkstil beschreiben, den das DHI integrierte, als es entstand? Ein gemeinsamer Denkstil scheint in der Schulbuchkommission gewirkt zu haben, mit der Zeit auch im Marburger HerderInstitut, das seine ganz eigene Geschichte hat. Für das DHI ist natürlich auch das Lüneburger Institut Nordostdeutsches Kulturwerk wichtig, nicht zuletzt wurde Gründungsdirektor Rexheuser von dort entsandt. Sehr marginal wird das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt erwähnt, das ungeachtet seiner Verdienste erst nach einiger Zeit zum Partner der Geschichtswissenschaften wurde oder zumindest erst zu einem späteren Zeitpunkt im kollektiven Gedächtnis des Kreises aufscheint, obwohl dort große Teile der fünfbändigen Bibliographie „Deutsch-polnische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart“ erarbeitet worden sind.31 In Westdeutschland also entstand über die 1970er und 80er Jahren im dialogischen Austausch mit Teilen der polnischen Historiographie ein spezifischer Strang der Beschäftigung mit dem Osten.32 An dieser Stelle sei abermals auf die bedeutende Rolle der Universität Thorn hingewiesen. Dort fanden schon vor 1989, also lange vor der DHIGründung deutsch-polnische Konferenzen statt, dort wurden große Teile jener Bibliographie recherchiert und von dort aus schickte Marian Biskup 29 30 31 32

Hahn in diesem Band, S. 141f. Ludwik Fleck (1896-1961). Erst seit 2009 richtet das DPI die ungefähr alle drei Jahre stattfindenden interdisziplinären Tagungen „Deutsche Polenforschung“ aus, die stark von der Geschichtswissenschaft geprägt sind. Zu den früheren Jahrzehnten siehe Danyel, Jürgen/Behrends, Jan C. (Hg.): Grenzgänger und Brückenbauer. Zeitgeschichte durch den Eisernen Vorhang. Göttingen 2019.

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Historiker*innen nach Westdeutschland – von denen nicht wenige Zernack begegneten. Laut einhelliger Meinung der Interviewten war es Zernacks expliziter Bruch mit dem bis auf Heinrich von Treitschke zurückgeführten Polonica non leguntur,33 der der Geschichte dieser Beziehungen den Weg bereitete. Diese setzte sich von einer anderen historischen Forschungsrichtung ab, die im Osten Europas weniger nachbarschaftliche Beziehungen als zu beziehende Räume sah. In der BRD hatten diese Historiker*innen lange nicht viel Akzeptanz oder Verständnis für den neuen Ansatz aufzubringen vermocht und unter ganz anderen Vorzeichen auf das Land jenseits von Oder und Neiße, hinter der DDR geblickt. Handelt es sich also bei diesem Denkstil um einen modus zernack, der sich im DHI materialisierte? Oder ließe sich das stärker soziologisch fassen, um mit Pierre Bourdieu von einem homo academicus zernack zu sprechen, dessen soziale und rituelle Muster die westdeutsche Osteuropaforschung teilte, die sich in dessen Selbstverständnis auch vom epistemischen Nationalismus vieler anderer Subdisziplinen abgrenzte?34 Sicher ist, dass die Beziehungsgeschichte allein Klaus Zernack zugeschrieben wird und seine Texte, insbesondere die Aufsatzsammlung Preußen – Deutschland – Polen von 1991, in vielen Interviews als zentrale Initiationslektüre bezeichnet werden.35 Nun kann aber weder die Geschichte der deutsch-polnischen Geschichtsforschung der 1990er Jahre im weiteren, noch die Geschichte des DHI im engeren Sinne mit einer Person geschrieben werden. Sehr wohl ließen sich jedoch Überlegungen zur Stellung solcher zentralen Figuren in diesen Berichten anstellen, um darüber narratologische Fragen zu erschließen, die sich auf das Erzählen von Geschichte(n) im Allgemeinen konzentrieren. Ist es doch interessant, dass die Historiographie sich mit aller Gewalt von der Geschichte großer Männer abzuwenden sucht und in bestimmten narrativen Formen bisweilen doch dazu neigt, solche Figuren zu reinstitutionieren. Der Name, oder vielmehr die Figur Zernack und die ihr zugeschriebene Idee ziehen sich deutlich durch die Gespräche, und diese Bahnen zu verfolgen kann heuristisch wertvoll sein. Sie werden helfen einen Pfad abzustecken, von dem aus links und rechts nach dem zu suchen wäre, was sich dem ersten Blick nicht darbietet. Ziemen sich Geschichten großer 33

34 35

Vgl. Zernack, Klaus: Preußen – Deutschland – Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutschpolnischen Beziehungen, hg. v. Wolfram Fischer und Michael G. Müller. Berlin 1991, S. 3. Siehe auch Koslowski, Peter: Sich Europa vorstellen. Einleitung, in: Ders. (Hg.): Europa imaginieren. Der europäische Binnenmarkt als kulturelle und wirtschaftliche Aufgabe. Berlin 1992, S. 1-28, S. 12; Heinrich von Treitschke (1834-1896). Pierre Bourdieu (1930-2002) – ders.: Homo academicus. Frankfurt am Main 1988. Zernack, Preußen.

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Männer nicht mehr, öffnet sich der Bereich einer Kulturgeschichte der kleinen Leute, die den Alltag bestimmen, ausgestalten und ihre ganz eigene Sprache entwickeln – oder dazu nicht die Chance haben. Richten wir also den Blick auf einige Personen, Praktiken, Rituale, Artefakte. Wer bezog eigentlich im Jahr 1993 einige Räume im Kulturpalast, was taten diese Menschen dort und wie? Das DHI wuchs schnell. Die Bulletins der ersten Jahre – noch so eine Quellengattung36 – dokumentieren dies eindrucksvoll. Vom Mai bis in den November  1993 hinein verdreifachte sich die „fünfköpfige Gründungsmannschaft“ fast: Neben dem Direktor, Verwaltungs-, Sekretariats- und Bibliothekspersonal waren nun schon sieben wissenschaftliche Mitarbeiter*innen in Warschau tätig.37 Zum 1. Juli 1996 beschäftigte das DHI „insgesamt sechzehn Menschen“, darunter drei Bibliothekskräfte, je zwei Angestellte in Verwaltung und Sekretariat sowie acht wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, zu denen in der „Endstufe [des] Ausbaus“ noch zwei weitere hinzukommen sollten.38 Der Beirat, das wissenschaftliche Personal, die zu Gastvorträgen eingeladenen Sprecher*innen und nicht zuletzt die Stipendiat*innen der ersten Jahre kommen teils selbst zu Wort und lassen eine ungefähre Karte dieses deutsch-polnischen historiographischen Felds skizzieren.39 Beim Studium der Bulletins fällt auf, dass ein Personenindex dieser ersten Hefte über weite Strecken deckungsgleich mit dem am Ende dieses Bandes wäre. Das Institut war ein vielfach beachtetes Projekt und musste rasch sichtbar werden und dies in einer für die meisten Angestellten ganz neuen Umgebung. Mit Hilfe der Bulletins lassen sich einige Punkte hervorheben, die in den Interviews oft eher am Rande erwähnt werden: 1) Das DHI hatte bald mit Platzproblemen zu kämpfen, bald wurde es auch im organisationssoziologischen Sinne zur Institution. Entsprechende Abläufe wissenschaftlichen Managements wurden schnell verinnerlicht. Bereits im vierten Bulletin wird darauf hingewiesen, dass die ersten Zeitverträge schon in Kürze auslaufen würden und neue wissenschaftliche Mitarbeiter*innen nach Warschau zu rufen seien. Zwar hätten längerfristige Anstellungen ganz neue Dynamiken eröffnen können, etwa durch Teamforschung, die Institution hätte sich damit aber der Gefahr einer „Erstarrung“ ausgesetzt. Die Zeitstellen, so 36

37 38 39

Bis 2008 erschienen gedruckte Bulletins in deutscher und polnischer Version, die seit 2009 elektronische Newsletter ersetzen, allesamt einsehbar auf https://www.dhi.waw. pl/fachpublikationen/printreihen-des-dhiw/bulletin.html bzw. https://www.dhi.waw.pl/ newsletter.html (11.11.2020). Rexheuser, Gründung, S. 48. Rexheuser, Rex: Vorwort, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 2. Warschau 1996, S. 63-64, S. 63. Vgl. die Bildgebung in Bourdieu, Homo, z.B. S. 350.

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heißt es weiter, würden somit einen Vorteil darstellen, „ein[en] Vorteil freilich, dessen Kosten die Angehörigen des Instituts zu tragen haben. Was ihnen das Leben erschwert, erleichtert das Leben der Institution.“40 Ob diese Logik auch den turnusmäßigen, erstmals 1998 erfolgten Wechsel auf dem Direktionsposten erklärt, sei dahingestellt. Das DHI wurde rasch zu einer höchst produktiven Drehscheibe, die viel Literatur und Kontakte, aber auch Personal für einen Markt produzierte, der nicht unendlich wuchs. 2) Alle Ehemaligen des DHI, die in diesem Band zu Wort kommen, erinnern sich an ihre Warschauer Zeit als intensive, lehrreiche und produktive Jahre, die ihre historiographische Praxis nicht nur theoretisch, sondern insbesondere praktisch herausforderten. Quellen waren (und sind) oft überhaupt nur mit der Hilfe der vielen unbekannten Archivangestellten zu finden und paläographisch wie semantisch häufig nur mithilfe polnischer Kolleg*innen zu dekodieren. Hier sei die Beobachtung gestattet, dass letzteren oft (und dies ganz zurecht) gedankt wird, die Angestellten der Archive aber bis heute eine graue Masse Namenloser bilden, die sich von den Bulletins des DHI bis in die Danksagungen der Forschungsliteratur ausbreitet – freilich keine für diesen Fall allein spezifische Beobachtung. Deutsch-polnische Diskussionen zu lancieren gelang dem DHI, nicht zuletzt durch die doppelte Schriftenreihe „Klio“, einem „Vermittlungsversuch an der Sprachbarriere“41, die anfänglich von Ute Caumanns und Robert Traba betreut wurde, die beide zu den ersten wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen am DHI gehörten.42 Die Bulletins des DHI sollten nicht nur berichten, was am Institut geschah, sondern auch Forschung ermöglichen. Von der ersten Ausgabe an enthielten sie ausführliche Berichte über polnische Archiv- und Bibliothekslandschaften und eine ausführliche Aufstellung über die Fördermöglichkeiten für polnische Historiker*innen, die sich nach Deutschland aufmachen wollten. 3) Das Institut musste mit großzügigen, aber dennoch begrenzten Mitteln eine Forschungsbibliothek aufbauen, die nicht nur den Zwecken der Institutsangehörigen genügen sollte, sondern auch die missliche Lage überwinden, in der die polnischen Bibliotheken sich angesichts ihrer geringen Ausstattung und hoher Buchpreise im Westen gefangen sahen. Es würde Jahre brauchen, „einen breit angelegten, möglichst vollständigen und umfassenden 40 41 42

Rexheuser, Rex: Fünf Jahre DHI Warschau, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 4. Warschau 1998, S. 72-79, S. 77-78. Rexheuser, Rex: Vorwort, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 3. Warschau 1997, S. 51. Vgl. Interview mit Traba in diesem Band, S. 432; Ute Caumanns (*1960).

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Bestand an neuerer deutscher und westeuropäischer Fachliteratur aufzubauen“, prophezeite 1995 Hans-Jürgen Bömelburg, der erste wissenschaftliche Leiter der Bibliothek.43 Die Bibliothek des DHI wuchs schließlich noch stärker als die Zahl seiner Angestellten. Die „bibliographischen Einheiten“ vermehrten sich rasant, wie die fortlaufenden Berichte in den Bulletins zeigen, auch durch Ankäufe aus den nachgelassenen Privatbibliotheken Gotthold Rhodes, Benedykt Zientaras und Hans Roos’.44 Mit Blick auf zukünftige Arbeiten zur Wissenschaftsgeschichte merkte das Bulletin 1996 an: „Für bibliotheksgeschichtliche Arbeiten besteht die Möglichkeit, eine Liste aller aufgenommenen Bestände einzusehen.“45 Jenseits der institutionellen Geschichte sind hier die technischen Details interessant, die die 1990er Jahre als frühe Sattelzeit der heutigen digitalisierten Forschungslandschaft ausweisen. Zettelkästen wurden gar nicht mehr angelegt, sondern Bibliotheksdatenbanksysteme auf dem institutsinternen PC-Netzwerk zugänglich gemacht.46 Heute, da uns die Covid-19-Pandemie zwingt, fast jegliche Kommunikation im virtuellen Raum zu führen, und bei allem Übel dabei doch auch ganz neue Diskussionskonstellationen über Kontinente hinweg ad hoc zu organisieren erlaubt, verblüfft ganz kurz, dass es noch 1995 eine Erwähnung wert war, in der Bibliothek mittlerweile über zwei CD-ROM-Laufwerke und einen Internet-Anschluss zu verfügen. Dass heute ganze Zeitschriften mit wenigen Klicks erreichbar gemacht werden, war 1995 – mehr oder weniger konkrete – medientechnische Zukunftsmusik.47 4) Thematisch, theoretisch und methodisch gelangen viele Brückenschläge. Gertrud Pickhan und Rex Rexheuser etwa schildern eindringlich die ersten Konferenzen, die das DHI bereits 1994 organisierte, immer in Kooperation mit

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Bömelburg, Hans-Jürgen: Die Bibliothek des DHI, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 1. Warschau 1995, S. 53-55, S. 53. Gotthold Rhode (1916-1990); Benedykt Zientara (1928-1983); Hans Roos (1919-1984). Ohne Autor: Chronik, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin  2. Warschau 1996, S. 65-66, S. 66. Bömelburg, Bibliothek, S. 54. „Es ist abzusehen, daß auf diesem Gebiet weitere Neuerungen folgen und die bisherige Editionspraxis auf Microfiches ablösen werden.“ Bömelburg, Bibliothek, S. 55. Siehe auch die bemerkenswert detaillierte erste Schilderung der Website des DHI im Bulletin mit Hinweisen zu Sonderzeichen bei Windows  95. An anderer Stelle findet sich folgender Hinweis: „Die Vorträge der Konferenz liegen als Manuskript vor und können beim DHI Warschau angefordert werden“ (Caumanns, Ute: Historische und interdisziplinäre Frauenforschung im Ost-West-Vergleich. Obory bei Warschau, 27.-29. September 1996, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 3. Warschau 1997, S. 62-66, S. 65).

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polnischen Partnerorganisationen.48 Besonders hervorzuheben ist vielleicht die Geschlechtergeschichte, der schon in den 1990er Jahren vier Anlässe gewidmet wurden. Anfang August 1995 leitete Rex Rexheuser auf dem in Warschau stattfindenden 5. Weltkongress des International Council for Central and East European Studies (ICCEES) eine Gesprächsrunde mit dem Titel „1945. Change or Continuity in Gender Relations in Europe East and West?“, und 1996, 1999 und 2000 fanden in Obory bei Warschau drei Konferenzen über „Historische und interdisziplinäre Frauenforschung im Ost-West-Vergleich“, „Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848-1918“ sowie „Between Wars: Nations, Nationalisms and Gender Relations in Central and Eastern Europe 1918-1939“ statt. Bei diesen Veranstaltungen kamen Sprecherinnen aus Russland, Belarus, Litauen, Tschechien, Estland und Norwegen sowie natürlich Polen und Deutschland zu Wort.49 Diesem inhaltlichen Schwerpunkt, den das DHI neben dem historischen Vergleich und der jüdischen Geschichte zu Anfang programmatisch setzte,50 steht ein deutliches Missverhältnis in den personellen Bereichen des Instituts gegenüber: Der Beirat war teils zu 90% mit Professoren besetzt, die öffentlichen Vorträge wurden zum Großteil von Historikern und nur selten von Historikerinnen gehalten.51 Im Rahmen von Stipendien beherbergte 48

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Rexheuser in diesem Band, S. 355; Pickhan in diesem Band, S. 332f.; vgl. dazu Pickhan, Gertrud: 1945 – Change or Continuity in Gender Relations in Europe East and West? Warschau, 6. August 1995, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 2. Warschau 1996, S. 70-72; Hensel, Jürgen: Gruppenbeziehungen in einer multiethnischen Stadtgesellschaft: Polen, Deutsche und Juden in Lodz im 19. und 20. Jahrhundert (bis 1939). Lodz, 19.-22. Oktober 1995, in: Ebd., S.  72-76; Bömelburg, Hans-Jürgen: Der frühmoderne Staat in Ostmitteleuropa im Vergleich. II. Der Thronwechsel als Krise und Entwicklungschance. Warschau, 25.-28. Oktober 1995, in: Ebd., S.  76-78; Rexheuser, Rex: Kolloquium aus Anlaß des 70. Geburtstages von Maria Wawrykowa über das Buch von Klaus Zernack „Polen und Rußland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte“. Warschau, 10. Dezember 1995, in: Ebd., S. 79-81. Siehe dazu Pickhan, Change und Caumanns, Frauenforschung sowie Kemlein, Sophia (Hg.): Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa 1848-1918. Osnabrück 2000; Gehmacher, Johanna/Harvey, Elizabeth/Kemlein, Sophia (Hg.): Zwischen Kriegen. Nationen, Nationalismen und Geschlechterverhältnisse in Mittel- und Osteuropa 19181939. Osnabrück 2004. Rexheuser in diesem Band, S. 355; Kraft in diesem Band, S. 252. Das Bulletin 1 listet für das Jahr 1994 fünf Gastredner im Rahmen öffentlicher Vorträge auf, aber keine Gastrednerin und für 1995 sieben Männer, denen zum Abschluss MarieLuise Recker (*1945) folgte (Ohne Autor: Öffentliche Vorträge 1994/95, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 1. Warschau 1995, S. 67-68). Das Bulletin 2 berichtet für 1996 ein nahezu ausgeglichenes Verhältnis – vier Männer, drei Frauen, unter anderem Ute Frevert (*1954), die über „Nation, Krieg und Geschlecht im 19. Jahrhundert“ sprach (Ohne Autor: Öffentliche Vorträge 1996, in: Deutsches Historisches Institut

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das Institut meist Nachwuchswissenschaftler und nur wenige Nachwuchswissenschaftlerinnen.52 Diese Missverhältnisse wurden damals offen zur Sprache gebracht.53 In diesem Zusammenhang ist das Vorwort des zweiten Bulletins (Juli 1996) interessant, in dem Rexheuser sich offenbar genötigt sah, auf mehrere Zuschriften zu reagieren, in denen der Gebrauch des Binnen-I im Band zuvor kritisiert worden war. „Der Vorwurf leuchtet ein, sofern er die Form und nur diese meint“, beginnt die Entgegnung, die dann – wie im Übrigen alle frühen Bulletins noch recht ungeübt – auf die angestrebte Vermeidung allzu vieler Dublierungsketten und bequeme Lesbarkeit verweist und zentral festhält, im DHI Warschau würden, „nicht zufällig, Frauen und Männer in annähernd gleicher Zahl in gleichen Positionen nebeneinander arbeiten“.54 In gewisser Hinsicht stehen diese Beobachtungen sicherlich symptomatisch für die Geschlechterverhältnisse in den (Geschichts-)Wissenschaften jener Jahre und die damaligen Versuche, Ausgeglichenheit herzustellen. Die hier zugrundeliegenden Interviews dagegen thematisieren die Geschlechterdebatten der 1990er Jahre wenig, fast gar nicht den Umstand, dass das Geschlecht auch damals ein stark politisierter Faktor in der Wissenschaft war. Wenn die habituelle Männlichkeit der Strukturen und Netzwerke aufgegriffen wird, dann von den Frauen, besonders explizit von Claudia Kraft, die

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Warschau (Hg.): Bulletin  2. Warschau 1996, S.  82). Das folgende Bulletin hält für 1997 ein Verhältnis von 5 zu 2 fest (Ohne Autor: Öffentliche Vorträge 1996/97, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 3. Warschau 1997, S. 69), das Bulletin 4 hingegen ein Verhältnis von 8 zu 0 für den Zeitraum zwischen Oktober 1997 und Juni 1998 (Ohne Autor: Öffentliche Vorträge 1997/98, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 4. Warschau 1998, S. 111). Das erste Bulletin verzeichnet zwei Stipendiatinnen und zwölf Stipendiaten für seinen Berichtszeitraum (Ohne Autor: Stipendiatinnen und Stipendiaten, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 1. Warschau 1995, S. 57-58), das zweite 4 bzw. 8 (Ohne Autor: Stipendiatinnen und Stipendiaten, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin  2. Warschau 1996, S.  67-68), das dritte 6 und 11 (Ohne Autor: Stipendiatinnen und Stipendiaten, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 3. Warschau 1997, S. 53-54) und das vierte 1 und 12 (Ohne Autor: Stipendiatinnen und Stipendiaten 1997, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin  4. Warschau 1998, S. 86-87). Rex Rexheuser stellt an einer Stelle fest: „Um zum Beispiel die selbstverständliche, aber oft übersehene Tatsache zu unterstreichen, daß nicht nur Männer Geschichtswissenschaft treiben, sind im Sommersemester 1996 mehrere Frauen als Referentinnen eingeladen worden“ (Rexheuser, Fünf Jahre, S. 72-73). Sehr kritisch auch Pickhan, Gertrud/Löwener, Marc: Fünf Jahre Stipendienprogramm des DHI Warschau, in: Deutsches Historisches Institut Warschau (Hg.): Bulletin 4. Warschau 1998, S. 88-89. Rexheuser, Vorwort [1996], S. 64.

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ihre Fremdheit in den männerdominierten Kreisen betont, die sie als (junge) Wissenschaftlerin kaum wahrgenommen hätten.55 Was lehrt nun diese Geschichte des DHI? Sie hilft durch prosopographische und institutionelle Illustrativität, sie hilft konkrete Dinge nachzuvollziehen, die die Geschichtswissenschaften in den 1990er Jahren prägten. Sie kann womöglich auch helfen, die epistemische Tragweite der Transformationsprozesse im Fach zu bemessen. Die Frage ließe sich aber auch noch einmal weitreichender perspektivieren, um einige teils verblüffende Passagen in den Interviews einzubeziehen: Jenseits aller praktischen Erleichterungen – Visa-Freiheit und leichtere Kontaktaufnahme, außerdem technische Innovation – scheiden sich die Geister, wenn es um die Entwicklung der Forschung an sich geht: Vertreter*innen der Mediävistik und frühneuzeitlichen Geschichte sehen oft keine Zuspitzung nötig, resümieren die Wende als höchstens minimale epistemische Verschiebung. Man muss sich die Mediävistik als glückliche Disziplin vorstellen, mag es da etwas verächtlich aus der Richtung derjenigen schallen, die sich mit der neuesten Geschichte befassen, die wiederum – um das Grummeln paritätisch zu verteilen – von ersterer oft als „Zeitungsforscher“ belächelt werden, die sich um Handschriften drücken und sich rein auf Gedrucktes stützen.56 Wer das 20. Jahrhundert untersucht, wird insbesondere einwenden, dass die Transformation Forschungsökonomien radikal veränderte: Kein Land öffnete seine Archive so bedingungslos wie Polen.57 Kontakte gab es vor 1989 natürlich auch in der Zeitgeschichte, allerdings öffnete sich nun ein unglaublicher Fundus an Quellen, der vorher unter keinen Umständen zugänglich war.58 Trotz aller Spezifik des Deutsch-Polnischen ist das besprochene Wissenschaftsfeld ein Kind seiner Zeit. Es ist nicht nur mit einer Politikgeschichte verschaltet, die vom Kniefall Brandts59 bis zur Versöhnungskitschdebatte60 reichte, von der Deutsch-Polnischen Schulbuchkonferenz bis zur Gründung des DHI. Es entwickelte sich zeitgleich mit und in Überschneidung zu anderen 55 56 57 58

59 60

Kraft in diesem Band, S. 247f. Dazu Kizik in diesem Band, S. 232. Sinngemäß Borodziej in diesem Band, S. 80f. Vgl. etwa auch Shore, Marci: The Taste of Ashes. The Afterlife of Totalitarianism in Eastern Europe. New York 2013, S. XII; Judt, Tony: Postwar. A History of Europe Since 1945. London 2005, S. 3; Connelly, John: Captive University. The Sovietization of East German, Czech, and Polish Higher Education, 1945-1956. Chapel Hill, London 2000, Preface. Willy Brandt (1913-1992). Bachmann, Klaus: Die Versöhnung muss von Polen ausgehen, in: taz vom 5. August 1994, S. 12. Das Stichwort wird mehrfach von den Interviewern angesprochen. Siehe etwa Hahn in diesem Band, S. 153f.; Steffen in diesem Band, S. 408.

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historiographischen Feldern. Weder Verwicklungen mit Geschichtspolitik noch persönliche Netzwerke, weder die Bemühungen um Institutionalisierung noch der Anspruch, vom Rand her die Geschichtswissenschaften transnational zu pluralisieren und auszudifferenzieren, können als Alleinstellungsmerkmale gelten. Besinnen wir uns noch einmal auf die eingangs entwickelten Bezüge: Auch das ethnologisch-historische Feld hatte lange eine wichtige Institution, das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen.61 In der bundesdeutschen Mikro- und Alltagsgeschichte waren Hans Medick und Alf Lüdtke Leitfiguren. Die Gruppen, Strukturen, Netzwerke, das Feld war(en) auch hinsichtlich des Geschlechts ähnlich zusammengesetzt. Interessanterweise ist für beide Gruppen die Frühe Neuzeit ein wichtiger, wenn auch nicht der einzige Bereich, in dem neue historische Perspektiven entwickelt wurden. Die Bedeutung von Institutionen – allein sie könnten intellektuelle Kontakte „wirksam werden lassen“ – unterstreicht Morgane Labbé, die selbst in den 1990er Jahren am MPI für Geschichte arbeitete.62 Darüber hinaus gehörten die Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebenswelten, Gedächtnis und Mentalitäten seit 1970 zu den zentralen Themen des MPI, was wiederum mit unseren Überlegungen korrespondiert. Die Überschneidungen mit außerwissenschaftlichen Debatten, Ereignissen und Bewegungen sind vielfach benannt worden – die Korrespondenzen zum Habitus, zu Strukturen und Institutionen weit seltener.63 Mit Michel Foucault gesprochen, der Jahrzehnte zuvor in Warschau eher schwierige Zeiten verlebte,64 markiert die Gründung des DHI also vielleicht keinen Umbruch, sondern vielmehr die minimale Verschiebung eines bürokratischen Aktes, in der jedoch nichts Geringeres sichtbar wird als eine ganz andere Ordnung. Der Umstand, dass sich die Gruppe von Interviewten und die Gruppe der Mitarbeiter*innen des DHI aus jener Zeit so weit überschneidet, ist daher kein Zufall, sondern verweist auf die Relationalität von persönlichen Beziehungen, Institutionen, Wissenschaft und Politik, die weitreichende Konsequenzen für die Struktur der deutsch-polnischen historischen Forschungslandschaft hatte. Vielleicht ließe sich sogar sagen, dass viele der 61 62 63 64

Dessen Schließung 2006 spricht allerdings nicht für Optimismus hinsichtlich der Erneuerungen in der Geschichtswissenschaft. Labbé in diesem Band, S. 264. Siehe zur Historisierung des ethnologisch-historischen Felds Hüchtker, Dietlind: „Volkskultur“ und „Popkultur“ oder: das Vergnügen an Widersetzlichkeit, in: WerkstattGeschichte 22 (2013) 65, S. 67-78 [2015]. Eribon, Didier: Michel Foucault. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1991, S.  143-146; Fisch, Michael: Werke und Freuden. Michel Foucault – eine Biographie. Bielefeld 2011, S. 98; Michel Foucault (1926-1984).

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Interviewten durch das DHI überhaupt erst als Gruppe integriert wurden und heute quasi „natürlich“ als Expert*innen für die Entwicklung der Geschichtswissenschaften in Deutschland, Polen (und Europa) adressiert werden. *** Zu fragen wäre, welche Perspektiven sich von der hier besprochenen Spezialdisziplin aus auf das allgemeine Feld der Geschichtswissenschaften in Deutschland, in Polen, in Frankreich, Litauen, Tschechien und Großbritannien, in Europa ergeben. Das DHI Warschau stellt zwar einen Spezialfall, aber keinen Einzelfall dar. Es hat eine Reihe älterer und jüngerer Schwesterinstitutionen und weist Verwandtschaft mit ähnlichen polnischen Instituten in Berlin, Wien und anderswo auf. Damit ist diese Geschichte auch in älteren politischen und wissenschaftlichen Kontexten des globalen Nordens verortet. Es lassen sich also aus dem Kontext der Erinnerungen und Erzählungen viel weiterreichende Aspekte betrachten als es auf den ersten Blick scheint. Mit dem DHI war ein Kristallisationspunkt geschaffen worden, der fortan eine wichtige Rolle in der soziokulturellen Strukturierung der historiographischen Kontakte zwischen Deutschland und Polen spielte und sich anschickte, ein Feld zu strukturieren, das sich vielleicht im Jahr 2030 systematisch untersuchen lässt. Dann könnte unser*e Nachwuchsforscher*in über die Beziehungen der Zentren für historische Forschung zu Deutschland in Polen und der äquivalenten Institutionen in Deutschland nachdenken. Wird das Netzwerk dem heutigen ähneln, oder wird sich Igor Kąkolewskis Traum von europäischen Strukturen und einem „transnationalen Europäischen Zentrum für Geschichte“ verwirklicht haben, vielleicht auch in Gestalt eines von Morgane Labbé gewünschten „Weimarer“ DHIs?65 Immer jedoch ginge es darum – und das wäre jener*m Forscher*in zu wünschen – die Praktiken der deutsch-polnischen Wissenschaft zu historisieren, das raum-zeitliche Kontinuum in größere Zusammenhänge zu stellen. Denn es ist eben kein Zufall, dass die Frühe Neuzeit zu einem innovativen Feld gemacht wurde, dass die Innovationen die männerdominierten Vernetzungen perpetuierten, es ist auch kein Zufall, dass die DDR erst sehr langsam in den Blick kam.

65

Kąkolewski in diesem Band, S. 197. Labbé in diesem Band, S. 268.

466 3.

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Geschichte als Praxis denken

Geschichtswissenschaft ist immer Kind ihrer Zeit. Diese kaum verblüffende Diagnose bestätigt sich hier ein weiteres Mal. Wie die Biographieforschung unterstreicht, sprechen retrospektive Konstruktionen von (Lebens-) Erzählungen immer auch durch oder über Gegenwart. Insofern stellt sich abschließend die Frage, wie die historische Forschung mit deutsch-polnischen Bezügen in den 1990er Jahren historisiert werden kann. In den Interviews finden wir nur bedingt Hilfestellung, denn die Historiker*innen gehen meist in ihrer Rolle als Zeitzeug*innen auf. Dies ist nicht als pauschale Kritik, sondern als zentrale Beobachtung festzuhalten, die nicht nur für unsere Überlegungen zur Historischen Anthropologie wichtig ist. Vielmehr dient die Feststellung des Umstands der Historisierung des deutsch-polnischen Felds, einer Historisierung, die das Erreichte und die Wege dahin reflektieren kann, ohne sich im Dilemma einer Benennung von Heroischem und Defizitärem zu bewegen. Bleiben wir bei den anfangs identifizierten Markern, den Archivnarrativen, dem Bias im Hinblick auf Frauen, der ‚Leerstelle DDR‘, die in den Erinnerungen klafft, sowie den Heldensetzungen, so ergeben sich einige Anschlussfragen, die wir mit unserem heutigen Abstand formulieren können und deren heuristischer Wert früher oder später, vielleicht im Jahr 2030, zu prüfen wäre. Die Nachfragen zur Geschichtswissenschaft werden im Grunde zu ganz normalen Zeitzeug*inneninterviews, in denen Menschen, die gewohnt sind, Geschichte(n) nicht nur zu erzählen, sondern auch zu dekonstruieren, Erinnerungen wiedergeben und durchaus darum bemüht sind, Anekdoten und Details in grands récits einzuordnen, also Sinn zu stiften. Dabei werden sie durch die (Nach-)Fragen der Interviewer trefflich unterstützt, allein schon durch ihre Auswahl als befragenswerte Zeug*innen. Ihre Wege in die hier besprochenen Felder werden anhand zufälliger Begegnungen, bestimmter Seminare und Lehrer*innen oder bzw. und mit der Familiengeschichte verbunden. Migrationserfahrungen werden angeführt, wobei räumliche Passagen zwar eine Rolle spielen, mehrsprachige Kindheiten interessanterweise aber fast gar nicht – ein Verhältnis, das heute, einige Kohorten später, sicher anders ausfiele. Nationalität wird in den Erzählungen der eigenen Person nicht besonders thematisiert, vielleicht mit Ausnahme von Jürgen Hensel, der auch nach über 40 in Warschau verlebten Jahren keine polnische Perspektive beansprucht. Etwas stärkeres Gewicht haben disziplinäre Grenzgänge, etwa bei Andreas Lawaty.66 66

Lawaty in diesem Band, S. 277f., 281-283, 291.

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Nicht nur aus der von uns gesuchten Fremdheitsperspektive entsteht das Bild einer relativ kleinen, aber eng verbundenen Gemeinschaft, deren Mitglieder in einer wissenschaftlichen Persona aufgehen, die keinesfalls ausschließlich den 1990er Jahren eigen ist. Statt Reflexion ist hier Absorption die zu bemühende physikalische Metapher. Interessant ist nicht, dass sich die Narrative und Interpretationen in allen Interviews ähneln, selbst wenn unterschiedliche Erlebnisse oder Perspektiven zu Grunde liegen, sondern die zeitliche Tiefe der Verdichtungen, die sich auch im Material über das DHI spiegelt. Die Interviews evozieren eine longue durée der Beziehungen (und ihrer Erinnerungsorte), die im DHI nicht mehr entstehen, sondern nur noch institutionalisiert werden mussten. Geschichte erinnert sich hier selbst. Nur wenig zugespitzt könnte ein Fazit der Lektüre der Interviews lauten, die Geschichtswissenschaften allgemein hätten sich in den 1990er Jahren kaum verändert. Es werden höchstens quantitative Sprünge konstatiert und dies auch nur in Bezug auf die Zeitgeschichte, die nun eine ganze Menge neuer Quellen erschließen und – so die fast dialektische Gegenbewegung – endlich allen ideologischen Ballast abwerfen konnte, um sich den Quellen zu widmen.67 Lawaty konstatiert die Gleichzeitigkeit der enormen Präsenz von Politik in der Geschichtswissenschaft und der Forderung nach ihrer Verwissenschaftlichung, womit auch eine Entpolitisierung gemeint war.68 Qualitative Änderung wird für die 1990er Jahre nicht erinnert, sondern im Falle der Frühneuzeitforschung und Mediävistik in die beiden vorangegangenen Jahrzehnte vorverlegt. Aus dieser Perspektive fanden die Ereignisse von 1989/90 nur als Thema soziologischer bzw. zeithistorischer Forschung statt, ohne sich epistemologisch auszuwirken. Andererseits werden solche Verschiebungen durchaus thematisiert. So kann der anekdotisch angesprochene Konflikt zwischen Handschriftenund Zeitungsgeschichte als Hinweis auf eine polemisch geführte Debatte über eine geschichtswissenschaftliche Wende gelesen werden. Auch das Programm der Bibliothek des DHI ist womöglich nicht nur als quantitativer Effekt abzutun, ebenso wenig die langsam aber sicher Einzug haltende Digitalisierung der Forschung. Welche Konsequenzen hat die Digitalisierung auf die ureigene Arbeitspraxis der Historiker*innen, die sich immer stärker vom Lesesaal – ob nun Druck oder Handschrift – entkoppeln lässt? Dies alles als unaufhaltsame Neuerung zu verstehen und zu erzählen ist möglicherweise das Ergebnis allzu starker narrativer Überformung. Statt nach Entwicklungen zu fragen und diese vom Ende her zu denken, wäre es vielleicht an der Zeit, einzelne Momente wie den Beginn der 1990er Jahre, ihr Ende, 67 68

Vgl. etwa Řezník in diesem Band, S. 362; Friedrich/Frost in diesem Band, S. 130. Lawaty in diesem Band, S. 276f.

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vielleicht auch das Jahr 2030 sowie das aktuelle Jahr 2021 herauszugreifen, um die Dissonanzen zwischen diesen einigermaßen willkürlich gesetzten Zäsuren zu beschreiben und die jeweils geltenden epistemischen Voraussetzungen für Forschung unter die Lupe zu nehmen, um sie mit den gesellschaftlichen, politischen und technischen Gegebenheiten zu verkoppeln.69 Jenseits der materiellen Fragen sind wissenschaftspolitische Reflexionen im Hinblick auf die Gegenwart und Zukunft in den Interviews seltsam ausgeblendet. Die Erneuerung der Geschichtswissenschaften, die vor allem den älteren Interviewten gemeinsames Ziel war, scheint sich in Objektivierung, in transnationalen Erzählungen und vor allem in der Stärkung des deutschpolnischen Kontexts zu erschöpfen. Die Institutionalisierung in Form des DHI wird hier zum Ziel des Aufbruchs, der teils in den 1980er Jahren verortet wird, ganz ähnlich wie im angesprochenen Fall der Historischen Anthropologie – ein Gedanke, der mittlerweile im Traum von der Europäisierung weitergeführt wird. Dieser Band ließe sich durchaus als Fortsetzung der vor zwei Jahren erschienenen Interviewsammlung zur „Zeitgeschichte durch den Eisernen Vorhang“70 verstehen. Claudia Kraft, die in diesem Band nun selbst befragt wird, hob in dem damals von ihr verfassten Nachwort hervor, dass Geschichte zwar der Zeit an vielen Stellen einigen Vorrang gäbe, zugleich aber um Räume und Orte nie herumkomme, ganz gleich, ob es sich dabei um Staaten, Städte, Grenzen, Mauern, Archive, Bibliotheken, Züge, Autos, Wohnungen oder Kneipen handele.71 Wie zentral das DHI in den 1990ern war, um Forschung ins Werk zu setzen, haben wir versucht zu skizzieren. Seine Größe kann angesichts der vielen Unwägbarkeiten, die damals vor einer Forschungsreise nach Polen oder umgekehrt nach Deutschland bestanden, als Segen gelten. Sein Einfluss und seine Bekanntheit machten vieles möglich. Zugleich könnte aber auch ein Blick auf die Gatekeeper-Funktion lohnen, die ungleich schwieriger zu rekonstruieren sein wird. Welche Prozeduren, Kriterien, Verfahren, vor allem aber diskursiven Ordnungen kontrollierten den Eintritt? Zu fragen wäre nicht, wer hineinkam, sondern wem der Zugang verwehrt blieb und wie das DHI als Teil eines ganzen Geflechts wissenschaftlicher Institutionen und Forschungsförderern diesen Zugang regelte. Es ginge also um einen Blick auf 69

70 71

Arni, Caroline: Zeitlichkeit, Anachronismus und Anachronien. Gegenwart und Transformationen der Geschlechtergeschichte aus geschichtstheoretischer Perspektive, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 18 (2007) 2, S. 53-76. Danyel/Behrends (Hg.), Grenzgänger. Kraft, Claudia: „Grenzgänger und Brückenbauer“ – einige Schlussbetrachtungen, in: Danyel/Behrends (Hg.), Grenzgänger, S. 231-234, S. 234.

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die reflexiven Beziehungen zwischen Geschichte und Wissenschaft – oder um Anachronien geschichtswissenschaftlichen Fragens.72 Wie Kraft in ihrem Nachwort resümierte, standen Wissenschaft und Wirklichkeit vor 1989 in vielfältigen Wechselbeziehungen zueinander. Viele der dort Interviewten finden sich auch in diesem Band häufig erwähnt, allen voran Klaus Zernack, als einzig damals interviewte Frau übrigens Anna WolffPowęska.73 Wissenschaft habe auf Wirklichkeit gewirkt, wenn die Interviewten als „Brückenbauer“ und „Grenzgänger“ fungierten, auf offiziellen oder auch auf dissidentischen Wegen.74 Letzteres wird in diesem Band, der nun die 1990er Jahre behandelt, von Hans Henning Hahn und mit Bezug zu Solidarność und zur DDR-Opposition von Krzysztof Ruchniewicz thematisiert.75 Anders herum, so Kraft in ihrem Nachwort, habe auch Wirklichkeit auf Wissenschaft gewirkt, ganz deutlich zeige sich dies in der durchaus zugeneigten Auseinandersetzung mit dem Marxismus im Westen.76 Im vorliegenden Band über die 1990er Jahre bleibt letzterer wiederum auf der Strecke. Kaum ein Kommentar zum Marxismus, der nicht die Erleichterung ob der Entfernung des Jochs thematisiert und insbesondere mit Blick auf die polnische Wissenschaftslandschaft die fröhliche Rückkehr zu den Quellen erinnert, die seit der Transformation vorgeherrscht habe: zu den alten Quellen, die nun jenseits der Leitlinien des historischen Materialismus interpretiert werden konnten und zu den neu zugänglichen Quellen. Ein Ende der Geschichte? Die Geschichte, auch die der politischen Auseinandersetzungen, ging weiter, und wie. Die sogenannte methodologische Neutralität prägt die hier versammelten Erinnerungen zur Verbindung von Politik und Wissenschaft. Diese, so der Tenor der meisten entsprechenden Äußerungen, habe es nicht (mehr) gegeben. Bei genauerem Hinsehen zeigen sich jedoch verschiedene Varianten. Während Igor Kąkolewski eine Flucht der Historiker*innen vor der Geschichte diagnostiziert, die der Soziologie, der Politikwissenschaft sowie der Philosophie und Psychologie zusehends das Feld überlassen habe, spricht Miloš Řezník von einer „naive[n] Objektivität“ der 1990er Jahre.77 Robert Traba hält es eher mit der Verbindung von historischer und kultureller Arbeit, und zwar 72 73

74 75 76 77

Arni, Zeitlichkeit. Anna Wolff-Powęska (*1941) – Außerdem wurden dort interviewt: Christoph Kleßmann (*1938), dem der Band gewidmet ist, Karl Schlögel (*1948), Wolfgang Eichwede (*1942), Michael  G.  Müller, Włodzimierz Borodziej, Jerzy Holzer (1930-2015), Dietrich Beyrau (*1942), Hans Henning Hahn und Miroslav Hroch (*1932). Kraft, Grenzgänger, S. 233. Hahn in diesem Band, S. 137; Ruchniewicz in diesem Band, S. 382. Kraft, Grenzgänger, S. 232. Řezník in diesem Band, S. 377.

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im Modus der Erinnerungsforschung. Neben den im Aufblühen befindlichen Debatten um Flucht und Vertreibung scheint das größte Streitthema der 1990er Jahre die von Klaus Bachmann78 angestoßene Debatte um den „Versöhnungskitsch“ gewesen zu sein – ein Begriff, der heute nur noch nüchterne Zustimmung unter den Interviewten hervorruft, der aber vielleicht auch vor 2000 eben jene Leute nicht zum Protest gerufen hätte, die wohl eher naserümpfend registrierten, dass die deutsch-polnischen Beziehungen plötzlich besondere Konjunktur genossen, auch jenseits irgendwelcher Vorkenntnisse. Andere hingegen – Klaus Zernack etwa, so erinnert sich Michael  G.  Müller in diesem Band – seien erschüttert gewesen.79 Vielleicht sind es genau diese nüchternen Feststellungen zum „Versöhnungskitsch“ und zur Naivität der 1990er Jahre, die in ihrer Unauffälligkeit auf etwas verweisen, das zwischen der Überdeutlichkeit marxistisch(-leninistischer) Vereinnahmung und der übervorsichtigen Abgrenzung von jeglichem politischen Kommentar erscheint: Nichts geschah, es ging vorüber. Die Aneignung der Aussöhnung hatte ihre Konjunktur und das Ausbleiben historischer Kommentare schien keine bedeutenden Folgen zu haben. Können wir also als Quintessenz der Erinnerungen, Rückblicke und Erzählungen festhalten, dass Politik und Wissenschaft so sehr voneinander getrennt waren, dass, sofern sie doch einmal näher zusammentrafen, die ratio der Historiographie sich wohl oder übel am Furor eines schnelllebigen Jahrmarkts der Ideologien abarbeiten musste? Eher nicht, wie die anfängliche Analyse der frühen Jahre des DHI Warschau zeigt, in der die ‚große Politik‘ durchaus eine Rolle spielte, das Politische vor allem aber die kleinen Praktiken des Alltäglichen mitprägte, ohne dass dies als übergriffige Aneignung wahrgenommen wird bzw. wurde. Entscheidend für eine Historisierung der 1990er Jahre wird sein, die Abgrenzung von Politik und Wissenschaft überhaupt zu hinterfragen, die ihre eigene Geschichte hat, die in unserer unmittelbaren Gegenwart ganz neue Aspekte generiert, die Konfliktszenarien nicht länger haltbar scheinen lassen. Ausgerechnet Covid-19, das sicher nicht nur als eine der größten gesundheitlichen Krisen in die Geschichte des 21. Jahrhunderts eingehen, sondern neben Sozial- und Kulturgeschichte auch die Geschichte des (Un-) Politischen nachhaltig beeinflussen wird, führt zu kleinen und doch grundlegenden Aha-Momenten. So erwähnt Miloš Řezník, er habe während des ersten Corona-Lockdowns im Frühjahr 2020 endlich einmal Zeit gehabt, die programmatischen Schriften des Historismus durchzuarbeiten. Er erinnert 78 79

Klaus Bachmann (*1963). Müller in diesem Band, S. 298.

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daran, dass die Geschichtswissenschaft genau dieser Tradition noch in vielerlei Hinsicht verhaftet sei, also einer Art und Weise, Geschichte zu schreiben, die im späten 19. Jahrhundert ganz selbstverständlich den Anspruch hatte, Leitwissenschaft zu sein und sich in ihrer wie auch immer dargestellten kontemplativen Neutralität als einzig objektive Grundlage für politisches Handeln stilisierte. Unser Versuch, Fremdheitseffekte herzustellen, um Selbstauslegungen sichtbar zu machen, ist nicht mehr als ein Anfang. Unsere vorläufigen Beobachtungen lassen jedoch zweierlei Gedanken unterstreichen: Zunächst garantiert historiographische Methodik allein keine historische Distanz, fungiert sie doch als Verbindungsstück zwischen historischer Zeit und historiographischer Arbeit, ist sie also mehrfach an Ort und Zeit gebunden. Daran anschließend ist die Frage nach den Verbindungen zwischen Geschichte (als Wissenschaft) und Politik zu reformulieren, um die tiefe, utopische Struktur dieser Trennung, die die Objektivitätsdiskurse (moderner) Wissenschaft prägt, narratologisch und praxeologisch wahrzunehmen. In einem der Gespräche enden die Interviewer mit der Feststellung Marc Blochs, dass eine (methodische) Blickverschiebung auch kurzfristig andere Blicke ermöglicht.80 *** Vielleicht ist es an der Zeit, in der deutsch-polnischen Wissenschaftsgeschichte die großen Diskurse für einen Moment in den Hintergrund zu verschieben, wo sie ohnehin ständig wirken, und noch mehr Untersuchungen auf die kleinen alltäglichen Praktiken, Szenen und Figuren zu richten. Spätestens 2030 wären Narrative der Selbstlegitimation, die Performativität des Habituellen, die Einund Ausgrenzungen, die Förderstrukturen und die gebrachten Bauernopfer zu untersuchen und offenzulegen, die – wer will das leugnen – nicht nur den akademischen Alltag substantiell prägen. Es geht um die ethnologische Frage, wie Milieus, Felder, Institutionen durch Schriftgutpraktiken und daran vorbei im Rahmen gesellschaftlicher Strukturen funktionieren, die immer auch politische Strukturen sind, wie sich also angesichts von Weltereignissen ihre Normalität in actu generiert und wie sich dies, in diesem ganz konkreten Fall, auf Inhalt und Methode wissenschaftlicher Arbeit und ihrer Kommunikation81 auswirkt. Im Jahr 2030 gälte es womöglich, das Ungesagte und die Grenzen des Sagbaren zu untersuchen, also all das, was off record vielleicht doch gesagt wurde. 80 81

Vgl. Labbé in diesem Band S. 271; Marc Bloch (1886-1944). Vgl. dazu Ruchniewicz in diesem Band, S. 388, 394.

Abkürzungsverzeichnis AGAD AAN ASP BBC CBH PAN CC CDU CMB CNRS CUNY ČAVU DAAD DFG DHI DPI DPSK DWSPiT EHESS EKD EUI FU FWU GStA PK GWZO HHU HU IBL PAN IFiS PAN IfZ IH PAN IHKM PAN IKGN IFiS PAN IPN IPU

Archiwum Główne Akt Dawnych w Warszawie Archiwum Akt Nowych Akademia Sztuk Pięknych w Warszawie British Broadcasting Company Centrum Badań Historycznych Polskiej Akademii Nauk w Berlinie Collegium Carolinum Christlich Demokratische Union Deutschlands Centre Marc Bloch Centre nationale des recherches scientifiques City University of New York Česká akademie věd a umění Deutscher Akademischer Austauschdienst Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsches Historisches Institut Deutsches Polen-Institut (Gemeinsame) Deutsch-Polnische Schulbuchkommission Dolnośląska Wyższa Szkoła Przedsiębiorczości i Techniki w Polkowicach École des hautes études en sciences sociales Evangelische Kirche in Deutschland European University Institute Freie Universität Berlin Friedrich-Wilhelms-Universität Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Humboldt-Universität zu Berlin Instytut Badań Literackich Polskiej Akademii Nauk Instytut Filozofii i Socjologii Polskiej Akademii Nauk Institut für Zeitgeschichte Instytut Historii Polskiej Akademii Nauk Instytut Historii Kultury Materialnej Polskiej Akademii Nauk Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa Instytut Filozofii i Socjologii Polskiej Akademii Nauk Instytut Pamięci Narodowej International Psychoanalytic University Berlin

474 ISP PAN IWM JAZU JU KA KL KOR KPD KWI KZ LMU LSE MPI MUP NLP NOKW NYU ÖAW PAN PAT PiS PIASA PSB PTH PTPN PWST PZPR RFE SGH SNS SPD SSEES SWPS UAM UC Davis UCL UCLA

Abkürzungsverzeichnis Instytut Studiów Politycznych Polskiej Akademii Nauk Institut für die Wissenschaften vom Menschen Jugoslavenska akademija znanosti i umjetnosti Jacobs University Bremen Krakowska Akademia im. Andrzeja Frycza Modrzewskiego Konzentrationslager Komitet Obrony Robotników Kommunistische Partei Deutschlands Kulturwissenschaftliches Institut Essen Konzentrationslager Ludwig-Maximilian-Universität München London School of Economics and Political Science Max-Planck-Institut Małopolska Uczelnia Państwowa im. rotmistrza Witolda Pileckiego w Oświęcimiu Nationalliberale Partei Nordostdeutsches Kulturwerk New York University Österreichische Akademie der Wissenschaften Polska Akademia Nauk Papieska Akademia Teologiczna w Krakowie Prawo i Sprawiedliwość Polish Institute of Arts and Sciences of America Polski Słownik Biograficzny Polskie Towarzystwo Historyczne Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk Państwowa Wyższa Szkoła Teatralna im. Aleksandra Zelwerowicza Polska Zjednoczona Partia Robotnicza Radio Free Europe Szkoła Główna Handlowa w Warszawie Scuola Normale Superiore Sozialdemokratische Partei Deutschlands School of Slavonic and East European Studies Szkoła Wyższa Psychologii Społecznej / Uniwersytet Humanistycznospołeczny z siedzibą w Warszawie Uniwersytet im. Adama Mickiewicza w Poznaniu University of California, Davis University College London University of California, Los Angeles

Abkürzungsverzeichnis UG UJ UKSW UŁ UMCS UMK UMLub US UŚ UW UWr UZH VHD VPU WBZ WSE WSNHiD WSP ŻIH ZK ZZF

Uniwersytet Gdański Uniwersytet Jagielloński w Krakowie Uniwersytet Kardynała Stefana Wyszyńskiego w Warszawie Uniwersytet Łódzki Uniwersytet Marii Curie-Skłodowskiej w Lublinie Uniwersytet Mikołaja Kopernika w Toruniu Uniwersytet Medyczny w Lublinie Uniwersytet Szczeciński Uniwersytet Śląski w Katowicach Uniwersytet Warszawski Uniwersytet Wrocławski Universität Zürich Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e. V. Vilniaus pedagoginis universitetas Willy Brandt Zentrum für Deutschland- und Europastudien der Universität Wrocław Wyższa Szkoła Europejska im. ks. Józefa Tischnera w Krakowie Wyższa Szkoła Nauk Humanistycznych i Dziennikarstwa Wyższa Szkoła Pedagogiczna Żydowski Instytut Historyczny Zentralkomitee Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

475

Personenregister Ackermann, Felix (*1978) 78 dt. Historiker und Publizist, Mitarb. am DHI Warschau (seit 2016) Adanir, Fikret (*1941) 281 dt.-türk. Historiker, Prof. in Bochum und Istanbul (Sabancı) Adenauer, Konrad (1876-1967) 159, 381, 388 dt. Politiker (CDU ), Bundeskanzler (1949-1963) Albrecht, Dietmar (*1941) 317 dt. Politologe und Sinologe, Direktor der Ostsee-Akademie Travemünde und der Academia Baltica Lübeck Aleksievič, Svetlana Aleksandrovna (*1948)  332 belarus. Schriftstellerin, Literaturnobelpreisträgerin 2015 Aleksiun, Natalia (*1971) 332 poln. Historikerin, Prof. in New York (Touro College) Althoff, Gerd (*1943) 207f. dt. Historiker, Prof. in Münster, Gießen und Bonn Andrzejewski, Marek (*1947) 223 poln. Historiker, Prof. in Danzig/Gdańsk Arendt, Hannah (1906-1975) 174 dt.-US-amerik. Philosophin, Prof. in Chicago und New York Armitage, David (*1965) 197 US-amerik. Historiker, Prof. in Harvard Árnason, Jóhann Páll (*1940) 312 isländ. Soziologe, Prof. in Melbourne Arnold, Agnieszka (*1947) 37 poln. Regisseurin Arnold, Udo (*1940) 92, 318 dt. Historiker, Prof. in Hannover und Bonn Arszyński, Marian (*1929) 90 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Assmann, Aleida (*1947) 431f. dt. Anglistin und Kulturwissenschaftlerin, Prof. in Konstanz Augusiewicz, Sławomir (*1968) 131 poln. Historiker, Prof. in Allenstein/ Olsztyn

August II. (Friedrich August I. von Sachsen) (1670-1733) 89, 112, 236 König von Polen, Großfürst von Litauen (1697-1706, 1709-1733) und Kurfürst von Sachsen (1694-1733) August III. (Friedrich August II. von Sachsen) (1696-1763) 89, 236 König von Polen, Großfürst von Litauen und Kurfürst von Sachsen (1733-1763) Augustyniak, Urszula (*1950) 117, 128 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (UW ) Aurast, Anna (*1975) 213 dt. Historikerin und Anglistin, Archivarin in Heilbronn Axer, Jerzy (*1946) 352 poln. Altphilologe und Prof. in Warschau (UW ) Baberowski, Jörg (*1961) 32, 256 dt. Historiker, Prof. in Tübingen und Berlin (HU) Bachmann, Klaus (*1963) 33f., 68, 72, 153, 191, 278, 298, 386, 405, 408, 428, 470 dt. Politologe und Journalist, Prof. in Warschau (SWPS) Badstübner, Ernst (*1931) 221 dt. Kunsthistoriker und Denkmalpfleger, Prof. in Greifswald Badstübner-Gröger, Sibylle (*1935) 221 dt. Kunsthistorikerin, Mitarb. am Zentralinstitut für Literaturwissenschaft der Akad. d. Wissensch. der DDR Badstübner-Kizik, Camilla (*1962) 221 dt. Literaturwissenschaftlerin, Prof. in Posen/Poznań (UAM), Frau von Edmund Kizik Banaszkiewicz, Jacek (*1947) 207f., 213 poln. Historiker, Prof. in Lublin (UMCS) und Warschau (IH PAN) Bartoszewski, Władysław (1922-2015) 23, 36f. poln. Politiker, poln. Außenminister (1995, 2000-2001) Bazylow, Ludwik (1915-1985) 429 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW )

478 Berend, Iván T. (*1930) 4 ungar.-US-amerik. Historiker, Prof. in Budapest und Los Angeles (UCLA) Best, Werner (1903-1989) 82 dt. Jurist und NS-Kriegsverbrecher Beyme, Klaus von (*1934) 5 dt. Politologe, Prof. in Heidelberg Beyrau, Dietrich (*1942) 469 dt. Historiker, Prof. in Frankfurt am Main und Tübingen Bielecki, Jan Krzysztof (*1951) 455 poln. liberaler Politker und Wirtschaftswissenschaftler, Premierminister (1991), Vorstandsvorsitzender der Bank Pekao (2003-2010) Bieżuńska-Małowist, Iza (1917-1995) 189 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (UW ) Biskup, Marian (1922-2012) 57, 90-92, 94, 96, 102f., 204, 206, 223, 280, 304f., 318, 352, 449f., 456 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK), Mann von Irena Janosz-Biskupowa Bismarck, Otto von (1815-1898) 106, 153, 348 preuß.-dt. Politiker, Reichskanzler (1871-1890) Blaschke, Karlheinz (1927-2020) 112f. dt. Historiker, Prof. in Dresden (TU ) Bloch, Marc (1886-1944) 188, 259f., 262, 264, 266f., 270f., 290, 363, 437, 471 franz. Historiker und Widerstandskämpfer, Prof. in Straßburg und Paris (Sorbonne), Mitbegründer der „Annales“ Bobińska, Celina (1913-1997) 144 poln. Historikerin, Prof. in Krakau (UJ) Bogucka, Maria (1929-2020) 45, 117, 188, 206, 223, 300, 351 poln. Historikerin und Prof. in Warschau (IH PAN ) und Pułtusk, Chefredakteurin der Zeitschrift „Mówią Wieki“ (1958-1976) Böll, Heinrich (1917-1985) 82 dt. Schriftsteller, Literaturnobelpreisträger 1972 Bömelburg, Hans-Jürgen (*1961) 50, 52, 54, 56-62, 78, 99f., 112, 132, 163, 179f., 232, 234-236, 261, 264, 289, 296, 298, 302, 313, 320, 353, 371f., 409, 428, 435, 460 dt. Historiker, Prof. in Gießen, DPSKVorsitzender (seit 2012), Mitarb. am DHI

Personenregister Warschau (1994-2003), auch dessen stellv. Direktor (1999-2002) Borchert, Till-Holger (*1967) 224 dt. Kunsthistoriker, Museumsdirektor in Brügge Borejsza, Jerzy W. (1935-2019) 45, 145, 275, 280 poln. Historiker, Prof. in Warschau (IH PAN ) und Thorn/Toruń (UMK) Borodziej, Włodzimierz (*1956) 64-86, 156, 165f., 170f., 190, 244f., 250, 264, 281, 296f., 386f., 390, 393, 409f., 433, 435, 469 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ), DPSK-Vorsitzender (1997-2007), Co-Gründungsdirektor des Imre Kertész Kollegs in Jena (2010-16) Borzyszkowski, Józef (*1946) 25 poln. Historiker, Prof. in Danzig (UG) Boucheron, Patrick (*1965) 60 franz. Historiker, Prof. in Paris (Panthéon-Sorbonne) und am Collège de France Bourdieu, Pierre (1930-2002) 412, 457 franz. Soziologe, Prof. in Paris (EHESS) und am Collège de France Brackmann, Albert (1871-1952) 392 dt. Historiker, Prof. in Königsberg, Marburg und Berlin (FWU), Direktor des GStA PK (1929-1936) Brakoniecki, Kazimierz (*1952) 28, 190, 425 poln. Lyriker und Essayist Brandt, Willy (1913-1992) 33, 161, 182, 196, 327f., 343, 398, 418, 463 dt. Politiker (SPD), Bundeskanzler (1969-1974), Friedensnobelpreisträger 1971 Braudel, Fernand (1902-1985) 188, 263, 267 franz. Historiker, Direktor der VIe Section der EPHE in Paris und an der Spitze der Zeitschrift „Annales“ Bregman, Aleksander (1906-1967) 383 poln. Publizist, seit 1940 im Exil in Großbritannien Broszat, Martin (1926-1989) 71, 166, 251 dt. Historiker und IfZ-Direktor (1972-1989) Brubaker, Rogers (*1956) 259, 270 US-amerik. Soziologie, Prof. in Los Angeles (UCLA) Budde, Gunilla (*1960) 332

Personenregister dt. Historikerin, Prof. in Oldenburg Bude, Heinz (*1954) 279 dt. Soziologe, Prof. in Kassel Bues, Almut (*1953) 182f., 330 dt. Historikerin, Mitarb. am DHI Warschau (1993-2004, 2006-2020) Bußmann, Klaus (1941-2019) 127 dt. Kunsthistoriker und Direktor des Westfälischen Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Münster (1985-2004) Carré, John le (eigentl.: Cornwell, David John Moore) (1931-2020) 82 brit. Geheimagent und Krimischriftsteller Case, Holly (*1975) 49 US-amerik. Historikerin, Prof. in Ithaca (Cornell) und Providence (Brown) Caumanns, Ute (*1960) 261, 332, 459 dt. Historikerin, Mitarb. am DHI Warschau (1996-2000) und in Düsseldorf (HHU) Ceaușescu, Elena (1916-1989) 107 rum. kommunistische Politikerin, Frau von Nicolae Ceaușescu, 1989 hingerichtet Ceaușescu, Nicolae (1918-1989) 107f. rum. kommunistischer Staatschef, Mann von Elena Ceaușescu, 1989 hingerichtet Cercas, Javier (*1962) 82 span. Schriftsteller und Journalist Cetnarowicz, Antoni (* 1944) 145 poln. Historiker, Prof. in Krakau (UJ ) Chwalba, Andrzej (*1949) 14, 308 poln. Historiker, Prof. in Krakau (UJ ) Chwin, Stefan (*1949) 27 poln. Schriftsteller Cichocki, Marek A. (*1966) 184, 279 poln. Philosoph und Publizist, Prof. in Warschau (Collegium Civitas UW ) Cieślak, Edmund (1922-2007) 223, 365f. poln. Historiker, Prof. in Danzig/Gdańsk (UG) Colliot-Thélène, Catherine (*1950) 264 franz. Philosophin, Prof. in Rennes, 1999-2004 Direktorin des CMB in Berlin Conrad, Christoph (*1956) 264 dt. Historiker, Prof. in Genf Conrads, Norbert (*1938) 107, 388 dt. Historiker, Prof. in Stuttgart Czachur, Waldemar (*1977) 190

479 poln. Germanist, Prof. in Warschau (UW ) Czaja, Roman (*1960) 126, 435 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Czaja, Stefan (1943-2003) 285 poln. Bibliothekar, Direktor der Universitätsbibliothek Thorn/Toruń (UMK) (1986-2003) Czapliński, Władysław (1905-1981) 113 poln. Historiker, Prof. in Breslau/Wrocław (UWr) Czochralski, Jan (1885-1953) 400, 418 poln. Chemiker, Prof. in Berlin (TH) und Warschau (PW ) Dąbrowski, Jan Henryk (1755-1818) 59 poln. General und „Legionär“, die poln. Nationalhymne ist ihm gewidmet Dalewski, Zbigniew (*1962) 208 poln. Historiker, Mitarb. am IH PAN in Warschau Dann, Otto (1937-2014) 374 dt. Historiker, Prof. in Köln Davies, Norman (*1939) 46, 106, 113 brit. Historiker und Publizist, Prof. in London (SSEES) Dedecius, Karl (1921-2016) 29, 277, 282-284 dt. Übersetzer, Gründungsdirektor des DPI in Darmstadt (1980-1997) Degenhardt, Franz-Josef (1931-2011) 5 dt. Sänger Delimata-Proch, Małgorzata 212 poln. Historikerin, Prof. in Posen/Poznań (UAM) Delouche, Frédéric (*1938) 371 franz.-norweg. Jurist und Banker, Ideengeber des „Europäischen Geschichtsbuchs“ Domańska, Ewa (*1963) 291, 365 poln. Kulturwissenschaftlerin, Prof. in Posen/Poznań (UAM) und Stanford Donner, Johann (1771-1830) 219 dt. Mennonit und Chronist in Westpreußen Donskis, Leonidas (1962-2016) 317 lit. Philosoph, Prof. in Klaipėda und Kaunas Drewniak, Bogusław (1927-2017) 223 poln. Historiker, Prof. in Danzig/Gdańsk (UG) Dülmen, Richard von (1937-2004) 391 dt. Historiker, Prof. in Saarbrücken

480 Dürrenmatt, Friedrich (1921-1990) 82 schweiz. Schriftsteller Dunin-Wąsowicz, Teresa (1926-2004) 206 poln. Historikerin, Mitarb. am IHKM PAN in Warschau Dybaś, Bogusław (*1958) 58, 88-103, 303, 352, 447 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK), Direktor des Vienna PAN (2007-2019) Dygo, Marian (*1951) 177 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ) Dyroff, Stefan (*1976) 235 dt. Historiker, Mitarb. an der Universität Bern Eco, Umberto (1932-2016) 372 ital. Schriftsteller und Philosoph Eichwede, Wolfgang (*1942) 469 dt. Historiker, Prof. in Bremen, dort auch Gründungsdirektor der Forschungsstelle Osteuropa (1982-2008) Eisenbach, Artur (1906-1992) 162 poln. Historiker, Direktor des ŻIH in Warschau (1966-1968) Ekdahl, Sven (*1935) 318 schwed. Historiker, Mitarb. des GStA PK in Berlin Elias, Norbert (1897-1990) 233 dt.-brit. Soziologe, Dozent u.a. in Leicester, Accra und Bielefeld Esch, Michael G. (*1959) 261, 264 dt. Historiker, Mitarb. am CMB in Berlin und am GWZO in Leipzig Eser, Ingo (*1971) 241, 246, 400, 410 dt. Historiker, Mitarb. an der Universität Köln Evans, Richard J. (*1947) 109 brit. Historiker, Prof. in Norwich, London (Birkbeck) und Cambridge Evans, Robert John Westen (*1943) 113, 116 brit. Historiker, Prof. in Oxford Evert-Kappesowa, Halina (1904-1985) 206 poln. Byzantinistin, Prof. in Lodz/Łódź (UŁ) Febvre, Lucien (1878-1956) 188, 290, 363 franz. Historiker, Prof. in Straßburg und am Collège de France in Paris

Personenregister Felczak, Wacław (1916-1993) 145 poln. Widerstandskämpfer und Historiker, Dozent in Krakau (UJ) Filter, Günter 289 dt. Journalist, Chefredakteur des dt.-poln. Magazins „Dialog“ (1987-1997) Fleck, Ludwik (1896-1961) 456 poln.-isr. Mikrobiologe und Erkenntnistheoretiker, Prof. in Lublin (UMLub), Auschwitz- und Buchenwald-Überlebender Foucault, Michel (1926-1984) 371, 412, 464 franz. Philosoph, Prof. am Collège de France in Paris Fraesdorff, David (*1974) 213 dt. Historiker, Lehrer in Lütjenburg François, Etienne (*1943) 187, 262 franz. Historiker, Prof. in Paris (PanthéonSorbonne) und Berlin (TU ), Direktor des CMB (1992-1999) Frei, Norbert (*1955) 71, 75 dt. Historiker, Prof. in Bochum und Jena Frevert, Ute (*1954) 75, 432, 461 dt. Historikerin, Prof. in Berlin (FU ), Konstanz, Bielefeld und New Haven (Yale), Direktorin am MPI für Bildungsforschung in Berlin Friedrich, Jörg (*1944) 17 dt. Publizist Friedrich, Karin (*1963) 104-134, 296, 300 dt. Historikerin, Prof. in Aberdeen, Frau von Robert I. Frost Frisch, Max (1911-1991) 82 schweiz. Schriftsteller Frost, Robert I. (*1958) 60, 104-134, 308 brit. Historiker, Prof. in Aberdeen, Mann von Karin Friedrich Fukuyama, Francis (*1952) 8f., 280, 370 US-amerik. Politologe, Prof. in Fairfax City, Baltimore ( Johns Hopkins University) und Stanford Gall, Lothar (*1936) 21f. dt. Historiker, Prof. in Gießen, Berlin (FU) und Frankfurt am Main Garton Ash, Timothy (*1955) 8f., 81 brit. Historiker und Publizist, Prof. in Oxford

Personenregister Gauck, Joachim (*1940) 39, 80f. dt. evang. Pastor, Leiter der Stasiunterlagenbehörde (1990-2000) und Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland (2012-2017) Gaus, Günter (1929-2004) 275 dt. Journalist und Diplomat, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der DDR (1974-1981) Geiss, Imanuel (1931-2012) 221 dt. Historiker, Prof. in Bremen Gelles, Romuald (*1941) 379 poln. Historiker, Prof. in Breslau/Wrocław (UWr) Gellner, Ernest (1925-1995) 259 tschech.-brit. Sozialanthropologe und Philosph, Prof. in London (LSE), Cambridge & Prag (CEU ) Geremek, Bronisław (1932-2008) 25, 93, 140f., 177, 184f., 209, 263 poln. Historiker und Politiker, Prof. in Warschau (UW ), Teilnehmer am Runden Tisch (1989), poln. Außenminister (1997-2000) Gesche, Helga (*1942) 409 dt. Historikerin, Prof. in Frankfurt am Main und Gießen Geyer, Dietrich (*1928) 70f., 146, 240 dt. Historiker, Prof. in Frankfurt am Main und Tübingen Giedroyc, Jerzy (1906-2000) 195 poln. Publizist, seit 1945 im Exil in Frankreich, Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift „Kultura“ Gierek, Edward (1913-2001) 57 poln. Politiker, I. Sekretär des ZK der PZPR (1970-1980) Gierowski, Józef (1922-2006) 97, 106, 110, 112-116, 119, 194 poln. Historiker, Prof. in Krakau (UJ ) (dort auch Rektor 1981-1987) Gierszewski, Stanisław (1929-1993) 233 poln. Historiker, Prof. in Danzig/Gdańsk (UG) Ginzburg, Carlo (*1939) 444 ital. Historiker, Prof. in Bologna, Los Angeles (UCLA) und Pisa (SNS) Glotz, Peter (1939-2005) 5 dt. Politiker (SPD) und Publizist

481 Godlewski, Jerzy Romuald (1926-1989)  222 poln. Historiker, Mitarb. an der Universität Danzig/Gdańsk (UG) Goetz, Hans-Werner (*1947) 213 dt. Historiker, Prof. in Bochum und Hamburg Goldberg, Jacob (1924-2011) 335, 403, 409 israel.-poln. Historiker, Überlebender des Ghettos Lodz/Łódź und des KZ Buchenwald, Prof. an der Hebräischen Universität Jerusalem Goldhagen, Daniel (*1959) 38, 415 US-amerik. Politologe und Soziologe, Prof. in Harvard (bis 2003) Gomułka, Władysław (1905-1982) 83 poln. Politiker, I. Sekretär des ZK der PZPR (1956-1970) Gorbačev, Michail Sergeevič (*1931) 4, 239, 241f., 401 sowjet. Politiker, Generalsekretär der KPdSU (1985-1991) Gornig, Gilbert (*1950) 428 dt. Jurist, Prof. in Göttingen und Marburg Górny, Maciej (*1976) 72, 83 poln. Historiker, Prof. in Warschau (IH PAN) Górski, Karol (1903-1988) 103, 179, 435 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Gosewinkel, Dieter (*1956) 264 dt. Historiker, Forschungsgruppenleiter am WZB Berlin Gowin, Jarosław (*1961) 95 poln. Politiker, Politiker (PO, Polska Razem und Porozumienie), stellv. Premierminister (seit 2015) Grabowski, Jan (*1962) 340 kanad.-poln. Historiker, Prof. in Ottawa Grabski, Andrzej Feliks (1934-2000) 61 poln. Historiker, Prof. in Lodz/Łódź (UŁ) und am IH PAN Grass, Günter (1929-2015) 18, 277 dt. Schriftsteller, Literaturnobelpreisträger 1999 Gross, Jan Tomasz (*1947) 37f., 168, 184, 251, 287, 338, 405 US-amerik.-poln. Soziologe, Prof. in Atlanta (Emory), New York (NYU) und Princeton

482 Guesnet, François (*1962) 334 dt. Historiker, Prof. in London (UCL) Guldi, Jo(anna) (*1978) 197 brit. Historikerin in Dallas (Southern Methodist University) Guzowski, Piotr (*1975) 129 poln. Historiker, Mitarb. an der Universität Białystok Hackmann, Jörg (*1962) 372 dt. Historiker, Prof. in Stettin/Szczecin (US) Hagen, William W. (*1942) 128 US-amerik. Historiker, Prof. in Davis (UCD) Hahn, Eva (*1946) 151 tschech.-dt. Historikerin, Mitarb. des CC in München Hahn, Hans Henning (*1947) 58, 71, 73, 136-157, 171, 189, 196, 281, 291, 296, 435, 456, 469 dt. Historiker, Prof. in Oldenburg Halbwachs, Maurice (1877-1945) 11 franz. Soziologe, Prof. in Straßburg und Paris Hall, Aleksander (*1953) 220 poln. konservativer Politiker und Historiker, Minister im Kabinett Tadeusz Mazowieckis (1989-1991) Handelsman, Marceli (1882-1945) 212 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ), im KZ Mittelbau-Dora umgekommen Handke, Peter (*1942) 18 österr. Schriftsteller, Nobelpreisträger 2019 Hartog, François (*1946) 9 franz. Historiker, Prof. in Paris (EHESS) Heller, Klaus (*1937) 401 dt. Historiker in Gießen, Prof. in ErlangenNürnberg und Gießen Hellmann, Manfred (1912-1992) 102, 199f., 204, 319 dt. Historiker, Prof. in Münster Hensel, Jürgen (*1939) 158-175, 218, 224f., 232, 330f., 335, 466 dt. Historiker, Mitarb. am DHI Warschau (1993-1998) und am ŻIH Herbert, Ulrich (*1951) 71f., 75, 82 dt. Historiker, Prof. in Freiburg

Personenregister Hertz, Aleksander (1895-1983) 416 poln. Soziologe, seit 1940 im US-amerik. Exil Herzog, Roman (1934-2017) 21f. dt. Jurist und Politiker (CDU ), Präsident des Bundesverfassungsgerichts (1987-1994) und Bundespräsident (1994-1999) Hillgruber, Andreas (1925-1989) 140, 184, 278, 435f. dt. Historiker, Prof. in Marburg, Freiburg und Köln Hobsbawm, Eric (1917-2012) 259 brit. Historiker, Prof. in London (Birkbeck) Hoelscher-Obermaier, Hans-Peter (*1956)  284 dt. Übersetzer aus dem Polnischen Hoensch, Jörg K. (1935-2001) 389-391, 398 dt. Historiker, Prof. in Saarbrücken Holmes, Stephen (*1948) 14 US-amerik. Politologe und Jurist, Prof. in Chicago, Princeton und New York (NYU) Holzer, Jerzy (1930-2015) 45, 73, 140, 169, 190, 351, 433, 469 poln. Politologe und Historiker, Prof. in Warschau (UW ) Hoszowski, Stanisław (1904-1987) 233 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) und Krakau (Wyższa Szkoła Ekonomiczna) Hroch, Miroslav (*1932) 311f., 364, 366, 373-375, 469 tschech. Historiker und Prof. in Prag Hubatsch, Walther (1915-1984) 179 dt. Historiker, Prof. in Göttingen und Bonn Hüchtker, Dietlind (*1962) 300, 440-471 dt. Historikerin, Prof. in Wien Huelle, Paweł (*1957) 27 poln. Schriftsteller Huntington, Samuel P. (1927-2008) 9 US-amerik. Politologe, Prof. in Harvard Ischreyt, Heinz (1917-1993) 344, 346 dt. Germanist und Historiker, Mitarb. an der Ost-Akademie in Lüneburg und am NOKW Isokrates (436-338 v. Chr.) 437 athen. Rhetor

Personenregister Jacobmeyer, Wolfgang (*1940) 248, 389 dt. Historiker und Geschichtsdidaktiker, stellvertr. Direktor am GEI, Prof. in Münster Jacobs, Jack (*1953) 334 US-amerik. Politologe, Prof. in New York (CUNY) Jacobsen, Hans-Adolf (1925-2016) 379 dt. Historiker und Politologe, Prof. in Bonn Jaczynowska, Maria (1928-2008) 430 poln. Historikerin, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Jagielski, Mieczysław (1924-1997) 106, 128 poln. Ökonom und Politiker, Prof. in Warschau (SGH), Mitglied des ZK der PZPR (1959-1981) und des Politbüros, stellv. Premierminister (1970-1981) Jakovenko, Natalja (*1942) 122, 130 ukrain. Historikerin, Prof. an der MohylaAkademie in Kiev Janiak-Jasińska, Agnieszka (*1973) 246 poln. Historikerin, Dozentin in Warschau (UW ) Janion, Maria (1926-2020) 281, 282, 410, 417 poln. Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Prof. in Warschau (IBL PAN, UW )und Danzig/Gdańsk (UG) Jankowiak, Stanisław (*1958) 246, 410 poln. Historiker, Prof. in Posen/Poznań (UAM) Janosz-Biskupowa, Irena (1925-2011) 305 Leiterin des Staatsarchivs und des Universitätsarchivs in Thorn/Toruń (UMK), Frau von Marian Biskup Janowski, Maciej (* 1963) 270 poln. Historiker, Prof. in Warschau (IH PAN, seit 2020 dessen Direktor) Jaruzelski, Wojciech (1926-2014) 178, 219, 274, 296 poln. Politiker und General, I. Sekretär des ZK der PZPR (1981-1989), Premierminister (1981-1985) Staatsratsvorsitzender (1985-1989), Präsident Polens (1989) Jasienica, Paweł (1909-1970) 187 poln. Publizist, stellvertr. Vorsitzender des polnischen PEN-Clubs

483 Jaworski, Rudolf (*1944) 71, 139 dt. Historiker, Prof. in Kiel Jedlicki, Jerzy (1930-2018) 162, 282, 292, 308, 412, 416, 429 poln. Historiker und Soziologie, Prof. in Warschau (IH PAN) Jersch, Thomas (1937-2010) 170, 171f. dt. Privatgelehrter, Mann von Stefi Jersch-Wenzel Jersch-Wenzel, Stefi (1937-2013) 170, 171 dt. Historikerin, Mitarb. an der Historischen Kommission zu Berlin, Gründungsdirektorin des Simon-DubnowInstituts Leipzig (1995-1998), Frau von Thomas Jersch Jeziorski, Paweł A. (*1978) 96 poln. Historiker, Prof. in Warschau (IH PAN) Jogiches, Leo (1867-1919) 173 lit.-poln.-russ.-dt. Politiker, Mitbegründer der kommunistischen Partei Deutschlands, 1919 deren Vorsitzender Jonca, Karol (1930-2008) 379, 384, 388, 389, 393 poln. Rechtshistoriker, Prof. in Breslau/ Wrocław, Mitbegründer der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung Judt, Tony (1948-2010) 15 brit.-US-amerik. Historiker, Prof. in New York (NYU ) Kaczmarski, Jacek (1957-2004) 5 poln. Sänger Kaelble, Hartmut (*1940) 263f. dt. Historiker, Prof. in Berlin (FU, HU) Kąkolewski, Igor (*1963) 54, 58, 120, 121, 176-197, 442, 446, 465, 469 poln. Historiker, Prof. in Allenstein/Olsztyn, 2005-2010 Mitarb. am DHI Warschau, seit 2018 Direktor des CBH PAN in Berlin Kalembka, Sławomir (1936-2009) 145 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) (dort auch Rektor 1990-1993) Kałwa, Dobrochna (*1969) 246, 300 poln. Historikerin, Dozentin an der Universität Warschau

484 Kamiński, Andrzej Sulima (*1935) 106, 107, 109, 115f., 117, 122, 123, 128, 195 poln.-amerikan. Historiker, Prof. in Washington (Georgetown) Karczewski, Stanisław (*1955) 133 poln. Politiker (PiS), Senatsmarschall (2015-2019) Karp, Hans-Jürgen (*1935) 431 dt. Historiker, Mitarb. des Herder-Instituts in Marburg, auch dessen stellv. Direktor (bis 1998) Karwasińska, Jadwiga (1900-1986) 206 poln. Historikerin, Hilfswissenschaftlerin und Archivarin, Prof. in Warschau (IH PAN) Kasznik-Christian, Aleksandra (*1943) 144 poln. Historikerin, Prof. in Krakau (KA) Kehlmann, Daniel (*1975) 82 dt.-österr. Schriftsteller Keipert, Maria 379 Mitarb. im Historischen Dienst des Auswärtigen Amtes Kemlein, Sophia (*1960) 252, 355, 431 dt. Historikerin, Mitarb. am DHI Warschau (1996-2001) Kenney, Padraic (*1963) 13f. US-amerik. Historiker, Prof. in Boulder und Bloomington Kersken, Norbert 198-214, 448 dt. Historiker, Mitarb. des Herder-Instituts in Marburg und am DHI Warschau (2010-2013) Kerski, Basil (*1969) 436 poln.-dt.-irak. Politologe und Publizist, Chefredakteur der Zeitschrift „Dialog“, Direktor des Europäischen Solidarność-Zentrums in Danzig/Gdańsk (seit 2011) Kersten, Adam (1930-1983) 113, 114 poln. Historiker, Prof. an in Lublin (MCSU), Mann von Krystyna Kersten Kersten, Krystyna (1931-2008) 74, 282, 410, 430 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (IH PAN), Frau von Adam Kersten Kieniewicz, Jan (*1938) 429 poln. Historiker und Diplomat, Prof. in Warschau (UW ), poln. Botschafter in Spanien (1990-1994), Sohn von Stefan Kieniewicz

Personenregister Kieniewicz, Stefan (1907-1992) 143, 145 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW, IH PAN ), Vater von Jan Kieniewicz Kieślowski, Krzysztof (1941-1996) 270 poln. Filmregisseur Kijowski, Andrzej (1928-1985) 6 poln. Literaturkritiker und Essayist Kizik, Edmund (*1960) 58, 216-237, 299, 448, 451, 463 poln. Historiker, Prof. in Danzig/Gdańsk (UG), Mann von Camilla Badstübner-Kizik Kleinmann, Yvonne (*1970) 300 dt. Historikerin, Prof. in Halle Kleßmann, Christoph (*1938) 77, 182, 248, 296, 396, 469 dt. Historiker, Prof. in Bielefeld und Potsdam, 1996-2004 Direktor des ZZF in Potsdam Klich-Kluczewska, Barbara (*1974) 246 poln. Historikerin, Dozentin an der Universität Krakau (UJ ) Kłoczowski, Jerzy (1924-2017) 122, 212 poln. Historiker, Prof. in Lublin (KUL), Direktor des Instytut Europy ŚrodkowoWschodniej, 1991-2011 Präsident der polnischen UNESCO-Kommission Kłoskowska, Antonina (1919-2001) 292, 429 poln. Soziologin, Prof. in Lodz/Łódź (UŁ) und Warschau (UW ) Klusáková, Luďa (1950-2020) 364 tschech. Historikerin, Prof. in Olmütz Kobylińska, Ewa (*1954) 279, 280, 283 poln. Psychoanalytikerin, Mitarb. des DPI in Darmstadt, Prof. in Berlin (IPU) Kochanowski, Jerzy (*1960) 69, 183, 246, 248, 264, 281, 409f., 435 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ), Mitarb. am DHI Warschau (2000-2005) Kocka, Jürgen (*1941) 254, 397, 431 dt. Historiker, Prof. in Bielefeld und Berlin (FU), dort 1998-2009 Direktor am BKVGE, 2001-2007 Präsident des WZB Koczerska, Maria (*1944) 189 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (UW ) Koczy, Leon (1900-1981) 383 poln. Historiker und Armeeoffizier, Mitbegründer und Mitarbeiter des SikorskiInstituts (London, Glasgow), Dozent an der Poln. Exiluniversität in London (Polski Uniwersytet Na Obczyźnie)

Personenregister Kohl, Helmut (1930-2017) 192, 343, 344, 455 dt. Politiker (CDU ), 1982-1998 deutscher Bundeskanzler Kohlrausch, Martin (*1973) 265, 271 dt. Historiker, Prof. an der Kathol. Universität Leuven, Mitarb. am DHI Warschau (2005-2009) Kołakowski, Leszek (1927-2009) 290, 291 poln. Philosoph, Prof. in Warschau (UW ), Frankfurt am Main und Oxford, ab 1968 im Exil Kołodziejczyk, Dariusz (*1962) 58 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW, IH PAN) Komorowski, Bronisław (*1952) 134 poln. Politiker (Unia Wolności, Platforma Obywatelska) und Publizist, Sejmmarschall (2007-2010), Präsident Polens (2010-2015) Konopczyński, Władysław (1880-1952) 61 poln. Historiker, Prof. in Krakau (UJ ), Mitbegründer und Chefredakteur des PSB Konrád, György (1933-2019) 5f. ungar. Schriftsteller Korczak, Janusz (1878/1879-1942) 328 poln. Kinderarzt und Waisenhausleiter, 1942 von den Deutschen deportiert und ermordet Koselleck, Reinhart (1923-2006) 3, 9, 10, 292, 396 dt. Historiker, Prof. in Bochum, Heidelberg und Bielefeld Kosim, Jan (1924-1991) 91 poln. Historiker, Kustos am Stadtmuseum Warschau, Mitarb. am IH PAN, Sekretär der bilat. Historikergruppe der Akademien der VR Polen und der DDR Kossert, Andreas (*1970) 415 dt. Historiker, Mitarb. in der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin, Mitarb. am DHI Warschau (2001-2009) Kostrzak, Jan (1946-2004) 94 poln. Historiker, Diplomat und Beamter, Mitarb. der Polnischen Akademie der Wissenschaften, 1991-1996 Diplomat, Leiter des Hauptzollamtes in Thorn/Toruń (1998-2002) Koziełło-Poklewski, Bohdan (*1934) 430f. poln. Historiker, Prof. in Allenstein/Olsztyn Kozłowska-Budkowa, Zofia (1893-1986) 206

485 poln. Historikerin und Hilfswissenschaftlerin, Prof. in Krakau (UJ) Kraft, Claudia (*1968) 69, 72, 75, 238-257, 289, 390, 400, 403, 410, 461, 462, 463, 468, 469 dt. Historikerin, Prof. in Erfurt, Siegen und Wien, Mitarb. am DHI Warschau (2001-2004) Kranz, Jerzy (*1948) 386, 405 poln. Jurist, Diplomat und Journalist, Prof. in Warschau (SGH, Akademia Leona Koźmińskiego) und Krakau (WSE), Mitarb. im poln. Außenministerium (19902002), poln. Botschafter in Deutschland (2001-2002) Krasnodębski, Zdzisław (*1953) 279 poln. Soziologe und Politiker (PiS), Prof. in Bremen und Warschau (UKSW ), seit 2014 Abgeordneter im Europäischen Parlament, seit 2018 einer von dessen Vize-Präsidenten Krastev, Ivan (*1965) 14 bulgar. Politologe, Wissenschaftler in Sofia und Wien Krawiec, Adam (*1970) 212 poln. Historiker, Prof. in Posen/Poznań (UAM) Krenz, Egon (*1937) 19f. dt. Politiker, letzter Generalsekretär der SED (1989) Kriegseisen, Wojciech (*1955) 58, 299 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ), bis 2020 Direktor des IH PAN Krleža, Miroslav (1893-1981) 84 kroat.-jugosl. Schriftsteller, Vizepräsident der JAZU (1947-1957, 1960-1962) Król, Marcin (1944-2020) 291 poln. Philosoph und Publizist, Prof. in Warschau (UW ), Mitarb. des „Tygodnik Powszechny“, Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift „Res Publica (nowa)“ Kroll, Frank-Lothar (*1959) 97 dt. Historiker, Prof. in Chemnitz Kruczkowski, Leon (1900-1962) 277 poln. Schriftsteller, Publizist und kommunistischer Funktionär, Gründer der Zeitschrift „Twórczość“ Krzemiński, Adam (*1945) 288, 289, 329 poln. Germanist und Publizist, seit 1973 Redakteur der Wochenzeitschrift „Polityka“

486 Krzemiński, Ireneusz (*1949) 338 poln. Soziologe und Publizist, Prof. in Warschau (UW ) und Danzig/Gdańsk (UG) Krzoska, Markus (*1967) 285, 388, 398, 435 dt. Historiker, Mitarb. des DPI in Darmstadt und an der Universität Gießen Kubala, Ludwik (1838-1918) 113 poln. Historiker, Aufständischer und Publizist, Mitarb. der PawlikowskiBibliothek in Lemberg, Geschichtslehrer Kürbis, Brygida (1921-2001) 206 poln. Historikerin, Prof. in Posen/Poznań (UAM) Kuhn, Bärbel (*1957) 391 dt. Historikerin und Fachdidaktikerin, Prof. in Duisburg-Essen und Siegen Kuklo, Cezary (*1954) 129 poln. Historiker, Prof. in Białystok, Direktor der örtlichen Niederlassung des IPN (2000-2012) Kula, Marcin (*1943) 264, 430, 434 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ), Sohn von Witold Kula Kula, Witold (1916-1988) 229, 236, 263, 412 poln. Wirtschaftshistoriker, Prof. in Warschau (UW ), Vater von Marcin Kula Kundera, Milan (*1929) 5f., 84 tschech.-franz. Schriftsteller, seit 1975 im Exil in Frankreich, dort auch Dozent an der EHESS Kuroń, Jacek (1934-2004) 184, 185 poln. Parteifunktionär, Publizist und Oppositioneller, Mitbegründer des KOR, Arbeits- und Sozialminister (1989-1991, 1992-1993) Labbé, Morgane (*1960) 54, 258-271, 464, 465, 471 frz. Historikerin und Demographin, Prof. in Paris (EHESS) Labuda, Gerard (1916-2010) 145, 280, 352 poln. Historiker, Prof. (UAM) und Direktor des West-Instituts (1959-61) in Posen/ Poznań Lagrave, Rose-Marie (*1944) 267 franz. Soziologin, Prof. an der EHESS Lambrecht, Karen (*1962) 93 dt. Historikerin, Doz. in St. Gallen, 1996-2001 Mitarb. am GWZO, 1994-1995 am

Personenregister Forschungsschwerpunkt Ostmitteleuropa in Berlin Langewiesche, Dieter (*1943) 155, 173 dt. Historiker, Prof. in Hamburg und Tübingen Latour, Bruno (*1947) 19, 412 franz. Anthropologe und Philosoph, Prof. und stellv. Direktor an der Sciences Po Paris Lawaty, Andreas (*1953) 58, 146, 272-293, 466, 467 dt. Slavist und Historiker, stellv. Direktor des DPI in Darmstadt (1986-2002), Direktor des IKGN in Lüneburg (2002-2010) Leder, Andrzej (*1960) 160, 184 poln. Psychotherapeut und Philosoph, Prof. in Warschau (IFiS PAN) LeGoff, Jacques (1924-2014) 263 franz. Historiker, Prof. in Paris (VIe Section der EPHE), Gründungsdirektor der EHESS Lelewel, Joachim (1786-1861) 61 poln. Historiker und Politiker, Prof. in Wilna und Warschau, ab 1831 im Exil in Paris und Brüssel Lemberg, Hans (1933-2009) 69, 72, 165, 240, 241, 243, 244, 250, 251, 255, 296, 386, 387, 390, 393, 398, 409, 410 dt. Historiker, Prof. in Düsseldorf und Marburg Lempp, Albrecht (1953-2012) 284 dt. Polonist und Übersetzer, Mitarb. des DPI in Darmstadt, Direktor der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit (2003-2012) Lengnich, Gottfried (1689-1774) 235 preuß. Historiker, Stadtsyndikus und Prof. am Akademischen Gymnasium in Danzig/ Gdańsk Łepkowski, Tadeusz (1927-1989) 58, 140, 429 poln. Historiker und Parteifunktionär, Prof. am IH PAN Lesser, Gabriele (*1960) 425, 428 dt. Journalistin und Publizistin, WarschauKorrespondentin zahlr. deutschspr. Tageszeitungen Lewitter, Lucjan (1922-2007) 132 poln.-brit. Historiker, Prof. in Cambridge Lipska, Ewa (*1945) 275 poln. Lyrikerin, Mitbegründerin der Literaturzeitschrift „Pismo“

Personenregister Lipski, Jan Józef (1926-1991) 27, 34, 37, 141, 275, 385, 416 poln. Literaturhistoriker, Publizist u. Politiker, Mitbegründer des KOR und der PPS, Senator (1989-1991) Liskowacki, Artur Daniel (*1956) 28 poln. Schriftsteller Loew, Peter Oliver (*1967) 232, 234, 235, 388 dt. Polonist und Historiker, seit 2002 Mitarb. des DPI in Darmstadt (dort Direktor seit 2019) Löwener, Marc (*1965) 165 dt. Historiker, Mitarb. am DHI Warschau (1997-2001) Lotman, Jurij (1922-1993) 9 russ. Literaturwissenschaftler, Prof. in Tartu Ludat, Herbert (1910-1993) 199, 200 dt. Historiker, Prof. in Gießen, Doz. an der Reichsuniversität Posen Ludwig, Michael (*1948) 281 dt. Slavist und Journalist, Mitarb. der DGAP, Osteuropakorrespondent der FAZ (1991-2013) Lübbe, Hermann (*1926) 42 dt. Philosoph, Prof. in Zürich (UZH) Lübke, Christian (*1953) 179, 180, 212 dt. Historiker, Prof. in Greifswald, Direktor des GWZO in Leipzig (2007-2020) Lüdtke, Alf (1943-2019) 264, 443, 464 dt. Historiker, Mitarb. am MPI für Geschichte, später an der Universität Erfurt Lukowski, Jerzy/George (*1949) 132 brit.-poln. Historiker, Doz. an der Universität Birmingham Luther, Martin (1483-1546) 305 dt. Augustinermönch und Reformator Luxemburg, Rosa (1871-1919) 59, 167, 173 poln.-russ.-dt. Politikerin (SPD, USPD und KPD) und Aktivistin, Gründerin der „Sozialdemokratie des Königreiches Polen (und Litauens)“, 1919 ermordet Machcewicz, Paweł (*1966) 252 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ), Abteilungsleiter im IPN, Direktor des Museums des II. Weltkriegs in Danzig/ Gdańsk (2008-2017)

487 Maciszewski, Jarema (1930-2006) 111 poln. Historiker und Politiker, Prof. in Warschau (UW ), Mitglied des ZK der PZPR (1986-1990) Mack, Manfred (*1955) 71, 284 dt. Slavist und Historiker, Mitarb. des DPI in Darmstadt Mackiewicz-„Cat“, Stanisław (1896-1966)  187 poln. Publizist und Politiker, im II. Weltkrieg Mitglied des Nationalrates, Premierminister der poln. Exilregierung in London (1954-1955) Mączak, Antoni (1928-2003) 58, 110, 114, 115, 120, 129f., 131, 180, 183, 188, 212, 223, 229, 236, 351 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ) Maleczyńska, Ewa (1900-1972) 206 poln. Historikerin, Prof. in Breslau/Wrocław (UWr), Wissenschaftsfunktionärin Małłek, Janusz (*1937) 57, 115, 145, 179, 241, 299, 409 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Małowist, Marian (1909-1988) 58, 117, 178, 180, 188, 212, 306 Prof. in Warschau (UW ), im Warschauer Ghetto Mitarb. am Ringelblum-Archiv Mann, Golo (1909-1994) 74 dt.-schweiz. Historiker und Publizist, Prof. am Claremont Men’s College (Cal.) und in Stuttgart Manteuffel, Tadeusz (1902-1970) 91, 162, 178, 225, 351 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ), Gründungsdirektor des IH PAN Márai, Sándor (1900-1989) 84 ungar. Schriftsteller, ab 1948 im Exil in Italien und den USA Mark, James (*1972) 15 brit. Historiker, Prof. in Exeter Matthes, Eckhard (*1940) 344 dt. Historiker, Direktor des NOKW in Lüneburg (1982-1996) Matußek, Klaus (*1940) 381 dt. Fachdidaktiker, Mitarb. am Pädagogischen Zentrum Berlin Mau, Steffen (*1968) 243

488 dt. Soziologe, Prof. in Bremen und Berlin (HU ) Maugham, William Somerset (1874-1965)  82 brit. Schriftsteller und Geheimagent Mazowiecki, Tadeusz (1927-2013) 24, 137, 140, 186, 192, 240 poln. Politiker (Znak) und Publizist, Premierminister (1989-1990) Mazurczak, Dorota (*1950) 332 poln. Historikerin, Mitarb. der Universität in Posen/Poznań (UAM) Medick, Hans (*1939) 431, 443, 464 dt. Historiker, Prof. in Los Angeles (UCLA) und Erfurt Mehlhorn, Ludwig (1950-2011) 380 dt. Mathematiker und DDR-Bürgerrechtler, Mitarb. an der Hochschule für Ökonomie in Ost-Berlin, Studienleiter an der Ev. Akademie Berlin-Brandenburg (ab 1992) Meller, Stefan (1942-2008) 25, 184 poln. Historiker, Prorektor der PWST (1981-1984), Chefredakteur der Zeitschrift „Mówią Wieki“ (1990-1994), poln. Botschafter in Frankreich (1996-2001) u. Russland (2002-2005), poln. Außenminister (2005-2006) Mendelsohn, Erich (1887-1953) 427 dt.-israel.-amerik. Architekt, ab 1933 Emigration nach England, Israel und in die USA Metternich, Klemens Wenzel von (1773-1859)  153 österr. Diplomat und Amtsträger, kais.habsb. Botschafter in Dresden, Berlin und Paris, Außenminister (1809-1848) und ab 1821 Staatskanzler Meyer, Enno (1913-1996) 382, 383, 388, 389 dt. Historiker, Geschichtslehrer in Oldenburg, gilt als einer der Anreger der DPSK Michalik, Jan (*1938) 107 poln. Theaterwissenschaftler, Prof. in Krakau (UJ ) Michnik, Adam (*1946) 144, 184, 185, 291 poln. Publizist und Oppositioneller, Mitbegründer des KOR, Chefredakteur der „Gazeta Wyborcza“ (seit 1989)

Personenregister Mick, Christoph (*1961) 71 dt. Historiker, Prof. in Warwick Mieroszewski,Juliusz (1906-1976) 195 poln. Journalist und Publizist, nach dem Krieg im britischen Exil, Mitarb. der Pariser „Kultura“ Mikulski, Krzysztof (*1960) 111, 127 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) und am IH PAN, Präsident des PTH (2003-13, ab 2015) Militzer, Klaus (*1940) 318 dt. Historiker, 1979-2005 Mitarb. am Historischen Archiv der Stadt Köln Miłosz, Czesław (1911-2004) 72, 84, 416f. poln. Schriftsteller und Lyriker, 1953-1960 im Exil in Frankreich und den USA, Prof. in Berkeley und Harvard Misāns, Ilgvars (*1955) 102 lett. Historiker, Prof. in Riga Mizler de Koloff, Lorenz (1711-1778) 235 dt.-poln. Gelehrter und Arzt, Hofarzt Augusts III., Chefredakteur der Aufklärungszeitschrift „Monitor“ Modzelewski, Karol (1937-2019) 245 poln. Historiker, Prof. in Breslau/Wrocław (UWr) und Warschau (UW ), PAN-Vizepräsident (2007-2010) Möller, Horst (*1943) 163 dt. Historiker, Prof. in Erlangen-Nürnberg, Regensburg und München (LMU ), Direktor des DHI Paris (1989-1992), IfZ-Direktor (1992-2011) Molik, Witold (*1949) 145, 299, 346 poln. Historiker, Prof. in Posen/Poznań (UAM), dort Direktor des Instytut Wielkopolski Moltke, Helmuth James Graf von (1907-1945)  380 dt. Jurist, Rechtsanwalt und Mitarb. der Auslandsabwehr der Wehrmacht, einer der Köpfe des „Kreisauer Kreises“, 1945 hingerichtet Mommsen, Wolfgang J. (1930-2004) 146 dt. Historiker, Prof. in Düsseldorf (HHU), Direktor des DHI London (19771985), VHD-Vorsitzender (1988-1992) Moszczeńska, Wanda (1896-1972) 206 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (UW ), Auschwitz-Häftling

Personenregister Mrożek, Sławomir (1930-2013) 84 poln. Schriftsteller, Dramatiker und Zeichner, 1963-1996 im Exil in Frankreich, Italien, Deutschland und Mexiko Mühle, Eduard (*1957) 211, 304 dt. Historiker, Prof. in Münster, Direktor des Herder-Instituts in Marburg (1995-2005), Direktor des DHI Warschau (2008-2013) Müller, Michael G. (*1950) 56, 58, 70, 71, 74, 78, 92, 98, 100, 101, 132, 139, 170, 171, 236, 248, 281, 294-313, 346, 366, 435, 443, 446, 447, 449, 469, 470 dt. Historiker, Prof. in Florenz (EUI) und Halle, DPSK-Vorsitzender (2000-2012) Münz, Rainer (* 1954) 264 österr. Demograph und Soziologe, Prof. in Berlin (HU), Direktor des Instituts für Demographie der ÖAW (1990-1992) Musiał, Bogdan (*1960) 38, 163, 165 poln.-dt. Historiker, Prof. in Warschau (UKSW ), Mitarb. am DHI Warschau (1999-2004), Mitarb. des IPN Nagielski, Mirosław (*1952) 120 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ) Namowicz, Tadeusz (1938-2003) 281 poln. Literaturhistoriker und Germanist, Prof. in Warschau (UW ), Mitbegründer des poln. Germanistenverbandes Nesselrode, Karl Robert von (1780-1862) 153 russ.-livl. Diplomat und Amtsträger, ab 1814 Staatssekretär, ab 1816 Außenminister, 1829 Vizekanzler, 1845 Kanzler des Russl. Reichs Neumüllers-Klauser, Renate (1925-2014) 224 dt. Historikerin, ab 1963 Mitarb. der Forschungsstelle „Deutsche Inschriften“ an der Akademie der Wissenschaften Heidelberg, dann deren Leiterin Niedzielska, Magdalena (*1958) 365 poln. Historikerin, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Niendorf, Mathias (*1961) 289 dt. Historiker, Prof. in Greifswald, Mitarb. am DHI Warschau (1996-2001) Niethammer, Lutz (*1939) 71f., 81 dt. Historiker, Prof. in Essen, Hagen und Jena, Gründungsdirektor des KWI (1989-93)

489 Nietyksza, Maria (1936-2017) 189 poln. Historikerin, Prof. Warschau (UW ) Nikžentaitis, Alvydas (*1961) 314-325, 451 lit. Historiker, Prof. in Klaipėda/Memel und Vilnius (VPU), Direktor des Litauischen Historischen Instituts (2000-2008, erneut seit 2019) Nipperdey, Thomas (1927-1992) 106, 396, 430, 432 dt. Historiker, Prof. in Karlsruhe (TH), in Berlin (FU) und München (LMU) Noiriel, Gérard (*1950) 259 franz. Historiker, Prof. in Paris (EHESS) Nolte, Paul (*1963) 4 dt. Historiker, Prof. in Bremen ( JU) und Berlin (FU) Nora, Pierre (*1931) 11, 150, 312, 431, 432 franz. Historiker, Prof. in Paris (EHESS) North, Michael (*1954) 103 dt. Historiker, Prof. in Greifswald Nowak, Zenon Hubert (1934-1999) 57, 90, 101, 204 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Oberländer, Erwin (*1937) 56, 92, 102, 318 dt. Historiker, Prof. in Münster und Mainz, Sohn von Theodor Oberländer Oberländer, Theodor (1905-1998) 409 dt. Agrarwissenschaftler und Ostforscher, Prof. in Königsberg, Greifswald und der Reichsuniversität Prag, Offizier im NS, Bundesminister für Vertriebene (1953-60) Oestreich, Gerhard (1910-1978) 230 dt. Historiker, Prof. in Berlin (FU), Hamburg und Marburg Oexle, Otto Gerhard (1939-2016) 208, 432 dt. Historiker, Prof. in Hannover, Direktor des MPI für Geschichte in Göttingen (1987-2004) Oleksy, Józef (1946-2015) 67 poln. Politiker, Teilnehmer am Runden Tisch (1989), Sejmmarschall (1993-95 & 2004-05), Premierminister (1995-96) Oliński, Piotr (*1965) 208 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Olschowsky, Heinrich (1939) 281f.

490 dt. Polonist, Prof. in Berlin (HU ) Orłowski, Hubert (*1937) 44, 154, 182, 190, 195, 281, 292, 396f. poln. Germanist, Prof. in Posen/Poznań (UAM) Owsińska, Anna (1923-1981) 144 poln. Historikerin, Prof. in Krakau (UJ) Parker, Geoffrey (*1943) 105, 110, 132 brit.-US-amerik. Historiker, Prof. in St. Andrews, Cambridge, Urbana-Champaign, New Haven (Yale) und Columbus (Ohio) Passerini, Luisa (*1941) 307f. ital. Historikerin, Prof. in Turin und Florenz (EUI) Pekař, Josef (1870-1937) 362 tschech. Historiker, Prof. in Prag Pérez-Reverte, Arturo (*1951) 82 span. Journalist und Schriftsteller, Kriegsberichterstatter (1973-94) Pickhan, Gertrud (*1956) 93, 326-340, 460f. dt. Historikerin, Mitarb. am DHI Warschau (1993-1997), Prof. in Dresden und Berlin (FU) Pietrow-Ennker, Bianka (*1951) 241 dt. Historikerin, Prof. in Konstanz Pietrzyk-Reeves, Dorota (*1975) 132f. poln. Politologin, Prof. in Krakau (UJ) Piskorski, Jan M.(*1956) 31, 120 poln. Historiker, Verlagsleiter der PTPN 1992-2005, Prof. in Stettin/Szczecin (US) Pleszczyński, Andrzej (*1963) 213 poln. Historiker, Prof. in Lublin (UMCS) Podlasek-Ziegler, Maria (*1964) 427 poln. Germanistin, Frau von Georg Ziegler Pohl, Dieter (*1964) 416 dt. Historiker, Mitarb. des IfZ München (1995-2010), Prof. in Klagenfurt Polanyi, Karl (1886-1964) 14 ungar. Ökonom und Historiker Polonsky, Antony (*1940) 417 südafrik. Historiker, Prof. in London (LSE) und Waltham (Brandeis) Pomian, Krzysztof (*1934) 290, 308 franz.-poln. Historiker und Philosoph, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) und des CNRS, Wissenschaftl. Direktor am Haus der Europäischen Geschichte, Brüssel

Personenregister Poppe, Andrzej (1926-2019) 204 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ) Popper, Karl (1902-1994) 279 österr.-brit. Philosoph, Prof. in London (LSE), ab 1937 Emigration nach Neuseeland und England Poraziński, Jarosław (*1950) 124 poln. Historiker, Staatsarchivdirektor (1989-2004) und Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Poschmann, Brigitte (1932-2008) 430f. dt. Historikerin und Archivarin, Staatsarchivdirektorin in Bückeburg (1968-1992) Przyboś, Adam (1906-1990) 114 poln. Historiker, Prof. in Krakau (WSP) Przyboś, Kazimierz (*1944) 113 poln. Historiker, Prof. in Krakau, Sohn von Adam Przyboś Puttkamer, Joachim von (*1964) 64, 71f. dt. Historiker, Prof. und CoGründungsdirektor des Imre Kertész Kollegs (seit 2010) in Jena Radziejowski, Janusz (1925-2002) 138 poln. Historiker und Demograph, Mitglied der Berling-Armee, im Samizdat aktiv Radziwiłł, Bogusław (1620-1669) 131 litau.-poln. Aristokrat, schwed. Feldmarschall und Generalstatthalter im Herzogtum Preußen (1657-1669) Ranke, Leopold von (1795-1886) 432 dt. Historiker, Prof. in Berlin (FWU), Hrsg. der Historisch-politischen Zeitschrift (1832-1836) Rau, Johannes (1931-2006) 192 dt. Politiker (SPD), Ministerpräsident von NRW (1978-1998), Bundespräsident (1999-2004) Recker, Marie-Luise (*1945) 461 dt. Historikerin, Prof. in Münster und Frankfurt am Main Reich-Ranicki, Marcel (1920-2013) 275 dt.-poln. Publizist und Literaturkritiker, Überlebender des Warschauer Ghettos Reiter, Janusz (*1952) 21

Personenregister poln. Journalist und Diplomat, poln. Botschafter in Deutschland (1990-1995) und den USA (2005-2007) Rembowska, Liz 109 brit. Journalistin, Osteuropa-Spezialistin der BBC Revel, Jacques (*1942) 267 franz. Historiker, Prof. in Paris (EHESS) und 1995-2004 deren Präsident Rexheuser, Rex (*1933) 147, 158, 163-166, 169f., 182f., 252, 289, 320, 330, 332, 335, 342-357, 414, 425, 455f., 460-462 dt. Historiker, Prof. in Hannover, Gründungsdirektor des DHI Warschau (1993-98) Řezník, Miloš (*1970) 97, 183, 303, 358-377, 467, 469f. tschech. Historiker, Prof. in Chemnitz, Direktor des DHI Warschau (seit 2014) Rhode, Gotthold (1916-1990) 132, 309, 369, 460 dt. Historiker, Prof. in Mainz Rietz, Henryk 346 poln. Historiker in Thorn/Toruń (UMK) Ringelblum, Emanuel (1900-1944) 158, 351 poln. Historiker, Pädagoge und Politiker (Poale Zion), Chronist des Warschauer Ghettos, von der Gestapo ermordet Ritz, German (*1951) 281f. schweiz. Slavist, Prof. in Zürich (UZH) Roberts, Michael (1908-1996) 105, 117f brit. Historiker, Prof. in Grahamstown (heute Makhanda) und Belfast (Queen’s) Rockefeller, John D. (1839-1937) 269 US-amerik. Unternehmer und Philanthrop Rogall, Joachim (*1959) 431 dt. Historiker, Geschäftsführer der Robert Bosch Stiftung Roos, Hans (1919-1984) 460 dt. Historiker, Prof. in Göttingen und Bochum Ruchniewicz, Krzysztof (*1967) 196, 378-399, 435, 469, 471 poln. Historiker, Fotograf und Blogger, Prof. in Breslau/Wrocław (UWr) und Gründungsdirektor des WBZ (seit 2002), Mann von Małgorzata Ruchniewicz Ruchniewicz, Małgorzata (*1970) 385

491 poln. Historikerin, Mitarb. an der Universität Breslau/Wrocław (UWr), Frau von Krzysztof Ruchniewicz Ruffmann, Karl-Heinz (1922-1996) 322, 343 dt. Historiker, Prof. in Erlangen-Nürnberg Rürup, Reinhard (1934-2018) 335, 409 dt. Historiker, Prof. in Berlin (FU & TU), Leiter der Topographie des Terrors (1989-2004) Rüsen, Jörn (*1938) 437 dt. Historiker und Kulturwissenschaftler, Prof. in Bochum, Bielefeld und Witten/ Herdecke, Direktor des KWI Essen (1997-2007) Rusinowa, Izabella (*1942) 189 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (UW ) Sabean, David Warren (*1939) 443 US-amerik. Historiker, Mitarb. am MPI für Geschichte in Göttingen, Prof. in Los Angeles (UCLA) Sabrow, Martin (*1954) 18, 45 dt. Historiker, Prof. in Potsdam und Berlin (HU), Direktor des ZZF (seit 2004) Sahanovič, Hienadź (*1961) 122 belarus. Historiker, Gründer und Chefredakteur des „Belarusian Historical Review“ (seit 1994), Prof. in Warschau (UW ) Sakowska, Ruta (1922-2011) 331f., 351 poln. Historikerin, Mitarb. des ŻIH in Warschau (1958-2011) Salmonowicz, Stanisław (*1931) 57, 93, 115, 179, 181, 223, 346 poln. Historiker und Jurist, Prof. in Thorn/ Toruń (UMK) und Warschau (IH PAN) Samsonowicz, Henryk (*1930) 25, 93, 137, 140f., 146, 183, 209, 223, 297, 351, 373 poln. Historiker und Politiker, Prof. in Warschau (UW ), Präsident der Polskie Towarzystwo Historyczne (1978-82), Teilnehmer am Runden Tisch (1989), Erziehungsminister (1989-91) Sandkühler, Thomas (*1962) 416 dt. Historiker und Geschichtsdidaktiker, Prof. in Berlin Sauerland, Karol (*1936) 57 dt.-poln. Germanist und Philosoph, Prof. in Warschau (UW ) und Thorn/Toruń (UMK)

492 Schaeder, Hildegard (1902-1984) 293 dt. Kirchenhistorikerin, „Gerechte unter den Völkern“, EKD-Mitarb. (1948-1970) Schieder, Theodor (1908-1984) 71, 245, 250f. dt. Historiker, Prof. in Königsberg und Köln (dort auch Rektor 1962-64), VHD-Vorsitzender (1967-1972) Schirrmacher, Frank (1959-2014) 275 dt. Journalist und Publizist, FAZHerausgeber (1994-2014) Schlögel, Karl (*1948) 5, 385f., 396, 469 dt. Osteurophistoriker und Kulturwissenschaftler, Prof. in Konstanz und Frankfurt (Oder) Schlumbohm, Jürgen (*1942) 264 dt. Historiker, Mitarb. am MPI für Geschichte in Göttingen Schmidgall, Renate (*1955) 283 dt. Übersetzerin polnischer Literatur, Mitarb. des DPI in Darmstadt Schmitt, Carl (1888-1985) 279 dt. Jurist und politischer Philosoph, Prof. in Berlin (FWU ) Schöttler, Peter (*1950) 264 dt. Historiker, Prof. am CNRS Scholze, Dietrich (*1950) 281f. dt.-sorb. Literaturhistoriker, Direktor des Sorbischen Instituts in Bautzen/Budyšin (1992-2016) Schorn-Schütte, Luise (*1949) 299, 401, 409 dt. Historikerin, Prof. in Potsdam und Frankfurt am Main Schramm, Gottfried (1929-2017) 71f., 92, 146, 298, 346, 351 dt. Historiker, Prof. in Freiburg Schroer, Markus (*1964) 51f. dt. Soziologe, Prof. in Marburg Schütte, Ulrich (*1948) 101 dt. Kunsthistoriker, Prof. in Marburg Schultze, Brigitte (*1940) 282 dt. Slavistin, Prof. in Mainz Scior, Volker (*1967) 213 dt. Historiker, Mitarb. an den Universitäten Osnabrück und Bochum Serrier, Thomas (*1971) 260, 264, 270 franz. Historiker, Prof. in Lille

Personenregister Sienkiewicz, Henryk (1846-1916) 131, 178, 191, 274 poln. Schriftsteller, Literaturnobelpreistäger 1905 Sierakowska, Katarzyna 246 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (IH PAN) Simsch, Adelheid (1937-1999) 93 dt. Historikerin, Mitarb. in Gießen und Berlin (FU) Skowronek, Jerzy (1937-1996) 145 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ), Direktor der Hauptdirektion der Polnischen Staatsarchive (1992-1996) Smart, Sara (*1956) 119 brit. Germanistin, Prof. in Exeter Snyder, Timothy (*1969) 81 US-amerik. Historiker, Prof. in New Haven (Yale), Permament Fellow am IWM in Wien Sokołowska, Magdalena (1922-1989) 167 poln. Krankenschwester, Medizinerin und Soziologin, Prof. in Warschau (UW) Soros, George (*1930) 16 US-amerik. Investor und Philanthrop Sowa, Andrzej Leon (*1946) 112 poln. Historiker, Prof. in Krakau (UJ ) Sowa, Jan (*1976) 184 poln. Soziologe, Kurator und Publizist, Mitarb. an der ASP Warschau Śreniowska, Krystyna (1914-2013) 206 poln. Historikerin, Prof. in Lodz/Łódź (UŁ) Stankowski, Witold (*1966) 246, 410 poln. Historiker, Prof. in Krakau (UJ ) und Oświęcim (MUP) (dort auch Rektor 2012-2020) Stasiuk, Andrzej (*1960) 28 poln. Schriftsteller Staszewski, Jacek (1933-2013) 58, 89f., 92, 97, 113, 115f., 181, 310, 352, 365 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK), Präsident des PTH (1991-97) Stauffenberg, Claus Schenk Graf von (1907-1944) 67 dt. Wehrmachtsoffizier, Hitler-Attentäter Steffen, Katrin (*1967) 238f., 246, 248, 271, 289, 300, 400-420, 442, 452, 463

Personenregister dt. Historikerin, Prof. in Sussex, Mitarb. am DHI Warschau (2002-2007) und des IKGN in Lüneburg Stegner, Tadeusz (*1952) 224 poln. Historiker, Prof. in Danzig/Gdańsk (UG) Steinbach, Erika (*1943) 37, 69, 152, 251, 279, 386f., 405 dt. Politikerin (CDU, 1974-2017), Präsidentin des BdV (1998-2014), Vorsitzende der Desiderius-Erasmus-Stiftung (seit 2018) Stern, Fritz (1926-2016) 82 dt.-US-amerik. Historiker, Prof. in New York (Columbia) Stobiecki, Rafał (*1962) 61, 194f., 291 poln. Historiker, Prof. in Lodz/Łódź (UŁ) Stola, Dariusz (*1963) 58 poln. Historiker, Direktor des POLINMuseums (2014-2019) und Prof. (ISP PAN ) in Warschau Stomma, Stanisław (1908-2005) 190 poln. Strafrechtler und Politiker, kath. Publizist, Wegbereiter dt.-poln. Versöhnung, Teilnehmer am Runden Tisch (1989) Struck, Bernhard (*1972) 270 dt. Historiker, Reader in St. Andrews Strzelczyk, Jerzy (*1941) 212 poln. Historiker, Prof. in Posen/Poznań (UAM) Sucheni-Grabowska, Anna (1920-2012) 189 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (IH PAN) Süssmuth, Rita (*1937) 66f. dt. Politikerin (CDU ) und Erziehungswissenschaftlerin, Prof. an der PH Ruhr und in Dortmund, Familienministerin (1985-88), Bundestagspräsidentin (1988-98), Präsidentin des DPI in Darmstadt (seit 2006) Šusta, Josef (1874-1945) 362 tschech. Historiker und Politiker, Prof. in Prag, Schulminister (1920-1921), Präsident der ČAVU (1939-1945) Szacka, Barbara (*1930) 431 poln. Soziologin, Prof. in Warschau (UW ), Frau von Jerzy Szacki

493 Szacki, Jerzy (1929-2016) 290, 429, 431 poln. Soziologe und Ideenhistoriker, Prof. in Warschau (UW ), Mann von Barbara Szacka, „Gerechter unter den Völkern“, Mann von Barbara Szacka Szarota, Tomasz (*1940) 145, 170, 195, 281, 292, 351 poln. Historiker und Publizist, Prof. in Warschau (IH PAN) Szlanta, Piotr (*1971) 183 poln. Politologe und Historiker, Prof. in Warschau (UW ) Szweda, Adam (*1968) 126 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Szymborska, Wisława (1923-2012) 275, 418 poln. Lyrikerin, Literaturnobelpreisträgerin 1996 Tazbir, Janusz (1927-2016) 114, 299, 311, 373 poln. Historiker, Prof. in Warschau (IH PAN, 1983-1990 dessen Direktor), DPSK-Vorsitzender (1991-1997) Ther, Philipp (*1967) 14, 34, 243, 270, 388 dt.-österr. Historiker, Prof. in Frankfurt (Oder), Florenz (EUI) und Wien Thumser, Matthias (*1953) 96 dt. Historiker, Prof. in Berlin (FU), Vorsitzender der Baltischen Historischen Kommission (seit 2007) Tischner, Józef (1931-2000) 291 poln. Philosoph und kath. Priester, Prof. in Krakau (PAT), Solidarność-Seelsorger, Gründungspräsident des IWM (1982) Tito (eigentl.: Broz, Josip) (1892-1980) 83 jugosl. kommunistischer Staatschef Tönsmeyer, Tatjana (*1968) 72, 241 dt. Historikerin, Prof. in Wuppertal Tokarczuk, Olga (*1962) 28, 418 poln. Schrifstellerin und Psychologin, Literaturnobelpreisträgerin 2019 ( für 2018) Tolstoj, Aleksej N. (1883-1945) 82 russ. Schriftsteller Tomaszek, Michał (*1972) 213 poln. Historiker, Mitarb. an der UMCS in Lublin Tomaszewski, Andrzej (1934-2010) 281

494 poln. Kunsthistoriker und Historiker, Prof. in Warschau (UW ), poln. Generaldenkmalpfleger (1995-1999) Tomaszewski, Jerzy (1930-2014) 58, 331f., 336f., 409, 416 poln. Historiker und Politologe, Prof. in Warschau (UW ) Topolski, Jerzy (1928-1998) 40, 144f., 229, 299, 364f. poln. Historiker, Prof. in Posen/Poznań (UMK) Torp, Cornelius (*1967) 311 dt. Historiker, Prof. in Bremen Toruńczyk, Barbara (*1946) 144 poln. Literaturwissenschaftlerin und Publizistin, KOR-Aktivistin, Herausgeberin der „Zeszyty Literackie“ (1982-2008) Traba, Robert (*1958) 50, 58, 73, 78, 149-151, 165, 183, 190, 192f., 234, 261, 288, 291, 296, 298f., 303, 346, 356, 413-415, 422-438, 443, 459, 469 poln. Historiker und Politologe, Prof. in Warschau (ISP PAN ), Gründer von „Borussia“, Mitarb. am DHI Warschau (1995-2003), Gründungsdirektor des CBH PAN in Berlin (2006-18), DPSKVorsitzender (2007-2020) Trawkowski, Stanisław (1920-2008) 205 poln. Historiker, Prof. in Warschau (IH PAN) Treitschke, Heinrich von (1834-1896) 61, 457 dt. Historiker, Publizist und Politiker (NLP), Prof. in Freiburg, Kiel, Heidelberg und Berlin (FWU ) Trifonov, Jurij (1925-1981) 82 sowjet. Schriftsteller Trojanowiczowa, Zofia (1936-2015) 145 poln. Literaturwissenschaftlerin, Prof. in Posen/Poznań (UAM) Trzeciakowski, Lech (1931-2017) 145, 429 poln. Historiker, Prof. (UAM) und Direktor des West-Instituts (1974-1978) in Posen/ Poznań Turasiewicz, Romuald (1930-2005) 429 poln. Altphilologe, Prof. in Krakau (UJ ) und Katowice (UŚ) Tusk, Donald (*1957) 184, 220, 287, 406

Personenregister poln. Politiker (PO), Premierminister (2007-14), EU-Ratspräsident (2014-2019) Tych, Feliks (1929-2015) 58, 164f., 167f., 173, 331, 333f., 336, 352 poln. Historiker, Prof. in Warschau (IH PAN ), Direktor des ŻIH in Warschau (1995-2006), Mann von Lucyna Tych Tych, Lucyna (1930-2019) 173 poln. Historikerin und Theaterregisseurin, Frau von Feliks Tych Tygielski, Wojciech (*1953) 130 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ) Vasiliauskas, Artūras (*1970) 121 lit. Historiker Vogel, Jakob (*1963) 264 dt. Historiker, Prof. an der Sciences Po Paris und Direktor des CMB in Berlin (seit 2018) Voigt, Johannes (1786-1863) 177 dt. Historiker, Prof. und Staatsarchivdirektor in Königsberg Voynar, Zbigniew (*1944) 145 eigentl. Wojnar, Archivar am Piłsudski Institute in New York Wachowska, Barbara (1929-2005) 335 poln. Historikerin, Prof. in Lodz/Łódź (UŁ) Wajda, Kazimierz (1930-2020) 145, 150 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Wajs, Hubert (*1957) 125 poln. Archivar, Direktor des AGAD (seit 1993) Wałęsa, Lech (*1943) 106, 219, 240, 328, 418 poln. Elektriker und Politiker, Solidarność-Vorsitzender (1980-1990), Präsident Polens (1990-1995), Friedensnobelpreisträger 1993 Walicki, Andrzej (1930-2020) 290, 429 poln.-US-amerik. Historiker, Prof. in Warschau (IFiS PAN), Canberra und Notre Dame Wallerstein, Immanuel (1930-2019) 188, 306 US-amerik. Soziologe und Wirtschaftshistoriker, Prof. in Montreal (McGill) und New York (Columbia und Binghampton)

Personenregister Walser, Martin (*1927) 18 dt. Schriftsteller Wandycz, Piotr (1923-2017) 195 poln.-US-amerik. Historiker, Prof. in New Haven (Yale), PIASA-Präsident (1999-2008) Wapiński, Roman (1931-2008) 224, 232 poln. Historiker, Prof. in Danzig/Gdańsk (UG) Wasilewska, Wanda (1905-1964) 59 poln.-sowjet. Journalistin, Schriftstellerin und komministische Aktivistin Wasilewski, Tadeusz (1933-2005) 94, 121 poln. Historiker und Diplomat, Prof. in Warschau (UW ), poln. Botschafter in Bulgarien (1991-1995) Wat, Aleksander (1900-1967) 277 eigentl. Chwat, poln. Schriftsteller und Übersetzer, Mitbegründer des poln. Futurismus Wawrykowa, Maria (1925-2006) 74, 137f., 144-146, 189, 282, 299 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (UW ), Auschwitz-Überlebende Wehler, Hans-Ulrich (1931-2014) 4, 396, 430, 432 dt. Historiker, Prof. in Berlin (FU) und Bielefeld Weiss, Schewach (*1935) 67 poln.-israel. Politiker und Politologe, Prof. in Haifa und Warschau (UW ), KnessetVorsitzender (1992-1996), israel. Botschafter in Polen (2000-03) Weizsäcker, Richard von (1920-2015) 407 dt. Politiker (CDU ), Bundespräsident (1984-94) Wereszycki, Henryk (1898-1990) 143, 145, 153 poln. Historiker, Prof. in Breslau/Wrocław (UWr) und Krakau (UJ) White, Hayden (1928-2018) 10, 437 US-amerik. Historiker und Literaturwissenschaftler, Prof. in Santa Cruz und Stanford Wierczimok, Jutta (*1949) 283 dt. Slavistin, Mitarb. des DPI in Darmstadt Winkler, Heinrich August (*1938) 396 dt. Historiker, Prof. in Berlin (HU) und Freiburg Wippermann, Wolfgang (1945-2021) 408 dt. Historiker, (apl.) Prof. in Berlin (FU)

495 Wipszycka-Bravo, Ewa (*1933) 189 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (UW ) Wirsching, Andreas (*1959) 243 dt. Historiker, Prof. in Regensburg, Tübingen und München, IfZ-Direktor (seit 2011) Wittram, Reinhard (1902-1973) 96, 343, 345 dt. Historiker, Prof. in Riga, an der Reichsuniversität Posen und in Göttingen Wodziński, Marcin (*1966) 58 poln. Historiker und Judaist, Prof. in Breslau/Wrocław (UWr) Wojciechowska, Maria (1902-1990) 206 poln. Historikerin, Mitarb. am PTPN, Mutter von Marian Wojciechowski Wojciechowski, Marian (1927-2006) 71, 165f., 170-172, 245, 248, 433 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ), Direktor der Hauptdirektion der Polnischen Staatsarchive (1981-1992), DPSK-CoVorsitzender (1992-1997) Wojtczak, Leszek (1938-2018) 137 poln. Physiker, Prof. in Łódź, Rektor der Universität Łódź (1984-1990) Wojtecki, Dieter (*1937) 200 dt. Historiker, Mitarb. an der Universität Münster Wojtowicz, Jerzy (1924-1996) 346 poln. Historiker, Prof. in Thorn/Toruń (UMK) Woldan, Alois (*1954) 282 österr. Slavist und Kulturwissenschaftler, Prof. in Passau und Wien Wolff-Powęska, Anna (*1941) 190, 282, 351, 409, 469 poln. Historikerin und Politologin, Prof. (UAM) und Direktorin des West-Instituts (1990-2004) in Posen/Poznań Wóycicki, Kazimierz (*1949) 190, 245 poln. Publizist, Chefredakteur von Życie Warszawy (1990-1993), Direktor der Polnischen Institute in Düsseldorf (1996-99) und Leipzig (2000-2004), des IPN Stettin/ Szczecin (2004-2008) und der Europäischen Akademie Kreisau (2014-2016) Wrzesiński, Wojciech (1934-2013) 388, 424, 429

496 poln. Historiker, Prof. in Breslau/Wrocław (UWr) (dort auch Rektor 1990-1995), Polkowice (DWSPiT) und Posen/Poznań (WSNHiD), Präsident des PTH (1997-2003) Wrzosek, Wojciech (*1952) 291 poln. Historiker, Prof. in Posen/Poznań (UAM) Wünsch, Thomas (*1962) 205 dt. Historiker, Prof. in Passau Wulf, Christine (*1957) 224 dt. Germanistin, Mitarb. der Inschriftenkommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen Wyczański, Andrzej (1924-2008) 58, 129, 179 poln. Historiker, Prof. in Warschau (IH PAN), Białystok (UW ), PAN-Vizepräsident (1993-1995) Zagajewski, Adam (1945-2021) 27 poln. Schriftsteller, 1981-2002 im Exil in Paris Żarnowska, Anna (1931-2007) 189, 246, 333f., 451 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (UW ) Zeller, Joachim (*1952) 274 dt. Politiker (CDU ) und Slavist, Mitarb. an der HU Berlin und Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte (1996-2001)

Personenregister Zernack, Klaus (1931-2017) 32, 58, 77f., 91f., 102, 132, 146, 148, 154, 179f., 191, 193-195, 205, 212, 236, 247, 255f., 276, 281f., 292, 295f., 298, 302, 306, 312, 319f., 322, 337, 346, 396, 403, 408f., 415f., 436, 442, 449f., 457, 469f. dt. Historiker, Prof. in Frankfurt am Main, Gießen und Berlin (FU), DPSKVorsitzender (1987-2000) Ziegler, Georg (*1958) 425 dt. Jurist, Gründer und Vorsitzender (1983-1989) der GFPS, Mann von Maria Podlasek-Ziegler Zielińska, Zofia (*1944) 189, 300 poln. Historikerin, Prof. in Warschau (UW ) Zientara, Benedykt (1928-1983) 180, 188, 205, 209, 212, 460 poln. Historiker, Prof. in Warschau (UW ) Zybura, Marek (*1958) 196, 281, 385 poln. Germanist und Literaturhistoriker, Prof. am WBZ in Breslau/Wrocław Żyliński, Leszek (*1954) 281 poln. Germanist und Literaturhistoriker, Prof. und Gründer der DPG (1989) in Thorn/Toruń (UMK)