Zwei Völker in deinem Leib: Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter 9783666569937, 9783525569931

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Zwei Völker in deinem Leib: Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter
 9783666569937, 9783525569931

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V&R

Jüdische Religion, Geschichte und Kultur Herausgegeben von Michael Brenner und Stefan Rohrbacher

Band 4

Vandenhoeck & Ruprecht

Israel Jacob Yuval

Zwei Völker in deinem Leib Gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Christen in Spätantike und Mittelalter

Aus dem Hebräischen von Dafna Mach

Vandenhoeck & Ruprecht

Originalausgabe T w o Nations in Your Womb: Perceptions of Jews and Christians in the Middle Ages by Israel Jacob Yuval © 2006 The Regents of the University of California. Published by arrangement with the University of California Press.

Mit 6 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56993-1

© 2007 Vandenhoeck & Ruprecht G m b H & Co. KG, Göttingen. Internet: www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a U r h G : Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden N u t z u n g für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Gesamtherstellung: © H u b e r t & Co, Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort

9

I

Präludium: „Der Altere soll dem Jüngeren dienen"

15

1

Der thematische Rahmen

15

2

Die frühe Typologie: Esau, d.i. Edom

17

3

Die spätere Typologie: Esau, d.i. Rom

24

4

Die versöhnlichere Sicht der neueren Forschung

33

5

Mutter - Tochter - Schwester

39

II

Rom oder Jerusalem: Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

45

1

Die Ephraimiten und der Sohn Josephs

47

2

Die Rache des Heilands (vindicte salvatoris)

52

3

Die Zerstörungslegenden - antichristlich?

62

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

64 65 66 68 68 69

Kamza und Bar Kamza Nero in Jerusalem Martha, die Tochter des Boëthos Rabban Jochanan b. Sakkai vor Vespasian Titus und die Mücke Die Konversion des Onkelos

4

Pessach beim Auszug und Pessach bei der Zerstörung

69

5

Die Entfaltung der Narrative

75

6

Parallelen zwischen der jüdischen und der christlichen .Haggada'

81

7

Die Schriftauslegung

90

8

Schlussfolgerungen

99

9

Zum Stand der Forschung

102

III

Rache und Fluch: Feindschaft gegenüber dem Christentum in der aschkenasischen Judenheit

104

6

Inhalt

1

Rache-Erlösung

105

2

Bekehrungserlösung

119

3

Der Fluch

125

4

Die Verwünschung am Versöhnungstag

129

5

,Gieß aus deinen Grimm' zu Pessach

133

6

Der Eindruck der Verfluchung auf die Christen

137

IV

Die Narrative überkreuzen sich: Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

146

1

Das Blut

146

2

Selbstopferung

154

3

Opferung von Kindern

164

4

Der Ritualmord

168

5

Der Eindruck des blutigen Opfers auf die christliche Umwelt . . .

170

5.1 5.2 5.3 5.4

Blutkult und Ritualmord Verbreitung der Blutbeschuldigung Ritualmord und Rache-Erlösung Taufe in Flüssen und sonstigen Gewässern

172 178 181 182

6

Die Affäre von Blois und die Erzählung von Bristol

197

V

Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

211

1

Der Große Sabbat

215

2

Die Vertilgung des Gesäuerten (Bi'ur Chamez)

232

3

Das Zusammenlegen von Höfen (Eruw Chazerot)

237

4

Afikoman

240

5

Charosset

248

6

Zusammenfassung

254

VI

Das Ende des Milleniums (1240): Jüdische Hoffnung, christliche Furcht

257

1

Das Jahrtausend-Ende als Endzeittermin

258

2

Messianismus, Pilgerfahrt und Einwanderung ins Heilige Land

266

3

Fulda 1235, Paris 1240: Christliche Reaktionen?

273

Inhalt

4

7

Die mongolische Gefahr: Die verschollenen Stämme? Gog und Magog?

282

5

Die synchrone Betrachung

286

6

Jüdisches vs. christliches Weltende

288

Glossar

293

Register

295

Vorwort

Den Anstoß, dieses Buch zu schreiben, erhielt ich während des Sommersemesters 1992, als ich auf Einladung meines verehrten Freundes Alfred Haverkamp als Gastdozent an der Universität Trier weilte. Auf einem Gang durch die Stadt mit meiner Frau Esther und meinen drei Töchtern, Schlomit, N a o m i und Schira, kamen wir zu der gewaltigen römischen Basilika eines der Prunkstücke des mittelalterlichen Trier. Im Schatten jenes eindrucksvollen Bauwerks holte ich die hebräische C h r o n i k des Salomo b. Simson aus der Tasche und las meiner Familie vor, was dort über die Ereignisse des Jahres 1096 an eben diesem Ort berichtet ist. Die Trierer J u d e n hatten sich in der Basilika verbarrikadiert und schickten sich an, ihre Kinder und sich selbst von deren H ö h e in den Tod zu stürzen, um der Zwangstaufe durch die Kreuzfahrer zu entgehen. So vermittelt das Gebäude dem Betrachter das Gefühl unmittelbaren Bedrohtseins. U n t e r den Gebäuden, die in den hebräischen Berichten über die Judenverfolgungen von 1096 erwähnt sind, ist die Basilika zu Trier das einzige in Deutschland erhaltene; daher ist wohl kein Ort so gut zur Veranschaulichung jener tragischen Situation geeignet, da Eltern im Begriff standen, ihre eigenen Kinder zu töten. Das war einer jener seltenen Augenblicke, w o ich Vater und Historiker zugleich sein konnte. U n d als Vater stellte ich dem Historiker die kritische Frage: Was bringt einen normalen Menschen dazu, seine Kinder so grausam in den Tod zu stürzen? Ich dürfte nicht der erste Vater gewesen sein, der so fragte, aber wahrscheinlich war ich der erste israelische Historiker, der seinen Kindern angesichts der Trierer Basilika den hebräischen Bericht über die rheinischen Judenverfolgungen von 1096 vorgelesen hat. Die unmittelbare Konfrontation mit dem Schauplatz des historischen Vorgangs zusammen mit damals potentiellen Opfern, jüdischen Kindern, hat mich emotionell ungleich stärker aufgewühlt, als Texte dies vermocht hätten. Die vorliegende Studie ist aus dem Versuch hervorgegangen, A n t w o r t e n auf diese Frage zu finden, was nur teilweise gelungen ist. So enthält dieses Buch etwa keine Auskunft über die Motive der Märtyrer selbst, denn diese haben sich den Tod gegeben, noch bevor sie künftigen Generationen hätten erklären können, weshalb. Auf uns gekommen sind die Deutungsversuche der Uberlebenden, unter denen verschiedene Gruppen zu unterscheiden sind: jene, die nicht den Tod von befreundeter oder eigener Hand gewählt haben, jene, die sich haben taufen lassen, und schließlich jene, die einfach Glück gehabt haben. Diese mochten vielleicht nicht befugt sein, im N a m e n

10

Vorwort

der Umgekommenen zu sprechen, aber Geschichte wird nun einmal von den übrig Gebliebenen geschrieben; und was diese Hinterbliebenen an Erklärungen und Darstellungen hinterlassen haben, ist für einen modernen Leser oft schwer nachvollziehbar. Die Erzählungen vom Verhalten der Juden bei den Verfolgungen des Ersten Kreuzzugs - wie sie Selbstmord begingen, wie Familienangehörige einander töteten, Eltern die eigenen Kinder sind nicht nur historisch faszinierend, sondern vor allem moralisch anstößig, für Juden wie Christen gleichermaßen. In diesem Buch will ich aufzeigen, wie dieses Verhalten (bzw. dessen nachträgliche D e u t u n g durch die Uberlebenden) mit messianischen Vorstellungen zusammenhängt, die in der damaligen aschkenasischen Judenheit verbreitet waren - Vorstellungen, wonach ein Zusammenhang besteht zwischen dem vergossenen Blut der Märtyrer und der im Zuge der endzeitlichen Erlösung zu vollziehenden Blutrache. Heiligung des göttlichen Namens (Kiddusch haSchem), also das Martyrium zur höheren Ehre Gottes, galt im Elend des Exils als restaurativer Akt, der dazu angetan war, die Erlösung zu beschleunigen, wodurch dieser Akt im Rahmen der Abwehrhaltung des Judentums gegenüber dem herrschenden und bedrückenden Christentum zentrale Bedeutung erhielt. Diese Hypothese bietet eine Erklärung für die Intensität des martyrologischen Bewusstseins in der aschkenasischen Judenheit, für Besonderheiten ihres Rituals und für ihre spontane Reaktion auf die Herausforderung durch die Kreuzfahrer. Im Gefolge der zentralen Stellung, die das Martyrium zur höheren Ehre Gottes im Selbstverständnis der aschkenasischen Juden sowie in deren Auseinandersetzung mit der christlichen Umwelt innehatte, bin ich auf die Ähnlichkeit zwischen dem Tun der Juden, die auf kultischem Hintergrund Kinder töteten, und dem in Westeuropa ungefähr eine Generation nach dem Ersten Kreuzzug aufkommenden Vorwurf gestoßen, wonach Juden an Christen, vornehmlich Kindern, einen Ritualmord verübten, um die messianische Erlösung rascher herbeizuführen. N e b e n der rein äußerlichen Vergleichbarkeit bestehen zweifellos auch wesentliche Unterschiede: Die jüdischen Märtyrer töteten ihre eigenen Angehörigen, während der Ritualmordvorwurf die Juden des Mordes an Christen beschuldigte. Dieser Vergleich hat mich von der Geschichte der Fakten und Ereignisse zur Geschichte der gegenseitigen Bilder und Vorstellungen geführt. Da ich der Generation nach dem Ende des alten christlich-jüdischen Religionsstreits anzugehören meinte, schien mir eine solche Gegenüberstellung nahe zu liegen, besteht die Geschichte doch auch aus Folgen von optischen Täuschungen und fiktiven Vorstellungen. U n t e r diesen Vorzeichen schrieb ich meinen ersten Aufsatz zu diesem Thema, der 1993 in der israelischen historischen Zeitschrift ,Zion' erschien. Doch zu meiner Überraschung löste dieser wissenschaftliche Beitrag, der nur für einen engeren Kreis von Eingeweihten bestimmt gewesen war, einen Sturm der Entrüstung aus, dem ei-

Vorwort

11

ne D o p p e l n u m m e r jener Zeitschrift im folgenden Jahr (1994) gewidmet wurde. Stellungnahmen dazu erschienen sowohl in der israelischen als auch in der internationalen Presse. Die Heftigkeit der Reaktionen ließ keinen Zweifel daran, dass ich unwissentlich an nicht verheilte Wunden gerührt hatte. N a c h d e m sich der Sturm gelegt hatte, konnte ich in den Jahren 1995-1997 meine ursprüngliche Sicht der Dinge erweitern und durch weiteres Quellenmaterial stützen, andere Epochen in die Betrachtung mit einbeziehen und neue Fragen aufwerfen. So ist dieses Buch entstanden. Einiges daraus war in diesem oder jenem Rahmen bereits veröffentlicht, anderes erschien in der hebräischen Fassung dieses Buches (Tel-Aviv, 2000) zum ersten Mal. Die Einfügung älterer Arbeiten in eine neue Gesamtschau hat mir die neuerliche Uberprüfung, gegebenenfalls Korrektur und Aktualisierung früherer Forschungsergebnisse ermöglicht. 1 D o c h im Großen und Ganzen habe ich meine ursprünglichen Thesen untermauert und ergänzt. Dieses Buch geht von der grundlegenden Voraussetzung aus, dass die vielfältige polemische Auseinandersetzung zwischen J u d e n t u m und Christentum im Verlauf der ersten nachchristlichen Jahrhunderte bei der jeweiligen Ausprägung der beiden Religionen eine wesentliche Rolle gespielt hat. Unter Polemik verstehe ich nicht nur verbale Äußerungen von Gegnerschaft, sondern ein ganzes Spektrum von Ausdrucksformen, das besonders auf der jüdischen Seite auch Anspielungen, Ambivalenzen, Einwände, Widerlegungen, bisweilen sogar stillschweigende Übernahme und U m d e u t u n g umfasste. Die zu diesem Zweck verwendete literarisch-exegetische Methode entspricht in etwa der von Daniel Boyarin, der seine Positionen in den letzten Jahren mehrfach dargelegt hat. 2 Wie Boyarin gehe ich davon aus, dass die jüdische Kultur mit ihrem Spiegelbild, der christlichen, einen weitläufigen und komplexen Diskurs unterhält. Allerdings scheint es mir verfrüht, jetzt schon das historische Bild skizzieren zu wollen, das durch die in der neuesten Forschung geübte Art des Lesens entsteht. D a s N e u e des hier versuchten hermeneutischen Zugriffs besteht in der Hinterfragung und auch Widerlegung historischer Annahmen, die früheren

1 Aus den U S A sind vor allem zwei R e z e n s i o n e n meines Beitrags von 1993 zu nennen: R. C h a z a n , Medieval Stereotypes and M o d e r n A n t i s e m i t i s m , B e r k e l e y / L o s A n g e l e s / L o n d o n 1997, 7 5 - 7 7 und D . Berger, F r o m C r u s a d e s to B l o o d Libels to E x p u l s i o n : S o m e N e w A p p r o a c h e s t o Medieval A n t i s e m i t i s m , S e c o n d Annual Lecture of the Victor J . S e l m a n o w i t z Chair of J e w i s h H i s t o r y , 1997, 16—22. Einige der darin erhobenen Einwände habe ich akzeptiert und die vorliegende F o r m u l i e r u n g meiner G e d a n k e n entsprechend revidiert. S o f e r n die Einwände auf M i s s verständnissen beruhten, habe ich mich b e m ü h t , diese hier klarzustellen. M a n c h e Einwände m u s s ich zurückweisen, aber die diesbezügliche D i s k u s s i o n soll nicht hier geführt werden. 2 D . Boyarin, D y i n g for G o d : M a r t y r d o m and the M a k i n g of Christianity and J u d a i s m , S t a n f o r d 1999; idem, B o r d e r Lines: T h e Partition of J u d a e o - C h r i s t i a n i t y , Philadelphia 2004.

12

Vorwort

Generationen unumstößlich schienen - etwa der Voraussetzung, dass der babylonische Talmud, der seine Ausprägung in einer angeblich nicht-christlichen Umgebung erhielt, sich nicht mit dem Christentum befasse. Ein anderes Beispiel ist das mutmaßliche Verhältnis zwischen der rabbinischen und der frühchristlichen Literatur. Durch die moderne Literarkritik ist die rabbinische Literatur von ihrem nahezu selbstverständlichen Ehrenplatz als die .Quelle' des Neuen Testaments verdrängt worden. Eine meiner Thesen, die seit Erscheinen meines hebräischen Buches diskutiert und weiterverfolgt wird, ist die Vermutung eines verdeckten Dialogs zwischen der Feier des jüdischen Pessach-Festes und des christlichen Ostern im Anschluss an die Zerstörung des Zweiten Tempels. Auf dieser Grundlage habe ich versucht, die hinter einzelnen Stücken der PessachHaggada verborgene Polemik gegen das Christentum aufzudecken. Einen ähnlichen Ansatz hat Etienne Modet in einem wichtigen Beitrag verfolgt, der mir bei der Abfassung meiner hebräischen Studie entgangen war. 3 Was die Entstehungszeit der jüdischen Pessach-Haggada betrifft, so argumentiere ich gegen die in der Generation meiner akademischen Lehrer verbreitete Auffassung, die Haggada stamme noch aus der Zeit des Zweiten Tempels. Das heißt nicht, dass ich ihre Entstehung in die Epoche von Javne verlege, 4 auch in die Diskussion um eine noch spätere zeitliche Ansetzung 5 möchte ich nicht einsteigen, denn es geht mir nicht um die Untersuchung der Textgeschichte, sondern um den Nachvollzug polemischer Interaktion, die mittels Liturgie und Ritual geführt wurde. Und der historische Kontext, in dem sich Juden physisch und theologisch mit dem christlichen Osterfest konfrontiert sahen, hat sich über die ersten nachchristlichen Jahrhunderte hin nicht wesentlich verändert. Bei aller scharfen Zurückweisung, die meine Studie bei ihrer Erstveröffentlichung erfahren hat, war es die gedankliche Offenheit vor allem von Forschern der jüngeren Generation, die mich ermutigt hat, meinen For-

' E. Modet, Miettes Messianiques, in: I. Gruenwald/S. Shaked/G. Stroumsa (Hg.), Messiah and Christos: Studies in the Jewish Origins of Christianity presented to David Flusser on the Occasion of His Seventy-Fifth Birthday, Tübingen 1992, 1 ) 9 - 1 4 1 . Daneben gibt es immer noch wissenschaftliche Untersuchungen zur Pessach-Haggada, die etwaige Berührungspunkte mit dem Christentum nicht in Erwägung ziehen, so etwa S. Mor, T h e Laws of Sacrifice or Telling the Story of the Exodus? (hebr.), in: Zion 68 (2003), 2 9 7 - 3 1 1 . 4 So hat mich J . Hauptmann, H o w O l d Is the Haggadah?, in: Judaism 51 (2002), 5 - 1 8 anscheinend missverstanden. 5 Vgl. C . Leonhard, Die älteste Haggada; Ubersetzung der Pesachhaggada nach dem palästinischen Ritus und Vorschläge zu ihrem Ursprung und ihrer Bedeutung für die Geschichte der christlichen Liturgie, in: Archiv für Liturgiewissenschaft 45 (2003), 2 0 1 - 2 3 1 ; idem, Die U r sprünge der Liturgie des jüdischen Pesach und das christliche Osterfest, in: A. G e r h a r d s / H . H . Henrix (Hg.), Dialog oder Monolog? Zur liturgischen Beziehung zwischen Judentum und Christentum, Freiburg 2004, 1 5 1 - 1 6 6 .

Vorwort

13

s c h u n g s a n s a t z w e i t e r z u v e r f o l g e n . W a s im J a h r e 1 9 9 3 n o c h als w e l t e r s c h ü t t e r n d e u n d zu b e k ä m p f e n d e N e u e r u n g galt, w a r i m G r u n d e s c h o n d a m a l s v o n m i n d e s t e n s drei W i s s e n s c h a f t l e r n e r k a n n t w o r d e n . D i e H i s t o r i k e r I v a n M a r c u s , M a r y M i n t y u n d Willis J o h n s o n h a t t e n jeweils u n a b h ä n g i g v o n e i n a n d e r d e n E i n d r u c k g e w o n n e n , dass das A u f k o m m e n d e r R i t u a l m o r d lüge m i t d e r I d e o l o g i e d e r j ü d i s c h e n M ä r t y r e r z u s a m m e n z u s e h e n s e i . 6 D a s s L e e P a t t e r s o n diesen Z u s a m m e n h a n g s o z u s a g e n n o c h e i n m a l n e u e n t d e c k t h a t , 7 ist w o h l d a d u r c h b e d i n g t , dass m e i n e T h e s e n eine Z e i t l a n g fast n u r a u f hebräisch zugänglich waren. Mit d e m nahezu gleichzeitigen Erscheinen der englischen

und der deutschen

Fassung

der vorliegenden

Untersuchung

d ü r f t e diese S c h w i e r i g k e i t b e h o b e n sein. W i e in einer r e l e v a n t e n

wissen-

s c h a f t l i c h e n D i s k u s s i o n n i c h t a n d e r s zu e r w a r t e n , ist a u c h die L i s t e d e r g e g n e r i s c h e n V e r ö f f e n t l i c h u n g e n in d e n l e t z t e n J a h r e n e r h e b l i c h

angewach-

sen.8 O b w o h l seit d e r V e r ö f f e n t l i c h u n g des v o r l i e g e n d e n W e r k s in h e b r ä i s c h e r S p r a c h e e r s t w e n i g e J a h r e v e r g a n g e n sind, ist die F o r s c h u n g s l i t e r a t u r

zu

den Beziehungen zwischen J u d e n und Christen v o r dem H i n t e r g r u n d der a n t i j ü d i s c h e n A u s s c h r e i t u n g e n w ä h r e n d des E r s t e n K r e u z z u g s

1096,

ein

H a u p t t h e m a dieses B u c h e s , e r h e b l i c h a n g e w a c h s e n . Z u n e n n e n sind e t w a

6 I. Marcus, Hierarchies, Religious Boundaries and Jewish Spirituality in Medieval Germany, in: Jewish History 1 (1986), Anm.27. M. Minty, Kiddusch haScbem aus christlicher Sicht im mittelalterlichen Deutschland (hebr.), in: Zion 59 (1994), 209-266; eine verkürzte Fassung dieses Beitrags erschien auf englisch: M. Minty, Responses to Medieval Ashkenazi Martyrdom (Kiddush ha-Shem) in Late Medieval German Christian Sources, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 4 (1995), 13-38. W. Johnson, Before the Blood Libel. Jews' and Christians' Exegesis after the Massacres of 1096, MA thesis submitted to the Faculty of History, University of Cambridge 1994; Herr Johnson war so großzügig, mit seiner Entdeckung zurückzuhalten, als mein hebräischer Aufsatz erschien, obwohl anscheinend jeder von uns einer subjektiven historischen Wahrheit auf die Spur gekommen war. 7 L. Patterson, The Living Witnesses of Our Redemption: Martyrdom and Imitation in Chaucer's Prioress Tale, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 31 (2001), 507-560; die Einbeziehung des Zweiten Kreuzzugs in diesen Kontext scheint mir verfehlt, denn das Phänomen der Selbsttötung zur Heiligung des göttlichen Namens ist nahezu völlig auf den Ersten Kreuzzug beschränkt. 8 Einen Uberblick über die Polemik, welche durch die in meinem hebräischen Buch entwickelte Thesen ausgelöst wurde, bietet etwa Rainer Walz, Die Debatte über die Thesen Israel J. Yuvals, in: Aschkenas 9 (1999), 189-232; eine Zusammenfassung findet sich bei M. Toch, Die Juden im mittelalterlichen Reich, München 1998, 134-138. Einen weiteren Rahmen spannt die Untersuchung von A. Raz-Krakotzkin, Historisches Bewusstsein und historische Verantwortung, in: B. Schäfer (Hg.), Historikerstreit in Israel. Die „neuen" Historiker zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, Frankfurt/M./New York 2000, 151-180. J. Heil, .Deep enmity' and/ or ,Close ties'?, in: J S Q 9 (2002), 259-306, empfindet meine Darstellung der Christenfeindschaft bei mittelalterlichen Juden als überzeichnet. Zweifel an der von mir angebotenen Erklärung für das Aufkommen der Ritualmordbeschuldigung meldet Chr. Ocker an in seinem Beitrag Ritual Murder and the Subjectivity of Christ: A Choice in Medieval Christianity, in: H T R 9 1 (1998), 154-159.

14

Vorwort

die Arbeiten von Susan Einbindet - , 9 Robert Chazan, 1 0 J e r e m y C o h e n , 1 1 Simha Goldin, 1 2 Haym Soloveitchik 1 3 und Shmuel Shepkaru; 1 außerdem sind etliche wichtige Aufsatzsammlungen herausgegeben worden, etwa die von A n n a Sapir Abulafia, 1 5 Yom Tov Assis, 1 6 A l f r e d Haverkamp, 1 7 Michael Signer und J o h n van Engen. 1 8 Die hebräischen Chroniken über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs - die wichtigste historische Quelle zum Verständnis jüdischen Märtyrertods - sind unlängst in einer neuen kritischen Ausgabe mit Kommentar und Untersuchungen zur Textüberlieferung erschienen. 1 9 Dieses Buch ist ein weiteres Glied in der endlosen Kette der zeitbedingten Deutungen, die jede neue Generation an der alten Geschichte ihrer jeweiligen Gemeinschaft vornimmt. Ich hoffe, dass die Angehörigen meiner Generation nicht nur die K r a f t und den Mut aufbringen, ihre eigene A u f f a s sung vorzutragen, sondern auch das Verständnis und die Geduld, um den Revisionen der künftigen Generationen zu begegnen. Denn die Generationen kommen und gehen, aber die Geschichte bleibt im Fluss. Jerusalem

Israel Yuval

' S. Einbinder, Beautiful Death: Jewish Poetry and Martyrdom in Medieval France, Princeton 2002. 10 R. Chazan, God, Humanity, and History: The Hebrew First-Crusade Narratives, Berkeley 2000. 11 J. Cohen, Sanctifying the Name of God: Jewish Martyrs and Jewish Memories of the First Crusade, Philadelphia 2004. 12 S. Goldin, The Ways of Jewish Martyrdom (hebr.), Lydda 2002. 13 H. Soloveitchik, Halakhah, Hermeneutics, and Martyrdom in Medieval Ashkenaz, in: J Q R 9 4 (2004), 77-108, 278-299. 14 S. Shepkaru, From After Life to Afterdeath: Martyrdom and Its Recompense, in: A J S Review 24 (1999), 1-44; idem, To Die for God: Martyrs' Heaven in Hebrew and Latin Crusade Narratives, in: Speculum 77 (2002), 311-341. 15 A. Sapir Abulafia (Hg.), Religious Violence Between Christians and Jews: Medieval Roots, Modern Perspectives, New York 2002. 16 Y. T. Assis et al. (Hg.), Facing the Cross: The Persecutions of 1096 in History and Historiography, Jerusalem 2000. 17 A. Haverkamp (Hg.), Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge, Sigmaringen 1999. 18 M.A. Signer/J. van Engen (Hg.), Jews and Christians in Twelfth-Century Europe, Notre Dame (IN), 2001. 19 E. Haverkamp, Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs (Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland I), Hannover 2005.

I Präludium: „Der Ältere soll dem Jüngeren dienen""' 1 Der thematische Rahmen In diesem Buch geht es um die gegenseitige Bezugnahme von Juden und Christen aufeinander, nicht um die Geschichte der Beziehungen der beiden untereinander. H i e r sollen weder Konflikt noch Dialog zwischen Juden und Christen in ihren historischen Verästelungen aufgezeigt werden; vielmehr will ich Bruchstücke von Bildern aus der Versenkung holen, in denen verdrängte und verinnerlichte Schichten der jeweiligen Mentalität zu erkennen sind, wie sie im Unterbewussten der offiziellen religiösen Ideologie verborgen liegen, so dass sie nicht immer offen zum Ausdruck k o m m e n . H i e r soll die F u n k t i o n des Irrationalen, der D i s - und Missinformation bei der H e rausbildung der Eigen- und Fremddefinition bei Juden und Christen im Mittelalter offen und rational erörtert werden. I m Zentrum dieser Abhandlung stehen drei Begriffspaare: J a k o b - E s a u , Pessach-Ostern, Märtyrertod und Ritualmordbeschuldigung. Das erste beruht auf einer Typologie, d. h. einem vorhandenen Erzählschema, das seine Grundlagen in der Bibel hat; es ist mit der späteren K o n f r o n t a t i o n von Israel und E d o m , Juda und R o m , J u d e n t u m und C h r i s t e n t u m belastet. D i e Kontrahenten sind der Erwählte und der Verworfene, der Verfolgte und der Verfolger. In den Überlegungen, wer jeweils erwählt oder verworfen, wer J a k o b ' und wer ,Esau' sei, spiegelt sich die allmähliche Konsolidierung des Selbstverständnisses und damit auch der Definition des Anderen, des Verfolgers und Widersachers. U m diese Typologie herum kristallisiert sich die Spannung zwischen Knechtschaft, Leiden und Exil auf der einen, Herrschaft, Erstgeburtsrecht und Sieg auf der anderen Seite. Aus christlicher Sicht ist dies die Spannung zwischen Altem und N e u e m Testament, aus jüdischer Sicht die zwischen Exil und Erlösung. Davon handeln die ersten beiden und das letzte Kapitel des vorliegenden Bandes. Das zweite Begriffspaar ist aus dem Jahreszyklus genommen; hier werden die beiden wichtigsten Feste in C h r i s t e n t u m und J u d e n t u m einander gegenübergestellt. Beide haben einen gemeinsamen ideellen Ausgangspunkt: I n halt des Festes ist eine Erzählung aus der Vergangenheit, ein vollzogener E r lösungsakt, sowie eine Verheißung auf die Zukunft hin, einen noch zu vollziehenden Erlösungsakt. D e r Zusammenprall der beiden Feste hat eine lange Geschichte, die hier jedoch nicht nachgezeichnet werden soll. W i r be-

Genesis 25, 2 3 .

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Präludium: „Der Ältere soll dem Jüngeren dienen"

schränken uns hier auf die Aufdeckung von Reibungspunkten zwischen den beiden religiösen Systemen und zwar auf drei Ebenen: zum einen Beschreibung markanter Punkte, wo offene oder verdeckte Polemik dem jeweils rivalisierenden Zeremoniell die Berechtigung absprach; zum anderen Vereinnahmung gewisser Elemente aus dem Ritual der gegnerischen Religion, wobei deren ideologischer Gehalt verändert wurde; und drittens Fälle von Missverständnissen, wo Zeremonien der einen Religion von Angehörigen der jeweils anderen falsch verstanden wurden, weil deren Deutung in der (inneren und äußeren) Welt des Betrachters und Interpreten vorgenommen wurde. Solche Motive sind im zweiten und im fünften Kapitel behandelt. Das dritte Begriffspaar, der Märtyrertod als Alternative zur Zwangstaufe und die Ritualmordbeschuldigung, führt uns tief in die gegenseitige Vorstellungswelt hinein. Hier soll ein Versuch gemacht werden, das konkrete jüdische Leiden mit dem Komplex messianischer Erwartung zusammenzustellen. Phantasie und Wahnvorstellungen boten einen Ausgleich für die Mängel der realen Umwelt, spielten aber auch eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung eben dieser Realität und zwar nicht nur der jüdischen, sondern auch der christlichen. In den Taten der jüdischen Märtyrer in Aschkenas während des Ersten Kreuzzugs äußerte sich nicht nur deren Verzweiflung, sondern auch deren Hoffnung, und die christlichen Betrachter nahmen nicht nur das äußerliche Tun wahr, sondern auch die dahinterstehende Ideologie. So entstand ein circulus vitiosus mit tragischen Folgen. Dieser Kreis samt seinen Komplikationen wird im dritten und vierten Kapitel geschildert. Die beiden Religionen gründeten ihr Selbstverständnis auf typologische Paare von biblischen Figuren. Von denen war die eine jeweils jung, schön, geistig hochstehend, im Recht und vor allem siegreich und dominant, die andere dagegen alt, hässlich, unzivilisiert, boshaft und vor allem unterlegen und am Boden zerstört. Die Polemik ist zweiseitig und direkt, sie kennt keinerlei Alternative. So war die Welt von Juden und Christen in der ausgehenden Antike beschaffen, bevor der Islam als dritte Weltreligion auf den Plan trat, und die Situation im mittelalterlichen Europa war über weite Strecken hin nicht wesentlich anders. Im Unterschied zu den muslimisch beherrschten Ländern, wo Angehörige der drei Religionen nebeneinander wohnten, tendierte die religiöse Auseinandersetzung in Europa zu einer bipolaren Kristallisation. Daher die starke Propagandawirkung der typologischen Paare wie Kain und Abel, Isaak und Ismael, Rachel und Lea, Ephraim und Manasse - und nicht zuletzt: Jakob und Esau. Daher habe ich mich entschlossen, die Typologie von Esau und Jakob ins Zentrum der verschiedenen hier zu behandelnden Aspekte jüdisch-christlicher Auseinandersetzung zu stellen. Worum hier gestritten wird, ist die Deutung der Vergangenheit und der Gegenwart, ganz besonders aber die künftige Verwirklichung der Verheißung „der Altere soll dem Jüngeren dienen". Juden und Christen haben über die gemeinsame, biblische Vergangen-

Die frühe Typologie: „Esau, d.i. E d o m "

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heit disputiert und um die Gegenwart, ihre jeweiligen religiösen Ü b e r z e u gungen und Praktiken gerungen. D o c h das Kernstück der Disputation bildet die Zukunft, das Warten auf den Messias und das endzeitliche G e s c h e hen. J e d e Seite hielt eisern an ihrem Glauben fest, und die entgegengesetzte D e u t u n g der jeweils gegnerischen Religion dürfte bei den Gläubigen der anderen Seite wohl kaum jemals deren Verständnis der eigenen mythischen Vergangenheit oder aktuellen Gegenwart erschüttert haben. Aber in Bezug auf die unbekannte Zukunft ist auf beiden Seiten Unruhe zu beobachten. F ü r mittelalterliche Menschen bedeutete die Zukunft das messianische Zeitalter, und die messianische Verwirklichung des an J a k o b gerichteten Segens war nicht nur die Verheißung einer glänzenden Zukunft, sondern auch ein furchterregender Vorgang. Wie würde die neue Weltordnung sich auswirken? Wer sollte erhöht, wer erniedrigt werden? Wer würde sich als der „Altere" erweisen, der dem „Jüngeren" dienen müsste? D i e Erzählung von J a k o b und Esau samt ihrem typologischen Gehalt zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der christlichen wie der jüdischen Religion von deren Anfang bis in unsere Gegenwart. Bevor wir uns an diese historische Erzählung machen, wird es gut sein, deren biblischen Ursprung als literarisches Gebilde ins Auge zu fassen. Dabei geht es uns nicht um die philologisch exakte Auslegung der Verse nach den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten dieser Erzählung aus christlicher, jüdischer oder wissenschaftlich moderner Sicht; vielmehr wollen wir den Text als ein Stück Literatur lesen, möglichst unbeeinflusst von den vorgefassten Meinungen traditioneller wie moderner Exegese. D u r c h Betrachtung der Textgrundlage zu Beginn gewinnen wir A n t w o r t e n auf die Frage, was es mit dieser konstitutiven Erzählung über die Zwillingsbrüder Esau und J a k o b für eine Bewandtnis hat, so dass Juden wie Christen sich über Generationen hin in diese Erzählung vertieften und daraus Hinweise auf ihr gegenwärtiges und künftiges Schicksal zu erlangen hofften.

2 Die frühe Typologie: „Esau, d. i. Edom " D i e Erzählung von den Zwillingsbrüdern fängt nicht gut an. N o c h bevor die beiden überhaupt geboren sind, verkündet G o t t ihrer Mutter, Rebekka: „Zwei Völker hast du im B a u c h " (Gen 2 5 , 2 3 ) . D i e unruhigen Bewegungen der E m b r y o s in ihrem Leib bereiten ihr Schmerzen; die schwere Schwangerschaft deutet auf eine schwere Geschichte voraus: „Zwei Völkerschaften werden aus deinem Innern auseinandergehen, ein Volk wird mächtiger als das andere, und der Ältere soll dem Jüngeren dienen." (ebd.) I m Gegensatz zu der verdeckten Konkurrenz zwischen Isaak und Ismael ist die Feindseligkeit, die der biblische Bericht Esau entgegenbringt, offenkundig und ge-

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tränkt von schweren Erinnerungen an Liebe, Hass und Furcht. Was der biblische Erzähler beabsichtigte, war wohl eine Auseinandersetzung mit der politischen Realität seiner Zeit, als das Brudervolk Edom in Konkurrenz zu Juda und Israel stand, und so projizierte er das Missbehagen an den gegenwärtigen Zuständen in die dunkle, mythische Urgeschichte hinein. 1 Esau und Jakob sind, wie seinerzeit Kain und Abel, Söhne desselben Vaters und derselben Mutter, im Unterschied zu Ismael und Isaak, die vom selben Vater abstammten, aber von zwei verschiedenen Müttern. 2 Je enger die Verwandtschaft, desto heftiger der Konflikt. Isaak ist der erste im Lande geborene N a c h k o m m e Abrahams. Der Emigrant Abraham wollte nicht, dass sein Sohn sich mit den Bewohnern des Landes verschwägern sollte. Daher ließ er seinen vertrauten Diener kommen und beschwor ihn: „Du sollst meinem Sohn keine Frau von den Töchtern des Kanaaniters nehmen, in dessen Mitte ich wohne." (Gen 24,2) Vielmehr schickte er ihn an den O r t , der auf Anhieb am wenigsten zu erwarten gewesen wäre, nämlich an seinen H e r k u n f t s o r t Aram, von wo er viele Jahre zuvor auf göttliches Geheiß ausgezogen war: „Geh weg aus deinem Lande, aus deiner Familie, aus deinem Vaterhaus." (Gen 12,1) N u n betreibt er die Verbindung seines Sohnes mit eben jenen Kreisen, von denen er sich damals getrennt hatte. 3 Die erfolgreiche Mission von Abrahams Gewährsmann führt zu einer weiteren Trennung von der Ursprungsfamilie und zu einer zweiten Reise aus Aram, dem Land der Väter, nach Kanaan, ins Land der Verheißung. Diesmal ist es Rebekka, die sich auf den Weg macht; auch sie gibt dem fremden Land und dem unbekannten Bräutigam den Vorzug vor ihrer Familie

1 Dazu Z. Weissman, National Consciousness in the Promises to the Patriarchs (hebr.), in: Milet 1 (1983), 9-24; ders., Mi-Jakob le-Israel, Jerusalem 1986, 86-89. Zur polemischen Tendenz der vorliegenden Erzählung, die Jakobs Vergehen kaschiert und ältere Traditionen, in denen Jakobs Verhalten kritisiert worden war, herunterspielt s. Y. Zacovitch, Jakobs Ferse (hebr.), in: FS B.B. Yehuda, Tel Aviv 1981, 121-144; eine Gegenposition vertritt M. Garsiel, Literary Structure and Message in the Jacob and Esau Stories (hebr.), in: Hagut ba-Miqra 4 (1983), 63-81. T.L. Thompson, Conflict Themes in the Jacob Narratives, in: Semeia 15 (1979), 5-26 spricht den Erzählungen über Jakob und Esau jegliche polemische Intention ab und beurteilt sie als reine literarische Fiktion ohne historiographische Ambitionen. 2 Z. Weissman, Diverse Historical and Social Reflections in the Shaping of Patriarchal History (hebr.), in: Zion 50 (1985), 7, hat auf die unterschiedliche Familienstruktur in der Jakobsgeschichte im Vergleich zu Abraham und Isaak hingewiesen - monogam vs. polygam. Dieser Unterschied ist einer der Faktoren, die Weissman dazu veranlasst haben, die Uberlieferungen auf einen anderen, früheren Ursprung zurückzuführen als die Abraham- und Isaak-Erzählungen. Eine Stellungnahme zu dieser seiner These bei A. Rofe, History of Tradition and the Creation of the Jacob Cycle (hebr.), in: Tarbiz 56 (1987), 593-597. 3 Nach Meinung von Rofe spiegelt diese Episode die Atmosphäre unter Esra und Nehemia wider, als der Widerstand gegen Mischehen mit den Bewohnern des Landes akut war; s. A. Rofe, An Enquiry into the Betrothal of Rebekkah, in: Die hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte (FS R. Rendtorff), Neukirchen/Vluyn 1990, 27-39.

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und ihrem Vaterhaus. Auf die Frage, ob sie bereit sei, Abrahams Gesandtem zu folgen und ihre Familie zu verlassen, antwortet sie kurz und bündig: J a (vgl. Gen 24,58). Abraham war seinerzeit dem göttlichen Geheiß gefolgt, Rebekka folgt dem Ruf ihres Herzens. Anders als Abraham und Sara stammen Isaak und Rebekka also aus verschiedenen Ländern. Möglicherweise ist die Kluft, die sich zwischen ihren beiden Söhnen auftun wird, in ihnen selbst angelegt. Die erste Begegnung von Rebekka, einem jungen Mädchen aus Aram, und Isaak, einem nicht mehr jungen Mann auf heimischem Gelände, findet auf freiem Felde statt. N a c h langem beschwerlichem Kamelritt ist Rebekka im N e g e v angelangt und schickt sich an, die Bekanntschaft ihres Zukünftigen zu machen. Sie weiß genau, woher sie k o m m t und wohin sie unterwegs ist und wen sie treffen wird. Isaak dagegen, der ihr bestimmte Partner, hat keine Ahnung von dem, was ihm bevorsteht. „ D a ging Isaak hinaus, sich im Feld zu ergehen, gegen A b e n d " (Gen 24,63), wie er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte. U m die Tageszeit, wo andere nach H a u s e zurückkehren, geht er hinaus, ohne zu wissen, wer zu ihm unterwegs ist. Rebekka weiß um das zu erwartende Zusammentreffen, Isaak ist nicht darauf gefasst. So k o m m t die erste Begegnung zustande: „ D a erhob er seine Augen und schaute: sieh da, Kamele kommen; da erhob Rebekka ihre Augen und sah Isaak" (Gen 24,63f). Jeder von ihnen erhebt seinen Blick, beide sehen etwas, aber Isaak nimmt Rebekka nicht wahr. Was er sieht, sind Kamele, Rebekka dagegen sieht Isaak. Isaak versteht nicht, was er sieht. U n d Rebekka? Sobald sie Isaak erblickt, „fällt sie vom Kamel", d.h. sie lässt sich rasch herabgleiten, um den Entgegenkommenden zu erwarten, und richtet an ihren Begleiter die Frage: „Wer ist der Mann da, der auf dem Feld einhergeht uns entgegen? Der Diener sprach: D a s ist mein Herr. D a nahm sie den Schleier und verhüllte sich." (ebd. 65) Isaak geht ziel- und absichtslos im Feld umher, Rebekka dagegen erkundigt sich, wen sie vor sich hat. Sobald sie erfährt, dass es der ihr bestimmte Ehemann ist, verschleiert sie sich und zieht sich sozusagen in die Rolle der unsichtbaren Frau zurück. Darauf folgt ein weiteres Zwiegespräch, diesmal zwischen dem Diener und Isaak, wobei die Anwesenheit der verschleierten Rebekka immer weiter zurücktritt. „ D a erzählte der Diener Isaak alles, was er vollbracht hatte. Isaak brachte sie ins Zelt seiner Mutter Sara, er nahm Rebekka, sie wurde seine Frau und er liebte sie; so tröstete sich Isaak nach (dem Tod) seiner Mutter" (ebd. 67). Zwei Figuren, die bisher nur eine Nebenrolle in der Geschichte gespielt haben, treten nun ins Rampenlicht. Die eine ist Isaak, dem die Braut ohne eigenes Zutun auf Geheiß seines Vaters durch den Diener zugeführt wird, obwohl er bereits vierzig Jahre alt ist. Die andere ist Sara: Obwohl sie schon drei Jahre tot ist, schwebt ihr Geist immer noch über ihrem Sohn. Dagegen sind zwei Hauptfiguren in der Erzählung von Isaaks Verheiratung, die bis dahin sehr aktiv waren, von hier an verschwunden: Abraham und Rebekka. D e r

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Diener erstattet nicht Abraham Bericht über den Erfolg seiner Mission, sondern Isaak, vermutlich weil Abraham inzwischen gestorben ist. Rebekka jedoch, die den Diener bei seiner Ankunft in Aram so kühn und großherzig empfangen hatte, die den beherzten Entschluss gefasst hatte, mit ihm in das neue Land zu entfernten Angehörigen zu ziehen, wird nun zu einem Ersatz für die tote Mutter ohne eigene Persönlichkeit. Ihre Identität wird von der übernommenen Rolle scheinbar aufgesogen; von hier an und weiter ist ihr Platz im Zelt ihrer Schwiegermutter. Der Gegensatz zwischen Isaak, dem Mann des Feldes, und Rebekka, die sich im Zelt verborgen hält, ist eine Metapher für die Verschiedenheit der beiden Gestalten, der beiden Symbole. Das Feld ist der Aktionsbereich des Menschen, der in der Natur, im offenen Raum lebt, während das Zelt für Unschuld und Verschlossenheit steht. Doch trotz ihrer Abgeschiedenheit ist Rebekka diejenige, die gut sieht, wohingegen Isaaks Augen schwach werden sollen, so dass er gar nichts mehr sieht. Rebekka, deren Wirkungskreis die Verborgenheit des Zeltinnern ist, sieht besser als ihr Mann, dessen Raum das freie Feld ist. Dieser Unterschied zwischen Feld und Zelt hat eine weitere Dimension. Isaak ist der erste Landwirt unter den Patriarchen. In der rabbinischen Überlieferung wird er zwar als ein geistiger Mensch geschildert, seine spätere Blindheit rühre von den Tränen her, welche die Engel bei seiner im letzten Augenblick verhüteten Opferung über ihn geweint hätten 4 , und sein Hinausgehen ins Feld sei Absonderung zwecks Gebet und Meditation gewesen. 5 Doch die Gestalt, die dem Leser aus den biblischen Texten entgegentritt, sieht ganz anders aus. Seine Aussaat war gesegnet, so dass er in einem Jahr hundertfachen Ertrag einbrachte (vgl. Gen 26,12). Mit den philistäischen Bauern am Ort streitet er um Wasserstellen. Er wandert wenig, Gott untersagt ihm sogar, während einer Hungersnot das Land zu verlassen. Er erscheint als ein Mann, der seinem Grund und Boden verhaftet ist und in dessen Bearbeitung aufgeht. Er ist im Lande ansässig - im Unterschied zu seiner Frau, seiner Mutter und seinem Vater, die allesamt als Hirten oder Händler von auswärts zugewandert waren und keinen festen Wohnsitz hatten. Das Zelt ist ein Sinnbild der Fremdheit und Vorläufigkeit, Wohnung des Exilanten und des Nomaden; das Feld dagegen bezeichnet Bodenständigkeit, eine feste Verbindung zum Land. Die Verschiedenheit der Eltern führt zu Verschiedenheit der beiden Söhne, der um die Vorherrschaft ringenden Zwillinge. Von dem bodenständigen Isaak stammt der Mann des Feldes ab: „Und Esau wurde ein jagdkundiger

4 5

GenR LXV 10 (J. Theodor/Ch. Albeck [Hg.]), 719. GenR LX 14, (Theodor/Albeck [Hg.]), 654f.

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Mann, ein Mann des Feldes" (Gen 2 5 , 2 7 ) ; und von der Mutter, die im Zelt sitzt, stammt „Jakob, ein schlichter Mann, der im Zelt sitzt" ab (ebd.). D a her liebt Isaak seinen Sohn Esau und Rebekka liebt ihren Sohn J a k o b . Esau wird als „Isaaks älterer S o h n " (Gen 27,1) bezeichnet und J a k o b als R e b e k kas Sohn (vgl. G e n 2 7 , 6 ) . Die Charakteristika der Eltern finden sich in den Kindern stärker ausgeprägt. D e r Nachfahre des Landwirts, der mit der ansässigen Bevölkerung um Wasserrechte streitet, ist Esau, der von seinem Schwert lebt (vgl. G e n 27,40) und eine stattliche Truppe zum Empfang seines heimkehrenden Bruders aufbietet (vgl. G e n 3 2 , 7 ) . 6 J a k o b dagegen flieht ins Ausland, wenn er sein Leben bedroht sieht. Esau ernährt sich von wildem Getier, das er im Freien erlegt, J a k o b dagegen von gekochter Speise, die ihm seine M u t t e r im Zelt bereitet. D e r Verkauf der Erstgeburt vollzieht sich, als Esau erschöpft vom Feld heimkehrt (vgl. G e n 2 5 , 2 9 ) ; offenbar hat er nichts erjagt und ist hungrig geblieben. Daraufhin verkauft er seine Erstgeburt für B r o t und ein Linsengericht, zu Hause gekochtes bzw. gebackenes Essen, und der Vorrang geht vom Mann des Feldes auf den Mann des Zeltes über. 7 D o c h Isaak weiß nichts von dieser Gewichtverschiebung; er ist blind und lebt in der Vergangenheit. In h o h e m Alter, kurz vor seinem Tod, bittet er Esau „geh hinaus ins Feld und jage mir ein Stück Wild" (Gen 27,3), damit er ihn segnen kann. Das hört Rebekka. I m freien Feld hatte sie gutes optisches Vermögen bewiesen, im Innern des Zelts ist es die akustische Wahrnehmung, die ihr zugute k o m m t . Während Esau zum Jagen ins Feld hinausgeht, weiß sie ihren Vorteil zu nützen: Rasch bereitet sie ein Fleischgericht aus dem ihr zur Verfügung stehenden Kleinvieh zu. So gewinnt J a k o b den Segen, der dem Erstgeborenen vorbehalten war, denn sein Vater hatte seinen Geruch als „Geruch des Feldes" identifiziert (vgl. G e n 2 7 , 2 7 ) . Sowohl Esau als auch sein Vater werden als esslustig dargestellt, beide sind bereit, für schmackhaftes Essen die Erstgeburt bzw. den Erstgeburtssegen dahinzugehen. 8 D e r erschlichene Segen und die usurpierte Vorrangstellung ziehen J a k o b Esaus Hass zu. Auf Betreiben seiner M u t t e r flüchtet er zu deren U r -

6 Die 400 Mann lassen auf eine stehende Armee schließen; dazu A. Shapira, Jacob and Esau: A Polyvalent Reading (hebr.), in: Ijjune Miqra u-Parschanut 4 (1997), 270-272. Y. Bin-Nun, The Yitzhak Stories (hebr.), in: Megadim 25 (1996), 68-70 meint, Esau habe diese Truppe zur Verteidigung seines Territoriums unterhalten. 7 V. Maag, Jakob-Esau-Edom, in: ThZ 13 (1957), 418-429 meint, hinter der frühen Erzählung von Jakob und Esau stehe die Spannung zwischen Jägern (Esau) und Hirten (Jakob), die nebeneinander im Norden von Israel gewohnt hätten, in Gilead und Basan. Unter David und infolge der Eroberung von Edom sei eine weitere im Süden beheimatete Schicht dazugekommen, die Esau mit Edom gleichsetzte, woraufhin sich die Typologie der Erzählung von Jakob und Edom auf nationale Ebene verlagerte. 8 Zacovitch, Jakobs Ferse (s.o. Anm. 1), 130f.

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sprungsfamilie, wodurch er allerdings die Verbindung zu seiner eigenen Familie abbricht und ins Exil gerät. Dort im Ausland nimmt er seine Frauen und zeugt seine Kinder (mit Ausnahme von Benjamin, dem Nachkömmling). Bei seiner Ankunft in Aram ist Jakob der privilegierte Sohn, bei seiner Rückkehr ist er Familienvater, der Stammvater der zwölf Stämme. Dieser Ubergang vom auserwählten Sohn zur auserwählten Familie vollzieht sich im aramäischen Exil, außerhalb des Gelobten Landes, ähnlich wie dann der Ubergang vom auserwählten Familienclan zum auserwählten Volk im ägyptischen Exil. Jakob ist der .heimatlose Aramäer' (vgl. Dtn 26,5), d.h. der aramäische Exulant, dem es vergönnt war, das Land Israel in Besitz zu nehmen und Esau daraus zu verdrängen. Nach zwanzig Jahren im Ausland erhält er die göttliche Weisung: „kehr zurück ins Land deiner Väter, in deine Heimat" (Gen 31,3). Hier handelt es sich nicht mehr darum, vom eigenen Ort weg in fremdes Land zu gehen wie bei Abraham und bei Rebekka, sondern um die Rückkehr des zeitweilig Exilierten in sein angestammtes Land. Abraham war ein Fremdling gewesen in Kanaan, Isaak war aus dem Land gebürtig und hatte es nie verlassen, und Jakob kehrt aus dem Exil in sein Geburtsland zurück. Vielleicht will der biblische Erzähler dadurch zu verstehen geben, dass nicht der Fremde, der sich dort niederlässt, zum festen Besitzer des Landes wird, auch nicht der ,Mann des Feldes', der dort wohnt, sondern ausgerechnet der ,verlorene' Sohn, der aus dem Exil ins Land heimkehrt. In der Tat wird Isaaks Segen über Jakob erst ganz am Ende der Erzählung von Jakob und Esau realisiert. Nachdem Jakob ins Land zurückgekehrt ist, kauft er in Sichern „das Stück Feld, wo er sein Zelt aufschlug" (Gen 33,19). N u n erwirbt auch Jakob (wie seinerzeit Abraham, vgl. Gen 23) ein Stück Land in Kanaan. Im Anschluss daran wird geschildert, wie Esau das Land verlässt, wobei der biblische Bericht nicht mit Worten spart, um die Tragweite dieses Geschehens zu verdeutlichen: „Da nahm Esau seine Frauen, seine Söhne und Töchter und alle Angehörigen seines Haushalts, sein Kleinvieh und Großvieh, den gesamten Besitz, den er im Land Kanaan erworben hatte, und ging in ein anderes Land vor seinem Bruder Jakob [...]. So wohnte Esau im Bergland von Seir - Esau, d.i. Edom." (Gen 36,6-8) Über Jakob dagegen heißt es anschließend: „So saß Jakob im Lande, wo seine Väter gewohnt hatten, im Land Kanaan." (Gen 37,1) Damit ist die Verheißung erfüllt: Die beiden Brüder haben sich getrennt, und Jakob ist zum Besitzer des Landes geworden. Demnach ist die Erzählung insgesamt als verdeckte Polemik gegen ein entgegengesetztes Narrativ mit umgekehrten territorialen Ansprüchen zu lesen; so wird ein historischer Mythos zur Rechtfertigung aktueller politischer Verhältnisse geschaffen. Die vom Erzähler vertretene Ideologie leitet das Recht auf den Besitz des Landes Israel von einer göttlichen Verheißung ab und weist die Gegenargumente der im Land oder in seiner Nachbarschaft

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ansässigen Bevölkerung zurück. Das Kernstück des biblischen Anspruchs auf den Besitz des Landes ist der Vorrang des .Heimkehrers' aus dem Exil vor dem im Lande Wohnhaften, da der auswärtige Siedler in göttlicher Vollmacht auftritt, nicht mit Berufung auf Gewohnheitsrecht oder Anciennität. Was hier bestritten wird, ist die Ansässigkeit als Grundlage für den A n spruch auf den Besitz des Landes. 9 J a k o b und seine N a c h k o m m e n werden als die designierten Herren des Landes geschildert, wohingegen Esau und Ismael ihnen u n t e n a n sein sollten - so lagen die realen Verhältnisse zur Zeit des Ersten Tempels nach der Unterwerfung Edoms durch David. 1 0 Gegen Ausgang der E p o c h e des Ersten Tempels, als das Königreich Juda von den Babyloniern vereinnahmt worden war, hatte E d o m die Gelegenheit genützt und Randgebiete von J u d a im nördlichen Negev in seinen Besitz gebracht; seitdem galt E d o m als treuloser Bruder, dessen Verrat durch härteste Bestrafung zu rächen war. 1 1 Biblisch belegt ist die anti-edomitische Polemik auch durch die Erzählung über den Edomiter Hadad, König Salomos großen Widersacher (vgl. l K ö n 1 1 , 1 4 - 2 5 ) . Hadads Lebensgeschichte trägt unverkennbar Motive, die an die Geschichte der Israeliten und an die Biographie des M o s e erinnern. Wie M o s e , der geboren und am Leben erhalten wurde, obwohl Pharao befohlen hatte, alle neugeborenen Söhne in den Nil zu werfen, überlebte auch Hadad den edomitischen Kindermord im Zuge der Eroberung durch David (V 15). Hadad flüchtete über Midian nach Ägypten, wie Mose, der aus M i dian nach Ägypten zurückkehrte. Hadad wurde vom Pharao gut aufgenommen und erhielt sogar Land zur Niederlassung, ähnlich wie den Israeliten das Land G o s e n zugeteilt wurde. Hadad wuchs im Palast des Pharao auf und erhielt dessen Schwägerin zur Frau. Sie gebar ihm einen Sohn namens Genuvat, und dieser N a m e klingt an eine Äußerungs Josephs an: „gestohlen, gestohlen wurde ich {gunov gunavti) aus dem Land der H e b r ä e r " (Gen 4 0 , 1 5 ) . So wurde Hadad, der bereits von E d o m her königlicher A b s t a m mung war, zu einem Mitglied der ägyptischen Königsfamilie wie Mose, der Adoptivsohn der Pharaonentochter. Auf die Nachricht von Davids Tod hin wandte Hadad sich mit der Bitte an Pharao: „Lass mich ziehen, dass ich in mein Land gehe" (V 21) - ein Widerhall von M o s e s wiederholter Bitte „lass mein Volk ziehen" (Ex 5,1 u . ö . ) . Auch Hadads Bitte wurde nicht sogleich gewährt: „Da sprach Pharao zu ihm: ,Was fehlt dir denn bei mir, dass du in dein Land zu ziehen begehrst?"', aber wie M o s e beharrt Hadad auf seinem Wunsch: „Er sprach: ,Nein, bitte lass mich ziehen!'" (V 2 2 ) . Yair Zacovitch hat die Ähnlichkeit der Hadad- mit der Mosegeschichte

' Vgl. Y. Levi, A Territorial Dispute in the Land of Israel in Ancient Times (hebr.), in: Olamot nifgaschim, Jerusalem 1969, 60-78. 10 2Sam 8,14. 11 Jes 34,5-7; 63,1-6; Ez 25,12-14; O b .

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auf das Bestreben zurückgeführt, Hadads Geschichte als umgekehrte Parallele zu der Jerobeams (vgl. l K ö n l l , 2 6 f f ) erscheinen zu lassen, denn auch Jerobeam galt als ein „zweiter Mose". 1 2 Er meint, die Hadad-Geschichte sei von judäischen Schriftgelehrten verfasst, die Jerobeam die Mose-Gleichheit abzusprechen suchten; zu diesem Zweck hätten sie Jerobeams Geschichte auf eine Randfigur wie Hadad übertragen. Ich möchte eine andere Deutung für die Ähnlichkeit der beiden Geschichten anbieten. Ich schlage vor, die Hadad-Erzählung als Niederschlag einer konkurrierenden edomitischen Tradition zu betrachten, wonach Hadad als Befreier des edomitischen Volkes von dem Despoten David galt, der an diesem Punkt dem Pharao entspricht. Der biblische Autor konnte diese Tradition ohne weiteres übernehmen, denn sie passte genau in sein Konzept: Er will Hadad als den von Gott bestellten .Widersacher Salomos' (V 14) einführen - zur Strafe für Salomos verbotene Liebe zu der Pharaonentochter, sozusagen Heimzahlung mit gleicher Münze. Die bloße Existenz einer edomitischen Konkurrenz-Erzählung zur Mose-Geschichte ist somit als Ausdruck einer Feindschaft zu sehen, die bereits zur Zeit des Ersten Tempels zwischen den Nachkommen von Jakob und Esau bestand; bei diesem Streit ging es um dasselbe Land und um dieselbe Vätertradition.

3 Die spätere Typologie: Edom, d. i. Rom Aus der vorgeschlagenen Lesung der biblischen Erzählung geht hervor, dass die spätere Typologie, die Edom mit Rom gleichsetzt, nicht im luftleeren Raum entstanden ist, sondern auf der biblischen Typologie aufbaut, die Esau mit Edom identifiziert. Das Aufkommen der späteren Typologie ging vermutlich mit dem Verschwinden der Größe einher, gegen welche die biblische Typologie gerichtet gewesen war - die Edomiter. Doch der entscheidende Faktor bei ihrer Entstehung war die Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahre 70 n.Chr. Daraufhin erfolgte ein markanter Umschwung in der Bedeutung der Begriffe Esau-Edom. Aus jüdischer Sicht war der Streit zwischen Jakob und Esau kein territorialer Konflikt zwischen Nachbarvölkern mehr, sondern eine Konfrontation mit messianischen Dimensionen zwischen Juda und Rom. Sobald Edom zum Synonym für Rom geworden war, wurden alle künftigen Rache-Verkündungen wider Edom auf Rom übertragen; nun war es Rom, das in der Endzeit zu Fall kommen und nicht wieder aufstehen sollte. In den ersten Jh. nach der christlichen Zeitrechnung wurde Edom zum 12

Y . Zacovitch, And You Shall Tell Your Son . . . : T h e C o n c e p t of the Exodus in the Bible,

Jerusalem 1991, 8 7 - 9 7 .

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Deckwort für das pagane Rom, und das biblische Drama zwischen Esau und Jakob samt seiner Symbolik und seinen Ressentiments wurde als Gleichnis und Ankündigung der weiterbestehenden Konfrontation zwischen Juda und dem heidnischen Rom gedeutet. Nach dieser Auffassung war zwischen den beiden Mächten keine friedliche Koexistenz möglich: „Wenn die eine voll ist, geht die andere zugrunde". 1 3 Anscheinend war R. Akiva der Erste, der den Analogieschluss von Edom auf Rom zog. Er bezog nämlich den Vers „Ein Stern wird aufgehen aus Jakob" (Num 24,17) auf Bar-Kochba, denn in der Fortsetzung heißt es dort „und Edom wird ihm zum Erbe [ . . . ] er tilgt Uberlebendes aus der Stadt", wobei unter .Stadt' Rom verstanden wird. 1 4 Daneben gibt es allerdings auch andere Meinungen, und zwar ausgehend von „zwei Völker in deinem Leib". Im massoretischen Bibeltext ist an dieser Stelle zwar Gojim (.Völker') zu lesen (Qere), aber geschrieben steht Gejim (Ketib), was in der rabbinischen Exegese als .Erhabene' (Ge'im) gedeutet wird. Demnach sind die beiden Brüder stolz, erhaben, sie und die von ihnen verkörperten Nationen: Juda und Rom. Erhabene Brüder können zwar auf Kollisionskurs geraten, aber nach diesem Midrasch sind sie einander ebenbürtig: „der eine ist stolz auf sein Königtum, und der andere ist stolz auf sein Königtum - .zwei Erhabene in deinem Leib' - das sind Hadrian bei den Völkern und Salomo in Israel". 1 5 Jede Nation erhöht den eigenen Ruhm durch eine mythische Erzählung über einen wunderbaren Herrscher in ihrer Frühzeit. Ein anderer, aktueller ausgerichteter Midrasch stellt als Beispiel für brüderliche Partnerschaft den römischen Kaiser Antoninus und den jüdischen Patriarchen Rabbi Jehuda den Fürsten (kurz genannt: Rabbi) heraus: „zwei Völker in deinem Leib - lies nicht Völker (Gojim), sondern Große (Gejim) - dazu sagte Rav Jehuda, Rav habe gesagt: Das sind Antoninus und Rabbi, auf deren Tisch nie der Rettich, der Meerrettich und die Gurken fehlten, weder im Sommerhalbjahr noch zur Regenzeit". 1 6 Wohlstand galt als Zeichen der Größe, und der Patriarch der palästinischen Judenheit wird hier als gleichrangiger Freund des römischen Kaisers dargestellt. Diese gemäßigte Haltung war die im dritten nachchristlichen Jh. vorherrschende, als die Spannung zwischen der römischen Besatzungsmacht und dem unterworfenen Judäa nachgelassen hatte, noch bevor das römische Weltreich christlich wurde. Zu jener Zeit festigte sich auch die Patriarchendynastie davidischer Abstammung, und für einen Augenblick schien es, als ob ein gewisser Selbstbetrug den Widerstand der jüdischen Nation gegen die Unterjochung durch Rom und gegen die eigene politische Machtlosigu 14 15 16

b Megilla 6a. j Taaniot IV 8 (68d). GenR LXIII 7, 685. b Berachot 57b; b Avoda sara IIa.

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Präludium: „ D e r Ältere soll d e m J ü n g e r e n d i e n e n "

keit aufweichen könne. Bei einem anderen Prediger erweckte der Vers von den ,zwei Völkern in deinem Leib' eine Assoziation anderer Art: „Gehasste der Völker in deinem Leib - sämtliche Völker hassen Esau, und sämtliche Völker hassen Israel". 1 7 Hier wird eine eigenartige Gemeinsamkeit zwischen Rom und Judäa festgestellt: Beide sind verhasst. Möglicherweise hat jener Prediger eine Ähnlichkeit zwischen dem militanten Imperialismus der römischen Weltmacht und dem universalistisch-messianischen Anspruch der jüdischen Religion wahrgenommen. Es dürfte kein zweites Mal in der Geschichte des Judenhasses und des Antisemitismus vorgekommen sein, dass die Juden bereit waren, das Gefühl des Verfolgtseins mit den Angehörigen eines anderen Volkes zu teilen, und gar mit den Nachkommen Esaus. Doch vom 4. Jh. an, als das Imperium christlich geworden war, gab es keine Offenheit mehr und keine Aussicht auf Gemeinsamkeit. Die Feindschaft zwischen den beiden .Brüdern' wurde stärker als die brüderliche Beziehung, und sie mündete in den ohnehin überschäumenden Kanal des gespannten Verhältnisses von Christentum und Judentum. Dieser trübe Strom führte das ganze Mittelalter über Hochwasser. Die jüdische Gleichsetzung von Edom mit Rom war von nun an zweischichtig, religiös und politisch. Demnach verstanden manche unter Edom die christliche Kirche, für andere wiederum war Edom eine Bezeichnung für das Weltreich als solches und zwar für das byzantinische Ostrom. So wurde Edom zum mythologischen Gegner Israels bis in die Endzeit: Es wechselten Identität, Name, zeitliche und geographische Fixierung; was blieb, war der seit Urzeiten bedrohlich klingende Name: Edom. Aus christlicher Sicht dagegen waren die Rollen von Jakob und Esau umgekehrt verteilt: Jakob war der Prototyp der Christen, des wahren Israel, und Esau war der Archetyp der Juden, des älteren Bruders, der sein Erstgeburtsrecht an den jüngeren Bruder verliert, nämlich an die Kirche. 18 Der erste Beleg dafür ist die Unterscheidung zwischen dem fleischlichen und dem geistigen Israel bei Paulus im Römerbrief: D e n n nicht alle sind Israeliten, die von Israel sind: auch sind nicht alle Kinder, weil sie Abrahams Same sind. Vielmehr: „in Isaak soll dir Same aufgerufen werd e n " (Gen 21,12) - das ist: nicht die Kinder des Fleisches sind G o t t e s Kinder, sondern die Kinder der Verheißung werden als Same gerechnet. D e n n die Verheißung lautet: „ U m diese Zeit will ich k o m m e n , und Sara wird einen Sohn haben." (Gen 18,10) A b e r nicht nur das, sondern da Rebekka von dem einen, unserm Vater Isaak, schwanger war: ehe die Kinder geboren waren und weder G u t e s noch B ö s e s getan hatten - auf dass der Vorsatz G o t t e s bestünde nach der Wahl, nicht

G e n R ( s . o . A n m . 15). A u s f ü h r l i c h dargestellt ist die christliche E x e g e s e d a z u bei K . Thraede, A r t . „ J a k o b und E s a u " , in: Realenzyklopädie für A n t i k e u n d C h r i s t e n t u m X V I , Sp. 1 1 1 8 - 1 2 1 7 . 17 18

Die spätere Typologie: Edom, d.i. Rom

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v o n W e r k e n her, s o n d e r n v o n d e m B e r u f e r - w a r d zu ihr gesagt: „ D e r Ä l t e r e soll d e m J ü n g e r e n dienen." ( G e n 2 5 , 2 3 ) W i e denn geschrieben steht: „Geliebt habe ich J a k o b und E s a u gehasst." (Mal l , 2 f ) 1 9

Paulus wollte auch den Heidenchristen den Status von Israeliten verleihen. Daher benützte er das biblische Vorbild von Isaaks und J a k o b s Erwählung gegenüber Ismaels und Esaus Verwerfung, um darzulegen, dass von zwei Söhnen aus derselben Familie der eine erwählt und der andere verworfen sein kann. E r entfaltet seine Argumentation in zwei Etappen, wobei die zweite überzeugender ist als die erste. Zunächst argumentiert er mit Ismaels Verwerfung und Isaaks Erwählung; sie waren beide direkte N a c h k o m m e n Abrahams, aber nur der eine von ihnen wurde erwählt, woraus Paulus folgert, dass nicht alle leiblichen Kinder auch für G o t t Kinder sind. Allerdings ist das kein schlüssiger Beweis, denn Ismaels Verwerfung lässt sich damit begründen, dass er nicht der Sohn der Hauptfrau war. Deshalb bringt er anschließend den Fall von J a k o b und Esau: D i e beiden hatten beide Eltern gemeinsam und waren Zwillinge; außerdem wurde die Verwerfung des einen beschlossen, bevor er überhaupt geboren war, konnte also nicht durch dessen böse Taten motiviert sein. Daraus wird geschlossen, dass der Status der Erwähltheit nach der göttlichen Verheißung bestimmt werde und nicht nach der ethnisch-biologischen H e r k u n f t . Diese Ansicht findet sich in Werken christlicher Schriftsteller aus dem 2 . J h . : Barnabas-Brief, Justin Martyr und Meliton von Sardes. 2 0 Bei allen dreien ist die typologische Identifizierung von J a k o b und Esau nur implizit vorausgesetzt; der Schwerpunkt liegt jeweils auf dem paulinischen Erwählungsgedanken, wonach die Kinder des Fleisches nicht notwendig Kinder

Rom 9,6-13; vgl. Gal 4,21-31; Heb 12,16f. Barn X I I I enthält einen deutlichen Hinweis auf die typologische Deutung der Verkündung an Rebekka „zwei Völker sind in deinem Leib"; unmittelbar danach wird die symbolische Bedeutung von Jakobs Segen über Josephs Söhne Ephraim und Manasse behandelt: Dadurch, dass Jakob die Hände überkreuzt, so dass die Rechte auf den Kopf des Jüngeren, Ephraim, kommt und die Linke auf den Kopf des Alteren, Manasse, verleiht er dem Jüngeren den Vorrang vor dem Erstgeborenen (vgl. Gen 48). Bei Justin Martyr steht die Gleichung Rachel = Kirche, Lea=Synagoge - wiederum mit dem Ziel zu zeigen, dass die Jüngere die geliebtere sei. Doch fügt er noch einen neuen Aspekt zu der Gleichung J a k o b = C h r i s t e n hinzu: Jakob wurde von seinem Bruder verfolgt, so wie Jesus von seinen jüdischen Brüdern verfolgt wurde (Dial. 134,3.6). Diese Auslegung hat gewisse Berührungspunkte mit dem oben, Anm. 17, angeführten Midrasch, wo der gemeinsame Nenner von Esau und Israel in ihrer Gehasstheit gesehen wird. Meliton von Sardes erklärt die Gleichsetzung der Juden mit Edom damit, dass Jesu Blut sie rot (hebr. adom) gefärbt habe; dazu G. Cohen in seinem unten (Anm. 26) angeführten Aufsatz (Esau as Symbol), Anm.43. Auch ein jüdischer Midrasch reflektiert die Verbindung von Esau mit roter Farbe: „rötlich (Gen 25,25) [...] er war ganz blutig, und er hasst das Blut der Beschneidung" (Midrasch hagadol, Gen, M. Margulies [Hg.], 439). 19

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Präludium: „Der Ältere soll dem Jüngeren dienen"

der Verheißung sein müssen. Bei Irenäus findet sich die Gleichsetzung von Esau mit den Juden und Jakob mit der Kirche zum ersten Mal deutlich ausgesprochen. Er deutet den Vers von den ,zwei Völkern in deinem Leib' als Hinweis auf die zwei Nationen, die von dem gemeinsamen Vater ausgehen sollten: Juden und Christen. 2 1 So wie Jakob die von seinem Bruder verschmähte Erstgeburt gewann, erhielt die jüngere Nation ( = die Christen) Jesus, den die ältere Nation ( = d i e Juden) verworfen hatte. Jakobs Verfolgung durch seinen Bruder entspreche der Verfolgung der Christen durch die Juden, und wie Jakobs zwölf Söhne im Ausland geboren seien, so sei auch Jesus im fremden Land geboren und habe dort die zwölf Grundpfeiler der Kirche ( = d i e Apostel) aufgerichtet. Irenäus verfolgt die Parallelen zwischen dem Leben des Patriarchen Jakob und der Biographie Jesu noch weiter, aber die überzeugendste Analogie, die er aufzuweisen hat, ist offenbar die von Verfolgung und Leiden, denen beide ausgesetzt waren. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen des Irenäus erhält die berühmte Deutung des ,Aramäers' aus Dtn 26,5 auf Laban, der Jakob nach dem Leben trachtete, in der Pessach-Haggada einen ganz eigenen Sinn (ausführlicher dazu im folgenden Kapitel). Die Kirchenväter des 3.Jh. - Cyprian, Origenes und Tertullian - verfolgen die von Irenäus angegebene typologische Linie weiter. 22 Gegenüber der jüdischen Gleichung Jakob = Juden, Esau = Rom lautet die christliche genau umgekehrt: Jakob = Christen, Esau = Juden. Auffällig ist, dass die beiden parallelen Typologien im gleichen Zeitraum aufkommen. Bereits vor der Christianisierung Roms gab es Christen, die in der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und der Unterwerfung der Juden unter die römische Weltmacht einen Beleg für die Erfüllung der Verheißung vom Älteren, der dem Jüngeren dienen solle, erblickten. Wie Paulus die Figur des jüngeren erwählten Bruders gegenüber dem älteren verworfenen einsetzt, leuchtet ein, denn er will die neuen, nicht aus dem Judentum stammenden Christen als die eigentlich Erwählten darstellen. Dagegen wirkt die Verwendung von Esau in der jüdischen Exegese weniger überzeugend. Dass Esau zum Prototyp des heidnischen Rom geworden sein soll, ist in mehrfacher Hinsicht erstaunlich. Zum einen ist Esau wie Jakob ein Nachkomme Sems; wie also konnten die Rabbinen ihn zum Vorfahren von Rom machen, das doch nach der Völkertafel (vgl. Gen 10) von Japhet abstammt? Zum anderen hatte Rom in den Schriftrollen vom Toten Meer bereits einen Typos erhalten, nämlich die Kittäer; 23 wieso wurde diese Gleichsetzung aufgegeben bzw. wie geht sie mit der neuen zusammen? Außerdem: Irenäus, Adversus baereses IV 21. Tertullian, Adversus Iudaeos I 3-5; Cyprian, Testimonia I 19.20; Origenes, in Gen X I I 3. 23 Gen 10,4; zunächst die Bewohner der zypriotischen Stadt Kittion, im weiteren Sinne Bewohner von mittelmeerischen Küsten. 21

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Die spätere Typologie: Edom, d. i. R o m

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Wie kamen Juden des 3. nachchristlichen J h . auf die Idee, R o m und Judäa als „Brüder" zu betrachten? Wie vertrug sich ein brüderliches Verhältnis mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels? U n d schließlich hat man zwar die Gleichsetzung von E d o m mit R o m dadurch erklären wollen, dass die Idumäer mit den Zerstörern des Zweiten Tempels identifiziert worden seien, 2 4 weil die Edomiter an der Zerstörung des Ersten Tempels beteiligt gewesen seie n ; 2 5 historisch belegt ist jedoch, dass die Idumäer an der Seite der Zeloten gegen die R ö m e r kämpften (bell V 2 4 9 u . ö . ) . W i e konnte die anti-römische Alliance zwischen den Aufständischen und den Idumäern innerhalb von ein bis zwei Generationen soweit in Vergessenheit geraten, dass E d o m mit dem von ihm bekämpften Reich gleichgesetzt wurde? In einem Aufsatz über die Gestalt Esaus in der jüdischen und in der christlichen E x e g e s e 2 6 schildert G e r s o n C o h e n die jüdische und die christliche Auslegung als zwei parallele Züge, die unabhängig voneinander verlaufen seien. Zu Beginn seiner Ausführungen, wo er die christliche Position darstellt, wonach Esau für die J u d e n stehe, schreibt er, die neue christliche Verwendung des Namens Esau sei nicht als Reaktion auf eine jüdische Position entstanden, sondern sei die Weiterentwicklung der Worte des Paulus R o m 9 , 6 - 1 3 ohne Bezugnahme auf die jüdische Deutung von Esau auf das heidnische R o m und allem Anschein nach ohne deren Kenntnis (S. 31). F r ü her im selben Aufsatz spricht C o h e n davon, wie es für die jüdische Seite immer schwieriger geworden sei, sich mit der politischen Realität der H e r r schaft des Christentums seit dem 4 . J h . auseinander zu setzen. Wie ließen sich die Erfolge und die Weltherrschaft des Christentums mit der Annahme vereinbaren, das C h r i s t e n t u m sei Esau, der verworfene ältere Bruder, der J a kob, dem jüngeren, dienen sollte? D i e christliche Propaganda habe es dann auch verstanden, den Spieß umzudrehen: Die christliche Typologie habe sich die jüdische Endzeitsymbolik angeeignet und sie gegen die Juden eingesetzt ( S . 3 0 ) . Somit unterscheidet C o h e n auf der christlichen Seite zwischen der älteren Schriftauslegung bei Paulus und den frühen Kirchenvätern, die eine interne Entwicklung darstelle, und der jüngeren, frühmittelalterlichen Exegese, die in lebhafter Auseinandersetzung mit der jüdischen Symbolik begriffen sei. Die Möglichkeit, dass bereits Paulus jüdische Endzeitvorstellungen in Bezug auf J a k o b und Esau herangezogen haben könnte, hat C o h e n völlig von der H a n d gewiesen. Warum das? D e r G r u n d ist ein schlicht chronologischer: D i e jüdische Gleichsetzung von Esau mit R o m ist erstmals im frühen 2. nachchristlichen J h . belegt, unmittelbar vor Ausbruch des B a r - K o c h b a -

M. David Herr, Art. Edom, in: Encyclopaedia Judaica V I (1972), Sp.379. Vgl. Ps 137,7. 2 6 G . C o h e n , Esau as Symbol in Early Medieval Thought, in: A. Altmann (Hg.), Jewish Medieval and Renaissance Studies, Cambridge 1967, 1 9 - 4 8 , bes. 31. 24

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Präludium: „Der Ältere soll dem Jüngeren dienen"

Aufstands, und zwar in dem oben angeführten Ausspruch von R. Akiva, der ungefähr drei Generationen nach Paulus lebte. So kam Cohen zu der Feststellung, die kurz vor dem Bar-Kochba-Aufstand entstandene jüdischeschatologische Zuweisung habe mit der vorangehenden paulinischen Deutung nichts zu tun, sondern sei ausschließlich durch die harte jüdisch-römische Konfrontation nach dem Scheitern des Großen Aufstands bedingt. Die parallel verlaufende Entwicklung der christlichen Exegese wiederum sieht Cohen als einen innerchristlichen Vorgang, ausgehend von Rom

9,6-13.

Mir scheint jedoch die umgekehrte Entsprechung der christlichen und der jüdischen Auslegung kein Zufall zu sein. Sollten die christliche Behauptung, die Juden seien Esau, und die jüdische Behauptung, Esau sei Rom, wirklich unabhängig voneinander sein? Wie sollte sich in dem Ringen um die eigene Jakob-Identität sowohl bei Juden als bei Christen nicht auch die Frage nach der Esau-Identität der jeweils anderen Seite ergeben haben? Die umgekehrte Möglichkeit, dass nämlich die jüdische Gleichsetzung von Esau und Rom in der Auseinandersetzung mit der christlichen Position entstanden sein könnte, wäre zumindest auch zu erwägen. Cohen untersucht die Esau-Figur in ihrem messianischen Kontext, und in diesem Zusammenhang ist seine These von der Priorität der jüdischen Exegese plausibel.27 Doch ist die Bestimmung, wer Esau sei, noch in grundsätzlicherer Hinsicht relevant, nämlich im Zusammenhang mit der Frage nach der Erwähltheit, die sich aus den frühen christlichen Schriften erhebt. An diesem Punkt scheint das paulinische Denken dem rabbinischen vorangegangen zu sein und dieses sogar in die Defensive gedrängt zu haben. Die göttliche Erwählung stand im Zentrum der jungen christlichen Lehre, und der christliche Versuch, dem Judentum seinen Status als organische Fortsetzung und natürliche Erbin von Jakob und Israel (verus Israel) abzusprechen, veranlasste die jüdische Seite dazu, ihrerseits auf ihrer Identität mit dem biblischen Jakob zu insistieren.

2 7 Nach Meinung etlicher Forscher findet sich deren erster Beleg 4Esr VI 8 - etwa eine Generation vor Rabbi Akiva. Dort erhält der Seher auf seine Frage nach dem Ubergang von der ersten zur künftigen Welt die Antwort: „Von Abraham bis zu Abraham! Denn von ihm stammen Jakob und Esau. Die Hand Jakobs aber hielt im Anfang die Ferse Esaus. Das Ende dieser Welt ist Esau, der Anfang der kommenden Jakob." (J. Schreiner [Hg.]. Das 4. Buch Esra, Gütersloh 1981 [JSHRZ V 4], 334). J . Licht (in seinem hebräischen Kommentar zu 4Esr, Jerusalem 1968, 35) hat dies dahingehend verstanden, dass Esau die derzeitige Welt symbolisiere und Jakob die zukünftige. Doch M.E. Stone bezieht in seinem englischen Kommentar zu 4Esr (Fourth Ezra: A Commentary on the Book of Fourth Ezra, Minneapolis 1990, im Anschluss an zahlreiche Forscher) Esau hier auf Rom, das vierte Reich, mit dessen Abschluss Jakobs Herrschaft einsetzen soll. Diese Auffassung findet sich auch im Midrasch hagadol zu Gen 25,26 (441). Laut G. Cohen, Esau as Symbol (s.o. Anm.26), 21, stehen Jakob und Esau hier sowohl für bestimmte geopolitische Einheiten als auch für historische Epochen, da sie Archetypen göttlicher Liebe bzw. göttlichen Hasses sind.

Die spätere Typologie: E d o m , d. i. R o m

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Ein M i d r a s c h , der direkt auf die paulinische A r g u m e n t a t i o n eingeht, findet sich im Sifre zu D t n : „Denn Anteil des Ewigen ist sein Volk, Jakob sein Erbterritorium" (Dtn 32,9) dies gleicht einem König, der ein Feld hatte, das er Pächtern überließ. Da begannen die Pächter davon zu stehlen. Er nahm es ihnen weg und gab es ihren Söhnen, die wurden noch schlimmer als die ersten. Er nahm es ihnen weg und gab es deren Söhnen, die wurden noch schlimmer als die vorigen. Da ward ihm ein Sohn geboren. Er sprach zu ihnen: Hinaus aus meinem Eigentum, ihr könnt nicht darin bleiben; gebt mir mein Teil, dass ich es in Besitz nehme. Analog: Als unser Vater Abraham auf die Welt kam, ging Minderwertiges aus ihm hervor, Ismael und alle Söhne der Ketura. Als Isaak auf die Welt kam, ging aus ihm Minderwertiges hervor, Esau und sämtliche Fürsten Edoms, die wurden dann schlimmer als die ersten. Doch als Jakob kam, ging nichts Minderwertiges aus ihm hervor, sondern seine sämtlichen Söhne wurden einwandfrei (kascher) geboren. 28 D i e in diesem Midrasch implizit g e m a c h t e Aussage ist befremdlich. D e r Prediger hier geht soweit, den Status von A b r a h a m und Isaak als Verheißungsträger h e r a b z u m i n d e r n und sie . P ä c h t e r n ' gleichzustellen, weil jeweils einer aus ihren N a c h k o m m e n nicht auserwählt war. Verständlich wird diese P o s i t i o n auf dem H i n t e r g r u n d der Ä u ß e r u n g bei Paulus, A b r a h a m (dessen N a m e laut G e n 17,5 ,Vater einer V ö l k e r m e n g e ' b e d e u t e t ) sei der t y p o l o g i sche Vater der H e i d e n c h r i s t e n , denn er sei n o c h in u n b e s c h n i t t e n e m Z u stand von G o t t erwählt worden. D i e s e r M i d r a s c h weist verblüffende Ä h n lichkeit mit dem G l e i c h n i s v o n den b ö s e n Weingärtnern M t 2 1 , 3 3 - 4 4 (vgl. L k 1 9 , 9 - 1 9 ) auf: D o r t wird der S o h n des W e i n b e r g b e s i t z e r s (Jesus) von den P ä c h t e r n (den Vertretern der jüdischen R e l i g i o n ) u m g e b r a c h t , denn sie w o l len sich den Weinberg (das Volk Israel) aneignen. D e r B e s i t z e r des Weinbergs ( G o t t ) bestraft und v e r n i c h t e t die P ä c h t e r und vertraut den Weinberg anderen P ä c h t e r n (den H e i d e n ) an. D i e im Midrasch v e r t r e t e n e Auffassung ist der des Paulus und der Evangelien diametral e n t g e g e n g e s e t z t . 2 9

Dort

wird behauptet, dass die Verheißung J a k o b zuteil geworden sei, und zwar endgültig, da keiner von seinen S ö h n e n verworfen w o r d e n sei. In der F o r t setzung spricht der jüdische Prediger von Israel als dem G e g e n s t a n d ewiger Erwähltheit ( S e g u l l a ) - anders als Paulus, der aus J a k o b s Erwählung und

2 8 Sifre D t n C C X I I , S. Horovitz/L. Finkelstein (Hg.), 353. Untersucht ist dieser Midrasch bei E. Mihaly, A Rabbinic Defense of the Election of Israel, in: H U C A 35 (1964), 1 0 3 - 1 3 5 und bei M. Derret, Studies in the N e w Testament II, Leiden 1978, 9 2 - 9 8 . 2 9 Auf die Ähnlichkeit dieser beiden Gleichnisse hat bereits D. Flusser hingewiesen: D . Flusser, T w o Anti-Jewish Montages in Matthew, in: Immanuel 5 (1975), 3 6 f . Laut D . Stern, Parables in Midrash, London 1991, 1 9 0 - 1 9 7 , handelt es sich bei dem ,Sohn' bei Mt nicht um J e sus, sondern um Johannes den Täufer; doch in der frühchristlichen Literatur wurde das Gleichnis sicher nicht so verstanden, und auch der jüdische Midrasch läuft dieser Deutung zuwider.

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Präludium: „Der Ältere soll dem Jüngeren dienen"

Esaus Verwerfung im Mutterleib zu erweisen sucht, dass die Verheißung nicht notwendigerweise dem Erstgeborenen zufällt. Die eigentliche Frage lautete also, wer die Gleichsetzung mit Jakob für sich in Anspruch nehmen durfte; aus ihrer Beantwortung ergab sich Esaus Identität sekundär. Die nach-paulinische christliche Gemeinde, die sich selbst als die Erbin Jakobs betrachtete, hatte auch eine überzeugende Identifizierung für die Figur des Bruder/Verfolgers anzubieten: Die Juden waren ihre älteren Brüder, und sie verfolgten die frühen Christen. Noch als das Christentum zur Staatsreligion geworden war, blieb ihr jenes alte Trauma, wovon die neutestamentlichen Schriften zeugen. Die jüdische Seite dagegen, die ihrerseits die Jakob-Identität für sich reklamierte, hatte demgegenüber eher Schwierigkeiten, die Identität von Esau, dem älteren Bruder und gefährlichen Verfolger, zu bestimmen. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass die Juden die ihnen unwillkommene christliche Typologie verinnerlicht hatten, wird verständlich, wie es dazu kam, dass die Besatzungsmacht Rom zur mythischen Nachfolgerin von Esau/Edom wurde. Jakob verkörpert eine doppelte Existenzform: in der Gegenwart Leiden und Verfolgtheit durch seinen Bruder, doch für die messianische Zukunft ist ihm verheißen, dass der Verfolger ihm Untertan werden soll. Vor der Zerstörung des Zweiten Tempels passte diese Vorstellung zur Position der Christen, danach zum Status der Juden. Die Konkurrenz zwischen Juden und Christen ging um die Gleichsetzung mit dem Verfolgten, aus der sich die jeweilige Identität des Verfolgers von selbst ergab. Nach der Tempelzerstörung fand sich die jüdische Apologetik vor einem schweren Dilemma: Wie können die Juden weiterhin als Gottes geliebte Kinder gelten, nachdem ihre zentrale Kultstätte zerstört ist? Dazu wurde das bedrohliche Motto des Gegners aufgenommen und umgekehrt. Die jüdische Antwort lautete, die Erfüllung der göttlichen Verheißung, wonach der Ältere dem Jüngeren dienen solle, stehe noch aus; die derzeitige Wirklichkeit sei eine vorläufige, Isaaks Segen über Jakob beziehe sich auf die Zukunft, auf das messianische Zeitalter, nach dem Untergang von Rom, dem Jakob zeitweilig unterworfen sei. Demnach wurde Edom als typologische Benennung für Rom von den Juden in dem Bemühen gewählt, die christliche Auslegung zu widerlegen, wonach dem jüdischen Volk die Erwählung mit der Tempelzerstörung entzogen worden sei. Darin ist keine direkte Polemik gegenüber dem Christentum zu sehen, sondern eine apologetische Reaktion, die mit Hilfe der bei Juden und Christen gleichermaßen üblichen religiösen Sprache zu erklären sucht, weshalb Juda verknechtet ist. Zum Ausdruck kommt dieses dialogische Gegenüber von christlicher Kritik und jüdischer Apologetik in einer Predigt des Bischofs Ambrosius von Milano, der die Unterschiede zwischen den Söhnen ebenfalls auf den verschiedenen Charakter der Eltern zurückführte. Die mütterliche Figur, Rebekka, steht dem jüngeren und weicheren Sohn nahe, der gestrenge Isaak

Die versöhnlichere Sicht der neueren Forschung

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dagegen neigt dem stärkeren Sohn zu und folgt dem natürlichen Recht des Altesten auf die Erstgeburt. D e r Vater verleiht Würde, die M u t t e r Liebe. J a kob erhielt die Kleider seines Bruders, weil er klüger war als dieser. Rebekka sah in diesem Gewand ein Symbol für die Kirche, sie gab dem jüngeren Bruder das Gewand des Alten Bundes, der Prophetie, das Gewand des Priestertums und das Gewand des Königtums von David und Salomo, von Ezechiel und H o s e a [ . . . ] . Die Christen wussten von der erhaltenen Kleidung Gebrauch zu machen, im Gegensatz zum jüdischen Volk, das sie erhalten, aber nicht benutzt hatte. Bei den Juden hatte das Gewand im Schatten gelegen, vernachlässigt und vergessen [ . . . ] . D o c h die Christen legten es an, und es erstrahlte in hellem L i c h t . 3 0

In einem jüdischen Midrasch dagegen ist es Esau, der sich .verkleidet': Rabbi A c h a im N a m e n von R. H u n a : D e r böse Esau wird dereinst seinen Mantel umlegen und sich zu den Gerechten ins künftige Paradies setzen, doch der Heilige gelobt sei E r lässt ihn hinausschleppen. 3 1

In beiden Texten, dem jüdischen wie dem christlichen, wird Esaus Kleidung symbolisch gedeutet. Aus christlicher Sicht stehen Esaus Kleider für das, was Esau verkörpert: für den alten Bund, der aufgehoben und an den jüngeren Bruder übergegangen ist. D e r jüdische Exeget sieht Esaus Kleidung als ein Täuschungsmanöver, als Esaus Versuch, sich als legitimen Juden auszugeben, doch G o t t entlarvt den Betrug.

4 Die versöhnlichere Sicht der neueren Forschung Wer sich auf die typologische Betrachtungsweise früherer Generationen einlässt und deren Verhalten einen gewissen Vorbildcharakter zugesteht, kann aus dem Ende des Streits der beiden feindlichen Brüder etwas lernen. Im Unterschied zu anderen Brüderpaaren im Buche Genesis, deren Rivalität in M o r d (Kain und Abel) oder Vertreibung (Ismael und Isaak) endete, verstanden es Esau und J a k o b , einander zu verzeihen und zu einer Aussöhnung zu gelangen nach Jahrzehnten von Neid, Abbruch der Beziehungen und Exil. Als J a k o b aus dem Exil ins Land seiner Väter zurückkehrte, wurde E d o m wieder Israels Bruder. O b wohl auch der christlich-jüdische Streit sich nach über 1900 Jahren einem versöhnlichen Abschluss nähert? Während dieser ganzen langen Zeit wurde er von christlicher Seite unter zwei Voraussetzungen geführt: Zum

Ambrosius, De Jacob et via beata II 9,2. j Nedarim III 8 (38a); zu dieser Predigt im Zusammenhang der jüdisch-christlichen Polemik und der Frage nach der Identität von Jakob und Esaù s. M. Simon, Verus Israel, London 1986, 187-189. 10 31

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Präludium: „Der Ältere soll dem Jüngeren dienen"

einen galt die physische Existenz der Juden innerhalb der christlichen Gesellschaft als gewährleistet; zum anderen wurden das Exil des jüdischen Volkes und die Zerstörung seines religiösen und politischen Zentrums im Land Israel als Strafe für die Kreuzigung Jesu begriffen. Beide Prämissen sind innerhalb eines Jahrzehnts zusammengebrochen. Seit 1945 ist die christliche Welt mit Schrecken und Ausmaß der „Endlösung" konfrontiert worden, und im Jahre 1948 wurde der Staat Israel gegründet. Der brutale Ausbruch des mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten lief allem zuwider, was die Kirche im Anschluss an den Kirchenvater Augustinus an Toleranz gepredigt hatte, und nur auf der Grundlage solcher Toleranz hatte der traditionelle christlich-jüdische Disput stattfinden können. Mit einem Schlag war die antijüdische Position der Kirche verwerflich und illegitim geworden, unter anderem deshalb, weil der Kirche eine indirekte Verantwortung für den Ausbruch jenes zügellosen Judenhasses aufgebürdet wurde. Durch die Errichtung des Staates Israel und die Erneuerung eines autonomen jüdischen Staatswesens war die christliche Deutung von Exil und Zerstörung auf jüdischer Seite irrelevant geworden. Es dauerte auch keine zwei Jahrzehnte, bis Papst Paulus VI das Heilige Land besuchte, und am 28. Oktober 1965 wurde vom Zweiten Vatikanischen Konzil das Okumenismus-Dekret Nostra Aetate verabschiedet, worin das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nicht-christlichen Religionen bestimmt wird; es spricht die Juden von der Schuld an der Kreuzigung Jesu frei und erkennt ihren Status als .auserwähltes Volk' an. Unsere ist die erste Forschergeneration, die den christlich-jüdischen Streit aus einer gewissen Distanz betrachten kann und darf. Somit ist das vorliegende Buch im post-polemischen Zeitalter entstanden, was es möglich macht, Dinge laut zu sagen, die bisher allenfalls hinter vorgehaltener Hand oder im stillen Kämmerlein mitgeteilt wurden. Meine akademischen Lehrer etwa, die in Europa zwischen den Weltkriegen aufgewachsen waren, hätten es nicht schreiben können. Wenn alles gut geht, wird die vorliegende Studie das bieten, was ein Angehöriger meiner Generation wahrzunehmen vermag, so wie die Veröffentlichungen vergangener Forschergenerationen das widerspiegeln, was unter den damaligen Umständen zu leisten war. Insofern ist es kein Wunder, dass wir über den Horizont unter Vorgänger hinauswachsen können und besser als sie die Kehrseite jeder Polemik erkennen - den Dialog und die stillschweigenden Übereinkünfte. Freilich hat auch die ältere historische Forschung parallele Erscheinungen in Judentum und Christentum beobachtet; doch scheint die Aufmerksamkeit eher auf gemeinsame soziale und theologische Phänomene gerichtet gewesen zu sein, wohingegen man vor der Uberprüfung etwaiger Berührungspunkte im Bereich von religiösen Symbolen und Ritualen eher zurückschreckte. Symbolik und Liturgie gelten als Inbegriff der Besonderheit jeder Religion, deshalb waren sie im Allgemeinen aus der vergleichenden Untersuchung aus-

D i e versöhnlichere S i c h : der neueren F o r s c h u n g

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gespart, um das Bewusstsein der religiösen und kulturellen Besonderheit nicht zu beeinträchtigen. Die ältere historische Forschung auf jüdischer Seite hat in der Regel am D o g m a der Ursprünglichkeit des J u d e n t u m s festgehalten, und die Sorge vor der Aufdeckung etwaiger Parallelen, aus denen sich ergeben könnte, dass einiges aus der Symbolsprache der Umwelt ins J u dentum übernommen worden sei, saß sehr tief. In diesem Buch suche ich mehr nach der Gegenseitigkeit als nach der Ursprünglichkeit. Wenn eine Kultur zu ihrer Umwelt eine dialogische Beziehung unterhält, tut das ihrer Eigenart und Echtheit nicht notwendig Abbruch. U n d gerade in der aschkenasischen Judenheit, die früher als eine H o c h b u r g der Verschlossenheit und Treue zur internen religiösen Tradition galt, hat sich eine tiefgreifende, wenn auch hassgetränkte Beziehung zur christlichen Schwester-Religion entfaltet. Hieraus erwächst eine weitere Grundvoraussetzung der vorliegenden Arbeit: Wo immer Ähnlichkeiten zwischen J u d e n t u m und Christentum zu beobachten sind, dürfte es sich um christlichen Einfluss auf das J u d e n t u m handeln und nicht umgekehrt, es sei denn, die jüdischen Wurzeln des betreffenden Phänomens liegen nachweislich früher als die christlichen. Wenn jedoch der jeweilige Primat im jüdischen Bereich aus den Q u e l l e n nicht eindeutig hervorgeht, gehen wir davon aus, dass J u d e n die Erscheinung übernommen und sich zu eigen gemacht haben. D e r Grund für diese Annahme ist ganz einfach: Die Kultur der Minderheit neigt dazu, sich Elemente der Mehrheitskultur anzueignen. Theologisch betrachtet mag das Verhältnis der beiden Religionen untereinander gleichgewichtig sein, aber der Historiker kann nicht umhin, die sowohl relativ als auch absolut unterschiedlichen Dimensionen der beiden Schwester-Religionen in Betracht zu ziehen. Zweifellos kam dem J u d e n t u m eine wichtige Rolle bei der Herausbildung des christlichen Selbstbewusstseins im mittelalterlichen Europa zu, da durch den J u d e n die Grenzen des ,Anderen' abgesteckt wurden, aber der Einfluss des J u d e n t u m s auf die Festlegung der religiösen und intellektuellen Tagesordnung jener Zeit darf auch nicht überbewertet werden. Die Juden erfüllten stets eine wichtige Funktion im abendländischen Bewusstsein, weit mehr als ihnen zahlenmäßig zukam, aber die kulturelle, wirtschaftliche, soziale und politische Tagesordnung wurde doch von der Mehrheit der Minderheit vorgeschrieben und nicht umgekehrt. Die Bereitschaft, die Wahrscheinlichkeit einer einseitigen christlichen Beeinflussung des J u d e n t u m s zur Arbeitsgrundlage zu machen, ist auf einem anderen kulturellen Boden gewachsen als auf dem der älteren Forschung, die auf die jüdische .Authentizität' pochte. 3 2 Demgegenüber sieht die dia-

1 2 Eine solche H a l t u n g ist etwa in den F o r s c h u n g e n von I . F . Baer zu erkennen, wie ich in ein e m A u f s a t z a u f g e z e i g t habe: Y . Baer and the Search for Authentic J u d a i s m , in: D . N . M y e r s /

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Präludium: „ D e r Ältere soll d e m J ü n g e r e n d i e n e n "

logische Einstellung bei der jüdischen Gemeinschaft mitten im christlichen Europa Werte, Körpersprache, Ritual und Festzeit der Umwelt aufgenommen und integriert. Darin besteht auch die Besonderheit der aschkenasischen Judenheit, mit der sich dieses Buch überwiegend beschäftigt. Wenn die J u d e n in Spanien einen Faktor innerhalb einer bunten, heterogenen Umwelt bildeten, so waren die aschkenasischen J u d e n das einzige fremde Element in einer weitgehend homogenen U m g e b u n g . Zugehörigkeit zur einzigen Minderheitsgruppe verlangt hohe Trennmauern - und auf der offenkundigen, ausgesprochenen Ebene hat die aschkenasische Judenheit in der Tat eine von allem Christlichen streng geschiedene Welt geschaffen. Aber gerade wer sich so intensiv im Schatten einer dominanten Religion aufhält, ist dem Einfluss der Mehrheitskultur so stark ausgesetzt, dass auch die höchsten Trennwände durchlässig werden. Wenn der christliche Einfluss auf das J u d e n t u m so erheblich war, wie k o m m t es dann, dass die Unterschiede zwischen aschkenasischem und nordafrikanischem oder babylonischem J u d e n t u m so relativ gering sind, obwohl letztere Zentren in muslimischer Umwelt lagen? D a s s die grundlegenden religiösen Texte und Zeremonien, wie sie in jüdischen Gemeinden unter der Herrschaft des Islam bzw. des Christentums üblich waren, letzten Endes doch recht ähnlich sind? Darauf habe ich eine ganz einfache Antwort: Der christliche Einfluss auf das J u d e n t u m stammt nicht erst aus dem Mittelalter. Wie die aschkenasische so hat auch die babylonische und die nordafrikanische Judenheit eine Religion geerbt, die in Ablehnung der vom Christentum angebotenen Alternativ-Reaktion auf die Krise der Tempelzerstörung historisch geworden war. Die Auseinandersetzung mit dem Christentum ist die treibende Kraft hinter dem J u d e n t u m von Midrasch und Talmud. 3 3 Dessen intensive Beschäftigung mit erneuter Definition von J u d e -

D . B . R u d e r m a n ( H g . ) , T h e J e w i s h Past Revisited: Reflections on M o d e r n J e w i s h H i s t o r i a n s , N e w H a v e n / L o n d o n 1998, 7 7 - 8 7 . D a s tut Baers außerordentlichen L e i s t u n g e n keinen A b bruch; er hat es wie k a u m ein anderer H i s t o r i k e r verstanden, parallele Erscheinungen in J u d e n t u m und C h r i s t e n t u m a u f z u s p ü r e n ; allerdings neigte er dazu, die Ähnlichkeit auf christliche B e e i n f l u s s u n g durch das J u d e n t u m z u r ü c k z u f ü h r e n u n d nicht u m g e k e h r t . Ein extremer Vertreter des jüdischen U r s p r ü n g l i c h k e i t s a n s p r u c h s ist E . Fleischer, etwa in seinem Beitrag Early H e brew Liturgical P o e t r y in Its Cultural Setting (hebr.), in: Y. G e i g e r ( H g . ) , M . S t a r o s t a M e m o r i al Lectures, J e r u s a l e m 1994, 6 3 - 9 7 . 3 3 D a v o n a u s g e h e n d ist das klassische Werk von H . S t r a c k / P . Billerbeck, K o m m e n t a r z u m N e u e n Testament aus Talmud und Midrasch, I - I V , M ü n c h e n 1 9 2 2 - 1 9 2 8 , entgegen der Lesart seiner K o m p i l a t o r e n zu nutzen. D i e dort z u s a m m e n g e s t e l l t e n Parallelen zwischen d e m T a l m u d und d e m N e u e n Testament sind nicht unbedingt auf den Einfluss der im Talmud dargestellten Kulturwelt auf das N e u e Testament z u s t a n d e g e k o m m e n , sondern eher umgekehrt. Z u r Bezieh u n g zwischen d e m N e u e n Testament und der talmudischen Literatur s. G . Vermes, J e w i s h Literature and N e w Testament E x e g e s i s : Reflections on M e t h o d o l o g y , in: J J S 31 (1982), 3 6 1 - 3 7 6 . D i e s e r A u f s a t z ist von einem N e u t e s t a m e n t i e r geschrieben, der die N ü t z l i c h k e i t des Vergleichs zwischen N T und der talmudischen Literatur dartun will, wobei er allerdings nicht mit der

Die versöhnlichere Sicht der neueren Forschung

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sein und J u d e n t u m geht zusammen mit der Gegendefinition, wer nicht als J u d e gelten könne. Diese Positionsbestimmung war besonders gegenüber denjenigen wichtig, die sich selbst als Juden betrachteten, von den Gelehrten der Mischna und des Talmud jedoch wegen ihres Glaubens an Jesu Messianität abgelehnt wurden. Selbstdefinition ist ein weiter und offener P r o zess, der nicht nur durch automatische Leugnung der anderen zustande k o m m t , sondern auch durch Ü b e r n a h m e von neuen religiösen Ideen, Ritualen und Symbolen. D i e Vorgänge der Aneignung und der Streit darum markieren die Welt der antichristlichen Polemik während des rabbinischen Zeitalters. Im Mittelalter dagegen gewann die gegenseitige Leugnung die O b e r hand. Dafür m ö c h t e ich drei Beispiele anführen, die jeweils an die Grundfesten der religiösen Existenz rühren: den heiligen O r t , die heilige Zeit und den heiligen Text. D e r Berg Zion, heutigen Juden wie Christen bekannt als die Bezeichnung für den südwestlichen Hügel der Jerusalemer Altstadt, ist ursprünglich ein christlicher (oder judenchristlicher) N a m e . Er wurde eingeführt, um die Heiligkeit des Tempelbergs nach der Zerstörung des Zweiten Tempels auf einen Alternativ-Berg zu übertragen, und zwar den O r t , wo König David, der P r o t o t y p Jesu, begraben sein soll. 3 4 U n d siehe da, auch Juden verwenden diese christliche Nomenklatur, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass „Berg Z i o n " biblisch den Tempelberg bezeichnete. Sie haben die christliche Bestimmung dieses O r t e s übernommen, denn ihre antichristliche Position gründete nicht nur in Leugnung der Gegenseite, sondern auch in Aufnahme und Aneignung von deren Uberlieferungen, Benennungen, Ritualen und Symbolen. Ähnliches gilt für die Entwicklung der Feste. D i e Wahrscheinlichkeit ist groß - wobei zu diesem wichtigen T h e m a noch viele Untersuchungen anzustellen sind - dass die jüdische liturgische Zeit nicht unwesentlich von den Festzeiten des christlichen Kirchenjahrs beeinflusst worden ist. In der vorliegenden Studie geht es in erster Linie um das Pessach-Fest, von dem im Folgenden viel die Rede sein wird, aber die Parallelität lässt sich ebenso leicht am Status des Wochenfests im Vergleich zu Pfingsten illustrieren. Dass das Wochenfest unter den Rabbinen zum Fest der Tora-Verleihung auf dem Sinai geworden ist, ereignet sich parallel zum H e r a b k o m m e n des Heiligen Geistes auf die Apostel am fünfzigsten Tag nach J e s u Kreuzigung, wie Apg 2 berichtet. Wenn hier keine einseitige Beeinflussung vorliegt, so ist doch wenigstens parallele Entwicklung anzunehmen, um die begriffliche

Möglichkeit rechnet, dass die rabbinische Welt direkt durch das N T beeinflusst worden sein könnte. 34 O . Limor, Christian Sanctity - Jewish Authority (hebr.), in: Cathedra 80 (1997), 3 1 - 6 2 ; Y . Zafrir, Zion - T h e South-Western Hill and Its Role in the Development of the City of J e r u salem During the Byzantine Period (hebr.), Diss. Jerusalem 1976, 6 f .

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Präludium: „Der Ältere soll dem Jüngeren dienen"

Nähe zu erklären, wo der Berg Sinai mit dem Berg Zion (wo der Heilige Geist auf die Apostel herabgekommen sein soll) in Konkurrenz tritt. 35 Berühmt ist der Midrasch, der davon berichtet, wie Gott den Völkern der antiken Welt nacheinander die Tora angeboten habe, doch die hätten sie abgelehnt, so dass schließlich Israel sie erhielt. 36 Diese Deutung will die christliche Behauptung widerlegen, die neue Tora sei dem physischen Israel weggenommen und dem geistigen Israel gegeben worden. Auf derselben Linie liegt das rabbinische Verbot, die mündliche Lehre schriftlich zu fixieren. 3 7 Hier liegt eine bewusste, ganz und gar ideologische Reaktion auf die Sorge vor, die sogenannte mündliche Lehre könnte universalisiert und aus ihrem innerjüdischen Kontext gelöst werden, wie es der schriftlichen Uberlieferung des Judentums durch die Kanonisierung der Septuaginta im christlichen Bereich widerfahren war. Diese Möglichkeit, die in einem weiter unten zu behandelnden Midrasch ausdrücklich angesprochen wird, 3 8 präsentiert das rabbinische Schrifttum als ein Werk, das um die von der gewaltigen Bedrohung durch die konkurrierende SchwesterReligion sehr wohl weiß. Wie sonst ließe sich das singuläre Phänomen erklären, dass eine durch und durch belesene Uberlieferung darauf insistiert, sich als mündlich zu definieren, wenn nicht durch den Kampf um die Existenz und den alleinigen Besitz eben dieser Überlieferung? Von daher ist es nicht erstaunlich, dass die Unterschiede zwischen aschkenasischen und sefardischen Juden im Mittelalter nicht so sehr durch deren christliche bzw. muslimische Umwelt bestimmt scheinen. Das mittelalterliche Judentum war auch in den islamisch regierten Ländern die Verlän-

35 Vgl. Gal 4,24-26; vgl. auch unten, Kap. III Anm. 75. Zur parallelen Entwicklung der beiden Feste s. Moshe Weinfeld, The Uniqueness of the Decalogue and Its Place in Jewish Tradition, in: B.Z. Segal (Hg.), The Ten Commandments in History and Tradition, Jerusalem 1985, 40-44. " Sifre Dtn C C X L I I I (L. Finkelstein, [Hg.]), 395-397: „Als der Heilige gelobt sei Er sich offenbarte, Israel die Tora zu verleihen, erschien er nicht nur Israel, sondern allen Völkern. Zuerst ging der zu den Nachkommen Esaus. Er fragte sie: Nehmt ihr die Tora an? Sie fragten: Was steht darin geschrieben? Er antwortete: „Du sollst nicht töten". Sie sprachen: Im tiefsten Grunde sind diese Leute und ihr Stammvater Mörder, wie es heißt „die Hände - Esaus Hände" (Gen 27,22), „durch dein Schwert sollst du leben" (Gen 27,40)." Eine entsprechende A b f u h r soll Gott bei den Ammonitern und Moabitern (den Nachfahren Lots) erfahren haben, ebenso bei den Ismaeliten, bis am Ende Israel sich als das einzige Volk erwies, das bereit war, die Tora auf sich zu nehmen. 37 b Gittin 60b: „Mündlich überlieferte Dinge darfst du nicht schriftlich mitteilen"; ebd.: „Der Heilige gelobt sei Er hat den Bund mit Israel nur um der mündlich überlieferten Dinge willen geschlossen". Tanchuma, Ki tissa X X X I V : „Der Heilige gelobt sei Er sprach zu den G ö t zendienern: Ihr behauptet, meine Kinder zu sein? Davon weiß ich nichts. Vielmehr: Die meine geheime Überlieferung besitzen, die sind meine Kinder; und was ist diese geheime Uberlieferung: die Mischna, die mündlich gegeben wurde". Diese Beispiele stehen für viele andere. 38 Tanchuma, Ki tissa, X X X I V .

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gerung einer langen antichristlichen Tradition, die sich genötigt sah, ihre eigene religiöse Identität durch Leugnung der alternativen Möglichkeit zu definieren. J u d e sein bedeutete im tiefsten Sinne die Etablierung einer religiösen Alternative zum Christentum, und umgekehrt. O d e r um mit J a k o b Katz zu sprechen: Damit die eine Religion Wahrheit sein konnte, musste die andere Lüge sein. 3 9 Es war offenbar nicht so, dass die Juden in islamisch regierten Ländern von der Auseinandersetzung mit dem Christentum dispensiert gewesen wären. D i e früheste jüdische Streitschrift gegen das C h r i s t e n t u m ist in islamischen Ländern entstanden, 4 0 denn auch dort ergab sich die dringende Notwendigkeit, sich gegen die christliche Alternative zu behaupten. Das ist bereits in vorislamischer Zeit zu beobachten; auch im persisch-sassanidischen Reich und in einer zoroastrisch-religiösen U m g e b u n g stellte das C h r i s t e n t u m für die Juden eine ernsthafte Herausforderung dar. 4 1 Wie wir noch sehen werden, ist die Sammlung von Uberlieferungen über die Tempelzerstörung im babylonischen Talmud merklich reicher an verdeckter antichristlicher Polemik als ihr Gegenstück in der palästinischen Tradition, wo die antichristlichen Motive schwächer ausgeprägt und weniger offenkundig sind. D e r erhebliche D r u c k , den die byzantinische Herrschaft zweifellos auf die jüdische Gemeinschaft in Palästina ausübte, tut der Heftigkeit des Kampfes, den nestorianische Christen und Juden in Babylonien gegeneinander führten, keinen Abbruch. Insofern ist es wohl kein Zufall, dass das N e u e Testament das einzige nichtjüdische Literaturwerk ist, das in der Literatur von Talmud und Midrasch zitiert wird, und zwar ausgerechnet im babylonischen Talmud. 4 2

5 Mutter - Tochter - Schwester Die Polemik, um die es uns hier geht, war nicht unbedingt eine offene und direkte. In ihrer Einleitung zu der frühesten auf uns gekommenen antichristlichen Schrift, der Polemik des Bischofs Nestorius, schreiben die H e rausgeber, Sarah Stroumsa und Daniel J . Lasker: „Es gibt zwar Belege für ein gewisses jüdisches Interesse am Christentum, aber ein Blick über die in den ersten acht christlichen J h . geführten Disputationen lehrt doch, dass die Tochter-Religion für die Juden kein zentrales Problem darstellte." 4 3

J . Katz, 'Et lachqor weEt lehitbonnen, Jerusalem 1999, 54. D.J. Lasker/S. Stroumsa (Hg.), The Polemic of Nestor the Priest, I—II, Jerusalem 1996. 41 Dazu N. Koltun-Fromm, A Jewish-Christian Conversation in Fourth-Century Persian Mesopotamia, in: JJS 47 (1996), 45-63. 42 bSchabbat 116a-b. 45 Lasker/Stroumsa (s.o. Anm.40), I, 14. S. auch O. Limor, Judaism Looks at Christianity: n

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Dies ist eine getreue Wiedergabe des mainstream in jenem Forschungsbereich, wie auch aus Äußerungen von Anna Abulafia hervorgeht. Sie meint, jede Untersuchung der Beziehungen zwischen Judentum und Christentum müsse davon ausgehen, dass das Christentum aufgrund seines Status als Tochterreligion des Judentums viel von seiner Kraft aus eben den Quellen beziehe, welche die Juden als ihr Eigentum beanspruchten. 4 4 David Berger hat darauf aufmerksam gemacht, dass auf christlicher Seite seit der Antike eine große Zahl von antijüdischen Schriften verfasst wurde, wohingegen auf jüdischer Seite keine antichristlichen Schriften vor dem 12. Jh. bekannt seien. Dieses Ungleichgewicht erklärt er damit, dass die Juden keinen Drang verspürt hätten, polemische Literatur gegen das Christentum zu schreiben. Es sei nicht zu erwarten, dass Juden sich die Mühe machen würden, die christlichen Vorwürfe zurückzuweisen, es sei denn an Orten, wo das Christentum für sie eine Bedrohung darstellte. 4 5 Demgegenüber schreibt Jehuda Liebes in seiner Abhandlung über etwaige christliche Einflüsse auf das Buch Sohar: „Auch durch den Charakter der christlichen Religion - der Tochter (oder m.E. richtiger: der Schwester) des Judentums, die nämlich nur eine andere Interpretation der gemeinsamen biblischen Religion ist - wurde gegenseitige Beeinflussung der beiden Religionen sehr erleichtert". 4 6 In der Tat gibt es gute Gründe, welche die Revision der gängigen Auffassung, wonach das Judentum die Mutter-Religion sei, rechtfertigen. Erstens sind die Bezeichnungen Mutter und Tochter problematisch, wo es um das Verhältnis des Christentums zum rabbinischen J u dentum geht, denn beide sind Tochter-Religionen jener templozentrischen jüdischen Religion bis zum Untergang des Zweiten Tempels. 4 7 Die Frage, welche von beiden den gewichtigeren Anspruch auf wahrhafte Kontinuität erheben kann, ist theologisch umstritten, und es scheint mir zweifelhaft, wie weit ein Historiker (zumal wenn er selbst Christ oder Jude ist) zur Stellungnahme befugt ist. Zweitens dürfen wir uns nicht mit der Suche nach ausdrücklicher Polemik begnügen, gerade weil die Herausforderung des Christentums an das nachbiblische Judentum nach der Tempelzerstörung so ernsthaft war. W i r haben tatsächlich keine von Juden verfassten polemischen Schriften aus der Zeit vor dem 9. Jh. vorliegen, aber der WirkungsThe Polemic of Nestor the Priest and Sefer Toldot Yeshu (hebr.), in; Pe'amim 75 (1998), 109-125. 44 A.S. Abulafia, Christians and Jews in the Twelfth Century Renaissance, London/New York 1995,63. 45 D. Berger, The Jewish-Christian Debate in the High Middle Ages, Philadelphia 1979, 7. 46 Y. Liebes, Christian Influences in the Sohar, in: Immanuel 17 (1983-84), 43. 47 So bereits ausgeführt bei A.F. Segal, Rebecca's Children: Judaism and Christianity in the Roman World, Cambridge (Mass.) 1986. Unter den neueren Forschungen zur gemeinsamen liturgischen und polemischen Sprache bei Juden und Christen ist das Buch von L.A. Hoffman zu nennen: Covenant of Blood. Circumcision and Gender in Rabbinic Judaism, Chicago 1996.

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bereich der Polemik ist erheblich weiter als jene literarische Gattung, welche den N a m e n polemische Literatur trägt. Wer es versteht, auf U n t e r t ö n e zu horchen, wird zahlreiche Nachklänge von tendenziösen Bemerkungen vernehmen, die an die Adresse von Ketzern gerichtet waren. D i e klassische Forschung neigt dazu, den Komplex der christlich-jüdischen Beziehungen überwiegend mit Hilfe der als solche ausgewiesenen polemischen Literatur zu untersuchen. Aber die polemische Literatur ist das Sprachrohr der offiziellen Theologie; sie soll die Reibungspunkte zwischen den beiden Religionen deutlich herausstellen. D o c h selbst die schärfste und härteste Polemik verlangt eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Grundlage, von der aus diskutiert werden soll. Daher können wir unter der theologischen und emotionalen Spannung überaus verborgene und komplexe Schichten von Vertrautheit miteinander, von Gemeinsamkeit und sehr großer kultureller Ähnlichkeit ausmachen. Außerdem ist zu bedenken, dass nicht alles, was uns heutzutage als .christlich' erscheint, so auch in den Augen der Zeitgenossen betrachtet wurde. D i e „christliche" Kult- und Ritualsprache der Mehrheitskultur m o c h t e aus der Sicht der Minderheitskult neutral und universal wirken, woraufhin sie ins jüdische Ritual aufgenommen und sozusagen eingemeindet werden konnte. In akademischen Untersuchungen der letzten Jahre bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass Juden im christlichen Europa sich ungeachtet der offiziellen und hervorstechenden ideologischen Barrieren die Welt der Sprache und Texte ihrer U m w e l t zu eigen gemacht hatten. Einige dieser F o r s c h u n gen lassen die aschkenasische Judenheit in neuem, ungewohntem Licht erscheinen. Ivan G . Marcus hat gezeigt, wie jüdische Zeremonien der Einführung von Kindern ins schulische Lernen unverkennbar von christlichem Brauchtum beeinflusst sind. 4 8 J e r e m y C o h e n hat gezeigt, wie neutestamentliche Gestalten, liturgische Motive oder Wertvorstellungen von Kreuzfahrern in die Erzählungen der jüdischen Märtyrer des Jahres 1096 Eingang gefunden haben. 4 9 Elliot H o r o w i t z hat auf die Faszination aufmerksam gemacht, die das Kreuz auf Juden ausübte, und auf die wichtige Rolle hingewiesen, die es im Unterbewussten der jüdischen Symbolik gespielt hat, weit mehr als aus den einschlägigen Forschungsarbeiten der älteren Generation zu entnehmen war. 5 0 Auch die Untersuchungen von O r a Limor und Elchanan Reiner zu Heiligen Stätten bei J u d e n und Christen decken die Tendenz auf, bei gleichzeitiger Leugnung des Gegners dessen Symbolik

48 I.G. Marcus, Rituals of Childhood, New Haven 1996. Für die Integration christlicher Symbole in die jüdische Kultur hat Marcus den Terminus ,inward acculturation' geprägt. 49 J . Cohen, The Persecutions of 1096, From Martyrdom to Martyrology: The Sociocultural Context of the Hebrew Crusade Chronicles (hebr.), in: Zion 59 (1994), 169-209. 5 0 E. Horowitz, Medieval Jews Facing the Cross (hebr.), in: Y.T. Assis u.a. (Hg.), Jehudim mul ha-Zelav: Geserot TTNU beHistoria uveHistoriographia, Jerusalem 2000.

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ganz und gar zu adaptieren. 51 Diese Studien haben überzeugend dargetan, dass die Beeinflussung von der christlichen Seite auf die jüdische verlief und nicht umgekehrt. Erscheinungen wie die Wiederentdeckung des Landes Israel durch die Judenheit des christlichen Europa im 12. Jh., das Wohnen im Heiligen Lande und die Wallfahrt dorthin als religiöse Gebote sind deutlich aus den geistigen Strömungen ihrer Zeit hervorgegangen, und dies war die Zeit, als christliche Kreuzfahrer sich für das nahezu vergessene Heilige Land begeisterten und sich dorthin in Bewegung setzten. Was ansteht, ist offenbar eine gründliche Revision in unserer historischen Vorstellung von der geistigen und seelischen Welt der Juden in christlichen Ländern überhaupt und speziell in Aschkenas: nicht mehr die verschlossene und misstrauische jüdische Gemeinde, sondern eine Gemeinschaft, die es verstand, neben der Feindschaft auch einen lebhaften und offenen Dialog mit der christlichen Umwelt zu unterhalten. 5 2 Auf diesem Hintergrund ist auch der extreme religiöse Pietismus in den Kreisen der sog. Ckasside Aschkenas als eine Form von Aneignung christlicher Werte zu sehen, wobei große Anstrengungen gemacht werden, sich vor der Einwirkung eben dieser Werte zu schützen. Beherzigenswert scheinen mir in diesem Zusammenhang einige programmatische Äußerungen von Jeremy Cohen: N i c h t weniger eindrucksvoll als die Gemeinsamkeiten zwischen jüdischer und christlicher Kultur im Mittelalter ist offenbar die wiederholte Hinwendung von Angehörigen der jeweiligen Kultur zu Werten von außerhalb. Daraus folgt, dass jene Kulturen weitaus komplexer waren als bisher angenommen, und die Verbindungen zwischen ihnen waren durchgängig in beide Richtungen geöffnet, sogar in Zeiten von Krise und Kollision. 5 3

Hinter der sowohl im akademischen als auch im allgemeinen Publikum verbreiteten Vorstellung von der aschkenasischen Judenheit, die von ihrer christlichen Umwelt abgekapselt gewesen sei, stehen meines Erachtens ganz

51 Limor, Sanctity/Authority (s.o. Anm.34) und Nestor/7öWot Yeshu (s.o. Anm.43); E. Reiner, From Joshua to Jesus: The Transformation of a Biblical Story to a Local Myth: A Chapter in the Religious Life of the Galilean Jew, in: A. Kofsky/G.G. Stroumsa (Hg.), Sharing the Sacred. Religious Contacts and Conflicts in the Holy Land, Jerusalem 1998, 223-271; ders., A Jewish Response to the Crusades: The Dispute over Sacred Places in the Holy Land, in: A. Haverkamp (Hg.), Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge, Sigmaringen 1999, 209-231. 52 Diese Erkenntnis hat sich unter den Kunsthistorikern schon länger durchgesetzt. Zu nennen sind besonders die Arbeiten von J . Gutmann, z.B. When the Kingdom Comes: Messianic Themes in Medieval Jewish Art, in: Art Journal 27 (1967-68), 173-175; ders., The Messiah at the Seder: A Fifteenth Century Motif in Jewish Art, in: FS R. Mahler, Tel Aviv 1974, 79-38. Solche Beobachtungen haben sich allerdings unter allgemeinen Historikern noch nicht herumgesprochen, vielleicht weil der Stellenwert der bildenden Kunst im Alltag der aschkenasischen Judenheit überhaupt noch ungewiss, hie und da sogar von Tabu umwittert ist. 53 Cohen, Martyrdom/Martyrology (s.o. Anm.49), 205.

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moderne Betrachtungsweisen. Eine davon ist von den Raumverhältnissen der modernen Großstadt beeinflusst, die sich von Dimensionen und Einwohnerdichte her erheblich von den vergleichsweise winzigen mittelalterlichen Städten unterscheidet. Ein moderner Mensch kann sich ohne weiteres vorstellen, dass Minderheitsgruppen in geschlossenen Wohnvierteln nebeneinander her leben, ihre eigene Subkultur und Sozialstruktur pflegen und eifersüchtig über ihre Besonderheit wachen. So befindet sich etwa in einer der Hochburgen der jüdischen Orthodoxie, im Jerusalemer Stadtteil Mea Schearim - der an Intoleranz einer mittelalterlichen Stadt in nichts nachstehen dürfte - die Peterskirche der finnisch-messianischen Gemeinde, und die Besucher der Betstuben ringsum haben keine Ahnung, was im Innern des Kirchenraums direkt vor ihrer Nase stattfindet, und umgekehrt ebenso. Doch die isolierte Lebensweise der modernen Großstadt ist für die intimen Wohnverhältnisse in der mittelalterlichen Stadt nicht vorauszusetzen. Dass Menschen, die in so enger Nachbarschaft nahezu aufeinander wohnen, und das in einer Stadt, die vom Klang menschlicher Stimmen erfüllt ist und nicht von Auto- und Maschinenlärm, nichts davon gewusst haben sollen, was sich auf der anderen Seite der Wand vollzog, ist höchst unwahrscheinlich. Wer an der Konzeption der Getrenntheit festhalten will, dem obliegt die Beweislast. Auch an diesem Punkt werden wir unsere ursprüngliche Annahme ändern müssen und davon ausgehen, dass - jedenfalls bis zum Erweis des Gegenteils - was auf der einen Seite an Zeremonien praktiziert und an Texten rezitiert wurde, auf der jeweils anderen Seite bekannt war. Ein weiterer Faktor, der zu der akademischen Vorstellung von der aschkenasisch-religiösen Kultur als in sich verschlossen und gegen Einflüsse von außerhalb gefeit geführt hat, ist die Modernisierung und Verwestlichung der jüdischen Identität. Im Bewusstsein von Aufklärern und Konservativen gleichermaßen gingen die Verwestlichungstendenzen im 19.Jh. automatisch mit Aufgabe der alten religiösen Tradition zusammen. Aus dieser Perspektive sah die jüdische Religiosität des Mittelalters aus wie die moderne Orthodoxie; und von daher wurde Religion gleichgesetzt mit Ablehnung westlicher Kultur- und Geisteswerte. Paradoxerweise war es gerade die offenere, säkulare, weniger christlich geprägte Welt des 19.Jh., welche die Religion zur Wächterin über die alte Welt setzte, die Augen und Ohren verschloss vor den Verlockungen der Umwelt. Doch die mittelalterliche Religion trug einen ganz anderen Charakter. Ihre Aufgabe war es, nicht nur die alte Welt zu bewahren, sondern auch den dynamischen kulturellen Rahmen bereitzustellen, in dem sich erneuernde Gedanken und Ideale ihren Platz finden konnten. Die mittelalterliche Religion kehrte der Umwelt, ihrer Sprache und ihren Symbolen, keineswegs den Rücken, sondern suchte sie in sich aufzunehmen und zu integrieren. Daher rührte ihre Bereitschaft, mit dem Zeitgeist mitzugehen. Sie gewährte ihm Zutritt dank ihrer Fähigkeit, jeden neuen Kern mit einer fiktiven Schale des Althergebrachten zu umhüllen,

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denn alles, was ein Gelehrter je an Neuem vorbringen konnte, war bereits Mose auf dem Sinai offenbart worden. Hiermit sollen die Unterschiede zwischen damals und heute durchaus nicht verwischt werden. Soweit Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Christen bestanden, spielten sie hauptsächlich in unterbewussten Bereichen der Kultur. Im Mittelalter gab es keine Ideologie von Kooperation und gegenseitigem Respekt, keine ausdrückliche Toleranz gegenüber dem „Anderen" und dessen Kultur. Beeinflussung durch den .Anderen' fand zweifellos statt, aber seine Präsenz wurde als bedrohlich empfunden. Bei aller Ähnlichkeit zwischen jüdischen und christlichen Haushalten waren diese doch durch die unsichtbare Mauer der Feindschaft voneinander geschieden. Im Unterschied dazu hat sich im Verlauf der jüngsten Generation ein Bewusstsein kultureller Gegenseitigkeit herausgebildet, und wir verstehen mehr davon, wie Menschen sich ein Bild von dem .Anderen' machen, der in ihrer Mitte lebt. Dieses Wissen ist ein Grund zur Hoffnung auf mehr Toleranz und Verständnis im Bereich der Beziehungen zwischen Menschen, Gemeinschaften und Nationen.

II Rom oder Jerusalem: Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

Seit der Eroberung durch die R ö m e r im Jahre 63 v . C h r . war Judäa samt allen übrigen V ö l k e r s c h a f t e n des O r i e n t s in eine politische Abhängigkeit neuer A r t geraten. W e n n das jüdische Volk bis dahin mit vielen, nahen und fernen, v o n Zeit zu Zeit wechselnden V ö l k e r n Krieg geführt hatte, so begann mit der römischen Besatzung ein neues Zeitalter: die K o n f r o n t a t i o n mit einem Weltreich, dessen Ende nicht abzusehen war. Die Menschen jener G e n e r a tionen mussten den Eindruck gewinnen, die H e r r s c h a f t des „ewigen" R o m w e r d e bis ans Ende aller Zeiten dauern. Mit der Verschärfung des römischen D r u c k s auf Judäa verstärkte sich daher die Tendenz, in R o m Daniels „viertes Reich" zu erblicken, das Reich unmittelbar v o r dem K o m m e n des Messias. So w u r d e Judäas Erlösung an R o m s Untergang gebunden. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels im J a h r e 70 n . C h r . trug erheblich zu der U b e r z e u gung bei, Jerusalem k ö n n e erst dann wieder aufgebaut werden, wenn R o m zerstört sei. 1 Sobald R o m christlich geworden war, im 4.Jh., w u r d e die Sprache der Auseinandersetzung eine andere. A n die Stelle des politischen K a m p f e s gegen ein Imperium trat v o n da an der religiöse Disput zwischen C h r i s t e n t u m und J u d e n t u m . In beiden Religionen stand die messianische göttliche Rache

1 bMegilla 6a: „Caesarea und Jerusalem - Wenn jemand dir sagt, beide sind zerstört - glaube es nicht; beide sind bewohnt - glaube es nicht; Caesarea zerstört und Jerusalem bewohnt, Jerusalem zerstört und Caesarea bewohnt - das kannst du glauben; es heißt nämlich: ,ich werde voll, und sie ward wüst' (Ez 26,2) - wenn die eine voll wird, ist die andere wüst, wenn die andere voll wird, ist die eine wüst [...]". Zur Verknüpfung der Erlösung mit dem Untergang Roms s. M. Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n.Chr, Leiden/Köln 1961, 308-318. Zum Stellenwert der Tempelzerstörung in der politischen und religiösen Polemik zwischen Juda und Rom s. H. Schwier, Tempel und Tempelzerstörung. Untersuchungen zu den theologischen und ideologischen Faktoren im ersten jüdisch-römischen Krieg (66-74 n.Chr.), Freiburg (Schweiz), 330-362. Der Verfasser äußert die interessante Vermutung, zwischen dem Brand des römischen Kapitols im Dezember 69 und dem Beschluss des Titus, den Jerusalemer Tempel im Sommer 70 verbrennen zu lassen, bestehe ein Zusammenhang; dadurch habe Titus den Vorrang des Jupiter vor Judas Gott dartun und die flavische Herrschaft politisch legitimieren wollen. Der Diaspora-Aufstand der Jahre 115-117 sei dann ein jüdischer Versuch gewesen, die Zerstörung des Zweiten Tempels zu rächen. S. auch S. Heid, Auf welcher Seite kämpft Gott? Der Anspruch Jerusalems und Roms auf die Waffenhilfe Gottes in frühchristlicher Apologetik, in: ZKG 104 (1993), 1-22.

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G r u n d l a g e n der jüdisch-christlichen F e i n d s c h a f t

an zentraler Stelle. 2 Das Christentum erblickte in der Zerstörung des Jerusalemer Tempels einen Akt göttlicher Rache für die Tötung seines Sohnes; Exilierung und Verknechtung der Juden wurden als .Rache des Heilands' aufgefasst. In der jüdischen Liturgie lautet die Begründung für das jüdische Exil „um unserer Sünden willen sind wir aus unserem Land vertrieben", wobei unwillkürlich die christliche Gegenbehauptung durchklingt: „um eurer Sünden willen seid ihr aus eurem Land vertrieben". Juden und Christen stritten darum, weshalb Jerusalem zerstört worden sei: wegen des (symptomatischen) Zwischenfalls von Kamza und Bar Kamza (aus dem Gleichklang der nahezu identischen hebräischen Namen ist zu entnehmen, dass es sich um eine Lappalie handelt) oder wegen der Kreuzigung Jesu. Und wie von christlicher Seite die Kreuzigung Jesu zur jüdischen .Erbsünde' erhoben wurde, machte die jüdische Seite Rom und dessen christlichen Nachfolgern die Zerstörung des Jerusalemer Tempels zum ewigen Vorwurf. Rom, d.i. Edom, ist an der Zerstörung schuld, und diese Schuld wirkt weiter über die Generationen hin, bis die Juden durch das messianische Geschehen von den Leiden des Exils erlöst werden. Demnach bestimmte die Heftigkeit der Polemik zwischen Christen und Juden jüdische Erlösungserwartungen über weite Strecken hin. 3 Die Sprache, in der solche Vorstellungen in der traditionellen religiösen Literatur, vor allem in Talmud und Midrasch, artikuliert wurden, war die Sprache der typologischen Auslegung, die Sprache von Mythos, Gleichnis und Ritual. In der vorliegenden Arbeit soll der Versuch gemacht werden, dieses Medium zu entschlüsseln. Was beim Vergleich zwischen dem offiziellen religiösen Gedankengut zutage tritt, ist die Verschiedenheit zwischen den beiden Religionen, doch die Sprache von Symbolik und Ritual enthüllt die gemeinsame Grundlage, mit deren Hilfe jede der beiden ihre eigene Identität bestimmen und herausbilden konnte. Allerdings sollte uns der gemeinsame Sprachgebrauch nicht zu der Annahme verleiten, als ob gegenseitiges Verständnis oder gar freundschaftliche Beziehungen dahinter stünden - ganz im Gegenteil! Gerade im Fall von Feindschaft und Konkurrenz sind sprachliche Ubereinkünfte nötig, um die polaren Gegensätze zu formulie-

2 Z u r eschatologischen Rache in der Bibel s. H . G . L . Peels, T h e Vengeance of G o d , Leiden 1994, 132-234. 3 Z u r T e m p e l z e r s t ö r u n g als entscheidendem F a k t o r bei der H e r a u s b i l d u n g des rabbinischen J u d e n t u m s einerseits und des C h r i s t e n t u m s andererseits, insbesondere in B e z u g auf die jeweilige H a l t u n g gegenüber d e m M e s s i a n i s m u s , s. I. G r u e n w a l d , F r o m P r i e s t h o o d to M e s s i a n i s m : T h e Anti-Priestly P o l e m i c and the M e s s i a n i c F a c t o r , in: I. G r u e n w a l d / S . S h a k e d / G . G S t r o u m s a ( H g . ) , Studies in the J e w i s h O r i g i n s of Christianity ( F S D . F l u s s e r ) , T ü b i n g e n 1992, 7 5 - 9 3 . Z u den jüdisch-messianischen H o f f n u n g e n im H i n b l i c k auf die Z e r s t ö r u n g von K o n s t a n t i n o p e l , der N a c h f o l g e r i n v o m R o m , s. o. O . Irshai, Historical A s p e c t s of the Christian-Jewish P o l e m i c C o n c e r n i n g the C h u r c h of J e r u s a l e m in the F o u r t h C e n t u r y (in the Light of Patristic and R a b binic Literature) [hebr.], D i s s . J e r u s a l e m 1993,1, 167f.

Die Ephraimiten und der Sohn Josephs

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ren, denn nur Symbole, die für beide Seiten verständlich sind, können gedanklich gegensätzliche Aussagen vermitteln.

1 Die Ephraimiten und der Sohn Josephs D e r Zusammenhang von Rache und Erlösung ist in dem rabbinischen M i drasch über die Ephraimiten deutlich erkennbar. D o r t ist vom Stamm Ephraim die Rede, der während der ägyptischen Knechtschaft vor Ablauf der von G o t t bestimmten Frist aus Ägypten gezogen und durch die Philister vor G a t aufgerieben worden war, weil er den Zeitpunkt der Erlösung falsch berechnet hatte. Als dann die Zeit für den allgemeinen Exodus der Israeliten gekommen war, soll G o t t Bedenken gehabt haben: „Der Heilige gelobt sei E r sprach: Wenn die Israeliten die Gebeine der Ephraimiten am Weg verstreut sehen, kehren sie nach Ägypten zurück; deshalb führte er sie auf Umwegen durch die W ü s t e " . 4 Dazu ergänzt der Midrasch: „Was machte da der Heilige gelobt sei Er? E r nahm das Blut der Ephraimiten und tränkte damit seine ,Kleider', wie es heißt: ,Warum so rot deine Kleidung' (Jes 6 3 , 2 ) . So sprach der Heilige gelobt sei Er: Ich tröste mich nicht, als bis ich für die Ephraimiten Rache genommen haben werde, wie es heißt „nicht führte sie G o t t durchs Philisterland [ . . . ] denn G o t t sprach: womöglich wird das Volk anderen Sinnes, wenn es Krieg sieht, und kehrt um nach Ä g y p t e n " (Ex 13,17). 5 Schon Louis G i n z b e r g hat die typologische F u n k t i o n dieser Aggada erläutert, nämlich als Vorausdeutung auf den Messias aus dem Hause Josephs, der vor dem davidischen Messias auftreten und im Krieg fallen soll. 6 G i n z berg meint, die Aggada über den verfrühten Auszug der Ephraimiten aus Ägypten habe die Gestalt jenes Messias hervorgebracht, der über Ephraim von J o s e p h abstammt. 7 Dies ist der frühere Messias, der in der eschatologi-

4 Mechilta deRabbi Jischmael, beSchallach (Horovitz/Rabin [Hg.]), 76f; b Sanhedrin 92b und Parallelen. 5 E x R X X 11. Nach Art des Midrasch ist von dem Belegvers Ex 13,17 nur der Anfang zitiert und zwar mit einem Wortspiel: Im unvokalisierten hebräischen Text lässt sich die Verbform nacham (Gott „führte sie") auch als nicham (Gott „tröstet sich") lesen. ' L. Ginzberg, Eine unbekannte jüdische Sekte, in: MGWJ 58 (1914), 1 5 9 - 1 7 7 . 3 9 5 ^ 2 9 . Zur Gestalt des leidenden/sterbenden Messias/Propheten gibt es zahlreiche Forschungen; ein Uberblick zur Figur des „Messias, Josephs Sohn" findet sich bei M. Fishbane, Midrash and Messianism. Some Theologies of Suffering and Salvation, in: P. Schäfer/M. Cohen (Hg.), Toward the Millennium. Messianic Expectations from the Bible to Waco, Leiden/Boston/Köln 1998,57-71. 7 J. Heinemann, The Messiah of Ephraim and the Premature Exodus of the Tribe of Ephraim, in: HTS 68 (1975), 1-16, nimmt an, die Uberlieferung vom Tod des von Joseph abstammenden Messias habe sich nach dem Bar-Kochba-Aufstand herausgebildet, um Bar-Kochbas mes-

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sehen Schlacht, die dem Kommen des späteren Messias aus dem Hause David vorangeht, fallen wird. Die Aggada über die Ephraimiten, die vorzeitig aus Ägypten gezogen seien, hat keine eigentliche biblische Grundlage.8 Unvoreingenommene Lektüre der biblischen Belege führt dazu, dass der Stamm Ephraim nicht aus Ägypten zugewandert, sondern im Lande ansässig gewesen war, wo er das ihm als Erbe zugesprochene Territorium besiedelte.9 Anscheinend hat nicht die rabbinische Aggada die Gestalt des Messias, Josephs Sohn, geschaffen, sondern eher umgekehrt. Als dieser Midrasch entstand, war die Gestalt des Messias, Josephs Sohn, bereits vorhanden und bedurfte einer typologischen Untermauerung. Das Aufkommen einer eigenständigen Figur „Messias, Josephs Sohn" in der tannaitischen Literatur ist wohl auf die politische Situation nach der Tempelzerstörung zurückzuführen, als Judaea capto, keinerlei Möglichkeit mehr hatte, Rom mit Waffengewalt entgegenzutreten. An diesem Punkt gewann die Vorstellung an Boden, ein Messias aus dem Stamm Ephraim an der Spitze der verlorenen zehn Stämme Israels werde kommen, um Judäa vom Joch der römischen Herrschaft zu befreien. Solche Hoffnungen haben sich im Midrasch niedergeschlagen: „Durch wen wird das Reich Edom fallen_ Durch einen Kriegs gesalbten, der von Joseph abstammt [...]. Es ist überliefert, dass Esau durch keinen anderen fallen wird als durch einen Nachkommen von Rachel". 10 Das Eintreffen einer jüdischen Armee von weither unter dem Kommando des Messias, Josephs Sohn, verbindet sich mit der Hoffnung auf die Wiederherstellung des israelitischen Königtums einschließlich Rückkehr der zehn Stämme.11 Dieser kriegerische Messias aus dem Norden soll im Kampf getötet werden und seinen Platz dem Messias aus dem Hause David einräu-

sianische Funktion zu retten. Ebenfalls vgl. auch die Beiträge von D. Berger, Three Typological Themes in Early Jewish Messianism: Messiah Son of Joseph, Rabbinic Calculations, and the Figure of Armilus, in: AJS Review 10 (1985), 141-164 und Y. Blidstein, The Ephraimite Exodus from Egypt: A Réévaluation (hebr.), in: Jerusalem Studies in Jewish Thought 5 (1986), 1-13. 8 Die im Midrasch angeführten Bibelstellen (Hos 9,13; IChr 7,21) wirken wie nachträgliche Belege. Die Auslegung von Ex 13,17 „nicht führte sie Gott durchs Philisterland [...]" bezieht möglicherweise die unmittelbare Fortsetzung mit ein, wo Josephs Gebeine erwähnt sind, die Mose beim Exodus mitnahm (Ex 13,17-19). ' Dazu A. Rofe, The FamilySaga as a Source for the History of the Settlement (hebr.), in: Eretz-Yisrael 24 (1993), 188 mit weiterer Literatur. 10 GenR X C I X , 1274 (mit Parallelen), b Baba Batra 103b heißt es: „Esaus Same wird keinem anderen überantwortet als Josephs Samen". 11 Zur Vorstellung, dass die zehn Stämme des Nordreichs weiterbestehen, s. Josephus, Ant X I , 133 („die zehn Stämme wohnen jenseits des Euphrat bis auf den heutigen Tag"); M Sanhédrin X 3 („Die zehn Stämme werden nicht zurückkehren [...] so R. Akiva. Rabbi Elieser sagt: Wie der Tag düster ist und hell wird, sind auch die zehn Stämme: So düster es ihnen ist, so hell soll es ihnen werden"). Vgl. ferner Apg 26,7; Jak 1,1; 4Esr X I I I 39-52 (J. Licht [Hg.], 77f: „und nun, da sie kommen sollen, wird der Höchste ihnen wieder die Wassermassen aufhalten, so dass

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men, dem Repräsentanten des Königreichs Juda und des gegenwärtigen Judentums. Wenn wir davon ausgehen, dass die Aggada über die vor der Zeit aus Ägypten ausgezogenen Ephraimiten nachträglich entstanden ist, als typologische Grundlage für den Messias, Josephs Sohn, dann hat die zusätzliche Bemerkung des Midrasch über die Rache für das Blut der Ephraimiten deutlich messianische Konnotation, sozusagen als Ankündigung von Rache für alle, deren Blut im Zuge der Erlösungskriege vergossen werden würde. Der Vollzug dieser Rache, Gottes „Trost", wird als Vorbedingung für den Einzug der aus Ägypten Befreiten ins Land Israel dargestellt, und nach demselben Muster sollte auch die endzeitliche Erlösung verlaufen, wenn die Zerstreuten nach Zion heimkehren würden. Die rabbinische Lehre von den zwei Messias-Figuren, von denen der eine Josephs und der andere Davids Sohn sein soll, ist aus zur Zeit des Zweiten Tempels verbreiteten Vorstellungen hervorgegangen. In den Testamenten der Zwölf Patriarchen ist davon die Rede, dass der Messias aus Levi und aus Juda kommen soll; 1 2 in den Qumranschriften dagegen findet sich die Erwartung zweier Messiasse, einer von Aaron und einer von David abstammend. 1 Aus der Epoche des Zweiten Tempels gibt es keine Quelle, worin ein Messias, Sohn des Joseph, erwähnt wäre, abgesehen von jenem Messias, dessen Vater Joseph hieß, nämlich Jesus. Die Abstammung Jesu von einem Mann namens Joseph wird in der frühen christlichen Literatur nicht diskutiert, woraufhin sie anscheinend als biographisches Faktum zu betrachten ist. Jesu problematische Doppelabstammung von Joseph (dem Ehemann seiner Mutter, der jedoch nicht sein biologischer Vater gewesen sein soll) und über diesen von David passt zu seiner Doppelherkunft: ein Galiläer, der in Judäa geboren ist. Offenbar bestand eine gewisse Spannung zwischen den biographischen Fakten (aus Galiläa, Sohn Josephs) und den messianischen Ambitionen (aus Judäa, ein Nachfahre Davids). In Anbetracht der Tatsache, dass vor der Tempelzerstörung der Glaube an einen von Joseph abstammenden Messias nicht belegt ist, lohnt es sich zumindest in Erwägung zu ziehen, ob nicht die rabbinische Figur des Messias, Josephs Sohn,

sie hindurch können"), s. R.H. Charles, The Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old Testament in English, Oxford 1913, 619. 12 Dazu J. Becker, Die Testamente der Zwölf Patriarchen, Gütersloh 1980 (JSHRZ I I I / l ) , 28. 13 S. Talmon, Waiting for the Messiah: The Spiritual Universes of the Qumran Convenanters, in: J. Neusner/W.C. Green/S. Frerichs (Hg.), Judaisms and Their Messiahs at the Turn of the Christian Era, Cambridge 1987, 111-137; H.W. Kuhn, Die beiden Messias in den Qumrantexten und die Messiasvorstellung in der rabbinischen Literatur, in: ZAW 70 (1958), 100-108. Y.M. Grintz, Peraqim beToldot Bait scheni, Jerusalem 1969, 125-130. Einen anderen Ansatz, der Hinweise auf einen von Joseph abstammenden Messias bereits in der Literatur des Zweiten Tempels finden will, vertreten G.H. Dix, The Messiah Ben Joseph, in: JTS 27 (1926), 130-143 und C.C. Torrey, The Messiah Son of Ephraim, in: J B L 66 (1947), 253-277.

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der im Kampf sterben soll, eine Verinnerlichung jenes anderen gescheiterten Messias darstellt: Jesus. Er war ein Sohn Josephs, er war getötet worden, er stammte aus dem Norden. Eine weitere Ubereinstimmung zwischen dem Messias, Sohn des Joseph, und Jesus setzt an einem zentralen Punkt ein: Jesus ist nicht nur Davidide, er wird auch als Hohepriester angesprochen.14 Insofern sind in der Gestalt Jesu die beiden messianischen Stränge vom Ende des Zweiten Tempels zusammengekommen: der Messias aus dem Hause David und der aus dem Hause Aaron, der König und der Priester; Jesus war zwar nicht aus priesterlicher Familie, aber dafür trat die Rückbeziehung auf Melchizedek ein. Eine ähnliche Rolle erhielt der rabbinische Messias, Josephs Sohn, der ja ebenfalls den priesterlichen Messias aus der Zeit des Zweiten Tempels ablöste. Bestand zwischen der Gestalt Jesu und der des Messias, Josephs Sohn, eine direkte Beziehung? Ich halte es für wahrscheinlich. Hinter beiden Gestalten steht ein ähnlicher Vorgang: eine parallele, jüdische bzw. christliche, Suche nach einem neuen messianischen Narrativ, das zwei harten und schmerzhaften historischen Fakten gerecht werden muss - dem Tod Jesu auf der einen, der Zerstörung des Tempels auf der anderen Seite. Auf Grund von Jesu Tod musste das Moment des vorübergehenden Scheiterns eingebaut werden, des Todes, auf den neues Leben folgt. Auf Grund der Tempelzerstörung wurde eine neue Messiasfigur gebraucht, die nicht auf Tempel und Priesterschaft angewiesen war, da sie selbst einen Ersatz für den Hohenpriester bot. 15 Einige Stellen aus dem Midrasch Pessiqta rabbati, wo die Person des Messias, Josephs Sohn, geschildert ist, sprechen für die Annahme, dass es sich bei dieser Figur um eine Vereinnahmung von Jesus als messianischer Gestalt handelt.16 Man bringt eiserne Balken und legt sie ihm auf den N a c k e n , bis seine Gestalt gebeugt ist, so dass er schreit und weint und seine Stimme zum H i m m e l emporsteigt. E r spricht vor ihm: H e r r der Welt, Wieviel soll meine Kraft noch aushalten, wieviel mein Geist, wieviel meine Seele, wieviel meine Glieder - bin ich denn nicht Fleisch und Blut? I m Hinblick auf jene Stunde pflegte David zu weinen und zu sprechen .Ausgetrocknet wie irdenes Geschirr ist meine Kraft' (Ps 2 2 , 1 6 ) . Zu je-

Heb 4,7. Möglicherweise war es ein anderer Versuch zur Lösung dieses Problems, der Elia, den Vorboten der Erlösung, zum Priester werden ließ und ihn mit Aarons Sohn Pinehas gleichgesetzte. Einen Uberblick über die verschiedenen Auffassungen zu dieser Frage bietet M. Eyali, Where Did Elijah Come From? The Lineage and Origin of the Prophet Elijah in Rabbinic Homilies (hebr.), in: Ders., ki-Revivim: Chinnuch jehudi we-Cheqer haMeqorot, Oranim 1996, 259-281. 16 Pessikta rabbati X X X V I („steh auf und leuchte"), M. Friedman (Hg.), 162. Fishbane, Midrash and Messianism (s.o. Anm.6), will im Leiden dieses jüdischen Messias eine innerjüdische Entwicklung sehen und lehnt die in der Forschung schon öfter vorgebrachte Meinung, hier seien Spuren christlichen Einflusses wahrnehmbar, schlichtweg ab. 14 15

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ner Stunde sprach zu ihm der Heilige gelobt sei Er: Ephraim, mein wahrer Messias, das hast du auf dich g e n o m m e n von der S c h ö p f u n g an.

Bemerkenswert ist der Rückgriff auf Ps 22. Dieser Psalm wird in der christlichen Exegese insgesamt auf Jesu Kreuzigung gedeutet, unter anderem wegen des Aufschreis „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!", der dem Gekreuzigten in den Mund gelegt wird (Mt 27,46). Diese Äußerung Jesu erinnert an die Klage des Messias aus dem Hause Josephs im Midrasch: „Wieviel soll meine Kraft noch aushalten?!" Mit Rücksicht auf die christliche Auslegung dieses Psalms gibt es im Midrasch Tehillim ein ganzes Kapitel, wo Vers für Vers auf die Königin Ester bezogen wird. 1 7 Mit anderen Worten: Anstelle einer christlichen Schriftauslegung, die den Psalm mit Jesu Kreuzigung zusammenbringt, die zu Pessach stattgefunden haben soll, bietet der Midrasch eine Alternativdeutung, die ebenfalls auf ein Ereignis ausgerichtet ist, das an Pessach geschehen sein soll, nämlich Hamans Tod am Galgen. Von etwaigen Beziehungen zwischen Haman, dem Bösewicht aus der Ester-Rolle, und Jesus wird noch die Rede sein. Für unseren Kontext hier genügt einstweilen die Beobachtung, dass der leidende Messias, Ephraims Sohn, mit den eisernen Balken auf dem Hals stark an das Bild Jesu erinnert, wie er zur Kreuzigung hinausgeführt wird (vgl. Joh 19,17). Die Ähnlichkeit des leidenden Messias, Ephraims Sohn, mit Jesus war schon in alter Zeit bekannt. Bereits Raymund Martini im ausgehenden 13.Jh. fand in diesen Midraschim Hinweise auf Jesus. 1 8 Auch Asarja dei Rossi hat die .Christlichkeit' dieser Midraschim wahrgenommen. Er meint, diese stammten nicht „aus der Schriftauslegung unserer Meister", sondern seien nachträglich hinzugefügt worden „von solchen, die auf das Neue ausgehen", d.h. von Christen. 1 9 Dazu bemerkt der Herausgeber von Pessiqta rabbati, Meir Friedmann, mit Recht, dass die Ursprünglichkeit dieses Midrasch nicht zu bezweifeln sei. 20 Er meint jedoch, die Lehre vom leidenden Messias in Pessiqta rabbati sei vorchristlich, was schwer vorstellbar ist. Wesentlich einsichtiger werden diese Midraschim, wenn wir sie als Verinnerlichung der christlichen Messiasgestalt auffassen. Auf diesem Hintergrund erhält die Erzählung von den Ephraimiten, die beim verfrühten Auszug aus Ägypten gescheitert und umgekommen seien, eine zusätzliche Dimension. Wie es zwei Messiasgestalten gab, den kriegerischen Sohn Josephs, den getöteten Vorboten des Sohnes Davids, sollte auch die Erlösung sozusagen auf zwei Gleisen verlaufen, w o f ü r der Exodus das

17

Midrasch Tehillim XXII, 180-197. S. Lieberman, Scheqi'in, Jerusalem 1970, 58. " Meor Enajim, Imre Bina, Warschau 1899, Kap. XIX; engl. J. Weinberg (Übs.), Azariah de Rossi, The Light of the Eyes, New Haven 2001, Kap. 19. 20 Pessikta rabbati (s. o. Anm. 16), fol. 164a-b. 18

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

typologische Vorbild abzugeben hatte. So wird durch die Geschichte von den vorzeitig aus Ägypten gezogenen Ephraimiten die Aussage vermittelt, die Generation der Tempelzerstörung (bzw. die des Bar-Kochba-Aufstands) habe sich in der Endzeitberechnung geirrt, und Gottes Rache für den Tod des getöteten Messias, Josephs Sohn, sei wiederum ein Bestandteil der endgültigen Erlösung.

2 Die Rache des Heilands

(vindicta

salvatoris)

U m die messianischen Hoffnungen richtig zu verstehen, die von jüdischer Seite an die Zerstörung Roms geknüpft wurden, ist die Bedeutung der Zerstörungjerusalems aus christlicher Sicht zu betrachten. Hier handelt es sich um ein komplexes System gegenseitiger Bezüge. Sowohl die Intimität als auch die Intensität des Dialogs der beiden Religionen untereinander lässt sich gut beobachten, wenn wir die Entwicklung einer christlichen Legende und die jüdischen Reaktionen darauf verfolgen. Es handelt sich um einen Text mit dem Titel vindicta salvatoris (die Rache des Heilands), eine der berühmtesten christlichen Erzählungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. 2 1 In ihren späteren Entwicklungsstadien erfuhr die Legende verschiedene Bühnenbearbeitungen; sie gehörte zum Repertoire der volkstümlichen Osterspiele. Ihre überaus weite Verbreitung verdankt sie ihrem theologischen Gehalt. Es geht um die Fundierung des Zusammenhangs zwischen Jesu Kreuzigung und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. In den Augen der Christen war die Tempelzerstörung Gottes Rache für die Tötung des erschienenen Messias; bei Juden, die der Erlösung noch harrten, erweckte die Tempelzerstörung Hoffnungen auf eine künftige Rache. Für beide war die göttliche Rache aufs engste mit dem Jerusalemer Tempel verbunden (vgl. Jer 51,11). Nach dem Bericht des Lukas hatte Jesus die Zerstörung Jerusalems angekündigt; er soll die Stadt Jerusalem angeredet haben: „Denn es wird die Zeit über dich kommen, dass deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen; und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum dass du nicht erkannt hast die Zeit, darin du heimgesucht bist" (Lk 19,43f). 2 2 Die Zerstörung wird als Vollzug der göttlichen Rache bezeichnet: 21 E. von Dobschütz, Christusbilder. Untersuchungen zur christlichen Legende, Leipzig 1889, 2 0 9 - 2 1 7 ; H. Schreckenberg, Rezeptionsgeschichtliche und textkritische Untersuchungen zu Flavius Josephus, Leiden 1977, 53-68; S.K. Wright, The Vengeance of Our Lord: Medieval Dramatizations of the Destruction of Jerusalem, Toronto 1989. 22 Zu dieser Vorstellung und ihrer Entfaltung s. L. Gaston, N o Stone on Another. Studies in the Significance of the Fall of Jerusalem in the Synoptic Gospels, Leiden 1970. Zum Stellenwert

Die Rache des Heilands (vindicta

salvatoris)

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„Denn das sind die Tage der Rache, dass erfüllet werde alles, was geschrieben steht" (Lk 2 1 , 2 2 ) . Seit dem 4 . J h . und das ganze Mittelalter hindurch waren diese Verse Teil der Perikope, die am 11. Sonntag nach Pfingsten gelesen wurde, d.h. in der Woche, in die der 9. Av fiel, wobei die Nähe zu dem jüdischen Trauertag über die Tempelzerstörung sicherlich kein Zufall war. 2 3 Dieser U m s t a n d ist für das Verständnis der polemischen K o m p o n e n t e in den jüdischen Klageliedern zum 9. Av von entscheidender Wichtigkeit. In einer Ostersonntagspredigt, die allem Anschein nach im 11.Jh. in Frankreich entstanden ist, steht die Zerstörung Jerusalems an zentraler Stelle. D i e Zerstörung erscheint als Ausdruck für die verachtete Stellung der J u den bei G o t t , die über den gesamten Zeitraums des Exils hin anhalten soll. Statt wie früher unter G o t t e s besonderem Schutz zu stehen, sind die J u d e n nun göttlicher Rache und Bestrafung ausgesetzt: „So zahlst du, Jerusalem, den Preis deiner Verräterei". 2 4 D e r Prediger stellt eine Verbindung her zwischen Jesu Kreuzigung zu Pessach und dem Beginn der Belagerung Jerusalems durch die R ö m e r ebenfalls an Pessach. 2 5 Es ist interessant zu beobachten, dass auch eine Trierer hebräische C h r o n i k über die Judenverfolgung des Jahres 1096 im Pessachfest den Ausgangspunkt dieser Ereignisse sieht. 2 6 Die Zerstörung der rheinischen Judengemeinden wurde als eine Art N e u auflage der Tempelzerstörung aufgefasst - ein Motiv, von dem noch ausführlicher die Rede sein wird. Belegt ist der Zusammenhang zwischen J e s u Kreuzigung und der Zerstörung Jerusalems, der in der christlichen Einstellung zum J u d e n t u m so zentral ist, allerdings nur im N e u e n Testament. Josephus Flavius weiß nichts

der Zerstörung Jerusalems im Christentum s. H.J. Schoeps, Die Tempelzerstörung des Jahres 70 in der jüdischen Religionsgeschichte, in: Ders., Aus frühchristlicher Zeit. Religionsgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1950, 8 3 - 1 4 4 ; S. G . F . Brandon, The Fall of Jerusalem and the Christian Church, London 1951; G.W.H. Lampe, A D 70 in Christian Reflection, in: E. Bammel/C.F.D. Moule (Hg.), Jesus and the Politics of His Day, Cambridge 1984, 153-171; ferner H . Nibley, Christian Envy of the Tempie, in: J Q R 50 (1959/60), 9 7 - 1 2 3 . 2 2 9 - 2 4 0 ; M. Simon, Retour du Christ et reconstruction du temple dans la pensée chrétienne primitive, in: Recherches d'histoire judéo-chrétienne, Paris 1962, 9 - 1 9 . 2 3 A. Linder, The Destruction of Jerusalem Sunday, in: Sacris Erudiri 10 (1987/88), 253-292. 2 4 A. Linder, Jews and Judaism in the Eyes of Christian Thinkers of the Middle Ages: The Destruction of Jerusalem in Medieval Christian Liturgy, in: J. Cohen (Hg.), From Witness to Witchcraft, Wiesbaden 1996, 113-123. 2 5 Diesen Zusammenhang hat schon Eusebius aufgezeigt (hist. eccl. III 5). 2 6 E. Haverkamp (Hg.), Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzugs, Hannover 2005, 470. Pessach als Ausgangspunkt der Judenverfolgungen zu Trier wirkt wie eine nachträgliche Datierung, denn an jenem Tag war nichts Besonderes geschehen, abgesehen von einem flüchtigen Besuch Peters von Amiens in der Stadt. Möglicherweise hat auch die Angabe des Datums, auf das Pessach in jenem Jahr fiel, mit der Bestimmung dieses Festes als Anfang der Verfolgungen zu tun.

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davon, was die Kirchenväter Origenes und Eusebius, bei denen diese beiden Ereignisse erstmals miteinander verknüpft sind, etwas in Verlegenheit bringt. 27 Um diese Lücke zu füllen, war die vindicta salvatoris hochwillkommen. Ihre frühesten literarischen Versionen stammen zwar aus dem 6. Jh., aber darin angespielt ist auf Vorgänge aus dem frühen 5. Jh. 28 Im Folgenden werde ich darlegen, weshalb ich sie bis in die zweite Hälfte des 4.Jh. vordatieren möchte. Eine Version dieser Legende lautet etwa so: Als Tiberius Kaiser war, regierte Titus über Aquitanien. Er litt an einem Nasengeschwür, das seine Züge entstellte. Ein Gesandter aus dem Lande Judäa namens Nathan machte sich auf den Weg zum Kaiser nach Rom. Widrige Winde brachten sein Schiff vor der aquitanischen Küste zum Kentern. Als er vor Titus geführt wurde, erzählte er ihm von Jesu Heilungswundern, von seiner Hinrichtung durch die Juden und seiner Auferstehung von den Toten. Titus verwünschte Tiberius, weil er Jesu Kreuzigung nicht verhindert habe, und schwor den Juden Rache. Durch diesen Schwur sei er sogleich geheilt worden. Er beugte sich unter die Hoheit des Königs der Juden, obwohl er ihn nie erblickt hatte, und betete um Gottes Führung bei seinem Rachezug wider die Juden. Zusammen mit Vespasian unternahm er einen Straffeldzug nach Jerusalem. Nach langer Belagerung mussten sich die Juden ergeben und wurden schwer gezüchtigt. Vespasian und Titus ließen etliche von ihnen steinigen, andere mit dem Kopf nach unten ans Kreuz schlagen und mit Lanzen durchbohren; die Uberlebenden wurden in die Sklaverei verkauft. Diese Erzählung erinnert an die Legende vom „Schweißtuch der Veronica", wie sie in der sog. Kaiserchronik (1150-1160) überliefert ist. 29 Dort ist es der kranke Kaiser Tiberius, der sich von einem jüdischen Wunderarzt aus Judäa heilen lassen will, nämlich Jesus. Doch da die Juden diesen getötet haben, begnügt sich der Kaiser mit dessen Bildnis, das auf dem Tuch geblieben war, mit dem Veronica dem Gekreuzigten den Schweiß abgewischt hatte. Nach erfolgter Heilung schickt der Kaiser Vespasian und Titus zu einer Racheaktion wider die Juden. Im Zuge der Belagerung Jerusalems und der damit verbundenen Ausschreitungen ist die harte Bestrafung der Juden anschaulich geschildert. 30 In zwei Gesängen vom Wilden Mann aus den Jahren 27

Origenes, Contra Celsum I 47 (Chadwick, 43 A n m . 2). Auch der Kirchenvater Hippolyt vertritt u m das Jahr 200 die Auffassung, dass die Tempelzerstörung zur Strafe für die Kreuzigung Jesu erfolgt sei; s. R. Ruether, Faith and Fratricide, N e w York 1974, 128. Zur Entfaltung dieses Gedankens in der frühen Kirche s. Heid, Jerusalem/Rom (s.o. A n m . 1); ferner R.L. Wilken, J o h n C h r y s o s t o m and the Jews. Rhetoric and Reality in the Late 4th Century, Berkeley 1983, 132-138. 28 D o b s c h ü t z , Christusbilder (s.o. A n m . 2 1 ) , 216 A n m . 1. 29 Schreckenberg, Josephus (s.o. A n m . 2 1 ) , 58. 30 Eine Parallel-Überlieferung ist die sog. cura sanitatis Tiberii (Dobschütz, Christusbilder, s.o. A n m . 2 1 , 209-211): Kaiser Tiberius habe von Jesu Wundertaten erfahren und beschlossen,

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salvatoris)

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1 1 7 0 - 1 1 8 0 ist die L e g e n d e v o n d e r R a c h e des H e i l a n d s e t w a s a n d e r s e r z ä h l t . 3 1 D o r t ist es Vespasian, d e r an einer s c h w e r e n K r a n k h e i t litt - in sein e m K o p f n i s t e t e n W e s p e n . Sein S o h n T i t u s b e s c h l o s s , n a c h J e r u s a l e m z u reisen, u m i h m H e i l u n g z u v e r s c h a f f e n , d e n n er h a t t e v o n d e m w u n d e r b a r e n S c h w e i ß t u c h der V e r o n i c a e r f a h r e n , w o r a u f J e s u Bildnis z u s e h e n w a r . T i t u s k e h r t e m i t V e r o n i c a u n d d e m T u c h n a c h R o m z u r ü c k , u n d d e r K a i s e r genas. E r u n d T i t u s u n t e r n a h m e n einen R a c h e f e l d z u g w i d e r die J u d e n , die J e s u s g e t ö t e t h a t t e n , w o b e i sie J e r u s a l e m z e r s t ö r t e n . E i n e a n d e r e V e r s i o n findet sich bei L a n d o l f u s Sagax im f r ü h e n

11.Jh.:32

A l s T i t u s e r f u h r , dass sein V a t e r in R o m K a i s e r g e w o r d e n w a r , s c h w o l l i h m v o r l a u t e r F r e u d e d e r r e c h t e F u ß s o an, dass er in k e i n e n S c h u h h i n e i n p a s s te. J o s e p h u s t r u g z u seiner H e i l u n g bei, i n d e m e r e m p f a h l , einen V e r h a s s t e n v o r ihn k o m m e n z u lassen. D i e s e E r z ä h l u n g b e r u h t auf d e r B e h a u p t u n g des J o s e p h u s , e r h a b e Vespasians K a i s e r t u m p r o p h e z e i t . 3 3 W i e s c h o n J o c h a n a n L e w y b e o b a c h t e t hat, e r i n n e r t diese L e g e n d e bei L a n d o l f u s S a g a x an die talm u d i s c h e E r z ä h l u n g v o n R. J o c h a n a n b. Sakkai, d e r ebenfalls Vespasian seine k ü n f t i g e K a i s e r w ü r d e a n g e k ü n d i g t h a b e . V o r F r e u d e ü b e r diese f r o h e B o t s c h a f t sei Vespasian d e r F u ß s o a n g e s c h w o l l e n , dass e r d e n S c h u h n i c h t m e h r h a b e a u s z i e h e n k ö n n e n . 3 4 L e w y b e t r a c h t e t e die t a l m u d i s c h e

Erzäh-

ihn kommen zu lassen. Zu diesem Zweck entsandte er einen Beamten namens Volusianus nach Jerusalem. Dessen Ankunft versetzte die Juden und Pilatus in Schrecken, weil sie Jesus inzwischen getötet hatten. Pilatus wurde angeklagt und gefangengesetzt. Volusianus erfuhr von Veronica, einer tyrischen Frau, die drei Jahre zuvor noch zu Jesu Lebzeiten dessen Bild gemalt habe zum Dank für Heilung von schwerer Krankheit. Auf der Rückreise nach Rom nahm Volusianus die Frau und das von ihr gemalte Bild mit, ebenso den gefesselten Pilatus. Als der Kaiser dies sah, fragte er, weshalb er Pilatus nicht sofort habe töten lassen; Volusianus gab an, er habe dem kaiserlichen Urteil nicht vorgreifen wollen. Daraufhin wurde Pilatus zu Verbannung verurteilt. Der Kaiser betete zu Jesu Bildnis, wurde geheilt und bekehrte sich zum Christentum. Soweit erzählt die Legende. Wie schon Dobschütz (ebd., 212) bemerkte, spielt Veronica in dieser Version eine recht untergeordnete Rolle. In der Hauptsache geht es um die Verurteilung und Bestrafung des Pilatus. Demnach lässt sich diese Legende als eine Parallelentwicklung zur vindicta salvatoris betrachten. Beide Legenden wollen zeigen, wie Jesu Kreuzigung geahndet wurde. In der cura sanitatis Tiberii erscheint Pilatus als der Hauptschuldige, wohingegen in der vindicta die Juden Gegenstand der Beschuldigung und daraus folgenden Bestrafung sind. Beide Versionen stammen aus dem Erzählschatz der acta Pilati, die auch unter dem Namen Nikodemus-Evangelium bekannt sind. Dazu W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen I, Tübingen 6 1990, 395^424, bes. 423f; W. Rebell, Neutestamentliche Apokryphen und Apostolische Väter, München 1992, 103-105; J.K. Elliott (Hg.), The Apocryphal New Testament, Oxford 1993, 164-15; ältere Bibliographie bei J.H. Charlesworth (Hg.), The New Testament Apocrypha and Pseudepigrapha, Metuchen N.J./London 1987, Nr. 57. 31 Schreckenberg, Josephus (s.o. Anm.21), 59. » Ebd., 56 f. 33 Bell III, 399-408; dazu Y. Baer, Jerusalem at the Times of the Great Revolt (hebr.), in: Zion 36 (1971), 180-184. 34 b Gittin 56b; H. Lewy, Josephus the Physician: A Medieval Legend of the Destruction of Jerusalem, in: Journal of the Warburg Institute 1 (1937-38), 221-242. Ungefähr gleichzeitg er-

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

lung f ü r die Quelle der christlichen Legende; Baer dagegen will in dem ca. 417 verfassten Buch des O r o s i u s Historia contra Paganos die Quelle f ü r Landolfus sehen u n d n i m m t die talmudische Erzählung als Reaktion auf einen christlichen Text; in der jüdischen Version sei J o s e p h u s als Heiler u n d P r o p h e t des künftigen römischen Kaisers durch R. J o c h a n a n b. Sakkai ersetzt worden. 3 5 Die Ü b e r e i n s t i m m u n g e n zwischen der Erzählung bei Landolfus u n d der Legende vindicta salvatoris sind unverkennbar. In beiden Fällen ist Titus der Patient u n d wird durch einen J u d e n aus Judäa geheilt. U n terschiedlich ist der Sitz der Krankheit: in der Nase bzw. im F u ß ; dort ein Wespennest im Kopf (oder ein Geschwür), hier eine Schwellung. 3 6

schien auch die U n t e r s u c h u n g von G. Kisch, A Talmudic Legend as the Source for the Josephus Passage in the Sachenspiegel, in: Historia Judaica 1 (1938-39), 105-118, der zu ähnlichen Schlüssen gelangt. 35 Baers A u s f ü h r u n g e n sind sehr komprimiert. Die Legende von Titus und der Mücke, die im Folgenden gebracht werden soll, bestätigt seine Vermutung, dass jüdische Berichte über die Zerstörung Jerusalems durch die R ö m e r eine antichristliche Tendenz verfolgen; gegen P. Schäfer, Die Flucht Johanan b. Zakkais aus Jerusalem u n d die G r ü n d u n g des „Lehrhauses" in Jabne, in: H . Temporini/W. Haase (Hg.), A N R W XIX/2, Berlin/New York 1979, 93-97. 36 Baer meint außerdem, auch die Erzählung von dem arabischen Fürsten Abgar (Pangar) in den Legenden über die Tempelzerstörung im Midrasch T h r R (I, 33) sei eine jüdische Reaktion auf die christliche Legende vom .schwarzen Abgar' (dazu D o b s c h ü t z , Christusbilder, s.o. A n m . 2 1 , 102-120; Schneemelcher, N t l . Apokryphen (s.o. A n m . 3 0 ) , 389-395. Laut Eusebius (hist. eccl. 1 1 3 ) habe sich ,der schwarze Abgar' an Jesus gewandt, seinen Glauben an ihn bezeugt und um Heilung gebeten. In der syrischen Fassung der Legende von Marias H i m m e l f a h r t (transitus beatae virginis) bittet Abgar darum, die Juden f ü r die Kreuzigung des Heilers/Erlösers zu bestrafen und Jerusalem zu zerstören (M.R. James, The Apocryphal N e w Testament, O x f o r d 1924, 219; C u r e t o n , Ancient Syriac D o c u m e n t s , L o n d o n 1864, 111). Jener Abgar entspricht Vespasian/Titus in der vindicta salvatoris. Auch in den Zerstörungslegenden im Midrasch T h r R ist Abgar das Gegenstück zu Titus, indem er dafür plädiert, das Heiligtum bis auf den G r u n d zu zerstören. Als die vier Fürsten die Stadtmauern u n t e r sich aufteilten, sei die westliche Mauer Abgar zugefallen, doch der habe sie nicht eingerissen, damit ein Rest vom Tempelareal bleibe, u m späteren Generationen eine Vorstellung vom Ausmaß der Zerstörung zu vermitteln. Z u r Strafe dafür wurde er zum Tod durch Sprung vom Felsen verurteilt. Diese Legende verwendet die Westmauer (die sog. Klagemauer) als A r g u m e n t gegen Jesu A n k ü n d i gung, vom Tempel werde kein Stein auf dem andern bleiben (vgl. Lk 21,6). Im selben Zusammenhang steht die Ä u ß e r u n g von Rav Acha aus Caesarea in der 2. H ä l f t e des 4. Jh.: „Die westliche Mauer soll nie zerstört werden" (ThrR ebd.). Die jüdische Erzählung von Abgar, der die Westmauer habe stehen lassen, ist die jüdische U m k e h r u n g der christlichen Legende, wonach Abgar Jesu Tod an den Juden durch Zerstörung ihres Tempels habe rächen wollen. D e m n a c h bietet sowohl die Zerstörungslegende im Midrasch T h r R als auch die im babylonischen Talmud Gittin eine jüdische Spiegelgeschichte zu der christlichen. Baer erblickte in R. Jochanans Bitte „gib mir Javne und die dortigen Gelehrten" einen Niederschlag der politischen Verhältnisse gegen Ende des 4. Jh., und schlug vor ,Tiberias' statt J a v n e ' zu lesen. Er meint, diese Legende gebe A u s k u n f t über die historischen Zustände zu ihrer eigenen Zeit, als sich das Tor ins mittelalterliche Exil öffnete. Damals habe die führende rabbinische Autorität im Heiligen Lande vom römischen Kaiser den Weiterbestand der zentralen Talmudlehrstätte in Israel erbeten. Bemerkenswert ist auch die formale Ähnlichkeit zwischen R. Jochanans Bitte „gib mir Javne." und der christlichen Erzählung über die konstantinische Schenkung (donatio Constantini). Beide

Die Rache des Heilands (vindicta

57

salvatoris)

U n d siehe da, die Legende von der Rache des Heilands hat eine deutliche Parallele in den jüdischen Zerstörungslegenden: die Erzählung von Titus und der M ü c k e . 3 7 N i c h t nur die M ü c k e entspricht der Wespe, sondern Struktur und Ideologie der jeweiligen Erzählung weisen auf symmetrische Anlage bei gleichzeitiger U m k e h r u n g hin: D e r christlichen vindicta ris tritt die jüdische vindicta

salvato-

dei gegenüber. U n d so lautet die jüdische L e -

gende, wie sie im babylonischen Talmud (Gittin 56b) überliefert ist: „ U n d spricht: W o ist ihr G o t t , der Fels, auf den sie v e r t r a u t ? " ( D t n 3 2 , 3 7 ) - das ist d e r b ö s e T i t u s , der nach o b e n fluchte und schimpfte. Was hat er getan? E r n a h m eine D i r n e bei der H a n d , trat ins Allerheiligste, breitete eine Torarolle aus und beging eine Ü b e r t r e t u n g darauf, er n a h m ein Schwert und zerschliss den Vorhang v o r d e m Allerheiligsten, da geschah ein W u n d e r , dass Blut h e r a u s s t r ö m t e , als o b er ihn selbst g e t ö t e t h ä t t e [ . . . ] . Was m a c h t e er? E r n a h m den V o r h a n g , m a c h t e eine A r t T r a g e t a s c h e daraus, tat sämtliche Tempelgeräte hinein und trug sie darin auf ein Schiff, um sich damit in seiner Stadt g r o ß z u t u n [ . . . ] . D a e r h o b sich wider ihn ein W i r b e l im M e e r , ihn zu versenken. D o c h er sprach: M i r scheint, deren G o t t hat M a c h t nur ü b e r das Wasser - P h a r a o , den e r t r ä n k t e er im Wasser, Sisera, den e r t r ä n k t e er im Wasser, auch wider m i c h erhebt er sich, mich im W a s ser zu e r t r ä n k e n . W e n n er M a c h t hat, soll er an L a n d gehen und dort mit m i r Krieg führen. D a ging eine H i m m e l s s t i m m e aus und sprach zu ihm: D u B ö s e wicht, S o h n von B ö s e w i c h t e n , N a c h k o m m e des b ö s e n E s a u ! Ein winziges G e s c h ö p f habe ich in m e i n e r Welt, das heißt M ü c k e [ . . . ] geh an L a n d und führe Krieg wider sie. E r ging an Land, da kam eine M ü c k e , drang ihm durch die N a s e ins H i r n , w o sie sieben J a h r e lang stach [ . . . ] . E s wird gelehrt, R. Pinchas b. A r u b a habe gesagt: Ich war u n t e r den G r o ß e n R o m s , als er starb, ö f f n e t e m a n sein G e hirn und fand sie d o r t in der G r ö ß e eines Vogels v o n zwei Sela G e w i c h t [.. , ] . 3 8

Erzählungen beruhen auf der wunderbaren Heilung des Kaisers durch eine religiöse Autoritätsperson, woraufhin der Vertreter der weltlichen Macht der betreffenden Religion die Anerkennung verleiht. Die konstantinische Schenkung ist zwar erst im 8.Jh. belegt, aber möglicherweise bezeugt die talmudische Erzählung eine wesentlich frühere Fassung davon. Dazu I.J. Yuval, Jews and Christians in the Middle Ages: Shared Myths, C o m m o n Language, Donatio Constantini and Donatio Vespasiani, in: Robert S. Wistrich (Hg.), Demonizing the „Other": Antisemitism, Racism, and Xenophobia, Amsterdam 1999, 88-107. 37 b Gittin 57a; Avot deRabbi Nathan B, V I I ; LevR X X I I 3 (499-502). Lewy, Josephus the Physician (s.o. Anm.34), 274, Anm.32 hat auf die Ähnlichkeit zwischen Vespasians Wespe in der christlichen und der Mücke des Titus in der jüdischen Legende hingewiesen, aber er meinte, die talmudische Mücke sei bis ins 11. Jh. zu der Wespe in den christlichen Legenden geworden. Da ihm die umgekehrten Entsprechungen in den übrigen Elementen der Erzählungen nicht aufgefallen waren, ist ihm auch deren Stellenwert in der frühen jüdisch-christlichen Polemik entgangen. Eine andere Haltung gegenüber der Erzählung vertritt G. Stemberger, Die römische Herrschaft im Urteil der Juden, Darmstadt 1983, 6 7 - 7 3 . 38 Ich beschränke mich hier auf die Version von b Gittin 56b, ohne auf die Parallelen zu dieser Legende aus anderen Quellen einzugehen, denn in der Textfassung von Gittin sind die meisten Motive enthalten, die in der christlichen Legende ein Gegenstück haben.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

In beiden Erzählungen ist Titus krank, und es besteht ein enger Zusammenhang zwischen seiner Krankheit und der Zerstörung Jerusalems. In beiden wird zur See gefahren: In der christlichen Erzählung fährt Titus übers Meer nach Jerusalem, um die Stadt zu zerstören; in der talmudischen Erzählung reist er von der Zerstörung Jerusalems zurück nach Rom. Hier wird er geheilt, dort stirbt er eines qualvollen Todes. Hier erscheint die Zerstörung der Stadt als ein großes Verdienst, dort als ein furchtbarer Frevel. Im christlichen Text glaubt Titus an Jesus, obwohl er ihn nie gesehen hat, im jüdischen ist seine erste Tat ein Sakrileg. In beiden Erzählungen spielt die Seefahrt eine wichtige Rolle. Der christliche Text beginnt mit dem Schiffbruch des Gesandten aus Judäa und fährt fort mit dem Gebet des Titus: „Mein König und mein Gott, da ich dich niemals gesehen und du mich geheilt, gebiete mir, zu Schiff übers Wasser in dein Heimatland zu reisen, auf dass ich Rache übe an deinen Feinden; und steh mir bei, Herr, dass ich vermöge, sie zu vernichten und deinen Tod zu rächen". 39 Das Motiv von Schiff und gefährlicher Seereise erscheint auch in der talmudischen Erzählung, allerdings umgekehrt: Dort ist es Titus, der von Jerusalem nach Rom fährt und dabei fast untergeht. Wie gesagt, in einigen der christlichen Legenden ist der Patient Vespasian, in der talmudischen Erzählung ist es Titus. In der christlichen Legende unternehmen Vespasian und Titus gemeinsam den Rachefeldzug gegen die Juden, die Zerstörungslegende in b Gittin dagegen scheidet die beiden voneinander: Vespasian wird positiv geschildert, er empfängt R. Jochanan b. Sakkai und gewährt ihm das Lehrhaus in Javne, die Rolle des Bösewichts fällt allein Titus zu. In der christlichen Fassung wird die göttliche Gerechtigkeit durch ein Heilungswunder verwirklicht, in der jüdischen durch un-

39 Bei Wright, Vengeance (s.o. Anm.21), 30: Rex mens et deus mens, quia nunquam te vidi et sanum me fecisti, iube me ambulare cum navigo super aquas in terram nativitatis tuae, ut faciam vindictam de inmicis tuis; et adiuva me, domine, ut possim eos delere et mortem tuam vindicare. Das Motiv der Meerspaltung kehrt in etlichen messianischen Darstellungen wieder. R.L. Wilken, The Restoration of Israel in Biblical Prophecy. Christian and Jewish Responses in the Early Byzantine Period, in: J . Neusner/E.S. Frerichs (Hg.), To See Ourselves as Others See Us: Christians, Jews, .Others' in Late Antiquity, Chico 1985, 445 führt die Aussage des christlichen Historiographen Sokrates Scholasticus an, wonach im 5.Jh. auf Kreta ein Jude namens Mose (!) aufgetreten sei und verheißen habe, er werde die Juden trockenen Fußes durchs Meer ins Heilige Land führen. Viele hätten ihm geglaubt, seien am bestimmten Tag auf einen hohen Felsen gestiegen, ins Meer gesprungen und dort ertrunken. S.a. Irshai, Christian-Jewish Polemic (s.o. Anm.3), I, 166. Im Sefer Serubavel (Y. Even-Shmuel, Midrasche Geula, Jerusalem 1954, 86) steht: „Am 21. des ersten Monats (d.i. Nissan, also am 7. Tag des Pessach-Festes) wird Menachem ben Amiel kommen [...] sie werden an das große Meer treten und rufen. Dann kommen alle Leichen von Israeliten heraus, die sich jemals ins Meer gestürzt haben, um ihren Sklavenhaltern zu entgehen". Vgl. auch mit den Worten des Hieronymos (Joel-Kommentar, s. u. Anm. 63) sowie mit den späteren Schilderungen, wie die Heiden in der Endzeit im Meer ertrinken sollen (s.u. Kap. III, Anm. 101).

Die Rache des Heilands (vindicta

salvatoris)

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heilbare Erkrankung. F ü r seinen Frevel wird Titus durch das kleinste unter den Tieren, nämlich die Mücke, bestraft; Frau H a s a n - R o k e m hat bereits auf den Anklang des hebräischen Wortes für , M ü c k e ' (Jatuscb) an den N a m e n .Titus' aufmerksam gemacht. 4 0 D e m ließe sich noch hinzufügen: D i e M ü cke des Titus ist das jüdische Gegenstück zur Wespe (lateinisch: vespa) des Vespasian. D u r c h Wahrnehmung des antichristlichen Hintergrunds der Erzählung von Titus und der M ü c k e wird auch die dramatische Szene davor durchsichtiger: T i t u s ' Eindringen ins Allerheiligste, sein Geschlechtsakt mit der H u r e und das Zerreißen des Vorhangs. Galit H a s a n - R o k e m hat bemerkt, dass hier eine Metapher für die Eroberung Jerusalems sozusagen illustriert wird: „Wie ward zur Hure die treue Stadt" (Jes 1,21). Das verbotene Eindringen in den Tempel mit dem Schwert fungiert als Gegenstück und Ergänzung zum Geschlechtsakt mit der Hure: In beiden Fällen dringt der Bösewicht unerlaubt ein, das eine Mal mit dem Penis, das andere Mal mit dem Schwert. 4 1 Das Bild vom Zerreißen des Tempelvorhangs knüpft an eine andere Szene an; beim Tod J e s u heißt es: „Aber Jesus schrie laut und verschied. U n d der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von obenan bis untenaus" ( M k 15,37f). D i e Begründung, weshalb der Tempelvorhang in dem Augenblick zerriss, als Jesus seinen Geist aufgab, steht im Hebräerbrief: „So wir denn nun haben, liebe Brüder, die Freudigkeit zum Eingang in das Heilige durch das Blut Jesu, welchen er uns bereitet hat zum neuen und lebendigen Wege durch den Vorhang, das ist durch sein F l e i s c h " ( H e b r 10,19f). D e m n a c h steht J e s u Körper für den Vorhang, der das Allerheiligste vom Innenraum des Tempels abteilte. So k o m m t folgende Analogie zustande: Wie der H o hepriester einmal jährlich (am Versöhnungstag) mit dem Opferblut ins A l lerheiligste trat, um dort Sühne für das Volk zu wirken, ist Jesus durch seinen Tod ins Allerheiligste des himmlischen Heiligtums eingegangen und hat dort die Erbsünde gesühnt. Sein Opfer, ein Menschenopfer, gilt bis in Ewigkeit, während die Versöhnung im irdischen Heiligtum zeitlich begrenzt war, Tag für Tag mussten weitere Opfertiere dargebracht werden, um

4 0 G. Hasan-Rokem, Within Limits and Beyond: History and Body in Midrashic Texts, in: International Folkore Review 9 (1993), 5 - 1 0 . Nach der Version dieser Legende in LevR X X I I 3 (501) kam Titus aus dem Bade, „und man mischte ihm einen Doppelbecher". Wie B. Bokser, Changing Views of Passover and the Meaning of Redemption according to the Palestinian Talmud, in: AJS Review 10 (1985), 8f gezeigt hat, besteht ein Zusammenhang zwischen dieser Stelle und j Pessachim X 1 (37b-c): „Woher die vier Becher [beim Seder-Mahl]? [...]. Unsere Meister sagen, sie entsprechen den vier Bechern des Unheils, die der Heilige gelobt sei Er den Völkern der Welt dereinst zu trinken geben wird [...]. Was ist ,das Maß ihres Bechers'? Rabbi Abun sagt: ein Doppelbecher, wie der Doppelbecher nach dem Bade. Entsprechend wird der Heilige gelobt sei Er dereinst den Israeliten vier Becher des Trostes zu trinken geben." 41 Hasan-Rokem, a. a. O . , 7.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

sie zu erneuern. Das Zerreißen des Tempelvorhangs symbolisiert Jesu Kreuzestod und Himmelfahrt, denn durch den Vorhang war der Zutritt vom Heiligen ins Allerheiligste abgesperrt, und nur der Hohepriester durfte ihn durchschreiten, wie ebenfalls im Hebräerbrief zu lesen: „der auch hineingeht in das Inwendige des Vorhangs, dahin der Vorläufer für uns eingegangen, Jesus, ein Hoherpriester geworden in Ewigkeit [...]" (6,19b-20). Sowie sein Geist seinen Körper verließ, als er starb, ging Jesus ins Allerheiligste des himmlischen Tempels ein. Bei seinem Tod riss der Vorhang einmal mitten entzwei, wodurch die Trennwand zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten aufgehoben wurde.42 Die jüdische Erzählung von Titus arbeitet mit genau diesem Bild, nur unter umgekehrten Vorzeichen. Titus' Eindringen ins Allerheiligste und das Zerreißen des Vorhangs sind Umschreibungen für Jesu Kreuzestod. Aber Titus ist auch der Zerstörer des Heiligtums, deshalb „geschah ein Wunder, dass Blut herausströmte, als ob er ihn selbst getötet hätte" - d.h. den Gott, der im Allerheiligsten seinen Sitz hatte. Das ist doch eine leicht durchschaubare ironische Anspielung auf die christliche vindicta salvatoris. Der Zerstörer des Tempels (Titus) hält irrtümlich (wie der Verfasser von Heb) den Vorhang für den Leib des Gottes („durch den Vorhang, d. i. durch sein Fleisch"). 43 Was in der christlichen Symbolik als der heiligste Augenblick und die erhabenste Sühnehandlung in der Geschichte der Menschheit galt, Jesu Tod am Kreuz und das Zerreißen des Tempelvorhangs, ist in der talmudischen Legende zum schlimmsten Frevel geworden. So hat die jüdische Legende die Logik der vindicta salvatoris übernommen, deutet sie nur andersherum: Titus' Erscheinen im Allerheiligsten ist in der Tat ein Resultat von Jesu Kreuzestod, aber keine Strafe, sondern ein furchtbares Verbrechen. So wurde die Sünde der Tempelzerstörung der Christenheit angelastet; so wird die Schuld an der Zerstörung des Jerusalemer Tempels vom historischen Titus, dem heidnischen Römer, auf den mythischen, den .christlichen' Titus übertragen, der in der vindicta salvatoris auftritt. Es fällt auf, dass der entsprechende Vorgang, nur in umgekehrter Richtung, sich auch in den oben erwähnten christlichen Legenden vollzieht. Dort wurde dem heidnischen Kaiser und seinem Handlanger Pontius Pilatus die Schuld für Jesu Kreuzi-

42 Zum Zerreißen des Tempelvorhangs im Neuen Testament (und in den Apokryphen) samt Sekundärliteratur s. M. de Jonge, Two Interesting Interpretations of the Rending of the Temple-Veil in the Testaments of the Twelve Patriarchs, in: Jewish Eschatology, Early Christian Christology and the Testaments of the Twelve Patriarchs, Leiden 1991, 220-231, bes. Anm.2. 43 In Avot deRabbi Natan (s. o. Anm. 37) sowie in Sifre Dtn § 328 (378f) heißt der römische Feldherr .Titus, Sohn der Frau des Vespasian'. Vielleicht ist das eine Anspielung auf Jesus: Sohn seiner Frau, aber nicht Sohn seines Vaters, d. h. ein Bastard. Vgl. S. Lieberman, Hellenism in Jewish Palestine, New York 1942, 164f (den Hinweis auf Liebermans Ausführungen verdanke ich Adiel Schremer). Zu Opferblut auf dem Tempelvorhang vgl. ferner b Joma 57a.

Die Rache des Heilands (vindicta

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gung abgenommen und ausschließlich den Juden angelastet. Daran ist deutlich abzulesen, wie im 4.Jh. aus dem Königtum das .Ketzertum' wurde. Demnach ist die talmudische Erzählung über Titus als verdeckte und raffinierte Polemik gegen die christliche Legende vindicta salvatoris zu lesen bzw. umgekehrt. 44 Die eine ist sozusagen das umgekehrte Spiegelbild der anderen. Welche war wohl früher? Diese Frage lässt sich kaum beantworten; vielleicht liegt hier kein zeitliches Nacheinander vor, sondern eine Disputation zwischen zwei Legenden um die Zerstörung Jerusalems. Was die literarischen Belege betrifft, so ist die jüdische Erzählung wesentlich älter, aber von der christlichen Legende dürften vor ihrer Verschriftlichung mündliche Versionen im Umlauf gewesen sein. Aus christlicher Sicht passt die Legende vindicta salvatoris gut ins 4.Jh., nach dem Konstantinischen Edikt. In dieser Zeit entwickelte sich die christliche Liturgie über die Zerstörung Jerusalems in Entsprechung zum 9. Av, dem jüdischen Gedenktag an die Tempelzerstörung. Ein wichtiges Motiv in der vindicta salvatoris ist die teilweise .Christianisierung' des Titus - er glaubt an Jesum und wird daraufhin geheilt - ein Motiv, das mit der Person des Konstantinus zusammengeht. Eusebius ist der Erste, der die Kreuzigung Jesu an Pessach mit der Belagerung von Jerusalem in Verbindung bringt, die ebenfalls zu Pessach begann. Bei Origenes und bei Eusebius wird die Zerstörung Jerusalems ausdrücklich als Vergeltung für Jesu Kreuzigung bezeichnet; 45 und diese beiden Kirchenväter sind auch die ersten, die sich mit der heiklen Frage befassen, weshalb Josephus zwischen Jesu Kreuzestod und der Zerstörung Jerusalems keine Verbindung herstellt. Von ihren ideologischen Komponenten her passt die vindicta salvatoris also ins 4.Jh. Die Frage, die darin beantwortet werden soll, ist genau die von Origenes und

44 Danach ist Galit Hasan-Rokem noch einmal auf diesen Text eingegangen: G . Hasan-Rokem, Narratives in Dialogue: A Folk Literary Perspective on Interreligious Contacts in the Holy Land in Rabbinic Literature of Late Antiquity, in: A. K o f s k y / G . G . Stroumsa (Hg.), Sharing the Sacred. Religious Contacts and Conflicts in the Holy Land, Jerusalem 1998, 107-129. In ihrer sorgfältigen Analyse deckt Hasan-Rokem einen weitreichenden Dialog mit dem Heidentum auf, legt dabei auch die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit dem Christentum nahe. In den beiden Huren, die Titus ins Allerheiligste bringt (so nach der Parallelversion in LevR), findet sie eine Andeutung auf Maria, die Mutter Jesu, und auf Maria Magdalena. Die Szene, wo der Tempelvorhang zerreißt, deutet sie dagegen als antipagan. Unsere Auffassungen des Textes gehen also nicht ganz konform. Ich will den Folkloristen nicht das Recht bestreiten, alle möglichen Motive und Parallelen aufzudecken, die an der Gestaltwerdung einer Erzählung beteiligt gewesen sein mögen. Aber mir als Historiker geht es darum, aus der Fülle der Klänge die Hauptmelodie auszusondern, was der Polyphonie des Werks keinen Abbruch tut. Welche Melodie sich als die dominante erweist, kommt auf den historisch-kulturellen Hintergrund an, auf dem die betreffende Erzählung entstanden ist, und für die jüdischen Tempelzerstörungslegenden aus dem 4. und 5.Jh. war die Auseinandersetzung mit dem Christentum ungleich dringlicher als die mit dem Heidentum. 4 5 Vgl. Wilken, (s.o. Anm.27), 132-138.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

Eusebius und deren Zeitgenossen, nur dass die beiden Kirchenväter eine schriftkundige Antwort gefunden hatten, indem sie Josephus die Meinung zuschrieben, die Zerstörung sei die Strafe für die Kreuzigung des Jakobus, des Bruders Jesu. 46 Die Lösung der vindicta salvatoris ist volkstümlicher, mythischer, und ich sehe gute Gründe dafür, sie in die zweite Hälfte des 4.Jh. zu datieren, bald nach der Episode des Kaisers Julian Apostata, wodurch die Zerstörung des Jerusalemer Tempels ins Zentrum des Interesses und der Polemik zwischen Christentum und Judentum gerückt war. Offenbar ist dies auch die Entstehungszeit der jüdischen Legende. Einige der darin enthaltenen Motive sind zwar älter, wie aus dem Vergleich mit der Version des Sifre hervorgeht, 47 aber in ihrer vollständigen Form hat sich die Legende anscheinend im 4.Jh. herausgebildet. Die im Midrasch LevR und im babylonischen Talmud (Gittin 56b) belegte Fassung lässt einen jüdischchristlichen Disput über die Zerstörung Jerusalems und die damit zusammenhängende Rache erkennen. Die christliche Legende dient einem zentralen Grundanliegen der christlich-religiösen Auffassung, dessen Notwendigkeit unmittelbar einleuchtet: Jesu Tötung zog die Zerstörung nach sich und damit den Entzug der Erwählung; die jüdische Legende dagegen ist apologetisch zu deuten. Vielleicht ist dies eine Bestätigung des Primats der christlichen Legende. Auch das Wortspiel vespa — Vespasian wirkt ursprünglich, wohingegen das jüdische Gegenstück Jatusch (Mücke) = Titus wie eine ungelenke Nachahmung erscheint; die polemische Erwiderung überzeugt weniger als das Original. 48

3 Die Zerstörungslegenden

-

antichristlich?

Anzeichen für antichristliche Tendenzen in der jüdischen Erzählung von Titus' Bestrafung durch die Mücke sind ein Anlass, den gesamten Erzählkomplex im babylonischen Talmud (Gittin 55b-57a), in den diese Erzählung eingebettet ist, eingehender unter die Lupe zu nehmen. Es handelt sich um die bekannten Legenden von der Zerstörung Jerusalems, und ich möchte sie daraufhin untersuchen, ob ihre Redaktion vielleicht mit dem Ziel vorgenommen wurde, der christlichen Deutung der Zerstörung Jerusalems etwas entgegenzusetzen. Diese Legendenfolge im babylonischen Talmud weist ein hohes Maß an 46 Dazu Z. Baras, The Testimonium Flavianum and the Martyrdom of James, in: L.H. Feldman/G. Hata (Hg.), Josephus, Judaism and Christianity, Detroit 1987, 338-348. 4 7 Sifre Dtn, § 328, 378 f. Die Wurzeln der antichristlichen Polemik in Bezug auf die Zerstörung Jerusalems liegen sicherlich in anti-heidnischer Polemik, (s.o. Anm. 1). 48 Zu weiteren antichristlichen Aspekten dieser Erzählung s. bei S. Gero, Jewish Polemic in the Martyrium Pionii and a „Jesus" Passage from the Talmud, in: JJS 29 (1978), 1 6 4 - 1 6 8 .

Die Zerstörungslegenden - antichristlich?

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thematischer und gedanklicher Kohärenz auf, die Erzählungen sind untereinander eng verknüpft. Sie setzen ein mit dem Hintergrund der Zerstörung (die Episode um Kamza und Bar Kamza), darauf folgt die Schilderung der H u n g e r s n o t im belagerten Jerusalem (Martha, Tochter des B o e t h o s ) , der Untergang der Stadt und die Errichtung der Lehrstätte in Javne (R. J o c h a nan b. Sakkai vor Vespasian), dann die Bestrafung des Zerstörers (Titus und die M ü c k e ) , und schließlich wird der Status der Juden im Zeitalter nach der Tempelzerstörung erörtert (Jesus im Jenseits). Die einzelnen Erzählungen sind durch wiederkehrende sprachliche Wendungen miteinander verbunden: dreimal werden römische Militärs wider die Juden entsandt (Nero, Vespasian, T i t u s ) ; Abba Sikara ist der ,Schwestersohn des Rabban Jochanan b. Sakkai', und O n k e l o s , der Sohn des Kalonymos, wird als ,Schwestersohn des T i t u s ' eingeführt. D e n Abschluss der gesamten Erzählfolge führt der Redaktor ausdrücklich auf den Anfang zurück: „ K o m m und sieh, wie groß die Macht der Beschämung ist, so kam der Heilige gelobt sei E r dem Bar Kamza zu Hilfe, ließ sein Haus zerstören und seinen Tempel verbrennen" was an den Schluss der Erzählung über Bar Kamza erinnert. Auch zwischen inneren K o m p o n e n t e n der verschiedenen Erzählungen sind starke Verbindungen zu erkennen. Das Jungrind, das als Opfertier nach Jerusalem geschickt wird, ist ein Dreijähriges, Vespasian belagert die Stadt drei Jahre lang, drei Magnaten übernehmen die Versorgung der Stadt während des Krieges. In der Erzählung über Martha, die T o c h t e r des B o e t h o s , ist das Fasten des R. Zadok erwähnt, von dessen Folgen dieser in der Erzählung über Rabban Jochanan b. Sakkai geheilt wird. Marthas Nahrungsmittel werden von Mal zu Mal schlechter: von Feinmehlbrot bis Kleienbrot; was R. Zadok im Zuge seiner Genesung zu sich nimmt, wird immer besser: von Mehlwasser bis zum feinsten Mehl. Eine bewusste Gestaltung ist auch um das Motiv von H u n g e r und Speise zu beobachten: Die Erzählfolge beginnt mit einem Gastmahl, das unglücklich ausging, geht weiter mit Marthas Hungertod und R. Zadoks Fasten und endet mit Rabban J o c h a n a n b. Sakkais Rettung, als R. Zadok wieder anfängt zu essen. In Analogie zu der bescheidenen Rettung, die sich Rabban Jochanan b. Sakkai von Vespasian ausbat, heißt es von R. Zadoks Eingeweiden, sie hätten sich ,ganz bescheiden' wieder erweitert. Dass wir hier eine wohlstrukturierte Erzählfolge vor uns haben, legt die Vermutung nahe, dass die Konsolidierung sich nicht aufs Literarische beschränkt, sondern dass die verschiedenen Erzählungen auch gedanklich auf derselben Linie liegen. Ich will hier nicht behaupten, dass jede einzelne Legende innerhalb dieses Komplexes aus einer antichristlichen Tendenz heraus entstanden wäre, denn zu einigen davon liegen frühere Parallelfassungen in palästinischen Midraschsammlungen vor, welche die antichristliche Spitze, die sie im babylonischen Talmud haben, nicht aufweisen. D o c h m ö c h t e ich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass an der Herausbildung einiger dieser

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

Legenden antichristliche Tendenzen beteiligt waren, erstaunlicherweise in einem babylonischen Corpus, weitab vom Lande Israel. Das lässt darauf schließen, dass das Christentum auch in Babylonien einen Faktor darstellte, mit dem sich Juden auseinandersetzen mussten. 4 9 Die Abstreitung der gegnerischen Version vollzieht sich nach dem literarischen Muster des Midrasch. Hier haben wir keine frontale Widerlegung, sondern das Angebot einer alternativen Erzählung, die ihrerseits der christlichen Legende widerspricht und sie aufhebt. Gegenüber den jüdischen Zerstörungslegenden im babylonischen Talmud stand eine bereits verfestigte christliche Position, wonach zwischen Jesu Kreuzestod und der Zerstörung Jerusalems ein Zusammenhang bestand. Eine solche Beziehung ist in der frühchristlichen Literatur erst seit Origenes fassbar, daher kann auch die Erzählfolge im babylonischen Talmud ihre volle Ausprägung erst im Lauf des 4.Jh. erfahren haben. Spuren antichristlicher Bezugspunkte lassen sich fast in jeder einzelnen dieser jüdischen Legenden nachweisen.

3.1 Kamza und Bar Kamza Diese Erzählung stellt einen gewissen Bar Kamza ins Zentrum des Geschehens. Ungeachtet seines Namens, der hebräisch etwa .Geizhals' bedeutet, ist er bereit, ein Vermögen zu bezahlen, nur um die Beschämung durch .jenen Mann', einen Anonymus, zu dessen Gastmahl er versehentlich eingeladen wurde, von sich abzuwenden. Die Erzählung verfolgt ein zweifaches Ziel: Zum einen will sie den auslösenden Faktor für die Zerstörung minimalisieren. Hier wird dargelegt, dass Jerusalem wegen einer Äußerung unversöhnlicher Feindschaft bei einem banalen Anlass zerstört worden sei, was gegen die christliche Auffassung polemisiert, welche die Zerstörung auf eine so schwerwiegende Sünde wie Blutvergießen zurückführt, nämlich die Kreuzigung Jesu. 5 0 In Bezug auf den Ersten Tempel waren die Rabbinen bereit, schwere Sünden wie Götzendienst, Blutvergießen und Unzucht als Gründe für die Zerstörung anzunehmen, nicht aber in Bezug auf den Zweiten Tempel. Dies ist das Hauptanliegen der Erzählung. Daneben ist noch ei-

49 Dies spricht für die Thesen von N. Koltun-Fromm, A Jewish Christian Conversation in Fourth Century Persian Mesopotamia, in: JJS 47 (1996), 4 5 - 6 3 ; sie verweist auf rege jüdischchristliche Disputationstätigkeit in Babylon im 4. Jh. 50 Diese Deutung der Erzählung verdanke ich meinem Freund O. Irshai. Vgl. auch: R. Goldenberg, Early Rabbinic Explanations of the Destruction of Jerusalem, in: JJS 33 (1982), 5 1 7 - 5 2 5 . Goldenberg ist aufgefallen, wie trivial die von den Rabbinen angeführten Erklärungen für die Zerstörung sind, aber er hat darin keine apologetische Position gegenüber der christlichen Kritik gesehen. S. ferner A.J. Salardini, Varieties of Rabbinic Response to the Destruction of the Temple, Chico C A 1982 (SBL Seminar Paper 21), 437-458.

Die Zerstörungslegenden - antichristlich?

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ne zweite, weniger offenkundige Tendenz zu beobachten, nach der die Einzelheiten der Erzählung gestaltet wurden: Es geht um die Motive, die Bar Kamza zu seiner Denunziation bewogen. Ausgangspunkt der Handlung ist ein Gastmahl, das von ,jenem M a n n ' veranstaltet wird und zu dem auch rabbinische Gelehrte geladen sind; im Verlauf dieses gesellschaftlichen Ereignisses geraten der anonyme Gastgeber und der künftige Denunziant feindlich aneinander. Diese Situation weist Anklänge an das Letzte Abendmahl auf (,jener M a n n ' - der .Menschensohn'): An J e s u Seite saßen die Apostel (rabbinische Gelehrte), ihm gegenüber Judas Ischariot (Bar Kamza), der Jesus gegen Geld an die R ö m e r verraten würde. D i e U m k e h r u n g der Figur ist durch eine Eigenschaft des Verräters bewerkstelligt, die sich in seinem N a m e n äußert: Seine Benennung als Bar Kamza, Geizhals, lässt darauf schließen, dass er auf Geld aus ist, was aber durch sein Verhalten in der geschilderten Situation widerlegt wird, da er sich bereit erklärt, die gesamten Kosten für das Gastmahl zu übernehmen; doch sein A n g e b o t wird höhnisch zurückgewiesen. Schließlich geht Bar Kamza wie Judas Ischariot zur Besatzungsmacht, wo er den Gastgeber denunziert, was letzten Endes zur Zerstörung führt. D o c h in der talmudischen Erzählung ist der Verräter als O p f e r dargestellt, der zu diesem extremen Akt durch bösartige Beschämung durch den G a s t geber getrieben worden ist. Auch der Inhalt der Denunziation erinnert an die gegen Jesus erhobene Anklage. In der Erzählung von Kamza und Bar Kamza werden die J u d e n des Aufstands gegen den römischen Kaiser bezichtigt, so wie Jesus zum Vorwurf gemacht wird, er wiegele das Volk auf und gebärde sich als .König der Juden'. D e r talmudische Erzähler spielt den politischen Hintergrund völlig herunter; er hält es nicht einmal für nötig, den Leser über den Ausbruch des Aufstands zu informieren. N a c h seiner D a r stellung war die Weigerung der Priesterschaft, das vom römischen Kaiser gesandte Opfertier am Tempel darzubringen, ein ausreichender Grund für die Zerstörung Jerusalems durch die Römer. Auch dies erinnert an die christliche Konstruktion, wonach zwischen Jesu Kreuzigung und der Zerstörung des Tempels ein direkter Zusammenhang besteht, ohne dass die p o litischen Umstände des Aufstands und seiner Niederschlagung überhaupt zur Sprache k o m m e n .

3.2 Nero in Jerusalem Die prompte Reaktion auf diesen symbolischen Aufstand gegen die O b r i g keit wird N e r o zugeschrieben. D e r römische Kaiser zieht gegen Jerusalem zu Felde, um die Stadt den Aufständischen abzunehmen, doch zwei Zeichen lassen ihn von seinem Vorhaben zurücktreten. Das zweite dieser Zeichen ist der Bibelvers, den ihm ein Schulkind rezitiert: „Ich gebe meine Rache an

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

Edom in die Hand meines Volkes Israel" (Ez 25,14). Gegen die christliche vindicta salvatoris will der jüdische Erzähler die vindicta Dei stellen. Die Rache an Edom, d. i. an der römischen Weltmacht, die den Tempel zerstörte, ist die jüdische Erwiderung auf die christliche Erzählung, die den Untergang Jerusalems als göttliche Rache für die Kreuzigung Jesu darstellt. Der Bibelvers des Schulkindes passt genau zum Kontext der jüdischen Erwiderung. In den christlichen Legenden erscheint Nero als der Antichrist, unter dessen Regierung die römischen Christen der Brandstiftung beschuldigt wurden; er gilt als der Verantwortliche für den Märtyrertod des Jakobus, des Bruders von Jesus. Demgegenüber macht die jüdische Erzählung Nero zu einem geradezu frommen Herrscher, der das himmlische Zeichen versteht und daraufhin Jerusalem nicht zerstört. Der Kaiser sei sogar von seinem Amt zurückgetreten und Jude geworden, und unter seinen Nachkommen sei ein Gelehrter wie R. Mei'r gewesen. 51

3.3 Martha, die Tochter des

Boethos

Die talmudische Legende berichtet, wie diese Frau, eine der reichsten Jerusalemerinnen, unter der schweren Hungersnot im belagerten Jerusalem zu leiden hatte. Immer wieder bat sie ihren Diener, ihr etwas zu essen zu besorgen, aber jedes Mal kehrte er unverrichteter Dinge zurück. Zuletzt beschloss sie, selbst auf Nahrungssuche zu gehen; als sie barfuss auf die Straße hinaustrat, blieb ihr etwas vom Gassenkot am Fuß haften, woraufhin sie vor Ekel starb. Uber sie rezitierte Rabban Jochanan b. Sakkai den Schriftvers: „Die Zarte und Verwöhnte unter dir, deren Fußsohle nicht erprobt [...]" (Dtn 28,56). Schon etlichen Forschern ist die Nähe dieser talmudischen Legende zu einer Erzählung des Josephus aufgefallen; die Frau dort trägt einen ähnlichen Namen, Maria (=Martha), Tochter des Elieser, und unter dem Druck der Hungersnot tötet sie ihr eigens Kind und verzehrt dessen Fleisch. 52 Naomi Cohen hat auf den Schluss jenes Bibelverses als den Schlüssel zum Verständnis dieser Legende verwiesen, dort heißt es nämlich von der ,Zarten und Verwöhnten': „böse blickt sie auf den Mann ihres Schoßes, auf ihren Sohn und ihre Tochter". Dieser Vers gehört zu den Flüchen,

51 Laut A. Yisraeli-Taran, Aggadot haCburban. Messorot haChurban baSifrut hatalmudit, TelAviv 1997, 27, ist Uberwindung des Feindes durch dessen Konvertierung zum Judentum für den babylonischen Talmud charakteristisch, wohingegen palästinische Quellen dessen physische Vernichtung bevorzugen. S. ferner: N. Cohen, Rabbi Meir, A Descendant of Anatolian Proselytes, in: JJS 23 (1972), 5 1 - 5 9 . 52 Bell VI 201. Eine eingehende Untersuchung dieser Erzählung findet sich bei A . YisraeliTaran, Remarks on Josephus Flavius and the Destruction of the Second Temple (hebr.), in: Zion 61 (1996), 1 4 8 - 1 5 2 .

D i e Z e r s t ö r u n g s l e g e n d e n - antichristlich?

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mit denen Israel bedroht wird, sofern es G o t t e s Anweisungen nicht gehorcht: dann „werden all diese Flüche über dich kommen und dich ereilen". D e r furchtbarste Fluch ist Kannibalismus von Eltern an ihren Kindern. Die Erzählung bei J o s e p h u s soll dartun, dass dieser Fluch bei der Zerstörung J e rusalems in Erfüllung gegangen ist. N a o m i C o h e n meint, die talmudische Legende wolle die extreme Darstellung bei J o s e p h u s abmildern, polemisiere also indirekt mit ihr. N a c h der Version im Talmud hatte sich die reiche D a me keineswegs des Kannibalismus schuldig gemacht, sondern war selbst gestorben infolge ihrer Überempfindlichkeit. 5 Diese D e u t u n g macht J o s e p h u s zu einer Zielscheibe rabbinischer Polemik. Daraufhin erhebt sich die Frage, wie weit die Rabbinen die Schriften des J o s e p h u s überhaupt kannten - worüber sich Forscher schon oft den Kopf zerbrochen haben. D o c h bietet sich eine viel naheliegendere Adresse für diese rabbinische Polemik an: die Kirchenväter, die ihrerseits die Erzählung des J o s e p h u s propagandistisch verwendeten. 5 4 Eusebius eröffnet seine auf J o s e p h u s beruhenden Schilderungen mit der Feststellung, dass es gut sei, die Leiden der vom H u n g e r geplagten J u d e n während der Belagerung Jerusalems zu erwähnen, um den Lesern zu veranschaulichen, wie das Böse, das die J u d e n an J e s u s getan, ihnen bald danach die göttliche Rache zugezogen habe. 5 5 In der Fortsetzung zitiert Eusebius genau die Erzählung des J o s e p h u s über Maria, die Tochter des Elieser, samt den übrigen Berichten von der schweren Hungersnot in Jerusalem. Er erblickt darin den Beweis dafür, dass Jesu Prophezeiung über die bevorstehende Zerstörung der Stadt Jerusalem in Erfüllung gegangen sei. Dann muss er allerdings den relativ langen Zeitraum von vierzig Jahren erklären, der von Jesu Kreuzigung bis zur Zerstörung Jerusalems verging. Er sieht in diesen Jahren eine Gnadenfrist, in der die J u d e n eine letzte Gelegenheit gehabt hätten, ihr Tun zu bereuen und um Vergebung zu bitten. Auch die Rabbinen sprechen von bedeutsamen Ereignissen vierzig Jahre vor der Zerstörung, Vorausdeutungen auf das herannahende Verhängnis - die Vertreibung des Sanhedrin, der E n t z u g der Kapitalgerichtsbarkeit u.a.m. 5 6 D o c h sie tun dies, um den Zusammenhang zwischen J e s u Tod und der Zerstörung Jerusalems zu leugnen.

5 3 N . C o h e n , T h e T h e o l o g i c a l S t r a t u m of the Martha bin B o e t h u s T r a d i t i o n . A n Explication of the Text in Gittin 56a, in: H T R 69 (1976), 187-195. Yisraeli-Taran, R e m a r k s ( s . o . A n m . 5 2 ) , A n m . 5 6 distanziert sich zwar v o n C o h e n s D e u t u n g , d o c h mir scheint sie der Intention des babylonischen R e d a k t o r s recht gut zu entsprechen. 5 4 D i e s e r A b s c h n i t t wird in der frühchristlichen und mittelalterlichen Literatur häufig zitiert; d a z u H . Schreckenberg, D i e F l a v i u s - J o s e p h u s - T r a d i t i o n in A n t i k e und Mittelalter, Leiden 1972, 190. 5 5 E u s e b i u s , hist. eccl. I I I 5. 5 6 b Schabbat 15a; b Joma 39b.

68

Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

Die spätere talmudische Legende bietet eine Erwiderung auf die christlichen Vorwürfe. Die von ihr vermittelte Botschaft ist deutlich: Die biblischen Bundesflüche sind bei der Zerstörung Jerusalems nicht eingetroffen. Der talmudische Redaktor nimmt die Erzählung des Josephus, die ihm über die christliche Propaganda bekannt geworden war, und beraubt sie ihrer Hauptaussage, indem er genau das Detail weglässt, worauf das christliche Argument sich stützt. 5 7

3.4 Rabban Jocharían b. Sakkai vor Vespasian Diese Legende, in der man ein jüdisches Gegenstück zur christlichen Silvester-Legende aus dem 4. Jh. sehen kann, habe ich an anderer Stelle ausführlich behandelt. 58 Die christliche Legende sollte den Status des Bischofs Silvester festigen mit Berufung auf ein .Geschenk', das er von Kaiser Konstantin erhalten habe; die jüdische Legende sollte die neue jüdische Führung, das Fürstenamt, festigen mit Berufung auf frühe kaiserliche Anerkennung. In beiden Fällen handelt es sich um eine Gründungssage. Der Papst erhielt die Lateran-Kapelle, der jüdische Fürst das Lehrhaus in Javne. Das Geschenk erfolgt jeweils auf die Heilung des Kaisers hin; Silvester heilt Konstantin vom Aussatz, Rabban Jochanan b. Sakkai heilt Vespasian von einer plötzlich aufgetretenen Schwellung am Fuß. Daher erscheint hier Vespasian als der römische Feldherr und nicht Titus, denn das .Geschenk' sollte von einem .guten' Kaiser verliehen werden, nicht vom Zerstörer Jerusalems.

3.5 Titus und die Mücke Diese Legende will, wie gesagt, die Bestrafung des Bösewichts schildern, der die Zerstörung bewirkt hat. Das ist nicht Nero, der von der Eroberung Jerusalems abgestanden haben soll, nicht Vespasian, der in seiner Güte der neuen jüdischen Führung nach der Zerstörung eine .bescheidene Rettung' zur Verfügung stellte, sondern Titus, der Zerstörer des Heiligtums.

57 Von daher erscheint die Kontroverse, ob die Rabbinen Josephus' Schriften gekannt hätten oder nicht, in einem anderen Licht. Möglicherweise war die Bekanntschaft des Talmud mit Josephus eine indirekte, vermittelt durch dessen Auseinandersetzung mit den Argumenten der Kirchenväter. 58 Dazu Yuval, Jews/Christians (s.o. A n m . 3 6 ) .

Pessach beim Auszug und Pessach bei der Zerstörung

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3.6 Die Konversion des Onkelos Onkelos will zum Judentum übertreten; zu diesem Zweck beschwört er drei Gestalten der Vorzeit aus dem Totenreich herauf, Titus, Bileam und Jesus 5 9 , und fragt sie, wer im Jenseits der Angesehenste sei. Die Antwort lautet einstimmig: Israel, doch die beiden Erstbefragten raten Onkelos trotzdem davon ab, Jude zu werden. Anders Jesus: Im Gegensatz zu Titus und Bileam spricht er nicht schlecht über die Juden, sondern empfiehlt Onkelos, sie zu schützen: „Ihr Bestes suche, nicht ihr Böses; wer immer sie antastet, der tastet seinen Augapfel an". Darauf folgt der Satz, der die Reihe der Zerstörungslegenden abschließt, indem er den Bezug zur Eröffnungslegende herstellt: „Rabbi Elasar sagte: Komm und sieh, wie groß die Macht der Beschämung ist, so kam der Heilige gelobt sei Er dem Bar Kamza zu Hilfe, ließ sein Haus zerstören und seinen Tempel verbrennen". Durch die Platzierung von Jesu Antwort an den Schluss dieser Legende und die Platzierung dieser Legende an den Schluss des ganzen Erzählzyklus erhalten Jesu Worte über die Zerstörung Jerusalems erhebliches Gewicht. Die jüdische Legende legt Jesus eine klare Anweisung in den Mund, das Leben der Juden sei zu schützen; das klingt wie ein Echo der Lehre Augustins, die von der mittelalterlichen Kirche übernommen wurde, wonach die Juden am Leben erhalten werden sollten. Die Tempelzerstörung und der Aufstieg des Christentums zur Staatsreligion im römischen Reich konfrontierten die Juden mit der Notwendigkeit, sich neue Existenzrahmen zu finden, und der abschließende Text der Zerstörungslegenden will die Rechte der Juden auf ein .Gebot' aus dem Munde des Begründers der neuen Religion zurückführen.

4 Pessach beim Auszug und Pessach bei der Zerstörung Die oben behandelte Sage von den Ephraimiten lehrt, wie intensiv der Auszug aus Ägypten als typologisches Vorbild für die künftige Erlösung verwendet wurde. Im 12. Jh. pflegten Juden in Aschkenas und Frankreich am siebenten Tag des Pessachfestes den aramäischen Targum des Tora-Abschnitts über die Ephraimiten im Synagogengottesdienst zu lesen und dabei diese mit den vertrockneten Gebeinen aus Ez 37 zu identifizieren. 60 Das ist ein Versuch, zwischen den Ephraimiten, den Vorboten der gewesenen Erlö' Im Wilnaer Druck ist der Name Jesus von der Zensur durch ,die Sünder Israels' ersetzt. Machsor Vitry, 305. Zum Widerstand gegen die Identifizierung der Ephraimiten mit den toten Gebeinen bei Ez s. Avigdor Shinan, An Early Quotation from Targum Pseudo-Jonathan? (hebr.), in: Tarbiz 65 (1996), 331 f. 5

60

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

s u n g , die g e s t o r b e n w a r e n u n d w i e d e r a u f e r s t e h e n s o l l t e n , u n d d e m s a c h - F e s t eine Verbindung herzustellen. Solche V e r w e n d u n g v o n

Pes-

Pessach

als M o d e l l f ü r d i e k ü n f t i g e E r l ö s u n g m a c h t e das F e s t z u e i n e m w e s e n t l i c h e n Brennpunkt

jüdisch-christlicher

Spannung.

Nach

der

Tempelzerstörung

e n t w i c k e l t e n b e i d e R e l i g i o n e n a l t e r n a t i v e D e u t u n g e n f ü r das O p f e r f e s t a m T e m p e l . A u s d i e s e r E n t w i c k l u n g ist a u f d e r e i n e n S e i t e die S e d e r - N a c h t , a u f d e r a n d e r e n die O s t e r - N a c h t

hervorgegangen. Diese beiden haben

nicht

n u r g e m e i n s a m e n U r s p r u n g , z w i s c h e n i h n e n b e s t e h e n a u c h P a r a l l e l e n , die von späteren gegenseitigen B e z u g n a h m e n herrühren. D i e H e r a n z i e h u n g des A u s z u g s aus Ä g y p t e n als t y p o l o g i s c h e s

Modell

f ü r die k ü n f t i g e E r l ö s u n g m a c h t d e n G e i s t u n d die T e n d e n z e t l i c h e r S y m b o l e d e s P e s s a c h - F e s t e s v e r s t ä n d l i c h , w i e sie s i c h in d e n e r s t e n J h . n a c h d e r Tempelzerstörung

herausbildeten.

Nach

der

rabbinischen

Uberlieferung

w u r d e n sie „ i m N i s s a n e r l ö s t , u n d i m N i s s a n s o l l e n sie d e r e i n s t e r l ö s t w e r d e n " . 6 1 D a s H a u p t a n l i e g e n d e s F e s t e s b e s t e h t in d e r E r i n n e r u n g a n die v e r g a n g e n e E r l ö s u n g . 6 2 A l l e r d i n g s s i e h t die t y p o l o g i s c h e D e u t u n g in d e n v e r g a n g e n e n E r e i g n i s s e n a u c h e i n e n S p i e g e l , in d e m das k ü n f t i g e

Geschehen

e r k e n n b a r w i r d . 6 3 W i e a l s o die E r l ö s u n g aus Ä g y p t e n m i t z e h n P l a g e n e i n -

"

b Rosch haSchana 1 la-b; vgl. b Megilla 6a. In ExR X V 11 wird auch eine Beziehung zwischen der Erlösung und der Bindung Isaaks hergestellt: „in ihm (seil, im Monat Nissan) sollen sie dereinst erlöst werden [...] im Nissan ist Isaak geboren und im Nissan ist er geopfert worden (entsprechend auch bRosch haSchana ebd.). S. Spiegel, The Last Trial, New York 1967, 51-59, hat die Verbindung zwischen Pessach und Opferung Isaaks dahingehend erklärt, dass die Opferung des Erstgeborenen sühnende und erlösende Wirkung gehabt habe. Das Auftauchen der Sage, wonach Abraham Isaak doch getötet (oder doch zumindest einen Teil seines Blutes vergossen) habe, ist laut Spiegel der Nachhall einer vorbiblisch heidnischen Opferungssage, wobei er allerdings nicht zu sagen weiß, weshalb dieser heidnische Nachhall gerade in der tannaitischen Literatur vernehmbar wird. Vielleicht ist darin eine Reaktion auf die Tempelzerstörung zu sehen und auf den Verlust der Sühne durch Opfer von Lebendigem, insbesondere auf dem Hintergrund der christlichen Deutung von Jesu Kreuzestod. Dazu R. Wilken, Melito, The Jewish Community at Sardis, and the Sacrifice of Isaac, in: Theological Studies 37 (1976), 53-69; P.R. Davies, Martyrdom and Redemption. On the Development of Isaac Typology in the Early Church, in: E.A. Livingstone (Hg.), Studia Patristica 17/2, Oxford/New York 1982, 652-658; J.D. Levenson, The Death and Resurrection of the Beloved Son: The Transformation of Child Sacrifice in Judaism and Christianity, New Häven 1993, 173-232. 63 Auf die zentrale Stellung der typologisch-messianischen Exegese und deren enge Bindung an den Auszug aus Ägypten hat D. Berger, Three Typolocial Themes (s. o. Anm. 7) aufmerksam gemacht. Er führt vier rabbinische Endzeitberechnungen auf, allesamt typologisch, von denen zwei auf der Dauer des ägyptischen Exils beruhen: Die Versklavung an Rom soll vierhundert Jahre dauern, ebenso lange wie der Aufenthalt der Israeliten in Ägypten, danach wird die Erlösung kommen. Diese Berechnungen setzen die Zerstörung des Zweiten Tempels (die nach jüdischer Uberlieferung in das Jahr 68 n.Chr. fiel) als den Anfangspunkt des edomitischen Exils, woraufhin die Erlösung für das Jahr 471 n.Chr. (unter Zufügung von drei Jahren, die bei Daniel angedeutet sind, wie Berger erläutert) zu erwarten wäre. Hieronymus berichtet in seinem JoelKommentar, der in den neunziger Jahren des 4. Jh. geschrieben wurde (CC. SL L X X V I / 1 : Ope62

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Pessach beim Auszug und Pessach bei der Zerstörung

gesetzt hatte, soll auch die endzeitliche Erlösung mit der Bestrafung der V ö l k e r der Welt beginnen. D e r Midrasch formuliert diese Entsprechung sehr drastisch: „Alle Plagen, die der Heilige gelobt sei E r über Ägypten gebracht hat, wird er auch über E d o m bringen. [ . . . ] In Ägypten schlug er sie mit Blut, so auch in E d o m . " 6 4 Vielleicht steht das hinter der Auslegung in der Pessach-Haggada, wo es darum geht, die Zahl der ägyptischen Plagen möglichst hochzuschrauben: 50 Plagen in Ägypten und 2 5 0 am Schilfmeer. J e größer die Zahl der Schläge, die Ägypten erhielt, desto größer das U n heil, das dereinst über Esau und seine Nachfahren hereinbrechen soll. Dies ist auch der Hintergrund, den der Midrasch für das Verbot angibt, zu Pessach Gesäuertes zu essen. In der Bibel wird dieses Verbot damit begründet, dass die Israeliten überstürzt aufgebrochen seien, so dass ihr Teig keine Zeit zum Säuern gehabt habe, aber in rabbinischen Quellen findet sich angedeutet, dass die Fortschaffung des Gesäuerten vor Pessach dereinst ihr G e g e n s t ü c k in der Vertilgung der H e i d e n e r h a l t e n soll. Targum

scheni

zu

Esther legt dem bösen Haman die Anschuldigung in den Mund, die J u d e n glaubten, sie würden das böse K ö n i g t u m loswerden, wie sie das Gesäuerte aus ihren Häusern entfernen, und so vor dem „dummen K ö n i g " , d.i. Ahasver, errettet werden. 6 5 Dabei k ö n n t e es sich natürlich um eine grundlose Verleumdung gehandelt haben. Allerdings ist es doch unwahrscheinlich, dass ein jüdischer Autor vor einem jüdischen Publikum einem Nichtjuden Dinge in den M u n d legt, die völlig aus der Luft gegriffen sind. U n d im babylonischen Talmud (Pessachim 5a) steht tatsächlich zu lesen, dank gewissenhafter Wegschaffung des Gesäuerten zu Pessach verdienten Juden die

ra Exegetica 6, Turnhout 1969, 208), die Juden seiner Zeit hätten geglaubt, wie die ägyptische Knechtschaft sich über 430 Jahre hingezogen habe und an ihrem Ende die Ägypter im Roten Meer ertrunken seien, so sollten auch die Römer der göttlichen Rache anheimfallen 430 Jahre, nachdem sie das Volk Israel unterjocht hätten. Wenn wir auch für diese Endzeitberechnung die Zerstörung des Zweiten Tempels als Anfangspunkt annehmen, würde das messianische Zeitalter um das Jahr 500 hereinbrechen. Allerdings ist es doch unwahrscheinlich, dass Hieronymos (spätestens) in den neunziger Jahren des 4. Jh. von einer messianischen Hoffnung gehört haben sollte, deren Erfüllung gute hundert Jahre später erwartet wurde. Vielleicht wird als Anfangspunkt für die 430 Jahre des edomitischen Exils die Eroberung des Landes Israel durch Pompeius im Jahre 63 v.Chr. angenommen, denn damit gab es kein eigenständiges jüdisches politisches Gebilde mehr. Damit fiele die erhoffte Erlösung ins Jahr 367, was wiederum mit den Hoffnungen zusammengeht, die im Jahre 362 durch Kaiser Julians Pläne zur Wiedererrichtung des Tempels erweckt wurden. Vgl. Wilken, Restortion of Israel (s.o. Anm.39), 453. Zur Typologie in Christentum und Judentum s. A. Funkenstein, History and Typology: Nahmanides' Reading of the Biblical Narrative, in: Perceptions of Jewish History, Berkeley/Los Angeles 1993, 98-120. M Tanchuma (Buber) II, 43 f. Ebenso die Auslegung des Rav Chama bar Chanina in Pessikta deRav Kahana I, 133: „Wer es den Ersten heimgezahlt hat, wird es auch den Letzten heimzahlen. Wie in Ägypten Blut, so auch in Edom [...]". 65 Targum scheni zu Esther 3,8; zu diesem Werk s.u. Kap. III, Anm. 77.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

Vernichtung von Esaus Samen, d.h. dort wird die symbolische Verbindung zwischen der Wegschaffung alles Gesäuerten zu Pessach und der endzeitlichen Vernichtung aller Nichtjuden explizit gemacht. Im Mittelalter findet sich diese Vorstellung wieder bei R. Elasar von Worms, einem der bedeutendsten aschkenasischen Gelehrten im 13.Jh. 6 6 Im Talmud ist damit allerdings die Zerstörung Roms gemeint, und bei R. Elasar von Worms dürfte diese messianische Erwartung von Rom auf das Christentum übertragen sein. Nicht nur die Wegschaffung des Gesäuerten hat eine neue Deutung erfahren, sondern sogar das Pessach-Opfer selbst. Ein Midrasch verkehrt dessen Sinn völlig, indem er es mit Edom gleichsetzt! 6 7 Die biblische Anweisung, das Opferlamm weder roh noch gekocht zu verzehren, sondern es samt Kopf, Gliedmaßen und Innereien über dem Feuer zu braten (Ex 12,9), wird auf Esaus Bestrafung am Ende der Tage gedeutet. So wie das PessachOpfer ganz durch Feuer zubereitet werden sollte, würde zur Endzeit Esau ganz und gar, samt Kopf und Gliedern, vertilgt werden. Die (negative) Gleichsetzung des Opferlamms mit Esau auf jüdischer Seite ist das Gegenstück zur (positiven) mit Jesus bei den Christen. Diese Beispiele bestätigen die zentrale Stellung des Pessachfestes als Brennpunkt religiöser und emotionaler Spannung zwischen den beiden Religionen. Im mittelalterlichen Christentum erreichte der Judenhass stets um Ostern seinen Höhepunkt. Die meisten Ritualmord- und Hostienfrevelbeschuldigungen kamen während der Passionszeit auf. Wenn auch moralisch zwischen Intention und Durchführung ein himmelweiter Unterschied besteht, so ist der Historiker doch verpflichtet, die sprachlichen und ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen Opfer und Verfolger aufzudecken. Die Einfügung antichristlicher Aussagen in die Liturgie des Pesssachfestes ist aus dem Ringen der beiden Religionen um die Bedeutung dieses Festes hervorgegangen. Nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n.Chr. bildeten sich zwei konkurrierende Deutungen des Pessach-Festes heraus, eine jüdische und eine christliche. An die Stelle der Darbringung des Pessach-Opfers, die nicht mehr stattfinden konnte, setzten beide Gemeinden die Erzählung eines Geschehens, das sich zu Pessach zugetragen hatte. Die Juden wählten entsprechend der ursprünglichen Bedeutung des

" Sefer haRokeacb, Jerusalem 1967, § 271 Ende. U n d im Kommentar des MaHaRSchA (Samuel Elieser Edels, 1 5 5 5 - 1 6 3 1 , Talmudkommentator) z.St. heißt es: „Und das ist der Grund für die Beseitigung des Gesäuerten zu Pessach, denn das Säuerungsmittel im Teig ist der böse Trieb, und das ist die Macht des Samael, des Engelfürsten von Esau, der bei der Erlösung vertilgt werden soll". Ferner: H. Basser, Superstitious Interpretations of Jewish Laws, in: JSJ 8 (1977), 1 2 7 - 1 3 8 ; M.H. Lerner, The Leaven Therein (hebr.), in: Leschonenu 53 (1989), 1 2 7 - 1 3 8 . Weiteres zur Beseitigung von Gesäuertem s.u. Kap. V, A n m . 8 1 . 67 Pessikta deRav Kahana, Mandelbaum (Hg.), 108.

Pessach beim Auszug und Pessach bei der Zerstörung

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Festes den Bericht von der ersten Erlösung, dem Auszug aus der ägyptischen Knechtschaft, als Modell für die künftige Erlösung; die Christen dagegen wählten den Bericht von der neueren, durch Jesus in Jerusalem bewirkten Erlösung zusammen mit dem Ausblick auf dessen Wiederkunft (Parusie). 6 8 Beide Erzählungen mussten nicht nur einen liturgischen Ersatz für das O p f e r bilden, sondern auch ein schmerzhaftes D i l e m m a lösen helfen: Wie feiert man ein F e s t von Erlösung und Freiheit angesichts von Zerstörung und politischer U n t e r j o c h u n g ? D i e beiden Erzählungen sind sogar beide nach demselben Muster angelegt: Sie beginnen mit ,Schimpf' und enden mit , L o b ' (vgl. M Pessachim X 4). U n t e r .Schimpf' fällt bei Juden die Knechtschaft in Ägypten, bei Christen J e s u Kreuzestod in Jerusalem, auch der tröstliche und hoffnungsvolle Ausblick auf eine glorreiche Endzeit ist für beide Religionen verschieden. D i e parallele Entwicklung zweier verschiedener Narrative zum selben F e s t bei zwei rivalisierenden Gruppen, die nebeneinander leben, führt zwangsläufig sowohl zu ähnlichen als auch zu kontrastierenden Erscheinungen, die gemeinsam zu behandeln sind. G r o ß waren die Ähnlichkeiten besonders in den ersten J h . n.Chr., als beide Religionen sich einem gemeinsamen Feind gegenüber sahen, dem Heidentum. In der christlichen Hauptrichtung - vorwiegend in R o m und in den Westkirchen - bildete sich die Tendenz heraus, die Verbindung zum jüdischen Ursprung des Festes abzuschneiden und O s t e r n auf Sonntag festzulegen. D o c h die sogenannten Quartodezimaner feierten O s t e r n weiterhin am 14. Nissan (daher ihr N a me: die Vierzehner), d.h. zum Termin des jüdischen Pessach-Festes. 6 9 D i e ser Brauch, der in christlichen Gemeinden über Kleinasien und Syrien hin verbreitet war, stammte aus dem Heiligen Lande. Die Westkirchen betonten Jesu Auferstehung von den Toten am Sonntag, während die O s t k i r c h e n den Schwerpunkt auf die Kreuzigung am 14. Nissan legten. G e g e n Ende des 2. nachchristlichen J h . versuchte Papst V i c t o r die gesamte Kirche auf den O s t e r t e r m i n am Sonntag festzulegen und die Quartodezimaner zu Ketzern zu erklären, aber diese M a ß n a h m e war damals zu extrem und stieß selbst in Kreisen, die O s t e r n am Sonntag feierten, auf Widerstand. 7 0 D o c h allmählich setzte sich dieser Brauch weltweit durch, und auf dem Konzil zu Nicaea

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Dazu J . Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 1935, 4 1967..

" Zum Osterfest der Quartodezimaner s. B. Lohse, Das Passahfest der Quartadecimaner, Güterloh 1953; W. Huber, Passa und Ostern: Untersuchungen zur Osterfeier der alten Kirche, Berlin 1969; T . J . Talley, T h e Origins of the Liturgical Year, New York 1986, 1 - 3 7 ; S.G. Hall, T h e Origins of Easter, in: Studia Patristica 15 (1984), 5 5 4 - 5 6 7 . Ich folge der Schreibweise Quartodecimani nach W . Huber, ebd., 5f A n m . 3 5 gegen B. Lohse, ebd., 9 Anm. 1. 7 0 J . A . Fischer, Die Synoden im Osterfeststreit des 2. J h , in: Annuarium Historiae Conciliorum 8 (1976), 1 5 - 3 9 ; T . C . G . T h o r n t o n , Problematical Passovers: Difficulties for Diaspora Jews and Early Christians in Determining Passover Dates During the first Three Centuries A . D . , in: Studia Patristica 20 (1989), 4 0 2 - 4 0 8 .

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

(325) wurde der christliche Ostertermin verbindlich auf den ersten Sonntag nach der Frühjahrs-Tag und Nacht-Gleiche (21. März) festgesetzt, wodurch der Brauch der Quartodezimaner als ketzerisch disqualifiziert wurde. 7 1 Er bestand noch bis ins 5.Jh., kam aus der Übung und geriet in Vergessenheit. Dadurch rückte das christliche Ostern vom jüdischen Pessach-Fest ab, obwohl die beiden Feste terminlich immer noch nahe beieinander lagen, denn die Mitte des Mondmonats nach dem 21. März trifft meistens mit der Mitte des jüdischen Monats Nissan zusammen. Der Beschluss des Konzils von Nicaea markiert den Höhepunkt eines andauernden Prozesses, den jüdischen Ursprung des Osterfestes zu vertuschen. Ich möchte hier die These aufstellen, dass die Tendenz, die gegnerische Position implizit zu bestreiten, auch in den frühesten Bestandteilen der Pessach-Haggada erkennbar ist. Ich möchte behaupten, dass die Inhalte der Pessach-Haggada - sowie die Verpflichtung, vom Auszug aus Ägypten zu erzählen, als solche - nicht nur aus der Notwendigkeit hervorgegangen sind, das durch das Aufhören des Pessach-Opfers 72 entstandene Vakuum zu füllen, sondern auch aus dem Bedürfnis, der christlichen Deutung des Festes etwas Eigenes entgegenzusetzen. Einige frühe Stücke der Pessach-Haggada lassen das bewusste Bemühen erkennen, die Geltung der jüdischen Deutung des Festes zu sichern und dadurch indirekt die alternative christliche Deutung abzuweisen, die sich zur selben Zeit auf ähnlichem Hintergrund entfaltete. 73 Was hier vorliegt, sind zwei komplementäre Vorgänge: einerseits polemische Abgrenzung nach außen, andererseits erneute Selbstdefinition nach innen. In der Pessach-Haggada ist das Christentum nir-

71 Dazu L. Duchesne, La question de la Päque au Concil de Nicee, in: Revue des questions historiques 28 (1880), 5 - 4 2 . Zum Inhalt der quartodezimanischen Osterfeier vor dem Konzil zu Nicaea s. G.A.M. Rouwhorst, Les hymnes pascales d'Ephrem de Nisibe, I, Leiden 1989, 128-205. 72 Herausgearbeitet ist dieser Aspekt der Seder-Nacht bei Barukh Bokser, The Origins of the Seder, New York 1984; s. auch seinen Aufsatz: Barukh Bokser, Ritualizing the Seder, in: J A A R 56 (1988), 4 4 3 - 4 7 1 . 73 Die Auseinandersetzung mit dem Christentum, insbesondere mit den Judenchristen, war für die Gelehrten der Mischna ein zentrales Anliegen, wie aus den Quellen und deren wissenschaftlicher Untersuchung hervorgeht. Ich nenne hier nur einige der markantesten Forschungen zum Thema: Travers Herford, Christianity in Talmud and Midrash, London 1903; L.H. Schiffman, A t the Crossrads. Tannaitic Perspectives on the Jewish-Christian Schism, in: E.P. Sander/A.I. Baumgarten/A. Mendelson (Hg.), Christian Self-Definition, II, Philadelphia 1981, 1 1 5 - 1 5 6 ; R. Kimelman, Birkat Ha-Minim and the Lack of Evidence for an Anti Christian Jewish Prayer in Late Antiquity, ebd., 2 2 4 - 2 2 6 ; M. Hirshman, A Rivalry of Genius. Jewish and Christian Biblical Interpretation in Late Antiquity, Albany 1996. Die Rabbinen aus Mischna und Talmud waren mit der frühchristlichen Literatur vertraut; dazu J. Schwartz, Ben Stada and Peter in Lydda, in: JSJ 21 (1990), 1 - 1 8 sowie B. Visotzky, Overturning the Lamp, in: JJS 38 (1987), 72-80, nachgedruckt in seinem Aufsatzband Fathers of the World: Essays in Rabbinic and Patristic Literatures, Tübingen 1995, 75-84.

Die Entfaltung der Narrative

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gends ausdrücklich erwähnt. Ein liturgischer Text, der in erster Linie das Gemeinsame und Einigende seiner Betergemeinschaft zum Ausdruck bringen sollte, brauchte die Zurückweisung der gegnerischen Interpretation nur anzudeuten.

5 Die Entfaltung der Narrative Es lohnt sich, die Untersuchung mit der Beobachtung des ähnlichen Verlaufs der beiden Erzählungen zu eröffnen, der christlichen und der jüdischen, sowie der analogen Entwicklung des damit zusammengehenden Rituals. In der Pessach-Haggada ist von fünf Rabbinen die Rede, „die in Bne Berak zusammensaßen und die ganze Nacht über vom Auszug aus Ägypten erzählten", bis ihre Schüler kamen und sie daran erinnerten, dass es Zeit zum Morgengebet sei. 7 4 In der Tossefta ist ein ähnlicher Vorgang berichtet, dort über Rabban Gamliel und einige von den Ältesten, die in Lydda zusammengesessen hätten „und sich die ganze Nacht über mit den Halachot des Pessach-Opfers befassten bis zum Hahnenschrei". 7 5 Der Rahmen ist ähnlich, der Inhalt verschieden. In Bne Berak wurde die Nacht mit der Erzählung des Auszugs aus Ägypten verbracht, bei Rabban Gamliel mit den O p ferbestimmungen, wodurch an den Tempeldienst erinnert wurde. Darauf folgen in der Pessach-Haggada die Äußerungen von R. Elasar b. Asarja und von Ben Sorna, wonach der Auszug aus Ägypten auch in der Nacht zu erwähnen ist, nicht nur am Tage; ebenso die Ansicht der Rabbinen, des Auszugs aus Ägypten werde auch nach dem Kommen des Messias noch gedacht werden. 76 Sowohl diese Meinungsäußerungen als auch das berichtete Verfahren der verschiedenen Rabbinen in der Pessach-Nacht bezeugen, dass der Brauch, die Seder-Nacht mit der Erzählung des Exodus (oder mit dem Lernen von Pessach-Vorschriften) zu verbringen, in der Generation von Javne neu war. Tatsächlich ist zu Tempelzeiten kein solcher Brauch belegt. 7 7 74 M. Hershkovitz, The Gathering in B'nai Berak (hebr.), in: O r ha-Mizrah 16 (1978), 71-91; ders., The Tannaim Who Waged War Against Christianity (hebr.), ebd. 229-246; 28 (1980), 62-78.193-205.332-349; 29 (1981), 404-414; 30 (1982), 75-89, vertritt die These, dass die Versammlung in Bne Berak einberufen worden sei, um einen Streit wider die Judenchristen vom Zaun zu brechen; als Begründung gibt er an, dass jedem der beteiligten Rabbinen an jeweils anderer Stelle eine antichristliche oder antirömische Haltung zugeschrieben werde. 75 T Pessachim X 12, Lieberman (Hg.), 198. 76 E.D. Goldschmidt wirft in seiner hebräischen Monographie zur Pessach-Haggada (Jerusalem 1960, 21) die Frage auf, wie das rabbinische .Erzählen' vom Exodus in der Pessach-Nacht mit der nachfolgend behandelten Pflicht zusammengeht, des Exodus jede Nacht zu gedenken, nicht nur zu Pessach; meine Antwort darauf werde ich weiter unten anbieten. 77 Viele Forscher gehen wie selbstverständlich davon aus, dass die Pessach-Haggada bereits vor der Tempelzerstörung existierte. Finkelstein will sie sogar in vor-hasmonäische Zeit hinauf-

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft E i n ä h n l i c h e s B e m ü h e n , das F e s t m i t d e m I n h a l t einer E r z ä h l u n g v o n E r -

l ö s u n g z u füllen, ist im g l e i c h e n Z e i t r a u m a u c h u n t e r d e n f r ü h c h r i s t l i c h e n G e m e i n d e n z u b e o b a c h t e n , n u r dass es d o r t n i c h t d e r E x o d u s w a r , der e r i n nert wurde, s o n d e r n J e s u Passion und K r e u z i g u n g . Eine erste N a c h r i c h t dar ü b e r findet sich in d e r a p o k r y p h e n Epistula

Apolostorum

aus d e m 3. V i e r t e l

des 2 . n a c h c h r i s t l i c h e n J h . 7 8 D o r t h e i ß t es, J e s u s sei s e i n e n J ü n g e r n e r s c h i e n e n u n d h a b e i h n e n g e b o t e n , das P a s s a h - F e s t im G e d e n k e n a n s e i n e n T o d

datieren: L. Finkelstein, The Oldest Midrash: Pre-Rabbinic Ideals and Teachings in the Passover Haggadah, in: H T R 31 (1938), 291-317; ders., Pre-Maccabean Documents in the Passover Haggadah, in: H T R 35 (1842), 1-38. Seine Ausführungen wurden durch E.D. Goldschmidt (a.a.O., 31-39) zurückgewiesen. Goldschmidt seinerseits meint, die ältesten Stücke der Haggada stammten aus Tempelzeiten (z.B. 18.39.50); an anderer Stelle schließt er sich allerdings der Ansicht von Gedalja Allon an, es gebe zwar keine schlüssigen Beweise dafür, es sei aber doch wahrscheinlich, dass die Pessach-Haggada bereits zu Tempelzeiten in Gebrauch gewesen sei: G. Allon, The Jews in their Land in the Talmudic Age, Jerusalem 1980,1, 261-265. Auch S. Zeitlin geht davon aus, dass die Pessach-Haggada nicht vor dem 3. Jh. n.Chr. entstanden sei: S. Zeitlin, The First Night of Passover, in: J Q R 38 (1948), 431-460. In seiner (hebr.) Rezension zu E.D. Goldschmidts hebräischer Ausgabe der Pessach-Haggada (in: Kirjat Sefer 36 [1961], 145) formuliert E.E. Urbach die m.E. nicht ausreichend fundierte These, mit den bei Philon (spec. leg. II 148) erwähnten „Gebeten und Gesängen nach väterlichem Brauch" sei die Rezitierung der Verse aus Dtn 26 gemeint (die in der Haggada dann ausgelegt werden), woraus er schließt, dass Dtn 26,5-9 in alter Zeit bei der Darbringung des Pessach-Opfers rezitiert worden sei. J. Tabory, On the Text of the Haggadah in Temple Times (hebr.), in: Sinai 82 (1978), 79-108; ders., The Paschal ,Hagiga'. Myth or Reality? (hebr.), in: Tarbiz 64 (1994), 49, nimmt an, dass die Verpflichtung, vom Auszug aus Ägypten zu erzählen, bereits zu Tempelzeiten bestanden habe. In der Haggada selbst findet sich keinerlei Hinweis darauf, dass sie vor der Tempelzerstörung verfasst sei; es gibt auch keinen Beleg aus jener Zeit, dass an Pessach vom Auszug aus Ägypten erzählt worden sei. Die einzige aus Tempelzeiten belegte Liturgie ist die Rezitation der Hallelpsalmen (M Pessachim V 7; Mt 26,30; Mk 14,26). Die Neuerung von Bet Hillel bestand dann darin, Ps 114 hinzuzufügen, der mit dem Auszug aus Ägypten einsetzt, um den Exodus in der Pessach-Nacht zu erwähnen (T Pessachim X 9, Lieberman [Hg.], 198). Es liegt nahe, dass sich daraus nach der Tempelzerstörung die Pflicht entwickelte, vom Auszug aus Ägypten zu erzählen. In intensiven Gesprächen vor dem Pessachfest 1995 hat Dr. Shlomo Cohen aus Philadelphia mir drei weitere Argumente dargelegt, die dafür sprechen, dass vor der Tempelzerstörung keine Pessach-Haggada rezitiert wurde: Erstens spricht die Mischna (Pessachim IX 3) nur vom Verzehr des Pessach-Opfers und von der Rezitation der Hallelpsalmen, eine Erzählung vom Auszug aus Ägypten ist nicht erwähnt. Zweitens handelt auch die Tossefta (Pessachim X) nur von der Rezitation der Hallelpsalmen; in X 12-13 ist berichtet, dass Rabban Gamliel mit den Ältesten die Seder-Nacht mit der Besprechung von Opfervorschriften zubringt, auch dort ist keine Auszugserzählung verlangt. Das fand etwa der Wilnaer Gaon so erstaunlich, dass er den Text der Tossefta nach eigenem Gutdünken emendierte, indem er statt „sich mit Pessach-Halachot befassen" schrieb: „vom Auszug aus Ägypten erzählen" (vgl. auch die korrigierte Version bei R. Jona, bei S. Lieberman, Tossefta ki-Fschuta z. St., 655). Drittens heißt es im babylonischen Talmud (Pessachim 85b): „Olivengroß Pessach-Opfer und Hallel, bis das Dach einfällt"; mit diesem alten Sprichwort wird die Pessach-Feier vor der Tempelzerstörung charakterisiert - auch hier keine Spur von einer .Erzählung' (Haggada). 78 Kap. 15; s. J.K. Elliott, The Apocryphal New Testament, Oxford 1993, 565; vgl. Schneemelcher, Ntl. Apokryphen (s.o. Anm.30), 257f.

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zu begehen. Er kündigte an, während sie das Fest feierten, würde einer von ihnen um seines Glaubens willen ins Gefängnis geworfen, wo er schwer darunter zu leiden haben würde, dass es ihm verwehrt sei, mit den übrigen Jüngern Passah zu feiern. Doch ein Engel werde kommen und ihn herausführen; die Gefängnistüren würden sich auftun, der Gefangene würde hinausgehen und mit der Gemeinschaft zusammen die nächtliche Feier begehen. Mit dem Hahnenschrei, wenn die Jünger das Gedenken an Jesu Tod beendeten, würde der Häftling ins Gefängnis zurückkehren. Diese Rede Jesu erinnert an die Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis, die zu Pessach stattgefunden haben soll (vgl. Apg 12). 7 9 Diese Erzählung ist eine Schriftauslegung nach dem Muster des Auszugs aus Ägypten. 80 Herodes, der Petrus ins Gefängnis wirft, entspricht dem Pharao, der Engel, der ihn herausführt, entspricht Mose, und Petrus entspricht dem Volk Israel in der Knechtschaft. Als der Engel Petrus in der Nacht weckt, „erstrahlte Licht im Zimmer" - in Parallele zu der in der Haggada ausgedrückten Vorstellung: „er führte uns heraus aus der Finsternis in großes Licht". Der Engel mahnt Petrus zur Eile, und seine Worte „steh schnell auf [...] gürte deine Lenden und beschuhe deine Füße" entsprechen der Anweisung Ex 12,11: „So sollt ihr es essen: eure Lenden gegürtet und Schuhe an euren Füßen". Die vier Nachtwachen im Gefängnis erinnern an die Symbolik der vier Reiche, und die Vorstellung, dass der Exodus als ein persönliches Erlebnis aufzufassen ist, findet sich in M Pessachim X 5: „In jeder einzelnen Generation soll ein Mensch sich so betrachten, als sei er (selbst) aus Ägypten ausgezogen". Bei Lk ist nicht davon die Rede, dass die Befreiung (des Petrus) aus dem Gefängnis zu Pessach stattgefunden habe, doch laut Epistula Apolostorum ist dies der Termin. Nach dem dortigen Bericht beging die christliche Gemeinschaft das Pessach-Fest, indem sie Jesu Tod und Passion gedachte, wobei die Feier die ganze Nacht lang dauerte ,bis zum Hahnenschrei'. Jesus sei

79 W. Strobel, Passah-Symbolik und Passah-Wunder in Act XII, in: NTS 4 (1957), 210-215. Laut Schwartz, Ben Stada (s.o. Anm.73), ist die talmudische Erzählung von Ben Stada, der in Lydda am Vorabend des Pessach-Festes getötet worden sei (b Sanhedrin 67a), eine jüdische Version dieser Episode. 80 W. Rordorf, Zum Ursprung des Osterfestes am Sonntag, in: ThZ 18 (1962), 183f; dagegen jedoch Huber, Passah/Ostern (s.o. Anm.69), 45f. Vgl. J. Manek, The New Exodus in the Books of Luke, in: NTest 2 (1958), 8-23. In ExR XV 11 findet sich eine ähnliche Auslegung zum Monat Nissan als dem Monat der Erlösung: „Dies gleicht einem König, der seinen Sohn aus dem Gefängnis befreite, er sprach: Macht dies zu einem Festtag für alle Zeiten, denn an diesem Tag ist mein Sohn herausgegangen aus der Finsternis ins Licht, aus dem eisernen Joch ins Leben, aus der Knechtschaft in die Freiheit und aus der Unterdrückung in die Erlösung". So hat der Heilige gelobt sei Er Israel aus dem Gefängnis herausgeführt [...]. Daher hat er ihnen Freude verordnet, dass er es ihren Feinden heimzahlt, wie es heißt: ,ich gebe Menschen statt deiner' (Jes 43,4)."

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

den versammelten Christen erschienen und habe ihnen erzählt, wie er Petrus aus dem Gefängnis befreite - dabei wird die Pessach-Nacht deutlich als eine zu durchwachende Nacht ausgewiesen; 81 allerdings war die Befreiung nur von kurzer Dauer. Das Heil gilt nur für diese eine Nacht, als diese zu Ende ist, muss Petrus zu seiner Aufgabe von Leiden und Märtyrertod zurückkehren. Daraus schließen die Apostel, dass Jesu Leiden am Kreuz nicht ausreichte, sie müssten ihm in die Passion nachfolgen. Auf ihre Frage „wie lange?" antwortet Jesus, ihr Leiden sei erforderlich bis zu seiner Wiederkehr zusammen mit allen, die um ihres Glaubens an ihn willen getötet worden seien. Das ist eine klare Auskunft: Jesu Parusie wird erst dann eintreten, wenn das Leidensmaß derer, die um seines Namens willen und um ihrer Treue zu ihm leiden, erfüllt sein wird. Die äußere Ähnlichkeit zwischen der Erzählung dieser christlichen Quelle und der Pessach-Haggada ist unverkennbar. Auch die fünf Rabbinen dort saßen und erzählten ,die ganze Nacht lang' vom Auszug aus Ägypten, bzw. Rabban Gamliel von den Opfervorschriften für Pessach ,bis zum Hahnenschrei'. Der Hahnenschrei markiert die Rückkehr ins gewohnte Gleis: Petrus kehrt ins Gefängnis zurück; für die Rabbinen ist es Zeit, das Morgengebet zu sprechen. 82 Auf beiden Seiten handelt es sich um Gruppen von rabbinischen Gelehrten (christlich: die Apostel), die sich offenbar nicht bei sich zu Hause versammeln und die Geschichte der Erlösung erzählen. Der nicht-familiäre Charakter der jüdischen Festgemeinschaft hat sich anscheinend im Verlauf des 2. nachchristlichen Jh. gewandelt, auch dauerte die Veranstaltung nicht mehr die ganze Nacht lang; die Veränderungen vollzogen sich mit der Herausbildung der Seder-Nacht und der Pflicht der Verkündung ( H a g g a d a ) vom Vater an den Sohn. So wurde der Seder zur Familienfeier, die gegen Mitternacht zu Ende ging. Die Quartodezimaner dagegen feierten weiterhin bis zum Morgengrauen, und ihre Feier hatte keinen familiären Charakter. 83 Die Erzählung von den in Bne Berak versammelten Rabbinen in der Haggada hatte offenbar die Funktion, die neue Verpflichtung, in der SederNacht vom Auszug aus Ägypten zu erzählen, zu begründen. Zum selben Zweck wurden auch die Aussagen von R. Elasar b. Asarja, Ben Sorna und 81 Der Jerusalemer Targum zu Ex 12,42 spricht von einer Nacht des Wachens, in der die Befreiung stattfinden soll; R. Le Deaut, La nuit pascale: Essai sur la signification de la Pâque juive a partir du Targum d'Exode XII 42, Rom 1963. In der Epistula Apostolorum (Kap. 17, Elliott, 566) steht, Jesus werde zwischen Pfingsten und dem Osterfest des folgenden Jahres wiederkommen; nach der talmudischen Uberlieferung soll der Messias im Pessach-Monat Nissan kommen (b Rosch haSchana 1 la-b; vgl. b Megilla 6a; Le Deaut, a.a.O., 214-337. 82 Zum Hahnenschrei im frühen Christentum s. Art. Gallicinium, in: Dictionnaire d'archéologie chrétienne et de liturgie, IV, Paris 1924, 593-596. 83 Lohse, Passahfest (s.o. Anm.69), 49; Huber, Passah und Ostern (s.o. Anm.69), 9. Laut M Pessachim X 9 endete bereits die Opferfeier um Mitternacht.

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Die Entfaltung der Narrative

d e r r a b b i n i s c h e n M e h r h e i t in die H a g g a d a e i n g e f ü g t , w o n a c h d e r A u s z u g aus Ä g y p t e n a u c h in d e r N a c h t u n d n o c h i m m e s s i a n i s c h e n Z e i t a l t e r e r w ä h n t w e r d e n s o l l . 8 4 R . E l a s a r b. A s a r j a s p r a c h : „ N u n b i n i c h a n d i e s i e b z i g , u n d es w a r m i r n i c h t v e r g ö n n t

(zu erfahren), weshalb v o m A u s z u g

aus

Ä g y p t e n in d e n N ä c h t e n g e s p r o c h e n w i r d , bis B e n S o r n a m i t f o l g e n d e r A u s l e g u n g k a m : , a u f d a s s d u g e d e n k e s t des T a g s d e i n e s A u s z u g s aus d e m L a n d Ä g y p t e n alle T a g e d e i n e s L e b e n s ' ( D t n 1 6 , 3 ) -

, T a g e d e i n e s L e b e n s ' , das

m e i n t die T a g e , ,alle T a g e d e i n e s L e b e n s ' , e i n s c h l i e ß l i c h d e r N ä c h t e " ; d i e s e r A u s s p r u c h v o n i h m s t e h t in d e r P e s s a c h - H a g g a d a , u m die V e r o r d n u n g , in d e r S e d e r - N a c h t v o m A u s z u g aus Ä g y p t e n z u e r z ä h l e n , z u e t a b l i e r e n . D i e S z e n e soll g e s p i e l t h a b e n , als R . E l a s a r b. A s a r j a s c h o n in v o r g e r ü c k t e m A l t e r s t a n d , a l s o in d e n z w a n z i g e r J a h r e n des 2 . J h . Bis d a h i n w a r es ü b l i c h g e w e s e n , in j e n e r N a c h t e n t w e d e r die O p f e r v o r s c h r i f t e n z u b e h a n d e l n , viell e i c h t a u c h ein . b e h e l m t e s B ö c k l e i n ' z u z u b e r e i t e n , z u r E r i n n e r u n g an das P e s s a c h - O p f e r . 8 5 D i e S z e n e m i t d e n f ü n f in B n e B e r a k v e r s a m m e l t e n R a b b i -

84 R. Elasars Worte kommen noch einmal in der Mischna vor (Beracbot 110) mit Bezug auf eine der Benediktionen des Einheitsbekenntnisses ,Höre Israel' oder auf eine andere Erwähnung des Auszugs aus Ägypten; der dritte Abschnitt des ,Höre Israel' (Num 15,37-41), worin auch das Gebot der Schaufäden vorkommt, kann allerdings nicht gemeint sein, denn dieser Abschnitt wurde im Abendgebet gar nicht gesprochen (M Beracbot II 2). Mischna- und TosseftaKommentare stellen ganz schlicht fest, die Äußerung des R. Elasar b. Asarja beziehe sich nicht auf den Vortrag der Pessach-Haggada (S. Lieberman, Tossefta ki-Fshuta, Berachot, 12), doch im (anscheinend durch die Haggada beeinflussten) Jerusalemer Talmud sowie in zahlreichen Ausgaben der Haggada steht ausdrücklich: „Es sprach zu ihnen R. Elasar b. Asarja [ . . . ] d e m n a c h hätte sich seine Äußerung direkt an die in Bne-Berak versammelten Rabbinen gerichtet. Davon ging offenbar auch der Redaktor der Pessach-Haggada aus, denn eine nicht zum Fest gehörige rabbinische Äußerung hätte er wohl nicht in die Haggada aufgenommen. Daraus geht hervor, dass es eine Uberlieferung gab, wonach die Worte des R. Elasar b. Asarja irgendwie mit dem Einsetzen des Brauchs, während der Seder-Nacht vom Auszug aus Ägypten zu erzählen, zusammenhingen; zwischen einer solchen Überlieferung und M Berachot braucht nicht unbedingt ein Widerspruch zu bestehen; möglicherweise wirkte sich das neue Gebot, in der PessachNacht vom Auszug aus Ägypten zu erzählen, auch auf die Erwähnung des Exodus in allen übrigen Nächten aus. Liebermans Einwand, R. Elieser b. Hyrkanos könne nicht mehr am Leben gewesen sein, als R. Elasar b. Asarja an die siebzig war, vermag den eindeutigen Textbefund nicht zu widerlegen. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Erwähnung (nicht: Erzählung) des Exodus auch in den Hallel-Psalmen (113-118) vorliegt, deren Rezitierung an Pessach bereits zu Tempelzeiten belegt ist (s.o. Anm. 77). 85 M Beza II 7. Rabban Gamliel ist derjenige, der die Zubereitung eines .behelmten Böckleins' (eines Ziegenbocks, der wie das Pessach-Lamm mit seinen Läufen und Eingeweiden behängt und so im Ganzen gebraten wurde) vorsieht, während die rabbinische Mehrheit dies ablehnt. Zu diesem Brauch s. Bokser, Origins (s.o. Anm.72), 101-106; ausführlicher]. Tabory, Pessach Dorot, Tel Aviv 1996, 92-105. Möglicherweise geht dieser Brauch Rabban Gamliels zusammen mit der bei ihm gepflegten Auslegung der Opfervorschriften von Pessach in der SederNacht. Demnach wahrte er die Beziehung der Seder-Feier zum Verzehr des Pessach-Opfers, wohingegen die in Bne Berak versammelten Rabbinen von der Erinnerung an das Opfer Abstand nahmen (vielleicht wegen ketzerischer Einwände) und sich lieber an die Erzählung vom Auszug aus Ägypten hielten.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

nen - die sich vielleicht in Opposition zu Rabban Gamliel befanden - ist also eine Art Gründungslegende für die neue Vorschrift, in der PessachNacht vom Auszug aus Ägypten zu erzählen als Ersatz für die technisch nicht mehr mögliche Darbringung des Pessach-Opfers, und der Ausspruch des Ben Sorna bildete die exegetische Grundlage für die in Bne Berak eingeführte Neuerung. Auf diesem Hintergrund wird die Aussage der rabbinischen Mehrheit verständlich, wonach die Zeitangabe ,alle Tage deines Lebens' das messianische Zeitalter impliziere; das könnte eine verdeckte Polemik gegen Judenchristen sein, die das Gedenken an den Auszug aus Ägypten durch eine aktuellere Pessach-Geschichte ersetzen wollten, nämlich den Bericht von Jesu Kreuzestod und Auferstehung, im Sinne von Jer 23,7f, wo angekündigt ist, dass die künftige Erlösung die ältere des Exodus verdrängen soll. 8 6 Demgegenüber betonen die Rabbinen die ewige Verbindlichkeit der Exodus-Erzählung, ebenso wie die am Sinai ergangenen biblischen Gebote ewig gelten, während die Christen sie für aufgehoben erklärten. Deshalb legten die Rabbinen den Vers so aus, dass er den Beweis für die ewige Geltung dieses Gebots abgibt, selbst nachdem der Messias gekommen sein wird. 87 Dasselbe Anliegen wie die soeben erörterten Texte in der Pessach-Haggada verfolgte auch der voranstehende Abschnitt .Knechte waren wir', der offenbar ebenfalls den neuen Brauch, vom Auszug aus Ägypten zu erzählen, untermauern sollte: „Wenn der Heilige gelobt sei Er unsere Väter nicht aus Ägypten herausgeführt hätte, dann wären wir, unsere Kinder und Kindeskinder dem Pharao in Ägypten verknechtet; und wären wir allesamt weise, allesamt verständig, allesamt alt und ehrwürdig, allesamt torakundig - so ist uns doch geboten, vom Auszug aus Ägypten zu erzählen". Auch in diesen Worten klingt vielleicht die Distanzierung von denjenigen an, denen die Relevanz der alten Geschichte vom Auszug aus Ägypten zweifelhaft geworden

8 6 Vgl. 1 Kor 11,26: „Denn so oft ihr von diesem Brot esset und von diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herrn Tod verkündigen, bis dass er kommt". Es lohnt sich, auch das 12. Testimonium des Afrahat heranzuziehen, das von Pessach handelt. Dazu Rouwhorst, Ephrem (s.o. Anm. 71), II, 120, sowie die Analyse des Ubersetzers, ebd., I, 149; engl. Ubersetzung bei J. Neusner, Aphrahat and Judaism: The Christian-Jewish Argument in Fourth-Century Iran, Leiden 1971, 31-40. Afrahat war ein christlicher Bischof, der in der ersten Hälfte des 4.Jh. in Babylonien lebte. Seine Schrift weist gewisse Berührungspunkte mit der Pessach-Haggada auf. 87 So erstmals beobachtet bei S.T. Lachs, A Polemical Element in Mishnah Berakot, in: J Q R 56 (1965), 81-84. S. auch S.H. Levey: B. Zoma, the Sages, and Passover, in: JRJ 28 (1981), 3 3 - 4 0 ; Levey hat den polemischen Beigeschmack dieser Stelle wahrgenommen, doch seine Vermutung, Ben Sorna könnte ein heimlicher Judenchrist gewesen sein, entbehrt jeglicher Fundierung. Die Tossefta (Berachot I 10-13) bietet ausführliche Schriftbelege für die Worte der Rabbinen; diese Ausführlichkeit lässt darauf schließen, dass es eine Gegenposition gab, die widerlegt werden sollte.

Parallelen zwischen jüdischen und christlichen ,Haggada'

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war, so dass sie lieber eine neue, aktuellere Erlösungsgeschichte erzählen wollten.

6 Parallelen zwischen der jüdischen und der christlichen

,Haggada'

Die neue Liturgie zu Pessach, die Gedenkerzählung, bildete sich in beiden Gemeinschaften parallel heraus. Der Inhalt der Pessach- bzw. Osternacht kristallisierte sich in beiden Fällen um eine Erzählung herum, die mit .Schimpf' einsetzte und mit ,Lob' endete; diese Geschichte sollte jeweils Trost spenden und die Erlösungshoffnung stärken. Die beiden Narrative sind sehr verschieden voneinander; dessen ungeachtet weisen sie deutliche textuelle Berührungspunkte auf. Diese Paralleltexte haben schon lange die Aufmerksamkeit von christlichen Liturgieforschern und Patristikern auf sich gezogen. Die Forschung geht im Allgemeinen davon aus, dass die textlichen Ubereinstimmungen durch Aufnahme älterer jüdischer Riten und Texte ins junge Christentum zustandegekommen seien; dahinter steht die Annahme, dass die Pessach-Haggada ein älteres jüdisches Werk noch aus der Zeit des Zweiten Tempels darstellt. Daher sind diese Parallelstellen in der jüdischen Forschern auf kein großes Interesse gestoßen, denn sie galten als eine spätere christliche Weiterbildung alter jüdischer Uberlieferung. Doch vor über einem halben Jahrhundert sind zwei wichtige christliche Texte aufgetaucht, die eine neuerliche Uberprüfung nahelegen, ob unser Verständnis der Beziehungen zwischen Pessach und Ostern, insbesondere der Osterfeier der Quartodezimaner, so haltbar ist. Die Texte tragen beide den Titelten Pascha; der eine stammt von dem sardischen Bischof Meliton, der andere von Origenes. 88 Bischof Meliton von Sardes schrieb sein Werk in den siebziger Jahren des 2.Jh. 8 9 Er berichtet von einem Besuch im Heiligen Lande, von daher könnte es durchaus sein, dass Dinge in seinen Text eingegangen sind, die er dort von Judenchristen gehört hat. Im Jahre 1960 veröffentlichte der bedeutende jüdische Liturgieforscher Ernst Daniel Goldschmidt seinen hebräi8 8 Zu Meliton: J . Blank ( Ü b s . ) , Meliton von Sardes: Vom Passa. Die älteste christliche Osterpredigt, Freiburg i.Br. 1963; S.G. Hall (Hg.), Melito of Sardis, O n Pascha and Fragments, O x f o r d 1979. Identifiziert wurde der Text bereits 1936: C . Bonner, T h e Homily on the Passion by Melito Bishop o f Sardis, in: Melanges F . C u m o n t ( = A n n u a i r e de l'institut de philologie et d'histoire orientale et slave 4), Brüssel 1936, 1 0 7 - 1 1 9 ; ders., T h e N e w H o m i l y of Melito and its Place in Christian Literature, in: Actes du congrès international de papyrologie, Exford 1937, 9 4 - 9 7 . Zu Origenes: R.J. Dally (Ubs.), Origen, Treatise on the Passover, N e w York 1992; dieser Text wurde 1941 in Ägypten gefunden. 8

' Hall, a . a . O . , X I I . A . a . O . , 76.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

sehen Kommentar zur Pessach-Haggada; Meliton ist dort nicht einmal erwähnt. 9 1 1984 erschien das Buch von Baruch Bokser über die Ursprünge der Seder-Nacht; dieser Autor fasst die Forschungsergebnisse über Meliton kurz zusammen, aber den frühchristlichen Quellen insgesamt widmet er nicht mehr als vier Seiten. Sie sind in seinen Augen zusätzliche Zeugnisse aus einem feindlichen Außenbereich über die Entwicklung des Festes, die ihrerseits ein rein innerjüdischer Vorgang ist. Dass die christliche Position auf die jüdische eingewirkt haben könnte und nicht nur von ihr beeinflusst wurde, wird gar nicht erst in Erwägung gezogen. Es ist zweifellos richtig, dass das Verständnis von Pessach als Fest des Opfers und der Erlösung aus der gemeinsamen jüdisch-biblischen Uberlieferung herrührt und dass viele christliche Bräuche ihren Ursprung in jüdischen haben. Es ist auch denkbar, dass im Fall einer Parallele zwischen einem späten jüdischen Midrasch und einem frühen christlichen Text der späte jüdische Text gelegentlich eine wesentlich ältere Tradition wiedergibt, weil die Literatur von Talmud und Midrasch mündlich überliefert wurde und ihre literarische Gestalt erst relativ spät erhalten hat. Aber dass der Midrasch-Text automatisch als der chronologisch ältere eingestuft wird, selbst wenn er Jahrhunderte später belegt ist als sein christliches Gegenstück, geht doch nicht an. 92 Die jüdische Auffassung, wonach das frühe Christentum ausschließlich der nehmende und nie der gebende Teil gewesen sei, hat gewiss theologische Gründe: dahinter steht die Vorstellung vom Judentum als der Mutter- und dem Christentum als der Tochter-Religion. Doch eine historisch-kritische Betrachtung führt zwangsläufig zu dem Ergebnis, dass es sich beim frühen Christentum und beim tannaitischen Judentum eher um zwei Schwester-Religionen handelt, die im selben Zeitraum und auf dem gemeinsamen Hintergrund von Unterdrückung und Zerstörung Gestalt gewonnen haben. 93 Demnach spricht eigentlich nichts gegen die Annahme, dass bisweilen eine Parallele oder sogar Gemeinsamkeit in der Entwicklung der beiden Religionen bestand und dass im Zuge dieser Entwicklung auch das Judentum religiöse Vorstellungen von der rivalisierenden Schwesterreligion übernahm. Die beiden Religionen sind nicht als separate Größen mit je eigener Identität entstanden. Im 2. und 3. Jh. gab es die verschiedensten Ar91 Auch in den Rezensionen zu Goldschmidts Monographie kommen Paralleltexte aus christlicher Literatur nicht vor; s. Urbach (s. o. Anm. 77), 143-150; J. Heinemann, in: Tarbiz 30 (1961), 405-410. 92 Dazu die beherzigenswerten Ausführungen von B.L. Visotzky, Fathers of the World: Essays in Rabbinic and Patristic Literatures, Tübingen 1995, 5-10.62.113. Ein markantes Beispiel von christlichem Einfluss auf jüdische Midraschim zur Opferung Isaaks und deren Beziehung zu Pessach bringt P.R. Davies, Passover and the Dating of the Aqedah, in: JJS 30 (1979), 59-67. 93 Dazu A.F. Segal, Rebecca's Children: Judaism and Christianity in the Roman World, Cambridge Mass. 1986.

Parallelen zwischen jüdischen und christlichen ,Haggada'

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ten sowohl von Juden als auch von Christen. Sie alle standen im Kampf gegen das heidnische Rom, daher die Ubereinstimmung bezüglich der zentralen Stellung der messianischen Idee sowie des Pessach-Festes. Gegenseitiger Austausch von Ideen und Vorstellungen zwischen Juden und Christen war zu jener Zeit und auf jenem Hintergrund durchaus möglich. Ein eindrücklicher Fall, wo die automatische Annahme jüdischer Herkunft für jedes christliche Ritual und jeden christlichen Text problematisch wird, ist die Parallele zwischen den sog. Improperia, einem Gebetstext der Karfreitagsliturgie, und dem liturgischen Gesang mit dem Refrain Dajjenu in der Pessach-Haggada, wo die Israel von Gott im Zuge der Herausführung aus Ägypten erwiesenen Wohltaten nacheinander aufgezählt werden Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Texten ist unverkennbar; sowohl Eric Werner als auch Stuart Hall sind schon darauf eingegangen. 94 Allerdings sind beide von Goldschmidts Voraussetzung ausgegangen, wonach Dajjenu im letzten Jh. des Zweiten Tempels verfasst worden sei, 95 woraufhin nur noch gefolgert werden konnte, dass die jüdische Dichtung die Quelle für den christlichen Text sei. Doch diese Annahme scheint schwer haltbar. Goldschmidt selbst hat zu Recht bemerkt, das es für Dajjenu in der tannaitischen und amoraitischen Literatur keinen Beleg gibt. 9 6 Der früheste Nachweis ist aus dem 10. Jh., und zwar in der Pessach-Haggada des Rav Saadja Gaon, wo Dajjenu unter den Zusätzen erscheint, die nicht zum festen Bestand der Haggada gehören. Dagegen hat bereits Eric Werner festgestellt, dass die Improperia zwar in die byzantinische Liturgie gehören, aber älterer Herkunft sind, nämlich aus der Osterpredigt des Meliton von Sardes: U n d a n k b a r e s Israel, [ . . . ] Wie h o c h veranschlagest du die zehn Plagen? Wie h o c h veranschlagest du die nächtliche ( F e u e r - ) Säule u n d die Wolke bei T a g und den D u r c h z u g d u r c h s R o t e M e e r ? Wie h o c h veranschlagest du die M a n n a g a b e v o m H i m m e l u n d die W a s s e r g a b e aus d e m F e l s e n und die G e s e t z g e b u n g a m H o r e b

94 E. Werner, Melito of Sardis, The First Poet of Deicide, in: H U C A 37 (1966), 191-210; ders., Zur Textgeschichte der Improperia, in: M. Ruhnke (Hg.), FS B. Stäblein zum 70. Geburtstag, Kassel 1967, 274-286; ders., The Sacred Bridge, II, New York 1984, 127-148; S.G. Hall, Melito in the Light of the Passover Haggadah, in: J T S 22 (1971), 29-46. 95 Goldschmidt, Haggada (s.o. Anm. 76), 50. Eine ähnliche Auffassung vertrat Finkelstein, Pre-Maccabean Documents 1943 (s.o. Anm.77), 73; er wollte Dajjenu sogar in den Anfang des 3. vorchristlichen Jh. verlegen, doch seine Vermutungen entbehren jeglicher Grundlage. " Goldschmidt, ebd., 48. Uberzeugende Argumente für späte Ansetzung von Dajjenu bei L.A. Hoffmann, Beyond the Text: A Holistic Approach to Liturgy, Bloomington 1987, 195f Anm. 46.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft und die Erbschaft des Landes und die Gaben daselbst? 9 7

Die liturgische Dichtung Dajjenu ist sicher nicht erst im 10. Jh. entstanden. Aber es geht doch nicht an, einen jüdischen Text, dessen erster uns bekannter Beleg aus dem 10. Jh. stammt, als Quelle für einen christlichen Text anzusetzen, der eindeutig bereits aus dem 2. Jh. stammt. Unter diesen U m ständen ist Dajjenu doch eher als Teil des jüdisch-christlichen Dialogs zu betrachten, als Reaktion auf den christlichen Vorwurf, die Israeliten seien Gott gegenüber undankbar. Lob Gottes, der sein Volk aus Ägypten geführt, es auf der Wüstenwanderung geleitet und schließlich ins gelobte Land gebracht, steht in Ps 136; eine ähnliche Aufzählung, diesmal als Kritik gegen Israels Fehlverhalten gerichtet, findet sich in den Psalmen 68 und 106. Meliton hat das kritische Modell der Psalmen übernommen; soweit unsere Kenntnis reicht, ist er der Erste, der es mit Pessach kombiniert hat. 9 8 Die .Eucharistie' - das christliche Opfermahl in Erinnerung an Jesu letztes Abendmahl - ist im wörtlichen Sinne eine Dankfeier. Von daher entspricht sie einerseits dem Hallel, dem ältesten Bestandteil des Sedermahls, der schon zur Zeit des Zweiten Tempels üblich war, andererseits dem griechischen Liebesmahl (.Agape), zu dem Arme und Witwen eingeladen wurden, um gemeinsam zu essen und Gott zu l o b e n . " In diesem Kontext ist

">7 Meliton (s.o. Anm.88), § 87-88, vgl. auch § 84-86. 98 J.H. Charlesworth (Hg.), The Old Testament Pseudepigrapha, New York 1984, 525. Auch 5Esr enthält ein antijüdisches Lied in diesem Sinne (Werner 1966, s.o. Anm.94), 208f), und auch dieses Werk ist christlich (so D. Flusser, Some Notes on Easter and the Passover Haggadah, in: Immanuel 7 [1977], 52-60). Auch in der christlichen Legenden-Sammlung Actus Pilati stehen solche Vorwürfe (Werner, ebd., 195). Verständlich wird der christliche Vorwurf des Undanks als Reaktion auf die Hallel-Psalmen, deren Rezitierung bereits zu Tempelzeiten Teil des jüdischen Festrituals war. Aus christlicher Sicht sind die Juden dafür zu tadeln, dass sie die göttlichen Wohltaten während der ersten Erlösung preisen, während sie die zweite Erlösung (durch Jesus) ablehnen. Auch von der gedanklichen Entfaltung her leuchtet es eher ein, dass die christliche Kritik, die das jüdische Hallel auf den Kopf stellt, dem jüdischen Dajjenu voranging. Eine weitere christliche Dichtung, die dem Dajjenu entspricht, steht bei Afrahat, s. Rouwhorst, Ephrem (s.o. Anm.71), II, 117. " Zur Ähnlichkeit zwischen dem Sedermahl und der Agape s. A. Sulzbach, Die drei Worte des Seder-Abends, in: Jeschurun 4 (1917), 216-219. Zum christlichen Liebesmahl s. Apg 2, 42-47; Lk 6,39-44; 1 Kor 11,17-34. Im 4. Jh. wurden die Agape -Feiern abgeschafft; vgl. S. Stein, The Influence of Symposia Literature on the Literary Form of the Pessah Haggadah, in: JJS 8 (1957), 13-44. Zum Unterschied zwischen der Eucharistie, die an Jesu Opfer und somit die vergangene Erlösung erinnert, und der Agape, die auf die Parusie und damit auf die künftige Erlösung hindeutet, s. Huber, Passah/Ostern (s.o. Anm.69), 27. Der Verzehr der Mazza vor dem Seder-Mahl erinnert an den Auszug aus Ägypten, d.h. die vergangene Erlösung, und der Afikoman, der zum Abschluss des Mahls gegessen wird, verweist auf die künftige Erlösung. Weiteres zum Afikoman s.u. Anm. 112. Zur Ähnlichkeit zwischen den beiden Feiern s. ferner S. Cavaletti, The Jewish Roots of Christian Liturgy, in: E.J. Fisher (Hg.), The Jewish Roots of Christian Liturgy, New York 1990, 26—30. Aus der umfangreichen Forschungsliteratur über die

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der Dialog zwischen den Improperien und Dajjenu zu verstehen. Das christliche Gebet zeigt die Juden des Undanks, das jüdische Gebet widerlegt dies. Der Abschluss von Dajjenu ist wohlbedacht: „Er hat uns den Tempel gebaut zur Sühne für all unsere Sünden". Der Dichter betont hier, dass die am Jerusalemer Tempel dargebrachten Opfer menschliche Schuld sühnen, wohingegen aus christlicher Sicht Jesu Kreuzestod das universale Sühnopfer war. 100 Die zentrale Stellung von Dajjenu in der Haggada, kurz vor Rabban Gamliels gegen die Ketzer gerichteten Äußerungen (dazu im Folgenden), zeugt von der Wichtigkeit der jüdischen Erwiderung auf den christlichen Vorwurf. Die Annahme eines dialogischen Verhältnisses zwischen einem jüdischen Text, der in die Pessach-Haggada eingegangen ist, und einem christlichen Text wirft auch neues Licht auf den Eröffnungsspruch der Haggada: „Dies ist das Brot der Armut, das unsere Väter im Land Ägypten aßen". Diese Worte wirken wie das Gegenstück zur christlich-liturgischen Verwendung von Jesu Worten beim letzten Abendmahl: „Dies ist mein Leib, der für euch dahingegeben wird, solches tut zu meinem Gedächtnis" (Lk 22,19), oder „Dies ist das Brot [...] es ist mein Fleisch" (Joh 6,50f). Das liturgische Anliegen wird aus dem Zusatz deutlich: „solches tut zu meinem Gedächtnis", oder aus der Formulierung bei Paulus: „Das ist mein Leib, der für euch gebrochen, solches tut zu meinem Gedächtnis" (IKor 11,24). Mt 26,26 enthält die Formel auch eine Aufforderung zum Essen: „Nehmet und esset, dies ist mein Leib". Das erinnert an die entsprechende Aufforderung am Eingang der Haggada: „Wer da hungrig ist, der komme und esse". Die christliche Deutung des .Brotes der Armut' ist die durch Jesus bewirkte Erlösung, die jüdische dagegen die Erlösung aus der ägyptischen Knechtschaft. Auch hier könnte die Beziehung umgekehrt gelagert sein: Die Rede vom ,Brot der Armut' könnte bereits zu Tempelzeiten üblich gewesen sein, und Jesus hätte sie dann abgewandelt und auf sich bezogen. 101 Diese Mögfrühe Eucharistie sind besonders relevant E.J. Kilmartin, T h e Eucharist in the Primitive Church, Englewood N . J . 1965, 1 4 4 - 1 5 3 ; C . J o n e s u.a. (Hg.), A Study of Liturgy (rev. ed.), N e w York 1978, 1 8 4 - 2 0 9 ; D . N . Power, T h e Eucharistie Mystery, N e w York 1994. 1 0 0 Diese Erklärung verdanke ich Herrn Dr. Shlomo C o h e n . U n d in der Tat endet auch Afrahats Oster-Gesang (s.o. Anm. 71) mit diesem Motiv: Mose erbaute den Juden das Wüstenheiligtum, und Jesus verhieß seinen Gläubigen: ,reißt diesen Tempel ein, und in drei Tagen will ich ihn wieder aufbauen' (Joh 2,19). 1 0 1 Auf die Ähnlichkeit zwischen den beiden Eröffnungen, ist bereits Joseph Scaliger zur Zeit der Renaissance gestoßen; er ging davon aus, dass Jesus den Spruch aus der Haggada übernommen habe. Dazu A. Grafton, J . Scaliger: A Study in the History of Classical Scholarship, O x f o r d 1993, 316. L.A. Hoffman, A Symbol of Salvation in the Passover Haggadah, in: Worship 53 (1979), 5 1 7 - 5 3 7 , hat die jüdische Formel vom ,Brot der Armut' grundlich untersucht und k o m m t zu dem Schluss, sie sei nach der Tempelzerstörung entstanden, als die Mazza das Fleisch des Opfertiers ersetzen musste; auch die Parallele zum Brot beim letzten Abendmahl ist ihm aufgefallen.

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lichkeit ist zwar nicht völlig von der H a n d zu weisen, aber doch recht unwahrscheinlich. Z u m einen kann eine solche Eröffnungsformel doch kaum existiert haben, bevor es die Pessach-Haggada gab, denn eine Eröffnung setzt einen einigermaßen feststehenden Text voraus; zum anderen ist die Eröffnungsformel weder in der Mischna noch in der Tossefta belegt. So stehen wir vor derselben methodischen Schwierigkeit, auf die wir schon öfter gestoßen sind: Ist es vorstellbar, dass ein erst in relativ späten Quellen erwähnter jüdischer Text als Quelle für einen erwiesenermaßen frühen christlichen Text gedient haben sollte? Wer einem Text die Ursprünglichkeit abspricht, hat den Beweis zu erbringen. Wie immer die Eröffnungsformel der Pessach-Haggada entstanden sein mag - selbst wenn wir annehmen wollen, dass in solchen polemischen Dialogen das Früher oder Später relativ belanglos ist, so ist es doch kaum denkbar, dass Juden in der Antike ihren Spruch vom ,Brot der A r m u t ' gesprochen haben sollten, ohne die ähnlich lautende liturgische F o r m e l aus dem christlichen Ritual im Sinn zu haben. Eine neue Geschichte muss alten Worten einen neuen Sinn verleihen. Die drei Festsymbole, das Pessach-Opfer, die Mazza und das Bitterkraut, tragen in jeder der beiden Religionen eine andere Bedeutung. Im Christentum wird das Pessach-Opfer mit Jesus, dem Agnus Dei, gleichgesetzt, 1 0 2 die Mazza wurde zum Corpus Christi, zur Erinnerung an das Brot beim letzten Abendmahl (das nach den Synoptikern ein Sedermahl w a r ) , 1 0 3 und das Bitterkraut wurde zum Symbol für die Passio DominiWA bzw. für die Strafe, die das jüdische Volk zu erwarten hat für das, was es dem Messias angetan. 1 0 5 Im H y m n u s über die Jungfrauschaft von Ephrem dem Syrer (gest.

102 Joh 1,29: „Siehe das Lamm Gottes, das da trägt die Sünde der Welt"; 1 Kor 5,7: „Tilget aus den alten Sauerteig, auf dass ihr ein neuer Teig werdet, ihr seid doch ungesäuertes Brot, denn auch wir haben ein Passahlamm, das für uns geschlachtet wird, das ist der Messias". Zur Bedeutung des Passa-Opfers im frühen Christentum s. auch Lohse, Passahfest (s.o. Anm.69), 52-55. Aus der Schilderung der Zubereitung des Passahlamms in der Mischna (Pessachim VII 1) geht hervor, dass das Lamm mit dem Kopf nach unten gebraten wurde, im Gegensatz zum älteren Brauch (belegt in einer Baraita im Jerusalemer Talmud, Pessachim VII 1 [34a]), es mit dem Kopf nach oben zu braten. J.Tabory hat (im Anschluss an Justin Martyr) bemerkt, dass ein am Spieß mit dem Kopf nach oben gebratenes Lamm einem Gekreuzigten recht ähnlich sieht (Pessach Dornt, s.o. Anm.85, 96). Daraufhin vermutet Tabory, hinter der neuen Vorschrift, das Passahlamm mit dem Kopf nach unten zu braten, stehe der bewusste Versuch, die Ähnlichkeit zwischen dem gebratenen Lamm und dem Gekreuzigten zu reduzieren; er rechnet auch mit der Möglichkeit, dass der Gekreuzigte verspottet werden sollte, indem er sozusagen verkehrt herum aufgehängt wurde. 103 Mt 2,26; Mk 14,22; Lk 22,19. Zur Polemik mit dem Judentum in Bezug auf das PessachOpfer s. Huber, Passa/Ostern (s.o. Anm.69), 135-137. 104 Vgl Ephrems Hymnus in der Ubersetzung von Rouwhorst (s.o. Anm. 71), II, 116, sowie die Bemerkungen des Ubersetzers ebd., I, 146. 105 Nach der Auslegung von Ex 12 kommt Meliton (s. o. Anm. 88, § 46) auf die Symbole des Festes, das Passalamm und das Bitterkraut zu sprechen: Den Namen des Festes, Passa, leitet er von Jesu .Passion' ab; zur Verbreitung dieser Volksetymologie in der frühchristlichen Literatur

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i.J. 373 n.Chr.) heißt es, durch seinen Opfertod habe Jesus die Opfer aufgehoben. Mit seinem Tod sei das Passahlamm abgeschafft, sein heiliges Brot sei an die Stelle der Mazza getreten und sein Leiden an die des Bitterkrauts. 1 0 6 In umgekehrter Entsprechung dazu stehen die Ausführungen Rabban Gamliels in der Mischna (Pessachim X 5), die in die Pessach-Haggada eingegangen sind: Rabban G a m l i e l p f l e g t e zu sagen: „Wer diese drei D i n g e zu Pessach nicht genannt hat, der hat seiner P f l i c h t nicht genügt, und zwar: das P e s s a c h - O p f e r , das ungesäuerte B r o t (Mazza) u n d das Bitterkraut. W o f ü r steht das P e s s a c h - O p f e r , das unsere V ä t e r aßen, als der Tempel n o c h bestand? D a f ü r dass der Heilige gelobt sei Er an unseren V ä t e r n in Ä g y p t e n v o r ü bergegangen ist (passach) [...] W o f ü r steht das ungesäuerte B r o t , das w i r essen? D a f ü r , dass der Teig unserer V ä ter keine Zeit z u m Säuern hatte [...] W o f ü r steht das Bitterkraut, das w i r essen? D a f ü r dass die Ä g y p t e r unseren V ä tern in Ä g y p t e n das Leben v e r b i t t e r t haben.

Rabban Gamliel verlangt von jedem Einzelnen ein Bekenntnis zum jüdischen Verständnis des Festes, womit die anderslautende christliche Deutung ausgeschlossen wird. 1 0 7 Rabban Gamliel ging sogar so weit festzusetzen, dass wer diese Erklärung nicht abgegeben habe, das Gebot der PessachFeier nicht erfüllt habe - zweifellos, weil er des Ketzertums verdächtig war. Ebenso betont Meliton von Sardes, dass wer der christlichen Erlösung teilhaftig werden wolle, um das mysterion von Passa wissen müsse, was gleichzeitig ein Mittel war, die Zugehörigkeit zur Schar der Gläubigen zu überprüfen. Nach seiner Meinung hatten die Ägypter ihre Erstgeborenen verloren, nicht weil sie das Pessach-Opfer nicht geschlachtet hätten, sondern weil sie dessen mysterion nicht kannten. 1 0 8 Auf beiden Seiten war also das jeweils .richtige' Verständnis der Festsymbole von entscheidender Bedeutung und diente als Mittel zur Klärung der religiösen Zugehörigkeit. Hier ist zu bemerken, dass auch die Ketzerbitte im Achtzehngebet, ebenfalls ein liturgisches Mittel, um Judenchristen aus der jüdischen Gemeinde hinauszudrängen, eingefügt wurde, als Rabban Gamiliel das Fürstenamt bekleidete. Im Talmud wird ihm auch eine Parodie auf eine Stelle bei Mt und auf ei-

s. die Anmerkung des Herausgebers z.St. In § 93 deutet Meliton das Bitterkraut auf die Bestrafung Israels für die Kreuzigung Jesu. 106 Ephrem the Syrian, Hyms, übersetzt von K.E. McVey, New York 1989, 298. 107 Das hat bereits Sulzbach, 3 Worte (s.o. Anm.99), beobachtet, danach S.Y. Fisher, „Three Things" (hebr.), in: Ha-Zofe le-Chochmat Israel 10 (1926), 238-240; an diesem Punkt stimmt sogar Goldschmidt (s.o. Anm.76, 52) zu. 108 J. Lieu, Image and Reality. The Jews in the World of the Christians in the Second Century, Edinburgh 1996,210.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

nen christlichen Richter, der danach entscheidet, zugeschrieben, was von gezielter Verwendung neutestamentlicher Texte zeugt. 0 9 Wenn wir annehmen, dass die Pessach-Haggada unter anderem dazu bestimmt war, Christen aus der jüdischen Gemeinschaft auszuschließen, können wir auch der Gestalt des ,bösen' unter den vier Söhnen einen Sinn abgewinnen. In der Haggada wie in der Mechilta lautet die dem bösen Sohn in den Mund gelegte Frage: „Was soll euch diese Liturgie?" Damit untergräbt er die Autorität von Halacha und biblischem Gebot, „er schließt sich aus der Gesamtheit aus und leugnet G o t t " - eine Schilderung, die auf JudenChristen aus jüdischer Sicht passt. 1 1 0 Auch die Erwiderung könnte an einen Christen gerichtet sein: „so mach auch du ihm die Zähne stumpf und antworte ihm: Deswegen hat G o t t es mir getan als ich aus Ägypten zog (Ex 19,8) - mir, nicht ihm. Wäre er dort gewesen, er wäre nicht erlöst worden". Die Metapher „mach ihm die Zähne stumpf" bezeichnet eine schlagende Widerlegung. Auf den christlichen Anspruch, das .wahre Israel' zu sein, erhält der .Bösewicht' die Antwort: mir hat G o t t diese Wunder getan und nicht dir; du wärest aus der ägyptischen Knechtschaft nicht erlöst worden, weil du nicht zum wahren Israel gehörst. Der Ausdruck ,Zähne stumpf machen' kommt im Midrasch Genesis rabba an zwei verschiedenen Stellen vor, jeweils in ausgesprochen antichristlichem Kontext; in beiden Fällen ist eine schroffe Ablehnung des christlichen Anspruchs gemeint. 1 1 1 In Anbetracht dieser intensiven Auseinandersetzung mit christlichen Ansprüchen erscheint auch die Antwort an den klugen (oder nach dem Jerusalemer Talmud: den törichten) Sohn in neuem Licht; formuliert ist sie als Zi-

109 Ketzerbitte: b Berachot 28b; die Parodie: b Schabbat 116a-b. Z u r Raffinesse dieser Erzählung s. Visotzky, Lamp (s.o. A n m . 7 3 ) , 72-80. 110 Diese Vermutung hat bereits Finkelstein in seinem Aufsatz von 1943 (Pre-Maccabean D o c u m e n t s , s.o. A n m . 7 7 ) , 12 geäußert. Daube hat in M t 22 ein Gegenstück zu den vier Söhnen der Haggada gefunden: D. Daube, The N e w Testament and Rabbinic Judaism, London 1956, 158-169. D a u b e ging davon aus, dass M t von der Haggada beeinflusst, aber auch umgekehrte Beeinflussung zu erwägen sei. 111 G e n R X C V I I I 8 (Theodor/Albeck [Hg.], 1259): „Bis dass Schilo k o m m e " - das ist der messianische König, „und ihm wird Gehorsam (hebr: jiqqehat, hier offenbar als .Stumpfheit' im metaphorischen Sinne aufgefasst) von Völkern" - er k o m m t und macht den Völkern der Welt die Zähne stumpf (die hatten nämlich gemeint, .Schilo' von Gen 49,10 sei Jesus). S. auch ebd., 1220: „und ihm wird Gehorsam (oder: Stumpfheit) von Völkern" - das ist Jerusalem, die dereinst den Völkern der Welt die Zähne stumpf machen soll, wie es heißt: „an jenem Tage mache ich Jerusalem z u m Laststein" (Sach 12,3). Anscheinend ist hier bewusst Sach 12,3 als Belegvers gewählt, u m Jesu Verkündung zu widerlegen, von der Stadt Jerusalem werde ,kein Stein auf dem andern bleiben' (Lk 19,44). D e r Midrasch kennt vielleicht noch eine Szene zwischen Esau u n d Jakob, die ein Gegenstück in der christlichen Uberlieferung hat: Laut Gen 33,4 küsste Esau seinen Bruder bei ihrer erneuten Begegnung, woraufhin beide weinten. Laut G e n R LXXVIII 9 war dies keine brüderliche, sondern eine feindliche Geste - eigentlich habe Esau J a k o b nicht küssen ( N - S c h - Q ) , sondern beißen (N-Sch-Ch) wollen. K ö n n t e das eine jüdische Analogie z u m Judaskuss (vgl. M k 14,44f u n d Parallelen) sein?

Parallelen zwischen jüdischen und christlichen .Haggada'

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tat einer Mischna-Vorschrift (Pessachim X 8): „Man schließt nach dem Pessach nicht ab mit Afikoman". U m hinter die Bedeutung dieser Aussage zu kommen, ist der Gebrauch zu beachten, den Meliton von der griechischen Vokabel aphikomenos (,der da kommen soll') macht; darunter wird Jesu Inkarnation, sein Erscheinen auf Erden und seine Passion verstanden: „dieser ist es, der da kommen soll, vom Himmel auf die Erde". 112 Melitons Rede von Jesus als dem aphikomenos, der auf die Erde kommen und dort seine Leidensmission antreten soll, folgt unmittelbar auf seine christologische Deutung von Pessach-Opfer, ungesäuertem Brot und Bitterkraut - analog zu Rabban Gamliels entsprechender Deutung. Von daher könnte es sein, dass eben diese halachische Erwiderung auf die Frage des Klugen eigentlich dazu bestimmt war, der bei den Christen üblichen Deutung den Boden zu entziehen. 113 Die Auseinandersetzung der Rabbinen mit der christlichen Deutung des Seder-Mahls wird mit einer weiteren Anordnung in Bezug auf den Verlauf der Feier in Verbindung gebracht, die in der frühen Amoräerzeit getroffen wurde. Zur Zeit der Mischna ging die Mahlzeit der Haggada voran, doch seit der amoräischen Epoche wurde zuerst die Haggada rezitiert und dann erst gegessen; David Daube hat vermutet, dass auch diese Veränderung vorgenommen wurde, um die christliche Deutung des Mahls und der damit verbundenen Symbolhandlungen zu entkräften. 1 1 4 Unter den Amoräern wurde diskutiert, was mit der Bestimmung der Mischna in Bezug auf die Pessach-Haggada „man beginnt mit Schimpf und endet mit Lob" gemeint sei (b Pessachim 116a). Laut Rav bezieht sich diese Äußerung auf den Satz „anfangs waren unsere Väter Götzendiener, nun aber hat uns Gott seinem Dienst nahegebracht", d.h. eine Aussage über die Erwähltheit des Volkes Israel. Im unmittelbaren Anschluss daran werden Verse aus Jos 24,2ff zitiert, wo von der Erwählung der Erzväter berichtet ist - „Jenseits des Stroms saßen eure Väter [...]"; der Abschlussvers in der Haggada lautet: „dem Isaak gab ich Jakob und Esau, dem Esau gab ich das Bergland von Se'fr zum Erbe, aber Jakob und seine Kinder zogen hinab nach Ägypten". Hier bricht das Schriftzitat ab, obwohl in dessen Fortsetzung der eigentliche Auszug aus Ägypten angesprochen ist: „ich sandte Mose und Aaron und schlug Ägypten [...]", und der Abschnitt insgesamt von 1 , 2 Meliton (Hall, s.o. Anm.88), § 66, s. auch ebd., Anm.32. Auf den aphikomenos bei Meliton hat bereits Werner in seinem Aufsatz von 1966 (s.o. A n m . 9 4 , 205f) hingewiesen; zu dieser Bedeutung von .Afikoman' s. D. Daube, He that Cometh, London 1966, 1 - 2 0 ; Weiteres zu dieser Studie im Folgenden. 113 Bemerkenswert ist, dass die rätselhafte Vokabel im Mittelalter Afikomen ausgesprochen wurde (und nicht Afikoman wie heutzutage üblich), wie aus einem gereimten Pessach-Gedicht des R. Simon b. Zemach Duran (Haggada schel Pessach Torat Chajim, M.L. Katzenellenbogen (Hg.), Jerusalem 1998, 12) hervorgeht; diese Form geht mit der griechischen Vokabel noch besser zusammen. 114 Daube, NT and Rabbinic Judaism (s. o. Anm. 110), 194 f.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

den Wundertaten erzählt, die Gott den Israeliten beim Exodus erwies. Auch das Abbrechen des Schriftzitats mit eben dem Vers, wo Esau und Jakob sich trennen, lässt sich als Zurückweisung der christlichen These auffassen, die dem Volk Israel seine Erwählung streitig macht. 1 1 5

7 Die

Schriftauslegung

Die Hauptauseinandersetzung mit der alternativen christlichen Deutung findet sich im sog. Midrasch, dem Kernstück der tannaitischen Haggada. In der Mischna ( P e s s a c h i m X 4) wird verlangt, die Verse Dtn 26,5-8 auszulegen, und diese Auslegung ist Teil der Pessach-Haggada. Darin werden die sehr knappe Darstellung des Auszugs aus Ägypten in Dtn 26 und die sehr ausführliche Schilderung in Ex zueinander in Beziehung gesetzt. Die literarische Qualität dieses Midrasch ist recht bescheiden, zumal wenn man ihn mit anderen halachischen Midraschim aus tannaitischer Zeit vergleicht. Einige der aus Ex angeführten Parallelstellen führen sachlich überhaupt nicht über den auszulegenden Text Dtn 26,5-8 hinaus. So lautet etwa die Auslegung zu dem Dtn-Vers „Die Ägypter aber machten uns schlecht, peinigten uns und legten uns schwere Arbeit auf": „Die Ä g y p t e r machten uns schlecht" - w i e es heißt: .Wohlan, w i r w o l l e n klug zu W e r k e gehen, u m das V o l k nicht g r o ß w e r d e n zu lassen, damit es sich im Falle eines Krieges nicht zu u n s e r n F e i n d e n schlage, uns b e k ä m p f e u n d sich aus d e m Lande mache' (Ex 1 , 1 0 ) . „sie peinigten uns" - w i e es h e i ß t : ,Sie s e t z t e n A u f s e h e r ein, sie zu peinigen mit ihren Lasten' (Ex 1 , 1 1 ) . „sie legten uns schwere A r b e i t auf" - w i e es h e i ß t : ,die Ä g y p t e r ließen die Israeliten arbeiten mit Strenge' (Ex 1 , 1 3 ) .

Die Parallelstelle aus Ex bestätigt nur, was in Dtn gesagt ist; so drängt sich die Frage auf, wofür die Parallele eigentlich gebracht wird. Außerdem ist die Wahl der sehr knapp verdichteten Verse aus Dtn zur Erwähnung des Auszugs aus Ägypten einigermaßen erstaunlich. Wieso haben die Rabbinen aus1 1 5 Dass das Jos-Zitat genau vor der Erwähnung des Exodus abbricht, ist bereits Finkelstein in seinem Aufsatz von 1942 (Pre-Maccabean Documents, s.o. Anm.77, 329) aufgefallen. Auch die Osterpredigt des Afrahat (s. o. Anm. 86) setzt mit der polemischen Behauptung ein, Israel sei nicht mehr das auserwählte Volk. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Kommentar des R. Simon b. Zemach Duran zu diesem Abschnitt der Pessach-Haggada: „dem Esau gebe ich das Bergland von Sei'r - denn er (seil. Esau) wollte nicht Knechtschaft und Unterdrückung auf sich nehmen, wie Jakob sie empfing .. darum steht es uns allein an, vom Auszug aus Ägypten zu erzählen, denn wir haben Knechtschaft und Unterdrückung erduldet, Gottes Heil erblickt und an seinem Dienst festgehalten"; s. Haggctda scbel Pessach Torat Chajim (s.o. Anm. 113), 74 f.

Die Schriftauslegung

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gerechnet diesen Text gewählt, der bei der Darbringung von Erstlingsfrüchten am Tempel gesprochen wurde, und nicht ein Stück aus der weitläufigeren Fassung in Ex? Die Verwunderung wächst angesichts der Tendenz dieses Midrasch, die Dtn-Verse systematisch zu einer Art Spiegel zu machen, worin die Erzählung aus Ex reflektiert wird. Der Exeget setzt die Dtn-Verse an die Stelle des Ex-Berichts und sucht diese seine Wahl zu rechtfertigen. 1 1 6 Die Dtn-Verse sind wohl komprimiert und eingängig, und mit dieser literarischen Begründung ihrer Bevorzugung könnten wir uns begnügen, wenn wir nicht die Osterpredigt des Bischofs Meliton von Sardes hätten, wo die Schriftauslegung auf den Auszugsbericht von Ex gegründet ist. 1 1 7 Meliton spricht davon, wie die Israeliten mit dem Blut des Opferlamms die Türen ihrer Häuser bestrichen und so das Eindringen des Verderbers verhüteten, der die Erstgeborenen Ägyptens tötete. Das Pessach-Opfer ist in seinen Augen das typologische Vorbild für Jesus und das durch dessen vergossenes Blut bewirkte Heil. 1 1 8 Diese christliche Predigt lehrt, dass hinter dem Verzicht der Pessach-Haggada auf den detaillierten Auszugsbericht von Ex noch weitere Erwägungen stecken. Auch Pseudo-Hippolyt, Melitons Zeitgenosse, und Origenes im 3.Jh. stellen Ex 12 ins Zentrum ihrer Predigten. 1 1 9 Anscheinend hat der jüdische Ausleger die Dtn-Verse gewählt, um eine Trennwand zwischen der christlichen und der jüdischen Deutung des Festes zu ziehen. Zu beobachten ist nämlich nicht nur die Wahl eines anderen Grundtextes, sondern auch Vermeidung zweier Motive, die im Ex-Bericht an zentraler Stelle stehen und in den Dtn-Versen völlig fehlen: In Dtn 26

E.D. Goldschmidt bemerkt in seiner (hebräischen) wissenschaftlichen Ausgabe der Pessach-Haggada, dass der Ex-Bericht eigentlich die angemessenere Grundlage für den Midrasch gewesen wäre. Für die Bevorzugung der Dtn-Verse findet er literarische Gründe: Die ExodusErzählung in Ex sei zu weitläufig verstreut gewesen, die Dtn-Stelle dagegen kompakt und dem Volk geläufig und verständlich (30). D. Weiss-Halivni, Comments on ,The Four Questions' (hebr.), in: E. Fleischer/J. Petuchowski (Hg.), Studies in Aggadah, Targum, and Jewish Liturgy in Memory of Joseph Heinemann (hebr.), Jerusalem 1981, 67ff vertritt dieselbe Position wie Goldschmidt. Allerdings leuchtet nicht recht ein, wieso Verse, die (zu Tempelzeiten!) einmal im Jahr gesprochen wurden (bei der Darbringung der Erstlingsfrüchte), dem Volk geläufiger gewesen sein sollen als andere, die zur Grundlage des Midrasch getaugt hätten. Eine andere Erklärung bietet S.T. Lachs, Two Related Arameans: A Difficult Reading in the Haggadah, in: J S J 17 (1980), 65-69. Meliton (s.o. A n m . 8 8 ) , § 1 - 2 . Eine Wendung aus seiner Predigt, wo er seine Botschaft als gleichzeitig neu und alt, ewig und zeitlich bezeichnet, erinnert an einen Pessach-Piut des liturgischen Dichters Jannai: „Was zuerst war, das wird zuletzt sein"; Z.M. Rabinovitz, Piute Jannai laTora welaMoadim, I, TelAviv 1985, 300. 1 1 9 Pseudo-Hippolyt in seiner Osterpredigt In Sanctam Pascha., s. P. Nautin (Hg.), Homélies paschales, 1: Une homélie inspirée du traité sur la Pâque d'Hippolyte, Paris 1950, 117-123. Origenes, Péri Pascha (s.o. Anm.88), 295f; dazu Huber, Passa/Ostern (s.o. A n m . 6 9 ) , 139-147; Rouwhorst, Ephrem (s.o. A n m . 7 1 ) , II, 111. 1,7

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

sind w e d e r das P e s s a c h - O p f e r n o c h M o s e e r w ä h n t . D a s s M o s e n i c h t gen a n n t ist, fällt n i c h t n u r in d i e s e m M i d r a s c h auf, s o n d e r n ü b e r die g e s a m t e P e s s a c h - H a g g a d a h i n . 1 2 0 S o b e t r a c h t e t h a t es seinen Sinn, dass d e r M i d r a s c h in d e r P e s s a c h - H a g g a d a e t w a f o l g e n d e A u s l e g u n g in d e n V o r d e r g r u n d stellt: Der Ewige führte uns aus Ägypten mit starker Hand und ausgerecktem Arm, mit großer Furcht, mit Zeichen und Wundern (Dtn 26,8). ,Der Ewige führte uns aus Ägypten' - nicht durch einen Engel, nicht durch einen Seraph, nicht durch einen B o t e n 1 2 1 , sondern der Heilige gelobt sei E r in seiner Herrlichkeit und eigenen Person, wie es heißt: ,Ich gehe im Lande Ägypten umher und schlage dort alle Erstgeburt bei Mensch und Vieh, und an allen Göttern Ägyptens halte ich Strafgerichte, ich, der Ewige' (Ex 12,12). ,ich gehe im Lande Ägypten umher' - ich und kein Engel, ,ich schlage alle Erst-

120 Im Midrasch CantR III 2 heißt es: „auf meinem Lager in den Nächten - das ist die Nacht von Ägypten; suche ich, den meine Seele liebt - das ist Mose; ich suche ihn und finde ihn nicht". Zur Nicht-Erwähnung des Mose in der Haggada s. J. Petuchowski, Do This in Remembrance o f M e (1 Cor 11:24), in: J B L 76 (1957), 295f; Daube, HeThat Cometh (s.o. Anm.112), 12; A. Shinan, Why is Moses not Mentioned in the Passover Haggadah? (hebr.), in: Amudim 39 (1991), 172-174. Unter den vier möglichen Gründen, weshalb Mose in der Haggada nicht erwähnt sei, nennt Shinan auch die Auseinandersetzung mit dem Christentum. Anscheinend ist das Mittelstück des Achtzehngebets am Sabbatmorgen, das mit den Worten beginnt ,es freue sich Mose', gegen diejenigen Christen gerichtet, die den Sabbat durch den Sonntag ersetzten. Im Unterschied zu Jesus, der als .Herr des Sabbats' bezeichnet wird (Mt 12,7), wird Mose dort als .treuer Knecht' geschildert, durch dessen Vermittlung der Sabbat gegeben wurde als ,Gabe seines Anteils' (nach b Schabbat 10b). In diesem Gebet wird Mose mit einer .prächtigen Krone' (nach Jes 66,3) versehen, was an den Heiligenschein über den Köpfen christlicher Heiliger erinnert, vielleicht im Kontrast zu Jesu Dornenkrone. Zu Widerstand gegen das Sprechen dieses Gebetes in Aschkenas s. N. Wieder, The Controversy about the Liturgical Composition Yismah Moshe: Oposition and Defence (hebr.), in: Fleischer/Petuchowski, GS Heinemann (s.o. Anm. 116), 75-99. 121 In der Haggada des R. Saadja Gaon steht hier: .nicht durch das Wort', d.h. den Logos, in deutlichem Gegenüber zu Joh 1,1. Ebenso Avot deRabbi Nathan, B (Schechter [Hg.], 2): „Mose erhielt die Tora vom Sinai. Nicht aus dem Mund eines Engels, nicht aus dem Mund eines Seraphen, sondern aus dem Mund des Königs der Könige, des Heiligen gelobt sei Er". Die deutliche antichristliche Spitze ist in der Forschung bereits wahrgenommen worden, etwa bei F.E. Meyer, Die Pessach-Haggada und der Kirchenvater Justinus Martyr, in: P. von der Osten-Sacken (Hg.), Treue zur Tora (FS G. Härder), Berlin 1977, 84-87. Er meint, die Wendung .ich und kein Engel' sei gegen die Auslegung von Justin Martyr (dial. 75) gerichtet, wo Tryphon in Ex 23,20 („siehe, ich schicke einen Engel vor dir her") und in dem ähnlich klingenden Namen Josua (ben Nun) Hinweise auf Jesus finden will. Meinem Freund, Prof. D. Rosenthal, verdanke ich den Hinweis auf Raschi zum Ausspruch des R. Hillel b Sanhedrin 99a: „Israel hat keinen Messais", wozu Raschi bemerkt: „vielmehr ist der Heilige gelobt sei Er selbst ihr König und er allein wird sie erlösen". Anders aufgefasst ist Rabban Gamliels Ausspruch bei J. Goldin, Not By Means of an Angel and Not by Means of a Messenger, in: B.L. Eichler/J.H. Tigay (Hg.), Studies in Midrash and Related Literature, Philadelphia 1988, 163-173. Zum göttlichen .Wort' als Logos s. Bietenhard, Logos Theologie im Rabbinat: Ein Beitrag zur Lehre vom Worte Gottes im rabbinischen Schrifttum, in: ANRW II. 19.2 (1979), 580-618.

D i e Schriftauslegung

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g e b u r t ' - ich u n d kein Seraph, , u n d an allen G ö t t e r n Ä g y p t e n s halte ich S t r a f g e richte, ich, der E w i g e ' - ich bin's u n d kein anderer.

Dieses Stück ist vom übrigen Midrasch merklich verschieden. Sonst begnügt sich der Ausleger mit der Anführung je einer Parallelstelle, eingeleitet durch die Formel ,wie es heißt'. Uber die Parallele hinaus wird der Gedankengang des betreffenden Verses nicht weiter verfolgt. Doch hier wird der ausgelegte Vers nicht nur durch einen parallelen aus Ex ergänzt, sondern jeder von beiden ist mit einer gleichlautenden Deutung versehen: kein Engel, kein Seraph, kein Bote, sondern Gott selbst. So wird eine markante Verlautbarung geschaffen, was auf die literarisch und gedanklich zentrale Wichtigkeit dieses Stücks hinweist. 1 2 2 Das ist das Hauptanliegen dieses Midrasch: Die Herausführung aus Ägypten ist durch Gott allein bewirkt. Deshalb sind die Verse aus Dtn 26 gewählt, in denen Mose nicht vorkommt, wohingegen er in Ex eine zentrale Rolle spielt. Allerdings möchte der Exeget auf die schöne Erzählung in Ex nicht völlig verzichten; deshalb bringt er sie jeweils durch Anführung von Parallelstellen herein, und so gelingt es ihm, die Geschichte des Auszugs aus Ägypten zu erzählen, ohne den .Boten' auch nur einmal zu erwähnen. So wird der Auffassung, wonach Mose der Archetyp für Jesus sei, der Boden entzogen. Wenn der Midrasch in der Pessach-Haggada eine ideologische Tendenz hat, sollte diese vor allem an seinem Schluss zu beobachten sein. Der letzte vom Midrasch ausgelegte Vers lautet, wie gesagt: „Und der Ewige führte uns aus Ägypten mit starker Hand und ausgerecktem Arm, mit großer Furcht, mit Zeichen und Wundern". Und die Auslegung dazu: „und mit Wundern - das ist das Blut, wie es heißt: Ich zeige Wunder an Himmel und Erde, Blut, Feuer und Rauchsäulen" (Joel 3,3). Das Joel-Zitat ist höchst bedeutsam, denn in seinem ursprünglichen Kontext spricht der Vers von der künftigen Erlösung: „In jenen Tagen gieße ich meinen Geist aus, ich zeige Wunder an Himmel und Erde, Blut, Feuer und Rauchsäulen, die Sonne soll zu Finsternis werden und der Mond zu Blut, vor dem Kommen des großen und furchtbaren Tages des Ewigen" (Joel 3,2-4). Der Sabbat vor dem Pessach-Fest heißt bei Juden bekanntlich ,der große Sabbat'; doch im Neuen Testament wird der Sabbat nach Jesu Kreuzigung, also der Sabbat, auf den in jenem Jahr das Fest fiel, so benannt. 1 2 3 Diese Benennung impliziert die messianische Hoffnung auf ,den großen Tag des Ewigen' aus Joel 3 im Zusammenhang mit Pessach. Und siehe da, der Joel-

122

N a c h G o l d s c h m i d t (hebr.) steht dieses Stück in sämtlichen A u s g a b e n der P e s s a c h - H a g -

gada, während die übrigen Teile des M i d r a s c h nicht durchgängig v e r t r e t e n sind. Daraus schließt G o l d s c h m i d t auf b e s o n d e r e Beliebtheit dieses Stücks ( 4 4 ) , o h n e deren H i n t e r g r ü n d e n weiter nachzugehen. 123

Z u r B e d e u t u n g des Begriffs ,der g r o ß e Sabbat' samt der zugehörigen Sekundärliteratur

s.u., Kap. V.

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Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

Vers erscheint Apg 2 in Verbindung mit dem Ereignis sieben Wochen nach Jesu Kreuzigung, zu Pfingsten, als die Apostel versammelt waren und eine Art privates Sinai-Erlebnis hatten: (V 2) Es erschienen ihnen Z u n g e n , zerteilt, wie v o n F e u e r [ . . . ] (V 4) u n d sie wurden alle voll des heiligen G e i s t e s [ . . . ] (V 14). D a s t a n d P e t r u s auf [ . . . ] u n d sprach z u ihnen [ . . . ] (V 16) das ist's, was d u r c h den P r o p h e t e n J o e l z u v o r g e s a g t ist [ . . . ] (V 2 2 ) . J e s u m v o n N a z a r e t h , den M a n n , v o n G o t t unter euch mit Taten u n d Wundern u n d Z e i c h e n erwiesen, welche G o t t d u r c h ihn tat unter euch, wie ihr selbst wisset [ . . . ] (V 33). N u n er d u r c h die R e c h t e G o t t e s e r h ö h e t ist und e m p f a n g e n hat die Verheißung des heiligen G e i s t e s v o m Vater, hat er a u s g e g o s s e n dies, das ihr sehet u n d h ö r e t [ . . . ] (V 43). E s k a m auch alle Seelen F u r c h t an, u n d g e s c h a h e n viel Wunder u n d Z e i c h e n d u r c h die A p o s t e l . 1 2 4

In seiner Ansprache lässt Petrus durchblicken, dass die in Joels Erlösungsprophezeiung angekündigten ,Zeichen und Wunder' mit Jesus eingetreten seien. Der Vers, in dem Jesu Messianität deutlich ausgesprochen wird (V 22), stützt sich implizit auf Dtn 4,34: „Wo hätte je ein Gott versucht, sich ein Volk mitten aus einem anderen herauszunehmen mit Versuchungen, mit Zeichen und Wundern, mit Krieg, mit starker Hand und ausgerecktem Arm, mit großen Schrecken wie der Ewige es in Ägypten vor euren Augen getan". Die beiden Verse, die Petrus in seiner Pfingstpredigt verwendet, kommen auch im Midrasch der Pessach-Haggada vor. Der Joel-Vers erscheint, wie gesagt, zum Abschluss des Midrasch, und der Dtn-Vers kurz davor: „mit großer Furcht - das ist die Offenbarung der Gottesgegenwart, wie es heißt: Wo hätte je ein Gott versucht, sich ein Volk mitten aus einem anderen herauszunehmen [...]". Wenn wir annehmen, dass der jüdische Exeget ungefähr die gleichen Quellen benützt hat wie der christliche, dann erhält seine Auslegung einen tiefen Sinn. Es handelt sich nicht nur um eine exegetischtechnische Entsprechung von Versen. Er will beweisen, dass die .Zeichen und Wunder' - Komponenten der künftigen Erlösung - nur in Ägypten stattgefunden haben. Die Auslegung zu ,mit großer Furcht - das ist die Offenbarung der Gottesgegenwart' bildet das Gegenstück zum christlichen Pfingstereignis, wie es in der Apg geschildert ist: „es kam alle Seelen Furcht an", und zur Verwendung von Dtn 4,34 dort. Das christliche Pfingstereignis ist eine Gottesoffenbarung mit universaler Ausrichtung. Die Apostel werden des heiligen Geistes voll und ihre Weissagung ist allen Anwesenden in allen Sprachen verständlich. Der jüdische Exeget dagegen braucht Dtn 4,34, um Israels Erwähltheit hervorzuheben (,sich ein Volk mitten aus einem anderen herauszunehmen'). Seine ganze Auslegung ist darauf angelegt dar-

124 Weiteres zu .Zeichen und Wundern' s. Apg 4,10; 5,12; 6.8. Zur Beziehung zwischen Pfingsten und der Tora-Verleihung am Wochenfest s. H. Conzelmann, Die Apostelgeschichte, Tübingen 1963 (Handbuch zum N T 7), z.St.

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Die Schriftauslegung

z u t u n , dass die E r l ö s u n g aus Ä g y p t e n n i c h t als M o d e l l f ü r e i n e n b e r e i t s g e k o m m e n e n Messias fungiert, s o n d e r n für einen Messias, der erst n o c h k o m m e n soll. M ö g l i c h e r w e i s e w i r d in d i e s e m S i n n e a u c h ein S t ü c k d e s M i d r a s c h in d e r H a g g a d a einsichtig, dessen Verständnis Schwierigkeiten bereitet: „ E r

sah

u n s e r E l e n d - das ist die U n t e r b i n d u n g des e h e l i c h e n Z u s a m m e n l e b e n s , w i e es h e i ß t : U n d G o t t s a h die I s r a e l i t e n , u n d G o t t e r k a n n t e " . D a v i d D a u b e h a t v o r g e s c h l a g e n , dass d e r M i d r a s c h h i e r das V e r b . e r k e n n e n ' in s e x u e l l e m S i n n a u f g e f a s s t h a b e n k ö n n t e , w i e es b i b l i s c h h ä u f i g v o r k o m m t . O b w o h l d i e isr a e l i t i s c h e n Z w a n g s a r b e i t e r in Ä g y p t e n k e i n e n G e s c h l e c h t s v e r k e h r m i t i h ren

Frauen

hatten,

bekamen

sie

Kinder,

und

zwar

durch

wundersame

S c h w ä n g e r u n g . 1 2 5 D a u b e will in d i e s e r A u s l e g u n g d e n R e s t e i n e r f r ü h e n j ü d i s c h e n Q u e l l e f ü r die E r z ä h l u n g v o n M a r i a s S c h w ä n g e r u n g s e h e n , d e r aus u n k l a r e n G r ü n d e n n i c h t aus d e r H a g g a d a g e t i l g t w o r d e n sei. I c h w ü r d e e h e r u m g e k e h r t v e r m u t e n : D i e s e A u s l e g u n g r e a g i e r t a u f die c h r i s t l i c h e

Lehre

v o n d e r J u n g f r a u e n g e b u r t , d e r g e s t a l t dass S c h w ä n g e r u n g d u r c h d e n h e i l i g e n G e i s t n i c h t bei J e s u s s t a t t g e f u n d e n h ä t t e , s o n d e r n in d e r G e n e r a t i o n A u s z u g s aus Ä g y p t e n ; das w ü r d e z u r a l l g e m e i n e n T e n d e n z d e r

des

Haggada

p a s s e n , d e n E x o d u s als d e n A r c h e t y p u s d e r E r l ö s u n g z u p r ä s e n t i e r e n . 1

6

125 Daube, He That Cometh (s.o. Anm. 112), 5-9. Diese Vermutung von Daube hat Urbach, Rezension (s.o. Anm.77, Anm. 16), als .absurd' zurückgewiesen, und D. Henshke, The Midrash of the Passover Haggada (hebr.), in: Sidra 4 (1988), Anm.4 stößt ins selbe Horn. Doch R. Jomtov b. Abraham Ischbili (frühes 14.Jh.) schreibt in seinem Kommentar zur PessachHaggada: „Manche meinen, Gottes Erkennen sei hier im selben Sinne zu verstehen, wie in dem Vers (Gen 4,25): „Da erkannte Adam sein Weib Eva noch [...]" (Chiddusche haRItBA al heSchass, Massechet Pessachim, J . Leibovitz [Hg.], Jerusalem 1984, 31). Im Midrasch GenR finden sich ähnliche Ausführungen zu Gen 21,1 („Der Ewige hatte Sara heimgesucht [...]"): Rav Huna sprach: Das ist ein Engel, der über die Begierde gesetzt ist, aber Sara brauchte dergleichen nicht, vielmehr Er in seiner Herrlichkeit" (GenR LIII 6, Theodor/Albeck [Hg.], 560). 126 Für den Midrasch ist diese Vorstellung nicht abwegig. Im Midrasch hagadol zu Ex (p. 22f) findet sich eine jüdische Version von Jesu Geburtsgeschichte (Näheres dazu unten, Kap. 5 im Text zu Anm. 128). Auch j Berachot II 4 (5a) steht eine solche: Einem jüdischen Bauern wurde von einem vorüberziehenden Araber verkündet, der Tempel sei zerstört, und im Königspalast von Bethlehem sei der Messias geboren. Da verkleidete sich jener Bauer in einen Händler mit Kinderkleidung, um so den neugeborenen Messias zu entdecken. Die Mutter des Säuglings wollte diesen töten, da um seiner Geburt willen der Tempel zerstört worden sei, doch jener Jude brachte sie davon ab. Nach einigen Tagen kam er wieder und fragte, was aus dem Kind geworden sei, da berichtete ihm dessen Mutter, stürmische Winde hätten es ihr entführt. In dieser Version ist die Krippe zum Königspalast geworden, und die Rolle des bösen Herodes, der dem Kind nach dem Leben trachtet, spielt die Mutter. Bemerkenswert ist auch die Entsprechung von Geburt des Messias und Tempelzerstörung. Diese Geschichte liegt der kabbalistischen Erzählung von Gadiel dem Kinde zugrunde. Dazu G. Scholem, The Sources of ,The Story of Rabbi Gadiel the Infant' in Kabbalistic Literature (hebr.), in: Devarim beGo I, Tel-Aviv 1990, 270-283. Zu dieser Erzählung und deren Parallele im Midrasch ThrR (Buber [Hg.], 89), s. G. Hasan-Rokem, ,La voix est la voix de ma soeur': Figure et symboles feminins dans le Midrach Lamentations Rabbah, in: Cahiers de litterature orale 44 (1988), 13-35.

96

Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

Wenn wir die Intention des Midrasch so auffassen, wird auch dessen Eröffnung verständlich: „Geh hin und lerne, was Laban der Aramäer unserm Vater Jakob antun wollte: denn Pharao hatte es nur auf das männliche Geschlecht abgesehen, Laban aber wollte alles vernichten, wie es heißt: Ein umherirrender Aramäer war mein Vater; er zog nach Ägypten [...] (Dtn 26,5) - unter Zwang nach göttlichem Wort." Nach dem einfachen Wortsinn ist hier von Jakob, dem Aramäer, die Rede, der ein unstetes Nomadenleben führte. So ist dieser Vers in der LXX und im Sifre aufgefasst, 1 2 7 so hat ihn allem Anschein nach auch Meliton verstanden. 128 In seiner Osterpredigt schildert Meliton Jesus als denjenigen, der seine Gläubigen herausgeführt hat aus der Knechtschaft in die Freiheit, aus der Finsternis ins Licht, vom Tod ins Leben und von der Unterdrückung zum ewigen Königtum. Jesus habe viel gelitten: Er sei in Abel erschlagen worden, mit Isaak geopfert, mit Jakob exiliert, mit Joseph verkauft und mit Mose in den Nil geworfen, im Passahlamm geschlachtet und in David verfolgt. Stuart Hall und Shlomo Pines haben auf die Parallele zwischen dieser Formulierung und einer Wendung in der Pessach-Haggada hingewiesen: „Er hat uns herausgeführt aus Knechtschaft in Freiheit, aus Kummer zur Freude, aus Trauer zum Fest, aus der Finsternis in großes Licht, aus der Unterdrücktheit in die Erlösung". 1 2 9 Die Möglichkeit, dass wir hier ein Stück aus einer judenchristlichen Pessach-Haggada palästinischen Ursprungs vor uns haben, ist also nicht von der Hand zu weisen. 1 3 0 Jedenfalls reiht Meliton den heimatvertriebenen Jakob unter die Typen des leidenden Christus ein - so hat er anscheinend die Wendung vom .umherirrenden Aramäer' verstanden. Die Gleichsetzung von Jesus mit dem Patriarchen Jakob wiederum findet sich bereits im Evangelium (vgl. Joh 4,12), wo die Samaritanerin am Brunnen Jesus fragt, ob er etwa größer sei als .unser Vater Jakob'. 1 3 1 Doch in den aramäischen Bibelübersetzungen (den Targumim) sowie in der Pessach-Haggada wird der .Aramäer' in diesem Vers auf Laban bezogen: „Der Aramäer Laban wollte unseren Vater vernichten". Der vorliegende Mi-

Dazu ausführlich: Tabory, Pessach Dorot (s.o. A n m . 85); Henshke (s.o. A n m . 125). "« Meliton (s.o. A n m . 8 8 ) , §§ 49.68. 129 Melito (s.o. A n m . 9 4 ) , 31 f; S. Pines, F r o m Darkness into Great Light, in: Immanuel 4 ( 1 9 7 4 ) , 4 7 - 5 1 ; vgl. auch Werner, Melito (s.o. A n m . 9 4 ) . 1 3 0 Vom A u f b a u her deckt sich Melitons Predigt ein gutes Stück weit mit dem K e r n der jüdischen Pessach-Haggada. Er beginnt mit einer Schriftauslegung, erläutert dann die symbolische Bedeutung des Passahlamms, der ungesäuerten Brote und des Bitterkrauts und endet mit einem Gegenstück zu den Hallel-Psalmen (Ps 1 1 3 - 1 1 8 ) , w o r i n gegen Israel schwere V o r w ü r f e ob seines Undanks erhoben werden. 1 3 1 Dazu J . H . Neyrey, Jacob Tradition and the Interpretation of J o h n 4 : 1 0 - 2 6 , in: C B Q 41 (1979), 4 1 9 - 4 3 7 . Motivische Ähnlichkeit ist auch zu beobachten zwischen dem Stein, der von Jesu Grab gewälzt ist (vgl. M k 16,4), und dem Stein, den Jakob in der Fremde v o m Brunnen wälzt, um Rachels Schafe zu tränken (vgl. G e n 2 9 , 1 0 ) . 127

Die Schriftauslegung

97

drasch in der Haggada wirft dreierlei Probleme auf: 1) steht in der Bibel nirgends geschrieben, dass Laban Jakob habe umbringen wollen; im Gegenteil, eine göttliche Traumerscheinung verwarnt ihn ausdrücklich, Jakob kein Leid zu tun (vgl. Gen 31,24); auch etwaige Tötungsabsichten Labans gegenüber Jakobs Familie sind in der Bibel nicht erwähnt. 2) Woher nimmt der Exeget die Information, Jakob sei,unter Zwang nach göttlichem Wort' nach Ägypten gezogen? Das .Wort' ist der Logos, d.i. ein Engel, aber wo hätte Jakob durch einen Engel den Befehl erhalten, nach Ägypten hinabzuziehen? 3) Wieso wird mitten in der Pessach-Haggada Labans nicht ausgeführte Absicht, Jakob und dessen Angehörige zu töten, als schwerwiegender bezeichnet als Pharaos Mordbefehl wider die israelitischen Knaben? Das verringert doch die Härte der ägyptischen Knechtschaft und damit das Gewicht der Erlösung aus Ägypten! Diese Stelle, wo Laban zum bösen Mann der Pessach-Haggada erklärt wird, veranlasste L. Finkelstein zu seiner kühnen Theorie, die Haggada sei gegen Ende des 3. vorchristlichen Jh. entstanden und habe die pro-ägyptische (ptolemäische) und anti-syrische (seleukidische) Richtung unterstützen sollen. 132 Finkelstein hat auch auf die klangliche Ähnlichkeit von arami (Aramäer) und romai (Römer) aufmerksam gemacht. 133 Nach diesem Ansatz lässt sich der Aramäer-Midrasch hier auch als praktische Anwendung der Schrift auf den Status des jüdischen Volks unter der Römerherrschaft lesen. Demnach wäre Laban, der alles vernichten will, eine Personifikation des römischen Weltreichs, dessen Herrschaft noch härter ist als die Knechtschaft in Ägypten. Der exilierte Jakob stünde dann für das Schicksal des jüdischen Volkes, und aus der Tatsache, dass die Knechtschaft in Ägypten befristet war, ist Hoffnung zu schöpfen, das auch Israels neuerliches Exil nicht von unbegrenzter Dauer sein wird. Die typologische Erzählung, die der Midrasch hier schafft, besteht aus folgenden Elementen: Ein böser Mann (Laban) wollte einen guten Mann (Jakob) töten; ein Engel befahl dem Guten, nach Ägypten hinabzuziehen, was er auch tat für eine gewisse Zeit. Wenn wir die Figuren der jüdischen Erzählung mit solchen aus dem Evangelium vertauschen, ergibt sich folgende Gleichung: Laban (der Aramäer) wird zu Herodes (der Idumäer, der von Roms Gnaden über Judäa regiert), Jakob wird zu Jesus, und damit finden wir uns am Ende von Jesu Geburtsgeschichte: „Da erschien der Engel des Herrn dem Joseph im Traum und sprach: Steh auf und nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir und flieh nach Ägyptenland und bleib allda, bis ich dir sage; denn Herodes stellt dem Kind nach, es umzubringen. Da machte

132

Finkelstein, T h e Oldest Midrash (s.o. Anm. 77), 300f mit A n m . 2 0 .

Ebd., vgl. auch die wichtigen Ausführungen von Berger, Typolocial Themes Anm. 7), 161 f. 133

(s.o.

98

Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

er sich auf, nahm das Kind und seine Mutter zu sich in der Nacht und floh nach Ägypten" (Mt 2,13f). Die beiden Erzählungen sind nach demselben Muster angelegt: Mt 2

Herodes wollte töten

H a g g a d a Laban

wollte töten

Jesus

auf G e h e i ß eines Engels

nach Ä g y p t e n

Jakob

nach göttlichem W o r t

nach Ä g y p t e n

Anscheinend lag der dem Bericht von Mt zugrundeliegende literarische Topos - Geburt des Erlösers, dessen Gefährdung durch feindliche Macht, Flucht nach Ägypten und Rettung - auch dem jüdischen Exegeten vor, und er deutete ihn auf Jakob um. 134 Hier haben wir also ein weiteres Beispiel für die schon oben beobachtete Tendenz auf jüdischer Seite, die Geschichte des christlichen Erlösers Jesus umzumodeln zu einer jüdischen Erzählung über die Erlösung aus Ägypten. Zu Zeiten von Unterdrückung und Erniedrigung bieten beide Erzählungen ihrer Gemeinschaft die tröstliche Aussicht auf Erlösung, im einen Fall aus Ägypten, im andern aus Jerusalem. Nun ist es an der Zeit, auf unsere eingangs gestellte Frage nach der (zumindest literarischen) Primitivität des Midrasch in der Haggada zurückzukommen; weshalb begnügt er sich mit Nebeneinanderstellung der Parallelen von Dtn und Ex, ohne den Stoff weiter zu entfalten? Und warum überhaupt haben die Rabbinen die Form der Schriftauslegung gewählt, um dem Gebot nachzukommen, vom Auszug aus Ägypten zu erzählen? Wenn wir wiederum einen Seitenblick auf die ,Haggada' des Meliton werfen, finden wir auch dort viel Schriftauslegung. Der christliche Exeget will hier die neue Deutung des Osterfestes auf den Bericht vom historischen Auszug aus Ägypten im Alten Testament gründen, denn ohne Schriftauslegung und ohne allegorische Deutung des Opfers hat das christliche Ostern keine Fundierung in den Quellen. Für Meliton ist die Schriftauslegung kein literarisches Beiwerk, sondern ein unentbehrliches Mittel, damit die biblische Exodus-Erzählung zur Präfiguration der Kreuzigung Jesu wird. Daher verkündet er zu Beginn seiner Ausführungen, zuerst würde der Auszugsbericht aus Ex gelesen, darauf folge dessen mysterion, d.i. die allegorische Auslegung. So erhält Israels Erlösung aus Ägypten eine zweite Bedeutungsebene: zusätzlich zur zeitlichen auch eine ewige. Das historische Pessach ist das in der hebräischen Bibel geschilderte, und Jesu Passionsgeschichte ist das ewige Pessach. 135 Diese Doppelbödigkeit zieht sich durch Melitons

134 So versteht Daube, N T and Rabbinic Judaism (s.o. A n m . 1 1 0 ) , 1 8 9 - 1 9 2 die Stelle; ihm folgt R.E. Brown, The Birth of the Messiah, London 1977, 545. Beide gehen davon aus, der Bericht bei Mt sei eine Adaption der jüdischen Schriftauslegung von Laban und Jakob; dagegen halte ich es für wahrscheinlicher, dass die jüdische Auslegung die christliche aufnimmt und für ihre Zwecke umgestaltet. 135 So Lieu, Image and Reality (s.o. Anm. 108), 210.

Schlussfolgerungen

99

ganze Predigt hindurch, und zur Etablierung dieser zweiten, allegorischen Bedeutungsebene eines völlig durchsichtigen Textes ist das G e n r e der Schriftauslegung erforderlich. So betrachtet erscheint der jüdische Midrasch der Pessach-Haggada wie ein etwas gekünstelter Nachhall und eine blutarme Erwiderung auf den christlichen .Midrasch'. D i e jüdische Schriftauslegung verwendet dieselbe literarische Technik wie die christliche, um den christlichen Versuch, den ägyptischen Auszugsbericht seiner Relevanz für die künftigen Generationen des jüdischen Volkes zu berauben, zurückzuweisen und zu entkräften. Zumindest in diesem speziellen Fall kann man sagen, dass das Genre der Schriftauslegung in jeder der beiden Religionen eine andere F u n k t i o n erfüllt. Das C h r i s t e n t u m erblickte in der Schriftauslegung von Anfang an ein wichtiges Mittel seiner schöpferischen Interpretation, denn nur auf diesem Wege ließ sich ein zweites, allegorisches .Stockwerk' auf dem .Erdgeschoss' des biblischen Textes errichten. Demgegenüber verfolgte die jüdische Seite mit dem Midrasch wenigstens hier das umgekehrte Ziel: Sie benützte das Genre des Midrasch, um darzutun, dass sich alles im Erdgeschoss abspielt, dass es gar kein zweites Stockwerk gibt. N a c h Darstellung des jüdischen Exegeten erhält der D t n - T e x t seine Auslegung durch die Parallelstellen in Ex, d.h. die Exegese findet auf derselben Verständnisebene statt. D i e A n nahme, dass die Rabbinen das G e n r e der christlichen Schriftauslegung verwenden, um mit seiner Hilfe - gelegentlich im Gegensatz zu seiner Intention - einen entsprechenden (oder umgekehrten) jüdischen Midrasch zu schaffen, würde historisch den ungeheuren Aufschwung erklären, den der schöpferische Midrasch gerade im 2. nachchristlichen J h . genommen hat.

8 Schlussfolgerungen D e r hier dargelegte Hintergrund, auf dem die rabbinische Pessach-Haggada entstanden ist, führt notwendig zu dem Schluss, dass dieses Werk aus einer heftigen Diskussion um die christliche D e u t u n g des Festes hervorgegangen ist. Was vor unseren Augen erscheint, ist ein weit ausgreifender jüdischchristlicher Dialog, der überwiegend polemischer Art ist, aber doch auch viele gemeinsame und ähnliche Züge aufweist. Dieser Dialog dient zur Identitätsbestimmung jeder der beiden Gemeinschaften, indem die jeweils andere Gruppe abgelehnt wird; dabei wird jedoch auch ein gemeinsames D i lemma angegangen: Wie feiert man das F e s t der Erlösung im Zeitalter von Unterdrückung und Knechtschaft? G r o b e s G e s c h ü t z fährt Meliton auf, dessen Osterpredigt scharfe anti-jüdische Ausfälle enthält. Die jüdische Seite dagegen übt Zurückhaltung; dort werden die von der christlichen Exegese aufgeworfenen Hindernisse eher umgangen. D e r Vortrag der Haggada in

100

G r u n d l a g e n der jüdisch-christlichen F e i n d s c h a f t

der Seder-Nacht fungiert auch als eine Art Glaubensbekenntnis. Die Pessach-Haggada war durchaus als eine Art Prüfstein konzipiert, um etwaigen Dissidenten die Teilnahme unmöglich zu machen. Sie tut das sehr dezent, indem sie die Gegenseite nicht direkt anspricht, sondern nur deren historische, eschatologische und theologische Deutungen des Festes durch alternative eigene widerlegt. 136 So wird das Christentum religiös negiert, aber nicht als gefährlicher politischer Gegner betrachtet. Dieser Feind ist vielmehr Rom, von dessen Herrschaft das jüdische Volk im Zuge der Erlösung ebenfalls befreit zu werden trachtet. Aufgrund der hier entfalteten Deutung der Pessach-Haggada und des Rituals der Seder-Nacht würde ich die Entwicklung des Festes 1 3 7 etwa folgendermaßen skizzieren: Zur Zeit des Zweiten Tempels bestand die PessachFeier aus zwei Komponenten, dem Opfermahl und der Rezitierung der Hallel-Psalmen (vgl. Ps 113-118). Als erster Ersatz für das Pessach-Opfer wurde während der beiden ersten Generationen nach der Tempelzerstörung ein .behelmtes' Ziegenböckchen verzehrt (was in entlegenen Gemeinden vielleicht schon vor der Tempelzerstörung üblich gewesen war), wobei die Opfervorschriften memoriert und ausgelegt wurden. Diese Tradition ist in der oben erwähnten Tossefta belegt: Rabbinische Gelehrte saßen die ganze Nacht über zusammen und beschäftigten sich mit Pessach-Halachot. In diesem Stadium entstand auf christlicher Seite die Auslegung von Ex 12 samt Pessach-Opfer, wohingegen die jüdische Haggada vom Festopfer Abstand nahm und sich stattdessen auf die Exodus-Erzählung konzentrierte, wie in der Mischna (Pessachim X) bezeugt. Ausgeprägt war dieser Zustand offenbar im Anfang des 2.Jh. Aus diesem Inhalt des Abends heraus entwickelte sich die Familienfeier, wo die Mitteilung des Uberlieferten an die Kinder das zentrale Gebot bildet (bei den Christen wurden in jener Nacht Täuflinge in die Gemeinschaft aufgenommen). In diesem Stadium waren die Gegensätze zwischen der jüdischen und der christlichen Deutung des Festes bereits unübersehbar: Die einen erzählten von der Erlösung aus Ägypten, die anderen vom Erlösungsgeschehen in Jerusalem. Nach dieser unserer Rekonstruktion hat die jüdische Pessach-Haggada nicht nur die Auslegung der Quartodezimaner berücksichtigt, vielmehr diente sie selbst als hochwirksames Mittel zur Ausschließung der Judenchristen aus der Gemeinschaft. Das christliche Fest entwickelte sich aus einer Feier am 14. Nissan mit Betonung von Jesu Opfertod am Kreuz zu ei-

136

Ähnliche D e f i n i t i o n e n bei A. F u n k e n s t e i n , Perceptions of J e w i s h H i s t o r y , L o s A n g e l e s

1993, 170.

1 3 7 D a b e i geht es mir nicht u m eine c h r o n o l o g i s c h diachrone E n t w i c k l u n g ; vielmehr ist davon a u s z u g e h e n , dass im Z u g e der Ü b e r l e g u n g e n nach der T e m p e l z e r s t ö r u n g , was v o m Inhalt des F e s t e s beizubehalten, a u f z u g e b e n bzw. u m z u g e s t a l t e n sei, verschiedene F o r m e n nebeneinander geübt wurden, aus denen sich dann allmählich ein H a u p t m o d e l l herauskristallisierte.

Schlussfolgerungen

101

ner Feier am Sonntag mit dem Schwerpunkt .Erlösung'. Eine ähnliche D y namik ist im tannaitischen J u d e n t u m zu beobachten: Auch dort lag das Hauptgewicht der Sedernacht zunächst auf dem O p f e r (bei Rabban G a m liel) und verlagerte sich dann auf die Exodus-Erzählung mit Ausblick auf die künftige Erlösung. Die hier in ihren Etappen skizzierte Entstehungsgeschichte der H a g g a d a geht davon aus, dass die liturgische Entwicklung kein innerjüdisch immanenter Vorgang war, sondern dass sich darin ein verdeckter Dialog mit einer rivalisierenden Liturgie spiegelt. In der Tat wurde kein Bestandteil des Tempelkults durch ein für J u d e n so gefährliches Element ersetzt wie das Pessach-Opfer, zumal die christliche Passionsgeschichte den H ö h e p u n k t der Evangelien bildet. Wenn das gleich nach der Tempelzerstörung verfasste Markus-Evangeliums wirklich eine ,juden-christliche Pessach-Haggada' sein sollte 1 3 8 , dann wäre das Evangelium also nicht nur ein theologisch-historisches, sondern auch ein liturgisches Werk, zur öffentlichen Vorlesung bestimmt wie der Pentateuch bei den J u d e n . 1 3 9 In diesem Fall könnten J u d e n Christen bereits in der ersten Generation nach der Tempelzerstörung die Geschichte ihrer Erlösung .erzählt' haben, indem sie das Evangelium vorlasen. Demnach wäre die H a g g a d a als eine Art jüdisches Gegen-Evangelium zu lesen - Narrativ gegen Narrativ, H a g g a d a gegen Haggada. Vielleicht ist das der G r u n d für die inhaltlichen Entsprechungen zwischen der jüdischen Auslegung von D t n 26 und der christlichen Erzählung: Der Midrasch beginnt mit einem Gegenstück zu Jesu Geburtsgeschichte (Laban wollte alle ausrotten), geht weiter mit der Schilderung von Israels Leiden in Ägypten (als Gegenstück zu Jesu Passion und Kreuzestod), weiter zur Erlösung aus der ägyptischen Knechtschaft (,nicht durch einen Boten') und endet mit J o el 3,3, möglicherweise eine Anspielung auf die Geistverleihung zu Pfingsten, womit das ,Leben J e s u ' endet. Bei der Beschreibung der einzelnen oben untersuchten Stücke der Pessach-Haggada hat sich herausgestellt, dass einige ihrer zentralen Bestandteile im Dienst der antichristlichen Polemik stehen. Demnach dürfte es wohl an der Zeit sein, das erbitterte Ringen zwischen den Reformern im Anschluss an die Tempelzerstörung, den Christen wie den J u d e n , neu zu über-

138 J . Bowman, The Gospel of Mark. The N e w Christian Jewish Passover Haggadah, Leiden 1965; K. Hanhart, The Open Tomb: A N e w Approach, Mark's Passover Haggadah (ca. 72 C.E.), Collegeville 1994. Vgl. auch J . Petuchowski, D o This in Remembrance of Me ( I C o r 11:24), in: J B L 76 (1957), 293-298. 139 Eine ähnliche Theorie bei M.D. Goulder, Midrash and Lection in Matthew, London 1974; er meint, Mt habe einen Jahreszyklus von gottesdienstlichen Lektionen gebildet, Mk einen halbjährigen, so dass jeweils die Passionsgeschichte am Schluss der Evangelien zu Pessach gelesen wurde. Einen kritischen Überblick über diese Forschungsrichtung bietet P.F. Bradshaw, The Search for the Origins of Christian Worship, N e w York 1992, 30-32.

102

Grundlagen der jüdisch-christlichen Feindschaft

prüfen. Dementsprechend ist die rabbinische Literatur nicht nur als Quelle für christliche Gedanken und Zeremonien zu lesen, sondern auch als Reaktion auf die Herausforderung des Christentums ans Judentum, denn die sog. mündliche Lehre ist im tieferen Sinne die jüdische Erwiderung auf die christliche Lehre, das Neue Testament. 140

9 Zum Stand der Forschung Die der hier vorgetragenen Deutung der Pessach-Haggada zugrundeliegenden Voraussetzungen treffen sich weitgehend mit denen von David Daube. Doch nicht Daube hat den ersten Schritt auf diesem Weg getan. Bereits in den Jahren 1925-1926 hat Robert Eisler in der ZNW (24-25) einen zweiteiligen Aufsatz veröffentlicht, in dem er den Afikoman aus dem jüdischen mit der Hostie aus dem christlichen Ritual zusammengestellt hat. Der Beitrag von Robert Eisler, einem Kenner des Neuen Testaments, enthält auch Fehler. 141 Allerdings tun diese seiner Hauptthese keinen Abbruch; sein Aufsatz ist ein wichtiger Beitrag zur Aufdeckung der messianischen Bedeutung des Afikoman und zum Forschungspotential, das die Erkenntnis der Parallelentwicklung von Pessach und Ostern bietet. Dieser Ansatz war jüdischen wie christlichen Forschern gleichermaßen ein Dorn im Auge. Sogleich nach der Veröffentlichung des ersten Hälfte des Aufsatzes wollte der Herausgeber der Zeitschrift, Hans Lietzmann, von seiner Zustimmung zum Abdruck der zweiten Hälfte zurücktreten. Doch Eisler gab nicht nach und verlangte von Lietzmann, seiner Verpflichtung nachzukommen und den ganzen Aufsatz zu drucken. Er zog sogar einen Anwalt heran und drohte mit dem Einsatz von Rechtsmitteln. So musste Lietzmann den Aufsatz vollends drucken lassen; Eislers Anwalt hinderte ihn auch daran, eine redaktionelle Bemerkung anzubringen, wonach der Aufsatz gegen seinen Willen und nur unter juristischem Druck erscheine. Statt dessen stellte Lietzmann dem Band 25 der Zeitschrift (1926) seine Kritik an Eisler voran; außerdem erschien im selben Band noch eine scharfe 140 Dies besagt ein Abschnitt im Midrasch Tanchuma (ki tissa X X X I V ) : „Der Heilige gelobt sei Er sprach zu den Völkern (=den Christen): Ihr behauptet, dass ihr meine Kinder seid? Ich weiß nicht - die mein Mysterium haben, die sind meine Kinder, und was ist dies? Die Mischna, die mündlich gegeben wurde". Wie M. Bergman,The Scales are not Even (hebr.), in: Tarbiz 53 (1984), 289-292, Anm. 14a gezeigt hat, steht der Begriff .Mysterium' hier gegen die paulinische Behauptung, die christliche Verkündung sei das Mysterium (Eph 6,19). 141 Zu R. Eislers Persönlichkeit und wissenschaftlicher Leistung s. G. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, Erweiterte Fassung . . . , Frankfurt/M 1994, 1 5 7 - 1 6 3 . Zu Daubes Verständnis der Seder-Nacht s. auch D. Bleicher Carmichael/D. Daube, On the Eucharist and the Passsover Seder, in: JSNT 42 (1991), 45-67.

Zum Stand der Forschung

103

Kritik von Marmorstein. 142 Daraufhin verlangte Eisler den Abdruck einer Erwiderung im folgenden Band der Zeitschrift (26/1927), was Lietzmann ablehnte. Auch einen Kompromissverschlag von Eisler, er werde seine Erwiderung in einer Zeitschrift außerhalb Deutschlands veröffentlichen und die ZNW solle nur in ihrer Zeitschriftenschau darauf verweisen, nahm Lietzmann nicht an. So blieb Eisler isoliert, von allen Seiten angegriffen, ohne seinen Kritikern erwidern zu können. Vierzig Jahre danach, im Jahre 1966, hielt David Daube einen Vortrag über den Afikoman in der Londoner St. Paul's Cathedral, worin er Eislers Deutung des Afikoman prinzipiell rechtfertigte und nur die nötigen Verbesserungen und Ergänzungen an dessen bahnbrechender Arbeit vornahm. Daube berichtete seinen Zuhörern über das harte Los seines Vorgängers Eisler und äußerte Zweifel, ob die Zeit für solche Vergleiche zwischen Christentum und Judentum schon reif sei. Als Beleg für sein Zögern führte Daube an, dass in E.D. Goldschmidts Kommentar zur Pessach-Haggada, der reich an Beobachtungen zu frühen Pessach-Bräuchen ist, das Neue Testament schlechterdings nicht vorkommt. Um jeglichen Skandal zu vermeiden, machte Daube seinen Vortrag keiner breiteren Öffentlichkeit zugänglich, sondern ließ den Privatdruck nur auf Anfrage durch die Londoner Gesellschaft für christlich-jüdische Verständigung verschicken. So wurde ihm, im Unterschied zu Eisler, nicht der Mund gestopft, aber seine Deutung blieb wissenschaftlich eine Randerscheinung ohne das ihr gebührende Echo in der einschlägigen Forschung. 143

142 H . Lietzmann, Erklärung des Herausgebers über sein Verhalten gegen Herrn Dr. Robert Eisler, in: Z W N T 26 (1927), 96; A. Marmorstein, Miscellen: I. Das letzte Abendmahl und der Sederabend, ebd., 2 4 9 - 2 5 3 . 143 Unmittelbar vor Abschluss der hebräischen Fassung dieses Buches, am Vorabend des Purim-Festes 1999, ist David Daube im Alter von neunzig Jahren verstorben; möge sein Andenken zum Segen sein!

III Rache und Fluch: Feindschaft gegenüber dem Christentum in der aschkenasischen Judenheit Wie kam die jüdische Apologetik des Mittelalters mit dem unübersehbaren Erfolg der christlichen Staatsreligion zurecht? Wie lautete die religiöse Formel, die es den Juden im christlichen Europa ermöglichte, weiterhin an Israels Erwähltheit zu glauben, obwohl sie durch die politische Realität tagein tagaus mit scheinbarer Verworfenheit konfrontiert wurden? Diese Fragen sind im weiteren Kontext der jüdisch-christlichen Wechselbeziehungen zu untersuchen. Ebenso wie die jüdische Einstellung zum Christentum durch das Verhalten der Christen gegenüber den Juden beeinflusst war, muss wohl auch die Haltung der Juden gegenüber den Christen auf die christliche Einstellung zum Judentum eingewirkt haben. Auch das Verhältnis zwischen Verfolger und Verfolgtem beruht notwendig auf Gegenseitigkeit, und dieses ist zu erhellen. Gerson Cohen hat in seinen beiden Studien zur jüdischen Haltung gegenüber der christlichen Welt 1 eine „unerträgliche Spannung zwischen Israels Erwähltheit im Himmel und seiner Unterdrücktheit auf Erden" beobachtet, 2 die im Zuge religiöser Verfolgungen nur noch schärfer ins Bewusstsein trat. U m diesen Widerspruch auszugleichen, deuteten die Juden die schwere politische Lage als ein vorübergehendes Problem, dessen Lösung in das messianische Zeitalter verschoben wurde. Von daher bieten die zur messianischen Zeit erwarteten Geschehnisse den Schlüssel zum Verständnis der jüdischen Apologetik in der Gegenwart. Wie also stellten sich die Juden 1 G.D. Cohen, Esau as Symbol in Early Medieval Thought, in: A. Altmann (Hg.), Jewish Medieval and Renaissance Studies, Cambridge 1967, 1967, 19-48; ders., Messianic Postures of Ashkenazim and Sephardim, in: M. Kreutzberger (Hg), Studies of the Leo Baeck Institute, New York 1967, 1 1 7 - 1 5 8 ; beide wiederabgedruckt in G.D. Cohen, Studies in the Variety of Rabbinic Culture, Philadelphia/New York 1991, 2 4 3 - 2 7 0 . 2 7 1 - 2 9 8 . E. Carlebach hat mit Hinweis auf messianische Gestalten und Bewegungen im aschkenasischen Kulturbereich gegen C o hens These argumentiert, in der aschkenasischen Judenheit seien messianische Elemente verdrängt und totgeschwiegen worden: E. Carlebach, Between History and Hope: Jewish Messianism between Ashkenaz and Sepharad, Third Annual Lecture of the Victor J. Selmanowitz Chair of Jewish History, New York 1998, 1-30; allerdings stützt Carlebach ihren Einwand auf messianische Vorgänge vom 16. Jh. an, wovon Cohens These in Bezug auf das Mittelalter nicht betroffen ist. Ferner zur jüdischen Haltung gegenüber dem Christentum s. J. Katz, Exclusiveness and Tolerance: Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, New York 1973. 2 Cohen, Esau as Symbol (s.o. Anm. 1), 20.

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den ersehnten Sieg über das Christentum vor? Welche Gestalt hatte in ihren Augen die künftige Niederlage der Nicht-Juden, insbesondere der Christen? Dies sind die Fragen, um die es im folgenden Kapitel gehen soll.

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„Dieses (d.i. das letzte) Ende besteht in der völligen Vernichtung sämtlicher Völker samt ihren himmlischen Fürsten und Göttern [ . . . ] . Der Heilige gelobt sei Er wird alle übrigen Völker vertilgen, nur Israel (wird bestehen bleiben)" - so ist das Hereinbrechen des messianischen Zeitalters im sog. Sefer Nizzachoti Vetus geschildert, das in Deutschland während des 13. Jh. verfasst wurde. 3 Die künftige Vernichtung ist dort mit denselben Worten bezeichnet, mit denen Esther den Plan des bösen Haman, des ersten Judenfeinds, schildert (vgl. Est 8,11), wodurch die Umkehrung der Verhältnisse, die endgültige Vernichtung der Heiden im messianischen Zeitalter, besonderen Nachdruck erhält. Im selben Zeitraum schrieb R. Mei'r b. Simon von Narbonne seine polemische Abhandlung Milchemet Mizwa, worin er ein ganz anderes Endzeitprogramm in Bezug auf die Heiden entwirft: „Den Schlusspunkt bilden die Zeichen und Wunder, denn er wird Großes an uns tun, so dass sich alle Völker zu unserem Glauben bekehren und die Uberlieferung ihrer Väter Lügen strafen [...]. Denn alle Völker sollen sich zum Glauben an den ehrwürdigen Gott bekehren vor der Fülle der Wunder, die sie ihn werden tun sehen, indem uns der (göttliche) Name aus diesem Exil errettet". 4 Davor hatte R. Mei'r b. Simon den Vers Dtn 32,43 ausgelegt: „Denn das Blut seiner Knecht wird er rächen, Rache wird er an seinen Feinden üben"; er meint dazu, von dieser messianischen Rache würden nur ,die Bösen und die Feinde' unter den Heiden betroffen, nicht aber „das Volk". Bei ihm wird also das Ende des Exils und der Anbruch der Erlösung durch massenweise Bekehrung und nicht durch Vernichtung .aller Heiden' markiert. Hier liegen zwei verschiedene Konzeptionen vor, deren erste ich als die ,Rache-Erlösung' bezeichnen möchte, die zweite als die ,Bekehrungserlösung'. Die erste findet sich in einer aschkenasischen Abhandlung, die zweite in einer provencalisch-sephardischen. Ist die Aussage von Sefer Nizzachon Vetus repräsentativ für die in der aschkenasischen Judenheit verbreitete Haltung? Ich denke, ja. Freilich sind hie und da unter aschkenasischen J u den gemäßigtere Stimmen zu vernehmen, die auch von der .Bekehrungs3 D. Berger (Hg.), T h e J e w i s h - C h r i s t i a n Debate in the High Middle Ages. A Critical Edition of the N i z z a h o n Vetus, Philadelphia 1 9 7 9 , A n m . 2 4 2 (hebr. 1 6 1 , engl. 2 2 7 ) . In der hebräischen Ausgabe von M . Breuer (Ramat G a n 1 9 7 8 ) , § 2 6 8 , 187. 4

M S Parma, Bibliotheca Palatina N r . 2 7 4 9 (Katalog de Rossi Nr. 155), fol. 19b-20a.

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erlösung' wissen. 5 Auch wer in der Rache-Erlösung das zentrale Ereignis des messianischen Ablaufs erblickt, kann ein zweites, späteres Stadium von Bekehrung der Heiden annehmen, soweit diese vom anfänglichen göttlichen Strafgericht verschont geblieben sind. 6 Aber der Historiker hat doch das Gewicht der Hauptaussage zu prüfen, der Auffassung, die in den Gebeten, Gedanken und Visionen jener Generationen häufigen Ausdruck fand, woraus sie Trost und H o f f n u n g schöpften. U n d der mainstream der aschkenasischen Judenheit sah in der Vernichtung der Heiden einen wichtigen Bestandteil des messianischen Geschehens. Nach diesem Ansatz wird die Geschichte rückwirkend korrigiert, die Rache bewirkt eine nachträgliche Korrektur der Vergangenheit, bevor die neue Weltordnung einsetzen kann. Auf welchem Hintergrund ist diese Auffassung entstanden? Aus welchen historischen Umständen ist sie hervorgegangen? In einer Elegie zum 9. Av, dem Gedenktag an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels, die im Anschluss an die Verfolgungen im Zuge des Ersten Kreuzzugs (1096) verfasst wurde, schreibt der liturgische Dichter Kalonymos b. Jehuda: „Blutstropfen um Blutstropfen gezählt / gesprengt ward ihr Blut auf dein Gewand, das purpurn / Recht schafft er unter den Völkern voller Leichen" (Ps 110,6)/ Hier wird Buch geführt über Blut. Jeder Blutstropfen der von Christen getöteten Juden wird von G o t t registriert, und zwar auf seinem purpurnen Gewand. Wenn dieses mit Blut vollgesogen ist, wird sozusagen die Rechnung präsentiert. Die Metapher von Gottes blutgetränktem Gewand findet sich auch in einem Midrasch im Jalqut Schimoni: „Recht schafft er unter den Völkern - voller Leichen" (Ps 110,6) - Unsere Meister sprachen: Jede einzelne Seele aus Israel, die Esau getötet, von deren Blut nimmt der Heilige gelobt sei Er und tränkt sein Purpurgewand damit, bis es ganz blutfarben ist; wenn dann der Tag des Gerichts k o m m t und er auf dem Podium sitzt, um ihn zu richten, trägt er dieses Purpurgewand und zeigt ihm den Leichnam jedes einzelnen Gerechten, der darauf eingetragen ist, wie es heißt: „Recht schafft er unter den Völkern - voller Leichen". Bei jener Gelegenheit übt der Heilige gelobt

5 Eine gemäßigte Ä u ß e r u n g findet sich in einer liturgischen D i c h t u n g von R. Gerschom, gen. .Leuchte des Exils'; er schildert die Endzeit als einen Zeitraum, in dem sämtliche Erdbewohner erkennen sollen, dass es auf der ganzen Welt keinen G o t t gibt außer Israels G o t t : A.M. H a b e r m a n (Hg.), Rabbenu Gerschom Meor haGola: Selichot uPismonim, Jerusalem 1944, 14. Wie wir allerdings noch sehen werden, wird diese Ä u ß e r u n g von anderen Stellen überlagert, wo die Rache-Erlösung im Z e n t r u m steht. ' A. Grossman, ,Redemption by Conversion' in the Teaching of Early Ashkenazi Sages (hebr.), in: Zion 59 (1994), 325-342 polemisiert gegen mich, wobei wir allerdings in d e m grundsätzlich möglichen Nebeneinander der beiden Typen von Erlösung übereinstimmen; vgl. meine Erwiderung: I.J. Yuval, T h e Vengeance of the Lord is the Vengeance of His Sanctuary H i s t o r y without Anger and without Prejudice (hebr.), in: Zion 59 (1994), 412-414. 7 E.D. Goldschmidt, Seder haQinnot leTischa beAv, Jerusalem 1972, 109.

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sei E r zweierlei R a c h e an ihm, wie es heißt: „ R a c h e g o t t , E w i g e r , R a c h e g o t t ers c h e i n e ! " (Ps 9 4 , l ) 8

Dieser Midrasch hat ein Gegenstück im Midrascb Tehillim; dort sind die Ausführungen R. Elasar b. Pedat, einem palästinischen Amoräer des 3. nachchristlichen Jh., in den M u n d gelegt: Was b e d e u t e t „ u n d nicht vergisst er der E l e n d e n S c h r e i " (Ps 9 , 1 3 b ) ? E r vergisst nicht das d u r c h die V ö l k e r der Welt v e r g o s s e n e Blut v o n J u d e n . U n d nicht nur das Blut der G e r e c h t e n , s o n d e r n das jedes einzelnen, der z u r Zeit der Religionsv e r f o l g u n g u m g e k o m m e n ist [ . . . ] . R. A b a h u sagt im N a m e n v o n R. Elasar: J e d e r einzelne G e r e c h t e , den die V ö l k e r der Welt t ö t e n , den schreibt der H e i l i g e g e l o b t sei E r in sein P u r p u r g e w a n d ein, wie es heißt: „ R e c h t s c h a f f t er unter den V ö l k e r n - voller L e i c h e n " . U n d der H e i l i g e g e l o b t sei E r spricht zu den V ö l k e r n der Welt: W a r u m habt ihr meine G e r e c h t e n g e t ö t e t , etwa R. C h a n i n a b. T e r a d j o n u n d alle, die z u r H e i l i g u n g meines N a m e n s g e t ö t e t ? Sie aber leugnen und sprechen: Wir h a b e n sie nicht getötet. Sogleich bringt der H e i l i g e g e l o b t sei E r sein P u r p u r g e wand, richtet sie u n d spricht das Urteil ü b e r sie. D a s b e d e u t e t „ u n d nicht vergisst er der E l e n d e n S c h r e i " . 9

In diesen Midraschim sowie in der Elegie des R. K a l o n y m o s wird die Vorstellung geäußert, das Blut der jüdischen Märtyrer werde tropfenweise auf G o t t e s Purpurgewand gespritzt, wodurch dieses zum corpus delicti zwecks Verurteilung der Mörder beim Jüngsten Gericht wird. D a s s das Blut der Märtyrer nach messianischer Rache verlangt, steht auch im N e u e n Testament zu lesen, in der O f f e n b a r u n g Johannis: Bei der Ö f f n u n g des fünften Siegels erblickt der Seher „unter dem Altar die Seelen derer, die erwürget waren um des Wortes G o t t e s willen und um des Zeugnisses willen, das sie hatten"; und die Märtyrer schreien zu G o t t : „Wie lange richtest du nicht und rächest unser Blut an denen, die auf Erden w o h n e n ? ! " (Apk 6 , 9 - 1 1 ) 1 0 Auch in der Assumptio Mosis (Kap. 9 - 1 0 ) aus dem 1. nachchristlichen J h . findet sich ein ähnliches Motiv. D o r t ist erzählt, wie ein gewisser Taxo zur Zeit der Religionsverfolgung seine Söhne ermuntert, sich eher töten zu lassen, als abtrünnig zu werden: „Lasst uns drei Tage lang fasten und am vierten in eine H ö h l e gehen, die auf dem Felde ist, und lasst uns lieber sterben, als die G e b o t e des Herrn der Herren, des G o t t e s unserer Väter, übertreten!

Jalqut Schimoni, Tehillim, § 869; dort ist als Quelle auf Midrasch Jelamdenu verwiesen. ' Midrasch Tehillim, S. Buber (Hg.), zu Ps 9,13. Vgl. auch W. Bacher, Die Aggada der palästinischen Amoräer, Straßburg 1896, 35. 10 Dazu T. Baumeister, Die Anfänge der Theologie des Martyriums, Münster 1980, 219-225; J.W. Van Henten, Das jüdische Selbstverständnis in den ältesten Martyrien, in: Ders. (Hg.), Die Entstehung der jüdischen Martyrologie, Leiden 1989, 135. Zum blutgetränkten Rachegewand s. auch Apk 19,11-16. Die Vorstellung, dass die Märtyrer angesehen werden, als wären sie auf dem Altar geopfert worden, findet sich auch T Sanhedrin XIII 11 Zuckermandel (Hg.), 435: „darum dass sie mich verherrlicht und um meinetwillen geschlachtet". 8

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Denn wenn wir das tun und so sterben, wird unser Blut vor dem Herrn gerächt werden. Und dann wird seine Herrschaft über seine ganze Schöpfung erscheinen [...]". 1 1 Demnach ist der Gedanke, Gott zur Rache für das Blut der Märtyrer aufzufordern, um so die Erlösung schneller herbeizuführen, schon sehr alt. 12 In der Literatur des Midrasch scheint er wenig Niederschlag gefunden zu haben, aber in der aschkenasisch-liturgischen Dichtung ist er zu einem zentralen Motiv geworden. In einer Selicha des R. Elieser b. Nathan ist geschildert, wie das Blut auf dem Purpurgewand sprudelt, und festgestellt, dass der Tod der Frommen nicht durch Gold oder Silber aufgewogen werden kann. 13 Dasselbe Bild verwendet der Dichter auch in seiner Elegie ,auf die Frommen zu Köln': „bring herab ihr Blut / auf dass es spritzt / übers Purpurgewand / ihr Blut bereite / die Kelter tritt / mit ausgerecktem Arm". 14 Auch in einer Selicha von R. Ephraim b. Isaak heißt es: „Dieser aller Zahl / notiere in dein Purpurgewand / ihrer Leichen voll / zum Tag der Rache bezeichnet". 15 Auch R. David b. R. Meschullam schreibt von dem vergossenen Blut auf dem Purpurgewand und dessen Sühne im Gericht; 16 und R. Ephraim b. Jakob von Bonn fordert Gott auf, das Blut derjenigen, die lieber in Reinheit sterben als ihn verleugnen wollten, in sein Purpurgewand aufzunehmen. 17 In dem berühmten Wormser Machsor wird das Purpurgewand in zwei Piutim als das Kleidungsstück genannt, das Gott bei der Rache an Edom trägt. 18 Auch in dem erwähnten Piut aus Arugat haBossem ist davon die Rede, dass die Märtyrer auf dem Purpurgewand eingetragen werden, während ihre Seelen auf dem Altar emporsteigen. 19 Somit ist das Motiv in nicht weniger als neun liturgischen Dichtungen aus Aschkenas belegt. 20

11 Aus: E. Brandenburger (Hg.), Himmelfahrt Moses, in: JSHRZ V/2, Gütersloh 1976, 76; dazu J. Licht, Taxo, or the Apocalyptic Doctine of Vengeance, in: JJS 12 (1961), 95-103. 12 Dazu Y. Baer, The Pogroms of 1096 (hebr.), in: GS S. Assaf, Jerusalem 1953, 158 Anm. 49. Der deutsche Herausgeber (s. o. Anm. 11) datiert AssMos „nur wenig nach 6 n.Chr." (60). 13 A.M. Haberman (Hg.), Geserot Aschkenas we-Zarfat, Jerusalem 1971, 87. 14 Haberman, ebd., 81. 15 A.M. Haberman, Piute Rabbenu Ephraim b. R. Isaak miRegensburg, in: Jediot haMachon leCheqer haSchira ha'ivrit biJerusalem 4 (1938), 156; E.D. Goldschmidt, Machsor lejamim noraim II: Jörn Kippur, Jerusalem 1970, 557. 16 Haberman, Geserot, 69; Goldschmidt, Machsor, 538. 17 A.M. Haberman, Piute Rabbi Ephraim b. R. Jakob miBonn, Jerusalem/Tel-Aviv 1969, 45; s. auch Jediot haMachon leCheqer haSchira ha-'ivrit biJerusalem 7 (1958), 261. 18 E.D. Goldschmidt, Mechqare Tefilla uPiut, Jerusalem 1980, 13.17. 19 Sefer Arugat haBossem von R. Abraham b. Asriel, E.E. Urbach (Hg.), I, Jerusalem 1939, 52; s. auch ebd. 38 f. 20 Das ,Purpurgewand' kommt an weiteren Stellen vor: A.M. Haberman, Piute Rabbenu Baruch bar Samuel miMagenza, in: Jediot haMachon leCheqer haSchira ha'ivrit biJerusalem 6 (1946), 133 (in einer Selicha über die Märtyrer von Blois) sowie ebd. 152 (als königliches Ge-

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Seinen biblischen Ursprung hat dieses M o t i v bei Trito-Jesaja (Jes 6 3 , 1 - 6 ) , wo G o t t e s Rache an E d o m geschildert ist. Auf die Frage „Warum so rot dein Gewand, deine Kleider wie eines Kelterers?" antwortet G o t t : „Die Kelter trete ich allein [ . . . ] ich zertrete sie in meinem Zorn, zermalme sie in meiner Wut, und ihr Blut spritzt auf meine Kleider". Hier tritt G o t t als Kelterer auf, der die Trauben (d.i. die Heiden) mit seinen F ü ß e n zerquetscht. 2 1 Beim T r e t e n spritzt das Blut auf G o t t e s Kleider, deshalb sind sie rot. Die Befleckung von G o t t e s Gewand durch Blut geschieht hier im Zuge der Rache an den Heiden, und das spritzende Blut ist nicht das der jüdischen Märtyrer wie im Midrasch und in den aschkenasischen Piutim, sondern das Blut der Heiden, das bei deren Bestrafung vergossen wird. 2 2 D e m n a c h ist die Vorstellung, dass G o t t beim Endgericht das Blut der Märtyrer rächen wird, keine Innovation der aschkenasischen Judenheit. D i e Feststellung der Midrasch-Quelle, aus der die aschkenasischen D i c h t e r der Zerstörung ihr Gedankengut schöpften, deutet auf Kontinuität der palästinisch-aggadischen Tradition, die im Vollzug der Rache für das Blut der Märtyrer einen integralen Bestandteil der zukünftigen Erlösung erblickte. D o c h deutet die Häufigkeit, mit der das Motiv des Purpurgewands in der aschkenasischen Elegiendichtung nach 1096 auftritt, auf eine Schwerpunktverlagerung. Ein im Midrasch seltenes Randmotiv ist in Aschkenas zum Eckstein der religiösen T h e o r i e und Praxis geworden. Allerdings haben die aschkenasischen Juden nicht nur ein altes Requisit aus der Versenkung geholt, sondern sie haben ihm einen neuen Sinn verliehen. In den beiden angeführten Midraschim wird die Rache als ein juristischer Vorgang geschildert. Sie findet im Zuge des Endgerichts statt: G o t t als Ankläger und Richter braucht handfestes Beweismaterial, um die M ö r d e r dingfest zu machen. Diese F u n k t i o n übernimmt das Purpurgewand. Das in dessen Gewebe aufbewahrte Blut der O p f e r dient als gerichtliches Beweisstück, durch das die M ö r d e r

wand). R. Elasar b. Jehuda von Worms bringt das Purpurgewand sowohl mit Esau/Edom als auch mit dem Jüngsten Gericht in Verbindung; der Text ist veröffentlicht in Kirjat Sefer, Lemberg 1905, 12. Zur Verwendung des Motivs im Sohar s.u. Anm. 72. 21 J . Schwarz, Treading the Grapes of Wrath. The Wine Press in Ancient Jewish and Christian Tradition, in: T h Z 49 (1993), 2 1 5 - 2 2 8 . 3 1 1 - 3 2 4 . Weitere christliche und jüdische Parallelen zur Verwendung des Purpurgewands s.u. Kap. IV. 2 2 Weitere Verwendungen dieses Motivs im biblischen Kontext bei Z.M. Rabinovitch (Hg.), Piute Rabbi Jannai laTora welaMo'adim, Tel Aviv 1985, I, 303, wo die blutige Rache mit dem Erzählhintergrund des Purimfestes zusammengesehen wird; ebenso im sabbatlichen Schlussgesang des aschkenasischen Morgengottesdienstes: „weiß und rot / rot sein Gewand / Kelter auf dem Weg / da er von Edom kommt". Vgl. auch A.M. Haberman, Piute R. Schimon b. Jizchaq, Jerusalem 1938, 170.182. Jes 34 mit der Schilderung des Blutbads zu Bozra und der Rache an Edom bildete in einem der frühen Ritus die Prophetenlesung am Sabbat vor Pessach - dazu E. Fleischer, Piyyut and Prayer in the Palestinean Mahzor (hebr.), in: Kirjat Sefer 63 (1990), 240 Anm. 190; die Wahl dieses Prophetentextes signalisiert unverkennbar den Wunsch nach Vernichtung des Christentums im Zusammenhang mit dem Fest der Erlösung.

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überführt werden. Von daher erscheint die Rache als ein verspäteter, bis zum Jüngsten Gericht aufgeschobener Rechtsakt. In der aschkenasischen Judenheit sieht die Rache recht anders aus: In aschkenasischen Piutim und Chroniken ist die Rache kein Rechtsakt mehr, sondern ein universaler Vorgang, das Kernstück des messianischen Geschehens. Hauptelement der Erlösung ist nicht mehr die Heimkehr nach Zion, das Strömen der Völkerscharen nach Jerusalem zum heiligen Berg, die Bekehrung der Weltbevölkerung zu Israels Gott oder die Vision von Frieden auf Erden. Im Zentrum steht vielmehr die Vision der Rache an den Völkern: Diese Rache bildet das Gerüst für die Ereignisse des messianischen Zeitalters, in dem Edoms Königtum von der Erdoberfläche verschwinden soll. Dies geht mit unwiderleglicher Klarheit aus der Untersuchung der von aschkenasisch-rabbinischen Autoritäten verfassten liturgischen Dichtung hervor. Wie im Folgenden zu beobachten, gibt es keine Elegie, die nicht mit dem Wunsch nach Rache als Bestandteil des ersehnten Erlösungsgeschehens endete. Die Verfasser des aschkenasischen Piut schöpften ihre Bilder und Vorstellungen nicht nur aus dem Midrasch, sondern auch aus dem klassischen palästinischen Piut, wo die Rache und die Aufrechnung der Blutschuld ebenfalls im Zentrum der eschatologischen Beschreibung stehen. Der Dichter Jannai etwa, der in vorislamischer Zeit im Heiligen Lande lebte, fordert Gott auf, die Frevlerherrschaft vom Erdboden zu vertilgen und alle Völker in Furcht und Schrecken zu versetzen.23 In einem Abschnitt aus seiner bekannten Keroba ,es geschah mitten in der Nacht' bietet Jannai wie ein Krämer die Greuel feil, die sich bei der Tötung der Erstgeborenen in Ägypten ereigneten: Er schildert die allerorts herumliegenden Leichen, das unaufhaltsame Sterben, von dem selbst Ungeborene im Mutterleib nicht verschont blieben, sowie den Schrecken, den Jammer, die abgrundtiefe Betrübnis der Betroffenen, woraufhin der Exodus der Israeliten erfolgt.24 Diese ausführliche Darstellung der ägyptischen Plagen, die der damaligen Erlösung vorangingen, bietet das Modell für die endzeitliche Rache an den Heiden, denn „was bei der ersten Erlösung war, wird auch bei der letzten sein". 25 Und tatsächlich erfolgt sogleich nach der anschaulichen Schil-

23 Piute Jannai (s.o. Anm.22), 110. Zu den scharf antichristlichen Positionen dieses Dichters s. Y. Yahalom, Die poetische Sprache der frühen palästinischen Dichtung (hebr.), Jerusalem 1985,37-40. 24 Piute Jannai, 2971 25 Ebd. 300. Im Midrasch Tanchuma (Buber) II, 43f heißt es: „Alle Plagen, die der Heilige gelobt sei Er über die Ägypter gebracht, wird er dereinst über Edom bringen. [...] In Ägypten strafte er sie mit Blut, so auch bei Edom." Ähnlich lautet eine Predigt von R. Chama bar Chanina in Pessikta deRav Kahana I, 133: „Wer es den Ersten heimgezahlt hat, wird es auch den Letzten heimzahlen. Wie bei den Ägyptern Blut, so auch bei Edom [...]". Auf dieser Auslegung basiert ein Piut zum Pessachfest, bei Jona Frankel (Hg.), Machsor li-Regalim: Pessach, Jerusalem 1993, 136-138 (s. auch ebd., 130-132).

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derung vom Tod der Erstgeborenen in Ägypten der Übergang zur endzeitlichen Erlösung; betont wird die Entsprechung durch Eröffnung des neuen Abschnitts mit demselben Wortpaar aus Zef 1,15 (bei der Schilderung des Jüngsten Tages als katastrophes Ereignis), das auch im vorigen an markanter Stelle stand: Der Feind soll fallen, Israel dagegen leben; E d o m s Klage soll ertönen wie seinerzeit die der Ägypter; der an Ägypten in Gestalt der zehnten Plage geübten Vergeltung entspricht die des zehnten H o r n s bei Edom. So wird poetisch deutlich gemacht, dass Gott bei der endzeitlichen Erlösung dasselbe Gericht vollziehen soll wie seinerzeit an den Ägyptern beim Exodus. 2 6 Diese Anschauung liegt einigen Bräuchen zugrunde, die in der Sedernacht geübt werden und in der Pessach-Haggada belegt sind. Dass man bei der Aufzählung der ägyptischen Plagen tropfenweise Wein aus dem eingeschenkten Becher verschüttet, ist ein aschkenasischer Brauch, der auf die messianische Rache hindeutet. Im Sefer Maharil wird dieser Brauch folgendermaßen begründet: „Vor all diesen (seil. Plagen) möge Er uns erretten, sie sollen über unsere Feinde k o m m e n " . 2 7 Im Sefer Amarkal wird eine Deutung aus dem Sefer baRokeach angeführt, wonach insgesamt sechzehn Tropfen Wein verschüttet werden: zehn bei der Nennung der einzelnen Plagen, drei bei der Nennung der drei Akrosticha und drei beim Aussprechen der Worte „Blut, Feuer, Staubsäulen" (Joel 3,3); dies entspreche dem sechzehnschneidigen Schwert Gottes. 2 8 Die gedruckte Ausgabe von Sefer baRokeach enthält keinen Beleg dafür, aber in der Oxforder Handschrift (Bodl. 1103) findet sich der entsprechende Abschnitt, aus dem hervorgeht, dass dieser Brauch unter aschkenasischen Juden bereits vor 1096 geübt wurde: Bei j e d e m Wort tunkt m a n den F i n g e r in den B e c h e r mit Wein u n d verspritzt einen T r o p f e n . D i e s ist ein B r a u c h unserer Väter, s o wies R a b b e n u Elasar der G r o ß e sämtliche M i t g l i e d e r seines H a u s e s an, s o v e r f u h r R a b b e n u K a l o n y m u s der Altere s a m t seiner g a n z e n Familie. S o p f l e g t e n zu tun R a b b i Elasar C h a s a n u n d R a b b e n u Samuel der P r o p h e t u n d sein S o h n , R a b b e n u A b r a h a m , u n d sein S o h n , R a b b e n u J e h u d a der F r o m m e , Vater der Weisheit, e b e n s o mein Vater u n d Lehrer, R a b b e n u J e h u d a , der S o h n des R. K a l o n y m u s . U n d es nichts Lächerliches an diesem B r a u c h unserer heiligen Väter, denn m a n verspritzt die s e c h z e h n T r o p f e n e n t s p r e c h e n d d e m Schwert des H e i l i g e n g e l o b t sei Er, das s e c h z e h n Schneiden h a t . 2 9

26 So der Herausgeber von Piute Jannai (s.o. Anm.23), 299. Laut Apk 16-17 wird die endzeitliche Ausgießung der göttlichen Zornesschalen sieben Plagen hervorrufen: Beulen, Blut (zweimal), Hitze, Finsternis, Frösche, Gewitter und Erdbeben - eine deutliche Anspielung auf die ägyptischen Plagen. 27 Sefer MaHaRIL -Minhagim, S. Spitzer (Hg.), Jerusalem 1989, 106f. 28 N . Coronel, Chamischa Quntressim, Wien 1864, fol.27a. 29 So laut I. Ta-Shma, The Origin and Place of Aleinu le-Shabbeah in the Daily Prayerbook: Seder ha-Ma'amadot and its Relation to the Conclusion of the Daily Service (hebr.), in: D. Walfish (Hg.), GS E. Talmage, Haifa 1993, 85-98.

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Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

Auch der tannaitische Midrasch in der Pessach-Haggada, wonach die Ägypter 50 Schläge in Ägypten erhalten hätten und 250 am Schilfmeer, ist keine bloße Zahlenspielerei, sondern ein Versuch, Umfang und Intensität der Katastrophe zu erhöhen, die dereinst über die Heiden kommen soll nach demselben Muster wie im Piut von Jannai. Wie schon im vorigen Kapitel beobachtet, ist die Sedernacht auf die künftige Erlösung nicht weniger ausgerichtet als auf die Erinnerung an den historischen Auszug aus Ägypten. Nach Rache trachten auch Elegien von R. Elasar beR. Kalir zum 9. Av: Er fordert Gott etwa auf, die Heiden betrunken zu machen, auf dass ihre Bosheit offenbar werde;30 oder: Gott soll Edom siebenfach heimzahlen, was es den Juden angetan.31 In einem von E. Fleischer veröffentlichten Silluq des Kalir zum 9. Av 32 findet der Herausgeber „einen heftigen Ausbruch von Verwünschung und Feindschaft gegen die Christen". 33 In diesem Piut entfaltet der Dichter seine Erlösungsvision: „denn einen Tag der Rache habe ich im Sinn / es ist Zeit, den Tisbiter (den Propheten Elia) zu enthüllen / [...] nun übe ich Rache an denen, die sich gegen mich aufgelehnt". Einen Höhepunkt der Feindseligkeit erreicht dieser Silluq in einem Abschnitt, worin wie bei Jannai die zehn ägyptischen Plagen das Vorbild für die künftige Katastrophe bilden. Die kurzen eindringlichen Zeilen enden jeweils in der Reimsilbe -dam (hebr.: Blut). Nacheinander werden zehn Plagen, Finsternisse, Stürze, Greuel, Revolutionen, Brände aufgeführt; die Feinde sollen ihrer Größe, ihrer Macht und Herrlichkeit beraubt, in Todesschatten und Entsetzen gestürzt, durch Gottes Schwert dem Eingang der Unterwelt nahegebracht werden und für alle Zeiten von jeglicher Rettung ausgeschlossen bleiben. Die aschkenasischen Juden haben eine palästinische Tradition entfaltet und verstärkt; sie haben den frühen Aufruf zur Rache aus einer vagen Hoffnung zu einem Schlachtruf gemacht. Dessen Heftigkeit wechselte je nach Umständen, und im Anschluss an die Verfolgungen des Jahres 1096 nahm sie verständlicherweise zu. Doch findet sich das Motiv der Rache als zentrales Element des Erlösungsgeschehens bereits vor 1096. Nicht die Verfolgungen des Jahres 1096 haben den Wunsch nach Rache an den Christen hervorgebracht, und es handelt sich auch nicht um die emotionale Reaktion eines einzelnen gramgebeugten Dichters. Hinter dem Rachewunsch stehen nicht nur Schmerz und Trauer um den Verlust von Angehörigen, sondern ein ganzes messianisches Lehrgebäude. Die Präsenz des messianischen RachemoGoldschmidt, Qinnot (s. o. Anm. 7), 37. Ebd., 46; ähnlich am Ende einer Elegie, ebd. 71 f. " E. Fleischer, Zur zeitlichen und räumlichen Ansetzung von R. Elasar b. R. Kalir (hebr.), in: Tarbiz 54 (1985), 383-427; der Silluq steht, ebd., 412-427. » Ebd., 387. 30 31

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tivs in aschkenasischen Piutim noch vor 1096 beweist dies eindeutig. So bittet R. Simon bar Isaak, der um die Wende zum zehnten J h . lebte, G o t t in einer Selicha mit dem Titel ,lang werden die Tage', er möge sein Schwert schärfen und seine Pfeile zuspitzen, um das Böse, das den O p f e r n seines Volkes allenthalben angetan, blutig zu rächen. 3 4 In einer Keroba zum siebten Tag des Pessachfestes tritt Simon in Jannais Fußstapfen und schließt vom Auszug aus Ägypten auf die endzeitliche Erlösung. Die an E d o m zu vollziehende Rache wird anschaulich geschildert: Auch seine N a c h k o m m e n und Angehörigen sollen vom Erdboden verschwinden, E d o m soll zum geringsten unter den Völkern werden, selbst aus größter H ö h e soll es herabstürzen, durch Blut und Pestilenz soll es gerichtet, wie S o d o m und G o m o r r h a verwüstet werden, „die Rache für das Blut seiner K n e c h t e werde kund unter den Völkern vor unsern Augen / siebenfach in ihren Busen vergelte er unsern Nachbarn / denn der Ewige ist unser Richter, der Ewige unser Gesetzgeber / der Ewige ist unser König, er wird uns erretten / wenn er die Kunde Ägyptens vor den O h r e n unserer Feinde ertönen lässt / bei E d o m , bei den Ismaeliten und all unsern Bedrängern." 3 5 Auch bei seinem jüngeren Zeitgenossen, Rabbenu G e r s c h o m Meor haGola (.Leuchte des Exils'), steht die Rache an den Christen an zentraler Stelle in der Erlösungsvision. G o t t wird aufgefordert, ihr Blut zu vergießen, 3 6 er soll für seinen N a m e n „eifern" 3 7 , „kämpfe unseren Kampf und erlöse uns / siebenfach zahl heim unsern Quälern / verfolge sie grimmig und vertilge sie, unser E r s c h a f f e r ! " , 3 8 „ich schreie: rette! D e r Tag der Rache ist verborgen", 3 9 „der Blutspur verfolgt, richte unser Recht / zahl heim siebenfach unsern Q u ä l e r n ! " . 4 0 Auch die Selicha .Ewiger, mein G o t t , viel ward ich geplagt' von R. David b. Samuel haLevi, der gegen Ende des 11. J h . in Speyer wirkte, erhebt den Racheruf laut und deutlich: „Führe meinen Prozess und räche das Blut deiner Knechte, das die Toren böswillig vergossen / zermalme, die sich wider mich auflehnen, sende über sie Zorn und Wut, G r i m m und B e drängnis". 4 1 N a c h 1096 werden diese Aussagen schärfer. Rache ist das Motiv, das die

PiuteR. Schimon b. Jizchaq (s.o. Anm. 22), 170. Ebd., 83. In ähnlichem Sinne die Keroba zu Pessach „Schrecken deiner Furcht", ebd., 195-218; weitere Belege für das Motiv der Rache im Werk dieses liturgischen Dichters, ebd. 51.64f.77.165.167.182.202. 3 6 Haberman, Selichot uPismomm (s.o. Anm.5), 8f. 17 Ebd. 13. 38 Ebd. 19, mit Anklang an Klgl. 3,66. 3 ' Ebd. 27. 4 0 Ebd. 33 mit Anklang an Ps 129,1. 41 Goldschmidt, Machsor lejom Kippur (s.o. Anm. 15), 227; A.M. Haberman, beRon jachad: Jalqut Schire Tefilin 'atiqim gam chadaschim, Jerusalem 1975, 146 meint, der Text könnte kurz nach 1096 entstanden sein. 34

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Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

j ü d i s c h e n C h r o n i s t e n d e n K r e u z f a h r e r n z u s c h r e i b e n : „Siehe, w i r g e h e n , u n sere heilige S t ä t t e a u f z u s u c h e n u n d das B l u t u n s e r e s C h r i s t u s an d e n I s m a e liten ( = M u s l i m e n ) z u r ä c h e n , u n d d a sind die J u d e n , die ihn g e t ö t e t u n d g e k r e u z i g t h a b e n , w i r w o l l e n die R a c h e z u e r s t an i h n e n v o l l z i e h e n " . 4 2 R a c h e ist hier g l e i c h b e d e u t e n d m i t B e s t r a f u n g z w e c k s a u s g l e i c h e n d e r G e r e c h t i g k e i t . 4 3 E s h a t d e n A n s c h e i n , dass hier die J u d e n a u f c h r i s t l i c h e r Seite v o r a u s s e t z e n , w a s sie selbst g l a u b t e n : M i t d e m V o l l z u g d e r R a c h e s e t z t die E r lösung ein.44 D i e s e D e u t u n g ist es, die S a l o m o b a r S i m s o n , d e n C h r o n i s t e n d e r V e r f o l g u n g e n v o n 1 0 9 6 , v e r a n l a s s t e , d e m G e d a n k e n der m e s s i a n i s c h e n R a c h e s o g r o ß e B e d e u t u n g b e i z u m e s s e n . Sein B e r i c h t ü b e r die 1 1 0 0 in M a i n z u m g e k o m m e n e n J u d e n m ü n d e t in d e n A u f s c h r e i : „ O b all d e m willst d u an dich halten, Ewiger?!

(Jes 6 4 , 1 1 ) ,

4 4 , 2 3 ) Seelen o h n e Z a h l -

denn u m

deinetwillen w u r d e n g e t ö t e t

(Ps

m ö g e s t du r ä c h e n das v e r g o s s e n e B l u t d e i n e r

K n e c h t e in u n s e r e n T a g e n , v o r u n s e r e n A u g e n , A m e n , b a l d i g s t ! " 4 5 E s ist sic h e r kein Zufall, dass d e r V e r f a s s e r den H ö h e p u n k t s e i n e r C h r o n i k , das blutige E n d e d e r J u d e n in M a i n z , m i t e i n e m l ä n g e r e n m e s s i a n i s c h e n A u s b l i c k s c h l i e ß t , in d e m die B i t t e u m V e r g e l t u n g a n z e n t r a l e r Stelle s t e h t . 4 6

42 Deutsch und hebräisch bei E. Haverkamp (Hg.), Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzuges, Hannover 2005, 252. S. auch R. Chazan, European Jewry and the First Crusade, Berkely/Los Angeles 1987, 36f sowie J. Riley-Smith, The First Crusade and the Idea of Crusading, Philadelphia 1986, 54-57. 43 Bemerkenswert ist die Verwendung des Terminus .Rache* in aschkenasischen Quellen: In einer Antwort des R. Chaim b. Jechiel Chefez Tov (in den Responsen des R. Mei'r von Rothenburg nach dem Prager Druck, M.A. Bloch (Hg.), Budapest 1895, § 241) ist berichtet, wie der Kölner Bischof sich auf Bitten der Juden bereit fand, die Verantwortlichen für die antijüdischen Ausschreitungen anlässlich des angeblichen Ritualmords am .guten Werner' im Jahre 1287 zu bestrafen. Doch gleich nachdem er mit der Aktion begonnen hatte, kam es zu der Schlacht bei Worringen, der Bischof wurde gefangengesetzt und musste sein Vorhaben aufgeben. In dem Responsum heißt es dazu: „Da ereignete sich der bekannte Fall von höherer Gewalt, dass der Bischof gefangen genommen wurde, nachdem er mit der Rache begonnen hatte, zwei von ihnen zu töten". Bei der .Rache' handelt es sich also um Hinrichtung von Mördern im Zuge eines rechtmäßigen Gerichtsverfahrens. Weiteres zum Begriff der Rache bei M. Frank, Qehillot Aschkenas uVate Dinehen, Tel Aviv 1938, 128; Y. Halperin, Pinqas Wa'ad arba Arazot, Jerusalem 1945, 547; S. Dubnow, Pinqas haMedina, Berlin 1925, XI, 5. 44 Zur zentralen Bedeutung des Rachemotivs bei den Kreuzfahrern, speziell gegenüber den Juden, s. Chazan, First Crusade (s.o. Anm.42), 75-80. Zum Stellenwert der messianischen Idee in der Kreuzfahrer-Ideologie s.u., Kap. IV, Anm. 16-17. 4 5 Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. Anm.42), 29 (598); vgl. ebd. 53 (574): „Ob all dem willst du an dich halten, Ewiger?! (Jes 64,11), „wie ein Held wird er hinausziehen" (Jes 42,13), und es heißt: „Preiset jauchzend, Nationen, sein Volk; denn das Blut seiner Knechte rächet er [...]" (Dtn 32,43). 46 Ebd., 47 (580); außerdem heißt es dort: „Ihr Verdienst, ihre Gerechtigkeit, ihre Frömmigkeit, ihre Vollkommenheit und .Bindung' seien uns Fürsprache und Beistand vor dem Höchsten. Er möge uns herausführen aus dem Exil des bösen Edom bald in unseren Tagen und unseren gerechten Messias bringen, bald in unseren Tagen!" (49 [578]).

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D e r E w i g e unser G o t t m ö g e unsere R a c h e in u n s e r e H a n d geben, , m ö g e k u n d werden unter den V ö l k e r n v o r u n s e r n A u g e n die R a c h e f ü r das v e r g o s s e n e Blut deiner K n e c h t e ' (Ps 79,10) rasch, u m deines g r o ß e n N a m e n s willen, der ü b e r uns genannt, auf dass alle G e s c h ö p f e die S ü n d e u n d S c h u l d erfahren u n d begreifen, die sie an uns b e g a n g e n . U n d ihnen z u r Vergeltung m ö g e er ihnen a u f s H a u p t geben, wie sie u n s getan. D a n n sollen sie einsehen u n d verstehen u n d sich zu H e r zen n e h m e n , dass sie f ü r N i c h t s u n s e r e Leichen zu B o d e n g e w o r f e n .

Was der jüdische Verfasser hier schildert, ist die Einsicht der Christen in die Wertlosigkeit ihrer eigenen Religion, wozu sie erst mittels der messianischen Rache gelangen sollen. Die Rache für das Blut der Märtyrer ist die eigentliche Heiligung des göttlichen Namens („möge kund werden unter den Völkern [...] um deines großen Namens willen"), und auch darauf waren Augen und Herzen der jüdischen Opfer von 1096 sehnsüchtig gerichtet. 4 7 In diesem Sinne sind die Forderungen nach Rache zu verstehen, die in den Dichtungen über die Vorgänge von 1096 ertönen. Die Elegie .verstummet vor mir' endet mit der rhetorischen Frage an Gott: „Bis wann willst du zusehen [ . . . ] " und fährt fort mit Formulierungen, wie sie in den Chroniken stehen: „ O b dieser willst du an dich halten?! Herr aller Geschöpfe / räche das Blut, das vergossen wie Wasser [...] / auf, erhebe dich über die feindlichen Bedränger / deine Schritte lenke zu den Trümmerstätten!" 4 8 Dieses Motiv steht auch im Zentrum der Elegie ,Möge mein Haupt zu Wasser werden'. Deren Verfasser setzt die Zerstörung der rheinischen Judengemeinden in Analogie zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels: „Gleichgewichtig ist ihre Tötung an Trauer und Klage / der Verbrennung unseres Gotteshauses, Tempel und Stadt"; danach richtet er an G o t t die flehentliche Frage, ob er nicht endlich seine Zurückhaltung aufgeben und seinem Grimm freien Lauf lassen wolle. 4 9 A m Schluss seiner Selicha ,Der geschlossene Bund' stellt der liturgische Dichter R. Benjamin b. Chija die mit dem Blut des Heilands Befleckten der von Gott herbeizuführenden Rache für das vergossene Blut seiner Knechte gegenüber. 5 0 Lebhaften Ausdruck findet der enge Zusammenhang zwischen dem Tod der Märtyrer und der Rache - und damit auch zwischen Rache und Erlösung - im Schlussabschnitt einer Elegie des R. Kalonymos b. Jehuda: Wie lange n o c h bist du wie ein o h n m ä c h t i g e r H e l d ? V e r k ü n d e v o r den V ö l k e r n die R a c h e f ü r deiner K n e c h t e Blut! N i m m R a c h e f ü r mich an meinen Peinigern,

Weiteres dazu s.u., Kap. IV A. Das Blut. Goldschmidt, Qmnot (s.o. Anm.7), XXIII, 88. 4 ' Ebd., XXVI, 46.97; Haberman, Geserot (s.o. Anm. 13), 68. 50 Goldschmidt, Machsor: Jom Kippur (s. o. Anm. 15), 544; S. Bernfeld, Sefer haDemaot Berlin 1926,310-313. 47

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III,

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Zeit der Rache ists, mir Recht zu verschaffen, Ein eifernder und rächender G o t t ist der Ewige! Ewiger, geh aus wie ein Held und treib ein deine Schuld, Schreib Annullierung, zerreiß den Schuldschein, zerbrich den A r m (= die Macht) der Frevler und Bösen! Aus der Höhe wie Feuer angezündet in Dachboden und Decke Ein Feuerwall rings um Warte und Wohnung, Bezahlen soll der Brandstifter den Brandschaden! [•;•] Bist du doch darum ein Kriegsmann genannt, der sie vertilgen und Rache an ihnen üben soll, Ein Rächer ist der Ewige voller Grimm! Eifere für deinen Namen, um deinetwillen, Gott, um das vergossene Blut deiner Knechte und die Trümmer des Tempels Nimm Rache f ü r die Israeliten! Von meinem Blut ist jeder Tropfen gezählt. Beschleunige meine Erlösung, führ den Anblick herbei, denn Rachetag ists in meinem Herzen, das Jahr meiner Erlösten ist gekommen. 5 1

Nicht weniger als fünfzehn Mal erscheint in diesem Piut das Stichwort .Rache', abgesehen von sinnverwandten Wörtern wie .Vergeltung', .heimzahlen', .vertilgen' und .vernichten'. Einer der wenigen aschkenasischen Piutim, die nicht zugleich mit dem Gebet um Erlösung auch das um Rache enthalten, ist eine Dichtung des R. Menachem beR. Machir von Regensburg. 52 Doch auch diesem Piut hat eine spätere Hand einen Schluss nach dem bekannten Muster hinzugefügt: „Der du in Rache gekleidet / wach auf, erhebe dich / zum Aufstand / wider die Hohen / schaffe Recht dem Gebild von Leichen / so kommt die Gottesgegenwart an ihren Ort". Auch in Dichtungen eines relativ gemäßigten Dichters und Schriftstellers wie R. Elieser bar Nathan findet sich der Aufruf zur Rache als Refrain, z.B.: „Antlitz des Ewigen, schütt' aus dein Herz, sie zu erschüttern und zu verderben / deine Rache zu vollziehen, berausche deine Pfeile mit Blut / seine Bedränger frisst sein Schwert durch rötlichen Schild / schaff Rettung vorm Feind, denn vergeblich ist Hilfe von Menschen" (Ps 60,13). 53 Schon hier enden die Zeilen mit der Reimsilbe -dam (hebr. Blut), und in der Fortsetzung erscheint erwartungsgemäß die Bitte an Gott, er möge die Mörder richten und bestrafen, sich über sein Volk erbarmen und die Erlösung näher bringen. In einer anderen Elegie äußert er sich noch drastischer: „Für die Frommen des Höchsten gibt es kein Bußgeld / Befreiung von Schuld gebe ich nicht für ihr Blut, so wahr der Ewige in Zion wohnt [...]/ Es komme vor dich alle Bosheit meiner Peiniger / verfolge sie im Zorn und ver51 52 53

Goldschmidt, Qinnot (s.o. Anm.7), XXX, 106-109. Haberman, Geserot, 63f; Goldschmidt, Qinnot, ebd., XXXIV Haberman, Geserot, 83.

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nichte sie unter dem Himmel des Ewigen (Klgl 3,66) / ruf aus den Tag der Versammlung meinen Freunden und Nachbarn / die Rache für das Blut deiner Knechte werde kund unter den Völkern vor meinen Augen!" 54 Einen dichterischen Höhepunkt erreicht das Motiv der Rache in dem Piut ,Wo ist dein Eifer?' von R. Chakim, der ganz dem Versuch gewidmet ist, Gottes eifersüchtige Reaktion hervorzurufen. 55 Nachdem der Verfasser geschildert hat, wie die Juden durch Edom unterdrückt wurden und wie hingebungsvoll sie sich für ihre Religion einsetzten, schließt er sein Werk mit einem Abschnitt, in den viel biblische Wendungen eingearbeitet sind: E r h e b e dich, Ewiger, streite mit dem Volk deines Banns / Begegne ihm u n d ü b e r wältige es mit S t r ö m e n deines Z o r n s / R ö m e r und E d o m i t e r , w e l c h e die Liebe zu löschen denken / Blitze v o n F e u e r u n d F l a m m e lasse sie erglühen / [...] / Mach sie z u m Rad, zu S t r o h v o r d e m W i n d (vgl. Ps 8 8 , 1 4 ) / G i b ihnen nach ihrem Tun, nach der Bosheit ihrer Taten. / Vergilt ihnen, Ewiger, nach d e m W e r k ihrer H ä n d e / D e i n e n G r i m m schütte ü b e r die V ö l k e r , die deine K i n d e r v e r b a n n t / denn gefressen haben sie J a k o b und seine A u v e r h e e r t (vgl. J e r 1 0 , 2 5 ) / [ . . . ] / A c h , S t i m m e des Ewigen, der seinen Feinden Vergeltung heimzahlt / w i e die S o n n e ausgeht in ihrer K r a f t (vgl. Ri 5 , 3 1 ) , m ö g e sie leuchten über die ihn lieben.

So wird deutlich, wie tief das Motiv der Rache im aschkenasischen Bewusstsein von vornherein verankert ist. Das äußert sich auch darin, wie intensiv und zentral das Motiv noch nach Abklingen der Erschütterung von 1096 weiterwirkt. In den zwei Jh. nach 1096 waren die aschkenasischen Juden keinen besonderen Verfolgungen ausgesetzt, trotzdem blieb ihre Rachehoffnung unvermindert erhalten. R. Ephraim b. Jakob von Bonn betont wieder die zentrale Stellung der Rache im messianischen Bewusstsein seiner Zeitgenossen. Das ist besonders hervorstechend in seinem Piut ,Ich rede in der Bitterkeit meiner Seele' über die Verfolgungen des Jahres 1171 in Blois. 56 Das bekannte Chanukka-Lied Maos Zur endet mit der Strophe: „Enthülle deinen heiligen Arm / bring das endliche Heil nahe / nimm Rache für das Blut deiner Knechte / an der bösen Nation". Die Beziehung zwischen Rache und Heil ist eng und offenkundig. Zentral ist das Motiv der Rache auch bei R. Mei'r von Rothenburg. In den zehn abschließenden Strophen seiner Elegie ,ich füge Wörter' hat er das Wort ,Rache' nicht weniger als dreizehn Mal verwendet. Ich bringe hier nur die Verse, in denen das Stichwort,Rache' vorkommt: G o t t der Rache, erscheine, deine Rache zu vollziehen. Ich verhänge meine Rache ü b e r E d o m . K u n d w e r d e u n t e r den V ö l k e r n v o r unseren A u g e n die Rache f ü r das Blut deiner K n e c h t e . Ein G o t t der Rache ist der Ewige, ein Rachegott. Ein Rächer

54 55 56

Ebd., 87 f. Ebd., 90-92. Haberman, Piute R. Ephraim

(s.o. Anm. 17), 44-47.

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Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

ist der Ewige voller Grimm. Ein eifersüchtiger und rächender Gott ist der Herr. Gott, der mir Rache verschafft. Rache vergilt er seinen Feinden. Die Rache des Herrn zu vollziehen. Stark sei in deiner großen Rache deine Hand - Amen. 5 7 Ich will die Betrachtungen über die R a c h e - E r l ö s u n g in Aschkenas mit einem Zitat aus der .Abhandlung z u m J a h r der Erlösung' aus der ersten H ä l f te des 13. Jh. schließen. 5 8 D e r Verfasser schildert die Erlösung als einen lang andauernden Vorgang, der im Jahre 5 6 nach kleiner Zählung ( 1 2 9 6 ) einsetzen und im J a h r e 112 ( 1 3 5 2 ) zum Abschluss k o m m e n soll. E r unterscheidet zwei Stadien im Verlauf der Erlösung: die Rache (21 J a h r e ) und die H e i m führung der J u d e n aus dem Exil (35 J a h r e ) . Diese beiden Stadien bezeichnet der Verfasser als ,das Offenbare' nach dem Bibelvers „das Verborgene dem Ewigen, das Offenbare uns und unseren Kindern" ( D t n 2 9 , 2 8 ) , und das hebräische W o r t für ,uns' (la-nu) legt er aus als ,für N + U ' ( = 5 6 ) , d . h . auf das J a h r 1296. Z u m .Verborgenen', dem Erlösungsgeschehen nach den beiden ersten Stadien, sagt er nichts, denn das ist nur G o t t bekannt: Und im sechsten Jahrtausend (56 nach kleiner Zählung) beginnt die Erlösung und die Rache, die der Heilige gelobt sei Er an den Völkern vollziehen wird. Und jene Rache dauert 21 Jahre (1296-1317), das ist es, was geschrieben steht: „Ich werde sein, der ich sein werde" (Ex 3,14) - ,ich werde sein' (hebräisch: ähjä) im Exil von Ägypten und Persien, ,der ich sein werde' im letzten Exil, wenn ich sie erlöse. Der Zahlenwert des hebräischen Worts ähjä ist 21. Und nach jenen 21 Jahren wird Elia kommen und mit der Einsammlung der Zerstreuten beginnen und die böse Nation demütigen. Und das wird im Jahre 77 des sechsten Jahrtausends sein (1317). Das ist es, was geschrieben steht: „Der Ewige wird seinem Volk Kraft (hebr. O Z ) geben" (Ps 29,11a) - wenn der Heilige gelobt sei Er Kraft (d.i. O Z ) gibt, dann wird er sein Volk segnen. Und vom Jahre O Z ( = 7 7 ) an beginnt die Einsammlung der Zerstreuten, dann findet die Einsammlung statt, wodurch alle ins Land Israel versammelt werden sollen in den darauf folgenden 35 Jahren, denn in jenen 35 Jahren (1317-1352) wird erfüllt, was geschrieben steht: „auf der Hüfte von Fürsten wirst du getragen, Könige werden deine Pfleger sein" (Jes 66,12 + Jes 49,23) - die Könige der Nationen werden die Rache sehen, die er an ihnen geübt um Israels willen, und werden die Einsammlung der Zerstreuten sehen [...]. Und in jenem Jahr, dem Jahr 35 nach 77, d. i. das Jahr 112 im sechsten Jahrtausend (1352), wird diese Nation ganz und gar vernichtet, und Jerusalem wird erbaut werden. Dieser A u t o r sieht die Rache als den Eröffnungsakt des Erlösungsgeschehens und die Vernichtung der heidnischen N a t i o n e n als dessen Abschluss. Bemerkenswert ist die enge Beziehung, die auch bei ihm zwischen dem E x o d u s und der künftigen Erlösung besteht, w o d u r c h der Verlauf des ersten

Haberman, Geserot, 181-183. A. Marx, Abhandlung zum Jahr der Erlösung (hebr.), haZofe leChochmat Israel 5 (1921), 194-202. 57

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Bekehrungserlösung

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Stadiums innerhalb der Erlösung, eben der Vollzug der Rache, entscheidend geprägt erscheint. Demnach fungierte die Erlösung aus Ägypten als Modell für das künftige Geschehen in Bezug auf die Bestrafung der Heiden. Das Hauptmotiv aus der Exoduserzählung, wonach die endzeitlichen Vorgänge gestaltet werden, sind die Zehn Plagen. Am Anfang dieses Teilkapitels stand ein Zitat aus dem aschkenasischen Sefer Nizzachon vetus dem provencalischen Sefer Milchemet Mizwa gegenüber. Im Folgenden möchte ich diesen Vergleich auf eine breitere Basis stellen, wodurch die spezifisch aschkenasische Vorstellungswelt deutlichere Konturen gewinnen wird. Wie also wurden die Bibelstellen über die Rache an Edom in nicht-aschkenasischen jüdischen Gemeinden gedeutet?

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Bekehrungserlösung

Eine ausführliche Schilderung des messianischen Geschehens gibt Rav Hai Gaon. Zu Beginn der Erlösung wird die Mehrheit der Juden in ihren Diasporaländern sitzen, „denn ihnen wird noch nicht klar geworden sein, dass das Ende gekommen ist". Dann „wird der Messias, Josephs Sohn, mit den Leuten, die sich um ihn geschart haben, aus Galiläa nach Jerusalem ziehen, sie werden den Funktionär des Königs von Edom und das Volk bei ihm töten, über jene Stunde heißt es: ,ich gebe meine Rache an Edom in die Hand meines Volkes Israel' (Ez 25,14) . Hier ist kein universaler, sondern ein lokaler Vorgang geschildert, an dem die überlebenden Juden im Land Israel beteiligt sind. Danach wird Gog, der König von Edom, in Begleitung vieler Völker wider Jerusalem zu Felde ziehen; Gott wird gegen die Belagerer Krieg führen und sie mit viererlei Unheil schlagen. Was hier beschrieben wird, ist eine militärische Niederlage, kein Rache-Akt. Von da an und weiter spielt sich das messianische Geschehen vorwiegend innerhalb des jüdischen Volkes ab: Die Sünder sollen Buße tun, die Toten auferstehen und die Exilierten heimkehren. Die Rache an den Heiden erscheint hier als eine Episode ohne nachhaltige Folgen. Vielmehr sollen die Völker der Welt in das messianische Geschehen miteinbezogen werden: „und alle übrigen Nationen sollen sich zum Judentum bekehren". Dann wird ihnen der Messias befehlen, keine Kriege mehr zu führen, woraufhin ewiger Frieden einkehren wird. Der Gesamteindruck ist der, dass ein Motiv, das bei Rav Hai Gaon am Rand der messianischen Vorgänge stand, im aschkenasischen Bewusstsein ins Zentrum geraten ist. 60 59 Arugat haBossem (s.o. Anm. 19), I, 256-263; auch bei Y. Even-Shmuel, Midraschei Geula, Jerusalem 1954, 133-141. 6 0 Eine ähnliche Darstellung findet sich bei Rav Saadja Gaon, Sefer Emunot weDeot V I I I

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Feindschaft gegenüber dem C h r i s t e n t u m in Aschkenasim

Es leuchtet ein, dass bei den Juden, die unter muslimischer Herrschaft leben, das Verhältnis zu Edom weniger gespannt ist. Wenn in der aschkenasischen Judenheit die palästinisch-byzantinische Uberlieferung weitergeführt wird, dann unter den spanischen Juden die babylonische, etwa die des Rav Hai Gaon. Der markanteste Vertreter der Tendenz, die Vision der Rache an Edom von jeglicher historischen Wirklichkeit abzurücken, ist R. Abraham ibn Esra. In seinen Bibelkommentaren stellt er ausdrücklich fest, das in den messianischen Rachevisionen genannte Edom sei das biblische, nicht Rom. 6 1 Diese Position wurde beibehalten, auch nachdem Spanien christlich geworden war. Die messianische Vorstellung der spanischen Judenheit war die der Bekehrungserlösung, nicht die Rache-Erlösung. Auch in der jüdisch-liturgischen Dichtung Spaniens endeten Elegien zum 9. Av mit Worten des Trostes und dem Ausblick auf die künftige Erlösung. R. Salomo ibn Gabirol schließt seine Elegie .Samaria erhebt ihre Stimme' mit der an G o t t gerichteten Bitte: „Sieh ihre Verwüstung, ihr langes Exil / wüte doch nicht so sehr, sondern sieh ihre Niedrigkeit / willst du denn ewig ihrer Sünde und Torheit gedenken?!" 6 2 Die messianische Interaktion spielt zwischen G o t t und seinem Volk, die Heiden kommen darin nicht vor. In einer Sammlung von über hundert Elegien zum 9. Av aus dem jüdischen Spanien 6 3 finden sich kaum fünf, die das Motiv der endzeitlichen Rache an den Heiden enthalten. Die grausamste Darstellung dessen, was den Heiden in der Endzeit widerfahren soll, steht in den .Gedanken der betrübten Seele'

5-6, J. Kapah (Hg.), N e w York 1970, 246-252 (auch Midrasche Geula, 115-128; die Quelle ist Sefer Serubavel, ebd. 55-88). Vgl. ferner Aggadat baMaschiach, in: A. Jellinek (Hg.), Bet ha-Midrasch III, Leipzig 1855, 141; Otot baMaschiach, ebd., 60. Im selben Sinne dichtete R. Joseph ibn Avitur seinen Erlösungs-Piut - dazu E. Fleischer, hajozerot beHithavutam uveHitpatchutam, Jerusalem 1984, 595. S. auch Chason Daniel: Genizah Studies I, N e w York 1928, 321-323 - dazu R. Bonfil, T h e Vision of Daniel as a Historical and Literary D o c u m e n t (hebr.), in: Zion 44 (1979), 111-147. Zu erwähnen sind hier zwei liturgische Dichtungen, in denen eine gemäßigtere Haltung vertreten wird: ein Piut z u m Tag, da der Messias k o m m t , veröffentlicht bei Y. Yahalom, O n the Validity of Literary Works as Historical Sources (hebr.), in: Cathedra 11 (1979), 130-133, u n d ein Piut des Haduta, veröffentlicht bei E. Fleischer, H a d u t a - H a d u t a h u Chedwata: Solving an O l d Riddle (hebr.), in: Tarbiz 53 (1984), 71-96; zur eschatologischen Perspektive dieses Piut s. ebd., 84-90. 61 So in seinem K o m m e n t a r zu Ps 137,7; O b 1,10; Dan 2,39. Vgl. ferner Y. Yahalom, T h e Transition of Kingdoms in Eretz Israel (Palestine) as Conceived by Poets and Homilists (hebr.), in: Shalem 6 (1992), 12 f. Allerdings ist R. Abraham ibn Esra in diesem P u n k t nicht ganz konsequent; dazu A. Lipshitz, T h e Exegetical Approach of Abraham Ibn-Ezra and Isaac Abravanel to Prophecy (hebr.), in: Proceedings of the Sixth World Congress of Jewish Studies, Jerusalem 1976, I, 133-139; M. Orfali, R. Abraham Ibn Ezra and Jewish-Christian Polemics (hebr.), in: Te'uda 8 (1992), 198-201. 62 Goldschmidt, Qinnot (s.o. A n m . 7), 28f. 63 Sh. Bernstein (Hg.), AI Naharot Sefarad, Tel Aviv 1956. S. auch D. Pagis, Dirges on the Persecution of 1391 in Spain (hebr.), in: Tarbiz 37 (198), 355-373.

Bekehrungserlösung

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(.Higjon haNefesch ha'azuva) von R. Abraham b. Chija, der im 12. Jh. in Barcelona wirkte: D e r Heilige gelobt sei E r vertilgt die V ö l k e r des B ö s e n aus der Welt und lässt v o n ihnen keinen U b e r r e s t [ . . . ] . D a n n w e r d e n die m e i s t e n V ö l k e r der Welt z u g r u n d e gehen u n d völlig vertilgt werden, so bleiben auf der Welt nur die g o t t e s f ü r c h t i g e n G e r e c h t e n aus den A n g e h ö r i g e n seines Volkes o d e r aus den T o r a - G l ä u b i g e n , die sich aus den übrigen V ö l k e r n u n t e r die F i t t i c h e der G o t t e s g e g e n w a r t b e g e b e n . 6 4

Auch hier kommen Heiden ums Leben, aber das hat nichts mit Rache zu tun, die mit einer nachträglichen Kollektivschuld sämtlicher Heiden seit eh und je begründet würde. Hier bei R. Abraham b. Chija erfolgt die Tötung der Heidenvölker im Zuge der Vertilgung des Bösen zur messianischen Zeit, daher werden auch die Bösen unter den Juden von diesem Untergang betroffen sein. Demgegenüber wird es Heiden geben, die am Leben bleiben, indem sie sich zum Judentum bekehren. Auch in der berühmten Beschreibung des messianischen Zeitalters bei Maimonides kommt weder Rache an den Heiden noch deren Vernichtung vor. 6 5 Die Aufgabe des Propheten Elia, des traditionellen Vorboten der messianischen Erlösung, besteht darin, „in der Welt Frieden zu stiften", nicht den Heiden den Krieg zu erklären. Berühmt ist die Aussage des Maimonides, die Rabbinen und Propheten verlangten nicht nach dem messianischen Zeitalter, um die Weltherrschaft oder irgendeinen Vorteil über die Völker der Welt zu erlangen, sondern um sich ungestört mit der Tora und ihrer Weisheit beschäftigen zu können. Angesichts der in der aschkenasischen Judenheit verbreiteten Endzeiterwartungen klingt diese Äußerung geradezu wie eine Polemik gegen die Vorstellung von der Rache-Erlösung. 66

6 4 Abraham bar Chija, Higjon haNefesch ha'azuva, G. Wigoder (Hg.), Jerusalem 1971, 128f. Vgl. Abraham bar Chija, Megillat haMegalle, Z. Poznansky (Hg.), Berlin 1924, 76: „Der Heilige gelobt sei Er hat Israel über die Länder zerstreut, dort zu wohnen, bis dass sie so viele wären wie sämtliche Völker; dann wird Gott sämliche Völker vernichten und deren Ländern seinem Volk Israel zum Erbe geben. Und das ist die Zeit der Totenauferstehung, wenn ganz Israel, das sich aus dem Grabe erhebt, vom Auszug aus Ägypten an bis auf die Generation des Messias, ebenso zahlreich ist wie die siebzig Nationen der Weltbevölkerung, deshalb werden sie (die Israeliten) alle Wohnstätten auf Erden füllen, wo die übrigen Völker gewohnt hatten". Was der Verfasser hier schildert, ist eine jüdische Bevölkerungsexplosion im Zuge der Auferstehung der Toten, woraufhin die jüdische Bevölkerung den gesamten Wohnraum der Welt einnimmt. Hier findet sich keinerlei Hinweis auf Rache oder Bestrafung (in ähnlichem Sinne auch ebd., 110). Auch R. Jehuda b. Barsillai, Perusch Sefer Jezira, Halberstamm (Hg.), Berlin 1885, 135-137, spricht von Vernichtung der Heidenvölker. 65 Mischne Tora, Sefer Schofetim, Hilechot Melachim, X I - X I I . Maimonides meint, der Unterschied zwischen Heiden und Juden werde in der Endzeit überhaupt wegfallen; dazu M. Kellner, Maimonides on Judaism and the Jewish People, Kap. 5: The Place of Gentiles in the Messianic Era, Albany 1 9 9 1 , 3 3 - 4 7 . " Den polemischen Unterton in den Worten des Maimonides hat auch G. Scholem wahrgenommen, s. Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: Judaica I, Frank-

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Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

Bekehrung zum Judentum und nicht Vernichtung der Heiden wird auch bei Jehuda Halevi im Kusari 67 und bei Nachmanides 6 8 als selbstverständlich vorausgesetzt. Auch in der Disputationsschrift ,Das Zeugnis des Ewigen ist wahrhaftig' von R. Salomo b. Mose de-Rossi (Italien, 2. Hälfte 13.Jh.) ist das Schicksal der Heiden im messianischen Zeitalter gewaltlos geschildert. 69 Dieses Werk besteht fast ausschließlich aus aneinandergereihten Bibelversen; durch deren Auswahl und eingestreute Uberschriften werden die Anschauungen des Autors erkennbar. Der Beschreibung des Endzeitgeschehens ist ein Abschnitt gewidmet, der den Titel trägt ,Gott zahlt es all seinen Feinden heim'; die darin zitierten Verse handeln von der Bestrafung der Völker, die im Krieg von Gog und Magog gegen Israel kämpfen werden. Ein Abschnitt davor heißt ,der Messias wird König über die ganze Welt, erniedrigt die einen und erhebt die anderen'; darin stehen Verse, die vom göttlichen Zorn wider die Heiden handeln. Die Reihe der Zitate dort endet mit dem Satz: „um zu beweisen, dass mit dem Kommen unseres Messias die ganze Welt zu dem Einen Glauben zurückkehren wird, nämlich zum Glauben Israels, so dass Wissen und Erkenntnis viel werden, und der Ewige sei Einer und einzig sein Name". Und weiter steht dort zu lesen: „Und zu jener Zeit wird die ganze Welt umkehren zu dem Einen Glauben, und alle werden den Namen des Ewigen anrufen". Der Autor ignoriert systematisch jeden etwaigen katastrophalen Aspekt des messianischen Zeitalters und schildert eine geradezu pazifistische Weltordnung. In diesem Sinne ist die Überschrift des folgenden Kapitels formuliert: „um zu beweisen, dass mit dem Kommen unseres Messias allgemeiner zeitlicher und ewiger Friede herrschen wird, so dass selbst die bösen Tiere sowie giftiges Getier keinen Schaden mehr anrichten werden". 70 Einen weiteren Beleg für die spanisch-jüdische Vorstellung von der Bekehrungserlösung bietet eine von Joseph Yahalom entdeckte Handschrift

furt/M.. 1963, 7-74, bes. 57-68. Dazu auch I. Twersky, Introduction to the Code of Maimonides (Mishneh Torah), New Haven 1980, 451 Anm.231. 67 Kusari IV 23; Y. Silman in seiner Monographie über R. Jehuda Halevi (Zwischen Philosoph und Prophet [hebr.], Ramat Gan 1985, 230) schlägt vor, in der Rahmenerzählung des Kusari, die in der Massenkonversion der Chasaren gipfelt, ein Gleichnis für die Zukunft der Menschheit zu sehen. 68 Kitve haRaMBaN, H. D. Chavel (Hg.), I, Jerusalem 1963, 222. " J.M. Rosenthal, Studien und Quellen (hebr.) I, Jerusalem 1967, 388-394. 70 Eine verschärft antichristliche Haltung ist in der spanischen Judenheit gegen Ende des Mittelalters anzutreffen, dazu H. Beinart, A Prophesying Movement in Cordova in 1499-1502 (hebr.), in: Zion 44 (1980), 199; G. Vajda, Passages anti-chrétiens dans Kaf Ha-Qetoret, in: REJ 197 (1980), 45-58; Moshe Idel, The Attitude to Christianity in Sefer Hameshiv, in: Immanuel 12 (1981), 77-95; ders., Models of Redemptive Activity in the Middle Ages (hebr.), in: Z. Baras (Hg.), Meschichiut weEschatologia, Jerusalem 1984, 275-279; I. Tishby, Geniza Fragments of a Messianic-Mystical Text on the Expulsion from Spain and Portugal (hebr.), in: Zion 48 (183), 348-354.

Bekehrungserlösung

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aus der Sammlung Firkovich, die 120 spanische Elegien aus der Zeit zwischen den religiösen Verfolgungen im Jahre 1391 und der Vertreibung der Juden aus Spanien im Jahre 1492 enthält. 71 Aus diesem Konvolut geht hervor, dass die liturgische Dichtung der spanischen Juden auch nach 1391 Zurückhaltung gegenüber den Christen übte, obwohl die spanische Judenheit damals schon erheblich unter den Schikanen der christlichen Regierung zu leiden hatte, wodurch ihr Schicksal von dem ihrer aschkenasischen Brüder nicht mehr so sehr verschieden war. Viele dieser Elegien enden wie üblich mit Trost und dem Ausblick auf baldige Erlösung. An dieser Stelle erscheint in den entsprechenden aschkenasischen Dichtungen das Motiv der Rache. In den spanischen Elegien dagegen sind Nicht-Juden kaum erwähnt, als ob die Verfolger aus einer anderen Welt kämen. Der Diskurs spielt im innerjüdischen Bereich, und die Erlösungshoffnung äußert sich fast durchgängig als Heimkehr ins Heilige Land, wodurch die Leiden des Exils ein Ende haben. In diesen 120 Elegien habe ich insgesamt dreizehn Mal das Stichwort ,Rache' bzw. eine von dieser Wurzel abgeleitete Vokabel gefunden - weniger als in einer einzigen Dichtung von R. Kalonymos b. Jehuda. Der endzeitliche Krieg gegen die Völker wird in der außeraschkenasischen Judenheit als ein Kampf gegen das Böse bzw. gegen bestimmte Feinde aufgefasst. Dies war ein selektiver Krieg, in dessen Verlauf alle Personen beseitigt werden sollten, die dem messianischen Geschehen im Wege stehen. Die übrigen würden darin eingegliedert, indem sie an der Krönung Gottes zum König über die Welt teilnehmen. Dass die Nicht-Juden am Leben blieben, war somit ein Erfordernis für die Bestätigung des Judentums. Was beim Kirchenvater Augustinus für diese Welt vorgesehen war, galt in der aschkenasischen Messias-Lehre für die künftige: Die Angehörigen der jeweils anderen Religion sollen am Leben bleiben, damit sie zu gegebener Zeit für die Wahrheit der richtigen Religion zeugen können. Die Diskrepanz zwischen der spanischen Bekehrungserlösung und der aschkenasischen Rache-Erlösung geht zusammen mit der unterschiedlichen Bestimmung des biblischen Edom hier und dort. Wie Gerson Cohen gezeigt hat, wurde die talmudische Gleichsetzung von Edom mit Rom von den spanischen und südfranzösischen Juden nicht übernommen. In ihren Augen stand Edom für das Christentum und nicht für das römische Weltreich. Im Gegensatz dazu machten sich die aschkenasischen Juden die Gleichsetzung des biblischen Edom mit dem Imperium Romanum zu eigen. 72 Dabei ist ein weiteres Moment in Betracht zu ziehen: Seit den Tagen

71 Y. Yahalom, The Uniqueness of the Poem as Expressing a Spiritual Reality According to the Late Spanish Piyyut (hebr.), in: A. Mirski/A. Grossman/Y. Kaplan (Hg.), Galutachar Gola (FS H. Beinart), Jerusalem 1988, 337-348. Prof. Yahalom hat mir freundlicherweise seine Kopie der Handschrift zur Einsicht überlassen. 72 Cohen, Esau as Symbol (s.o. Anm. 1). Allem Anschein nach reduzierte sich der Unter-

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Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

O t t o s des G r o ß e n ( 1 0 . J h . ) v e r b r e i t e t e s i c h in D e u t s c h l a n d die V o r s t e l l u n g v o m . H e i l i g e n r ö m i s c h e n R e i c h d e u t s c h e r N a t i o n ' , d. h. das d e u t s c h e R e i c h galt als W e i t e r b i l d u n g u n d R e c h t s n a c h f o l g e r des r ö m i s c h e n I m p e r i u m s . D a r a u f h i n b e t r a c h t e t e n sich die J u d e n in D e u t s c h l a n d als u n t e r E d o m s ,

d.i.

R o m s , H e r r s c h a f t s t e h e n d . D a r i n u n t e r s c h i e d e n sich die a s c h k e n a s i s c h e n J u d e n v o n s ä m t l i c h e n ü b r i g e n J u d e n h e i t e n E u r o p a s . W e n n in d e n A u g e n d e r f r a n z ö s i s c h e n , b r i t i s c h e n o d e r s p a n i s c h e n J u d e n ihr p o l i t i s c h e r S o u v e rän ein K ö n i g w a r wie alle a n d e r e n , s o f ü h l t e n sich die d e u t s c h e n J u d e n u n t e r d e m K ö n i g v o n E d o m . D i e R a c h e - E r l ö s u n g , die d e n n a t i o n a l - p o l i t i s c h e n A s p e k t der E r l ö s u n g b e t o n t , p a s s t g e n a u z u der S p a n n u n g , die z w i s c h e n d e n a s c h k e n a s i s c h e n J u d e n u n d i h r e r U m w e l t b e s t a n d . F ü r die s p a n i s c h e n J u d e n d a g e g e n w a r E d o m eine religiöse G r ö ß e , w o r a u f h i n sich a u c h d e r K o n k u r r e n z k a m p f m i t E d o m a u s s c h l i e ß l i c h a u f d e r religiösen E b e n e v o l l z o g . D e s h a l b spielt in d e r E r l ö s u n g s v o r s t e l l u n g d e r s p a n i s c h e n J u d e n h e i t die B e k e h r u n g d e r H e i d e n eine s o z e n t r a l e R o l l e . D e m g e g e n ü b e r

betonte

schied zwischen spanischen und aschkenasischen Juden an diesem Punkt gegen Ende des 13. Jh. Im Sohar gibt es antichristliche Äußerungen, die weitgehend der aschkenasisch-jüdische Position entsprechen. Der Sohar ist auch die einzige mir bekannte sephardische Quelle, wo das Motiv des Purpurgewands im selben Sinne verwendet wird wie in Aschkenas. So heißt es etwa Sohar I 39a: „Dann legt der Messias das Purpurgewand an, darin sind eingraviert und aufgezeichnet alle, die durch die Heidenvölker getötet, in jenem Purpurgewand; das Purpurgewand steigt empor und wird eingegraben in das obere Purpurgewand des Königs, und der Heilige gelobt sei Er wird dereinst jenes Purpurgewand anlegen und die Völker danach richten"; vgl. auch eb. 41a. An einigen Stellen schildert der Sohar das Eschaton in einem Stile, der an die aschkenasische endzeitliche Rache erinnert, obwohl selbst da noch ein Echo jener sephardischen Überlieferung zu vernehmen ist, die mit der Bekehrung der Nicht-Juden im messianischen Zeitalter rechnet (Sohar II 32a). Die Darstellung insgesamt steht unter dem Eindruck der Aufhebung der Kreuzfahrerherrschaft im Land Israel nach dem Fall der Stadt Akko im Jahre 1291 - vgl. R. Kiener, The Image of Islam in the Zohar (hebr.), in: J . Dan (Hg.), Sefer ha-Zohar ve-Doro, Jerusalem 1989, 49-53; Y. Liebes, The Messiah of the Zohar: on R. Simeon Bar Yohai as a Messianic Figure, in: Ders., Studies in the Zohar, New York 1993. Den Einfluss der aschkenasischen Kulturwelt auf den Sohar hat I. Ta-Shma in einigen Aufsätzen behandelt: Miriam's Well. The Devolution of a French Custom in the Third Sabbath Meal (hebr.), in: Ders., Minhag Aschkenas haqadmon, Jerusalem 1992, 201-220; Israel Ta-Shma, A Note on the Zohar (hebr.), in: Tarbiz 60 (1991), 663-665; ders., Aschkenazi, Pietism in Spain: Rabbi Jonah of Gerondi, The Man and His Activity (hebr.), in: Galutachar Gola (s.o. Anm. 71), 165-194. Zum Einfluss der aschkenasischen Kultur auf Spanien im ausgehenden 13.Jh. s. ferner A. Grossman, The Relation between Spanish and Ashkenazi Jewry in the Middle Ages (hebr.), in: H. Beinart (Hg.), Moreschet Sefarad, Jerusalem 1992, 180-184. Die Übernahme ,aschkenasischer' Vorstellungen von Rache an den Heiden nach Spanien ist auch bei R. Jomtov b. Abraham Ischbili (gen. RITBA) zu beobachten, vgl. Y. Leibowitz (Hg.), Hilchot Seder ha-Haggada uBi'ure Haggada, Jerusalem 1984, 42: „Wir sagen beim letzten Becher, es möge die Zeit kommen, dass er ihnen vom Becher seines Grimms zu trinken gibt, das ist der Giftbecher, wie es heißt: ,Freu dich und frohlocke, Tochter Edom, auch an dich soll der Becher übergehen (Klgl 4,21) - ja noch mehr: das Hauptstück unserer Erlösung ist abhängig vom Untergang der Könige".

D e r Fluch

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die Endzeitvision der aschkenasischen J u d e n eher die Vernichtung des K ö nigtums von E d o m , d. h. des deutschen Reiches. D i e zentrale Stellung der Rache an den Völkern in der Vorstellungswelt der aschkenasischen Juden steht also in engem Zusammenhang mit der Apologetik des Erwählungsgedankens. D i e Rachehoffnung ist das Heilmittel für den zu Anfang dieses Kapitels aufgezeigten Widerspruch: ,zwischen Israels Erwähltheit im H i m m e l und seiner Unterdrücktheit auf Erden'. D e r Rachegott tritt auf in der F u n k t i o n des Vaters, der diejenigen straft, die seinem Erstgeborenen etwas zuleide tun. Die messianische Rache ist die erneute Bestätigung von Israels Erwähltheit und die Erwiderung an die C h r i s ten, die dem jüdischen Volk die Erwähltheit absprechen. Diese polemische Position steht auch hinter der Erwartung, dass das Blut der jüdischen Märtyrer gerächt würde. D e r e n Tod war eine Entheiligung des göttlichen N a mens, denn es gereicht G o t t nicht zur Ehre, wenn seine Kinder dahingeschlachtet werden. Die Wiedergutmachung dieses Frevels erfolgt durch die messianische Rache, durch eine universale Heiligung des göttlichen N a mens in der Endzeit.

3 Der Fluch Die zentrale Wichtigkeit der Rache im messianischen Geschehen bietet eine Erklärung für eine Besonderheit der aschkenasischen J u d e n im Mittelalter: Sie pflegten N i c h t - J u d e n zu verfluchen. Bereits im Altertum wurden gegen Christen gerichtete F o r m e l n in die Liturgie eingefügt, was den Juden in den Disputationen schwer angekreidet wurde. Besonders bekannt ist die sog. Ketzerbitte im A c h t z e h n g e b e t . 7 3 Aufschlussreich für deren Ursprung sind

7 3 U m von den Forschungen zum T h e m a nur die neueren zu nennen: P. Schäfer, Die sogenannte Synode von Jahne, in: Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, Leiden 1978, 4 5 - 5 5 ; G . Stemberger, Die sogenannte „Synode von J a b n e " und das frühe Christentum, in: Kairos 19 (1977), 4 1 - 2 1 ; R. Kimelman, Birkat ha-Minim and the Lack of Evidence for an Anti-Christian Jewish Prayer in Late Antiquity, in: E.P. Sanders u. a. (Hg.), Jewish and Christian Self-Definition, II, London 1981, 2 2 6 - 2 4 4 . 3 9 1 ^ 1 0 3 ; W. H o r b u r y . T h e Benediction of the Minim and Early Jewish-Christian Controversy, in: J T S 33 (1982), 1 9 - 6 1 ; T . C . G . T h o r n t o n , Christian Understandings of the Birkath-Ha-Minim in the Eastern Roman Empire, in: J S T 38 (1987), 4 1 9 - 4 3 1 ; B.Z. Benyamin, Birkat Ha-Minim and the Ein Gedi Inscription, in: Immanuel 21 (1987), 6 8 - 7 9 . In diesen und älteren Studien wird die historische und textuelle Frage untersucht, gegen wen die .Ketzerbitte' in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien gerichtet war, was bekanntlich auch die christlichen und jüdischen Disputanten im Mittelalter und in der frühen Neuzeit bewegte. Die Erweiterung des Horizonts auf weitere Fluchformeln, auch wenn sie später sind, dürfte unser historisches Verständnis an diesem Punkt bereichern. Ich habe den Eindruck, dass die Untersuchung der verschiedenen Rituale für die von Schäfer (ebd.) geäußerte Vermutung spricht, die sog. Ketzerbitte sei ursprünglich auch gegen R o m gerichtet gewesen und zwar aus einer aktivistisch messianischen Haltung heraus. Horburys Ein-

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Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

vielleicht die Flüche, die in der Sekte am Toten Meer gegen diejenigen geäußert wurden, die gegen die Regeln der Sekte verstießen. In den Q u m r a n schriften ist an einer Stelle von einer Versammlung sämtlicher Sektenmitglieder im dritten Monat, anscheinend am Wochenfest, die Rede, w o verflucht worden sei, „wer nach rechts oder links von der Lehre abweiche". 74 Das Wochenfest galt als der Termin, zu dem die Angehörigen der Sekte ihren Bund erneuerten; bei dieser Gelegenheit wurden Novizen aufgenommen und Kandidaten der Sekte eingegliedert, die eine zweijährige Probezeit bestanden hatten. Dass an einem solchen Tage verwünscht wurde, wer nicht mit der Sektenregel k o n f o r m ging, liegt nahe. 7 5 Diese Zeremonie des Fluchs über diejenigen, die gegen die Lehre der Sekte verstoßen, vermag die Gal 3 , 1 0 - 1 3 geäußerte Auffassung zu erklären, w o nach das Einhalten der Tora und ihrer Gebote auf die Macht des Fluches gegründet sei: „Denn die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch, wie geschrieben steht: Verflucht wer nicht hält, was geschrieben steht in dem Buch der Tora, es zu tun" (nach D t n 27,26), was mit dem Glauben anders sei. Allerdings habe Jesu Kreuzestod Befreiung v o n den .Werken des Gesetzes' bewirkt: „Christus hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er ward ein Fluch f ü r uns, wie geschrieben steht: Verflucht, wer am H o l z hängt" (Dtn 21,23). Seit Jesus durch seine Todesart den Fluch auf sich genommen habe, sei die Menschheit vom Halten der biblischen G e bote befreit. Die hier angesprochene Verlagerung des Fluchs kann auch die Verfluchung der Ketzer im Achtzehngebet erhellen, denn Juden waren mit der

wand (ebd.), im 2.Jh. fänden sich auch positive Äußerungen von Rabbinen gegenüber Rom, ist kein Argument gegen die eschatologische Auffassung eben dieser Rabbinen, wonach die Zerstörung Roms ein notwendiges Stadium im Vorgang der Erlösung darstelle. Horbury argumentiert, die sprachlich-begriffliche Nähe der Ketzerbitte zur biblischen Eschatologie weise auf ein messianisch-ethisches Ziel hin wie die Austilgung der jüdischen Frevler aus der Gemeinschaft, nicht auf Kampf gegen eine außenstehende Größe wie Rom. Allerdings sprechen gerade die biblischen Berührungspunkte dafür, dass in der Ketzerbitte der Wunsch nach Vernichtung von ,Edom' geäußert wird, und in der Antike war Edom=Rom. 74 F.G. Martinez/E.J.C. Tigchelaar (Hg.), The Dead Sea Scrolls, I, Leiden 1997, 596-599. 75 Diese Bedeutung des Festes dürfte sich aus einer älteren Tradition heraus entwickelt haben, die das Wochenfest mit der Sinai-Offenbarung als dem früheren Bundesschluss in Verbindung brachte, obwohl diese Verbindung nicht vor dem 2. nachchristlichen Jh. belegt ist. Die Bedeutung, die das Wochenfest in der Sekte am Toten Meer hatte, erklärt auch die neutestamentliche Vorstellung, wonach die versammelte frühe Christengemeinde an diesem Tag eine Art neuerliche Sinai-Offenbarung erlebt haben soll, wobei in siebzig Sprachen gesprochen wurde und dreitausend Neuchristen hinzukamen (Apg 2). Dazu G. Vermes, The Impact of the Dead Sea Scrolls on the Study of the New Testament, in: JJS 27 (1976), 108 f. Weiteres zur Beziehung zwischen dem Wochenfest und Pfingsten bei M. Weinfeld, The Uniqueness of the Decalogue and Its Place in Jewish Tradition, in: B.Z. Segal (Hg.), The Ten Commandments in History and Tradition, Jerusalem 1990, 42 f.

Der Fluch

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paulinischen Deutung sicher nicht einverstanden; in ihren Augen waren Jesus und seine Anhänger von dem Fluch über diejenigen betroffen, welche die biblischen Gebote nicht hielten, wie auch in der Sekte am Toten Meer üblich. Vermutlich entstanden auf dieser Grundlage später im Mittelalter Texte, die Verwünschungen über Christen enthalten. Theologisch gesehen ist diese Zeremonie eine jüdische Umdeutung der paulinischen Auslegung zu „verflucht, wer am Holz hängt". Auch Juden betrachteten Jesus als verflucht, aber in ihren Augen war der Fluch über den Gehängten eine Strafe. Von daher war die jüdische Verfluchung Jesu gleichbedeutend mit einer neuerlichen Kreuzigung. In diesem Zusammenhang scheint bemerkenswert, dass ,der Gehängte' im Mittelalter bei Juden zur festen Bezeichnung für Jesus wurde; hinter dieser Benennung steht vielleicht Bezugnahme auf Dtn 21,23, wonach ,der Gehängte' auch verflucht ist. 7 6 Ein Beleg für solche Verwünschungen, die am Ende des Morgengottesdienstes gesprochen wurden, findet sich im Jalqut Schimoni: „ E s ziemt d e m K ö n i g nicht, sie zu belassen" ( E s t 3 , 8 ) - m a n öffnet S y n a g o g e n u n d rezitiert D i n g e , die m a n nicht h ö r e n lassen darf; m a n spricht das , H ö r e Israel', danach das Standgebet, darin spricht m a n (die B e n e d i k t i o n ) ,der die F r e c h e n b e u g t ' und sagt, dass wir die F r e c h e n sind, danach spricht m a n (die B e n e d i k t i o n ) ,der da liebt R e c h t u n d G e r i c h t ' u n d hofft, dass der Heilige gelobt sei E r uns

rich-

ten wird, danach n i m m t m a n eine T o r a - R o l l e u n d verflucht uns ö f f e n t l i c h . 7 7

Was wir hier vor uns haben, ist eine Schilderung des öffentlichen Gottesdienstes nach der Reihenfolge seiner Bestandteile. Noch vor der Rezitation des Einheitsbekenntnisses ,Höre Israel' spricht man „Dinge, die man nicht hören lassen darf"; möglicherweise ist damit die unmittelbar vorangehende Benediktion gemeint, die mit den Worten ,mit großer Liebe' einsetzt und worin eine messianische gefärbte Bitte um Einsammlung der Zerstreuten

76 Weiteres zur Verhängung von Bann bei W. Horbury, Extirpation and Excommunication, in: V T 35 (1985), 13-38. 77 Jalqut Schimoni, Esther, § 1054. Zu diesem Text s. S. Krauss, Imprecation Against the Minim in the Synagogue, in: J Q R 9 (1897), 515-517; ders., Zur Literatur der Siddurim: christliche Polemik, in: A. Marx/H. Meyer (Hg.), Festschrift für Aron Freimann, Berlin 1935, 128 f. Krauss verweist u.a. auf Midrasch Tanchuma, Schemini I X : „Bildner und Schmied Qer 29,2) Was bedeutet Bildner (Charasch)? Das sind diejenigen, die Gebet eines Tauben (Cheresch) ganz leise sprechen und durch ihr Gebet sämtliche Götzendiener besiegen". Vielleicht handelt es sich hier um die im Midrasch erwähnten .Dinge, die man nicht hören lassen darf'. Im Targum scheni zu Esther (3,8) heißt es zum Gottesdienst am Sabbat, zu Pessach, Neujahr und Versöhnungstag: „Sie lesen in ihren Büchern, übersetzen ihre Prophetenlektion, verwünschen unseren König und verunglimpfen die Obrigkeit". Laut P. Cassel, Zweites Targum zum Buche Esther, in: Literatur und Geschichte, Leipzig/Berlin 1885, ist der Targum scheni eine polemische Schrift aus justinianischer Zeit. Auch Agobard beschuldigt die Juden, sie verwünschten das Christentum; dazu Ch. Merchavia, haTalmud biR'i haNazrut (der Talmud im Spiegel des Christentums), Jerusalem 1971, 82 f.

128

Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

enthalten ist. Darauf nehmen die Gottesdienstteilnehmer ,das Joch des göttlichen Reiches' auf sich, indem sie das ,Höre Israel' sprechen, was als Abschüttelung aller menschlichen Autorität gedeutet worden ist. Im darauf folgenden Standgebet gibt es zwei Benediktionen, die von Christen als Provokation empfunden werden konnten: die sog. Ketzerbitte und die Bitte um Schaffung von Recht. Letztere impliziert die Vorstellung vom Vollzug der Rache, wie oben ausgeführt. Nach dem Achtzehngebet wird hier beschrieben, wie die Nicht-Juden verflucht werden, wobei die Tora-Rolle in der Hand gehalten wird. 78 Vielleicht ist die Rezitation von Ps 83 gemeint, die in aschkenasischen Gemeinden zum Abschluss des öffentlichen Morgengebets üblich war; 79 dieser Psalm ist reich an scharfen Äußerungen gegen Feinde Israels, darunter ,Edom und Ismaeliten'. In sephardischen Gemeinden dagegen wurde statt dessen Ps 86 gesprochen. 80 Möglicherweise war die Wahl von Ps 86 in spanisch-jüdischen Gemeinden durch V. 9 ausgelöst („alle Völker, die du gemacht, werden kommen, vor dir anbeten, Herr, und deinen Namen ehren"), worin genau die Vorstellung der Bekehrungs-, nicht der Rache-Erlösung ausgedrückt ist. Die zitierte Stelle aus Jalqut Schimoni könnte ein später aschkenasischer Midrasch sein. Sollte es sich aber um einen frühen palästinischen Midrasch handeln, dann dürfte er die Quelle für den aschkenasischen Brauch bilden, im Gottesdienst Verwünschungen und Schimpfworte gegen die Christen zu sprechen. Auf die Stellung des Alenu -Gebets („uns obliegt es, zu rühmen") als antichristliche Polemik, mit der jeder jüdische Gottesdienst schließt, werden wir noch zu sprechen kommen. Seit dem 12. Jh. fungiert dieser Text als eine Art antichristliches Credo, braucht aber nicht als Verwünschung betrachtet zu werden. Allerdings geht aus mehreren Quellen hervor, dass dieses Gebet im 12. und 13. Jh. grobe Schimpfwörter enthielt. In einer Version des Alenu Gebet in einem englischen Gebetbuch, das vor 1190 geschrieben sein muss, werden die Christen bös beschimpft:

78 Vgl. dazu den Wortlaut der Benediktion, die nach dem öffentlichen Vortrag der EstherRolle gesprochen wird: „gelobt sei [...] der unsere Rache durchführt, der uns erlöst und errettet aus der Hand der Übermütigen [...]". (Traktat Soferim XIV 5 - 6 , v g l . J . Müller (Hg.), Leipzig 1878, XXIV.191). Krauss (zur Literatur der Siddurim, s.o. Anm.77) gibt zu bedenken, dass die angeführten Benediktionen aus der werktäglichen Version des Standgebets nicht zum sabbatlichen Ausheben der Tora-Rolle passen; daraufhin nimmt er an, das Herausnehmen der Tora-Rolle zwecks Verwünschung geschehe im Zuge der Bann-Verhängung. 79 Machsor Vitry, hg. von S. Hurwitz, Nürnberg 1923 (fotomechan. Nachdruck Jerusalem 1963), 74. S. auch Ta-Shma, Alenu (s.o. Anm.29). 80 Sefer haManhig leRabbi Abraham beRabbi Nathan hajarchi, hg. von J. Raphael, Jerusalem 1968, 107 f.

129 U n s obliegt es zu r ü h m e n den H e r r n des Alls, Respekt zu b e z e u g e n d e m S c h ö p fer des A n b e g i n n s , der uns nicht g e m a c h t wie die V ö l k e r der L ä n d e r , unseren A n teil nicht g e m a c h t wie den ihrigen, unser Schicksal nicht wie das ihrige, denn sie b e t e n an H a u c h u n d N i c h t i g k e i t , beten zu einem G o t t , der nicht hilft - M e n s c h , A s c h e , Blut, Galle, stinkendes Fleisch, G e w ü r m , U n r e i n e , E h e b r e c h e r , die da sterben d u r c h ihre Sünde und dahinwelken d u r c h ihre B o s h e i t , u n t e r g e h e n d in Staub, v e r z e h r t v o n G e w ü r m , die b e t e n zu einem G o t t , der n i c h t hilft. 8 1

Außerdem sind in der mittelalterlich-jüdischen Liturgie zwei markante G e legenheiten zu beobachten, an denen N i c h t - J u d e n verwünscht

wurden,

nämlich am Versöhnungstag und im Verlauf des Sedermahls am Pessachfest.

4 Die Verwünschung am Versöhnungstag N a c h dem aschkenasischen und polnischen Ritus sind im Morgengebet des Versöhnungstags nach der Keduscha (dem Dreimal-Heilig) fünfzehn liturgische Dichtungen über J e r 10,7 („wer sollte dich nicht fürchten, König der Völker [ . . . ] " ) vorgesehen. Diese Texte (nach ihrer F o r m Rehitim

genannt)

setzen jeweils mit dem Schriftvers ein. Zwei davon (,die Heiden sind nichtig' und ,die Heiden sind entsetzlich') sollen von R. Kalonymus d . A . stammen. Sie enthalten böse Schimpfworte wider die N i c h t - J u d e n sowie die an G o t t gerichtete Bitte, sie zu vertilgen. 8 2 Es ist einigermaßen erstaunlich, dass die historische F o r s c h u n g Äußerungen von Judenhass zwar eingehend behandelt, aber diese Äußerungen von Hass aus jüdischem Munde weitgehend mit Stillschweigen übergeht. 8 3 Es handelt sich um Texte, aus denen

81 Veröffentlicht bei M. Halamish, An Early Version of 'Alenu leshabeah (hebr.), in: Sinai 110 (1992), 2 6 2 - 2 6 5 . S. auch unten, Kap. IV F, Text zu Anm. 124. 82 E.D. Goldschmidt, Restoration of Missing Piyyutim of the Mahzor for the Day of Atonement (hebr.), in: Kirjat Sefer 31 (1956), 146-151; ders., Machsor lejom Kippur (s.o. Anm. 15), 186 f. 196 f. In der zweisprachigen Ausgabe des Machsor, Festgebete der Israeliten, die um die Mitte des 19. Jh. zu erscheinen begann, sind diese Piutim zwar hebräisch abgedruckt, aber nicht ins Deutsche übersetzt. 83 Der einzige, der sich mit diesen Verwünschungen auseinandergesetzt und ihre literarische Verbreitung untersucht hat, ist Ch. Merchavia, The Caustic Poetic Rebuke (Shamta) in Medieval Christian Polemic Literature (hebr.), in: Tarbiz 41 (1972), 9 5 - 1 1 5 . S. auch A. Grossman, Anti-Christian Polemic in the Commentaries of R. Joseph Karo to the Bible and the Piyyut (hebr.), in: Proceedings of the Ninth World Congress of Jewish Studies, II 1 (Jerusalem 1986, 75f; ders., Exile and Redemption in the Thought of R. Joseph Karo (hebr.), in: Tarbut we-

Chevra beToldot Israel blmej habeinajim (GS H. H. Ben-Sasson), Jerusalem 1989, 283. H.M.

Kirn, Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen 16. Jh., Tübingen 1989, 4 2 - 4 6 behandelt Pfefferkorns Vorwurf, Juden äußerten in ihren Gebeten den Wunsch nach Macht über die ganze Welt und nach Rache an den Christen. Seit 1986 hat A. Grossman etliche Studien veröffentlicht, in denen er auf den Christenhass der aschkenasischen und französischen Juden hinweist, wie er in deren liturgischer Dichtung und Bibelauslegung zum Ausdruck kommt; s. Grossman,

130

Feindschaft gegenüber dem C h r i s t e n t u m in Aschkenasim

der tiefe H a s s u n d die F e i n d s c h a f t sprechen, die mittelalterliche J u d e n

ge-

genüber den Christen hegten. Geäußert wird nicht nur Hass, sondern auch die Bitte, G o t t m ö g e sie a l l e s a m t g r a u s a m t ö t e n , w o b e i die i h n e n z u g e d a c h t e n g r e u l i c h e n S t r a f e n g e r a d e z u g e n ü s s l i c h a u s g e m a l t w e r d e n . I n l a n g e n alp h a b e t i s c h a n g e o r d n e t e n L i s t e n w i r d all d a s B ö s e a u f g e z ä h l t , d a s d e r j ü d i sche Dichter den Christen an den Hals wünscht. D e r Herausgeber Dichtungen,

E.D. Goldschmidt,

findet diese blutrünstigen

dieser

Darstellungen

zwar erstaunlich, aber verständlich: V e r s t ä n d l i c h w e r d e n d i e A n g r i f f e auf d i e N i c h t - J u d e n in A n b e t r a c h t d e r v e r z w e i f e l t e n S i t u a t i o n , in d e r s i c h d i e m i t t e l a l t e r l i c h e n J u d e n in c h r i s t l i c h e n L ä n d e r n b e f a n d e n ; d a sie s i c h g e g e n d i e s t ä n d i g e n V e r f o l g u n g e n n i c h t p h y s i s c h z u r W e h r s e t z e n k o n n t e n , w a n d t e n sie s i c h a n i h r e n h i m m l i s c h e n V a t e r m i t d e r B i t t e , es i h r e n V e r f o l g e r n h e i m z u z a h l e n u n d d i e J u d e n a u s d e r K n e c h t s c h a f t in d i e F r e i h e i t , a u s der F i n s t e r n i s ins Licht zu f ü h r e n . So scharfe Ä u ß e r u n g e n w i e die hier sind eine s p o n t a n e R e a k t i o n auf all d a s Ü b e l , d a s sie z u e r d u l d e n h a t t e n , h e r v o r g e g a n g e n a u s A n g s t u n d B e t r ü b n i s , w i e sie f ü r d i e t i e f e ( u n d e t w a s p r i m i t i v e ) F r ö m m i g k e i t ihrer Verfasser charakteristisch sind. Wer an der Schärfe u n d G r a u s a m k e i t dieser W e n d u n g e n A n s t o ß n i m m t , s o l l t e n i c h t v e r g e s s e n , in w e l c h e r Z e i t u n d u n t e r w a s f ü r U m s t ä n d e n sie n i e d e r g e s c h r i e b e n w u r d e n . 8 4 E i n e a n d e r e liturgische D i c h t u n g , die a m V e r s ö h n u n g s t a g rezitiert ist die V e r w ü n s c h u n g , m a c h sie z u S c h m a c h

wurde,

[...]'.85 Erstmals erwähnt

d i e s e r T e x t b e i R . N a t h a n b . J e h u d a i n s e i n e m B u c h Machkim.86

ist

Dieser Piut

enthält überaus schwere B e s c h i m p f u n g e n gegen die N i c h t - J u d e n . V o n

den

Redemption by Conversion (s. o. A n m . 6) mit älterer Literatur z u m T h e m a sowie ders., Chachme Zarfat ha-rischonim, Jerusalem 1995, 142-146. Jüdischer Hass auf alles Christliche konnte sich auch in Demolierung von Kruzifixen niederschlagen; dazu J. Shatzmiller, Desecrating the Cross: A Rare Medieval Accusation (hebr.), in: Mechqarim beToldot Am Israel weErez Israel 5 (1980), 159-173; F. Lotter, Hostienfrevelvorwurf u n d Blutwunderfälschung bei den Judenverfolgungen von 1298 („Rintfleisch") u n d 1336-1338 („Armleder"), in: Fälschungen im Mittelalter, V, H a n n o v e r 1988 ( M G H S 33), 543-548, hat den Zusammenhang der christlichen Anschuldigungen, J u d e n verunglimpften u n d entweihten christliche Kultgegenstände, mit dem Vorwurf des Hostienfrevels herausgearbeitet. Ich stimme seinen A u s f ü h r u n g e n zu, dass die christlichen Aussagen nicht als bloße Erfindungen abzutun sind; hinter einigen davon k ö n n t e etwa der jüdische Brauch stehen, zu Purim eine H a m a n - F i g u r zu verbrennen, was in christlichen Augen wie eine Anspielung auf Jesu Kreuzigung aussehen mochte. Zu etwaigen Verbindungen zwischen diesem Brauch u n d der Ritualmordbeschuldigung s.u. Kap. IV, A n m . 6 5 . 84 Goldschmidt in Kirjat Sefer (s.o. A n m . 8 2 ) , 148; im selben Sinne äußert er sich auch in der Einleitung zu seiner Edition der Selichot nach polnischem Ritus, Jerusalem 1965, 12 f. 85 A . H . Freiman, P u t T h e m t o Shame (hebr.), in: Tarbiz 12 (1941), 70-74; wiederabgedruckt bei Haberman, Geserot (s.o. A n m . 13), 105f. Als A u t o r dieses Textes wird im Mittelalter Raschi angegeben, was allerdings unbegründet scheint (A.M. Haberman, Piute Raschi, Jerusalem 1941,34). 86 R. N a t h a n b. Jehuda, Sefer Machkim, J. Freimann (Hg.), Krakau 1909, 42. Bei Merchavia, Talmud (s.o. A n m . 77), 96 Anm. 6 - 7 sind weitere Quellen aufgeführt, wo der Text belegt ist; s. auch E.E. Urbach, Sefer Arugat haBossem, IV: Prolegomena (hebr.), Jerusalem 1963, 6-10.

131 44 Zeilen bringe ich hier nur einige, u m einen Eindruck v o m Charakter des Textes z u vermitteln: Mach sie zu Schmach, zu Fluch und Verheerung Schleudere auf sie Wut, Zorn und Grimm, entsende wider sie Engel des Verderbens und Getümmels vernichte sie durch Schwert draußen und durch Schrecken im Innern [...] Zücke das Schwert wider sie, so dass keine Seele am Leben bleibt, Geifere wider sie mit ausgeschüttetem Grimm, vollzieh die Rache mit tiefster Verachtung! Tilg' aus ihren Samen und ihr Gedächtnis, vernichte ihren Namen unter hohem Himmel, Lass sie schlafen und nie mehr erwachen, ewigen Todesschlaf, quäle sie mit Totgeburt und Unfruchtbarkeit, mit verdorrten Gliedern und Kraftlosigkeit [...] wirf hin ihr Fleisch zum Fraß den Vögeln des Himmels und dem Getier der Erde !•••!• Dies komme über Edom, über die Ismaeliten und über das ganze römische Heer, geselle hinzu deine übrigen Feinde, ein Volk ums andere, mach die zu ihrem Haupt und lass nichts davon aus, sammle alles und tu noch ein Vielfaches dazu. D i e ganze lange Liste wird in gereimten Doppelversen dargeboten, deren Anfangswörter der Reihenfolge des hebräischen Alphabets folgen. Ä h n l i c h wie E . D . G o l d s c h m i d t später sah auch hier der Herausgeber, J. Freimann, in diesem Piut eine „Reaktion bedeutender Israeliten in der Vergangenheit auf die religiösen Verfolgungen, denen sie damals ausgesetzt waren", d . h . auf die Kreuzzüge. Eine ähnliche Version dieser Verwünschung, ,mach sie z u m Fluch', hat C h e n Merchavia veröffentlicht. 8 7 D i e darin enthaltenen Beschimpfungen wirken schon durch ihre Wortfülle und verbale Vielfalt besonders drastisch. N a c h d e m der Autor den .Völkern', d.h. den Christen, allerlei böse Krankheiten an den Hals gewünscht hat, fordert er G o t t n o c h auf, ihre Wohnstätten dem Erdboden gleich zu machen, sie selbst auf allerlei brutale Weisen zu töten und v o m Erdboden verschwinden zu lassen. In scharfem Kontrast zur Verfluchung der H e i d e n stehen die H e i l s w ü n s c h e für Israel am Ende: Doch Israel segne: stärke ihre Kraft, rette sie und verschaffe ihnen vollkommene Ruhe, Sie sollen Mut schöpfen und deinem Namen danken, da sie die Rache an ihren Feinden sehen,

87 C h . Merchavia, T h e Caustic Poetic .Rebuke' (Shamta) of Abraham b. Jacob (hebr.), in: Tarbiz 39 (1970), 277-284. In einem späteren Aufsatz (Tarbiz 41, s.o. A n m . 8 3 , 107) hat er die Vermutung geäußert, beide Piutim k ö n n t e n vom selben A u t o r stammen, Abraham b. Jakob, über den uns sonst keine Informationen vorliegen.

132

Feindschaft gegenüber dem C h r i s t e n t u m in Aschkenasim

ihr König soll vor ihnen einherziehen, an ihrer Spitze, der im Himmel wohnt, Zion wird durch Gericht erlöst, und die Stadt Jerusalem heißt nach dem Ewigen. Gegen die von Freimann u n d Goldschmidt vertretene apologetische H a l tung, wonach diese Texte als spontane Reaktion auf die jeweils akute N o t s i tuation aschkenasischer J u d e n zu betrachten seien, ist zweierlei einzuwenden. Z u m einen handelt es sich u m ein Ritual, das in der aschkenasischen Liturgie fest verankert ist; selbst wenn die Texte aus aktuellem Anlass entstanden sein sollten, ist es von weitreichender historischer Bedeutung, dass sie Jahr f ü r Jahr im Gottesdienst rezitiert wurden, auch zu vergleichsweise friedlichen Zeiten. Hier geht es uns nicht u m die Klärung der spezifischen historischen U m s t ä n d e , die zur E n t s t e h u n g dieser u n d vergleichbarer Texte geführt haben, zumal diese wahrscheinlich ohnehin nicht zu erhellen sind, sondern um den Stellenwert der bereits vorliegenden Texte in der geistigen Welt der aschkenasischen Judenheit. 8 8 Z u m andern sind diese Verwünschungsformeln nicht von aschkenasischen J u d e n geprägt worden. Schon unter den Gedichten von Jannai beginnt eine Keroha zu den H o h e n Feiertagen mit den Worten „schütte deinen G r i m m über deine Beschimpfer" u n d enthält ebenfalls alphabetisch arrangierte A u f f o r d e r u n g e n an G o t t , was f ü r vielfältiges Unheil er über die N i c h t - J u d e n bringen soll. 89 Die u n verkennbare sprachliche N ä h e dieses alten palästinischen Piut zu der aschkenasischen Fluchdichtung lässt darauf schließen, dass letztere vielleicht älter ist, als Freimann a n g e n o m m e n hatte. Ein weiteres Gedicht, das eine saftige Verwünschung enthält, verfasste im 10.Jh. R. Joseph ibn Avitur, ein von Spanien über Ägypten ins Heilige Land emigrierter Gelehrter (gest. u m 990 in Damaskus), 9 woraus vielleicht hervorgeht, dass solche formelhaften Verwünschungen schon viel f r ü h e r verbreitet waren. Eine Fluchformel wider den bösen Trieb verfasste auch R. Simon b. Isaak aus Mainz (frühes 11.Jh.); darin finden sich ebenfalls in alphabetischer Folge lauter an G o t t gerichtete Imperative, in denen all das Böse aufgezählt wird, das er dem Gegner (in diesem Fall: dem bösen Trieb) antun soll, was sich stilistisch mit den Verwünschungen wider die N i c h t - J u d e n berührt. 9 1 So entsteht der Eindruck, dass das aschkenasische Verfluchungsritual inhaltlich auf ein ähnliches Formular zurückgeht, wie es im Jalqut Schimoni belegt (und bei Jannai dichterisch gestaltet) ist; formal schließt es an Verw ü n s c h u n g s f o r m e l n wie die bei R. Joseph ibn Avitur und R. Simon b. Isaak

88 Z u m Vorkommen von Schimpfworten in den hebräischen C h r o n i k e n über die Verfolgungen von 1096 s. A. Sapir Abulafia, Invectives against Christianity in the H e b r e w Chronicles of the First Crusade, in: P. Edbury (Hg.), Crusade and Settlement, Cardiff 1985, 66-72. 89 Piute Jannai (s.o. A n m . 2 2 ) , II, Tel-Aviv/Jerusalem 1987, 222 f. Genizah Studies, III, N e w York 1928, 320. " H a b e r m a n , Piute Jannai (s.o. A n m . 2 2 ) , 148.

.Gieß aus deinen Grimm' zu Pessach

133

an. Diese und vergleichbare 9 2 liturgische Dichtungen waren bei einem Publikum in Gebrauch, das aus messianischem Aktivismus heraus nach Rache trachtete; demnach können sie nicht nur als spontane Reaktionen aus dem Uberschwang des Gefühls heraus gelten. W i r haben es hier mit einer ganzen Ideologie zu tun, worin die Rache ein zentraler Bestandteil des messianischen Geschehens ist.

5 ,Gieß aus deinen Grimm' zu Pessach Ein weiterer A k t von Verwünschung der Nicht-Juden ist die Rezitation von „gieß aus deinen G r i m m " (Ps 79,6f) nach Abschluss des Sedermahls. Dieser Text k o m m t in gaonäischen Quellen nicht vor; alle Anzeichen sprechen dafür, dass er in Europa entstanden ist, und zwar im aschkenasischen Kulturbereich. 9 3 D e r früheste Beleg ist wohl der in Machsor Vitry,94 In einigen Quellen sind bis zu zwanzig weitere Verse hinzugefügt, in denen überall die Heiden verflucht werden. 9 5 F ü r die Teilnehmer am Sedermahl verbindet sich dieser Teil der Haggada mit der künftigen Erlösung. Das O f f n e n der T ü r für den Propheten Elia unmittelbar vor diesem Rachegebet markiert den Zusammenhang zwischen der Rache an den Heiden und dem Erscheinen des Messias. 9 6 Auch die Stellung dieses Abschnitts innerhalb der Haggada ist bemerkenswert: als Auftakt zum Trinken des vierten und letzten Bechers, welcher der endzeitlichen Erlösung entspricht. 9 7 Eine ausführliche Schilderung des Fluchrituals in der Pessach-Haggada bringt der Apostat Antonius Margarita (1. Hälfte 1 5 . J h . ) . 9 8 Er nennt zwei liturgische Dichtungen („Die meisten Wunder wirktest du bei N a c h t " und die alphabetische Aufzählung von G o t t e s mächtigen Taten Omez Gevurotecha) und berichtet, darin seien heftige Verwünschungen wider die Christen Dazu Goldschmidt, Machsor lejom Kippur (s.o. Anm. 15), 380f. M. Kascher, Haggada schelema, Jerusalem 1955, 177-180; E.D. Goldschmidt, Haggada schel Pessach, Jerusalem 1969, 62-64. 94 Machsor Vitry (s.o. Anm.79), 296. 95 Dazu: Sefer Tossafot haschalem. Ozar Perusche Baale ha-Tossefot. Haggada schel Pessach, J . Gellis (Hg.), Jerusalem 1989, 169f. 96 Diese Bedeutung des Türöffnens wird bei R. Mose Isseries (16.Jh.) im Namen von R. Israel Bruna (Regensburg, 15.Jh.) angeführt. Vgl. Schulchan Aruch, Orach Chajim, § 480 gegen Ende. S. auch Sefer Josef Omez, Frankfurt/M. 1928, § 788 sowie R. Juspa Schammes in: B.S. Hamburger/E. Zimmer (Hg.), Wormser Minhagbuch, Jerusalem 1988, 1, 87. 97 Dieser Brauch gründet sich auf eine Äußerung im Jerusalemer Talmud, Pessachim X 1 (37b): „Wieso vier Becher? [...] Unsere Meister lehren: Sie entsprechen den vier Unheilsbechern, welche der Heilige gelobt sei Er den Völkern der Welt zu trinken geben wird". Vgl. J.M. Rosenthal, The Cup of Elijah (hebr.), in: Ders., Mechqarim uMeqorot II, Jerusalem 1966, 645-651. 98 A. Margarita, Der gantz Juedisch Glaub, Leipzig 1531. 92

93

134

Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

enthalten, ausdrücklich werde Unheil über die ,Hauptstadt' der Christenheit und über deren ,Regierer' heraufbeschworen. Juden hofften, dass Elia in jener Nacht die Ankunft des Messias verkünden werde. Sie sprächen auch einen kurzen Gebetstext mit dem Titel schefoch (,gieß aus') und gleich danach öffneten sie die Tür für Elia. Bei dieser Gelegenheit verfluchten sie alle Völker, insbesondere die Christen, denn sie rechneten damit, dass der Messias ihre Rache an allen Völkern vollziehen werde. Margarita erwähnt noch den Brauch, eine Art ,Pessach-Spiel' zu veranstalten: Einer verkleidet sich als Prophet Elia und kommt zur geöffneten Tür herein. Dieser Brauch ist auch in späteren jüdischen Quellen b e l e g t . " Der messianische Aspekt der Rezitation von ,gieß aus deinen Grimm' wird in den illustrierten aschkenasischen Haggadot durch das Bild des Messias veranschaulicht, wie er auf dem Esel einherreitet, während Elia als sein Herold nebenhergeht. 1 0 0 Über die volkstümliche jüdische Auffassung vom Esel des Messias berichtet Antonius Margarita in einer kurzen Schrift, worin er den Esel des jüdischen Messias mit dem Esel vergleicht, auf dem Jesus am Palmsonntag nach Jerusalem eingezogen sein soll: Ja mir gedenckt / daß ich die nachvolgende lugen herezlich geglaubet / Belobet sey Got der heyllig geyst / der mich von solchem / und anderm jrthumb erloeset hat / Laut aber die lugen also / Wann der Moschiach kombt / werde er auff ainen Esel reyten / un werde alle Juden auf den Esel setzen. Aber alle Christen werden auf des Esels schwantz sitzen / un also werde der Moschiach mit allen durchs Moer reyten / und wann er in die mitten des Moers komen wirt / so werde der Esel den Schwa[n]tz niderlassen / und die Christen werden also in das Moers fallen und ertrincken / Ja das mues ain grosser Esel sein / Aber noch vil mer ein grosserer Esel der solchs glaubt! 1 0 1

Auch hier ist zu beobachten, wie die Rache an den Heiden das Herzstück des messianischen Geschehens bildet. Die volkstümliche Vorstellung, über die Margarita sich hier lustig macht, beruht auf dem Zusammenhang zwischen dem Auszug aus Ägypten und der endzeitlichen Erlösung. Das Bild vom Reittier des Messias, das die Nicht-Juden ins Meer stürzen lässt, ist inspiriert von der Spaltung des Schilfmeers, wobei die ägyptischen Verfolger ertranken. In der aschkenasischen Washington-Haggada von 1487 sind tatsächlich Personen dargestellt, offenbar Angehörige einer Familie, wie sie

" Sefer Josef Omez (s. o. Anm. 96), § 788, 172; R. Juspa Schammes im Wormser Minhagbuch (wie oben, Anm. 96). 100 J. Guttmann, When the Kingdom Comes. Messianic Themes in Medieval Jewish Art, in: A r t Journal 27 (1967-68), 1 7 3 - 1 7 5 ; ders., The Messiah at the Seder. A Fifteenth-Century Motif in Jewish Art, in: Raphael Mahler Jubilee Volume, Tel Aviv 1974, 2 9 - 3 8 . 101 A . Margarita, Ein kurzer Bericht und Anzaigung, Wien 1541, fol. IIV. Den Hinweis auf diese Veröffentlichung, die in der Forschung sonst nirgends erwähnt ist, verdanke ich meinem Freund Yacov Guggenheim.

. G i e ß aus deinen G r i m m ' zu Pessach

135

auf dem Esel des Messias sitzen (Abb. 1). 1 0 2 Hier wie in Margaritas Beschreibung dient der Esel als Transportmittel für die Heimführung der Israeliten aus dem Exil. Durch diese Schilderung bei Margarita scheint ein deutscher Holzschnitt aus dem 17.Jh. angeregt, auf dem der jüdische Messias auf einer Sau reitet, wobei er den Becher des Elia, den Becher der Erlösung, in der Hand hält (Abb. 2). Ein anderer Jude liegt unter der Sau und leckt ihr die Zitzen, ein zweiter den After. Elia, der das Widderhorn (Schofar) bläst, um die Ankunft des Messias zu verkünden, und Mose gehen hinterher. Hinter den beiden ist der Esel des Messias abgebildet, wie er durchs Meer zieht, die Juden auf seinem Rücken, die Nicht-Juden auf seinem Schwanz. Auffallend ist die Leiche eines Knaben auf dem Felsen (Golgatha); es handelt sich wohl um Simon von Trient, an dem die Juden 1475 einen Ritualmord begangen haben sollen. Diese Darstellung enthüllt die enge Beziehung zwischen der Rache-Erlösung und der Ritualmordlüge, von dem noch ausführlicher die Rede sein wird (s.u. Kap. IV). Aus diesem Bild wird deutlich, dass es sich bei dem Motiv der sog. Judensau, das seit dem 13.Jh. zu beobachten ist, um eine herabwürdigende Verzerrung des messianischen Esels handelt. 1 0 3 So wird verständlich, weshalb das Motiv der Judensau gerade in und um Deutschland so verbreitet war, nämlich im aschkenasischen Kulturbereich. Auch auf dem alten (1801 zerstörten) Frankfurter Brückenturm war beides nebeneinander abgebildet: der angebliche Ritualmord an Simon von Trient und die Judensau. Dort sitzt der Reiter verkehrt herum auf der Sau und hält ihren Schwanz in der Hand (Abb. 3). In einer nach der Renovierung 1678 angefertigten Beschreibung der Szene stellt sich der Reiter sozusagen vor: „Der Rabbi Schilo ich bin lang herumb geritten Uff dieser bürsen Sau [...]. Ihr Brüder kommt herbey [...]. Versammelt euch zu mir [...] denn es ist die hohe Zeit. Daß wir ins Heilig land Marchieren ohngescheut. Es möcht sonst unser Mord, den wir von längst erwiesen, an eines Gärbers Kind [= 1 0 2 F. Landsberger, The Washington Haggadah and Its Illuminator, in: H U C A 21 (1948), 77f; M . M e t z g e r , La Haggada enluminée, I, Leiden 1 9 7 3 , Pl. L V I Fig. 3 2 0 ( = 3 2 3 f ) . Faksimile: B. Narkiss, H e b r e w Illustrated Manuscripts (hebr.), Jerusalem 1992, Pl. 50, 1 6 7 (die christliche Dienerin hält sich am S c h w a n z fest). Zu Personen, die auf dem S c h w a n z des messianischen Esels sitzen s. auch T./M. Metzger, Jewish Life in the Middle Ages, N e w Y o r k 1982, 2 6 5 . Dieses M o t i v ist auch in der zweiten N ü r n b e r g e r Haggada zu sehen, die sich in Jerusalem in der S c h o c k e n - C o l l e c t i o n befindet. 103 I. Shachar, T h e Judensau - A Medieval A n t i - J e w i s h M o t i f and Its H i s t o r y , L o n d o n 1 9 7 4 , PI. 53 mit dem zugehörigen Text S. 60, w o die hier gebotene D e u t u n g nicht genügend beachtet ist. D e r Becher in der Hand des Messias kann s o w o h l f ü r den Becher des Elia stehen als auch f ü r den Becher, in dem die J u d e n das Blut des e r m o r d e t e n S i m o n aufgefangen haben sollen, eins schließt das andere nicht aus. F ü r sachkundige A u s k u n f t in dieser Sache danke ich Galit N o g a Banai v o n der A b t e i l u n g f ü r Kunstgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Z u m M o t i v der J u d e n s a u ' s. ferner Cl. Fabre-Vassus, The Singular Beast. J e w s , Christians and the Pig, N e w Y o r k 1 9 9 7 .

136

Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

Simon von Trient], kundt werden und verdriessen D i e G o y e n wiederumb, die T h a t d o r t z u T r i e n t G a r b r e c h e n H a l s u n d B e i n , u n d m a c h e n u n s ein E n d . " V o n d a h e r h a n d e l t es s i c h b e i d e r F i g u r d e s R e i t e r s z w e i f e l l o s u m d e n Messias.104 D e m n a c h g e h t das R i t u a l v o n , g i e ß aus d e i n e n G r i m m ' z u s a m m e n

mit

d e m V e r t r o p f e n des W e i n s bei d e r A u f z ä h l u n g d e r Z e h n P l a g e n u n d m i t d e r Auslegung,

worin

die

Quantität

der

den

Ägyptern

auferlegten

Qualen

hochgeschraubt wird. D u r c h solches B r a u c h t u m wird der Schwerpunkt der S e d e r n a c h t v o n d e r E r i n n e r u n g a n d e n . v e r g a n g e n e n ' A u s z u g aus Ä g y p t e n w e g a u f die in d e r Z u k u n f t e r h o f f t e E r l ö s u n g v e r l a g e r t . D a s T r a c h t e n d e r A l t e n w a r a u f die Z u k u n f t , a u f die e n d z e i t l i c h e E r l ö s u n g g e r i c h t e t , die n a c h d e m M u s t e r des E x o d u s verlaufen sollte. D i e s e messianische B e d e u t u n g des P e s s a c h - F e s t e s ist s e h r alt; sie liegt d e r c h r i s t l i c h e n U b e r l i e f e r u n g z u g r u n d e , die J e s u K r e u z i g u n g u n d A u f e r s t e h u n g g e r a d e m i t d e m F e s t d e r E r l ö sung zusammenbringt. In seinem Beitrag zur aschkenasischen und sephardischen

Messiaslehre

hat G . C o h e n g e m e i n t , u n t e r den a s c h k e n a s i s c h e n J u d e n habe sich im G e gensatz zu ihren sephardischen B r ü d e r n kein aktiver Messianismus

ent-

w i c k e l t . 1 0 5 D e r e n passive H a l t u n g g e g e n ü b e r d e m M e s s i a n i s m u s w e r t e t er

104 Shachar, ebd., PI. 41-45 mit Text S. 53. In einer anderen Ausgabe von 1563 wird die Gestalt des Reiters als ,der große Messias der Juden, der da kommen soll' bezeichnet, und von seinem Gefolge heißt es ,sie spucken auf unseren Herrn Christus und fluchen den Christen und deren Obrigkeit' (Shachar, 55). Das .Spucken' bezieht sich auf das Alenu-Gebet (s.u. Kap. IV), das Fluchen auf die Rezitierung von ,gieß aus deinen Grimm' in der Sedernacht oder auf die Verwünschung am Versöhnungstag. Das Fastnachtsspiel des Hans Folz ,Der Graf von Burgund' enthält eine Szene, wo die Juden die Ankunft des Messias verkünden. Der Graf berät mit seinen Rittern, wie die Juden für diesen Frevel zu bestrafen seien, und einer von ihnen empfiehlt, eine Sau zu holen, unter der die Juden liegen müssten, um an ihren Zitzen zu saugen, und „der Messias lig unter dem schwänz". Diese Szene ist die genaue Umkehrung des aschkenasischen Rituals von ,gieß aus deinen Grimm'; dazu A. von Keller, Fastnachtspiele aus dem 15.Jh., I, Stuttgart 1853 (Nachdruck 1965), 181. Vgl. auch E. Wenzel, Synagoga und Ecclesia. Zum Antijudaismus im deutschsprachigen Spiel des späten Mittelalters, in: H . O . Horch (Hg.), Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur, Tübingen 1988, 74 sowie Shachar, ebd., 41. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass auf diesen Darstellungen ein direkter Zusammenhang zwischen Christenverwünschungen und messianischen Hoffnungen der Juden und der Ritualmordbeschuldigung hergestellt wird. Der angebliche Ritualmord an Simon von Trient wird also dahingehend gedeutet, dass die Juden nach der Tötung des Knaben Simon beim Einsetzen der Erlösung ins Heilige Land auswandern würden. Daher fungiert die Judensau' als das Gegenstück zum ,Esel des Messias'. Zur Verspottung des jüdischen Messiasglaubens im ausgehenden Mittelalter s. B.Z. Degani, The German Passion Play of the 15th Century as a Method of Establishing a Negative Jewish Stereotype (hebr.), in: M. Stern (Hg.), Uma weToldoteha, I.Jerusalem 1983, 263-270. 105 Cohen, Messianic Postures (s.o. Anm. 1). Auf einen etwaigen Zusammenhang zwischen der Erlösungslehre der Chasside Ascbkenas und ihrer Martyrologie sowie ihrer Vorstellung von der Rache an den Nicht-Juden hat bereits J . Dan hingewiesen: The Problem of Kiddush Hashem in the Theoretical Teachings of Ashkenazi Hasidism (hebr.), in: Milchemet Qodescb tiMar-

Der Eindruck der Verfluchung auf die Christen

137

als Ausdruck eines religiösen Fundamentalismus, 1 0 6 der sich mit dem Wunsch nach Rache an den N i c h t - J u d e n begnügt habe. Allerdings geht die Darstellung der aschkenasischen Judenheit als jeglicher Feindseligkeit und Aggression gegenüber ihrer nicht-jüdischen U m w e l t abhold nicht zusammen mit dem Ritual der Verwünschung und dessen messianischer K o n n o t a tion. C o h e n s Folgerung ist wohl dadurch zustandegekommen, dass er messianische Vorstellungen in einer Literaturgattung gesucht hat, die im aschkenasischen Kulturbereich ohnehin schwach ausgeprägt ist. D o c h die aschkenasisch-messianischen Vorstellungen haben sich im Ritual, im religiösen A k t niedergeschlagen, in Verwünschung und Rezitierung liturgischer Texte. D e r Äußerung des Fluchs wird magische Wirkung zugeschrieben, demnach handelt es sich um einen A k t der Schädigung mit messianischer Ausrichtung, dessen Aggressivität und G r o b h e i t in der sephardischen J u denheit nicht ihresgleichen hat. Recht hat C o h e n dagegen mit seiner B e o b achtung zum nahezu völligen Fehlen von messianischen Bewegungen im aschkenasischen Kulturbereich. Das mag damit zusammenhängen, dass es die Verwünschungsrituale gab, durch deren magische Wirkung die messianischen Bewegungen überflüssig, vielleicht sogar gefährlich wurden, wie noch zu zeigen sein wird (s.u. Kap. V I ) .

6 Der Eindruck der Verfluchung auf die Christen Es ist eine schwierige Frage, wie weit Juden im Mittelalter auf die christliche öffentliche Meinung Rücksicht nahmen, bzw. o b der Freimut, mit dem sie Negatives über Christen und Christentum äußerten, ihnen nicht gefährlich werden konnte. A n anderer Stelle habe ich gezeigt, wie die Mainzer J u d e n bei einem öffentlichen Fasten anlässlich der Hussiten-Kriege im Jahre 1421 sich sehr wohl davor hüteten, die Aufmerksamkeit ihrer christlichen U m welt auf sich zu l e n k e n . 1 0 7 Was für einen Eindruck hinterließen die Verwünschungen bei den Christen?

tyrologia beToldot Israel uveToldot ha Arnim, Jerusalem 1968, 121-129. Vgl. P. Schäfer, The Ideal of Piety of the Ashkenazi Hassidism and Its Roots in Jewish Tradition, in: Jewish History 4/2 (1990), 15f. lot Wörtlich schreibt er: „Active messianism or quiescence must have derived from sources other than political or economic. If Franco-German Jewry produced neither a messianic pretender nor a messianic literature, it must be because quiescence and passivity had somehow so permeated the whole mentality of that community as virtually to eliminate such aggressive behaviour" (ebd., 29). 107 Dazu I.J. Yuval, Juden, Hussiten und Deutsche; nach einer hebräischen Chronik, in: A. Haverkamp/F.J Ziwes (Hg.), Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992 ( Z f H F 13), 5 9 - 1 0 2 . Von R. Israel Isserlein berichtet einer seiner Schüler, J o seph b. Mose: „Ich erinnere mich, mehrmals von ihm gehört zu haben, er habe die Episode von

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Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

So weit wir sehen, war der Eindruck ein starker und sehr negativer. Vom 12. Jh. an, insbesondere bei Petrus Venerabiiis, zeichnet sich die Tendenz ab, die Juden als Menschenhasser ( o d i u m humani generis) und M ö r d e r darzustellen. 1 0 8 Bereits in einer hebräischen Chronik über die Verfolgungen

der Wiener Verfolgung seinen älteren Schülern erzählt, und zwar meistens am 9. Av, und der Kundige wird's verstehen" (LeqetJoscher,]. Freimann [Hg.], I, Berlin 1923, 112). Am Vorabend des Versöhnungstags pflegten Juden auf den Friedhof zu gehen, doch Isserlein habe Anweisung gegeben, dass nur Einzelne dorthin gehen sollten und nicht die ganze Gemeinde, um nicht den Argwohn der Nicht-Juden zu erregen (ebd., 115). In einer Purim-Predigt verweist Isserlein auf einen Zusammenhang zwischen Lev 1,1 (und er sprach zu Mose - wajiqra el Mosche) und der öffentlichen Verlesung der Esther-Rolle: „Und er sprach zu Mose - d. h. man liest zusätzlich zu Mose, denn die Vertauschung der Präpositionen el (zu) und al (zusätzlich zu) kommt biblisch vor. Keiner von den Propheten hat es gewagt, etwas zu Mose hinzuzutun, außer der Verlesung der Esther-Rolle; daher ist der Buchstabe Alef der Vokabel wajiqra (und er sprach/las) kleiner, denn das Wunder geschah durch eine Frau, deshalb steht dort wajiqer geschrieben. Doch ich will dazu nichts Weiteres ausführen, und der Kundige wird's verstehen" (ebd., 155). Diese rätselhaften Ausführungen beziehen sich anscheinend auf eine volkstümliche christliche Schriftauslegung, wonach das fehlende (bzw. kleinere) Alef in der Verbform wajiqra Lev 1,1 ein Hinweis auf Jesus sei, denn der Zahlenwert der Buchstaben der verbleibenden Wortform wajiqer entspricht dem des Namens Jesus'. Nach dieser Erklärung fände sich in der biblischen Schreibung von Lev 1,1 eine Andeutung auf das Neue Testament; dort wäre ausgesagt, dass Jesu Lehre ein Zusatz zur mosaischen sei. Erstaunlicherweise wies Isserlein diese Deutung nicht völlig von der Hand. Er übernahm die Austauschbarkeit der Präposition, ging also davon aus, dass in diesem Vers ein Zusatz zur Tora des Mose intendiert sei, nur meinte er, es sei die Esther-Rolle (und nicht das Neue Testament). Damit folgt er einer talmudischen Äußerung (b Schabbat 88a), wonach jene Generation die Lehre in den Tagen des Ahasver erhalten habe. Demnach entnahmen beide Seiten aus der Schreibung von Lev 1,1 (wajiqra el Mosche) einen Zusatz zur Lehre des Mose, die Christen verstanden darunter das Neue Testament und Isserlein die Esther-Rolle. Der Text bis dahin wäre eine Schriftauslegung zwecks Widerlegung einer nicht explizit gemachten christlichen Deutung, wie wir sie kennen; doch was bedeuten die Worte des Schülers am Ende seiner Ausführungen, was wollte er hier geheimhalten? Möglicherweise hatte Isserlein den nur angedeuteten Gedanken, die Esther-Rolle bilde eine Erwiderung auf Jesus', noch weiter ausgeführt Zuvor hatte er in Lev 1,1 sogar einen Hinweis auf Dtn 25,17-19 gefunden, wo die Auslöschung Amaleks gefordert wird. Mit anderen Worten: Die Auslöschung Amaleks und die Hinrichtung des bösen Haman am Galgen waren für Isserlein eine Bestätigung für die Vernichtung des Christentums. Solche Vorstellungen entwickelte er im engeren Kreis seiner Schüler, doch der Schüler bringt sie lieber nicht zu Papier. 108 A. Funkenstein, Basic Types of Christian Anti-Jewish Polemics in the Later Middle Ages, in: Viator 2 (1971), 380; A. Patschovsky, Der „Talmudjude": Vom mittelalterlichen Ursprung eines neuzeitlichen Themas, in: A. Haverkamp/F.J Ziwes (Hg.), Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992, 25; A. Sapir Abulafia, Christians and Jews in the Twelfth-Century Renaissance, London/ New York 1995. J. Cohen, The Jews as the Killers of Christ in the Latin Tradition from Augustine to the Friars, in: Traditio 39 (1983), 1-27, setzt den erheblichen Rückgang der kirchlichen Bereitschaft, die Existenzberechtigung der Juden anzuerkennen, erst im 13. Jh. an, doch auch er nimmt Anzeichen dafür bereits im 12. Jh. wahr, etwa im Uberhandnehmen der Vorstellung, dass die Juden Jesus getötet hätten, obwohl sie ihn als Messias erkannten, wohingegen Augustinus noch die Meinung vertreten hatte, die Juden hätten Jesus getötet, weil sie ihn nicht als Messias erkannt hätten. Der Unterschied zwischen den beiden Jh. ist nicht nur quantitativ fassbar, sondern auch von der Verbrei-

Der Eindruck der Verfluchung auf die Christen

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während des Ersten Kreuzzugs ist berichtet, wie ein Mainzer Jude den Christen vor seinem Tod ins Gesicht schleudert: „zur Hölle seid ihr verdammt samt eurem Gott, in siedendem Kot" - was auf eine talmudische Äußerung Bezug nimmt, wonach Jesus nach seinem Tod in siedendem Kot schmachte (b Gittin 57a). 1 0 9 Es ist doch wohl anzunehmen, dass einiges von den antichristlichen Äußerungen aus dem Munde von Juden Christen zu Ohren gekommen war, bevor christliche Gelehrte daran gingen, den Ursprung solcher Äußerungen in jüdischen Schriften zu suchen. In den folgenden Kapiteln werden wir weitere Fälle beobachten, die eine recht enge Vertrautheit der beiden Religionen mit der jeweiligen Gegenseite bezeugen. Auf diesem Hintergrund sind die Vorwürfe zu sehen, die im Pariser Talmud-Prozess (1240) gegen die Juden erhoben wurden; dort ging es um die jüdische Redensart, der Beste unter den Nicht-Juden sei zu töten (Näheres dazu s.u. VI, Anm.73), sowie um die Ketzerbitte im Achtzehngebet. Ausdrückliche Bezugnahmen auf die Verwünschung der Christen am Versöhnungstag finden sich in der christlichen Literatur von der Pariser Disputation an. Sie stützen sich auf lateinische Ubersetzungen jener liturgischen Texte, von denen die früheste aus dem Jahre 1248 stammt. Verbreitet waren solche Übersetzungen in Frankreich und Spanien; die Originaltexte waren zwar aschkenasischer Herkunft, aber auf dem Weg der Propaganda waren sie über den deutschen Kulturbereich hinausgelangt. 110 Innerhalb des deutschen Reiches findet sich die erste Erwähnung jener Fluchformeln von christlicher Seite in der Disputation, die 1399 zwischen dem Apostaten Peter und R. Jomtov Lipman Mühlhausen stattfand. Dort erhob der getaufte Jude den Vorwurf, dass Juden an ihrem .großen Fasten' (d.i. am Versöhnungstag) schreckliche Dinge über die Christen sagten. 111 Auch der Rabbi-

tung der antijüdischen Vorstellungen her: vom 11. Jh. an und über das ganze 12. Jh. hin herrschten antijüdische Vorurteile in erster Linie bei der Masse des Volkes, und erst im 13.Jh. finden sie sich auch bei Theologen und in kirchlichen Institutionen belegt. >°» Haverkamp (Hg.), Hebräische Berichte (s.o. Anm.42), 35 (592); b Gittin 57a. 110 Merchavia, Shamta (s.o. Anm. 83). Der Verdacht, dass die Juden dem Regenten fluchten, taucht bereits im 12.Jh. in Nordfrankreich auf, und zwar als Grundlage der Religionsverfolgung von Blois: „Der Regent sprach zu Joseph haCohen: Mir ist zu Ohren gekommen, dass die Juden mir fluchen, was der Jude dementierte" (Haberman, Geserot, 146). Von den dortigen jüdischen Opfern ist außerdem berichtet, dass sie noch auf dem Scheiterhaufen laut vor den christlichen Zuschauern das Alenu -Gebet rezitiert hätten (ebd., 143). 111 Sefer haNtzzachon leR. Jomtov Lipman Mühlhausen, eingeleitet von E.F. Talmage, Jerusalem 1984 (Faksimile der Ausgabe von T. Hackspan, Altdorf-Nürnberg 1644), 193f. Behandelt habe ich diese Disputation in meinem Beitrag Kabbalisten, Ketzer und Polemiker: Das kulturelle Umfeld des Sefer ha-Nizachon von Lipman Mühlhausen, in: K.E. Grözinger (Hg.), Mysticism, Magic and Kabbalah in Ashkenazi Judaism, Berlin/New York 1995, 155-171. Dort habe ich die Meinung vertreten, in dieser Disputation, die mit Einkerkerung der Juden einsetzte und mit der Exekution von 80 Juden endete, sei die Tendenz zu beobachten, das Judentum als Ketzertum zu behandeln. Demnach wäre diese Disputation in der Art eines Inquisitionsprozesses

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Feindschaft gegenüber dem Christentum in Aschkenasim

ner von Savoyen, R. Samson, der 1417 von der Inquisition verhaftet und über den Inhalt des talmudischen Schrifttums befragt wurde, soll zu P r o tokoll gegeben haben, es treffe zu, dass Juden am Versöhnungstag die Christen verwünschten. 1 1 2 Auch der Apostat Victor von Karben im frühen 16.Jh. verweist auf die Christenfeindlichkeit dieser liturgischen Dichtung"3 In der zweiten Hälfte des 15.Jh. schrieb Hans F o l z ein Fastnachtsspiel mit dem Titel ,Kaiser Constantinus', worin der Christ folgendes gegen den Juden vorbringt: „Wann hett ir uns in euerm gewalt, als ir in unser seit gezalt, kein Crist erlebet jares frist". 1 1 4 Vielleicht sind diese Äußerungen

geführt worden. Bei neuerlicher Überprüfung des Materials im Zuge der vorliegenden Arbeit ist mir diese Episode einsichtiger geworden. Die Argumente des Apostaten Peter gegen die Juden sind folgende: a) Im Alenu -Gebet werde Gott darum gebeten, Idole von der Erde verschwinden zu lassen und die Götzen zu vertilgen; b) mit .allen Ketzern, die augenblicklich zugrundegehen' sollten, seien christliche Geistliche gemeint; c) In der liturgischen Dichtung wider die .entsetzlichen Völker' am Versöhnungstag würden die Christen verwünscht; d) Die Juden verwendeten Schimpfwörter wie ,der Gehängte' für Jesus und .unreines' oder .besudeltes Brot' für die Hostie; e) Absonderung und Verbrennung der Teighebe (Challa) seien mit Verunglimpfung des Christentums verbunden. Was hier vorliegt, sind zweierlei Vorwürfe: In den drei ersten werden die Juden beschuldigt, sie trachteten nach Vernichtung des Christentums, die beiden letzten bezichtigen die Juden des Hostienfrevels. Beides hing miteinander zusammen, was unten (Kap. V) näher erläutert werden soll. Demnach scheint der Vorwurf des Hostienfrevels der Ausgangspunkt gewesen zu sein. Wie in solchen Fällen üblich, wurden die Juden bis zur juristischen Klärung der Angelegenheit zunächst einmal inhaftiert. Die Juden dürften zu ihrer Verteidigung angeführt haben, dass es in ihrer Religion keinen Anhaltspunkt für diese Beschuldigung gebe. Demgegenüber suchte der Apostat die Behauptung zu erhärten, dass das Judentum der Entweihung der Hostie tatsächlich große Bedeutung beilege und zwar im Zuge der messianischen Erwartung, den Untergang des Christentums mitzuerleben. Darauf hatte der Rabbiner zu erwidern, und da seine Antwort offenbar nicht zu überzeugen vermochte, wurden nach Abschluss der Untersuchungen die gefangenen Juden hingerichtet. Diese Episode entspricht bis in Einzelheiten der österreichischen Verfolgung von 1420-1421. Auch dort wurden die Juden für zehn Monate ins Gefängnis geworfen, nach deren Ablauf etliche von ihnen getötet wurden. Dafür werden in zeitgenössischen Quellen zwei Begründungen gegeben: zum einen der angebliche in Enns begangene Hostienfrevel, zum anderen Kolloboration mit den Hussiten. Seinerzeit hatte ich das zweite Argument für das erheblichere gehalten, doch inzwischen bin ich zu dem Schluss gelangt, dass beide gleich wichtig gewesen sein dürften, denn der Vorwurf der Hostienschändung ging mit etwaigen jüdischen Aspirationen, mit den Feinden der christlichen Obrigkeit gemeinsame Sache zu machen, durchaus zusammen. Beide Behauptungen werfen den Juden vor, sie wünschten den Untergang des Christentums und arbeiteten darauf hin. Vgl. dazu die oben, Anm. 107, angeführte Stelle aus Leqet Joscher. 112 Die lateinischen Protokolle dieses Inquisitionsprozesses sind veröffentlicht bei Ch. Merchavia, A Spanish Latin MS Concerning the Opposition to the Talmud at the Beginning of the 15th Century (hebr.), in: Kirjat Sefer 45 (1970), 597, § 20 f. 113 Victor von Karben,Juden Buchlein, 1550,1, Kap. XVI. 114 von Keller, Fastnachtspiele (s.o. Anm. 104), 804. Dazu ferner: D. Kurze, Häresie und Minderheit im Mittelalter, in: Historische Zeitschrift 229 (1979), 551. E. Wenzel, „Do worden die Judden alle geschant". Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992, 228 f. Ähnliche Vorwürfe wurden auch auf christliche Ketzer bezogen. Nach dem

Abb. 1: Der Esel des Messias - jüdische Version (gemalt von Joel b. Simon, Florenz 1478) Auf dem Esel sitzt eine jüdische Familie, die nicht-jüdische Dienerin hält sich am Schwanz fest; das Blatt trägt den Text „Gieß aus deinen Grimm". Aus einer Pessach-Haggada in der Library of Congress, Washington.

A b b . 3: Die „Judensau" am F r a n k furter Brückenturm, Abbildung aus: J o h a n n A n d r e a s E i s e n m e n g e r , »Mrs* M r n g f a f îuiJWtûrf am Hanàpm BfKww « f i l *

Entdecktes Judenthum, F r a n k f u r t 1700.

A b b . 4: V e r n i c h t u n g einer H o s t i e in Kessel mit k o c h e n d e m Wasser, 1 4 . J a h r h u n d e r t . Katatonisches N a t i o n a l m u s e u m , Barcelona.

Abb. 5: Koschern von Geschirr für Pessach in Kessel mit kochendem Wasser, Spanien, Mitte 14.Jahrhundert. H a n d schrift im British M u seum, Or. 2737.

Abb. 6: Santa Julita wird samt ihrem Sohn Sant Q u i r z e in einen Kessel mit kochendem Wasser geworfen; ihr M a r t y r i u m soll während der Religonsverfolgung des Diocletian im 4. Jahrhundert in Tarsus stattgefunden haben. Altarbild aus dem Kloster D u r r o bei Lerida, 12.Jahrhundert. Katalonisches N a t i o n a l m u seum, Barcelona.

D e r Eindruck der Verfluchung auf die C h r i s t e n

145

christliche Apologetik in Bezug auf die schlechte Behandlung der Juden, aber indirekt geht doch auch daraus hervor, dass die jüdischen Gelüste, den Untergang des Christentums mitanzusehen, der christlichen Öffentlichkeit nicht verborgen geblieben waren. 1 1 5 Die jüdischen Rachewünsche hatten erhebliche Auswirkungen auf die jüdisch-christlichen Beziehungen; dies trifft insbesondere auf die Ritualmordbeschuldigung zu, der ich mich im nächsten Kapitel zuwenden will. In den Protokollen des Ritualmordprozesses zu Trient findet sich immer wieder das Bekenntnis von Juden, dass ihre Gebete zu Pessach tatsächlich um Rache flehten und Verwünschungen der Heiden enthielten. 1 1 6 Zwei solche Fälle sind für uns nachvollziehbar: Z u m einen bei der Aufzählung der zehn Plagen, wo die H o f f n u n g genährt wird, dass die christliche Obrigkeit bei der endzeitlichen Erlösung ebenso hart gestraft werden würde wie Pharao beim Exodus; zum anderen bei der Rezitation von ,gieß aus deinen Grimm'. Die Betrachtung des jüdischen Pessach in seinem messianischen Kontext, wobei jüdische Gebete von blutiger Rache an den Christen handeln, vermag einen Hinweis auf den mutmaßlichen Ursprung der Ritualmordlüge zu geben, doch dazu im folgenden Kapitel.

Passauer A n o n y m u s soll ein O b e r h a u p t der K e t z e r vor seiner H i n r i c h t u n g gesagt haben: „Mit Recht verurteilt ihr uns z u m Tode, denn wären wir nicht in der Minderheit, würden wir mit eben der Gewalt, mit der ihr jetzt uns umbringt, Geistliche, M ö n c h e und Säkulare u m b r i n g e n " ; d a z u A . P a t s c h o v s k y / K . V . Selge ( H g . ) , Q u e l l e n zur G e s c h i c h t e der Waldenser, G ü t e r s l o h 1973, 72. 1 1 5 Z u r vorherrschenden S t i m m u n g im 16.Jh. s. H . A . O b e r m a n , T h e R o o t s of Anti-Semitism in the A g e of Renaissance and R e f o r m a t i o n , Philadelphia 1984, 94—100. Weiteres zu den jüdischen F l ü c h e n wider die C h r i s t e n bei H a n s F o l z s. bei D e g a n i , P a s s i o n Play ( s . o . A n m . 104), 277. 1 1 6 R. P o - C h i a H s i a , T r e n t 1475: Stories of a Ritual M u r d e r Trial, N e w Häven/London 1992, 44 f., 63. D i e s e s Interesse am Ritual der Sedernacht beweist, dass die R i t u a l m o r d b e s c h u l d i g u n g nicht ausschließlich an O s t e r n u n d die K r e u z i g u n g J e s u g e b u n d e n war, wie gemeinhin a n g e n o m m e n wird; d a z u C . R o t h , T h e Medieval C o n c e p t i o n of the J e w , in: I. D a v i d s o n ( H g . ) , E s s a y s and Studies in M e m o r y of L.R. Miller, N e w York 1938, 1 7 1 - 1 9 0 ; M . J . Wenninger, D a s gefährliche F e s t : O s t e r n als zeitlicher Kristallisationspunkt antijüdischen Verhaltens, in: D . Alt e n b u r g u.a. ( H g ) , F e s t und Feiern im Mittelalter, Sigmaringen 1991, 3 2 3 - 3 3 2 . D e r christliche A r g w o h n d ü r f t e auch durch den Inhalt der jüdischen P e s s a c h - F e i e r und die messianischen Rac h e - H o f f n u n g e n der J u d e n geschürt w o r d e n sein.

IV Die Narrative überkreuzen sich: Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

1 Das

Blut

Im vorangehenden Kapitel habe ich die messianische Funktion des Bluts der Ermordeten herausgearbeitet: Gottes Purpurgewand ist mit diesem Blut befleckt; die Blutstropfen dienen nicht nur zur Belastung der Völker beim Jüngsten Gericht, sondern auch als treibende Kraft, um Gottes Zorn und Rachewillen herauszufordern. Diese D e u t u n g begleitet den Tod der Märtyrer von 1096 sowohl in den liturgischen Dichtungen als auch in den hebräischen Chroniken. In dem bereits oben angeführten Gedicht von David b. Meschullam heißt es anschaulich: „vor deinen Augen soll es ewiglich sprudeln", 1 d.h. das Blut der Getöteten soll vor G o t t an das ihnen Angetane erinnern, auf dass die Feinde der Juden ihrer Strafe nicht entgehen. Dieser Gedanke ist im Sefer Chassidim so ausgedrückt: „Wenn in einem Hause Juden den Märtyrertod gestorben sind und das Blut auf die Wand und die Steine gespritzt ist und der Besitzer will das Haus neu verputzen lassen - das Blut soll er nicht übermalen lassen [...]. Solange das Blut nicht verdeckt ist, wird der Heilige gelobt sei Er Rache üben, wenn es aber verdeckt ist, übt er so schnell keine Rache". 2 Demnach wurde der Vers H i 16,18 „Erde, bedecke nicht ihr Blut" im aschkenasischen Kulturbereich wörtlich verstanden. In dem um 1400 in Regensburg verfassten Buch Hadrat Kodesch findet sich ein privates Gebet, worin der Verfasser G o t t bittet, die Erlösung zu beschleunigen: „eifere um deinen großen Namen, übe Rache vor unseren Augen für deine Lehre, Rache für das Blut deiner Knechte, das zur Heiligung deines Namens vergossen". 3 Daraus geht hervor, dass G o t t zur Endzeit in erster Linie das Blut der Märtyrer rächen soll. Wie die Erwähnung dessen, was Amalek in der Vergangenheit getan, seine 1 A.M. H a b e r m a n (Hg.), Geserot Aschkenas we-Zarfat, Jerusalem 1971, 70; E.D. G o l d schmidt, Machsor lejamim noraim II: Jörn Kippur, Jerusalem 1970, 539. 2 Sefer Chassidim, MS Parma, J. Vistinetzky/J. Freimann (Hg.), F r a n k f u r t / M . 1924, § 1533 (Zitat aus Sefer haKavod); s. auch ebd., § 1534. Auf diesem H i n t e r g r u n d ist wohl auch der in den Responsen von R. J a k o b Molin (gen. MaHaRIL) bezeugte Brauch zu verstehen, E r m o r d e t e in ihren Kleidern zu begraben, um den göttlichen G r i m m u m s o sicherer auf ihre M ö r d e r zu lenken (Teschuvot MaHaRIL, Y. Satz (Hg.), Jerusalem 1980, § 65, 83). 3 MS M o s k a u - G i n z b u r g 482, fol.25a. In der Druckausgabe des Buches steht dieser Text nicht.

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Bestrafung in der Zukunft garantieren sollte, so dient auch die Erinnerung an das vergossene Blut der Märtyrer dazu, den göttlichen Racheakt herauszufordern. Ein Unterschied besteht darin, dass das Gebot des Gedenkens an Amalek sowie die daraus resultierende Rache die Sache von Menschen ist, bei den Märtyrern dagegen sind Gedenken und Rache Sache Gottes. Das ist der Inhalt des berühmten Gebets .Vater des Erbarmens', das im sabbatlichen Gottesdienst rezitiert wird, bevor man die Tora-Rolle in den Schrein zurückbringt. Dieses Gebet besteht aus zwei Teilen: Im ersten wird Gott darum gebeten, der Märtyrer um seines heiligen Namens willen zu gedenken; der zweite Teil macht deutlich, wozu dieses göttliche Gedenken führen soll: Gott soll „Rache üben vor unseren Augen für das vergossene Blut seiner Knechte". Auch die Litanei .unser Vater, unser König', die zur Liturgie der zehn Bußtage von Neujahr bis Versöhnungstag gehört, enthält eine Bitte wie „Räche vor unseren Augen das vergossene Blut deiner Knechte". Der Zusatz .vor unseren Augen' (der nicht in allen Ritus steht) geht auf die enge Beziehung zwischen Blutrache und Erlösung zurück: Die Erlösung soll bald, ,in unseren Tagen' eintreten. Der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem Gedenken und der künftigen Rache beschränkt sich nicht auf die Erinnerung an das Geschehene, sondern umfasst auch die namentliche Nennung der Getöteten. Dieses Anliegen, der Toten zu gedenken und ihre Namen zwecks Rache zu erwähnen, erklärt das Aufkommen von .Memorbüchern' in der aschkenasischen Judenheit. Das Nürnberger Memorbuch, mit dessen Niederschrift im ausgehenden 13.Jh. begonnen wurde, enthält zweierlei Listen: zum einen die Namen der bei Verfolgungen Umgekommenen seit 1096, zum anderen die Namen der Verstorbenen und Spenden zu deren Verewigung. 4 Das Zustandekommen der zweiten Liste ist ohne weiteres einsichtig; der Gemeindeschreiber hat jeweils die Namen der Verstorbenen ins Gemeindebuch eingetragen. Aber worauf basiert die erste Liste? Wie hatte die jüdische Gemeinde in Nürnberg die Namen der 941 Juden erfahren, die bei den Rintfleisch-Unruhen in Würzburg umgekommen waren, oder die Namen der 470 Rothenburger Opfer beim selben Anlass? Die Verzeichnisse der Getöteten im Memorbuch beruhen höchstwahrscheinlich auf den Listen der zahlenden Mitglieder der einzelnen Gemeinden. Nach dem Pogrom wurde diese Liste zur Hand genommen und abgehakt, wer noch am Leben war und wer nicht. Diese Aufzeichnungen wurden abgeschrieben und von einer Gemeinde zur andern geschickt, und so wurden die Namen der Getöteten in der jüdischen Öffentlichkeit bekannt. So wird verständlich, weshalb die 4 D e r erste Teil veröffentlicht bei S. Salfeld, Das Martyrologium des Nürnberger M e m o r buches, Berlin 1898; der zweite Teil ist ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht bei M. Stern, Die israelitische Bevölkerung der deutschen Städte I I I : Nürnberg im Mittelalter, Kiel 1984-1896, 95-172.190-205.

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Vom M ä r t y r e r t o d zur R i t u a l m o r d l ü g e

Aufzählung der Getöteten familienweise erfolgt und warum keine auswärtigen J u d e n darin vorkommen, die sich gastweise in der betreffenden G e meinde aufhielten. D a s wäre auch eine Erklärung für die Nicht-Erwähnung von Kindern, obwohl in B e z u g auf das Totengedenken kein Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen bestehen sollte. Bedeutsam ist das Ritual des Totengedenkens (wobei der hebräische Terminus Haskarat Neschamot ein kausatives Element enthält) nicht so sehr für die erinnernden Uberlebenden als vielmehr für G o t t , dem die Toten in Erinnerung gerufen werden sollen, wie auch im Wortlaut des Gebets zum Ausdruck k o m m t : „ G o t t möge gedenken"; und im M e m o r b u c h heißt es: „ganz Israel ist verpflichtet, sie in Erinnerung zu bringen". 5 U n d wenn G o t t sich der Getöteten erinnert, wird er ihren Tod rächen, wie im Gebet ,Vater des Erbarmens' ausdrücklich gesagt: „ G o t t gedenke ihrer zum Guten samt den übrigen Gerechten der Welt und räche in unseren Tagen das vergossene Blut seiner Knechte". U n d ein Mann, der den Großteil seiner Angehörigen in den Rintfleisch-Ausschreitungen von 1299 verloren hatte, fügt folgende Bemerkung hinzu: „Ich schreibe zum steten Gedenken vor dem Ewigen, Rache zu nehmen für die Israeliten". 6 Die Etablierung der namentlichen Aufzeichnung von U m g e k o m m e n e n lässt erkennen, wie tief der Rachegedanke ins rituelle Bewusstein der aschkenasischen J u d e n im Mittelalter eingedrungen war. Ein weiterer Beleg dafür ist die Formel „ G o t t möge sein Blut rächen", die dem N a m e n eines durch Nicht-Juden Getöteten hinzugefügt wird. Soweit mir bekannt, ist diese Formel im Hochmittelalter in Gebrauch gekommen und war nur in der aschkenasischen Judenheit verbreitet. D e r Zusammenhang zwischen der namentlichen Erwähnung der Getöteten und der Erlösung erhellt auch aus den Schlussbemerkungen zum Koblenzer Memorbuch: „ D u r c h das Verdienst dieser Märtyrer mögen wir der Rettung und des Trostes teilhaftig werden; er m ö g e unsere Verstreuten einsammeln mit vielen H ä n d e n " . 7 Wie im vorigen Kapitel beobachtet, bildet die Rache einen wesentlichen Bestandteil des Erlösungsgeschehens, ein zentrales Element der theologischen Vorstellung, die in der Rache den eigentlichen Vollzug der göttlichen Gerechtigkeit erblickt. Durch den Racheakt wird Blutschuld gesühnt, von daher handelt es sich um den schwerwiegendsten Fall von Rache, nämlich

5 6

Sülfeld, ebd., 81. M S Wien, H e b . 16.

7 Salfeld, ebd., X X X I I . Bekanntlich schreibt auch G o t t selbst die N a m e n der jüdischen Märtyrer in sein P u r p u r g e w a n d ein ( s . o . K a p . III). In diesem Z u s a m m e n h a n g ist bemerkenswert, dass R. E p h r a i m v o n B o n n seine C h r o n i k als . G e d e n k b u c h ' bezeichnet, w o z u er im Vorwort erläutert: „ d a r u m dass er uns erhalten z u m G e d e n k e n / m ö g e er in seinem E r b a r m e n unsere Rache vollziehen baldigst", d . h . er stellt einen Z u s a m m e n h a n g her zwischen Rache und G e d e n ken.

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Blutrache. D e m n a c h wird das Jüngste Gericht nach aschkenasischer Vorstellung von einem weltweiten Blutvergießen begleitet sein. D a G o t t gegenüber vergossenem Blut von J u d e n nicht gleichgültig ist, sind die auf dem A l tar des Glaubens Geopferten nicht vergeblich gefallen, denn vielleicht sind sie diejenigen, durch deren Tod G o t t sich bewegen lässt, seine Passivität aufzugeben und das Erlösungswerk in Gang zu setzen. J e d e r Blutstropfen jedes einzelnen jüdischen O p f e r s geht in das M a ß von Blut ein, das G o t t zum Handeln veranlassen wird, sobald es voll genug ist. U b e r zwei von den Märtyrern sagt der C h r o n i s t ausdrücklich, sie seien „eingegangen in sein Schatzhaus, bis zum Termin, da das vergossene Blut seiner Knechte heimgesucht wird". 8 D i e Vorstellung war also die, dass die Seelen der jüdischen Märtyrer im göttlichen Schatzhaus aufbewahrt werden und darauf warten, gerächt zu werden, was im Zuge der Erlösung geschehen soll. Damit sind wir bei der komplexen Verbindung von messianischer Rache und Märtyrerbewusstein angelangt, wie sie in den hebräischen C h r o n i k e n über die Verfolgungen von 1096 zum Ausdruck k o m m t . D i e literarisch ausgeprägtesten Berichte darin handeln von Juden, die sich und/oder ihre A n gehörigen getötet haben, nicht von solchen, die von den Kreuzfahrern umgebracht wurden. 9 D i e besondere Hervorhebung der Selbsttötung oder auch der T ö t u n g von Angehörigen erhebt diese Taten in den Rang einer Opferhandlung. Was hier vorliegt, sind nicht einfach Fälle von T ö t u n g , sondern sie werden in einem symbolisch geladenen Rahmen vollzogen, wodurch sie rituellen Charakter erhalten. In der F o r s c h u n g ist viel auf die Ubereinstimmungen zwischen dem Tun der jüdischen Märtyrer und der christlichen Martyrologie hingewiesen worden, geradezu als hätten die jüdischen Märtyrer die christlichen übertrumpfen wollen. 1 0 Ähnlichkeiten sind unleugbar vorhanden, aber dabei darf ein grundsätzlicher Unterschied nicht übersehen werden: D i e christliche Martyrologie sieht weder Selbsttötung noch T ö t u n g von anderen v o r . " Wie für die jüdische Halacha ist auch in

8 Haberman, Geserot (s.o. Anm. 1), 42; deutsch und hebräisch bei E. Haverkamp (Hg.), Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während des Ersten Kreuzzuges, Hannover 2005, 47 (580). Ähnlich in einem Piut des R. Ephraim von Bonn, s. A.M. Haberman (Hg.), Sefer Sechira: Selichot weQinnot leRabbi Ephraim b. R. Jakob, Jerusalem 1970, 98. Nach der Affäre von Blois (1171) richteten die Juden von Troyes ein Schreiben an die jüdischen Gemeinden in Deutschland, sie möchten sich einem öfffentlichen Fasten anschließen, das in der französischen Judenheit angesetzt worden war: „Vielleicht wird der Fels [d. i. G o t t ] eure Stimme hören und mit uns gemäß all seinen Wundern tun, öffentlich kundzutun, dass es um des Bluts der Frommen willen geschieht. Doch diese Sache streicht aus meinem Schreiben, damit Konvertiten und Denunzianten es nicht sehen" (Haberman, Geserot, 146).

' So beobachtet von S. Eidelberg, The Solomon Bar Simson Chronicle as a Source of the History of the First Crusade, in: J Q R 49 (1958-59), 2 8 2 - 2 8 7 ; Eidelberg meint, der Chronist habe dadurch die Bereitschaft zum Martyrium verstärken wollen. 10 S. dazu unten, Anm. 55. 11 Fälle von freiwilligem Märtyrertod, d.h. von Christen, die den Tod von römischer Hand

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christlichen Augen die Bereitschaft des Gläubigen, an seiner Religion festzuhalten, und sollte es ihn das Leben kosten, die höchste religiöse Pflicht, aber er soll dafür weder sich noch seine Angehörigen töten. Taten, wie sie von den jüdischen Märtyrern des Jahres 1096 berichtet werden, haben in der christlichen Uberlieferung nicht ihresgleichen, und auch die jüdische Halacha kennt kein Blutritual dieser Art. Ein Verständnis der diesem Blutritual zugrundeliegenden Ideologie ist nur über die Verbindung zur messianischen Rache zu erzielen. Dieser Rachevorstellung zufolge gelangt das vergossene Blut der Getöteten bis vor den göttlichen Thron und vermag Gott zum Rachefeldzug, zum Auszug in den Heiligen Krieg, aufzurufen. Insofern sind die Märtyrer Soldaten in Gottes Heer, gefallen im kosmischen Kampf zwischen den Engelfürsten von Edom und Jakob. Ihr Tod war nicht umsonst, denn ihr Opfer vergrößert die Aussicht, den göttlichen Grimm zum Ausbruch zu bringen und die Erlösung zu beschleunigen. Aus dieser Vorstellung, dass der Tod der Märtyrer zur endzeitlichen Erlösung beitrage, gewinnen viele Berichte der Chroniken von 1096 ihren Sinn. Diese Auffassung bezieht ihre Inspiration nicht nur aus dem Bereich der Martyrologie, sondern sozusagen auch aus der Messianologie. Mit Recht hat Abraham Grossman darauf hingewiesen, dass die aschkenasische Idee des Martyriums auf alte, italienische und palästinische Quellen zurückgeht und dass die Handlungen der Märtyrer nicht nur aus .momentanen Empfindungen' hervorgegangen waren, sondern aus einer ganzen religiösen Ideologie mit alten Traditionen. 12 Daher fällt es schwer, die nachträgliche halachische Rechtfertigung als einziges Motiv für das Handeln der Märtyrer von 1096 zu akzeptieren. Das im 14.Jh. vorgebrachte Argument, die Tötung der Kinder sei aus der Befürchtung hervorgegangen, sie könnten unter den Christen in deren Religion aufwachsen, und dann wäre es besser, sie stürben unschuldig, als dass sie schuldig würden, 1 3 mag beim Entschluss der Märtyrer mitgespielt haben, aber es handelt sich um eine Rechtfertigung, nicht um die Motivation ihres Tuns. Eine weitere Begründung für das Verhalten der Märtyrer, die in den

suchten, sind zwar vereinzelt berichtet, aber keine Selbsttötung und sicherlich keine Tötung von anderen. Zu diesen Erscheinungen und Vorbehalten dagegen s. R.L. Fox, Pagans and Christians, London 1988, 434-455; W.H.C. Frend, Martyrdom and Persecution in the Early Church, Michigan 1981, 293; und besonders A.J. Droge/J.D. Tabor, A Noble Death. Suicide and Martyrdom among Christians and Jews in Antiquity, San Francisco 1992; G.W. Bowersock, Martyrdom and Rome, Cambridge 1995. 12 A. Grossman, The Cultural and Social Background of Jewish Martyrdom in Germany in 1096 (hebr.), in: I. Gafni/A. Ravitzky (Hg.), Qeduschat baChaim weCberuf haNefesch (GS A. Yekutiel),Jerusalem 1993, 111. 13 Sefer Mizwot qatan miZiirich, J.J. Har-Schoschanim (Hg.), I, Jerusalem 1981, 58; Grossman, ebd., 116.

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Quellen angegeben wird, ist das Motiv der privaten Sühne. Dazu kam als weitere, spätere Schicht der Wunsch, den Tod der Opfer nachträglich zur Beschleunigung der göttlichen Racheaktion einzusetzen. Diese beiden Anliegen können durchaus zusammengehen. Sühne ist ein persönlicher und privater Ausdruck des Rachegedankens. Sühne ist die Erlösung des Individuums, Rache die der Welt. Wenn ein Mensch für seine Schuld Sühne leisten will, indem er sein Blut oder das seiner Kinder auf den himmlischen Altar sprengt, geht er davon aus, dass Gott sein Blut wünsche. Aber wozu? Darauf hat die Generation nach 1096 eine Antwort: für Israels Erlösung. Der himmlische Altar ist das messianische Schlachtfeld, auf dem der Kampf zwischen den Engelfürsten von Edom und Israel ausgetragen wird. Bevor Gottes Gewand vom künftig zu vergießenden Blut der Christen gerötet wird, muss es von dem in dieser Welt vergossenen Blut der Juden vollgesogen sein. Die mit den Akten von Tötung und Selbsttötung einhergehende Ideologie ist demnach als ein Versuch zu betrachten, Gott zur schleunigen Herbeiführung der Erlösung zu bewegen. Darin steckt eine Andeutung von .politischem' Protest, eine Unzufriedenheit mit dem göttlichen Regiment über die Welt. Daher rühren also die Darstellungen der extremen Greueltaten, welche die Märtyrer vollbracht haben sollen: Tötung ihrer eigenen Kinder, Sprengen von deren Blut auf den Tora-Schrein, Verbrennung der Synagoge und dergleichen - das alles, um die himmlische Welt umso nachhaltiger zu erschüttern. Bei der Schilderung des .letzten Abendmahls' der Frommen von Xanten vor deren kollektivem Selbstmord legt der Erzähler dem ,Hohenpriester unter seinen Brüdern' eine Abschiedsrede in den Mund, worin der Selbstmord als eine Art Himmelfahrt beschrieben wird („wir wollen uns aufmachen und hinaufsteigen zum Hause des Ewigen"), als ein Aufstieg zum himmlischen Heiligtum zwecks Darbringung von Opfern. 1 4 Der Gedanke des Selbstopfers auf dem Altar zu Jerusalem lag der Kreuzzugsidee zugrunde. 15 Wenn jedoch die Christen diesen Altar im irdischen Jerusalem suchten, so begnügten sich die Juden mit .Altären' im Gebiet von Rhein und Mosel. Dieses Opfer sollte den Getöteten zum Eingang ins Paradies verhelfen, in die ,Welt, die lauter Tag ist'. Als treibende Kraft erscheint somit der Wunsch nach Erlösung des Individuums. Außerdem spricht jener .Priester des höchsten Gottes' im weiteren Verlauf des Kultakts eine Benediktion, die nach messianischer Rache trachtet: „Der Barmherzige möge Rache üben zu Lebzeiten und in Gegenwart unserer Hinterbliebenen, Rache für das Blut seiner Knechte, das vergossen ward und das noch vergossen werden wird."

14 Haberman, Geserot (s.o. Anm. 1), 48-50; bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. Anm.8), 57-59 (570-568). 15 C. Erdmann, The Origin of the Idea of Crusade, Princeton 1977, 201.332 f.

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Auch der Chronist schließt diesen Teil seines Berichts mit einem messianisch ausgerichteten Gebet: „ihr Verdienst [...] stehe uns bei zur Fürsprache vor dem höchsten Gott, uns rasch zu erlösen aus dem Exil des bösen Edom, bald in unseren Tagen". Was sich hier äußert, ist die zwiefache Erwartung von individueller und kollektiver Erlösung. Dass die Vorstellung der Rache-Erlösung in der aschkenasischen Judenheit vorhanden war und sich auf der christlichen Seite widerspiegelte, erhellt deren Zentralität in den Greueltaten während des Ersten Kreuzzugs. Wie bereits Carl Erdmann gezeigt hat, spielte der messianische Faktor unter den Kreuzfahrern eine nicht unbedeutende Rolle. 16 Sie sahen in ihrem Zug nach Jerusalem die Erfüllung der Weissagung der tiburtinischen Sibylle über den ,letzten Kaiser', der Juden und Heiden zum Christentum bekehren sollte, Gog und Magog besiegen, nach Jerusalem ziehen und seine Krone auf dem Felsen Golgotha niederlegen; damit würde alle Menschenherrschaft ein Ende haben und die Gottesherrschaft einsetzen - mit dem Erscheinen des Antichrist, der bis zu Jesu Wiederkunft regieren würde. So erhielt die Eroberung der Grabeskirche in Jerusalem eine ausgesprochen messianische Bedeutung. Der Kreuzzug ins Heilige Land wurde als ein Akt im Drama der herannahenden Erlösung aufgefasst. 1 7 Die Legende vom .letzten Kaiser' ist im frühen 11.Jh. von Byzanz nach Westeuropa gekommen. 1 8 Sie macht das Bestreben einiger Kreuzfahrergruppen verständlich, die auf dem Weg nach Jerusalem angetroffenen Juden schnell zu Christen zu machen, um dem Erscheinen des .letzten Kaisers' vorzuarbeiten. Anscheinend betrachtete einer der schlimmsten Judenfeinde

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C. Erdmann, Endkaiserglaube und Kreuzzugsgedanke im 11.Jh., in: Zeitschrift f ü r Kirchengeschichte 1 (1932), 384-414. 17 J. Ward, T h e First Crusade as Disaster: Apocalypticism and the Genesis of the Crusading Movement, in: B. Albert/Y. Friedman/S. Schwarzfuchs (Hg.), Medieval Studies in H o n o u r of Avrom Saltman, Ramat Gan 1995, 253-292. Z u m messianischen M o m e n t im Ersten Kreuzzug s. auch L. Dasberg, U n t e r s u c h u n g e n über die Entwertung des Judenstatus im 11.Jh., Paris 1965, 173-193; N . C o h n , T h e Pursuit of the Millennium, London 1970, 73f; J. Riley-Smith, T h e First Crusade and the Idea of Crusade, London 1986, 50-57; H . Liebeschütz, T h e Crusading Movement in its Bearing on the Christian Attitude towards Jewry, in: JJS 10 (1980), 97-111; S. Schein, Die Kreuzzüge als volkstümlich-messianische Bewegungen, in: D A 47 (1991), 119-138. Zu millenaristischen Erwartungen im 11. Jh. u n d deren Auswirkung auf den Status der Juden s. D.F. Callahan, Ademar of Chabannes, Millennial Fears and the Development of Western Anti-Judaism, in: Journal of Ecclesiastical H i s t o r y 46 (1995), 19-35. Zu messianischen H o f f n u n g e n unter den damaligen Juden s. J. Mann, T h e Messianic Movements D u ring the Time of the First Crusades (hebr.), in: haTequfa 23 (1925), 243-261; ebd., 24 (1926), 335-358; S. Emanuel, A Jewish-Christian Debate - France 1100 (hebr.), in: Zion 63 (1998), 143—155.XIII. 18 P.J. Alexander, The Diffusion of Byzantine Apocalypses in the Medieval West and the Beginning of Joachimism, in: A. Williams (Hg.), Prophecy and Millenarism (FS M. Reeves), H a r low 1980, 53-106.

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im Rheinland, G r a f E m i c h o von Flonheim, sich selbst als den .letzten Kaiser'. 1 9 Aus christlicher Sicht konnte die strikte Weigerung der Juden, das C h r i s t e n t u m anzunehmen, selbst um den Preis ihres Lebens, als deren B e mühen gedeutet werden, das christlich-messianische Geschehen zu vereiteln. Paul Alexander hat die berechtigte Frage aufgeworfen, weshalb ausgerechnet Jerusalem zum Schauplatz für den Untergang des Imperiums gewählt worden sei, dafür hätte sich doch eher R o m oder Konstantinopel angeboten; daraufhin hat er die Vermutung geäußert, die messianische Vorstellung vom .letzten Kaiser' gehe irgendwo auf jüdische Quellen zurück. 2 0 U n d in der Tat ist das Niederlegen der K r o n e in Jerusalem gleichbedeutend mit dem Verzicht auf politische Macht sowie auf irdische Güter, woraufhin das Gottesreich einsetzen kann. Anscheinend hat die christliche Uberlieferung hier das Kernstück der jüdisch-messianischen Tradition bewahrt, wonach R o m s Untergang die Vorbedingung für die Errichtung des neuen J e r u salem ist. D e m n a c h hegten Juden wie Christen ähnliche messianische H o f f nungen, wussten wohl auch um die entsprechenden Erwartungen der Gegner, nur dass jeweils die Rache-Erlösung in die umgekehrte Richtung ging, im einen Fall gegen R o m , im anderen gegen Jerusalem. So erhält der Märtyrertod von Juden eine metaphysische Dimension. D i e Handlungsweise der G e t ö t e t e n trug zur Heiligung des göttlichen Namens bei - nicht nur durch das Provokative ihres Protestakts und ihr demonstratives Festhalten an ihrer Überzeugung, sondern auch kraft ihres Opfers, das die Erlösung zu beschleunigen vermochte. Mit G o t t e s Erscheinen vor aller Welt, angetan mit den Gewändern der Rache und Vergeltung, würde sein N a m e endgültig und unbestreitbar verherrlicht sein. Auch auf diese messianische Heiligung des göttlichen N a m e n s waren die Augen jener G e -

" Emicho hatte nämlich „die Vorstellung entwickelt, ein Bote des Gehenkten sei zu ihm gekommen, habe ihm ein Zeichen in sein Fleisch gemacht, ihm kundzutun, wenn er nach Unteritalien käme, werde er selbst [=Jesus] zu ihm kommen und ihn mit königlichem Diadem bekrönen und seine Feinde besiegen"; bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. Anm.8), 23 (604). Bestätigt wird dies auch in der lateinischen Chronik des Ekkehard von Aura, wonach Emicho eine Erscheinung gesehen haben soll wie seinerzeit Saul/Paulus (Apg 9), woraufhin er seinen Lebenswandel änderte und ein frommer Christ wurde; dazu F.J. Schmale (Hg.), Frutolfi et Ekkehardi Chronica necnon Anonymi Chronica Imperatorum, Darmstadt 1972 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters XV), 146. Zurückhaltender in Bezug auf die messianischen Motive des Grafen Emicho äußert sich H. Möhring, Graf Emicho und die Judenverfolgungen von 1096, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 56 (1992), 97-111. 2 0 P.J. Alexander, The Last Roman Emperor, in: D. Abrahams (Hg.), The Byzantine Apocalyptic Tradition, Berkeley 1985, 151-184. Und in den Pirqe Maschiach (veröffentlicht bei Y. Even-Shmuel, Midrasche Geula, Jerusalem/Tel-Aviv 1954, 312) gibt es tatsächlich eine vergleichbare Schilderung, wie der messianische Sohn Josephs dereinst seine Krone auf dem Grundstein der Welt (der auf dem Tempelplatz zu Jerusalem angenommen wird) niederlegen soll, d. h. auf dem jüdischen Gegenstück zum christlichen Golgatha.

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neration gerichtet, zumindest werden etlichen ihrer Angehörigen solche Intentionen zugeschrieben. Die dem Kult von Blut und Opfer bei den aschkenasischen Märtyrern zugrundeliegende Idee der Rache-Erlösung wird durch die motivischen Zusammenhänge in den detailliert ausgestalteten Berichten der Chroniken bestätigt. O b die berichteten Ereignisse so stattgefunden haben oder nur in der Generation nach 1096 so erzählt wurden, können wir nicht wissen. 21 Was wir hier zu erhellen versuchen, ist der ideologische Hintergrund des Textes, des Erzählers sowie seines Zielpublikums. Zu diesem Zweck werde ich auf einen Fall von Selbstopferung ausführlicher eingehen, der dazu angetan ist, den gesamten Symbolkomplex von Tempel und Opfer aus der engen Beziehung zur Problematik von Exil und Erlösung heraus zu veranschaulichen.

2 Selbstopferung Die Erzählung, die hier untersucht werden soll, ist die vom Selbstmord des Mar Isaak b. David, des Vorstehers der Mainzer Gemeinde, der seine Mutter und seine Kinder tötete und die Synagoge seiner Stadt verbrannte. 22 Die meisten Juden von Mainz waren im H o f des bischöflichen Palais umgekommen. Nur einzelne hatten überlebt, unter ihnen jener Isaak, der die Taufe angenommen hatte. Die Begründung dafür, die ihm der Chronist in den Mund legt, ist bemerkenswert: Er habe „nur deshalb auf die Feinde gehört [...], damit meine Kinder vor den bösen Leuten gerettet werden, daß sie nicht erhalten bleiben in deren Irrglauben, denn sie sind jung und vermögen nicht zu unterscheiden zwischen gut und böse". Die Vorstellung, dass ein Vater sich taufen lasse, um seine Kinder davor zu bewahren, ist ungewöhnlich; üblicher ist das Umgekehrte: die Kinder zu töten, damit sie nicht getauft werden. Anscheinend war dem Erzähler bekannt, dass Zwangsgetaufte ins Judentum zurückkehren durften, daher suchte er die Taufe des Vaters damit zu rechtfertigen, dass er seine Kinder habe retten wollen. Trotzdem

2 1 Dazu die Diskussion zwischen I. Marcus und R. Chazan: I.G. Marcus, History, Story and Collective Memory: Narrativity in Early Ashkenazic Culture, in: Prooftexts 10 (1990), 3 6 5 - 3 8 8 ; R. Chazan, The Facticity of Medieval Narrative: A Case Study of the Hebrew First Crusade Narrative, in: AJS Review 16 (1991), 3 1 - 5 6 . 2 2 Deutsch und hebräisch bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. A n m . 8 ) , 3 7 - 3 9 ( 5 9 0 - 5 8 8 ) . Eine glänzende Studie zu dieser Erzählung hat J. Cohen vorgelegt: The Persecutions of 1096 - from Martyrdom to Martyrology: the Sociocultural Context of the Hebrew Crusade Chronicles (hebr.), in: Zion 59 (1994), 1 8 5 - 1 9 5 ; er meint darin etwas Ironisches zu finden, worin ich ihm nicht zustimmen kann.

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steht der Erzähler voll und ganz hinter der Überzeugung, dass es für diese Tat nur eine Sühne gebe: den Tod. U n d das war es, was Mar Isaak auf sich nahm. Zwei Tage nachdem in Mainz wieder Ruhe eingekehrt war, kehrte er in sein elterliches H a u s zurück und stellte fest, dass der Familienbesitz nicht geplündert worden war. Die Diskrepanz zwischen den schweren Verlusten an Menschenleben, welche die Gemeinde erlitten hatte, und der Erhaltung seiner materiellen Güter erregte bei ihm Reuegefühle und ließ den Entschluss reifen, einen Sühneakt zu vollziehen. Zunächst ließ er das H a u s seiner Eltern wieder instandsetzen. Danach machte er seiner Mutter von seinem Plan Mitteilung: „Frau Mutter, ich habe beschlossen, ein Sündopfer darzubringen G o t t in der H ö h e , möge ich dadurch Sühne finden". Die Mutter, die im Zuge der Verfolgung nicht getauft worden war und verwundet zu Bett lag, flehte ihn vergeblich an, von seinem Vorhaben abzustehen. Wie besessen schloss sich der Mann in seinem H a u s e ein. Er wandte sich an seine Kinder - um derentwillen er sich hatte taufen lassen - und fragte sie: „Kinder, wollt ihr, daß ich euch unserem G o t t schlachte?" U n d die Kinder, von denen es zuvor geheißen hatte, sie wüssten nicht zwischen gut und böse zu unterscheiden, antworten: „Mach mit uns, was du willst". Anders als der biblische Abraham, der auf die besorgte Frage des Sohnes ausweichend antwortet (Gen 22,7f), lässt der Vater hier seine Kinder nicht im Zweifel darüber, was ihnen bevorsteht. Daraufhin nimmt der Mann die Kinder und bringt sie in die Synagoge; dort, vor dem ToraSchrein, schlachtet er sie: „Er sprengte von ihrem Blut auf die Säulen der heiligen Lade [...] und sprach: Dieses Blut gereiche mir zur Sühne für all meine Sünden." Danach kehrt er ins H a u s seiner Eltern zurück und steckt es in Brand. N u n stellt sich heraus, weshalb er die Türen hatte reparieren lassen: um jeglichen Flucht- oder Rettungsversuch zu vereiteln. So kam seine Mutter in den Flammen um. Daraufhin geht der Mann wieder in die Synagoge und zündet auch die an: „und der F r o m m e ging hin und her von einer Ecke zur andern, von einem Winkel zum andern, streckte seine H ä n d e aus gen Himmel zu seinem himmlischen Vater und betete zum Ewigen mitten aus dem Feuer mit lauter und lieblicher Stimme." Christen wurden aufmerksam und versuchten einzugreifen; sie riefen ihm zu: „ D u böser Mensch, k o m m aus dem Feuer heraus!", versuchten ihn sogar herauszuholen, doch er ließ sich nicht retten. Er „verbrannte dort als ein vollkommener, aufrechter, gottesfürchtiger M a n n " (Hi 1,1). So charakterisiert der Chronist einen Menschen, der seine Mutter und seine Kinder eigenhändig umgebracht und die Synagoge seiner Stadt verbrannt hat, und das nicht unter dem Druck der Verfolgung, sondern drei Tage danach, als schon keine Kreuzfahrer mehr in der Stadt waren! Die Verbrennung der Synagoge wird in dem uns vorliegenden Text damit erklärt, dass jener Isaak erfahren habe, die Städter wollten die Synagoge in eine Kirche oder ein Münzhaus verwandeln. D o c h ist es wenig glaubhaft,

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dass in der Stadt bereits zwei Tage nach dem großen Pogrom solche Pläne entwickelt worden und dass diese Pläne jenem Isaak zu Ohren gekommen sein sollten. Das ist eine nachträgliche Erklärung für das jüdische Publikum, um das Unbegreifliche weniger unbegreiflich erscheinen zu lassen. Vielmehr ist die Verbrennung der Synagoge im Zusammenhang mit Isaaks vorangehenden Taten zu sehen. Zwei zentrale Motive durchziehen diese Erzählung: die Opferung und die Verbrennung des Heiligtums. Die Synagoge ist der Ort, wo Isaak seine Kinder hinbringt, dort tötet er sie vor dem Tora-Schrein und vollzieht sogar das Ritual der Blutsprengung wie seinerzeit auf dem Altar des Tempels. Von daher ist es nur folgerichtig, dass sein Tun mit Verbrennung der Synagoge ( = des Tempels) endet, worin auch er zugrundegeht, zur Strafe für unverzeihliche Sünde. U m den ideologischen Gehalt dieser Erzählung zu ergründen, müssen wir sie auf ihre literarische Gestaltung hin überprüfen. Die Logik der Handlungsführung scheint nicht ganz schlüssig, weil ein älterer literarischer Topos verwendet ist. Ein zentrales Motiv der Erzählung ist die Verbrennung der Synagoge und der Tod Isaaks und seiner Kinder darin (die Mutter verbrennt in ihrem eigenen Hause). Bereits zu Anfang stellt der Erzähler die Analogie zwischen dem Brand der Synagoge und dem des Jerusalemer Tempels her: „Darob weine ich und mein Auge strömt Tränen herab (Klgl 1,16) - daß verbrannt das heilige Haus unseres Gottes und über die Verbrennung von Mar Isaak bar David, dem Vorsteher, der in seinem (d. i. Gottes) Haus verbrannte". Dieses Motiv des Selbstmords in den Flammen des Heiligtums erinnert an die talmudische Erzählung von den Priestern am Jerusalemer Tempel, als dieser in Flammen aufging: Unsere Meister lehrten: Als der Tempel zerstört ward, versammelten sich zuerst die jungen Priester nach ihren Wachen mit den Tempelschlüsseln in der Hand. Sie stiegen aufs Tempeldach und sprachen vor Ihm: Herr der Welt, da es uns nicht vergönnt war, treue Verwalter zu sein, so nimm du die Schlüssel an dich, und schleuderten sie in die Höhe. D a kam eine H a n d hervor und nahm sie von ihnen entgegen, sie aber sprangen in die Tiefe und stürzten ins Feuer. 2 3

Die talmudische Erzählung liest sich geradezu sarkastisch. Der Tempel geht in Flammen auf, und die jungen Priester geben Gott die Schlüssel zurück, als ob es für die noch Verwendung gäbe. Hinter der Rückgabe der Schlüssel

23 b Taanit 29a und Parallelen. Eine Erzählung von Priestern, die im Tempel verbrennen, steht auch bei Josephus, bell VI, 280; Sefer Josippon, D. Flusser (Hg.), Jerusalem 1981, I, 167. Dass es eine Tradition gibt von Priestern, die im brennenden Tempel umkommen, hat D. Goodblatt gezeigt: Suicide in the Sanctuary. Traditions on Priestly Martyrdom, in: JJS 46 (1995), 10-29.

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steckt die Vorstellung, dass der irdische Tempel mit seiner Zerstörung ins himmlische Jerusalem versetzt wird. Deshalb steigen die Priester aufs D a c h und schleudern die Schlüssel gen H i m m e l . Literarisch gesehen korrespondiert die Aufwärtsbewegung der Schlüssel mit dem Hinabstürzen der Priester ins Feuer, doch ist dieser A b s t u r z kein endgültiger Untergang, sondern die Vorbedingung zum Aufstieg in den H i m m e l : durch ihren Märtyrertod verdienen sich die Priester das Leben der künftigen Welt. So wie der Tempel in den H i m m e l erhoben wird, steigen auch seine Diener empor; durch ihren Tod werden sie zum O p f e r auf dem himmlischen Altar. D e r Selbstmord der Priester bezeichnet den Ubergang in eine neue E p o che, ins Zeitalter der Zerstörung, da keine Möglichkeit mehr besteht, durch Tieropfer Sühne zu bewirken. Von nun an geschieht Sühne nur noch durch den Tod von Märtyrern auf dem himmlischen Altar: „Im vierten H i m m e l (.Sebul) ist ein Altar erbaut, wo Michael, der Engelfürst Israels, als H o h e r priester fungiert. [ . . . ] Er bringt Seelen von G e r e c h t e n dar, bis der Tempel wieder erbaut wird; dann wird der Heilige gelobt sei E r den Tempel aus dem vierten H i m m e l ins irdische Jerusalem herabholen". 2 4 In diesem Midrasch werden zwei Zeitalter unterschieden: die Zeit der Zerstörung und die Zeit der Erlösung. 2 5 I m Zeitalter der Zerstörung werden die Seelen der Märtyrer auf dem himmlischen Altar dargebracht bis zum Zeitalter der Erlösung, wenn der Tempel wieder ins irdische Jerusalem herabkommen wird. 2 6 D e r Midrasch stellt eine Verbindung her zwischen der Zerstörung des Tempels und dem O p f e r der Märtyrer, als o b die Welt im Zeitalter nach der Tempelzerstörung wieder im selben Zustand sei wie vor der Erbauung des Tempels, als G o t t dem Abraham befahl, ihm seinen einzigen Sohn als O p f e r darzubringen. Tatsächlich stehen die meisten überlieferten Fälle von Selbsttötung in Zusammenhang mit der Zerstörung. 2 7 Die Tempelzerstörung ist allem Anschein nach auch der Hintergrund, vor dem sich der Midrasch ent-

24 Midrasch Asseret haDibrot, in: A. Jellinek, Bet ha-Midrasch I, Leipzig 1853, 64; s. auch Grossman, Background (s.o. Anm. 12), 128. 25 In der syrischen Baruch-Apokalypse (X 18) heißt es: „Ihr Priester, nehmt die Schlüssel des Heiligtums und werft sie in des Himmels Höhe; gebt sie dem Herrn zurück und sprecht: .Bewach du selbst dein Haus! Denn sieh, wir sind als trügerische Haushalter erfunden worden'; A.F.J. Rlijn, Die syrische Baruch-Apokalypse, Gütersloh 1976 QSHRZ V 2), 129. 26 A. Aptovitzer, Der himmlische Tempel in der Aggada (hebr.), in; Tarbiz 2 (1931), 137-157.257-287. Zum Herabkommen des Heiligtums aus dem Himmel vgl. Sefer Serubavel (in: Midrascbe Geula, s.o. Anm. 20), 84; Sefer Eliahu, ebd., 48. 27 M. Stern, The Suicide of Elazar Ben Jair and his Men of Masada, and the .Fourth Philosophy' (hebr.), in: Zion 47 (1982), 383-387; D. Flusser, The Dead of Massada in the Eyes of their Contemporaries (hebr.), in: I. Gafni/A. Oppenheimer/M. Stern (Hg.), Jehudim wejahadut blmei Bait scheni, haMischna wehaTalmud (FS S. Safrai), Jerusalem 1993, 134-142 hat darauf hingewiesen, dass der Selbstmord der Verteidiger von Mazada als Sühnetod gedeutet wurde. Zum Vorrang des Menschenopfers vor dem Tieropfer s. auch Heb 9-10.

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faltete, demzufolge Abraham seinen Sohn letzten Endes doch geschlachtet haben soll. 28 Die messianische Konnotation des Menschenopfers liegt auch den christlichen Traditionen zugrunde, die Jesu Kreuzigung zu Pessach ansetzen. Pessach als der Zeitpunkt von Jesu Auftreten kann als der Termin gelten, der für eine messianische Erscheinung besonders geeignet war, denn bei seiner Wiederkunft (Parusie) wollte Jesus einen neuen Tempel anstelle des zu zerstörenden errichten. Unter diesen Auspizien scheint eine bekannte historische Tatsache beachtenswert, deren Zeitpunkt zunächst völlig willkürlich scheint: Auch der Selbstmord der letzten jüdischen Krieger auf der Festung Mazada fand zu Pessach statt! 2 9 Das könnte zwar ein Zufall gewesen sein, aber ebenso wahrscheinlich ist die Annahme, dass Josephus diesen Termin bewusst so angibt oder dass er einen Bericht von ausgesprochen legendenhaftem Charakter wiedergibt. Sollten die Verteidiger von Mazada diesen Zeitpunkt absichtlich gewählt haben? Erinnert nicht die Abschiedsrede des Elasar b. Jai'r vor seinen Kämpfern in der Nacht vor dem kollektiven Selbstmord auf Mazada gattungsmäßig an Jesu Abschiedsrede vor seinen Jüngern beim letzten Abendmahl in Jerusalem? Und besteht nicht eine gewisse Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Abschiedsreden und den Worten, die „der Fromme, der vertrauenswürdige Mann, der Hohepriester unter seinen Brüdern, zur Gemeinschaft derer, die um seinen Tisch saßen" am Abend des Pogroms in Xanten sprach? 3 0 Die Verbindung zwischen der Tempelzerstörung und dem Sühnetod zu Mainz wirft helles Licht auf die Motive, die in die Erzählung von Mar Isaak b. David verwoben sind. Der Bericht setzt ein mit der Klage über den Brand ,des heiligen Hauses unseres Gottes'; demnach entspricht die Verbrennung der Mainzer Synagoge der Zerstörung des Jerusalemer Tempels. 31 Auch das Sprengen des Blutes der geschlachteten Kinder auf den Tora-Schrein signalisiert eine Gleichsetzung jener Synagoge mit dem Tempel. Isaak selbst ist zwar nicht Priester, sondern Gemeindevorsteher, aber zu einer Zeit, da es keine am Tempel amtierenden Priester mehr gibt, kann ein Gemeindevorsteher offenbar eine Funktion der Priester im Altertum übernehmen: den Selbstmord im Heiligtum, während dieses in Flammen aufgeht. Die Sünde des Gemeindevorstehers - seine Konversion - entspricht der Sünde der Priester, die keine .treuen Verwalter' gewesen waren. Somit entspricht die Zerstörung der Mainzer jüdischen Gemeinde der Zerstörung Jerusalems und die Verbrennung der Mainzer Synagoge der des Jerusalemer Tempels:

S o S. Spiegel, s . u . A n m . 5 3 . J o s e p h u s , Bell V I I , 401. 3 0 D e u t s c h und hebräisch bei H a v e r k a m p , H e b r ä i s c h e Berichte (s.o. A n m . 8 ) , 57 (570). 3 1 G u t formuliert bei I. M a r c u s , F r o m Politics to M a r t y r d o m . Shifting P a r a d i g m s in the H e brew Narratives of 1096 C r u s a d e Riots, in: P r o o f t e x t s 2 (1982), 4 8 - 5 1 . 28

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„Und der fromme Mar Isaak kehrte ein zweites Mal zurück, um die Synagoge zu verbrennen, (er legte) Feuer an alle Eingänge; und der F r o m m e ging hin und her von einer Ecke zur andern, von einem Winkel zum andern, streckte seine Hände aus gen Himmel zu seinem himmlischen Vater und betete zum Ewigen mitten aus dem Feuer mit lauter und lieblicher Stimme". 3 2 Diese Schilderung erinnert besonders an ein Stück aus einer Parallelversion des Berichts vom Selbstmord der Jerusalemer Priesterschaft: D i e F e i n d e s e t z t e n sich z u s a m m e n , u m sich v o n den A l t e s t e n beraten z u lassen, wie das H e i l i g t u m in B r a n d zu s e t z e n . W ä h r e n d sie n o c h b e r a t s c h l a g t e n , blickten sie auf und siehe da: Vier E n g e l k a m e n v o m H i m m e l herab mit vier feurigen F a ckeln, die hielten sie an die vier E c k e n des Tempels und z ü n d e t e n ihn an. Als der H o h e p r i e s t e r das H e i l i g t u m in F l a m m e n aufgehen sah, n a h m er die Schlüssel und schleuderte sie gen H i m m e l [ . . . ] . ' 3 3

Mir scheint, hier ist ein weiterer Schritt getan, um das jüdische Märtyrertum von 1096 mit der Tempelzerstörung zusammenzubringen, wie bereits von Yitzhak Baer und Ivan Marcus bemerkt. Der Märtyrer ist das Opfer, das auf dem himmlischen Altar dargebracht wird, und seine Opferung trägt dazu

Bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. A n m . 8 ) , 39 (588). » Pessikta rabbati, M. Friedmann (Hg.), X X V I , 131. Vgl. auch syrBar V l , 4 f ; VII; V I I I , l f : „Und ich schaute: Siehe, vier Engel standen auf den vier Ecken der Stadt, ein jeder von ihnen trug eine Feuerfackel in seinen Händen. Ein anderer Engel stieg vom Himmel herab [...]. Danach hörte ich, dass dieser Engel zu den Engeln sagte, welche die Fackeln hielten: .Fangt nun an, ihre Mauern zu zerstören, und stürzt sie um bis auf die Fundamente [...]. Die Engel taten, wie er ihnen befohlen hatte. Als sie nun die Ecken der Mauer auseinandergeschlagen hatten, vernahm man eine Stimme mitten aus dem Tempel, nachdem die Mauer gefallen war. Sie sprach: .Kommt herein, ihr Feinde, und kommt, ihr Widersacher, nun herbei! Denn Er, der das Haus bewahrte, hat es verlassen'"; Ubersetzung nach Klijn (s.o. A n m . 2 5 ) , 126f. Das Motiv von Stimmen, die aus dem Heiligtum ertönen und dessen Zerstörung ankündigen, findet sich auch in der Chronik des Salomo b. Simson: „heute Nacht haben nämlich wir, ich und mein Schwiegersohn Jehuda, die Seelen gehört, wie sie nachts in der [Mainzer] Synagoge beteten mit lauter Stimme wie Weinen [...]. Doch die Tür war verschlossen; die Stimme hörten wir und großes Weinen, verstanden aber nichts, was geredet wurde [...]. Und es geschah, als wir diese Worte hörten, da fielen wir aufs Angesicht und sprachen: ,Ach, Ewiger, Gott; willst du ein Ende machen dem Uberrest Israels?' (Ez 11,13)" - bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. A n m . 8 ) , 21 (606). Salomo b. Simson schließt seinen Bericht über die Verbrennung der Synagoge zu Mainz mit den Worten: „Und ein Jahr bevor der Tag des Ewigen kam (Mal 3,23), bevor das Verhängnis eintrat, waren die meisten Rabbiner in allen Gemeinden gestorben, ebenso waren die Angesehenen von Israel verschieden, auf daß erfüllt werde, was geschrieben steht: .Denn vor dem Übel wird der Gerechte eingesammelt' (Jer 57,1); so war unser Meister R. Elasar verschieden", ebd., 39 (588). Auch im Sefer Josippon steht zu lesen: „Denn ein Jahr bevor Vespasian kam [...] am Wochenfest (wie in Mainz!) zu jener Zeit bei Nacht hörten die Priester im Tempelgebäude ein Geräusch menschlicher Schritte und den Lärm von vielen Menschenfüßen innerhalb des Tempels marschieren. Dann ertönte eine furchtbare, gewaltige Stimme, die sprach: Auf, geht hinweg aus diesem Hause!" (s.o. Anm.23, 414f). Vgl. Josephus, Bell VI, 300; Tacitus, Annales V, 13. 32

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bei, die Erlösung herbeizuführen und den irdischen Altar von neuem zu errichten. Das vergossene Blut der Getöteten kommt auf dem himmlischen Altar nicht zur Ruhe; es wird dereinst den Grimm des rächenden Gottes hervorrufen. Während die Kreuzfahrer ins irdische Jerusalem zogen, stiegen die jüdischen Märtyrer zum Himmel empor, ins himmlische Jerusalem. Weiteren Ausdruck hat diese Vorstellung offenbar in dem ,großen Licht' gefunden, dass in der Erzählung von Isaak b. David mehrfach erwähnt ist. Er äußert den Wunsch, sich selbst zu töten, damit ich „zu meinen Gefährten gelange und mit ihnen zusammen in ihre Abteilung eingehe, zu dem großen Licht". Das Motiv von ,Licht' (hebräisch: Or) und .Feuer' (hebräisch: Ur) zieht sich durch die ganze Erzählung: er legte Feuer (ur) an alle Eingänge [...]. Da riefen ihm die Feinde durch die Fenster zu: Du böser Mensch, komm aus dem Feuer heraus, noch kannst du gerettet werden. Sie hielten ihm eine Stange hin, um ihn daran aus dem Feuer zu ziehen [...]. Und Mar Uri war in den Plan eingeweiht [...]. Mar Uri befand sich in einem anderen Hause. Er wollte Mar Isaak bei der Verbrennung der Synagoge unterstützen, auch ihm war daran gelegen, den Namen zu heiligen mit seinem Gefährten, Mar Isaak. Er konnte aber nicht zu ihm hinkommen, denn die Feinde waren mitten in der Nacht aus ihren Betten aufgestanden, als sie das Feuer spürten, und bevor er ihn erreichte, töteten sie Mar Uri unterwegs, noch bevor er beim Feuer angelangt war. Mar Isaak verbrannte, und dort fielen die beiden gemeinsam vor dem Ewigen, einmütig, mit ganzem Herzen um seines Namens willen [...] Uber sie und ihresgleichen heißt es: ,Wer Dank opfert, der ehrt mich' (Ps 50,23). 34 Was ist dieses ,große Licht', zu dem die Märtyrer gelangen sollen? U n d wie hängt der Märtyrertod mit der Verbrennung der Synagoge bzw. des Tempels zusammen? Auch hier hat der Erzähler seinen Bericht mit Motiven aus dem Midrasch angereichert. Im Midrasch Tanchuma etwa heißt es: Der Heilige gelobt sei Er sprach zu Mose: Sprich zu den Israeliten: Meine Kinder, in dieser Welt bedurftet ihr des Lichtes im Tempel, ihr habt dort Lampen angezündet, aber in der künftigen Welt bringe ich euch durch das Verdienst jener Lampe den messianischen König, der mit einer Lampe verglichen wird, wie es heißt: ,Dort lasse ich ein Horn sprossen für David, ich rüste eine Lampe zu für meinen Gesalbten' (Ps 132,17). ,Wer Dank opfert, der ehrt mich' (Ps 50,23) [...]. Der Heilige gelobt sei Er sprach: In dieser Welt braucht ihr eine Lampe, aber in der künftigen: .Völker sollen einhergehen in deinem Licht und Könige im Schein deines Glanzes' (Jes 60,3). 35 Die Ubereinstimmungen der aschkenasischen Erzählung und dieses Mi-

3 4 Bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. A n m . 8 ) , 39 (588); den Himweis auf die Bedeutung von Licht/Feuer in dieser Erzählung verdanke ich J. Cohen (mündlich). 35

Tanchuma, Tezawwe,

VIII.

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drasch sind unübersehbar. Beide kommen vom Motiv des Lichts aus zu Ps 50,23. Wenn es nicht genau dieser Text des Tanchuma war, den unser Erzähler vor sich hatte, dann doch ein sehr ähnlicher. N u n hat David Flusser beobachtet, dass die Vorstellungen des Midrasch Tanchuma sich auch bei der Schilderung des himmlischen Jerusalem in der O f f e n b a r u n g Johannis finden: U n d ich sah keinen T e m p e l darin; denn der H e r r , der allmächtige G o t t , ist ihr T e m p e l und das L a m m . U n d die S t a d t bedarf keiner S o n n e n o c h des M o n d e s , d a s s sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit G o t t e s erleuchtet sie, u n d ihre L e u c h t e ist das L a m m . U n d die H e i d e n , die da selig w e r d e n , wandeln in ihrem Licht; und die K ö n i g e auf E r d e n werden ihre Herrlichkeit in sie bringen. U n d ihre Tore werden nicht v e r s c h l o s s e n des Tages, denn da wird keine N a c h t s e i n . 3 6

Sowohl A p k als auch der Midrasch legen J e s 60,1-3 aus: „Steh auf und leuchte, denn dein Licht k o m m t , die Herrlichkeit des Ewigen glänzt auf über dir. Denn siehe, Finsternis bedeckt die Erde und Wolkendunkel die Völker, doch über dir erglänzt der Ewige, seine Herrlichkeit wird über dir erschaut. Völker sollen einhergehen in deinem Licht und K ö n i g e im Schein deines Glanzes". D a s Licht ist also das messianische, für Christen das Licht des Lammes. Die Verwendung des Lichtmotivs in der mittelalterlichen Chronik deutet auf den messianischen Kontext des Martyriums. Die G e t ö teten sollen des .großen Lichtes' teilhaftig werden, im Glanz des himmlischen Jerusalem. Mit dieser Symbolik ist die Erzählung von der Verbrennung der Synagoge, von deren Aufgehen im Feuer, befrachtet. Auf diesem Hintergrund erhält der letzte Dialog zwischen Isaak und den zu seiner Rettung herbeigeeilten Christen eine neue Pointe: Sie riefen ihm zu „ k o m m aus dem Feuer heraus, noch kannst du gerettet werden!" und hielten ihm eine Stange hin, „ u m ihn daran aus dem Feuer zu ziehen", doch er weigerte sich, denn für ihn war das Feuer gleichbedeutend mit ,Licht'; insofern hätten ihm die Christen den Zugang zum .großen Licht' verwehrt, wenn sie ihn aus dem Feuer gezogen hätten. Es ist wohl kein Zufall, dass die gemeinsamen Motive zwischen der mittelalterlichen jüdischen Chronik und dem Midrasch auf die O f f e n b a r u n g Johannis zurückführen, die neutestamentliche Schrift mit dem stärksten jü-

36 Apk 21,22-25; D. Flusser, N o Temple in the City, in: Ders., Judaism and the Origins of Christianity, Jerusalem 1988, 4 5 4 ^ 6 5 . Weiteres über die mystische Bedeutung des Lichts im Zusammenhang mit Tod und Erlösung des Menschen bei Moshe Idel, In the Light of Life: A Study of Kabbalistic Eschatology (hebr.), in: Qeduschat haChajjim veCberuf haNefesch (s.o. Anm. 12), 191-211; ferner E.E. Urbach, The Sages - Their Concepts and Believes, Jerusalem 199, 44—46; Menahem Kister, Levi = Light: On the History of an Ancient Midrash about the Stones of the Breastplate (hebr.), in: Tarbiz 45 (1976), 327-330; I. Gruenwald, From Priesthood to Messianism: The Anti-Priestly Polemic and the Messianic Factor, in: I. Gruenwald/S. Shaked/G.G Stroumsa (Hg.), Messiah and Christos, Tübingen 1992 (FS D. Flusser), 89.

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dischen Einschlag. Im 11.Jh. drangen die christlichen Sibyllen aus Byzanz ins abendländische Christentum vor, wo sie starke Wirkung auf das messianische Bewusstsein der Kreuzfahrer ausübten. Die im Westen bekannt gewordene tiburtinische Sibylle enthält sowohl Elemente jüdischen Ursprungs als auch solche aus der Offenbarung Johannis. 3 7 Diese enge Beziehung zwischen jüdischen und christlichen messianischen Vorstellungen macht verständlich, weshalb zwischen der Verwirklichung der jeweiligen Vorstellung so erhebliche Spannungen bestanden. Die Ideologie des Erzählers lässt erkennen, dass er sich mit dem Gedanken identifizierte, dass das Blut der Märtyrer imstande sei, die messianische Rache Gottes herauszufordern. Entsprechend ist erzählt, dass jener Isaak die heiligsten Dinge antastete: die Tora-Rolle, die Synagoge, das Leben seiner Mutter und seiner Kinder. Diese Taten und ihre Wiedergabe sollten nicht nur Zuhörer und Leser erschüttern und provozieren, sondern Gott selbst. Die Besonderheit dieser Erzählung im Vergleich zu anderen Märtyrerlegenden besteht darin, dass der Tod durch Verbrennung erfolgt. In den meisten anderen Fällen geschieht die Selbsttötung der jüdischen Märtyrer durchs Schwert oder durch Ertränken. Besonders erstaunlich ist die Verwendung von Feuer in Anbetracht des Zeitpunkts: die Verbrennung soll in der Nacht des Wochenfestes stattgefunden haben! Nicht genug damit, dass der Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu Mainz die Synagoge einäschert und seine engsten Angehörigen tötet, er übertritt auch noch ein ausdrückliches biblisches Gebot, indem er an einem jüdischen Feiertag Feuer anzündet. Wie kann ein Jude hoffen, durch derart grobe Verletzung religiöser Tabus Versöhnung zu erlangen?! Und wenn wir zumindest gegen den letzten Vorwurf einwenden wollten, er habe den Brand noch bei Tageslicht vor Beginn des jüdischen Feiertags gelegt (zumal es um diese Jahreszeit in Deutschland erst spät dunkel wird), so heißt es im Text doch ausdrücklich: „die Feinde waren mitten in der Nacht aus ihren Betten aufgestanden, als sie das Feuer spürten" - d. h. die Brandstiftung erfolgte mitten in der Nacht, als das Fest bereits begonnen hatte. In Anbetracht der dieser Erzählung zugrundegelegten Motive aus dem Midrasch ist zu erwägen, ob vielleicht auch die Wahl des Feuermotivs hier literarisch bedingt ist. Die Nacht, in der die Mainzer Synagoge in Flammen aufgeht, ist die des Wochenfestes, da die Tora vom Sinai aus an die Israeliten erging. 38 Ex 19,18 steht: „Und der Berg Sinai war ganz in Rauch gehüllt,

3 7 D . F l u s s e r , A n Early J e w i s h - C h r i s t i a n D o c u m e n t in the T i b u r t i n e Sibyl, in: M e s s i a h and C h r i s t o s ( s . o . A n m . 3 6 ) , 3 5 9 - 3 8 9 ; B. M c G i n n , Teste David c u m Sibylla: T h e Significance of the Sibylline Tradition in the M i d d l e A g e s , in: J . K i r c h n e r / S . F . Wemple ( H g . ) , Women in Medieval World, O x f o r d 1985, 2 7 f . 3 8 A u f die enge B e z i e h u n g zwischen d e m M o t i v des F e u e r s und der N a c h t des Wochenfestes

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weil auf ihn herabgefahren der Ewige im Feuer, und sein Rauch stieg empor wie Ofenrauch"; und D t n 4,11-12 steht: „ U n d der Berg brannte im Feuer bis mitten in den H i m m e l [...] So redete der Ewige zu euch aus dem Feuer heraus". Im Midrasch Tanchuma heißt es dazu: A l s der H e i l i g e g e l o b t sei E r die Tora verlieh, war alles aus F e u e r , wie es heißt: „ z u seiner R e c h t e n F e u e r des G e s e t z e s i h n e n " ( D t n 32,2b). R e s c h L a k i s c h sagte: D i e Tora - F e u e r , ihr P e r g a m e n t - F e u e r , ihre S c h r i f t - F e u e r , ihre N ä h t e - F e u e r , wie es heißt: „ z u seiner R e c h t e n F e u e r des G e s e t z e s ihnen"; u n d der Mittler (d. i. M o s e ) - sein A n t l i t z F e u e r [ . . . ] u n d die E n g e l , die mit hinabstiegen - F e u e r [ . . . ] u n d der B e r g b r a n n t e im F e u e r [ . . . ] auch das (göttliche) Wort erging aus d e m F e u e r . D a sie ( = die Israeliten) die F a c k e l n u n d F e u e r b r ä n d e erblickten, sprach zu ihnen der H e i l i g e g e l o b t sei Er: G l a u b t nur nicht, das seien viele M ä c h t e . D e s halb e r ö f f n e t e er (die Z e h n G e b o t e ) mit den Worten: Ich bin der E w i g e dein G o t t [ . . . ] du sollst keine anderen G ö t t e r neben mir h a b e n . 3 9

Einen Berührungspunkt mit dem Wochenfest bilden auch die drei Tage, die Isaak von der Zerstörung der Mainzer Judengemeinde am Dienstag bis zum Vorabend des Festes am Donnerstag verstreichen lässt; diese Frist entspricht den drei Rüsttagen, die laut Ex 19,15f angesetzt wurden, bis die Israeliten zum E m p f a n g der Tora bereit waren. So wie die ersten Anzeichen für die Sinai-Offenbarung einsetzten, ,als es Morgen ward', trifft auch der Gemeindevorsteher seine Vorkehrungen am Donnerstagmorgen. Er begibt sich ins H a u s seiner Eltern und lässt die Türen reparieren, was vermutlich längere Zeit in Anspruch nimmt. In der N a c h t wird geschildert, wie er in der brennenden Synagoge .seine Hände ausreckt gen H i m m e l zu seinem himmlischen Vater und zum Ewigen mitten aus dem Feuer betet' - eine Entsprechung zu G o t t , der vom brennenden Berg herab zum Volke spricht (vgl. D t n 4,33 u.ö.). Anscheinend enthält diese Erzählung eine Schicht, in der die Tat des Isaak b. David nicht nur in Analogie zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels dargestellt werden soll, sondern auch als eine Art U m k e h r u n g der Tora-Verleihung. So wie die Priester vom Tempel dessen Schlüssel G o t t zurückgaben, gibt der Gemeindevorsteher G o t t seine Tora zurück. Mitten in der N a c h t , mit Vollendung der fünfzig Tage nach Pessach, schlachtet der Vorsteher seine Kinder ,vor der heiligen Lade', in der die Tora-Rolle aufbewahrt wird, und sprengt von ihrem Blut auf ,die Säulen der heiligen Lade'. Was in den hebräischen Chroniken über die Verfolgungen während des

hat bereits Cohen, Martyrdom/Martyrology (s.o. Anm.22), 190-192 hingewiesen. Zum Feuer am Wochenfest s. auch M. Weinfeld, The Uniqueness of the Decalogue (hebr.), in: B.Z. Segal (Hg.), Asseret haDibrot biR'i baDorot, Jerusalem 1986, 31-34. " Tanchuma, Jitro, XVI.

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

Ersten Kreuzzugs viel und ausführlich geschildert wird, sind nicht die von den Kreuzfahrern verübten Mordtaten, sondern die Szenen, in denen Juden sich und ihre nächsten Angehörigen töten, obwohl zu vermuten ist, dass diese Fälle quantitativ in der Minderzahl waren. Was wir hier vor uns haben, ist ein literarischer Versuch der öffentlichen Meinungsbildung in der aschkenasischen Judenheit, wonach die Selbsttötung oder Tötung von Angehörigen ein richtiges und zur Nachahmung empfohlenes Verhalten war. Das liegt daran, dass die Erzähler voll und ganz an der Stimmung des Jahres 1096 beteiligt waren. Der Tod der Märtyrer war ein Faktum, das nachträglich dazu benützt werden konnte, die göttliche Rache herauszufordern. Die ausgewählten Erzählungen sind in besonderer Weise dazu angetan, Gottes Grimm zu erregen, weshalb immer wieder Rachegebete in sie eingestreut sind. Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, dass diese Berichte zur Manipulation der öffentlichen Meinung nicht nur auf der Erde, sondern auch und vor allem im Himmel bestimmt waren.

3 Opferung von Kindern Das blutige Opfer und das darin enthaltene Potential, eine Erschütterung der oberen Welten zu bewirken, finden ihren drastischsten Ausdruck in liturgischen Dichtungen, die den Tod von Kindern im Zuge der Ausschreitungen von 1096 schildern. Dieser Tod gilt als der Inbegriff des Ideals der Selbstopferung. Ein Kind, dessen Blut vergossen wird, gleicht doch einem reinen einjährigen Lamm, das auf dem Altar dargebracht wird; es hat viel Macht, den Grimm des Rachegottes zu erregen. Die enge Beziehung zwischen dem Tod unschuldiger Kinder und reinem Opfer steht hinter zwei Dichtungen von R. Isaak b. R. Schalom: E r (d. i. Abraham) beeilte sich, ein Vorbild zu geben / seinen N a c h k o m m e n setzte er eine Frist / so wurden viel, die ihre Kinder schlachteten / [ . . . ] / ein Blutbad von Kindern richteten sie zu, sprachen andächtig die Benediktion des Schlachtens / [ . . . ] / zur Heiligung Seines N a m e n s wurden wir umgebracht / ins Schwert zu fallen Frauen und Kinder / [ • • • ] / Priester zum Schlachtopfer banden Kinder und deren M ü t t e r . 4 0

Dreimal in einem einzigen Satz erscheinen die Kinder als zentraler Faktor beim Martyrium. Das Binden der zum Schlachten bestimmten Opfer ist es, was die enge Beziehung zur Tötung der Kinder schafft, nach dem Vorbild des Erzvaters, der seinen eigenen Sohn auf dem Altar band. Ebenso in der Elegie des R. Kalonymus b. Jehuda: „Es schlachten die Väter ihre Söhne, so

40

Haberman, Geserot, 112 f.

Opferung von Kindern

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dass die im Blute zucken / [...] / gemeinsam Väter und Söhne, Bräutigamme und Bräute / eilen zur Schlachtstatt wie zum Baldachin ihrer Hochzeit". 41 Noch in einer weiteren Elegie von R. Kalonymos wird das Opfer der Kinder hervorgehoben: S o ü b e r w a n d der Vater sein E r b a r m e n z u r Schlachtung / seiner K i n d e r als O p f e r w i e Farren d a r z u b r i n g e n / so bereitete er seinen K i n d e r n ein Schlachtfest. / Ihren M ü t t e r n riefen sie zu: Seht, wie w i r dahingeschlachtet / da heiligten z u m S c h l a c h t o p f e r , z u r ü s t e t e n z u r T ö t u n g / Frauen ihre Leibesfrucht, ihre u m h e g t e n K l e i n e n : / w e r w ü r d e solches h ö r e n und nicht in T r ä n e n ausbrechen / der S o h n geschlachtet, u n d der Vater rezitiert das S t e r b e g e b e t . 4 2

Auch eine Elegie des R. David b. Meschullam mit dem Titel ,Gott, schweig doch nicht', ist ganz und gar der Tötung von Kindern gewidmet: Sie werden auf verschiedenen Altersstufen geschildert, vom Säugling bis zum Schulkind, und vor allem die Rolle der Mütter wird hervorgehoben, da sie entgegen ihren natürlichen Neigungen die Kinder zum Opfer bringen und sich selbst töten lassen. 43 Auch in einer Selicha des R. Eliesar b. Nathan ist die Opferung von Kindern durch ihre Eltern als ein Akt besonderer Frömmigkeit dargestellt: Die Kinder sollen ihre weinenden Eltern sogar dazu ermuntert haben, sie zum Gott wohlgefälligen Opfer darzubringen; den Höhepunkt der Schlachtszene bildet das Bekenntnis der Einheit Gottes, mit dem die reinen Opferlämmer ihre Seelen aushauchen. 44 In der Selicha mit dem Titel ,Gott wird sich ein Opferlamm ausersehen' von R. Joel b. Isaak haLevi heißt es: „Kleinkinder und Säuglinge drängten sich zur Schlachtbank / schickten sich an, das Schlachtopfer darzubringen / [...] / Ihren Müttern riefen sie zu: Auf, bindet uns schnell!" 45 Und in einer Elegie desselben Verfassers steht zu lesen: „Ein Kind, das noch an den Brüsten seiner Mutter saugt, sein Vater küsst es unter Jammern und Klagen / heiligt sein Haupt wie bei der Opferung auf dem Berge Moria. / Es barg die Mutter ihr Antlitz, nicht mitanzusehen den Tod des Kindes / denn entbrannt war ihr Mitleid über ihren Sohn, ihre Wangen tränenüberströmt". 46 Auch in den hebräischen Chroniken erhält die Tötung von Kindern besonderes Gewicht. Die Erzählung, wie der Mainzer Gemeindevorsteher seine beiden Kinder schlachtete, bevor er sein Haus und die Synagoge in Brand Ebd., 65. E.D. Goldschmidt, Seder haQinnot leTisch'a beAv, Jerusalem 1972, § 30, 106-109. Unter Bezugnahme auf diese Dichtung erklärte R. Mei'r von Rothenburg die Tötung von Kindern durch ihre Eltern im Falle akuter Verfolgung für zulässig (s. u., Anm. 109). 43 Haberman, Geserot, 70. 44 Ebd., 86. 45 Goldschmidt, Seder haSelichot keMinhag Lita [...], Jerusalem 1 9 6 5 , 8 1 . 46 Haberman, Geserot, 109. 41

42

166

Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

steckte, haben wir bereits behandelt. Von Wormser J u d e n wird berichtet, als ihre L a g e aussichtslos erschien, hätten sie das himmlische Urteil auf sich gen o m m e n , sie „setzten ihr Vertrauen auf ihren E r s c h a f f e r und brachten Schlachtopfer der Gerechtigkeit (vgl. D t n 33,19): Sie nahmen ihre Kinder und schlachteten sie zur E i n u n g des ehrwürdigen u n d furchtbaren N a m e n s " . 4 7 In der unmittelbaren F o r t s e t z u n g schildert der Erzähler w i e d e r u m ausführlich einen extremen Fall, bei d e m die B e z i e h u n g zur biblischen O p ferung Isaaks b e s o n d e r s hervorsticht: Dort war ein junger Mann namens R. Meschullam b. Isaak, der rief mit lauter Stimme allen Umstehenden und seiner ihm auf Engste verbundenen Frau Zippora zu: Hört auf mich, Große und Kleine, diesen Sohn hat mir Gott gegeben, ihn hat meine Frau Zippora in ihrem Alter geboren, sein Name ist Isaak; nun werde ich ihn auf dem Altar darbringen, wie unser Vater Abraham mit seinem Sohn Isaak getan. Da entgegnete ihm Zippora: Mein Herr, mein Herr, warte noch ein wenig. Recke deine Hand nicht aus wider den Knaben (vgl. Gen 22, 12), den ich aufgezogen, getragen und geboren in meinem Alter. Schlachte mich zuerst, auf dass ich nicht mit ansehe den Tod des Knaben (vgl. Gen 21,16). Er antwortete und sprach: Ich will keinen Augenblick säumen; wer ihn uns gegeben, der wird ihn sich zum Anteil nehmen, er wird ihn sitzen lassen im Schoß unseres Vaters Abraham. Dann band er seinen Sohn Isaak und nahm das Schlachtmesser in die Hand, seinen Sohn zu schlachten (vgl. Gen 22,9f). Er sprach die Benediktion über das Schlachten, und der Knabe sagte darauf: Amen. So schlachtete er den Knaben. Dann nahm er seine schreiende Frau, sie gingen beide zusammen aus dem Gemach hinaus, woraufhin die Kreuzfahrer sie töteten. U b e r zwei J ü d i n n e n in M o e r s wird berichtet, sie hätten ihre Kinder getötet: die eine ihre zehnjährige Tochter, die andere ihren neugeborenen S o h n . 4 8 D a r ü b e r seien die Bewohner der Stadt so schockiert gewesen, dass sie die J u d e n den Kreuzfahrern auslieferten. D e r erschütterndste Bericht ist zweifellos die Geschichte der jungen F r a u Rachel aus Mainz, die der T ö t u n g ihrer vier Kinder z u g e s t i m m t oder sie sogar veranlasst haben soll: Da kam eine ihrer Gefährtinnen und nahm das Schlachtmesser, ihren Sohn zu schlachten (vgl. Gen 22,10). Es geschah, als die Mutter der Kinder (vgl. Ps 113,9) das Schlachtmesser (erblickte), da tat sie einen lauten bitteren Schrei (vgl. Gen 27,34), schlug sich ins Gesicht und an die Brust und sprach: ,Wo ist deine Gnade, Ewiger?!' (vgl. Ps 89,50) Da sprach die Frau zu ihren Gefährtinnen in der Bitternis ihrer Seele: Tötet nicht Isaak vor seinem Bruder Aaron, damit er nicht den Tod seines Bruders mitansieht und wegläuft. Da nahm die Frau den Knaben [=Isaak] und schlachtete ihn, er war klein und sehr lieblich. Und die Mutter breitete ihre Ärmel aus, das Blut aufzufangen, und sie fing mit ihren .Flügeln' das Blut

Bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. Anm.8), 93 (534). « Ebd., 83 (544). 47

Opferung von Kindern

167

auf wie ein Blutbecken. Und der Knabe Aaron, wie er sah, daß sein Bruder geschlachtet wurde, begann zu schreien: Mutter, Mutter, nicht mich schlachten! Und er lief weg, sich unter einem Kasten zu verstecken. Und sie hatte noch zwei Töchter, Bella und Madrona, .Zierden des Hauses' (Ps 68,13) schöne Jungfrauen, Töchter ihres Mannes, R. Jehuda. Da nahmen die Mädchen das Schlachtmesser und schärften es, damit es nicht schartig sei, streckten den Hals aus, und sie schlachtete sie dem Ewigen, dem Gott der Heerscharen, [...]. Und als die Gerechte vollendet hatte, drei ihrer Kinder vor deren Erschaffer zu schlachten, da erhob sie ihre Stimme und rief ihren Sohn Aaron: Aaron, wo bist du? Auch dich werde ich nicht verschonen und kein Mitleid mit dir haben (vgl. J e r 13,14). Sie zog ihn am Bein unter dem Kasten hervor, wo er sich versteckt hatte, und schlachtete ihn vor dem hohen und erhabenen Gott. Dann steckte sie sie [ = d i e Kinder] in ihre beiden Ärmel, zwei auf jeder Seite an ihrem Körper, und sie zuckten bei ihr, bis die Feinde das Gemach einnahmen und sie fanden, wie sie saß und über sie Klage hielt. [...] Und es geschah, als sie die Kinder erblickten, wie sie geschlachtet waren, da erschlugen sie sie [=die Frau] und töteten sie über ihnen. 4 9 W i r wollen dieses düstere Kapitel nicht schließen, o h n e eine bekannte Quelle anzuführen, w o aus der jüdischen Gesellschaft heraus lebhaft gegen die T ö t u n g von Kindern protestiert wird. In der Auslegung der Tossafisten zu G e n 9,5, w o das Verbot des Blutvergießens an die N o a c h i d e n ergeht, heißt es: Es begab sich, dass ein Rabbiner während der Verfolgung viele Kinder getötet hatte, weil er fürchtete, man würde sie konvertieren. Ein anderer Rabbiner, der dabei war, ergrimmte darüber und rief ihm zu: .Mörder!', doch er kümmerte sich nicht darum. Da sprach jener Rabbiner: Wenn ich Recht habe, soll dieser Rabbiner eines ungewöhnlichen Todes sterben. Und so geschah's: Als die Götzendiener in zu fassen bekamen, zogen sie ihm die Haut ab und streuten ihm Sand zwischen Haut und Fleisch. Danach ward das Verhängnis aufgehoben, und wenn er jene Kinder nicht geschlachtet hätte, wären sie gerettet worden. 5 0 H i e r ist eine zwiefache Kritik an der Handlungsweise des Fanatikers zu vernehmen, sowohl von dem anwesenden Rabbiner her als auch v o m Erzähler, es sei denn, die beiden waren identisch. Dieses seltene Zeugnis enthüllt heftige Opposition gegen die Martyriumspropaganda. Ihr U m f a n g und E i n fluss sind angesichts ihrer minimalen Bezeugung in der uns vorliegenden Literatur schwer abzuschätzen; vielleicht wurde sie z u m Verstummen

ge-

bracht oder v e r s t u m m t e im Lauf der Zeit von selbst. J e d e Gesellschaft feiert die Helden ihrer Vergangenheit lieber, als dass sie ihr Tun kritisiert. F ü r unseren K o n t e x t ist wichtig, dass es eine innerjüdische Position gab,

49 Ebd., 354-358; die Beteiligung der Mutter an dem Geschehen ist in den beiden Paralleltexten etwas unterschiedlich dargestellt. 50 Daat Seqenim miBaale haTossefot zu Gen 9,1; auch Sefer Tossefot haschalem, J. Gellis (Hg.), I.Jerusalem 1982, 262.

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

für die solche Tötung von Kindern reiner Mord war. Und wenn dies in jüdischen Augen so erschien, dann in christlichen erst recht. Zur Betrachtung des Phänomens aus christlicher Sicht kommen wir im folgenden Abschnitt.

4 Der

Ritualmord

Yitzhak Baer, der große jüdische Historiker des Mittelalters, hat geschrieben: „Bei den Verfolgungen von 1096 wurden zwei uralte Symbole in extremer Form realisiert: die Bindung Isaaks auf dem Berge Moria und die Darbringung von Opfern am Jerusalemer Tempel. [...] Väter und Mütter banden und schlachteten ihre Kinder [...] indem sie an ihnen sowie an sich selbst die Opferschriften des Tempeldienstes bis ins kleinste Detail vollzogen." 51 Baer erblickte in der Selbsttötung der jüdischen Märtyrer von 1096 ein Glied in der langen Kette der jüdischen Martyrologie, daher scheut er nicht zurück vor pathetischer Sprache: „Die grausame Realität dieser Taten birgt in sich eine der erhabensten Vorstellungen: Die Seelen der Märtyrer werden auf dem Altar des himmlischen Heiligtums geopfert." 52 Er empfand keinen Widerspruch zwischen der .grausamen Realität' und der .erhabenen Vorstellung'. Solche Hochschätzung der jüdischen Märtyrer von 1096 erschien einer ganzen Generation von jüdischen Forschern ganz natürlich. Die zitierten Äußerungen von Baer wurden 1953 veröffentlicht. Drei Jahre zuvor war in der Festschrift für Alexander Marx ein ebenfalls hebräischer Beitrag von Shalom Spiegel erschienen, indem dieser auf die markante Präsenz des Menschenopfers in den Berichten über die Verfolgungen des Jahres 1096 hingewiesen hatte. 53 Somit war Spiegel der Erste, der es wagte, die Dinge beim Namen zu nennen. Er hat die ungeheure hermeneutische Schwierigkeit sehr richtig gesehen, mit der sich die aschkenasischen Märtyrer konfrontiert sahen, wenn sie ihr Handeln rechtfertigen wollten. Sie fühlten sich als Nachfolger der Erzväter, was sie nachvollzogen, war der Akt Abrahams, der seinen Sohn zur Opferung gebunden hatte. Allerdings läuft die biblische Szene der Opferung Isaaks darauf hinaus, dass Gott in letzter Minute auf das Menschenopfer verzichtet und ein Tieropfer an dessen Stelle setzt (vgl. Gen 22,12). Insofern war Abrahams Handeln nicht vorbildlich für die Märtyrer, denn sie hatten die Versuchung nicht nur soweit bestanden, dass sie sich zur Opferung ihrer Kinder bereit erklärten, sondern im Dazu Y. Baer, The Pogroms of 1096 (hebr.), in: GS S. Assaf J e r u s a l e m 1953, 136f. Ebd., 137. 53 Englisch zugänglich als S. Spiegel, The Last Trial, New York 1967; ursprünglich hebräisch veröffentlicht (in der FS für A . Marx, New York 1950). 51

52

Der Ritualmord

169

Unterschied zu Abraham vollzogen sie sie sogar. Daher war ihr Handeln eigentlich noch verdienstvoller als Abrahams. Spiegel zeigt in seinem Aufsatz, wie sich die D e u t u n g der O p f e r u n g Isaaks unter dem D r u c k dieser Notlage veränderte, wie vereinzelte Aussagen des Midrasch, wonach Abraham seinen Sohn letzten Endes doch getötet habe, im aschkenasischen Kulturbereich neuen Auftrieb erhielten. Die beiden Beiträge von Spiegel und von Baer wurden wenige Jahre nach dem Holocaust niedergeschrieben; dieser U m s t a n d dürfte zu deren H o c h achtung vor dem Leiden und der Tapferkeit der jüdischen Märtyrer im mittelalterlichen Deutschland beigetragen haben. In jenen Jahren k o n n t e der Gedanke, wie entsetzlich diese ihre Hingabe eigentlich war, noch nicht aufkommen. D o c h eine Generation später hat Chaim Soloveitchik darauf hingewiesen, dass das martyrologische Verhalten der Generation von 1096 überhaupt nicht mit der halachischen Kategorie ,Heiligung des göttlichen N a m e n s ' zu erfassen ist. 5 4 Seinen Ausführungen zufolge können die Selbstmörder von 1096 nicht als Märtyrer im halachischen Sinne gelten, vielmehr hätten sie vielleicht sogar ausserhalb des jüdischen Friedhofs beigesetzt werden müssen, wie bei Selbstmördern üblich. Wenn jene ,Märtyrer' von 1096 sich von der talmudischen Halacha hätten leiten lassen, dann hätten sie weder ihre Kinder noch sich selbst zu töten gewagt. A b e r genau das ist es, was sie angeblich getan haben. Bis zu den Motiven der Selbstmörder und Kindestöter vorzudringen, dürfte wohl nicht mehr möglich sein. D o c h wichtiger und zugänglicher für den heutigen B e o b a c h t e r sind die religiösen Vorstellungen der Erzähler, wie sie aus deren Berichten zu erschließen sind. In den C h r o niken und in den liturgischen Dichtungen k o m m e n Anschauungen des 1 2 . J h . zum Ausdruck, wonach das vergossene Blut der G e t ö t e t e n das H e rannahen der Erlösung beschleunigt. Was hier vorliegt, ist ein Loblied auf den blutigen Altar im H i m m e l , auf dem Menschenopfer dargebracht werden. Dieses Loblied beruht zweifellos auf einem Kern von Fakten und auf Fällen, die sich tatsächlich zugetragen haben, denn Indoktrination funktioniert nicht auf der Grundlage reiner Fiktion. Die Kreise, welche die jüdische öffentliche Meinung im 12. J h . bestimmten, wollten extreme Verhaltensweisen, die in der akuten Verfolgungssituation hie und geübt worden sein m ö -

54 H. Soloveitchik, Religious Law and Change: The Medieval Ashkenazic Example, in: AJS Review 12 (1987), 205-221. Ähnliche Beobachtungen bei H.J. Zimmels, Ashkenazim and Sephardim, London 1958, 263; J. Katz, Exclusiveness and Tolerance, New York 1961, 83 f. Grossman, Background (s.o. Anm. 12), 105-119, meint, die Märtyrer hätten im kollektiven Selbstmord der Verteidiger von Mazada, worüber sie aus Sefer Josippon erfahren haben könnten und was in ihren Augen verbindliche Tradition gewesen sei, einen Bezugspunkt für ihr Handeln gefunden; allerdings ist der Fall der Festung Mazada in den hebräischen Chroniken überhaupt nicht erwähnt.

170

Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

gen, für normativ erklären. Diese vielleicht vereinzelten Fälle lösten freilich ein gewaltiges Echo aus. Sie wurden zum Mythos, in dem sich die Herzensregungen der gesamten Gemeinschaft sowie deren tiefstes und wahrhaftigstes religiöses Gefühl verdichteten. Und der tiefe Eindruck, den die Fälle und deren Uberlieferung hinterließen, blieb nicht auf die jüdische öffentliche Meinung beschränkt.

5 Der Eindruck des blutigen Opfers auf die christliche

Umwelt

Es ist nicht sicher, ob die Taten der jüdischen Märtyrer für die christliche Öffentlichkeit bestimmt waren, 5 5 aber sie wurden dort zweifellos bekannt und hatten erhebliche Wirkung. Reaktionen der christlichen Umwelt sind nur in wenigen Quellen auf uns gekommen, aber aus diesen geht eindeutig hervor, dass das jüdische Verhalten auf die christliche Umwelt einen sehr negativen Eindruck machte. Sogar der jüdische Chronist war sich dessen bewusst, wie erschütternd die von ihm berichteten Ereignisse auf christliche Augenzeugen wirkten. Von der Reaktion der Mainzer Bürger auf die Verbrennung der Synagoge durch Isaak b. David war oben schon die Rede. 56 Sie versuchten, ihn aus dem Feuer herauszuziehen, und riefen ihm zu ,du böser Mensch!' - so nach Auskunft des jüdischen Erzählers, der den Mörder und Brandstifter als einen .vollkommenen, aufrechten, gottesfürchtigen Mann' (vgl. Hi 1,1) bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist auch die heftige Reaktion des Mainzer Bischofs Rothard zu nennen; als dieser erfuhr, dass R. Kalonymus, dem er samt seinen Jüngern vorübergehend Schutz gewährt hatte, seinen Sohn geschlachtet habe, soll er gesprochen haben: „Von nun an bin ich sicherlich nicht mehr willens, euch beizustehen!" 5 7 Auch der Mainzer Anonymus erwähnt in seinem Bericht über den Selbstmord der Mainzer Juden, die Mütter, die ihre Kinder erwürgten, „pflegten die Gesichter ihrer zarten Kinder den Heiden zuzuwenden". 5 8 Und der Stadtoberste von Moers ließ im Zuge seiner Bemühungen, die Juden der Stadt zu retten, diese in Gewahrsam nehmen „und zwar einzeln, bis zum andern Tag, damit

55 J. Katz, ebd., meint, die Märtyrer hätten damit vor den Augen der Christen die Wahrheit der jüdischen Religion demonstrieren wollen; doch die Quelle, die Katz als Beleg dafür angibt, ist das Zitat von Ps 79,10 in der Chronik von Salomo b. Simson: „möge kund werden an den Völkern vor unsern Augen die Rache für das vergossene Blut deiner Knechte" (bei Haverkamp 47 [580]); demnach ist es nicht der Tod der Märtyrer, durch den die Christen überzeugt werden sollen, sondern die dadurch ausgelöste messianische Rache. 56 Bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. A n m . 8 ) , 39 (588). 5 7 Ebd., 45 (582). 58 Ebd., 103 (524).

Das blutige Opfer und die christliche Umwelt

171

sie nicht H a n d an sich legten, sie hatten nämlich gehört, daß die anderen H a n d an sich gelegt hatten". 5 9 Auch im Bericht über die Ereignisse in Trier, der sich durch außerordentliche Genauigkeit auszeichnet, ist davon die Rede, dass die Christen Vorkehrungen getroffen hätten, um die J u d e n daran zu hindern, sich oder ihre Kinder zu töten: „ U n d drei Tage, bevor sie ihnen diese Gewalttat [d. i. die bevorstehende Zwangstaufe] mitteilten, waren die Ministerialen ins Palais [d. i. in die dortige Basilika] gekommen und hatten die Wassergrube dort im Palais zugedeckt, denn sie fürchteten, sie würden ihre Kinder dort hineinwerfen und so t ö t e n " . 6 0 Demnach hatte es sich schnell herumgesprochen, dass die J u d e n ihre Kinder lieber töteten als taufen ließen; der P o g r o m in Trier ereignete sich nämlich kurz nach den Ereignissen in Mainz und Worms. Schon damals waren diese Taten der J u d e n in der Öffentlichkeit bekannt geworden und hatten auf die christliche Umwelt tiefen Eindruck gemacht. In diesem Sinne ist das Verhalten der J u d e n in christlichen Chroniken tatsächlich geschildert. Albertus Aquensis etwa betrachtete die T ö t u n g der Kinder als das Schlimmste, was die J u d e n getan hätten: J u d a e i vero, videntes C h r i s t i a n o s h o s t e s in se s u o s q u e parvulos insurgere, et nulli aetati parcere, ipsi q u o q u e in se s u o s q u e c o n f r a t r e s , n a t o s q u e , mulieres, matres et s o r o r e s irruerunt, et m u t u a caede se p e r e m e r u n t . M a t r e s pueris lactentibus, q u o d dictu n e f a s est, g u t t u r a f e r r o secabant, alios t r a n s f o r a b a n t , volentes p o t i u s sie p r o priis m a n i b u s perire, q u a m i n c i r c u m c i s o r u m armis e x s t i n g u i . 6 1

Auch Bernolds Chronik erblickt im Selbstmord der J u d e n eine vom Satan inspirierte T a t . 6 2 U n d in den Gesta

Treverorum

heißt es v o m S e l b s t m o r d

der Trierer Juden: C u m q u e e o d e m fervore civitati T r e v e r o r u m a p p r o p i n q u a s s e n t , Iudaei qui ibi habitabant similia sibi arbitrates fieri, q u i d a m ex eis aeeipientes parvulos s u o s , defixerunt cultros in v e n t r i b u s e o r u m , dicentes, ne f o r t e c h r i s t i a n o r u m vesaniae ludibrio fierent, debere e o s in s i n u m H a b r a h a e transmittere. Q u a e d a m a u t e m ex mulierib u s e o r u m , a s c e n d e n t e s super p e n t e m fluminis et adimpletis sinibus e a r u m et manicis lapidibus, praeeipitaverunt se in p r o f o n d u m . 6 3

Ebd., 61 (566). Ebd., 478. 61 Recueil des historiens des croisades, historiens occidentaux, IV, Paris 1879, 293: Als die Juden aber sahen, sie die christlichen Feinde auf sie und ihre Kinder einstürmten und keinen verschonten, fielen sie selbst über ihre eigenen Brüder, Kinder, Frauen, Mütter und Schwestern her und brachten einander gegenseitig um. Mütter schnitten Säuglingen, so schrecklich es klingt, die Kehle durch, durchbohrten andere, weil sie lieber eigenhändig umkommen wollten, als durch die Waffen der Unbeschnittenen vertilgt zu werden. 62 Bernoldi Chronicon, in: M G H Scriptores V, Hannover 1844, 465: diabolo etpropria duricia persuadente, se ipsos interfecerunt. 63 Gesta Treverorum, in: M G H Scriptores VIII, Hannover 1848, 190: „Da sie [seil, die 59

172

V o m M ä r t y r e r t o d zur Ritualmordlüge

Diese Beschreibung stimmt völlig mit den Angaben der hebräischen Chronik überein, wodurch nicht nur die Glaubwürdigkeit der Quellen bestätigt wird, sondern auch der lebhafte Eindruck, den diese Taten bei Christen und Juden gleichermaßen hinterließen.

5.1 Blutkult und Ritualmord Die zentrale Stellung des Blutkults im Bewusstsein der Generation nach 1096 zusammen mit dessen negativer Bewertung durch die christliche Umwelt wirft neues Licht auf eine gleichzeitig auftauchende, feindselig verzerrende Deutung des jüdischen Blutkults auf christlicher Seite: den Vorwurf des Ritualmords. Die erste Ritualmordbeschuldigung des Mittelalters wurde in den vierziger Jahren des 12. Jh. erhoben. Die chronologisch enge Aufeinanderfolge der beiden Phänomene, Selbsttötung jüdischer Märtyrer und Blutbeschuldigung, sollte Historiker veranlassen, nach etwaigen Zusammenhängen zu forschen. 64 Wenn ich hier der Beziehung zwischen der .rituellen' Tötung von Juden durch Juden und der angeblichen Tötung von Christen durch Juden nachspüre, geht es mir um die große begriffliche Nähe zwischen den hebräischen Berichten über die Ereignisse von 1096 und den Vorwürfen, die der Ritualmordbeschuldigung zu Grunde liegen. In beiden Fällen wird vorausgesetzt, dass Juden bei besonderen Gelegenheiten Menschenopfer darbringen: Wenn sie ihr eigenes Kind unter dem akuten Druck religiöser Verfolgung töten, gilt dies als gutes Werk, wenn sie ein Christenkind töten, gilt dies als Verbrechen. Demnach würde der Unterschied zwischen ritueller Tötung und Ritualmord einzig darin bestehen, wen die Juden töten: ihre eigenen Kinder oder die der Christen. So wie unter den Juden im 12. Jh. die Kunde von außerordentlichen Taten der Märtyrer von 1096 verbreitet wurde, liefen auf christlicher Seite Gerüchte um über das, was die Juden getan hätten. Die jüdische Version, mit positivem Vorzeichen, ist in den hebräischen Chroniken fassbar. Die Ritualmordbeschuldigung ist ein christliches Zerrbild, gestützt

K r e u z f a h r e r ] sich mit derselben Begeisterung der Stadt Trier näherten, meinten die dort w o h n haften J u d e n , ihnen w e r d e A h n l i c h e s w i d e r f a h r e n [wie den J u d e n zu W o r m s und Mainz]; einige u n t e r ihnen nahmen ihre K i n d e r u n d stießen ihnen Messer in die Bäuche, indem sie sprachen, damit sie nicht z u m Spott w ü r d e n durch den W a h n der C h r i s t e n , müssten sie sie in A b r a h a m s S c h o ß b e f ö r d e r n . Einige v o n den Frauen jedoch traten auf die Brücke, die über den Fluss f ü h r te, hatten G e w a n d b a u s c h und Ä r m e l mit Steinen gefüllt, und stürzten sich in die Tiefe. 6 4 Soweit mir bekannt, w a r I. Marcus der Erste, der f ü r eine einschlägige U n t e r s u c h u n g plädierte: „A f u r t h e r avenue that needs to be explored is the relationship between J e w s ritually killing J e w s as m a r t y r s and the Christian accusation, first attested in N o r w i c h 1 1 4 4 , that J e w s ritually kill Christians" schrieb er in seinem Beitrag Hierarchies, Religious Boundaries and J e wish Spirituality in Medieval G e r m a n y , in: Jewish H i s t o r y 1 ( 1 9 8 6 ) , A n m . 2 7 .

173

Das blutige Opfer und die christliche Umwelt a u f die V o r s t e l l u n g , dass die J u d e n e i n e n w e l t w e i t e n K a m p f v o n

messia-

n i s c h e n D i m e n s i o n e n g e g e n das C h r i s t e n t u m f ü h r t e n . D i e a k t u e l l e

Form

dieses K a m p f e s , d e r B l u t k u l t , h ä n g t aufs e n g s t e z u s a m m e n m i t d e s s e n e n d zeitlicher Ausprägung, der R a c h e - E r l ö s u n g . H i s t o r i k e r h a b e n s i c h v e r s c h i e d e n t l i c h die K ö p f e d a r ü b e r

zerbrochen,

w i e s o die C h r i s t e n a u s g e r e c h n e t i m 1 2 . J h . b e g a n n e n , die J u d e n des R i t u a l m o r d s zu bezichtigen. M a n c h e erblickten im V o r w u r f des R i t u a l m o r d s s o z u s a g e n e i n e N e u a u f l a g e v o n B l u t b e s c h u l d i g u n g e n , die in d e r A n t i k e v e r b r e i t e t g e w e s e n w a r e n . N a c h d i e s e r E r k l ä r u n g w ä r e n die a l t e n V o r w ü r f e aus d e r V e r s e n k u n g a u f g e t a u c h t , als E u r o p ä e r i m 1 2 . J h . die L i t e r a t u r des k l a s s i schen Altertums

wieder entdeckten.

Gegen

diese V e r m u t u n g

hat

Gavin

L a n g m u i r ü b e r z e u g e n d dargetan, dass diejenigen Kreise, die an einen u n t e r J u d e n üblichen B l u t k u l t glaubten, keinerlei K e n n t n i s der antiken

Quellen

f ü r die B l u t b e s c h u l d i g u n g b e s a ß e n . 6 5 E i n e a n d e r e E r k l ä r u n g h a t C e c i l R o t h v o r g e t r a g e n . E r m e i n t e , dass d e r j ü d i s c h e B r a u c h , z u P u r i m eine H a m a n - F i g u r z u h ä n g e n , bei d e n C h r i s t e n als e i n e V e r s p o t t u n g J e s u g e d e u t e t w o r d e n sein k ö n n t e . 6 6 D a r a u s h a b e s i c h die

65 G. Langmuir, Thomas of Monmouth: Detector of Ritual Murder, in: Speculum 59 (1984), 827. Zu Blutbeschuldigungen, die gegen christliche Ketzer erhoben wurden, s. den Beitrag von A. Patschovsky, Der Ketzer als Teufelsdiener, in: H. Mordek (Hg.), Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter (FS H. Furhmann), Tübingen 1991, 317-334. Patschovsky führt aus, dass solche Beschuldigungen bereits in der Antike verbreitet waren, dass jedoch die literarischen Quellen, in denen über solche berichtet wird, im Mittelalter nicht bekannt waren. Er nennt zwei lateinische Berichte über Vorwürfe, dass Ketzer Kinder ermordet hätten, einen aus dem 11.Jh. (durch einen Mönch namens Arefast im Jahre 1078) und einen in der Autobiographie des Guibert de Nogent von 1115. Erst vom ersten Drittel des 13.Jh. an werden diese Beschuldigungen zu einem üblichen Vorwurf gegen Ketzer. Selbst wenn die Ritualmordbeschuldigung wider die Juden eine Ausweitung des entsprechenden gegen Ketzer erhobenen Vorwurfs sein sollte, müssten wir weiter fragen, wie die Gleichsetzung von Juden mit Ketzern zustande kam und weshalb gerade im 12. Jh. Prinzipiell ist die Frage zu stellen, warum eine Welle von Ritualmordbeschuldigungen wider die Juden sich über England, Frankreich und Deutschland in der 2. Hälfte des 12. Jh. ergoss, lange bevor der entsprechende Vorwurf wider die Ketzer in Übung kam.

" C. Roth, The Feast of Purim and the Origins of the Blood Accusation, in: Speculum 4 (1933), 520-526. Der jüdische Brauch, zu Purim eine Haman-Figur zu verbrennen, um damit auf Jesu Kreuzigung zu verweisen, ist ausführlich behandelt bei E. Horowitz, The Rite to be Reckless. On the Perpetration and Interpretation of Purim Violence, in: Poetics Today 15 (1994), 9-54. Die von Roth eingeschlagene Linie von der Erhängung des Haman zu Purim zur Ritualmordlüge verfolgt auch G. Mentgen, Uber den Ursprung der Ritualmordfabel, in: Aschkenas 4 (1994), 405^116. Der Brauch des Haman-Verbrennens steht allem Anschein nach auch hinter folgender Erzählung: Bischof Eberhard von Trier soll im Jahre 1066 die Juden der Stadt mit Ausweisung bedroht zu haben, wenn sie sich nicht bis zum Sabbat vor Ostern zum Christentum bekehrten. Daraufhin fertigten die Juden an ihrem Pessach-Fest eine Wachsfigur des Bischofs an und bewogen einen Priester durch Bestechung, diese zu taufen. Als der gesetzte Termin herankam und der Bischof sich anschickte, die Juden taufen zu lassen, verbrannten sie sein wächsernes Ebenbild, woraufhin der Bischof erkrankte und starb (Gesta Treverorum, s.o.

174

Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

Vorstellung entwickelt, Juden brauchten zu Pessach, dem unmittelbar auf Purim folgenden Fest, das Blut eines Christenkindes. Roth ging davon aus, Ostern könne gelegentlich mit Purim zusammenfallen. Dies war der Fall im Jahre 1932, ein Jahr vor Veröffentlichung des Rothschen Beitrags. Allerdings war die Koinzidenz von Ostern und Purim erst nach der Gregorianischen Kalenderreform von 1582 möglich; im Mittelalter fielen die beiden Termine nie zusammen, Purim konnte allenfalls in der Fastenzeit liegen. Roths Erklärung enthält zwar ein fehlerhaftes Detail, aber sein Gedankengang ist nichtsdestoweniger richtig. Purim hat eine innere Beziehung zu Pessach und insofern auch zu Ostern. Ein äußeres Merkmal dafür ist die halachische Vorschrift, sich die religiösen Bestimmungen für Pessach dreißig Tage zuvor 6 7 in Erinnerung zu rufen, d. i. von Purim an. Der tiefere Grund

A n m . 63, 182f). Behandelt ist diese Episode bei A. Haverkamp, Die J u d e n im mittelalterlichen Trier, in: Kurtrierisches Jahrbuch 19 (1979), 6. Ein ähnlicher Fall ist in der hebräischen C h r o nik Maasse nom (,eine schreckliche Geschichte') berichtet: Ein gewisser Apostat soll im Jahre 992 die Juden zu Le Mans verleumdet haben, sie trachteten dem Bischof nach dem Leben: „Er machte sich ein wächsernes Menschenbild, darum dass seine Seele dahingeschmolzen war wie Wachs vor dem Feuer. Er ging hin u n d legte das Bild in einem hölzernen Kästchen in die Synagoge, zu den Rollen, wo die göttliche Tora aufbewahrt wird. D a n n ging er hin und sagte z u m F ü r s t e n des Landes: Weißt du, was diese Leute gemacht haben? Sie haben ein wächsernes A b bild von dir gemacht, das durchbohren sie dreimal im Jahr, um dich von der Erde zu vertilgen. So haben ja schon ihre Väter deinem G o t t getan. [...] Auch Schriftliches haben sie über dich niedergelegt, so fluchen sie deinem N a m e n jeden Tag. N u n möge mein H e r r mit seinem Knecht hingehen, dann zeige ich dir in dem Kästchen das Wachsbild, das sie gemacht haben; wenn es sich aber nicht so verhält, dann töte mich". U n d so geschah's: „Da ließ der H e r r das Kästchen bei den Rollen suchen, das Wachsbild fand sich darin, und so sah es aus: die H ä n d e an den H ü f ten u n d Nägel zwischen den Knien, u n d die F ü ß e abgehauen", doch die Schriftstücke, mit denen die Juden angeblich den Landesfürsten verfluchen, wurden nicht gefunden (A. Berliner/O. Tov, Berlin 1878, 49-52; R. Chazan, T h e Persécution of 992, in: REJ 129 [1970], 217-221). U b e r einen jüdischen Brauch, jedes Jahr ein wächsernes Jesusbild zu kreuzigen, berichtet Arnold von Lübeck, s. H . Schreckenberg, Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte (11.-13.Jh.), F r a n k f u r t / M . 1988, 399. Das Motiv der Verunglimpfung des Kreuzes wird bei Eliahu Capsali zur Erklärung verwendet, weshalb die aschkenasischen Juden ausgewandert seien. Er erzählt von einem Vertreter der Obrigkeit, der einen christlichen Schuster aufgefordert habe: „ N i m m dir dieses (kleine) Kreuz, leg es in den Schuh eines Juden und nähe es gut fest". Daraufhin w u r den die Juden beschuldigt, das Kreuz mit F ü ß e n getreten zu haben, und z u m Feuertod verurteilt (Seder Eliahu suta, M. Shmuelevitz/A. Simonsohn/S. Benayahu (Hg.), II, Jerusalem 1977, 230-232). U b e r einen österreichischen Juden, der eine H o s t i e in seinen Schuh gelegt haben soll, berichtet auch Johannes von W i n t e r t h u r (bei Lotter, Hostienfrevelvorwurf, s.u. A n m . 106, 579). Eine Anspielung darauf findet sich in einer liturgischen D i c h t u n g des R. Me'ir von Rothenburg, worin er den christlichen Vorwurf zitiert, Juden trügen ,den christlichen G o t t ' in den Kleidern bzw. in den Schuhen (Haberman, Geserot, 181). Dazu ferner J. Shatzmiller, La communauté juive de Manosque au Moyen Âge, M o u t o n 1978 (Etudes Juives 15), 133 f. Z u m Zusammenhang von Purim mit der Vernichtung des C h r i s t e n t u m s s. auch oben, Kap. III, A n m . 107 sowie C h r . Cluse, Blut ist im Schuh. Ein Exempel zur Judenverfolgung des „Rex Armleder", in: F. Burgard/Chr. Cluse/A. Haverkamp (Hg.), FS A. Heid, Trier 1996, 371-392. 67

b Pessachim 6a; laut b Bechorot 58a nur zwei Wochen vorher.

Das blutige O p f e r und die christliche Umwelt

175

hängt inhaltlich mit der zu Purim geschehenen Errettung zusammen, denn der böse Haman wurde während der Pessach-Woche hingerichtet. Nach Auskunft der Esther-Rolle warf Haman das Los am 13. Nissan, und das ausgeloste Datum für die Vernichtung der Juden fiel elf Monate danach, nämlich auf den 13. Adar. Sogleich mit Bekanntwerden dieses Termins setzte Esther ein dreitägiges Fasten an, und am dritten Tag (also am 15. Nissan) lud sie den König und Haman zum ersten Symposion. Tags darauf lud sie die beiden nochmals zum Symposion, bei dem sie dann Hamans Vernichtungspläne enthüllte; dieser wurde sogleich hingerichtet. Die Erzählung von der Errettung der Juden in der persischen Hauptstadt erinnert auch in typologischer Hinsicht an die Erzählung des Auszugs aus Ägypten. In der entscheidenden Nacht, der Nacht des 15. Nissan, fand der König keinen Schlaf (vgl. Est 6,1) - was an die Nacht des Exodus erinnert, als Israels G o t t die Erstgeborenen Ägyptens erschlug (vgl. Ex 12,29), woraufhin dieser Termin als eine ,Nacht des Wachens' für alle künftigen Generationen eingesetzt wurde (vgl. Ex 12,42). Der Bericht von der Erlösung von Purim folgt teilweise dem alten Topos des Auszugs aus Ägypten. So erhellt der Zusammenhang zwischen Hamans Exekution und Jesu Kreuzigung (Näheres dazu s. u. Kap. V). Roth war der Erste, der versucht hat, den wider die Juden erhobenen Vorwurf des Ritualmords mit irgendeinem Verhalten ihrerseits in Verbindung zu bringen; schließlich kann auch das wildeste Phantasiegebilde einen realen Hintergrund haben. Demnach wäre der angebliche Ritualmord eine jüdische Eigenschaft oder Verhaltensweise in extrem verzerrter Form. In Weiterverfolgung dieser gedanklichen Linie möchte ich hier eine weitere Erklärung anbieten, weshalb die Ritualmordlüge ausgerechnet im 12.Jh. aufkommt. Mit .Erklärung' ist hier keine direkte, geschweige denn ausschließliche Ursache gemeint, vielmehr gehe ich den Umständen nach, unter denen die Ritualmordlüge Zustandekommen konnte, und versuche zu verstehen, wie diese Lüge sich in der Vorstellung gewisser Kreise innerhalb der christlichen Gesellschaft festsetzen konnte. Dabei geht es mir nicht um die Aufdeckung der Hintergründe für die erstmalige Erhebung des Ritualmordvorwurfs, sondern ich untersuche, wie die Ritualmordlüge sich so rasch verbreiten und so weithin Glauben finden konnte, und zwar seit der Mitte des 12.Jh. Als die erste Ritualmordlegende des Mittelalters gilt die Affäre, die sich 1144 im britischen Norwich zugetragen haben soll. 68 U m die Osterzeit je-

68

Langmuir, T h o m a s of M o n m o u t h (s.o. A n m . 6 5 ) , 820-846; ders., Historiographie Crucification, in: G. Dahan (Hg.), Les Juifs au regard de l'histoire (FS B. Blumenkranz), Paris 1985, 109-127; F. Lotter, Innocens Virgo et Martyr - T h o m a s von M o n m o u t h und die Verbreitung der Ritualmordlegende im Hochmittelalter, in: R. Erb (Hg.), Die Legende vom Ritualmord Zur Geschichte der Blutbeschuldigungen gegen Juden, Berlin 1993, 25-72.

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

nes Jahres verschwand ein Christenknabe namens William, der bei Juden gearbeitet hatte, und seine Angehörigen beschuldigten die Juden, ihn ermordet zu haben. Die zeitliche Nähe zu Ostern ließ den Verdacht aufkommen, die Juden hätten ihn zu kultischen Zwecken umgebracht, sozusagen in Nachahmung der Kreuzigung Jesu. Allem Anschein nach war die öffentliche Meinung bereit, solche Beschuldigungen zu akzeptieren. Der Benediktinermönch Thomas von Monmouth, der 1149 nach Norwich kam, vertrat die Uberzeugung, jener William sei ein Heiliger, der einem Ritualmord zum Opfer gefallen sei; er verfasste eine Biographie, um die Heiligkeit des Knaben darzutun. 6 9 Langmuir meint, Thomas von Monmouth habe mit der Niederschrift des Buches bereits 1150 begonnen, doch McCulloh meint, es könne nicht vor 1155 gewesen sein. 70 Außerdem hat McCulloh einen Beleg dafür gefunden, dass Informationen über die Blutbeschuldigung von Norwich ins kontinentale Europa gelangten, noch bevor jene ,Märtyrerlegende' aufgezeichnet wurde: In einem Märtyrerverzeichnis aus Bayern findet sich aus den späten vierziger Jahren des 12. Jh. eine Notiz über den Knaben William, der in England am 17. April von Juden gekreuzigt worden sei. Nachrichten über den Fall von Norwich dürften um das Jahr 1147 nach Deutschland gekommen sein. Demnach wäre die erste Blutbeschuldigung in Deutschland, und zwar in Würzburg, ungefähr zeitgleich mit der englischen. 71 Im Frühjahr 1147 wurden die Würzburger Juden beschuldigt, einen Christen ermordet zu haben. Zu dieser Affäre liegen zwei Quellen vor, die eine hebräisch, die andere lateinisch. Der hebräische Bericht steht im sog. ,Buch des Gedenkens' des R. Ephraim b. Jakob von Bonn:

" A . Jessop/M.R. James (Hg.), The Life and Miracles of St. William of Norwich, Cambridge 1896. Bei W.-E. Peuckert, Art. Ritualmord, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens VII (Berlin-Leipzig 1935-36), 728, ist 1148 als das Jahr der Blutbeschuldigung von Norwich angegeben. 70 J. McCulloh, Jewish Ritual Murder: William of Norwich, Thomas of Monmouth, and the Early Dissemination of the Myth, in: Speculum 72 (1997), 698-740. 71 S. Baron, A Social and Religious History of the Jews, IV, New York/London 1957, 138 betrachtet den Fall in Fulda 1235 als die erste Ritualmordbeschuldigung gegen Juden in Deutschland. Auch Gavin Langmuir, Toward a Definition of Antisemitism, Berkeley 1990, 268 meint, vor Fulda seien Juden in Deutschland zwar des Mordes an Christen bezichtigt worden, aber nicht des Ritualmords. Nun war zwar Fulda der erste Fall, wo Juden unterstellt wurde, sie brauchten Christenblut (zum Backen von Mazzot, als Heilmittel u.a.m.), aber des Ritualmords wurden Juden in Deutschland bereits im 12. Jh. beschuldigt, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Langmuir (266f) kritisiert den Sprachgebrauch jüdischer Historiker, die auch im Zusammenhang von Mordaffären ohne kannibalische Aspekte von .Blutbeschuldigung' sprechen, aber der Terminus .Blutbeschuldigung' hat sich für alle gegen Juden erhobenen Mordanklagen eingebürgert, auch wenn angebliche kultische Verwendung des Blutes nicht ausdrücklich genannt ist. Der englische Sprachgebrauch lautet anders: Da die Bezeichnung .ritual murder' nicht die Fiktionalität der Anklage impliziert, ist sie durch den Terminus ,blood libel' ersetzt worden.

Das blutige Opfer und die christliche Umwelt

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E s geschah a m 2 2 . des M o n a t s A d a r , da e r h o b e n sich böse L e u t e über die G e m e i n d e v o n W ü r z b u r g , sämtliche G e m e i n d e n h a t t e n sich nämlich s c h o n ins G e birge und in B u r g e n geflüchtet, nur sie h a t t e n gedacht, in R u h e w o h n e n zu bleiben, d o c h sieh da, K u m m e r , dreimal Wehe. Sieh da, sie h ä n g t e n ihnen L u g und T r u g an, sich z u s a m m e n z u r o t t e n und über sie herzufallen. Sie sprachen: W i r haben einen N i c h t - J u d e n im F l u s s gefunden, den habt ihr g e t ö t e t u n d in den Fluss g e w o r f e n , der ist heilig geworden, siehe, er tut W u n d e r . Daraufhin e r h o b e n sich die K r e u z f a h r e r und das ganze niedrige Volk, die grundlos f r o h l o c k e n , und erschlugen sie [ . . . ] etwa e i n u n d z w a n z i g P e r s o n e n . 7 2

Bestätigt wird die Schilderung bei R. Ephraim von B o n n durch die sog. Würzburger Annalen. 7 3 Sogar die Anzahl der G e t ö t e t e n stimmt in den beiden Quellen überein. Auch im lateinischen Bericht ist erwähnt, wie rasch das G e r ü c h t um sich griff, der Leichnam des toten Christen wirke Wunder. In der lateinischen Quelle steht außerdem, dass der B i s c h o f am O r t die t o ten J u d e n habe in seinem Garten beisetzen lassen; nach einiger Zeit hätten die J u d e n diesen O r t käuflich erworben und einen Friedhof daraus gemacht. Drei Umstände deuten darauf hin, dass es sich bei der Würzburger Affäre um eine Ritualmordlüge handelt: D e r Vorgang ereignete sich etwa eine Woche nach Purim, d.h. zu einer religiös empfindlichen Zeit; der Leichnam des G e t ö t e t e n wirkte Wunder; viele Juden wurden getötet, was auf kollektive Anschuldigung schließen lässt. Es war die Zeit der Judenverfolgungen im Verlauf des Zweiten Kreuzzugs, und Würzburg lag an der Route der Kreuzfahrer. D e r Zusammenhang zwischen der Ritualmordlüge und dem Kreuzzug ist bei R. Ephraim vorausgesetzt. Letzten Endes stellte sich zwar heraus, dass die Judenverfolgungen des Zweiten Kreuzzugs nicht so erhebliche Ausmaße erreichten wie die des Ersten, weil die Kreuzfahrer unter sorgfältigerer Kontrolle standen, aber das hatten die Zeitgenossen nicht im voraus wissen können. Was ihnen vorschwebte, war das Geschehen des Ersten Kreuzzugs sowie das damalige Verhalten der Juden. In der Erinnerung der Christen tauchte wieder das Bild der J u d e n auf, wie sie sich und ihre nächsten Angehörigen umbringen. D i e se Taten wurden als Beweis für den mörderischen Charakter und die wilde Entschlossenheit der Juden gewertet, alles zu tun, was der christlichen Religion schaden könnte. Vor diesem Hintergrund wird die wider die W ü r z b u r ger J u d e n erhobene Beschuldigung verständlich. D i e uns vorliegenden Quellen lassen keinen eindeutigen Schluss zu, welche Affäre die erste war, die sicher belegte in Würzburg 1147 oder die erst einige Jahre später bezeugte, die sich 1144 im britischen Norwich zugetra-

72 Haberman, Geserot, 119; Sefer Sechira (s.o. A n m . 8 ) , 22f. Weitere Einzelheiten dazu finden sich im Nürnberger Memorbuch, bei Salfeld, Martyrologium (s.o. A n m . 4 ) , 120. 7> Annales Herbipolenses, in: M G H Scriptores, X V I , Hannover 1859, 3, A. 1147; J. Aronius, Regesten zur Geschichte der Juden, Berlin 1902, 113f, Nr. 245.

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

gen haben soll. Die Untersuchungen von McCulloh haben ergeben, dass Nachrichten über die Vorgänge in England sich rasch auf den Kontinent hinüber verbreiteten, und Informationen dürften in beide Richtungen vermittelt worden sein. Genau lässt sich der Ablauf des Geschehens zwar nicht rekonstruieren, aber die Vermutung hat doch viel für sich, dass Angehörige des Getöteten von Norwich den Vorwurf des Ritualmords bereits 1144 erhoben. Diese (oder ähnliche) Anschuldigungen wurden während des Zweiten Kreuzzugs in Deutschland ohne weiteres akzeptiert.

5.2 Verbreitung der

Blutbeschuldigung

Hier geht es nicht um die Klärung, wann und warum genau welche Ritualmordlügen aufkamen, sondern um die Verbreitung des Phänomens. Wodurch erhielten diese Vorwürfen wider die Juden so großes Gewicht in der christlichen öffentlichen Meinung? Die Vorstellung, dass Juden das Christentum so hassen, dass sie darüber zu Mördern werden, war keine Innovation des 12. Jh. Ihre Wurzeln reichen zurück bis hin zu den Kreuzigungsberichten der Evangelien und zu christlichen Legenden, die seit dem 6.Jh. belegt sind. Doch ist das noch keine Antwort auf die Frage, warum diese scheinbar schlafenden Phantasiebilder mit solcher Heftigkeit und über einen weiten geographischen Raum hin zu neuem Leben erwachen - ausgerechnet in den 40er Jahren des 12.Jh. Mir scheint, die Figur des jüdischen Märtyrers vor dem Hintergrund der Verfolgungen von 1096 hat nicht unwesentlich dazu beigetragen. Anscheinend schrieb Thomas von Monmouth sein Buch über den mutmaßlichen christlichen Märtyrer William von Norwich, um in England und auf dem europäischen Kontinent bereits umlaufende Gerüchte, wonach die Juden ein mörderisches und gefährliches Element seien, lokalen Gegebenheiten anzupassen. Gerade weil England von den Zentren jener Gerüchte relativ weit entfernt lag, war mehr Propaganda erforderlich; so kam es, dass die erste Schrift des Mittelalters über angeblich von Juden begangenen Ritualmord in England entstand. So betrachtet, wird ein ansonsten irritierender Umstand verständlich: Das Buch des Thomas von Monmouth ist die ausführlichste Ritualmordschilderung des Mittelalters - zumindest bis zur Trienter Blutbeschuldigung von 1475. Demnach wäre die .erste' Ritualmordaffäre auch die am ausführlichsten dokumentierte. Das läuft der sonstigen Erfahrung zuwider, wonach Berichte über historische Ereignisse mit jedem sich neu ereignenden Fall länger und detaillierter werden; hier dagegen ist der früheste Bericht der längste. Die Erklärung dafür ist wohl darin zu suchen, dass Thomas und die Mönche in seinem Gefolge ein Publikum überzeugen mussten, das nicht ohne weiteres bereit war zu glauben, dass der Knabe William den Märtyrertod gestorben war; dass Zweifel geäußert

Das blutige Opfer und die christliche Umwelt

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wurden, steht bei Thomas sogar zu lesen. Bei der Blutbeschuldigung von Blois im Jahre 1171 ist berichtet, wann immer eine Christenleiche gefunden werde, falle der Verdacht auf die Juden. 7 4 In Frankreich und Deutschland bedurfte es offenbar keiner Propaganda-Schriften, um die Blutlüge glaubhaft zu machen. R. Elasar b. Jehuda, der Verfasser von Sefer haRokeach, berichtet, dass die Mainzer Juden im Jahre 1187 beschuldigt worden seien, einen Christen getötet zu haben. Die Juden beschworen ihre Unschuld; bei dieser Gelegenheit mussten sie auch schwören, dass „sie am Vortag von Pessach keinen Christen umbrächten". 75 Daraus geht hervor, dass im Jahre 1187 bereits die Vorstellung in Deutschland verbreitet war, dass Juden vor Pessach einen Christen töteten. Auch die 1171 wider die Juden von Blois erhobene Beschuldigung, sie hätten einen Christen getötet, fiel in die Zeit um Pessach. So steht es ausdrücklich bei Robert de Torigny: „Häufig tun sie dies, wie gesagt, in der Zeit ihres Pessach-Festes, wenn sie die Gelegenheit dazu haben." 76 Langmuir meint, die Juden von Blois seien eines gewöhnlichen Mordes beschuldigt worden, und Robert de Torigny, dem er die Verbreitung der NorwichAffäre auf dem Kontinent zuschreibt, habe das Element des Ritualmords (Kreuzigung zu Ostern) nachträglich hinzugefügt. 77 Allerdings war der Hinrichtung der Juden von Blois am 20. Siwan ein Prozess vorangegangen,

74 Haberman, Geserot, 145. So geschah es auch den Juden von Speyer im Jahre 1195: „Gefunden ward eine ermordete Christin etwa drei Parasangen weit von der Stadt Speyer entfernt. Da frohlockten die Christen ohne Grund (Anklang an den lateinischen Namen der Stadt: Nemetum), über die Juden ein Geschrei zu erheben, sie hätten sie umgebracht" (Sefer Sechira, s.o. Anm.8, 42f). Im Jahre 1197 hatte in der Stadt Neuss tatsächlich ein Jude ein Christenmädchen getötet: „In seinem Grimm brachte der Ewige Verderben über sein Volk durch einen verruckten Juden, der über ein christliches Mädchen in der Stadt Neuss herfiel und es vor aller Augen schlachtete" (ebd., 40; im Original wird die Jahreszahl mit 1186 angegeben). Daraufhin wurden sechs von den Juden der Stadt hingerichtet; vgl. auch die Affäre von Boppard (Haberman, Geserot, 126). Der Unterschied zwischen den Blutbeschuldigungen in Deutschland und denen in England und Frankreich ist untersucht bei G. Langmuir, L'absence d'accusation de meurtre rituel a l'ouest du Rhone, in: Cahiers des Fanjeaux II: Juifs et judai'sme de Languedoc, Toulouse 1977, 235-249. In Deutschland trugen sie volkstümlichen Charakter, und die Juden wurden als gemeingefährlich dargestellt, nicht nur als Christenfeinde (Kannibalismus-Motiv). Demgegenüber gingen Blutbeschuldigungen in Frankreich und England auf Kleriker zurück und waren von dezidiert christlich-religiösen Elementen geprägt (Kreuzigungsmotiv). Die hier vorgetragene Erklärung für den Beginn der Ritualmordlüge geht mit diesem Befund gut zusammen. Ebenso besteht Ubereinstimmung mit den oben, Kap. III, herausgearbeiteten Unterschieden zwischen den Erwartungen der aschkenasischen Judenheit in Bezug auf das Schicksal der Christen in der Endzeit und der jüdischen Haltung gegenüber den Christen in den übrigen Ländern des christlichen Europa. 75 Haberman, Geserot, 161. 76 R. Howlett (Hg.), Chronicles of the Reigns of Stephen, Henry II., Richard I., IV, London 1889 (Rolls Series 82), 250f. 77 Langmuir, Antisemitism (s.o. Anm.71), 284.

180

Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

so dass die Beschuldigung wider sie ca. zwei Monate zuvor erhoben worden sein dürfte, um Ostern herum. Eine Bestätigung für den Termin findet sich in dem Schreiben der jüdischen Gemeinde von Orléans, das bald nach dem Feuertod der Juden von Blois verfasst wurde. Dort steht zu lesen, der angebliche Ritualmord habe sich „an dem verfluchten Donnerstag, abends, nach Einbruch der Dunkelheit" ereignet. 78 Dieses Datum ist auch bei Ephraim von Bonn bezeugt: „der böse Tag, Donnerstag, um die Abendzeit". 79 Präziser brauchten die beiden das Datum nicht anzugeben, denn die Bezeichnung ,böser' bzw. .verfluchter' Donnerstag ist die exakte Umkehrung des .heiligen Donnerstag' (jeudi saint), d.i. Gründonnerstag. Im Jahre 1171 fielen die beiden ersten Feiertage des Pessach-Festes auf DienstagMittwoch (23.-24. März), und an diesen Tagen war sicherlich kein Jude mit einem Lederbündel unter dem Arm zum Fluss hinuntergegangen, wie dort berichtet. Es handelte sich um Donnerstag, nach christlicher Rechnung Gründonnerstag, den Tag unmittelbar vor Karfreitag, dem Tag der Kreuzigung Jesu. Daraus erhellt, dass in Blois von vornherein ein Ritualmordprozess vorlag - Robert hat also nichts hinzuerfunden. Ein deutliches Echo der Affäre von Blois samt ihrem Datum ist aus der Chronik des Rigord zu vernehmen. Dort steht zu lesen, König Philippe Auguste habe 1182 die Juden aus Frankreich vertrieben, weil ihm in seiner Kindheit das Gerücht zu Ohren gekommen war, die Juden zu Paris töteten alljährlich am Gründonnerstag einen Christen. 80 Demnach hängt die erste Judenvertreibung Europas mit dem Uberhandnehmen der Gerüchte über angeblich von Juden verübte Ritualmorde zusammen. In den beiden erwähnten Fällen, Mainz und Blois, ist weder von kannibalischer Verwendung des Blutes noch von Kreuzigung des Opfers die Rede. Daraus schließt Langmuir, die Anklage habe nur auf Tötung gelautet, nicht auf Ritualmord. Doch die unmittelbare Nähe zu Pessach beweist, dass es sich um den Vorwurf des Ritualmords in einer mit messianischen Erwartungen geladenen Zeitspanne gehandelt haben muss, selbst wenn die nachmals klassischen Elemente des .Ritualmords' damals noch nicht voll ausgeprägt waren. Demnach war es unter Christen im 12. Jh. eine Selbstverständlichkeit, die Juden des Ritualmords zu bezichtigen, zuerst in Deutschland, danach auch in England und Frankreich. In den Mittelmeerländern dagegen, insbesondere in Spanien, fand die Ritualmordlüge bis 1350 kaum Eingang. Dieser Befund geht zusammen mit der Zurückhaltung der dortigen Judenheit gegen-

78

80

Haberman, Geserot, 143. Ebd., 124. Lotter, Virgo et Martyr (s. o. Anm. 68), 51.

Das blutige Opfer und die christliche Umwelt

181

über dem Märtyrertod als Ideal sowie mit der religiösen - nicht politischen - Definition von ,Edom' bei der endzeitlichen Auseinandersetzung.

5.3 Ritualmord und

Rache-Erlösung

D e r vermutete Zusammenhang zwischen Ritualmordbeschuldigung, Märtyrertod und Rache-Erlösung wird deutlich, wenn wir das wichtigste Argument untersuchen, das Thomas von M o n m o u t h zur Erhärtung des Vorwurfs vorbrachte, der Knabe William habe den Märtyrertod durch Juden erlitten. Zu diesem Zweck beruft er sich auf die Aussage des jüdischen Apostaten Theobald von Canterbury, der Folgendes zu berichten wusste: In den alten B ü c h e r n der J u d e n steht geschrieben, o h n e das Vergießen v o n M e n schenblut w ü r d e n sie ihre F r e i h e i t nicht wiedererlangen und k ö n n t e n nie m e h r in ihr L a n d z u r ü c k k e h r e n . 8 1 D e m e n t s p r e c h e n d erließen sie v o n A l t e r s her eine Vero r d n u n g , dass sie jedes J a h r einen C h r i s t e n an irgendeinem O r t auf der Welt d e m h ö c h s t e n G o t t o p f e r n m ü s s t e n u n t e r V e r h ö h n u n g und Verunglimpfung C h r i s t i ; dadurch rächen sie sich für den F l u c h , den J e s u s ihnen auferlegte, denn nur wegen C h r i s t i T o d w u r d e n sie aus ihrem L a n d vertrieben und z o g e n ins Exil als Sklaven im f r e m d e n L a n d e . D a h e r k o m m e n die A n f ü h r e r der spanischen J u d e n s c h a f t in N a r b o n n e z u s a m m e n , a m Sitz des K ö n i g t u m s , w o sie die g r ö ß t e E h r e genießen, d o r t werfen sie das L o s über sämtliche L ä n d e r , w o J u d e n w o h n e n . D i e J u d e n in der H a u p t s t a d t des Landes, w o r a u f das L o s gefallen ist, losen e b e n s o aus, und der O r t , auf den das L o s gefallen ist, muss die ihm zugefallene Aufgabe erfüllen. In d e m J a h r , da William g e s c h l a c h t e t wurde, war das L o s auf N o r w i c h gefallen. 8 2

Dieser Abschnitt besteht aus zwei Teilen. Im ersten geht es um das Motiv der Juden für die Durchführung des Verbrechens; im zweiten soll erklärt werden, weshalb die Tat gerade in Norwich begangen worden sei. Die M o t i vation wird als ein Plan von universalen Ausmaßen geschildert. D e r Apostat spricht nicht von Rachegelüsten allgemeiner Art, sondern von einer religiösen Einstellung, die in der Rache an den Christen die notwendige Vorbedingung für das Einsetzen des messianischen Geschehens erblickt. Durch den Vollzug dieser Rache wollten die Juden ihre Freiheit wiedererlangen und in ihr Land zurückkehren. Aus Theobalds Worten ist die deutliche Verknüpfung der Erlösungsvorstellungen in Judentum und Christentum zu entnehmen. Wenn das Christentum in der Rache Gottes einen bereits vollzogenen Akt erblickt, nämlich die Zerstörung Jerusalems und die Exilierung der J u den, dann sieht das Judentum in der göttlichen Rache einen Akt, dessen Vollzug erst im messianischen Zeitalter zu erwarten ist. D e r Vorwurf des Ri81 Möglicherweise die verzerrte Wiedergabe von Gedanken, wie sie im Midrasch ExR X V 12 ausgedrückt sind. 82 Jessop/James (Hg.), Life and Miracles (s.o. A n m . 6 9 ) , II, 93 f.

182

V o m M ä r t y r e r t o d zur R i t u a l m o r d l ü g e

tualmords stützt sich auf ein christliches Zerrbild der jüdischen Rache-Erlösung, das ungefähr so zu rekonstruieren wäre: Die Juden haben J e s u m gekreuzigt, dafür sind sie verflucht und aus ihrem Land vertrieben worden; das ist die .Rache des Heilands'. D o c h da die Juden so verblendet sind, die H o f f n u n g auf Heimkehr in ihr Land nicht aufzugeben, geht diese ihre H o f f n u n g notgedrungen mit einem umgekehrten Racheakt zusammen, nämlich mit der Tötung von Christen. Dieser Apostat argumentiert hier wie ein raffinierter Lügner: seine Aussagen sind Halbwahrheiten. Die aschkenasische Judenheit des Mittelalters glaubte tatsächlich, dass die Vernichtung der Nicht-Juden eine Vorbedingung für das Eintreten der endzeitlichen Erlösung sei. Solche messianischen Vorstellungen waren in der ersten Hälfte des 12.Jh. sowohl unter Christen als auch unter Juden zu neuem Ansehen gelangt, wobei auf beiden Seiten dem Mythos von Blut und Opfer große Bedeutung beigelegt wurde. Dieser Ansatz, wonach die Tötung eines einzigen Knaben in England ein messianischer Akt von universaler Tragweite war, verlangte nach einer Erklärung, weshalb die Juden ausgerechnet das britische Norwich zum Schauplatz ihres Rache-Akts gewählt hatten. So entstand die Fiktion von der Versammlung der jüdischen Führung in Narbonne, wodurch das Geschehen in Norwich seines lokalen Charakters entkleidet und auf eine gemeinjüdische Ebene gestellt wurde. Diese Fiktion sollte dann auch hinter dem Vorwurf der Brunnenvergiftung im 14. Jh. stehen. Das Motiv des Auslosens rückt die Erzählung in die N ä h e von Purim und dient als Beweis für die Feindseligkeit der Juden. 8 3 Der zweite Teil des zitierten Abschnitts verstärkt den Eindruck, dass Thomas von Monmouth zugunsten von Norwich (das dadurch seinen eigenen .Heiligen' erhielt) auf dem Kontinent bereits verbreitete Gerüchte bezüglich der Mordgier und des Blutkults der Juden einsetzte.

5.4 Taufe in Flüssen und sonstigen

Gewässern

Der Zusammenhang von Ritualmordlüge mit der Vorstellung von der Rache-Erlösung kommt auch in späteren Zeiten deutlich zum Ausdruck. Bei der peinlichen Befragung der Juden im Ritualmordprozess von Trient war es den christlichen Inquisitoren wichtig, den Juden auf der Folter das Geständnis zu entlocken, sie pflegten zu Pessach Ps 79,6 zu rezitieren. Die Verknüpfung von Ritualmordlüge und jüdisch-messianischen Vorstellungen ist auch auf den verschiedenen Bildern der .Judensau' auf dem Frankfurter Brückenturm zu erkennen. Auf allen erscheint der jüdische Messias rittlings

83

D i e s hat G . M e n t g e n in seinem o b e n ( A n m . 6 6 ) erwähnten A u f s a t z ausgeführt.

Das blutige Opfer und die christliche Umwelt

183

auf einer Sau und daneben der gekreuzigte Knabe Simon von Trient (Abb. 3). 8 4 Der Zusammenhang zwischen dem Tod der jüdischen Märtyrer von 1096 und der Ritualmordlüge hat einen weiteren symbolischen Ausdruck gefunden. Der wichtigste Schauplatz von Märtyrertod war den Chroniken von 1096 zufolge der Fluss. Für Christen wie für Juden gleichermaßen war der Fluss eine potentielle Taufstätte, 8 5 daher waren die Juden darauf erpicht, das Wasser zu Blut werden zu lassen und den Taufakt zur Schlachtung. Von dem Frommen Isaak haLevi von Neuss wird berichtet, unter dem Druck der Folter habe er dem Taufzwang nicht widerstehen können. Als er wieder zu sich kam, sei er nach Köln gegangen und habe sich im Rhein ertränkt. „Uber ihn und seinesgleichen heißt es ,aus Baschan will ich wiederbringen, aus den Tiefen des Meeres' (Ps 68,5)" - dieser Psalmvers hat seine Vorgeschichte in den Märtyrerberichten. Der Leichnam jenes R. Isaak „trieb auf dem Wasser, bis er zum Dorf Neuss kam, dort warf ihn das Wasser ans Ufer". 8 6 Nach seinem Sühnetod trug ihn das Wasser genau wieder an die Stätte, wo er getauft worden war, über eine Entfernung von 50km hin! Außerdem wurde er „an Land gespült neben jenen Frommen, Mar Samuel, der in Neuss umgebracht worden" war, d.h. neben einen jüdischen Märtyrer, der ungetauft gestorben und am Rheinufer begraben worden war. Diese phantastische Erzählung sollte besagen, dass die Taten beider Märtyrer gleichwertig seien, sowohl des ungetauft getöteten als auch dessen, der zwangsgetauft worden war und sich daraufhin selbst den Tod gegeben hatte. Sowohl seine Sünde als auch deren Sühne vollziehen sich im Fluss, und am Fluss wird auch der ungetaufte jüdische Märtyrer beigesetzt. Die symbolische Bedeutung des Wassermotivs ist auch literarisch belegt. In diesem

84

53.

I. Shachar, The Judensau - A Medieval Anti-Jewish Motiv and Its History, London 1974,

85 Berthold von Regensburg berichtet davon, dass christliche Jugendliche Juden - Kinder und Erwachsene - mutwillig in den Fluss geworfen hätten, um so die Zwangstaufe an ihnen zu vollziehen: F. Pfeiffer/J. Strobl (Hg.), Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten, Wien 1862-1880 (Nachruck Berlin 1965), I, 298; II, 85.228. Aronius, Regesten (s.o. Anm.73), Nr. 757, 319f. Jüdische Aversion gegen Wasser, das im christlichen Kult Verwendung findet, ist in Sefer Chassidim (Vistinetzky, s.o. Anm.2, § 1369) bezeugt: „In einer Stadt gab es nicht viel Wasser, das fürs (jüdische) Tauchbad geeignet war. [...] Als Juden dort ihren Wohnsitz nehmen wollten, sprach zu ihnen der Tora-Gelehrte: Da es dort nur das Wasser gibt, durch das Diebe erprobt werden, wobei die Mönche Worte ihres Götzendienstes darüber aussprechen, ist es nicht möglich, dass Frauen darin ihr Tauchbad nehmen oder dass Messer und Metallgeschirr in diesem Wasser von kultrischer Unreinheit gereinigt werden." Ein ähnliches Motiv im 15. Jh. habe ich an anderer Stelle dargelegt: I.J. Yuval, Juden, Hussiten und Deutsche, in: A. Haverkamp/F.J. Ziwes (Hg.), Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992, 59-93. 86 Deutsch und hebräisch bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. Anm.8), 51 (576).

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

nicht sonderlich umfangreichen Text kommen die Wörter ,Wasser/Fluss/ Meer/Teich' nicht weniger als 22 mal vor, und das will etwas heißen. Der Grund dafür ist im Text angedeutet. In der Chronik des R. Salomo b. Simson beginnt der Bericht über die Vorgänge in Neuss mit der Angabe: „Da es der Tag ihres Festes war, hatten sich alle aus den Dörfern dort zusammengerottet", 8 7 allerdings ist nicht gesagt, was für ein Fest. Darüber gibt der Parallelbericht des R. Eliesar b. Nathan Auskunft: „Und an jenem Tage kamen die mit dem Zeichen versehenen Feinde, die anderen kamen ebenfalls, da es das Fest Jochoram war, sie rotteten sich zusammen im Dorf Neuss". 8 8 Gemeint ist offenbar der Johannistag, der Geburtstag Johannes' des Täufers am 24. Juni. 8 9 In jener Nacht wurden sämtliche Wasserquellen, Flüsse, Teiche und Brunnen gesegnet. Das Baden in jenem Wasser galt im Volksglauben als heilsam und glückbringend. 90 Das also ist der Grund, weshalb dem Märtyrertod gerade im Wasser so große Bedeutung beigemessen wird. Die jüdischen Erzähler, vielleicht sogar die Märtyrer selbst, wussten sehr wohl um die Bedeutung, die dieser Tag in den Augen der Christen hatte; daher stammen die Szenen, wo von Juden berichtet ist, die im selben Element den Märtyrertod gestorben waren, das zu ihrer Taufe bestimmt gewesen war. Vielleicht ist das auch die Erklärung für die erschütternde Tat des Frommen R. Samuel, der seinen Sohn Jechiel mit dem Schwert im Wasser schlachtete, nachdem dieser in den Rhein gesprungen, darin aber nicht ertrunken war (Näheres dazu im Folgenden). Der Johannistag war sozusagen das Geburtsfest des Heilands im Hochsommer; wie Weihnachten, das winterliche Geburtsfest, mit der Wintersonnenwende verknüpft war, so der Geburtstag des Johannes mit ihrem sommerlichen Gegenstück. Da von diesem Tag an das Tageslicht wieder abnimmt, war es von Alters her Brauch, in der Johannisnacht auf Bergen und Hügeln sog. Johannisfeuer anzuzünden. 9 1 Die jüdischen Erzähler kennen diesen Brauch sehr wohl. Salomo b. Simson schließt seinen Bericht über die oben erwähnten beiden Märtyrer, die bei Neuss am Rheinufer begraben wurden, mit den Worten: „Sie hatten den himmlischen Namen geheiligt im Angesicht der Sonne", 92 und derselbe Ausdruck kommt auch bei Eliesar b.

Ebd., 79 (548). Ebd., 406. 89 A . Franz, Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter, Graz 1960, I, 2 9 4 - 3 3 4 ; Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens IV (1931-32), 704.727; speziell zur Gefährlichkeit des Wassers an jenem Tag, ebd., 726. 90 L.A. Veit, Volksfrommes Brauchtum und Kirche im deutschen Mittelalter, Freiburg i.Br. 1936, 45f; den Hinweis auf diese Arbeit verdanke ich meinem verehrten Freunde A . Haverkamp. « Dazu J.G. Frazer, The Golden Bough, London 1941, 622-632. 92 Bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s. o. Anm. 8), 51 (576). 87 88

Das blutige Opfer und die christliche Umwelt

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N a t h a n vor: „Da heiligte Mar Samuel bar A s c h e r den N a m e n im Angesicht der S o n n e " . 9 3 Was wir hier v o r uns haben, ist eine jüdische D e u t u n g christlicher Kulthandlungen und Symbole. Die Taufe im .bösen Wasser' wurde so z u m A k t der Heiligung des göttlichen N a m e n s . D e m n a c h lässt sich die dramatische Szene, w o der Vater den Sohn im Wasser tötet, als Variation der Kreuzigung auffassen, w o der Vater ( G o t t ) den Sohn (Jesus) tötet, wobei der Leib des Gekreuzigten d u r c h b o h r t wird, so das Blut und Wasser herausfließen. 9 4 Die magische M a c h t des Flusses findet ihren Ausdruck auch in der E r zählung über die Märtyrer von Wevelinghoven, die „ihre Seele dahingaben zur Heiligung des N a m e n s in den Wasserteichen rings u m den O r t " . 9 5 Einige von den F r o m m e n stiegen auf den Turm und stürzten sich in den Rhein, der rings um den Ort fließt, so ertränkten sie sich im Fluß und starben allesamt. Nur zwei Jünglinge konnten nicht sterben im Wasser [...]. Als es ihnen in den Sinn kam, sich ins Wasser zu stürzen, küssten und umarmten sie einander [...] und sprachen: [...]. Es ist uns besser, hier zu sterben um seines großen Namens willen [...] nicht sollen jene unreinen Unbeschnittenen uns ergreifen und gegen unseren Willen verunreinigen mit ihrem bösen Wasser [...]. Und als der Fromme Samuel seinen Sohn Mar Jechiel erblickte, der sich in den Fluß gestürzt hatte, aber noch nicht tot war [...] da schrie er: Jechiel mein Sohn, mein Sohn, streck den Hals aus vor deinem Vater, ich will dich als Opfer darbringen vor dem Ewigen, Leben meines Sohnes! Ich werde die Benediktion über die Schlachtung sprechen und du sollst darauf Amen sagen. So tat R. Samuel der Fromme, er schlachtete seinen Sohn mit dem Schwert im Wasser. Und es geschah, als R. Samuel, der Bräutigam, bar Gedalja, hörte, daß sein Freund Mar Jechiel der Gerechte seinem Vater gewillfahrt, sich im Wasser schlachten zu lassen, da gedachte auch er solches zu tun. [...] vor dem Aushauchen der Seele, faßten sie einander an den Händen und starben zusammen im Fluß [...]. So heiligten jene Frommen den heiligen Namen des Eifernden und Rächenden im Wasser. D e m n a c h ist G o t t nicht nur heilig, sondern auch ein eifernder und rächender G o t t , und der Tod der M ä r t y r e r sollte nicht nur seinen N a m e n heiligen, sondern auch seinen Eifer und seine Rache herausfordern. D e r Symbolwert des Flusses als Taufstätte steht vielleicht hinter einem gemeinsamen Zug etlicher Ritualmordbeschuldigungen, die den angeblichen Vollzug des Verbrechens mit Wasser in Verbindung bringen. 1 1 4 7 in W ü r z b u r g sollen die J u den den Christen im Main getötet haben. 9 6 D e r Blutlüge von Gloucester im

" Ebd., 79 (548). 94 Joh 19,34. Eine der Segnungen des christlichen Festes war die Verwandlung von Wasser in Wein, weshalb die Perikope von der Hochzeit zu Kana gelesen wurde, bei der Jesus Wasser in Wein verwandelt haben soll (Joh 2,1-11); dazu Franz, Benediktionen (s.o. Anm.89), 316. , 5 Bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. Anm.8), 51-53 (576-574). " Das ist vielleicht in der Schilderung der Würzburger Affäre bei Ephraim von Bonn (Sefer

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

Jahre 1168 lag die Beschuldigung zugrunde, die Juden hätten ein Christenkind zu Tode gefoltert und den Leichnam in den Fluss geworfen; vier Wochen nach dem Verschwinden des Knaben wurde dessen Leiche jedenfalls von Fischern aus dem Fluss gezogen. 9 7 Im Jahre 1171 sollen die Juden von Blois ein Christenkind getötet und in die Loire geworfen haben. 9 8 Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die Einzelheiten der Mordbeschuldigung, die 1199 gegen Juden erhoben wurde, die zu Schiff von Köln rheinaufwärts gefahren waren, während ein christliches Schiff hinter ihnen her fuhr. Bei Boppard entdeckten die Männer, die das christliche Schiff zogen, den Leichnam einer Christin am Ufer, woraufhin sogleich die Juden auf dem vorausfahrenden Schiff beschuldigt wurden, sie ermordet zu haben, da .einige Juden aus dem ersten Schiff am Flussufer entlang gegangen' seien. Die jüdischen Reisenden wurden gefangengesetzt, auch diejenigen, die gar nicht an Land gegangen waren. Sie verweigerten die Taufe, woraufhin sie zum Tod verurteilt wurden: Sie wurden lebendig in den Rhein geworfen. 9 9 Hier ist ein fester Erzählrahmen zu beobachten: Auf dem Wasser hätten sich die Juden als besonders mörderisch erwiesen, daher sei Ertrinken im Fluss die ihnen angemessene Strafe. In den jüdischen Chroniken ist also von Märtyrern berichtet, die speziell im Fluss umgekommen waren. In der christlichen öffentlichen Meinung wurden diese Fakten unter umgekehrtem Vorzeichen dargestellt: Die Mordgier der Juden äußere sich in Flüssen, denn sie wünschten Blut statt Wasser, Tod statt Heil. Die Juden wollten angeblich das Wasser in Blut verwandeln - was an die erste der ägyptischen Plagen erinnert - denn ,was bei der ersten Erlösung war, wird auch bei der letzten sein'. Ja noch mehr: Die Behauptung, dass Juden zum Backen der ungesäuerten Brote Christenblut verwendeten, die ausdrücklich erst in den späteren Ritualmordaffären erwähnt ist,

Sechtra, s.o. A n m . 8, 22f) angedeutet; dort ist unmittelbar zuvor von einer Jüdin aus Aschaffenburg berichtet, die sich im Fluss ertränkt habe, um der Zwangstaufe zu entgehen. 97 W . H . H a r t (Hg.), Historia et Cartularium Monasterii Sancti Petri Gloucestriae (Roll Series), L o n d o n 1863, I, 20. Behandelt ist diese Affäre bei Z.E. Rokeah, T h e Kingdom, the C h u r c h , and the Jews in Medieval England, in: S. Almog (Hg.), Antisemitism through the Ages, O x f o r d u.a. 1988, 106f. 98 So berichtet R. Ephraim von Bonn (Haberman, Geserot, 124). Auch R. de Torigny in seiner C h r o n i k weiß davon zu erzählen, dass die Juden einen Knaben in die Loire geworfen hätten: Chronica Roberti de Torigneio, in: R. H o w l e t t (Hg.), Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores, Chronicles of the Reigns of Stephen, H e n r y II., and Richard I. (Rolls Series 82), IV, L o n d o n 1889, 250 f. Zu dieser Affäre s. auch R. Chazan, T h e Blois Incident of 1171: A Study in Jewish Intercommunal Organization, in: P A A J R 36 (1968), 13-31. Ferner S. Spiegel, In M o n t e D o m i n u s Videbitur: T h e Martyrs of Blois and Early Accusation Ritual M u r d e r (hebr.), in: M. Davis (Hg.), M. Kaplan Jubilee Volume, N e w York 1953, 267-287. 99 H a b e r m a n , Geserot, 126. Bei den Ausschreitungen gegen die Juden von Speyer im Jahre 1195 (s. o. A n m . 74) ist erwähnt, dass die Christen deren Bücher und Tora-Rollen ins Wasser geworfen hätten.

Das blutige O p f e r und die christliche U m w e l t

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impliziert als solche, dass die J u d e n zu Pessach statt Wasser Blut verwendeten. Dieses Motiv findet sich auch in einer Geschichte, die in den Annalen überliefert ist, die im niederländischen Kloster Egmond zwischen 1173 und 1215 niedergeschrieben wurden. 1 0 0 Das berichtete Ereignis soll sich 1137 in Regensburg zugetragen haben, w o sämtliche J u d e n während des Kreuzzugs die Taufe nahmen. Ein jüdischer J u n g e namens J a k o b habe von klein auf einen Hang zum C h r i s t e n t u m gehabt; er gab dem Archediakon am Ort eine Summe ersparten Geldes und äußerte den Wunsch, getauft zu werden. Doch der Priester war mehr auf den eigenen materiellen Vorteil aus als auf den Gewinn eines Täuflings: Als der Vater des J u n g e n diesen bei ihm suchte, erklärte er sich bereit, ihn gegen Geld wieder herauszugeben. Der Vater ging auf das Angebot ein, holte sich seinen Sohn und beschloss, ein Exempel zu statuieren. Er ertränkte den J u n g e n in der Donau und goß Blei über ihn, damit die Leiche nicht an die Wasseroberfläche gelange. Nicht weit vom Schauplatz des Verbrechens wohnte eine blinde Witwe. In jener Nacht spürte sie einen J u c k r e i z in den Augen und ging zum Fluss, sie mit Wasser zu kühlen. Sobald sie ihre Augen mit Flusswasser spülte, erhielt sie .durch Gottes Gnade' ihr Augenlicht wieder und erblickte eine leuchtende M e n schengestalt in der Mitte des Flusses versenkt. Sie meldete das Wunder sogleich dem Abt des Klosters und dem Bischof, und alles strömte ans Flussufer. Als alle erwartungsvoll am Fluss standen und ,aus Herzenstiefe beteten', wurde der Leichnam des Heiligen samt dem Bleigewicht ans U f e r gespült und erstrahlte in wundersamem Licht. In der Kirche, wohin die Leiche überführt wurde, sang man im weiteren Verlauf der Nacht Lob- und Danklieder. A m andern Morgen stellte sich heraus, dass der Tote ein J u d e n knabe war. Sein Vater gestand, ihn ermordet zu haben, und schob dem Diakon die Schuld zu. Der Diakon wurde z u m Feuertod verurteilt, der Vater dagegen nahm die Taufe an und zahlreiche J u d e n mit ihm. M a r y M i n t y entnimmt aus diesem Bericht, dass die christliche U m w e l t gegenüber Tötungen, welche J u d e n aus Glaubensgründen vornahmen, nicht gleichgültig war. Christen könnten in der Ermordung des Sohnes durch den Vater hier tatsächlich einen Fall von übertriebenem Eifer für die jüdische Religion gesehen haben. Der Vater tötete den Sohn, um ihn von der Konversion abzuhalten, so wurde der Knabe schließlich sowohl in jüdischer als auch in christlicher Sicht z u m Märtyrer. Die Tat des Vaters erregte sicherlich empörte Ablehnung (der Plan, den Sohn zu töten, wird als .teuflisch' bezeichnet), aber nachdem der Vater sich dann doch hatte taufen lassen, wurde ihm verziehen. Die Schärfe der Kritik richtete sich gegen den christ-

100 M . M i n t y , Responses to Medieval A s h k e n a z i M a r t y r d o m (Kiddush ha-Shem in Late M e dieval German C h r i s t i a n Sources), in: J a h r b u c h für A n t i s e m i t i s m u s f o r s c h u n g 4 (1995), 13-38.

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

liehen Geistlichen, der zunächst den Jungen abgewiesen und dann mit dessen Vater ein unlauteres Geschäft gemacht hatte. Minty konstatiert, mit der Tötung durch den Vater sei aus dem jüdischen Knaben ein christlicher Heiliger geworden, obwohl dieser vor seinem Tod nicht die Taufe empfangen hatte. 1 0 1 Rein faktisch betrachtet ist dieser Befund sicher richtig; aber auf der symbolischen Ebene dieser Erzählung war der Knabe doch getauft, nämlich durch das Untertauchen im Fluss. Das Wasser bewirkte die Veränderung seines Status, wie das Wasser die Heilung der blinden Witwe bewirkt hatte. Wie der Leichnam aus dem Fluss auftaucht und ans Ufer gespült wird, erinnert an den zwangsgetauften Juden aus Neuss, der sich in Köln in den Rhein stürzte und dann vom Wasser bis ans Flussufer bei Neuss getragen wurde. Der Lobgesang, mit dem dieses wundersame Geschehen endet, soll uns noch weiter unten beschäftigen. Die große Bedeutung, die dem Motiv des Wassers von beiden Seiten beigelegt wurde, erhellt auch aus dem Bericht des sog. Mainzer Anonymus über die Judenverfolgungen in Worms, die mit einer Mordbeschuldigung eingesetzt hätten. 1 0 2 Am 10. Ijjar (5. Mai) hätten die Christen einen bereits dreißig Tage (also ungefähr seit Pessach/Ostern) im Grabe liegenden Leichnam exhumiert und wider die Juden die Anklage erhoben, sie hätten diesen Kadaver gekocht und das Wasser in die Brunnen geschüttet, um die Christen zu vergiften. Um die Beschuldigung zu verstärken, veranstalteten die Christen einen Umzug, bei dem sie den halbverwesten Leichnam zur Schau stellten. Auch hier ist das zentrale Motiv der Anklage der angebliche Versuch der Juden, das Wasser zu verunreinigen. Das Kochen des Christen in Wasser lässt sich als eine Umkehrung des Taufrituals auffassen: Im Gegensatz zur christlichen Taufe, die Leben spendet und die Ausgießung der göttlichen Gnade auf den Täufling bewirkt, ist die jüdische ,Taufe' tödlich, und ihr Wasser birgt Gefahr. Stern und Bresslau vermuteten seinerzeit, diese Episode sei eine Interpolation aus der Mitte des 14. Jh., als mit dem Schwarzen Tod der Vorwurf der Brunnenvergiftung aufkam. 1 0 3 Doch bei der Brunnenvergiftung ging es um die Erklärung von Aufkommen und Ausbreitung der Pest, und dieses Motiv fehlt hier völlig. Vielmehr passt das Kochen eines menschlichen Leichnams und die Verunreinigung des Wassers gerade in den Kontext der Berichte von 1096 (Verwandlung von Wasser in Blut). Auch bei Wilhelm von Norwich wird erzählt, die Juden hätten die Leiche des Knaben in Wasser gekocht; daraus ist zu entnehmen, dass solche An-

Minty, ebd., 37. Bei Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. Anm.8), 93 (534); Haberman, Geserot, 95, emendiert den Wochentag von Sonntag zu Montag, denn der 10. Ijjar 1096 fiel auf einen Montag; vgl. A. Neubauer/M. Stern (Hg.), Hebräische Berichte über die Judenverfolgungen während der Kreuzzüge, Berlin 1892, 49. ioj Neubauer/Stern, ebd., Einleitung, X (Stern) und XlVf (Bresslau). 101

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schuldigungen im Zeitraum der Entstehung dieser Erzählung im Schwange 104

waren. Auf einem Altarbild aus der M i t t e des 14.Jh., das im katalonischen M u seum in Barcelona aufbewahrt wird (Abb. 4) ist ein Fall von Hostienfrevel dargestellt, wobei die H o s t i e in einen Kessel mit kochendem Wasser geworfen wird. 1 0 5 Eine ähnliche Anschuldigung wird auch im Zusammenhang mit dem angeblichen Pariser Hostienfrevel von 1290 e r h o b e n . 1 0 6 T ö t u n g durch Wasser ist eine Dämonisierung des Juden: D e m n a c h vollzieht auch der J u d e eine Art Taufe, nur dass diese tödlich ist. Diese Erklärung eröffnet eine weitere Perspektive. D i e Magd im Hause des Juden zu Norwich sagte aus, sie habe durch einen Spalt in der Küchentür beobachtet, wie die Juden kochendes Wasser über Williams Leichnam gössen. Was für ein Ritual mit k o c h e n dem Wasser kann eine christliche Magd in einem jüdischen Haushalt kurz vor Pessach gesehen haben? Natürlich das Eintauchen von Metallgeschirr in kochendes Wasser, um auch die letzten Spuren von Gesäuertem davon zu entfernen. Das war es, was sie gesehen hatte, alles Weitere war ihrer Phantasie entsprungen. D o c h dieses Phantasiegebilde ist symptomatisch: Aus christlicher Sicht verband sich dieser .seltsame' jüdische Brauch mit der messianischen Rache. Auf das F e s t der Erlösung hin entfernen die Juden alles Gesäuerte aus ihren Häusern, indem sie es entweder verbrennen oder die Reste durch kochendes Wasser tilgen. Wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, galt die Vertilgung des Gesäuerten als symbolische Handlung für die messianische Vernichtung der N i c h t - J u d e n . Eine ähnliche Auffassung vertrat auch der Apostat Peter im Jahre 1399. In seiner Disputation mit R. J o m t o v Lipman Mühlhausen verurteilte er die Vertilgung des Gesäuerten und deutete sie als christenfeindlichen A k t . 1 0 7 Insofern ist es nicht erstaunlich, dass eine christliche Magd in einem jüdischen Hause den Vorgang des Koscherns von Geschirr in kochendem Wasser mit der Ermordung des Knaben William in Verbindung brachte. Möglicherweise steht die christli-

Jessop/James (Hg.), Life and Miracles of St. William (s.o. Anm. 69), 22. E.M. Zafran, The Iconography of Antisemitism (unveröffentlichte Dissertation), New York University 1973, Nr. 208; weitere Darstellungen von Juden, die Hostien in kochendes Wasser werfen, ebd. Nr.212.231.240. lot Weiteres dazu unten, Kap. V, Text zu Anm. 87. F. Lotter, Hostienfrevelvorwurf und Blutwunderfälschung bei den Judenverfolgungen von 1298 („Rintfleisch") und 1336-1338 („Armleder"), in: Fälschungen im Mittelalter, V, Hannover 1988, 537; M. Rubin, Desecreation of the Host: The Birth of an Accusation, in: D. Wood (Hg.), Christianity and Judaism, Oxford 1992 (Studies in Church History 19), 169-185. Ein weiterer Fall von 1306, wo ein Jude aus Forcalquier beschuldigt wird, die Leiche eines Christenkindes zu Manosque in einen Brunnen geworfen zu haben, um diesen zu vergiften, ist untersucht bei Shatzmiller, La communauté (s.o. A n m . 6 6 ) , 133f. 107 Sefer haNizzachon leR. Jomtov Lipman Mühlhausen, F.E. Talmage (Hg.), Jerusalem 1984 (Faksimile der Ausgabe von T . Hackspan, Altdorf/Nürnberg 1644), 193 f. 104

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

che Missdeutung dieses jüdischen Brauchs auch hinter den Darstellungen von Juden, die eine Hostie in kochendem Wasser durchstechen; zur ikonographischen Ähnlichkeit der Darstellungen s.u. Kap. V. Die drei genannten Fälle (Worms, Norwich, Paris) sollen sich in der Tat um Pessach/Ostern herum zugetragen haben. Daraus geht hervor, dass Kochen in Wasser ein Vorgang von erheblicher symbolischer Tragweite sein konnte. Möglicherweise repräsentiert die Mordbeschuldigung von Worms aus dem Jahre 1096 einen frühen Typ, der auf die nachfolgenden von Norwich und Würzburg vorausdeutet. Auch wenn es sich um kein historisches Ereignis handelt - in den beiden anderen Chroniken ist der Fall nicht erwähnt gibt es Aufschluss über die nachträgliche christliche Deutung konkreten jüdischen Tuns. Hier werden die Juden als mörderisch und rachsüchtig dargestellt; für die angeblich begangene Tat werden sowohl ein Motiv als auch ein Anlass geboten. Beide Motive beruhen nicht auf reiner Erfindung; sie sind vielmehr aus einer Missdeutung jüdischen Verhaltens im Verlauf der Verfolgungen von 1096 und des Rache-Rituals als eines Teils ihrer Erlösungserwartung hervorgegangen. Die über die Juden verbreiteten Lügen hatten lange Beine, auf denen sie mit tödlicher Geschwindigkeit ins christliche Bewusstsein der mittelalterlichen Welt gelangten. Die Möglichkeit, dass das Bild von den mörderischen Juden, die ihre eigenen Kinder umbringen, zu der Vorstellung von Juden als Mördern christlicher Kinder führte, wurde bereits von Zeitgenossen erwogen; es handelt sich also nicht nur um eine hypothetische Rekonstruktion moderner Historiker. Belegt ist sie in einem hebräischen Schreiben aus Orléans, das über die unmittelbar vorangegangene Hinrichtung der Juden von Blois am 20. Siwan 1171 berichtet, nachdem die ganze jüdische Gemeinde des Ritualmords bezichtigt worden war. Die Affäre von Blois war zwar nicht die erste Ritualmordlüge in Europa, aber hier wurde das erste Mal eine ganze Gemeinde vor Gericht gestellt und beschuldigt, drei Tage vor Ostern, in der Nacht des letzten Abendmahls nach der christlichen Uberlieferung, ein Christenkind getötet zu haben. Das Schreiben aus Orléans versucht, sowohl die Unschuld der Juden zu beweisen als auch zu erklären, wie die eigenartige Beschuldigung zustandegekommen sei. Die angegebenen Gründe sind persönlicher und mentaler Art. Auf der persönlichen Ebene nennt der Schreiber die Missgunst eines Christen am Ort gegenüber einer reichen Jüdin, die gute Beziehungen zur Obrigkeit hatte. Was uns hier interessiert, ist die mentale Ebene. Der Abschnitt, wo dieser zur Sprache kommt, wirkt zunächst wie ein Fremdkörper innerhalb des Schreibens. Nach der Schilderung, wie die Juden von Blois hingerichtet wurden, schweift der Bericht scheinbar ab und beschreibt eine andere Affäre, die sich zuvor in Loches sur Indre zugetragen hatte, einem ca. 60km südlich von Blois gelegenen Ort. Darüber schreibt unser Gewährsmann:

D a s blutige O p f e r und die christliche U m w e l t

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U n d vor diesem U n g l ü c k (in Blois) hatte die Gemeinde von Loches mitgeteilt, dass sie heil d a v o n g e k o m m e n seien, nur der Denunziant allein sei festgenommen. Ich, Baruch b. Meir, will euch berichten, wie sich die Sache zugetragen: Ein junger M a n n aus Loches begehrte eine J u n g f r a u ; als er bei ihrem Vater und ihren A n g e hörigen um ihre H a n d anhielt, erwiderten sie ihm: Eher ertränken wir sie im Wasser, als dass sie mit dir verbunden werden soll. D a stellte der junge Mann es listig an und vermählte sich mit dem Mädchen vor Zeugen, dann ging er zu ihrem Vater und verkündete: Wir haben einander beigewohnt, auch ohne eure Z u s t i m m u n g . Darauf der Vater: Die Bosheit, die du begangen, soll dir nichts nützen. Bis der junge Mann z u m Fürsten ging und sie verleumdete und sie f e s t g e n o m m e n wurden. Sie sind G o t t sei D a n k wieder frei, nur er noch nicht. D o c h ist nicht klar, o b sie - G o t t behüte - durch diese üble Geschichte in Verruf geraten sind oder nicht. 1 0 8

Womit verleumdete der enttäuschte Liebhaber die J u d e n von Loches nach dem unglücklichen Ausgang seiner Liebschaft? Weshalb wurde die Gemeinde von Loches inhaftiert? Die Weigerung von Eltern, ihre Tochter ihrem Erwählten zur Frau zu geben, ist doch kein Grund, die Leute festzunehmen. Verleumdung und Inhaftierung basierten offenbar auf dem, was die Angehörigen des Mädchens dem jungen Mann gesagt hatten: „Eher ertränken wir sie im Wasser, als dass sie mit dir verbunden werden soll". Darin erblickte der junge Mann eine Morddrohung, und daraufhin wurden die Juden von Loches, von denen wohl die meisten derselben Familie angehörten, ins G e fängnis geworfen. D e r Verfasser des Schreibens von Orléans nahm diese Affäre in seinen Bericht auf, um die Befürchtung zu äußern, dass die J u d e n von Blois dadurch bei den Christen ,in Verruf geraten sein könnten. D a s führt notwendig zu der Annahme, dass das durch die Affäre von Loches erregte öffentliche Aufsehen zumindest in den Augen des jüdischen Schreibers von O r léans groß genug war, um den späteren Vorfall in Blois zu erklären. Mit anderen Worten: Der Vorwurf, ein jüdischer Vater habe seine Tochter töten wollen, galt als ausreichende Begründung für die kollektive Beschuldigung einer jüdischen Gemeinde, sie hätten ein Christenkind ermordet. Anscheinend gibt es noch ein Bindeglied zwischen den beiden Affären: die T ö t u n g durch Wasser. Die D r o h u n g des jüdischen Vaters in Loches, seine Tochter eher zu ertränken als sie ihrem Liebhaber zur Frau zu geben, entspricht der wider die J u d e n zu Blois erhobenen Beschuldigung, sie hätten einen Christenknaben ertränkt. Vielleicht enthielt die heimliche H o c h zeit in Loches noch ein im jüdischen Mittelalter nicht ungewöhnliches Element: Die jungen Leute drohten damit, sie würden sich taufen lassen, wenn sie ihren Willen nicht bekämen. Demnach könnte die D r o h u n g des jüdischen Vaters, er werde seine Tochter ertränken, von Christen als Bestrafung 108

Haberman, Geserot, 144.

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Vom M ä r t y r e r t o d zur R i t u a l m o r d l ü g e

ihres Wunsches, zum Christentum überzutreten, gedeutet worden sein ein Motiv, das beim Vater des .Heiligen' von Regensburg zu beobachten war und das auch in einer christlichen Quelle anzutreffen ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Glaubwürdigkeit des Christen, der wider die Juden von Blois aussagte, durch die sogenannte Wasserprobe .erwiesen' wurde: „So wurde der Böse für gerecht erklärt und die Gerechten schuldig gesprochen". In dieser Affäre bleibt vieles unklar. Wir können nicht wissen, ob hier eine zufällige Verkettung von Motiven vorliegt, oder ob es eine unter Christen verbreitete Vorstellung war, dass Juden ihre mörderischen Gelüste vorzugsweise im Wasser befriedigten, an den eigenen und umso mehr an fremden Kindern. Wie dem auch sei, das Untertauchen im Wasser erscheint hier als zentrales Motiv, was sicher mit der Taufe als Akt der Aufnahme in die christliche Religion zusammenhängt. Dass Juden in Mordverdacht gerieten, weil ein jüdischer Vater die unbedachte Äußerung getan hatte, er werde seine Tochter ertränken, zeugt davon, dass jüdische Tötungsakte durch Ertränken in der christlichen Erinnerung aufbewahrt waren. Vielleicht hat auch der Kontext von Pessach bzw. Ostern die Assoziation an den Befehl des Pharao, alle neugeborenen Knaben in den Fluss zu werfen (vgl. Ex 1,20) aktualisiert? Oder stellen diese jüdischen Vorstellungen eine gewisse Aneignung der juristischen Prozedur des Wasser-Ordals dar? Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen kann der Historiker nur seine Phantasie zu Hilfe nehmen, um zu ergänzen, was in den Quellen nicht steht. Ein Uberblick über die Ritualmordbeschuldigungen des 12. Jh. lehrt, dass sie jeweils drei Hauptmotive enthielten: 1) Der Mord wurde in einen klaren kultischen Zusammenhang gestellt; 2) dieser Kult stand in ausschließlicher Beziehung zu Pessach; 3) das Opfer war ein Knabe. Diese Motive sind auch in den Märtyrerberichten aus den Verfolgungen des Ersten Kreuzzugs fest verankert. Die Vision der Rache an den Heiden in ihrem messianischen Kontext wurde als Beleg dafür genommen, dass die Juden ein rituelles Interesse an der Tötung von Christen hätten. Die Auffassung des Pessach-Festes als Vorbild und Ankündigung der endzeitlichen Erlösung bildet das Bindeglied zwischen der messianischen Rache-Vision und dem kultischen Akt der Ermordung/Kreuzigung zu Pessach oder Ostern. Die Handlungsweise der jüdischen Märtyrer von 1096 und besonders die propagandistische Verbreitung dieser Taten war dazu angetan, die angebliche jüdische Vorliebe für die Opferung von Kindern zu erhärten. In der mittelalterlichen Welt von Interpretation und Gegen-Interpretation konnte so der Eindruck entstehen, dass Juden speziell gegenüber Kindern brutal seien. Diese Brutalität richtete sich zwar nur gegen ihre eigenen Kinder und das unter extremen Umständen, aber der christlichen Umwelt diente diese Beobachtung zum Beweis dafür, dass durch jüdische Mordgier vor allem Kinder gefährdet seien. Demnach wäre die Ritualmordbeschuldigung sozusagen das Spiegelbild

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von Taten, die Juden zur Vermeidung v o n Zwangstaufe während des Ersten Kreuzzugs begangen haben sollen. Diese Deutung des jüdischen Verhaltens in der christlichen öffentlichen Meinung, die in der Generation nach 1 0 9 6 entstanden war, hielt sich bis ins ausgehende Mittelalter, auch wenn kein martyrologisches Ereignis mehr stattfand, das an Intensität den Vorgängen von 1 0 9 6 gleichgekommen wäre. Blutlüge und Hostienfrevel waren die üblichen Vorwürfe gegenüber den J u den vom 13. bis ins 15.Jh. ohne Bezug zu Fällen von jüdischem Märtyrertod. D a f ü r sind zwei Erklärungen denkbar. Nach der einen bedurften die Blutbeschuldigung und die ihr zugrundeliegenden Vorstellungen keiner neuerlichen Bestätigung, nachdem sie einmal existierten; von daher wäre ihre weitere Entfaltung die eigenständige Weiterentwicklung eines von seinem Ursprung losgelösten Motivs. Nach der anderen bezog sich die jüdische wie christliche öffentliche Meinung weiterhin auf 1 0 9 6 als auf das modellhafte Geschehen, von dem sich alles Weitere ableitet, auch ohne direkten Zugang zu den Fakten oder zu den Texten, durch die sie vermittelt waren. Ich neige eher der zweiten Erklärung zu. D e r M y t h o s v o n 1096, der sich im 12. Jh. herausgebildet hatte, bestimmte von da an und weiter das Bild der aschkenasischen Judenheit sowohl in ihren eigenen Augen als auch in denen der christlichen Umwelt, zumal da von Zeit zu Zeit doch noch Fälle vorkamen, die das bestehende Muster nachvollzogen. 1 0 9 Die zentrale Stellung dieses M y t h o s in der jüdischen Gesellschaft ist über jeden Zweifel erhab e n . 1 1 0 Hier möchte ich seine Existenz auch in der christlichen Gesellschaft

"•" In einem Responsum des R. Mei'r von Rothenburg (Scbaare Teschuvot, Bloch (Hg.), Berlin 1891, 346f) ist von einem Fall die Rede, der sich in Koblenz ereignet hatte. Ein Familienvater hatte im Zuge der Verfolgung, die am 2. April 1265 in der Stadt stattgefunden hatte, seine Frau und seine vier Kinder geschlachtet; dann wandte er sich an R. Mei'r mit der Frage, ob er der Sühne bedürfe. In seiner Antwort erklärt R. Mei'r die Handlungsweise dieses Mannes für erlaubt, da von etlichen bedeutenden Männern bekannt sei, dass sie ihre Söhne und Töchter geschlachtet hätten; als Beleg verweist er auf eine Elegie des Kalonymus. R. Meirs Bezugspunkt sind die Vorgänge von 1096, daher ist aus seiner Antwort nicht darauf zu schließen, dass solche Fälle häufiger vorgekommen wären. Von einem ähnlichen Fall, der sich offenbar um die Wende zum 14.Jh. ereignete, ist in den Halachot und Minhagim von Rabbenu Schalom von Neustadt die Rede (Spitzer (Hg.), Jerusalem 1977, 137 § 402): Eine Jüdin aus Esztergom in Ungarn hatte ,zur Stunde des Verhängnisses' ihre Kinder geschlachtet, sich selbst aber nach Polen flüchten können. Daraufhin wandte sie sich an R. Schalom mit der Bitte um Sühne. Er erwiderte, sie bedürfe keiner Bußleistung. Uber R. Nathan von Eger wird berichtet, er habe während des Hussiten-Kreuzzugs im Jahre 1421 sämtliche Kinder der jüdischen Gemeinde bei sich im Hause versammelt und seine Frau angewiesen, sie zu töten, sobald religiöse Verfolgungen einsetzen würden, (s.o. Anm.85 Yuval, Juden, Hussiten und Deutsche, 59-93). Auch in der Chronik über die Judenverfolgung in Osterreich von 1420 ist für den Märtyrertod von Kindern ein zentraler Ort vorgesehen; vgl. A. Goldmann, Das Judenbuch der Scheffstraße zu Wien (1389-1420), Wien/Leipzig 1908, 125-132. 110 J.R. Hacker, About the Persecution during the First Crusade (hebr.), in: Zion 31 (1966), 225 f. Dabei muss man natürlich unterscheiden zwischen den tatsächlichen historischen Aus-

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

belegen, und zwar durch einen Bericht des Apostaten Victor von Karben. 1 1 1 Gleich nachdem er geschildert hat, wie die Juden am Versöhnungstag die Christen zu verfluchen pflegten, schreibt er, die jüdischen Frauen seien weitaus grausamer als die jüdischen Männer. Zur Erhärtung dieser seiner Aussage erzählt er folgende Geschichte: In einer kleinen Stadt wohnte eine jüdische Familie, ein Ehepaar mit seinem Sohn .Männchen', einem fünf- oder sechsjährigen Kind. Der Junge pflegte mit christlichen Freunden zu spielen und ging auch mit ihnen zur Kirche. Eines Tages kam er nach Hause und erzählte seiner Mutter, was für eine schöne ,schul' die Christen hätten. Sie war schockiert und prügelte das Kind. Doch am folgenden Tag ging der Junge wieder mit seinen Freunden in die Kirche. Die Frau erzählte ihrem Mann davon, auch der prügelte den Jungen, aber es nützte nichts, der Junge ging weiterhin regelmäßig in die Kirche. Das machte seinen Eltern großen Kummer, und die Frau sprach zu ihrem Mann: Dieses Kind wird noch Sünde und Schande über uns bringen, es ist besser, wir bringen es heimlich um, denn aus ihm wird nichts Gutes werden. Der Vater wandte ein, der Junge sei noch klein und nicht verantwortlich für sein Tun, wenn er größer sei, werde er sich gewiss bessern. So hoffte der Mann, die Frau von ihrem Vorhaben abzubringen, doch sie achtete nicht auf seine Worte, sondern führte Schriftbeweise dafür an, dass das Kind des Todes sei: Dtn 21,18 (der unbotmäßige Sohn), Sach 13,3 (der Lügenprophet, den seine eigenen Eltern erstechen sollen), Spr 2,17-18 (über die fremde Verführerin, deren Haus ,sich dem Tode zuneigt'). Weiter argumentierte die Frau gegenüber ihrem Mann damit, dass auch Abraham Mitleid mit seinem Sohn empfunden habe, doch Gott habe ihm geboten, seiner Frau zu gehorchen und Ismael zu vertreiben. Mit solchen Worten stiftete die Frau ihren Mann an, das Kind zu töten, aber der Vater war nicht bereit dazu. Daraufhin beschloss die Frau, das Kind heimlich umzubringen. An dieser Stelle unterbricht Victor von Karben den Gang der Handlung durch Erläuterungen über die Wahrung der Sabbatruhe bei den Juden: Sie zündeten am Sabbat kein Feuer an, und das Essen bereiteten sie am Freitag zu. Wenn jemand krank werde, machten sie doch kein Licht an, selbst wenn der Patient in Lebensgefahr gerate. Sie töteten weder Mücke noch Fliege, selbst wenn die sie stächen, sie täten keiner Spinne etwas zuleide, selbst wenn sie über den Tisch und über das Essen krabbele. All ihre Knechte und Mägde

Wirkungen der Verfolgungen von 1096, die in der Forschung kontrovers sind, und deren Einfluss auf das Selbstverständnis der aschkenasischen Judenheit. Zur Kontroverse s. etwa A. Grossman, Chachme Aschkenas ha-rischonim, Jerusalem 1989, 435-440; ders., Background (s.o. Anm. 12), 100-105; Chazan, Blois Incident (s.o. Anm.98), 63f; S. Schwarzfuchs, The Place of the Crusade in Jewish History (hebr.), in: R. Bonfil/J.R. Hacker (Hg.), Tarbut weChevra beToldot Israel blme habeinajim (GS H.H. Ben-Sasson), Jerusalem 1989, 251-267. 111 Victor von Karben j u d e n Buchlein, 1550,1, XVI.

Das blutige Opfer und die christliche Umwelt

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einschließlich des Viehs müssten den Sabbat wahren ( E x 2 0 , 1 0 ) . E b e n s o sei ihnen geboten, an jenem Tage zu singen und fröhlich zu sein. I m deutschen Text seines .Büchleins' führt V i c t o r von Karben hier noch J e s 63,1 an, den wichtigsten Schriftbeleg für die endzeitliche Rache an E d o m . 1 1 2 D o c h dem armen kleinen Männchen war keine Sabbatfreude vergönnt, er war zum T o de verurteilt. Wie gesagt, bereiten die Juden das Sabbatessen am Freitag vor, darunter ein Gericht aus weißem Mehl und Eiern, das .Grumel' heißt, das halten sie im Backofen den ganzen Sabbat über warm. Als der erwähnte J u de sich mit seiner Frau an den Tisch setzte, um fröhlich zu singen und zu essen, wie es geboten, tat die Frau eigenhändig Gift in die Portion ihres Sohnes, und sobald der J u n g e von der Speise gekostet hatte, starb er. So weit erzählt V i c t o r von Karben. Diese Geschichte ist eine Weiterbildung der frühen Erzählung vom J u denknaben', die erstmals im 6. J h . bei Gregor von Tours belegt ist. 1 1 3 In dieser frühen Version ist es der Sohn eines jüdischen Glasbläsers, der sich durch seine Freunde hatte verleiten lassen, die Messe zu besuchen und eine H o s t i e zu essen. Als der J u n g e nach Hause kam, habe er seinem Vater davon erzählt. Dieser sei darob ergrimmt und habe das Kind in den O f e n geworfen. Auf das Wehgeschrei des Jungen hin seien die christlichen N a c h barn herbeigeeilt und hätten das Kind aus dem O f e n gerettet. Daraufhin sei der J u n g e zum Christentum übergetreten und viele Juden mit ihm. Sein Vater dagegen sei statt des Sohnes in den O f e n geworfen worden und darin restlos verbrannt, nicht einmal ein Häufchen Asche sei von ihm übriggeblieben. In allen Versionen der Legende vom Judenknaben ist es der Vater, der das Kind töten will, indem er es in den O f e n wirft. Bei V i c t o r von Karben dagegen nimmt der Vater das Kind gegen die Mordabsichten der M u t t e r in Schutz. Auch die Art der T ö t u n g ist eine andere: D e r J u n g e wird nicht in den O f e n geworfen, sondern vergiftet; der O f e n k o m m t zwar noch vor, aber als entbehrliches Relikt. Bei V i c t o r von Karben ist die M u t t e r die mörderische Figur. Anscheinend hatte der Verfasser die Vorstellung, dass jüdische Frauen eher zu religiösem Fanatismus neigen als die Männer. E r meint, dadurch kompensierten sie die untergeordnete Stellung, die Frauen im in-

112 In der lateinischen Version (Opus aureum ac novum [...], Köln 1509) fehlt dieser Satz völlig; vielleicht wollte der Verfasser im deutschen Text einen weiteren Beweis für die Mordgelüste der Juden bringen. Zur Rache an Edom als Prophetenlesung für den Sabbat unmittelbar vor Pessach s. u. Kap. V. 113 Nicht weniger als 27 Versionen dieser Erzählung - auf griechisch, lateinisch und französisch - finden sich bei E. Wolter, Der Judenknabe, Halle 1879. S. ferner: T. Pelizaeus, Beiträge zur Geschichte der Legende vom Judenknaben, Halle 1914; B. Blumenkranz, Juden und Jüdisches in christlichen Wundererzählungen, in: Theologische Zeitschrift 10 (1954), 441 f; Stith Thompson, Motif-Index, V, Copenhagen 1957, V 363; F.C. Tubach, Index exemplorum. A Handbook of Medieval Religious Tales, Helsinki 1969, Nr.2041.

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

stitutionellen Judentum eingeräumt werde. Das ist seine Erklärung dafür, weshalb häufig Jüdinnen besonders lebhafte Bereitschaft zum Martyrium an den Tag legten. 1 1 4 Victors Erzählung verfolgt dieselbe Tendenz. Er verstärkt das Stereotyp der jüdischen Frauen, die so darauf erpicht waren, ihre Kinder vom Christentum fernzuhalten, dass sie diese sogar eigenhändig umbrachten. Inspiriert ist diese Darstellung durch die hebräischen Chroniken über die Vorgänge von 1096, wo der Anteil der jüdischen Märtyrerinnen bekanntlich hoch ist. So verwandelt Victor den jüdischen Typus der Jüdin, die ihr eigenes Kind tötet, um es der Taufe zu entziehen, in den Typ der Jüdin, die aus religiösen Gründen ein .christliches' Kind tötet, denn der kleine Männchen neigte dem Christentum zu. In dieser Erzählung, die für ein christliches Publikum bestimmt war, ist also eine christliche Reaktion auf die jüdische Auffassung zu sehen, Tötung von Kindern sei erlaubt, .damit sie nicht unter den Christen in deren Christlichkeit aufgehen, wenn sie heranwachsen'. 1 1 5 Hier wird deutlich, wie nahe Märtyrertod und Ritualmord beieinander liegen. Der Ubergang vom Märtyrertod zum Ritualmord lässt sich als eine Art Projektion begreifen: Die christliche Öffentlichkeit schloss vom Verhalten der Juden gegenüber ihresgleichen auf deren potentielles Verhalten gegenüber Christen. Doch besteht zwischen der Heiligenlegende und der Ritualmordbeschuldigung noch ein tieferer Zusammenhang. In den Augen der angeblichen Mörder ist die Ritualmordlegende eine unberechtigte Anklage; doch in den Augen ihrer fanatisierten Anhänger handelt es sich um eine Heiligenlegende. Bereits in den ersten beiden Fällen, in Würzburg und Norwich, wurde der Ermordete jeweils zum Heiligen. Die Erzählung vom Ritualmord will den Märtyrer zum Heiligen machen. Die peinliche Befragung der Juden und die erpressten Geständnisse, feste Bestandteile der meisten Ritualmordprozesse, sollten nicht nur die Schuld der Juden, sondern auch und in erster Linie die Heiligkeit des ermordeten Kindes erweisen. Dafür waren auch die durch den Leichnam bewirkten Wunder wichtig, die ebenfalls dessen Heiligkeit bezeugten. Die Beziehung der beiden Legenden wird deutlich, wenn man durch die äußere Schale zum Kern durchdringt und den Blickwinkel der jeweiligen Gläubigen einnimmt. So ließe sich der Unterschied zwischen der Chronik des Salomo b. Simson und der Biographie des Thomas von Monmouth auf die Formel bringen, dass der eine über jüdische Heilige und der andere über einen christlichen Heiligen geschrieben habe. In beiden Fällen handelt es sich um Legenden im Sinne der lateinischen ,gesta', d.h. Erzählungen, die zur Verherrlichung ihrer Helden niedergeschrie-

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von Karben, Juden Buchlein (s. o. Anm. 111), I, X I X . Sefer Mizwot qatan miZürich (s. o. Anm. 13).

Die Affäre von Blois und die Erzählung von Bristol

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ben werden. Insofern hätte das vorliegende Kapitel auch den Titel erhalten können: ,von der jüdischen zur christlichen Heiligenlegende'. 1 1 6

6 Die Affäre von Blois und die Erzählung von Bristol U m die Parallelen zwischen der jüdischen und der christlichen Heiligenlegende zu überprüfen, gehen wir an die Untersuchung einiger gemeinsamer Motive in zwei Märtyrerlegenden: jüdische Darstellungen der Hinrichtung von 32 Juden in Blois im Jahre 1171 und ein christlicher Bericht über eine Ritualmordaffäre, die sich in der zweiten Hälfte des 1 2 . J h . in Bristol ereignet haben soll. D i e J u d e n von Blois wurden, wie gesagt, beschuldigt, am Tag zwischen Pessach und O s t e r n einen Ritualmord begangen zu h a b e n . 1 1 7 Ihre Exekution wird folgendermaßen beschrieben: D a gab der B e d r ä n g e r den Befehl, und m a n n a h m die beiden g e r e c h t e n Priester, den F r o m m e n R. J e c h i e l b. R. David h a C o h e n und den G e r e c h t e n R. Jekutiel b. R. J e h u d a h a C o h e n , man band sie an der V e r b r e n n u n g s s t ä t t e an eine Säule, die beiden waren nämlich w e h r h a f t e M ä n n e r [ . . . ] u n d auch R. J e h u d a b. R. A a r o n band m a n die H ä n d e u n d e n t z ü n d e t e ein F e u e r mit Reisigbündeln, da b r a n n t e das F e u e r an die F e s s e l n an ihren H ä n d e n , so dass sie sich lösten. D a traten die drei hinaus und sprachen zu den K n e c h t e n des B e d r ä n g e r s : Seht, das F e u e r hat keine G e w a l t über uns, w a r u m sollen wir nicht frei a u s g e h e n ? ! 1 1 8

Die hier geschilderte Szene ist ganz eindeutig dazu bestimmt zu zeigen, dass das Feuer über die drei Ersten der zum Tode Verurteilten keine Gewalt hatte. Daraufhin verlangten die drei die Aufhebung des über sie verhängten Todesurteils. N a c h ihrer Auffassung war die Tatsache, dass das Feuer über sie keine Gewalt hatte, der Beweis für ihre Unschuld. Auf dieses Argument erfolgte sogleich die Antwort der Christen: „Man sprach zu ihnen: Bei euren Leben, ihr k o m m t da nicht heraus. Sie drängten mit M a c h t hinaus. Man brachte sie n o c h einmal an die Verbrennungsstätte zurück, und sie brachen

116 Als Qidduscb (Heiligung, auch: Heiligsprechung) bezeichnet Salomo b. Simson seine Chronik, s. Haverkamp, Hebräische Berichte (s.o. Anm. 8), 432 mit Anm.29. 117 Haberman, Geserot, 124-126; Neubauer/Stern (s.o. Anm. 102), 66-69. Die bei Ephraim von Bonn geschilderte Sache mit der Verwundung von Rabbenu Tarn im Jahre 1146 hat bei I.G. Marcus, Jews and Christians Imagining the Other in Medieval Europe, in: Prooftexts 15 (1995), 2 0 6 - 2 2 6 eine Deutung erfahren, die in dieselbe Richtung geht wie die hier vorgetragene Interpretation der Affäre von Blois. Allgemeiner dazu s. R. Chazan, The Blois Incident: A Study in Jewish Intercommunal Organization, in: P A A J R 36 (1968), 13-31; Spiegel, Martyrs of Blois (s.o. Anm.98), 267-287. Zum literarischen Charakter des Werks von R. Ephraim s. R. Chazan, Ephraim Ben Jacob's Compilation of Twelfth Century Persecutions, in: J Q R 84 (1994), 3 9 7 - 4 1 6 . 118 Haberman, Geserot, 142-144; Neubauer/Stern (s.o. Anm. 102), 3 1 - 3 5 .

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

wieder aus." Diese Beschreibung e r h ö h t die Spannung zwischen der wiederholten Tatsache, dass das Feuer die zur Exekution Bestimmten nicht ergriff, u n d den vergeblichen Versuchen der Christen, die drei an die Exekutionsstätte zurückzubringen u n d doch zu verbrennen. Schließlich mussten die C h r i s t e n einsehen, dass ihre B e m ü h u n g e n gescheitert waren: Da tötete man sie mit dem Schwert und warf sie ins Feuer, doch sie wurden nicht von den Flammen verzehrt, weder sie noch die übrigen, insgesamt 31 Personen, was verbrannte, war ihre Seele, der Leib blieb erhalten. Das sahen die Unbeschnittenen und sprachen bestürzt zueinander: Das waren doch Heilige! Und dort war ein Jude, R. Baruch b. R. David haCohen, der hatte alles mitangesehen, (ebd.) Die Beziehung dieser Szene zu der Erzählung von den drei M ä n n e r n im Feuerofen (vgl. D a n 3) ist unübersehbar. In Blois wie in der biblischen Erzählung sind die drei zum F e u e r t o d verurteilt. D o c h in der biblischen Szene ist es G o t t , der erprobt wird; er rettet die drei aus dem Feuerofen, u n d sein N a m e wird geheiligt, wohingegen der hier vorliegende Fall nicht glücklich ausgeht: Die drei werden mit dem Schwert getötet. D e r A k t der R e t t u n g aus den Flammen hat also eine weitere F u n k t i o n , zu deren Klärung das Voranstehende heranzuziehen ist, w o es u m den gegen die J u d e n geführten Prozess geht. Wie war ihre Schuld bewiesen worden? Diese Frage war dem Erzähler sehr wichtig, denn daran hing die physische Sicherheit der J u d e n im ganzen Königreich. Wenn es nicht gelänge, die verleumderische Anklage, die J u d e n pflegten kurz vor O s t e r n christliche Kinder zu schlachten, zu widerlegen, wären die J u d e n allerorts in höchster Gefahr. Das dringendste Anliegen des Verfassers hier war zweifellos die völlige Entlastung der J u d e n von Blois. Die Exekution fand am 20. Siwan statt, und w e n n meine A n n a h m e stimmt, dass der angebliche Ritualmord auf G r ü n d o n n e r s t a g fiel, waren zwischen Tat u n d Urteil an die zwei M o n a t e vergangen. Innerhalb dieses Zeitraums wurde der Prozess gegen die J u d e n von Blois geführt, wobei die Ankläger sicher die größten A n s t r e n g u n g e n u n t e r n a h m e n , ihre Beschuldigungen zu erhärten. Dabei ist zu bedenken, dass im Unterschied zu anderen O r t e n in Blois die Leiche des C h r i s t e n k n a b e n nicht gefunden worden war, w o d u r c h es n o c h schwieriger wurde, den J u d e n den M o r d nachzuweisen. Was weiß unser Erzähler darüber zu berichten? Er sagt, die Schuld der J u den sei durch die Wasserprobe bewiesen worden; in diesem Z u s a m m e n h a n g klagt er über die schlechten Gesetze und lebensfeindlichen Satzungen der Christen. Diese P r o b e verlaufe so, dass der Zeuge in einen Bottich mit Wasser geworfen werde; wenn er die Wahrheit gesprochen habe, schwimme sein Körper oben, wenn er gelogen habe, gehe er unter. 1 1 9 In den Augen des jü119 H i e r sind die A u s f ü h r u n g e n von R. Ephraim (die sich auf das Schreiben aus Orléans gründen) nicht ganz zutreffend; eigentlich verlief die Wasserprobe umgekehrt: Wenn der zu

Die Affäre von Blois und die Erzählung von Bristol

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dischen Erzählers war nicht nur die gesetzliche Grundlage der Wasserprobe schlecht, sie wurde außerdem unredlich durchgeführt: „Sie verfuhren nach ihrem Willen, ließen den Knecht (d.i. den Zeugen) oben schwimmen, so wurde der Böse für gerecht erklärt und die Gerechten schuldig gesprochen". In der Verlängerung dieser Ausführungen ist die Schilderung der Exekution zu lesen. Unter den Beweismitteln des Gottesurteils gab es neben der Wasser- auch die Feuerprobe. Die Wasserprobe hatten die Juden nicht bestanden, aber unser Verfasser stellt die Exekution durch Verbrennung als eine Art Feuerprobe dar, deren Ergebnis die Unschuld der Verurteilten war. Von den Flammen waren sie ja nicht erfasst worden, so dass sie schließlich mit dem Schwert getötet wurden. Der Erzähler verwendet Begriffe aus der Welt der Gegenseite, um damit das Recht seiner Seite zu erweisen. Hier handelt es sich offenbar nicht nur um äußerliche Übernahme der gegnerischen Argumentation zu polemischen Zwecken, sondern hier ist die Sprache des Gegners für interne Zwecke eingesetzt. Der Umstand, dass auch nach der Exekution die Leichen vom Feuer unversehrt blieben, soll die christlichen Zuschauer dazu veranlasst haben, die Heiligkeit der Getöteten anzuerkennen. Hier wird also der Gegner zur Bestätigung dessen herangezogen, was vor dem eigenen Publikum bestätigt werden sollte: Die Juden waren unschuldig und erwiesen sich durch ihren Tod als Heilige. Auf die Heiligkeit der Getöteten werden wir noch zurückkommen. Weiter wird über die Exekution der Märtyrer von Blois im Jahre 1171 berichtet: Und als die Flamme emporstieg, brachen sie einstimmig in Jubel aus, erhoben ihre Stimmen zum Gesang, dergestalt dass die Nicht-Juden, die es uns erzählten, zu uns sagten: Was habt ihr da für ein schönes Lied, so eine schöne Melodie haben wir nie gehört. Anfangs war der Gesang leise, dann aber erhoben sie ihre Stimmen gewaltig und rezitierten gemeinsam Alenu leschabbeach (,uns obliegt es zu preisen'), wobei das Feuer brannte. 1 2 0

Die zentrale Stellung des Alenu -Gebets in diesem dramatischen Augenblick ist auch in zwei aus Anlass dieser Affäre verfassten liturgischen Dichtungen hervorgehoben; dort ist nicht nur von der schönen Melodie die Rede, sondern von der Freudigkeit der Exekutierten: „Da erging der Befehl, sie zur Verbrennungsstätte hinauszuführen / allesamt freuten sich wie die Braut auf dem Weg zum Trauhimmel / ,uns obliegt's zu preisen' sangen sie mit sehn-

Prüfende im Wasser unterging, war dies ein Zeichen, dass er die Wahrheit gesprochen, denn das Wasser ,nahm ihn auf'. Zur Ähnlichkeit der Wasserprobe mit der Taufe s. R. Barlett, Trial by Fire and Water. A Medieval Judicial Ordeal, Oxford 1986, 88. 120 Haberman, Geserot, 143; ebenfalls in Sefer Sechira (Memorbuch) des Ephraim von Bonn (s.o. 8), 126.

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süchtigem Verlangen" dichtet R. Hillel b. Jakob aus Bonn. 1 2 1 Und sein Bruder, R. Ephraim, schreibt zum selben Ereignis: „Sie sangen: uns obliegt's zu preisen Gott den Einen, seine Einheit zu verkünden / dies ist die Lehre des Brandopfers, des Opfers auf dem Scheiterhaufen". 122 Daraus geht hervor, dass dem Singen von Alenu durch die Märtyrer beim Vollzug des Martyriums im 12. Jh. zentrale Bedeutung zukam. Das Loblied Alenu leschabbeach aus dem Munde der Märtyrer von Blois hatte eine ausgesprochen antichristlich propagandistische Funktion, und es machte großen Eindruck auf das Publikum. Dies dürfte der ideologische Hintergrund gewesen sein, auf dem dieses Gebet zum Abschluss jedes öffentlichen jüdischen Gottesdienstes geworden ist. Israel Ta-Shma hat die Vermutung geäußert, dass dieses Gebet aus den sog. Maamadot, unverbindlichen Privatgebeten, wie sie schon im Altertum üblich waren, in den öffentlichen Gottesdienst übernommen worden sei. 1 2 3 Außerdem hat er festgestellt, dass die Version des Alenu -Gebets in einem französischen Gebetbuch aus der 2. Hälfte des 12.Jh. einen scharf antichristlichen Zusatz enthält. Zwei weitere Fassungen dieses Gebets aus demselben Zeitraum, ebenfalls aus Frankreich, weisen denselben Einschub auf: „der unseren Anteil nicht gemacht wie den ihrigen, unser Los nicht wie all ihre Menge, sie werfen sich nieder vor leerem Hauch, Mensch, Asche, Blut, Galle, Fleisch, Schande, Gestank, Gewürm, kultisch unreine Männer und Weiber, Ehebrecher und Huren, sterben durch ihr Verbrechen, welken hin durch ihre Sünde, verkommen in Staub, verdorben und wurmzerfressen". 1 2 4 Die Buchstaben des hebräischen Wortes ,leer' ergeben denselben Zahlenwert wie die des Namens Jesus; die Reihe der übrigen Schimpfwörter bildet ein Akrostichon, aus dem hervorgeht, dass Jesus ein fleischlicher (und kein göttlicher) Mensch gewesen sei. 1 2 5 Die Bedeutung des Wortes ,Galle' (Maro) hier erhellt aus dem Schreiben des Obadja b. Machir, wo ebenfalls die Affäre von Blois beschrieben ist: D e r zu s e i n e m Vater spricht: ich habe ihn nicht gesehen ( D t n 33,9) - das ist eine v o n den beiden H u r e n , v o n denen es heißt: D i e ist seine M u t t e r . U n d ihre Verfeh-

Haberman, Geserot, 138. Ebd., 134. 123 I. Ta-Shma, The Source and Location of the Prayer Alenu le-shabeah in the Siddur: The Ma'amadot and the Question of the End of the Prayer (hebr.), in: GS E. Talmage, Haifa 1993, I, 85-98. 124 Veröffentlicht bei M. Halamish, An Early Version of Alenu le-shabeah (hebr.), in: Sinai 110 (1992), 262-265. 125 N . Wieder, Regarding an Anti-Christian and Anti-Muslim Gematria (hebr.), in: Sinai 76 (1975), 1-14. Weiteres zum Alenu -Gebet bei A. Grossman, Redemption by Conversion in the Teaching of Early Ashkenazi Sages (hebr.), in: Zion 59 (1994), 328 mit Bibliographie in Anm. 8. Angaben zu weiteren Quellen und Untersuchungen bei J. Tabory, Meqorot leToldot haTefilla, Jerusalem 1993, 63-68. 121 122

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lung werde nicht getilgt (Neh 3,37) - darum lautet ihr Name Mara und Schande der Menschentöchter, und durch unsere Sünden hat sie ihren toten Sohn in den Schoß der Erde gelegt vor dem niedrigen Tempel, durch unsere Verfehlungen".126 Hier ist auf das Salomonische Urteil ( l K ö n 3 , 1 6 - 2 8 ) angespielt, wo zwei Huren vor dem König um den einen überlebenden Sohn prozessierten. Die betrügerische Frau ist Maria (Mara), die Mutter Jesu; sie hat der anderen Frau den Sohn weggenommen und ihn in ihren Schoß gelegt, d.h. in den ,Schoß der Erde' (dieser Ausdruck ist biblisch Ez 43,14 belegt). Uber den theologischen Hintergrund dieser Äußerung gibt ein französisches antijüdisch ausgerichtetes Lied Aufschluss, das vom Herausgeber ins 13.Jh. datiert wird. Darin heißt es über Jesu Aufenthaltsort: Touz jors estoit amont, el sain son pere Toz (sie) jors estoit aval, clos el ventre sa mere. 127 Demnach ist es die christliche Inkarnationslehre, die vom jüdischen Verfasser lächerlich gemacht wird. 1 2 8 So betrachtet enthält der antichristliche Zusatz zum Alenu -Gebet despektierliche Aussagen sowohl über Jesus als auch über Maria. 1 2 9 Mit einiger Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass dies der Hymnus war, den die Märtyrer von Blois bei ihrer Exekution sangen. Dieser Befund legt nahe, dass der von Ta-Shma geschilderte literarische Vorgang auch einen ideologischen Aspekt gehabt haben könnte, der gut in die Atmosphäre des 12. Jh. passt. Das Alenu -Gebet war zu einer Art jüdi1 2 6 Spiegel, Martyrs of Blois (s.o. A n m . 9 8 ) , 286. Ein nicht sehr sorgfältiger Abdruck dieses Schreibens auch bei Haberman, Geserot, 2 5 8 f. 127 „Allezeit war er droben, in seines Vaters Schoß / allezeit war er drunten, eingeschlossen in seiner Mutter Leib". H . Pflaum, Poems of Religious Disputations in the Middle Ages (hebr.), in: Tarbiz 2 (1931), 451.468. 1 2 8 In diesen Kontext gehört vielleicht auch die Vorstellung von dem ,Schoß', in dem sowohl die christlichen als auch die jüdischen Märtyrer ruhen sollen; vgl. Lk 16,22. Zu jüdischen Motiven im Zusammenhang mit der Madonna s. E.M. C o h e n , T h e Teacher, the Father and the Virgin Mary in the Leipzig Mahzor, in: Proceedings of the Tenth World Congress of Jewish Studies, Division D , Bd. 2, Jerusalem 1990, 7 1 - 7 6 ; I.G. Marcus, Rituals of Childhood, N e w Häven/ London 1996, 9 0 - 9 4 . 129 Verspottung der Madonna lässt sich als jüdische Reaktion auf den im 12.Jh. in N o r d frankreich um sich greifenden Marienkult auffassen, auf das Dogma von der unbefleckten

Empfängnis und auf das Erscheinen der Sammlung Miracula Sanctae Virginis Marine, wo von

Wundern erzählt wird, welche die heilige Jungfrau bewirkt haben soll, wenn sie mit ,Ave Maria' angerufen wurde. U b e r die Verbreitung des Marienkults in Nordfrankreich und darin enthaltene antijüdische Motive s. bei W . Delius, Geschichte der Marienverehrung, München/Basel 1963, 165f; W . C . Jordan, M. Devotion and the Talmud Trial of 1240, in: B. Lewis/F. Niewöhner (Hg.), Religionsgespräche im Mittelalter, Wiesbaden 1992, 6 1 - 7 6 . Dass diese Schimpfworte im 13.Jh. wieder aus den jüdischen Gebetbüchern verschwanden, könnte mit der beim Pariser Talmud-Prozess von 1240 erhobenen Anschuldigung zusammenhängen, Juden äußerten Verwünschungen wider die heilige Jungfrau; dieser Vorwurf erregte seinerzeit großes Aufsehen in der christlichen Öffentlichkeit.

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schem, antichristlichem Glaubensbekenntnis, einem Gegenstück zum christlichen Credo, geworden und wurde von den Märtyrern zu Blois als solches verwendet. Die Einfügung der scharfen antichristlichen Ausfälle, die in der 2. Hälfte des 12. Jh. in Frankreich zu beobachten ist, möchte ich als Nebenwirkung der liturgischen Neuerungen betrachten, die im Anschluss an die Affäre von Blois eingeführt wurden. 130 Dass das Alenu -Gebet seinen festen Platz im jüdischen Gebetbuch erhielt, lässt nicht auf universalistische Tendenzen in der aschkenasischen, französischen und englischen Judenheit schließen, sondern im Gegenteil auf ein Zunehmen des Kampfes mit dem Christentum und auf Verschärfung des Stils auch bei den Juden. Dass die jüdischen Märtyrer zu Blois gerade das Alenu -Gebet mit seinen despektierlichen Äußerungen über Jesus und Maria wählten, ist in Anbetracht des sich damals in Nordfrankreich ausbreitenden Marienkults nicht weiter erstaunlich. Dreimal betont der jüdische Verfasser des Berichts über die Märtyrer von Blois, wie schön die von den Märtyrern gesungene Melodie gewesen sei. Sie beeindruckte die christlichen Zuschauer der Exekution zutiefst, so dass sie meinten, noch nie etwas so Schönes gehört zu haben. Hier machen wir die faszinierende Beobachtung, dass die von Juden bei der Beschreibung ihrer Märtyrer benutzte Symbolsprache auch von den Christen auf die Opfer der Ritualmordaffäre angewandt wird. In Chaucers Canterbury Tales findet sich eine Erzählung über einen Chorknaben, der in der Judengasse das ,gaude Maria' gesungen habe, die Juden hätten seinen lieblichen Gesang nicht ertragen können und ihm die Kehle durchgeschnitten, doch aus der durchschnittenen Kehle habe es weiter gesungen. 131 Dieses Motiv ist natürlich keine Erfindung von Chaucer. In der lateinischen Fabula Ineptissima ist über eine offenbar fiktive Affäre berichtet, die sich unter Henry II (1154-1189) in Bristol zugetragen haben soll. 132 Ein Jude namens Samuel habe einen Christenknaben gekreuzigt, Adam, Williams Sohn. Samuels Frau und Sohn waren an der Tat beteiligt, als jedoch der

Dazu Haberman, Geserot, 126.146. Zu den Quellen von Chaucers Sammlung s. C. Brown, The Prioress's Tale, in: W.F. Bryan/G. Dempster (Hg.), Sources and Analogues of Chaucer's Canterbury Tales, New York 1958, 447-485; B. Boyd (Hg.), A Variorum Edition of the Works of Geoffrey Chaucer, II: The Canterbury Tales, part 20: The Prioress's Tale, Oklahoma/London 1987, 8-16. Vielleicht ist das der Grund, weshalb R. Abraham ibn Esra in seinem bis heute gesungenen Lied ,Es dürstet meine Seele nach dem lebendigen Gott' das Motiv der beiden Mütter aus dem Salomonischen Urteil (lKön 3,16-27), die darum streiten, wem der tote Sohn gehöre und wem der lebendige, thematisiert hat. Dass kein Leichnam des angeblich Ermordeten gefunden wurde, könnte ebenfalls mit dem Kult der Heiligen Jungfrau zusammengehen, die bei ihrer Himmelfahrt keine Leiche hinterließ. 132 Chr. Cluse (Hg.), „Fabula ineptissima". Die Ritualmordlegende um Adam von Bristol nach der Handschrift London, British Library, Harley 957, in: Aschkenas - Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 5 (1995), 293-328. 130 131

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Leichnam des Knaben Wunder wirkte, erschraken sie, taten B u ß e und wollten sich taufen lassen. U m sie daran zu hindern, soll Samuel beide umgebracht haben. N a c h Meinung des Herausgebers stammt diese Erzählung aus der 2. Hälfte des 1 3 . J h . Wie die Erzählung aus den Annalen von E g m o n d ist auch der Bericht über das Geschehen in Bristol eine christliche literarische F i k t i o n mit Elementen, die aus jüdischen Gegenstücken bekannt sind. Das jüdische Narrativ von den Märtyrern, die ihre eigenen Frauen und Kinder töten, um sie nicht taufen zu lassen, wird hier in einem christlichen Gegenentwurf dargeboten, einschließlich Ritualmord und T ö t u n g von Frau und Sohn, weil diese angeblich hatten zum Christentum konvertieren wollen. So verwandelt die christliche Erzählung die Figuren jüdischer Märtyrer, die zur Heiligung des göttlichen Namens gestorben waren, in christliche. Samuels Frau und Sohn waren zwar nicht mit Weihwasser getauft worden, aber ihr Tod ,pro C h r i s t o ' galt als eine Art Bluttaufe, die ihnen den Status von Märtyrern verlieh. 1 3 3 Bei näherer Betrachtung weist diese christliche Legende weitere Berührungspunkte mit den Berichten über jüdische Märtyrer auf. N a c h Auskunft des lateinischen Textes soll der J u d e die Leiche des ermordeten Christenknaben auf dem A b o r t versteckt haben; diese Lokalität wird bei christlichen Erzählern öfter genannt, wohl wegen der Talmudstelle, wo es heißt, J e s u Strafe im Jenseits bestehe in siedendem K o t . 1 3 4 Danach soll der J u d e den Knaben der Länge nach an einen langen Spieß gebunden und diesen über dem F e u e r gedreht haben, um den Leichnam zu braten; dieses Motiv erinnert an die Zubereitung des Opferlamms zu P e s s a c h . 1 3 5 In der Fortsetzung wird erzählt, wie ein Priester zusammen mit zwei Begleitern das Haus des

133 Über weitere solcher Legenden berichtet Cluse (ebd.), 296f; die Handschrift enthält ein Bild, auf dem dargestellt ist, wie Samuel seinen Sohn und seine Frau schlachtet; auch in der Dissertation von Zafran (s.o. Anm. 105), 40, ¡11. 93. 13,1 b Gittin 57a. Diese Quelle wird von Nikolaus Donin angeführt; vgl. Ch. Merchavia, Der Talmud im Spiegel des Christentums (hebr.), Jerusalem 1971, 276f. Sie war allerdings schon vorher bekannt, wie aus dem Schreiben von Papst Innozenz III. an den französischen König Philippe Auguste aus dem Jahre 1205 hervorgeht; dazu S. Grayzel, The Church and the Jews in the X H I t h Century, New York 1966 (rev. ed.), Nr. 14 , 108 f. Bei den antijüdischen Ausschreitungen von 1096 in Mainz ist berichtet, wie der Armenvorsteher David b. Natanel vor seinem Tod vor einer großen christlichen Zuhörerschaft Jesus, der ,zu siedendem Kot' verurteilt sei, gelästert habe (Haverkamp, s.o. A n m . 8 , 35 [592]). Zur Entweihung christlicher Kultgegenstände durch Juden auf dem Abort s. Chr. Cluse, Stories of Breaking and Taking the Cross: A Possible Context for the Oxford Incident of 1268, in: Revue d'Histoire Ecclesiastique 15 (1995), 418. Zum wider Juden erhobenen Vorwurf der Entweihung christlicher Kultgegenstände s. auch Cluse, Fabula ineptissima (s.o. Anm. 132). 135 Zum Braten des Pessach-Lamms wurde diesem ein Spieß durch das Maul und die ganze Körperlänge getrieben: M Pessachim V I I 1 und Parallelen. Justin Martyr behauptet, das aufgespießte Passalamm sehe aus wie ein Gekreuzigter (dial. X L , Williams (Hg.), 80). Laut der Le-

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Juden betrat und dort wunderbaren Gesang wie von einem tausendstimmigen Kinderchor vernahm: Soli deo honor et gloria in secula seculorum, amen.136 Einer der Laien habe gefragt, wo der Gesang herkomme, wo denn die Kirche sei? Doch der Priester hieß ihn schweigen und gebot den beiden, sie sollten kein Wort reden und dort sitzen bleiben, bis er wiederkomme; bis dahin sollten sie Pater noster und Ave Maria rezitieren. Der Priester wollte allein in den Abort hinein, aber eine Stimme gebot ihm, er solle erst beichten gehen. Er ging hinaus zu einer nahegelegenen Kirche. Als er ins Haus des Juden zurückkehrte, berichteten ihm seine beiden Begleiter, in seiner Abwesenheit seien ihnen eine Frau und ein Knabe in Purpurgewändern erschienen, die leuchteten wie die Sonne. Die beiden hätten auf die Stichwunden an ihrem Körper gedeutet, an denen sie gestorben seien. Wie oben (Kap. III) beobachtet, ist das Purpurgewand eines der grellsten Symbole der aschkenasischen Märtyrer; es soll den Grimm des Rache-Gottes herausfordern. Auch in der vorliegenden christlichen Legende sind es Juden, die in Purpur gekleidet erscheinen, nicht der ermordete Christenknabe; hier dürfte außerdem ein Hinweis auf das Purpurgewand vorliegen, in das Jesus vor seiner Kreuzigung gekleidet wurde (vgl. M k 15,17). Bei Jesus steht das Purpurgewand für königliche Würde; 1 3 7 bei den Schilderungen jüdischer Märtyrer (in Midrasch und Piut) dagegen ist das Purpurgewand ein ursprünglich weißes Gewand, rotgefärbt vom Blut der Märtyrer. Wie oben (Kap. III) ausgeführt, ist der biblische Bezugspunkt dieser Juden und Christen gemeinsamen Vorstellung Jes 63,1-6, wo die göttliche Rache an Edom geschildert ist. In der christlichen Exegese wird dieser Vers auf den gekreuzigten Jesus gedeutet, dessen Kleider von seinem Blut rot geworden seien. 138 In der Fortsetzung ist berichtet, wie der Priester in den Abort hineingeht, die Leiche des Knaben in ein Tuch hüllt und in einen Sarg legt. Die Engel helfen ihm, den Leichnam von Bristol bis nach Irland, die Heimat des Knaben, zu transportieren, wo er begraben wird. Beim Begräbnis hört der Priester die Engel zum letzten Mal singen, und zwar das Te-Deum. Hier

gende von Bristol soll der Jude dem Christenknaben, bevor er ihn briet, ein Kreuz in den M u n d gesteckt haben, u m ihn am Reden zu hindern; das k ö n n t e eine Anspielung auf Jes 57,3 sein. 1,6 G o t t allein sei Ehre und Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen; bei Cluse, Fabula ineptissima (s.o. A n m . 132), 322. 137 Ebenso häufig in der Literatur des jüdischen Midrasch bei Schilderungen königlicher Gewänder. 138 A. Thomas, Die Darstellung Christi in der Kelter, Düsseldorf 1982 (repr.); J. Schwarz, Treading the Grapes of Wrath. T h e Wine Press in Ancient Jewish and Christian Tradition, in: T h Z 49 (1993), 215-228.311-324; J . H . Marrow, Passion Iconography in N o r t h e r n European A r t of the Late Middle Ages and Early Renaissance, Kortrijk 1979, 50-52; O . Limor, Die Disputationen zu Ceuta (1197) und Mallorca (1286), M ü n c h e n 1994 ( M G H , Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 15), 155, A n m . 100.

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drängt sich der Vergleich mit der Todesszene der Märtyrer von Blois auf, die auf dem Scheiterhaufen ebenfalls Gottes Lob gesungen haben sollen, nämlich das Alenu -Gebet. Liegt hier eine Art von indirektem Dialog vor? Die Ubereinstimmungen zwischen dem Te-Deum und dem Alenu sind in mancher Hinsicht verblüffend. 139 Eine legendäre Uberlieferung führt das Te-Deum auf Ambrosius, den Bischof von Mailand im 4.Jh. zurück, aber die meisten Forscher sind sich darüber einig, dass der lateinische Text des Te-Deum im 5.Jh. entstanden und im 9. Jh. ins Griechische übersetzt worden sei. 140 Auch das Alenu wird auf eine frühe Autoritätsperson zurückgeführt, auf den babylonischen Amoräer Rav im frühen 3.Jh., 1 4 1 doch die früheste erhaltene Fassung steht in der Hechalot-Literatur. 1 4 2 Wie das Alenu bildete auch das Te Deum ursprünglich keinen Bestand der Gemeindeliturgie. Erst allmählich erhielt es seinen Status, indem es ins sonntägliche Morgengebet (Matutin), eines der acht Stundengebete (Horae), aufgenommen wurde. 143 Es galt als ein ausgesprochenes Dankgebet, das auch zum Abschluss von feierlichen Anlässen gesungen wurde, etwa bei der Einweihung einer Kirche, bei der Einsetzung von Papst oder Bischof, bei der Heiligsprechung, bei der Unterzeichnung eines Friedensvertrags, bei einer Krönungsfeier oder am Ende einer religiösen Aufführung. Von seiner liturgischen Stellung her entspricht das Te-Deum also in etwa dem Alenu -Gebet, das jeweils zum Schluss des Gemeindegottesdienstes gesprochen wird. Dass

139 Bereits beobachtet bei E. Werner, T h e Sacred Bridge, I, London/New York 1959, 7; die dort getroffene Feststellung, das Alenu -Gebet sei bald nach dem 3. Jh. in den jüdischen Gottesdienst aufgenommen worden, trifft nicht zu; auf S. 183 stellt Werner das Te-Deum einem anderen jüdischen Gebet gegenüber, auf S. 184 vergleicht er das Alenu -Gebet mit dem christlichen Credo. 1 4 0 The Catholic Encyclopedia X I V (New York 1913-14), 468-471 (s.v. Te Deum); M. H o glo, Art. Te Deum, in: The New Catholic Encyclopedia X I I I (Washington 1967), 954 f. 141 I. Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt/M. 3 1931, 80f; J . Heinemann, Prayer in the Talmud, Berlin 1977, 2 6 9 - 2 7 5 ; A. Mirsky, haPijjut, Jerusalem 1990, 72f; J. Neusner, History of the Jews in Babylonia, II, Leiden 1966, 163-166. Wie Heinemann beobachtet hat, unterscheidet sich das Alenu von anderen jüdischen Gebeten (auch vom Te Deum) dadurch, dass es Gott nicht in 2. Person anredet, sondern in 3. Person über ihn spricht. Aus diesem Grund sowie aus stilistischen Erwägungen heraus meint Heinemann, das ursprüngliche Alenu -Gebet (die 1. Hälfte des Textes in jüdischen Gebetbüchern) stamme noch aus der Zeit des Zweiten Tempels, und Mirsky folgt ihm darin; allerdings ist der Text in der talmudischen Literatur nicht belegt, vielmehr findet sich der früheste Beleg in der Merkaba-Literatur. 142 A. Altmann, Kedushah Hymns in the Earliest Hekhaloth Literature (hebr.), in: Melila 2 (1946), 1 - 2 4 , nachgedruckt in Panim scbel Jahadut, Tel Aviv 1983, bes. 54; G. Scholem, Jewish Gnosticism, Merkabah Mysticism, and Talmudic Tradition, New York 1965, 105; P. Schäfer (Hg.), Synopse zur Hekhalot-Literatur, Tübingen 1981, Nr. 551; M.D. Schwartz, „Alay Leshabbeah": A Liturgical Prayer in Ma'aseh Merkabah, in: J Q R 77 (1986/7), 179-190. 145 Zur Aufnahme von Alenu ins jüdische Stammgebet s. Ta-Schma,y4/e«« (s. o. Anm. 123).

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die Affäre von Bristol mit dem Te-Deum endet, passt also genau zu der liturgischen Stellung dieses Gebets am Ende liturgischer Veranstaltungen. Hier geht es weder um den Ursprung noch um die Bedeutung des Alenu Gebets, sondern nur um dessen Verständnis im 12.Jh., da es als Schlussgebet ins französische und aschkenasische Gebetbuch aufgenommen wurde. Ich rechne mit der Möglichkeit, dass dieser Text für mittelalterliche Juden die überzeugendste Erwiderung auf eine parallele christliche Proklamation war. 144 Verstärkt wird die Annahme, dass es sich bei Alenu um eine Gegenproklamation handelt, durch den Umstand, dass dieses Gebet sowohl bei Juden als auch bei Christen als antichristliche Polemik galt. Die jüdische Auffassung ist, wie schon oben angedeutet, durch französische Versionen aus dem 12. Jh. belegt, worin Zusätze enthalten sind, in denen Jesus und Maria beschimpft werden: „sie werfen sich nieder vor leerem Hauch, Mensch, Asche, Blut, Galle (Hinweis auf Maria), Fleisch, Schande, Gestank, Gewürm, kultisch unreine Männer und Weiber, Ehebrecher und Huren, sterben durch ihr Verbrechen, welken hin durch ihre Sünde, verkommen in Staub, verdorben und wurmzerfressen". 145 Verwünschungen wider die heilige Jungfrau werden auch in der Legende von Bristol dem Juden Samuel in den Mund gelegt, und Cluse hat überzeugend dargelegt, dass die Kreuzigung des Knaben Adam in der Nacht zu Mariae Himmelfahrt (15. August) stattgefunden haben soll. 146 Die christliche Deutung von Alenu braucht nicht weiter ausgeführt zu werden, sie ist in der Forschung eingehend behandelt. 147 Die etwaige Beziehung der Legende von Bristol zum Alenu -Gebet findet eine Stütze in einem weiteren Detail der Erzählung: Dort heißt es, bei der Nennung des Namens Jesus' habe der Jude dreimal ausgespuckt; das sieht aus wie eine christliche Rezeption des jüdischen Brauchs, im Alenu -Gebet beim Sprechen der Wörter ,leerer Hauch', deren Zahlenwert dem des Namens Jesus entspricht, auszuspucken.148 So zeichnet sich ab, dass das Alenu -Gebet für die französische und aschkenasische Judenheit im 12. Jh. 144 Y. Baer, The Manual of Discipline; A Jewish-Christian Document of the Second Century C E (hebr.), in: Zion 29 (1964), 54 Anm. 145, hat auf Ubereinstimmungen zwischen Alenu und 1 Kol 12 hingewiesen; allerdings ging er im Sinne der zu seiner Zeit vorherrschenden Meinung davon aus, dass Alenu die Vorlage für den paulinischen Text gebildet habe, was mir nicht recht einleuchten will. 145 Halamish,Alenu (s.o. Anm. 124). 146 Cluse, Fabula ineptissima (s.o. Anm. 132), 300f. 147 Das Alenu -Gebet ist bei Bernardo Gui in seinem Handbuch für Inquisitoren zitiert; dazu C. Douais (Hg.), B. Guidonis, Practica Inquisitionis Heretice Pravitatis, Paris 1886, 290-292. Unter den Arbeiten zur Stellung von Alenu in der jüdisch-christlichen Auseinandersetzung sind in erster Linie zu nennen: Wieder, Gematria (s. o. Anm. 125); J . Elbaum, Concerning Two Textual Emendations in the 'Alenu Prayer (hebr.), in: Tarbiz 42 (1973), 204-208; H.M. Kirn, Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen 16. Jh., Tübingen 1989, 45f; Ta-Schma, Alenu (s.o. Anm. 123); Halamish, Alenu (s.o. Anm. 124). 148 Cluse, Fabula ineptissima (s.o. Anm. 132), 303.

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tatsächlich als eine Art Gegen-Proklamation fungierte, die vor allem gegen den Marienkult gerichtet war; das war offenbar der Grund, weshalb Alenu sich als Schlussgebet in der Gemeinde-Liturgie etablierte. Wenn wir den Inhalt der beiden Gebete näher ins Auge fassen, stellt sich heraus, dass auch thematisch gewisse Ubereinstimmungen bestehen. Das christliche Siegeslied beginnt mit einer doppelten Verkündung: „Dich, Gott, loben wir, dich, den Herrn, bekennen wir" (te Deum laudamus, te Dominum confitemur) ; mit einer Unterscheidung zwischen zwei Aspekten der Gottheit setzt auch Alenu ein: „Uns gebührt's zu preisen den Herrn des Alls, Huldigung darzubringen dem Schöpfer des Anbeginns". Im zweiten Vers des christlichen Hymnus findet sich der Satz „Dir huldigen alle Engel, die Himmel und Mächte der Welt" (tibi omnes angeli, tibi caeli et universae potestates [...] proclamant); gegenüber dieser Aufzählung des himmlischen Heers wird im jüdischen Gebet Gott als die höchste Autorität über alle übrigen Mächte angesprochen: „wir aber verneigen uns, werfen uns nieder und bekennen den König der Könige der Könige". Wo es im christlichen Text heißt „voll sind Himmel und Erde deiner Macht und Herrlichkeit" (pleni sunt caeli et terra majestatis gloriae tuae), ist Gott auf der jüdischen Seite derjenige, „der die Himmel ausspannt und der Erde Grund verleiht". Das christliche Gebet preist Jesus als „König der Herrlichkeit" (rex gloriae) und verkündet seine Fleischwerdung, wodurch der Leib der heiligen Jungfrau nicht entweiht worden sei; dagegen enthält der Zusatz zum Alenu, der im 12.Jh. in französisch-jüdischen Gebetbüchern zu finden ist, scharfe Beschimpfungen von Jesus und Maria. Zu Jesus wird gesagt: „Du sitzest zur Rechten Gottes in der Herrlichkeit des Vaters" (tu ad dexteram dei sedes in gloria patris); im Alenu dagegen steht: „Der Sitz seiner Herrlichkeit im Himmel droben", oder in älteren Textfassungen: „der Thron seiner Herrlichkeit im Himmel droben". 1 4 9 Im christlichen Gebet wird der Hoffnung

In der Symbolsprache des 12.Jh. lässt sich die Aussage „der Sitz seiner Herrlichkeit im Himmel droben" als Polemik gegen die Vorstellung vom „Sitz der Weisheit" (sedes sapientiae) deuten, dem Schoß der Maria, wo Jesus thront. Im 11. und 12.Jh. kamen in Nordfrankreich bildliche Darstellungen jenes ,Sitzes der Weisheit' in Gebrauch; diese hölzernen Statuetten zeigen Jesus, den göttlichen Logos, wie er im Schoß seiner irdischen Mutter Mensch wird. So erscheint die heilige Jungfrau als das Medium, wodurch das Göttliche auf die Erde herabkam, demnach ist sie der „Sitz der Weisheit" oder Salomos Thron, wobei entweder sie oder Jesus ein Buch in der Hand halten; dazu I.H. Forsyth, The Throne of Wisdom, Wood Sculptures of the Madonna in Romanesque France, Princeton 1972. Im Gegensatz dazu verkündet der jüdische Beter, dass Gottes ,Sitz der Herrlichkeit' im Himmel ist, nicht im Schoß einer menschlichen Mutter. Zur Verstärkung dieser Analogie ist auf den gleichen Zahlenwert des hebräischen Wortes .seiner Herrlichkeit' (JeQaRO = 1 0 + 1 0 0 + 2 0 0 + 6 ) und der hebräischen Namensform für Jesus (JeSchU = 1 0 + 3 0 0 + 6 ) zu verweisen; dazu Lipman Mühlhausen, Sefer haNizzachon (s.o. Anm. 107), 192; Joseph b. Mose, Leqet Joscher, J . Freimann (Hg.), I, Berlin 1923, 29. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass auch der Stuhl, auf dem der Pate mit dem Knaben bei der Beschneidung sitzt, als „Thron der Ehre" bezeichnet wird (Pirqe deRabbi Elieser, X X I X ge-

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Ausdruck verliehen, dass Jesus zum Endgericht wiederkommen werde: „als Richter, glauben wir, wirst du kommen" (judex crederis esse venturus); darauf folgt die Anrufung „darum bitten wir dich" (te ergo quaesumus), was an die Einleitung zum zweiten Teil des Alenu -Gebets erinnert: „darum hoffen wir auf dich, Ewiger, unser Gott, bald deine prächtige Macht zu schauen, dass die Greuel von der Erde schwinden". In dem christlichen Hymnus heißt es weiter: „und wir loben deinen Namen in Ewigkeit" {et laudamus nomen tuurn in saeculum), ähnlich wie in dem jüdischen Gebet: „und deinem herrlichen Namen geben sie Ehre". Die Analogien zwischen den beiden Texten ließen sich noch weiter verfolgen, aber hier soll nur geklärt werden, wie Juden im 12. Jh. das Alenu -Gebet verstanden haben könnten, nicht etwa die These aufgestellt, dass es von vornherein als polemisches Gegenstück zum christlichen Te Deum formuliert worden sein könnte. Dass jedes von diesen Gebeten in Märtyrerlegenden vorkommt, ist eine unleugbare Tatsache, und die Berührungspunkte zwischen den beiden Texten sind unübersehbar. So entsteht der Eindruck, dass die mittelalterlichen Juden die liturgische Sprache der Gegenseite verwendet haben, um ihre entgegengesetzte Position sowohl bestätigend nach innen als auch provokativ nach außen zu verkünden. So betrachtet ist es nicht erstaunlich, dass sich die Ubereinstimmungen gen Ende), seit dem 13.Jh. dann als „Elias Thron". Zu Analogien zwischen dem jüdischen Paten bei der Beschneidung und dem christlichen Paten bei der Taufe s. L.A. Hoffman, Covenant of Blood, Chicago 1996, 200-207. Die Symbolbeziehung zwischen dem jüdischen und dem christlichen Bild des Thronsitzes erhellt auch aus einem jüdisch-byzantinischen Text (veröffentlicht bei A. Jellinek, Bet haMidrasch, II, repr. Jerusalem 1967, 85 - ein weiterer Text ebd. V, 34-41) mit dem Titel „Die Gestalt des Thrones von König Salomo, Friede über ihn". Dort heißt es: „König Salomo wird gezwungen, sich auf den Thron zu setzen [...] und eine goldene Taube schwebte zwischen den Säulen und tat ihm die Lade auf, nimmt eine Tora-Rolle heraus und legt sie ihm auf die Knie." Die Taube entspricht dem heiligen Geist, Salomo der Maria und die Tora-Rolle dem Jesuskund. Zu diesem Text und seinen byzantinischen Quellen s. J. Perles, Thron und Circus des Königs Salomo, in: MGWJ 21 (1872), 122-139; E. Ville-Patlagean, Une image de Salomon de Basileus byzantin, in: REJ 121 (1962), 9-33. Zum byzantinischen Kaiserthron s. A. Grabar, L'empereur dans l'art byzantin, Paris 1936. Zu Salomos Thron im katholischen Westen s. F. Wormald, The Throne of Solomon and St. Edward's Chair, in: De Artibus Opuscula X L (FS E. Panofsky), New York 1961, 532-539. Eine Bestätigung dafür, dass in der aschkenasischen Judenheit eine Beziehung zwischen dem .Thron seiner Herrlichkeit' im Alenu und sedes sapientiae bestand, findet sich in der Auslegung des R. Elasar von Worms zum Alenu Gebet. Dort bringt er den erwähnten Midrasch über König Salomos Thron im Kommentar zu dem Satz „der Sitz seiner Herrlichkeit im Himmel droben" (Sode Rasia leR. Ela$ar miWorms, J. Kamelhaar (Hg.), Belgoria 1926, 23; M. Hershler, Siddur Rabbenu Shelomo miGermaisa, Jerusalem 1972, 213). In der mystischen Lehre des R. Elasar von Worms hat das Sitzen der Herrlichkeit auf dem Thron sexuelle Konnotation, nämlich die Vermählung der oberen männlichen mit der unteren weiblichen Herrlichkeit; dazu E.R. Wolfson, The Image of Jacob Engraved upon the Throne. Further Reflection on the Esoteric Doctrine of the German Pietists, in: M. Oron/A. Goldreich (Hg.), Along the Path, New York 1995, 54. Die Verweiblichung des Throns der Herrlichkeit erinnert ebenfalls an den sedes sapientiae, den mütterlichen Schoß der Maria.

Die Affäre von Blois und die Erzählung von Bristol

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zwischen dem jüdischen und dem christlichen Narrativ nicht auf Einzelheiten beschränken, sondern bis in das Ritual des Märtyrergedenkens erstrecken. Unsere Informationen über das in Blois Vorgefallene stammen aus dem Bemühen, dieses Ereignis zu ritualisieren. Um auf einen bereits zitierten Abschnitt zurückzugreifen: Den Verfassern des Schreibens aus Orléans war die Feststellung wichtig, dass nicht nur die Leiber der hingerichteten Juden vom Feuer nicht verzehrt wurden, sondern dass es dafür auch einen Augenzeugen gab: „Und dort war ein Jude, R. Baruch beR. David haCohen, der hatte alles mitangesehen". Die Notwendigkeit, Zeugen für den Märtyrertod des Knaben William in Norwich aufzutreiben, war das Hauptmotiv für die Abfassung von dessen Biographie durch Thomas von Monmouth. Es ging also nicht nur darum, die Schuld der Juden aufzuweisen, sondern auch und vor allem um die Heiligkeit des getöteten Kindes. Ein ähnliches Anliegen, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen, ist in der jüdischen Erzählung zu beobachten. Die Juden von Blois waren hingerichtet worden, weil sie angeblich ein christliches Kind ermordet hatte. Doch in den Augen des von ihrer Unschuld überzeugten jüdischen Erzählers waren sie getötet worden, weil sie an ihrem Glauben festhielten und sich nicht taufen lassen wollten; von daher waren sie den Märtyrertod gestorben. Wie O. Limor so treffend bemerkt hat, waren das jüdische und das christliche Selbstverständnis .spiegelverkehrt, insofern als sie dieselben Elemente enthalten, nur mit vertauschten Rollen: Wer der Mörder war, erscheint als das Opfer, und wer das Opfer war, wird zum Mörder'. 1 5 0 Diese Entsprechung erklärt auch die Verankerung des 20. Siwan, an dem die Juden von Blois hingerichtet wurden, im liturgischen Kalender; in Frankreich, England und Deutschland wurde an diesem Tag ein öffentliches Fasten angesetzt zum Gedenken an die Märtyrer. Rabbenu Tarn wollte dieses Datum wie den Versöhnungstag begehen; nicht weniger als acht liturgische Dichtungen wurden zu diesem Anlass verfasst. So wurde das einmalige Martyrium verewigt und in eine jährlich wiederkehrende Zeremonie mit eigener Liturgie verwandelt. Ähnlich ritualisiert wurden bekanntlich auch etliche Ritualmordaffären. In den hier betrachteten und vielen anderen Beispielen zeichnen sich zwei Grundtendenzen in Bezug auf das Verhältnis der jüdischen zur analogen christlichen Symbolsprache ab. Die eine Tendenz geht dahin, den Symbolen des Gegners die Heiligkeit abzusprechen und sie zu zerstören; die zweite dagegen übernimmt sozusagen die christliche Symbolsprache und judaisiert sie, wodurch die gegnerischen Symbole gleichsam annektiert werden. Bekannter ist die erstgenannte Tendenz; die Notwendigkeit der zweiten ist bisher weniger beachtet worden. Die landläufige Meinung geht dahin, dass

150

O. Limor, Bejn Jehudim leNozrim,

5: AlilathaDam,

Tel Aviv 1998, 49.

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Vom Märtyrertod zur Ritualmordlüge

die aschkenasische Judenheit im Mittelalter christliche Symbole, Kulthandlungen und Sprachgebrauch strikt abgelehnt habe, als hätten die beiden G e meinden in zwei getrennten Welten gelebt. Das geht so weit, dass F o r s c h e r wie Laien sich kaum vorstellen können, dass J u d e n die Welt des christlichen Gottesdienstes gekannt haben oder dass Christen etwas von Sprache und B r a u c h t u m der jüdischen Religion gewusst haben könnten. D o c h die L e k t ü re der aschkenasischen C h r o n i k e n zeugt v o n enger Vertrautheit und gründlicher Kenntnis der Sprache des jeweiligen Gegners. Die E r f o r s c h u n g der jüdisch-christlichen Auseinandersetzung steht n o c h zu sehr im Schatten der polemischen Schriften, die eine h o h e T r e n n w a n d zwischen den streitenden Parteien ziehen sollten. Die eigentliche Auseinandersetzung vollzog sich jedoch sozusagen über die grüne Grenze, im alltäglichen U m g a n g , in der räumlichen Nachbarschaft von Synagoge und Kirche - in den meisten mittelalterlichen Städten lagen die beiden nur wenige D u t z e n d M e t e r v o n einander entfernt - in den winzigen Dimensionen der ummauerten, dicht bewohnten Städte, w o es keine Privatsphäre gab, so dass die Stimmen der jüdischen B e t e r bis in den Gottesdienst der christlichen Kathedrale dran-

151 Beschwerden über Lärmbelästigung von der Synagoge her sind immer wieder anzutreffen. Im Jahre 591 wurden die Juden von Terracina durch den Bischof aus ihrer Synagoge vertrieben, weil durch ihre Gebete der Gottesdienst in der nahegelegenen Kirche gestört werde; dazu S. Katz, Pope Gregory the Great and the Jews, in: J Q R 24 (1933-34), 12. Im Jahre 1205 beschwerte sich Papst Innozenz III. schriftlich beim französischen König Philippe Auguste darüber, dass die Juden in Sens ihre Synagoge so nah bei der dortigen Kirche gebaut hätten und dass sie darin ,nach jüdischem Brauch' lautstark beteten; dazu Grayzel, The Church and the Jews (s.o. Anm. 134), Nr. 14, 106f. Im Jahre 1458 drängte Kaiser Friedrich III. auf die Übersiedlung der Frankfurter Juden in ein neues, weniger zentral gelegenes Stadtviertel, damit ,das geschray der Judischeit in irer synagog' den christlichen Gottesdienst nicht mehr stören sollte; dazu F. Backhaus, Die Einrichtung eines Ghettos für die Frankfurter Juden im Jahre 1462, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 39 (1989), 64f. Uber das Stimmengewirr aus dem jüdischen Gotteshaus im Unterschied zu der feierlichen Stille im christlichen Gottesdienst klagt auch R. Isaak von Corbeil: „Weh denen, die in der Synagoge während des Gottesdienstes nichtige Dinge reden oder schwätzen und lachen, sie bringen ihre Kinder vom ewigen Leben ab. Wir sollten doch einen Analogieschluss ziehen: Wenn schon die Götzendiener, die ungläubig sind, still und stumm im Haus ihrer Schmach stehen, um wieviel mehr dann wir, die wir vor dem König aller Könige, dem Heiligen gelobt sei Er stehen" (Amude Gola, Sefer Mizwot qatan, Satmar 1925, 18, § 11 Ende).

V Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

Hier soll es wieder um Dialog und Konflikt zwischen Pessach und O s t e r n gehen, aber diesmal nicht wie oben (Kap. I I ) in der ausgehenden Antike, sondern überwiegend im Mittelalter. Untersucht werden hier nicht so sehr die Texte der jüdischen bzw. christlichen Festliturgie, als vielmehr die jeweiligen Symbole und Rituale. W i r wollen sehen, wie sich die Ritualsprache des jüdischen Pessach im Gegenüber zur Sprache des christlichen Rituals entwickelte, und was die Christen von dieser Sprache verstanden, die ihnen scheinbar vertraut, aber doch fremd war. Wie sich herausstellen wird, kann dieses christliche Verständnis einiger Pessach-Rituale zur Erhellung der Logik hinter einer anderen antijüdischen Beschuldigung des Mittelalters dienen, dem Vorwurf der Hostienschändung. Wenn wir nach dem Sinn der Mazza zu Pessach fragen, müssen wir in B e tracht ziehen, dass es sich um ein mehrdeutiges Symbol handelt, wobei die Bedeutungen teils offenkundig, teils verborgen sind und zum Teil engen B e zug zur vergangenen wie zur künftigen Erlösung haben. Das Sauerwerden und Aufgehen des Teiges stand in der Antike für die zivilisatorische Kraft, für die M a c h t des Menschen über die Natur, wohingegen die Mazza, das ungesäuerte B r o t , das Symbol für Einfachheit und Ursprünglichkeit war, das B r o t des nicht fest ansässigen N o m a d e n , ein bescheidenes und dabei auf Dauer haltbares Nahrungsmittel. D e m n a c h galt das ungesäuerte B r o t als ein reines Opfer. Bei den meisten Speiseopfern, die am Jerusalemer Tempel dargebracht wurden, heißt es ausdrücklich, sie dürften nichts Gesäuertes enthalten. 1 Auch die Schaubrote, die im Tempel auf dem goldenen Tisch lagen, mussten ungesäuert sein. 2 D i e zentrale Stellung des Brotes zu Pessach hängt mit dem Frühjahr zusammen, mit dem Warten auf das Reifen des ersten Brotgetreides, der G e r s te. 3 D a steht der Sauerteig für das Getreide vom vorigen J a h r und die Mazza

1 Ex 23,18; Lev 2,11; Am 4,5 u.ö. Vielleicht war es die für den antiken Menschen wunderbare Erscheinung, dass Brotteig aufgeht, die zur metaphorischen Gleichsetzung von Mensch und Brot führte (vgl. Joh 6,32-58; im Arabischen hat die Vokabel, die im Hebräischen ,Brot' bezeichnet, die Bedeutung .Fleisch'). Dazu J.B. Segal, The Hebrew Passover from the Earliest Times to A. D. 70, New York/Toronto 1963, 167-169. 2 M Menachot V 1. 3 Nach der Mischna wird über die Getreideversorgung der Welt zu Pessach entschieden (M Rosch haSchana I 2), und zu Pessach wurden die Zehntschulden von Feldertrag beglichen (M Maasser scheni V 6).

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

für die neue Ernte. Im Lande Israel ist die Gerste zu Pessach allerdings noch grün, bei weitem nicht reif zur Ernte, aber gerade deshalb bedarf sie eines besonderen Segens. In der Erzählung vom Auszug aus Ägypten wird der Mazza zweierlei Bedeutung beigelegt. Einerseits hatte der Brotteig keine Zeit zum Sauerwerden, was auf den überstürzten Aufbruch der Israeliten hindeutet (vgl. Ex 13,34), andererseits veranschaulicht die Mazza die Knechtschaft der Israeliten in Ägpten, weshalb sie als ,Brot der Armut' bezeichnet wird (vgl. Dtn 16,3). Nach der ersten Bedeutung war die Mazza ein Symbol der Erlösung, nach der zweiten ein Symbol für Leiden und Unterdrückung, was durchaus zusammengehen kann, denn die Erlösung besteht ja in der Befreiung aus der Knechtschaft. In der Forschung ist die Vermutung geäußert worden, die Vokabel ,Mazza' komme von der hebräischen Wurzel Nun-Zadiq-He mit der Bedeutung ,Kampf, Streit'; von daher wäre die Mazza ein Symbol des Kampfes zwischen Gott und dem Tode, wobei es um den Erstgeborenen geht, der als Gottes Eigentum dem Tod verfallen ist, aber freigekauft werden kann. Der Verzehr der Mazza wäre dann das Auslöse-Opfer, durch das der Erstgeborene am Leben erhalten wird.4 In den biblischen Texten steht die erste Bedeutung der Mazza als Zeichen des hastigen Aufbruchs im Vordergrund; auch an der einen Stelle, wo sie ,Brot der Armut' genannt ist, wird die Verpflichtung der Israeliten, zu Pessach Mazza zu essen, mit der Eile des Auszugs aus Ägypten begründet. Vielleicht ist das auch bei Josephus intendiert, wo als Begründung für das Essen von Mazza zu Pessach die ,Erinnerung an den Mangel' angegeben wird, den die Israeliten beim Auszug aus Ägypten litten.5 Das erste Mal, dass die Mazza ausdrücklich zum Symbol des Martyriums gemacht wird, ist in Jesu Einsetzungsworten beim letzten Abendmahl; so kommt in den Evangelien die Beziehung zwischen Jesu Kreuzigung und der Darbringung des Pessach-Opfers einerseits und den Bestimmungen über die Wegschaffung des Gesäuerten andererseits zustande, wie im Folgenden näher ausgeführt werden soll. Sobald sich die Bedeutung der Mazza auf den messianisch-eschatologischen Aspekt verlagert hatte, verschob sich auch der dem Gesäuerten beigelegte Sinn. So wurde der Sauerteig zu dem bösen Faktor, der das Kommen der Erlösung aufhält, und seine Wegschaffung zur Vorbedingung für die Darbringung des Pessach-Opfers und das Essen der Mazza, was für die Erlösung steht. 6 Die Wegschaffung des Gesäuerten wur-

4 A. Cooper/B.R. Goldstein, Exodus and Massot in History and Tradition, in: Maarav 8 (1992), 27f; ferner zur Etymologie von ,Mazza' s. Segal, Hebrew Passover (s.o. Anm. 1), 107-113. 5 Ant II 316. Von daher deutete H . Holzinger (Exodus, Tübingen 1900, 42) die Mazza als das Brot der Nomaden in der Wüste. 6 In seiner Auslegung zu J o h 10,18 (§ 109) unterscheidet Origenes zwischen dreierlei Stufen

Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

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de zur Vertilgung des .Anderen', des Rivalen. Parallel dazu erhielt das Gesäuerte auch eine ethische Bedeutung als der böse Trieb, den es zu vernichten gilt. 7 Nach der Tempelzerstörung trat die Mazza allmählich an die Stelle des Pessach-Opfers, wobei ihre Bedeutung als Symbol der künftigen Erlösung ständig zunahm. In beiden Religionen, Christentum und Judentum, sind Brot aus Sauerteig und ungesäuertes Brot symbolisch ähnlich befrachtet; doch das Christentum als die messianische Religion stellte die Mazza und die dadurch verkörperte Erlösung ins Zentrum ihres Rituals, in die tägliche Eucharistie, nämlich als Hostie. Demgegenüber stand auf jüdischer Seite weiterhin auch das Gesäuerte, das wegzuschaffen war, im Zentrum. Der jüdische Haushalt wird zu Pessach eine Art Mikrokosmos, wo die alten Nahrungsmittel samt dem zugehörigen Geschirr dem Gebrauch und sogar dem Blick entzogen sind und eine neue Umgebung geschaffen wird, welche die Symbole der vergangenen Erlösung enthält und auf die künftige Erlösung hindeutet. Die Ähnlichkeiten im Narrativ von Pessach bzw. Ostern in den ersten nachchristlichen Jh. haben wir bereits oben (Kap. II) erörtert. Hier soll es um die Ähnlichkeit von Ritual und Symbolen im Mittelalter gehen. Zeitlich und räumlich waren Pessach und Ostern eng benachbart, was fürs Mittelalter nicht weniger gilt als für die Antike. Allerdings ist an zwei Punkten doch ein markanter Unterschied zwischen dem Anfang des ersten und dem Anfang des zweiten Jahrtausends zu erkennen. Während in den ersten Jh. der christlichen Zeitrechnung das Verhältnis ein gegenseitiges Geben und Nehmen war, wurde es im Mittelalter weitgehend einseitig. Aus christlicher Sicht war das Judentum eine minderwertige und periphere Religion, irritierend durch ihre Unbeugsamkeit, aber doch entschieden nicht mehr führend. Wenn im zweiten und dritten Jh. Christen verfolgt worden waren, während das Judentum den Status einer religio licita genoss, so lagen die Machtverhältnisse im Mittelalter genau umgekehrt. Die Kirche sah sich als die siegreiche Staatsreligion, während die Juden kaiserliche Kammerknechte oder Untertanen des Heiligen Stuhls waren. Wenn daher im Mittelalter Übereinstimmungen zwischen jüdischem und christlichem Brauch zu beobachten sind, dürfte es sich um jüdische Übernahme aus dem Christentum handeln, sofern keine ältere Überlieferung vorliegt. 8

von Brot. Das irdische Brot, die niedrigste Stufe, ist das Brot aus Sauerteig. Darüber steht die Mazza, die verzehrt wird, nachdem die Finsternis der Opfernacht vorbei ist. Auf der höchsten Stufe steht das Manna, das Himmelsbrot der Engel, das Brot der künftigen Welt (nach Ex 1 6 , 3 2 - 3 4 ) . Dazu R. Cantalamessa, Easter in the Early Church. An Anthology of Jewish and Early Christian Texts, Collegeville 1993, 54. Vgl. H o s 7,4. 7 8

Segal, Hebrew Passover (s.o. Anm. 1), 34. Wie weit Juden in Europa mit christlichem Ritual vertraut waren, scheint mir nicht mehr

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U m k e h r u n g des Rituals: H o s t i e vs. M a z z a

Außerdem waren die beiden Feste, Pessach und Ostern, im Mittelalter zum Brennpunkt von Hass-Ausbrüchen und zur Quelle von rituellen Anschuldigungen gegen Juden geworden. Von der Ritualmordlüge war schon oben die Rede, und deren Bezug zu Pessach wird noch im Folgenden zu behandeln sein. Die Innovation des 13. Jh. war der Vorwurf der Hostienschändung. 9 Hier soll der rituelle Hintergrund des angeblichen Hostienfrevels erörtert werden, was den in der Forschung verbreiteten Erklärungen, wonach der Kampf um das Prinzip der Transsubstantiation (der Verwandlung der Hostie in den Leib Christi) mit dem Wunsch nach jüdischer Anerkennung der Heiligkeit der Hostie zusammenging, keinen Abbruch tut. Hinter dem gegen die Juden erhobenen Vorwurf der Hostienschändung stand das christliche Bedürfnis, die Ketzer möchten das Wunder anerkennen, das vielen Christen unglaubwürdig schien. Der Vorwurf des Hostienfrevels ist in gewisser Weise eine Erweiterung der Ritualmordlüge: Wenn die Hostie der Leib Christi ist, braucht der ,böse Jude' keinen leibhaftigen Christen mehr, um einen Ritualmord zu vollziehen, es genügt, wenn er die Hostie durchsticht oder in kochendes Wasser wirft. Diesen Erklärungen möchte ich hier eine weitere Dimension gegenseitiger Bezugnahme hinzufügen. Ich gehe davon aus, dass die Christen den Vorwurf der Hostienschändung unter anderem auch deshalb gegen die Juden erhoben, weil sie im jüdischen Ritual eine teilweise oder indirekte Bestätigung der christlichen Anschuldigungen erblickten. Was hier vorliegt, ist nicht nur eine theologische Polemik, sondern auch ein Dialog in der Sprache des Rituals, worin der rituelle Akt eine Fülle der verschiedensten Deutungen erhält. Die rituellen Handlungen der Sedernacht sind sozusagen die Körpersprache der jüdisch-christlichen Auseinandersetzung, und wenn wir deren Bedeutungen erhellen, kann uns das helfen, in die Welt der gegenseitigen Vorstellungen einzudringen, die Christen und Juden im Mittelalter voneinander hatten. Von daher ist dieses Kapitel die unmittelbare Fortset-

fraglich, zumal in Anbetracht der weitgehenden Ähnlichkeiten, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. N a c h meinem Dafürhalten obliegt die Beweislast demjenigen, der gegen solche Vertrautheit plädieren will. Belege für jüdische Kenntnis christlichen Rituals sind etwa die Tossafot zu b Avoda sara 2a (s.v. assur); dazu I.J. Yuval, A n Appeal Against the Proliferation of Divorce in Fifteenth C e n t u r y G e r m a n y (hebr.), in: Zion 48 (1983), 181 A n m . 16; ferner I.G. Marcus, J e w s and Christians Imagining the O t h e r in Medieval Europe, in: P r o o f t e x t s 15 (1995), 220-222. ' P. Browe, D i e Hostienschändungen der J u d e n im Mittelalter, in: Römische Quartalschrift 34 (1926), 167-197; F. Lotter, Hostienfrevelvorwurf und Blutwunderfälschungen bei den J u denverfolgungen von 1298 („Rintfleisch") und 1336-1338 („Armleder"), in: Fälschungen im Mittelalter, Hannover 1988, 533-583; M. Rubin, Desecration of the H o s t : T h e Birth of an Accusation, in: D . Wood ( H g . ) , Christianity and J u d a i s m , O x f o r d 1992, 169-185; C h r . Cluse, ,Blut ist im Schuh'. Ein Exempel zur Judenverfolgung des „Rex Armleder", in: F. B u r g a r d / C h r . C l u s e / A . H a v e r k a m p ( H g . ) , F S A. H e i d , Trier 1996, 371-392.

D e r G r o ß e Sabbat

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zung des vorigen, wo eine neue Betrachtungsweise der Ritualmordlüge angeboten wurde. Hier soll nun die Sprache der Kulthandlungen und Symbole von Pessach zu der von Ostern in Beziehung gesetzt werden; Zweck dieser Gegenüberstellung ist ein besseres Verständnis, wie aus dieser ähnlichen Sprache auch der Hass und die Beschuldigungen hervorgehen konnten. Letzten Endes ist ja auch Hass eine Form von Dialog, und gerade durch Ähnlichkeit werden Rivalität und Missverständnisse ausgelöst. Hier soll zunächst die Ähnlichkeit zwischen den beiden Festen aufgedeckt werden, damit die in einigen der rituellen Handlungen verborgenen polemischen Aussagen erkennbar werden, wobei diese Äußerungen vielleicht gar nicht so gemeint waren, sondern nur von der Gegenseite falsch verstanden wurden. An erster Stelle will ich auf den sog. Großen Sabbat eingehen, eine Art Vorfeier des Pessachfestes, wozu es ein christliches Gegenstück gibt. Die Geschichte des Großen Sabbat auf jüdischer Seite ist ein anschauliches Beispiel für die engen Beziehungen zwischen Pessach und Ostern, die gleichzeitig Nähe und Ferne stiften.

1 Der Große Sabbat Der Begriff ,der Große Sabbat' kommt jüdisch bzw. christlich in verschiedenen Bedeutungen vor; über seinen mutmaßlichen Ursprung und Sinn ist schon viel geschrieben worden. 1 0 Zum ersten Mal erwähnt ist der Begriff Joh 19,31. Dort bitten die Juden Pilatus, den drei Gekreuzigten die Beine brechen zu lassen, damit sie bald sterben und noch vor Eingang des Sabbat begraben werden können, „denn groß war der Tag jenes Sabbats". Die Bezeichnung jenes Sabbats als ,groß' findet sich nur bei J o h , was mit seiner Auffassung zusammengeht, dass Jesus am 14. Nissan, der auf einen Freitag 1 0 Zur Ähnlichkeit zwischen dem jüdischen und dem christlichen Großen Sabbat s. L A . H o f f m a n , T h e Jewish Lectionary, the Great Sabbath, and the Lenten Calender, in: J . N Alexander (Hg.), Time and C o m m u n i t y (FS T h . J . Talley), Washington 1992, 3 - 2 0 (mit der älteren Sekundärliteratur); M. Sharon, T h e .Grand Sabbath* in an Epitaph from Ramiah (hebr.), in: Shalem 1 (1974), 1 - 1 4 (die dort veröffentlichte Inschrift ist zweifellos christlich); weitere Literatur bei J . Tabory, Die jüdischen Feste im Zeitalter von Mischna und Talmud (hebr.), Jerusalem 1995, 127 mit Anm. 186. U b e r den Märtyrer Pionius wird berichtet, er sei Ende Februar 2 5 0 in Smyrna hingerichtet worden; seiner Exekution hätten auch die Juden der Stadt beigewohnt, und R. F o x (s.u.) meint, sie habe zu Purim oder am Sabbat davor stattgefunden. Auch der Märtyrer Polykarp soll am selben Tag des Jahres 155 hingerichtet worden sein. Dazu R.L. F o x , Pagans and Christians, Suffolk 1986, 4 8 6 f. Die Verfasser der jeweiligen Märtyrerakten (Martyrdom of Polykarp bzw. Acts of Pionius) wollten dem Tod des Heiligen eine eschatologische Bedeutung verleihen, und der G r o ß e Sabbat als Todesdatum setzt den Tod des Märtyrers in Beziehung zu Jesu Tod und Auferstehung. Demnach dürfte mit der Bezeichnung ,der G r o ß e Sabbat' Ostern gemeint sein. Dazu R. Cacitti, Grande Sabato, II contesto pasquale quartodecimano nella formazione della teologia del martirio, Milano 1994.

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

fiel, gekreuzigt worden sei, wonach jener Sabbat gleichzeitig der erste Feiertag der Pessach-Woche gewesen wäre. Demnach stünde hier das Attribut ,groß' im Sinne von .Festtag'. Nach den Synoptikern dagegen fiel die Kreuzigung auf Freitag, den 15. Nissan, wonach es mit dem darauffolgenden Sabbat keine besondere Bewandtnis gehabt hätte; daher ist der Sabbat bei ihnen nicht als ,groß' bezeichnet. Das Epitheton ,groß' in Bezug auf einen Tag kommt bei J o h ein weiteres Mal vor, nämlich für den siebten Tag des Laubhüttenfestes: „Am letzten, dem großen Tag des Festes", soll Jesus gesprochen haben „Wen da dürstet, der komme zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt, von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers fließen", 11 und dieser Ausspruch wird von den Zuhörern als Verkündung seiner Messianität gewertet (Joh 7,40-52). Die jüdische Bezeichnung jenes Tages lautet Hoscbana rabba (das große Hosianna); dieser Terminus ist erstmals in amoräischen Quellen belegt. 12 Demnach sind die beiden ersten Erwähnungen eines g r o ßen Tages' die bei Joh, und beide bezeichnen einen Tag mit messianischen Konnotationen, den ersten Tag von Pessach bzw. den letzten Tag des Laubhüttenfestes (Sach 14 bringt den Jüngsten Tag mit dem Laubhüttenfest in Verbindung). Daraus geht hervor, dass der Terminus .groß' in Bezug auf einen Tag ursprünglich zwar jedes jüdische Fest bezeichnet haben mag, doch Joh verwendet den Terminus mit messianischer Konnotation. Bei unserem gegenwärtigen Kenntnisstand können wir nicht entscheiden, ob J o h diese Verwendung erfunden hat oder ob er eine verbreitete messianische Wendung genommen und auf Jesus angewandt hat. Für gewöhnlich wird dieser Sprachgebrauchs mit dem .großen Tag' aus Mal 3,23 zusammengebracht: „Siehe, ich sende euch den Propheten Elia vor dem Kommen des große und furchtbaren Tages des Ewigen". 1 3 Am Vorabend des Pessach-Festes erwartet man Elia, den Vorboten der Erlösung, 1 4 dessen Kommen den .großen Tag', den Tag der Erlösung und Totenauferstehung einleitet. 15 Typologisch passt diese Abfolge der Ereignisse zum Exodusgeschehen: Am 14. Nissan ging der Verderber durch Ägypten und schlug die Erstgeborenen, am folgenden Tag wurden die Israeliten aus der Knechtschaft erlöst. Auf die besondere Beziehung des .großen Tages' zu

" Joh 7,37f; das Bild des Wassers hängt damit zusammen, dass der Welt am Laubhüttenfest das Wasser für das kommende Jahr zugeteilt wird (M Rosch haSchana 12). 12 Mitdrasch Tehillim X V I I 5 (nur in einer Handschrift). Der in der rabbinischen und gaonäischen Literatur übliche N a m e dieses Tages lautet ,der Siebte der Bachweide' oder ,Tag der Bachweide'. » Auch Joel 3,4; H o s 2,3; vgl. Ps 126,2-3. 14 Vgl. Mt 27,47-49. 15 Nicht zufällig ist die Prophetenlesung am Sabbat, der in die Pessach-Woche fällt, die Auferstehung der vertrockneten Gebeine Ez 37; Weiteres dazu im Folgenden.

Der Große Sabbat

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Pessach deutet auch der Abschluss der Schriftauslegung in der PessachHaggada: Der letzte dort zitierte Bibelvers ist Joel 3,3 („Blut, Feuer und Rauchsäulen"), und der unmittelbar daran anschließende (nicht mehr zitierte) Vers lautet: „vor dem Kommen des großen und furchtbaren Tages des Ewigen". 16 Demnach hieß in der frühen Christenheit der Sabbat vor Ostern ,der große Sabbat'. 17 Nach dem Brauch der Quartodezimaner im Osten, Ostern am 14. Nissan zu feiern, wechselte der Wochentag des Festes, aber nach dem Brauch der westlichen Kirche, der auf dem Konzil zu Nicaea als der verbindliche festgesetzt wurde, entstand ein fester Wochenzyklus. So wurde ,der große Sabbat' zum Sabbatum Sanctum. Daraufhin erhielt die Woche vor Ostern das Epitheton ,groß': hebdomas major oder septimana major. Erste Belege dafür finden sich bei Chrysostomos 18 und bei der Pilgerin Egeria, die im Jahre 383 nach Jerusalem kam. Sie berichtet, in Jerusalem werde die Woche vor Ostern ,die große Woche' genannt; sie beginne mit dem LazarusSabbat sechs Tage vor Ostern, wenn ,Ostern verkündet' werde. 19 Gegenüber den häufigen Erwähnungen des ,großen Sabbat' und der .großen Woche' in den christlichen Quellen, ist der .große Sabbat' in der jüdischen Literatur über das ganze erste Jahrtausend nirgends genannt. Allerdings ist vielleicht eine verdeckte Widerlegung des christlichen .großen Tages' zu beobachten, und zwar in einer Predigt zum Sabbat vor dem Neumond des Monats Nissan. Der ausgelegte Text ist Ex 12,3, wo geboten wird, das zum Opfertier bestimmte Lamm am 10. Nissan in Gewahrsam zu nehmen, um es dann am 14. zu schlachten: W e r f o r d e r t eure Schuld v o n E d o m ein? N a t r o n a 2 0 - „es sei euch z u m G e w a h r s a m bis z u m 14. des M o n a t s " (Ex 1 2 , 6 ) . D e r Heilige gelobt sei Er sprach: Sein Vater

Vgl. dazu oben, Kap. II, Text zu Anm. 123. Auch in den Constitutiones Apostolorum (V 18.2) hat man einen Beleg für den Großen Sabbat finden wollen, aber dort steht: „den ganzen Sabbat", nicht: „den großen". 18 Predigt über die Psalmen, 145,2. " Egeria's Travels, übersetzt und herausgegeben von J. Wilkinson, London 1971, 132 (XXX 1). Zur Entwicklung des Palmsonntag und der ,großen Woche' s. Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, XXI, Leipzig 1908, 414ff; T.J. Talley, The Origins of the Liturgical Year, New York 1986, 42-47.176-183. 20 Aramäisch: der Wächter, womit der Messias gemeint ist. S. Lieberman, Palestine in the Third and Fourth Centuries, in: J Q R 37 (1946), 34 versteht Natrona als ,der Bewahrte' (hebräisch: Schamur) und denkt an ein Wortspiel mit dem Namen des persischen Königs Schabur, auf den politische Hoffnungen gerichtet waren, vgl. aber Jes 2 1 , 1 1 - 1 2 ; Z.M. Rabinovitz, Machsor Piute R. Jannai laTora welaMoadim, I, Jerusalem 1985, 299: .sprach der Wächter: das Ende wahre ich' - daraus folgt, dass Jes 21,11 eine der Prophetenlesungen war, die an einem der beiden Sabbate (des Monats Nissan) vor Pessach gelesen wurden' [Weiteres dazu im Folgenden], Ferner ebd., 303: ,tritt die Kelter wie ein Wächter [ . . . ] ' - das bezieht sich auf die Rache an Edom durch den Messias. Und vielleicht ist der ,Wächter' die jüdische Erwiderung auf die christlichen Vigilien, die durchwachte Osternacht in Erwartung der Auferstehungsfeier. Für eine Auseinan16

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

nennt ihn den Großen - „Da rief er Esau, seinen großen Sohn" (Ex 27,1), für seine Mutter war er der Große - „Da nahm Rebekka die Kleider Esaus, ihres großen Sohnes" (Gen 2 7 , 1 5 ) , ich aber nenne ihn klein - „Sieh da, klein mache ich dich unter den Völkern" ( O b 1,2). Da sie ihn als groß bezeichnen - ,wie der Stier so das Schlachtfest': „Denn ein Schlachtopfer dem Ewigen in Bozra, ein großes Schlachten im Land E d o m " (Jes 34,6). R. Berechja sagt: das Schlachten wird groß im Land E d o m . 2 1 D a diese P r e d i g t f ü r d e n Sabbat u n m i t t e l b a r v o r P e s s a c h b e s t i m m t ist, d ü r f t e die V e r m u t u n g n i c h t a b w e g i g sein, dass h i e r eine v e r s t e c k t e P o l e m i k g e g e n die c h r i s t l i c h e D e u t u n g des . g r o ß e n T a g e s ' v o r l i e g t . 2 2 B e s t ä t i g t w i r d diese A n n a h m e d u r c h den p a l ä s t i n i s c h e n B r a u c h , a m Sabbat v o r P e s s a c h J e s 3 4 , 5 z u lesen: „ d e n n satt w i r d m e i n S c h w e r t a m H i m m e l , siehe, a u f E d o m k o m m t es h e r a b " . 2 3 I n d i e s e m P r o p h e t e n t e x t g e h t es u m die e n d z e i t l i c h e R a c h e an E d o m , i m Z e n t r u m s t e h t d e r Vers „ein g r o ß e s S c h l a c h t e n i m L a n d E d o m " , d e r in d e r z u v o r e r w ä h n t e n j ü d i s c h e n P r e d i g t v o r k o m m t . D e m n a c h w i r d d o r t d e r . g r o ß e n ' W o c h e das , g r o ß e ' S c h l a c h t e n u n t e r E d o m

gegen-

ü b e r g e s t e l l t , w o d u r c h diese P r e d i g t in die a u s g e p r ä g t e T r a d i t i o n z u s t e h e n

dersetzung damit sprechen auch die Predigten zur Eröffnung von Pessikta deRav Kahana, ,und es geschah um Mitternacht', Mandelbaum (Hg.), I. 21 Pessikta deRav Kahana, gegen Ende der Perikope haChodesch hase, Mandelbaum (Hg.), 107f, ebenso an der Parallelstelle Pessikta rabbati, M. Friedmann (Hg.), fol 79a. S. auch Pessikta deRav Kahana, ebd., 103f: „Esau, der Große, wird zur Sonne gemacht, die ebenfalls groß ist [...]. Solange das Licht des Großen in der Welt leuchtet, ist das Licht des Kleinen nicht offenkundig, sobald der Große untergegangen sein wird, ist das Licht des Kleinen offenkundig. Ebenso: Solange das Licht des bösen Esau in der Welt leuchtet, ist Jakobs Licht nicht offenkundig." Diese Vorstellung des Midrasch von dem eins-zu-eins-Verhältnis in Bezug auf den ,großen Tag' hat biblische Wurzeln, s. Joel 2,20-21. 22 Diese Deutung geht zusammen mit den Schlussfolgerungen von L. Venetianer, Ursprung und Bedeutung der Propheten-Lektionen, in: ZDMG 63 (1909), 103-170, der eine Reihe von glänzenden - wenn auch nicht durchweg stichhaltigen - Hypothesen aufstellt, wonach die Prophetenlesungen zu den besonderen Sabbaten die jüdisch-christliche Polemik in den ersten Jh. nach der christlichen Zeitrechnung wiedergeben. Diese seine These bleibt zwar weitgehend unbewiesen, aber der Verfasser hat aufgezeigt, dass hinter einigen Predigten in der Pessikta deRav Kahana (und in der Pessikta rabbati) eine Auseinandersetzung mit der in der westlichen Kirche üblichen Deutung der entsprechenden Bibelstellen steckt. Viel von dem, was er schreibt, hat sich als falsch erwiesen (zu seiner Zeit war die Kairoer Genisa mit ihren Angaben zur antiken Tora- und Prophetenlesung noch nicht entdeckt), aber sein origineller Beitrag verdiente doch, von der Forschung beachtet zu werden; dazu ferner E. Werner, The Sacred Bridge, I, New York 1959, 77-101. 23 Erstmals beobachtet von N. Fried, Alternative Haftarot in Yannai's Piyyutim and in Other Ancient Paytanim (hebr.), in: Sinai 62 (1968), 131; ebenfalls bei E. Fleischer, Piyyut and Prayer in Mahzor Eretz Yisrael - the Geniza Codex (hebr.), in: Qirjat Sefer 63 (1990), 240 Anm. 190. Fried hat auch festgestellt, dass am Sabbat in der Woche des Laubhüttenfestes Mal 3 gelesen wurde; s. N. Fried, Notes to A. Yaari's Studies on the Mi sheberakh Prayers (hebr.), in: Qirjat Sefer 37 (1962), 415 Anm. 17; ähnlich bei E. Fleischer, The Reading of the Portion ^Asser Te'asser (Deut. 14:22) (hebr.), in: Tarbiz 36 (1967), 116-155.

Der Große Sabbat

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kommt, in liturgischen Dichtungen zu Pessach die Rache-Erlösung zu verherrlichen (s.o. Kapitel II). Ein anderer palästinischer Ritus sah für den Sabbat vor Pessach als Prophetenlesung Jes 21,11 vor; 2 4 auch dieser Text beginnt mit einer Unheilsverkündung über Edom (an dieser Stelle ,Duma' genannt); laut Auskunft des Jerusalemer Talmud soll in der Bibel des R. Meir an dieser Stelle nicht Unheilsverkündung über Duma gestanden haben, sondern ,über Ruma', was auf Rom hindeuten würde. 25 In diesem Prophetentext steht die Frage an den Wächter (Jes 21,1 l f ) , die wiederum an den .Natrona' aus der erwähnten jüdischen Predigt anklingt. Nach anderen palästinischen Ritus wurde am Sabbat vor Pessach Ex 12,29 („und es geschah um Mitternacht [...]") gelesen, und auf diesen Text beziehen sich die Predigten in Pessikta deRav Kabana und in Pessikta rabbati.26 In diesen Auslegungen wird deutlich versucht, zwischen den ägyptischen Plagen und der endzeitlichen Vernichtung Edoms eine typologische Beziehung herzustellen. 27 Der Prediger macht die ägyptischen Plagen zu einer Metapher für den eschatologischen Kampf: R. Levi b. Secharja im N a m e n v o n R. Berechja: mit der Strategie v o n K ö n i g e n ging er gegen sie vor. Z u e r s t v e r s t o p f t e er ihre W a s s e r z u f u h r 2 8 , dann f ü h r t e er lärmende Scharen wider sie 2 9 , danach b e s c h o s s er sie mit P f e i l e n 3 0 , dann f ü h r t e er L e g i o n e n 3 1 gegen sie auf, danach D r u n t e r und D r ü b e r 3 2 , dann b e s p r e n g t e er sie mit N a p h t h a 3 , danach b e s c h o s s er sie mit S c h l e u d e r s t e i n e n 3 4 , dann stellte er E r o b e rer 5 wider sie, danach n a h m er sie g e f a n g e n 3 6 , u n d schließlich n a h m er den G r o ßen unter ihnen u n d ließ ihn t ö t e n . 3 7

Was hier vorliegt, ist eine systematische Schilderung üblicher militärischer Maßnahmen. Die Tötung ,des Großen' erinnert an die vorangehende Predigt. Und in der Tat folgt unmittelbar hierauf ein Analogieschluss von Ägypten auf Edom:

24 Fried, Alternative Haftarot (s.o. Anm.23) und in seinem Gefolge Fleischer, Piyyut and Prayer (s.o. Anm.23), 240-242. 25 j Taaniot I 1 (64a). 24 Auch das hat Fried entdeckt, und Fleischer ist ihm darin gefolgt. 27 Pessikta deRav Kahana (s.o. Anm.21), 132-134. 28 D.i. die Verwandlung der Gewässer in Blut. 29 Die Frösche. 30 D.i. Ungeziefer. 31 D.i. Geschmeiß. 32 Die Viehseuche. 33 Geschwüre. 34 Hagel. 35 Heuschrecken. 36 Durch die Finsternis. 3 7 D.i. die Tötung der Erstgeborenen.

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

R. Levi im N a m e n von R. Chama beR. Chanina: Wer uns von den Ersten Genugtuung verschafft hat, der wird uns auch von den Letzten Genugtuung verschaffen. Wie bei Ägypten Blut, so auch bei E d o m Blut, „ich setze Zeichen an Himmel und Erde, Blut, Feuer und Rauchsäulen" (Joel 3,3) [ . . . ] . Wie in Ägypten der Große den Großen unter ihnen hat töten lassen, so auch in E d o m „hinabfahren werden die Einhörner [ . . . ] " (Jes 34,7), R. Mei'r sagte: „hinabfahren werden die Römer".

Der Prediger deutet hier die ,Einhörner' (hebr: R'amim) als die ,Hohen' (hebr: Ramim), d.h. die Großen. Um den Sinn dieser Predigt ganz zu erfassen, müssen wir auf den voranstehenden Vers zurückgehen: „denn Schlachtopfer dem Ewigen in Bozra, ein großes Schlachten im Land Edom" (Jes 34,6). Die Wahl dieser Verse ist alles andere als Zufall, denn sie gehören zu der Prophetenlesung, die an jenem Sabbat üblich war. 3 8 Mit anderen Worten: Die Tendenz dieser Predigt ist dieselbe wie die der vorigen; beide erblicken im Schlagen der Erstgeburt die .große' Strafe dessen, der sich selbst ,groß' dünkt, da der Erstgeborene jeweils der Große ist. Bekanntlich wird Jesus als ,groß' bezeichnet 3 9 , und die zeitliche Ansetzung dieser Predigt am Sabbat vor der .großen Woche' der Christen ist sicherlich bedeutsam. Daraus geht hervor, dass ,der große Sabbat' im Midrasch und im Piut ein Begriff ist, der bekämpft wird, denn in ihm spiegelt sich die Hybris der zum Ketzertum gewordenen Obrigkeit und ihres wichtigsten Festes. Die jüdische Polemik gegen den christlichen .großen Sabbat' besteht also nicht in dessen Übernahme, sondern in seiner Zurückweisung. Aus den liturgischen Dichtungen zu diesem Sabbat sind erste Anzeichen dafür zu erkennen, dass am Sabbat vor dem Fest eine diesbezügliche Predigt gehalten wurde. In einer palästinischen Festgebetsordnung aus der Genisa 4 0 steht eine Keroba des R. Salomo Suliman zum Sabbat „es geschah um Mitternacht", die für einen der beiden Sabbate vor Pessach bestimmt ist. 4 1 Der Prediger richtet an seine Zuhörer die Aufforderung, dem Wort Gottes zu lauschen, doch was er dann bringt, sind keine Festvorschriften, sondern eine Aufzählung göttlicher Wundertaten beim Auszug aus Ägypten. In einer anderen liturgischen Dichtung zum selben Sabbat, 4 2 die von R. Chananel b. Amnon stammt, anscheinend einem italienischen Liturgiker aus der 2. Hälf-

3 8 Der Prediger führt zehn Belegverse dafür an, dass die ägyptischen Plagen auch über Edom kommen sollen, vier davon aus Jes 34. 3 9 Lk 1,32. 4 0 J. Yahalom (Hg.), Machsor Erez Israel, Kodex haGenisa, Jerusalem 1986, 5. 41 Fleischer, Piyyut/Prayer (s.o. Anm.23), 2 3 5 - 2 4 2 , geht davon aus, es sei ,der Große Sabbat', dessen frühen Ursprung er als selbstverständlich annimmt. Doch (ebd., Anm. 185) rechnet er auch mit der Möglichkeit, dass die Keroba für den ,fünften' Sabbat, d.i. den ersten im Monat Nissan bestimmt war und nicht für den .sechsten', d. i. den Sabbat unmittelbar vor Pessach. 4 2 I. Davidson, The „Seder Hibbur Berakot", in: J Q R 21 (1931), 2 5 6 - 2 6 6 führt diesen Piut als eine Dichtung „for the Great Sabbath" ein in der Annahme, dass dieser Terminus schon damals üblich gewesen sei.

D e r G r o ß e Sabbat

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te des 11.Jh., 4 3 entfaltet der Dichter die Pessach-Vorschriften in Reimen nach dem Vorbild einer bekannten Keroba von R. Joseph Tov Elem aus Frankreich, der ebenfalls im 11. Jh. wirkte. R. Chananel b. Amnon legt seiner Dichtung (im 5. Abschnitt) Hos 1-2 zugrunde, wo von den drei Hurenkindern des Propheten berichtet ist; so will er wohl deutlich machen, dass Gott sein Volk zwar zurechtweist und bestraft, es letzten Endes aber doch erretten und erlösen wird. Zu Anfang wird das Lamm erwähnt, das am 10. Nissan ins Haus genommen werden soll, wobei auf die Zehn Plagen angespielt wird, das Modell für die künftige Erlösung; damit endet das Gedicht auch: „der die Bedränger zehnfach verdirbt". Anscheinend hat der Dichter Hos 1-2 hauptsächlich wegen des Schlusses herangezogen, wo der Prophet von der Scheltrede zum Trost übergeht: „Eingesammelt werden die Judäer und die Israeliten gemeinsam, sie werden sich Ein Haupt setzen und aus dem Lande heraufziehen, denn groß ist der Tag von Jesreel" (2,3). Mit diesem Vers und der Ankündigung der harten Bestrafung der Heiden schließt der Dichter seinen Text. Offenbar ist die markante Nennung des .großen' Tags von Jesreel ein wichtiges Anliegen dieser Dichtung für den Sabbat vor Pessach; wenn dem so wäre, hätten wir hier eine erste andeutungsweise Erwähnung des Terminus ,groß' im Zusammenhang mit dem Sabbat vor Pessach. Demnach wäre der Ursprung des jüdischen ,großen Sabbat' in Italien zu suchen, wo überhaupt viele Elemente des aschkenasischen Ritus herkommen. Der früheste Beleg für jüdische Verwendung des Terminus ,der Große Sabbat' stammt aus dem 12. Jh., 4 4 ein Jahrtausend nachdem sich der Ausdruck im christlichen Sprachgebrauch eingebürgert hatte. Schon Leopold Zunz, der Begründer der Wissenschaft des Judentums, hat die Vermutung geäußert, dass die Juden diesen Terminus aus ihrer christlichen Umwelt übernommen haben könnten. 4 5 Im Zuge seiner Judaisierung' ist ,der große Sabbat' zur Bezeichnung des Sabbats unmittelbar vor dem Pessach-Fest geworden, nicht zu der des Sabbats während der Pessach-Woche wie bei Joh. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hier um eine alte jüdische Tradition handelt, die tausend Jahre lang sozusagen im Untergrund existierte, bis sie in der aschkenasischen Literatur zutage trat, ist wohl gering. Außerdem kommt der Große Sabbat dann in jeder Schrift vor, die mit Pessach zu tun

Dazu Davidson (s.o. A n m . 4 2 ) , 2 5 9 f Anm. 11. H . Karlinsky, T h e Midrashic Sources for the Name Shabbat Hagadol (hebr.), in: Or haMizwa 18 (1969), 1 7 2 - 1 7 9 ; A. Hilvitz, Chiqre Semanim, Jerusalem 1 9 8 1 , 1 1 , 2 7 - 4 0 . 43 44

4 5 L. Zunz, Die Ritus des synagogalen Gottesdienstes, geschichtlich entwickelt (1859), 10; dagegen nahmen andere jüdische Gelehrte des 19.Jh. wie A. Jellinek und S. Zeitlin an, der .große Sabbat' sei bereits in frühchristlicher Zeit unter Juden verbreitet gewesen, s. dazu Hoffman, Lectionary (s.o. Anm. 10), 6 - 8 .

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U m k e h r u n g des Rituals: H o s t i e vs. M a z z a

hat, nachdem er in der aschkenasischen Literatur erst einmal heimisch geworden war. Eine Nachricht, wie der Große Sabbat in den polnisch-aschkenasischen Bereich eingedrungen ist, hat sich im Machsor Vitry aus dem Kreis von Raschi erhalten: „Den Sabbat vor Pessach pflegten die Leute den Großen Sabbat zu nennen, ohne zu wissen weshalb, denn er ist ja nicht,größer' als andere Sabbate". 4 6 Was hier vorliegt, ist also ein Beweis, dass der Name g r o ßer Sabbat' zunächst im einfachen Volk verbreitet war und von da in den Bereich der halachischen Diskussion Eingang fand. Die in der aschkenasisch-halachischen Literatur gegebene Erklärung für die Bezeichnung ,der große Sabbat' bringt ihn mit Ex 12,3-6 zusammen, mit der Pflicht, das zum Opfer bestimmte Lamm bereits am 10. Nissan ins Haus zu nehmen. Nach der talmudischen Uberlieferung fiel das ursprüngliche Pessachfest beim Auszug aus Ägypten (15. Nissan) auf einen Donnerstag, wonach der 10. Nissan also Sabbat war. 47 In einer Predigt zum Sabbat vor Pessach, die in den Pessiktot überliefert ist, findet sich eine Aggada über die Angst der erstgeborenen Ägypter. Diese hätten ihre Väter aufgefordert, die Israeliten aus Ägypten zu vertreiben, bevor es zur Tötung der Erstgeborenen käme, doch die Väter hätten sich geweigert: „sogleich zogen die Erstgeborenen aus und töteten unter ihren Vätern 600 000". 4 8 Der Predig er bringt diese Aggada mit dem Psalmvers 136,10 zusammen: „der die Ägypter schlägt durch ihre Erstgeborenen" (hier steht nicht ,der die Ägypter schlägt in Ägypten', sondern ,durch ihre Erstgeborenen'). Die Aggada sagt nicht, wann dieses Ereignis stattgefunden haben soll, die Beziehung zum Sabbat vor Pessach scheint nicht zwingend. Erstmals haben wir diesen Zusammenhang bei den Tossafisten belegt zur Aussage des Talmud, der Exodus habe an einem Donnerstag stattgefunden: 4 9 Wenn das s o ist, wurden die Pessachopfer am Mittwoch geschlachtet, woraus hervorgeht, dass die Pessachlämmer am Sabbat zuvor hereingenommen worden waren, denn das war der Zehnte des Monats, und darum nennt man ihn den Großen Sabbat, weil an ihm ein großes Wunder geschehen ist, wie es im Midrasch heißt, als sie an jenem Sabbat ihre Pessachlämmer hereinnahmen, rotteten sich die Erstgeborenen der Weltvölker bei den Israeliten z u s a m m e n und fragten sie, weshalb sie das täten. Die antworteten: D a s ist das P e s s a c h - O p f e r für den Ewigen, der die Erstgeborenen Ägyptens töten wird. D a gingen die zu ihren Vätern und zu Pha-

46 Machsor Vitry, hg. v. S. H u r w i t z , N ü r n b e r g 1923 ( f o t o m e c h a n . N a c h d r u c k J e r u s a l e m 1963), 222 sowie in zeitgenössischen Parallelen aus der Raschi-Schule, wie dort angegeben. 4 7 b Schabbat 87b. 48 Pessikta deRav Kahana ( s . o . A n m . 2 1 ) , „es geschah u m M i t t e r n a c h t " , 129 u n d Parallelen. 4 ' Behandelt sind diese Q u e l l e n bei M . Kasher, Haggada schelema, J e r u s a l e m 1967, 5 0 - 5 4 .

Der Große Sabbat

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rao, sie zu bitten, Israel zu entlassen, aber die wollten nicht, da m a c h t e n die E r s t g e b o r e n e n Streit und töteten viele v o n i h n e n . 5 0

O b die Verbindung des Aufstands der ägyptischen Erstgeborenen mit dem Großen Sabbat eine Erfindung der Tossafisten ist, lässt sich schwer entscheiden. Die Midraschim enthalten, wie gesagt, keinerlei Hinweis darauf, dass jenes Ereignis sich am Sabbat vor Pessach, am Tag, da das O p f e r l a m m ins H a u s genommen wurde, zugetragen haben sollte. Allerdings steht die entsprechende Aggada in einer Predigt zum Sabbat „es geschah um Mitternacht" vor dem Pessach-Fest, und eine Andeutung darauf findet sich in einem Piut von Jannai, der ebenfalls für jenen Sabbat bestimmt ist. 5 1 Außerdem enthält die oben erwähnte Dichtung von R. Salomo Suliman, die ebenfalls für den Sabbat vor Pessach bestimmt ist, einen Hinweis auf Ps 136,10 („der die Ägypter durch ihre Erstgeborenen schlägt"), und auf diesen Vers gründet sich wiederum die oben genannte Aggada. Von daher scheint irgendeine Beziehung zwischen der Aggada und dem Sabbat vor Pessach doch bestanden zu haben. Eine andere Version des Wunders, das sich am Großen Sabbat ereignet haben soll, findet sich im Siddur Raschi.52 D o r t heißt es, die Ägypter hätten die Israeliten dafür bestrafen wollen, dass sie die Lämmer ins H a u s nahmen, um sie zu schlachten, denn das Schlachten von Vieh sei den Ägyptern ein Greuel gewesen: A l s die Ä g y p t e r das sahen, hätten sie an ihnen R a c h e n e h m e n wollen, d o c h ihnen s c h m o l z e n die E i n g e w e i d e u n d brannten wie F e u e r , sie w u r d e n zu gewaltigen Leiden und üblen K r a n k h e i t e n verurteilt, s o dass sie Israel nicht schaden k o n n t e n , u n d weil Israel d a d u r c h a m S a b b a t vor P e s s a c h Wunder w i d e r f u h r e n , d e s h a l b heißt er der G r o ß e S a b b a t .

Die beiden Erklärungen gehen davon aus, dass der Große Sabbat kein bloßer N a m e ist, sondern eine Besonderheit dieses Sabbats bezeichnet. H a n d in H a n d mit der Rezeption des N a m e n s und der Etablierung der ätiologischen Erzählung bilden sich im aschkenasischen Kulturbereich auch einige

Tossefot zu b Schabbat 87b, s.v. ,we-oto' und nahezu identisch im Sefer RABIaH (V. Aptovitzer [Hg.], II, repr. New York 1983, 58f). Das meint R. Ephraim von Bonn im Sefer Sechira (ebd., 35), wenn er sagt, das Pogrom in York habe am Großen Sabbat, zum Zeitpunkt des Wunders, stattgefunden; das .Wunder' ist also nicht der Exodus (nach Meinung des Herausgebers z. St.), sondern die Auflehnung der ägyptischen Erstgeborenen gegen den Starrsinn der älteren Generation am Großen Sabbat. 51 Rabinovitz, Piute Jannai (s.o. Anm.20), I, 297. 52 S. Buber/J. Freimann (Hg.), Berlin 1911, § 252; dort sind auch Parallelen aus der Literatur um Raschi verzeichnet. Von dort ist der Text in die spätere aschkenasische Minhagliteratur übernommen worden; vgl. R. Abraham Klausner, Sefer Mtnhagim, (Y.Y. Dissin [Hg.]), Jerusalem 1978, § 89.84 sowie Sefer MaHaRIL (S.J. Spitzer [Hg.], Jerusalem 1989), Hilchot Schabbat hagadol, 52 f. 50

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

rituelle Züge heraus, die diesem Sabbat den besonderen Charakter einer Vorankündigung des bevorstehenden Festes verleihen. So entwickelte sich die Einrichtung, dass der Rabbiner am Großen Sabbat zu predigen hatte, was zusammen mit der Predigt am Sabbat der Umkehr, dem Sabbat zwischen Neujahr und Versöhnungstag, zu einem der zentralen Merkmale des aschkenasischen Rabbinats im Mittelalter wurde. 5 3 Ebenfalls wurde es üblich, an diesem Sabbat besondere liturgische Dichtungen zu rezitieren, von denen einige die Vorschriften der Pessach-Feier in gereimter Form enthalten, 54 und im Nachmittagsgottesdienst wurde die Pessach-Haggada verlesen. 55 Die Besonderheit jenes Sabbats kam auch darin zum Ausdruck, dass nun Mal 3 zur Prophetenlesung bestimmt wurde, und dieses Kapitel endet, wie schon oben erwähnt, mit der Erwartung des Propheten Elia und dem „Kommen des großen und furchtbaren Tages des Ewigen", was zum Termin dieses Sabbats ja sehr gut passt. So erhielt der Große Sabbat im aschkenasischen Kulturbereich allmählich eine Sonderstellung ähnlich wie die vier Sabbate vor und nach Purim. Auf diese Prophetenlesung werden wir noch ausführlicher zu sprechen kommen; doch zunächst müssen wir uns der Frage nach der zeitlichen Ansetzung des jüdischen Großen Sabbats zuwenden, denn im Unterschied zur christlichen Überlieferung handelt es sich nicht um den Sabbat der PessachWoche, sondern um den Sabbat vor Beginn des Festes. Aus den Ausführungen der Tossafisten geht hervor, dass der Große Sabbat im aschkenasischen Bereich mit dem in-Gewahrsam-Nehmen des Opferlamms am 10. Nissan zusammengebracht wird im Sinne der talmudischen Überlieferung, wonach der Auszug aus Ägypten (15. Nissan) an einem Donnerstag erfolgte. Doch ist im Kontext der talmudischen Diskussion auch eine anderslautende Überlieferung erwähnt, die von Seder Olam rabba , 5 6 wonach der Exodus an einem Freitag stattfand, der 10. Nissan also ein Sonntag war. Die Rabbinen nahmen es sehr genau mit dem zeitlichen Ablauf ihrer Großen Woche, der Woche des Auszugs aus Ägypten, und nicht weniger genau nahmen es die frühen Christen mit der Karwoche. Nach dem Bericht der synoptischen Evangelien war Jesu Kreuzigung am Freitag, 15. Nissan, während Joh zu berichten weiß, dass Jesus am Freitag, 14. Nissan, gekreuzigt worden sei. Das bei Joh überlieferte Datum soll der Kreuzigung den Status der Darbringung des Opferlamms zu Pessach am 14. Nissan verlei-

53 Sefer MaHaRIL, ebd., 8 - 1 1 (Predigten des MaHaRIL zum Großen Sabbat). Ferner Israel J. Yuval, Chachamim beDoram, Jerusalem 1989, 37f.105.109.123.171. 54 Sefer MaHaRIL, ebd., 51; im Wormser Minhag-Buch des Juspa Schammes (B.S. Hamburger/Y. Zimer [Hg.]), Jerusalem 1988,1, 80. 55 RABIaH (s. o. Anm. 50): „Die Schulkinder pflegten die Haggada bereits am Großen Sabbat zu lesen"; R. Salomo Luria, Responsen des MaHaRSchaL, Lemberg 1859, § 88. 56 b Schabbat 88a; Seder Olam rabba V.

D e r G r o ß e Sabbat

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hen, während bei den Synoptikern das letzte Abendmahl am Abend vor der Kreuzigung auf den 14. Nissan fällt, so dass die Kreuzigung am 15. Nissan stattfand. Aus dieser zeitlichen Ansetzung folgt (wenn auch nicht ausdrücklich erwähnt), dass der Sonntag der Karwoche der 10. Nissan war, an dem in Ägypten das Opferlamm in Gewahrsam genommen worden war. Nach der Kalenderrechnung der Synoptiker bildete sich im 4.Jh. die Feier des Palmsonntag heraus, und Jesu Einzug in Jerusalem erhielt einen ähnlichen Status wie die Bestimmung und Aufbewahrung des Opferlamms bis zu seiner Darbringung im biblischen Bericht (Ex 12,6). Noch zuvor, im 3.Jh., hatte sich ein anderer Brauch entwickelt, nämlich die Ausdehnung des vorösterlichen Fastens von ein oder zwei auf sechs Tage, beginnend mit dem Montag der Karwoche. 5 7 Die Begründung für die zeitliche Ausweitung des Fastens verweist auf Ex 12,3: Die Bestimmung und Aufbewahrung des Opferlamms am 10. Nissan, vier Tage vor seiner Darbringung, ist das typologische Muster, nach dem der Karmontag als erster Fasttag festgesetzt wurde. Diese Rechnung geht mit dem Kalender von Joh zusammen, nicht mit dem der Synoptiker. So betrachtet gewinnt auch die talmudische Uberlieferung, wonach der Exodus an einem Donnerstag stattgefunden haben soll, einen neuen Sinn. Beide Kalenderrechnungen, die synoptische, wonach Jesus am 15. Nissan gekreuzigt wurde, und die talmudische, wonach der Exodus am 15. Nissan stattfand, haben Auswirkungen auf die Ansetzung des 10. Nissan, an dem biblisch das Opferlamm eingeholt und in Gewahrsam genommen wurde: Nach der christlichen Uberlieferung war es ein Sonntag, nach der jüdischen ein Sabbat. Oder anders ausgedrückt: Der Sabbat vor Pessach bot sich an für eine Funktion wie die des christlichen Palmsonntag. Und in der Tat bezieht sich der oben angeführte Midrasch über Esau, den Großen, der der-

5 7 Darauf deuten zwei Quellen aus dem 3 . J h . hin, die von einem sechstägigen Fasten vor Ostern wissen: der 1. Brief des Dionysios von Alexandria und Didaskalia X X I . Nach Auskunft der Didaskalia war der 10. Nissan auch der Tag, an dem Judas Ischariot das Geld für Jesu Auslieferung erhielt und zwar ein Montag; diese Kalenderrechnung geht mit dem Kreuzigungstermin von J o h zusammen. Zu diesen beiden Quellen s. Cantalamessa, Easter (s.o. A n m . 6 ) , N r . 4 9 (61) und N r . 8 6 (82f). Weiter steht in der Didaskalia, dass der 10. Nissan auch deshalb wichtig sei, weil der N a m e Jesus mit J o d , dem 10. Buchstaben des hebräischen Alphabets, beginnt, „und das ist kein Festtag wie nach dem früheren Volksbrauch, sondern ein Fasttag nach dem Neuen Testament". Dazu A. Strobel, Ursprung und Geschichte des frühchristlichen Osterkalenders, Berlin 1977, 3 3 4 - 3 3 6 . Strobel vermutet, mit dem .früheren Volksbrauch' seien Judenchristen gemeint, die den G r o ß e n Sabbat gefeiert hätten. Bei den Samaritanern beginnen die Pessach-Feiern tatsächlich mit dem Einholen des Opferlamms am 10. Nissan. Da jedoch im rabbinischen Judentum kein solcher Brauch belegt ist, dürfte die Aussage der Didaskalia eher auf die biblische Praxis zurückgehen, wo das Einholen des Opferlamms ein festlicher A k t war. Ein sechstägiges Fasten bezeugt auch Epiphanius, Panarion 50,3,4 (Cantalamessa, ebd., Nr. 66, 74). Vgl. T h e Panarion of St. Epiphanius, Bishop o f Salamis, § 50, 3.4; ausgewählte Stücke übersetzt von Ph. Amidon, N e w York 1990, 176.

226

Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

einst durch das .große' Schlachten bestraft werden soll, auf Ex 12,3, wo das Einholen des Opferlamms am 10. Nissan geboten ist, und das wiederum ist das typologische Vorbild für den christlichen Palmsonntag. Die Große Woche nach dem Datum des jüdischen Monats Nissan

J o h a n n e s und

Sa.

So.

8.

9.

Mo.

Di.

Mi.

10.

11.

12.

Fasten-

Didaskalia

beginn Synoptische Evangelien und Liturgie

Sa.

So.

13.

14.

15.

16.

Biblisches

Kreuzi-

Großer

Aufer-

Pessach

gung

Sabbat

stehung

9.

10.

14.

15.

16.

17.

Palm-

Letztes

Kreu-

Sabbatum

Aufer-

des

sonntag

Abend-

zigung

sanctum

stehung

13.

Lazarus Seder O l a m

Fr.

Sabbat

11.

12.

Do.

9.

Rabba

mahl 14.

15.

Einholen

Biblisches

Auszug

des

Pessach

10.

11.

12.

13.

Opfer-

aus Ägypten

lamms Babylon.

10.

14.

15.

Talmud,

Einholen

Biblisches

Auszug

Schabbat 87

des

Pessach

und Minhag

Opfer-

Aschkenas

11.

12.

13.

aus Ägypten

lamms Großer Sabbat

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Sowohl in der talmudischen als auch in der synoptischen Uberlieferung, auf der die Liturgie der Karwoche beruht, finden wir einen Wochenkalender, der mit dem ersten Tag der Großen Woche einsetzt, wobei die jüdische Zeitrechnung mit dem Sabbat beginnt und die christliche mit dem Sonntag. In beiden Fällen liegt nur der Berechnungskern vor; die Synoptiker berichten nicht, dass Jesus am Sonntag nach Jerusalem eingezogen wäre, und im Talmud ist kein Großer Sabbat erwähnt. Bis hierher bewegen wir uns im Rahmen unserer These, wonach der aschkenasische Große Sabbat eine späte Entwicklung unter christlichem Einfluss ist. 5 8 Der talmudische Ursprung des Großen Sabbats ist allenfalls eine Sache der Kalenderrechnung, nirgends im Talmud ist von einer Besonder58 Die aschkenasische Kalenderrechnung wirft ein Problem auf in Bezug auf den Termin des Wochenfestes sieben Wochen nach Pessach. Dass die Tora-Verleihung an einem Sabbat stattfand, ist Konsensus (b Schabbat 86b), doch die Meinungen gehen auseinander, ob dieser Sabbat der 6. oder 7. Siwan war; die Rabbinen nehmen den 6. Siwan an, R. Jossi den 7. Wenn der 10. Nissan ein Sabbat war, fällt die sabbatliche Tora-Verleihung auf den 7. Siwan und nicht auf den 6. nach der üblichen Kalenderrechnung. Auf diesen Widerspruch hat R. Jakob Reischer in seinem Kommentar Choq Jakob zu Schulchan Aruch, Orach Chajim, § 430 Abschn. 2 hingewiesen.

Der Große Sabbat

227

heit dieses Sabbats die R e d e . A u c h in den a n t i k e n O r d n u n g e n für die P r o p h e t e n l e s u n g an d e n b e s o n d e r e n S a b b a t e n des j ü d i s c h - l i t u r g i s c h e n J a h r e s ist d e r G r o ß e S a b b a t n i c h t eigens g e n a n n t . D i e A n n a h m e , dass die j ü d i s c h e I n s t i t u t i o n des G r o ß e n Sabbat sich in d e r a s c h k e n a s i s c h e n J u d e n h e i t

he-

r a u s b i l d e t e u n d z w a r u n t e r d e m E i n d r u c k d e r c h r i s t l i c h e n K a r w o c h e , liefert a u c h eine g u t e E r k l ä r u n g dafür, wie eine b e s o n d e r e P r o p h e t e n l e s u n g

für

diesen S a b b a t in Ü b u n g k a m . A u s f ü h r l i c h e r ö r t e r t w i r d diese F r a g e in d e r Schrift Or sarua

des R . Isaak v o n W i e n (1. H ä l f t e 13. J h . ) ; ich b r i n g e seine

Stellungnahme ganz: Es steht in den Responsen. Warum schaffte man J e r 7 , 2 1 5 9 nicht ab und führte Mal 3 , 4 6 0 ein? Vielleicht wegen des Schlusses von Mal 3 , 4 - 2 4 mit dem .großen und furchtbaren' Tag des G e r i c h t s 6 1 , hat man deshalb Mal 3,4ff nicht als Prophetenlesung eingeführt. A b e r ich, M e n a c h e m 6 2 , habe eine andere Vorstellung von Mal 3,4ff, den Brauch unserer Väter zu bewahren, nämlich die Tora, welcher die G r o ß e n dieser Generationen dienen, deren Worte mir einleuchten, so sage ich: Wenn der 14. Nissan auf einen Sabbat fällt, kann man nicht lesen „was ich nie befohlen, was mir nicht in den Sinn g e k o m m e n " 6 3 am Tag, da das P e s s a c h - O p f e r geschlachtet wird, denn es steht geschrieben „an seinem T e r m i n " 6 4 , und man kann am Tag, da das PessachO p f e r geschlachtet wird, nicht lesen „schneid ab dein Nasiratshaar und wirf es weg! auf Felshöhen erhebe K l a g e " 6 5 am Sabbat unmittelbar vor Pessach, die israelitischen Festpilger zu entmutigen. Ich habe eine .Umzäunung' für meine Worte gefunden, als mir ein Buch des R. M o s e b. Meschullam s . A . 6 6 in die Hände fiel, das aus Babylonien gebracht worden war; darin waren bei den Propheten die Lesungen zu den Perikopen der Tora über das ganze J a h r hin markiert. D a sah ich die Angabe „gebiete den Söhnen Aarons" (Lev 6,1) bei J e r 7,21 ff und noch einmal bei Mal 3,4 ff. D e m n a c h dürfte wohl gemeint sein, dass zu Lev 6 - 8 manchmal J e r 7,21 ff gelesen wird und manchmal Mal 3,4ff; das Kriterium ist offenbar dieses: Wenn kein Schaltjahr vorliegt und Lev 6 - 8 auf den G r o ß e n Sabbat vor Pessach fällt, liest man dazu Mal 3,4ff, zumal wenn der Vortag von Pessach ein Sabbat ist. Wenn aber ein Schaltjahr (mit einem 2. M o n a t Adar) vorliegt und Lev 6 - 8 auf einen der Sabbate des zweiten Adar fällt - und am G r o ß e n Sabbat Lev 1 6 - 1 8 gelesen wird - dann liest man zu Lev 6 - 8 J e r 7,21 ff, es sei denn an jenem Sabbat sei ei-

Jer 7,21-34; 8,1-3; 9,22-23 ist die Prophetenlesung zu Lev 6-8 (Zaw). Mal 3,4—24 fungiert heute als Prophetenlesung am Großen Sabbat. " Mal 3,23; dieser Vers wird nach V. 24 noch einmal wiederholt, so dass er den Abschluss der öffentlichen Prophetenlesung bildet. 62 Laut Hilvitz handelt es sich um R. Menachem b. R. Jakob, einen 1203 gestorbenen Wormser Gelehrten; s. Hilvitz, Chiqre Semanim (s.o. Anm.44), II, 29. 63 Jer 7,31 in Bezug auf den Götzendienst des biblischen Israel. M Num 9,2 bei der ersten Pessach-Feier der Israeliten außerhalb Ägyptens. 65 Jer 7,29; die Fortsetzung dieses Verses lautet: „denn verworfen und verlassen hat der Ewige die Generation seines Grimms". 66 R. Meschullam b. Mose aus Mainz, von den rabbinischen Gelehrten in Deutschland im 1 l.Jh. (so Hilvitz, Chiqre Semanim, s.o. Anm.44, II, 29 Anm.38). 59

60

228

Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

ne von den vier besonderen Perikopen an der Reihe. U n d weil dies nicht Jahr für Jahr geübt wird wegen des Schaltjahres, deshalb ist es den Ordnern entgangen, so ist es üblich geworden, ständig Jer 7,21 ff zu lesen, weil das häufiger vorkommt. Bis hier das Responsum. 6 7

Was ist aus diesem Responsum über die in aschkenasischen Gemeinden geübte Praxis zu entnehmen? Dem Gefragten ist klar, dass der Große Sabbat keine eigene Prophetenlesung hat; es geht ihm nur darum zu klären, welche Prophetenlesung zu Lev 6 - 8 zu lesen sei, wenn diese Perikope auf den Sabbat vor Pessach fällt. In seiner Gemeinde war es üblich, zu Lev 6 - 8 stets Jer 7,21 ff zu lesen, doch wusste er aus einer älteren Quelle von dem anderen Brauch, auch Mal 3,4ff zu dieser Perikope zu lesen. In seinen Augen ist Mal 3,4ff die passende Prophetenlesung für den Großen Sabbat. Deshalb macht er einen Kompromissvorschlag: beide Prophetenlesungen für Lev 6 - 8 zuzulassen, Mal 3,4ff in gewöhnlichen Jahren, wenn Lev 6 - 8 auf den Sabbat vor Pessach fällt, und Jer 7,21 ff in Schaltjahren, wenn Lev 6 - 8 einen ganzen Monat vor Pessach liegt. Was wusste der Gefragte über Mal 3,4ff als Prophetenlesung, wenn dieser Text in seiner Gemeinde weder am Großen Sabbat noch zur Perikope Lev 6 - 8 gelesen wurde? Dafür hat Joseph Ofer eine überzeugende Erklärung gefunden, die ich hier kurz referieren will. 68 Nach dem dreijährigen palästinischen Lesezyklus wurde an jedem Sabbat ein Abschnitt aus dem Pentateuch gelesen. Die Prophetenlesung zu dem Abschnitt, der mit Lev 6,12 anfängt („dies ist das Opfer Aarons und seiner Söhne [...] als ständiges Speiseopfer"), war Mal 3,4 („angenehm sein wird dem Ewigen das Speiseopfer von Juda und Jerusalem [ . . . ] " ) wegen der Anklänge im jeweiligen Eröffnungsvers. 69 Da der Pentateuch einmal in drei Jahren ganz durchgelesen wurde, war natürlich keiner der Pentateuch-Abschnitte oder dessen Prophetenlesung an ein bestimmtes Datum gebunden wie etwa Pessach oder den Großen Sabbat. Nachdem der dreijährige palästinische durch den einjährigen babylonischen Lesezyklus verdrängt worden war, wurde in den meisten Gemeinden die Perikope nach dem einjährigen Zyklus samt ihrer zugehörigen Prophetenlesung vorgetragen. Doch gab es anscheinend einzelne Gemeinden, wo zwar die babylonische Perikope gelesen, aber die Prophetenlesung nach dem palästinischen Ritus beibehalten wurde, und zwar die Prophetenlesung jeweils zum ersten Abschnitt der betreffenden Perikope. Ein solcher Fall scheint bei der Perikope Lev 6 - 8 vorzuliegen, die in Jah-

67 R. Isaak b. Mose aus Wien, Or sarua, II, Zitomir 1862, § 393. Ausführlich ist dieses Responsum in Bezug auf die Prophetenlesung zum Großen Sabbat diskutiert bei Hilvitz (ebd.), 25-40. 68 J. Ofer, Haftarat Schabbat ba-gadol, in: haMaajan 36 (1996), 16-20. 69 Zum dreijährigen Lesezyklus des Pentateuch s. J. Ofer, Sidre Neviim u-Ketuvim, in: Tarbiz 58 (1989), 173-189.

D e r G r o ß e Sabbat

229

ren mit nur einem Monat Adar auf den Sabbat unmittelbar vor Pessach fällt. Die zugehörige Prophetenlesung nach dem babylonischen Ritus ist Jer 7,21 ff, aber nach dem rumänischen (byzantinischen) Ritus und bei den Karäem wird sie durch Mal 3 ersetzt, was nach dem alten palästinischen Ritus die Prophetenlesung zu dem Abschnitt war, der mit Lev 6,12 beginnt und ganz in der (babylonischen) Perikope Lev 6 - 8 enthalten ist. Demnach waren für ein und dieselbe Perikope zwei Prophetenlesungen üblich, sowohl Jer 7 als auch Mal 3, und das .Ringen' zwischen den beiden hat seinen Niederschlag in Or sama gefunden. Der Verfasser des Responsums bevorzugte für den Sabbat vor Pessach Mal 3. Warum wohl? Als Begründung gibt er den Inhalt von Jer 7 an, der ihm für den Tag, an dem das Pessach-Opfer geschlachtet wurde, unpassend scheint wegen der scharfen Ausdrücke, die der Prophet gegen den Opferkult verwendet. Allerdings trifft dieses Argument nur den Fall, dass der Sabbat vor Pessach auf den 14. Nissan fällt, den Vortag des Festes. Die Beweggründe unseres Respondenten, Mal 3 als Prophetenlesung für den Sabbat vor Pessach zu bestimmen, werden verständlicher, wenn wir einen anderen alten palästinischen Brauch berücksichtigen: Mal 3 wurde am Sabbat der Festwoche von Pessach und Laubhüttenfest gelesen. 70 Demnach ist die Verknüpfung von Mal 3 mit Pessach eine wesentliche. Der Sinn dieses Brauchs ist leicht einzusehen. Er geht in dieselbe Richtung wie die Tora-Lesung am Sabbat der Festwoche von Pessach und Laubhüttenfest nach palästinischem Ritus. Zu der gewöhnlichen Festperikope Dtn 15,19-16,17, wo Festvorschriften von Pessach und Laubhüttenfest behandelt sind, wurde am Sabbat vor Pessach noch ein Abschnitt über die Entrichtung der Zehnten hinzugefügt (vgl. Dtn 14,22-29), um die Lesung aus dem Pentateuch mit der Prophetenlesung zu verknüpfen, Mal 3,10 heißt es nämlich: „bringet alle Zehnten in mein Schatzhaus". Scheinbar dient dieser Zusatz dazu, den Zuhörern die zu Pessach fällige Begleichung von Zehntschulden in Erinnerung zu rufen, was aber nicht zum Sabbat innerhalb der Pessach-Woche passt und schon gar nicht zu dem innerhalb des Laubhüttenfestes. Anscheinend war die Verknüpfung von Dtn 14 und Mal 3 über das Stichwort der Zehnten eher technischer Art; worum es eigentlich ging, war die öffentliche Verlesung des Abschlussverses von Mal 3, wo es um die endzeitliche Erlösung und das Jüngste Gericht geht. Eine Bestätigung dafür findet sich in einer liturgischen Dichtung von R. Joseph ibn Avitur aus dem 10. Jh., wo auf Elemente sowohl aus Dtn 14 als auch aus Mal 3 angespielt ist. 71 Die Abschlusszeile der ersten sowie der fünften bis achten Strophe beziehen sich auf Verse aus Mal 3, angefangen

70 71

Dazu E. Fleischer, T h e Reading of the Portion [ . . . ] (s.o. A n m . 2 3 ) . Abgedruckt bei Fleischer (s.o. A n m . 7 0 ) , 1 5 1 - 1 5 3 .

230

Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

von „bringet alle Zehnten in mein Schatzhaus", über „siehe, ich sende euch den Propheten Elia" am Ende der siebten bis hin zu „vor dem Kommen des großen und furchtbaren Tages des Ewigen" am Ende der achten und letzten Strophe. Der Dichter vollzieht die Prophetenlesung Schritt für Schritt nach, und auch er sieht in der Nennung des großen Tages des Ewigen den Hauptund Höhepunkt der Prophetenlesung am Sabbat innerhalb der Festwoche von Pessach und Laubhüttenfest. In der Hervorhebung der messianischen Hoffnung an jenen beiden Sabbaten ist nichts speziell Palästinisches, denn auch in den jüdischen Gemeinden Babyloniens war es üblich, am Sabbat während des Laubhüttenfestes die Verkündung über Gog und Magog (vgl. Ez 38,18-39,16) zu lesen 72 und am Sabbat während der Pessach-Woche die Vision von der Wiederbelebung der vertrockneten Gebeine (vgl. Ez 37). Somit wissen wir, dass noch im ausgehenden 10. Jh. im Land Israel die Prophetenlesung, die mit dem Großen Tag endet, am Sabbat innerhalb der PessachWoche gelesen wurde, nicht am Sabbat vor Pessach; das entspricht der Auskunft bei Joh, wonach der Große Sabbat der Juden der innerhalb der Pessach-Woche war, nicht der vor dem Fest. Die Vorverlegung des Großen Sabbats um eine Woche ist also eine aschkenasische Innovation, woraufhin auch die Prophetenlesung vom Sabbat innerhalb der Pessach-Woche auf den Sabbat vor Pessach verlagert wurde. Die Bezeichnung ,der Große Sabbat' für den Sabbat vor Pessach war, wie wir gesehen haben, zunächst in der aschkenasischen Bevölkerung üblich; demnach handelt es sich um einen Vorgang ,von unten nach oben', der Name dürfte dem Ritus vorangegangen sein, und erst als der Name sich bereits eingebürgert hatte, wurde dem neuen Großen Sabbat die Prophetenlesung Mal 3 zugeordnet. Dieses Ubergangsstadium ist durch das Responsum in Or sarua dokumentiert. Nach dieser Rekonstruktion ist die Verlegung der Prophetenlesung Mal 3 auf den Großen Sabbat ein innerjüdischer Vorgang. 73 Demnach dürfte der Prophetenlesung Mal 3 dasselbe passiert sein wie der Bezeichnung Großer Sabbat: Beide wurden aus der Pessach-Woche vorverlegt auf den Sabbat vor Pessach. So übernahm die aschkenasisch-französische Leseordnung die Zeitbegriffe der christlichen Großen Woche. Doch hinter dem Wunsch, Jer 7 als Prophetenlesung am Sabbat vor Pes-

Fleischer, ebd., 142. Laut Werner, Sacred Bridge (s.o. A n m . 2 2 ) , I, 85f gehörte Mal 3 bereits im 5. bis 6 J h . zur Leseordnung der gallischen Kirche für Palmsonntag; sein Beleg dafür ist P.A. Dold, Das älteste Liturgiebuch der lateinischen Kirche, Beuron 1936. Doch dort auf S. LVIII schreibt Dold ausdrücklich, das Formular für den Palmsonntag fehle in der Handschrift. Mal 3 wird in der Handschrift zwar zitiert, doch geht daraus nicht hervor, bei welcher Gelegenheit dieser Prophetentext gelesen wurde; Dold (LXXX.CIII) vermutet im Herbst zur Erntezeit wegen des Verses „bringet alle Zehnten in mein Schatzhaus". 72 7i

Der Große Sabbat

231

sach durch Mal 3 zu ersetzen, könnte noch ein weiteres Motiv gestanden haben, das in den Worten des Responsums in Or sarua anklingt. U m dies zu erhellen, wird es gut sein, wenn wir uns klarmachen, womit sich christliche Osterpredigten befassten, speziell solche zum Palmsonntag. D o r t ging es um J e s u Ankündigung der Zerstörung Jerusalems, als er vom Olberg her in die Stadt einzieht, während die Bevölkerung Palmzweige schwingt. Die Zerstörung Jerusalems steht in der christlichen Osterliturgie an zentraler Stelle, wodurch der Konnex zwischen Kreuzigung und Zerstörung, Schuld und Strafe verdeutlicht wird. 7 4 In Anbetracht solcher D e u t u n g ist es nur allzu verständlich, wenn J u d e n H e m m u n g e n haben, am Sabbat vor Pessach einen Prophetentext wie Jer 7 zu lesen, wo es unter anderem heißt: „Nicht geredet habe ich mit euren Vätern, ihnen nichts geboten am Tage, da ich sie aus Ägypten herausgeführt, in B e z u g auf Brand- und Schlachtopfer [...]. Ich sandte zu euch all meine Knechte, die Propheten, jeden Morgen habe ich sie gesandt, doch sie hörten nicht auf mich, neigten nicht ihr O h r [...]. Schneid ab dein Nasiratshaar und wirf es weg, auf Felshöhen erhebe Klage!, denn verworfen hat der Ewige, verlassen die Generation seines G r i m m s " und weitere Scheltreden dieser Art. Der Verfasser des Responsums empfindet Unbehagen ob dieser Verse, das er allerdings in imaginäre Festpilger hineinprojiziert. Dahinter stehen wohl auch Bedenken, o b dies der passende Text für den Sabbat vor Pessach ist, angesichts der heftigen Kontroverse gegenüber dem Christentum um die religiöse Bedeutung von Pessach-Opfer, Zerstörung Jerusalems und Erlösung. Aus dem oben Gesagten ergibt sich eine wichtige Schlussfolgerung. U n ter dem Einfluss ihrer christlichen Umwelt übernahm die aschkenasische Judenheit die Bezeichnungen ,Großer Sabbat' für den Sabbat, der die Woche vor Pessach eröffnet. Was zunächst rezipiert wurde, war nur der N a m e , aber in Fortsetzung der Rezeption entstand die Notwendigkeit, diesem Sabbat liturgisch einen besonderen Charakter zu verleihen, und zwar genau zu der Zeit, als bei den westlichen Kirchen der Palmsonntag seinen Sonderstatus erhielt. Ein Mittel dazu war die Bestimmung von Mal 3 als feste Prophetenlesung des Großen Sabbats, als Gegengewicht gegen die Unheilsprophezeiung des Palmsonntags; dadurch wurde der Sabbat während des Pessach-Festes frei für die babylonische Prophetenlesung: die Vision der vertrockneten Gebeine aus E z 37. Die inhaltliche Entsprechung zwischen einer Prophetenlesung, die von der Wiederbelebung vertrockneter Gebeine handelt, und dem Osterfest als Feier der Auferstehung ist unübersehbar. So fungiert denn auch E z 37 als

74

A. Linder, A Homily for Easter on the Destruction of Jerusalem and the Temple (hebr.),

in: R. Bonfil u.a. (Hg.), Tarbut weChevra beToledot Am Israel blme habenajim (GS H.H. Ben-

Sasson), Jerusalem 1989, 19-26.

232

Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

Lektion des Ostersamstag in allen frühchristlichen Ritualen. 75 Joseph Heinemann hat eine Beziehung zwischen der jüdischen Prophetenlesung und den dunklen aggadischen Uberlieferungen über die Ephraimiten wahrgenommen, die vorzeitig aus Ägypten gezogen seien; die Philister hätten sie getötet, so dass ihre Gebeine am Weg von Ägypten ins Heilige Land liegenblieben. 76 Die Erzählung fungierte als Typos für die Gestalt des Messias, Josephs Sohn, der dem davidischen Messias vorangehen und im Krieg fallen sollte. Oben (Kap. I) habe ich die These aufgestellt, dass diese Messiasfigur das jüdische Gegenstück zu einem anderen Messias, Josephs Sohn bildet, nämlich Jesus, der ebenfalls gestorben war. Dieser Ansatz geht zusammen mit meiner Vermutung, dass die Pessach-Haggada aus dem Bemühen hervorgegangen ist, dem Passionsbericht der Evangelien eine alternative Erzählung entgegenzusetzen. Der Brauch, die Vision von der Wiederbelebung der vertrockneten Gebeine am Sabbat der Pessach-Woche zu lesen, fügt sich gut in die Tendenz, die christliche Erzählung durch eine jüdische zu kontern. In diesem Sinne ist der Bedeutungswandel zu verstehen, den der Große Sabbat in der aschkenasischen Judenheit durchgemacht hat. Was hier vorliegt, ist ein unbewusster Anschluss an die liturgische Zeit und Symbolik der umgebenden Gesellschaft. Der Große Sabbat bietet ein Gegengewicht zum christlichen Palmsonntag und gleichzeitig einen jüdischen Festpunkt und Kontext für die Vorbereitungswoche auf das Pessach-Fest hin. Und wie bei den christlichen Nachbarn wird der Beginn dieser Vorbereitungswoche durch den Heiligen Tag der Vorwoche markiert.

2 Die Vertilgung des Gesäuerten (Bi'ur

Cbamez)

In der Mischna ist vorgeschrieben, am Tag vor Pessach alles Gesäuerte bis zu Beginn der sechsten Tagesstunde aus dem Hause zu schaffen, und im Tempel wurde darauf geachtet, mit der Schlachtung der Pessach-Lämmer nicht eher zu beginnen, als bis nichts Gesäuertes mehr vorhanden war. 7 7 Joh 19,14 wiederum wird berichtet, Jesus sei ,um die sechste Stunde' gekreuzigt worden. Auf eine Beziehung zwischen der Wegschaffung des Gesäuerten und der Darbringung des Pessach-Opfers in messianisch-symbolischem Kontext lässt auch IKor 5,7-8 schließen: „Darum feget den alten Sauerteig aus, auf dass ihr ein neuer Teig seid, gleichwie ihr ungesäuert seid. 75 Werner, Sacred Bridge (s.o. Anm.22), I, 87; Venetianer, Propheten-Lektionen (s.o. Anm. 22), 128-132. 76 J. Heinemann, The Messiah of Ephraim and the Premature Exodus of the Tribe of Ephraim, in: HTR 8 (1975), 1-15. 77 M Pessachim V 4.

Die Vertilgung des Gesäuerten

(Bi'ur Chamez)

233

Denn wir haben auch ein Osterlamm, das ist Christus, für uns geopfert. Darum lasset uns Ostern halten nicht im alten Sauerteig, auch nicht im Sauerteig der Bosheit und Schalkheit, sondern in dem Süßteig der Lauterkeit und der Wahrheit." Sowohl die jüdische als auch die christliche Hermeneutik brachte Gesäuertes mit dem bösen Trieb in Verbindung, 78 und sicher besteht auch ein Zusammenhang zu der messianisch-politischen Deutung, wonach die Verbrennung des Gesäuerten für die Beseitigung aller erlösungshemmenden Faktoren steht. Die messianisch-politische Bedeutung des Sauerteigs ist schon oben (Kap. II) behandelt; dort ist auch erwähnt, was der sog. Targum scheni zu Esther dem bösen Haman in den Mund legt. Um König Ahasver zu überzeugen, dass die Juden zu vertilgen seien, schwärzt er sie beim König an, sie sprächen: „wie wir das Gesäuerte wegschaffen, so soll das böse Königreich untergehen und wir vor diesem dummen König errettet werden". Hier werden also die Juden als Staatsfeinde dargestellt und die Vertilgung des Gesäuerten als symbolischer Akt von politischer Tragweite. Hier ist auf ein Detail der biblischen Esther-Erzählung hinzuweisen: Haman wird dort nicht zu Purim erhängt, wie häufig angenommen, sondern zu Pessach. 79 Das ist von Bedeutung, denn bereits im ausgehenden Altertum sind sowohl jüdische als auch christliche Deutungen belegt, die Hamans Exekution zu Jesu Kreuzigung in Beziehung setzen. 80 Hamans Rede, worin die Vertilgung des Gesäuerten als Symbol für die Vernichtung des ,bösen Königreichs' (zeitgenössisch: Rom) dargestellt wird, bezeugt, dass es eine jüdische Auslegung gab, die der Wegschaffung des Gesäuerten messianische Bedeutung beimaß. Die Quelle für dieses Motiv im Targum scheni ist im babylonischen Talmud {Pessachim 5a) zu finden; dort wird überliefert, für die Einhaltung von drei Geboten, in denen jeweils das Stichwort .erster' vorkommt, würden die Israeliten mit drei Dingen belohnt, die ebenfalls das Stichwort .erster' enthalten; an erster Stelle wird die Wegschaffung des Gesäuerten ,am ersten Tag' (Ex 12,15) erwähnt, die durch die Vernichtung Esaus belohnt werden soll, der als .Erster' vor seinem Zwillingsbruder Jakob geboren wurde (vgl. Gen 25,25). Raschi erläutert, das Gebot, für dessen Einhaltung die Israeliten mit der Erlösung belohnt würden, sei die Wahrung der Festruhe, nicht die Weg-

7 8 Etwa: b Berachot 17a; Mt 16,12. Dazu H . Basser, Superstitious Interpretations of Jewish Laws, in: J S J 8 (1977), 1 2 7 - 1 3 8 . 7 9 Das Los wurde am 13. Nissan geworfen (Est 3,7.12), Esther fastete drei Tage lang (4,16), und am 3. Tag (15. Nissan) lud sie den König und Haman zum Symposion, das am selben Tag stattfand (Est 5,4) und dann noch einmal am folgenden Tag (Est 5,8) - inzwischen der 16. Nissan. Demnach war die schlaflose Nacht des Königs (Est 6 , I f f ) die vom 15. zum 16. Nissan, und tags darauf wurde Haman hingerichtet. 80 J . G . Frazer, T h e Golden Bough (A N e w Abridgement), L o n d o n / N e w York 1994, 6 6 6 - 6 7 6 ; E. Wind, T h e Crucifixion of Haman, in: Journal of the Warburg Institute 1 (1937), 245-248.

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

Schaffung des Gesäuerten (was dem Wortsinn des Verses zuwiderläuft). R. Elasar von Worms sieht die Sache anders: Z u m L o h n f ü r die Vertilgung des G e s ä u e r t e n wird er E s a u vertilgen, wie geschrieben steht: „ d o c h a m ersten T a g sollt ihr den S a u e r t e i g ruhen l a s s e n " ( E x 12,15), ist es d e n n der erste, es ist d o c h der 14. N i s s a n ? A b e r z u m L o h n d a f ü r wird er E s a u vertilgen. „ D a k a m der E r s t e heraus, rötlich [ . . . ] " ( G e n 2 5 , 2 5 ) , „wie ist E s a u entblößt w o r d e n " ( O b 1,6a), „ u n d das H a u s E s a u wird zu S t o p p e l n , sie w e r d e n sie a n z ü n d e n u n d verzehren, u n d es bleibt kein R e s t v o m H a u s E s a u , denn der E w i g e hat's g e r e d e t " ( O b 1,18). 8 1

Was hier vorliegt, ist die eindeutige Feststellung einer Beziehung zwischen der Vernichtung des Gesäuerten und der Rache-Erlösung, und das aus dem Munde eines ausgesprochenen Halachisten, eines der Hauptsprecher der Chasside Aschkenas im 13.Jh. Den Zusammenhang zwischen der Wegschaffung des Gesäuerten und dem Untergang Esau/Edoms könnte man als eine lose Verknüpfung von Gebotserfüllung und Belohnung auffassen, doch das messianische Potential des Gesäuerten für einen Juden, der in dessen Vertilgung eine symbolische Vorwegnahme der endzeitlichen Vernichtung Esaus erblickt, ist kaum zu übersehen. Wenn für den Christen die Hostie für Jesus und dessen Opfertod stand, dann für den Juden das Gesäuerte, das (vor Pessach) verbrannt werden muss, für Edom. Die Bedeutung solcher Hermeneutik für den mittelalterlichen Juden sollte nicht unterschätzt werden. Wer die strengen und detaillierten Verbote, was etwa Gesäuertes an Pessach betrifft, vor allem in der aschkenasischen Judenheit kennt, muss sich klar machen, dass diese gewissenhafte Sorgfalt ihren tiefen religiösen Sinn hat. Die Vertilgung des Gesäuerten war im jüdischen Bewusstsein ein Symbol für den messianischen Endsieg über Edom, Esau, über die christliche Welt. Entsprechend wurde die Verbrennung des Gesäuerten am Vortag von Pessach als Gegenstück zu den Zehn Plagen aufgefasst, die der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft vorangingen, nach dem typologischen Modell, das vergangenes Geschehen zum Vorbild für künftiges macht. Wir brauchen nicht allzu viel Phantasie, um uns vorzustellen, was wohl Christen in den Sinn kam, wenn sie dieses Ritual beobachteten: Am Vortag von Pessach, dem Datum der Kreuzigung nach dem jüdischen Kalender, schaffen die Juden sämtlichen verbliebenen Sauerteig aus ihren Häusern und verbrennen ihn draußen; und dieser Akt gilt ihnen als Symbol für den Untergang Esaus, d.i. des Christentums, sowie als Auftakt zur Erlösung. Dass die Sorge vor einer solchen etwaigen Deutung bestand, lehrt eine an R. Chaim Or sarua in der 2. Hälfte des 13. Jh. gerichtete Frage. Der Fragesteller geht von einer talmudischen Regelung (b Pessacbim 8b) aus, wo81

Sefer baRoqeach, Jerusalem 1967, § 271 Ende; s.o. Anm.66.

Die Vertilgung des Gesäuerten (Bi'ur Chamez)

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nach im Loch einer Wand, die einem Juden und einem Nichtjuden gemeinsam gehört, nicht nach Gesäuertem zu suchen sei, damit der Nichtjude nicht auf den Gedanken komme, der Jude wolle ihn verhexen. Seine Frage lautet dann, ob die Sorge vor solcher Missdeutung nicht auch zu seiner Zeit bestehe, da Juden christliche Mägde bei sich im Hause beschäftigten. Darauf antwortet R. Chaim: D e r Fall mit d e m L o c h [in der Wand] zwischen uns u n d d e m N i c h t j u d e n , w o b e i der N i c h t j u d e ihm V o r w ü r f e m a c h e n , ihm einen P r o z e s s a n h ä n g e n und ü b e r ihn herfallen k ö n n t e , weil er ihn verhext habe, ist nicht analog - d a g e g e n bei uns im H a u s e ist das nicht zu b e f ü r c h t e n , das Verbot [des G e s ä u e r t e n zu P e s s a c h ] ist ihnen [den beteiligten N i c h t j u d e n ] b e k a n n t . Wir t u n ja n o c h G e w i c h t i g e r e s , i n d e m wir vor ihren A u g e n G e s ä u e r t e s verbrennen, w o b e i sie schwere S t r a f e a b b e k o m men [ . . . ] . Wenn wir aber den Vorwurf der H e x e r e i beim A u f s u c h e n des letzten G e s ä u e r t e n zu f ü r c h t e n hätten, w ü r d e n wir es gewiss unterlassen, wie m a n es in der P r o v e n c e unterlassen hat, den O f e n zu k o s c h e r n w e g e n H e x e r e i - V e r d a c h t . 8 2

Im Gegensatz zu den Befürchtungen des Fragestellers meint R. Chaim, den Christen ringsum sei klar, dass es sich beim Wegschaffen des Gesäuerten nicht um Hexenwerk handle, sondern um die Erfüllung eines wichtigen religiösen Gebots, das den Juden obliege. Allerdings weiss er, dass Juden in der Provence mit der Gefahr eines solchen Missverständnisses rechnen und es zu vermeiden suchen. Die besorgte Frage und die beruhigende Antwort stammen aus der Zeit unmittelbar vor Aufkommen des ersten Vorwurfs der Hostienschändung; der Verfasser des Responsums hatte noch keine Vorstellung davon, was für Gefahren den Juden aus christlicher Fehlinterpretation ihres Tuns erwachsen würden. Wie gefährlich die christliche Deutung jüdischen Verhaltens werden konnte, geht aus dem folgenden Fall hervor: Im Jahre 1399 fand eine Disputation zwischen einem Konvertititen, der als Jude Pessach geheißen hatte und sich als Christ Peter nannte, und dem Rabbiner Jomtov Lipman Mühlhausen statt, einem bedeutenden Mann, der zugleich Toragelehrter und Philosoph war. Einzelheiten über die Disputation bringt Mühlhausen am Ende seiner Abhandlung Sefer haNizzacbon, des bedeutendsten Kompendiums antichristlicher Polemik, das in der aschkenasischen Judenheit im ausgehenden Mittelalter verfasst wurde. Der Ausgang dieser Disputation war ungewöhnlich grausam: Achtzig Juden wurden hingerichtet. Dieses Ergebnis lässt darauf schließen, dass es sich hier nicht um ein Streitgespräch zwischen Gelehrten handelte, sondern eher um eine Art Inquisitionsprozess. Der Hauptvorwurf von christlicher Seite lautete, die Juden machten das Christentum verächtlich und wollten es vernichten.

82 Sefer Scheelot uTeschuwot mehaRav Chajim Or sarua, J. Rosenberg (Hg.), Jerusalem 1972 (facsimile), § 144. Vgl. J. Trachtenberg, Jewish Magic and Superstition, New York 1975, 2i.

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

Nach Auskunft von Mühlhausen brachte Peter u. a. folgendes Argument: „Von jedem Teig, den ihr knetet, verbrennt ihr ein wenig zum Schimpf ihrer (d.i. der christlichen) Gottheit. Ebenso verbrennt ihr das Brot am Vortag von Pessach, der in die Fastenzeit fällt." 83 Diese Disputation samt ihrem bitteren Ende war der Anlass zur sofortigen Abfassung von Sefer haNizzachon.84 Der Apostat bezieht sich auf zwei rituelle Handlungen: die Verbrennung der Teighebe (Challa) und die Vernichtung des Gesäuerten, wobei ersteres das ganze Jahr über stattfindet, letzteres unmittelbar vor Pessach. Beides wurde von dem Apostaten als ein Versuch dargestellt, die Hostie verächtlich zu machen. Möglicherweise dachte der Apostat speziell an die Teighebe von den für Pessach gebackenen Mazzot, die am Vortag des Festes nach der sechsten Stunde verbrannt werden musste. Bei gewöhnlichem Teig brauchte die Hebe nicht gleich nach der Absonderung verbrannt zu werden, man konnte sie längere Zeit aufbewahren, bis sich ein günstiger Zeitpunkt für die Verbrennung ergab. Anders bei der Teighebe von den Mazzot vor Pessach: Da dieser Teig sauer zu werden drohte, musste Hebe von MazzaTeig während der zweiten Tageshälfte (da es Juden bereits verboten ist, Gesäuertes im Hause zu haben) unverzüglich verbrannt werden. David Nirenberg ist auf einen Fall gestoßen, der sich 1321 im spanischen Sogrob um die Osterzeit zugetragen haben soll: Dort wurden die Juden der Stadt beschuldigt, sie hätten aus Teig eine Jesusfigur geformt und diese im Ofen verbrannt. 85 Mit großer Wahrscheinlichkeit stand auch hinter dieser Anschuldigung der jüdische Brauch, am Tag vor Pessach den übriggebliebenen Sauerteig zu verbrennen. Diese Beziehung zwischen der Vernichtung des Gesäuerten und dem endzeitlichen Sieg über das Christentum kann auch erklären, wie anscheinend das Koschern von Kochgeschirr für Pessach missverstanden wurde (vgl. o. Kap. III). Aufschlussreich ist etwa die ikonographische Ubereinstimmung zwischen der Darstellung eines Hostienfrevels in einer spanischen Handschrift aus dem 14.Jh., eines Rituals des Koscherns von Geschirr, ebenfalls aus Spanien sowie der Tötung eines christlichen Märtyrers. Häufig besteht der Vorwurf des Hostienfrevels darin, dass Juden die Hostie in einen Kessel mit kochendem Wasser geworfen hätten. 86 Der Bericht über eine angebliche Hostienschändung 1290 in Paris in der Chronik des Johannes de Thilrode lautet folgendermaßen: Insuper hostia ponebatur in caldario pleno aqua ut bulliretur et destrueretur. Hostia vero divina gratia in carnem et sanguinem se

83 Jomtov Lipman Mühlhausen, Sefer haNizzachon, E.F. Talmage (Hg.), Jerusalem 1984 (Faksimile der Ausgabe Akdorf/Nürnberg 1644), 194. 84 Vgl. oben, Kap. III, Anm. 111. 85 D. Nirenberg, Communities of Violence. Persecution of Minorities in the Middle Ages, Princeton 1996, 220. 86 So schon bei Lotter, Hostienfrevelvorwurf (s.o. Anm.9), 538.

Das Zusammenlegen von Höfen ( E r u v

mutavit.87

Chazerot)

237

Bei der Schilderung dieser E p i s o d e sind zusätzlich zu dem Kessel

mit k o c h e n d e m Wasser zwei weitere M o t i v e zu b e o b a c h t e n , die für unsere B e t r a c h t u n g e n relevant sind: D a s Werfen der H o s t i e ins k o c h e n d e Wasser geschah im H a u s e des J u d e n u n t e r Beteiligung seiner christlichen M a g d . 8 8 D a s ist genau die Szenerie, wie sie in dem o b e n zitierten R e s p o n s u m des R . C h a i m Or sarua a n g e s p r o c h e n ist. D a s g e m e i n s a m e V o r k o m m e n dieser drei M o t i v e m a c h t es wahrscheinlich, dass der Pariser V o r w u r f des H o s t i e n f r e vels auf dem missverstandenen Ritual des K o s c h e r n s von G e s c h i r r durch E i n t a u c h e n in k o c h e n d e s Wasser b e r u h t e .

3 Das Zusammenlegen von Höfen (Eruv

Chazerot)

N a c h der jüdischen H a l a c h a ist es J u d e n am Sabbat v e r b o t e n , G e g e n s t ä n d e aus dem privaten in den ö f f e n t l i c h e n Bereich zu transportieren. U m diese E i n s c h r ä n k u n g zu mildern, gibt es die E i n r i c h t u n g des . Z u s a m m e n l e g e n s von H ö f e n ' . D a s geht so v o r sich, dass die jüdischen B e w o h n e r eines G e b ä u d e k o m p l e x e s oder eines Wohnviertels untereinander eine fiktive

Ge-

m e i n s c h a f t herstellen, so dass alle sozusagen demselben Privatbereich angeh ö r e n , indem sie eine Speise zubereiten und an einem allen zugänglichen O r t deponieren. U m das nicht vor j e d e m Sabbat v o n n e u e m tun zu m ü s s e n , war es s c h o n v o r Z e i t e n üblich, dafür eine M a z z a v o r z u s e h e n , weil die sich lange hält. Z u n ä c h s t wurde sie in einem der beteiligten Privathäuser in ein e m geschlossenen K a s t e n aufbewahrt, u m nicht von M ä u s e n , den ständigen M i t b e w o h n e r n der M e n s c h e n im Mittelalter, angenagt zu werden. E r s t mals erwähnt ist dieser B r a u c h in einer italienischen halachischen Schrift aus der M i t t e des 9. J h . : So funktioniert der Eruv theoretisch und praktisch: Will man vom Vortag von Pessach einen Eruv (d.i. eine Hofgemeinschaft) für das ganze kommende Jahr herstellen, so nehme der Tora-Gelehrteste in jedem Hause je eine Handvoll Mehl und mache ein oder zwei Stück Backwerk daraus, er backe sie scharf, damit sie nicht verderben, sondern sich halten, denn solange dieses Backwerk aufbewahrt bleibt, besteht der Eruv und es darf (von einem Haus zum andern) getragen werden. Wenn das Backwerk aufgegessen, verdorben, verloren gegangen oder verbrannt ist, darf nichts getragen werden bis zur Herstellung eines anderen Eruv am Vortag des Sabbats. 89

87 Außerdem wurde die Hostie in einen Kessel voll Wasser gelegt, um gekocht und zerstört zu werden, doch durch die göttliche Gnade verwandelte sie sich in Fleisch und Blut; M G H Scriptores X X V , J . Heller (Hg.), Hannover 1880, 578. S. auch oben, Kap. IV, Text zu Anm. 106. 88 Rubin, Desecration (s.o. A n m . 9 ) , 169-171. " Halachot qezuvot, M. Margulies (Hg.), Jerusalem 1942, 63f; vgl. Kol Bo, Lemberg 1860, §

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

Die Verwendung einer M a z z a zur Herstellung der H o f g e m e i n s c h a f t hat also ausgesprochen technische Gründe: Ein Gebäck, das für Menschen das ganze Jahr über genießbar ist, so dass die Prozedur nicht jeden Freitag wiederholt werden muss. In der F o r t s e t z u n g jenes halachischen Werks aus dem 9.Jh. heißt es noch, der Eruv (d.i. die Mazza, auf die sich der Eruv gründet) sei in einem Kasten oder an einem geschützten O r t aufzubewahren und zwar in einem der Häuser, deren Bewohner der so gestifteten H o f g e m e i n schaft angehören. 9 0 Im 14. Jh. wurden an diesem Brauch in Deutschland zwei Veränderungen vorgenommen: Die Eruv - M a z z a wurde nicht mehr in einem Kasten aufbewahrt, sondern an die Wand gehängt, auch nicht mehr in einem Privathaus, sondern in der Synagoge. 1 Daraus ergaben sich etliche halachische Schwierigkeiten, die hier nicht erörtert zu werden brauchen, woraufhin rabbinische Autoritäten die Eruv -Mazza doch lieber in einem Privathaus lassen wollten. Eine solche Eruv-Mazza beschreibt etwa ein Schüler von R. Israel Isserlein, ein österreichischer Tora-Gelehrter im 15. Jh.: Die M a z z a sei am Vortag von Pessach gebacken worden, groß mit einem Loch in der Mitte, und sie hing an einem N a g e l in seiner Winterbehausung, wo er zu lernen pflegte, nicht in der Synagoge. 9 2 D o c h war der Wunsch, die Eruv-Mazza in der Synagoge öffentlich zur Schau zu stellen, offenbar stärker als die halachischen Erwägungen, die für ihre Plazierung in einem Privathaus sprachen. Dieser Brauch ist noch im 17. J h . im Minhag-Buch des R. J u s p a Schammes bezeugt: „ A m Vortag des Großen Sabbat nimmt man die Eruv -Mazza, die das ganze Jahr über in der Synagoge an der Wand gehangen hatte, herunter und teilt sie in so viel kleine Stücke, dass jeder Hausvater ein Stück b e k o m men kann; der Synagogendiener ( Schammasch ) teilt sie und bringt jedem Hausvater sein Stück". 3 In der F o r t s e t z u n g ist dort auch ausführlich geschildert, wie die Eruv -Mazza hergestellt und auf der Westseite der Synagoge (also an der Rückwand) befestigt wird. 9 4 Frappant ist die formale Ubereinstimmung zwischen dieser öffentlichen Zurschaustellung der Eruv -Mazza an der Rückwand des Synagogenraums und der - zeitgleichen - Einführung der Monstranz, eines Kelchs mit Glasfenster, wodurch die H o s t i e zu sehen ist, seit dem 13.Jh. Vor dem A u f k o m men der Monstranz war die H o s t i e in einem geschlossenen Gefäß, dem Ci-

33. S. auch Israel Ta-Shma, Early Franco-German Ritual and C u s t o m (hebr.), Jerusalem 1992, 243. 90 Halachot qezuvot (s. o. Anm. 89), 64 f. 91 Die neuen Responsen des M a H a R I L , Y. Satz (Hg.) J e r u s a l e m 1977, § 38, 37-39 (s. auch die Anmerkungen des Herausgebers). 92 R. Joseph b. Mose, Leqet Joscher, J. Freimann (Hg.), I, Berlin 1923, 67. 93 Sefer haMtnhagim schel R. Juspa Schammes (s. o. Anm. 54), 79. 94 Ebd., 82.

Das Zusammenlegen von Höfen (Emv Chazerot)

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borium, a u f b e w a h r t w o r d e n , w i e d e r u m wie die Eruv-Mazza. D e r im 1 3 . J h . v o l l z o g e n e W a n d e l in d e r A u f f a s s u n g d e r E u c h a r i s t i e ist d e r v o n e i n e m gem e i n s a m e n G e d ä c h t n i s m a h l z u r V e r e h r u n g d e r H o s t i e in ihrer E i g e n s c h a f t als L e i b d e s H e i l a n d s . D a m i t v e r l a g e r t e sich f ü r die G l ä u b i g e n d e r S c h w e r punkt v o m E m p f a n g zur H o s t i e zu deren verehrender Schau.95 D e r v e r ä n d e r t e U m g a n g m i t d e r Eruv - M a z z a - ihre ö f f e n t l i c h e Z u r s c h a u s t e l l u n g in d e r S y n a g o g e - w u r d e v o n C h r i s t e n w a h r g e n o m m e n u n d g e d e u t e t , die n i c h t u m d e n h a l a c h i s c h e n H i n t e r g r u n d w u s s t e n , s o n d e r n a n tichristliche Intentionen vermuteten. Eine erste N a c h r i c h t darüber findet sich i m M i n h a g - B u c h v o n R . S c h a l o m N e u s t a d t (an d e r W e n d e z u m 1 4 . J h . ) . R . S c h a l o m g e h ö r t e n o c h z u d e r G e n e r a t i o n v o n R a b b i n e n , die g e g e n die A u f b e w a h r u n g d e r Eruv - M a z z a in d e r S y n a g o g e p l ä d i e r t e n . D a f ü r g i b t er z w e i G r ü n d e an: D e r eine ist h a l a c h i s c h e r A r t , die S y n a g o g e ist n ä m l i c h k e i n O r t , w o L e u t e s c h l a f e n o d e r e s s e n , a l s o k e i n W o h n h a u s , d e r a n d e r e ist ein k o n k r e t e r F a l l , d e r sich e r e i g n e t h a t t e : „ E s k a m e i n m a l v o r , d a s s ein A p o s t a t in B e z u g a u f die Eruv - M a z z a , B o s h e i t ' v e r b r e i t e t e " 9 6 - u n d w e l c h e r A r t d i e s e B o s h e i t w a r , ist n i c h t s c h w e r z u e r r a t e n . E r d ü r f t e b e h a u p t e t h a b e n , die J u d e n h ä n g t e n die M a z z a , d a s S y m b o l d e r E r l ö s u n g , an die W a n d , u m ihre V e r a c h t u n g g e g e n ü b e r J e s u s z u m A u s d r u c k z u b r i n g e n u n d a u f d e s s e n K r e u z i g u n g z u P e s s a c h a n z u s p i e l e n . S o w u r d e d e r B r a u c h , die H o f g e m e i n s c h a f t d u r c h eine ö f f e n t l i c h z u g ä n g l i c h e M a z z a z u s t i f t e n , z u r B e s t ä t i g u n g d e s c h r i s t l i c h e n V o r w u r f s d e r H o s t i e n s c h ä n d u n g , u n d die S o r g e v o r e t w a i g e r s o l c h e r D e u t u n g b e w o g R . S c h a l o m d a z u , die Eruv - M a z z a b e i sich z u H a u s e z u v e r w a h r e n . A u c h w e n n die f o r m a l e Ä h n l i c h k e i t z w i s c h e n Eruv - M a z z a u n d H o s t i e r e i n e r Z u f a l l w a r , w u r d e d e r j ü d i s c h e B r a u c h v o n C h r i s t e n als a n t i c h r i s t l i c h e P r o v o k a t i o n a u f g e f a s s t . N i c h t g e n u g d a m i t , d a s s die J u d e n a m V o r t a g v o n P e s s a c h ö f f e n t l i c h S a u e r t e i g v e r b r e n n e n , sie h ä n g e n in ihrer S y n a g o g e a u c h n o c h d i e M a z z a a u f , d a s m u t m a ß l i c h e S y m b o l d e s Corpus Christi. E i n w e i t e r e r F a l l e r e i g n e t e sich i m J a h r e 1510. D i e J u d e n v o n B r a n d e n burg wurden der H o s t i e n s c h ä n d u n g bezichtigt und f e s t g e n o m m e n , unter i h n e n a u c h die J u d e n v o n S p a n d a u u n w e i t B e r l i n . 9 7 E i n e r d e r A n g e k l a g t e n g e s t a n d u n t e r d e r F o l t e r , die H o s t i e an die S y n a g o g e n w a n d g e h ä n g t z u hab e n , w o sie a u c h g e f u n d e n w u r d e . E i n w e i t e r e r F a l l ist 1 5 1 5 in F r a n k f u r t b e l e g t ; 9 8 E i n g e t a u f t e r J u d e g a b b e k a n n t , eine V i e r t e l h o s t i e h ä n g e in d e r S y n a -

95 P. Browe, Die Verehrung der Eucharistie, München 1933; C.W. Bynum, Holy Feast and Holy Fast, London 1987, 53-55. " Hilchot uMinhage Rabbenu Schalom miNeustadt, S. Spitzer (Hg.), Jerusalem 1977, § 263. " A. Maimon/M. Breuer/Y. Guggenheim (Hg.), Germania Judaica, III/2, Tübingen 1995, 1382-1384. 98 A. Maimon/Y. Guggenheim (Hg.), Germania Judaica, III/l, Tübingen 1987, 368.

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

goge an der Wand; so kam der Verdacht der Hostienschändung auf, und der Stadtrat ordnete eine Durchsuchung des Ghettos an. Ungeachtet der halachischen Bedenken und der damit verbundenen Gefahren wurde die Eruv-Mazza weiterhin in der Synagoge an die Wand gehängt. Ob wohl bei der halachischen Regelung der Hofgemeinschaft auf jüdischer Seite verdeckte antichristliche Neigungen mitgespielt haben? Belegt ist eine solche jüdische Auffassung des Brauchs nirgends, aber der Historiker muss das symbolische Potential in Betracht ziehen, das durch das Gegenüber von Kruzifix an der Kirchenwand und durchbohrter Mazza an der Synagogenwand aktiviert worden sein könnte.

4

Afikoman

Zu Anfang des Seder-Abends nimmt der Familienvater drei Mazzot und bricht die mittlere davon entzwei. Die beiden Hälften wickelt er in ein Tuch und verbirgt sie bis zum Ende der Mahlzeit. Kurz bevor die Mahlzeit abgeschlossen ist, kommt die gebrochene Mazza wieder auf den Tisch und wird feierlich verspeist. Danach trinkt man den dritten Becher Wein, spricht „gieß aus deinen Grimm", schenkt den vierten Becher ein, der für die endzeitliche Erlösung steht, und macht dem Propheten Elia die Tür auf. So bezeichnet die Afikoman -Mazza den Höhepunkt der Sederfeier als Symbol der Erlösung, daher muss sie vor Mitternacht gegessen werden, denn um Mitternacht zog Gott durch Ägypten, schlug die ägyptische Erstgeburt und errettete die israelitische." Nach der Afikoman -Mazza darf nichts mehr gegessen werden, denn sie steht nicht nur für die künftige Erlösung, sondern gilt auch als Reminiszenz an das Fleisch des Pessach-Lamms, das verzehrt wurde, nachdem die Mahlteilnehmer bereits gesättigt waren. Demnach war der Symbolgehalt der Afikoman -Mazza von komplexer Art. Der früheste Beleg dafür ist das Verbot der Mischna, ,nach dem Pessach mit einem Afikoman zu schließen'. 100 Was immer die Bedeutung dieser Vokabel gewesen sein mag, 101 dürfte das Verbot, mit .Afikoman' zu .schließen' (wobei dieses Verb auch .entlassen', .verabschieden' bedeuten kann), im Talmud dazu bestimmt gewesen sein, dem Verzehr des Pessach-Opfers den Status des krönenden Abschlusses zu verleihen. 102 Demnach war der " L.A. Hoffman, A Symbol of Salvation in the Passover Haggadah, in: Worship 53 (1979), 510-537.

100 M Pessachim X 8.

Dazu ausführlicher im Folgenden. Auffällig ist die rituelle und terminologische Ähnlichkeit des frühen Afikoman als förmlicher Abschluss des Opfermahls (Abschluss im Sinne von Entlassung, Abschied) und der christlichen missa, die in den ersten Jh. die Entlassung der Gläubigen aus dem Gottesdienst be101

102

Afikoman

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Afikoman etwas, das nicht gegessen werden sollte. Im Mittelalter kippte die Bedeutung dann um, dergestalt dass aus einem nicht zu vollziehenden Akt ein feierlich vollzogener wurde. So wurde die am Ende der Mahlzeit zu essende Mazza, nach der nichts anderes mehr gegessen werden darf, zum Afikoman selbst, d.h. zum Ersatz für das Pessach-Opfer. In seiner geschichtlichen Entwicklung erweist sich der Afikoman somit als ein komplexes Zeremoniell mit verschiedenen Bedeutungen, wobei das entscheidende Stadium das ist, wo er zum Ersatz für das Pessach-Opfer wurde. 103 Damit war die Afikoman-Mazza phänomenologisch zu einer Art jüdischer Hostie geworden. Warum drei Mazzot genommen werden, von denen die mittlere zum Afikoman wird, ist unklar. 104 Im Talmud ist nur von einer Mazza die Rede, und als Begründung für deren Halbierung wird angegeben, dies sei die Weise des Armen, der die zweite Hälfte für die nächste Mahlzeit aufspare. 105 Im 13. Jh. schrieb R. Isaak von Wien, nach dem babylonischen Talmud seien keine drei Mazzot erforderlich, und der Jerusalemer Talmud verlange zwei. 106 Die einschlägige aschkenasische Literatur bietet eine Fülle von Erklärungen für diesen Brauch. Was uns hier interessiert, ist die Rezeption jüdischer Bräuche durch die christliche Umwelt. Und da ist der Apostat Johannes Pfefferkorn, der in den drei Mazzot einen Hinweis auf die Trinität findet; da die Afikoman -Mazza die mittlere ist, stehe sie für den Sohn. 1 0 7 In jüdischen Ohren klingt diese Erklärung weit hergeholt und höchst unwahrscheinlich, aber wir müssen damit rechnen, dass Pfefferkorn womöglich durch Beobachtung der Analogie zwischen den drei Mazzot beim jüdischen

zeichnet: Der Bischof erteilte den Anwesenden seinen Segen, und sie küssten ihm die Hand. Später wurde die Bezeichnung missa von diesem Verabschiedungszeremoniell auf die Feier der Eucharistie, d.i. das Opfermahl, übertragen. Demnach wäre die Analogie von Eucharistie und Afikoman sehr alt. Vielleicht ist dies der Sinn des mischnischen Verbots, ,nach dem Pessach mit Afikoman zu schließen', d.i. das Opfermahl mit der Abschiedszeremonie des .Afikoman' zu beschließen, die im feierlichen Verzehr der Afikoman -Mazza bestand. Das rabbinische Verbot wäre somit als Aufhebung dieser Zeremonie zu verstehen, weil diese bei den Christen durch das letzte Abendmahl und die Eucharistie mit konkurrierender Bedeutung geladen war. Im christlichen Bereich ist missa noch im 4. Jh. als Verabschiedungszeremoniell belegt; dazu O. Limor, Travels in the Holy Land: Christian Pilgrims in Late Antiquity (hebr.), Jerusalem 1998, 89 Anm.213. Zur Bedeutung von Afikoman als .Verabschiedung' s. auch im historischen Wörterbuch der hebräischen Sprache von E. Ben-Jehuda, X , 4900. 103 Ta-Shma, Ritual/Custom (s.o. Anm.89), 239. Als Erster hat R. Samuel b. Mei'r (Raschis Enkel, 1. Hälfte 12. Jh.) den Afikoman als Erinnerung an (oder Ersatz für) das Fleisch des Pessach-Opfers betrachtet; dazu J . Tabory, The Passover Ritual Throughout the Generations (hebr.), Tel Aviv 1996, 122-130. 104 Ta-Shma, ebd., 260-270; Tabory, ebd., 287-305. 105 b Pessachim 115b. 104 Orsarua (s.o. Anm.67), II, § 251. 107 H.M. Kirn, Das Bild vom Juden im Deutschland des frühen 16. Jh., Tübingen 1989, 47.

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U m k e h r u n g des Rituals: H o s t i e vs. M a z z a

Seder und dem christlichen Brauch, die Hostie in drei Teile zu brechen, zu dieser Deutung gelangt ist. 1 0 8 Auch der Apostat Victor von Karben geht auf diesen Punkt ein; wie er die Austeilung des Afikoman schildert, erinnert tatsächlich an die christliche Kommunion: s o n i m b t er den k u o c h e n / d a r v o n er vor g e b r o c h e n hat / den sye g a n t z f ü r H e y l i g achten / verbirget den heymlich in ein rein t u o c h / auff das in n y e m a n d t w i s s e n n o c h anrueren soll / allein der H a u ß v a t t e r / v o r g r o s s e m H e y l i g e n g e b e t t / das all u m s i t z e n d e o b d e m tisch t h u o n / in welichem sye G o t t d a n c k b a r seind / d z er sie a u ß E g y p t e n erlößt hat / u n n d t h u o n die thür weit auff / u n d bitten G o t t das er in den rechten M e s s i a s bald u n n d in irem leben senden soll [ . . . ] So n u n also alle g e b e t t mit der malzeit g e e n d e t ist / u n n d sye sich alle w o l satt g e s s e n u n n d get r u n c k e n h a b e n / s o n i m b t der haußvatter d z v e r b o r g e n s t u c k des k u o c h e n s / s o er v o r in [ . . . ] reine tüchern behalten hatt / wider h e r f ü r mit g r o s s e r a n d a c h t / bricht d a r v o n / u n d gibt y e d e m u m b s i t z e n d e n ein kleyn stücklin / d a r v o n z u o essen [ . . . ] . 1 0 9

Und in der Fortsetzung bemerkt Victor ausdrücklich: .gleicher weiß wir Christen dz Sacrament empfangen'. Von der messianischen Bedeutung und Heiligkeit des Afikoman spricht auch der Apostat Antonius Margarita: daß v e r b o r g e n e S t ü c k essen sie / biß das daß g a n t z e N a c h t e s s e n / u n d G e s a n g vollendet ist / u n d zwar mit g r o s s e r Heiligkeit u n d A n d a c h t / m e r c k e n eben / das keiner ein B r ö s a m l e i n auff die E r d e n / in den B a r t / o d e r a n d e r s w o hinfallen lasse / u n d sagen das sie diesen halben K u c h e n [ = M a z z a ] an statt des O s t e r - L e m l e i n s essen / und d a r u m b verbergen / daß er ein Zeichen sey a u f f ihren M o s c h i a c h / d e s s e n Z u k u n f t v o r ihnen auch v e r b o r g e n u n d heimlich s e y . 1 1 0

Apostaten gelten als nicht sonderlich glaubwürdig, deshalb muss hier ausdrücklich bemerkt werden, dass die bei Victor von Karben bzw. Antonius Margarita angeführten halachischen Fakten durch die zeitgenössische Minhag -Literatur voll und ganz bestätigt werden. So schreibt Juspa Hahn, der Rabbiner von Frankfurt, in seinem Werk Jossef Omez: „Beim Essen des Afikoman halte man die Hand unters Kinn und unter den Mund, um etwa aus dem Mund fallende Krümel aufzufangen und noch zu essen, weil die Mazza lieb und wert ist." 1 1 1 Bei den aschkenasischen Juden war das Essen des Afikoman somit zu einer heiligen Handlung geworden. Ähnlich wurde mit Krümeln von bröckelnder Hostie verfahren. 112 Ist die Analogie, die Victor von Karben zwischen dem Verzehr des AfikoRealencyklopädie, s.v. Palmsonntag (s.o. A n m . 19), X X I , 425. Victor von Karben, J u d e n Büchlein, o . O . 1550, III 17. 110 Antonius Margarita, Der gantz Jüdisch Glaub, F r a n k f u r t / M . 1689, 54. 111 J u s p a H a h n Nördlingen, Sefer Jossef Omez, F r a n k f u r t / M . 1928, § 774, 170. 112 M. Rubin, C o r p u s Christi. The Eucharist in Late Medieval Culture, C a m b r i d g e 1991, 43: „Auch die Brosamen der H o s t i e galten als wertvoll, daher wurde darauf geachtet, dass sie den Empfängern der K o m m u n i o n nicht aus dem M u n d fielen." 108

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man und der christlichen Kommunion beobachtet, ein Versuch des Apostaten, jüdisches Ritual mit christlichen Begriffen zu erklären? Mir scheint, hier hat sich ein Jude die christliche Ritualsprache angeeignet. Die Christen essen das ganze Jahr über Mazza, jeweils bei der Kommunion, Juden dagegen nur einmal im Jahr, zu Pessach. Die Aussage von Margarita, der Afikoman stehe für den Messias, „dessen Zukunft vor ihnen auch verborgen und heimlich sey", geht zusammen mit der Bezeichnung des Afikoman in der aschkenasischen Haggada als Zafun (der/das Verhüllte). 113 Als .verhüllt' wird der Messias auch in der apokalyptischen Literatur vor seiner Offenbarung bezeichnet. Im Sefer Serubavel zeigt der Engel dem Seher den davidischen Messias, wie er in Rom sitzt, und sagt zu ihm: „Das ist der Messias (der Gesalbte) des Ewigen, der hier verhüllt ist bis zur Endzeit". 1 1 4 Auch in Werken, wo jüdisches Brauchtum begründet wird, finden wir ausdrückliche Bezugnahme auf den Afikoman als Symbol des Messias. Im 17.Jh. schrieb der Kabbaiist Chaim b. Abraham haCohen, das Essen des Afikoman „verweise auf das künftige Festmahl, das der Heilige gelobt sei er für die Gerechten bereiten wird", und dies sei auch der Grund, weshalb der Afikoman zu Beginn der Mahlzeit verhüllt werde, da die Erlösung noch verhüllt sei. 1 1 5 Auch Victor von Karben macht sich lustig über die Juden seiner Zeit, die glaubten, je mehr Afikoman sie äßen, desto mehr Leviathan würden sie beim messianischen Festmahl zu essen bekommen. 1 1 6 Diese Kritik findet sich auch bei einem jüdischen Zeitgenossen, dem polnischen Gelehrten R. Jakob Kitzingen in seiner Abhandlung Cbag baPessach (das Pessach-Fest): G i b nichts auf jene Toren, die sagen: „Soviel Afikoman ich esse, soviel w e r d e ich dereinst v o m Leviathan erhalten", und daraufhin ein großes S t ü c k A f i k o m a n nehm e n und es g e w a l t s a m in sich h i n e i n s t o p f e n , wie m a n ein K a m e l m ä s t e t , s o dass ihnen schlecht wird u n d sie sich ü b e r g e b e n , und das o b w o h l sie sich z u v o r s c h o n r u n d u m s a t t g e g e s s e n hatten. D i e s e s ihr Verhalten ist u n g e b ü h r l i c h , u n d sie werden d a f ü r z u r R e c h e n s c h a f t g e z o g e n werden, denn d a d u r c h wird ein göttliches G e b o t verächtlich g e m a c h t ; d e s h a l b soll m a n nicht mehr als eine O l i v e n g r ö ß e (Afikoman) essen, w e n n man keinen A p p e t i t m e h r h a t . 1 1 7

Hier haben wir einen weiteren Beleg für die Glaubwürdigkeit von Apostaten in Bezug auf jüdisches Brauchtum. Einer von jenen ,Toren' war offenbar der Tossafist, der in einer Anmerkung zur Pessach-Haggada schrieb: „ich habe gehört, dass der Seder von Pessach dem Festmahl entspricht, das 1 , 3 In den Responsen des MaHaRSchaL (s.o. Anm.55), § 88, heißt es: „er nehme den Beigesetzten ( Tamun ), d.i. den Afikoman, heraus, wie er ins Tuch gewickelt ist". 114 A. Jellinek, Bet haMidrasch, II, Leipzig 1853, 56. 115 Chaim b. Abraham haCohen, Tur Bareqet, Amsterdam 1653-4, § 477, fol. 83b. > " Juden Büchlein (s.o. Anm. 109), III 21, 266. 117 Chag baPessach, Krakau (1597), fol. 21b; dazu D. Tamar, Calculations of the End in the W o r k Hagha-Pesah (hebr.), in: Sinai 100 (1987), 931-935.

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uns dereinst erwartet [...] und der Afikoman, den man am Ende isst, entspricht dem Leviathan". 118 So betrachtet erhalten die Details der Zeremonie einen neuen Sinn: die Umhüllung der messianischen Mazza mit einem Tuch, ihre Verwahrung an einem verschlossenen Ort, ihre Wiederauffindung gegen Ende der Mahlzeit, ihre Verteilung durch den Hausherrn an die Mahlteilnehmer und ihr Verzehr. Möglicherweise enthält auch das weiße Totengewand (der .Kittel'), den der Leiter des Seders trägt, einen Hinweis auf die Totenbinden, ähnlich wie der Afikoman vor seiner Auffindung mit einem weißen Tuch umhüllt ist. 119 In phänomenologischer Hinsicht bestehen frappierende Übereinstimmungen zwischen dem, was im Verlauf des Seders mit dem Afikoman gemacht wird, und Jesu Tod: Er wird mit Totenbinden umhüllt, an einem geschlossenen Ort verwahrt, bis zu seiner Auferstehung am Ostersonntag. Die Vorstellung des Apostaten Pfefferkorn, hinter dem jüdischen Zeremoniell stehe der Wunsch, dem Narrativ von Jesu Tod eine Alternative entgegenzustellen, ist wohl zu weit hergeholt. Eher dürfte das jüdische Ritual sich gewisse Elemente angeeignet haben, die zum Umgang mit messianischem Brot gehörten. Auf jüdischer Seite ist die Sprache des christlichen Rituals übernommen worden. Dabei scheint allerdings ein alternatives messianisches Narrativ auf. Spuren dieser Verbindung sind im Umgang mit der Hostie im Lauf der Karwoche zu beobachten. Am Gründonnerstag werden zwei Hostien geweiht, nicht nur eine wie sonst. Die eine davon wird vom Priester an die Kommunion-Teilnehmer verteilt, die andere wird feierlich in einen Nebenraum geleitet, wo sie in einem verschlossenen Kasten oder in einem Kelch aufbewahrt wird bis zur Messe des folgenden Tages. Am Karfreitag wird keine Hostie geweiht, vielmehr nimmt man die Hostie vom Vortag, setzt sie in einem Grab (sepulcmm) bei und verhüllt sie mit einem Tuch (sudarium)-, diese Zeremonie heißt depositio. Dort liegt die Hostie bis zum Sonntagmorgen, dann wird sie herausgeholt und auf den Altar gelegt (elevatio); so wird Jesu Auferstehung veranschaulicht und nachvollzogen. Die frühesten Nachrichten über den Vollzug dieses Rituals in der west-

118 Seder Tossefot haschalem: Ozar Perusche Baale baTossefot al Haggada schel Pessach, J. Gellis (Hg.), Jerusalem 1989, 2. Ein ähnlicher Gedankengang steht offenbar hinter einer etwas eigenartigen Bemerkung eines Tossafisten zu Ex 16,32: „auf dass sie das Brot sehen" - die Anfangsbuchstaben dieser W ö r t e r ergeben den Namen Elia, denn es wird aufbewahrt, bis Elia kommt, d.h. dass Manna solle erhalten bleiben, so dass die Israeliten es noch zur Endzeit sehen könnten (J. Gellis (Hg.), Jerusalem 1988, z.St.). Eine solche Vorstellung passt zu einem aschkenasischen Gelehrten, in dessen christlicher Umgebung man messianisches Brot zu sehen bekommt, nämlich die Monstranz (den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Prof. M. Idel). 119 Im selben Werk des R. Jakob Kitzingen steht zu lesen: „Er kleide sich in Gewänder der Finsternis, d.h. Gewänder von Toten, die im Staub, in Finsternis und Todesangst wohnen, das ist es, was auf deutsch .Kittel' heißt" - Chag haPessach (s.o. Anm. 117), fol. 15b.

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liehen Kirche stammen aus dem zehnten J h . 1 2 0 Wenn wir davon ausgehen, dass diese Bräuche auf die entsprechenden jüdischen Symbolhandlungen eingewirkt haben, lässt sich die Symbolik des Umgangs mit dem Afikoman, wie sie sich speziell im aschkenasischen Kulturbereich herausgebildet hat, entschlüsseln. Seine Umhüllung und Aufbewahrung an einem verschlossenen O r t ist natürlich nicht als direkte Ü b e r n a h m e der Vorgänge um J e s u Tod aufzufassen; solche Analogien müssen vermittelt sein, und zwar durch die zeremonielle Grablegung der H o s t i e am Karfreitag. D i e Christen sahen in der H o s t i e den Leib Jesu, bei den Juden liegt hier eine indirekte Beeinflussung vor durch ein Ritual, das auf uralte gemeinsame Wurzeln zurückgeht. D i e Ähnlichkeit zwischen dem Status des Afikoman in der jüdischen Seder-Nacht und dem der H o s t i e in der christlichen Messe stammt aus der gemeinsamen dramatischen Grundlage der beiden Rituale. Laut Karl Young soll die Liturgie der Eucharistie das Passionsgeschehen weder darstellen noch schildern noch verewigen, sondern nachvollziehen. 1 2 1 Eine entsprechende Definition gilt auch für die Vorgänge der Seder-Nacht. In der Pessach-Haggada heißt es: „In jeder einzelnen Generation soll der Mensch sich selbst so betrachten, als ob er aus Ägypten gezogen wäre", und allerlei Bräuche der Seder-Nacht sind darauf angelegt, das Drama des Exodus zu veranschaulichen und nachvollziehbar zu machen. D i e äußerliche Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Etappen des U m gangs mit dem Afikoman und dem Ritual der H o s t i e lässt auf einen verdeckten Dialog schließen, deckt allerdings auch die polemische Auseinandersetzung auf, denn der jeweilige K o n t e x t des Rituals ist in den beiden Religionen völlig verschieden. Was hier vorliegt, ist eine gemeinsame Sprache, in der gegensätzliche Inhalte artikuliert werden. N o c h ein weiterer Brauch deutet auf sprachliche Gemeinsamkeiten zwischen einer christlichen und einer jüdischen Zeremonie hin. In der 2. Hälfte des 1 7 . J h . erwähnt R. Abraham Gumbiner, der Verfasser von Magen Abraham, den Brauch, „ein Stück des Afikoman zu durchstechen und aufzuhängen". 1 2 2 Gumbiners Aussage wirft Licht auf eine Stelle bei V i c t o r von Karben an die zweihundert Jahre davor:

120 Realencyklopädie, s.v. Palmsonntag (s.o. Anm. 19), X X I , 424; K. Young, The Drama of the Medieval Church, I, Oxford 1933, 112-148; Rubin, Corpus Christi (s.o. Anm. 112), 294-297.

Ebd., 84. Magen Abraham zum Schulchan Aruch, Orach Chajim, § 500,7. Und in der Responsensammlung des R. Jakob Reischer, Schevut Jakob, III, Lemberg 1896, Frage 22, steht zu lesen: „Und schon lange habe ich bei meinen Lehrern und Vorfahren gesehen, dass man so verfährt; das ist keine Verunglimpfung des biblischen Gebots, sondern eine Erinnerung an den Auszug aus Ägypten". 121

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

A u c h s o m a c h e n sye [ = d i e J u d e n ] inn jhren heüßern ein g r o s s e n s c h w a r t z e n flecken / an ein weiss Wandt gegen der thür ü b e r / uff das sye in alle j u n g u n d alt sehen m ö g t e n / u n d jres G o t t s u n d T e m p e l s nit v e r g e s s e n t / d a r z u o sye auch ein s o n d e r l i c h gebett haben / auch s o bachen sye a u f f jr O s t e r n ein M a t z e n k u o c h e n auß u n g e h e f f e l t e m teig / der dann gesegnet / u n d über den s c h w a r t z e n flecken genagelt wärt z u o r g e d e c h t n ü ß G o t t e s [ . . . ] 1 2 3

Das Hängen der Mazza an die ungetünchte Wand ist eine Vereinigung von gegensätzlichen Symbolen: Die Mazza steht für die Erlösung, das unverputzte Stück Wand für die Zerstörung. Mit dem Ausdruck .nageln' erweckt Victor von Karben den Eindruck, als vollzögen die Juden eine Art neuerliche Kreuzigung, ,zum Gedächtnis Gottes'. Der bei Victor von Karben angedeutete messianische Kontext passt zur Afikoman -Mazza, nicht zur Eruv Mazza, die zwar auch vor Pessach an der Rückwand der Synagoge aufgehängt wurde, aber keinerlei messianische Konnotationen hatte. Das hier geschilderte Ritual verstärkt die Vermutung, dass die Stellung des Afikoman in der spätmittelalterlichen aschkenasischen Gesellschaft vom Status der Hostie in der Kommunion beeinflusst war. Und wenn wir die Geschichte des Afikoman einerseits und die der Hostie andererseits zurückverfolgen, stoßen wir in der Tat auf frühe Ähnlichkeit. I Kor 11,26 weist Paulus die Mitglieder seiner Gemeinde an: „Denn so oft ihr von diesem Brot esset und von diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herrn Tod verkündigen, bis dass er kommt". Demnach sollten das Essen des heiligen Brotes und das Trinken des heiligen Weins bei der Eucharistie an Jesu Tod erinnern und auf seine erwartete Wiederkunft hindeuten. Und genau das ist der etymologische Hintergrund der Vokabel Afikoman'-. nicht griechisch epikomion, Trinkgelage, nach der traditionellen jüdischen Auslegung, sondern aphikomenos, ,der da kommen soll', wie schon Robert Eisler und David Daube dargelegt haben. 124 Das Essen des Afikoman bezeichnete demnach die Hoffnung auf das künftige Erscheinen des Messias, nach der bekannten Regel: „Im Nissan wurden sie erlöst, und im Nissan sollen sie dereinst erlöst werden". Daraufhin lässt sich vielleicht eine neue Deutung für das rabbinische Verbot, das Sedermahl nicht mit,Afikoman' zu beschließen, anbieten: Angenommen, das Essen der Mazza hat messianische Bedeutung, wie aus Jesu Worten beim letzten Abendmahl hervorgeht, dann war das rabbinische Verbot vielleicht dazu bestimmt, das Essen der AfikomanMazza (Symbol für die Hoffnung auf die künftige Erlösung) nicht vom Pessach-Opfer (Erinnerung an die vergangene Erlösung aus Ägypten) zu trennen. Jedenfalls ist es durchaus wahrscheinlich, dass dieses Verbot mit der jüVictor von Karben, Juden Büchlein (s.o. Anm. 109), III 14. R. Eisler, in: Z N W 24-25 (1925-26); D. Daube, H e That Cometh, London 1966, 1-20; überzeugend zusammengefasst bei D. Carmichael, David Daube on the Eucharist and the Passover Seder, in: J S N T 42 (1991), 45-67. S. auch oben, am Ende von Kapitel II. 123 124

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dischen antichristlichen Polemik des 2. nachchristlichen Jh. zusammenhängt. Wenn dem so wäre, hätte die neuerliche messianische Funktion des Afikoman bzw. der Hostie eine gemeinsame, uralte Wurzel, und auf diesem Hintergrund wäre die Entwicklung des jüdischen Rituals im Mittelalter zu verstehen. Die ersten Zeugnisse über die Heiligkeit, die der Afikoman-Mazza neuerdingt beigelegt wurde, stammen aus dem frühen 12.Jh.; 1 2 5 möglicherweise hat hier die kirchliche Kontroverse um das Wesen der Eucharistie einen Niederschlag gefunden, die mit der Erhebung der Transsubstantiationslehre zum Dogma zu Beginn des 13.Jh. entschieden wurde. Vielleicht gehört in diesen Zusammenhang die abweichende Lesart von der Eröffnung des Seder-Abends: „Wie jenes Brot der Armut" und nicht „Dies ist das Brot der Armut". 1 2 6 Ist aus diesem Schwanken des Wortlauts der Nachhall eines Streits um den Status des jüdischen ,Brots der Armut' zu vernehmen, ob die Mazza selbst das Brot der Armut sei oder nur dessen Sinnbild, ,etwas wie' das Brot der Armut? Wie dem auch sei, im 12.Jh. tritt ein altes messianisches Symbol erneut in Erscheinung, das ein Jahrtausend zuvor in der Versenkung verschwunden schien. War dies eine Auferstehung, ausgelöst durch das christliche Symbol der Hostie? Oder hatte das jüdische Symbol die tausend Jahre sozusagen im Untergrund weiterexistiert? Ist die spätere talmudische Ableitung des .Afikoman' vom griechischen epikomion, einem ausschweifenden Gelage mit Wechsel von einer feiernden Gruppe zur andern, zustandegekommen, weil die ältere messianische Bedeutung vergessen war oder vergessen werden sollte? Dies sind Fragen, die der Beantwortung harren. Die Deutung des Afikoman aus dem christlichen Ritual seiner Umwelt heraus macht die darin enthaltene Spannung verständlich. Es handelt sich um einen Dialog gegenseitiger Auslegung, wobei nur die Spitze des Eisbergs aus den schriftlichen Quellen zur Halacha erkennbar wird. Die Sprache des Rituals ist eine in sich geschlossene und kohärente, mit eigener Syntax und eigenen Regeln, die scheinbar aus sich heraus verständlich sind. Sie gibt ihre Inhalte und Absichten nicht ausdrücklich bekannt. Religiöse Symbole sind, laut C.G. Jung, Ausdruck des kollektiven Unterbewussten; daher ist ein Ri-

125 Maasse haGeonim, Epstein (Hg.), Berlin 1910, 22; aus diesem Werk geht hervor, dass der Afikoman im 11.Jh. noch nicht als das Kernstück des Abends galt. Dort wird berichtet, R. Kalonymus der Altere habe an einem Seder-Abend vergessen, den Afikoman zu essen; erst nach dem Tischgebet sei es ihm wieder eingefallen, doch habe er die Mahlzeit nicht wiederaufgenommen, um ihn noch zu essen. In dem Kreis um Raschi wird diese Episode über einen nicht namentlich genannten .Rabbi' erzählt (Machsor Vitry, Jerusalem 1963, 286 und Parallelen). 126 Dazu Kasher, Haggada scbelema (s. o. Anm. 49), 5; J . H . Yerushalmi, Zakhor, Seattle 1982, 118 Anm. 28 meint, die Partikel ,wie' hier sei der kleinliche Zusatz eines Lesers, dem die völlige Gleichsetzung der modernen Mazza mit dem antiken .Brot der Armut' unerträglich schien.

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

tual ein raffiniertes und überaus komplexes polemisches Werkzeug, das sich schwer entschlüsseln lässt. Allerdings ist nicht jedes Ritual schon deshalb polemisch, weil es in polemischer Situation entstanden ist; vielleicht soll es auch die Sprache des Gegners verinnerlichen, wie im Fall des Afikoman der ins Judentum heimgeholten Hostie. Auf eine ähnlich gelagerte Erscheinung hat I. Marcus in seinem Buch über die Einführung jüdischer Schulkinder ins traditionelle Lernen hingewiesen, wobei man den Kindern mit Honig bestrichene gebackene Buchstaben des hebräischen Alphabets zu kosten gibt. 127 Er macht auf die visuellen und thematischen Übereinstimmungen aufmerksam zwischen dem Essen der Buchstaben der Tora, des corpus Dei nach jüdischer Auffassung, und dem Genuss der Hostie, des corpus Christi in den Augen der Christen.

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Charosset

Zur Erhellung des Symbolgehalts der Charosset, einer erdfarbenen Mischung aus Nüssen und rotem Wein, die an die Fronarbeit der Israeliten in Ägypten erinnern soll, müssen wir zunächst eine Reihe von Midrasch-Texten über die Knechtschaft der Israeliten in Ägypten und ihre Befreiung daraus vorstellen. In einer späten Midrasch-Sammlung ist die Geburt des Mose folgendermaßen beschrieben: Z u r Stunde, da M o s e s M u t t e r s c h w a n g e r wurde, sah der böse P h a r a o im T r a u m ein M u t t e r s c h a f n i e d e r k o m m e n und ein L a m m gebären; dann sah er eine Waage aufgehängt zwischen H i m m e l u n d E r d e , m a n b r a c h t e das L a m m und legte es auf die eine Wagschale, brachte das ganze G o l d u n d Silber v o n Ä g y p t e n , m a n fügte n o c h weiteres hinzu, aber das L a m m w o g alles auf. A m M o r g e n sandte P h a r a o hin, b r a c h t e alle seine Z a u b e r e r u n d Weissager z u s a m m e n u n d erzählte ihnen sein e n T r a u m . Sie sprachen zu ihm: D a s M u t t e r s c h a f , das du hast n i e d e r k o m m e n sehen - das ist ein Volk, das sich in Ä g y p t e n befindet, u n d das L a m m , das g e b o r e n das ist ein Sohn, der daraus h e r v o r g e h e n soll, der wird dereinst Ä g y p t e n v e r w ü s ten, und er wird die L ä n d e r j e n e m Volk u n t e r w e r f e n . 1 2 8

Die Ubereinstimmungen zwischen dieser Aggada und Jesu Geburtsgeschichte sind unverkennbar. Moses Mutter Jocheved entspricht Maria, das niederkommende Mutterschaf erinnert an die Krippe, in der das Jesuskind gelegen haben soll, das Lamm an das Agnus Dei, eine Bezeichnung Jesu, der hier durch den neugeborenen Erlöser repräsentiert ist, nämlich Mo127 I.G. Marcus, Rituals of Childhood. Jewish Acculturation in Medieval Europe, New Haven 1996. 128 Midrasch hagadol zu Ex, M. Margulies (Hg.), 22 f.

Charosset

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se; der Pharao entspricht Herodes, und er lässt die Neugeborenen in den Nil werfen, nicht um die natürliche Vermehrung der Israeliten zu reduzieren (wie nach der biblischen Erzählung), sondern um Mose, den Erlöser Israels, zu töten, 1 2 9 was wiederum dem Bethlehemer Kindermord entspricht. 1 3 0 Berührungspunkte zwischen der jüdischen und der christlichen Erzählung sind auch in dem folgenden Midrasch zu erkennen: „ D a starb der K ö n i g v o n Ä g y p t e n " - er b e k a m A u s s a t z , und Aussätzige gelten als tot. „ D a seufzten die Israeliten" - Weshalb seufzten sie? Weil die Wahrsager Ä g y p t e n s g e s p r o c h e n hatten: , E s gibt keine H e i l u n g für dich, es sei denn, du lässt m o r g e n s und abends je 1 2 0 israelitische K i n d e r t ö t e n und badest zweimal täglich in deren B l u t . ' Als die Israeliten das h ö r t e n , so ein schweres Verhängnis, da begannen sie zu seufzen und zu klagen [ . . . ] . D a geschah ihnen ein W u n d e r , und er wurde v o n seinem A u s s a t z geheilt. 1 3 1

Diese Aggada kann als jüdische Version der bekannten Silvester-Legende gelten, die allem Anschein nach vom Ende des 4. Jh. stammt. 1 3 2 Die christliche Legende lautet in groben Zügen, wie folgt: Kaiser Konstantin wurde

, 2 ' Dieses Motiv für Pharaos Befehl findet sich bereits bei Josephus, Ant II, 2 0 5 - 2 0 9 , und die Erzählung bei Mt beruht sicherlich auf dieser Uberlieferung. Dazu W . D . Davies, Commentary on Matthew, Edinburgh 1988, 192f mit Sekundärliteratur zu den jüdischen Quellen, die dem Bericht bei Mt zugrundeliegen. 150 Targum Jonathan (zu Ex 1,15) bringt eine nahezu identische Version, die nur um ein geringfügiges Detail bereichert ist: Pharaos Hofzauberer heißen Jannes und Jambres, ein Paar, das in christlichen und jüdischen Quellen häufiger erwähnt ist (s. etwa 2 Tim 3,8). 131 E x R I 34, A. Shinan (Hg.), Jerusalem 1984, 99f. 132 Gedruckt bei B. Mombritius, Sanctuarium seu Vitae Sanctorum (1478), Nachdruck Paris 1910, 508-531. Die Silvester-Legende ist der älteste Teil der sog. Konstantinischen Schenkung; dazu W. Levison, Konstantinische Schenkung und Silvester-Legende, in: Scritti di storia e paleografia (FS F. Ehrle), Rom 1924, 159-247 ( = ders., Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit: Ausgewählte Aufsätze, Düsseldorf 1948, 390—465). Englische Ubersetzung der Legende bei H . Bettenson, Documents of the Christian Church, Oxford 1989 (repr.), 9 8 - 1 0 1 . Weitere Sekundärliteratur bei W. Gericke, Wie entstand die Konstantinische Schenkung? in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Kanonische Abteilung 43 (1957), 7 5 - 8 8 ; H . Fuhrmann, Konstantinische Schenkung und Silvesterlegende in neuer Sicht, in: D A 15 (1959), 5 2 3 - 5 4 0 ; W. Schäfer, The Oldest Text of the „Constitutum Constantini", in: Traditio 20 (1964), 448—461; N . Huyghebaert, La donation de Constantin ramenée à ses véritable dimensions, in: Revue d'histoire ecclésiastique 71 (1976), 4 5 - 6 9 ; W. Gericke, Das Constitutum Constantini und die Silvester-Legende, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Kanonische Abteilung 44 (1958), 3 4 3 - 3 5 0 ; R.J. Lorentz, Actus Sylvestri, Genèse d'une légende, in: Revue d'histoire ecclésiastique 70 (1975), 426-439; G. Fowden, The Last Days of Constantine: Oppositional Versions and Their Influence, in: J R S 84 (1994), 146-170; W. Pohlkamp, Textfassungen, literarische Formen und geschichtliche Funktionen der römischen Silvester-Akten, in: Francia 19 (1992), 115-196.

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

zur Strafe für seine Christenverfolgung mit Aussatz geschlagen. Nachdem alle ärztlichen Heilungsversuche gescheitert waren, empfahlen die kapitolinischen Priester eine besondere Kur: Der Kaiser solle eine Wanne mit dem Blut von dreitausend unschuldigen Kindern füllen lassen, wenn er in dem warmen Blut bade, werde er vom Aussatz geheilt. Daraufhin wurden viele Kinder herbeigeholt, doch als die heidnischen Priester sie schlachten wollten, um die Wanne mit ihrem Blut zu füllen, drang das Wehgeschrei der Mütter in die Ohren des Kaisers, so dass er beschloss, die Kinder zu verschonen und auf diesen Heilungsversuch zu verzichten. Er gab die Kinder ihren Müttern zurück und entließ sie mit Geschenken. In der Nacht darauf erschienen ihm Petrus und Paulus im Traum und sagten, weil er sich geweigert habe, unschuldiges Blut zu vergießen, seien sie von Jesus zu ihm gesandt, um ihm einen anderen Weg zur Heilung zu weisen. Er solle Silvester, den Bischof der Stadt (Rom) aus dem Versteck, wohin er sich samt seinen Anhängern vor der Verfolgung geflüchtet hatte, rufen lassen; der werde ihn taufen und so den Aussatz von ihm nehmen. Danach solle er die im Zuge der Verfolgungen zerstörten Kirchen wieder aufbauen lassen und den Götzendienst aufgeben. Der Kaiser befolgte ihren Rat, ließ sich von Silvester taufen, und als er aus dem Wasser auftauchte, war er geheilt. Silvester unterwies ihn in der christlichen Lehre, und zum Dank für seine wunderbare Heilung erließ Konstantin christenfreundliche Gesetze, wobei er besonders die römische Kirche bedachte. Er legte den Grundstein zum Petersdom zu Ehren der Apostel und begann mit der Errichtung der Lateransbasilika (der päpstlichen Residenz). Die Figur Kaiser Konstantins in der christlichen Legende ist sozusagen die verbesserte Neuauflage eines anderen kindermordenden Königs, nämlich Herodes. Die jüdische Legende wiederum führt einen dritten König ein, den Pharao. An Bosheit kommt der Pharao Herodes nahe, aber wie Konstantin wird er geheilt, ohne die Kinder zu töten. Bei Konstantin war es der Aufschrei der Mütter, der sein Mitleid erregte, so dass er von seinem Vorhaben abstand, und zum Dank dafür wurde ihm die Heilung durch Taufe zuteil; bei Pharao war es das Seufzen der Israeliten, das den Umschwung bewirkte, allerdings bei Gott und nicht beim König - Pharao blieb eine negative Figur wie Herodes. Man gewinnt den Eindruck, dass die jüdische Legende mit der christlichen heftig disputiert und sie zu ihren Zwecken umbiegt. In einer anderen Version wird die Geschichte des Pharao etwas anders erzählt: D r e i R a t g e b e r z o g der P h a r a o heran, als er an A u s s a t z erkrankte. E r f r a g t e die A r z t e nach einem H e i l m i t t e l . B i l e a m riet ihm, die J u d e n z u schlachten u n d sich mit ihrem Blut zu waschen, d a v o n werde er geheilt. H i o b schwieg d a z u , w o m i t er Z u s t i m m u n g b e k u n d e t e . J e t h r o h ö r t e es u n d ging schnell weg. D e r den Rat gegeben hatte, w u r d e getötet; der g e s c h w i e g e n hatte, w u r d e gepeinigt; u n d der w e g -

Charosset

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gegangen war, erhielt z u m L o h n einen zusätzlichen B u c h s t a b e n zu seinem N a m e n : zuerst h a t t e er J e t h e r geheißen, danach hieß er J e t h r o . 1 3 3

Bileams Rat e n t s p r i c h t dem der kapitolinischen Priester, nur will er nicht K i n d e r schlachten lassen, sondern J u d e n . M ö g l i c h e r w e i s e ist J e t h r o , der midianitischer Priester war, hier anstelle von Silvester, dem O b e r h a u p t der r ö m i s c h e n K i r c h e , eingeführt w o r d e n ; so wird das gegnerische Narrativ nicht widerlegt, sondern durch ein jüdisches e r s e t z t . Aus den beiden L e g e n d e n geht hervor, dass der Pharao (wie K o n s t a n t i n ) den M o r d b e f e h l zwar gab, dieser aber nicht ausgeführt wurde. D a n e b e n haben wir eine andere G r u p p e von L e g e n d e n vorliegen, aus denen der Vorwurf der E r m o r d u n g israelitischer K i n d e r in Ä g y p t e n erklingt, und zwar in A n k n ü p f u n g an E z 16,6 („ich sah dich, wie du dich in deinem B l u t e w ä l z t e s t " ) , was mit der ägyptischen K n e c h t s c h a f t in Verbindung gebracht wird: R. Akiva sagt: P h a r a o s F r o n v ö g t e pflegten die Israeliten zu schlagen z w e c k s B e reitstellung von S t r o h für die Ziegel, wie es heißt: „das P e n s u m an Ziegeln [ . . . ] ist nicht zu r e d u z i e r e n " ( E x 5 , 8 ) . U n d die Ä g y p t e r stellten den Israeliten kein S t r o h z u r Verfügung. [ . . . ] So m u s s t e n die Israeliten Stoppeln in der W ü s t e z u s a m m e n s u c h e n , die z e r t r a t e n sie dann mit ihren Eseln, ihren F r a u e n , Söhnen und T ö c h tern. U n d die W ü s t e n s t o p p e l n s c h n i t t e n ihnen in die F e r s e n , so dass Blut herausfloss und sich mit d e m L e h m v e r m i s c h t e . 1 3 4

Aus dieser anschaulichen D a r s t e l l u n g geht hervor, dass die Ziegel, die in Ä g y p t e n als Baumaterial verwendet wurden, mit dem B l u t von israelitischen Zwangsarbeitern d u r c h s e t z t waren. H i e r ist es das Blut v o n Israeliten ü b e r haupt, die F o k u s s i e r u n g auf israelitische K i n d e r findet sich in der F o r t s e t zung desselben M i d r a s c h : Rachel, die T o c h t e r s t o c h t e r des Schutelach, war h o c h s c h w a n g e r ; als sie z u s a m m e n mit ihrem M a n n den L e h m mit den F ü ß e n bearbeitete, kam d e r E m b r y o aus ihr heraus und fiel in das Ziegelgefäß. D a stieg ihr Schrei z u m T h r o n d e r H e r r l i c h k e i t e m p o r . D a k a m der E n g e l Michael herab, n a h m das Ziegelgefäß samt d e m L e h m und trug es hinauf v o r den T h r o n d e r H e r r l i c h k e i t . In jener N a c h t o f f e n b a r t e sich der Heilige gelobt sei E r und schlug die E r s t g e b o r e n e n Ä g y p t e n s . 1 3 5

H i e r wird der Z u s a m m e n h a n g zwischen dem vergossenen Blut eines Kindes und der B e f r e i u n g aus der K n e c h t s c h a f t explizit g e m a c h t . W e n n wir an den o b e n zitierten T r a u m des P h a r a o z u r ü c k d e n k e n , worin ,ein M u t t e r s c h a f (hebr. Rachel)

niederkam und ein L a m m gebar', e n t s t e h t der E i n d r u c k , dass

Midrasch hagadol zu Ex, M. Margulies (Hg.), 37 f. Pirqe deRabbi Elieser X L V I I I ; vgl. Bet haMidrasch (s. o. Anm. 114), I, 45: „Wenn ein Israelit einen Ziegel zu wenig machte, mauerte man ihn ein statt des fehlenden Ziegels"; Sefer haJaschar, J . Dan (Hg.), Jerusalem 1986, 289.305. 135 Pirqe deRabbi Elieser X L V I I I . 135 134

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

auch hier die Figur der .Rachel, Tochterstocher von Schutelach' ein Gegenstück zu Jesu Mutter Maria sein könnte. Wie im christlichen Narrativ stirbt das Kind, und sein Tod führt die Erlösung herbei. Die Nähe der Ausdrucksmittel zwischen dem jüdischen Midrasch und der christlichen Legende ist in diesem Fall besonders groß. Die jüdische Deutung weicht eigentlich nur an einem Punkt von der christlichen ab: Sie insistiert darauf, dass der M y thos vom Tod des Kindes als Auftakt zur Erlösung nicht durch Jesus realisiert worden sei, sondern beim Auszug aus Ägypten. Der Mythos vom Menschenopfer, das erforderlich sei, um ein Gebäude zu errichten bzw. ihm Bestand zu verleihen, ist in vielen Kulturen verbreitet. Eine balkanische Ballade, ,die Brücke von Arta', berichtet von der Frau des Brückenbauers, die darin begraben wurde, um deren Einsturz zu verhüten. Dies sei auch ihren beiden Schwestern widerfahren, von denen die eine unter der Donaubrücke und die andere unter der Stadtmauer von Avlona begraben sei. Eine rumänische Sage weiß von einem Baumeister namens Manole zu erzählen, der zusammen mit neun anderen den Auftrag erhalten habe, ein Kloster zu erbauen; was immer sie tagsüber bauten, stürzte in der Nacht wieder ein, bis Manole im Traum offenbart wurde, in die Wand des Gebäudes müsse die erste Frau eingemauert werden, die am Morgen vorbeikommen werde. Wer am anderen Morgen auftauchte, war keine andere als Manoles eigene Frau, die lebend im Mauerwerk begraben wurde. Ahnliche Erzählungen gibt es in ganz Europa. 1 3 6 Laut Eliade äußert sich in diesem Mythos die Uberzeugung, dass ein (materieller oder geistiger) Bau nur dann Bestand habe, wenn der Geist eines Lebewesens darin eingegangen sei, und dies sei nur durch Opferung des betreffenden Wesens zu bewerkstelligen. 1 3 7 Doch diese Deutung trifft den Kern unseres Midrasch nicht. Mir scheint, die Erzählung vom Sohn der Rachel, Nachfahrin des Schutelach, gehört nicht zu jener universalen Ideologie, sofern es eine solche gegeben hat. Diese jüdische Legende hat vielmehr ein klar umrissenes Anliegen: Sie bietet eine jüdische Alternativ-Version zur neutestamentlichen Geschichte von Jesu Geburt und Tod. Dass der jüdische Prediger es für nötig erachtete, dies zu tun, zeugt von einem Dialog zwischen den jeweiligen Gründungsmythen der beiden Religionen, wie sie sich in deren formativer Periode herausbildeten und die gegenseitigen Vorstellungen über das ganze Mittelalter hin speisten. Diese Mythen haben auch auf der Ebene des religiösen Brauchtums ihren Niederschlag gefunden. Im Jerusalemer Talmud (Pessachim X 3, 37c) heißt

136 S. etwa D. Shai, A Kurdish Jewish Variant of the Ballad of „the Bridge of Arta", in: A J S Review 1 (1976), 3 0 3 - 3 1 9 . 157 M. Eliade, Zalmoxis. The Vanishing God, Chicago 1972, 182f.

Charosset

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es von der Charosset, die bei Sedermahl genossen wird: „Sie soll weich sein. U n d der Grund dafür: zur Erinnerung an das Blut". Demnach soll die K o n sistenz der Charosset so weich sein, dass sie an Blut erinnert. Was für Blut, wird an dieser Stelle nicht näher ausgeführt. 1 3 8 D o c h die weiteren oben zitierten Midraschim lassen keinen Zweifel daran, dass es sich um das Blut jüdischer Kinder handelt, das sich mit dem Lehm der Ziegel vermischte. Diese Deutung ist auch bei R. Joseph Tov Elem, einem französischen liturgischen Dichter und Halachisten des 13.Jh., belegt; in einer seiner Dichtungen heißt es: „und wozu das Eintauchen in Charosset ? zum Andenken an den Lehm, der von einer Frau und ihrem Mann getreten". 1 3 9 Die Tradition, die Charosset so zuzubereiten, dass sie an mit Blut durchsetzten Lehm erinnert, ist in aschkenasisch-halachischen Werken des Mittelalters belegt. So heißt es etwa im Minhag-Buch des MaHaRIL (15.Jh.): „Charosset wird zunächst dick zubereitet und dann beim Würzen verdünnt - zum Andenken an das B l u t " . 1 4 0 So folgte der aschkenasische Brauch der Aussage des Jerusalemer Talmud, wonach die Charosset für den Lehm stehe, aus dem die Ziegel geformt wurden, und der Wein in der Charosset für Blut. Verblüffend ist die Nähe der christlichen Symbolsprache, wo der Kommunion-Wein zu Christi Blut wird, und der jüdischen, wo der Wein in der Charosset das Blut israelitischer Kinder, das in der ägyptischen Knechtschaft vergossen wurde, symbolisiert. Das aschkenasische Brauchtum wurde in einer Umwelt gepflegt, die den Juden die Ritualmordlüge anhängte. 1 4 1 D e r Vorwurf lautete, Juden ermordeten Kinder im Zuge des Pessach-Rituals, oder Juden verwendeten Blut von Christenkindern zur Herstellung der Mazzot. Diese in unseren Augen völlig abstruse Anschuldigung erscheint auf dem Hintergrund des soeben Dargelegten begreiflicher. Angenommen, in ihrem religiösen Kult legten die Juden rotem Wein und dem dadurch symbolisierten Blut tatsächlich mythische Bedeutung bei. 1 4 2 Als Christen den Juden vorwarfen, sie verwende-

138 S. Zeitlin, The Liturgy of the First Night of Passover, in: J Q R 38 (1948), 4 3 4 - 4 4 0 meint, es sei das Blut der Beschneidung oder das Blut des Pessach-Opfers. Siddur Ozar haTefdlot, II, New York 1946, 250. 140 Minhage MaHaRIL {s.o. Anm.52), 91. Im Buch Or sarua (s.o. A n m . 6 7 ) , II, Pessachim, fol. 117b, steht zu lesen: „Roter Wein - zum Andenken daran, dass der Pharao kleine Kinder schlachten ließ, als er an Aussatz erkrankte; außerdem zur Erinnerung an das Blut des PessachOpfers und an das Blut der Beschneidung". 141 D. Malkiel, Infanticide in Passover Iconography, in: Journal of the Warburg and Courtland Institutes 56 (1993), 85-99; vgl. auch Ch. Shmeruk, Sefer Divre haAdoti schel J. Frank, in: Gal'ed 14 (1995), 34f. 142 In einem Superkommentar zu dem halachischen Kompendium Schulchan Aruch, Orach Chajim, Hilchot Pessach, § 472.9 steht zu lesen: „Das Gebot lautet, möglichst roten Wein zu verwenden [...] zum Andenken an das Blut, da der Pharao die Israeliten schlachtete. Aber heutzutage verwendet man keinen roten Wein wegen der lügnerischen Anklage in dieser Welt".

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

ten Blut zur Herstellung der Mazzot, dachten sie vielleicht an die Charosset, worin Wein enthalten war, der für Blut stand, während die gemahlenen Nüsse den Lehm der Ziegel veranschaulichten. Eine solche Vorstellung dürfte einem mittelalterlichen Christen nicht abwegig erschienen sein, zumal auch für ihn Brot und Wein zu Leib und Blut Christi wurden. Die obigen Ausführungen beruhten zunächst auf reiner Vermutung, bis Ram Ben Schalom den Beleg in den Quellen fand: Er hat eine hebräische Handschrift entdeckt, worin berichtet ist, dass südfranzösische Juden im 15. Jh. beschuldigt wurden, sie hätten einen Christen ermordet, um mit seinem Blut Charosset herzustellen. 1 4 3 Ein ähnlicher Vorwurf wurde bereits 1329 gegen savoyische Juden erhoben. 1 4 4 Ein mutmaßlicher Zusammenhang zwischen der Charosset und Verwendung des Bluts von Ritualmordopfern wurde auch von den Frankisten formuliert. 1 4 5

6

Zusammenfassung

Das vorliegende Kapitel betrachtet die Umstände, unter denen der Vorwurf des Hostienfrevels aufkam und Verbreitung gefunden hat, anders als sonst üblich. Was wir hier verfolgt haben, war die Geschichte von Fiktionen und Fehldeutungen, denn Missverständnisse, Irrtümer und phantastische Vorstellungen gehen den Historiker nicht weniger an als vernunftgemäße und reale Erscheinungen. Im Jahre 1263 soll ein deutscher Rompilger in der italienischen Stadt Bolsena während der Messe Zweifel bekommen haben, ob die Hostie wirklich in den Leib Christ verwandelt werde; da soll ihm ein Wunder widerfahren sein: Vor seinen ungläubigen Augen erschien Blut auf der Hostie und tropfte auf den Altar. Erschüttert eilte der Mann zu Papst Urban IV., der sich damals im nahegelegenen Orvieto befand, und berichtete, was er gesehen hatte. Die Aussage dieses Pilgers soll den Papst darin bestärkt haben, das Fronleichnamsfest zu verkünden, um das Wunder zu verewigen. Diese Erzählung könnte dem modernen Leser als weiterer Beweis für die üppig wuchernde Phantasie mittelalterlicher Menschen gelten, zumal da aufgrund ähnlicher Vorfälle Juden beschuldigt wurden, Hostien durchstochen zu haben, so dass Blut herausfloss. Aber wissenschaftliche Prüfung ergibt, dass jener Pilger ganz richtig beobachtet hatte, falsch war nur seine Deutung des Gesehenen. Die Hostie wies tatsächlich rote Flecken auf, doch 143 R.B. Shalom, The Blood Libel in Arles and the Franciscan Mission in Avignon in 1453: Paris Manuscript, Heb. 631 (hebr.), in: Zion 63 (1998), 397-399. 144 B.Z. Dinur, Israel baGola, Jerusalem 1967, II/2, 556f; Ben Shalom, ebd. (s. o. Anm. 143). 145 A.Y. Brawer, Studies in Galician Jewry (hebr.), Jerusalem 1965, 239 f.

Zusammenfassung

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die rührten nicht daher, dass das Brot sich in blutiges Fleisch verwandelt hätte, sondern von einem Bazillus, der rötlichen Pilzbefall auf stärkehaltigen, säurearmen Lebensmitteln hervorruft, besonders in feuchtwarmer Umgebung. Dieser Bazillus hat in der wissenschaftlichen Literatur zwei Benennungen erfahren: der deutsche Mikrobiologe Christian Ehrenberg nannte ihn 1848 monas prodigiosa (nach dem wundersamen Eindruck des Phänomens auf Hostien), durchgesetzt hat sich jedoch die von Bartolomeo Bizio 1879 geprägte Bezeichnung Serratia marcescens.146 Diese Episode macht deutlich, wie ernst solche Missverständnisse zu nehmen sind, denn sie gehören wesentlich zum Verständnis des Stellenwerts der Hostie und zum gegen die Juden erhobenen Vorwurf des Hostienfrevels dazu. Analog dürfen wir wohl annehmen, dass etliche von den Hostienschändungen, deren Juden im Mittelalter bezichtigt wurden, auf tatsächliche Vorgänge zurückgehen; von Juden vorgenommene Handlungen wurden von wirklich oder vorgeblich naiven Beobachtern falsch gedeutet, wobei böser Wille mitgespielt haben mag oder nicht. Allerdings belehrt uns die christliche Deutung jüdischer Pessach-Bräuche nicht nur über die Herkunft des negativen Juden-Stereotyps in christlichen Augen, sondern auch über teilweise Übernahme der Symbolsprache der christlichen Umwelt im jüdischen Milieu. Freilich haben Juden im Unterschied zu Christen nie ihren Gott .gegessen'; der Jude erblickte in seinen Entsprechungen zur Hostie - der Mazza des Eruv bzw. des Afikoman - sicherlich nie die brotgewordene Gottheit. Doch brachten die Juden in ihren rituellen Handlungen gewisse Motive zum Ausdruck, die den entsprechenden Handlungen im christlichen Ritual recht nahe kommen. Um im Bild zu bleiben, könnte man vielleicht sagen, dass die beiden Ritualsprachen dieselbe Grammatik verwendeten, allerdings verschiedenes Vokabular; trotz der äußerlichen Ähnlichkeit war der ideologische Gehalt der jeweiligen Aussage ein ganz anderer. Wie der Große Sabbat durch die christliche Karwoche beeinflusst ist, d.h. die liturgische Zeit der Umwelt rezipiert, so stellt auch der Afikoman eine Rezeption und rituelle Umbildung des christlichen Symbols dar. In beiden Fällen darf trotz beobachteter Rezeption der unter-

146 Ausführlich dargestellt ist die Forschungsgeschichte bei J . C . Cullen, T h e Miracle of Bolsena, in: A S M News 60 (1994), 1 8 7 - 1 9 1 . Den Hinweis auf diese gründliche Arbeit verdanke ich meinem New Yorker Verwandten, Dr. Leopold Reiner; die Darstellung von C . Roth in: E n cyclopaedia Judaica V I I I (Jerusalem 1972), Sp. 1043 (s.v. host, desecration of) ist weniger genau. In einer Stellungnahme zum Beitrag von Cullen (im selben Band der A S M News, 403) berichtet ein Leser von einem Experiment, das er gemacht hatte: Er ließ sich sowohl von einem katholischen Priester als auch von einem protestantischen Geistlichen je eine Hostie geben und kaufte eine Packung gewöhnlicher Mazzen im Supermarkt. Alle drei setzte er in feuchtwarmer Umgebung dem genannten Bazillus aus; nach zwei Tagen wiesen alle drei rötlichen Pilzbefall auf - der blutähnlichste R o t t o n war ausgerechnet auf der protestantischen Hostie zu beobachten.

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Umkehrung des Rituals: Hostie vs. Mazza

schiedliche Inhalt nicht übersehen werden, den jede Religion ihrer Zeit und ihrem Ritual beilegt. Im Gegenteil, gerade durch die Nähe wurden Missverständnis, Argwohn und Feindseligkeit verstärkt. Die Spannung zwischen der ausdrücklichen und offenkundigen Aussage, die heftigen Dissens signalisiert, und der unausgesprochenen Äußerung, die auf verwandter und ähnlicher Ritualsprache beruht, hat die Kontroverse zwischen den beiden Gruppen verschärft und die Unterschiede zwischen den jeweiligen rituellen Handlungen deutlicher hervortreten lassen.

VI Das Ende des Milleniums (1240): Jüdische Hoffnung, christliche Furcht Jakob und Esau, das typologische Brüderpaar, mit dem unsere Betrachtungen eingesetzt haben, werden wir gegen deren Ende wieder antreffen, diesmal in ihrem mittelalterlichen Gewand, worin sich das Gegenüber von Exil und Erlösung, von Knechtschaft und Freiheit äußert. Die jüdische Deutung des Schriftverses von dem Alteren, der dem Jüngeren dienen solle (vgl. Gen 25,23), schuf die Erwartung einer Umkehrung der Weltordnung, wonach das Christentum aus der herrschenden Religion zur untergeordneten werden würde. Es besteht kein Grund anzunehmen, dass die Christen gegenüber den bei ihren jüdischen Nachbarn insgeheim gehegten Hoffnungen gleichgültig geblieben wären. Im Anschluss an die Beobachtung christlicher Bezugnahme und Reaktion auf jüdisches Verhalten im Bereich von Kult und Ritual sollen in diesem Kapitel die Auswirkungen jüdischer Phantasievorstellungen, Erlösungshoffnungen und Endzeitberechnungen auf die christliche Umwelt untersucht werden. Endzeitberechnungen waren unter Juden seit eh und je verbreitet. Im Talmud findet sich zwar eine scharfe Äußerung gegen die Endzeitberechner, 1 aber diese Verwünschung scheint nicht in Erfüllung gegangen zu sein. Vielleicht ist das der Grund, weshalb viele Endzeitberechner ihre eigenen Kalkulationen scheinbar allzu ernst nahmen. In seinem um 1400 verfassten Handbuch für Disputanten Sefer haNizzachon warnt R. Jomtov Lipman Mühlhausen zwar vor Endzeitberechnungen, doch gleich danach setzt er selbst die Ankunft des Messias auf das Jahr 1410 fest. 2 Und um für den Leser nicht unglaubwürdig zu werden, beugt er gleich einer etwaigen Enttäuschung vor, falls die Erwartung nicht eintreffen sollte. Wenige Jahre nach 1410 wurde sein Werk wieder abgeschrieben. 3 Der Abschreiber Hess die Rechnung unverändert, .korrigierte' nur ihr Ergebnis von 1410 zu 1426, wobei er noch eine eigene Berechnung hinzufügte, um das neue Datum zu untermauern. Außerdem bemerkte er, wenn der Messias auch im Jahre 1426

„Ihren Geist aushauchen mögen die Endzeitberechner", b Sanhédrin 97b. Jomtov Lipman Mühlhausen, Sefer haNizzachon, E.F. Talmage (Hg.), Jerusalem 1984 (Faksimile des Drucks Altdorf/Nürnberg 1644), 187, § 335. 3 MS Oxford, Bodleiana, Opp. 592: A. Neubauer, Catalogue of the Hebrew Manuscripts in the Bodleian Library, Oxford 1886, Nr.2162. 1

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Das Ende des Milleniums (1240)

nicht erscheinen würde, so liege das an der Sündhaftigkeit der zu Erlösenden. Solche Endzeitberechnungen entsprachen ungefähr den heutigen Horoskopen, ein mathematischer Zeitvertreib zur Aufmunterung eines Publikums, das sich nach Erlösung sehnte. Insofern braucht nicht hinter jeder neuen Endzeitberechnung eine aktive messianische Bewegung angenommen zu werden. Allerdings dürfen wir auch nicht ins entgegengesetzte Extrem verfallen und den messianischen Faktor als treibende Kraft in der jüdischen Geschichte des Mittelalters unterschätzen. Der moderne Historiker, der aus der Gegenwart in die Vergangenheit hinabschaut, neigt vielleicht dazu, dem messianischen Faktor zu wenig Gewicht zuzumessen, denn das uns vorliegende Belegmaterial gibt in der Regel das Stadium der Enttäuschung über den wiederum nicht eingetroffenen Messias wieder und nicht das der hochfliegenden Hoffnungen in Erwartung seines Kommens. Hier möchte ich eine besonders wichtige Endzeitberechnung untersuchen, die weitreichende Reaktionen und große Erregung auslöste und historisch überaus gewichtig war sowohl im Rahmen des innerjüdischen Lebens als auch bei der Gestaltung der jüdisch-christlichen Beziehungen. Es geht um die jüdisch-messianische Erwartung auf das Jahr 1240. An ihr lässt sich die Empfindlichkeit der christlichen öffentlichen Meinung gegenüber dem Auftreten einer akuten jüdischen messianischen Erwartung besonders gut ablesen.

1 Das Jahrtausend-Ende als Entzeittermin In viererlei Hinsicht unterscheidet sich die Erwartung der Erlösung um das Jahr 1240 von anderen Endzeitberechnungen. Erstens beruhte dieses Datum nicht auf willkürlich manipulierbaren Zahlenspielereien, sondern mit dem Jahr 1240 endete das fünfte Jahrtausend seit Erschaffung der Welt. Zweitens findet sich die Erlösungshoffnung auf diesen Zeitpunkt fast in sämtlichen jüdischen Diasporagemeinden, vom südlichen und nördlichen Mittelmeerraum bis nach Mitteleuropa. Drittens führte diese messianische Erwartung zu einer Vielfalt von vorbereitenden Maßnahmen, mit denen wir uns noch befassen werden. Und viertens konzentrierte sich diesmal die Hoffnung nicht wie sonst auf einen bestimmten Zeitpunkt, sondern die Erwartung der Erlösung um das Jahr 1240 setzte einen längeren Zeitraum an, innerhalb dessen sich das messianische Geschehen vollziehen sollte. Zunächst möchte ich die wichtigsten Quellen vorstellen. 4 4 Jeweils einige der einschlägigen Quellen sind gesammelt und behandelt bei J . Aronius, Regesten zur Geschichte der Juden, Berlin 1902, 2 2 7 - 2 3 0 ; A.Z. Aescoly, Die messianische Bewe-

Das Jahrtausend-Ende als Entzeittermin

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Am weitesten verbreitet war wohl die Endzeitberechnung, wonach das messianische Zeitalter mit dem Abschluss des fünften Jahrtausends nach Erschaffung der Welt einsetzen würde. Im Midrasch Bereschit rabbati, der aus der Provence stammt, heißt es: „Die gesamte Knechtschaft war im fünften Jahrtausend, in diesem graut auch der Morgen von Israels Erlösung". 5 Eine ähnliche Berechnung findet sich auch im Kommentar zum Sefer Jezira des R. Jehuda von Barcelona: D a s s wir erlöst w e r d e n sollen bald in unseren Tagen, a m E n d e des fünften J a h r tausends, war allezeit in Israel überliefert. A u c h die irrenden C h r i s t e n - als sie h ö r t e n , dass der Messias a m E n d e des fünften J a h r t a u s e n d s k o m m e n soll, verlegten sie die L e b e n s z e i t ihres b ö s e n G e h e n k t e n ins ausgehende vierte J a h r t a u s e n d , o b w o h l das m e h r als z w e i h u n d e r t J a h r e v o r der Vollendung dieses J a h r t a u s e n d s war, nämlich im 3 7 . J h . , d o c h sie fixierten ihren Irrglauben auf das E n d e des fünften J a h r t a u s e n d s , s e t z t e n v o n A d a m bis N o a h zweitausend J a h r e an u n d b o g e n n o c h einige B e r e c h n u n g e n b e t r ü g e r i s c h z u r e c h t [ . . . ] . 6

Er meint also, auch die Christen wüssten um das Kommen des Messias zum Abschluss des fünften Jahrtausends, was allerdings nicht mit der (wohlgemerkt: jüdischen) Berechnung zusammengeht, wonach Jesus um das Jahr 3700 nach Erschaffung der Welt gelebt haben soll, also geraume Zeit vor dem Ende des vierten Jahrtausends. Demnach habe die christliche Zeitrechnung einen Zeitraum von über tausend Jahren zwischen Adam und Noah eingeschoben, um Jesu Geburt in den Ausgang des fünften Jahrtausends nach Erschaffung der Welt fallen zu lassen. Diese Ausführungen des R. Jehuda aus Barcelona sind nicht ganz einsichtig, denn bereits Julius Africanus hatte (i.J. 221) Jesu Geburt ins Jahr 5500 nach Erschaffung der Welt verlegt, also genau in die Mitte des sechsten Jahrtausends, und diese Berechnung war von vielen christlichen Autoren übernommen worden. 7 Außerdem setzen christliche Endzeitberechnungen das Ende der Geschichte und das Weltgericht durchweg am Ende des sechsten, nicht des fünften Jahrtausends an. 8

gung in Israel (hebr.), Jerusalem 1957, 188-192; Ben-Zion Dinur, Israel baGola, II/3, Jerusalem 1968, 4 3 6 - 4 4 1 . Weiteres Material im Folgenden. 5 Midrasch Bereschit rabbati, Ch. Albeck (Hg.), Jerusalem 1940, 16f mit Hinweis auf weitere Quellen. 6 Der Kommentar zum Sefer Jezira von Jehuda, Sohn des Barsillai, aus Barcelona, Halberstamm (Hg.), Berlin 1895, 239. Eine ähnliche Berechnung findet sich im Sefer Megillat baMegalle des R. Abraham b. Chija, Berlin 1924, V, 36.147; das Buch stammt offenbar aus den 20er Jahren des 12.Jh. und führt vier potentielle Endzeittermine auf: 1136, 1230, 1358 oder 1448. Das Jahr 1230, den zweiten der errechneten Termine, bezeichnet der Verfasser als den wahrscheinlichsten. 7 Dazu M. Häusler, Das Ende der Geschichte in der mittelalterlichen Weltchronistik, Köln/ Wien 1980, 6.7.10.15.22-24. 8 Dazu R. Lerner, The Medieval Return to the Thousand-Year Sabbath, in; R.K. Emmerson/B. McGinn (Hg.), The Apocalypse in the Middle Ages, Ithaca 1992, 5 1 - 7 1 .

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Gegen Ende seiner Ausführungen stellt R. Jehuda von Barcelona fest: „Unsere Tradition bezüglich des Kommens des Erlösers am Ende des fünften Jahrtausends ist wohlüberliefert in manchen Auslegungen unserer Meister S.A.", womit er vermutlich die oben angeführte Aussage des Midrasch Bereschit rabbati meint. Wie im Folgenden zu beobachten, findet sich die jüdische Endzeithoffnung auf das Ende des fünften Jahrtausends erst in Quellen aus dem 12.Jh., die auf der talmudischen ,Weissagung des Elia' beruhen. 9 Eine andere Berechnung des R. Jehuda aus Barcelona verlegt das Ende der Welt in die letzten fünfzig Jahre vor dem Jahre 5000 nach Erschaffung der Welt (d.h. in den Zeitraum 1190-1240 n.Chr.); dabei leitet er den Endzeittermin von der Typologie des biblischen Jubeljahrs ab: Und im fünfzigsten Jh., bald in unseren Tagen, wird Israel seine volle Freiheit erhalten, wir werden zurückkehren in unseren Besitz und unser Erbteil [...]. Und jene neunundvierzig Zyklen von sieben Jahrwochen hat uns Gott, gelobt sei Er, geboten als Hinweis auf die Erlösung, und dank dieses Gebots wird die Erlösung auch eintreten; zu berechnen sind neunundvierzig Mal hundert Jahre, jeweils ein Jh. für jedes der neunvierzig Jahre bis zum nächsten Jubeljahr, das macht neunundvierzig Jh., und das fünfzigste Jh. entspricht dem Jubeljahr, das ganz und gar der Freiheit gehört, denn im fünfzigsten Jh. sollen wir wohl erlöst werden, bald in unseren Tagen, vielleicht zu Anfang des fünfzigsten Jh., oder in der Mitte oder am Ende. 10

Ein Versuch, das Ende der Welt im Jahre 5000 nach Erschaffung der Welt auf biblische Belege zurückzuführen, findet sich im Bibelkommentar eines anonymen Autors, der in Montpellier in Südfrankreich lebte. Er bezieht sich auf Bileams Äußerung gegenüber dem Moabiterkönig Balak: Ich will dir raten, was dieses Volk deinem Volk tun wird am Ende der Tage (Num 24,14) - ich habe gehört, dass man hierauf die Annahme stützt vom Ende nach Ablauf von fünf Jahrtausenden, d. h. ,am Ende der Tage' [hajamim], d. i. ,am Ende von fünf \He\ Tagen' und zwar ,Tage' des Heiligen, gelobt sei Er, wie wir aus dem Schriftvers entnehmen .tausend Jahre sind in Deinen Augen wie der gestrige Tag' (Ps 90,4), so ergibt sich, dass fünf Jahrtausende fünf \He\ Tagen entsprechen. 11

Eine überraschend ähnliche Berechnung findet sich in einer aschkenasischen Quelle aus dem Kreis der Tossafisten. Aus der Aufforderung des Pa' Häusler, Ende (s.o. Anm. 7), 105 meint, vor der Reformation sei die .Weissagung des Elia' nur vereinzelten Christen bekannt gewesen. Alanus ab Insulis im 12. Jh. hat sie gekannt (dazu Arnos Funkenstein, Heilsplan und natürliche Entwicklung, München 1965, 14 A n m . 2 8 ) , und gegen Ende des 13.Jh. ist sie bei dem Franziskaner Peter Olivi in Südfrankreich belegt (vgl. Lerner [s.o. Anm.8], 62 A n m . 3 8 ) . Zu entsprechenden christlichen Traditionen aus dem Orient s.u., Anm. 104. 10 Kommentar zum Seferjezira (s.o. Anm.3), 238. 11 Staatsbibliothek München, Heb. 66, fol.306r; vgl. E.F. Talmage, The Anti-Christian Polemic inLeket Katzar (hebr.), in: Michael 4 (1976), 63.

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triarchen Jakob an seine Söhne unmittelbar vor seinem Tod „Versammelt euch, ich will euch sagen, was euch am Ende der Tage widerfahren soll" zieht jener aschkenasische Exeget folgenden Schluss: „am Ende der Tage (hajamim) - fünf (He) Tage; fünf Tage weniger als fünftausend". 1 2 Nach dieser Rechnung fällt die messianische Hoffnung also auf das Jahr 1235; und in einer R. Jehuda dem Frommen zugeschriebenen Quelle heißt es tatsächlich, er habe das Ende der Welt im Jahre 1235 erwartet. 1 3 In derselben Auslegung zu den Worten des Patriarchen Jakob auf dem Totenbett bringt der Redaktor jener aschkenasischen Sammlung eine weitere Rabbenu Chananel zugeschriebene Uberlieferung, wonach der messianische König erscheinen werde, bevor das Sternbild des Steinbocks vorüber sei; dabei handele es sich um das zehnte Sternbild und für jedes Sternbild seien fünfhundert Jahre anzusetzen. 1 4 Was hier vorliegt, sind also zwei sehr ähnliche Endzeitberechnungen, eine französische und eine aschkenasisch-deutsche; die französische basiert auf dem Ausdruck ,am Ende der Tage' in N u m 24,14, und kommt auf das Jahr 1240, die aschkenasische basiert auf demselben Ausdruck in Gen 49,1 und kommt auf das Jahr 1235. Die französische Rechnung ist ein weiteres Mal belegt und zwar in einer höchst bedeutsamen, ebenfalls französischen Quelle. D e r erste Abschreiber der jüdischen Argumente, die im 1240 in Paris gegen den Talmud geführten Prozess vorgebracht wurden, gibt als Prozessdatum an: „im Jahre ,Ende', fünf Tage im Monat Tammus, am Montag und darauf folgenden Dienstag des Wochenabschnitts Balak".is Bei dieser Datumsangabe fällt sogleich auf, dass der Schreiber den Talmud-Prozess in eschatologischem Zusammenhang sieht, denn er bezeichnet das Jahr mit dem hebräischen Wort für .Ende' (.Acharit); beim zweiten Lesen wird auch das Wortspiel deutlich: Die Wortfolge ,im Jahre Ende fünf Tage' spielt eindeutig auf die oben erwähnte Endzeitberechnung auf der Basis von ,am Ende von fünf Tagen' an, und zwar auf deren französische Version, denn der Schreiber vermerkt ausdrücklich, dass der Prozess in der Woche stattfand, an deren Sabbat die Perikope Balak (Num 22,2-25,9) gelesen wird, worin

Gen 49,1 in: Sefer Tossefot baschalem,]. Gellis (Hg.), V, Jerusalem 1986, 34. Vgl. A. Marx, A Treatise on the Year of Redemption (hebr.), in: haZofe leChochmat Israel 5 (1921), 195. 14 Wie oben, Anm. 12. Bemerkenswert ist die Verbindung zwischen dem Sternbild des Steinbocks und dem Agnus Dei als christlich-messianisches Symbol. Neben dem Steinbock diente auch das Sternbild des Widders (Aries) als messianisches Symbol in der Endzeitberechnung des Petachja von Regensburg: „Du sollst wissen, dass das Sternbild des Widders jeden Tag weint, bis das Ende kommt [...] denn Israel wird gerade zu Pessach erlöst, daher weint das Sternbild des Widders"; vgl. A. David, A New Version of R. Petahya of Regensburg's Sivitv (hebr.), in: Qobez al Jad 13 (1996), 257; ferner G. Scholem, The Sources of ,The Story of Rabbi Gadiel the Infant* in Kabbalistic Literature (hebr.), in: Devarim beGo I, Tel-Aviv 1990, 280. 15 Die Disputation des R. Jechiel von Paris (hebr.), R. Margulies (Hg.), Jerusalem 1975, 27. 12

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Das Ende des Milleniums (1240)

jener Ausspruch Bileams vorkommt, auf den die französische Endzeitberechnung gegründet ist. Daraus erhellt, dass der 1240 in Paris gegen den Talmud geführte Prozess für den jüdischen .Protokollschreiber' in messianisch-eschatologischem Kontext stand; diese Beobachtung wird uns noch weiter beschäftigen. Die weite Verbreitung der messianischen Erwartung auf das Jahrtausendjahr 1240 ist durch die häufige Erwähnung dieses Datums in aschkenasischen Quellen belegt, wo das Datum nach der aschkenasisch exegetischen Tradition noch durch Zahlendeutungen aufgrund biblischer Formulierungen untermauert wird. In dem Kommentar Daat Seqenim al haTora (,das Wissen der Alten zum Pentateuch') heißt es zu Gen 37,15 „wie er [seil. Joseph] auf dem Feld umherirrte" (to'e = Taw +Ajin +He): Hier gab ihm Gabriel [mit dem der Midrasch den im Bibelvers erwähnten ,Mann' identifiziert] einen Hinweis auf dreierlei Exil: Taw stellt für das Exil in Ägypten, Ajin für das Exil in Babylonien, He für das Exil Edoms [d.i. der christlichen Herrschaft], das besagt, nach Ablauf von fünf Jahrtausenden wird es zu Ende gehen bald in unseren Tagen - aus dem Munde meines seligen Vaters und Lehrers." 1 6

Zu Isaaks Frage an Esau, nachdem der Erstgeburtssegen bereits an Jakob vergeben ist, „Und dir, mein Sohn, was soll ich dir tun?" (Gen 27,37), bemerkt derselbe Kommentar: „die Vokabel ,und dir' (ulechah) ist mit einem He am Ende geschrieben, demnach sprach Isaak zu Esau: Nachdem fünftausend Jahre vorüber sind, wird er [seil. Jakob] die Herrschaft übernehmen; was soll ich dir tun? Dann nämlich wird der Heilige, gelobt sei Er, an Edom Rache üben." 17 Die Verbreitung dieser Endzeitberechnung in Spanien ist durch eine Äußerung des Kabbalisten Isaak ibn Latif aus Toledo belegt. Er verfasste im Jahre 1238 eine messianische Abhandlung mit dem Titel Schaar haSchamajim (,Tor des Himmels') unter der Voraussetzung, dass das messianische Zeitalter zwei Jahre danach anbrechen würde, mit Beginn des sechsten Jahrtausends.18 Mit gewisser Wahrscheinlichkeit bildete diese Endzeiterwartung auch den Hintergrund für die Erweckungsfahrt des R. Mose von Coucy durch Spanien, aus der dann sein bekanntes Kompendium über die biblischen Gebote (Sefer Mizwot gadol) hervorging. Auf diesem Hintergrund ist auch ein Schreiben in arabischer Sprache zu

" Zu Gen 37,15 in: Sefer Tossefot haschalem (s.o. Anm. 12), IV (1985), 29; ebenfalls angeführt im Midrasch Tanchuma Buber I, Einleitung, 128. 17 Sefer Tossefot haschalem (s.o. Anm. 16) III (1984), 76 f. 18 Vgl. S. Heller-Wilensky, Messianism, Eschatology and Utopia in 13th Century Philosophical-Mystical Kabbalah (hebr.) in: Z. Baras (Hg.), Messianism and Eschatology, a Collection of Articles (hebr.), Jerusalem 1984, 221-237.

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untersuchen, das offenbar aus Nordafrika an die jüdische Gemeinde zu Alexandria geschickt wurde und sich in der Kairoer Genisa gefunden hat. 19 Darin ist von einem Propheten berichtet, der in der französischen Stadt Saintes aufgetreten sei und verkündet habe, im Jahre 1226 werde die Einsammlung der Zerstreuten stattfinden, und im Jahre 1233 werde der davidische Messias kommen (das letztere Datum beruht allerdings auf einer Textkonjektur des Herausgebers). In jenem Schreiben ist von einem Brief messianischen Inhalts die Rede, der von einem gewissen Joseph b. Abraham aus Marseille gesandt worden war. Gerüchte über die Verkündung jenes Propheten in Frankreich waren auch R. Elasar von Worms zu Ohren gekommen; er hatte ihnen nachgeforscht und sie für stichhaltig befunden. Möglicherweise waren solche messianischen Verkündungen ausgelöst durch die Einberufung des Vierten Laterankonzils 1215 und den dort ergangenen Aufruf zu einem weiteren Kreuzzug ins Heilige Land. Innerhalb der darauf folgenden zwei Jahre organisierte sich der vierte Kreuzzug, und die Endzeiterwartungen nahmen auch unter Christen zu. Ein Niederschlag solcher Erwartungen findet sich anscheinend in dem Bericht über die Verkündung des Propheten in Frankreich, worin der Herausgeber des Schreibens einen Hinweis auf Hi 26,7 findet, was er über eine Talmudstelle (b Chullin 89a) eschatologisch deutet. Dass Christen und Moslems um die Vorherrschaft im Heiligen Land kämpften, konnte bei Juden durchaus messianische Hoffnungen hervorrufen, zumal eingedenk des rabbinischen Ausspruchs: „Wenn du die Königreiche gegeneinander streiten siehst, dann sei der Ankunft des messianischen Königs gewärtig". 20 Wie dem auch sei, das Schreiben muss einige Jahre vor 1226, dem ersten in der Prophezeiung angekündigten Datum, abgefasst sein. 21 Millenaristische Endzeiterwartungen sind darin zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber die messianisch geladene Atmosphäre, die sich im zweiten Jahrzehnt des 13.Jh., d.h. in der Generation vor 1240 verstärkte, äußert sich darin unverkennbar. Auf die messianische Hochspannung jener Jahre werden wir noch einmal stoßen im Zusammenhang mit der Einwanderung von Juden ins Heilige Land in eben diesem Zeitraum. Hier ist der Ort, auf ein weiteres ungewöhnliches Dokument überraschenden Inhalts einzugehen. Ein 1921 von Alexander Marx veröffentlichter Text enthält eine messianische Endzeitberechnung, hat aber bisher

Veröffentlicht bei S. Assaf, Meqorot uMeckqrim beToldot Israel, Jerusalem 1946, 151-154. G e n R X L I 4 (Theodor/Albeck [Hg.], 409). 21 Das Schreiben ist offenbar kurz nach 1211 verfasst, denn darin ist von zwei Brüdern die Rede, die ins Heilige Land eingewandert seien; möglicherweise handelt es sich um R. Joseph von Clisson und dessen Bruder R. Mei'r. Diese beiden sind zweimal auf ähnliche Weise erwähnt: In Alexandria begegnete ihnen R. Abraham, der Sohn des Maimonides, in Jerusalem R. Jehuda alCharisi; Näheres zu den beiden bei E.E. Urbach, Die Tossafisten (hebr.), Jerusalem 1980, 318f. 19

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Das Ende des Milleniums (1240)

noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit erhalten. 22 Es handelt sich um einen französischen Kommentar zu den .Sprüchen der Väter' aus dem 13.Jh.; am Ende von dessen viertem Kapitel hat ein aschkenasischer Abschreiber im 14. Jh. verschiedene Endzeitberechnungen hinzugefügt. Eine davon beruht auf der Auffassung der Weltgeschichte als aus Zyklen von je 532 Jahren bestehend; diese Zahl ist das Produkt des Sonnenyklus von 28 Jahren mit dem Mondzyklus von 19 Jahren. Das Ende jeder Periode von 532 Jahren gilt als besondere Gnadenzeit. Wenn man 532 mit der typologischen Sieben multipliziert, kommt man in das Jahr 3724 nach Erschaffung der Welt, das dem Jahr 36 vor der christlichen Zeitrechnung entspricht; demnach muss jenes Jahr eine Zeit ganz besonderen göttlichen Wohlgefallens gewesen sein. Nach Auskunft unseres Textes war dies das Jahr, in dem Jesus gekreuzigt wurde, und Jesus wusste um die Besonderheit jener Epoche: U n d als m a n J e s u s z u m G a l g e n u n d zur S t e i n i g u n g h i n a u s f ü h r t e , war er k u n d i g u n d w u s s t e , dass es das J a h r 532 war. E r sprach: Ich erleide ihn [seil, den T o d ] u m der Einheit des göttlichen N a m e n s u n d u m des J o c h e s des H i m m e l r e i c h e s willen. E r überlieferte seinen Leib d e m D i e n s t seines S c h ö p f e r s : „ M ö g e es w o h l g e f ä l l i g sein v o r m e i n e m S c h ö p f e r , dass ich als G o t t akzeptiert w e r d e . " D a ging eine H i m m e l s s t i m m e aus: „ D a r u m dass nun die G n a d e n z e i t des J a h r e s 532 ist, eine Zeit des Wohlgefallens, wird dein G e b e t erhört. A b e r nicht in deinen Tagen, auch nicht zu deinen L e b z e i t e n wird dein G e b e t erhört, s o n d e r n lange Zeit nach d e i n e m T o d e . " U n d s o geschah's, er a n t w o r t e t e u n d sprach: „ D a meine Worte wohlgefällig sind v o r dir, m ö g e es dein Wille sein, dass meine G o t t h e i t b e s t e h e wie die L e h r e u n s e r e s M e i s t e r s M o s e bis j e t z t . "

Dieser Text sagt nichts Geringeres, als dass Jesu Wunsch nach Vergöttlichung erfüllt worden sei, weil sein Gebet am Ende eines Zyklus von 532 Jahren erfolgte, was eine besondere Gnadenzeit war. Allerdings verkündete ihm die Himmelsstimme, dass bis zur Verwirklichung seines Wunsches noch .lange Zeit' vergehen werde, womit anscheinend der Zeitraum bis zur Christianisierung des römischen Weltreiches gemeint ist. Außerdem soll Jesus darum gebeten haben, seine Gottheit möge Bestand haben .wie die Lehre unseres Meisters Mose bis jetzt'; damit ist wohl gemeint, dass die Völker der Welt an ihn glauben ebenso lange, wie die Israeliten bis dahin an die Lehre des Mose geglaubt hatten. Da der Zeitraum von Mose bis Jesus 1276 Jahre umfasste, bekäme Jesus also 1276 Jahre zugestanden, in denen die Völker der Welt an ihn glauben sollten. Der Verfasser unseres Textes ging, aus welchen Gründen auch immer, davon aus, dass Jesus im Jahre 36 vor der

22 Marx (s.o. Anm. 13), 194-202; kurz angesprochen bei I.J. Yuval, The Silence of the Historian and the Imagination of the Writer: R. Amnon of Magence and Esther-Mina of Worms (hebr.), in: Alpajim 15 (1995), 183f.

Das Jahrtausend-Ende als Entzeittermin

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christlichen Zeitrechnung gekreuzigt worden sei, demnach würde die dem Christentum zugemessene Zeitspanne im Jahre 1240 zu Ende gehen. So steht hinter dieser ungewöhnlichen Rechnung die Vorstellung vom Anbruch der Erlösung im Jahre 1240. Uber das ganze Dokument hin finden sich noch weitere Endzeitberechnungen, die sich auf einen längeren Zeitraum erstrecken; der früheste Zeitpunkt der Erlösung ist im Jahre 1236 angesetzt, der späteste 1352. Dass all diese Berechnungen in einem Schriftstück vereinigt wurden, besagt doch wohl, dass in den Augen des Redaktors zwischen diesen verschiedenen Daten kein Widerspruch bestand. Der Redaktor dürfte vor dem frühesten der angegebenen Erlösungsdaten gelebt haben; die meisten von ihm als unlängst verstorben genannten Gelehrten gehören denn auch in die zweite Hälfte des 12. Jh. (R. Samuel der Fromme, R. Mose b. Maimon, R. Isaak von Dampierre). Aus zwei anderen, in ihrer Art recht seltenen Nachrichten ist ein Nachhall der bitteren Enttäuschung zu vernehmen, dass die Erlösung im Jahre 1240 doch nicht eingetreten war. In einer Handschrift aus der Sammlung Oppenheimer in Oxford heißt es: „Das Gericht hätte vollendet sein sollen und der Glaube an Jesus hätte aufhören sollen mit dem Abschluss des fünften Jahrtausends, doch um unserer vielen Sünden willen ist davon abgegangen, was abgegangen ist; ich schreibe heute im Jahre fünftausend und [?] nach kleiner Zählung, und sie halten immer noch an ihrem verlogenen Glauben fest [...]". Da der Verfasser die Frankfurter Judenverfolgung von 1241 und die Talmudverbrennung zu Paris von 1242 erwähnt, dürfte er in den frühen vierziger Jahren des 13. Jh. geschrieben haben. 23 In einer weiteren Quelle aus den Kreisen der Chasside Aschkenas findet sich eine Endzeitberechnung auf das Jahr 1257, die ebenfalls davon ausgeht, dass der Anfang des sechsten Jahrtausends nach Erschaffung der Welt der geeignete Zeitpunkt für das Einsetzen der Erlösung sei. Dieser Text ist sicher nach 1240 verfasst, denn er macht eine Art Rettungsversuch des Jahres 5000 als Termin der Erlösung: Der Autor, R. Elasar von Worms, fügt der Endzeitberechnung weitere siebzehn Jahre hinzu. Er argumentiert damit, dass bis zur ersten Erlösung (der Landnahme) 2500 Jahre vergangen seien, deshalb müssten bis zur endzeitlichen Erlösung weitere 2500 Jahre vergehen. 24 Zusätzlich zu diesen jüdischen Quellen gibt es auch noch nicht-jüdische Belege für messianische Naherwartung auf das Jahr 1240, die später behandelt werden sollen. Schon im derzeitigen Stadium zeichnet sich Frankreich, 25 MS Opp. 613, im Katalog von Neubauer (s.o. Anm.3), Nr.2256, fol.63; veröffentlicht bei A . Neubauer, Seder haChachamim weQorot hajamim, Oxford 1 8 8 8 , 1 , 193. 24 A. Kupfer (Hg.), Teschuvot uPessaqim me'et Chachme Aschkenas weZarfat, Jerusalem 1973, § 183,308-312.

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Das Ende des Milleniums (1240)

in geringerem Maße auch Deutschland, als Zentrum der messianischen Hochspannung im Hinblick auf das Jahr 1240 ab. Aus dem Schreiben nach Alexandria geht hervor, dass die messianische Erwartung auch im Mittelmeerraum verbreitet war.

2 Messianismus, Pilgerfahrt und Einwanderung ins Heilige

Land

Wie zentral Frankreich in dieser messianischen Welle war, bezeugt ein noch unveröffentlichtes hebräisches Dokument in der Hessischen Landesbibliothek Darmstadt; es handelt sich um eine anonyme Schrift mit dem Titel .Auslegungen zum messianischen König und zu Gog und Magog'. 2 5 Der Verfasser weist sich als Schüler des R. Isaak b. Abraham aus, eines der bedeutendsten Tossafisten in Frankreich zu Anfang des 13.Jh. Der unmittelbare Anlass zur Abfassung dieser Schrift ist die Uberzeugung, dass der Messias vor dem Jahre 5000 nach Erschaffung der Welt, d.h. vor 1240, auftreten werde. Diese Berechnung gründet sich auf die talmudische ,Weissagung des Elia', wonach der Bestand der Welt sich über 6000 Jahre erstreckt, das erste Drittel bestimmt vom ,Chaos', das zweite von der ,Tora' und das dritte vom ,Messias'. 2 6 Eigentlich hätte das messianische Zeitalter mit dem Jahr 4000 nach Erschaffung der Welt beginnen sollen; jedenfalls kann es nicht später als mit dem Jahr 4999 (d.i. kurz vor 1240) einsetzen, denn sonst stünden die letzten zweitausend Jahre nicht unter dem Zeichen des Messias. Der Verfasser führt diese Berechnung auf seinen Lehrer, R. Isaak b. Abraham, zurück; da dieser bereits 1210 gestorben ist, war messianische Naherwartung also schon in der Generation vor 1240 verbrei2 5 MS Darmstadt, Codex Or. 25 - ich plane eine Edition dieses Kodex. Zu diesem Werk s. Urbach, Tossafisten (s.o. Anm.21), 270. Im Anschluss daran enthält die Handschrift die Chronik des sog. Mainzer Anonymus über die Judenverfolgungen im Rheinland 1096. Ein kurzer Abschnitt daraus findet sich bei späteren Verfassern zitiert und ist mehrfach veröffentlicht worden: Cbibbur Toz'ot Erez Israel, in: E. Yaari, Mas'ot Erez Israel schel Olim Jehudim, Tel Aviv 1946, 98; Sefer haManhig, Y. Rafael (Hg.), Jerusalem 1978, 81f; S. Assaf, Meqorot (s.o. Anm. 19), 90: „Gesehen haben wir die Worte unserer alten Meister, wie sie von unserem messianischen König prophezeiten, möge er bald kommen, in unseren Tagen, und so lauten ihre Worte [...]". Der in der Fortsetzung wiedergegebene Abschnitt ist aus dieser Schrift genomen; daraus folgt, dass die .Auslegungen zum messianischen König und zu Gog und Magog' in der Darmstadter Handschrift die Quelle für jene .Worte unserer alten Meister' in den Toz'ot Erez Israel sind. Ebenfalls behandelt ist der Text bei Elchanan Reiner, Pilgrims and Pilgrimage to Eretz Yisael 1099-1517 (hebr.), Diss. Jerusalem 1988, 114-118.153-155. Den ursprünglichen Text der Darmstadter Handschrift hatten bereits die älteren jüdischen Historiker in Deutschland entdeckt, etwa M. Stern, Analekten zur Geschichte der Juden, in: Magazin für die Wissenschaft des Judenthums 15 (1999), sowie H. Bresslau, Juden und Mongolen, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1 (1887), 102; ders., Ein Nachtrag, ebd., 2 (1888), 382 f. 2 i b Sanhedrin 97a.

Messianismus, Pilgerfahrt und Einwanderung

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tet. J e näher der kritische Zeitpunkt heranrückte, desto höher schlugen die Wellen der H o f f n u n g . Wichtig ist diese Schrift jedoch nicht nur wegen der darin enthaltenen Endzeitberechnung, sondern noch mehr wegen der darin geschilderten Vorbedingungen für das K o m m e n des Messias: E s soll sich d o c h n i e m a n d vorstellen, der m e s s i a n i s c h e K ö n i g w e r d e in einem kultisch unreinen L a n d erscheinen [ . . . ] es wäre auch falsch a n z u n e h m e n , er w e r d e im L a n d Israel inmitten der N i c h t - J u d e n ( G o j i m ) auftreten [ . . . ] . Es ist d o c h klar, dass T o r a - B e f l i s s e n e u n d F r o m m e u n d M ä n n e r der Tat aus allen vier Weltrichtungen im L a n d Israel sein m ü s s e n , einer p r o Stadt u n d zwei p r o F a m i l i e n v e r b a n d [vgl. J e r 3,14], jeder d e m D r a n g seines H e r z e n s f o l g e n d , jeder beseelt v o m G e i s t der Reinheit und von L i e b e z u m H e i l i g e n - danach wird unter ihnen der m e s s i a nische K ö n i g erscheinen.

Dieser Abschnitt war in der Forschung bekannt, weil er in Schriften vom Ende des 13.Jh. zitiert ist. 2 7 J e t z t lässt sich mit Sicherheit sagen, dass dieser Text Vorstellungen wiedergibt, die in Frankreich schon früher verbreitet waren, bereits in der Generation vor 1240. D e r hier geäußerte Gedanke ist etwas völlig N e u e s . Auch zuvor waren J u d e n ins Land Israel gezogen, um die Gräber der Patriarchen zu besuchen und die ans Heilige Land gebundenen G e b o t e auszuüben, aber das waren private Unternehmungen ohne messianische Zielsetzung gewesen. Im Gegenteil: N a c h der herkömmlichen Auffassung sollte erst der Messias die Zerstreuten Israels aus ihrem Exilländern sammeln und nach Zion bringen wie seinerzeit bei der Herausführung der Israeliten aus Ägypten. Die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft diente als Modell für die künftige Erlösung; daher sollte auch dort die Erlösung der Rückführung ins Heilige Land vorangehen. Messianischer Aktivismus, wonach die Ansiedlung von Juden im Heiligen Land noch vor der Ankunft des Messias geboten sei, war bis dahin nur unter den Jerusalemer Karäern im 10. Jh. üblich gewesen. So hatte etwa der Karäer Daniel al-Kumisi dazu aufgerufen, Delegationen von J u d e n aus verschiedenen Orten nach Jerusalem zu entsenden: 2 8 „Ihr aber, unsere israelitischen Brüder, [...] erhebt euch und k o m m t nach Jerusalem! [...]. U n d wenn ihr nicht kommen könnt, weil ihr zu tief in euren Handel verstrickt seid, dann schickt aus jeder Stadt fünf Männer samt ihrem Lebensunterhalt, auf dass wir zu einer Gemeinschaft werden, stets zu unserem G o t t zu flehen

E. Reiner, Pilgrims (s.o. A n m . 2 5 ) . D i e H a l t u n g der Karäer zur jüdischen Besiedlung des Heiligen Landes im lO.Jh. ist die einzige Ausnahme. Erstmals veröffentlicht ist das Schreiben des Daniel al-Kumisi bei J . Mann, A Tract by an Early Karaite Settler in Jerusalem, in: J Q R 12 (1922), 257-98, bes. 2 8 3 - 2 8 5 , ein zweites Mal bei E. Yaari, Iggerot Erez Israel, Tel-Aviv 1943, 56-59; s. ferner N . Wieder, T h e J u dean Scrolls and Karaism, L o n d o n 1962, 99-103; M . Gil, Erez Israel baTequfa hamuslimit harischona, Tel Aviv 1983, I, 506-508; Y. Erder, T h e Centrality of Palestine a m o n g Early Karaite Circles (hebr.), in: Zion 60 (1995), 37-67. 27

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auf den Bergen Jerusalems". 2 9 Diese Aufforderung erinnert sehr an die .Auslegung zum messianischen König und zu Gog und Magog', wo es heißt, „einer pro Stadt und zwei pro Familienverband" sollten nach Jerusalem entsandt werden. Derselbe Vers Jer 3,14 ist auch dem Karäer Sahel b. Mazliach vertraut: „Die Knechte des Ewigen, die sich dorthin [seil, nach Jerusalem] versammeln, einer pro Stadt und zwei pro Familienverband". 30 Solcher Aktivismus war im rabbinischen Judentum sonst nicht üblich. Hatte Maimonides doch in seinem Schreiben an die jemenitischen Juden ausdrücklich festgestellt, dass die Einsammlung der zerstreuten Judenheit nach Jerusalem erst nach der Offenbarung des Messias erfolgen solle. 31 Insofern stellt sich unser Anonymus gegen den gesamtjüdischen Konsensus, wodurch er sich vermutlich unbewusst der karaäischen Position annähert. Nach seiner Auffassung und der seines Lehrers ist die jüdische Besiedlung des Landes eine notwendige Vorbedingung für das Erscheinen des Messias. Er schreibt nämlich weiter: U n d w e n n die jüdische G e m e i n d e im Land Israel zahlreich g e w o r d e n ist, dann w e r d e n sie auf d e m heiigen Berge beten, u n d ihr Schreien w i r d z u m H i m m e l e m porsteigen, dann w i r d der messianische K ö n i g u n t e r ihnen o f f e n b a r t , u n d er w i r d die übrigen Exilierten z u s a m m e n f ü h r e n , denn die Israeliten w e r d e n h ö r e n , dass der messianische K ö n i g erschienen ist [...] dann w e r d e n ihm z u s t r ö m e n v o n allen H i m m e l s r i c h t u n g e n israelitische H e l d e n , er w i r d ein g r o ß e s H e e r a u f b i e t e n u n d Statthalter v o n Ismael und E d o m in J e r u s a l e m schlagen u n d die U n b e s c h n i t t e n e n v o n d o r t vertreiben.

Der Ausdruck ,ihr Schreien steigt zum Himmel empor' ist aus Ex 2,23 genommen und besagt: So wie seinerzeit in Ägypten Gott Israels Schreien vernahm und danach sein Volk erlöste, wird auch bei der endzeitlichen Erlösung Gott erst das Gebet der am Ort des Tempels versammelten Juden vernehmen und sie dann erlösen. Daher ist die Einwanderung einer auserwählten Schar von Juden ins Heilige Land eine unerlässliche Vorbedingung für das Eintreten der messianischen Erlösung, deren Stadien daraufhin sozusagen von selbst ablaufen werden: Sobald die Kunde vom Auftreten eines jüdischen Königs im Land Israel sich verbreiten wird, werden die Juden aus aller Welt von sich aus dorthin strömen. Aus ihnen wird dann eine jüdische Armee zusammengestellt, die zunächst die im Lande befindlichen Truppen

Mann, ebd., 285. Gil, Erez Israel (s. o. Anm. 28), 507. Die karäischen Einwanderer werden als Maskilim bezeichnet, was wohl den „Torabeflissenen, Frommen und Tatkräftigen" im vorliegenden Dokument entspricht. Zum messianischen Bezug in der karäischen Literatur der Maskilim als ToraLehrer s. Wieder, Scrolls (s.o. Anm.28), 104-112. 29

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31 fggerot haRaMBaM, Y. Shilat (Hg.), I, Jerusalem 1987, 153; englisch zugänglich in: Crisis and Leadership: Epistles of Maimondes, trans, and notes by A. Halkin, discussion by D. Harman, Philadelphia 1985, 125.

Messianismus, Pilgerfahrt und Einwanderung

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der Kreuzfahrer und Moslems schlagen wird, und dann sollen die Christen aus Jerusalem vertrieben werden. In der Fortsetzung des Textes ist von der Aussendung eines Kreuzfahrerheeres die Rede, doch der jüdische König werde ,die Helden von Ephraim' zur entscheidenden Schlacht aufbieten. Zum Schluss sollen die Christen aus dem Land Israel vertrieben werden, Rom zerstört, ,und danach wird der ganze Same Esaus vertilgt sein'. Dieses Drehbuch orientiert sich, wie kaum anders zu erwarten, an den politischen Verhältnissen der Kreuzzüge. Der messianische König ist gezeichnet wie ein Kreuzfahrerkönig. Die Vorstellung, dass der Messias erst auftreten werde, nachdem das Land jüdisch besiedelt sein würde, wirkt wie eine Übernahme des Kreuzfahrerideals von der Christianisierung des Heiligen Landes. Die jüdisch-messianische Hoffnung zur Zeit der Kreuzzüge war konfrontiert mit der Wirklichkeit eines Landes, um das zwei andere Religionen, nämlich das Christentum und der Islam, rangen. Der hier vorliegende Entwurf stellt das jüdische Bemühen dar, die historische Uhr sozusagen zurückzudrehen in eine Zeit, da der Kampf um die Heiligkeit des Landes zwischen Juden und Christen geführt wurde. Dieser Aufruf, das Kommen des Messias noch vor dem Jahre 1240 durch Einwanderung von Juden ins Heilige Land vorzubereiten, geht gut mit den Nachrichten über die Einwanderung von Gruppen jüdischer Gelehrter aus Frankreich seit 1211 zusammen, was in den Quellen als die .Einwanderung der dreihundert Rabbiner' bezeichnet wird. 32 In der Forschung sind verschiedene Meinungen über die mutmaßliche Motivation dieser Einwanderungswelle geäußert worden. L. Zunz, E.N. Adler, A.H. Silver und E.E. Urbach 3 3 haben auf den messianischen Faktor verwiesen, was aber von späteren Forschern 3 4 verworfen wurde. Die hier vorgelegten neuen Daten sind dazu angetan, die messianische Erklärung nicht unwesentlich zu unterstützen. Der herausragendste Gelehrte unter diesen französischen Einwanderern war R. Simson von Sens, der jüngere Bruder des oben erwähnten R. Isaak b. Abraham. Jenem war es nicht vergönnt gewesen, sein messianisches Kon-

32 Vgl. E. Kanarfogel, The Aliyah of „Three Hundred Rabbis" in 1211: Tosafist Attitude Toward Settling in the Land of Israel, in: J Q R 76 (1986), 191-215; Reiner, Pilgrims (s.o. Anm.25), 39f, 55-69; S.D. Goitein, A New Source Concerning the Aliyah of the French Rabbis and Their Entourage (hebr.), in: hajischuv beErez Israel beReschit halslam uweTequfat haZalbanim leOr Kitve haGentsa, Jerusalem 1980, 338-343. 35 L. Zunz, Erlösungsjahre (1971), in: Ders., Gesammelte Schriften III, Berlin 1876, 227; E. N. Adler, Notes sur Immigration en Palestine de 1211, in: REJ 85 (1918), 71; Abba H. Silver, A History of Messianic Speculation in Israel, New York 1924, 75f; Urbach, Tossafisten (s.o. Anm. 18), 334 (vgl. jedoch seine Ausführungen, ebd., 125f). 34 G.D. Cohen, Messianic Postures of Ashkenazim and Sefardim, in: M. Kreutzberger (Hg.), Studies of the Leo Baeck Institute, New York 1967, 124; Kanarfogel, 300 Rabbis (s.o. Anm.32), 196; Reiner, Pilgrims (s.o. Anm.25), 115-117.153f.

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zept in die Tat umzusetzen, da er ein Jahr vor der Einwanderung seines Bruders gestorben war. Er hatte allerdings noch mit R. Jonathan von Lunel korrespondiert, bevor dieser 1209 ins Heilige Land gezogen war. R. Isaak b. Abraham hatte auch eine halachische Schrift über die speziell das Heilige Land betreffenden G e b o t e verfasst. Seine N ä h e zum Kreis der rabbinischen Einwanderer ist so gut belegt, dass ihn vermutlich nur sein Tod im Jahre 1210 daran gehindert haben dürfte, sich ihnen anzuschließen. Sein Schüler, der Verfasser der vorliegenden Schrift, gehörte zu den französischen Tossafisten, aus denen die G r u p p e der dreihundert Rabbiner' sich konstituierte. In Anbetracht dessen möchte ich dafür plädieren, diese Schrift als das Programm zu betrachten, das der Einwanderung der Rabbiner aus Frankreich zugrundelag. D e r Verfasser bemerkt mit Genugtuung: „Denn ein Geist aus der H ö h e k o m m t über die Reinen, nach Zion hinaufzuziehen"; dadurch bezeugt er, dass die Einwanderung zu seinen Lebzeiten stattfand und dass ihre Zielrichtung den messianischen H o f f n u n g e n auf das Jahr 1240 entsprach. Sprachlich weist dieser Satz markante Anklänge an die Hauptquelle über die Einwanderung jener dreihundert Rabbiner auf, zur hebräischen Chronik ,Die Könige von E d o m ' , die Salomo ibn Vergas Schevet Jehuda angefügt wurde. D o r t heißt es, im Jahre 1211 habe G o t t .Rabbiner von Frankreich und Rabbiner von Angleterre erweckt, nach Jerusalem zu gehen'. 3 5 Die beiden Sätze entsprechen einander: der Ausdruck , G o t t erweckte' entspricht dem ,Geist aus der H ö h e ' , die .Rabbiner von Frankreich und von Angleterre' sind ,die Reinen', und ,nach Jerusalem gehen' ist gleichbedeutend mit ,nach Zion hinaufziehen'. Demnach könnte die Darstellung bei ibn Verga auf der vorliegenden Schrift beruhen, wo der Einwanderung nach Zion ausdrücklich messianische Bedeutung beigemessen wird. Auch die Schilderung der Einwanderer als .weise, f r o m m e und reine' Männer passt gut zu der pietistischmessianisch ausgerichteten französischen Einwanderung ins Heilige Land im ersten Viertel des 13. J h . Die Annahme, dass die Einwanderung der dreihundert Rabbiner aus Frankreich auf messianischem Hintergrund erfolgte, wirft neues Licht auf eine weitere Endzeitberechnung. In seinem ca. 1172 verfassten Schreiben an die jemenitischen J u d e n bringt Maimonides eine eigene Berechnung für die Erneuerung der Prophetie in Israel, in seinen Augen eine Vorstufe zum Erscheinen des Messias. 3 6 N a c h dem Wortlaut des arabischen Originals handelt es sich um das Jahr 4970 (1209/10), nach der hebräischen U b e r s e t z u n g von Samuel ibn T i b b o n u m das Jahr 4972 (1211/12); das erste dieser Daten geht zusammen mit der Einwanderung des R. Jonathan von Lunel, eines der

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Salomo ibn Verga, Schevet Jehuda (Schochat/Baer [Hg.]), Jerusalem 1947, 147. IggerothaRaMBaM (s.o. Anm.31), 153; englisch: 122.

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großen Verehrer des Maimonides in der P r o v e n c e 3 7 , das zweite mit der Einwanderung der dreihundert Rabbinen, die sich zunächst in Jerusalem niederließen und engen K o n k t zu R. Abraham, dem Sohn des Maimonides, unterhielten. Von daher ist nicht auszuschließen, dass die messianischen B e rechnungen des Maimonides ein weiterer F a k t o r unter den Motiven für die Einwanderung der französischen Tossafisten waren, selbst wenn sie ursprünglich nicht in deren millenaristischen Erwartungen auf das Ende des 5. Jahrtausends hin gründeten. Dies eröffnet auch eine neue Sicht der intensiven Bemühungen um die jüdische Besiedlung Jerusalems zur Zeit der Ayyubiden-Herrschaft, ein P r o j e k t unter der Leitung von R. Abraham, dem Sohn des Maimonides. Wie Elchanan Reiner gezeigt hat, erneuerte sich die jüdische Besiedlung Jerusalems erst 1210, als R. J o n a t h a n von Lunel sich dort niederließ. Diese Periode dauerte nur neun Jahre lang, bis der ayyubidische Herrscher al-Malik al-Kalim die Mauern der Stadt einreißen ließ, kurz bevor die Teilnehmer des fünften Kreuzzugs an der ägyptischen Küste landeten. 3 8 Aufschluss über spätere Äußerungen der messianischen Spannung in Frankreich und deren Beziehung zur Einwanderung von Juden ins Heilige Land bietet offenbar ein Schreiben, das der ägyptische Chacham R. Chananel, der Dajjan, Schüler und Schwiegersohn des Maimonides, erhielt. D e r Brief wurde im Mai 1235 geschrieben und zwar von einem jüdischen Kaufmann aus Alexandria; er berichtet, unlängst aus Marseille eingetroffene Besucher wüßten von einer großen Menge französischer Juden, die sich anschickten zu k o m m e n , und , G o t t schütze uns vor den Unannehmlichkeiten, die sie bereiten werden'. 3 9 Es dürfte sich um eine weitere Gruppe von französischen Juden gehandelt haben, die über Ägypten ins Heilige Land ziehen wollten. Als Hintergrund für ihre Einwanderung vermutet Goitein die Verordnungen, die König Ludwig der F r o m m e gegen das Zinsnehmen in Frankreich erlassen hatte; ich habe eher den Eindruck, dass wir hier eine weitere Gruppe von Einwanderern (über deren weiteres Schicksal nichts bekannt ist) vor uns haben im Zuge der messianischen Naherwartung, die in Frankreich gegen Ende des fünften Jahrtausends nach Erschaffung der Welt um sich griff.

Vgl. Reiner, Pilgrims (s.o. A n m . 2 5 ) , 3 9 f . Reiner, Pilgrims (s.o. A n m . 2 5 ) , 43. Als die Stadt 1229 infolge der Ubereinkunft zwischen dem deutschen Kaiser Friedrich II. und al-Malik al-Kalim unter christliche Herrschaft geriet, wurde Juden der Zutritt untersagt. D o c h 1236 wurden Verhandlungen mit den Kreuzfahrer-Behörden von Jerusalem aufgenommen, die dazu führten, dass den Juden der Zugang zu den heiligen Stätten und die Ansiedlung in einem bestimmten Viertel gestattet wurden. In jenen Jahren erreichte die messianische Spannung ihren Höhepunkt, und die Bemühungen um die Sicherung jüdischer Präsenz in Jerusalem waren vielleicht auch dadurch motiviert. 57

18

3 9 Vgl. S.D. Goitein, ,R. Hananel haDayyan Ha-Gadol', Shmuel ha-Nadiv, Maimonides' Son-in-Law (hebr.), in: Tarbiz 50 (1981), 383.

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Die messianische Erwartung auf das Jahr 1240 äußerte sich noch bei anderen Gelegenheiten. Im Jahre 1236 zog R. Mose von C o u c y durch die jüdischen Gemeinden in Spanien und rief sie zu Buße und Umkehr auf; seine auf dieser Missionsreise gehaltenen Predigten sind in sein Buch Sefer Mizwot gadol (,das große Buch der Gebote') eingegangen - eines der bedeutendsten kodifikatorischen Unternehmungen des Mittelalters. R. Mose von C o u c y trat in ähnlicher Weise auf wie die franziskanischen und dominikanischen Wanderprediger, die ebenfalls umherzogen, um ihre Zuhörer wieder auf den rechten Weg zu führen. Er selbst verweist auf einen .Anstoß vom Himmel, dass ich herumreise und die Zerstreuten Israels zur Rechenschaft ziehe' 4 0 . Der .Anstoß vom Himmel' erinnert ein wenig an den oben erwähnten .Geist aus der Höhe'; dahinter könnte ein messianisches Programm stehen. 4 1 Auch der Lehrer und Meister des R. Mose von Coucy, R. Jehuda b. Isaak Sir Leon von Paris, ist unter die französischen und deutschen Juden zu rechnen, die das Kommen des Messias im Jahre 1236 erwarteten. 4 2 In einer stark messianisch geprägten Predigt äußert R. Mose von C o u c y die Befürchtung, seine Zeitgenossen könnten dasselbe Schicksal erleiden wie die Generation der Wüstenwanderung: Sie erlebten zwar den Erlösungsakt des Exodus, aber um ihrer Sünden willen gelangten sie nicht ins gelobte Land, sondern starben unterwegs. 4 3 Daraus folgt, dass die hier vorliegende messianische Erwartung davon ausgeht, dass dem Erscheinen des Messias eine großangelegte Umkehrbewegung vorangehen müsse. Die beiden bisher beobachteten Reaktionen auf messianische Erwartungen für das Jahr 1240 entsprechen genau zwei hervorstechenden religiösen Erscheinungen in Frankreich zu Beginn des 13.Jh.: dem Kreuzfahrertum und der Entstehung der Mendikanten-Orden. 4 4

40 Sefer Mizwot gadol, Venedig 1547, II: Gebote, § 3. In seiner Einleitung zu I: Verbote, benützt er dieselbe Ausdrucksweise: „Es geschah ein Anstoß vom Himmel, dass ich herumreise und die Zerstreuten Israels zur Rechenschaft ziehe". 41 Nach dieser Auffassung muss Umkehr des Menschen zu Gott vor dem Erscheinen des Messias erfolgen, was vielleicht auf b Jebamot 24b zurückgeht, wonach in der messianischen Epoche keine Proselyten mehr ins Judentum aufgenommen werden. Die entsprechende Position vertritt R. Jakob Molin, indem er einen Analogieschluss zieht: So wie in der messianischen Epoche keine Proselyten mehr aufgenommen werden, weil dann nicht mehr sicher ist, ob ihre Konversion aus lauteren oder aus eigennützigen Motiven hervorgeht, wird dann auch keine Umkehr mehr möglich sein, denn auch deren Motive werden suspekt ( M a H a R I L , Minhagim, Spitzer [Hg.], Jerusalem 1989, 305). 42 Vgl. Marx, Year of Redemption (s.o. Anm. 13), 198. 43 I. Ta-Shma, A n Epistle and a Sermon: Words of Inspiration by One of Our Early Rabbis (hebr.), in: Moriah 19 (1994), H. 5-6, 7 - 1 2 ; I. Gilat, Two Baqqashot of Moses of Coucy (hebr.), in: Tarbiz 28 (1959), 54-58; J. Katz, Exclusiveness and Tolerance, New York 1962, 80, nimmt an, dass R. Mose von Coucy damit rechnete, dass sich die Christen in der Endzeit zum Judentum bekehren würden. 44 Dazu C.T. Maier, Preaching the Crusades: Mendicant Friars and the Cross in Thirteenth

Fulda 1235, Paris 1240: Christliche Reaktionen?

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3 Fulda 1235, Paris 1240: Christliche Reaktionen f Wie verhielten sich die Christen gegenüber der messianischen Erregung, die unter den Juden um sich griff? Ich möchte behaupten, dass die christliche Welt nicht unbeteiligt blieb. Das messianische Programm war darauf angelegt, den politisch-religiösen Status der Juden von Grund auf zu verändern, so dass sie aus einer unterdrückten und verachteten zu einer herrschenden Volksgruppe werden sollten. In den messianischen Erwartungen ist die Aussicht auf ein strenges Endgericht enthalten, in dem Gott über die Völker der Welt, die Israel gequält und verknechtet hatten, das Urteil sprechen und die gebührende Strafe vollziehen lassen wird. Der Zeitpunkt, zu dem die göttlich-messianische Gerechtigkeit zum Zuge kommen soll, ist der Sturz Edoms, der christlichen Kirche, der mythischen Nachfolgerin des römischen Weltreichs, durch das Jerusalem zerstört worden war. Solche Perspektiven konnten die christliche Seite nicht gleichgültig lassen. Christen hegten in der Tat die Sorge, dass in irgendeiner abgelegenen Weltgegend das jüdische Königtum der zehn Stämme des ehemaligen israelitischen Nordreichs liegen könnte; der Alexander-Roman ist ein markanter Beleg für solche Befürchtungen. 45 Andrew Gow hat auf die während des 13. Jh. in Deutschland umgehende Sage vom ,Roten Juden' aufmerksam gemacht, worin die Juden als Bösewichte dargestellt werden, die Europa ins Unglück stürzen wollen.46 Für die Bezeichnung der Juden als ,rot' sind verschiedene Erklärungen vorgebracht worden; vielleicht steckt dahinter die Vertauschung der Rollen nach dem jüdisch-messianischen Schema: Der Name ,Edom', die typologische Bezeichnung der christlichen Kirche, ist von dem hebräischen Farbadjektiv adom (,rot') abgeleitet, und ,Edom' ist laut biblischen Prophezeiungen in der Endzeit zum Untergang verurteilt. Die christliche Sage vom ,Roten Juden' diktiert also den Juden das messianische Schicksal zu, das die Juden den Christen mit Erscheinen des Messias bestimmt hatten. Die von der jüdischen Eschatologie über die Christen verhängte Vernichtung könnte verständlich machen, weshalb die aschkenasische Judenheit jedem messianischen Aktivismus äußerst zurückhaltend gegenüberstand; die Juden in Deutschland hatten Angst vor den zu erwartenden christlichen Reaktionen. Die Existenz der Juden im aschkenasischen Raum war vom HeiliC e n t u r y , Cambridge 1994. Zu Wanderpredigern s. H . G r u n d m a n n , Religiöse Bewegungen im Mittelalter, Hildesheim 1961 (repr.), 442-452.503-513. 45 Vgl. A. Neubauer, Where are the Ten Tribes? in: J Q R 1 (1889), 14-28.95-114.184-201; B. M c G i n n , Visions of the End, N e w York 1998; C . F . Beckingham/B. H a m i l t o n (Hg.), Prester, J o h n , the Mongols and the Ten Lost Tribes, [ohne D r u c k o r t ] 1996. ** A . C . Gow, The Red Jews: Antisemitism in an Apocalyptic Age 1200-1600, L e i d e n / N e w York/Köln 1995.

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gen Römischen Reich abhängig, und genau dieses sollte durch den messianischen Umschwung vertilgt werden - kein Wunder, dass Juden in Deutschland an diesem Punkt vorsichtig waren. Auf diesem Hintergrund wird eher begreiflich, was schon Kanarfogel erstaunte, nämlich das Fehlen von aschkenasischen Juden unter denjenigen, die im Lauf des 13. Jh. aus Europa ins Heilige Land übersiedelten. 47 In eben dem Zeitraum, als sich die französischen Juden dazu anschickten, praktische Schritte zur Herbeiführung der messianischen Erlösung zu ergreifen, setzte sich unter den deutschen Juden eine pietistische Strömung durch, die sich jeder politischen oder privaten Maßnahme, die das messianische Geschehen beschleunigen wollte, energisch widersetzte. 4 8 Die Chasside Aschkenas plädierten entschieden gegen die Einwanderung ins Heilige Land und gegen jegliche Vorwegnahme der messianischen Endzeit; sie gingen sogar so weit, jeden, der vorzeitig ins Land Israel einwandern werde, mit dem Tod zu bedrohen. 49 Dieses ausdrückliche Verbot liest sich wie eine direkte Polemik gegen das soeben geschilderte messianische Aktionsprogramm der französischen Juden. 50 Die scharfe Formulierung erweckt den Eindruck, dass der aschkenasische Verfasser die Bemühungen seiner französischen Kollegen für wirklich gefährlich hielt. Anscheinend ist dies auch der historische Hintergrund, auf dem die aus den Kreisen der Chasside Aschkenas hervorgegangenen Warnungen zu sehen sind, der Termin des Endes müsse verborgen gehalten werden. An einer dieser Stellen heißt es im Sefer Chassidim, wer das Weltende voraussage, tue dies kraft Zauberei, denn nur Dämonen hätten die Absicht, ihm eine falsche Berechnung einzugeben, so dass er durch das Nichteintreffen seiner Verkündung zum Gespött werde. 51 In der Fortsetzung ist (nur in der Handschrift Parma) eine wundersame Begebenheit berichtet, die sich in den slawischen Ländern (in .Kanaan') zugetragen haben soll: Angeblich konnten Frauen und ungelehrte Personen plötzlich die Trostkapitel aus dem Buch des Propheten Jesaja auswendig aufsagen. Wie schon Joseph Dan gezeigt hat, steht die vollständige Schilderung dieses Falles in einer noch unveröffentlichten chassidischen Handschrift:

300 Rabbis, s.o. Anm.32. Auf die messianisch-passive Haltung der aschkenasischen Juden im Unterschied zum messianischen Aktivismus der sefardischen hat schon G. Cohen aufmerksam gemacht (Messianic Postures, s.o. Anm.34, 1 1 7 - 1 5 8 ) . Vgl. auch P. Schäfer, The Idea of Piety of the Ashkenazi Hasidim and Its Roots in Jewish Tradition, in: Jewish History 4 (1990), 15 f. 49 Dazu I. Ta-Shma, The Attitude to Aliya to Eretz Israel (Palestine) in Medieval German Jewry (hebr.), in: Shalem 6 (1992), 3 1 5 - 3 1 8 . 50 Vgl. A. Grossman, The Attitude of R. Meïr of Rothenburg to the Land of Israel (hebr.), in: Cathedra 9 (1997), H. 84, 82. 51 Sefer Chassidim, Druck Bologna, R. Margulies (Hg.), Jerusalem 1970, § 206; MS Parma, J. Vistinetsky/J. Freimann (Hg.), Frankfurt/M. 1924, § 212. 47 48

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E s begab sich einmal, dass j e m a n d sagte, der Messias w e r d e k o m m e n , und folgendes Z e i c h e n dafür gab: D i e ganze Stadt, U n g e b i l d e t e und F r a u e n w ü r d e n a m folgenden Tag die T r o s t p r o p h e z e i u n g e n aus Jesaja w ö r t l i c h aufsagen. A n d e r n t a g s sagten die A n a l p h a b e t e n u n d die F r a u e n sämtliche T r o s t v e r s e aus Jesaja w ö r t l i c h auf. D a z u heißt es in der Schrift ,und es kam ein L ü g e n g e i s t in den M u n d all seiner P r o p h e t e n ' ( l K ö n 2 2 , 2 2 ) . "

In Osteuropa war also ein Prophet aufgetreten und hatte das Kommen des Messias angekündigt; das für die Richtigkeit seiner Verkündung angegebene Zeichen war eingetroffen, und trotzdem beharrte der Chassid darauf, die Prophezeiung sei falsch. Gewisse Berührungspunkte zwischen diesem Ereignis und der oben erwähnten französischen Prophezeiung auf das Jahr 1240 hat schon Joseph Dan beoachtet: Auch dort ist berichtet, R. Elasar von Worms habe die Glaubwürdigkeit des Propheten (deren Uberprüfung womöglich von ihm veranlasst war) bestätigt: „Es ist kein Falsch in seinem Munde [...] wann immer man ihn prüfte, (stellte sich heraus, dass) er die Wahrheit sprach"; auch in den Worten jenes Propheten waren Trostsprüche aus Jesaja enthalten. 53 Demnach dürfte sich auch die im Sefer Chassidim geschilderte messianische Verkündung auf das Jahr 1240 bezogen haben. Aus diesen Quellen ist auf lebhafte interne Auseinandersetzungen unter den Chasside Aschkenas über Endzeitverkündungen und deren Glaubwürdigkeit zu schließen. Dan meint, der Widerstand der Chasside Aschkenas sei taktisch begründet gewesen: Sie hätten die Richtigkeit messianischer Berechnungen vielleicht nicht bezweifelt, deren öffentliche Bekanntmachung aber aus Sorge vor den etwaigen Folgen strikt abgelehnt. Er stützt diese Annahme auf folgende chassidische Auslegung: 54 . D e n n ein R a c h e t a g ist in m e i n e m H e r z e n ' Qes 6 3 , 4 ) - mein H e r z hat ihn m e i n e m M u n d nicht gesagt, und mein M u n d hat ihn den G e s c h ö p f e n nicht gesagt und wird ihn nicht sagen, denn wenn sie ihn w ü s s t e n , w ü r d e m a n sie aus d e m G r a b her a u f b e s c h w ö r e n , damit sie ihn v e r k ü n d e n . 5 5 U n d wenn die Vereinzelten auf der Welt, die das messianische E n d e wissen, es v e r k ü n d e n wollten - sobald sie es m ü n d l i c h o d e r schriftlich mitteilen wollten, k ö n n t e n sie nicht bestehen, denn der Heilige gelobt sei E r e n t z o g das W i s s e n u m den E n d t e r m i n d e m E r z v a t e r J a k o b , als dieser ihn seinen S ö h n e n mitteilen w o l l t e . 5 6

52 MS Oxford 1567; vgl. J. Dan, Torat haSod schel Chassidut Aschkenas, Jerusalem 1968, 241-245. 53 Vgl. die oben, Anm. 19, zitierte Veröffentlichung von S. Assaf (Meqorot). 5 4 Vgl. J . Dan, The Problem of Martyrdom in the Theoretical Doctrine Teaching of Ashkenazic Hasidism (hebr.), in: Israel Historical Society (Hg.), Milchemet Qodesch uMartyrologia beToldot Israel uweToldot haAmim, Jerusalem 1968, 125. 5 5 D.h. G o t t lässt keinen Menschen den Termin des Endgerichts wissen, denn sonst könnten Totenbeschwörer diesen Menschen dazu bringen, das Geheimnis zu enthüllen. 5 ' Dies bezieht sich auf die Gen 49,1 angekündigte Endzeit-Prophezeiung, die in Jakobs folgender Rede nicht stattfindet. Dieses Motiv kommt auch in einer Endzeitberechnung vor, die

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Auf diesen Text gründet Dan seine Feststellung, dass die Führung der Chasside Aschkenas zwar um das herannahende Weltende gewusst, dieses Wissen aber geheim gehalten hätten. Meines Erachtens war diese Strategie motiviert durch die Sorge vor den bösen Reaktionen, die unvorsichtige Äußerungen über das messianische Endgericht an der christlichen Welt und lebhafte messianische Hoffnungen von Seiten der nicht-jüdischen Umwelt auszulösen drohten. Insofern ist es kein Zufall, dass die chassidische Auslegung hier an einem Jesaja-Vers ansetzt, wo es um das an Edom zu vollziehende Endgericht geht; hier wird deutlich gemacht, dass die Hoffnung auf Rache an den Widersachern am Ende der Tage ihren Platz im Herzen hat, aber nicht im Munde. Die deutsche Chronik Gesta Treverorum vermittelt eine Vorstellung von den Gefahren, welche die deutsche Judenheit in Zuge messianischer Hochspannung bedrohten: V i e l e u n t e r d e n J u d e n b e g a n n e n sich z u f r e u e n , d e n n sie g l a u b t e n , i h r M e s s i a s w e r d e in j e n e m J a h r e k o m m e n u n d sie in die F r e i h e i t f ü h r e n . D a s w a r im J a h r 1 2 4 1 . E t l i c h e u n t e r d e n C h r i s t e n v e r d ä c h t i g t e n die J u d e n , sie w o l l t e n d e n C h r i s t e n etwas S c h l i m m e s a n t u n , d a h e r fielen die J u d e n in U n g n a d e . Sie e r h i e l t e n jed o c h d e n S c h u t z d e r kaiserlichen Ä g i d e . 5 7

Moritz Stern 58 meinte, das hier in den Gesta Treverorum angedeutete Ereignis sei der Uberfall auf die Frankfurter Juden im Jahre 1241, aber der Text spricht ausdrücklich von der Verleihung wirkungsvollen kaiserlichen Schutzes an die Juden; dabei dürfte es sich um das 1236 sämtlichen Juden des Reiches von Friedrich II. verliehene Privileg handeln, in dem deren Status erstmals als kaiserliche ,Kammerknechte' definiert wurde.59 Dieser Wandel im rechtlichen Status der Juden erfolgte als Reaktion auf die Blutlüge von Fulda in der Weihnachtsnacht 123 5. 60 Im selben Jahr wurden Juden in Deutschland an drei weiteren Orten des Ritualmords bezichtigt: in Lauda,

R. Petachja von Regensburg in den 70er Jahren des 12. Jh. von einem Astrologen namens R. Salomo in Ninive gehört haben soll; dieser habe den Termin des Weltendes gekannt, aber für sich behalten mit der Begründung, das gefährliche Wissen werde ihm entzogen werden, sobald er sich anschicke, es mitzuteilen; vgl. den oben, Anm. 14, zitierten Beitrag von A. David (New Verion), 257. 57 Gestorum Treverorum Continuatio IV, in: M G H Scriptores, X X I V , Hannover 1879, 404; vgl. Aronius, Regesten (s.o. A n m . 4 ) , 228. 58 M. Stern, Analekten zur Geschichte der Juden, in: Magazin für die Wissenschaft des Judenthums 15 (1888), 113 f. 5 9 M G H Constitutiones, II, L. Weiland (Hg.), Hannover 1896, 2 7 4 ff, N r . 2 0 4 ; vgl. auch R. Hoeniger, Zur Geschichte der Juden Deutschlands im Mittelalter, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1 (1887), 1 3 6 - 1 5 1 . 60 Dazu G. Langmuir, Ritual Cannibalism, in: Toward a Definition of Antisemitism, Berkel e y / L o s Angeles 1990, 2 6 3 - 2 8 1 .

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in Tauberbischofsheim und in Wolfhagen - ein konzentrierter Ausbruch der Blutlüge gegen die Juden. Sobald er von der Ritualmordanklage in Fulda erfuhr, ordnete der Kaiser eine Uberprüfung der gegen die Juden erhobenen Beschuldigungen an. Er berief kirchliche Würdenträger und Fürsten aus verschiedenen Teilen des Reiches an seine Residenz nach Hagenau, doch die unter den Anwesenden aufbrechenden Meinungsverschiedenheiten ließen keinen gemeinsamen Beschluss Zustandekommen. Daher beraumte Kaiser Friedrich im Juli 1236 eine weitere Versammlung in Augsburg an, zu der getaufte Juden von außerhalb Deutschlands - aus England, Spanien und Frankreich geladen wurden. Diese Versammlung kam zu dem Schluss, die Ritualmordbeschuldigung gegen Juden sei erlogen. Gleichzeitig mit seinen Maßnahmen zur Widerlegung der Blutlüge erklärte Kaiser Friedrich die Juden zu seinen ,Kammerknechten' (servi camerae), um sie so künftigen Anschuldigungen dieser Art zu entziehen; 61 m.E. ist es das, was in den Gesta Treverorum angesprochen ist. Der Satz „etliche unter den Christen verdächtigten die Juden, sie wollten den Christen etwas Schlimmes antun" könnte sich auf das beziehen, was der Verleihung wirksamen kaiserlichen Schutzes voranging, nämlich auf den Ritualmordprozess in Fulda. In diesen Blutbeschuldigungen artikulierte sich die Befürchtung der Christen, die Juden .wollten ihnen etwas Schlimmes antun', und zwar aufgrund der Gewissheit, die Ankunft des jüdischen Messias stehe unmittelbar bevor. Auf den Zusammenhang zwischen Ritualmordbeschuldigung und messianischer Naherwartung hatte hundert Jahre zuvor der Konvertit Theobald von Canterbury hingewiesen. Anlässlich der Blutlüge von Norwich sagte er bereits im Jahre 1149, die Juden seien überzeugt, der Messias könne nicht kommen, ohne dass Christenblut vergossen werde. 62 So verknüpfte Theobald jüdisch-messianisches Rachedenken mit der Ritualmordbeschuldigung. Im .Gebet des R. Simon b. Jochai', einem apokalyptischen Text aus dem 13.Jh., findet sich diese Kombination jüdisch belegt. 6 Dessen Verfasser, der in den Kreuzfahrerkriegen im Heiligen Lande den Anbruch der Erlösung erblickte, warf den Christen vor, sie saugten Kleinkindern das Hirn aus dem Kopf und brächten Jesu täglich Kinderopfer dar. Hier treten also das messianische Motiv und der Ritualmord in einer jüdischen Quelle

" Dazu S. Baron , .Plenitude of Apostolic Powers' and Medieval J e w i s h Serfdom' (hebr.), in: Salo Baron u.a. (Hg.), Baer F S , Jerusalem 1960, 1 0 2 - 1 2 4 ; A. Patschovsky, Das Rechtsverhältnis der Juden zum deutschen König ( 9 . - 1 4 . J h . ) . Ein europäischer Vergleich, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte: Germanistische Abteilung 110 (1993), 3 3 1 - 3 7 1 . 62 Vgl. dazu oben, Kap. I V Anm. 82.

" Vgl. J . E . Shemuel, Midrasche Geula: Jüdisch-apokalyptische Texte vom Abschluss des Talmud bis in den Anfang des 6. Jahrtausends (hebr.), Jerusalem/Tel-Aviv 1954, 281 f.

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zusammen auf, worin man wohl eine Reaktion auf die entsprechenden von christlicher Seite gegen die Juden erhobenen Beschuldigungen sehen kann. Es liegt nahe, dass die jüdische Messias-Erwartung für das Jahr 1240 auf diese oder jene Weise mit den großen politischen Ereignissen jener Zeit zusammenhing; womöglich lag sie den vier Ritualmordbeschuldigungen des Jahre 1235 zugrunde. Wie weiter oben ausgeführt, setzte die unter den deutschen Juden verbreitete messianische Zeitrechnung das Ende des sechsten Jahrtausends nach Erschaffung der Welt im Jahre 1235 an, die entsprechende französisch-jüdische Rechnung dagegen 1240. Insofern stand die Erklärung der Juden zu kaiserlichen Kammerknechten im Widerspruch zum politischen Aspekt der jüdisch-messianischen H o f f n u n g auf Befreiung von der christlichen Knechtschaft. Von Friedrich II. aus war diese StatusÄnderung der Juden ein raffinierter politischer Schachzug. Bernhard Diestelkamp hat gezeigt, wie lebhaft die Dominikaner, die treuesten Handlanger des Papstes, bei der Erhebung und Untersuchung der Fuldaer Ritualmordanklage engagiert waren. 6 4 Er hat dargelegt, dass die Untersuchung in Fulda Züge eines Inquisitionsprozesses trug, auf dem Hintergrund einer Welle von Verfolgungen ketzerischer Bewegungen in Deutschland zu jener Zeit. Die Versammlungen, die Friedrich II. nach Hagenau und Augsburg einberief, sind dessen unmittelbare Reaktion auf die Einmischung der Dominikaner in interne Angelegenheiten seines Herrschaftsbereiches. Kaiser Friedrich war klar, dass die Einflussnahme der Dominikaner nicht auf die Juden von Fulda beschränkt bleiben, sondern sich über die gesamte Judenheit seines Reiches ausdehnen würde. Daher arbeitete er mit denselben Mitteln wie die Dominikaner: Er veranstaltete einen Inquisitionsprozess, um die U n schuld der Juden zu erweisen. Die Vorladung der Zeugen nach Hagenau und Augsburg zwecks Klärung künftiger Anschuldigungen gegen die Juden trägt deutliche Züge eines solchen Prozesses. Das ist der Hintergrund für die enge Verknüpfung der Freisprechung der Juden von der Ritualmordbeschuldigung mit deren Erklärung zu kaiserlichen Kammerknechten. Beide Schritte verfolgten dasselbe Ziel, nämlich Wahrung der kaiserlichen Interessen gegenüber dem Papst und dessen Anhängern. 6 5 Friedrich II. übernahm den Schutz der Juden nicht nur aus Güte und Menschenfreundlichkeit, sondern weil er ein kluger Staatsmann war, der seine eigenen Interessen gegenüber denen des Papstes zu wahren wusste. Von den getauften Juden, die an der zweiten Versammlung in Augsburg

64 B. Diestelkamp, D e r Vorwurf des Ritualmordes gegen J u d e n vor dem Hofgericht Kaiser Friedrichs II. im Jahr 1236, in: D. Simon (Hg.), Religiöse Devianz. U n t e r s u c h u n g e n zu sozialen, rechtlichen und theologischen Reaktionen auf religiöse Abweichungen im westlichen und östlichen Mittelalter, F r a n k f u r t / M . 1990, 19-39. 65 Schon S. Baron hat darauf hingewiesen, dass der Kaiser die Juden zu seinem Eigentum erklärte, u m den Ansprüchen des Papsttums entgegenzuwirken (Plenitude, s.o. Anm.61).

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teilnahmen, ist nur einer namentlich bekannt: N i k o l a u s D o n i n , der durch seine Anklagen gegen den Talmud, die schließlich z u m Pariser Talmudprozess v o n 1240 führten, traurige Berühmtheit erlangen sollte. D i e Q u e l l e dazu ist ein Schreiben des R. Jakob b. Eliahu aus Venedig: Du weißt wohl oder wirst gehört haben, was dem Ketzer Donin widerfahren, der die Satzungen und Lehren des Ewigen ausgetauscht, obwohl er auch an die römische Religion nicht glaubte [...]. U n d als er auch den letzten Rest des Glaubens eingebüßt hatte und zu einer Wurzel, die Giftkraut und Wermut treibt [vgl. Dtn 29,17], geworden war, ging dieser Ketzer zu dem König, der über alle Könige aufgestiegen zu Ruhm und Ehre, und redete fälschlich und brachte Anklagen vor, als ob wir in der Pessach-Nacht kleine Kinder schlachteten, die noch im Schoß ihrer Mütter gewartet werden, so hätten die Juden es gehalten und auf sich genommen [vgl. Est 9,27], und barmherzige Frauen kochten die Kinder eigenhändig [vgl. Thr 4,10], und wir äßen ihr Fleisch und tränken ihr Blut - doch wer diese Verleumdung glaubt, über den komme die Hand des Ewigen, ihn ganz und gar zu verschrecken. So gedachte der Bösewicht uns zu verderben, er gab dem König ein Schwert in die Hand uns zu töten, er verleugnete uns, doch unser Gott hat ihm vergolten nach seinem Tun, ihn vertilgt und vernichtet [...]. U n d der hochwürdige König in der Lauterkeit seines Herzens und der Rechtschaffenheit seines Tuns schenkte seinen Worten kein Gehör, er folgte ihm nicht, denn er wusste, dass es sich um leeres dummes Geschwätz handelte; auch die Könige des Landes und alle Bewohner der Erde glaubten es nicht mit Ausnahme eines wüstengewohnten Wildesels (vgl. Jer 2,24) voll Pestilenz und Bosheit, dessen Seele begehrt nur Böses, Frevel und Arges (vgl. Prv 21,10; Jes 9,16) [...] , 66 S h l o m o Grayzel und Joseph Shatzmiller haben dafür plädiert, diesen Bericht mit der Blutlüge in Fulda zusammenzubringen. 6 D e r Titel .König, der über alle Könige aufgestiegen' passt in der Tat nur auf den deutschen Kaiser, Friedrich II., und zu der Versammlung in Augsburg waren, wie s c h o n beobachtet, auch Konvertiten aus Frankreich eingeladen. Einer davon war offenbar N i k o l a u s D o n i n . Er drang mit seinen Verleumdungen nicht durch. Kaiser Friedrich wies seine Vorwürfe zurück und machte sich die Aussage v o n anderen getauften Juden zueigen, die es für schlechterdings u n m ö g l i c h erklärten, dass die Juden Menschenblut zu rituellen Z w e c k e n verwendeten. Friedrichs Entscheidung verweist auf die ,im Talmud genannten jüdischen Gesetze', worin den Juden der G e n u s s v o n Tierblut ausdrücklich untersagt sei, v o n Menschenblut ganz zu schweigen. O f f e n b a r war behauptet worden, der Talmud rechtfertige den Ritualmord und verlange ihn

66 J. Kobak, in: Jeschurun 6 (1868), 29; S. Grayzel, T h e C h u r c h and the Jews in the X l l t h Century, N e w York 1966, 339f; R. Chazan, The C o n d e m n a t i o n of the Talmud Reconsidered (1239-1248), in: P A A J R 55 (1988), 15. 67 Grayzel, ebd.; J. Shatzmiller, Did Nicholas D o n i n Promulgate the Blood Libel? (hebr.), in: Mechqarim beToldot JKm Israel weErez Israel 4 (1978), 173-182; dagegen C h . Merchavia, Did Nicholas D o n i n Instigate the Blood Libel? in: Tarbiz 49 (1980), 111-121.

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s o g a r , u n d K a i s e r F r i e d r i c h s p r a c h sich d a g e g e n aus. D i e s e V e r u n g l i m p f u n g des T a l m u d p a s s t z u D o n i n , wie sein V o r g e h e n in Paris drei J a h r e s p ä t e r b e w e i s t . 6 8 N a c h d e m e r b e i m d e u t s c h e n K a i s e r in A u g s b u r g a b g e b l i t z t w a r , v e r s u c h t e er es g e n a u d o r t , w o die G e g n e r des K a i s e r s ihr G l ü c k z u s u c h e n p f l e g t e n : n o c h i m selben J a h r l e n k t e er seine S c h r i t t e n a c h R o m z u P a p s t Gregor IX. G r e g o r I X . w a r kein a u s g e s p r o c h e n e r J u d e n f e i n d . I m S p ä t s o m m e r d e s s e l b e n J a h r e s , 1 2 3 6 , h a t t e e r die J u d e n v o n A n j o u , P o i t o u u n d B r e t a g n e v o r d e n A u s s c h r e i t u n g e n d e r K r e u z f a h r e r h o r d e n in S c h u t z g e n o m m e n ,

aller-

d i n g s e r s t n a c h d e m diese b e r e i t s 2 5 0 0 J u d e n e r m o r d e t h a t t e n . 6 9 L a u t B a r o n

68 Da die von Donin im Pariser Talmudprozess gegen die Juden erhobenen Vorwürfe auf Tatsachen beruhen und nicht frei erfunden sind, dürfte er auch hier nicht das Risiko einer so plumpen Lüge eingegangen sein, als ob Juden rituellen Gebrauch von Menschenblut machten, und das noch vor dem deutschen Kaiser Friedrich II. Daher waren die von Donin in Augsburg vorgebrachten Anschuldigungen wohl allgemeiner, etwa dass laut der jüdischen Halacha auch der beste Nicht-Jude todeswürdig sei, womit er dann auch in Paris argumentierte. Ein solcher scheinbarer Freibrief für die Tötung von Christen, geäußert in einer Öffentlichkeit, die gegen Juden sehr voreingenommen war, und auf dem Hintergrund der Ritualmordlüge, konnte unter Juden durchaus als gefährliche Bestätigung der christlichen Vorwürfe gegen die Juden aufgefasst werden; so könnten die Aussagen des R. Jakob von Venedig zustande gekommen sein. Auch die Tatsache, dass der Kaiser die Juden schließlich freisprach, lässt vermuten, dass Donins Anklage anders gelautet hatte. " Grayzel, Church and Jews (s.o. Anm.66), 226-229. Ganz knapp erwähnt ist der Vorgang im Chronicon Brittaniae (Grayzel, ebd., 345, Anm.31): gleich nach dem Osterfest des Jahres 1236 sollen zahlreiche Kreuzfahrer über die Bretagne, Anjou und Poitou hin Juden umgebracht haben. Ungefähr um dieselbe Zeit (am 20. Adar 1236) sahen sich auch die Juden in Narbonne von Ausrottung bedroht. Eine hebräische Quelle zu diesem Vorgang hat A. Neubauer, Seder haChachamim (s.o. Anm.25), 251 veröffentlicht. An weiterer Literatur sind zu nennen: D. Kaufmann, Le Pourim de Narbonne, in: REJ 32 (1896), 129f; J. Régné, Etudes sur la condition des Juifs de Narbonne, Narbonne 1912, 68-71. Im Jahre 1239 wurden die Juden aus der Bretagne vertrieben (dazu Grayzel, ebd., 344f). Auch das hebräische Protokoll der Disputation zu Paris weiß von Zehntausenden von Juden, die bei den Verfolgungen in der Bretagne umgekommen waren (Disputation des R. Jechiël, s.o. Anm. 15, 22); R. Hillel von Verona wiederum berichtet von 3000 Juden, die in Frankreich im Gefolge der Verbrennung der Schriften des Maimonides umgebracht worden seien (Chemda genusa, Königsberg 1856, 19). Neuere Arbeiten zu den Ereignissen in Frankreich: G. Mentgen, Kreuzzugsmentalität bei antijüdischen Aktionen nach 1190, in: A. Haverkamp (Hg.), Juden und Christen zur Zeit der Kreuzzüge, Sigmaringen 1999, 294-301. Auch jenseits des Kanals verschärfte sich um jene Zeit die antijüdische Stimmung: Zu Ostern 1236 wurden die Juden von Oxford beschuldigt, ein Christenkind beschnitten und gekreuzigt zu haben (dazu Z.A. Rokéah, The Jewish Church-Robbers and Host Desecrators of Norwich [ca. 1285], in: REJ 141 [1982], 40, Anm.26). Ein ähnlicher Vorwurf wurde ebenfalls 1236 gegen die Juden von Norwich erhoben (ebd., 340-346), ebenso gegen die Juden von Hampshire (Rokéah, Crime and Jews in Late Thirteenth-Century England, in: H U CA 55 [1984], 101, Anm. 13). In keinem dieser Fälle ist ein Versuch zu beobachten, die Ritualmordbeschuldigung mit der messianischen Naherwartung der Juden zu verknüpfen; anscheinend hatte jeder Fall seinen eigenen lokalen Anlass. Trotzdem würde ich nicht ausschließen, dass die messianischen Hoffnungen dazu beitrugen, dass sich die 30er Jahre des 13.Jh. durch besondere antijüdische Spannung und Misstrauen gegenüber den Juden auszeichneten. Mögli-

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ist auch dieses Vorgehen des Papstes als Teil seines Machtkampfes mit dem Kaiser zu verstehen: Damit reagierte er auf das kaiserliche Judenprivileg. So rangen der Papst und der Kaiser um die Verfügungsgewalt über die Juden. Drei Jahre dauerte es, bis Donin den Papst für seine Sache gewonnen hatte. Im Juni 1239, kurz nachdem er den Kaiser zum zweiten Mal endgültig in den Bann getan hatte, zog Gregor IX. die bedeutenderen europäischen Fürsten, mit Ausnahme von Friedrich II. natürlich, für die Durchführung seines Plans heran. Er gebot den Bischöfen in den verschiedenen Ländern, am Sabbat, den 3. März 1240, zur Zeit des jüdischen Gottesdienstes, bei den Juden Haussuchungen vornehmen und ihre Bücher beschlagnahmen zu lassen. 70 Zufällig oder absichtlich handelte es sich um den Sabbat unmittelbar vor dem Purimfest, an dem die Ester-Rolle vorgelesen wird, wo von der Vereitelung der judenfeindlichen Maßnahmen und vom Untergang der Judenfeinde berichtet ist. Das Purimfest hatte für Juden im Mittelalter eine tiefe symbolische Bedeutung als das Fest der Rache, welches dem Fest der Erlösung, Pessach, vorangeht. 71 Beim Talmud-Prozess in Paris wurden ähnliche Vorwürfe gegen die Juden vorgebracht wie seinerzeit in Fulda. 72 Nachdem es ihm in Augsburg nicht gelungen war, überzeugend darzutun, dass der Talmud die Ermordung von Christen befürworte, führte Donin diesmal den talmudischen Satz an „der beste unter den Christen ist zu töten" ipptimum Ckristianorum occide). Uber diesen Ausspruch und seine Bedeutung ist schon viel geschrieben worden, und es ist wohl an der Zeit, seinen ursprünglichen literarischen Kontext klarzustellen. Er bezieht sich auf die Verfolger der Israeliten auf ihrer Flucht aus Ägypten. 73 Der Midrasch will damit sagen, dass es sich beim Auszug aus Ägypten herausstellte, dass selbst auf die Besten unter den Nicht-Juden kein Verlass war - sie schlössen sich doch den die Israeliten verfolgenden Truppen des Pharao an. Nach der Vorbildfunktion des Auszugs aus Ägypten für die endzeitliche Erlösung enthält dieser Satz also eine Ermahnung für den Beginn der messianischen Endzeit: Nicht einmal die

cherweise verhielten sich die Juden ihrerseits weniger unterwürfig (hatten etwa den Mut, Christenkinder ins Judentum aufzunehmen - in Norwich handelte es sich offenbar um das Kind eines getauften Juden, der seinen Sohn heimlich beschneiden ließ), oder war die Voreingenommenheit der christlichen Öffentlichkeit gegenüber den Juden gewachsen. 70 Dazu Grayzel, Church and Jews (s.o. Anm.66), 240f. 71 Dazu E. Horowitz, ,And it Was Reversed': Jews and Their Enemires in the Festivities of Purim (hebr.), in: Zion 59 (1994), 129-168; G. Mentgen, Uber den Ursprung der Ritualmordfabel, in: Aschkenas 4 (1994), 405-416. 72 Dazu Ch. Merhavia, The Church versus Talmudic and Midrashic Literature [500-1248] (hebr.), Jerusalem 1970, 227-360; J. Cohen, The Friars and the Jews. The Evolution of Medieval Anti-Judaism, Ithaca/London 1982, 60-76; Chazan, Condemnation (s.o. Anm.66), 15. 73 Mecbilta deRabbi Jischmael (Horovitz/Rabin [Hg.]), 89, Z. 9f.

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Besten unter den Nicht-Juden sind zu schonen. Donin wollte damit also nicht behaupten, dass die Juden imstande seien, Christen mutwillig umzubringen, sondern er wies auf ihre messianische Uberzeugung hin, die damit rechne, dass selbst die Besten unter den Christen des Todes seien. Die J u denheit, die in Paris vor Gericht stand, wurde tatsächlich als Erzfeindin des Christentums dargestellt. In der Abschrift des Protokolls dieses Prozesses wird, wie oben erwähnt, das messianische Motiv mit dem Zeitpunkt des Prozesses in Verbindung gebracht, und in Frankreich - anders als in Deutschland - konzentrierte sich die jüdische Endzeiterwartung gerade auf das Jahr 1240. Von daher scheint die Vermutung nicht abwegig, dass die messianische Naherwartung der auslösende Faktor war, der Donins Anschuldigungen eine gewisse Aktualität und Relevanz verlieh. Das Problem der jüdischen Loyalität wurde akut vor dem Hintergrund der Hoffnung auf das Kommen des Messias und deren Rezeption und Interpretation in der christlichen Gesellschaft.

4 Die mongolische Gefahr: die verschollenen Stämme? Gog und Magog? Auf christlicher Seite wurde die Gespanntheit auf das Jahr 1240 hin noch verstärkt durch das Auftreten eines neuen Faktors im europäischen Raum: die Mongolen. 7 4 Noch während in Paris der Prozess gegen den Talmud geführt wurde, tauchten die Mongolen an der östlichen Grenze Europas auf. Es lässt sich wohl nicht genau feststellen, wann die ersten Nachrichten über deren rasches militärisches Vordringen nach Europa gelangten, aber in den 30er Jahren des 13.Jh. war die Sorge vor ihrem gewaltsamen Vorrücken gegen Zentraleuropa bereits akut. 7 5 Weithin galten die Mongolen als die Nachkommen der zehn verschollenen Stämme des israelitischen Nord74 Überblick über die Quellen bei S. Menache, Tartars, Jews, Saracens and the J e w i s h - M o n gol .Plot' of 1241, in: History. T h e Journal of the Historical Association 81 (1996), 3 1 9 - 3 4 2 . D e r Verfasserin entgangen ist mein Beitrag: Towards 1240: Jewish Hopes, Christian Fears (hebr.), in: Proceedings of the Eleventh World Congress of Jewish Studies, Division B, Bd. 1, Jerusalem 1993, 1 1 3 - 1 2 0 ; dort habe ich erstmals die Vermutung geäußert, dass die messianische Naherwartung bei den Juden das antijüdische Misstrauen bei den Christen verschärfte. 7 5 Dazu H . Bresslau, J u d e n / M o n g o l e n (s.o. A n m . 2 5 ) ; Aronius, Regesten (s.o. A n m . 4 ) , N r . 3 1 , 2 2 7 - 2 3 0 ; G . A . Bezzola, die Mongolen in abendländischer Sicht ( 1 2 2 0 - 1 2 7 0 ) . Ein Beitrag zur Frage der Völkerbegegnung, Bern/München 1974, 3 4 - 3 6 . 4 4 ; J . Fried, Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die abendländische Erfahrungswissenschaft im 13. J h . , in: Historische Zeitschrift 243 (1986), 2 8 7 - 3 3 2 ; F. Schmieder, Europa und die Fremden: Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15.Jh., Sigmaringen 1994, 2 4 - 3 0 . 2 5 8 . 2 6 1 . b e s . 2 5 9 mit A n m . 3 2 7 .

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reichs. 76 Nach Auskunft der Marbacher Chronik hätten die Juden im Jahre 1222 im Anführer der Mongolen, Dschingis Khan, den davidischen Messias erblickt. 77 Ein Zeitgenosse, der englische Chronist Matthaeus Paris, schreibt, sowohl Juden als auch Deutsche hätten die Mongolen als die Nachfahren der zehn Stämme betrachtet, die gekommen seien, um ihre Brüder aus der Verknechtung durch die Christen zu befreien und ein jüdisches Weltreich zu errichten. 78 Ein ungarischer Bischof meint in einem Schreiben an einen Kollegen in Paris aus dem Jahre 1241, die Mongolen seien ,Gog und Magog', und sie verwendeten die hebräische Schrift. 9 Die Juden wiederum wurden beschuldigt, sie versorgten die Mongolen mit Waffen und Lebensmitteln. 80 Anscheinend ist dies auch der Hintergrund einer weiteren Nachricht aus dem Jahre 1235, wonach ,die Juden von Prag die Stadt verließen, ihre Habe verkauften und sich mit Waffen versahen, nachdem hebräische Schriftstücke zu ihnen gelangt waren, welche ihnen die baldige und gewisse Ankunft ihres Messias ankündigten'. 81 Wie sich die Vorstellung von der jüdisch-mongolischen Kolloboration vertiefte, bezeugt ein christlich messianischer Text, die .Weissagung von Tripoli', von dem eine ältere Version unter dem Titel ,Libanon-Zeder' bekannt ist, denn der Text setzt ein mit den Worten Cedrus alta Lybani succidetur (,die hohe Zeder vom Libanon soll gefällt werden'). Die lange Geschichte dieser Prophezeiung beginnt im Jahre 1239, als die Mongolen an die Tore Europas pochten, was die westliche Christenheit in Furcht und Schrecken versetzte. Der Text läuft darauf hinaus, dass der Mongoleneinfall den Anbruch des Weltendes markiere. Ein Satz aus dieser Prophezeiung lässt besonders aufhorchen: Filii Israel liberabuntur a captivitate. Quedam

74 Dazu R. Lerner, The Powers of Prophecy. The Cedar of Lebanon Vision from the Mongol Onslaught to the Dawn of the Enlightenment, Berkeley/Los Angeles/London 1983, 21 f. 77 G.H. Perts (Hg.), Annales Marbacenses, M G H Scriptores XVII, Hannover 1861, 174f; Bresslau, Juden/Mongolen (s.o. Anm.25), lOOf; Schmieder, Mongolen (s.o. Anm.75), 24. 78 H.R. Luard (Hg.), Matthaeus Parisiensis, chronica majora ( = Rerum Britannicarum medii aevi scriptores) IV, London 1877, 131-133; Haeusler, Ende (s.o. Anm.7), 59. n G. Waitz (Hg.), R. Senonensis, Gesta Ecclesiae, M G H Scriptores, X X V , Hannover 1889, 310; Bresslau, Juden/Mongolen (s.o. Am. 25), 101. 80 Menache, Tartars (s.o. Anm. 74), 339. 81 Aronius, Regesten (s.o. Anm.4), 211, Nr.477. Diese Nachricht findet sich in der Chronik von Hagek, deren Echtheit von Stern (s.o. Anm.58) bezweifelt wird. Übernommen ist diese Information von Johann Jacob Schudt, Jüdische Merkwürdigkeiten, IV, Frankfurt/M. 1714, 154. Ahnlich ist der Vorwurf der Waffenlieferung auch gegen die österreichischen Juden erhoben worden, und zwar bei den Vorbereitungen zum Zweiten Kreuzzug gegen die Hussiten im Jahre 1420. Diese Beschuldigung bildete den Anlass für ,die Verfolgung von Osterreich', in deren Verlauf viele Juden aus der Grafschaft ausgewiesen wurden, viele zwangsgetauft und etliche Hundert in Wien im Frühjahr 1421 den Märtyrertod erlitten. Dazu I.J. Yuval, Juden, Hussiten und Deutsche; nach einer hebräischen Chronik, in: A. Haverkamp/F.J. Ziwes (Hg.), Juden in der christlichen Umwelt während des späten Mittelalters, Berlin 1992, 65.

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gens sine capite dicta vel reputat vagans veniet (,die Kinder Israels werden aus der Gefangenschaft befreit werden. Eine als kopflos bezeichnete Völkerschaft, die als unstet gilt, wird kommen'). Robert Lerner will unter jenen ,Kindern Israels' die Mongolen verstehen aufgrund von deren Gleichsetzung mit den verschollenen zehn Stämmen.82 Doch bezieht er auch das im folgenden Satz genannte ,kopflose' Volk auf die Mongolen, die bei ihrem gewaltsamen Vordringen über Asien und Osteuropa den Eindruck erweckt hätten, als ob sie völlig führerlos seien.83 Diese Deutung überzeugt mich nicht. Im Text sind deutlich zwei getrennte Gruppen unterschieden, die ,Kinder Israels' einerseits und das unstete kopflose Volk andererseits; eine Gleichsetzung der beiden scheint mir unzulässig. Außerdem passt die Charakterisierung der Israeliten, die aus der Knechtschaft befreit werden sollen, schlecht zu den Mongolen auf ihren Eroberungszügen. Wir tun wohl besser daran, den Text wörtlich zu verstehen. Hier liegt eine christliche Prophezeiung vor: Die .Kinder Israels', d.h. die zehn Stämme, sollten im Jahre 1239 erlöst werden. 84 In diesem lateinischen Text hat sich offenbar etwas von den jüdisch-messianischen Erwartungen auf das Jahr 1240 hin niedergeschlagen, und diese Hoffnungen wurden sicher durch das Auftauchen der Mongolen im Osten Europas verstärkt, was wiederum das Misstrauen der Christen schürte. Uber den Stellenwert der Mongolen im jüdischen Bewusstsein gibt ein rätselhafter Text aus Sizilien Auskunft; dort ist die Rede von einem ,König, der verborgen war' - dem König der zehn Stämme - dieser habe zwölf Boten an sämtliche Könige Europas entsandt, sie sollten die Juden aus ihren Ländern ins Heilige Land ziehen lassen.85 Für den Fall einer Weigerung bedrohte er sie mit Krieg. Das soll die Könige von Spanien, Frankreich, Deutschland und Ungarn so beunruhigt haben, dass sie die .Verborgenen' durch Geldzahlungen zu beschwichtigen suchten. Die Gleichsetzung jener .Verborgenen' mit den Mongolen dürfte auf der Hand liegen. 86 Weniger einLerner, Cedar of Lebanon (s. o. Anm. 76), 21 f. Ein ähnliches Bild (,einen König haben die Heuschrecken nicht' - Spr 30,27) ist sowohl bei Guibert de Nogent als auch bei R. Salomo b. Simson zur Charakterisierung der Teilnehmer am Ersten Kreuzzug verwendet, in positivem bzw. negativem Sinne. Dazu Y. Baer, The Pogroms of 1096 (hebr.), in: FS S. Assaf, Jerusalem 1953, 128. 84 In Kommentaren zu diesem Text aus dem 14. und 16. Jh. ist an dieser Stelle von der Befreiung der Juden' (statt .Kinder Israels') die Rede; vgl. Lerner, Cedar of Lebanon (s.o. Anm. 76), 146.162 mit Anm. 12. 85 Erstmals veröffentlicht bei J. Mann, Texts and Studies, I, Cincinnati 1931, 38f; später bei N. Zeldes, A Magial Event in Sicily: Notes and Clarifications on the Messianic Movement in Sicily (hebr.), in: Zion 58 (1993), 347-363. 86 J.N. Epstein, O n the Messianic Movement in Sicily (hebr.), in: Tarbiz 11 (1940), 2 1 8 f . Matthaeus Paris, chronica majora (s.o. Anm.78), bezeichnet die Mongolen als inclusi: quos dominus in montibus Caspiis precibus Magni Alexandri quondam inclusit (die der Herr in den Kaspischen Bergen auf Bitten Alexanders des Großen seinerzeit eingeschlossen hat). 82

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deutig ist die Abfassungszeit jenes Textes, über die in der Forschung seit geraumer Zeit diskutiert wird; 8 7 die Datierung schwankt zwischen dem 11. und dem 16.Jh. Sämtliche Ansätze gehen davon aus, dass hier ein historisches D o k u m e n t vorliegt, das reales Geschehen schildert. Ich möchte hier eine andere Auffassung des Textes vorschlagen und sie an einem Abschnitt vorführen. N a c h Auskunft des Textes stürzten die Gerüchte über das K o m m e n des Messias die J u d e n in große Gefahr: D i e A l e m a n n e n ( = D e u t s c h e n ) schickten sich an, alle J u d e n zu töten. D a e r h o b e n sich die G e s c h o r e n e n ( = Priester) u n d sprachen zu ihnen: H ü t e t euch, d a s s ihr ihnen nichts zuleide tut, d e n n wer ihnen übel tut und wer i m m e r sie antastet, rührt an seinen A u g a p f e l ; nicht nur über sich selbst bringt er U n h e i l , s o n d e r n ü b e r die g a n z e Welt, w e n n sie (seil, die V e r b o r g e n e n ) k o m m e n u n d hören, dass J u d e n g e t ö t e t w u r d e n , dann t ö t e n sie euch an ihrer Statt.

Sollte sich so etwas wirklich zugetragen haben? Die Warnung der Geistlichen enthält zwei Argumente: Wer immer die J u d e n antastet, der rührt an seinen Augapfel, und die ,Verborgenen' werden die T ö t u n g von J u d e n in Deutschland rächen. D a s erste Argument ist ein wörtliches Zitat aus dem babylonischen Talmud 8 8 ; dort wird etwas wie Augustins Toleranzlehre J e s u s in den M u n d gelegt: Er soll seinen Anhängern geboten haben, die J u d e n am Leben zu lassen. Von daher liegt hier nicht eine Äußerung von Vertretern der Kirche vor, sondern eine der jüdischen Propaganda. 8 9 Dasselbe gilt für die Warnung, jede Verletzung der J u d e n werde gerächt werden, denn es ist mehr als unwahrscheinlich, dass christliche Geistliche in Deutschland jemals solches geäußert haben sollten. E s handelt sich also um jüdische Propaganda, die nicht streng zeitgebunden ist, da sie sich an die verschiedensten U m s t ä n d e anpassen lässt. Daher würde ich der zeitlichen A n s e t z u n g des D o k u m e n t s im 16. J h . zustimmen, obwohl der Abschnitt, wo von den .Verborgenen' die Rede ist, die Atmosphäre widerspiegelt, die unter den J u den im 13. J h . zur Zeit des Mongolen-Einfalls herrschte. Hier haben wir einen deutlichen Niederschlag der in jüdischen Kreisen umgehenden messianischen Erwartungen vor uns sowie der feindseligen Haltung, die dadurch in der deutschen Bevölkerung hervorgerufen wurde, woraufhin J u d e n den Schutz der Obrigkeit suchen mussten. Ein weiteres Ereignis, das vielleicht in den Umkreis dieser Begebenheiten 87 Eine ausführliche Übersicht über die verschiedenen zeitlichen Ansetzungen bei Zeldes (Magical Event, s.o. Anm.85). 88 b Gittin 57a. 8 9 In seinem Schreiben an Rabbenu Tarn unmittelbar nach den Vorgängen in Blois 1171 berichtet Nathan b. Meschullam, Louis VII. habe die Juden geschützt; dies teilt er mit, indem er dem französischen König eben jenen talmudischen Ausspruch in den Mund legt (A.M. Habermann [Hg.], Geserot Aschkenas weZarfat, Jerusalem 1971, 145).

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Das Ende des Milleniums (1240)

gehört, ist das Pogrom an den Frankfurter Juden im Jahre 1241. 9 0 Am 9. April 1241, gleich nach Pessach, wurden die Kämpfer gegen die Mongolen bei Liegnitz (in Polen) geschlagen. Die Mongolen waren zu einer realen Bedrohung des deutschen Reiches geworden. 91 Sogleich danach gerieten Juden und Christen in Frankfurt auf Kollisionskurs. Die Juden hatten versucht, die Taufe eines jüdischen Jungen, der zum Christentum konvertieren wollte, zu verhindern, und am 24. Mai brachen Straßenschlachten in der Judengasse aus, bei denen auch einige Christen zu Schaden kamen. Daraufhin wurden die Christen wütend und brachten etwa 180 Frankfurter Juden um. Die zeitliche Nähe der Niederlage bei Liegnitz im April und der Tötung der Juden im Mai sowie das vorangehende aggressive Vorgehen der Juden bestärken die Vermutung, dass die Spannungen mit dem Eintreffen der Nachricht von der Niederlage der Verteidiger des christlichen Abendlands gegen die Mongolen überhand genommen hatten. Man kann sich unschwer vorstellen, was für Gefühle der mongolische Sieg bei den Juden ausgelöst hat, auch wenn sie meinten, diese für sich zu behalten.

5 Die synchrone Betrachtung In diesem Kapitel haben wir verschiedene scheinbar unverbundene historische Ereignisse aus dem ersten Drittel des 13.Jh. unter die Lupe genommen: Die französische Einwanderung ins Heilige Land, die Spanien-Fahrt des R. Mose von Coucy, deutsche Ritualmordanklagen von 1235, das Privileg Friedrichs II. von 1236, den Pariser Talmud-Prozess und den MongolenEinfall - allesamt vor dem Hintergrund der messianischen Erwartung auf das Jahr 1240 hin. Mir geht es nicht darum, den messianischen Kontext als kausale Erklärung für all diese Erscheinungen anzubieten, aber ich halte ihn für einen Faktor, der eine ganze Reihe von jeweils für sich stehenden Vorkommnissen in einen umfassenderen Sinnzusammenhang zu stellen vermag. Von daher überzeugen mich die Ausführungen von Andrew Gow, der auf die enge Verquicktheit von Antisemitismus und Apokalyptik im Mittelalter hinweist und deshalb empfiehlt, beide zusammen zu untersuchen, um ein genaues und kohärentes Bild beider Phänomene zu gewinnen. 92 Deshalb darf sich die Erörterung von Äußerungen des jüdischen Messianismus nicht auf innerjüdische Vorgänge beschränken, sondern muss auch die Reaktionen der christlichen Umwelt mit in Betracht ziehen. 9 0 Dazu F . Backhaus (Hg.), ,Und groß war bei d e r T o c h t e r Jehudas J a m m e r und Klage [ . . . ] ' . Die Ermordung der Frankfurter Juden im Jahre 1241, Sigmaringen 1995. " Schmieder, Mongolen (s.o. Anm. 75), 76. Die Panik griff von Ungarn auf Deutschland über und erreichte auch Frankreich und Spanien. , 2 G o w , Red Jews (s.o. A n m . 4 6 ) , 3.

Die synchrone Betrachtung

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Eine vergleichende Untersuchung der messianischen Erwartung auf jüdischer Seite und der christlichen Reaktionen darauf lässt eine der Prämissen der Erforschung des mittelalterlichen Judenhasses in differenzierterem Licht erscheinen: Dieser Judenhass war aus völlig irrationalen Vorstellungen erwachsen. Ritualmordlüge, Hostienschändung, die Annahme, dass jüdische Männer menstruierten oder Schwänze hätten - das sind natürlich wilde Phantasien. Trotzdem müssen wir fragen, woher diese phantastischen Vorstellungen kommen und wohin sie führen, d.h. wir haben den irrationalen Befund rational zu überprüfen. Der jüdische Messianismus ist wichtig für das Verständnis der Systeme, aus denen die christlichen Vorstellungen in Bezug auf die Juden hervorgegangen sind. Es besteht eine tragische Asymetrie zwischen den gegenseitigen messianischen Erwartungen bei Christen und Juden. Die Christen rechneten mit einer Massenkonversion der Juden zum Christentum, die Juden dagegen mit dem Untergang des Christentums. Im eschatologischen Bereich war also das Judentum weitaus brutaler als das Christentum - eine verständliche Reaktion des Partners, der im Bereich der Realität die Brutalität des Gegners zu erdulden hatte. Die eschatologische Asymetrie wirkte sich auf die realen Beziehungen aus, denn das eschatologische Narrativ beider Religionen beruhte darauf, der jeweils anderen ihr Recht abzusprechen. Der jüdische Messias war der christliche Antichrist und umgekehrt. Das messianische Programm jeder Seite diktierte der jeweils anderen eine höchst gefährliche Rolle zu. Jüdisch-messianische Wunschträume blieben nicht im Esoterischen, sondern beeinflussten das christliche Bild von der Wirklichkeit. Insofern hatten sie eine nicht zu unterschätzende Funktion für die Herausbildung antisemitischer Vorstellungen auf christlicher Seite. 1240 war ein bedeutsames Jahr für die Geschichte der Juden in Deutschland. Wie Friedrich Lotter gezeigt hat, waren die zwei Jh. zwischen 1096 und 1298 für die deutschen Juden entgegen der vorherrschenden Meinung eine relativ ruhige Zeit. 9 3 Lotter verlegt den Umschwung zum Bösen in die sechziger Jahre des 13. Jh.; ich möchte vorschlagen, den Wendepunkt etwas früher anzusetzen, und zwar um das Jahr 1240 vor dem Hintergrund der jüdisch-messianischen Erwartungen einerseits und der damit zusammengehenden christlich-eschatologischen Erweckung andererseits. Die Vorstellung, dass sich das Schicksal der Juden im Jahre 1240 zum Bösen gewandt habe, hat bereits in einem Piut des R. Mose b. Elasar Ausdruck gefunden; er blickt kurz nach den .Rintfleisch'-Ausschreitungen des Jahres 1298 auf die jüngstvergangene jüdische Geschichte zurück und schildert die bittere Ent-

9 3 F. Lotter, Hostienfrevelvorwurf und Blutwunderfälschungen bei den Judenverfolgungen von 1298 („Rintfleisch") und 1 3 3 6 - 1 3 3 8 („Armleder"), in: Fälschungen im Mittelalter, H a n n o ver 1988, 5 3 3 - 5 8 3 .

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Das Ende des Milleniums (1240)

täuschung der Generation nach 1240, die auf Erlösung g e h o f f t hatte u n d mit Verschlimmerung ihres Zustands k o n f r o n t i e r t w o r d e n war. Er zählt einzelne Stationen auf: Weh mir ob des sechsten Jahrtausends, ich habe keine Gnade darin gefunden / an seinem Beginn (=1240-41) erhob sich der Feind, mich zu verderben / im 13. Jahr (=1253) wurden wir zu Spott und Hohn / im 17. Jahr (=1257) ereilten uns die Feinde mit gezücktem Schwert / im 47. und 48. Jahr (=1287-88) überschütteten sie mich mit Schmutz. 94 Aus dieser liturgischen D i c h t u n g ist die E n t t ä u s c h u n g über die Verschlechterung der jüdischen Verhältnisse nach 1240 zu vernehmen, die vielleicht durch die vorangegangenen messianischen H o f f n u n g e n noch verschärft wurde. Ahnlich enttäuscht äußert sich Nachmanides, ein anderer Zeuge der Generation nach 1240; in seinem in h o h e m Alter verfassten Pentateuchk o m m e n t a r spricht er von einer überaus furchtbaren u n d gewalttätigen Macht, die näher heranrücke als alle vorigen. 9 5 An die Stelle der H o f f n u n g auf eine bessere Z u k u n f t war das G e f ü h l getreten, alles habe sich z u m Bösen gewandelt. Ein ganzer Komplex von F a k t o r e n u n d Ursachen steht hinter den vielschichtigen Vorgängen, die zur Veränderung des Judenbilds in der europäischen öffentlichen M e i n u n g des 12. u n d 13.Jh. beigetragen haben; die oben angeführten sind bei weitem nicht alle. Was ich hier herausstellen wollte, war ein bestimmtes Motiv, das m.E. bisher nicht gebührend beachtet w o r den ist: der messianische F a k t o r und sein Stellenwert bei der Herausbildung der gegenseitigen Vorstellung von J u d e n u n d Christen.

6 Jüdisches

vs. christliches

Weltende

D e n gespannten messianischen Erwartungen auf das Ende des sechsten jüdischen Jahrtausends hin eignet ein weiterer Aspekt, der nicht von gegenseitiger Feindschaft weiß. Die große Bedeutung des jüdischen Milleniums zeugt unter anderem auch von einem gewissen J u d e n u n d Christen gemeinsamen Begriffsarsenal. U m dies zu veranschaulichen, wollen wir n o c h einmal auf eine der oben geschilderten Endzeitberechnungen zurückgreifen, u n d zwar auf den Text, demzufolge Jesu Tod zu einer besonderen G n a d e n zeit stattgefunden haben soll. N a c h dieser Überlieferung sollte der Zeitraum von Jesus bis zur A n k u n f t 94

Habermann, Geserot (s.o. Anm.89), 225f. Kommentar des Nachmanides zu Gen 2,3 H.D. Chavel (Hg.), Bd. I, Jerusalem 1972, 32; Bezugspunkt ist offenbar die Eroberung des Heiligen Landes durch die Mamelucken im Jahre 1260. 95

Jüdisches vs. christliches Weltende

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des Messias genau gleich lang sein wie der von der Verleihung der Tora auf dem Sinai bis zu Jesus. Dass Jesu Geburt oder Kreuzigung in jüdischer Endzeitberechnung eine Rolle spielt, findet sich in jüdischen Quellen noch öfter. Eine solche Rechnung hat etwa R. Schemaja, ein Schüler von Raschi, angestellt; er erwartet das Weltende im Jahre 1102. 9 6 Die erwähnte französische Endzeitberechnung auf das Jahr 1240 ist insofern besonders, als Jesus dort scheinbar den gleichen Rang erhält wie Mose. Sonst markiert Jesu Geburt den Beginn von Exil und Knechtschaft des jüdischen Volkes; hier dagegen ist Jesus positiv dargestellt als Bringer einer neuen Lehre, die zumindest teilweise anerkannt wird. Wir haben also eine Einteilung der Geschichte in drei Zeiträume unter drei Figuren vor uns: Mose, Jesus, der Messias; unter diesen dreien hat Jesus die zentrale Stellung inne. Wie kommt ein Jude des Hochmittelalters auf den Gedanken, Jesus eine so prominente Position einzuräumen? Offenbar besteht ein indirekter Zusammenhang mit einer anderen Dreiteilung der Historie, die im Jerusalemer Talmud belegt ist; dort erscheint als die mittlere Figur nicht Jesus, sondern Bileam: „R. Chanina, Sohn des R. Abahu, sagte, zur Halbzeit des Weltalters sei jener Bösewicht (d.i. Bileam) erstanden". 9 7 Dieser talmudische Ausspruch bildet die Grundlage für das Datum der Erlösung nach der Rechnung des R. Jehuda von Barcelona 9 8 sowie für die Endzeitberechnung des Maimonides in seinem Schreiben an die jemenitischen Juden: „Bileams Ausspruch ,zur Zeit wird Jakob und Israel verkündet, was Gott im Werke hat' (Nu 23,23) enthält ein Geheimnis; von jener Zeit an wird nämlich ebensoviel gezählt wie von der Erschaffung der Welt bis zu jener Zeit, und dann soll die Prophetie nach Israel zurückkehren [ . . . ] " . " Da Bileam im Jahre 2486 nach Erschaffung der Welt aufgetreten war, ging Maimonides davon aus, dass die Prophetie im Jahre der Schöpfung 4972 erneuert werden würde, das entspricht dem Jahr 1211/12 nach christlicher Zeitrechnung. Beim Vergleich dieser beiden Endzeitrechnungen sticht ihre Ähnlichkeit ins Auge; im Talmud bzw. bei Maimonides erscheinen in gleichen zeitlichen Abständen Weltschöpfung - Bileam - Messias, nach der französischen Uberlieferung Mose - Jesus - Messias. Dass Bileam durch Jesus ersetzt werden kann, ist nicht weiter erstaunlich, denn die Ähnlichkeit, teilweise sogar Identität zwischen den beiden wurzelt

" Veröffentlicht bei A. Grossman, Chachme Zarfat ha-rischonim: Qorotebem, Darkam beHanhagat haZibbur, Jeziratam haruchanit, Jerusalem 1995, 357; vgl. auch S. Emanuel, Calendrical Calculation and Eschatological Calculation: a Jewish-Christian Polemic in 1100 (hebr.), in: Zion 63 (1998), 143-155. " j Schabbat VI 9 (8d). " S.o. Anm. 6, 239; jene Endzeitberechnung führt auf das Jahr 1214. " Briefe des Maimonides (s.o. Anm.31); englisch: 122.

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Das Ende des Milleniums (1240)

tief. 1 0 0 Möglicherweise war es diese Auswechselbarkeit, die dazu führte, dass Mose eine so prominente Stellung zusammen mit Jesus und dem Messias erhielt. F ü r die Schlüsselstellung Jesu in einer jüdischen Endzeitberechnung neben Mose und dem Messias ist noch eine weitere Erklärung denkbar. Was hier vorliegt, könnte eine indirekte Rezeption der Messiaslehre des Joachim von Fiore sein. Diese beruht auf einer Gliederung des Geschichtsablaufs in drei Zeitalter, status, die auf die Personen der Trinität verteilt sind: das Zeitalter des Vaters, d.i. die Zeit des Alten Testaments (von Mose bis Jesus), das Zeitalter des Sohnes, d. i. die Zeit des Neuen Testaments (von Jesus bis in Joachims Gegenwart) und das Zeitalter des Heiligen Geistes, die Endzeit mit der Parusie, wenn Juden und Moslems sich zum Christentum bekehren würden, das römisch-deutsche Reich untergehen und die irdische Kirche zu einer geistigen werden sollte. N a c h Joachims Berechnungen sollte das dritte, das messianische Zeitalter 42 Generationen nach Jesus einsetzen, d.h. um das Jahr 1 2 6 0 . 1 0 1 Der Vorschlag, den ich hier machen möchte, lautet also folgendermaßen: U n t e r dem Einfluss der joachimitischen Lehre von den drei Zeitaltern hat der jüdische Endzeitberechner Mose in Analogie gesetzt zu G o t t Vater, Jesus zum Sohn und den Messias zum Heiligen Geist; so erhält Jesus bei ihm diesen Ehrenplatz neben Mose in der Weltgeschichte. 1 0 2

1 0 0 Zur Gleichsetzung Jesu mit Bileam vgl. L. Ginzburg, Legends of the Jews, V I , Philadelphia 1968, 123f Anm. 722; E.E. Urbach, Rabbinic Homilies on the Prophets of the Nations and the Balaam Narrative (hebr.), in: Tarbiz 25 (1957, bes. 2 8 1 - 2 8 4 ; D . Berger, Three Typological Themes in Early Jewish Messianism: Messiah Son of Joseph, Rabbinic Calculations, and the F i gure of Armilus, in: A J S Review 10 (1985), 162 Anm. 78. Berger hält es zwar für unwahrscheinlich, dass Bileam als typos für Jesus gedient haben sollte, doch das weite Spektrum der bei ihm angeführten Typologien enthält durchaus plausible Erklärungen dafür, wie Jesus an Bileams Stelle getreten sein könnte. Bileam wird typologisch identifiziert mit Armilus - ersterer als der große Gegenspieler des ersten Erlösers (Moses), letzterer als Gegenspieler des endzeitlichen Erlösers (des Messias) - außerdem mit Romulus, dem Begründer von R o m , d. i. Edom. Von daher leuchtet es ein, dass der jüdische .Antichrist' (Bileam, Armilus) sich in die Gestalt Jesu verwandelte, so dass die von den Christen erwartete Wiederkunft Jesu in jüdischen Augen zur Erscheinung des Antichrist (Armilus) werden konnte. In einigen Quellen drängt sich die Gleichsetzung von Bileam und Jesus geradezu auf ( z . B . b Sanhédrin 106b). An anderen Stellen wiederum handelt es sich eindeutig um zwei verschiedene Figuren (z. B. b Gittin 57a, wo in der unzensierten Talmudausgabe J e s u s ' steht, was im Wilnaer Druck zu .frevelhafte Israeliten' verändert ist). 1 0 1 Dazu M.W. Bloomfield, Joachim of Fiora. A Critical Survey of His Canon, Teachings, Sources, Biography and Influence, in: Tradition 13 ( 1 9 5 7 ) , 2 4 9 - 3 1 1 ; ders., Recent Scholarship on J o a c h i m of Fiore and His Influence, in: A. Williams (Hg.), Prophecy and Millenarianism. Essays in honour of Marjorie Reeves, Suffolk 1980, 2 1 - 5 2 ; Marjorie Reeves, T h e Influence of Prophecy in the Later Middle Ages. A Study of Joachimism, O x f o r d 1969 ( = repr. N o t r e D a me 1993), 3 - 2 7 . 1 0 2 Zu etwaigen joachimitischen Einflüssen auf die kabbalistische Brachjahrlehre in Sefer haTemuna s. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Zürich 157, 106. Zu Analogien zwischen in joachimitischen Kreisen verbreiteten Vorstellungen und dem Ra'ja Me-

Jüdisches vs. christliches Weltende

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D e r j ü d i s c h e E n d z e i t b e r e c h n e r k ü n d i g t das E n d e d e r W e l t m i t f o l g e n d e n W o r t e n an: „ E b e n s o w e r d e n die V ö l k e r a n C h r i s t u s u n d s e i n e r L e h r e

1276

J a h r e f e s t h a l t e n , u n d d a n n , g e g e n E n d e d e s 5. J a h r t a u s e n d s , g e h e n sie z u g r u n d e " ; d a r ü b e r h i n a u s r e i c h t s e i n e V o r s t e l l u n g s k r a f t n i c h t . A u c h das j o a c h i m i t i s c h e W e l t b i l d b e r u h t a u f G e g e n s a t z p a a r e n , w o d u r c h die e r s t e n b e i d e n Z e i t a l t e r c h a r a k t e r i s i e r t s i n d : J u d e n v s . H e i d e n , die K ö n i g e I s r a e l s v s . die r ö m i s c h e n K a i s e r , S y n a g o g e v s . K i r c h e . D e r j ü d i s c h e A u t o r s p r i c h t v o m U n t e r g a n g E d o m s z u B e g i n n des d r i t t e n Z e i t a l t e r s ; bei J o a c h i m ist es das r ö m i s c h - d e u t s c h e K a i s e r r e i c h , das n e u e B a b y l o n , das u n t e r g e h e n soll. A u s J o a c h i m s A n s a t z f o l g t , dass das N e u e T e s t a m e n t n i c h t die l e t z t e g ö t t l i c h e O f f e n b a r u n g war. U n d unter den spiritualistischen Franziskanern - d e m radikalen Z w e i g der J o a c h i m i t e n - w u r d e tatsächlich der Heilige F r a n z mit J e sus u n d M o s e a u f e i n e S t u f e g e s t e l l t , i n s o f e r n als j e d e r v o n d e n d r e i e n ein neues Stadium der Heilsgeschichte eröffnete. W i e M a r j o r y Reeves gezeigt h a t 1 0 3 , e n t h ä l t das m e s s i a n i s c h e D e n k e n des J o a c h i m v o n F i o r e d r e i E l e m e n t e : d i e c h i l i a s t i s c h e I d e e , 1 0 4 die A u f f a s s u n g d e r H i s t o r i e als ein A b b i l d der sechs S c h ö p f u n g s t a g e 1 0 5 und eine Dreigliederung der W e l t g e s c h i c h t e . 1 0 6

hemna s. Y. Baer, The Historical Background of the Ra'ya Mehemna (hebr.), in: Zion 5 (1950), 1-44. Gegen Baer s. Isayah Tishby, Mischnat haSohar, II, Jerusalem 1982, 692-702. Zur Frage nach jüdischen Quellen bei Joachim von Fiore s. ferner B. Hirsh-Reich, Joachim von Fiore und das Judentum, in: P. Wilpert (Hg.), Judentum im Mittelalter, Berlin 1966 (Miscellanea Medievalia 4), 28-263. , 0 } M. Reeves, Joachimist Influences on the Idea of a Last World Emperor, in: Tradition 17 (1961), 323-370. 104 Nach Apk 20,4 f. 105 Dazu A. Luneau, L'histoire du salut chez les pères de l'Eglise. La doctrine des âges du monde, Paris 1964; R. Schmidt, Aetates mundi. Die Weltalter als Gliederungsprinzip der Geschichte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 67 (1955/6), 288-317. Im 4.Jh. verfasste Julianus von Toledo seine Schrift De comprobatione aetatis sextae, worin er nachzuweisen sucht, dass das sechste Jahrtausend bereits vorüber sei, ohne dass der Messias erschienen wäre. Damit wollte er den jüdischen Einwand widerlegen, Jesus könne nicht der Messias gewesen sein, da er lange vor dem Ende des sechsten Jahrtausends gelebt habe. Zu dieser Schrift und ihrem Verfasser s. B. Blumenkranz, Les auteurs chrétiens latins du Moyen Âge sur les juifs et le judaïsme, Paris 1963, 119-126. 106 Die jüdische Dreigliederung (b Sanhédrin 97a) der sechstausend Jahre in die Epochen Chaos., Tora und Messias findet sich auch in der frühen ostkirchlichen Literatur, von wo sie im 4. Jh. als Chaos, Logos, Christos in den Westen gelangte. Dazu J. Stevenson, The .Laterculus Malalianus' and the School of Archbishop Theodore, Cambridge 1995, 23-25.122 (Text). Den Hinweis auf diese Dreiteilung verdanke ich meinem Freund und Kollegen O. Irshai, Dating the Eschaton. Jewish Apocalyptic Calculations in Late Antiquity, in: A.I. Baumgarten (Hg.), Apocalyptic Time, Leiden 2000, 113-153. Diese talmudische Gliederung in drei Weltalter entspricht der paulinischen Einteilung in die Zeit des natürlichen Gesetzes bis zur Sinai-Offenbarung (=Chaos), die Zeit des biblischen Gebots (=Tora) und die Zeit der Gnade seit Jesu Geburt (=Messias). In diesem Sinn wurden die drei Nachtwachen aus Lk 12,35-40 als drei Epochen gedeutet: tria tempora sunt: ante legem, sub lege et sub gratia ; dazu Schmidt (s. o. Anm. 105), 300.

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Das Ende des Milleniums (1240)

Und diese Komponenten finden sich alle drei in jener jüdischen Endzeitberechnung. Dieser jüdisch-messianische Text veranschaulicht ein weiteres Mal, wie tief sich die jüdische Gemeinschaft in ihre Umwelt zu akkulturieren vermochte, die sie erbittert bekämpfte - das eine schließt das andere nicht aus. Ich würde sogar so weit gehen und sagen: Die offene polemische Auseinandersetzung brauchte die dem oberflächlichen Blick entzogene Grundlage von Juden und Christen gemeinsamen Vorstellungen. Die traditionelle Gesellschaft tat also insgeheim, was die moderne bewusst und offen tut: Sie lebte die Geschichte, nahm Anteil daran und machte aus ihren beschränkten Möglichkeiten das Beste.

Glossar

Achtzehngebet (Amida, Standgebet), Hauptgebet des Morgen-, Nachmittags- und Abendgottesdienstes, aus neunzehn (ursprünglich achtzehn) Bitten bestehend; an Sabbat und Feiertagen als kürzeres „Siebengebet". Die Amida wird stehend gesprochen, zunächst still von der Gemeinde, dann vom Vorbeter laut wiederholt. Afikoman, Stück einer Mazza, das zu Beginn des .Server-Abends versteckt und erst zum Abschluß der Mahlzeit verzehrt wird. Alenu -Gebet, Hymne am Schluß des Gottesdienstes. Aschkenas, eigentlich der Name eines unbekannten biblischen Volkes; seit dem Mittelalter als Bezeichnung für den deutschsprachigen Raum bzw. die jüdischen Gemeinden in diesem Raum geläufig, dann auch die jüdischen Gemeinschaften in anderen Regionen bezeichnend, deren historische Wurzeln im deutschsprachigen Raum lagen. Bitterkraut (Maror), wird beim Seder-Mahl zur Erinnerung an den Frondienst in Ägypten verzehrt. Charosset, eine süße Paste von lehmartiger Farbe und Konsistenz, die beim Seder-Mahl zur Erinnerung an den Frondienst in Ägypten verzehrt wird. Chasside Aschkenas, die „Frommen Deutschlands", eine Gruppe pietistischer Autoren des Mittelalters. Dajjenu („Genügt hätte es uns"), liturgische Dichtung, Teil der Pessach-Haggada, eine Aufzählung der Wohltaten, die Gott im Zuge der Befreiung aus Ägypten erwies. Edom, das biblische Reich bzw. das Volk der Edomiter. Sie galten als Nachkommen des Esau und als Erbfeinde; vielfach mit den Römern und anderen feindlichen oder bedrückenden Mächten identifiziert. Einheitsbekenntnis („Höre Israel"), Bekenntnis der Einzigkeit Gottes, wird im täglichen Morgen- und Abendgottesdienst gesprochen; der Anfangssatz auch in der Todesstunde. Eruv, Sabbatgrenze, eine Vorrichtung oder ein Verfahren, wodurch am Sabbat innerhalb eines bestimmten Bezirks das Tragen von Gegenständen zulässig wird. So kann z. B. durch die Aufbewahrung einer Mazza, für deren Herstellung Mehl aus allen beteiligten Haushalten benutzt wurde, eine Hofgemeinschaft geschaffen werden, für die entsprechende Erleichterungen gelten. Gesäuertes (Chamez), mit Sauerteig Zubereitetes. Während der Pessach-Zeit ist sein Genuss verboten; vor dem Fest muss alles Gesäuerte aus dem Haus entfernt werden. Haggada, „Erzählung"; im engeren Sinn die Pessach-Haggada, die volkstümliche Erzählung von der Befreiung aus Ägypten, die in der häuslichen Feier am Seder -Abend verlesen wird. Halacha, die normative biblische und nachbiblische Lehre, das jüdische Religionsgesetz. Hallet, („Hymne"), eine in den Festtagsgottesdienst eingeschaltete Psalmsequenz (Ps 113-118). Heiligung des göttlichen Namens (Kiddusch haSchem), im engeren Sinn der Märtyrertod des Gläubigen.

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Glossar

Höre Israel, s. Einheitsbekenntnis Kabbala, Sammelbegriff für mystische Strömungen und Lehren im Judentum. Laubhüttenfest (Sukkot), sieben- bzw. achttägiges Herbstfest, während dessen die Mahlzeiten zur Erinnerung an das Umherirren in der Wüste in einer provisorischen Behausung (Laubhütte) eingenommen werden. Macbsor, Feststags-Gebetbuch; Machsor Vitry ist eine umfassende Kompilation von Halacha und Liturgie des Simcha b. Samuel von Vitry (11./12. Jahrhundert). Mazza (pi: Mazzot), ungesäuertes Brot. Memorbuch, Martyrologium. In den aschkenasischen Gemeinden wurde die Zusammenstellung der Seelengedächtnisgebete für die Opfer der Verfolgungen, aber auch für andere verdienstvolle Verstorbene im Mittelalter gebräuchlich. Midrascb, „Schriftauslegung"; exegetische Literatur des rabbinischen Judentums. Nissan, einer der Monate des jüdischen Jahres. Pessach fällt auf den 14. bis 21. Nissan. Pessach, das achttägige Fest des „Vorüberschreitens", da bei der Tötung der Erstgeborenen in Ägypten der Engel an den Häusern der Israeliten vorüberschritt. Zur Erinnerung an die Knechtschaft und an die Befreiung aus Ägypten wird am ersten und zweiten Abend während der häuslichen Seder-Feier die Haggada verlesen. Pessach -Opfer, das Lamm, das einst am Vorabend des Pessach -Festes im Tempel geopfert wurde. Ein gebratener Knochen erinnert beim Set/er-Mahl an dieses Opfer, das nach der Zerstörung des Tempels nicht mehr dargebracht werden konnte. Piut, liturgische Dichtung. Purim, Freudenfest zur Erinnerung an die Rettung der Juden in der persischen Diaspora vor den Mordplänen des Haman, wie sie im biblischen Buch Esther beschrieben wird. Rintfleisch-Unruhen, eine Welle von blutigen Judenverfolgungen um 1298, der besonders die jüdischen Gemeinden in Franken zum Opfer fielen; die „Judenschläger" wurden angeführt von einem „König Rintfleisch". Seder, „Ordnung", die häusliche Feier am ersten und zweiten Abend des Pessach -Festes. Während des ausgedehnten Seder -Mahls wird die Haggada verlesen. Sefer Chassidim, „Buch der Frommen", ethisches Hauptwerk der Chasside Aschkenas, entstanden im 12./13.Jahrhundert. Sefer haNizzacbon, „Buch des Triumphes", Kompendium antichristlicher Polemik des Jomtov Lipman Mühlhausen (1410). Sefer Nizzachon vetus, eine im 13.Jahrhundert in Deutschland entstandene Kompilation antichristlicher Polemik. Selicha, ein Piut, das ein Bußgebet zum Inhalt hat. sephardisch, dem iberisch-jüdischen Kulturkreis zugehörig; oft werden auch orientalisch-jüdische Gemeinschaften - inkorrekt - als „sephardisch" bezeichnet. Sobar, „Glanz", mittelalterliches Hauptwerk der Kabbala. Standgebet (Amida) s. Achtzehngebet Teighebe (Cballa), ein kleines Stück des Teigs für die Sabbatbrote, das vor dem Flechten der Brotzöpfe abgetrennt und verbrannt wird. Tossafisten, Autoren der Tossafot („Hinzufügungen"), Kommentatoren des Talmud, die im 12. und 13.Jahrhundert in der Nachfolge des Raschi (R. Salomo b. Isaak, 1040-1105) vor allem in Deutschland und Nordfrankfreich wirkten. Versöhnungstag {Jom Kippur), strenger Fast- und Bußtag, der heiligste Tag des jüdischen Jahres. Wochenfest (Schavuot), wird sieben Wochen nach Pessach zur Erinnerung an den Empfang des Dekalogs begangen.

Register

Abahu (Amoräer) 107 Abba Sikara 63 Abel 16, 18, 33, 96 Abendmahl, letztes 65, 84ff, 151, 158, 190,212, 225f, 241,246 Abgar (Pangar) 56 Abort 203f Abraham 18ff, 22, 26f, 30f, 70, 111, 155, 157f, 164, 166, 168f, 194 Abraham b. Asriel 108 Abraham b. Chija 121,259 Abraham b. Jakob 131 Abraham b. Nathan hajarchi 128 Abrahams Gesandter 19 Abrahams Schoß 166, 172 Abravanel, Isaak 120 Abun (Amoräer) 59 Acha (Amoräer) 33, 56 acta Pilati 55 Adam von Bristol 202, 206 Afikoman 84, 89, 102f, 240-248, 255 Afrahat 80, 84f, 90 Agape 84 Agnus Dei 86,161,248, 261 Ahasver 71, 138, 233 Akiva (Tannait) 25, 30, 48, 251 Akko 124 Alanus ab Insulis 260 Albertus Aquensis 171 al-Charisi, Jehuda 263 Alenu-Gebet 128, 136, 139f, 199-202, 205-208 Alexander der Große 284 Alexander-Roman 273 Alexandria 263, 266, 271 Allerheiligstes 57, 59ff al-Malik al-Kalim 261 Altar, himmlischer 59, 107, 151, 157, 159, 160, 168f Amalek 138, 146f Ambrosius 32, 205

Ammoniter 38 Amsterdam 243 Anjou 280 Antichrist 66, 152, 287, 290 Antoninus (Kaiser) 25 Apostel 28, 37f, 65, 78, 94, 250 Aquitanien 54 Arabien 56 Aram 18-20, 22 Arefast 173 Armilus 290 Arnold von Lübeck 174 Aron haKodesch s. Tora-Schrein Aschaffenburg 186 Aschkenas 10, 16, 35f, 38, 41ff, 69, 72, 92, 104ff, 108-114, 116-121, 123ff, 128f, 132-137, 139, 146-150, 152, 154, 160, 164, 168f, 174, 179, 182, 193f, 202, 204, 206, 208, 210, 22Iff, 226ff, 230ff, 234f, 24iff, 253, 260ff, 264, 273f (s.a. Deutschland) As rov nissim s. Die meisten Wunder wirktest du Auferstehung Jesu 54, 73, 80, 136, 215, 217,226, 231,244 Augsburg 277-281 Augustinus 34, 69, 123, 138, 285 Aussatz 68, 249-251 Auszug aus Ägypten 47ff, 5lf, 69f, 74-80, 83f, 88-93, 95, 97f, lOOf, 110-113, 118f, 121, 134, 136, 145, 175, 212, 216, 220, 222-226, 231f, 242, 245f, 248, 252, 267,272,281 Av, 9. 53,61, 106, 112, 120, 138 Ave Maria 201, 204 Av haRachamim s. Vater des Erbarmens Avinu Malkenu s. Unser Vater, unser König Avlona 252

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Register

Babylonien 23, 36, 39, 64, 80, 120, 205, 227-231, 262, 291 Balak 260f Balkan 252 Barcelona Bar-Kochba 25, 47 Bar-Kochba-Aufstand 25, 29f, 47, 52 Barnabas-Brief 28 Baruch b. David haCohen 198, 209 Baruch b. Meir 191 Basan 21 Bayern 176 Begräbnis 146 Bella 167 Benjamin b. Chija 115 Ben Sorna 75, 78ff Ben Stada 77 Berechja (Amoräer) 218f Berlin 239 Bernold 171 Beschneidung 27, 31, 207f, 253, 280f Berthold von Regensburg 183 Bethlehem 95, 249 Bileam 69, 250f, 260, 262, 289f Bindung Isaaks s. Opferung Isaaks Bitterkraut 86f, 89, 96 Bizio, Bartolomeo 255 Blois 108, 117, 139, 149, 179, 180, 186, 190ff, 197-202, 205, 209, 285 Bne Berak 75, 78ff Bolsena 254 Boppard 179, 186 Brandenburg 239 Bretagne 280 Bristol 197, 202-206 Brücke von Arta (Ballade) 252 Bruna, Israel 133 Brunnenvergiftung 182, 188f Bücher, Beschlagnahme von 281 Burgund 136 Buße 119, 203,272 Byzanz 26, 39, 83, 120, 152, 162, 208, 229 Caesarea 45, 56 Canterbury 202 Capsali, Eliahu 174 Chaim b. Abraham haCohen 243 Chaim b. Jechiel Chefez Tov 114

Chaim O r sarua 234f, 237 Chakim (liturg. Dichter) 117 Challa s. Teighebe Chama bar Chanina 71, 110, 220 Chamez s. Gesäuertes Chananel b. Amnon 220f Chananel der Dajjan 271 Chananel, Rabbenu 261 Chanina b. Taradjon 107 Chanina, Sohn des R. Abahu 289 Chanukka 117 Charosset 248-254 Chasside Aschkenas 42, 136, 234, 265, 274ff Chaucer, Geoffrey 202 Chrysostomos 217 Corpus Christi 86, 239, 248 Credo 128,202,205 Cyprian 28 Dajjenu 83ff Dämonen 274 Daniel al-Kumisi 267 Darmstadt 266 David (König) 21, 23f, 33, 37, 50, 96, 160 David b. Meschullam 108, 146, 165 David b. Natanel 203 David b. Samuel haLevi 113 davidische Abstammung 25, 49 dei Rossi, Asarja 51 depositio 244 de-Rossi, Salomo 122 Deutschland (s.a. Aschkenas) 9, 103, 105, 124f, 135f, 139, 149, 162, 169, 173, 176, 178ff, 195, 209, 227, 238, 254f, 261, 266, 27lff, 276-280, 282-287, 290f Didaskalia 225f Die meisten Wunder wirktest du bei Nacht 133 Dies ist das Brot der Armut 85, 247 Dionysios von Alexandria 225 Dominikaner 272, 278 Donau 187,252 Donin, Nikolaus 203, 279-282 Dschingis Khan 283 Duran, Simon b. Zemach 89f

Register Eberhard, Bischof von Trier 173 Edels, Samuel Elieser 72 Edom 15, 18, 21-27, 29, 31 ff, 46, 48, 66, 70ff, 108-114, 117, 119f, 123-126, 128, 131, 150ff, 181, 195, 204, 217-220, 234, 262, 268, 270, 273, 276, 290f Egeria 217 Einheitsbekenntnis 79, 127f Einsammlung der Zerstreuten 118, 127, 263, 267f Einwanderung der dreihundert Rabbiner 269ff Einwanderung ins Heilige Land 263, 266-272,274,286 Ekkehard von Aura 153 Elasar (Rabbiner in Mainz) 159 Elasar (Tannait) 69 Elasar b. Asarja 75, 78f Elasar b. Jai'r 158 Elasar b. Jehuda von Worms 72, 109, 179, 208, 234, 263, 265, 275 Elasar b. Pedat 107 Elasar beR. Kalir 112 Elasar Chasan 111 Elasar der Große 111 elevatio 244 Elia 50, 112, 118, 121, 133ff, 216, 224, 230, 240, 244, 260, 266 Elia, Becher des 135 Elieser b. Hyrkanos 48, 79 Elieser b. Nathan 108, 116, 165, 184f Emicho von Flonheim 153 Endgericht s. Jüngstes Gericht Endzeitberechnung 47, 52, 70f, 257-267, 270f, 274f, 288-292 England 128, 173, 176, 178ff, 182, 202, 209, 277, 283 Enns 140 Entweihung christlicher Kultgegenstände 130,203 Ephraim 16, 27, 47-52, 69, 232, 269 Ephraim b. Isaak 108 Ephraim b. Jakob von Bonn 108, 117, 148f, 176f, 180, 186, 197f, 200, 223 Ephrem der Syrer 86 Epiphanius 225 Erlösung aus Ägypten s. Auszug aus Ägypten

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Erstgeburt (-srecht) 15, 21, 26, 28, 33, 92, 220, 240, 262 Eruv s. Hofgemeinschaft Erzählung von den drei Männern im Feuerofen 198 Esau 15-18, 20-33, 38, 48, 57, 71, 72, 88ff, 106, 109, 218, 225, 233f, 257, 262, 269 Esel des Messias 134ff, 141 f Es dürstet meine Seele nach dem gen Gott (Piut) 202 Es freue sich Mose 92 Esra 18 Esther 71, 105, 175, 233 Esther-Rolle 128, 138, 175 Esztergom 193

lebendi-

Eucharistie 84f, 213, 239, 241, 245ff Euphrat 48 Eusebius 53f, 56, 61f, 67 Exodus s. Auszug aus Ägypten Ezechiel 33, 45, 66, 119, 159, 201, 251 (s.a. Vision der vertrockneten Gebeine) Fasten, öffentliches 137, 149, 209 Fastenzeit (vorösterliche) 73f, 174, 225f, 236 Fastnacht 136, 140 Festmahl, messianisches s. Leviathan Feuerprobe 199 Flavier 45 Fleischwerdung s. Inkarnation Folz, Hans 136, 140, 145 Frankfurt 135, 143, 182, 210, 239, 242, 265, 276, 286 Frankisten 254 Frankreich 53, 69, 123f, 129, 139, 149, 173, 179, 180, 200-203, 206f, 209f, 221, 230, 253f, 260-267, 269-272, 274f, 277-280, 282, 284ff, 289 Franz, Heiliger 291 Franziskaner 260, 272, 291 Friedhof 138, 169, 177 Friedrich II. 271, 276-281, 286 Friedrich III. 210 Fulda 176,276-279,281 Gabriel 262

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Register

Gadiel 95 Galiläa 49, 119 Gamliel (Tannait) 75f, 78ff, 85, 87, 89, 92, 101 gaude Maria 202 Gebot des Wohnens im Heiligen Land 42 Gebote, das Heilige Land betreffende 267, 270 Gehängter 127, 140 Genuvat 23 Gerechte 33, 106f, 121, 148, 157, 159, 167, 192, 197, 199, 243 Gerschom Meor haGola („Leuchte des Exils") 106, 113 Gesäuertes 71f, 86, 189, 211ff, 232-237, 239 Gesta Treverorum 171, 173, 276f Gieß aus deinen Grimm 133-137, 141, 145, 182,240 Gilead 21 Gloucester 185 Gog und Magog 119, 122, 152, 230, 266, 268, 283 Golgatha 135, 153 Gomorrha 113 Gosen 23 Grabeskirche 152 Gregor IX. 280f Gregor von Tours 195 Griechenland 84 Gründonnerstag 180, 198, 244 Guibert de Nogent 173, 284 Gumbiner, Abraham 245 Hadad der Edomiter 23f Hadrian 25 Haftara s. Prophetenlesung Hagenau 277f Hai Gaon 119f Ha lachma anja s. Dies ist das Brot der Armut Hallel (-psalmen) 76, 79, 84, 96, 100 Haman 51, 71, 102, 130, 138, 173, 175, 233 Hampshire 280 Heiligtum, himmlisches s. Altar, himmlischer Heiligtum, Zerstörung des 56, 60ff

Henry II. 202 Herodes 45, 77, 95, 97f, 249f Hieronymos 70 Hillel (Amoräer) 92 Hillel b. Jakob von Bonn 200 Hillel von Verona 280 Hiob 250 Hippolyt 54, 91 Hofgemeinschaft 237-240, 246, 255 Holocaust 34, 169 Horeb 83 Höre Israel s. Einheitsbekenntnis Hoschana rabba 216 Hosea 33,221 Hostie 72, 102, 130, 140, 143, 174, 189f, 193, 195,211-256,287 Hostienfrevel s. Hostie Huna (Amoräer) 33, 95 Hussiten 137, 140, 193,283 ibn Esra, Abraham 120, 202 ibn Gabirol, Salomo 120 ibn Tibbon, Samuel 270 ibn Verga, Salomo 270 Improperien 83, 85 Inkarnation 89, 201 Innozenz III. 203, 210 Inquisition 139f, 182, 206, 235, 278 Irenäus 28 Irland 204 Isaak 16-22, 26f, 31 ff, 70, 82, 89, 96, 166, 168f, 262 Isaak b. Abraham 266, 269f Isaak b. Mose von Wien (Or sarua) 227f, 241 Isaak b. Schalom 164 Isaak haLevi von Neuss 183 Isaak ibn Latif 262 Isaak von Corbeil 210 Isaak von Dampierre 265 Isaak von Mainz 154ff, 158-163, 170 Islam 16, 36, 38f, 114, 120, 263, 269, 290 Ismael/Ismaeliten 16ff, 23, 27, 31, 33, 38, 113f, 128, 131, 194, 268 Israel, fleischlich und geistig 26, 38 Isserlein, Israel 137f, 238 Isseries, Mose 133 Italien 122, 150, 153, 220f, 237, 254

Register J a k o b 15-18, 2 1 - 3 3 , 88ff, 96ff, 117, 150, 218, 233, 257, 261f, 275, 289 J a k o b b. Eliahu 279f J a k o b u s 62, 66 J a m b r e s 249 Jannai 91, 109, 110, 112f, 132,217, 223 Jannes 249 Japhet 28 Javne 12, 56, 58, 63, 68, 75 Jechiel b. David h a C o h e n 197 Jechiel von Paris 261, 280 J e h u d a (Amoräer) 25 J e h u d a (Salomo b. Simsons Schwiegersohn) 159 J e h u d a b. Aaron 197 J e h u d a b. Barsillai von Barcelona 121, 259f, 289 J e h u d a b. Isaak Sir Leon 272 J e h u d a b. Kalonymus 111 J e h u d a der F r o m m e 111,261 J e h u d a der Fürst (Rabbi) 25 J e h u d a Halevi 122 Jekutiel b. J e h u d a h a C o h e n 197 J e m e n 268, 270, 289 Jenseits 69 J e r o b e a m 24 Jerusalem 29, 37, 43, 45f, 52-56, 58f, 61-69, 73, 88, 98, 100, 110, 118f, 132, 134, 151 ff, 156ff, 160, 181, 217, 225, 227f, 231,263, 2 6 7 - 2 7 1 , 2 7 3 Jerusalem, himmlisches 157, 160f (s.a. himmlischer Altar) Jesreel 221 Jesu G e b u r t 95, 97f, 101, 184, 248, 252, 259,289,291 J e t h r o 250f Joachim von Fiore 290f J o c h a n a n b. Sakkai 55f, 58, 63, 66, 68 Jocheved 248 Joel 93f, 101, l l l , 2 1 6 f f , 220 Joel b. Isaak haLevi 165 J o h a n n e s (Evangelium) 51, 85f, 92, 96, 185, 21 lf, 215f, 221, 224f, 230, 232 J o h a n n e s der T ä u f e r 31, 184 J o h a n n e s de T h i l r o d e 236 J o h a n n e s von W i n t e r t h u r 174 J o h a n n i s t a g 184 J o m Kippur s. Versöhnungstag

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J o m t o v b. A b r a h a m Ischbili (RITBA) 95, 124 J o n a G e r o n d i 76 J o n a t h a n von Lunel 270f J o s e p h 23, 96, 262 (s.a. Messias, J o s e p h s Sohn) J o s e p h (Marias M a n n ) 97 J o s e p h b. A b r a h a m aus Marseille 263 J o s e p h b. Mose (Schüler Isserleins) 137, 207, 238 J o s e p h ibn Avitur 120, 132, 229 J o s e p h Tov Elem 221, 253 J o s e p h u s Flavius 53, 55f, 61f, 66-68, 156, 158f, 2 1 2 , 2 4 9 J o s e p h von Clisson 263 Jossi (Tannait) 226 Josua ben N u n 92 Jubeljahr 256 J u d a / J u d ä a 15, 18, 23-25, 32, 45, 48f, 54, 56, 58, 217, 228 (s.a. Sekte am Toten Meer) Judas Ischariot 65, 221 J u d e n c h r i s t e n 74f, 80f, 96, 100, 221 Judenprivileg Friedrichs II. (1236) 277, 281,286 „Judensau " 135f, 143, 182 Julian Apostata 62, 71 Julianus von Toledo 291 Julius Africanus 259 Jüngstes Gericht 106-111, 146, 149, 208, 227, 229, 259, 265, 273, 275f Jupiter 45 Juspa H a h n 242 Juspa Schammes 133, 224, 238 Justinian 127 Justin M a r t y r 27, 86, 92, 203 Kain 16, 18, 33 Kairoer Genisa 218, 263 Kaiser, letzter 152f Kalir s. Elasar beR. Kalir Kalonymus b. J e h u d a 106f, 111, 115, 123, 129, 147, 164f, 170, 193 K a m m e r k n e c h t e 213, 276-ff Kamza u n d Bar Kamza 46, 63ff, 69 Kana 185 Kanaan/Kanaaniter 18, 22, 274 Kannibalismus 67, 176, 179f

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Register

Kapitol 45, 250f Karäer 268 Karfreitag 83, 180, 244f Karwoche 217f, 220, 224-227, 230, 244, 255 Ketura, Söhne der 31 Ketzerbitte 87f, 125f, 128, 139 Ketzer/Ketzertum 41, 61, 73f, 79, 85, 87f, 125f, 128, 139f, 145, 173, 214, 220, 278f Kinder, Tötung der 9f, 150f, 154ff, 158, 162-176, 181-196, 198, 202ff, 206, 209, 249-253, 277, 279 Kittel 244 Kitzingen, Jakob 243f Klagemauer s. Westmauer Kleinasien 73 Knechte waren wir 80 Koblenz 148, 193 Köln 108, 114, 183, 186, 188 Kommunion 242ff, 246, 253 Konstantin 61, 68, 140, 249ff Konstantinische Schenkung 56, 57, 68, 248f Konstantinopel 46, 153 Konversion/Konvertiten 133, 139f, 149, 158, 174, 181 f, 187, 189, 194, 235f, 239, 241-244, 272, 277, 279, 287 Kreuzfahrer/Kreuzzüge 9f, 13f, 16, 41f, 106, 114, 124, 131, 139, 149, 151f, 155, 160, 162, 164, 166, 171f, 177f, 187, 192f, 263, 269, 271f, 277, 280, 283 Kreuzigung Jesu 34, 37, 46, 51-56, 61, 64-67, 73, 76, 87, 93f, 98, 127, 136, 145, 158, 179, 180, 185, 192, 204, 212, 216, 224ff, 231, 234, 239, 289 (s.a. vindicta salvatoris) Nachahmung der 130, 173, 176, 206, 233, 246 Laban 28, 96ff, 101 Landolfus Sagax 55f Lärm des jüdischen Gebets 210 Lateran 68, 254 Laterankonzil, viertes 267 Laubhüttenfest 216, 218, 229f Lauda 276 Lazarus-Sabbat 217, 226

Lea 16,27 Le Mans 174 Levi 49 Leviathan 243f Levi b. Secharja 219f Libanon-Zeder 283 Liegnitz 290 Loches surlndre 190f Logos 92, 97, 207, 291 Loire 186 London 103 Lot 38 Louis VII. 285 Ludwig der Fromme 271 Lukas (Evangelium) 31, 52f, 56, 77, 84ff, 88, 201,220, 291 Luria, Salomo (MaHaRSchaL) 224, 243 Lydda 75, 77 Maamadot 200 Mach sie zum Fluch (Piut) 131 Mach sie zu Schmach (Piut) 131 Machsor Vitry 69, 128, 133, 222, 247 Madrona 167 Mailand 205 Maimonides 121, 263, 265, 268, 270f, 280, 289 Maimonides, Abraham 263, 271 Main 185 Mainz 114, 132, 137, 139, 154f, 158f, 162f, 165f, 170ff, 179f, 188, 203, 227, 266 Manasse 16, 27 Manna 83,213,244 Männchen 194ff Manole 248, 252 Marbach 283 Mariae Himmelfahrt 206 - , Legende 56 Maria, Jesu Mutter 56, 61, 95, 201f, 206ff, 248, 252 Maria Magdalena 61 Maria, Tochter des Elieser s. Martha, Tochter des Boethos Marienkult 201 ff, 207 Maror s. Bitterkraut Marseille 263, 271 Martha, Tochter des Boethos 63, 66ff

Register Martini, Raymund 51 Maskilim 268 Matthäus (Evangelium) 31, 51, 76, 85-88, 92, 9 8 , 1 0 1 , 2 1 6 , 2 3 3 , 249 Matthaeus Paris 283 Mazada 157f, 169 Mazza 84-87, 96, 176, 186, 211-256 Mea Schearim 43 Meir (Bruder Josephs von Clisson) 263 Meir (Tannait) 66, 219f Meir b. Simon von Narbonne 105 Meir von Rothenburg 114, 117, 165, 174, 193 Melchizedek 50 Meliton von Sardes 27, 81-84, 86f, 89, 91, 96, 98f Memorbuch 147f, 177, 199 Menachem b. Amiel 58 Menachem b. Jakob 227 Menachem beR. Mechir von Regensburg 116 Meschullam b. Isaak 166 Meschullam b. Mose 227 Messe 195, 240f, 244f, 254 Messias aus dem Hause Aaron 49f Messias, davidischer 45, 47-51, 119, 232, 243, 263, 283 (s.a. Menachem b. Amiel) Messias, Ephraims Sohn s. Messias, Josephs Sohn Messias, Geburt des 95 Messias, Josephs Sohn 47-52, 119, 153, 232 Michael, Erzengel 157, 251 Midian 23,251 missa s. Messe Mittelmeerländer 28, 180, 258, 266 Moabiter 38, 260 Moers 134, 166, 170 Molin,Jakob (MaHaRIL) 111, 146, 223f, 238, 253,272 Mongolen 282-286 Monstranz 238, 244 Montpellier 260 Moria, Berg 165, 168 Morgengebet, sonntägliches (Matutin) 205

301

Mose 23f, 44, 48, 77, 85, 89, 92f, 96, 135, 138, 160, 163, 248f, 264, 289ff Mose b. Elasar 287 Mose b. Maimon (RaMBaM) s. Maimonides Mose b. Meschullam 227 Mosel 151 Mose von Coucy 262, 272, 286 Mose von Kreta 58 Mühlhausen, Jomtov Lipman 139, 189, 207, 235f, 257 mündliche Lehre 38, 82, 102 Nachmanides (RaMBaN) 122, 288 Nacht, durchwachte 78, 217, 234 Narbonne 181f,280 Nathan (Gesandter) 54 Nathan b. Jehuda 130 Nathan b. Meschullam 285 Nathan von Eger 193 Negev 19, 23 Nehemia 18 Nero 63, 65f, 68 Nestorianer 39 Nestorius 39 Neuss 179, 183, 184, 188 Nicaea, Konzil von 73f, 217 Nikodemus-Evangelium 55 Nil 23, 96, 249 Ninive 276 Noah 259 Nordafrika 36, 263 Norwich 172, 175-179, 181f, 188ff, 196, 209, 277, 280f Nürnberg 135, 147, 177 Obadja b. Machir 200 Offenbarung Johannis 107, 111, 16lf, 291 Öffnen der Tür für Elia 133f, 240 Ölberg 231 Olivi, Peter 260 Omez Gevurotecba 133 Onkelos der Proselyt 63, 69 Opferlamm in Gewahrsam nehmen (10. Nissan) 217, 221-226 Opferung Isaaks 70, 82, 96, 166, 168f Origenes 28, 54, 61, 64, 81, 91, 212

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Register

Orléans 180, 190f, 198, 209 Orosius 56 Orvieto 254 Österreich 148, 174, 193, 238, 283 Otto der Große 124 Oxford 280 Palmsonntag 134, 217, 225f, 230ff Pangar s. Abgar Paris 139, 180, 189f, 201, 236f, 26lf, 265, 279-283, 286 Parma 274 Parusie 73, 78, 84, 158, 290 Paternoster 204 Paulus 26-31, 85, 126f, 153, 206, 246, 250,291 Paulus VI. 34 Persien 39, 118, 175,217 Pessach 12, 15, 37, 51, 53, 58, 61, 69-103, 110, 113, 127, 136, 143f, 158, 173ff, 179f, 182, 187-190, 192, 197, 203, 211-256 - , siebter Tag 67, 113 Pessach-Haggada 12,28, l l l f , 133, 141 Pessach-Opfer 72, 74ff, 79, 80, 86f, 89, 91f, 96, lOOf, 203, 212f, 222, 227, 229-232, 240f, 246, 253 Petachja von Regensburg 261, 276 Peter (Konvertit) 139f, 189,235f Petersdom 250 Peter von Amiens 53 Petrus 77f, 94, 250 Petrus Venerabilis 138 Pfefferkorn, Johannes 129,241,244 Pfingsten 37, 53, 78, 94, 101, 126 Pharao 2, 23, 57, 77, 80, 96f, 145, 192, 248-251, 253, 281 Philippe Auguste 180, 203, 210 Philister 47f, 232 Philon 76 Pilatus, Pontius 55, 60, 215 Pilgerfahrt 42,227, 231,254 Pinchas b. Aruba (Tannait) 57 Pinehas 50 Pionius 215 Plagen, ägyptische 70f, 83, 11 Off, 119, 136, 145, 186, 219ff, 234, 240, 251 Poitou 280

Polen 129f, 193,218, 243,286 Polykarp 215 Pompeius 71 Prag 283 Prophet 263, 275 Prophetenlesung Proselyten s. Konversion Provence 105, 119, 235, 259, 271 Purim 109, 130, 138, 173ff, 177, 182, 215, 224,233,281 Purpurgewand 106-109, 124, 146, 148, 204 Quartodezimaner 73f, 78, 81, 100, 217 Qumranschriften 49, 126 Rache des Heilands 46, 52-62, 66, 182 Rachel 16,27, 48, 96 Rachel (Schutelachs Nachfahrin) 25 lf Rachel aus Mainz 166 Raschi 92, 130, 222f, 233, 241, 247, 289 Rav (Amoräer) 25, 89, 205 Rebekka 17-22, 26f, 32f, 218 Regensburg 133, 146, 183, 187, 192 Reischer, Jakob 226, 245 Resch Lakisch 163 Rhein/Rheinland 9, 53, 115, 151, 153, 183-186, 188, 266 Rigord 180 Robert de Torigny 179f, 186 Romulus 290 Rotes Meer s. Schilfmeer Rothard 170 Rothenburg 117, 147, 165, 174, 193 Rumänien 229, 253 Saadja Gaon 83, 92, 119 Sabbat (e) 92, 109, 127f, 147, 194f, 215-232, 237,261,281 - der Umkehr 224 - , Großer 93, 109, 195, 215-232, 238, 255 - im Adar 227-229 Sahel b. Mazliach 268 Saintes 263 Salomo 23ff, 33, 20lf, 207f Salomo (Astrologe) 276 Salomo b. Isaak s. Raschi

Register Salomo b. Simson 9, 114, 159, 170, 184, 196f, 284 Salomo Suliman 220, 223 Samael 72 Samaritaner 96, 120, 225 Samson von Savoyen 140 Samuel bar Ascher 185 Samuel b. Meir 241 Samuel der Fromme 265 Samuel der Prophet 111 Samuel von Bristol 202f, 206 Sara 19, 26,95 Sauerteig s. Gesäuertes Savoyen 140 Scaliger, Joseph 85 Schabur 217 Schalom von Neustadt 193, 239 Schatzhaus, göttliches 149, 229f Schaufäden 79 Schavuot s. Wochenfest Schemaja (Schüler Raschis) 289 Schilfmeer 71, 83, 112, 134 Schilo 88 Schilo (Rabbi) 135 Schlussgesang am Sabbat 108 Schutelach 25 l f Schwarzer Tod 188 Seder 59, 69-103, l l l f , 129, 133, 136, 145,214, 2 4 0 , 2 4 2 - 2 4 7 , 2 5 3 Sedes sapientiae 207f Sefer Serubavel 58, 120, 157,243 Seir 22, 90 Sekte am Toten Meer 28, 126f Sem 28 Sens 210 Sibylle 152, 162 Sichern 22 Silvester-Legende 68, 249ff Simon b. Isaak 113, 132 Simon b. Jochai 277 Simon vonTrient 135f, 183 Simson von Sens 269 Sinai 3 7f, 44, 80, 92,162, 289 Sinai-Offenbarung 44, 126, 163, 291 Siwan, 20. (Gedenken an die Märtyrer von Blois) 209 Sizilien 284 Slawische Länder 274

303

Smyrna 215 Sodom 113 Sogrob 236 Sokrates Scholasticus 58 Soh deo 204 Spandau 239 Spanien 36, 38, 120, 122ff, 128, 132, 129, 145, 180f, 236, 262, 272, 274, 277, 284, 286 Speiseopfer 211, 228 Speyer 113, 179, 186 Sternbild des Steinbocks 261 Sternbild des Widders 261 Stundengebete (Horae) 205 Sukkot s. Laubhüttenfest Synagoge 27, 127, 151, 154ff, 158-163, 165, 170, 174, 210, 238ff, 246, 291 Syrien 73, 97 Tag des Gerichts s. Jüngstes Gericht Tarn, Rabbenu 197, 209, 285 Targum Jonathan 249 Tauberbischofsheim 277 Taxo 107 Te-Deum 204-208 Teighebe, Absonderung und Verbrennung 140,236 Tempelberg 37, 56, 153 Tempelzerstörung 12, 24, 28f, 32, 36f, 39f, 45f, 48ff, 52ff, 56, 60-66, 69-72, 75f, 85, 95, lOOf, 106, 115, 156-160, 163,213 Terracina 210 Tertullian 28 Theobald von Canterbury 181, 277 Thomas von Monmouth 176, 178f, 181 f, 196, 209 Thron der Ehre 207 Thron, Elias 208 Thron, göttlicher 150 Thron, Salomos 207f Tiberias 56 Tiberius 54 Titus 45, 54-63, 68f Toledo 262, 291 Tora 57, 126f, 128, 147, 162f, 186, 208 Tora-Lesung 228f Tora-Schrein 151, 155f, 158

304

Register

Tora-Verleihung 37f, 80, 92, 94, 162f, 226, 289 Tossafisten 167, 222ff, 243f, 260, 266, 270f Totenauferstehung 121, 216 Totengedenken 147f Transsubstantiation 214, 247 Trieb, böser 72, 132, 213, 233 Trient 136, 145, 178, 182 Trier 9, 53, 171ff, 272f Troyes 149 Tryphon 92 Umkehr s. Buße Ungarn 193,283f, 286 Ungesäuerte Brote s. Mazza Unser Vater, unser König 147 Urban IV. 254 Vater des Erbarmens 147f Verbrennung der Schriften des Maimonides 280 Verfolgung(en) - , Frankfurt (1241) 265, 276, 286 - , Frankreich (1236) 280 - , Österreich 148, 193, 283 - , Rintfleisch-Unruhen (1298) 130, 147f, 189,214, 287 - , Spanien (1391) 123 - , York 223 „Veronica, Schweißtuch der" 54f Versöhnungstag 59, 127, 129-133, 136, 138ff, 147, 194, 209, 224 Vertreibung - F r a n k r e i c h (1182) 180 - , Spanien (1492) 123 verus Israel 31 Vespasian 54-60, 62f, 68, 159 Victor (Papst) 73 Victor von Karben 140, 194-196, 242f, 245f vier Becher 59, 124, 133,240

vier Reiche 30, 45, 77 vier Söhne 88 Vigilien s. Nacht, durchwachte vindicta salvatoris s. Rache des Heilands Vision der vertrockneten Gebeine 69, 216, 230ff Volusianus 55 Wasserprobe 192, 198f Weihnachten 184, 276 Wein 185, 240, 246, 253f Weintropfen 111, 136 Weissagung von Trípoli s. Libanon-Zeder Weltgericht s. Jüngstes Gericht „Werner, guter" 114 Westmauer 56 Wevelinghoven 185 Wien 138, 283 William von Norwich 176, 178, 181, 189, 209 Wilnaer Gaon 76 Woche, Große s. Karwoche Wochenfest 37, 94, 126, 159, 162f, 226 Wolfhagen 277 Worms 133, 134, 166, 171f, 188, 190, 224, 227 Worringen 114 Würzburg 147, 176f, 185, 190, 196 Xanten 151, 158 York 223 Zadok (Tannait) 63 Zafun 243f Zauberei 248f, 274 Zehn Stämme Israels 48, 273, 282ff Zion 37f, 49, 110, 116, 132, 267, 270 Zippora 166 Zoroastrier 39