Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen 3777281468

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Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen
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WOLFGANG SPEYER

BÜCHERVERNICHTUNG UND ZENSUR DES GEISTES ÄJ HEIDEN, JUDEN UND CHRISTEN

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WOLFGANG SPEYER

BÜCHERVERNICHTUNG UND ZENSUR DES GEISTES ÄJ HEIDEN, JUDEN UND CHRISTEN

BIBLIOTHEK DES BUCHWESENS BEGRÜNDET VON HANS WIDMANN HERAUSGEGEBEN VON

REIMAR W. FUCHS

BAND 7

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ANTON HIERSEMANN VERLAG STUTTGART 1981

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I

BÜCHERVERNICHTUNG

UND ZENSUR DES GEISTES BEI HEIDEN, JUDEN

UND CHRISTEN

VON WOLFGANG SPEYER

ANTON HIERSEMANN VERLAG STUTTGART 1981

Mit 10 Abbildungen

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^IP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Speyer, Wolfgang: ’* Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Heiden, Juden und Christen / von Wolfgang Speyer. - Stuttgart: Hiersemann, 1981. (Bibliothek des Buchwesens; Bd. 7) ISBN 3-7772-8146-8

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K/ Printed in Germany

© 1981 Anton Hiersemann, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses urheberrechtlich geschützte Werk oder Teile daraus in einem photomechanischen, audiovisuellen oder sonstigen Verfahren zu vervielfältigen und zu verbreiten. Diese Genehmigungspfhcht gilt ausdrücklich auch für die Verarbeitung, Wieder­ gabe und Verbreitung mittels Datenverarbeitungsanlagen. Schrift: Lichtsatz in Sabon-Antiqua und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten. Einband: Groß­ buchbinderei Ernst Riethmüller, Stuttgart

ISBN 3-7772-8146-8

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ISSN 0340-8051, VOL. 7

INHALT

Vorwort .

IX

Einleitung

1 A. ALLGEMEINER TEIL

I. Scheinbare Unsterblichkeit des Liedes und der Literatur 1. Die Naturgewalten als Feinde der schriftlichen Hinterlassen­ schaft 2. Verluste durch Kriegseinwirkung und Gewaltakte 3. Veränderungen des Zeitgeistes

II. Arten der willentlich herbeigeführten Büchervernichtung 1. Verbergen 2. Verbrennen 3. Zerschlagen und Zerreißen 4. Ins Wasser Werfen 5. Verschiedenes

7

7 15 22 25 25 30 36 39 41

B. DIE BÜCHER VERNICHTUNG UND ZENSUR DES GEISTES IM NICHTCHRISTLICHEN ALTERTUM

I. Die Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Griechen und Römern 1. Die Büchervernichtung und Zensur des Geistes durch den Staat a) Griechenland und griechische Staaten b) Rom a) Die Zeit der Republik . . ß) Die Zeit von Augustus bis zum 3. Jahrhundert y) Kaiser Diokletian .... Ö) Kaiser Julian Anhang: Die Verbrennung von Steuerakten 2. Die Literaturzensur der Philosophen 3. Die Ablehnung der Bücherzensur und Büchervernichtung . . . . 4. Die Vernichtung durch den Verfasser a) Die Vernichtung als Folge einer Bekehrung b) Die Vernichtung aus Unzufriedenheit mit dem eigenen Werk oder dem Schicksal

43

43 43 51 51 56 76 79 80 83 87 89 91 92

VI

Inhalt

5. Die Vernichtung durch den Widmungsempfänger 6. Die private Vernichtung fremder Werke a) Die Vernichtung durch Schriftsteller und Künstler b) Die Vernichtung durch Angehörige des Verfassers c) Die Vernichtung infolge gelehrter und pseudogelehrter Tätig­ keit ................................................................................................ d) Die Vernichtung aus Gründen der Dezenz 7. Die Vernichtung als Wertsteigerung II. Die Büchervernichtung und Zensur des Geistes im Alten Orient, in Israel und im Frühjudentum

96 98 98 99 101 104 107 109

C. DIE BÜCHERVERNICHTUNG UND ZENSUR DES GEISTES BEI DEN CHRISTEN I. Einleitung

120

II. Folgen des Diokletianediktes vom Jahr 303

127

III. Die Vernichtung gemeinschafts- und glaubensgefährdender Schrif­ ten durch die Großkirche und den christlichen Staat 1. Die Vernichtung heidnischer Literatur a) Die Vernichtung der Zauberliteratur b) Die Vernichtung christenfeindlicher Schriften und der Ritual­ bücher c) Die Vernichtung lasziver Literatur 2. Die Vernichtung der manichäischen und häretischen Literatur . a) Einleitung b) Die Vernichtung der manichäischen Schriften . c) Die Vernichtung der häretischen Schriften der vorarianischen Zeit d) Die Vernichtung der Schriften der Arianer e) Die Vernichtung der Schriften der Apollinaristen, Eutychianer und Monophysiten f) DieVernichtungderSchriftenderPriszillianistenundPelagianer g) Die Vernichtung der Schriften der Nestorianer und ihnen nahestehender Theologen der Großkirche h) Die Vernichtung häretischer und schismatischer Schriften des 6. bis 8. Jahrhunderts IV. Die Vernichtung theologischer Literatur durch Häretiker V. Die Zensur und Vernichtung jüdischer Schriften Anhang: Die Verbrennung von Steuerakten

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161 164

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Inhalt

VI. Kritische Stimmen zur Büchervernichtung.................

VII

166

VII. Die Vernichtung durch den Verfasser oder Eigentümer 1. Die Vernichtung als Folge der Bekehrung.............. 2. Die Vernichtung durch Zwang von außen.............. 3. Die freiwillige Vernichtung durch den Verfasser . .

169 169 174 175

VIII. Wunder bei der Verbrennung heiliger Schriften . . . .

177

Schlußbetrachtung

180

Literaturverzeichnis und Abkürzungen

189

Bildnachweis

194

Register

195

FÜR ELSE VEITH

Sängerin

an der

Kölner Oper

1933-1960

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VORWORT

Bekanntlich besitzen wir von der literarischen Hinterlassenschaft der Griechen, Römer, Juden und selbst der Christen nur einen kleinen Teil des einmal Vorhan­ denen. Eine Bestandsaufnahme der verlorenen Literatur des Altertums, soweit darüber noch die erhaltenen Reste Aufschluß geben, fehlt. Niemand hat es bisher gewagt, diese schwierige und umfangreiche Aufgabe anzugehen, geschweige denn sie zu bewältigen. Das hier vorgelegte Buch ist in seinen Zielen bescheidener. Es möchte wichtige Gründe, die zu den großen Verlusten geführt haben, darlegen. Auf diese Weise wird auch für die Kenntnis der einmal vorhandenen, jetzt aber verlorenen antiken Literatur manches zu gewinnen sein. Als Vorarbeit erschien im Jahr 1970 der Artikel ‘Büchervernichtung’ (Nachtrag zum Reallexikon für Antike und Christentum im JbAC 13, 123—152). Diese Abhandlung soll durch die nachfolgende Darstellung ersetzt werden. Mein Dank gilt dem Verleger Herrn Gerd Hiersemann und dem Herausgeber der ‘Bibliothek des Buchwesens’, Herrn Dr. Reimar W. Fuchs, für die Aufnahme und Betreuung des Manuskripts. Ferner habe ich zu danken meinem Schüler Dr. Hubert Achleitner und vor allem Herrn Gerhard Rexin, F. J. Dölger-Institut, Universität Bonn, für das Mitlesen der Korrekturen und wertvolle Anregungen. Salzburg, im Advent 1980

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Wolfgang Speyer

BESCHILDETER ARM, gegen ein vorüberziehendes Wetter Bücher beschützend

Manches Herrliche der Welt ist in Krieg und Streit zerronnen; Wer beschützet und erhält, hat das schönste Los gewonnen.

Soll dich das Alter nicht verneinen, so mußt du es gut mit Andern meinen; mußt Viele fördern, Manchem nützen, das wird dich vor Vernichtung beschützen. Alter Held schützt alte Bücher, doch das Wetter zieht vorüber; unsre holden jungen Krieger schützen hübsche Mädchen lieber.

(J. W. von Goethe, Gedichte zu Bildern)

Aus zu eklem Geschmack verbrannte Hanger Martialen. Wirfst du das Silber hinweg weil es nicht Gold ist? Pedant!

(ders., Venetianische Epigramme, Nachträge Nr. 8)

Aus zu gutem Geschmack verbrennst du, Hanger, Martialen, Lieber Hanger dein Gedicht leider verbräunte Catull.

(ebd. Nachträge Nr. 39)

Die Flamme des Scheiterhaufens hat hier (in Köln] Bücher und Menschen verschlungen; die Glocken wurden geläutet dabei und Kyrie Eleison gesungen. (H. Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen 4, 29/32)

EINLEITUNG

Soweit der Geschichtsforscher in die Vergangenheit zurückzublicken vermag, bemerkt er, daß jede völkische oder staatliche Gemeinschaft auf religiösen und sittlichen Wertvorstellungen beruht, mögen diese in den einzelnen Kulturen in­ haltlich auch noch so verschieden sein. Ein jeder Wert, sei er geistig oder mate­ riell, verlangt aber nach Schutz. Gewohnheit, Recht und Gesetze schützen in allen Kulturen die bewußt erkannten religiösen und sittlichen Werte. Das Wissen von den höchsten Werten, auf denen die Kultgemeinde, also der religiös-politische Zusammenschluß, beruhte, wurde zunächst innerhalb der führenden Familien vom Vater an den Sohn oder innerhalb einer religiös-geistigen Gemeinschaft vom geistigen Vater an den geistigen Sohn als ein geheimes Gut weitergegeben1. Mündliche Überlieferung und ein geübtes Gedächtnis sicherten den Fortbestand aller Frühkulturen. Die archaischen Kulturen waren nicht zuletzt durch ihren Sinn für Kontinuität und Tradition auf Unveränderlichkeit angelegt. In einer derartig festgefügten Ordnung war es für einen einzelnen schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, etwas Neues gegen die überlieferten und durch das Alter gehei­ ligten Wert- und Denkvorstellungen durchzusetzen. In Staaten mit absolutisti­ scher Herrschaftsform wie in den altorientalischen Reichen konnte wohl nur der Herrscher bei religiösen Neuerungen auf Erfolg hoffen. Ein berühmtes Beispiel hierfür bietet der Pharao Amenophis IV. Echnaton mit seiner religiösen Reform2. Trotzdem haben auch Männer geringeren Standes aufgrund einer wie auch im­ mer erfahrenen Berufung durch eine Gottheit oder aufgrund eigener rationaler Überlegung und Erkenntnis neue oder in Vergessenheit geratene Wertvorstellun­ gen und neue oder aus dem Gedächtnis entschwundene religiöse, sittliche, politi­ sche und soziale Einsichten und Ideale gefunden und mit dem Einsatz ihrer Per­ sönlichkeit gegen eine erstarrte Tradition bekanntzumachen und durchzusetzen versucht. Ihr wichtigstes Mittel war zunächst das Wort. Seitdem aber in den altorientalischen Flußkulturen die Schrift erfunden war, konnten sie ihren Ge­ danken durch die einem Schriftträger anvertrauten Bild-, Wort- oder Lautzeichen nicht nur eine relative Dauer verleihen, sondern sie auch durch Vervielfältigung wirkungsvoller als zuvor verbreiten. So wurden die beschriebenen Tontafeln, Rollen und Kodizes aus Papyrus und Pergament neben der mündlichen Rede die

1 Vgl. F. Pfister, Erblichkeit: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 2 (1929/30) 872f.; A.J. Festugii-re, La revelation d’Hermes Trismegiste l3 (Paris 1950) 332/54; W. Speyer, Genealo­ gie: RAC 9 (1976) 1177. 2 Vgl. C. Aldred, Akhenaton - Pharao of Egypt (London 1968); deutsche Übersetzung (Bergisch Gladbach 1968).

2

Einleitung

wichtigsten Vermittler neuer religiöser Botschaften und neuer kultureller Er­ kenntnisse. Die Bedeutung des Buches für das geistige Leben stieg, als vom späten 5. Jahrhundert v. Chr. an ausgehend von Athen ein ausgebildetes Buchwesen mit Buchhandel und Bibliotheken aufkam und seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. das gesamte geistige Leben der hellenistischen Welt prägte3. In Wort und Schrift verkündeten Propheten, Dichter, Gesetzgeber, Weise und Geschichtsschreiber neue oder alte und vergessene Ideale und neue oder wiederentdeckte Wahrheiten. Durch die Weihe ihrer Berufung gestärkt oder im Vertrauen auf die eigene Ein­ sicht, traten sie machtvoll auf und verkündeten ihre neuen Gedanken. Die von den Sorgen des Alltags bestimmte Menge des Volkes hat aber oft nur ungern und zögernd auf die ungewohnte, vielfach eine Sinnes- und Verhaltensänderung for­ dernde neue Botschaft gehört. Vor allem haben sich die Lenker und Vertreter der religiös-politischen Gemeinschaft, die Priesterkönige, Fürsten und Häupter des Volkes, oftmals taub gestellt und den Propheten, Dichtern, Gesetzgebern und Weisen verboten, weiterhin öffentlich zu sprechen, ja sie scheuten nicht davor zurück, die unbequemen Mahner zu verbannen oder sie sogar töten und ihre Schriften unschädlich machen zu lassen. Nicht selten diente die Vernichtung von Literatur auch nur der Erhaltung staatlicher und kirchlicher Macht. Neben echten Propheten und Weisen traten aber auch falsche auf und versuch­ ten gleichfalls durch Wort und Schrift schädliche Lehren zu verbreiten. Selbsttäu­ schung und Verblendung, aber auch Ruhm- und Machtsucht, wenn nicht nur niedrige Geldgier, haben zu allen Zeiten einzelne zu falschen Botschaften und Forderungen angeregt. Wenn die Führer und Vertreter der religiös-politischen Gemeinschaft derartige Neuerer durch Redeverbot und Verfolgung gestraft ha­ ben, so wollten sie sich und die ihnen Anvertrauten vor Schaden bewahren. Allerdings ist es für einen Zeitgenossen oft schwierig, wenn nicht manchmal sogar unmöglich, die falschen von den wahren Botschaften zu unterscheiden. Meist dürfte erst ein längerer zeitlicher Abstand ein einigermaßen gesichertes Urteil erlauben gemäß der Warnung Jesu vor den Trugpropheten: «An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen»4. Da aber bisweilen auch echte Propheten nicht frei von Irrtum und falsche nicht immer ohne jegliche Wahrheit gewesen 3 Vgl. W. Schubart, Das Buch bei den Griechen und Römern2 (Berlin-Leipzig 1921), 3. Auflage von E. Paul (Heidelberg-Leipzig 1962) ohne die wertvollen Anmerkungen, mit neuen Illustratio­ nen; F. G. Kenyon, Books and Readers in Ancient Greece and Rome2 (Oxford 1951); E. G.

Turner, Atheman Books in the Fifth and Fourth Centuries B. C. (London 1952); T. Kleberg, Buchhandel und Verlagswesen in der Antike, deutsche Übersetzung (Darmstadt 1967); H. Wid­ mann, Herstellung und Vertrieb des Buches in der griechisch-römischen Welt: Arch. f. Gesch. d. Buchwes. 8 (1967) 546/639; R. Pfeiffer, Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfän­ gen bis zum Ende des Hellenismus (Reinbek 1970) 34. 4 Mt. 7, 15/20, bes. 16. 20.

1

Einleitung

3

sind, konnten Rede- und Schreibverbot sowie staatliche Büchervernichtung oft mehr schaden als nützen. Sollte nicht auch hier das Gleichnis Jesu vom Unkraut im Weizen seine Geltung behalten? Das Unkraut soll nicht sogleich aus dem Weizen gejätet werden, damit nicht auch der Weizen mitausgerissen wird. Erst bei der Ernte am Ende der Tage wird beides voneinander geschieden werden5. Die vorliegende Studie beantwortet nicht die Frage nach der sittlichen Erlaubtheit oder der politischen Zweckmäßigkeit von Büchervernichtungen6. Vielmehr werden die Zeugnisse des heidnisch-christlichen Altertums zu diesem Thema unter religions- und profangeschichtlichem Gesichtspunkt besprochen. Eine der­ artige Untersuchung ist bisher nicht in erschöpfender Weise angestellt worden. Wohl ist das Thema der Bücherverbrennung in den Jahrhunderten, als Katholi­ ken, Lutheraner, Calvinisten und Zwinglianer gegeneinander um den wahren Glauben stritten, mehrfach zum Gegenstand einer Abhandlung gewählt worden. Die Verbrennung von Ketzern und ihren Schriften war in den Städten Europas während des fünfzehnten und der drei folgenden Jahrhunderte ein beklagenswer­ tes Schauspiel. Doch auch damals waren die Gewissen noch nicht so abge­ stumpft, daß nicht jede theologische Partei, die ein derartiges gewaltsames Mittel angewendet hat, sich vor sich selbst und ihren Gegnern hätte rechtfertigen müs­ sen. Die wohl älteste Abhandlung, in der antike Beispiele zur Begründung der Rechtmäßigkeit von Bücherverbrennungen herangezogen wurden, hat im Jahre 1549 Gabriel Putherbeus veröffentlicht7. Ihm folgte der Jesuit Jakob Gretser mit einem umfangreichen, in einer zweiten Auflage ergänzten Traktat8. Für das 18. Jahrhundert sind die Schriften von Johann Georg Schellhorn und Justus Hennig

5

Mt. 13, 24/30. Dieses Argument hat bereits Johannes Reuchlin benutzt: Gutachten über das jüdische Schrifttum vom 6. Oktober 1510 (hrsg. und übersetzt von Antonie Leinz-von Dessau­ er = Pforzheimer Reuchlinschriften 2 [Konstanz 1965] 72). — Vgl. auch den Ausspruch des älteren Plinius, nullum esse librum tarn malum, ut non aliqua parte prodesset (zitiert von Plinius dem Jüngeren, epist. 3, 5, 10). 6 Vgl. beispielsweise J. Milton, Areopagitica. Eine Rede für die Freiheit des unzensierten Drucks 1644, deutsche Übersetzung von E. W. Tielsch, John Milton und der Ursprung des neuzeitlichen Liberalismus. Studienausgabe der politischen Hauptschriften J. Miltons (Hildesheim 1980) 79/ 124; vgl. ebd. 50/8 die Bemerkungen der Herausgeberin. H. J. de Vleeschaüwer, Censorship and Libraries = Mousaion 33/35 (Pretoria 1959); A. Mohler, Darf man Bücher verbrennen?: Die Welt vom 30. 10. 1965 Nr. 253, I. 7 G. Putherbeus, Theotimus sive de tollendis et expungendis malis libris, iis praecipue quos vix incolumi fide ac pietate plerique legere queant (Paris 1549). 8 I. Gretser, De iure et more prohibendi, expurgandi et abolendi libros haereticos et noxios adversus Franc. lunium Calvinistam (gest. 1602] et loannem Pappum [gest. 1610] aliosque praedicantes Lutheranos (Ingolstadt 1603) =ders., Opera omnia 13 (Regensburg 1739) 4/233 (mit zwei Supplementen).

4

Einleitung

Boehmer zu nennen9. Eine Bestandsaufnahme der neuzeitlichen Werke, die in den Ländern Europas zum Verbrennen verurteilt wurden, hat Gabriel Peignot gege­ ben10. Seither sind zu diesem Thema mehrere Bücher und Aufsätze erschienen11. Neben der religions- und kulturgeschichtlichen Perspektive besitzt das Thema einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart. Nicht nur hat man während des ‘Dritten Reiches’ in Deutschland Schriften verboten und verbrannt12, sondern man verbietet und verbrennt sie auch heute überall dort, wo ein politischer und weltanschaulicher Sieg gefeiert wird. Beispiele hierfür bringen die weltpolitischen Nachrichten fast in jedem Jahr. — Nicht zuletzt liegt die Bedeutung des Themas darin, daß die Tatsache der Büchervernichtung ein wichtiger Grund für den fragmentarischen Erhaltungszustand der antiken Literatur ist. Wollte man einmal die Geschichte der verlorenen Literatur des Altertums darstellen, so müßten unter den Gründen für den Untergang so vieler Schriften die durch Menschen willent­ lich herbeigeführten Vernichtungen besonders berücksichtigt werden. Auf diesen Gesichtspunkt gehen die Darstellungen der antiken Literatur bisher viel zu wenig ein13. Mehr als fachwissenschaftliche Bücher wurden religiöse, philosophische, politische und erotische Schriften verfolgt und vernichtet. Vor allem war stets die

9 J. G. Schellhorn, Amoenitates hteranae 7/8 (Frankfurt-Leipzig 1727/28) 75/172. 338/90: Schediasma historico-literarium de variis poenis in libros statutis; 1. H. Boehmer, Ius ecclesiasticum Protestantium 44 (Halle 1754) 897/957. 10 G. Peignot, Dictionnaire cntique, lineraire et bibliographique des principaux livres condamnes au feu, supprimes ou censures 1/2 (Paris 1806, Nachdruck Amsterdam 1966); vgl. auch Le buchet bibliographique. Collection de livres condamnes, poursuivis et detruits. Antiquariatskatalog mit 916 Nummern der Librairie Paul Jammes, Paris (o. J., um 1973) und H. H. Houben, Verbotene Literatur von der klassischen Zeit bis zur Gegenwart 1/2 (Berlin 1924/28, Nachdruck Hildesheim 1965). 11 Hervorzuheben ist die Untersuchung von A. St. Pease, Notes on Book-Burning: Munera studiosa. Festschrift W. H. P. Hatch (Cambridge, Mass. 1946) 145/60. 12 Vgl. z. B. R. Drews/A. Kantorowicz, Verboten und verbrannt. Deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt (Berlin 1947); H. Sauter, Bücherverbote einst und jetzt. Ein Vortrag = Schriften des Gutenberg-Museums 4 (Darmstadt 1972) 17; D. Johannes, Verbrannt, verboten — verdrängt? (Worms 1973). - Zur Aktualität des Themas in Amerika vgl. A. L. Haight/Ch. B. Grannis, Banned Books 387 B. C. to 1978 A. D. (New York-London 1978). 13 Vgl. z. B. A. F. West, The Lost Parts of Latin Literature: Transact. Proceed. Am. Philol. Assoc. 33 (1902) XXI/XXVI; G. Wissowa, Bestehen und Vergehen in der römischen Literatur, Rektoratsre­ de Halle 1908; L. CANFORA,Conservazione e perdita dei classici (Padova 1974); L. D. Reynolds/ N. G. Wilson, Scribes and Scholars. A Guide to the Transmission of Greek and Latin Literature2 (Oxford 1974). Das Stichwort ‘Büchervernichtung’ fehlt auch im Sachregister des Sammelwerks: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur 1 (Zürich 1961, Nachdruck München 1975), obwohl im Text über das Thema gesprochen wird. - Richtig hinge­ gen J. Werner, Zur Überlieferung der antiken Literatur: Symbolae Philologorum Posnaniensium 4 (1979) 57/77.

Einleitung

5

Literatur von Minderheiten von Bücherzensur und Büchervernichtung betroffen: in der frühen Kaiserzeit die Schriften der Christen, nach dem Sieg des Christen­ tums unter Konstantin und seinen christlichen Nachfolgern die Bücher der Hei­ den und der sogenannten Häretiker, also der Gegner der Großkirche, im christli­ chen Mittelalter bestimmte Schriften der Juden, vornehmlich der Talmud14. Ist bisher dieses Thema zu wenig für die Geschichte des antiken literarischen Erbes beachtet worden, so ist es außerdem mit einem gewissen Vorurteil belastet, dem vor allem Denker der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und ihre geistigen Erben in der Gegenwart erlegen sind. So bezeichnet Christoph Martin Wieland Alexandros von Abonuteichos, der die grundlegenden Lehrsätze Epikurs, die xüptai öö^at, verbrannt hat, als «Vorläufer und Vorbild der intoleranten christ­ lichen Klerisey der folgenden Jahrhunderte»15. Nahe steht diesem Urteil das des Russen A. N. Radistschew, der meint, «daß immer Priester die Erfinder der Fesseln gewesen sind, die zu den verschiedenen Zeiten die menschliche Vernunft gedrückt haben, daß sie ihr die Flügel beschnitten, damit sie ihren Flug nicht der Größe und der Freiheit zuwende»16. Verwandt damit ist die Wertung von A. Grevenrath: «Reaktionäre Klassen, Gruppen, Institutionen und Persönlichkeiten bezeigten in der Geschichte der Menschheit ihre Feindschaft gegen die Weltkultur demonstrativ durch öffentliches Verbrennen progressiver, der geistigen Ausein­ andersetzung dienenden Literatur ... Die katholische Kirche und die von ihr ideologisch abhängigen Feudalklassen schufen mit der Inquisition ein Instrument zur Bekämpfung von Glaubens- und Gewissensfreiheit, zur Verketzerung des wissenschaftlichen Denkens und zur Unterdrückung antifeudaler Volksbewegun­ gen. Konsequent töteten sie nicht nur die ihnen gefährlich scheinenden ‘Ketzer’, sie verbrannten bei den Autodafes auch ihre Bücher»17. Zu einer derartigen Beurteilung wird leicht ein Denken kommen, das wie das der Aufklärer des 18. und des 20. Jahrhunderts Erfahrungen und Vorstellungen der eigenen Zeit als absolut gültig für alle Epochen setzt und nicht genügend die andersartige Bewußtseinslage vergangener Kulturen berücksichtigt. Eine Betrach14 Vgl. A. v. Harnack, Geschichte der altchristlichen Literatur bis Eusebius 1, l2 (Leipzig 1893, Nachdruck ebd. 1958) XX1/LXI, bes. XXI1/V. XXXVI/XL. LII und J. de Ghellinck, Patristique et moyen äge 2 = Museum Lessianum, Sect. hist. 7 (Bruxelles-Paris 1947) 354/61. — Zur Verfol­ gung und Vernichtung des Talmud s. u. S. 164. 15 C. M. Wieland, Lucians von Samosata sämtliche Werke aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen 3 (Leipzig 1788) 212 Anm. 47; vgl. ebd. Anm. 48. — Zu Alexandros von Abonuteichos s. u. S. 31 f. 16 A. N. Radistschew, Reise von Petersburg nach Moskau, erstmals 1790 gedruckt, dann unter­ drückt, deutsche Übersetzung (Berlin 1961) 159/73. Dieses Kapitel, ‘Torshok’ überschrieben, handelt über die Zensur und gibt auch schon einen ersten geschichtlichen Überblick (ebd. 168/73). 17 A. Grevenrath, Bücherverbrennung: Lexikon des Bibliothekswesens l2 (Leipzig 1974) 367 f.

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Einleitung

tungsweise, die von den Vorstellungen des antiken und mittelalterlichen Men­ schen ausgeht, dürfte demgegenüber zeigen, daß den Aufklärern des 18. Jahrhun­ derts und der Moderne wichtige Bedingungen für ein angemessenes Verständnis dieser Erscheinung im Altertum und Mittelalter fehlen. Das religiös-magisch ge­ prägte Weltbild der Antike und ihrer mittelalterlichen Tochterkulturen zeigt sich nicht zuletzt in der Art und Weise, wie von der religiös-politischen Gemeinschaft beanstandete und verurteilte Schriften vernichtet wurden. Zwischen bestimmten Formen der Büchervernichtung und der Beseitigung eines Frevlers als eines Ver­ fluchten besteht eine innere Verwandtschaft, die auf eine besondere Bewußt­ seinslage des antiken Menschen weist18. Wir haben nämlich zu beachten, daß in religiös geprägten Gemeinschaften die Verfolgung Andersdenkender als religiöse Gewissensverpflichtung geradezu gefordert erschien. So konnte die Bücherver­ nichtung auch zum Ausdruck eines beunruhigten Gewissens werden, zu einem Sühneopfer an die für beleidigt gehaltene Gottheit19. Wie weit allerdings dieser Grund in einem bestimmten geschichtlichen Fall anzunehmen ist, wird nicht nur wegen der vielfach schlechten Quellenlage für immer im Dunkel bleiben; entzie­ hen sich doch die letzten Beweggründe des Handelns oft schon der eigenen Selbst­ erkenntnis.

18 S. u. S. 25/41. 19 Vgl. H. Chadwick, Gewissen: RAC 10 (1978) 1025/1107, bes. 1096/1100.

A.. Allgemeiner Teil

I.

SCHEINBARE UNSTERBLICHKEIT DES LIEDES UND DER LITERATUR 1. Die Naturgewalten

als

Feinde der schriftlichen Hinterlassenschaft

Zu den Urtrieben des Menschen gehört seine Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Ausdruck dieser Sehnsucht ist sein Wunsch, die eigenen Taten dem Vergessen zu entreißen. In schriftlosen Kulturen glaubt der herausragende Mensch, vor allem der Held, diese Art von Unsterblichkeit dadurch zu erreichen, daß seine ruhmvol­ len Taten im Lied besungen werden1. Das Lied, das von Mund zu Mund geht und dessen Kenntnis in homerischer Zeit eine Generation von Aöden und Rhapsoden der anderen weitergab, schien der alleszerstörenden Zeit zu trotzen2. Nach Erfin­ dung der Schrift erhielt eine solche Zuversicht neuen Auftrieb. Die schriftliche Aufzeichnung schien den einmal formulierten Gedanken für alle Zeit zu bewah­ ren3. Griechische und römische Dichter und Schriftsteller verheißen seit Pindar sich und den von ihnen Gefeierten Unsterblichkeit4. Die Naturgewalten, die wohl die Denkmäler zerstörten, werden ihren Werken nichts anhaben können5. Horazens ‘Exegi monumentum aere perennius’ ist für diesen Glauben der pathetische

1 Vgl. Hom. II. 9, 189: Achill singt von den ruhmvollen Taten der Helden; 524 f. (6, 357 f.); Od. 8,

73.

2 Selbst noch Ennius sagt von sich im Zeitalter der Schriftlichkeit: volito vivos per ora virum (epigr.

2 [215 Vahlen] bei Cic. Tusc. 1, 34; vgl. W. Suerbaüm, Untersuchungen zur Selbstdarstellung älterer römischer Dichter. Livius Andronicus, Naevius, Ennius = Spudasmata 19 [Hildesheim 1968] 167/9). — Zu Leistungen des menschlichen Gedächtnisses im Altertum vgl. H. Blum, Die antike Mnemotechnik = Spudasmata 15 (Hildesheim 1969) 130/2. 3 Z.B. Macrob. Sat. 1, 14, 15: ... et omnem hunc ordinem [d.i. den reformierten Kalender] aereae tabulae ad aeternam custodiam incisione mandavit (sc. Augustus]. 4 Z.B. Pind. Pyth. 6, 1/14. 5 Die Zerstörung von Denkmälern beeindruckte einzelne Dichter wie Lucr. 5, 306/17 (vgl. Suerbaum aO. 327f.); Auson. epit. 32, 9f. (67 Prete): miremur periisse homines? monumenta fatiscunt; mors etiam saxis nominibusque venit; vgl. O. Schissel von Fleschenberg, Rutilius CI. Namatianus (red. 1, 399/414): Wien. Stud. 61/62 (1943/47) 155/61. —Cicero betont rep. 6, 21, 23: proprer eluviones exustionesque terrarum ... non modo non aeternam, sed ne diuturnam quidem gloriam adsequi possumus (dazu s. u. S. 13 Anm. 29). Vgl. auch H. Häusle, Das Denkmal als Garant des Nachruhms = Zetemata 75 (München 1980) 132/9: «Studia vana».

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A. I. Scheinbare Unsterblichkeit des Liedes und der Literatur

Ausdruck6. Dabei übersahen viele Dichter und Schriftsteller, daß die Träger der Schrift, wie Holztafeln, Stein und Marmor, Metall, Papyrus und Pergament, den Unbilden der Witterung, vor allem dem Wasser und Feuer, sowie dem vernichten­ den Zugriff der Menschen ausgesetzt bleiben7. Einen großen Vorteil gegenüber den meisten übrigen Geisteserzeugnissen des Menschen, die an Materie gebunden sind, besitzt das schriftlich aufgezeichnete Werk allerdings dadurch, daß es ver­ vielfältigt und in der gleichen Gestalt an verschiedenen Orten aufbewahrt werden kann. So können auch nach Naturkatastrophen und Büchervernichtungen durch Menschenhand einzelne Exemplare eines Werkes erhalten bleiben, die dann ihrerseits die Vorlage für neue Abschriften geben. Schriftsteller des Altertums, des Mittelalters und der Renaissance haben auf die mannigfachen Gefahren hingewiesen, die den Schriftträgern, vornehmlich dem sehr anfälligen Papyrus, durch die Gewalten der Natur und die Unachtsamkeit der Menschen drohen. Ausführlich hat der italienische Humanist Guglielmo da Pastrengo (geb. um 1290, gest. 1363) die Gefahren geschildert, die dem Buch drohen. Für ihn lag gerade in der vielfältigen Gefährdung der literarischen Auf­ zeichnungen der Grund, einen literaturgeschichtlichen Überblick zu verfassen. Mit folgender Überlegung verteidigt er sein Unternehmen, indem er sich zunächst den Einwurf macht: «Ein Nebenbuhler wird vielleicht gegen mich losfahren ...: ‘Was treibst du in deinem Unverstand? Glaubst du, mit dem Licht deiner Schrif­ ten das Gedächtnis an die berühmten Männer zu verlängern, oder weißt du nicht, daß es fast Zeichen eines Wahnwitzigen und Narren ist, zu glauben, man könne dem Glanz der Sonne mit Fackeln zu Hilfe eilen?’ ‘Keineswegs’, entgegne ich, ‘sondern ich habe bemerkt, daß die Schriften durch Alter zerstört, von Bücher­ motten und Spitzmäusen zerfressen werden, durch Schiffbruch, Brand und Unachtsamkeit leicht zugrundegehen, durch Unkenntnis zerrissen oder abge­ schabt werden, durch unnötige Feuchtigkeit in Fäulnis geraten. Deshalb habe ich es für angemessen gehalten, die Namen jener berühmten Männer und ihrer Schriften aufzuzeichnen, damit, wenn vielleicht durch einen Zufall die Bände

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6 Hör. carm. 3, 30 (dazu D. Korzeniewski, Exegi monumentum. Hör. carm. 3, 30 und die Topik der Grabgedichte: Gymnasium 79 [1972] 380/8). Vgl. Prop. 3, 2, 17/26; Tib. 1, 4, 61/6; Ov. am. 3, 9, 28/32; met. 15, 871/9; Eleg. in Maecen. 1, 37f.; Mart, epigr. 8, 3, 5/8; 10, 2, 7/12; Stat. silv. 3, 3, 37/9; Anth. Lat. 417. 418.- Beispiele aus lateinischen Prosaikern nennt A. H. Rice, Salvage and Losses from Latin Literature: Class. Journ. 7 (1912) 204 f. Hieronymus sagt lapidar: Über manet, homines praeterierunt (epist. 130, 19, 5 [CSEL 56, 200]). 7 Vgl. Dio Cass. 57, 16, 2: «Vieles der öffentlichen Papiere (öripooia yQd|i|iaTa) ist teils gänzlich zugrunde gegangen, teils infolge der Zeit unleserlich geworden»; vgl. Poll. onom. 5, 150 und A. Stein, Römische Inschriften in der antiken Literatur (Prag 1931) 59. 77. — Zu den im Altertum benutzten Beschreibstoffen vgl. L. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts = Österr. Akad. d. Wiss., Denkschriften der Gesamtakademie 2 (Wien 1953) 54/102.

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vernichtet werden, sie dennoch nicht zugleich auch das Gedächtnis an die Verfas­ ser und die Werke auslöschen’»8. Von den materiellen Trägern der Schrift waren Papyrus und Pergament die wichtigsten antiken Beschreibstoffe. Der Papyrus war seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. bis weit in die Kaiserzeit in Griechenland und Rom der am meisten verbrei­ tete Beschreibstoff. Erst seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. beginnt das Pergament, vor allem in Form des Kodex verarbeitet, mit der Papyrusrolle zu wetteifern9. Papyrus als Beschreibstoff war besonders empfindlich. Th. Birt hat als Feinde der Papyrusrolle genannt: den Leser selbst infolge des vielen Auf- und Zurollens des aus dürren Pflanzenfasern zusammengeklebten Stoffs, ferner die Feuchtigkeit der Luft, die den Papyrus leicht zum Faulen brachte, den Bücherwurm und schließ­ lich die Mäuse10. Bereits Vitruv empfahl, Bibliotheken nach Osten und nicht nach Süden oder Westen zu bauen, damit nicht die von diesen Himmelsgegenden wehenden feuchten Winde Bücherwürmer entstehen lassen und die Bücher nicht durch die eindringende Feuchtigkeit schimmelig werden11. Neben Bücherschäd8 Gulielmus Pastregicus Veronensis, De originibus rerum libellus, hrsg. von M. Blondus (Venezia 1547) f. 3v.; vgl. auch R. Sabbadini, Le scoperte dei codici larini e greci ne’ secoli XIV e XV 1 (Firenze 1905, Nachdruck mit Ergänzungen und Verbesserungen Sabbadinis, hrsg. von E. Garin, ebd. 1967) 6 Anm. 21; zu Pastrengo ebd. 4/22. Kürzer bemerkt Coluccio Salutati (1331—1406), Epistolario 6, 6, hrsg. von F. Novati 2 (Roma 1893) 161: libros vero ultra latrones et fures, rodunt tinee, carpunt mures, etas conficit, humor destruit, ignis exurit. 9 Vgl. außer der o. S. 2 Anm. 3 genannten Literatur C. H. Roberts, The Codex: Proceedings of the British Academy 40 (1954) 169/204. 10 Th. Birt, Das antike Buchwesen in seinem Verhältnis zur Litteratur (Berlin 1882, Nachdruck Aalen 1974) 364f. — W. Blades, The Enemies of Books (London 1880) belegt seine Kapitel: Fire, Water, Gas and Heat, Dust and Neglect, Ignorance, The Bookworm, Other Vermin, Bookbinders, Collectors weitgehend mit Beispielen aus der englischen Buchgeschichte. 11 Vitr. arch. 6, 4, 1: ... bybliothecae ad orientem spectare debent; usus enim matutinum postulat lumen, item in bybliothecis libri non putrescent. nam quaecumque ad meridiem et occidentem spectant, ab tiniis et umore libri vitiantur, quod venti umidi advenientes procreant eas et alunt infundentesque umidos Spiritus pallore Volumina corrumpunt. — Das Ende eines alten Papyrusbuches beschreibt Stat. silv. 4, 9, 10/23; vgl. auch Galen, adv. eos qui de typis scrips. 6 (7, 507 Kühn). — Zur Büchermotte und zum Bücherwurm vgl. außer den bei Birt 365 genannten Bele­ gen: Euenos von Askalon: Anth. Pal. 9, 251; Lucian, adv. indoct. 17; Hör. epist. 1, 20, 12; Ov. ex Pont. 1, 1, 72; Plin. nat. hist. 11, 117; Mart. 11, 1, 14; Stat. silv. 4, 9, 10; luvenal. 7, 26; Symphos.: Anth. Lat. 286 Nr. 16; Luxor.: ebd. 289, 6 (= Nr. 3 [112 Rosenblum)). Auson. prof. 22, 3; epigr. 1, 1/4. 14 (52. 286 Prete); Isid. Peius, epist. 1, 127 (PG 78, 268 B) und L. Blau, Studien zum althebräischen Buchwesen und zur biblischen Literatur- und Textgeschichte (Straß­ burg 1902) 114; zum Bücherskorpion, den nur Aristoteles erwähnt (hist. anim. 4, 7,532a 18 f.; 5, 32, 557 b 9f.), vgl. Steier, Spinnentiere: RE 3 A, 2 (1929) 1806f. - Zu den die Papyrusrollen fressenden Mäusen vgl. ferner Ariston: Anth. Pal. 6, 303, 5 f.; Cic. div. 2, 59; Quint, inst. 8,3, 19; luvenal. 3, 206f.; Optat. contra Parm. Don. 7, 1 (CSEL26, 166); Blau a.O. und H. L. Strack/P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch 4,1 (München 1928,

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lingen, Mäusen und Fäulnis waren es vornehmlich Naturgewalten, wie Blitz­ schlag, Erdbeben und Vulkanausbrüche, die ganze Bibliotheken und Archive des Altertums mit Vernichtung getroffen haben*2. Vor allem Geschichtsschreiber und Chroniken berichten, daß durch Blitzschlag oder zufällig entstandene Brände Tempel mitsamt dem Archiv oder der Bibliothek ein Opfer der Flammen gewor­ den sind. Bekanntlich verfügten viele Tempel der Ägypter, Griechen und Römer über Archive und Bibliotheken13. Einen Katalog blitzgetroffener Tempel bietet Clemens von Alexandrien, ohne dabei ausdrücklich die Zerstörung von Schriften zu erwähnen. Er nennt die Tempel von Argos und Ephesos, das Kapitol in Rom, das Sarapisheiligtum in Alexandrien, den Dionysostempel in Athen und den Apollontempel von Delphi14. Durch anderweitige Zeugnisse ist bekannt, daß von diesen Heiligtümern die Tempel des Apollon von Delphi, des Sarapis von Alex­ andrien und der Kapitolinischen Götter-Dreiheit Archive oder Bibliotheken besa­ ßen. Bei manchen Zeugnissen ist nicht mehr zu entscheiden, ob der Brand durch Blitz, Unachtsamkeit oder Kriegseinwirkung entstanden ist. Ungewiß ist es, wie­ weit das Archiv von Delphi, in dem man Listen der Hieromnemonen schon des 6. Jahrhunderts v. Chr. erwartet, die verschiedenen Brände des Tempels überstan­ den hat15. Abgesehen vom sagenhaften Brand des Tempels, den die Phlegyer verschuldet haben sollen, sind drei Brände in vorchristlicher Zeit sicher zu bele­ gen: um 548/7 ein zufällig ausgebrochenes Feuer, am Anfang des 4. Jahrhunderts (vor 371) ein Brand, dessen Ursache nicht zweifelsfrei zu ermitteln ist, und im

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Nachdruck ebd. 1975) 433 f. — Vgl. ferner Anth. Lat. 222: De libris Vergib ab asino comestis. — In diesen Zusammenhang gehören auch Nachrichten über die Schicksale der Bibliothek des Aristote­ les; vgl. Strab. 13, 1, 54 (609); dazu W. Speyer, Bücherfunde in der Glaubenswerbung der Antike = Hypomnemata 24 (Göttingen 1970) 142 f.; P. Moraux, Der Aristotehsmus bei den Griechen. Von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias 1 = Peripatoi 5 (Berlin 1973) 3/31, bes. 18/31; R. Blum, Kalhmachos und die Literarurverzeichnung bei den Griechen = Archiv f. Geschichte d. Buchwesens 18, 1/2 (Frankfurt/Main 1977) 109/34. Einige verstreute Bemerkungen dazu bietet M. Memelsdorff, De archivis imperatorum Romanorum qualia fuerint usque ad Diocletiani aetatem, Diss. Halle (1889/90), während E. Posner, Archives in the Ancient World (Cambridge, Mass. 1972) 270 Reg. s. v. ‘Archives, destruction of’ diesen Gesichtspunkt vernachlässigt. Vgl. C. Wendel, Bibliothek: RAC 2 (1954) 231/46. Clem. Alex, protr. 4, 53, 2f. (GCS Clem. 1, 41); vgl. Arnob. nat. 6, 23 und die Passio Philippi 5, hrsg. von P. Franchi de’ Cavalieri, Note agiografiche 9 = SteT 175 (Cittä del Vaticano 1953) 146 f.; vgl. ebd. 80f. — Zum Kapitol Lact. div. inst. 3, 17,12/5 (CSEL 19,1, 230f.): non semel sed saepius fulmine ictum [sc. Capitolium]. Ohne Zeitangabe teilen die Excerpta Planudea 43 mit (in der Ausgabe des Cassius Dio von U. P. Boissevain 1 [Berlin 1895, Nachdruck ebd. 1955] CXXIII): ÖTi XEoavvoü £tcl tö KojutwXiov ^vexOevrog öXXa re iroXXä xai ol töjv ZißvXXEtaJv XQqopoi öiEcpüäQqaav (zum letzteren s. u. S. 17f.). Vgl. F. Jacoby im Kommentar zu FGrHist F 402/6: S. 215, 4f.

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Jahr 83 die Einäscherung durch den Barbarenstamm der Maider16. Die alte Re­ gia, in der das Archiv des römischen Pontifikalkollegiums untergebracht war, wurde 148 v. Chr. durch Brand zerstört17. M. Porcius Cato erwähnt einen Brand im Atrium Libertatis, bei dem außer anderen Gesetzen auch das Gesetz über die Bestrafung der verführten Vestalin und ihres Verführers vernichtet wurde18. Mehrfach haben Blitze Bronzetafeln mit Gesetzestexten auf dem Kapitol zerstört, so in den Jahren 65 und 49 v. Chr.19. Nach dem Brand der Regia 36 v. Chr. wurden die zerstörten fasti magistratuum erneuert20. Im Jahr 188 n. Chr. verur­ sachte ein Blitz auf dem Kapitol einen Bibliotheksbrand21. Kurze Zeit vor dem Tod des Commodus, wohl im Jahr 191, brannte das Archiv im Palast des Kaisers auf dem Mons Palatinus ab, wobei beinahe alle Schriften zugrundegegangen wären. Die Tatsache des Brandes deutete man als Unheilszeichen22. Beim Brand des Tempels des Palatinischen Apollon in Rom im März 363 n. Chr. wären beinahe auch die Orakel der Sibylle dem Feuer zum Opfer gefallen23. In einem 16

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Vgl. H. Pomtow, Die drei Brände des Tempels zu Delphi: Rhein. Mus. 51 (1896) 329/80; H. W. Parke/D. E. W. Wormell, The Delphic Oracle 1 (Oxford 1956) 430 Reg. s. v. ‘Delphi’. lul. Obs. 19: vasto incendio Romae cum regia quoque ureretur, sacrarium et ex duabus altera laurus ex mediis ignibus inviolatae steterunt; Liv. epit. Oxyrh. 127f.; vgl. E. Kornemann, Der Priestercodex in der Regia und die Entstehung der altrömischen Pseudogeschichte (Tübingen 1912) 18f. Cato, or. de augur. frg. 220 (bei Fest./Paul. 277, 10/4 Lindsay), hrsg. von E. Malcovati, Oratorum Romanorum fragmenta l3 (Torino 1967) 89. Wahrscheinlich ist hiermit die Bemer­ kung des Liv. 34, 44, 5 von der Wiederherstellung des Atriums im Jahr 194 in Verbindung zu bringen; vgl. Kock, Liberias: RE 13, 1 (1926) 102 und W. Kroll, Libertatis atrium: ebd. 103 f. Zum Jahr 65 vgl. Cic. Cat. 3, 19; div. 1, 19; 2, 47; Dio Cass. 37, 9, 2; lul. Obs. 61; dazu W. Hübner, leges incendere (zu Cic. Pis. 15): Mus. Helv. 28 (1971) 112/5. — Zum Jahr 49 Dio Cass. 41, 14, 3. Derartige Blitzschläge galten in Rom als unheilvolle Vorzeichen. Wie L. Wülcker, Die geschichtliche Entwicklung des Prodigienwesens bei den Römern, Diss. Leipzig (1903) 9f. festge­ stellt hat, ergibt sich aus der Überlieferung der Staatsprodigien, daß 43mal Tempel vom Blitz getroffen worden sind; vgl. lulius Obsequens, prodigiorum Über passim und A. St. Pease im Kommentar zu Cic. div. 1,19: ipse suos und 1, 98 : Univ, of Illin. Stud. in Lang. a. Lit. 6 (1920, Nachdruck Darmstadt 1977) 270. 437 = 112. 275. Vgl. Dio Cass. 48, 42, 4f. und die Triumphalfasten zum Jahr 36 v. Chr. (Neubau der Regia unter Cn. Domitius Calvinus): A. Degrassi, Inscriptiones Itahae 13, 1 (1947) 86f., 342f., 569. Euseb./Hieron. chron. ad ann. 188 p. Chr. (GCS Euseb. 7, 209). Die übrigen späteren Quellen ebd. 424 zu 209 a; dazu noch Oros. hist. 7, 16, 3 (CSEL 5, 473). Diese Bibliothek war wohl nicht mit der des von Hadrian gegründeten Athenaeums identisch; vgl. C. Wendel, Die bauliche Entwicklung der antiken Bibliothek: Zentralblatt f. Bibl.-Wesen 63 (1949) 420f. (= ders., Kleine Schriften zum antiken Buch- und Bibliothekswesen [Köln 1974] 154. 163). Dio Cass. 72, 24, 2f.; vgl. Euseb./Hieron. chron. ad ann. 191p. Chr. (GCS Euseb. 7, 209; vgl. ebd. 424 zu 209 f). - Ungeschichtlich dürfte die Notiz in den Acta Calepodii 1 (ASS Maii 2, 500 B) sein, die von einem durch Blitz verursachten Brand des Kapitols spricht. Anim. Marcel!. 23, 3, 3 spricht von Cumana carmina.

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Schreiben des Jahres 599 teilt Papst Gregor 1. mit, das Archiv (cartofilacium) Justinians sei in Konstantinopel durch Feuer zerstört worden, so daß keine Doku­ mente aus der Zeit des Kaisers erhalten blieben24. Es würde zu weit führen, die zahlreichen Erdbeben aufzuzählen, durch die blühende Städte des Hellenismus und der Kaiserzeit zerstört worden sind25. Aus­ drücklich erinnert sei aber an die drei durch den Ausbruch des Vesuv im Jahre 79 n. Chr. verschütteten Städte Pompei, Herculaneum und Stabiae mit ihren Biblio­ theken26. Daß geschichtliche Bibliotheken oder Archive durch Überschwemmungen zu­ grundegegangen sind, scheint kein antikes Zeugnis zu berichten. Mit dem Unter­ gang schriftlicher Aufzeichnungen durch Wasser rechnete man aber durchaus. Es gab eine jüdische Überlieferung, nach der Adam das Verderben der Erde durch Feuer und/oder Wasser vorausgesagt habe. Um zu verhindern, daß alles bisher gewonnene Wissen untergehe, habe Seth die Verkündigung Adams auf einer Stele aus Stein zum Schutz vor dem Wasser und einer anderen aus Tonziegeln zum Schutz vor dem Feuer aufgezeichnet27. Verwandt mit dieser Nachricht ist die babylonische Überlieferung, nach der Kronos dem Xisuthros die Sintflut im Traum angekündigt und befohlen habe, sämtliche Schriften in der Sonnenstadt 24

Greg. Magn. epist. 9, 229 (MGH Epist. 2, 225); vgl. Posner a.O. (s.o. Anm. 12) 198. Vgl. A. Hermann, Erdbeben: RAC 5 (1962) 1070/113, bes. 1103/12: ‘Katalog historischer Erd­ beben n. Chr.’ 26 Den bedeutsamsten Bibliotheksfund enthielt die 1752—1754 in Herculaneum unter der Lava ausgegrabene Villa des Calpurnius Piso mit einer großen Sammlung epikureischer Schriften (D. Comparetti/G. de Petra, La villa ercolanense dei Pisoni. 1 suoi monumenti e la sua biblioteca [Torino 1883, Nachdruck Napoli 1972]). Seit dieser Zeit ist man bemüht, die verkohlten Rollen wieder lesbar zu machen — ein überaus schwieriges und zeitraubendes Unternehmen! Aus der Fülle der Literatur sei verwiesen auf die Herculanensia volumina 1763-1855; W. Scott, Fragmenta Herculanensia (Oxford 1885); Ch. Waldstein/L. Shoobridge, Herculaneum. Past, Pre­ sent and Future (London 1908) Reg. s. v. ‘Papyri’; K. Preisendanz, Papyrusfunde und Papyrusforschung (Leipzig 1933) 40/60. Es besteht die begründete Hoffnung, unter der Lava von Hercul­ aneum noch Privatbibliotheken zu entdecken (vgl. B. Snell, Über die Möglichkeit in Herculan­ eum Papyri zu finden: Atti dell’ XI Congresso Internazionale di Papirologia [Milano 1966] 49/ 51). — Vgl. Schol. zu Pers. 6, 1: hanc satiram scribit [sc. Persius] ad Caesium Bassum lyricum poetam. quem fama est in praediis suis positum ardente Vesuvio monte Campaniae et late ignibus abundante cum villa sua ustum (dazu M. Schanz/C. Hosius, Geschichte der römischen Literatur 24 = HdA 8 [München 1935, Nachdruck ebd. 1967] 485). 27 Jos. ant. lud. 1, 70f.; Pseudo-Eustath. in hexaem.: PG 18, 749 f. Ausführliche Besprechung der antiken Zeugnisse von C. E. Lutz, Remigius’ Ideas on the Origin of the Seven Liberal Arts: Mediev. Humanist. 10 (1956) 40/9; vgl. auch U. Riedinger, Die Hl. Schrift im Kampf der griechischen Kirche gegen die Astrologie (Innsbruck 1956) 51. Noch L. Valla, De falso credita et ementita Constantini donatione erwähnt diese Überlieferung (hrsg. von W. Setz, Lorenzo Vallas Schrift gegen die Konstantinische Schenkung [Tübingen 1975] 21*, 21/5). Vgl. Speyer, Bücher­ funde 114.

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der Siparer zu vergraben28. Aufgrund der aktestamentlichen Überlieferung über die Sintflut konnte Tertullian die Echtheit des nicht zum Kanon des Alten Testa­ ments zählenden Henochbuches bezweifeln; denn, so meint er, jenes Werk kön­ ne, wenn es Henoch vor der Sintflut verfaßt hätte, diese Naturkatastrophe nicht überstanden haben29. Über den Untergang von Schriften durch Schiffbruch berichtet die Legende vom Tode des Terenz. Wie Q. Cosconius zu erzählen weiß, ist Terenz mitsamt seinen aus Menander übersetzten Komödien bei der Rückkehr aus Griechenland im Meer versunken30. Mehr noch als die Gewalten der Natur hat menschliche Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit Schriftwerke der Vernichtung preisgegeben. Der afrikanische Christ Optatus von Mileve (gest. vor 400) zählt mehrere Möglichkeiten auf, wie Bücher — er denkt dabei an die Heiligen Schriften der Christen — durch die Unachtsamkeit der Menschen zugrunde gehen können: Feuer verbrennt die im Hause lagernden Bücher, Mäuse zerfressen sie, der Regen, der durch das Dach eindringt, macht die Schrift unleserlich, und Menschen, die in Seenot geraten sind, werfen ihre mitgeführten Bibeln über Bord31. 28

Beros(s)os bei Georg. Sync. 53, 19 (= FGrHist 680 F 4 b); 54, 17 und bei Euseb. chron. arm.: 10, 17/27; 11, 30/2 Karst aus Alexander Polyhistor; ferner Abydenos bei Euseb. praep. ev. 9, 12, 1 (= FGrHist 685 F 3 b); chron. arm.: 16, 11/5 Karst; vgl. Speyer, Bücherfunde 114. 119. 29 Tert. cult. fern. 1, 3, 1 (CCL 1, 346); vgl. Pistis Sophia 134 (GCS Koptisch-gnost. Schriften l3,

228 f.). — Auch im griechisch-römischen Kulturraum ist die Vorstellung von Feuer- und Wasser­ katastrophen, die die Menschheit bedroht haben oder bedrohen, verbreitet (z.B. Plat. Tim. 22c/ 23 c; Ov. met. 1, 260/312). 30 Suet. vir. ill.: poet. 11 (32f. Reifferscheid) = Vita Terentii 5 (= Aeli Donati comm. Terenti: 1, 7f. WESSNER): Q. Cosconius redeuntem [sc. Terentium] e Graecia perisse in mari dicit cum (C et VIII) fabulis conversis a Menandro; ceteri mortuum esse in Arcadia Stymphali sive Leucadiae tradunt... morbo implicitum aut ex dolore ac taedio amissarum sarcinarum quas in nave praemiserat ac simul fabularum quas novas fecerat; vgl. aber G. Jachmann, Terentius Nr. 36: RE 5 A, 1 (1934) 598 f.; zu Q. Cosconius Schanz/Hosius l4 Reg. s. v. - Zu Bücherverlusten durch den Untergang von Schiffen vgl. Schellhorn a.O. (s.o.S. 4 Anm. 9) 7, 76 f. und Sabbadini a.O. (s.o.Anm. 8) 1, 189. 278. 31 Optat. contra Parm. Don. 7, 1 (CSEL 26, 166 f.): nam si membranae aut libri, quibus scriptura legitima continetur, in totum debent inlaesa servari, quasi non damnantur aliqui neglegentes, non est longe tradere a male ponere aut male ferre. alter in domo librum posuit, quae domus incendio concremata est. damnetur, qui neglegenter posuit, si damnandus est, qui postulandum librum territus dedit. damnentur etiam illi, qui neglectas membranas aut libros ita posuerunt, ut eos domesticae bestiolae, hoc est mures, ita corroserint, ut legi non possint. damnetur et ille, qui ita in domo posuit, ut nimietate pluviarum sic tecta aliqua stillicidia deliquarent, ut omnia humore oblitterata legi non possint. damnentur et illi, qui ferentes libros legis temerarii se rapacibus undis fluminum crediderunt et se liberari cupientes scripturas in undis e suis manibus dimiserunt (im Zusammenhang seiner Invektive gegen diejenigen, die bei der Verfolgung Diokletians die heiligen Schriften ausgeliefert haben; dazu s.u.S. 127f.).

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Zu Beginn der Renaissance hat wohl Petrarca als erster erkannt, welch große Einbußen die antike Literatur durch jene Völker — gemeint sind an erster Stelle die Germanen — erlitten hat, die den Werken des Geistes zunächst fremd und verständnislos, ablehnend oder gleichgültig gegenüberstanden32. Freilich trägt nicht das christliche Mittelalter die Hauptlast der Verantwortung für diese Verlu­ ste, sondern die Jahrhunderte des Übergangs zwischen Spätantike und Karolingi­ scher Renaissance, also das 5. bis 7. Jahrhundert. Kulturgeschichtliche und wirt­ schaftliche Gründe haben bereits während der Antike, dann aber vor allem in der Zeit des Niedergangs und der auf dem Boden des Imperium Romanum neu gegründeten Barbarenreiche zu einer Krise des gesamten Buchwesens geführt33.

32 Petrarca, rer. memor. 1, 2 (Opera 398; verbesserter Text von P. de Nolhac, Petrarque et l’humanisme 22 [Paris 1907, Nachdruck Torino 1959] 68 E): sed quot preclaros vetustatis aucto-

res, tot postentaris pudores ac delicta commemoro, que, quasi non contenta propne sterilitatis infamia, alieni fructus ingenii ac maiorum studiis vigiliisque elaboratos Codices intolerabili negli­ gentia perire passa est, cumque nichil ex proprio venturis daret, avitam hereditatem abstulit. Primum nempe Plinii opus, in quo, ut est apud Tranquillum, omnia bella tractaverat que cum Romanis unquam gesta sunt, ex oculis nostris evanuit nec usquam superest, quod ego quidem talium satis ardens explorator audierim. Hoc autem, et quiequid in hanc sententiam questus sum, non ad minuendum post nascirun popuh Studium retuli, quin dolorem meum potius effundens et etati curiosissime in quibus non oportet, rerum tarnen honestarum prorsus incuriosae, soporem ac torporem exprobrans. Equidem apud maiores nostros nichil querimonie similis invenio, nimirumque nichil similis iactura, cuius ad nepotes nostros, si ut auguror res eunt, forte nec sensus ullus nec nontia pervenisset. Ita apud alios Integra, apud alios ignorata omnia, apud neutros lamentandi materia. Ego itaque cui nec dolendi ratio deest, nec ignorantie solamen adest, velut in confinio duorum populorum constitutus ac simul ante retroque prospiciens, hanc non acceptam a patribus querelam ad posteros deferre volui. — Auf die incuria weist auch L. Bruni, dial. ad Petrum Paulum Histrum hin (hrsg. von E. Garin, Prosatori latini del Quattrocento [Firenze 1952] 54. 60f. 66), wo als Beispiele Varro, Livius und Plinius begegnen. Bereits die Historia Augusta, vita Tac. 10, 3 erwähnt die lectorum incuria; vgl. auch Gell. noct. Att. 9, 4, 3f.: Aristeas Proconnesius et Isigonus Nicaeensis et Ctesias et Onesicritus et Polystephanus et Hegesias; ipsa autem Volumina ex diutino situ squalebant et habitu aspectuque taetro erant. 33 Sicco Polenton, de script. ill. 6 (182, 20/7 Ullman) hat am Beispiel der Dekaden des Livius

verdeutlicht, daß der hohe Anschaffungspreis den Fortbestand eines umfangreichen Werkes nicht begünstigt hat: illud autem est vero similius T. Livii decades ideo vanuisse atque deletas esse, quod esset opus magnum et tanti sumptus quod emere ipsum neque Studiosi pauperes possent nec divites ... avari vellent. facile quidem ea scripta depereunt, quamvis optima sint atque illustria videantur, quae haberi precio ni magno queunt, presertim cum ex ipsis non certa spes lucri sed nobilis animi oblectatio quaedam ac vitae modo instructio habeatur; vgl. aber auch Mart. 14, 190: Titus Livius in membranis und Birt 86. Zu den Buchpreisen im griechisch-römischen Altertum vgl. Kleberg 56/60; unbekannt dürfte folgendes Zeugnis der Apophthegmata patrum geblieben sein (Ende des 5. Jh. n. Chr.): Gelas. 1 (PG 65, 145 f.): ein Kodex mit Altem und Neuem Testament kostete 16 Goldstücke.

2. Verluste durch Kriegseinwirkung und Gewaltakte

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Auf diese sehr verschiedenartigen und in ihrer Wirkung schwer abschätzbaren Gründe für Bücherverluste kann hier nur hingewiesen werden34.

2. Verluste

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Kriegseinwirkung und Gewaltakte

Durch Kriege und Aufstände sind große Schätze an Inschriften und schriftli­ chen Aufzeichnungen vor allem in den großen Heiligtümern und den Metropolen der Mittelmeerländer zerstört worden. Ohne Vollständigkeit anzustreben, seien hierfür einige Belege vor allem aus den antiken Geschichtsschreibern mitgeteilt. Die arme Bevölkerung Ägyptens hat um 2200 v. Chr. bei einer Revolte das Staatsarchiv in Memphis zerstört, in dem die Eigentumsrechte schriftlich aufge­ zeichnet verwahrt wurden35. Bei der Einnahme Jerusalems durch Nebukadnezar (587 v. Chr.) soll das Gesetz der Juden verbrannt worden sein und die Bundeslade, in der nach der Überlieferung die Gesetzestafeln lagen, nach Babylon entführt worden und untergegangen sein36. Bei der Erstürmung Milets durch die Perser im Jahr 494 v. Chr. wurde die dort bereits um 500 v. Chr. vorhandene bedeutende Archivbibliothek vernichtet37. Nach einer geschichtlich unsicheren Überlieferung, die erstmals bei Varro auftaucht, hat Peisistratos in Athen die erste öffentliche Bibliothek gegründet. Diese soll Xerxes bei der Einnahme der Stadt 480 v. Chr. nach Persien entführt und Seleukos I. zurückgegeben haben38. In hellenistischer Zeit erscheint die königliche Bibliothek als Wert, den es zu erhalten gilt. So brachte Aemilius Paulius nach seinem Sieg über Perseus von Makedonien große Büchermengen nach Rom; ebenso Lukullus aus der Beute des Mithridates39. 34 Vgl. den Überblick bei B. A. van Groningen, Traite d’histoire et de critique des textes grecs =

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Verhandel. Nederl. Akad. van Wetensch., Afd. Letterkunde N. R. 70, 2 (Amsterdam 1963) 44/7. Vgl. Posner a.O. (s.o. Anm. 12) 85 mit Hinweis auf R. O. Faulkner, The Admonitions of an Egyptian Sage: Journ. of Egypt. Arch. 51 (1965) 56. 2 Reg. 25, 8f.; Euseb. chron. arm.: 60, 3/7 Karst; Pseudo-Clem. Rom. hom. 3, 47, 3f. (GCS Pseudoclem. 1, 74); Priscill. tract. 3, 67 (CSEL 18,52) und die Parallelen in dieser Ausgabe von G. Schepss zur Stelle; vgl. J. Maier, Das altisraelitische Ladeheiligtum = Zeitschr. Alttestam. Wiss., Beih. 93 (Berlin 1965) 55/60. - W. Bacher, Die Agada der palästinensischen Amoräer 1. Vom Abschluß der Mischna bis zum Tode Jochanans, 220 bis 279 nach der gew. Zeitrechnung (Straß­ burg 1892, Nachdruck Hildesheim 1965) 82f.: «Als die Heiden in den Tempel eindrangen, da wendeten sich alle den goldener, und silbernen Schätzen des Heiligtums zu, Ammon und Moab wandten sich zu der Thorarolle und sagten: ‘Das Buch, in dem geschrieben ist, daß ein ‘Ammoniter und Moabiter nicht in die Gemeinde des Ewigen eingehen dürfen’, soll verbrannt werden’!». — Vgl. C. Wendel, Die griechisch-römische Buchbeschreibung verglichen mit der des Vorderen Orients = Hallische Monographien 3 (Halle 1949) 20/3. Varr. bibl. bei Gell. noct. Att. 7, 17, 1 f.; Isid. orig. 6, 3, 3; vgl. Pfeiffer 23. Isid. orig. 6, 5, 1; vgl. Moraux a.O. (s.o. Anm. 11) 40; Kleberg 22f.

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A. I. Scheinbare Unsterblichkeit des Liedes und der Literatur

Legendär ist die Anschuldigung eines medizinischen Schriftstellers namens An­ dreas, der nicht mit dem Leibarzt von Ptolemaios IV. identisch sein muß (gest. 217 v. Chr.), daß Hippokrates das Archiv (Ypappaxocpukaxiov) in Knidos ange­ zündet habe und deshalb seine Heimat verlassen mußte40. Nach einer anderen Hippokrates feindlichen Überlieferung soll er in Kos die alten Bücher der Ärzte und das Archiv (ßißkiotpuXdxiov) in Brand gesteckt haben41. Die Auswirkungen, die der von den Galliern 387 oder 386 v. Chr. über Rom gebrachte Brand und die siebenmonatige Besetzung der Stadt für die Tempelar­ chive gehabt hat, sind in der Forschung umstritten42. Die Regia scheint mitsamt den Annales maximi, die von den Pontifices geführt wurden und über alle Ereig­ nisse berichteten, die mit der offiziellen Religion zu tun hatten, vernichtet worden zu sein. Auch die libri oder commentarii pontificum, die über die sakralen Ver­ richtungen der römischen Staatspriester und über den Staatskult sowie teilweise über den Privatkult Aufschluß gaben, und die Zwölftafel-Gesetze sind wohl da­ mals zerstört worden43. Während der Apollontempel und die Rostra, an denen die Zwölftafel-Gesetze befestigt waren, und vielleicht ein Tempel auf dem Palatin

40 Vita Hippocr. secundum Soran. 4 (Corp. Med. Graec. 4, 175); vgl. M. Wellmann, Andreas Nr. 11: RE 1, 2 (1894) 2136f. 41 Joh. Tzetz. chil. 7, 963/5; Varro bei Plin. nat. hist. 29, 4; vgl. L. Edelstein, Hippokrates: RE

Suppl. 6 (1935) 1292/5. — Zu Herostratos, der im Jahr 356 v. Chr. das Artemision von Ephesos in Brand gesteckt hat, um dadurch berühmt zu werden, vgl. Plaumann, Herostratos Nr. 2: RE 8,1 (1912) 1145 f. 42 Vgl. Liv. 6, 1, 1 f.: quae ab condita urbe Roma ad captam eandem urbem Romani... gessere, foris

bella, domi seditiones, quinque libris exposui, res cum vetustate nimia obscuras velut quae magno ex intervallo loci vix cemunrur, tum quod parvae et rarae per eadem tempora litterae fuere, una custodia Fidelis memoriae rerum gestarum, et quod, etiam si quae in commentariis pontificum [damit sind hier wohl die annales maximi und nicht die Ritualbücher gemeint] aliisque publicis privatisque erant monumentis, incensa urbe pleraeque interiere; L. G. Roberts, The Gallic Fire and Roman Archives: Memoirs of the American Academy in Rome 2 (New York 1918) 55/65. Zur Datierung des Keltensturms ins Jahr 386 vgl. R. Werner, Der Beginn der römischen Repu­ blik (München-Wien 1963) 69/79. A. Alföldi, Das frühe Rom und die Latiner, deutsche Über­ setzung (Darmstadt 1977) 314f. folgt der älteren Ansetzung ins Jahr 387 (griechische Chronolo­ gie) bzw. 390 (röm. Datierung). Zu einer nur noch schwer faßbaren Überlieferung, da sie dem römischen Selbstwertgefühl entgegenstand, nach der auch das Kapitol dem Angriff der Gallier zum Opfer gefallen ist, vgl. O. Skutsch, Studia Enniana (London 1968) 138/42 und ders., The Fall of the Capitol again. Tacitus, Ann. 11, 23: Journ. of Rom. Stud. 68 (1978) 93f. 43 Zur Bedeutung von libri und commentarii pontificum vgl. G. Rohde, Die Kultsatzungen der römischen Pontifices = RGW 25 (Berlin 1936) If. 14/6. — Zu den Zwölftafel-Gesetzen vgl. G. Crifö, La legge delle XII tavole. Osservazioni e problemi: ANRW 1, 2 (1972) 115/33, bes. 128 und u. Anm. 46. L. Valla meinte freilich, daß die Zwölf ehernen Tafeln in capta atque incensa a Gallis urbe incolumes postea sunt reperte (Setz a.O. [s.o. Anm. 27] 21*, 27f.). — Zu den Pontifikalarchiven vgl. G.J. Szemler, Pontifex: RE Suppl. 15 (1978) 364/6.

2. Verluste durch Kriegseinwirkung und Gewaltakte

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dem Sturm der Gallier zum Opfer gefallen sind44, blieben andere Tempel mit ihren Archiven wie der des Saturn, Castor, Dius Fidius, der Diana, Ceres und vielleicht der Juno erhalten; die in ihnen aufbewahrten alten Dokumente waren noch später zu sehen45. Nach dem Abzug der Gallier ging man daran, wie Livius behauptet, die Reste der wichtigsten abhandengekommenen Dokumente wie der Zwölftafeln zu sammeln46. Bei dieser Wiederherstellung des Verlorenen wird man einiges aus der lebendigen Erinnerung, anderes auch unmittelbar nach der Brandkatastrophe und in der Folgezeit frei erfunden haben, so daß die geschicht­ liche und literarische Überlieferung über die Geschichte Roms vor 387 entstellt wurde47. — Wie das zweite Makkabäerbuch erzählt, hat Judas Makkabäus Bücher gesammelt, die infolge des Krieges zerstreut worden waren48. Damit wird auf den Kampf mit Antiochos Epiphanes von Syrien im Jahr 167 angespielt. In diesen Kriegswirren wird wohl auch die Tempelbibliothek von Jerusalem in Mitleiden­ schaft gezogen worden sein49. Zufällig wird einmal berichtet, daß im Krieg mit den italischen Bundesgenossen (90-88 v. Chr.) das Archiv von Heraclea in Lukanien den Flammen zum Opfer gefallen ist50. Von einer Vernichtung der Bibliothek der Akademie im Jahre 86 v. Chr. durch Sulla wissen die Quellen nichts; sie sprechen nur davon, daß Sulla den Hain der Akademie für Kriegszwecke habe abholzen lassen51. Am 6. Juli 83 v. Chr. brann­ te auf dem kapitolinischen Hügel der Tempel des Jupiter ab. Der Brand vernichte­ te die Sammlung der alten sogenannten tarquinischen Orakel der Sibylle52. Ob der Brand durch Blitzschlag oder Unachtsamkeit entstanden ist oder von einer der beiden Bürgerkriegsparteien, der Sullaner und Marianer, absichtlich gelegt 44 45

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Vgl. Roberts a.O. 59 f. 64. Vgl. Roberts a.O. 61/3. Liv. 6, 1, 10: in primis foedera ac leges — erant autem eae duodecim tabulae et quaedam regiae leges — conquiri quae conparerent iusserunt [sc. tribuni militum consulari potestate]. W. Speyer, Die literarische Fälschung im heidnischen und christlichen Altertum = HdA 1, 2 (München 1971) 138. 2 Macc. 2, 14. Vgl. Blau 99 und u. S. 50. Vgl. Cic. Arch. 8: hic tu tabulas desideras Heracliensium publicas, quas Italico bello incenso tabulario interisse scimus omnis. — Vgl. ferner M. Calidius in Q. Gall. (66 v.Chr.) frg.: 436 Malcovati (= Non. 1, 307 Lindsay): quarum iacent muri ... curiaque et tabulariae publicae. Gegen H. Dörrie, Akademeia: Kleiner Pauly 1 (1964) 212; vgl. die Quellen bei W. Judeich, Topographie von Athen = HdA 3, 2, 22 (München 1931) 95 f. 412/4 und C. Wachsmuth, Akademia: RE 1, 1 (1893) 1133 f. App. bell. civ. 1, 378. 391; Plut. Popl. 15, 1; Süll. 27, 6; Varro ant. rer. div. frg. 60 Cardauns (bei Dionys. Halic. ant. Rom. 4, 62, 6); Cic. Cat. 3, 9; Sali. Cat. 47, 2; Plin. nat. hist. 13, 88; Tac. hist. 3, 72,1; ann. 6, 12, 3; Solin. 2, 16 f. - A. Rzach, Sibyllinische Orakel: RE 2 A, 2 (1923) 2107. 2112.

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A. I. Scheinbare Unsterblichkeit des Liedes und der Literatur

wurde, war bereits in der Antike umstritten53. Bei dem Brand werden aber außer den Orakeln noch weitere wertvolle Archivalien vernichtet worden sein. Brandstiftungen bei innenpolitischen Unruhen kamen gegen Ende der römi­ schen Republik mehrfach vor. P. Clodius hat den Tempel der Nymphen auf dem Marsfeld angezündet, um die dort aufbewahrten Tafeln mit den Vermögensver­ anlagungen zu beseitigen54. Den toten P. Clodius brachte das erregte Volk in die Senatscurie und verbrannte ihn dort, wobei es auch die Schreibtafeln der dortigen Schreiber als Brennmaterial benutzte. Dabei gingen die Curie und die benachbar­ te Basilica Porcia in Flammen auf53. Sogar Cicero vernichtete im Jahr 56 v. Chr. eine oder mehrere Tafeln der Volkstribunen auf dem Kapitol, da sie die von Clodius gegen ihn durchgesetzten Beschlüsse enthielten56. Bei der Einnahme Alexandriens durch Cäsar (Herbst 48 — Frühjahr 47 v. Chr.) wurde das von den Ptolemäern erbaute Museion mit seinen einzigartigen Bücher­ schätzen ein Raub der Flammen57. Bei den Proskriptionen nach Cäsars Tod sind wohl mehr Bibliotheken als nur diejenige Varros zerstört worden: Varro war von Antonius geächtet worden; daraufhin wurden seine Bibliotheken geplündert. Da­ durch konnten, wie er selbst im Einleitungsbuch seiner ‘Hebdomades’ mitteilt, ziemlich viele seiner bereits ausgearbeiteten Schriften nicht erscheinen; sie waren

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Von Blitzschlag sprechen die Excerpta Planudea, falls diese Notiz auf dieses Ereignis des Jahres 83 zu beziehen ist (s.o. Anm. 14). Varro a.O. rechnet auch mit der Möglichkeit, daß der Brand sozusagen von selbst entstanden ist, und Tac. hist. 3, 72, 1 spricht von fraus privata. — Ungewiß ist, ob sich die Einäscherung des Tabulanums, wohl beim Saturntempel, durch den Ritter Q. Sosius auf diesen Brand bezieht: Cic. nat. deor. 3, 74; dazu A. St. Pease im Kommentar zur Stelle 2 (Cambridge, Mass. 1958, Nachdruck Darmstadt 1968) 1159f. 54 Cic. Mil. 73: eum (sc. P. Clodium] qui aedem Nympharum incendit, ut memoriam publicam

recensionis tabulis publicis impressam extingueret; parad. 4, 31; Cael. 78; vgl. Th. Mommsen, Römisches Staatsrecht 2, l3 (Leipzig 1887, Nachdruck Darmstadt 1963) 360 Anm. 2. 55 Ascon. Ped. in Milon. 29; dazu Birt 96f. 56 Plut. Cic. 34, 1; Cat. min. 40, 1; Dio Cass. 39, 21, 1; vgl. M. Gelzer, Cicero. Ein biographischer Versuch (Wiesbaden 1969) 178. — Gegen Catilina erhob er den Vorwurf, er wolle die Gesetze verbrennen (Pis. 15: dazu Hübner a.O. (s.o. Anm. 19] 112). — Bereits Alkibiades soll eine gegen den Paroden Hegemon angestrengte Klage im Metroon eigenmächtig ausgelöscht haben (Chamaeleo frg. 44 Wehrli = Athen. 9, 72, 407b/c). 57 Gell. noct. Art. 7, 17, 3: mgens postea numerus librorum in Aegypto ab Ptolemaeis regibus vel conquisitus vel confectus est ad milia ferme voluminum septingenta; sed ea omnia bello priore Alexandrino, dum diripitur ea civitas, non sponte neque opera consulta, sed a militibus forte auxiliariis incensa sunt; vgl. P. Graindor, La guerre d’Alexandrie = Recueil de Travaux publ. par la Fac. des Lettr., Univ, egypt. 7 (Le Caire 1931) 53/7; C. Wendel/W. Göber: Geschichte der Bibliotheken = Handb. d. Bibliothekswiss. 3, 1 (Wiesbaden 1955) 75 f.; P.M. Fraser, Ptolemaic Alexandria 1 (Oxford 1972) 334 f.

2. Verluste durch Kriegseinwirkung und Gewaltakte

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eben bei den Plünderungen der Leute des Marcus Antonius zugrundegegangen (43 v. Chr.)58. Beim großen Brand Roms im Juli 64 n. Chr., den wohl weder Nero noch die Christen verschuldet haben, sind viele altehrwürdige Heiligtümer eingeäschert worden59. In diesem Zusammenhang spricht Tacitus auch vom Untergang der monumenta ingeniorum antiqua et incorrupta und meint damit wohl Schriften bedeutender Autoren der Vergangenheit60. Gewiß hat dieser Brand auch zahlrei­ che Archivalien alter Zeit vernichtet. Im Bürgerkrieg des Jahres 69 n. Chr. ging bei der Erstürmung des Kapitols durch die Truppen des Vitellius der von Vespasians Bruder, dem Stadtpräfekten Flavius Sabinus, besetzte Jupitertempel in Flammen auf: 3000 Bronzetafeln mit den Beschlüssen des Senats und des Volks, die aus der ältesten Zeit der Stadt auf dem Kapitol gesammelt waren, gingen mit zugrunde61. Vespasian hat sie erneuern lassen, wobei er, wie Sueton versichert, von überallher Exemplare aufspüren ließ62. Diese Rekonstruktion der verlorenen Archivalien wird nicht ohne Irrtümer und Fälschungen vonstatten gegangen sein. Bei der Zerstörung Jerusalems durch Titus 70 n. Chr. haben die Römer auch das Archiv in Brand gesetzt63. Rom wurde abermals im zweiten Regierungsjahr des Titus, also 80 n. Chr., durch einen großen Brand verwüstet, wobei wiederum das Kapitol und mehrere Bibliotheken ein Opfer der Flammen wurden64. Domitian bemühte sich, die Bücherverluste dadurch wieder auszugleichen, daß er Exempla­ re von allen Seiten einforderte und Leute zum Kopieren und Berichtigen nach 58 Gell. noct. Art. 3, 10, 17: tum ibi [sc. in primo Hebdomadum] addit [sc. Varro] se quoque iam

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duodecimam annorum hebdomadam ingressum esse et ad eum diem septuaginta hebdomadas librorum conscripsisse, ex quibus aliquammultos, cum proscriptus esset, direptis bibliothecis suis non comparuisse; vgl. ferner Varro bei Gell. noct. Att. 14, 7, 3. Vgl. Tac. ann. 15, 40; Suet. Nero 38, 1 f.; E. Hohl, Domitius Nr. 29: RE Suppl. 3 (1918) 379/83; D. Flach, Zum Quellenwert der Kaiserbiographien Suetons: Gymnasium 79 (1972) 273/89, bes. 279. Tac. ann. 15, 41, 1: . . . iam opes tot victoriis quaesitae et Graecarum artium decora, exim mo­ numenta ingeniorum antiqua et incorrupta, (ut) quamvis in tanta resurgentis urbis pulchritudine multa seniores meminerint quae reparari nequibant; zur Bedeutung von ingenia vgl. z. B. Tac. hist. 1, 1, 1; dial. 1, 1; Oros. hist. 6, 15, 31 (CSEL 5, 401 f.). Jos. bell. lud. 4, 649; Plut. Popl. 15, 2; Dio Cass. 65, 17,3; 66, 10, 2; Tac. hist. 1, 2,2; 3, 71 f. 75; Suet. Vit. 15, 3; Vesp. 8, 5; Aur. Vict. Caes. 8, 5; 9, 7; Euseb./Hieron. chron. ad ann. 69 p. Chr. (GCS Euseb. 7, 186; ebd. 407 i weitere Belege); Stein 23. Suet. Vesp. 8, 5: aerearumque tabularum tria milia, quae simul conflagraverant, restituenda suscepit undique investigatis exemplaribus: instrumentum imperii pulcherrimum ac vetustissimum, quo continebantur paene ab exordio urbis senatus consulta, plebis scita de societate et foedere ac privilegio cuicumque concessis. Damit bringt Stein 23 Tac. hist. 4, 40, 2 in Zusam­ menhang: tum Sorte ducti . . . quique aera legum vetustate dilapsa noscerent figerentque. Jos. bell. lud. 6, 354. Dio Cass. 66, 24, lf.; vgl. Plut. Popl. 15, 2.

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A. I. Scheinbare Unsterblichkeit des Liedes und der Literatur

Alexandrien schickte65. Wieweit folgende Nachricht des Johannes Zonaras ge­ schichtlichen Wert beanspruchen darf, bleibe dahingestellt: Zur Zeit von Clau­ dius II. Gothicus sollen die Barbaren (Skythen) alle in der Stadt Athen vorhande­ nen Schriften zusammengetragen haben, um sie zu verbrennen. Einer der Barba­ ren aber habe seine Leute mit der Begründung zurückgehalten, daß die Griechen den Krieg vernachlässigten und leicht lenkbar seien, solange sie Muße hätten, sich um Bücher zu kümmern66. Aus einer zeitgenössischen Quelle sind wir über den Brand der kaiserlichen Bibliothek von Konstantinopel im Jahre 475 (nicht 476) gut unterrichtet: Während der Regierung des Basiliskos, des Gegenkaisers Ze­ nons, brach in der Stadt ein großes Feuer aus, dem diese öffentliche Bibliothek mit 120.000 Bänden zum Opfer gefallen ist67. — Der Bilderstürmer Leon III. (717-741) soll nach einer legendären Überlieferung im Jahr 726 die Bibliothek Konstantinopels mit ihren profanen und theologischen Werken verbrannt haben. Auch die Professoren sollen mit verbrannt worden sein, da sie für die Verehrung der heiligen Bilder eintraten. Die ersten Nachrichten darüber stammen aber erst aus dem 9. Jahrhundert68. Infolge des Einbruchs germanischer Stämme in das römische Reich und nach Rom ist manche Bibliothek zugrundegegangen. Alcimus Avitus klagte über den Verlust zahlreicher Gedichte infolge des Einbruchs der benachbarten Franken 65 Suet. Dom. 20: bibhothecas incendio absumptas impensissime reparare curasset exemplaribus undique petitis [s.o. Anm. 62] missisque Alexandream qui describerent emendarentque. Alexan­ drien war demnach zu dieser Zeit wieder ein Bibliothekszentrum, und die Verluste des cäsarianischen Brandes waren wohl weitgehend ersetzt (s.o. S. 18). 66 Joh. Zonar, epit. hist. 12, 26 (Corp. Script. Hist. Byz.: Zon. 2, 604 f.); Georg. Cedren. hist,

comp.: PG 121, 496 D/497 A spricht statt von ‘Griechen’ von ‘Römern’. 6' Joh. Zonar, a. O. 14, 2, 22 f. (3, 130 f.). Als Quelle wird der Sophist Malchos angegeben (vgl. Suda s. v. Mälxow: 3, 315 Adler; R. Laqueur, Malchos Nr. 2: RE 14, 1 [1928] 851/7). Zonaras a.O. teilt ferner mit, daß eine 120 Fuß lange Rolle, die mit goldenen Buchstaben beschrieben war und die Ilias sowie die Odyssee enthielt, dabei mit zugrundegegangen sei (vgl. Ephraem Chron. Caes. 1002/14 [PG 143, 49 B]); dazu Birt, Reg. s.v. ‘Rollenlänge’. Vgl. C. Wendel, Die erste kaiserli­ che Bibliothek in Konstantinopel: Zentralblatt f. Bibliothekswesen 59 (1942) 193/209, bes. 205 = ders., Kleine Schriften 56. 61 f. 68 Joh. Zonar. a.O. 15, 3, 13/22 (3, 259/61); Georg. Cedren. hist, comp.: PG 121, 872 D/873 A; Michael Glycas ann. 4 (PG 158, 524 D/525 A) nennt eine Zahl von 36 500 Bänden (diese Zahl ist wohl eine Rundzahl; vgl. Speyer, Bücherfunde 75 f. Anm. 52). - Vgl. L. Br£hier, La legende de Leon l’Isaunen, incendiaire de l’universite de Constantinople: Byzantion 4 (1927) 13/28, bes. 20 f.; Wendel a.O. 208 = 58. 62f. - Vgl. ferner Wendel/Göber a.O. (s.o. Anm. 57) 138f.; V. Burr, Der byzantinische Kulturkreis: Geschichte der Bibliotheken a.O. 149. — Die Kreuzfahrer haben 1204 und die Türken 1453 die kaiserliche Bibliothek in Konstantinopel zerstört und viele Bücher dabei vernichtet (vgl. K. Krumbacher, Geschichte der byzantinischen Literatur l2 = HdA 9 [München 1897, Nachdruck New York 1958] 506; Burr a.O. 161; E. Jacobs, Untersu­ chungen zur Geschichte der Bibliothek im Serail zu Konstantinopel 1 = SbHeidelberg [1919, 24] 1/5).

2. Verluste durch Kriegseinwirkung und Gewaltakte

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und Cassiodor über den Untergang eines Buches in Rom durch plündernde Hei­ den69. Da die liturgischen Kodizes in der Spätantike mit wertvollen Einbänden aus Edelmetall und Edelsteinen versehen wurden, stellten sie wohl ein bevorzug­ tes Beuteprojekt der Barbaren dar70. Anschaulich schildert Willibald in seiner Lebensbeschreibung des hl. Bonifatius, wie im Jahr 754 die heidnischen Barbaren die Biicherrepositorien aufbrachen und an Stelle von Gold und Silber nur Schrift­ werke fanden. Aus Wut verstreuten sie die Bücher über die Felder und warfen sie in Sümpfe71. Nach der Überlieferung hat der hl. Bonifatius am 5. Juni 754 in Dokkum, Westfriesland, den Martyrertod durch einen Schwerthieb erlitten, den er durch einen Evangelienkodex abzuhalten versuchte72. Die Patriarchal-Bibliothek bzw. die Bibliothek des Hl. Grabes in Jerusalem ist wahrscheinlich bei der Einnahme der Stadt durch die Araber 637 untergegan­ gen73. Ungeschichtlich sind die erst im 13. Jahrhundert auftauchenden Nachrich­ ten, daß Amru, der Eroberer Alexandriens, im Jahr 642 auf Geheiß des Kalifen Omar die dortige Bibliothek habe verbrennen lassen/4. — Noch im hohen Mittelalter beklagt Richard de Bury (1286-1345) den Untergang von Büchern durch Kriege und Brände, wobei er auch Beispiele aus dem Altertum anführt75. 69

Ale. Avit. carm. 1 prol. (MGH AA 6, 2, 201): recolo equidem nonnulla me versu dixisse: adeo ut, si ordinarentur, non minimo volumine stringi ponierit epigrammatum muititudo. quod dum facere servato causarum vel temporum ordine meditarer, omnia paene in illa notissimae perturbadonis necessitate dispersa sunt eqs. — Cassiod. inst. 2, 5 Mynors: quem [sc. librum] in bibliotheca Romae nos habuisse atque studiose legisse retinemus. qui si forte gentili incursione sublatus est, habetis hic Gaudentium Mutiani latinum. E. Bickel, Lehrbuch der Geschichte der römischen Literatur2 (Heidelberg 1961) 17 denkt an die von Papst Agapetus 535/36 gestiftete Bibliothek. Die kriegerischen Ereignisse beziehen sich wohl auf die Eroberung Roms durch Totila (546), wie L. Traube, Vorlesungen und Abhandlungen 1 (München 1909) 105 gesehen hat. 70 Zu den edelsteingeschmückten Büchern vgl. A. Hermann, Edelsteine: RAC 4 (1959) 505/52, bes. 543. 7* Willibald, vita Bonif. 8 (51 Levison). 72 Radbod. episc. Traiect. vita Bonif. 16 (73 Levison); vgl. G. Kiesel, Bonifarius: Lexikon d. 73

christl. Ikonographie 5 (1973) 427/36, bes. 428f. und Abb. 1. Vgl. Wendel, Bibliothek a.O. (s.o. Anm. 13) 249; zu dem in der Quelle genannten Priester Hesychios, unter dem sich ein Fälscher des frühen Mittelalters verbirgt, vgl. Speyer, Bücherfunde

130f.

74 Vgl. P. Casanova, L’incendie de la bibliotheque d’Alexandrie par les Arabes: Compte Rendu de

l’Academie des Inscriptions et Beiles Lettres (1923) 163/71; R. St. Mackensen, Background of the History of Moslem Libraries: American Journ. of Semitic Lang. a. Lit. 51 (1934/35) 114/25, bes. 116/22; Wendel/Göber a.O. (s.o. Anm. 57) 80. - Zur Zerstörung mohammedanischer Bibliotheken durch Kriege vgl. R. St. Mackensen, Moslem Libraries and Sectarian Propaganda: American Journ. of Semitic Lang. a. Lit. 51 (1934/35) 83/113: Türken, Mongolen, Tataren im Osten, Berber im Westen; auch Christen haben mohammedanische Bibliotheken vernichtet. 75 Richard de Bury, Philobiblon c. 7: querimonia librorum contra bella, hrsg. von E. C. THOMAS/M. Maclagan (Oxford 1960, Nachdruck ebd. 1970) 70/8.

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A. I. Scheinbare Unsterblichkeit des Liedes und der Literatur

3. Veränderungen

des

Zeitgeistes

Die Hoffnung vieler Schriftsteller auf Unsterblichkeit ihres literarischen Wer­ kes wurde noch aus anderen Ursachen als nichtig erwiesen. Die antiken Dichter und Schriftsteller, die an den ewigen Ruhm ihrer Lieder und Schriften glaubten oder ihn anderen verhießen, haben allzu ungeschichtlich gedacht und nicht hin­ reichend mit den Wandlungen des Zeitgeistes und des literarischen Geschmacks gerechnet. Der Stilwandel, der Ausdruck eines geistig-kulturellen Wandels ist, brachte es oft mit sich, daß bestimmte Schriften einer zurückliegenden Epoche nicht weiter überliefert wurden. Da die griechischen und römischen Schriftsteller in weit höherem Maß als die jüdischen, christlichen und auch die neuzeitlichen auf sorgfältige und schöne Ausdrucksweise Wert legten und an der formalen Gestaltung Gefallen fanden, mußten Wandlungen des Stilempfindens für die Er­ haltung älterer Schriften oft verderblich wirken'6. Die dadurch herbeigeführten Verluste konnten spätere Generationen kaum wiedergutmachen. Zwar kam es vor, daß nach längerer Zeit ein abgelebter Stil wieder mehr oder weniger künst­ lich erneuert wurde. Romantische und restaurative Kulturströmungen waren dem Hellenismus und der römischen Kaiserzeit nicht fremd: Man denke an die Attizisten und die Archaisten. Am Ausgang der Antike kümmerten sich viele angesehene Heiden vor allem in der Stadt Rom, aber auch im Osten um das geistige Erbe ihrer Väter77. Durch eine derartige Wiederbelebung vergangener Epochen wurde manches Literaturwerk, das nur noch in einem oder in wenigen Exemplaren vorhanden war, erneuert und weiterüberliefert; anderes aber ging in der Zwischenzeit für immer verloren. Neue Zeiten stellen auch inhaltlich neue Fragen, auf welche die Literatur der Vergangenheit entweder überhaupt nicht oder nur unzulänglich zu antworten versteht. Veränderungen in den religiösen, geistigen, sittlichen, politischen, gesell­ schaftlichen und wirtschaftlichen Grundlagen ließ ganze Literaturen in Verges­ senheit geraten und damit mehr oder weniger dem Untergang anheimfallen. Bei­ spielsweise wurden die einmal vorhandenen zahlreichen Epen der hellenistischen Zeit nicht mehr abgeschrieben, weil weder ihre Themen noch ihr Stil in einer veränderten politischen und geistigen Umwelt Anteilnahme erwecken konnten: Das römische Imperium war an die Stelle der hellenistischen Monarchien getre­ ten; Kallimacheer, Attizisten und Archaisten folgten einem anderen Stilideal als dem der hellenistischen Epiker78. Als das Christentum im Verlauf des 4. Jahrhun76 Vgl. Wissowa 6; van Groningen a.O. (s.o. Anm. 34) 44/7. 77 Reynolds/Wilson 33/7. 219. 78 Vgl. K. Ziegler, Das hellenistische Epos2 (Leipzig 1966) 21. - Auf ein anderes Beispiel macht E.

Bethe, Die dorische Knabenliebe: Rhein. Mus. 62 (1907) 455 aufmerksam: «Die Heldensage ist

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3. Veränderungen des Zeitgeistes

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derts äußerlich über das Heidentum gesiegt hatte, schwand bei den Christen das Interesse an den Apologeten des 2. Jahrhunderts79. Aus dem gleichen Grund las man auch nicht mehr die zahlreichen Widerlegungen, die Porphyrios mit seinem Werk ‘Gegen die Christen’ ausgelöst hatte80. Erst als im Verlauf der Renaissance und der Aufklärung die geschichtliche Kritik methodisch betrieben wurde, ge­ wannen die Werke der antiken Christengegner wieder an Interesse. So hat vor­ handenes oder fehlendes wissenschaftliches Interesse auf die Erhaltung der anti­ ken Literatur ebenfalls Einfluß gehabt. Die dem menschlichen Willen entzogene Veränderung und Wandlung der Sprache macht alte Schriftwerke schwer verständlich und überantwortet sie da­ mit dem Vergessen und dem Untergang. Als unter dem athenischen Archon Eukleides (403/402 v. Chr.) das ionische Alphabet anstelle der bisher verwendeten attischen Schrift eingeführt wurde, hat diese Maßnahme vielleicht auch Folgen für die Überlieferung der älteren Litera­ tur gehabt. Eindeutige Zeugnisse, die von Verlusten sprechen, fehlen jedoch81. Bei der wissenschaftlichen Literatur verdrängte oft das neuere Werk das ältere, und dies nicht immer aus dem Grund, weil es besser und gründlicher war82. So haben beispielsweise jüngere Kommentare zum Werk des Aristoteles ältere verdrängt.

durch das Motiv der Knabenliebe stärker umgestaltet worden, als wir sehen können, weil diese päderastische Poesie, trotzdem sie von Alexandrinern aufgenommen wurde, sich nicht erhielt, da die Schule sie ablehnen mußte.» (s.u.S. 104f.). 79 Vgl. E. Schwartz, Athenagorae iibellus pro Christianis, oratio de resurrectione cadaverum = TU 4, 2 (Leipzig 1891) Ulf. 80 Gegen die Streitschrift des Porphyrios schrieben selbständige Werke Methodios von Olympos (vgl. O. Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur 22 (Freiburg 1914, Nachdruck Darmstadt 1962] 348 f.), Eusebios (25 Bücher; vgl. ebd. 3, 247f.), Apollinaris von Laodikeia (30 Bücher; vgl. H. Lietzmann, Apollinaris von Laodicea und seine Schule (Tübingen 1904, Nach­ druck Hildesheim 1970] 150. 265/7), der Arianer Philostorgios (Philostorg. hist. eccl. 10, 10 (GCS Philostorg. 130]) und Pacatus (PLSuppl. 4, 1199 f.), nicht aber Diodor vonTarsos (vgl. Ch. Schäublin, Diodor von Tarsos gegen Porphyrios?: Mus. Helv. 27 (1970] 58/63). A. v. Harnack, Neue Fragmente des Werks des Porphyrius Gegen die Christen = SbBerlin (1921) 266/84, bes. 278 spricht von Unterdrückung dieser Schriften durch die Kirche. Diese Annahme ist aber nicht notwendig. 81 Gegen R. Herzog, Die Umschrift der älteren griechischen Literatur in das ionische Alphabet, Programm zur Rektoratsfeier der Universität Basel (1912) und andere Pfeiffer 49. 82 Vgl. R. Zimmermann, Der Sallusttext im Altertum (München 1929) 147: «Etwa vom 5. Jahrhundert ab gerieten Sallusts Histonen, wohl infolge des Vorhandenseins der Geschichtsabrisse des Velleius Paterculus und Florus, in Vergessenheit. Sie wurden, da sie wenig Leser mehr fanden, nicht weiter abgeschrieben und die vorhandenen Exemplare gingen im Lauf der Zeit zugrunde bis auf eine Handschrift, die sich bis ins 8. Jahrhundert rettete, wo sie zerissen und anderweitig verwendet wurde.»

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A. I. Scheinbare Unsterblichkeit des Liedes und der Literatur

Dazu trugen auch Polemik und Zitate das ihre bei83. In kulturellen Spätzeiten, wie vor allem der römischen Kaiserzeit, wurden wichtige ältere Einzeluntersu­ chungen oder umfangreiche gelehrte Werke durch Enzyklopädie, Epitome und Katene verdrängt84. Als die griechische Sprache im Westen während des 2. Jahr­ hunderts vom Lateinischen zurückgedrängt wurde, hat man dort griechische Werke im allgemeinen nicht mehr abgeschrieben. So gingen die Schriften des Hippolytos, der in Rom als einer der letzten griechisch geschrieben hat, im We­ sten verloren85. Zahlreiche Schriften vor allem der Heiden sind auch dadurch zugrundegegangen, daß sie nicht mehr am Ende des 4. und im Verlauf des 5. Jahrhunderts n. Chr. abgeschrieben wurden, als der Pergamentkodex endgültig die Papyrusrolle und den Papyruskodex verdrängt hat86. Im wesentlichen bilden nur jene Papyrusrollen eine Ausnahme, die in der Neuzeit aus dem Sand Ägyptens oder aus den vom Vesuv verschütteten Städten zum Vorschein gekommen sind87. Die altlateinischen Bibelübersetzungen, die ‘Vetus Latina’, gingen im 5. und 6. Jahrhundert zugrunde, da sie von der Übersetzung des Hieronymus verdrängt wurden88.

83 Vgl. MORAUX a. O. (s.o. Anm. 11) XVII f. — Ein anderes Beispiel: P. Windisch, Johannes und die Synoptiker. Wolke der vierte Evangelist die älteren Evangelien ergänzen oder ersetzen? = Unter­ suchungen zum Neuen Testament 12 (Leipzig 1926) 170f. 84 Vgl. Harnack, Lit. Gesch. 1, 1, Lllf.; de Ghellinck 369; W. Schmid, Geschichte der griechi­

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schen Literatur 1 = HdA 7, 1 (München 1929, Nachdruck ebd. 1959) 1/9; Bickel a.O. (s.o. Anm. 69) 213/6. - Zur Arbeitsweise der Kompilatoren des Codex Theodosianus vgl. Cod. Theod. 1,1,6 (vom 20. XII. 435) und F. M. Heichelheim/G. Schwarzenberger, An Edict of Constan­ tine the Great. A Contribution to the Study of Interpolations: Symb. Osl. 25 (1947) 1/19, bes. 12. — Für die alte Literatur der römischen Juristen war das große Gesetzgebungswerk Justinians, das unter Leitung des Quaestor sacri palatii Tnbonianus zustandekam, verderblich. Alles, was nicht aufgenommen war, verfiel dem Untergang: Cod. lust. 1, 17, 2, 1: duo paene milia librorum esse conscnpta er plus quam tricies centena milia versuum a veteribus effusa ... in centum quinquaginta paene milia versuum totum opus consummantes; vgl. Schanz/Hosius 4, 2, 176/8; R. Sohm/L. Mitteis, Institutionen. Geschichte und System des römischen Privatrechts, hrsg. von L. Wenger (München 1923) 120/9; Wenger, Reg. 941 s.v. Tribonianus. — Zu den Konstantinischen Exzerptoren vgl. Krumbacher 1, 504. 506. Vgl. B. Altaner/A. Stuiber, Patrologie. Leben, Schriften und Lehre der Kirchenväter 8(Freiburg 1978) 164 f. Vgl. Wissowa; De Ghellinck 367f; C. H. Roberts a.O. (s.o. Anm. 9); Reynolds/Wilson 30/ 2. 218f. Vgl. R. A. Pack, The Greek and Larin Literary Texts from Greco-Roman Egypt 2(Ann Arbor 1965); Kleberg 82/4 und o. S. 12 — Zum Ganzen vgl. H. Gerstinger, Bestand und Überliefe­ rung der Literarurwerke des griechisch-römischen Altertums, Rektoratsrede (Graz 1948). Vgl. K. Th. Schäfer, Bibelübersetzungen II: LThK 2 (1958) 380/4; V. Reichmann, Bibelüberset­ zungen I 3, 1: Theol. Realenzyklopädie 6 (1980) 172/6.

II. ARTEN DER WILLENTLICH HERBEIGEFÜHRTEN BÜCHERVERNICHTUNG In Babylon sollte der Zorn der Götter denjenigen treffen, «der den Grenzstein entfernt, zerstört, ins Feuer, ins Wasser, in den Fluß oder in den Brunnen wirft, oder im Staub, in der Erde oder im Schlamm der Schleuse verbirgt, einmauert, an einen Ort, wo ihn niemand sieht, bringt, mit einem Stein beschädigt, die Schrift und besonders den Namenszug des Gottes oder des Königs austilgt ...»*. Von den hier genannten Arten der Vernichtung kommen für das antike schriftlich aufge­ zeichnete Werk vor allem Verbergen, Verbrennen, ins Wasser Werfen in Betracht, ferner das Zerschlagen von Ton- oder Bronzetafeln sowie das Zerreißen von Papyrus oder Pergament.

1. Verbergen Seitdem der Mensch als das bewußt erkennende Wesen auf der Erde erschienen ist, begann ein bis heute dauernder Prozeß: Die Geheimnisse der äußeren und inneren Welt werden von ihm nach und nach enthüllt. Die Mitteilung des bisher Geheimen, nunmehr im Erkenntnisakt Enthüllten erfolgt ebenso aus der mensch­ lichen Geistnatur wie das Erkennen selbst; denn Erkennen ist auf Sprechen, also auf Mitteilung angewiesen; beides vollzieht sich nur innerhalb einer Gemein­ schaft geistiger Wesen. Wie der Mensch der Frühzeit als religiöser Mensch zwi­ schen Heiligem und Profanem unterschieden hat, so auch zwischen Erkenntnis­ sen, die gefahrlos allen mitgeteilt werden können, und Erkenntnissen, die wegen ihrer Heiligkeit und der damit verbundenen Mächtigkeit nur einem bestimmten Personenkreis anvertraut werden dürfen. Wie die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen in den Hochkulturen, vor allem der griechisch-römischen, mehr und mehr zugunsten des Profanen verschoben wurde, so auch die Grenze zwischen dem Geheimzuhaltenden und dem zu Veröffentlichenden zugunsten des Bekanntmachens. Dieser Prozeß, der zur Profanierung und Veröffentlichung des geheimen Wissens geführt hat, ist vor allem darin begründet, daß der Mensch sich die heiligen Mächte, die über seinem Leben walten, durch die Erkenntnis der Gesetze der Natur weitgehend verfügbar gemacht hat oder glaubt, dies vollbracht zu haben.

1 Vgl. F. X. Steinmetzer, Die babylonischen Kudurru (Grenzsteine) als Urkundenform = Studien zur Geschichte u. Kultur d. Altertums 11,4/5 (Paderborn 1922, Nachdruck New York 1968) 240.

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A. 11. Arten der willentlich herbeigeführten Büchervernichtung

Da die Anfänge der heutigen profanen Wissenschaften, nicht zuletzt der Natur­ wissenschaften, in der religiös-magischen Weltvorstellung der alten Hochkultu­ ren gründen, waren sie von Heiligkeit und damit von Tabu und Geheimhaltung umgeben. Von den Pythagoreern ist die Vorschrift, die Lehre des Meisters ge­ heimzuhalten, ausdrücklich bezeugt. Nur mündlich sollten die Lehren im Kreis der Schüler weitergegeben werden2. In Rom war der Grundsatz, daß Wissen Macht bedeutet, gerade in der Frühzeit lebendig. Daraus folgte, daß die mächti­ gen Patriziergeschlechter zunächst ihr Wissen geheimzuhalten versuchten3. Die Geheimhaltung übten aber vor allem religiöse Gemeinschaften und Schulen, in denen religiös-magische Kenntnisse weitergegeben wurden, wie die der Alchimi­ sten, Astrologen, Pharmakologen4. Bis in die Spätantike begegnet in religiösen Offenbarungen, wie Apokalypsen, und in Offenbarungsschriften magisch-natur­ kundlichen Inhalts die Aufforderung, den Text und das mitgeteilte Wissen ge­ heimzuhalten und vor Profanierung an Uneingeweihte zu schützen5. ‘Verbergen’ und ‘unsichtbar machen’ sind hierfür die griechischen Ausdrücke6. Das Verber­ gen galt in diesen Fällen aber nur gegenüber den Uneingeweihten; der kleine Kreis der Eingeweihten hielt derartige Schriften in großen Ehren. Solange das magisch-religiöse Weltbild in Geltung war, fürchtete man sich vor der dämonischen Macht der heiligen Schriften fremder und feindlicher Religio­ nen. Deshalb wagte man oft nicht, sie gänzlich zu vernichten, sondern begnügte sich damit, sie zu verbergen. Eine Art, derartige heilige, das heißt in ihrer Wir­ kung ambivalente, mit Segens- und mit Fluchkraft geladene Schriften zu verbergen, bestand darin, sie zu vergraben7. Aber nicht alle heiligen Schriften, die 2 Zu Pythagoras vgl. A. St. Pease im Kommentar zu Cic. nat. deor. 1, 74: 1 (Cambridge, Mass.,

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1955, Nachdruck Darmstadt 1968) 388 f.: ut Pythagoras; Plut. Num. 22, 2f.: Ablehnung der Schriftlichkeit durch Numa und die Pythagoreer. — Vgl. ferner J. Leipoldt/S. Morenz, Heilige Schriften. Betrachtungen zur Religionsgeschichte der antiken Mittelmeerwelt (Leipzig 1953) 88/ 114: ‘Vorlesung und Geheimhaltung’. — Zu Platon vgl. W. Ch. Greene, The Spoken and the Written Word: Harv. Stud. in Class. Philol. 60 (1951) 23/59. Vgl. z.B. Dionys. Halle, ant. Rom. 10, 1, 4: xopiö^ ö’ öXCya xtvä tv leQaig r|v ßtßXoig änoxEipeva, ä vöpwv el/e öüvapiv, wv oi naxpixioi ttjv yvcoaiv sl/ov gövoi. - Cic. de domo 33. — Der Kalender wurde geheimgehalten; vgl. Wenger 337. 340. Vgl. A. Delatte, Herbarius = Acad. Roy. de Belg. Mem. 54, 43 (Bruxelles 1961) 8f. Anm. 5; Speyer, Fälschung 63 f. — «Über die Rolle der Geheimhaltung in Kult und Magie, aber auch im Märchen, wäre eine Arbeit erwünscht« (F. Pfister, Die Religion der Griechen und Römer [Leip­ zig 1930] 319 f.). Vgl. ferner G. A. Wewers, Geheimnis und Geheimhaltung im rabbinischen Judentum = RGW 35 (Berlin 1975). Vgl. Speyer, Fälschung 63/5. Vgl. A. Oepke/R. Meyer, Kqvhtw: ThWbNT 3 (1938) 959/99, bes. 996/9. Zur Ambivalenz des Heiligen vgl. M. Eliade, Die Religionen und das Heilige (Salzburg 1954, Nachdruck Darmstadt 1976) 37/42; W. Speyer, Die Zeugungskraft des himmlischen Feuers in Antike und Urchristentum: Antike u. Abendl. 24 (1978) 59 f. mit Literatur.

1. Verbergen

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vergraben wurden, sollten dadurch beseitigt oder gar vernichtet werden. So hat man im Alten Orient Schriften in die Fundamente von Tempeln eingemauert. Dieser Brauch kann nur einen religiös-magischen Grund gehabt haben: Die heili­ gen Texte sollten den Bau schützen, die dämonischen Gewalten abhalten8. Wenn die Ägypter ihren Toten Bücher mit ins Grab legten, so sollten die heiligen Texte den Toten auf der Jenseitsreise begleiten und ihm helfen, die mannigfach drohen­ den Gefahren zu bestehen. Die Sitte, dem Toten eine derartige Hilfe zukommen zu lassen, hat sich in Ägypten bis in die christlich-koptische Epoche erhalten9. Hingegen sind die griechischen und römischen Nachrichten über Bücher als Grabbeigaben fast sämtlich als Erfindungen von antiken Fälschern oder als litera­ risches Motiv vor allem von Romanen anzusehen10. Die bisher einzigen Ausnah­ men stellen die sogenannten orphischen Totenpässe oder Goldblättchen und der 1962 ausgegrabene Papyrus von Derveni bei Thessaloniki dar, der, zwischen 350 und 300 v. Chr. geschrieben, aus dem Brandgrab eines orphischen Mysten stammt11. - Fluchtafeln, deren magische Wirkung für die Alten eine Tatsache war, wurden in Gräbern verborgen, in Aschenurnen gelegt oder in Quellen, Brunnen, Flüsse oder ins Meer geworfen, damit sie so schneller mit den angerufe­ nen Totengeistern und Unterweltsmächten in Verbindung kämen12. Das Verbergen von Schriften, die wegen ihres Inhalts und/oder ihrer Verfasser auf Inspiration und Heiligkeit Anspruch erhoben, hat im alten Israel und vor allem im Frühjudentum des späten ersten Jahrhunderts n. Chr. und im 2. und 3. Jahrhundert große Bedeutung erlangt13. Die magisch-religiöse Scheu vor dem heiligen Offenbarungswort der Bibel und vor allem dem Gottesnamen, dem Te­ tragramm, verbot es den Pharisäern und Rabbinen, unbrauchbar gewordene Rol-

8 Beispiele nennt S. Euringer, Die ägyptischen und keilinschrifthchen Analogien zum Funde des Codex Helciae, 4 Kg. 22 u. 2 Chr. 34: Bibl.Zs. 9 (1911) 230/43. 337/49; 10 (1912) 13/23. 225/37. 9 Vgl. Speyer, Bücherfunde, Reg. s. v. ‘Ägypten’. 10 Vgl. ebd. 43/124: «Bücher aus Gräbern und aus der Erde». - Zum Verbergen der Bücher des Königs Numa und der Deutung durch Augustinus vgl. B. Cardauns, Varros Logistoricus über die Götterverehrung (Curio de cultu deorum) (Würzburg 1960) 21. 11 G. Zuntz, Persephone. Three Essays on Religion and Thought in Magna Graecia (Oxford 1971) 275/393; zum Papyrus von Derveni bei Saloniki (aus dem 4. oder dem Anfang des 3. Jh. v. Chr.) vgl. Orsolina Montevecchi, La papirologia (Torino 1973) 504 Reg. s. v. ‘Derveni’. 12 Vgl. K. Preisendanz, Fluchtafel: RAC 8 (1972) 1/29, bes. 5 f. 20. - Der Esel des hl. Schenute soll gemerkt haben, daß auf dem Weg Zauberschriften vergraben waren, die den Weg sperren sollten (Vita Sinuthii [Bibi. Hag. Orient. (Bruxelles 1910) Nr. 1075]: 45 Amelineau). 13 Vgl. G. Hölscher, Kanonisch und Apokryph. Ein Kapitel aus der Geschichte des alttestamentlichen Kanons (Leipzig 1905) 59/65; Strack/Billerbeck 4,1, 423/33; K. G. Kuhn, Giljonim und sifre minim: Judentum, Urchristentum, Kirche. Festschrift}. Jeremias = Zeitschr. Neutest. Wiss. Beih. 26 (1964) 24/61, bes. 29/31 (grundlegend); I. Gruenwald, Jewish Apocalyptic Literature: ANRW 2, 19, 1 (1979) 89/118, bes. 102f. 108/10 und u.S.116f.

28

A. II. Arten der willentlich herbeigeführten Büchervernichtung

len der heiligen Schrift wie andere profane Gegenstände zu behandeln, sie wegzu­ werfen oder sie durch Feuer, Wasser oder Zerreißen zu vernichten14. Deshalb verbargen die Pharisäer und Rabbinen diese Rollen im Mauerwerk oder sie gaben sie in einem Tongefäß einem verstorbenen Schriftgelehrten mit ins Grab oder versteckten sie in einem besonderen Seitenraum der Synagoge, der Geniza15. Wahrscheinlich stehen die Pharisäer und Rabbinen mit diesem Brauch in einer Tradition. In alter Zeit scheint man in Israel so wenig wie in seiner Umwelt heilige, das heißt mit numinoser Segens- und Fluchkraft erfüllte Gegenstände zerstört, sondern vergraben und verborgen zu haben. So soll Jakob unter der Terebinthe von Sichern die fremden Götter und die Ohrringe, die hier wohl als apotropäische Amulette zu bewerten sind, vergraben haben16. Anscheinend glaubte er, auf diese Weise ihrer Fluchkraft entgehen zu können. Die Wendung ‘Man verbirgt eine Schrift’ konnte sich im Frühjudentum aber auch auf Schriften beziehen, deren Anspruch auf Heiligkeit die Rabbinen ablehn­ ten, ohne sie damit zugleich als häretisch zu klassifizieren. Die Schriften der jüdischen Häretiker wurden nach der Weisung der Pharisäer und Rabbinen nicht verborgen, sondern vernichtet17. Zugleich war dann mit der Wendung ‘Man verbirgt eine Schrift’ ausgesprochen, daß eine derartige Schrift nicht als Vorlese­ buch für den Gottesdienst oder im Lehrhaus in Betracht komme. Sie sollte also dem öffentlichen Gebrauch entzogen werden. Dieser Sprachgebrauch scheint aber erst im 3. Jahrhundert n. Chr. vorzukommen18. In der griechisch-römischen Welt waren die ‘Heiligen Worte’ der Mysterien vor der profanen Menge verborgen und nur dem kleinen Kreis der Mysten bekannt19. In Rom wurden die staatlich anerkannten Sibyllinischen Orakel streng geheimge­ halten20. Sie waren heilige Schriften und als solche nur für bestimmte Personen

14 S. u. S. 40.

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bMeg. 26 b 2(4, 109 Goldschmidt); vgl. Kuhn 29 und u. S. 117f. Gen. 35, 4. — Altorientalische und frühjüdische Überlieferungen berichten auch, daß in alter Zeit heilige Bücher vergraben wurden, die man nachher entdeckt haben will. Beispiele bei Speyer, Bücherfunde 113 f. 119f. und o. S. 12 f.; vgl. Dam. 5, 2/5, übersetzt von J. Maier, Die Texte vom Toten Meer 1 (München—Basel 1960) 52; vgl. ebd. 2 (1960) 48 f. — Zur islamischen Welt: M. Plessner, Neue Materialien zur Geschichte der Tabula Smaragdina: Der Islam 16 (1927) 94 Anm. 4 und G. Widengren, The Ascension of the Apostle and the Heavenly Book = Uppsala Universitets Ärsskrift 1950 Nr. 7 (Uppsala-Leipzig 1950) 83 f.

5. u. S. 115 f.

Vgl. Kuhn 30f. 19 Vgl. O. Perler, Arkandisziplin: RAC 1 (1950) 667/76; A. Henrichs, Die Phoinikika des Lollianos. Fragmente eines neuen griechischen Romans = Papyrol. Texte u. Abhandlungen 14 (Bonn 1972) 41 f., 60 f.; zum lepog Xöyog ebd. 61 Anm. 27. 20 Cic. div. 2, 112 Pease: ... Sibyllam quidem sepositam et conditam habeamus...; Lact. div. inst. 1, 6, 13 (CSEL 19, 1, 22): harum omnium Sibyllarum carmina et feruntur et habentur, praeterquam

1. Verbergen

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zugänglich. König Tarquinius Superbus soll den Duumvir M. Atilius durch die Strafe der Sackung beseitigt haben, weil er Petronius Sabinus erlaubt hatte, eine Abschrift der geheimen Orakel anzufertigen21. Vielleicht hängt die magisch-sa­ krale Beseitigung durch die Sackung und das Versenken ins Meer als spiegelnde Strafe mit dem Verrat des religiösen Geheimnisses enger zusammen22. Die Orakel der Sibylle lagen bis zu ihrer Vernichtung durch den Brand des Kapitols am 6. Juli 83 v. Chr. in einem unterirdischen Gelaß des kapitolinischen Jupitertempels in einer steinernen Lade und wurden von den Decemviri verwahrt23. Nach dem Brand versuchte der Senat den Verlust dadurch auszugleichen, daß er eine Ge­ sandtschaft nach Erythrai schickte, die die Sprüche der dortigen Sibylle sammeln und nach Rom bringen sollte24. Nach der Sichtung der Sibyllinischen Orakel, die Augustus durchführen ließ, wurden die für echt gehaltenen unter der Basis des Palatinischen Apollon in dessen Tempel verborgen25. Obwohl bei den Christen der Begriff ‘Apokryph’ als zentraler Begriff der kirch­ lichen Zensur oft in den mehr oder weniger amtlichen Kanonsverzeichnissen be­ gegnet, wurden derartige Schriften meist nicht verborgen, sondern gewöhnlich verbrannt26. Nur selten haben einzelne Bischöfe vorgeschlagen, die Bücher der Häretiker nicht zu verbrennen, sondern in einer Bibliothek dem öffentlichen

Cymaeae, cuius libri a Romanis occultantur nec eos ab ullo nisi a quindecimviris inspici fas habent; vgl. A. Rzach, Sibyllinische Orakel: RE 2 A, 2 (1923) 2107, 30/45. 21 Dionys. Halic. ant. Rom. 4, 62, 4; Val. Max. 1, 1, 13: librum secreta rituum civilium sacrorum

continentem; bei Dio Cass. 2 frg. (1, 28 f. Boissevain; aus Zonar, epit. hist. 7, 11, 1/5 und Joh. Tzetz. in Lycophr. 1279) heißt der Verräter M. Akil(l)ios. Vgl. F. Schachermeyr, Tarquinius Nr. 7: RE 4 A, 2 (1932) 2385 f. 22 Vgl. H. Hitzig, Culleus: RE 4, 2 (1901) 1747f.; A. Hermann, Ertrinken: RAC 6 (1966) 387f.;

S. Eitrem, Die vier Elemente in der Mysterienweihe: Symb. Osl. 5 (1927) 56/9. 23 Varro ant. rer. div. frg. 60 Cardauns (bei Dionys. Halic. ant. Rom 4, 62, 5 f.); dazu Cardauns

im Kommentar 168. — Joh. Tzetzes, in Lycophr. 1279 teilt mit, daß das Buch oder die Bücher mitten auf dem Forum in einem Kasten vergraben wurden. 24 Fenestella bei Lact. div. inst. 1, 6, 14 (CSEL 19,1, 23) wohl nach Varro; vgl. K. Latte, Römische Religionsgeschichte = HdA 5, 4 (München 1960) 160 Anm. 1; 304 Anm. 2; Cardauns a.O. 25 Suet. Aug. 31, 1: postquam vero pontificatum maximum, quem numquam vivo Lepido auferre sustinuerat, mortuo demum suscepit (sc. Augustus anno 12 a. Chr. n.], quidquid fatidicorum librorum Graeci Latinique generis nullis vel parum idoneis auctoribus vulgo ferebatur, supra duo milia contracta undique cremavit ac solos retinuit Sibyllinos, hos quoque dilectu habito; condiditque duobus forulis auratis sub Palatini Apollinis basi. Mit dieser Überlieferung bringt H. A. Cahn ein Münzbild aus dem Jahr 16 v. Chr. in Verbindung und will auf der dort abgebildeten Basis der Statue des Lyra spielenden Apollon drei zylindrische Behälter sehen, eben jene foruli, von denen Sueton spricht (Zu einem Münzbild des Augustus: Mus. Helv. 1 (1944] 203/8; zu den Schwierig­ keiten der Datierung des von Sueton Berichteten und zur Frage nach den zwei (Sueton] oder drei Behältern [Münze] vgl. ebd. 205/7). 26 S. u. S. 120 Anm. 2; zu den Kanonsverzeichnissen ebd.

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A. II. Arten der willentlich herbeigeführten Büchervernichtung

Gebrauch zu entziehen und sie so zu verbergen27. In der Diokletianischen Verfol­ gung haben die Christen mehr als einmal ihre heiligen Schriften versteckt, um sie vor Vernichtung zu bewahren28.

2. Verbrennen

Der bei Griechen und Römern verbreitetste Beschreibstoff war zunächst der Papyrus, in der späteren Kaiserzeit das Pergament29. Die meisten antiken Zeug­ nisse über Büchervernichtungen sprechen davon, daß Papyrusrollen und Perga­ mentkodizes verbrannt worden sind. Daß der auf andere Weise gleichfalls leicht zerstörbare Papyrus gerade verbrannt wurde, ist nicht so selbstverständlich, wie es zunächst den Anschein haben könnte. Mag das Verbrennen auch die sicherste Gewähr dafür bieten, ein Buch ganz und für immer zu vernichten, so war dieser Gesichtspunkt trotzdem nicht für alle literarisch bezeugten Bücherverbrennungen der bestimmende Grund, gerade diese Art der Beseitigung zu wählen. Um hier genauere Ergebnisse zu gewinnen, ist jeweils darauf zu achten, wessen Bücher verbrannt wurden, und wer sie verbrannt hat. Übergab beispielsweise ein Dichter seine ihm nicht gut genug klingenden Verse dem Feuer, so wollte er sie dadurch seinen Lesern ein für allemal entziehen30. Wurden hingegen die Schriften eines Mannes vernichtet, der gegen die religiös-politische Gemeinschaft durch seine gefährlich scheinenden Lehren verstoßen hat, so wird hier ein anderer Bereich als der rein profane und zwischenmenschliche sichtbar, nämlich der sakralrechtliche. Nach der Auffassung der Antike ist das Buch ein Teil des Verfassers: es ist sein geistig gezeugtes Kind. Bereits Aristophanes verwendet diese Ausdrucksweise, um das eigentümlich enge Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und seinem Werk angemessen auszudrücken31. Aufgrund dieses engen Verhältnisses zwischen dem Verfasser und seiner Schrift erleidet diese in bestimmten Fällen dasselbe Geschick

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28 29

30 31

Vgl. PsAthan. synops. Script. Sacr. 76 (PG 28, 432C): dcXXöt ndvxa öi/a tcüv äviOTepco öiaXT]tpflevTtüv xai ByxoiOevTcov napci toig JtaXaioig aoepotg xai jrarpäoiv äjtoxpvcpfig päXXov f| dvayvüjoEüjg (bg ä/.^Owg ä£ia; s. ferner u. S. 156. Vgl. z.B. Act. Agap., Iren. 5, 8 (290 Musurillo). S. o. S. 9. — Zu erwähnen sind auch Wachstafeln. Strepsiades wollte mit einem Brennglas das Wachs der Klageschrift unter dem Griffel des Schreibers zum Schmelzen bringen (Aristoph. nub. 764/74); zu den Wachstafelkodizes vgl. B. Bischoff, Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters = Grundlagen der Germanistik 24 (Berlin 1979) 26/8 und Reg. 348 s. v. Wachstafel. S. u. S. 93 f. Aristoph. nub. 528/36; vgl. Speyer, Fälschung 16.

— ■

2. Verbrennen

31

wie ihr geistiger Erzeuger32. Gilt ihr Verfasser als ein Feind der religiös-politi ­ schen Gemeinschaft, in der er lebt, also als Verfluchter, so folgt das Gleiche auch für seine Schrift33. Nach antikem Glauben war der Verfluchte mit einem materiell gedachten Fluchstoff (puaopa, contagium) erfüllt, so daß er lebend und tot mit­ samt seiner Familie und Habe eine Ansteckungsgefahr für die Gemeinschaft dar­ stellte34. Wie die Gemeinschaft den Verfluchten durch apotropäisches Fluchwort und Steinigung vertrieben hat, so hat sie auch seine Habe öffentlich verbrannt. Die Beseitigung einer als gemeinschaftsgefährdend angesehenen Schrift geschah deshalb ebenfalls in der Öffentlichkeit: Alle wollten sich auf diese Weise von der fluchbringenden Schrift lossagen und den bevorstehenden Zorn der Gottheit von sich ablenken. Wie stark hier vorgeschichtliche Erlebnisinhalte weiterwirken, kann ein Vergleich mit dem Verhalten urtümlicher Naturvölker zeigen3*. Das Feuer ist noch besser als das Wasser dazu geeignet, durch gänzliche Ver­ nichtung der als gefährlich angesehenen Schrift die Gemeinschaft zu reinigen. Das Feuer hat so eine zweifache Aufgabe: es befreit die Gemeinschaft von der anstekkenden Befleckung des fluchbringenden Buchs und reinigt sie. Daß diese Deutung den Vorstellungen entspricht, die im Altertum zu Bücherverbrennungen geführt haben, dürften vor allem folgende Zeugnisse erweisen: Lukian von Samosata (um 120 bis nach 180 n. Chr.) berichtet in seiner Streit­ schrift gegen Alexandros von Abonuteichos, einen Schüler des Wundermannes Apollonios von Tyana, folgendes Ereignis aus dem Leben des Lügenpropheten: Alexandros, ein erklärter Feind Epikurs, fand den Katechismus dieses Philoso­ phen, die xvQiai öö^at. Er brachte sie auf den Marktplatz und verbrannte sie auf Feigenholz so, als ob er ihren Verfasser Epikur selbst verbrenne. Die Asche aber schüttete er ins Meer und sprach dabei den Götterspruch: «Werft, ich befehle es, die Lehren des blinden Alten ins Feuer»36. Soweit der Bericht Lukians. Alexan­ dros vollführt hier ein magisches Fluchritual, das aus einer Handlung mit Ver-

32 Zu einer eng verwandten Vorstellung vgl. L. Wenger, Strafweise Verbrennung des Mantels statt des Mannes: Anzeiger d. Österr. Akad. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 84 (Wien 1947) 293/9. 33 Vgl. W. Speyer, Fluch: RAC 7 (1969) 1160/1288. 34 Vgl. ebd. 1164f. 1181. 1183f.; J. Rudhardt, Notions fondamentales de la pensee religieuse et actes constitutifs du culte dans la Grece classique (Geneve 1958) 46/50; N. Brox, Magie und Aberglaube an den Anfängen des Christentums: Trierer Theol. Zs. 83 (1974) 157/80, bes. 158. 35 Vgl. A. E. Jensen, Mythos und Kult bei Naturvölkern 2(Wiesbaden 1960) 200: «Gerade auch das Merkmal der Gemeinschaftstat ist sehr oft ein wesentlicher Zug der Mythe. So berichtet Schärer (Menschenopfer, S. 21 ff.) von den Ngadju-Dayak auf Borneo, daß die Marterung des Opferskla­ ven am Opferpfahl nur deshalb wichtig sei, weil jeder Teilnehmer am Totenfest das Opfer erstochen haben muß. Dies geschieht in einer genau festgelegten Reihenfolge. Auch bei ‘Tierop­ fern’ ist der Vorgang der gleiche...» 36 Lucian. Alexandr. 47; vgl. Pease 149.

32

A. II. Arten der willentlich herbeigeführten Büchervernichtung

wünschung besteht. Nur formal ähnlich ist die Nachricht über Diagoras von Melos, der eine hölzerne Heraklesstatue verbrannt und dazu das ironische Wort gesprochen haben soll: «Geh hin und vollbringe deine 13. Tat, indem du uns das Linsengericht kochst»3'. Die am häufigsten verwendeten Mittel der Entsühnung, der Lustration, Feuer und Wasser, dienen dazu, die in den Augen des Propheten Alexandros gottlose Schrift Epikurs auf rituelle Weise zu beseitigen38. Die Ver­ brennung findet in der Öffentlichkeit statt; denn die Gemeinschaft, die durch die fluchbringende, den Zorn der Götter auslösende Schrift Epikurs bedroht ist, muß sich als ganze von Epikur und seinem Werk lossagen39. Für das Feuer benutzt Alexandros Feigenholz, das nach antikem Glauben reinigende und sühnende Kraft besaß40. Alexandros wollte damit vielleicht auch an den Pharmakos, also den Verfluchten schlechthin, erinnern, der mit Zweigen des Feigenbaums geschla­ gen wurde und um den Hals Ketten aus Feigen trug41. Andererseits hat Lukian, der die Partei Epikurs ergreift, den Lügenpropheten Alexandros noch im selben 37

Zu den zahlreichen Varianten dieser Anekdote vgl. B. Keil, Ein neues Bruchstück des Diagoras von Melos: Hermes 55 (1920) 63/7; ferner O. Weinreich, Triskaidekadische Studien = RGW 16, 1 (Gießen 1916, Nachdruck Berlin 1967) 82 Anm. 2; F. Jacoby, Diagoras 6 aüeog = AbhBerlin (1959, 3) 26 Anm. 210. 3S Vgl. J. Scheftelowitz, Sündentilgung durch Wasser: Arch. Rel. Wiss. 17 (1914) 353/412; S. Eitrem, Opferritus und Voropfer der Griechen und Römer (Kristiania 1915, Nachdruck Hildes­ heim 1977) 161/92; O. Weinreich, Blutgerichte EN YFIA10PQI: Hermes 56 (1921) 326/31 = ders., Ausgewählte Schriften 1 (Amsterdam 1969) 552/7; C. O. Thulin, Die etruskische Disciplin 3 (Göteborg 1909, Nachdruck Darmstadt 1968) 117/23: zur Sühnung der Ostenta durch Feuer und Wasser. 39 Diesen Gesichtspunkt hat erstmals A. St. Pease in seinem Kommentar zu Cic. nat. deor. 1, 63 hervorgehoben: 1, 357. — In vielen Berichten über Büchervernichtungen wird betont, daß sie im Anblick der religiös-politischen Gemeinschaft stattgefunden haben (z.B. Liv. 40, 29, 14; Val. Max. 1, 1, 12). 40 Vgl. Olck, Feige: RE 6, 2 (1909) 2148 f. In Rom wurde zwischen arbor felix und infelix unter­ schieden. Zu den arbores infehces zählte unter anderen die schwarze Feige (ficus ater). Dieses Holz diente zur Verbrennung von Mißgeburten (portenta) und Unglück bringenden Wesen (prodigia mala); vgl. Tarquitius Priscus bei Macrob. Sat. 3, 20, 3; dazu J. Andr£, Arbor felix, arbor infelix: Hommages ä J. Bayet = Collection Latomus 70 (Bruxelles 1964) 35/46, bes. 45, der etruskische Herkunft vermutet; ferner Catull. 36, 4/8: seine Geliebte Lesbia vovit... / electissima pessimi poetae [sc. Catulli] / scripta tardipedi deo daturam / infelicibus ustilanda lignis; dazu W. Kroll im Kommentar 3(Sruttgart 1959) 68; A. Dihle, Zwei Vermutungen zu Varro: Rhein. Mus. 108 (1965) 170/83, bes. 180f. 41 Vgl. V. Gebhard, Thargelia: RE 5 A, 2 (1934) 1290/1302, bes. 1295; M. Caster, Etudes sur Alexandre ou le faux prophete de Lucien (Paris 1938) 67f.; W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche = Die Religionen der Menschheit 15 (Stuttgart 1977) 139/42. - Unzutreffend meinte V. Reichmann, Feige: RAC 7 (1969) 648, Alexandros habe das Feigenholz als Träger einer obszönen Bedeutung gewählt, um damit auf Epikurs Philosophie anzuspielen. Bei dieser Erklärung ist die magisch-sakrale Bedeutung der Verbrennung verkannt.

2. Verbrennen

33

Zusammenhang als Verfluchten beschimpft42. Er ist in den Augen Lukians nicht zuletzt deshalb verflucht, weil er das Andenken des segenstiftenden Epikur durch die rituell vollzogene Verbrennung eines der Hauptwerke des Philosophen zu beseitigen trachtete. Die Bücherverbrennung entspricht hier der magisch-sakralen Verbrennung des Frevlers43. Auch bei ihr wurde nicht selten die Asche des Frev­ lers ins Meer oder in den Fluß geschüttet44. Nicht nur Alexandros von Abonuteichos hat Epikur wie einen Verfluchten behandelt. Wie Aelian überliefert, haben die Messenier die verweichlichten und gottlosen Epikureer aus ihrem Land ver­ trieben: Vor Sonnenuntergang sollten sie das Gebiet der Messenier verlassen haben; nachdem sie aus dem Land gebracht waren, sollten die Priester die Tempel und die Archonten (Tipoü/oi) die Stadt reinigen, da sie dann von Besudelung und fluchbeladenem Schmutz befreit sei45. Daß diese religiös-magische Vorstellung bis weit in die christliche Spätantike lebendig geblieben ist, kann der Bericht des Kirchengeschichtsschreibers Evagrios Scholastikos über die Aufhebung der Chrysargyron-Steuer, der lustralis auri collatio, durch Kaiser Anastasios I. (491—518) erweisen46. Diese Gewerbesteuer, die sogar Dirnen und Lustknaben in Byzanz zu entrichten hatten, erschien dem from­ men Kaiser, der vor seinem Regierungsantritt beinahe den Patriarchenstuhl von Antiochien bestiegen hätte, als eine «fluchwürdige und fluchbringende» Hand­ lung47. Da Anastasios Gott vollkommen versöhnen wollte, ließ er alle Steuerlisten sorgfältig im ganzen Lande suchen, verbrannte sie und streute ihre Asche ins Meer. Wieder werden Feuer und Wasser zur sakral-magischen Beseitigung ver­ wendet. Die religiös geprägte Gemeinschaft, die der Staat in der Antike und im Mittelal­ ter war, schützte sich durch die Verbrennung eines literarischen Werkes, das die religiösen Grundlagen der Gemeinschaft zu erschüttern schien, vor dem drohen­ den Zorn der Gottheit. Die Bücherverbrennung war so zunächst kein Ausdruck 42 Lucian. Alexandr. 47: ö xaiäpaTOg; vgl. ebd. 25. 45 f. 43 Zur Verbrennung des Verfluchten und Frevlers vgl. F. Sturm, Symbolische Todesstrafen = Kriminologische Schriftenreihe 5 (Hamburg 1962) 98/100 (zum Alten Testament). 119/22 (in Rom). 173/7 (während des Mittelalters). 44 Beispiele nennen A. Dieterich, Nekyia. Beiträge zur Erklärung der neuentdeckten Petrusapokalypse 2(Leipzig 1913, Nachdruck Darmstadt 1969) 198 f. und Thulin a.O. (s. o. Anm. 38) 118/ 23; ferner lul. Obs. prod. lib. 26; Lact. mort. pers. 21, 11; Amm. Marc. 22, 11, 9f. — Von Kaiser Titus heißt es bGitt. 57a 2(6, 368 Goldschmidt): «Jeden Tag wird meine Asche gesammelt, und nachdem ich abgeurteilt werde, wieder verbrannt und auf die sieben Meere gestreut.» 45 Ael. frg. 39 (2, 201 Hercher) = Suda s. v.’Ejuxovpog: 2, 363, 29 Adler: kupdicov xivüv xai, xaOappäxajv

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Abb. 3: Raffael, Stanza della Segnatura, Sockelbild (Grisaille) unter dem «Parnass»: Augustus verhin­ dert die Verbrennung von Vergils Aeneis (vgl. W. Kelber, Raphael von Urbino3 [Stuttgart 1979] 312. 467 und Abb. 187).

lichten Zustand des Gedichtes an294. Über die wahren Gründe, die den Dichter zu diesem verzweifelten Entschluß bestimmten, sind nur Vermutungen möglich. Vielleicht war es sein überaus empfindliches künstlerisches Gewissen, das ihm die Vernichtung der Aeneis nahelegte295. Augustus setzte sich über die letzte Verfü­ gung des Dichters hinweg und erhielt dieses Werk der Menschheit (Abb. 3)196. Die Behauptung Ovids, er habe, als ihn der Verbannungsbefehl des Princeps traf, seine Metamorphosen verbrannt, von denen jedoch bereits angeblich unver­ besserte Abschriften umliefen, unterliegt starken Bedenken. Als Gründe nennt der Dichter seinen Überdruß über die Musen, da sie den Inhalt seines Vergehens

294 Donat. vita Verg. 39/41 Hardie; Serv. vita Verg. 28 f. H.; Vita Probiana 22 f.; vgl. Plin. nat. hist.

7,114; Sulpicius Apollinaris: Anth. Lat. 653 praef. und ebd. im Apparat von A. Riese; Gell. noct. Art. 17, 10, 7; angeblich nach Favorinus (vgl. aber A. Barigazzi in seiner Favorinus-Ausgabe [Firenze 1966] 122/4); Macrob. Sat. 1, 24, 6; Anth. Lat. 242 (dazu F. W. Lenz, Über die Problematik der Echtheitskritik: Das Altertum 8 [1962] 218/28, bes. 223/5). 672; vgl. Comparetti a.O. (s.o. Anm. 266) 1, 184f. 295 Vgl. aber auch W. Hartke, Römische Kinderkaiser (Berlin 1951) 88 f.; ferner K. Büchner, P. Vergilius Maro: RE 8A, 1 (1955) 1060f. 296 Vgl. Plin. nat. hist, 7, 114: divus Augustus carmina Vergilii cremari contra testamenti eius verecundiam vetuit... (zum juristischen Gesichtspunkt vgl. V. Scialoia, II testamento di Virgilio: Athenaeum N.S. 8 [1930] 168/73).

4. Die Vernichtung durch den Verfasser

95

verschuldet haben — damit meint er aber in Wirklichkeit seine Liebesdichtungen — und den unvollendeten Zustand der Metamorphosen297. Vor seinem Aufbruch in die Verbannung will er in seiner Verzweiflung noch andere Dichtungen verbrannt haben298. Auch in Tomis behauptet er, Verse dem Feuer übergeben zu haben299. In seiner Niedergeschlagenheit wünscht der Dichter, daß doch seine Ars amandi zu Asche geworden wäre, weil sie ihn so tief ins Unglück gestürzt habe300. Litera­ risches Spiel und Ernst gehen hier ineinander über. Augustus vernichtete seine Tragödie Aiax, da sie ihm stilistisch nicht genügte. Den Freunden, die sich nach dem Fortgang der Dichtung erkundigten, sagte er witzig: Sein Aiax habe sich in den Schwamm gestürzt301. Seneca versuchte in späteren Jahren vergeblich seine Consolatio ad Polybium zu unterdrücken, da er sich wegen der hier vorgebrachten Schmeicheleien gegenüber dem Freigelassenen des Kaisers Claudius schämte302. Der Verfasser der Carmina Einsidlensia ver­ steigt sich in seiner Huldigung der dichterischen Gaben Neros so weit, daß er behauptet, Vergil selbst werde beschämt seine Gedichte vernichten303. Hier ist der Gedanke der Büchervernichtung für die Topik der Hofdichtung fruchtbar ge­ macht. Quintilian erwog aus Kummer über den Tod seines zweiten Sohnes, die noch unvollendete Institutio oratoria und seine anderen Schriften auf dem Schei­ terhaufen seines Kindes mitzuverbrennen304. Andere wohl nur literarisch gemein297

Ov. trist. 1, 7,11/24, bes. 21 f.: vel quod eram Musas, ut crimina nostra, perosus, / vel quod adhuc crescens et rüde carmen erat; vgl. ebd. V. 35/40; E. Martini, Einleitung zu Ovid (Wien 1933, Nachdruck Darmstadt 1970) 39; Kraus a.O. (s.o. Anm. 271) 120/2; G. Luck im Kommentar zu den Tristien Ovids (Heidelberg 1977) 65 f.; allzu zuversichtlich H. Fränkel, Ovid. Ein Dichter zwischen zwei Welten, deutsche Übersetzung (Darmstadt 1970) 124 f. 298 Ov. trist. 4, 10, 61/4: multa quidem scripsi, sed quae vitiosa putavi, / emendaturis ignibus ipse

dedi. / tune quoque, cum fugerem, quaedam placitura cremavi, / iratus Studio carminibusque meis. 299 Ebd. 4, 1, 101/4: saepe manus demens, studiis irata sibique, / misit in arsuros carmina nostra

rogos...; 5,12, 61/6: scribimus et scriptos absumimus igne libellos: / exitus est studii parva favilla mei...; vgl. Frankel a.O. 145 und Luck a.O. 64f. 300 Ov. trist. 5,12, 67f.: sic utinam quae nil metuentem tale magistrum / perdidit, in cineres Ars mea versa foret. 301 Suet. Aug. 85, 2: tragoediam magno impetu exorsus [sc. Augustus], non succedenti stilo, abolevit quaerentibusque amicis, quidnam Aiax ageret, respondit Aiacem suum in spongiam incubuisse; vgl. Macrob. Sat. 2, 4, 2. 302 Dio Cass. 61,10,2; vgl. E. Bickel, Besprechung von W. Isleib, De Senecae dialogo undecimo qui



i

est ad Polybium de consolatione, Diss. Marburg (1906): Berl. Philol. Wochenschrift 28 (1908) 908/13, bes. 908/10. 303 Carm. Einsidl. 1, 49: et ipsa suas delebat Mantua [id est Vergilius] cartas (dazu D. Korzeniewski, Hirtengedichte aus neronischer Zeit [Darmstadt 1971] 80. 113). Vgl. auch Pers. 1, 96 f. und dazu die Deutung von R. C. Kukula, Persius und Nero (Graz 1923) 86 f. 304 Quint, inst. or. 6 praef., bes. 3: unum igitur Optimum fuit, infaustum opus et quidquid hoc est in me infelicium litterarum super immaturum funus consumturis viscera mea flammis inicere ... (zu dieser Formulierung vgl. Ov. trist. 1, 7, 19 f.).

96

B. I. Die Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Griechen und Römern

te Zeugnisse sprechen davon, daß dem Dichter oder Musiker seine Werke mit auf den Scheiterhaufen gelegt wurden305. In literarisch-witziger Weise spricht Martial davon, daß er seine Gedichte den Nymphen und damit dem Untergang durch Wasser geweiht habe306. Als der junge Marcus Aurelius zwei Reden des Cato Censonus gelesen hatte, war er so tief beeindruckt, daß er eine kleine eigene Schrift, die er danach verfaßte, zu vernichten gedachte307. Der Neuplatoniker Marinos verbrannte voll Unmut seine Schrift, nachdem ihn sein Schüler und Nachfolger in der Leitung der Akademie, Isidoros, getadelt und bemerkt hatte, sein Kommentar zum platonischen Philebos enthalte nichts, das nicht schon Pro­ klos in seinem Kommentar dargelegt habe308.

5. Die Vernichtung

durch den

Widmungsempfänger

Seitdem es Dichter- und Literaturkreise sowie ein entsprechend gebildetes Pu­ blikum gab, an das sich die gelehrten Dichter und Schriftsteller wendeten, also seit hellenistischer Zeit, begegnet die Aufforderung, der Widmungsempfänger möge das ihm zugeschickte Werk von allen inhaltlichen oder stilistischen Män­ geln reinigen oder aber im Fall einer gänzlich negativen Kritik es vernichten. In vielen Fällen wird diese meist in der Vorrede oder im Begleitschreiben vorgetrage­ ne Bitte nur als ein Topos der affektierten Bescheidenheit zu bewerten sein. Manchmal kann eine derartige Bitte aber auch einen durchaus realen Hinter­ grund gehabt haben. Diesen Fragen kann in diesem Zusammenhang nicht im einzelnen nachgegangen werden; nur einige Hinweise seien dazu mitgeteilt. Um Topos und geschichtliche Wirklichkeit voneinander zu unterscheiden, feh­ len uns oft, aber nicht immer, die Mittel309. Bei Cicero, der Atticus mehrfach um 305

Prop. 2, 13, bes. V. 25 vgl. ferner Lukillios: Anth. Pal. 11, 133 und Hör. sat. 1, 10, 61/4; dazu Speyer, Bücherfunde 45 f.; ferner Ov. trist. 1, 7, 37f.: haec [sc. Metamorphoses] non sunt edita ab ipso [sc. Ovidto], / sed quasi de domini funere rapta sui. — Auf den Scheiterhaufen Shelleys wurde «das einzige Exemplar von Keats’ letztem Band, das in Italien zu haben war, in die Flammen geworfen» (E. Blunden, Shelley, deutsche Übersetzung [Düsseldorf 1948] 447). 306 Mart. 9, 58. 307 Marc. Caes. bei Fronto epist. 4, 5, 3 (62 van den Hout): sed ego orationibus bis [sc. Catonis] perlectis paululum misere scripsi, quod aut Lymphis aut Volcano dicarem: äXqüwg diuxcog otijaeqov YEyQOjvrat pot, venatons plane aut vindemiatoris studiolum, qui iubilis suis cubiculum meum perstrepunt, causidicali prosum odio et taedio. 308 Damasc. vita Isid. frg. 90 (66 f. Zintzen); Suda s.v. Maplvog: 3, 324 Adler. - Anhangsweise sei auf einen berühmten Fall der Renaissance hingewiesen: Zu Petrarca und seinem Epos ‘Africa’ vgl. G. Boccaccio, carm. ad ‘Africam’ dom. f. Petrarce, hrsg. von A. F. Massera, G. Boccaccio, Opere latine minori (Bari 1928) 100/5. Am Schluß, V. 179/81, wies Boccaccio auf Vergils Wunsch hin, die Aeneis zu verbrennen (vgl. A. S. Bernardo, Petrarch, Scipio and the ‘Africa’ [Baltimore 1962] 172f.).

III

5. Die Vernichtung durch den Widmungsempfänger

97

Korrektur gebeten hat, war diese Bitte durchaus ernst gemeint310. Das gleiche gilt für die Kreise des Horaz und Ovid. Für sie war es üblich, die neuen Erzeugnisse ihrer Muse kenntnisreichen Dichterfreunden und literaturkundigen Persön­ lichkeiten vorzulesen und um Verbesserungen zu bitten, wozu natürlich auch Streichungen gehörten311. Nach der Überlieferung hat Lukan vor seinem gewalt­ samen Ende die unverbesserten Schriften seinem Vater bzw. seinem Onkel Seneca zur Überarbeitung übergeben312. Auch für Plinius den Jüngeren ist bei vergleich­ baren Bemerkungen mit einem realen Hintergrund zu rechnen313. Anders aber sind folgende Fälle zu beurteilen: Im erfundenen Brief des Pherekydes von Syros bittet der Theologe vor seinem Tod Thales und die übrigen Weisen, seine Schriften nur dann zu veröffentlichen, wenn sie diese für wert erachten314. Martial stellt es dem gelehrten Apollinaris frei, sein Gedichtbuch, wenn es ihm nicht zusagt, den Fischhändlern zu bringen315. Ähnlich überläßt ein Dichter der Epigrammata Bobiensia dem Konsul Nonius Atticus die Entschei­ dung, die zugesandten Gedichte den großen alten Dichtern einzureihen oder den Krämern von Räucherwerk als Einwickelpapier zu überlassen316. Wenn Ausonius seinen Ludus septem sapientum dem Proconsul Latinius Pacatus Drepanius mit der Bitte zuschickt, wie ein Aristarchos oder Zenodotos das kritische Zeichen des Obelos zu setzen, oder wenn Sidonius Apollinaris den Sohn des Konsuls Magnus, Probus, bitten läßt, das vernichtende Theta, also den Buchstaben des Todes



ii

J

I

309

Vgl. Jachmann, Problem 50/62. 310 Beispielsweise Cic. ad Att. 1, 14, 3; 13,37, 3. 48, 2; vgl. L. Haenny, Schriftsteller und Buchhänd­ ler in Rom, Diss. Zürich (Halle 1884) 9/15; W. Kroll, Studien zum Verständnis der römischen Literatur (Stuttgart 1924, Nachdruck Darmstadt 1964) 121; G. Bernt, Das lateinische Epi­ gramm im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter (München 1968) 25. — Vgl. Cic. ad Att. 15, la, 2: Brutus noster misit ad me orationem suam habitam in contione Capitolina petivitque a me ut eam ne ambitiöse corrigerem ante quam ederet (darauf spielt Marc. Aurel, bei Fronto ep. 3, 15 [van den Hout 47] an); vgl. ad Att. 15, 4, 3. 3,1 Vgl. Hör. ars 438/50, bes. 445/5: vir bonus et prudens versus reprendet inertis, / culpabit duros, incomptis adlinet atrum / transverso calamo signum, ambitiosa recidet / ornamenta, parum Claris lucem dare coget, / arguet ambigue dictum, mutanda notabit, / fiet Aristarchus ... In diesen Versen weist Horaz auch auf seinen Freund Quintilius Varus aus Cremona hin (vgl. C. O. Brink, Horace on Poetry 2 [Cambridge 1971] 412/9). Weitere Beispiele nennen Kroll a.O. 121/3 und Schanz/

312 313 314 315 3,6

Hosius 2, 278. Suet. vita Lucan.: 333 Hosius; Vita cod. Voss. II: 337 Hosius. Z.B. Plin. epist. 3, 13, 5; 3, 15; 7, 17. 20; 9, 26, 5/7; vgl. Kroll a.O. 123. Diog. Laert. 1, 122. Mart. 4, 86. Epigr. Bob. 56; dazu W. Speyer, Naucellius und sein Kreis. Studien zu den Epigrammata Bobiensia = Zetemata 21 (München 1959) 79/81; ferner ein Virgilius, der Dichter des Paedagogus: AL 675,1/4; zu ihm M. Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters 1 = HdA 9, 2 (München 1911, Nachdruck ebd. 1965) 276 Anm. 5.

j h

98

B. I. Die Büchervernichtung und Zensur des Geistes bei Griechen und Römern

(Oavaiog) anzubringen, so sind auch diese Aufforderungen nur als literarische Scherze gedacht, nicht anders als wenn Martial in einem Epigramm behauptet, er habe den Schwamm gleich zum Gedichtbuch mitgeschickt, damit Faustinus das Ganze auf einmal ‘verbessern’ könne317. Sehr persönlich gewendet begegnet dieses Motiv bei Properz: Die verstorbene und ins Elysium entrückte Geliebte Cynthia erscheint dem Dichter und befiehlt ihm, alle auf sie geschriebenen Gedichte zu verbrennen318. Das Motiv der Palinodie ist hier durch das der gänzlichen Vernichtung der unangemessenen Dichtung Überboten.

6. Die

private

Vernichtung

fremder

Werke

a. Die Vernichtung durch Schriftsteller und Künstler

Aufgrund eines literaturkritischen Urteils, manchmal aber auch aus Neid wünschten oder verhießen einzelne Schriftsteller den Werken ihrer Mitbewerber oder früherer Autoren den Untergang oder vernichteten sie selbst. Geschichtlich unbegründet war wohl die Behauptung des Aristoxenos, Platon habe Demokrits Werke verbrennen wollen319. Ein Pantomime, der ohne Erfolg den Mythos der Temeniden — wohl nach der Darstellung des Euripides — getanzt hat, ruft in einem Epigramm des Dioskorides (um 250 v. Chr.) unwillig aus: «Wandert ins Feuer,

317

Auson. lud. sept. sap. 1, 1/18 (138 f. Prete); Sidon. Apoll, carm. 9, 332/5. Zum Obelos vgl. Speyer, Fälschung, Reg. s.v.; zum Theta nigrum F. J. Dölger, Der Stempel mit Pentagramm, 0 und YTIEIA im Historischen Museum zu Basel: ders., Antike und Christentum 1 (Münster 1929, Nachdruck ebd. 1974) 47/53 und ders., Echo aus Antike und Christentum: ebd. 3 (1932, Nachdruck 1975) 221 sowie Brink a.O. 417. — Mart. 4, 10, 5/8: ... comitetur Punica librum / spongia: muneribus convenit illa meis. / non possunt nostros multae, Faustine, liturae / emendare iocos: una litura potest. — Ausonius hat mehrfach spielerisch seine Adressaten darum gebeten, Tod oder Leben über das zugesandte Werkchen zu verhängen (vgl. die Stellen bei Schanz/Hosius 4, 1, 25; Pasquali 411 f. und Jachmann, Problem 58/62). Hingegen wird er die Gedichte seines Schülers Paulinus von Nola wohl verbessert haben: Auson. epist. 21 (268 Prete); vgl. Jach­ mann, Problem 59 Anm. 14. - Zum Topos in der Renaissance vgl. beispielsweise den Humani­ sten Johannes Murmellius, ad Waltherum Tangherium hendecasyllabi V. 5/14, hrsg. von A. Bömer, Ausgewählte Werke des Münsterischen Humanisten Johannes Murmellius 3 (Münster 1893) 4. 318 Prop. 4, 7, 77f.: et quoscumque meo fecisti nomine versus, / ure mihi: laudes desine habere measl; dazu Stroh a.O. (s.o. Anm. 293) 176/86, bes. 18If. und A. La Penna in seiner Rezension dieses Buches: Gnomon 47 (1975) 139. 319 Aristox. frg. 131 Wehrli (= Diog. Laert. 9, 40); s.o.S. 87.

6. Die private Vernichtung fremder Werke

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Heroentaten!» Entweder ist dieses Wort nur bildlich zu verstehen, oder aber der Pantomime dachte an sein Libretto320. Von den Römern ist nach unserer Überlieferung zunächst Catull zu nennen. Den heute nicht mehr vorhandenen Annalen des Volusius verheißt er den Unter­ gang beim Fischhändler, und, nicht genug damit, er behauptet, sie wegen ihrer Wertlosigkeit ins Feuer geworfen zu haben321. Martial wünscht den zahlreichen schlechten Gedichten eines zeitgenössischen Dichterlings, dem er den Decknamen Ligurinus gab, den Untergang als Einwickelpapier für Makrelen322. Einem Dich­ ter, der die Tragödien Medea, Thyestes, Niobe und Andromache verfaßt hat und der ßassus genannt wird, empfiehlt Martial spöttisch, sie Deukalion oder Phaethon zu übergeben323. Wenig schmeichelhaft ist auch sein Epigramm auf ein Buch des Dichters und Redners C. Licinius Calvus324. Galenos forderte seine literari­ schen Gegner auf, ihre Bücher dem Feuer zu übergeben; andernfalls werde die Zeit sie schon zerstören; niemand werde sie abschreiben, sondern jeder sie als Papier für den täglichen Gebrauch verwenden325.

b. Die Vernichtung durch Angehörige des Verfassers

Als literarisches Motiv begegnet der Gedanke, daß die Geliebte des Dichters aus Schmerz und Ärger über die beleidigenden Verse ihres eifersüchtigen Dichter­ freundes diese verbrannt oder ins Wasser geworfen hat oder dies tun will. Sehr kunstvoll hat Catull dieses Motiv gewendet, indem er stellvertretend für die Geliebte nicht seine Verse, sondern die Annalen des Volusius dem Hephaistos

320 Dioscor.: Anth. Pal. 11, 195: dazu O. Weinreich, Epigramm und Pantomimus = SbHeidelberg

1944/48, 1 (Heidelberg 1948) 11/39, bes. 22: «Nichts hindert uns, anzunehmen, daß der Tänzer über ein kurzes Merkbuch oder über ein Textbuch für die etwa von begleitenden Sängern vorzu­ tragenden Teile des Euripidestextes oder über ein Notenheft für die bei jeder virtuosen öpxqotg vorauszusetzende Flötenmusik verfügte». 321 Cat. 95, 7f.: at Volusi annales Paduam morientur ad ipsam / et laxas scombris saepe dabunt

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tunicas; 36, 18/20: at vos interea venite in ignem, / pleni ruris et inficetiarum / annales Volusi, cacata carta. Zu Volusius vgl. Bardon 1, 264f. 362 und M. G. Morgan, Catullus and ehe Annales Volusi: Quaderni Urbinati di Cult. Class. 33 (1980) 59/67. 322 Mart 3, 50. 323 Ebd. 5, 53 (dazu Lukillios: Anth. Pal. 11, 214); vgl. Bardon 2, 216. 324 Mart. 14, 196: Calvi de aquae frigidae usu. Haec tibi quae fontes et aquarum nomina dicit, / ipsa 315

suas melius charta natabat aquas; vgl. Schanz/Hosius 1, 290; Bardon 1, 34If. Galen, adv. eos qui de typis scrips. 6 (7, 507 Kühn).

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übergibt. Der Scherz überwiegt in diesem Gedicht den Ernst326. Nicht ohne Kenntnis dieser Verse scheint Horaz den Anfang seines 16. Liedes des ersten Odenbuchs geschrieben zu haben. Auch hier ist von Schmähgedichten des Dich­ ters die Rede, die seine Geliebte nach Wunsch ins Feuer oder in die Adria (!) werfen soll32'. Aus persönlichen, manchmal auch aus politischen und anderen Gründen haben die Angehörigen bekannter Schriftsteller noch unveröffentlichte Manuskripte vernichtet. Die Geschichtlichkeit folgender Nachricht über den Nachlaß des Empedokles ist freilich ganz ungewiß: «Die Schwester oder, nach Hieronymus [von Rhodos], die Tochter des Empedokles hat den Hymnus auf Apollon unfreiwillig verbrannt, dagegen die Persica, die den Zug des Xerxes zum Inhalt hatten, frei­ willig, da sie noch unvollendet waren»328. Ob Empedokles überhaupt diese Wer­ ke geschrieben hat, ist mehr als zweifelhaft. Der unvollendete Zustand eines literarischen Werkes mag aber auch bei den Griechen zur Vernichtung geführt haben329. — Die Mutter des A. Persius Flaccus vernichtete nach dem frühen Tod ihres Sohnes (4. XII. 34 — 24. XL 62) auf Anraten des Lehrers und stoischen Philosophen L. Annaeus Cornutus alle Schriften außer den heute noch erhaltenen sechs Satiren330. Vielleicht hat zu diesem Entschluß auch die Angst vor möglichen Nachstellungen Neros beigetragen. Persius hatte unter anderem Verse auf die vielgepriesene ältere Arria geschrieben, deren stolzes, von stoischem Geist ge­ prägtes Wort vor ihrem durch Kaiser Claudius erzwungenen Tod: «Non dolet, Paete» zu den beispielhaften Aussprüchen der Römer zählt331. Wenn in der Vita und vom Scholiasten berichtet wird, Persius habe in seiner ersten Satire Nero verhöhnt, Cornutus aber habe die deutlichste Anspielung vor der Herausgabe der Gedichte durch Caesius Bassus getilgt, so werden diese Nachrichten heute be-

326 Catull. 36; vgl. V. 3/10: nam sanctae Veneri Cupidinique / vovit [sc. mea puella], si sibi restitutus

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essem / desissemque truces vibrare iambos, / electissima pessimi poetae / scripta tardipedi deo daturam / infelicibus ustilanda lignis. / et hoc pessima se puella vidit / iocose lepide vovere divis; dazu vgl. W. Kroll im Kommentar 3(Stuttgart 1959) 66/9; H. Lackenbacher, Das 36. Gedicht des Catull: Wien. Stud. 53 (1935) 156/9; V. Buchheit, Catulls Dichterkritik in c. 36: Hermes 87 (1959) 309/27 und die Literatur bei Morgan a.O. 59 f. Hör. carm. 1, 16, 1/4: o matre pulcra filia pulcrior, / quem criminosis cumque voles modum / pones iambis, sive flamma / sive mari Übet Hadriano; vgl. R. G. M. Nisbet/M. Hubbard, A Commentary on Horace, Ödes Book 1 (Oxford 1970) 204 f. Aristot. frg. 70 Rose (= Diog. Laert. 8, 57); vgl. Hieron. Rhod. frg. 30 Wehrli. Zu Rom s.o.S. 93 f. Prob, oder Suet. vita Pers.: 59, 20/3 Jahn/Bücheler: scripserat in pueritia Flaccus etiam praetextam et hodoeporicon librum unum et paucos in socrum Thraseae in Arriam matrem versus, quae se ante virum occiderat. omnia ea auctor fuit Cornutus matri eius ut aboleret. Zum Ausspruch Arrias: Mart. 1, 13; Plin. epist. 3, 16.

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zweifelt332. Cornutus soll auch noch andere Änderungen und Tilgungen an den noch vorhandenen sechs Satiren vorgenommen haben333. Aus Eifersucht, Rache oder Habsucht wurden manchmal persönliche Papiere und Testamente von Angehörigen verbrannt. Eine derartige Szene, die aus dem Leben gegriffen ist, schildert Apuleius in seinen Metamorphosen 334. - Wer das Testament eines anderen verbrannte, wurde als Fälscher verurteilt335. Der Rechts­ gelehrte Gaius betont die Gültigkeit von Testamenten, die der Erblasser selbst vernichtet oder verbrannt hat. Allerdings, so betont er, sei dafür der Beweis nur schwer zu erbringen336.

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c. Die Vernichtung infolge gelehrter und pseudogelehrter Tätigkeit Der Anteil der antiken Grammatiker, Philologen, Herausgeber, Bearbeiter und Leser an der Erhaltung und den Verlusten der griechischen und lateinischen Literatur ist nicht mehr genau zu ermitteln. Dafür reichen unsere erhaltenen Quellen nicht aus. Die Tatsache, daß gelehrte und mehr noch pseudogelehrte Arbeit an literarischen Texten zu Verlusten geführt hat, darf aber nicht gering eingeschätzt werden. Das nur handschriftlich vervielfältigte antike Buch in Rol­ len- oder in Kodexform erlaubte es dem Abschreiber, aber auch dem Leser, Änderungen, seien es Erweiterungen oder Kürzungen, am überlieferten Textbe­ stand vorzunehmen. Wie weit aber die einzelnen aus der Antike überlieferten literarischen Texte durch Herausgeber und Leser in ihrem Bestand verändert und

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332 Prob, oder Suet. vita Pers.: 59f. Jahn/Bücheler: ... ut etiam Neronem ... inculpaverit [sc.

Persius], cuius versus in Neronem cum ita se haberet ‘auriculas asini Mida rex habet’, in eum modum a Cornuto ipso tantum nomine mutato est emendatus ‘auriculas asini quis non habet?’ ne hoc in se Nero dictum arbitraretur; entsprechend Schol. 1, 121 (13 Jahn/Bücheler). In diesem Sinn versuchte R. C. Kukula, Persius und Nero (Graz 1923), die erste Satire als Streit- und Schmähschrift gegen Nero und Seneca zu deuten. Vgl. aber J. C. Bramble, Persius and the

Programmatic Satire (Cambridge 1974) 137. 333 Prob, oder Suet. vita Pers.: 59, 16/9: hunc ipsum librum inperfectum reliquit [sc. Persius], versus aliqui dempti sunt ultimo libro, ut quasi finitus esset, leviter conrexit Cornutus ... 334 Apul. met. 8, 22, 2f.: ... quo dolore paelicatus uxor teius [sc. servi cuiusdam vilici] instricta cunctas mariti rationes ... admoto combussit igne. 335 Petilianus bei Aug. c. litt. Pet. 2, 8, 17 (CSEL 52, 29 f.): si hominis mortui testamentum flammis incenderes, nonne falsarius punireris? 336 Gaius, inst. 2, 151 (109 f. David/Nelson): potest ut iure facta testamenta nuda voluntate infirmenrur. apparet non posse ex eo solo infirmari testamentum, quod postea testator id noluerit valere, usque adeo ut si linum eius inciderit, nihilo minus iure civili valeat. quin etiam si deleverit quoque aut conbusserit tabulas testamenti, non ideo [minus] desinent valere, quae ibi fuerunt

scripta, licet eorum probatio difficilis sit.

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entstellt worden sind, darüber lassen sich oft nur Vermutungen äußern. Einmal sind die spärlichen und entlegenen unmittelbaren Nachrichten über eine derartige Tätigkeit bisher nicht hinreichend gesammelt und gesichtet worden, zum anderen aber bleiben die aufgrund inhaltlicher, stilistischer und verstechnischer Anstöße gewonnenen Ergebnisse über die Tätigkeit der antiken Herausgeber und Bearbei­ ter deshalb strittig, weil sie vom subjektiven Ermessen des jeweiligen modernen Literaturkritikers wesentlich mitgeprägt sind. Dies beweist zu Genüge der wissen­ schaftliche Streit um die Frage, ob eine vorliegende Textabweichung eine Urva­ riante darstellt, also auf den Verfasser der jeweiligen Schrift zurückgeht, oder aber auf einen späteren Bearbeiter, einen Diaskeuasten oder Diorthoten337. Eine ins einzelne gehende Darstellung dieses Fragenkreises erforderte mehr als nur eine Monographie, wie das philologische Lebenswerk G. Jachmanns lehren kann338. Die alexandrinischen Philologen zur Zeit der Ptolemäer haben in ihren gelehr­ ten Ausgaben die schlechtbezeugten, zweifelhaften, unechten oder dittographischen Textstellen in der Regel nicht einfach ausgelassen, sondern durch bestimm­ te kritische Zeichen als nicht authentisch kenntlich gemacht339. So benutzte Aristarchos von Samothrake für die Athetese, die Ungültigkeitserklärung, den voran­ gestellten waagerechten Strich, den Obelos. Wahrscheinlich hat bereits Zenodotos aus Ephesos dasselbe Zeichen verwendet340. Im Fall der Athetese blieb der verurteilte Vers im Text. Die alexandrinischen Gelehrten haben nämlich genau zwischen der Ungültigkeitserklärung (öOeteIv) und der gleichfalls von ihnen geübten Auslassung von Versen (z. B. oü ypacpEtv) oder Tilgung (z. B. öiaypdtpEiv, ^aÄEicpEiv u. a.) unterschieden 341. Während die alexandrinischen Gelehr­ ten und einzelne ihnen nachstrebende römische Grammatiker nach philologi-

337 Vgl. Emonds, Reg. s.v. ‘Interpolation und doppelte Autorenrezension’; Jachmann, Problem;

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Pasquali; H. Dahlmann/R. Merkelbach (Hrsg.), Studien zur Textgeschichte und Textkritik. (Festschrift G. Jachmann) (Köln-Opladen 1959). Von den Arbeiten G. Jachmanns und seiner Schüler seien genannt: G. Jachmann. Eine Elegie des Properz. Ein Oberlieferungsschicksal: Rhein. Mus. 84 (1935) 193/240; Binneninterpolation 1.2 = NachrGöttingen Altertumswiss. NF 1 (1934/36) 123/44. 185/215; Studien zu Juvenal: NachrGöttingen (1943, 6) 187/266; S. Mendner, Der Text der Metamorphosen Ovids (Bochum 1939); U. Knoche, Handschriftliche Grundlagen des Juvenaltextes = Philol. Suppl. 33, 1 (Leip­ zig 1949). Vgl. Bibliographie G. Jachmann (Köln 1962). — Zur Kritik dieser Forschungsrichtung vgl. M. Coffey, Juvenal. Report for the Years 1941—1961: Lustrum 8 (1963) 161/215, bes. 172f. Vgl. A. Gudeman, Kritische Zeichen: RE 11,2 (1922) 1916/27, bes. 1920f.; Pasquali, Reg. s.v. ‘obelo’; Speyer, Fälschung, Reg. s.v. ‘Obelos*. Vgl. K. Nickau, Untersuchungen zur textkritischen Methode des Zenodotos von Ephesos = Un­ tersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 16 (Berlin 1977) 6/19: «Zur Terminologie der Berichte über Zenodots Versauslassungen und Athetesen». Zu den verwendeten Termini vgl. Nickau 25/30.

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sehen Grundsätzen bei ihrer Kritik der Echtheit der literarischen Überlieferung verfuhren und den überlieferten Textbestand nicht leichtsinnig veränderten, ha­ ben andere antike Herausgeber, Bearbeiter und Leser nicht mehr die kritischen Zeichen benutzt, sondern den Text nach ihrem Gutdünken zurechtgerückt342. Wenn antike Grammatiker, Herausgeber oder Leser einzelne Verse, Sätze oder auch größere Abschnitte tilgten, so glaubten sie sich dazu aus verschiedenen Gründen berechtigt. Sehr oft griffen sie ein, um eine tatsächliche oder scheinbare Schwierigkeit des Textverständnisses zu beheben. Sodann änderten sie am Text­ bestand, um tatsächliche oder scheinbare Widersprüche im übrigen Werk auszu­ schalten oder stilistische Anstöße zu beseitigen. Auch die Gesichtspunkte der sprachlich-ästhetischen und sittlichen Dezenz sowie der Theologie und Ethik führten zu Eingriffen in den Text. In allen diesen Fällen konnte die Tilgung neben Neudichtung oder variierender Umdichtung als Lösungsweg gewählt werden343. Wurden die Werke eines Schriftstellers aus dem Nachlaß herausgegeben, so hat der Herausgeber bisweilen einzelnes aus stilistischen Überlegungen oder aus per­ sönlichen und politischen Gründen getilgt und vernichtet. Ein Beispiel bildet der Nachlaß des jung verstorbenen Dichters Persius aus neronischer Zeit344. Das Urteil der antiken Gelehrten über die Echtheit oder Unechtheit einer Schrift wird nicht immer ohne Folgen für ihre weitere Überlieferung geblieben sein345. Mit der Echtheitskritik war unmittelbar eine qualitative Einstufung der erhaltenen Literatur durch die antiken Philologen verbunden346. Das Ziel war ein Kanon anerkannter und damit vorbildlicher Schriftsteller und ihrer Werke. Wer nicht zum Kanon gehörte, fiel bald der Geringschätzung und Vergessenheit an­ heim; denn nur kanonische Schriftsteller wurden als Lernstoff in der Schule des

342 Vgl. Jachmann, Elegie 210/28. 343 Vgl. ebd. 207: «Es hat sich mir eine ungemein wichtige Quelle zu Interpolationen ergeben, nämlich das Bestreben, Namen zu Personen oder Dingen mythologischer, historischer oder geo­ graphischer Art, die sich im Text vorfanden, zu beseitigen oder auch durch andere, allgemein bekannte zu ersetzen»; es folgen Beispiele. Zur Tilgung von ‘Katalogen’ ebd. 228/31. S. ferner o.S. 86 und u.S. 104f. 344 Prob, oder Suet. vita Pers.: 59, 16/9 (s.o. Anm. 333). 345 Beispiele sind das Corpus der Isokrates-Reden und der Plautus-Komödien. Die von den antiken Echtheitskritikern ausgeschlossenen Stücke wurden weniger gelesen und abgeschrieben. Schließ­ lich gingen sie gänzlich zugrunde (vgl. Pasqüali 301. 350/3). — Vgl. auch Quint, inst. or. 1, 4, 3: quo [sc. iudicioj quidem ita severe sunt usi veteres grammatici, ut non versus modo censoria quadam virgula notare et libros, qui falso viderentur inscripti, tamquam subditos submovere familia permiserint sibi, sed auctores alios in ordinem redegerint, alios omnino exemerint numero (dazu Blum 20 Anm. 17). Zur Unechtheitserklärung durch die antiken Gelehrten vgl. Speyer, Fälschung 112/28. 181/6; Blum, Reg. s.v. ‘Literarkritik (Echtheitskritik)’. 346 Vgl. Quint, inst. or. 1, 4, 3.

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Grammatikers und Rhetors gelesen34'. Manches antike Werk ist aber auch trotz überaus anerkennender Beurteilung durch die antiken Literaturkritiker zugrun­ degegangen348. Der Zufall hat bekanntlich gerade in der Überlieferungsgeschichte der antiken Literatur sein Spiel getrieben.

d. Die Vernichtung aus Gründen der Dezenz

Sehr uneinheitlich lautet das Urteil über den Anteil der Christen an der Erhal­ tung oder Vernichtung der sogenannten obszönen Literatur. Hatte J. N. Madvig behauptet, die Mönche hätten stets alles Schmutzige in den Texten mitabge­ schrieben, so erklärte Renata von Scheliha, daß die Christen am Ende des Alter­ tums Dichtungen, in denen Homosexualität und Knabenliebe verherrlicht wur­ den, beseitigt hätten349. Da zu einer sachgemäßen Beantwortung dieser Frage sorgfältige Untersuchungen der handschriftlichen Überlieferung der in Betracht kommenden Literatur anzustellen sind, die im Rahmen dieser Darstellung nicht vorgelegt werden können, seien hier nur einige Hinweise gegeben. Zunächst ist daran zu erinnern, daß, wie G. Pasquali bereits hervorgehoben hat, Prüderie nicht erst eine christliche Erscheinung ist350. Römische Dichter haben ihre lasziven Verse mit Entschuldigungen begleitet. Sie wollten dem Ein­ druck begegnen, als ob ihr persönliches Leben mit dem Inhalt ihrer lockeren

347 Vgl. Horazens Brief an Augustus und Ars poetica, Quintilians Institutio oratoria (bes. 1, 8, 5/12;

10, lf.). — U. von Wilamowitz, Die griechische Literatur des Altertums: Die griechische und lateinische Literatur und Sprache = Die Kultur der Gegenwart 1, 8 3(Leipzig-Berlin 1912) 30 meint: «Daß das späte Altertum ihn [Archilochos] verkommen ließ, lag wohl an seiner Obszöni­ tät; die Schule konnte ihn wirklich nicht gebrauchen»; s. auch o.S. 44f. 348 Man denke beispielsweise an die Geschichtswerke des Aufidius Bassus und des M. Servilius Nonianus, die lobend von Tacitus und Quintilian genannt werden (vgl. Schanz/Hosius 2, 644/ 6).

349 J. N. Madvig, Adversaria critica ad scriptores graecos et latinos 1 (Kopenhagen 1884, Nach­

druck Hildesheim 1967) 11; vgl. L. Friedlaender in seiner Martialausgabe (Leipzig 1886, Nachdruck Amsterdam 1967) 73 f. — R. von Scheliha, Patroklos (Basel 1943) 318, allerdings ohne Belege. 350 Vgl. Pasquali 416 mir Hinweis auf die Handschriftenfamilie a der Epigramme Martials. Zur Ersetzung obszöner Ausdrücke im Martialtext vgl. auch F. W. Schneidewin, Variae lectiones: Philol. 3 (1848) 131 f.; Friedlaender a.O. 72/4; ferner R. Helm, Valerius Nr. 233, Martialis: RE 8 A, 1 (1955) 85, 1/9. — In der Überlieferung Juvenals lassen sich ähnliche Beobachtungen machen: Der obszöne Vers luvenal. 6, 238 fehlt in einigen Handschriften; vgl. die Scholiasten zur Stelle und P. Wessner, Scholia in luvenalem vetustiora (Leipzig 1931, Nachdruck Stuttgart 1967) 256; Jachmann, Studien 201/3.

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Verse übereinstimme. In dieser Weise entschuldigten sich Catull, Ovid, Martial, Plinius der Jüngere, Apuleius und noch Ausonius351. Platon hat bei seinem Plan für die rechte Erziehung der Wächter auch auf Dezenz Rücksicht genommen und vor dem Anhören und Aufführen unanständi­ ger Dichtungen gewarnt352. Ähnlich wie sein Lehrer Platon forderte auch Aristo­ teles eine staatliche Aufsicht, die dafür sorgt, daß der Jugend nichts Unanständi­ ges in Bild und Wort begegnet353. Die Empfindung für das Schickliche wurde durch die hellenistische Kultur gefördert und von gebildeten Römern geteilt. Menander, Terenz, der Scipionenkreis, wie ihn Cicero schildert, und schließlich Quintilian in seiner Bildungsschrift bezeugen denselben Geist. Quintilian achtete in seinem Lehrplan für den angehenden Redner auf die Dezenz des Lesestoffes und verbannte deshalb die Sotadeen gänzlich aus dem Unterricht. Ähnlich wie Aristoteles die Komödie und die obszönen Jamben für Kinder verbietet, so läßt Quintilian die Elegie und die Hendekasyllaben erst für ein reiferes Alter zu und empfiehlt selbst die Dichtung des Horaz nicht uneingeschränkt354. Die gleiche Rücksicht spricht auch aus Plutarch. In seiner Schrift über Jugendbildung, De audiendis poetis, verlangt er eine Bewertung der Dichtkunst nach sittlichem Ge­ sichtspunkt. Er betont den ambivalenten Charakter aller Dichtung und warnt die jungen Leute vor Dichtungen, die zu geschlechtlicher Lust aufstacheln355. Noch um 400 n. Chr. hebt der Arzt Theodorus Priscianus die Laszivität griechischer Liebesromane hervor356. Bereits in hellenistischer Zeit haben Kritiker Stellen in Dichtung und Prosa

351 Catull. 16, 5 f.; Ov. trist. 2, 354; Mart. 1, 4, 8; Plin. epist. 4, 14, 4f.; Apul. apol. 9/11; Auson.

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Cent. nupt. 10 (168 f. Prete). - In der Renaissance verweist Poggio zur Entlastung seiner Facetiae auf zahlreiche Beispiele der Antike (Opera [Basilea 1538] 350/5). Plat. rep. 3, 395 e/396 a; 10, 606 c; vgl. Schmid 1, 4, 54 Anm. 4; 445 (ebd. auch zu Isokrates). Aristot. polit. 7, 17, 1336 b 1/23; vgl. F. Dirlmeier, Aristoteles, Nikomachische Ethik = Aristo­ teles, Werke deutsch 6 ^(Darmstadt 1964) 393 f. Quint, inst. or. 1, 8, 6: nam et Graeci licenter multa et Horatium in quibusdam nolim interpretari. elegia vero, utique qua amat, et hendecasyllabi, qui sunt commata sotadeorum (nam de sotadeis ne praecipiendum quidem est) amoveantur, si fieri potest, si minus, certe ad firmius aetatis robur reserventur; Aristot. a.O. Plut. aud. poet. 1, 14d/16a;3, 18f; 8, 27f/28a; 11, 30c/e.- Plutarch kritisierte auch die obszöne Ausdrucksweise des Aristophanes; vgl. Pseudo-Plut. de comp. Aristoph. et Men. epit. 1/3, 853 a/ 854 b. Theodor. Priscian. rer. med. 2, 11 (133 Rose): lectionibus animum ad delicias pertrahentibus, ut sunt Amphipolitae Philippi aut Herodiani aut certe Syrii lamblichi, vel ceteris suaviter amatorias fabulas describentibus. Nach Schanz/Hosius 4, 2, 277 war Theodorus Priscianus Heide; vgl. Suda s.v. 4>tXutnog ’Ap