Facetten des Judentums: ausgewählte Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst 9783883095356, 9783883095366

164 17 2MB

German Pages 684 [668]

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Facetten des Judentums: ausgewählte Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst
 9783883095356, 9783883095366

Table of contents :
Cover
Titelei
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort zur Buchreihe ‚Jerusalemer Texte. Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie’
Einleitung
Christen und Juden
Luthers Schriftauslegung in dem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“(1543). Ein Beitrag zum “christologischen Antisemitismus” des Reformators (1973)
Erbarmen für Luther? Zu zwei neuen Büchern über den Reformator und die Juden (1983)
Der alte Bileam. Herder und das Judentum (2004)
„Der Freund Israels“. F.A.G. Tholuck und die Judenmission des frühen 19.Jahrhunderts (1980)
Kaddisch für einen fast Vergessenen: Das Leben und Wirken des Nikolaua Heinrich Julius (1783-1862) aus Altona (1988)
Spätantike und mittelalterliche jüdische Kunst
Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien und das spätantike rabbinische Judentum (1973)
Zur Deutung der Fresken in Arkosol IV und Cubiculum II der jüdischen Torlonia-Katakombe in Rom (1975)
Der Greis unter den Sternen. Ein Beitrag zur Deutung des Bildprogramms über der Toranische in der Synagoge von Dura Europos (1976)
SONNE UND MOND. Exegetische Erwägungen zum Fortleben der spätantikjüdischen in der frühchristlichen Kunst* (1983)
Irrwege ikonokogischer Deutung? Zur Diskussion um die spätantik-jüdische Kunst (1980)
Synagoge und Ekklesia. Erwägungen zur Frühgeschichte des Kirchenbaus (1993)
Probleme der mittelalterlichen Hagada-Illustration (1981)
Schlesisches Judentum
Geschichte des schlesischen Judentums ab 1740 (1999)
Heinrich Graetz (2006)
Die eigentliche Heimat. Das ‚Breslauer Tagebuch’ des Walter Tausk und seine Geschichte
Das Ende des schlesischen Judentums im Spiegel der Tagebücher von Walter Tausk und Willy Cohn (2007)
Juden im östlichen Europa
Von Menschen und Büchern. Ein Erinnerungsgang durch das alte Galizien und die Bukowina. Einladung zu einer Exkursion (2007)
Simon Dubnow (1860-1941): „Buch des Lebens. - Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit“ (2006)
Vom Verlöschen des Lichts. Zur Situation und den Perspektiven des Judentums nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in den osteuropäischen Staaten (1993)
Juden und Jüdische Gemeinden in der DDR
Juden und Jüdische Gemeinden in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur (1991/95)
Helmut Eschwege. Ein jüdischer Historiker in der DDR (2003/04)
DDR: Jüdisches im Lutherjahr 1983 (2009)
Nachweis der Erstdrucke
Der Autor

Citation preview

Peter Maser

Die ausgewählten Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden, zur spätantikjüdischen Kunst, zur Geschichte des Judentums in Schlesien und im östlichen Europa sowie zur Situation von Juden und Jüdischen Gemeinden in der DDR des Münsteraner Kirchenhistorikers und ehemaligen Direktors des dortigen Ostkirchen-Instituts, Prof. Dr. Peter Maser, entstanden in einem Zeitraum von mehr als dreißig Jahren. Sie repräsentieren nicht nur ein Stück Forschungsgeschichte, sondern verweisen auch auf inhaltlich weit auseinanderliegende Problemfelder und Fragestellungen, deren weitere Bearbeitung auch in Zukunft aktuell bleiben wird.

Peter Maser • Facetten des Judentums

1

Facetten des Judentums Ausgewählte Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst

ISBN 978-3-88309-535-6

Verlag Traugott Bautz GmbH

Facetten des Judentums

Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie

herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann

Band 1

Verlag Traugott Bautz

Peter Maser

Facetten des Judentums Ausgewählte Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst

Verlag Traugott Bautz

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2009 ISBN 978-3-88309-536-6

5

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort zur Buchreihe ‚Jerusalemer Texte. Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie’ von Hans-Christoph Goßmann

Einleitung

9

11

Christen und Juden Luthers Schriftauslegung in dem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543). Ein Beitrag zum ‚christologischen Antisemitismus’ des Reformators

15

Erbarmen für Luther? Zu zwei neuen Büchern über den Reformator und die Juden

45

Der alte Bileam. Herder und das Judentum

59

„Der Freund Israels“ - F.A.G. Tholuck und die Judenmission des frühen 19. Jahrhunderts

81

Kaddisch für einen fast Vergessenen: Das Leben und Wirken des Nikolaus Heinrich Julius (1783-1862) aus Altona

139

6

Spätantike und mittelalterliche jüdische Kunst

Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien und das spätantike rabbinische Judentum

157

Zur Deutung der Fresken in Arkosol IV und Cubiculum II der jüdischen Torlonia-Katakombe in Rom

167

Der Greis unter den Sternen. Ein Beitrag zur Deutung des Bildprogramms über der Toranische in der Synagoge von Dura Europos

179

Sonne und Mond. Exegetische Erwägungen zum Fortleben der spätantik-jüdischen in der frühchristlichen Kunst

205

Irrwege ikonologischer Deutung? Zur Diskussion um die spätantik-jüdische Kunst

243

Synagoge und Ekklesia. Erwägungen zur Frühgeschichte des Kirchenbaus

279

Probleme der mittelalterlichen Haggada-Illustration

301

Schlesisches Judentum Das schlesische Judentum

315

Heinrich Graetz (1817-1891)

433

7

Die eigentliche Heimat. Das „Breslauer Tagebuch“ des Walter Tausk und seine Geschichte

455

Das Ende des schlesischen Judentums im Spiegel der Tagebücher von Walter Tausk und Willy Cohn

479

Juden im östlichen Europa Von Menschen und Büchern. Ein Erinnerungsgang durch das alte Galizien und die Bukowina. Arbeitsmaterialien zur Vorbereitung einer Exkursion

509

Simon Dubnow (1860-1941): „Buch des Lebens - Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit“

543

Das verlöschende Licht. Zur gegenwärtigen Lage des Judentums in den Ländern Osteuropas

549

Juden und Jüdische Gemeinden in der DDR Juden und Jüdische Gemeinden in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur

579

Helmut Eschwege. Ein Historiker in der DDR

637

DDR: Jüdisches im Lutherjahr 1983

645

8

Nachweis der Erstdrucke

663

Der Autor

667

Geleitwort zur Buchreihe ‚Jerusalemer Texte. Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie’

Die ‚Jerusalem-Akademie’ startet mit diesem Band eine Buchreihe, in der Monographien und Sammelbände publiziert werden, die aus der Arbeit der Akademie hervorgehen bzw. mit ihr inhaltlich verbunden sind. Die Jerusalem-Akademie versteht sich in erster Linie als Ort christlich-jüdischer Begegnungen, an dem Veranstaltungen zum christlich-jüdischen Verhältnis angeboten werden. Informationen über jüdisches Leben und jüdischen Glauben haben hier ebenso ihren Ort wie Veranstaltungen, bei denen Gemeinsamkeiten von und Unterschiede zwischen Christentum und Judentum herausstellt werden, sowie Veranstaltungen zu gesellschaftlich relevanten Themen, bei denen thematisiert wird, welche Beiträge Judentum und Christentum zu ihrer Bearbeitung leisten können. Auch Themen mit biblischen Bezügen sowie Themen, in denen der christlich-jüdische Dialog für den übrigen interreligiösen Dialog geöffnet wird, haben in der Jerusalem-Akademie ihren Ort. Dass der hier vorgelegte Sammelband Beiträge vereint, die nicht nur das Verhältnis von Christen und Juden reflektieren, sondern auch spätantike und mittelalterliche jüdische Kunst sowie jüdisches Leben in Schlesien, Osteuropa und der DDR in den Blick nehmen, hat dementsprechend durchaus programmatischen Charakter, werden dergestalt doch viele Wege geebnet, jüdisches Leben in Vergangenheit und Gegenwart besser zu verstehen. Und so gilt mein herzlicher Dank Herrn Professor Dr. Peter Maser, der diese Beiträge, die aus seiner langjährigen Forschungsarbeit erwachsen sind, in der hier vorliegenden Form zur Verfügung stellt, um den damit Auftakt für die Buchreihe der Jerusalem-Akademie zu geben.

Dr. Hans-Christoph Goßmann Direktor der Jerusalem-Akademie

11 Einleitung Daß ein evangelischer Kirchenhistoriker, der sich vorwiegend mit dem 19. Jahrhundert, der Kirchlichen Zeitgeschichte, dem Protestantismus im östlichen Europa und der Christlichen Archäologie beschäftigte1, im Laufe von mehr als dreißig Jahren immer wieder auch die unterschiedlichsten Facetten der Geschichte des Judentums beleuchtet hat2, erklärt sich nicht nur aus der dauerhaften Faszination für das Thema seit einer ersten Übung zum Traktat Abot, die ich 1963 in Halle/S. absolvieren konnte, sondern auch aus zahlreichen persönlichen Begegnungen mit der Welt des Judentums im In- und Ausland sowie der Einsicht, auf welche vielfältige Weise die Geschichte von Juden und Nichtjuden miteinander verflochten ist. Die Beiträge zum Themenkomplex „Christen und Juden“ reichen von der Reformation Luthers bis in die Zeit der Erweckungsbewegung und zeichnen ausgewählte Stationen einer immer problematischen Beziehungsgeschichte nach, die aber nicht nur als Irrweg oder Folge von Mißverständnissen gesehen werden darf. Im Rahmen eines mühseligen Lernprozesses wurden dabei doch nicht nur Grundlagen der modernen Judaistik geschaffen, sondern auch Begegnungen erprobt, die auch durch die Nacht der späteren Katastrophe hindurch weiterwirken sollten. Die Studien zur „spätantiken und mittelalterlichen jüdischen Kunst“ konzentrieren sich auf die allenfalls noch schattenhaft erkennbaren Zusammenhänge von Judentum und Christentum im Bereich der Kunst. Die endzeitliche Bedeutung der Gestirnszeichen von Sonne und Mond in der spätantik-jüdischen Kunst hat in der frühchristlichen Kunst - also vor allem im Kreuzigungs- und Himmelfahrtsbild, aber auch in repräsentativen Christusdarstellungen - nachwirken können3, bis die ursprünglich engen Beziehungen von Synagoge und Ekklesia so weitgehend zerstört waren, daß das Vehikel der Gestirnszeichen sich in der christlichen Kunst mit neuen imperial-kosmischen Deutungen verbinden ließ. Wie eng die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum jedoch einmal gewesen sind, läßt sich aber auch durch eine genauere Analyse der Strukturen des frühchristlichen Kirchenbaus vor dem Hintergrund der spätantiken Synagogalarchitektur zeigen.

1

Vgl. Christian-Erdmann Schott (Hg.): In Grenzen leben - Grenzen überwinden. Zur Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa. Festschrift für Peter Maser zum 65. Geburtstag = Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert 16, Berlin 2008, S. 297-309 (Bibliographie). 2 Vgl. auch Ulrich Gerhardt: Jüdisches Leben im jüdischen Ritual. Studien und Beobachtungen 19021933. Bearbeitet und kommentiert von Zwi Sofer. Unter Mitwirkung von Malwine und Peter Maser hg. von Dietrich Gerhardt = Studia Delitzschiana NF 1, Heidelberg 1980; Ders.: Das „Dritte Reich“ überdauert. Vom wechselhaften Schicksal der Gröbziger Synagoge, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 24, 96. Heft, 1985, S. 160-162; Ders. (Hg.): An uns ist es zu preisen. Eine Auswahl aus dem jüdischen Gebetbuch = Bibel - Kirche - Gemeinde 38, Konstanz 1991; Ders.: Jüdisches Leben heute. Museale Erinnerung und Aufarbeitung der Vergangenheit. Literaturbericht, in: Aschkenas 9, 1999, S. 571-580. 3 Vgl. dazu Peter Maser: Das Kreuzigungsbild des Rabulas-Kodex, in: Byzantinoslavica 35, Prag 1974, S. 34-46; Ders.: Parusie Christi oder Triumph der Gottesmutter? Anmerkungen zu einem Relief der Tür von S. Sabina in Rom, in: Römische Quartalschrift 77, 1982, S. 30-51.

12 Die Geschichte des „schlesischen Judentums“ repräsentiert eine der bedeutendsten Facetten der deutsch-jüdischen Geschichte4. In Breslau wurden mit dem JüdischTheologischen Seminar Fraenckel’scher Stiftung 1854 die Grundlagen für die moderne Rabbinerausbildung und die Wissenschaft des Judentums geschaffen5. Die Auslöschung des schlesischen Judentums in der Shoa haben in ihren Tagebüchern u.a. Walter Tausk6 und vor allem Willy Cohn dokumentiert, dessen Aufzeichnungen nur mit denen eines Victor Klemperer verglichen werden können. Als Direktor des Ostkirchen-Instituts der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster habe ich meine zahlreichen Exkursionen mit Kollegen, Studenten, Gemeindegliedern, Journalisten oder Teilnehmern an Projekten der Bundeszentrale für politische Bildung in das östliche Europa immer wieder auch zu Begegnungen mit jüdischer Vergangenheit und Gegenwart nutzen können. Viele der in kommunistischer Zeit kaum noch erreichbaren jüdischen Landschaften sind heute wieder zugänglich und warten auf ihre Neuentdeckung. Das betrifft vor allem Galizien und die Bukowina in der heutigen Ukraine, aber auch die baltischen Republiken. Die „Juden und Jüdischen Gemeinden in der DDR“ lernte ich seit Anfang der siebziger Jahre in der Arbeitsgemeinschaft Kirche und Judentum kennen, die in Leipzig von Pfarrer Siegfried Theodor Arndt (1915-1997) geleitet wurde und mit dem Gemeindevorsitzenden Eugen Gollomb (1917-1988) einen beeindruckenden jüdischen Gesprächspartner hatte7. Herrn Pastor Dr. Hans-Christoph Goßmann, dem Direktor der Jerusalem-Akademie, habe ich sehr für die Gelegenheit zum Wiederabdruck dieser ausgewählten Aufsätze zu danken. Sie werden hier in der Form veröffentlicht, in der sie jeweils ursprünglich erschienen sind. Bewußt wurde auf den Versuch verzichtet, diese etwa durch Literaturnachträge oder weiterführende Anmerkungen zu aktualisieren. So präsentieren sie den Erkenntnisstand ihrer Entstehungszeit in dem Wissen, daß die Forschung an vielen Stellen weitergegangen ist, neue Quellen erschlossen werden konnten und sich gerade auch im östlichen Europa neue Arbeitsmöglichkeiten ergeben haben. Anlaß zu eingreifenden Korrekturen habe ich jedoch nicht gesehen. Prof. Dr. Peter Maser 4

Vgl. auch Peter Maser und Adelheid Weiser: Juden in Oberschlesien. Teil I: Historischer Überblick. Jüdische Gemeinden (I.) = Schriften der Stiftung Haus Oberschlesien. Landeskundliche Reihe 3.1, Berlin 1992 (mehr nicht erschienen). 5 Vgl. Marcus Brann: Geschichte des jüdisch-theologischen Seminars (Fraenckel’sche Stiftung) in Breslau, Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Anstalt. Mit einem Vorwort von Peter Maser = Rara zum deutschen Kulturerbe des Ostens, Hildesheim 2009. 6 Vgl. Walter Tausk: Breslauer Tagebuch 1933-1940. Hg. von Ryszard Kincel. Mit Anmerkungen von Peter Maser sowie einem Gespräch zur Neuausgabe des Bandes = Aufbau Taschenbuch 1233, Berlin 2000. 7 Vgl. auch Peter Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR 1949-1989. Ein Rückblick auf vierzig Jahre in Daten, Fakten und Meinungen = Bibel - Kirche - Gemeinde 41, Konstanz 1992; Ders.: Juden und Jüdische Gemeinden in der DDR bis in das Jahr 1988, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 20, 1991, S. 393-426; Ders.: Der instrumentalisierte Antifaschismus der SED und die deutsche Schuld am jüdischen Volk, in. Mahnung und Erinnerung. Jb. des Vereins „Gegen Vergessen - Für Demokratie“ 2, 1998, S. 113-124.

Christen und Juden

15 Luthers Schriftauslegung in dem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543). Ein Beitrag zum “christologischen Antisemitismus” des Reformators (1973)

Die Äusserungen des älteren Luther über die Juden gehören zu den bedrückenden Tatsachen in der Geschichte der christlichen Kirche, die weder durch schlichtes Verschweigen, noch durch psychologisierendes oder theologisches Zerreden aus der Welt zu schaffen sind. Waren es nicht auch Luthers Judenschriften, auf die sich die faschistischen Mörder beriefen, als sie den fast gelungenen Versuch unternahmen, das europäische Judentum zu vernichten? Noch im April 1946 konnte Julius Streicher vor dem Nürnberger Internationalen Gerichtshof auf den Reformator als einen der Kronzeugen für die Notwendigkeit der „Endlösung der Judenfrage“ hinweisen. Und Streicher hatte recht! Luther hat die Verbrennung der Synagogen und heiligen Thorarollen, die totale Rechtsunsicherheit für Juden, ihre Verbringung in Konzentrationslager bzw. ihre Vertreibung ins Exil nach zuvor erfolgter Ausplünderung und die Vernichtung der jüdischen Religion insgesamt gefordert! Auf fatale Art und Weise wurden da jene Praktiken theoretisch vorweggenommen, die in ihrer scheusslichsten Ausprägung von den Faschisten geübt wurden.

Nun könnte das Problem „Luther und die Juden“ vielleicht als erledigt und in dem Schuldbuch der Christenheit abgelegt betrachtet werden, gäbe es nicht immer wieder Versuche, den Reformator auf die mannigfaltigste Art und Weise zu entschuldigen. Wobei jene Meinungen noch zu ertragen wären, die die Masslosigkeiten des alternden Luther durch an den Juden seiner Zeit erlebte „Enttäuschungen“ psychologisch zu erklären versuchen1. Gleichfalls hinnehmbar könnten auch jene Deutungen sein, die die lutherische Polemik gegen die Juden mit Luthers Unfähigkeit in Zusammenhang bringen, die sich in konkreten politischen Aktionen artikulierende Reich-Gottes-Erwartung der unteren Schichten des Volkes (z.B. Bauern, Wiedertäufer) theologisch und seelsorgerisch zu verarbeiten2. Völlig unerträglich aber sind die zumeist von konfessionell-lutherischer Seite unternommenen Bemühungen, Luthers späte Judenschriften theologisch zu „ent1

Vgl. z. B. R. Lewin, Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland, Berlin 1911. Vgl. L.I. Newman, Jewish Influence of Christian Reform Movements, New York 1925.

2

16 schuldigen“3. Auch die „tiefsten theologischen Einsichten..., die sich aus dem reformatorischen Schriftverständnis ergeben“4, müssen fragwürdig werden, wenn Luther mit ihrer Hilfe zu so bösen, die Botschaft des Evangeliums verleugnenden Schlussfolgerungen zu kommen vermochte. Dass es bei apologetischen Versuchen solcher Art nicht ohne Gewaltsamkeiten den Quellen gegenüber abgehen kann, ist dann schon fast nicht mehr verwunderlich5.

Wichtig allerdings dürfte die Einsicht sein, dass die Auseinandersetzung mit Luthers späten Judenschriften theologisch zu führen ist, denn in ihnen wird, so schlimm es auch sein mag, theologisch argumentiert, während politische, ökonomische und historische Überlegungen nur hilfsweise, das theologische Urteil bekräftigend, hinzutreten. In der vorliegenden Untersuchung soll die kompromissloseste und ausführlichste Schrift Luthers gegen die Juden, der Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ aus dem Jahr 15436, analysiert werden, weil dieser die Zusammenfassung und deutlichste Ausprägung einer Haltung repräsentiert7, die auch in Luthers eigenem Lager nicht ohne Widerspruch blieb8. Im besonderen soll die Schriftauslegung dargestellt und untersucht werden, weil sie, wie auch schon von anderen bemerkt wurde, die Grundlage für die Stellung Luthers zu den Juden bilden dürfte9.

3

Vgl. z.B. W. Maurer, Kirche und Synagoge. Motive und Formen der Auseinandersetzung der Kirche mit dem Judentum im Laufe des Geschichte, Stuttgart 1953, 5.39-50 und 88-105. Maurer, S. 47. 5 Vgl. z. B. die den Bruch zwischen Luthers frühen und späten Judenschriften einebnenden Ausführungen bei Maurer, S. 45 f. und 88 ff. und die Anmerkungen hierzu von K. Meier, Zur Interpretation von Luthers Judenschriften, in: Vierhundertfünfzig Jahre lutherische Reformation 1517-1967 (Festschrift F. Lau), Berlin 1967, S. 233-251, bes. S. 241 ff. 6 Der Traktat wurde von den Nazis mehrfach veröffentlicht : z. B. W. Linden, Luthers Kampfschriften gegen das Judentum, Nürnberg 1936; eine „Volksausgabe... in Ludendorffs Volkswarte Verlag“, vgl. E. Vogelsang, Luthers Kampf gegen die Juden, Tübingen 1933, S. 5 Anm. 2; Th. Pauls, Luther und die Juden, Bd. 3: Aus Luthers Kampfschriften gegen die Juden, Bonn 1939 und zahlreiche Zitate in J. Streichers antisemitischem Schandblatt „Der Stürmer“. 7 Vgl. „Wider die Sabbather“, WA 50,312-337 (1538); „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“, WA 53,579-618 (1543); „Von den letzten Worten Davids“, WA 54,28-100 (1543) und „Eine Vermahnung wider die Juden“, WA 51,195f. (14. Febr. 1546 [Luthers letzte Predigt!]). 8 Vgl. Lewin, S.97 ff. und R. Pfisterer, Im Schatten des Kreuzes, Hamburg-Bergstedt 1966, S. 70f. Um nur 3 ein modernes Beispiel zu notieren : R. Bainton, Martin Luther, Göttingen 1959 , S.327: „,Man könnte wünschen, Luther wäre gestorben, ehe diese Schrift geschrieben war“. 9 Mit Rücksicht auf den Leser, dem die Kritische Gesamtausgabe der Werke Luthers, Weimar 1883ff. (= WA) nicht ohne weiteres zugänglich ist, soll der Reformator im folgenden möglichst oft selbst zu Worte kommen, zumal ja „der Ton die Musik macht“. 4

17 1. ANLASS UND INHALT DES TRAKTATS Luther hatte sich „wol furgenommen, nichts mehr, weder von den Jüden noch wider die Jüden zuschreiben“ (WA 53,417,1), aber am 18. Mai 1542 erhielt er von dem Grafen Schlick eine jüdische Polemik gegen seine Schrift „Wider die Sabbather“ zugeschickt, über deren Inhalt nichts Sicheres mehr auszumachen ist10. Von Luther selbst wissen wir, dass sie einen Dialog zwischen einem Christen und einem Juden enthielt, wobei der Jude den Christen durch rabbinische Spitzfindigkeiten in die Enge getrieben zu haben scheint11. Schlick bat Luther um eine Widerlegung der jüdischen Angriffe, und dieser ging auf die Bitte des Grafen ein. Ende 1542 ist Luther mit der Abfassung der erbetenen Antwort beschäftigt, und am 17. Januar 1543 liegt der grosse Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ im Druck vor12. Neben diesem veröffentlicht Luther im gleichen Jahr noch die antijüdischen Schriften „Vom Schem Hamphoras und dem Geschlecht Christi“ und „Von den letzten Worten Davids“.

Schon der Titel des Traktats „Von den Juden und ihren Lügen“ zeigt die Stellung des alten Luthers zum Problem des Judentums an, der im „Schem Hamphoras“ schreibt: „Wie ich jnn jhenem Büchlin (d.i. „Von den Juden usw.“) bedingt, ist mein meinung nicht, wider die Jüden zu schreiben, als hoffet ich sie zu bekeren, hab darumb dasselb buch nicht wollen nennen: Widder die Jüden, Sondern: Von den Jüden un jhren lügen, Das wir Deudschen historien weise auch wissen möchten, was ein Jüde sey, unser Christen fur jhnen, als fur den Teuffeln selbs, zu warnen, unsern glauben zu stercken und zu ehren, nicht die Jüden zu bekeren, Welchs eben so müglich ist, als den Teuffel zu bekeren“ (WA 53,579,9). In der Einleitung zu den „Juden und ihren Lügen“ äussert sich Luther im gleichen Sinn: „Es ist mein furhaben nicht, das ich wollte mit den Jüden zancken oder von jnen lernen, wie sie die Schrifft deuten oder verstehen, Ich weis das alles vorhin wol. Viel weniger gehe ich damit umb, das ich die Jüden bekehren wolle, Denn das ist unmüglich“ (WA 53,417,20). Luther wendet sich also, im Gegensatz zu früheren Äusserungen13, nur noch an seine christlichen Glaubensbrüder, um sie vor den jüdischen Umtrieben zu warnen. Der Christ soll sich mit den Juden nicht in ein Streitgespräch ein10

Vgl. Lewin, S. 78 Anm. 1. Vgl. WA 53,417,15. Vgl. WA 53,412ff. (Vorrede von F. Cohrs und O. Brenner) und Lewin, S.81. 13 Vgl. etwa WA 11,314ff. (1523); auch schon WA 7,600f. (1519/20); Lewin, S. 22 ff. 11 12

18 lassen über „Artikeln unsers Glaubens“, denn „Was Gott selbs nicht bessert mit solchen grausamen schlegen, das werden wir mit worten und wercken ungebessert lassen“ (WA 53,419,11)14 . Der Christ soll den Juden die 1468 Jahre vorhalten, die seit der Zerstörung Jerusalems und dem damit anhebenden jüdischen Elend vergangen sind. „Mit diesem Nüslin las sich die Jüden beissen und disputieren, so lange sie wollen“ (WA 53,418,13)15. Gerade die langen Jahre der Zerstreuung sind das sichere Zeichen für die endgültige Verwerfung der Juden: „Darumb schleusst dis zornig Werck, das die Jüden, gewislich von Gott verworffen, nicht mehr sein Volck sind, Er auch nicht mehr jr Gott sey“ (WA 53,418,20). Zwar erschrickt Luther angesichts solcher Verwerfung so sehr, dass es ihm „durch leib und leben gehet“, aber das „werck fur augen, das treugt... nicht“ (WA 53,418,25). Es kommt also nur darauf an, „unsern (d.i. der Christen) Glauben zu stercken... kompts jrgent einem Jüden zur besserung, das er sich scheme, ists deste besser“ (WA 53,419,16)16.

Im ersten Teil des Traktats spricht Luther in breiter Ausführlichkeit die vier Argumente durch, auf die sich die Juden stützen, wenn sie sich als Volk Gottes ausweisen wollen: die Abrahamskindschaft, die Beschneidung, das Gesetz und der Besitz Kanaans, Jerusalems und des Tempels. Danach kritisiert er die jüdische Messiashoffnung und erweist anhand alttestamentlicher (!) Stellen die Messianität Jesu. Der erste Teil schliesst mit der Behandlung der jüdischen Schmähungen, die gegen Jesus, Maria und die Christen vorgebracht werden. Das Resultat dieses ersten Teils ist der Erweis des Zornes Gottes über die Juden. Im zweiten Teil unterbreitet Luther Vorschläge, wie man mit den Juden verfahren solle. Er appelliert an die Fürsten und Herren, sich der jüdischen Last zu entledigen, und fordert die Pfarrherren auf, ihre Pfarrkinder vor dem Umgang mit Juden zu warnen. Es ist die Pflicht eines jeden Christen, sich der Juden zu erwehren, wo und wie er nur kann. Zum Schluss wendet sich Luther nochmals an den Adressaten des Traktats, den Grafen Schlick, und endet mit dem (erstaunlichen) Gebet: „Christus, unser lieber Herr, bekere sie barmhertziglich und erhalte uns in seiner erkenntnis, welche das ewige Leben ist, fest und unbeweglich. AMEN“ (WA 53,552,36). 14

Vgl, WA TR 6,7041 (?). Dieses Argument stammt wahrscheinlich von Nikolaus v. Lyra, vgl. Lewin, S. 68. Es begegnet häufiger: WA 53,418, Anm. 5; WA TR 3,3768; 5,5554,5462, 6191 u.ö. 16 Vgl. WA TR 6,7014 (?). 15

19 Wie argumentiert Luther nun im einzelnen?

Er wendet sich zuerst gegen das „pochen und Trotzen“ der Juden auf die Abrahamskindschaft (WA 53,419ff.). Es muss zwar anerkannt werden: „Nu den Rhum vom Geblüt und stam kan jnen niemand nehmen“, aber Luther führt sogleich Mt. 3,7.9; 12,34 und Joh. 8,39 an, um die Fragwürdigkeit des Werts der Abrahamskindschaft anzudeuten. Viel schlagender aber ist ihm dann doch noch Gen. 17,14: „Welchs kneblin nicht beschnitten wird, des Seele sol aus gerottet werden von seinem Volck... Fur der Welt gilts wol, das ein Mensch seiner Geburt halben edler sey, denn das ander... Aber fur Gott daher zu tretten und sich rhümen, wie es so Eddel, Hoch, Reich fur andern Menschen sey, Das ist eine teufelische Hoffart“ (WA 53,421f.,30)17. „Fur Gott sol sich Fleisch und Blut nicht rhümen“ (WA 53,422,33). Abraham ist „beruffen und Heilig worden durch Gottes wort und seinen Glauben“, nicht durch die Abstammung „von dem edelsten Patriarchen Noah“ (WA 53,423,12). An Esau und Ismael zeigt Luther, dass das „Wort und beruffung, so die Geburt nichts achtet, scheidet hie die sachen alle“ (WA 53,425,4). Ja, käme es nur auf die natürliche Abstammung an, dann könnte der Reformator selbst sich rühmen, dass er ein Nachkomme Noahs sei, der doch der Vater Abrahams gewesen ist. Aber das nützt alles nichts. „David, der wirfft uns alle fein und gewaltiglich in einen hauffen, Psal. LI., da er spricht : ‚Sihe, Ich bin in sunden empfangen, Und meine Mutter trug mich in Sunden etc.’“ In Sünden geboren aber heisst „in Gottes zorn und Verdammnis geborn“. Das Rühmen der Juden kann den Zorn Gottes nur vergrössern (WA 53,426,29).

„Der ander Rhum und Adel, des sich die Jüden erheben und alle Menschen stoltzlich und hochmüthlich verachten, ist dieser, Das sie die Beschneittung von Abraham her haben“ (WA 53,427,20)18. Luther zählt die Völker auf, die ausser den Juden die Beschneidung ausüben und bestreitet so, dass die Beschneidung als kultischer Akt Israel „geheiliget und zum eigen Volck (d.i. Gottes) gemacht habe“ (WA 53,429,20). Aber auch die Bibel gibt reichliche Gelegenheit, den Juden ein Vorrecht aus der Beschneidung zu bestreiten. Mose selbst hat die Beschneidung der Vorhaut des Herzens für wichtiger 17 18

Vgl. WA 17 11,325,14 (1524). Vgl. WA TR 3,3768 (1538).

20 gehalten als die kultische Beschneidung (Deut. 10,16). Besonders aber Jeremia (4,4; 6,10) wird als Zeuge in dieser Sache angerufen: „Diese und der gleichen Sprüche erzwingen gewaltiglich, das der Jüden hohmut und Rhum von der Beschneittung, wider die unbeschnittenen Heiden, ein lauter nichts ist, Und fur Gott nichts denn zorn verdienet, wo sie allein da ist“ (WA 53,432,7). Luther beruft sich auf Hiob, Naeman, die Einwohner von Ninive, den Pharao und seine Untertanen, sowie viele andere, die „nicht zur Beschneittung gedrungen, und doch heilig und Gottes kind worden“ (WA 53,434,32). Dann dringt Luther aber von Röm. 3,1 ff. her in die Frage nach dem Nutzen der Beschneidung ein und gibt die Antwort, „das nicht die Beschneittung als ein Werck an im selbs, solt nütz oder gnug sein, sondern das die jenigen, so sie hetten, solten mit solchem zeichen, Bund oder Sacrament dahin verbunden sein, Gott in seinen Worten zu gehorchen und zu gleuben. Und solch alles auf die Nachkommen zu erben“ (WA 53,435,21). Bei den Juden aber ist die Beschneidung „ein opus operatum, eigen werck, vom wort Gottes gesondert“ geworden (WA 53,437,6). Als solches ist es nicht nütze.

„Zum dritten, haben sie (d.s. die Juden) einen grossen hohmut, das Gott mit jnen geredt, und das Gesetz Mosi gegeben hat, auff dem berge Sinai“ (WA 53,439ff.,32). Aber gerade um des Gesetzes willen sind die Juden verdammt, „das sie sein gebot haben, und doch nicht halten, sondern on unterlas da wider thun“ (WA 53,443,2). Die Kenntnis des Gesetzes allein macht ein Volk nicht zum Volk Gottes. „Sondern darumb sind sie gegeben, Das man sie halten und Gotte darin gehorsam sein soll“ (WA 53,444,25). Da aber niemand Gottes Gebote aus eigener Kraft halten kann, heisst es „recht verstehen, Was Gottes gebot sey, und wie man sie halten müsse, Nemlich, wenn wir wissen, erkennen, ja auch fülen, das wir sie haben und nicht halten noch halten können, derhalben fur Gott arme Sunder und schuldig sein müssen, Und allein aus bloser Gnade und Barmhertzigkeit solcher schuld und ungehorsam vergebung erlangen, durch den Man, auff welchen Gott solche Sund gelegt hat“ (WA 53,445,21).

„Zum vierden, haben sie (d.s. die Juden) den grossen Rhum und Hoffart, das sie das Land Canaan, die stad Jerusalem und Tempel von Gott gehabt haben“ (WA 53,446ff.,20). Luther verweist auf die 1500 Jahre der jüdischen Diaspora und erblickt darin die Bestätigung für Gottes verdammendes Urteil. Die Juden haben nicht erkannt,

21 „das Gott alles darumb gegeben hat, das sie sein Gebot (das ist jnen fur jren Gott) halten solten, also denn solten sie sein Volck und Kirche sein“ (WA 53,447,11).

Nachdem Luther diese vier Argumente der Juden erörtert und abgewiesen hat, beschäftigt er sich ausführlich mit der jüdischen Messiaserwartung und der Messianität Jesu. Aus den fünf Bibelstellen Gen. 49,10; 2. Sam. 23,2-5; Jer. 33,17-26; Hag. 2,6-9 und Dan. 9,24 ‚beweist’ er, dass die jüdische Hoffnung auf das Kommen des Messias vergeblich ist. Dabei zeigt er sich über die jüdischen Auslegungen der von ihm herangezogenen Bibelstellen informiert, ohne sich dadurch jedoch beeinflussen zu lassen: „Wir haben die Schrifft besser, denn sie, das wissen wir (Gott lob) fur war“ (WA 53,450,16). Die jüdische Fehlinterpretation des Alten Testaments bleibt für ihn „ein erschrecklich Exempel Göttlichs zorns“ (WA 53,511,3). „Mose und alle rechte Israeliten haben die Sprüche von Messia verstanden aus lauter gnaden und barmhertzigkeit, on Busse und verdienst geschenkt“ (WA 53,501,27), die Juden aber zeigen durch ihr lästerliches Exegesieren der messianischen Verheissungen nur an, wie tief sie in Verdammnis geraten sind.

Der erste Hauptteil des Traktats schliesst mit der Darstellung und Widerlegung der jüdischen „Lügen wider die Personen“ (WA 53,511ff.). Die Juden „schelten... unsern HErrn Jhesum einen Zeuberer und Teufels zeug“ (WA 53,513,1), der mit Hilfe des geheimnisumwitterten „Schem Hamphoras“ Wunder getan habe. Sie entstellen aber auch den Jesus-Namen, indem sie ihm mit Hilfe von Zahlenspielereien die Bedeutung „Hebel Vorik“ geben, was zu deutsch heisst „zu einer thorheyt und eytelkeyt“ (WA 53,513, A12)19. Diese Lästerungen werden durch die jüdische Behauptung vervollständigt, dass Jesus „ein Hurkind (ist) und seine Mutter Maria eine Hure, den sie ist mit einem Schmid im Ehebruch gehabt“ (WA 53,514,18)20. Diese Verleumdungen illustrieren für Luther Deut. 28,28: „Gott wird dich schlahen mit Wahnsinn, blindheit und rasen des hertzens“.

Im zweiten Teil seiner Schrift stellt Luther, nachdem er noch einmal den schrecklichen Zorn Gottes über dem Volk der Juden konstatiert hat, die Frage: „Was wollen wir Chris19 20

Vgl. WA B 10,331 (1543). Vgl. WA TR 5,5554 (1542/43); WA B 10,389 (1543).

22 ten nu thun mit diesem verworffen, verdampten Volck der Jüden?“ und gibt seinen „trewen rat“: 1. „Das man jre Synagoga oder Schule mit feur anstecke und... mit erden uber heuffe und beschütte... Solchs sol man thun, unserm Herrn und der Christenheit zu ehren“. 2. „Das man auch jre Heuser des gleichen zerbreche und zerstöre, Denn sie treiben eben dasselbige (d.i. Gotteslästerung) drinnen, das sie in jren Schulen treiben“. 3. „Das man jnen neme alle jre Betbüchlin und Thalmudisten“. 4. „Das man jren Rabinen bey leib un leben verbiete, hinfort zu leren“. 5. „Das man den Jüden das Geleid und Strasse gantz und gar auffhebe“. 6. „Das man jnen den Wucher verbiete und neme jnen alle barschafft und Kleinot an Silber und Gold... Alles, was sie haben..., haben sie uns gestolen und geraubt durch jren Wucher“. 7. „Das man den jungen starcken Jüden und Jüdin in die hand gebe flegel, axt, karst, Spaten, rocken, Spindel und lase sie jr brot verdienen im schweis der Nasen“ (WA 53,522 ff.,37). Eigentlich aber möchte Luther „bleiben bey gemeiner klugheit der andern Nation, als Franckreich, Hispanien, Behemen etc. und mit jnen (d.s. die Juden) rechen, was sie uns abgewuchert und darnach gütlich geteilet, Sie aber jmer zum Land ausgetrieben. Denn, wie gehört, Gottes zorn ist so gros uber sie, das sie durch sanffte barmhertzigkeit nur erger und erger, durch scherffe aber wenig besser werden. Drumb jmer weg mit jnen“ (WA 53,526,11). Fürsten und Herren, Pfarrer und Prediger sollen so treu ihres Amtes walten, während Luther durch diese Schrift sein „gewissen gereinigt und entschuldigt haben“ will als einer, der „angezeigt und gewarnt“ hat (WA 53,527,29). Der Traktat schliesst mit einem Lobpreis Christi, „von dem wir uns nicht lassen reissen noch scheiden, weder lieb noch leid, Sondern leben und sterben in jm und uber jm, getrost und williglich... Dein sey lob und danck, ehre und preis sampt dem Vater und heiligen Geist, einigem, waren, rechten Gott. AMEN“ (WA 53, 552,21).

2. LUTHERS EXEGESE „MESSIANISCHER WEISSAGUNGEN“

a) Gen. 49,10: Luther übersetzt „Es wird das Scepter von Juda nicht wegkomen, bis das der Silo kome, Und dem werden die Völcker anhangen etc.“ (WA 53,450,19)21. Die Deutung der Stelle lässt er gleich auf die Übersetzung folgen: „Die alten rechten Jüden haben den verstand gehabt, den wir Christen haben, Nemlich das im Stam Juda sol das 21

Luther gibt hier keine vollständige Übersetzung der Stelle. Diese findet sich z. B. WA 24,686 (1527).

23 Regiment oder Scepter bleiben, bis Messia kome, dem sollen als denn die Völcker anhangen und zufallen. Das ist, Es solle als denn nicht allein im Stam Juda das Scepter sein, sondern (wie es hernach die Propheten ausstreichen) unter alle Völcker komen, zur zeit Messia“ (WA 53,450f.,34). Die Interpretation von Gen. 49,10 ist bis zur Gegenwart stark kontrovers geblieben, weil eine überzeugende philologische Erklärung des Wortes schiloh bisher nicht gegeben werden konnte22. Luther übersetzt „Silo“ mit „Hellt“ oder entsprechenden Äquivalenten23. Im „Schem Hamphoras“ gibt er eine ausführliche Etymologie des Wortes, der von modernen philologischen Erkenntnissen her nicht mehr zugestimmt werden kann24. Schon 1523 hatte Luther diese Stelle exegesiert und „Silo“ = Messias gesetzt25. Dass er damit sachlich-theologisch recht hatte, wird von einem grossen Teil der modernen Exegeten anerkannt26. Die Übersetzung des hebräischen mechoqem als „Meister, das ist Doctor, Lerer etc.“ dagegen ist eindeutig unrichtig27. Luther ist hier seinem exegetischen Gewährsmann Paulus von Burgos, den er ausdrücklich nennt, gefolgt. Mechoquem ist Synonym zu schävät und bedeutet: Kommandostab. Für Luther war die Übersetzung des Paulus von Burgos jedoch wichtig, weil er dadurch die Gegenüberstellung „Scepter - Macht und Doctor, Lerer - Recht“ gewann. „Denn ein iglich Land, so es bestehen sol, mus es die zwey stück haben. Nemlich: Eine Macht und ein Recht“ (WA 53,453,19). Nachdem so das grammatisch-wörtliche Verständnis des Textes gesichert worden ist, betrachtet Luther den Spruch Gen. 49,10 im Licht der Heilsgeschichte. Herodes rottete das Sanhedrin (d.s. die „Doctores, Lerer“) aus, „und ward also beides... Herr und Schriftgelehrter... Da war es zeit, da muste Messia komen und sein Reich einnehmen“ (WA 53,454,2). Der Gedanke, dass das Geburtsjahr des Messias gleichsam „historisch“ errechenbar sei, begegnet bei Luther des öfteren28. Er weist den Leser an, er solle zuerst zum „text, Ebreisch oder Chaldeisch“ gehen. Danach: „Gehe zu den Historien, und sihe, obs nicht also ergangen und geschehen sey 22

Vgl. W. Gesenius, Hebräisches und aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, bearb. 17 17 von F. Buhl, Berlin 1962 , S. 822 und H. Gunkel, Genesis, Berlin 1963 , S. 481, die die verschiedensten Deutungsmöglichkeiten verzeichnen. 23 So WA Bibel 3,231 „Hellt“ bzw. „der grosse Lewe“; WA 24,686 = „Hellt“; WA Bibel 8,194f. = „Helt“. 24 WA 5,3,639 ff.,25. 25 WA 11,325f.; vgl. auch WA 44,755f. (1535-1545). 26 3 Vgl. E. Jenni, Art.: Schiloh, in : RGG 5, Sp. 1417. 27 WA 53,453,16. Vgl. zur Übersetzung Gesenius, S. 255, der das Wort als part. po. von PPTI = ‚anordnen’ deutet. 28 So etwa WA 11,333ff. (1523); WA 24,687f. (1527); WA 50,318f. (1538); WA 53,470ff., 497ff.; WA 44,755 (1535-1545).

24 und noch geschieht“ (WA 53,455,18). Die Verheissung bestimmt den Geschichtsverlauf, und dieser bestätigt die Verheißung! In der Bibel „stehen die klaren wort Gottes, dazu das offenbar werck und erfüllung der selben wort“ (WA 53,456,3). An Gen. 1,1 verdeutlicht Luther, wie eine Aussage der Heiligen Schrift durch den Augenschein sinnfällig bestätigt wird. Von dieser Grundlage des Verstehens aus kann er sich nun auch mit den jüdischen Interpretationen von Gen. 49,10 auseinandersetzen. Dabei werden zwei Gruppen unterschieden: eine, die den Textbestand unverändert lässt29, und eine, die den Text verändert30. Die erste Gruppe behauptet, dass Gott seine Verheissung um der Sünde (der Juden) willen gleichsam ausgesetzt habe. Luther: „Ist diese ausflucht nicht faul, ia dazu lesterlich gnug? gerade als stunde Gottes verheissung auff unser gerechtigkeit, oder fiele mit unser sunde, das ist, Gott müste ein lügener werden umb unser sunde willen, und widerumb warhafftig werden umb unser gerechtigkeit willen“ (WA 53,456,26). Die zweite Gruppe bringt verschiedenartige Einwände vor, die sich vor allem auf die Deutung des „Silo“ beziehen. Da wird „Silo“ auf die Stadt Silo, auf Jerobeam und Nebukadnezar gedeutet31. Aber auch schävät wird anders, nämlich als „Elend“ übersetzt. Zuletzt notiert Luther noch zwei andere rabbinische Erklärungsversuche, deren Herkunft nicht mehr feststellbar ist. Mit allen diesen Deutungen wird Luther leicht fertig: „Summa, Lyra sagt recht: Wenn sie gleich diese und der gleichen viel glosen ertichten, so stösset sie alle zu boden der Chaldeische text und uberzeuget sie, das sie mutwillige Lügener, Gotteslesterer und seines Worts verkerer sind“ (WA 53,460f.,31). Die jüdische Legende, die in ergreifender Weise von dem Messias spricht, der in Rom unter den Bettlern sitzt und für die Juden Busse tut, ist für Luther nichts als ein „Teuffels wort“ (WA 53,461,5).

b) 2. Sam. 23,2-5: Bei dieser und den folgenden Stellen darf die Darstellung sich kürzer fassen, denn Luther unterstützt mit ihnen eigentlich nur seine Auslegung von Gen. 29

WA 53,456,21. WA 53,457ff.,23. Diese von Luther bekämpften jüdischen Deutungen begegnen in der neutestamentlichen Literatur des öfteren: z.B. Schiloh = die Stadt Silo bei J. Lindblom, The Political Background of the Shiloh-Oracle, in: SVT 1, Leiden 1953, S. 86f.; O. Eissfeldt, Silo und Jerusalem, in : SVT 4, Leiden 1957, S.140f.; H.J. Zobel, Stammesspruch und Geschichte, Berlin 1965, S. 13. K. Marti, Nachwort des Herausgebers, in: ZAW 29, 1909, S. 197f. denkt an Nebukadnezar und polemisiert damit gegen W. Schröder, Gen. 49,10, in: ZNW 29, 1909, S. 186ff., der an Sela, den jüngsten Bruder Judas, gedacht hatte. Zur Geschichte der Exegese dieser Stelle vgl. A. Posnanski, Schiloh, Leipzig 1904 (bis zum Ende des Mittelalters), die neuere Literatur bei J. Coppens, La bénédiction de Jacob, in: SVT 4, Leiden 1957, S. 113.

30 31

25 49,10. Luthers Übersetzung: „Unter den letzten Worten David, 2 Reg. 23., spricht er also: ‚Der Geist des HERRN hat durch mich gered, und sein wort ist durch meine zunge geschehen. Der Gott Jsrael hat mir gered, der gewaltige in Jsrael, etc.’ Und bald hernach: ‚Was ist mein Haus bey Gott’ (oder, das ichs eigentlich und genaw gebe aus dem Ebreischen:) ‚Mein Haus ist ia nicht also, etc.’ das ist: Mein Haus ist ia nicht werd, Es ist zu hoch und zu viel, das Gott mit mir armen Man so viel thut, Denn er hat mit mir einen ewigen Bund auffgericht, der allenthalben zugericht und gehalten werden sol“ (WA 53,462,18). Bei der Auslegung dieser Stelle braucht Luther nicht gegen jüdische Glossen zu polemisieren, da er hierzu keine kannte32. Er ist sicher, dass durch Davids Mund der Geist Gottes redet33, und deshalb Davids Testament eine Verheissung ist, „die ewig sein und bleiben mus“ (WA 53,463,1). Dann gibt es aber nur die Alternative: „Wir müssen Davids Haus oder Erben haben, der da regiret von Davids zeit an bis daher und in ewigkeit, oder David ist gestorben als ein verzweivelter Lügener an seinem letzten ende“ (WA 53,463,13). Gott aber kann nicht zum Lügner geworden sein. Also „las die Jüden solchen Erben Davids geben, Denn sie müssen jn geben... Geben sie keinen Erben Davids noch Haus, So hat sie dieser Spruch zu grund verdampt, das sie gewislich On Gott, On David, On Messia, und on alles, verlorne und ewig verdampte Leute sind“ (WA 53,463,24). Angesichts der Geschichte des Judentums, des Elends und der Zerstreuung der Juden kann Luther nur erneut das Urteil bekräftigen: „Darumb ist gewaltiglich hieraus beschlossen, das Messias komen sey, da das Seepter Juda weg kam, wo wir anders wollen Gott nicht lestern, das er seinen Bund und Eid solte nicht gehalten haben“ (WA 53,465,20). Der Spruch 2. Sam. 23,2 ff. kann auch nicht auf Salomo bezogen werden, denn dieser hat als König die gegebenen Verheissungen nur annähernd erfüllen können34. Alles in allem ist der Text „zu mechtig und zu hell“ (WA 53,468,25), als dass Luther in seiner Deutung unsicher werden könnte. Für ihn sind solche „messianischen Weissagungen“ „sehr grosse Freude und Trost“, „weil wir auch im alten Testament solche starcke Zeugnis haben“ (WA 53,468,29). „Der Teufel aber und die Jüden“ werden durch die so verstandenen Sprüche überführt, dass sie „aus mutwilligem, verbosetem fursatz“ nicht bekennen wollen, dass in Jesus Christus die Verheissungen erfüllt sind (WA 53,468,28). 32 33 34

WA.53,462,17: „den (spruch) die Jüden nicht so zu martert haben, noch zu martern können“. WA 53,462,25. WA 53,466ff.; vgl. auch WA 11,320 (1523).

26 c) Jer. 33,17-26: „So spricht der HERR: Es sol nicht ausgerottet werden (ich mus grob Ebreisch deudschen) von David ein Man, der da sitze auff dem Stuel des Hauses Jsrael, und von den Priestern, Leviten sol nicht ausgerottet werden ein Man, fur mir, der Brandopffer thu, und Speisopffer reuchere, und Opffer schlachte, ewiglich. Und das Wort des HERRN geschach zu Jeremia, So spricht der HERR: Wenn mein Bund auffhören wird mit dem tage und nacht, das nicht tag und nacht sey zu seiner zeit, So wird auch mein Bund auffhören mit meinem knecht David, das er nicht einem Son habe zum Könige auff seinem Stuel, Und mit den Priestern und Leviten, meinen Dienern, etc. Und des HERRN Wort geschach zu Jeremia: Hastu auch gesehen, Was dis Volck redet und spricht? Hat doch der HERR auch die zween Stemme verworffen, welche er hat auserwelet, Und sie verbittern mein Volck, als solten sie nicht mehr mein Volck sein, So spricht der HERR: Halt ich meinen Bund nicht mit Tag und Nacht, noch die Ordnung Himels und der Erden, So wil ich auch verwerffen den Samen Jacob und David, meines Knechts, das ich nichts aus jrem Samen neme, die da herrschen uber den Samen Abrahams, Jsaac und Jacob. Denn ich wil jr Gefengnis wenden, und mich uber sie erbarmen“ (WA 53,469,13). Auch aus dieser Stelle liest Luther die eindeutige Verheissung der Dauer der Davidsherrschaft heraus, und wieder stellt er die Frage nach der Übereinstimmung von Verheissung und tatsächlichem Geschichtsverlauf: „Wie reimet sich solchs zu samen?“ (WA 53,469,37). Jüdisches „reimen und deuten“ lässt er nicht gelten: „Der Spruch ist uns gewis, das Davids Haus sol ewig sein... Ist das war, So Mus Messia komen sein, Da Davids Stuel und Regiment auff höret“ (WA 53,470,37). „Unser Glaube ist damit frölich gesterckt, sicher und gewis gemacht, das wir den rechten Messia haben“ (WA 53, 473,6). Wenn „ein schlipferiger jüde“ (WA 53,473,11) in einer Polemik gegen Luthers „Wider die Sabbather“ versucht, an der Bedeutung von „La olam“ herumzudeuteln, dann bekräftigt Luther dagegen erneut seine Unterscheidung von „menschlich ewig“ und „recht göttlich ewig“ (WA 53,473,16)35.

d) Hag. 2,6-9: „So spricht der HERR: Es ist noch umb ein kleine zeit, das ich Himel und Erden, das Meer und Trocken bewegen werde, ja alle Heiden wil ich bewegen, Da sol denn komen der Heiden trost, Hemdath. Und ich wil dis Haus vol herrligkeit machen, spricht der HERR Zebaoth, Es sol die herrligkeit dieses letzten Hau35

Vgl. auch WA 50,324 (1538).

27 ses grösser sein, denn des Ersten gewesen ist, spricht der HERR Zebaoth“ (WA 53,476,6). Luther versteht diese Stelle so: „Er (d.i. der Heiden Trost) sol komen, wenn derselbige Tempel (d.i. der, an dem Haggai baut) noch stehet“ (WA 53,476,23). Nun ist aber der Tempel zerstört, und der Messias, d.i. der Trost der Heiden, ist nach jüdischer Anschauung nicht erschienen. Heftig polemisiert Luther gegen die jüdischen Ausleger, die das „Hemdath“ „creutzigen“ und es mit „Gold und Silber aller Heiden“ (WA 53,477,15) übersetzen. Zwar haben die Juden „nach der Grammatica“ (WA 53,477;16) nicht so unrecht, denn chämdah bedeutet ja tatsächlich „die begird“. Dass aber die Heiden Gold und Silber begehren sollen, ist für Luther nur Anlass zu bissigen Bemerkungen über den „geitzigen verstand“ der Juden, die ihre eigene Habgier in den Text hineinlesen: „Pfu euch hie, pfu euch dort, und wo jr seid, jr verdampten Jüden, das jr diese ernste, herrliche, tröstliche Wort Gottes so sehendlich auff ewern sterblichen, madichten Geitzwanst zihen thüret, und scheinet euch nicht, ewern Geitz so gröblich an den tag zu geben“ (WA 53,478,27). Nach Luthers Meinung, der sich hier auf seine üblichen Gewährsmänner Nikolaus von Lyra und Paulus von Burgos stützt, haben die „alten Vorfaren diesen Spruch Haggei von Messia verstanden“ (WA 53,480,1). Die Juden lassen also sogar von den Lehren ihrer Vorfahren ab. „Summa, es ist Messia, an dem die ungleubigen, verstockten Juden eitel Unlust, ekel und grewel solten haben... Aber den Heiden solt er Wilkomen heissen, als jres hertzen freude, lust, aller wunsch und begird. Denn er bringt jnen erlösung von Sünden, Tod, Teufel, Helle und allem ubel, ewiglich. Ja, das ist der Heiden begird, hertzen lust, freude und trost“ (WA 53,480,18)36. Die Juden „wollens nicht, sie könnens nicht leiden, das wir Heiden solten jnen für Gott gleich sein, Und der Messia solt so wol unser, als jrer trost und freude sein“ (WA 53,481,9).

e) Dan. 9,24: „Siebenzig Wochen sind bestimpt uber dein Volck, und uber deine heilige Stad, das dem ubertreten gewehret, die sunde versiegelt, die missethat versünet, ein ewige Gerechtigkeit bracht, und die Gesicht und Weissagung versiegelt, und der Allerheiligest gesalbet werden“ (WA 53,492,10). Diesen Spruch hält Luther für den „furnemesten einer.. in der gantzen Schrifft“ (WA

36

2

Vgl. auch WA 13,523 ff. (1524ff.); Walch 14,67 (1532).

28 53,492,15). Grundsätzlich versteht er die Stelle als Weissagung auf Christus hin37, hier aber will er sich vornehmlich auf die Zeitangabe innerhalb der Verheissung beschränken. Sie soll die Frage beantworten, „ob solcher Messia oder Priester komen sey oder noch komen solle, unsern Glauben zu stercken wider alle Teufel und Menschen“ (WA 53,492,20). Die siebzig Wochen, von denen Daniel spricht, sind nicht „Tageswehen“, sondern „Jarwochen“, so „das eine wochen sieben jar heisse, und macht in Summa .CCCCXC.“ (WA 53,492,23)38. Diese 490 Jahre sind vollendet worden im Jahr 70, als die Römer Jerusalem zerstörten39. Der Messias aber muss in der letzten, also in der 69. Woche getötet worden sein. „Doch also, das er wider lebendig werde. Denn er sol in der selbigen letzten wochen ‚vielen den Bund leisten’“ (WA 53,493,7). Um sein Verständnis der Stelle zu untermauern, unternimmt Luther einen weiten Ausflug in die Geschichte des Judentums 40. Dabei setzt er sich zugleich mit einigen jüdischen Interpretationen der Stelle auseinander, die er mit dem Hinweis auf die historischen Tatsachen widerlegt.

3. LUTHERS SCHRIFTAUSLEGUNG IN „VON DEN JUDEN UND IHREN LÜGEN“

Im Jahr 1920 konnte K. Holl noch schreiben: „Die Geschichte der Auslegung gehört bei uns zu den allervernachlässigsten Gebieten. Und insbesondere für Luther ist hierin noch kaum etwas getan. Es gibt eine Reihe wertvoller Arbeiten über Luthers Stellung zur Heiligen Schrift... Die andere wichtigere Seite, wie Luther den Text selbst anfasst, auf welche Schwierigkeiten grundsätzlicher Art er dabei stösst und welche Lösungen sich ihm ergeben, wird überall kaum gestreift“41. Die Lage hat sich seit Holls Zeiten gewandelt. Das neuerwachte Interesse am hermeneutischen Problem hat auch die Arbeit an der Geschichte der Auslegungskunst vorangetrieben. Luther ist dabei zu einem beliebten Objekt entsprechender Untersuchungen geworden. Leider sind dabei seine Judenschriften nur gelegentlich ausgewertet worden, obwohl in ihnen eine reiche Fülle der Ausle37

WA 53,492,16: « Er (d.i. der spruch) nicht allein die zeit Christi stimmet, Sondern auch weissaget, was er thun sol, nemlich: Sünde weg nemen, Gerechtigkeit bringen, Und dasselbige durch seinen Tod, Und macht den Christum zum Priester, der aller Welt Sünde tregt“. 38 Vgl. zu Luthers Zeitrechnung im Anschluss an Dan. 9 auch WA 11,332 (1523). 39 Vgl. WA B 8,90f. (1537). 40 Zu Luthers Geschichtskenntnissen vgl. WA 53,107-127 (Supputatio annorum mundi 1541/1545). 41 K. Holl, Luthers Bedeutung für den Fortschritt der Auslegungskunst, in : Gesammelte Aufsätze zur Kir3 chengeschichte, Bd. 1 Luther, Tübingen 1923 , S. 544f.

29 gungen zu finden ist. So bleibt zumindest für Luthers Judenschriften die Aufgabe weiterhin bestehen, die Holl 1920 formuliert hat.

Die Analyse von Luthers Schriftauslegung in seinem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ soll unter drei Gesichtspunkten geschehen: 1. Wie wird die Schrift als Gegenstand der Auslegung beurteilt? 2. Welche Anforderungen werden an den Ausleger gestellt? 3. Welche Aufgaben werden der Auslegung gestellt42? Es ist leicht einzusehen, dass das Material, das uns der Traktat bietet, zu einer vollständigen Darlegung der Probleme nicht ausreicht. Es wird deshalb, wenn es sich als notwendig erweist, aus anderen Schriften des Reformators ergänzt werden.

a) Wie wird die Schrift als Gegenstand der Auslegung beurteilt?

Beim Studium des Traktats „Von den Juden und ihren Lügen“ fällt dem Leser wohl zuerst die Tatsache auf, dass Luther die Auseinandersetzung mit den Juden als eine vorwiegend exegetisch-hermeneutische betreibt. Die üblichen Beschuldigungen der Juden als Wucherer, Brunnenvergifter, Hostienschänder usw. kennt Luther zwar auch - und er hält sie zunehmend für glaubhaft -, aber sie stehen doch sehr am Rande seiner Polemik43. Ihm geht es um das unterschiedliche Verständnis, den unterschiedlichen Umgang mit der Heiligen Schrift. Luther hört von den jüdischen Lästerungen Christi und von der Proselytenmacherei der Juden in Böhmen44. Angesichts dieser Tatbestände entbrennt sein Zorn, und er beginnt den Kampf an der Stelle, wo der Streit am tiefsten geht, wo die möglichen bzw. schon eingetretenen Folgen die schwerwiegendsten sind. Er kämpft gegen das für seine Begriffe lästerliche Schriftverständnis der Juden, denn in diesem sind für ihn alle unseligen und verwerflichen Erscheinungen am Judentum begründet.

42

3

In dieser dreigeteilten Betrachtungsweise will G. Heinrici, in : RE 7, S. 729, die Geschichte der Hermeneutik untersucht wissen. Holl hat diese Dreiteilung in modifizierter Weise aufgenommen. 43 In „Von den Juden und ihren Lügen“ zählt Luther einige dieser Beschuldigungen auf, WA 53,530,18, und bemerkt: „Ich weis wol, das sie solches und alles leugnen! Es stimmet aber alles mit dem Urteil Christi...“. Vgl. auch Luthers letzte Briefe an Katharina von Bora, WA B 11,275,287, in denen er den Verdacht äussert, dass seine schwere Erkrankung durch zauberische Machenschaften der Juden von Rissdorf verursacht worden sei. 44 Vgl. Newman, S. 621ff.

30 So also ist es zu erklären, dass Luthers Judenschriften letztlich nichts anderes als Erörterungen strittiger Bibelstellen sind45.

Der beständige Vorwurf Luthers den Juden gegenüber ist der, dass sie der klaren Autorität der Heiligen Schrift gegenüber ungehorsam sind46. Denn nur als Ungehorsam gegen die Autorität der Schrift kann Luther sich das jüdische Deuteln am Bibelwort erklären, und diesen Ungehorsam will er mit allen Mitteln bekämpfen.

Die Juden „sind die rechten Lügener und Bluthunde, die... die gantze Schrifft mit jrn erlogenen glosen, von anfang bis noch daher, on auffhören verkeret und verfelscht haben“ (WA 53,433,13). Immer wieder erhebt Luther diesen Vorwurf gegen die Juden47. In der Schriftauslegung der Juden wird ihm einerseits der typische Umgang des „Superbus“, wie ihn Augustinus beschrieb48, mit dem Wort Gottes sichtbar: „Ja, das heisst recht verstehen, Was Gottes gebot sey,... Nemlich, wenn wir erkennen, ja auch fülen, das wir sie haben und nicht halten noch halten können, derhalben fur Gott arme Sunder und schüldig sein müssen, Und allein aus bloser Gnade und Barmhertzigkeit solcher schuld und ungehorsam vergebung erlangen durch den Man, auff welchen Gott solche Sund gelegt hat... Die Juden aber sind so heilig wie die Barfüsser Münche... da ist blindheit und hoffart, so fest als ein eisern Berg. Sie haben recht, Gott hat unrecht“ (WA 53,445,21)49. Andererseits wird gerade in der verkehrten Schriftauslegung durch die Juden der Zorn Gottes über diesem Volk sichtbar: „Darumb hüte dich, lieber Christ, fur den Jüden, die du hieraus sihest, wie sie durch Gottes zorn dem Teufel ubergeben sind, Der sie nicht allein des rechten verstands in der Schrifft, sondern auch gemeiner menschlicher vernunfft, scham und sinn, beraubt hat, und treibt durch sie nur eitel Spott mit der heiligen Schrifft... Denn wer so spöttisch und sehendlich mit dem schrecklichen Wort Gottes gauckeln that, ... der mus keinen guten Geist bey sich haben“ (WA 53,479,24)50. Worin

45

Luther hat eben nicht mehr die Absicht missionarischer Einwirkung auf die Juden, obwohl er nicht ausschliessen möchte, dass sich einzelne Juden doch noch bekehren: WA 53,417,20; 597,9 (1543). Der jüngere Luther hatte da anders gedacht, vgl. etwa WA 11,314 ff. (1523) und die in Anm. 109 genannte Literatur. 46 Dieser Vorwurf wird bereits in den „Dictata super psalterium“ von 1513/1516 erhoben; vgl. Lewin, S. 2ff. 47 Vgl. WA 53,436,10; 450,19; 458,26; 480,1; 510,31. 48 Vgl. Maurer, S.41. 49 Vgl. auch WA 53,435,10. 50 Vgl. auch WA 53,434,26; 501,7; 517,24; 522,20.

31 erkennt nun Luther im einzelnen das Lästerliche der jüdischen Schriftauslegung? Die Hauptsünde der Juden ist ihre pervertierte Messiaserwartung. In unserer Schrift nennt er denjenigen Teil das „Heuptstück“ (WA 53,449,3), in dem er die jüdische Messiashoffnung behandelt und gegen sie polemisiert. Nur das interessiert Luther wirklich, dass die Juden „jren Messia bei jnen selbs abgemalet (haben), also, das er solchen fleischlichen, hoffertigen dunkel, vom Adel des geblüts und stammes, stercken und erhöhen (sol)“ (WA 53,421,4). Die Fixierung der Juden auf einen erdichteten Messias hindert sie daran, in Jesus Christus den durch das ganze Alte Testament verheissenen Messias zu erkennen und anzunehmen. Den Juden ist der Gedanke unerträglich, dass sie mit den Heiden den Messias gemeinsam haben könnten: „Sie wollen den Messia allein haben und der Welt Herrn sein, Die verfluchten Gojim sollen Knechte sein“ (WA 53,481,18). Sie haben die Hoffnung auf einen Messias aufgegeben, der sie von Sünde und Tod erlösen wird, und erwarten einen politischen Messias, der sie in irdische Herrlichkeit geleiten soll51. Mit dieser Hoffnung befinden sich die Juden für Luther in einem so krassen Gegensatz zu den klaren Aussagen der Schrift und dem Verlauf der Geschichte, dass sie die Schrift, „Gottes Wort (so) lestern, verfolgen, spotten... Das man solch Volck mus nach den Historien nennen:... Gottes worts Feinde“ (WA 53,436,11). Dies ist der Vorwurf, den Luther immer wieder neu erhebt: „Die itzigen Jüden (sind) seer grobe Lerer und unvleissige Schüler der Schrifft“ (WA 53,471,20). Als solche machen sie Zusätze zu Gottes Geboten52, fallen vom Text53, zerreissen ihn54 und legen ihn eigensinnig aus55. Die Juden sondern die von Gott gebotenen Werke (z.B. die Beschneidung) als „ein opus operatum, eigen werck, vom Wort Gottes“ (WA 53,437,5). Ja, sie haben Gottes Gebot empfangen, sie wissen darum und halten es doch nicht, sondern handeln unentwegt dagegen56. Dieser Ungehorsam wird von Luther daran erkannt, dass die Juden die äusseren Zeremonien sorgfälltig beachten, Gott aber nicht ihren Gott sein lassen57. Ihnen gilt die göttliche Autorität der Schrift weniger als die der „Rabinen, Thalmudisten, Kochabisten“ (WA 53,502,21)58. 51

WA 53,498,6. WA 53,430,14. 53 WA 53,457,26. 54 WA 53,504,4. 55 WA 53,458,21. 56 WA 53,443,2. 57 WA 53,447,20. 58 Vgl. auch WA 53,491,1. 52

32 In der Verkehrung des Schriftsinns, in der Ablehnung Christi erfüllt sich das Schicksal der Juden. Denn „wer den Son nicht ehret, der ehret auch den Vater nicht, der jn gesandt hat etc. Das sind (Gott sey lob) deudliche, verstendliche wort, Nemlich, das alles, was zu ehren oder unehren dem Son geschieht, das geschieht gewislich Gott dem Vater selbs... Wer nu den Jhesum von Nazareth, Marien der Jungfrauen Son, leugnet, lestert, flucht, der leugnet, lestert flucht auch Gott den Vater selbs, der Himmel und Erden geschaffen hat. Solchs thun aber die Jüden“ (WA 53,531,16). Als Lästerer Christi, des Erlösers und der Mitte der Schrift, und Gottes, des Schöpfers Himmels und der Erden, sind die Juden für Luther deutliche Beispiele endgültiger Verdammnis.

Luther ist der Überzeugung, dass „Mose und alle rechte Jsraeliten die Sprüche von Messia verstanden (haben) aus lauter gnaden und barmhertzigkeit, on busse und verdienst geschenckt“ (WA 53, 501,27)59. Den „Keisers Jüden“ ist im Unterschied zu den „Moses Jüden“ das rechte Verständnis der Schrift verloren gegangen, weil sie Christus nicht als die Erfüllung der Verheissung angenommen haben60. Luther steht vor dem Missbrauch der Heiligen Schrift durch die Juden mit dem Gefühl tiefsten Entsetzens. Nur der Zorn Gottes und das Wirken Satans können ihm die Möglichkeit solcher Verdammnis erklären61. Nur der Teufel kann Menschen in solche Finsternis des Herzens führen62. Die furchtbare Blindheit der Juden geht sogar so weit, dass auch noch den Christen das rechte Verständnis der Schrift zunichte gemacht werden soll63. Luther würde das alles zuletzt vielleicht doch unverständlich bleiben, wenn er nicht den gleichen Frevel gegen die Heilige Schrift als Wort Gottes bei den Papisten64, den Schwärmern65 und Mohammedanern66 beobachtet hätte67.

Luther kämpft in dem Bewusstsein, dass er mit allen rechten Christen das richtige Verständnis der Schrift hat: „Wir haben die Schrifft besser denn sie (d.s. die Juden), das 59

Vgl. auch WA 53,480,1; 487f.,35. Vgl. WA 53,524f.,30. WA 53,468,6. 62 WA 53,511,7; vgl. R. Hermann, Von der Klarheit der Heiligen Schrift, Berlin 1958, S. 109ff. 63 WA 53,503,19. 64 WA 53,437,21; 438,4; 449,22 (!); 485,7; 511,22; 522,23. 65 WA 53,461,17; 503,25. 66 WA 53,485,7; 511,3; 522,23. 67 Vgl. zur Ineinssetzung von „Türken, Juden und Papst“ die Belege bei Lewin, S. 48 Anm. 7, S. 106 Anm. 8 und Th. Knolle, Luthers Stellung zu den Juden, in: Luther 20, 1938, S. 117-124, bes. S.124. 60 61

33 wissen wir (Gott lob) fur war, Und sol alle Teufel uns die selbige nicht nemen, schweige denn die elenden Jüden“ (WA 53,450,16). Es gibt für ihn keine eigentlichen Unsicherheiten in der Schriftauslegung, denn „der Text ist zu mechtig und hell“ (WA 53,468,24)68. Die Überzeugung von der Klarheit der Heiligen Schrift ist einer der wichtigsten Punkte in der Auseinandersetzung Luthers mit seinen theologischen Gegnern. Seine Anschauungen darüber hat Luther bereits 1525 in „De servo arbitrio“ in der Auseinandersetzung mit Erasmus umfassend dargelegt. Die Klarheit oder Eindeutigkeit der Schrift (claritas, evidentia, perspicuitas usw.) ist letztlich in der Auferstehung Christi begründet: „Quid enim potest in scripturis augustius latere reliquium, postquam fractis signaculis et uoleto ab hostio sepulchri lapide, illud summum mysterium proditum est, Christum filium Dei factum hominem, Esse Deum trinum et unum, Christum pro nobis passum et regnaturum aeternaliter?... Tolle Christum e scripturis, quid amplius in illis inuenies?“ (WA 18,606,24). Von Christus her und durch Christus wird der eigentliche Sinn der Schrift eröffnet69. Ist so die Klarheit der Schrift in ihrer Christusbezogenheit begründet, so kann man doch auch auf die Anschauung von der Autorschaft des Heiligen Geistes hinweisen. Dann gilt: „Der heilige Geist ist der aller einfältigste Schreiber und Redner, der im Himmel und auf Erden ist: darumb haben seine Worte auch nicht mehr als einen einfältigen Sinn, welchen wir den schriftlichen oder buchstabischen Zungensinn nennen“ (WA 7,650)70.

Nun weiss natürlich auch Luther davon, dass sich viele Texte der Heiligen Schrift nicht ohne weiteres verständlich machen lassen. Hier hilft er sich mit der Unterscheidung von res und signum, die schon Augustin vertrat71. Die Sache (res) liegt in klarstem Licht vor aller Welt offen, einzelne Merkmale (signa) können im Dunkel verborgen sein. In dieses Dunkel fällt dann aber von der Sache her das Licht so hell, dass die Dunkelheit aufge-

68

Zu 2. Sam. 23,3-5. Luther spricht immer wieder davon, dass das Wort klar und eindeutig ist. Allerdings sind diese Äusserungen nur beiläufig und wenig differenziert: WA 53,432,14; 456,3; 465,15; 465,26; 467,29; 468,6; 468,12; 468,24; 473,4; 493,4; 505,17; 505,20; 510,16; 534,4; 534,17. 69 Vgl. auch WA 46,414,15: „Universa scriptura de solo Christo est ubique“ (1538). Vgl. auch H. Bornkamm, Das Wort Gottes bei Luther, München 1933, S. 23 ff. 70 Luther ist jedoch von dem Dogma der Verbalinspiration weit entfernt. Das Wort ist die Schale, das Gefäss, in dem sich Gott an den Menschen wendet. 71 De doctrina christiana I 2; II 1.

34 hoben wird72. Das Problem des Verhältnisses von res und signum kann Luther auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass die Worte deutlich und fassbar vorliegen, aber doch nicht der eigentlich-sachliche Gehalt der Heiligen Schrift sind. Er sieht dann das Verhältnis von „Wort“ (signum) und „Sache“ (res) so: „Porro natura sic ordinatum est, ut verba testante etiam Philosopho debeant servire rebus, non res verbis... Igitur in omni expositione primo subiectum considerari debet, hoc est, videndum est, de qua re agatur. Hoc postquam factum est, deinde verba, si ita fert grammatices ratio, ad rem ducenda sunt, et non res as verba... Quia enim non habent cogitationes dignas spiritualibus rebus, de quibus sacrae literae tractant, a re aberrant, et verba trahunt ad vanas et carnales cogitationes“ (WA 42,195,3)73. In diesen Zusammenhang gehört auch der oft genannte Grundsatz: „Scriptura sacra... ipsa per sese certissima, facillima, apertissima, sui ipsius interpres, omnium omnia probans, iudicans et illuminans“ (WA 7,97,23). Dieser wendet sich, als er 1520 notiert wurde, wohl in erster Linie gegen die katholische Schriftauslegung, die neben der Heiligen Schrift auch die kirchliche Tradition als Quelle der Offenbarung und darum als Norm der Lehre und Inhalt der Verkündigung anerkannte74. Später hat Luther dann das Prinzip „Sola scriptura“ in Verbindung mit der Überzeugung von der Klarheit der Schrift auch gegenüber Schwärmern und Juden vertreten.

Luthers Lehre von der Klarheit der Heiligen Schrift muss noch insofern näher ausgeführt werden, als die Unterscheidung von claritas „in uerbi ministerio“ und claritas „in cordis cognitione“ (WA 18,609,4) später für die Frage nach der Person des Auslegers wichtig wird. Die claritas „in cordis cognitione“ oder „claritas interna“ ist nur dem Menschen gegeben, der den Heiligen Geist besitzt75. Sie ist Geschenk Gottes und als solches der Verfügbarkeit des Menschen entzogen. Ja, Luther ist der Überzeugung, dass eigentlich alle Menschen ein verfinstertes Herz haben, das sich dem rechten Erkennen der Schrift widersetzt, solange der Geist den Menschen nicht in eine neue Kreatur verwandelt 72

Die Regel, dass man stets vom „Hellen“ auszugehen und mit ihm in das „Dunkel“ hineinzuleuchten habe, ist altkirchliche Überlieferung; vgl. Holl, S. 559 und Th. Knolle, D. M. Luthers Antijüdische Psalterauslegung, in: Luther 20, 1938, S. 100-106, bes. S. 100f., sowie auch WA 18,606,30f. 73 Vgl. F. Hahn, Luthers Auslegungsgrundsätze und ihre theologischen Voraussetzungen, in: Zeitschrift f. syst. Theologie 12, 1935, S. 165-218, bes. S. 167: „Die Theologie geht der Einzelexegese voraus; erst res, dann verba!“ 74 Vgl. J. Beckmann, Die Bedeutung der reformatorischen Entdeckung des Evangeliums für die Auslegung der Heiligen Schrift, in: Luther 34, 1963, S. 20-30, bes. S. 24. 75 WA 18,609,55: „Si de interne claritate dixeris, nullus homo unum iota in scripturis uidet, nisi spiritum Dei habet... Spiritus enim requiritur ad totem scripturam et ad quamlibet eius partem intelligendam“.

35 hat76. K. Holl hat das in dieser Anschauung verborgene Problem so umschrieben: „Was Gott, was der Geist dem Menschen zu sagen hat, ist nirgends so klar und eindringlich ausgesprochen wie in dem Wort. Aber dass das Wort gerade im bestimmten Augenblick den Menschen ergreift, das ist Wirkung des göttlichen Hauchs, der jetzt eben für diesen Menschen darüber streift. Dieser ‚ohn Mittel’ von Gott ausgehende Geist belebt das Wort, aber andrerseits erhält der Geist, das Ungreifbare, eben dadurch, dass er das Wort belebt, bestimmten Inhalt und Ausfüllung. Verständnis des ‚Buchstabens’ und geistliches Verständnis sind darum nicht ‚auseinanderzuspalten’. Man kann das eine nicht gewinnen, ohne auch das andere zu haben“77. Das Reden von der „claritas externa“, unter Mithilfe des Worts geschaffen, ist eigentlich die Behauptung der „scriptura sui ipsius interpres“. Zur Deutung der Schrift sind keine weiteren Autoritäten notwendig. Alle Aussagen in der Schrift werden durch das Wort in das gewisseste Licht gebracht und aller (!) Welt offen dargelegt78.

Luthers Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ ist vorwiegend als Auslegung messianisch verstandener Texte des Alten Testaments abgefasst. Das wirft die Frage auf, weshalb Luther den Beweis für die Messianität Jesu Christi gerade aus dem Alten Testament erhebt. Man könnte meinen, dass er in einer Auseinandersetzung, in der die Juden die ständig apostrophierten Gegner sind, es als reizvolle Aufgabe ansehen könnte, diese auf ihrem eigenen Feld zu schlagen. Aber diese Anschauung ist angesichts der Tatsache, dass Luther ja gerade nicht (mehr) mit den Juden disputieren will, sondern nur noch zu seinen christlichen Glaubensbrüdern spricht79, nicht zu halten. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass der Reformator die Messianität Christi auch in Schriften, die mit den Juden und ihrer Schriftauslegung nichts zu tun haben, aus dem Alten Testament erhebt80, das ihm „eine ununterbrochene Kette von Aussagen prophetischer Vorschau“ auf Christus ist81. Uns ist dieses Verständnis schwierig, ja unmöglich geworden: „Die

76

WA 18,609,7: „Omnes habent obscuratum cor, ita, ut, si etiam dicant et norint proferre omnia scripturae, nihil tamen uerum sentiant aut uere cognoscant; neque credunt Deum, nec sese esse creaturas Dei“. Holl, S. 558. 78 WA 18,609,12: „Si de externa dixeris, Nihil prorsus relictum est obscurum aut antiquum, sed omnia sunt per uerbum in lucem, producta certissimam, et declarata toto orbi, quaecunque sunt in scripturis“. 79 Vgl. WA 53,417ff.,20; vgl. M. Stöhr, Luther und die Juden, in: Evangelische Theologie 20, 1960, S. 157182, bes. S. 163. 80 Vgl. die Zusammenstellung bei H. Bornkamm, Luther und das Alte Testament, Tübingen 1948, S. 86ff. 81 Bornkamm, Luther und das Alte Testament, S. 87. 77

36 moderne historische Forschung... kann die durchgreifende prophetisch-christologische Deutung vieler Stücke des Alten Testaments, die Luther selbstverständlich war, nicht erneuern. Sie ist unausweichlich so auf die jeweilige geschichtliche Absicht des Textes gerichtet, dass für eine direkte Beziehung auf den künftigen Christus kein Raum bleibt, und eine Doppelexegese ist ihr durch Luther selbst verboten“82. Luther empfand seine Auslegung des Alten Testaments keineswegs als „Doppelexegese“, und wir müssen versuchen, in aller Kürze die theologischen Motive aufzuweisen, die ihn bei seiner Auslegung bestimmten. Da ist zuerst die Überzeugung von der Einheit der beiden Testamente zu nennen. Die Trennung der Schrift in Altes und Neues Testament ist für Luther keine tiefgehende. Tiefgehend dagegen ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, die sich durch beide Testamente hindurchzieht. An Paulus hat Luther gelernt, dass das Alte Testament voller Evangelium sei, das durch rechtes Verständnis erkannt werden kann83. Das Evangelium im Alten Testament wird in den Verheissungen hörbar, die auf Christus bezogen werden müssen. Diese Bezugnahme auf Christus ist aber nur vom Neuen Testament her möglich. Auf diese Weise kann das eine nicht ohne das andere sein. Die Überzeugung von der Einheit beider Testamente beruht also auf dem Wissen um Christus als dem einzigen Inhalt oder Scopus der Schrift: „Universa Scriptura de solo Christo est ubique“ (WA 46,414,15)84. Seinerzeit hat A. Schleiff darauf hingewiesen, dass für Luther auch die Vorstellung von der „Historia sacra“, der einheitlichen Geschichte Alten und Neuen Testaments, bedeutsam gewesen sei und seine Bibelinterpretation beeinflusst habe. Ob dieses zutreffend ist, scheint fraglich zu sein85.Mit der bisher skizzierten Einstellung zur Heiligen Schrift kann Luther in die Einzelexegese, die eigentliche Auseinandersetzung mit den Juden, treten. Es geht ihm um Christus als dem Kern der Schrift und offenbaren Scopus der messianischen Weissagungen. Dass es schon im Alten Testament solch starkes Zeugnis von und für Christus gibt, bedeutet ihm eine

82

Bornkamm, Luther und das Alte Testament, S. 223f. Vgl. WA 37,365,7 (1534); Bornkamm, Luther und das Alte Testament, S. 69ff.; besonders das Zitat WA 10 I 2, 159,7 (1522); dann auch G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, München 1942, S. 427ff.; ders., Luther, Tübingen 1964, S. 120ff. 84 Zu den theologischen Konsequenzen des „Christus als Scopus der Schrift“ vgl. Beckmann, S. 26ff. und V. Herntrich, Luther und das Alte Testament, in: Lutherjahrbuch 20, 1983, S. 93-124, bes. S. 96ff. 85 Vgl. A. Schleiff, Luthers Deutung des Alten Testaments aus seiner Sicht der Geschichte, in: Luther 21, 1939, S. 75-82, bes. S. 80f. 83

37 Stärkung des Glaubens86. Dieses Zeugnis zu erheben und zu verdeutlichen, ist die Aufgabe, vor die sich Luther als Exeget gestellt sieht.

b) Welche Forderungen werden an den Ausleger gestellt?

Zunächst sind einige Beobachtungen zu notieren, die Luthers technisch-methodische Voraussetzungen betreffen. Offensichtlich besitzt er recht gute Hebräischkenntnisse, die er in der polemischen Auseinandersetzung zu nutzen versteht87. Die Ergebnisse der exegetischen Arbeit vor ihm kennt er vorwiegend aus der „Postilla perpetua in Vetus et Novum Testamentum“ des Nikolaus v. Lyra, die „eine Fundgrube für Protestanten und Katholiken“ genannt wurde88. Aus der „Postilla“ bezieht Luther vor allem seine Kenntnisse der rabbinischen Schriftauslegung89. Neben Nikolaus v. Lyra hat Luther die „Additiones“ des Paulos v. Burgos ausgewertet, der ihm besonders als Zeuge gegen die Juden wertvoll sein musste, weil er getaufter Jude war90. Daneben hat Luther noch „Der gantz Jüdisch glaub“ des Antonius Margaritha91, „Victoria adversus impios Hebraeos“ von Salvagus Porchetus92 und wahrscheinlich auch Raymund Martins „Pugio fidei“93 gekannt und benutzt. Eventuell sind ihm sogar Salomon b. Isaaks (Raschi) Komentare direkt zugänglich gewesen94. Neben diesen mehr oder weniger theologischen Autoren erwähnt Luther in unserer Schrift eine ganze Reihe antiker Autoren, von denen er vor allem historische Nachrichten übernimmt: Philo (WA 53,493,33), Josephus (WA 53,488,13; 494,36), Platon (WA 53,420,9) und der Bischof Eusebius (WA 53,497,11; 546,37). Äsop,

86

Vgl. WA 53,468,28. Zu Luthers Beschäftigung mit den alten Sprachen, insbesondere dem Hebräischen, vgl. O. Scheel, Martin Luther, Bd. 2, Tübingen 1917, S. 227f.; W. Walther, Luthers Deutsche Bibel, Berlin 1917, S. 39ff. und WA 15,42,17 (1524). 88 3 R. Schmidt, in : RE 12, S. 30. 89 Zu Nikolaus von Lyra vgl. Ebeling, Evangelienauslegung, S. 128ff. A. Kleinhans, in: LThK 7, Sp. 992f. charakterisiert Lyra: „der beste Exeget des späteren Mittelalters und der Ring, der die Exegese des Mittelalters mit der der Neuzeit verbindet“. In „Von den Juden und ihren Lügen“ wird Lyra mehrfach erwähnt: WA 53,417,24; 476,17; 480,1; 482, 22; 489,10; 489,28. 90 Zu Paulos von Burgos vgl. Ebeling, Evangelienauslegung, S. 133ff. In „Von den Juden und ihren Lügen“ wird er zumeist zusammen mit Nikolaus von Lyra genannt, aber auch allein: WA 53,449,13; 452,21; 491,13. 91 Vgl. WA 53,413 bes. Anm. 2. Margaritha war wie Paulus von Burgos getaufter Jude, vgl. WA 53,449, Anm. 1. 92 Vgl. WA 53,413 bes. Anm. 3; 513,14. 93 3 Vgl. WA 53,413 und H.L. Strack, in : RE 16, S. 413ff. 94 Vgl, WA 53,414 und Lewin, S. 52. Die WA verzeichnet im Apparat fortlaufend die vermutlichen RaschiZitate. 87

38 Pseudo-Cato und Terenz (WA 53,491,1), sowie Vergil (WA 53,503,34 ohne Namensnennung zitiert), Cicero (WA 54,490,31) und Homer (WA 53,451,23) werden nur ganz gelegentlich genannt.

Der Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ enthält ausführliche historische Exkurse, die auf der „Supputatio annorum mundi“, einer Art von Geschichtstabelle, die für den Gebrauch am Schreibtisch von Luther hergestellt wurde95, basieren. Die „Supputatio“ ist im Bereich der biblischen Geschichte weitgehend auf Grund der Angaben des Nikolaus v. Lyra und des Paulos v. Burgos verfasst worden. Für die nachbiblische Geschichte stützt sie sich dann vorwiegend auf die von Melanchthon inspirierte „Chronica“ des J. Carion96. In welcher Weise Luther seine historischen Kenntnisse theologisch verwertete, wird später noch zu zeigen sein97. Im übrigen muss darauf hingewiesen werden, dass unser Traktat kaum ein neues Argument, einen neuen exegetischen Gedanken vorträgt und sich so als Zusammenfassung einer seit langem anhaltenden Auseinandersetzung ausweist98.

Die exegetische Methode Luthers ist ganz von dem Scopus bestimmt, den er in der Schrift findet. Die exegetische Praxis des Mittelalters, die von der literalen, allegorischen, moralisch-tropologischen und anagogisch-eschatologischen Deutung der Bibel beherrscht war, ist für ihn nicht mehr massgeblich. Der ehemalige „artifex in allegoriis“ hat sich ganz und gar auf den „sensus literalis propheticus“, die aus dem prophetischen Geist herrührende Deutung auf Christus hin, konzentriert. An der Abzielung auf Christus misst Luther den Wert exegetischer Methoden und versteht deshalb seine „prophetische“ Deutung des Alten Testaments als „buchstäbliche“99. Nikolaus v. Lyra hatte unter dem „buchstäblichen Sinn“ den historisch-faktischen verstanden und war damit nach 95

WA 53,22ff. (1541/1545); vgl. die Einleitung von F. Cohrs, in: WA 53,1ff., bes. S. 9ff. und E. Schäfer, Luther als Kirchenhistoriker, Gütersloh 1897. WA 53,9f. 97 Hier seien lediglich die historischen Komplexe genannt, mit denen Luther sich besonders intensiv beschäftigte : alles, was zur „historischen“ Beweisführung für das Gekommensein des Messias und für die Bestimmung seines Geburtsjahres dienen kann, also besonders die Ereignisse um die Zerstörung Jerusalems im Zusammenhang mit Dan. 9. Die eigentliche „Geschichte Israels“ schildert Luther durchgängig nach den biblischen Berichten. 98 Vgl. die datierten Querverweise in den Anmerkungen. 99 Luther dürfte hier von Faber Stapulensis abhängig sein, der als wörtlichen Sinn der Bibel den sensus spiritualis definierte; vgl. Hahn, S. 166f. 96

39 Meinung Luthers in die Gefahr geraten, den jüdischen Auslegungskünsten zu erliegen100. Wenn der spätere Luther Nikolaus v. Lyra doch fast durchweg zustimmend zitiert, so liegt dies darin begründet, dass er ihn nun vorwiegend als Historiker wertet und als solchen seiner Auslegung nutzbar macht. Die literale Auslegungsweise dient Luther nur zu einem Zweck: „Christus als Inhalt der Schrift dem einzelnen zu Gericht und Gnade gegenwärtig zu machen“101. Wer nicht zu diesem Zweck an der Auslegung der Schrift arbeitet, hat von vornherein das Ziel verfehlt und lästert Gott, den „Autor“ der Schrift. Aus dieser Einstellung heraus sind die bereits besprochenen bösartigen Angriffe Luthers gegen die Juden motiviert.

Wie aber ist die Schrift richtig zu deuten? Luther antwortet: „Der vihisch Mensch vernimpt nicht Göttliche sachen, Es mus ein geistlicher verstand da sein. Sonst bleibts, wie Jsaias VI sagt: Mit sehenden augen sehen sie nicht, Mit hörenden ohren hören sie nicht. Denn sie wissen nicht, was sie hören, sehen, reden oder setzen“ (WA 53,448,31)102. Hier begegnet die aristotelische Formel „Gleiches versteht Gleiches“, die besonders für das Schriftverständnis des Faber Stapulensis wichtig war103. Es kann also nur der geistliche Mensch den geistgewirkten Sinn der Schrift erfassen. Der Mensch muss zuerst umgewandelt werden, er muss sich unter die Schrift stellen, ehe er sie richtig verstehen kann. K. Holl hat diesen Zusammenhang so beschrieben: „Da die Bibel auf etwas ausgeht, was der natürlichen Selbstliebe aufs stärkste widerstrebt, auf eine jeden Eigenruhm preisgebende Unterwerfung unter Gott und eine sich selbst vergessende Sittlichkeit, so liegt es dem Menschen von Haus aus viel näher, sie nach seinem eigenen Wunsch zu deuten und ihr Wort so aufzufassen, wie er meint ihm genügen zu können. Es bedarf erst einer inneren Umwandlung, ehe einer die Schrift das sagen lässt, was sie wirklich sagt. Aber diese Umwandlung ist nicht das Werk des Menschen selbst; sie erfolgt durch Gott, und das Mittel, dessen er sich bedient, um sie herbeizuführen, ist wiederum kein anderes als eben die Schrift. Gott gibt dem Wort im bestimmten Augenblick Gewalt, so dass es den Menschen als ein jetzt eben gesprochenes und auf ihn persönlich hingerichtetes erscheint. Indem es das Gewissen des Menschen ergreift und ihn in 100

Hahn, S. 171f. Bornkamm, Luther und das Alte Testament, S. 75. Luther zitiert hier 1. Kor. 2,14. Diese Stelle ist oft zur Begründung allegorischer Auslegung herangezogen worden. 103 Vgl. Hahn, S.167. 101 102

40 seinem Selbstgefühl erschüttert, schafft es sich selbst den Hörer, der es zu fassen imstande ist. Der vom Wort getroffene kommt so in Berührung mit Gott selbst, er erlebt die Sache, die in dem Wort gemeint ist, und von da aus lernt er das Wort verstehen. Die Furcht Gottes, die Demut, die den Willen zur Wahrhaftigkeit in sich schliesst, ist deshalb der Anfang alles Verstehens“104.

Die Zusammenhänge mit Luthers Rechtfertigungslehre sind an dieser Stelle unübersehbar. Man könnte formulieren, dass nur der aus Glauben Gerechtfertigte die Heilige Schrift richtig zu verstehen vermag, die ihm die Rechtfertigung des Sünders zuspricht105. Nur der kann durch „hohen prophetischen verstand“ (WA 53,445,4) wissen, was Gottes Gebot ist, der aus der Rechtfertigung lebend auf die helle und klare Stimme der Schrift in Demut hören kann. So etwa könnten Luthers Vorstellungen von dem rechten Ausleger zusammengefasst werden. Dieser Ausleger ist dann aber auch von einer bedenklichen Selbstsicherheit im Urteil über die Schrift selber und seine Gegner geprägt. Gerade der Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ spiegelt diese fatale Selbstsicherheit ständig wider: z.B. „Wir Christen haben unser new Testament, das zeuget uns gewis und gnug von Messia, Das aber dem die Jüden nicht gleuben, da fragen wir nichts nach... und lassen sie jmer hin faren und harren jres Messia“ (WA 53,450,4). Hier muss an alles erinnert werden, was oben über Luthers Anschauung von der Klarheit der Heiligen Schrift gesagt wurde. Einerseits könnte diese „religiöse Selbstgewißheit“ (K. Holl) bewundert werden, andererseits aber weckt sie doch tiefes Unbehagen. Der hier sichtbar werdende Zirkel wurde von K. Holl so beschrieben: „Man muss den Geist haben, um das Wort zu verstehen, aber wiederum ist es das Wort allein, das den Geist vermittelt. Durch das Wort und nur durch das Wort vermag man in die Sache einzudringen; aber umgekehrt muss man wieder mit der Sache, mit Gott und Christus, in Berührung gekommen sein, um den Sinn der Worte zu begreifen“106. Woher aber weiss der Mensch, dass er den Geist hat, und wird durch dieses Zirkeldenken nicht letztendlich die Gottheit Gottes angetastet107? 104

Holl, S. 548 und die dort angeführten Belege. Was für weitere geistige Einflüsse hier wirkten, zeigt Hahn, S. 169ff. „humanistische Humilitätsethik“, mystische Ideen der „Entwerdung“ und „Entwertung“, Luthers Gottesbild und die Demut des Menschen als opus alienum Gottes. 106 Holl, S. 567. 107 Diese Frage haben Hermann durchgehend und Stöhr, S. 171 dringlich formuliert. 105

41 c) Welche Aufgaben werden der Auslegung gestellt?

Diese Frage ist anhand des Traktats „Von den Juden und ihren Lügen“ in dreifacher Weise zu beantworten. Es soll zum ersten der Glaube der Christen gestärkt werden: „So wollen wir nu, unsern Glauben zu stercken, der Jüden etliche grobe thorheit in jrem glauben und auslegung der Schrifft handeln“ (WA 53,419,16). Der Glaube wird durch die Eindeutigkeit der biblischen Beweisstellen gefestigt. Die Auslegung richtet sich nur noch an die Christen. Luther redet im innerchristlichen Raum, und die Absicht missionarischer Einwirkung auf die Nichtchristen ist aufgegeben worden. Es ist erschreckend, wie pointiert sich Luther von dem Ungläubigen abgrenzt und diesen seinem Schicksal überlässt: „(Das) die Jüden nicht gleuben, da fragen wir nichts nach... und lassen sie jmer hin faren und harren jres Messia. Ir unglaub schadet uns nicht... (so) wir doch irer bekerung gar nicht begeren noch bedürffen zu unserem vorteil, nutz oder hülffe, sondern alles, was wir des thun, jnen zum besten thun, wollen sie des nicht so mögen sie es lassen wir sind entschüldigt und können jr wol emperen mit allem, das sie sind, haben, vermugen zur Seligkeit“ (WA 53,450,5)108.

In dem soeben vorgeführten Zitat ist die zweite Abzweckung der Schrift Luthers bereits angeklungen. Luther möchte nicht mitschuldig werden mit den Juden. Ihr Unglaube, ihre Gottes- und Christuslästerungen sollen ihm nicht zugerechnet werden: „Wir haben zuvor eigner Sunde gnug auff uns noch vom Bapsttum her, thun teglich viel dazu mit allerley undanckbarkeit und verachtung seines wortes und aller seiner gnaden, das nicht not ist, auch diese frembden, schendlichen Laster der Jüden auff uns zu laden“ (WA 53,527,23). Das Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit dient hier zur Trennung derer, die gemeinsam der göttlichen Vergebung bedürfen. Die Kluft, die Luther zwischen den Christen und den (endgültig) verdammten Juden aufgerissen hat, ist unüberwindbar geworden. Mit den Kindern Satans, auf denen der Zorn Gottes „nachweislich“ lastet, ist jede Form der Solidarität unmöglich geworden. Der Prediger steht nicht mehr mit den Hörern zusammen vor dem Angesicht Gottes, sondern schickt diese in das Strafgericht Gottes, von dem er sich salviert glaubt. Die gelegentliche Anerkennung der Möglichkeit, 108

Stöhr, S. 171 bemerkt, dass hier „mit der alten Kainsfrage“ die „Solidarität“ mit den Juden abgelehnt wird.

42 dass einzelne Juden doch noch gerettet werden könnten, kann an diesem finsteren Gesamtbild nichts mehr ändern109.

Als drittes verfolgt der Traktat den Zweck, die Ehre Gottes und Christi zu wahren und zu verteidigen110. Insofern hatte E. Vogelsang durchaus recht, wenn er formulierte: „Für Luther ist die Judenfrage zuerst und zuletzt die Christusfrage“111.

4. ZUSAMMENFASSUNG

Luthers Stellungnahme gegen die Juden erwächst aus seinem Schriftverständnis, das in der Art und Weise seiner Schriftauslegung erkennbar wird. Bis 1523 hatte er geglaubt, dass es die Papisten gewesen seien, die den Juden den Zugang zum Evangelium verstellt hätten, und ingrimmig konstatiert: „Sie haben mit den Juden gehandelt als weren es Hunde und nicht menschen, haben nichts mehr kund thun denn sie schelten und yhr gutt nehmen, wenn man sie getaufft hat, keyn Christlich lere noch leben hat man yhn beweyset, sondern nur der Bepsterey und muncherey untherworffen“ (WA 11, 315,3). Dann aber argumentierte er, aus welchen Gründen auch immer (Enttäuschung über mangelnden Zulauf seitens der Juden, Abwehr sektiererischer Auslegungen des Alten Testaments), mit den gleichen christologisch interpretierten Schriftbeweisen, die er zuvor sogar zugunsten der Juden verwandt hatte, gegen sie und prägte einen christologisch fundamentierten Antisemitismus, dessen Wurzeln bis in das Neue Testament zurückverfolgt werden könnten.

Weil Luther zu wissen vermeint, dass die Geduld Gottes mit seinem Volk erschöpft ist, glaubt er sich aus der Solidarität mit den Juden entlassen: „Was hier zu bedauern ist, ist die hermeneutische Verkürzung der christologischen Interpretation des Alten Testaments auf Kosten der Hörbereitschaft auf die ganze Schrift, die die Bruderschaft aller Menschen als Wirkung des Kreuzestodes Christi und seiner Auferstehung ein-

109

Vgl. zu dem Problem der eventuellen Endbekehrung der Juden bei Luther Vogelsang, S. 32ff.; Maurer, S. 92f.; Stöhr, 5.177f. Vgl. WA 53,523,3 u.ö. 111 Vogelsang, S. 9. 110

43 schliesst“112. Gerade dadurch, dass sich Luther ganz auf den Geist als den eigentlichen Ausleger der Schrift verlässt, gewinnt er jene bestürzende Selbstgewissheit im Umgang mit dem Bibelwort, die nichts mehr davon zu wissen scheint, dass auch der im Glauben gerechtfertigte und durch den Geist erleuchtete Ausleger ständig der Busse und Vergebung bedarf. Er ist sich der Verheissungen und Erwählung Gottes auf bedenkliche Weise gewiss und sieht die Kirche als eine festumrissene Gruppe von abstrakt-idealer Qualität, der das Judentum als eine sehr konkrete Grösse mit allen unvermeidlichen menschlichen Schwächen und Fragwürdigkeiten gegenübergestellt wird. Dass sich so die Massstäbe zuungunsten der Juden verschieben mussten, ist verständlich. Zugleich wird aber - ganz allgemein betrachtet - die Gefahr deutlich, die in der Verabsolutierung theologischer Erkenntnisse liegen kann.

Luther überhörte die Warnung des Apostels Paulus „Gott hat alle beschlossen unter dem Unglauben, auf dass er sich aller erbarme“ (Röm. 11,32) und verfiel jenem „Stolz“, den Paulus angesichts des göttlichen Geheimnisses von der endzeitlichen Errettung des „ganzen Israel“ rügte (Röm. 11)113. Der Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ ist ein furchtbares Zeugnis dieses „Stolzes“, der über alles, auch über Gottes Richtspruch am Jüngsten Tag, schon im vorhinein genauen Bescheid hat114. Luther hat damit zu seinem Teil dazu beigetragen, die Botschaft von der in Christus offenbar gewordenen Liebe Gottes dem jüdischen Volk vorzuenthalten115. Die Heilige Schrift selbst wird hier zum Zeugen gegen ihn und ruft uns zu jener Bruderschaft, deren negative Seite der Unglauben bei Juden und Christen ist, deren positive Seite aber das in Kreuzestod und Auferstehung Christi aufleuchtende göttliche Erbarmen mit allen Menschen ist.

112

J. Rogge, Luthers Stellung zu den Juden, in: Luther 40, 1969, S. 13-24, bes. S. 23. Luther hat die Auslegung dieser Stelle im Sinn einer Endbekehrung Israels nach anfänglichem Schwanken abgelehnt; vgl. W. Holsten, Christentum und nichtchristliche Religion nach der Auffassung Luthers, Gütersloh 1932, S. 117ff. 114 An diesem Urteil kann auch die noch gelegentlich, zumindest verbal geäusserte Hoffnung auf Bekehrung einzelner Juden, so z.B. WA 53,552,36, nichts ändern; vgl. Pfisterer, S. 70. 115 Man denke nur an die unsichere Haltung der protestantischen Kirchen in der Frage der „Judenmission“! 113

45 Erbarmen für Luther? Zu zwei neuen Büchern über den Reformator und die Juden1 (1983)

Das Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Martin Luthers Gegenwart 1983“ ist ganz unmissverständlich: „Wenn die Evangelische Kirche in Deutschland jedermann einlädt, sich dieser Gestalt unserer Geschichte zu erinnern, so übersieht sie nicht die zwar nicht gewollten, aber doch eingetretenen Folgen seines Wirkens, die belasten. Anders als bei früheren Jahrhundertfeiern sehen wir heute auch die Schatten, die dieses Licht mit sich gebracht hat... So wichtig Luthers frühe Schrift über die Juden auch noch heute ist, so verhängnisvoll wurden Äusserungen des alten Luther. Niemand kann sie heute gutheissen.“2

Sieht man vor diesem Hintergrund jene Veröffentlichungen aus der neuesten Zeit durch, in denen das Thema „Martin Luther und die Juden“ monographisch thematisiert wird, so kommen einem durchaus Zweifel, ob der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland die Zeichen der Zeit und den Stand der theologischen Erörterungen wirklich adäquat erfasst hat. Selbstverständlich wird heutzutage kein Theologe oder Historiker Luthers späte Äusserungen zur Judenfrage schlechthin „gutheißen“ ; wohl aber gibt es sachlich gewichtige Versuche, die Position des Reformators in dieser Frage neu zu definieren.3

1

Der zur Verfügung stehende knappe Raum zwingt bedauerlicherweise zu erheblichen Einschränkungen bei der Benutzung der reichhaltigen Literatur über das Thema „Luther und die Juden“ und verbietet auch ein genaueres Eingehen auf die einschlägigen Schriften Luthers. 2 Vgl. auch die Erklärung der Generalversammlung des Evgl. Bundes vom 27. Okt. 1982: „Dem Luther geschuldeten Dank tut es keinen Abbruch, wenn die zeitbedingten und allzu menschlichen Züge seines Wirkens nicht verschwiegen werden. Wegen seiner Betonung des Wesentlichen konnte Luther gegen manches schroff vorgehen. Dabei hat er sich vor Einseitigkeiten nicht gescheut. Zudem gibt es Äusserungen von Luther, die als unerleuchtet und masslos gelten müssen - hinsichtlich Judentum und Bauernkrieg, Täufer und Schwärmer, Opferkult und Papst. Wir müssen aufarbeiten, dass unevangelische Eiferer mitunter gerade solche Äusserungen in die Mitte gerückt haben.“ Zitiert nach epdDokumentation 3a/83, S. 2. 3 Zur älteren Forschung vgl. J. Brosseder, Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten. Interpretation und Rezeption von Luthers Schriften und Äusserungen zum Judentum im 19. und 20. Jahrhundert vor allem im deutschsprachigen Raum = Beitr. z. ökumen. Theologie 8, München 1972. Nachzutragen wäre hier noch: P. Maser, Luthers Schriftauslegung im Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543). Ein Beitrag zum „christologischen Antisemitismus“ des Reformators, in: Judaica 29, 1973, S. 71-84 und 149-167 ; C. Bernd Sucher, Luthers Stellung zu den Juden. Eine Interpretation aus germanistischer Sicht = Bibliotheca Humanistica & Reformatorica XXIII, Nieukoop 1977; vgl. meine Besprechung in Judaica 35, 1979, S. 190-192.

46 Weite Verbreitung dürfte inzwischen die Arbeit von Walther Bienert „Martin Luther und die Juden. Ein Quellenbuch mit zeitgenössischen Illustrationen, mit Einführungen und Erläuterungen“ gefunden haben, die 1982 vom Evgl. Verlagswerk in Frankfurt/M. veröffentlicht wurde. Ein solches „Quellenbuch“ ist seit langem ein dringendes Desiderat, da Luthers „Judenschriften“ vollständig und seriös ediert eigentlich nur in der Weimarana zugänglich sind, sieht man hier von der Textgestalt ab, die die Erlanger Ausgabe von 1841/42 im 32. Band bietet, und den mancherlei Auswahlausgaben, die in der nationalsozialistischen Zeit veranstaltet wurden.

Bedauerlicherweise hat auch Bienert wieder das sachlich unzureichende Verfahren gewählt, ausführliche Quellenzitate durch Erläuterungen und Querverweise so miteinander zu verbinden, dass der Leser zwar einen klaren und verlässlichen Eindruck davon erhält, was Luther zu sagen hatte, nicht aber in die Lage versetzt wird, die Texte selbständig in ihrem Gesamtzusammenhang zu studieren.

Einleitend bemerkt der Autor: „Die Unsicherheit über Luther ist geblieben. Einmütigkeit besteht bisher wohl nur darin, dass Luther kein Antisemit war, zumal es in seiner Zeit noch keine Rassentheorie und keinen Antisemitismus gab. Es gab aber einen starken Antijudaismus.“ (S. 13) Bereits hier wird eine Verfahrensweise erkennbar, die nur als historischer Taschenspielertrick bezeichnet werden kann, der dann theologisch verwertet wird. Was in der Erinnerung haften soll, ist die Behauptung, dass der Reformator kein Antisemit gewesen sei. Gott sei Dank! Dass er Antijudaist war, zumindest in seiner späteren theologischen Karriere, erscheint dann als eine hinnehmbare Angelegenheit, zumal Antijudaismus als theologische Denkungsart ja wohl keineswegs so gefährlich ist wie der Antisemitismus, dem Luther nicht verfiel, weil es ihn zu seiner Zeit noch nicht gab. Die Frage, die hier allein zu stellen gewesen wäre, hätte lauten müssen: ist der Antijudaismus des ausgehenden Mittelalters und der Reformationszeit ein direkter Vorläufer des späteren, rassisch argumentierenden Antisemitismus? Und ergänzend wäre zu bestimmen gewesen, inwieweit Luther zu den Promotoren dieses Antijudaismus gehörte.

47 Aber auch dann, wenn Luthers Stellung zu den Juden als theologischer Antijudaismus verharmlost worden ist, bleibt die Lektüre seiner einschlägigen Schriften offensichtlich eine so brandgefährliche Sache, dass dafür gewisse Vorgaben mitgegeben werden müssen. Bienert warnt davor, „aus wenigen Zitaten oder vielen Stellenverweisen ein System zu konstruieren“, erklärt es für unmöglich, „die Äusserungen einer Lebensphase herauszuheben... und damit ‚den Luther’ charakterisieren zu wollen“, und fordert schliesslich: „Vor allem müssen Luthers Äusserungen über die Juden in ihren geschichtlichen Kontext gestellt, sie dürfen nicht isoliert beurteilt werden... Integriert in die jeweilige Entwicklungsphase Luthers und in seine jeweilige geschichtliche Situation sowie in den Zusammenhang der Theologie und in die Denk- und Verhaltensweisen seiner Zeitgenossen, auch der jüdischen, wird die ganze Variationsbreite und zugleich die zentrale Konstante von Luthers Begegnung mit Juden, mit dem Judentum und mit der jüdischen Religion lebendig.“ (S. 16)

Es ist hier nicht möglich darzustellen, wie Bienert im einzelnen vorgeht. Positiv hervorzuheben ist sein konsequentes Bemühen, nicht nur Luthers Lebensverhältnisse in den Blick zu bekommen, sondern auch den Gesamtzusammenhang seiner theologischen Anschauungen wenigstens andeutungsweise präsent zu halten. Insgesamt gesehen zeichnet Bienert ein Bild des Reformators, das von dem Wunsch bestimmt ist, die Entwicklung des Theologen Luther als geradlinig und eigentlich judenfreundlich bis zuletzt zu beschreiben: „Luthers bleibende Einladung an die Juden von den Anfängen der Reformation bis zu seinem Tode war die eigentliche Triebkraft seines Verhaltens zu den Juden.“ (S. 182) Nur „aus Gründen dogmatischen Verantwortungsbewußtseins“ und „landeskirchlicher Religionspolitik“ entgleiste Luther in „Judenfeindschaft“. (ebd.) Historisch betrachtet ergab sich nach Bienert folgender Ablauf: „Die langjährige, in Luthers reformatorischer Theologie verwurzelte Judenfreundschaft seit 1514 knickte in mehrjähriger, durch den Gang der Geschichte bewirkter Entwicklung der Jahre 1538-1543 in eine Judenfeindschaft um, für die es in Luthers Theologie keine Erklärung gibt. Die wirkliche Ursache dieses Antijudaismus war die religionspolitische Lage: Luthers Sorge um die durch jüdische Kritik bestrittene Wahrheit des Evangeliums und der kirchlichen Dogmen. Diese suchte er in einer sich verschärfenden Polemik gegen die Juden zu verteidigen.“ (S. 186) Das eigentlich

48 theologische Problem dieses Wandels verdeutlicht Bienert an dem „fünffachen Selbstwiderspruch“, in den Luther durch diese Entwicklung geriet: „1. Luthers frühreformatorisch-humanistische Toleranz für jüdische Schriften und Kulte seit 1514. 2. Luthers reformatorisches Römerbriefverständnis, demzufolge Israel unwiderruflich Volk Gottes ist, auch wenn nur ein kleiner Teil Israels sich zu Christus bekennt, die weit überwiegende Mehrheit aber erst in das endzeitliche Messiasreich eingegliedert wird. 3. Luthers Kampf für Freiheit in Glaubens- und Gewissensentscheidungen seit Augsburg 1519, der ‚Freiheit eines Christenmenschen’ 1520 und Worms 1521. 4. Luthers bis in seinen Tod vertretene Zwei-Reiche-Lehre, die dem Staat das Recht abspricht, in Glaubenslehre oder Religionsausübung eingreifen zu dürfen. 5. Luthers zeitlebens bewahrte allgemeinchristliche Theologie, dass ein Gläubigwerden allein vom Heiligen Geist durch Verkündigung von Gottes Wort bewirkt wird, nie aber durch Gewalt.“ (S. 189)

Mit spürbarer Erleichterung wird denn auch festgestellt: „Der späte Fremdkörper des Antijudaismus lässt sich unbeschadet der Theologie Luthers als an diese nur angehängte zeitbedingte Abirrung wieder ablösen.“ (S. 188) Oder noch deutlicher: „Wenn ... die historischen Fakten, wie sie sich mit der Entwicklung der Landeskirchen einstellten, im Verhalten Luthers zu den Juden eine neue Weichenstellung herbeiführten, dann kann nicht das Evangelium hierfür verantwortlich gemacht werden und auch nicht Luthers reformatorische Theologie. Dann gehört Judenfeindschaft nicht zur reformatorischen Theologie, ist weder in dieser vorhanden, noch als Konsequenz aus ihr zu deduzieren, sondern spätmittelalterlich-vorreformatorische Theorie und Praxis.“ (S. 189)

Folgt man dieser Anschauung konsequent, so wird die „Judenfeindschaft“ des späten Luther zum „Betriebsunfall“ verharmlost, der keinesfalls etwas mit dem System ursächlich zu tun haben kann, in dem er sich ereignet hat. Das Dilemma, in das er sich mit dieser Lösung hineinmanövrierte, hat Bienert offensichtlich nicht genau genug durchdacht. Wenn das Evangelium nicht verantwortlich gemacht werden kann und auch nicht Luthers reformatorische Theologie, dann kann logischerweise eigentlich nur der Reformator selbst, das Individuum Luther also, in Anspruch genommen werden, das sich unter „dogmatischem Verantwortungsbewußtsein“ und

49 den, das sich unter „dogmatischem Verantwortungsbewußtsein“ und im Blick auf „landeskirchliche Religionspolitik“ zu antijüdischen Äusserungen hinreissen liess, die selbstverständlich auch von Bienert tief bedauert werden. Wie hier nun aber die Grenzen gezogen werden sollen, dürfte damit endgültig unklar sein, denn zumindest „dogmatisches Verantwortungsbewusstsein“ ist eine Angelegenheit, die unmittelbar dem Bereich der reformatorischen Theologie zuzuordnen ist. Auch „Religionspolitik“ wenigstens in dem Sinn, in dem Bienert von ihr spricht - kann nur als theologische Aktion verstanden werden. Ist es also doch die reformatorische Theologie, die in einer ganz bestimmten, historisch konkreten Situation vor der Judenproblematik versagte? Bienert weicht vor einer exakten Beantwortung dieser Frage zurück, indem er nun auch noch die „spätmittelalterlich-vorreformatorische Theorie und Praxis“ ins Spiel bringt, in die Luther angesichts akuter Belastungen versank. Geht es also vielleicht doch nicht um ein Fiasko reformatorischer Theologie, sondern (nur) um das persönliche Scheitern des Reformators? Geht es um Erbarmen für Luther? Die Frage muss ungeheuerlich klingen, könnte aber einen, wahrscheinlich den einzigen historisch und theologisch sauberen Weg aus dem grossen Dilemma weisen, stellt sie doch immerhin erst einmal in Rechnung, dass auch der geistesmächtigste Theologe des Erbarmens bedarf, das nichts verschweigt und nichts interpretatorisch verharmlost, aber auch von der reinigenden Kraft der Vergebung weiss.

Bevor wir aber hier weiterzudenken versuchen, sei auf Heiko A. Obermans Buch „Wurzeln des Antisemitismus. Christenangst und Judenplage im Zeitalter von Humanismus und Reformation“ eingegangen, das 1981 bei Severin und Siedler in Berlin erschienen ist.4 Bereits die Titelformulierung „Wurzeln des Antisemitismus“ verweist auf das bekannte Problem, das auch Oberman gegenwärtig ist, wenn er erklärt: „Das Zeitalter von Humanismus und Reformation hat den Judenhass nicht erfunden, sondern ihn vorausgesetzt. Zugleich aber gilt, dass jene Zeit, die so bewusst die Traditionen des Mittelalters überprüft hat, alles, was dieser Sichtung standgehalten hat, mit neuer Kraft der Neuzeit weitervermittelt hat. Dieses ‚Zugleich’ prägt das Gesicht der Epoche und bestimmt ihr Gewicht für die Neuzeit.“ (S. 14) Präziser müsste der 4

Vgl. jetzt die Zusammenfassung von H.A. Oberman, Luther, Israel und die Juden. Befangen in mittelalterlicher Tradition, in : DAS PARLAMENT 33, Nr. 3, 22. Jan. 1983, S.12.

50 Haupttitel des Obermanschen Buches also wohl „Wurzeln des neuzeitlichen Antisemitismus“ lauten, wobei dann allerdings vorauszusetzen wäre, dass der Begriff des Antisemitismus nicht auf die rassistisch motivierte Form der Judenfeindschaft eingeengt wird.5

Im Gegensatz zu Bienerts Verfahren, in enger Bindung an kommentierte Quellenzitate das Problem „Luther und die Juden“ zu entfalten, bevorzugt Oberman die breitangelegte Analyse des ganzen Zeitalters von „Humanismus und Reformation“, um Luthers Stellung zu den Juden aufzuhellen. Dabei formuliert er zwei Aufgaben, die jeder Historiker zu erfüllen hat : „letzter Anwalt und Pflichtverteidiger für die Toten“ zu sein und zugleich „die Rolle des Staatsanwalts zu übernehmen“, dem es aufgegeben ist, „die Vergangenheit zu verklagen, um künftigen Rückfällen zu wehren“ (S. 17). Eine präzisere Definition der Verantwortung des Historikers ist schwer vorstellbar!

Auch Oberman beginnt seine Darlegungen mit grundsätzlichen methodischen Überlegungen und fordert, den Reformator nicht aus „seiner Zeit“ herauszulösen und „als zeitloses Eigenthema“ zu behandeln (S. 94). Innerhalb der Theologie Luthers dürfe das „Judenthema“ nicht „verselbständigt“ werden. Zudem müsse sich jede Bewertung das „Gespür für die Sprache des ‚Grobianismus’ und ihre Nuancen“ erarbeiten, um einen „Masstab für den damaligen Stand der Härteskala in der Judenklage“ zu gewinnen (S. 95). Kurzum: „Zugang zu Luthers Beurteilung von Juden und Judentum wird man jedoch nur finden können, wenn das persongebundene Thema ‚Luther und die Juden’ historisch erweitert wird zum Thema ‚Die Juden im Zeitalter von Humanismus und Reformation’. Zugleich ist es an der Zeit, sich dem Tatbestand zu stellen, dass die Judenfrage keine schwarze Sonderseite in Luthers Werk bildet, sondern ein zentrales Thema seiner Theologie ist.“ (S. 125) Vor dem Hintergrund dieser Prämissen gewinnt Oberman ein in sich stimmiges Bild von Luthers Verhältnis zu den Juden, was durch einige Zitate hinlänglich skizziert sein mag.

5

Im Untertitel wirkt das Wort von der „Judenplage“ beängstigend und instinktlos, zumal es auch im weiteren Text nicht ausreichend definiert wird. Wer plagt da wen?

51 Oberman ist davon überzeugt, dass ein Bruch in Luthers Haltung nicht festzustellen ist: „Die harten Judenschriften, daran ist nichts zu deuteln, sind kompromisslos hart. Sie stehen aber keineswegs vereinzelt da, sie bilden kein Spezialthema und sind nicht der Ausdruck einer Hassneurose, nicht zurückzuführen etwa auf frühe Kindheitserlebnisse oder spätere schockierende Erfahrungen. Sie sind vielmehr der Ausdruck von Luthers Lagebeurteilung der Kirche am Ende der Geschichte. Stand die Kirche schon immer unter dem Beschuss des Teufels, so gewinnt dieser Ansturm mit dem Anrücken der Endzeit an Vehemenz... Luther weiss, dass diese Zeit gekommen ist. Der Teufel muss alle Hilfstruppen mobil machen, um die Reformation zurückzuschlagen, zurück bis nach Rom. Im Rückblick auf die Anfänge zeigt sich, dass die Reihung von Juden, Häretikern und Abtrünnigen ein Grundmotiv der Theologie bereits des jungen Luthers ist.“ (S. 139) Luthers Äusserungen über Juden und Judentum können also nur richtig eingestuft werden, wenn sie aus der zeitgenössischen Endzeiterwartung heraus interpretiert werden: „Solidarität mit dem Antichrist ist Luther - wie seiner Zeit - zu keiner Zeit denkbar gewesen, 1523 so wenig wie 1546. Ebensowenig war ihm die Reihung von Juden, Türken und falschen Christen je zweifelhaft. ‚Luther und die Juden’ wird also nur durch die Nachgeschichte zum Sonderthema. Es gibt zwar Judenschriften, sie gehören aber mit den Türken- und Papstschriften zu der einen unauflösbaren Gattung der Endzeitprophetie.“ (S. 155) Oder sehr viel persönlicher gewendet: „Als für den alten Luther die Welttage sich dem Ende zuneigen, geht es nicht um Türkenzug, um Rom- oder Judenhass, sondern um die Aufrechterhaltung des Evangeliums in den Wirren der Endzeit.“ (S. 162)

Oberman hat es wohl selbst nur zu deutlich empfunden, zu welchem erschreckenden Ergebnis er im Blick auf Luther letztlich gelangt ist. Da mag der Hinweis auf die anders angelegten Positionen eines Justus Jonas oder Andreas Osiander, die ihre „evangelische Glaubenshoffnung... auf die gemeinsame Zukunft der endzeitlichen Befreiung von Juden und Christen“ richteten, ebensowenig zu helfen wie der, dass schon bei Luther der Bruch mit der „Hass einpeitschenden Passionsfrömmigkeit“ des Mittelalters zu belegen sei (S. 163ff.). Ja, auch der auf Luther folgenden Entwicklung traut Oberman - wohl zu Recht - nicht viel zu, insbesondere der Aufklärung und ihrem Toleranzgedanken misstraut er heftig: „Es ist offenbar, wie weit die Duldsamkeit der Auf-

52 klärung Juden und Christen tragen kann: eine Steigerung der arabischen Ölpreise und verfehlte Bomben Israels enthüllen jäh die Grenzen. Die Toleranz bleibt ein Schlagwort, wenn sie auf schlechtem Gewissen gründet. Toleranz zwischen Christen und Juden hat nur Zukunft in der Vergegenwärtigung der gemeinsamen Geschichte, in die sie beide durch den Bund Gottes gestellt sind - trotz Hass und Kollektivschuld, trotz Austreibung, Verfolgung und Vernichtung.“ (S. 191f.)

In seiner umfassenden Untersuchung zu dem Thema „Luthers Stellung zu den Juden im Spiegel seiner Interpreten“ aus dem Jahr 1972 hat Johannes Brosseder rund 130 Stellungnahmen zum Problem „Luther und die Juden“ von Johannes Mathesius bis hin zu Karl Heinrich Rengstorf und Siegfried v. Kortzfleisch analysiert und dabei drei Grundtypen der Interpretation feststellen können: „1. der Interpretationstyp der ‚Wandlung’, 2. der Interpretationstyp der ‚Kontinuität’, 3. der Interpretationstyp von ‚Kontinuität und Wandlung’.“6 Sowohl Bienerts als auch Obermans Studie wird man dem dritten Typ, der von „Kontinuität und Wandlung“ bei Luther ausgeht, zuordnen müssen, zu dem Brosseder ausführt: „Der dritte Interpretationstyp versucht eine Kombination des ersten und zweiten Interpretationstyps und sagt, bei Luther müsse eine grundsätzliche Kontinuität seiner Theologie der Rechtfertigungslehre, von der aus Luthers Stellung zum Judentum begriffen werden müsse, festgestellt werden; allerdings habe Luther aus ihr unterschiedliche, ja gegensätzliche praktisch-rechtliche Folgerungen gegenüber dem Judentum gezogen und auf dieser Ebene einen Wandel seiner Anschauungen durchgemacht.“7

Mit einer solchen Zuordnung soll selbstverständlich nicht behauptet werden, die Untersuchungen von Bienert und Oberman über „Luther und die Juden“ wären nichts anderes als eine Umformulierung längst schon bekannter Interpretationen. Beide setzen innerhalb des Interpretationstyps von „Kontinuität und Wandlung“ durchaus neue und wichtige Akzente. Die Darstellung von Bienert mag dabei dem herkömmlichen Schema stärker verhaftet sein als die Obermans, der in Luthers Theologie und Haltung den Juden gegenüber grundsätzlich die Kontinuität gewahrt sieht: „Die Rei6 7

Brosseder, Luthers Stellung, S. 35. Ebd., S. 36.

53 hung ‚Juden, Häretiker und Scheinchristen’, bei denen es sich nicht um laue Karteichristen, sondern um des Teufels fünfte Kolonne handelt, bleibt die Konstante in Luthers Theologie bis in seine Spätschriften hinein. Alle drei sind Handlanger des Satans, gerichtet gegen das wahre Israel, gegen die gläubige Kirche aller Zeiten... Zusammen mit seiner Zeit weiss Luther, dass mit der Entfesselung des Antichrist die letzte Epoche der Weltgeschichte angebrochen ist. Die konstante Präsenz des Satansreichs in allen Epochen wird in der Endgeschichte nochmals gesteigert, mit ungekannter Vehemenz bricht der Teufel hervor.“ (S. 144) Aber auch Oberman ist genötigt, in diese „Konstante“ Abstufungen einzuzeichnen, die letztlich nichts anderes als „Wandel“ meinen können: „In den Jahren 1519 bis 1523 ist Luther von dem Gedanken getrieben: Gott ist im Werke, er hat begonnen, die Seinen aus allen Völkern, Juden und Heiden, der babylonischen Gefangenschaft zu entreissen. Durch die Wiederentdeckung des Evangeliums kann Christus jetzt unverzerrt verkündigt werden. Dadurch wird der Glaube geweckt, welcher der wahren Kirche den einzigen Ausweg bahnt.“ (S. 147) Hier klingt die alte Enttäuschungstheorie, wie sie Reinhold Lewin in seiner klassischen Abhandlung wirkungskräftig vorgetragen hat,8 unüberhörbar an, obwohl Oberman sich gerade gegen diese deutlich abzugrenzen versucht. Was an Obermans Darstellung wichtig und für die weitere Debatte über Luthers Haltung gegenüber den Juden förderlicher ist, ist die Beschreibung jener Entwicklung, innerhalb derer sich Luthers anfängliche Endzeithoffnung offensichtlich unaufhaltsam in Endzeitangst verkehrt. Damit werden theologische und persönliche Tiefendimensionen in das Blickfeld gerückt, die die von Oberman eingeforderte Aufgabenstellung des Historikers, nämlich als „letzter Anwalt und Pflichtverteidiger für die Toten“ und zugleich in der „Rolle des Staatsanwalts... die Vergangenheit zu verklagen, um künftigen Rückfällen zu wehren“, aufs äusserste strapazieren dürften. Oberman selbst hat sich letzlich wohl doch nur in der erstgenannten Funktion betätigt. Seine Forderung, das ganze „Zeitalter von Humanismus und Reformation“ in die Betrachtung einzubeziehen, um Luther Gerechtigkeit widerfahren lassen zu können, ist durch ihn selbst in vorbildlicher Weise eingelöst worden. Die persönlichen und theologischen Voraussetzungen des Reformators, soweit sie sich auf seine Stellung gegenüber den Juden 8

Vgl. R. Lewin, Luthers Stellung zu den Juden. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters = Neuere Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche 10, Berlin 1911 (ND: Aalen 1973).

54 beziehen, sind in der Tat nun um ein erhebliches Stück einsichtiger geworden. Um so erstaunlicher wirkt es demgegenüber allerdings, dass Oberman die zweite Funktion des Historikers so wenig praktiziert hat. Auf eigentümliche Weise trifft er sich hier im Ergebnis mit Bienert, der sich ja auch einerseits damit begnügt, Luthers Position aus ihren Voraussetzungen verständlich zu machen, um dann andererseits dem Leser zu versichern, dass diese Position nicht unmittelbare Frucht reformatorischer Theologie sei und also einer grundsätzlichen theologischen Kritik nicht unterzogen werden müsse. Die von Oberman so treffend beschriebene doppelte Aufgabe des Historikers wird weder von Bienert noch von Oberman ausgeübt. Der Grund hierfür liegt darin, dass beide Autoren sich der Aufgabe einer theologischen Kritik an Luthers Haltung gegenüber den Juden entziehen, indem sie in der Rolle des Anwalts aufgehen. Aus guten Gründen aber stehen in jedem Prozess Anwalt und Staatsanwalt auf verschiedenen Seiten vor den Schranken des Gerichts. Ihre Funktionen sind nicht in einer Person zu vereinigen, und Gerechtigkeit kann nur da Wirklichkeit werden, wo beide Seiten zur vollen Geltung kommen. Das von Oberman eingeführte Bild vom Gericht, vor dem Anwalt und Staatsanwalt agieren, um der Gerechtigkeit, die ja nichts anderes als die Wahrheit ist, zu dienen, deckt nun aber auch auf, aus welchen Motiven welches Interpretationsverfahren favorisiert wird. Wer als Anwalt zu plädieren hat, wird immer darum bemüht sein, die Tat des Angeklagten in den Rahmen einer möglichst breit ausgeführten Biographie zu stellen, wird nicht versäumen, den zeitgeschichtlichen Hintergrund deutlich zu machen, vor dem die Tat zu werten ist, und wird schliesslich hervorzuheben versuchen, dass die Tat seines Mandanten im Kontext eines Gesamtverhaltens zu beurteilen sei, das die Einzeltat zumindest relativiert. Der Staatsanwalt hingegen wird auf der Tat insistieren und jeden Versuch abwehren, durch allzu weitgreifende Erörterungen die rechtliche Beurteilung der Tat zu erschweren. Es geht, um wieder direkt zu Luther und seiner Haltung gegenüber den Juden zurückzukehren, also nicht nur darum, als „Anwalt und Pflichtverteidiger“ tätig zu werden, der Historiker wird auch als „Staatsanwalt“ zu plädieren haben. Nur dann, wenn der Historiker diese dialektische Aufgabenstellung voll wahrnimmt und sich damit letztlich auch der Position des Richters nicht entzieht, kann jene Wahrheit zumindest annäherungsweise gewonnen werden, die als Ziel jedes gerichtlichen Verfahrens und als Grundlage menschlichen Lebens überhaupt angestrebt wird.

55 Somit ist gegen alle andersartigen Interpretationsversuche festzustellen: Luthers Stellung zu den Juden hat zwischen 1523 („Dass Jesus Christus ein geborner Jude sei“) und 1543 („Von den Juden und ihren Lügen“) einen radikalen Bruch erfahren, der, will man wirklich an der Sache bleiben, weder durch historische noch durch theologische Deutungen zu beseitigen ist. 1523 schreibt Luther über die Juden: „Will man yhn helffen, so mus man nicht des Bapsts, sonder Christlicher liebe gesetz an yhn uben und sie freuntlich annehmen, mit lassen werben und erbeytten, da mit sie ursach und raum gewynnen, bey und umb uns tzu seyn, unser Christlich lere und leben tzu horen und sehen. Ob ettliche hallstarrig sind, was ligt dran? sind wyr doch auch nicht alle gutte Christen.“9 In direktem Gegensatz hierzu heisst es dann 1543: „Was wollen wir Christen nu thun mit diesem verworffen, verdampten Volck der Jüden?“ Die üblen Ratschläge, mit denen Luther diese in sich bereits vollständig eindeutige Frage beantwortet, sind zu bekannt, als dass sie hier wiederholt werden müssten. Nur die alles zusammenfassende Schlussformulierung sei wörtlich in Erinnerung gerufen: „Drumb jmer weg mit inen.“10 Damit ist Luther zum gnadenlosen Feind der Juden geworden, der von persönlichsten Ängsten getrieben wird. In einem der letzten Briefe an seine Frau Katharina vom 1. Februar 1546 bricht diese Angst elementar hervor. Luther berichtet davon, dass er auf der Reise nach Eisleben in Rissdorf, „da viel Juden innen wonen“, folgendes erlebte: „Vnd war ists, do ich bey dem Dorff fuhr, gieng mir ein solcher kalter wind hinden zum wagen ein auff meinen kopff, Durchs Parret, als wolt mirs das Hirn zu eis machen.“11 In geradezu grotesker Weise hat Bienert (S. 173) diese Äusserung als „teilweise humorvoll“ missverstanden. Zwar versuchte Luther seiner Frau gegenüber abzuschwächen; wie tief der Schrecken aber sass, zeigen die anschliessenden Worte: „Wenn die Heubtsachen geschlichtet weren, so mus ich mich dran legen, die Juden zuvertreiben, Graff Albrecht ist jnen feind vnd hat sie schon preisgeben. Aber niemand thuet jnen noch ichts. Wils Gott, ich wil auff der Cantzel Graff Albrechten helffen vnd sie auch preisgeben.“12 Und Luther tat, was er ankündigte. Seine letzte Predigt, die er drei Tage vor seinem Tod hält und die durch9

WA 11,336,30ff. WA 53, 526,16. 11 WA BR 11, Nr. 4195, 275f., 9ff. 12 Ebd., 16ff. Wenn Luther fortfährt „Ich trincke Naumburgisch bier, fast des Schmacks, den du von Mansfeld mir etwa hast gelobt“, so kommen hier einem zwangsweise historische Parallelen in den Sinn, die jedes Verständnis dieses Briefs als „teilweise humorvoll“ endgültig ausschliessen sollten. 10

56 aus als Testament zu verstehen ist, schloss mit den Worten: „Darumb bitte ich, wollet euch frembder suende nicht teilhafftig machen... Denn ich meine es ja gut und trewlich beide, mit den Herrn und Unterthanen, Wollen sich die Jueden zu uns bekeren und von jrer lesterung, und was sie uns sonst gethan haben, auffhoeren, so wollen wir es jnen gerne vergeben, Wo aber nicht, so sollen wir sie auch bey uns nicht dulden noch leiden.“13

Die Frage nach Luthers Stellung zu den Juden und deren Folgen im Dritten Reich hat Oberman diskreditierend in den Bereich der „Feuilletonkultur des Abendlands“ (S. 125) abgeschoben. Trotzdem lassen sich Parallelen und Zusammenhänge nicht einfach übersehen. Hitlers Testament vom 29. April 1945, 4.00 Uhr, schliesst mit den Worten: „Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum.“14 Je genauer man die Texte miteinander vergleicht, um so bedrückender wird die Einsicht, dass Luther sich von dem Diktator eigentlich nur darin unterscheidet, dass er für die Juden noch eine Chance einräumt, der anempfohlenen Vertreibung, die nach spätmittelalterlicher Praxis der Vernichtung doch ziemlich nahe kam, zu entkommen, nämlich die Bekehrung. Aber: diese Chance sieht Luther als nicht mehr realisierbar an; es ist eine Scheinlösung, die hier angeboten wird! So hart es ist, in ihrem unbedingten Vernichtungswillen gegenüber den Juden sind sich der Reformator und der Diktator zum Schluss einig. Beide verpflichten sie „Herrn und Unterthanen“ = „Führung der Nation und Gefolgschaft“ zum Kampf gegen eine exakt umrissene Menschengruppe, die für nicht mehr integrierbar gehalten wird. Und jetzt wird endlich auch deutlich, dass der angeblich theologisch motivierte Antijudaismus Luthers und der rassische Antisemitismus Hitlers in den Motiven und in den Auswirkungen gleich sind. Sowohl der Antijudaismus Luthers als auch der Antisemitismus Hitlers wurden aus der Angst vor

13

WA 51,196, 4ff. - Die Juden Eislebens wurden drei Tage nach Luthers Tod aus der Stadt getrieben! - Im Juni 1983 wurde im Rahmen eines Kirchentages in der Eislebener Andreaskirche, Luthers letzter Predigtstätte, eine Sühnetafel enthüllt: „Zum Andenken an die jüdischen Bürger, die in der Stadt gelebt und gelitten haben und von 1933 bis 1945 ihr Leben liessen.“ 14 Zitiert nach dem Faksimile bei H. Eschwege (Hrsg.), Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden 1933-1945, Berlin (Ost) 1966, S. 286.

57 Menschen geboren, die man im ausgehenden Mittelalter als Gefahr für das christliche Heil und im 20. Jahrhundert als Gefahr für das nationale Heil fürchtete. In beiden Fällen stand die ganz persönliche Angst am Anfang und der Tod der Juden am Ende! Der einzige wirklich historisch verifizierbare Unterschied zwischen Luther und Hitler ist doch der, dass sich die praktischen Möglichkeiten gegenüber den Juden durch die historischen und die technischen Entwicklungen zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert gewandelt hatten: Luther konnte eben nur an eine Landesverweisung als schärfste Gegenmassnahme gegen die „Gottesfeinde“ denken, denn sowohl eine „Verbringung“ in konzentrationslagerähnliche Verwahrungsorte als auch die umfassende Vernichtung der Juden, die Hitler den in einer säkularisierten Welt zu „Volksfeinden“ arrivierten Juden bereitete, waren zu seiner Zeit technisch nicht denkbar!

Erst jetzt ist wirklich klar, womit es der Historiker und Theologe zu tun hat, wenn er über Luthers Stellung zu den Juden handelt. Erst jetzt wird einsichtig, dass jede Stellungnahme, die Luthers Position in dieser Frage verständlich machen will, die hier nur eine „scharfe Barmherzigkeit“ am Werke sieht, die vor einem allzu weit gespannten theologischen Horizont den Reformator sogar als Theologen ins Recht setzen will, Konsequenzen in sich birgt, die grauenhaft sind. Hier muss der Historiker in der Funktion des „Staatsanwalts“ ein unmissverständliches „Schuldig in allen Punkten der Anklage“ vortragen. Luthers Position gegenüber den Juden ist durch nichts zu retten! Als „Anwalt“ mag der Historiker auf die zeitgemässen Befangenheiten des Reformators verweisen und um Erbarmen für diesen bitten. Dieses wird aber - auch prozessrechtlich korrekt - immer erst dann möglich sein, wenn das Urteil rechtskräftig geworden ist. Ein Gnadengesuch kann nur für einen rechtskräftig Verurteilten eingereicht werden!

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat richtig gehandelt, als er die Äusserungen des alten Luther als „verhängnisvoll“ bezeichnete. Damit wird unumwunden eingestanden, dass Luther seinen Teil zu dem, was später den Juden geschah, beigetragen hat. Damit wird auch die letzte Hintertür theologischer und zeitgeschichtlicher Interpretationskünste geschlossen und R. Baintons hartes Diktum bestä-

58 tigt, das im Blick auf Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ lautet: „Man könnte wünschen, Luther wäre gestorben, ehe diese Schrift geschrieben war.“15

15

3

R. Bainton, Martin Luther, Göttingen 1959, S. 327.

59 Der alte Bileam. Herder und das Judentum (2004)

Eine wirklich gute Figur hat Johann Gottfried Herder, geboren 1744 im ostpreußischen Mohrungen und gestorben 1803 im thüringischen Weimar, nur ausnahmsweise gemacht1. Er war nur allzu selten glücklich mit sich selber, seinen ungeliebten kirchlichen Ämtern und seiner Position im geistigen Kosmos Weimars. Nicht umsonst hatte Wieland einst geschrieben: „Ich bin begierig zu sehen, was noch aus ihm werden wird, ein sehr großer Schriftsteller oder ein ausgemachter Narr.“2 Und Schillers Urteil fiel 1796 noch härter aus: „Herder ist jetzt eine ganz pathologische Natur, und was er schreibt, kommt mir bloß vor wie ein Krankheitsstoff, den dieser auswirft, ohne dadurch gesund zu werden. Was mir an ihm fatal und wirklich ekelhaft ist, das ist die geistige Schlaffheit, bei einem inneren Trotz und Heftigkeit. Er hat einen giftigen Neid auf alles Gute und Energische und affektiert, das Mittelmäßige zu protegieren. [...] Es muß einen indignieren, daß eine so große, außerordentliche Kraft für die gute Sache so ganz verlorengeht.“3

Eine eindeutige Qualifizierung Herders fällt also schwer: Was war er denn nun eigentlich? Einen wirklichen Dichter wird man ihn nur sehr eingeschränkt nennen können. Ein zunftgemäßer Theologe war der Weimarer Generalsuperintendent auch wohl kaum4. Gleiches ließe sich von Herder als Philosoph sagen. Auch als Historiker wird man ihn streng genommen nicht ansprechen dürfen. Und die Wirksamkeit als Übersetzer gilt üblicherweise als eine Nebenbeschäftigung, die allein genommen 1

Vgl. hierzu die vorzügliche und reichlich illustrierte Biographie von Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Johann Gottfried Herder mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten = rowohlts monographien, Hamburg 1970, in der allerdings die zahlreichen Zitate nicht nachgewiesen werden, und Michael Zaremba: Johann Gottfried Herder. Prediger der Humanität, Weimar-Wien 2002, mit einem knappen Überblick zum gegenwärtigen Stand der Herder-Rezeption (S. 5ff.). Zu den großen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen, in die Herder einzuordnen ist, vgl. Hermann A. Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, Teil 1: Sturm und Drang, Leipzig 1966 (8. Aufl.), passim, und Hermann Hettner: Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Bd, 2, Berlin und Weimar 1979, S. 25-81. 2 Ausgewählte Briefe von Christoph Martin Wieland an verschiedene Freunde, Bd. 2, Zürich 1815, S. 283. 3 Zitiert nach F.W. Kantzenbach, Johann Gottfried Herder, S. 120f. 4 Vgl. z.B. Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Ost-Berlin 1961, 3. Aufl, S. 302, der nach allem hohen Lob auf Herder abschließend urteilte: „Wie anders würden alle Dinge aussehen, wenn man von Herder, dem Inaugurator der typischen Theologie des 19. Jahrhunderts vor ihrer Inauguration durch Schleiermacher, auch sagen könnte, daß er verstanden habe, was Kirche und Gnade ist! Auch das kann man von Herder bei aller Anerkennung der Bedeutsamkeit seines Wollens nur unter schwersten Vorbehalten sagen. Und wenn es in der Theologie vielleicht gerade auf dieses Verstehen ankommen sollte [...], dann wäre das Morgenrot einer neuen Zeit, das viele in Herder gesehen haben wollen, doch auch nur ein bengalisches Feuer gewesen.“

60 noch keinen Platz im Pantheon zu sichern vermag5. Herder war von allem etwas, vor allem aber war er ein weitläufiger Steinbruch, aus dem sich unzählige Zeitgenossen und Nachgeborene – auch weit über die deutschen Grenzen hinaus6 - immer wieder bewußt und noch mehr unbewußt - dankbar und oft mit größtem Gewinn bedienten. Er war der große Vordenker und Anreger, dem es selber selten gegeben war, ein Werk wirklich zu vollenden. Herder deutete vieles an und ließ das Meiste offen7.

Ob es sich hierbei gleichsam um eine konstitutionelle Schwäche Herders handelte oder um taktische Manipulationen einer vielfach gebundenen Persönlichkeit8, wird sich kaum beantworten lassen. Damit wurde Herder aber zum Objekt einer Exegese, die den Spannungsbogen zwischen der philologisch-historischen Rekonstruktion und weitausholenden philosophisch-theologischen Spekulationen umfaßt. Auch in formaler Hinsicht blieb allzu vieles bei ihm Fragment, Skizze oder Entwurf, als daß seine „Schriften“ jemals im besten Sinne populär geworden wären. Herder wird überall genannt, selten aber im Original gelesen. Er wirkte als ein in seiner Zeit und weit darüber hinaus vielfach wirksamer Katalysator. Vieles wäre ohne Herder gar nicht oder doch nicht so vorstellbar, aber seine Persönlichkeit geriet darüber ins Schattenhafte. Die Literatur über Herder ist immens, im wahrsten Sinne des Wortes uferlos und in5

Vgl. allerdings Reinhard Tgahrt (Hg.): Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar = Marbacher Kataloge 37, Marbach 1982. 6 Bei Regine Otto (Hg.): Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1996, wird das u.a. für Rußland, die Slowakei, Armenien und Skandinavien im einzelnen illustriert, ohne daß damit auch nur annähernd die Wirkungsweite Herders erfaßt worden wäre. 7 Bemerkenswert ist die Charakteristik Herders, die Ludwig Geiger (1848-1920), der Sohn Abraham Geigers, des bedeutendsten Vertreters der jüdischen Reformbewegung im 19. Jahrhundert, und Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs von 1880-1914, notierte: „Man wird sagen müssen, unter den Genien allerersten Ranges des 18. Jahrhunderts hat er keinen Platz, diese sind Lessing, Kant, Goethe, Schiller, aber unter denen zweiten Ranges steht er gewiß an erster Stelle, so daß Wieland und Klopstock erst in gemessenem Abstand ihm folgen. [...] Die Eigentümlichkeit Herders besteht [...] darin, daß er immer aphoristisch, fragmentarisch ist und bleibt. [...] Es ist in dem Manne eine merkwürdige Mischung von Wärme und Kälte; sein Leben bietet Züge, die man nur als allzu menschliche bezeichnen muß [...].Aber es darf nie vergessen werden, daß er nicht etwa bloß für Goethe, sondern für die Literatur überhaupt der große Anreger war [...]. Herder hat in die verschiedensten Gebiete eingegriffen, Geschichte, Philosophie, Theologie, Ästhetik, Dichtkunst; auf keinem ist er ein Neuschöpfer und Begründer eines Riesenbaues, aber in allem hat er beeinflussend und befruchtend gewirkt.“ Vgl. Ludwig Geiger: Die Deutsche Literatur und die Juden, Berlin 1910, S. 65f. 8 Emil Adler: Johann Gottfried Herder und das Judentum, in: Kurt Mueller-Vollmer (Ed.), Herder today. Contributions from the International Herder Conference, Nov. 5-8, 1987, Stanford, California, Berlin – New York 1990, S. 382-401, zitiert auf S. 397 die Klage Herders von 1767: „Wäre unser Bücherton in Deutschland Republikanischer; wie manches hätte ich deutlich sagen können, wo ich jetzt vielleicht dunkel, oder kühn in Parabeln und Anspielungen rede.“ (SWS 1, S. 528)

61 zwischen ebenso international, wie es seine Interessen und Hinweise waren9. Herders Name zierte und ziert auch so manche Institutionen10 und Auszeichnungen11, aber es sei doch die Frage erlaubt, ob die auf solche Weise mit Herder Verbundenen immer genau angeben können, was solche Patronage nun eigentlich besagt.

Der steinbruchartige Charakter von Herders Schaffen machte es denn auch möglich, daß er in den deutschen Diktaturen auf prominente Weise ausgebeutet wurde. Die Herder-Rezeption unter den Auspizien des Nationalsozialismus ist inzwischen weitgehend aufgearbeitet worden12. Beispiele dafür, daß Herder gegen den neuen Ungeist aufgerufen wurde, sind kaum zu finden13. Um was es den Nazis dabei ging, soll hier nur mit einem Zitat aus dem Grußwort des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß bei der Hauptversammlung der Goethe-Gesellschaft 1934 illustriert werden: „Der geistige Gehalt der Bewegung, die zu erleben wir das Glück haben, wurzelt in dem Urgrund, aus dem aufquoll, was in Hamann, Herder, Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist, Fichte deutsch ist. In diesen Gottbegnadeten vollzog sich, um ein Wort des Führers zu gebrauchen, die Fleischwerdung der höchsten Werte unseres Volkes. Sie haben den Grundstein für die deutsche Zukunft gelegt; an uns ist es, auf diesem ‚letzten guten 9

Vgl. u.a. Gottfried Günther/Albina A. Volgina//Siegfried Seifert (Hg.): Herder-Bibliographie, OstBerlin-Weimar 1978; Doris Kuhles: Herder-Bibliographie 1977-1992 = Personalbibliographien zur neueren deutschen Literatur 1, Stuttgart-Weimar 1994, sowie die fortlaufende Bibliographie im HerderJahrbuch. Studien zum 18. Jahrhundert, Stuttgart-Weimar 1994ff. 10 Vgl. zum Marburger Herder-Institut Hugo Weczerka: Johann-Gottfried-Herder-Forschungsrat und Johann-Gottfried-Herder-Institut. Entstehung und Entwicklung eines Verbundes der Ostmitteleuropaforschung, Marburg/Lahn 1992; Herder-Institut Marburg (Hg.): Das Herder-Institut. Eine Forschungsstätte für die historische Ostmitteleuropa-Forschung, Marburg 2000; zum Herder-Institut in Leipzig Lothar Rathmann (Hg.): 30 Jahre Herder-Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig. Reden anläßlich des Festaktes am 20. Juni 1986 = Leipziger Universitätsreden NF 68, Leipzig 1987. 11 Vgl. Britta Scheideler: Kontinuitäten und Wandlungen in der Herderrezeption am Beispiel des Herder-Preises von 1936 und 1963, in: Jost Schneider (Hg.): Herder im „Dritten Reich“, Bielefeld 1994, S. 73-90. 12 Vgl. Bernhard Zeller (Hg.): Klassiker in finsteren Zeiten 1933-1945. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum = Marbacher Kataloge 38, 2 Bde. Marbach am Neckar 1983; Bernhard Becker: Herder-Rezeption in Deutschland. Eine ideologiekritische Untersuchung = Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 14, St. Ingbert 1987, S. 133-193; J. Schneider, Herder im „Dritten Reich“. 13 Vgl. aber z.B. - durchaus von Geist und Zeit der Sprache geprägt, aber in der Sache doch ganz klar - Walter Kriewald: Herders Gedanken über die Verbindung von Religion und Volkstum, Diss. Phil. Breslau 1935, S. 45f.: „Auf eine kurze knappe Formel gebracht, lautet also die Frage, von der aus der endgültige Beweis für oder gegen die Lebendigkeit der Herderschen Gedanken geführt werden muß: Geist oder Blut? [...] Rosenbergs Standpunkt ist wohl verständlich als Reaktion gegen eine Epoche unserer Geistesgeschichte, die überwunden werden muß, damit das gesunde Leben sich Bahn brechen kann. Das Entscheidende in der Frage, die uns beschäftigt hat, aber sagt keineswegs er, sondern immer noch Herder, der noch längst nicht überwunden ist.“

62 Fundament’ weiterzubauen.“14 Darf bzw. muß Herder mit dieser Okkupation durch den Ungeist belastet werden? Nach der Besetzung Rigas durch die deutsche Wehrmacht am 1. Juli 1941 und der Einrichtung eines Ghettos dort15 wurden in den Wäldern von Bikernieki und Rumbala, in Salaspils und in Kaiserwald Tausende von Juden ermordet, unter ihnen Simon Dubnow s.A., der größte Historiker des Judentums nach Heinrich Graetz16. Etwa zur gleichen Zeit notierte aber z.B. der holländische jüdische Literat Nico Rost in seinem Tagebuch, das er als Häftling im Dachauer Krankenrevier schreiben konnte: „Ich habe mich dann – mehr noch als früher – in die deutschen Klassiker vertieft und angefangen, sie mit anderen Augen zu lesen. Dadurch habe ich noch deutlicher erkannt, daß Goethe und Schiller, Herder und Hölderlin noch leben werden, wenn alle Bindings und Johsts, alle Dwingers und Bluncks schon vergessen sind. Es gibt nämlich eine bleibende deutsche Literatur, und es gibt eine Naziliteratur, die schnell genug verschwinden wird.“17

Die Instrumentalisierung Herders in der DDR war im Gegenüber alledem, was man ihm im „Dritten Reich“ angetan hatte, wesentlich diffuser und ist im übrigen, wenn ich richtig sehe, bisher erst ansatzweise analysiert worden18. Hierfür wären u.a. auch die Herder-Rezeption in Rußland bzw. der Sowjetunion, die kulturpolitischen Leitlinien der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), die Erbe-Politik der 14

Zitiert nach B. Zeller (Hg.), Klassiker in finsteren Zeiten, Bd. 1, S. 208. Vgl. Herbert Obenaus: Die Deportation deutscher Juden nach Riga, in: Ansgar Koschel/Helker Pflug (Hg.), Die vergessenen Juden in den baltischen Staaten. Ein Symposium vom 4. bis 7. Juli in Hannover = Galut Nordost Sonderheft 2, Köln 1998, S. 85-96. 16 Vgl. Israel Gutmann (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust, Berlin 1993, Bd. 2, S. 1228-1232; Wolfgang Scheller/Diana Schulle (Bearb.): Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden. Hg. vom Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge e.V. und dem Riga-Komitee der deutschen Städte gemeinsam mit der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und der Gedenkstätte „Haus der Wannsee-Konferenz“, 2 Bde., München 2003. 17 Zitiert nach B. Zeller (Hg.), Klassiker in finsteren Zeiten, Bd. 2, S. 223. 18 Vgl. hierzu vor allem Bernhard Becker, Herder-Rezeption in Deutschland; S. 193-216; Ders.: Phasen der Herder-Rezeption von 1871-1945, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder 17441803 = Studien zum sechzehnten Jahrhundert 9, Hamburg 1987, S. 423-436;. Regine Otto: Zur Herder-Forschung in der DDR – Resultate, Tendenzen, Aufgaben, in: K. Mueller-Vollmer (Ed.), Herder Today, S. 431-445. Die Verf.in, Mitarbeiterin im Institut für Klassische Deutsche Literatur der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der Klassischen Deutschen Literatur in Weimar, erstattete auf der Herder-Konferenz der Stanford-University im November 1987 bereits einen bemerkenswert kritischen Bericht „zur Herder-Forschung in der DDR“, konzentrierte sich allerdings auf die seriöse wissenschaftliche Beschäftigung mit Herder in der DDR, die respektable Einzelleistungen vorweisen konnte, vor allem im Bereich der Editionstätigkeit. Aus einsehbaren Gründen verzichtete die Autorin auf eine Darstellung der kulturpolitischen und propagandistischen Verwertung Herders in der DDR, zu der dann auch noch die ideologische Inanspruchnahme Herders im Bereich der DDR-Volksbildung hinzuzunehmen wäre. Vgl. weiter Arnold 1996, S. 320. 15

63 SED in den verschiedenen Phasen ihrer Herrschaft, die Tätigkeit des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands unter seinem Präsidenten Johannes R. Becher und das kulturpolitische Wirken der Ost-CDU genauer zu untersuchen. Populär gewendet wurde Herder in der DDR vor allem immer deshalb gerühmt, weil er „die wissenschaftliche Beschäftigung mit den slawischen Völkern und damit auch die positive Beurteilung ihrer kulturellen Leistungen“ gefördert hatte19.

Die Rückerinnerungen an den totalitären Mißbrauch Herders dürften im Rahmen unserer Erörterungen nicht gänzlich unangebracht sein, können sie doch darauf aufmerksam machen, auf welches möglicherweise vermintes Gelände sich derjenige begibt, der das Thema „Herder und das Judentum“ aufzugreifen versucht. Die grundlegende Frage, um die es hier gehen soll, lautet: War Herder ein Judenfreund oder ihr Gegner20? Oder noch provokativer gefragt: Könnte es Zusammenhänge zwischen Herder und dem Massenmord in den Wäldern um Riga geben21?

Aber ist das Thema „Herder und das Judentum“ überhaupt ein Thema? Einige Titel dieser Art liegen zwar vor, doch das besagt wenig und läßt sich eher mit der Griffigkeit einer solchen Kurzformel begründen als mit der Behauptung, „Herder und das Judentum“ wäre wirklich ein Thema22. Das Judentum und die Juden waren genau 19

Günter Albrecht/Kurt Böttcher/Herbert Greiner-Mai/Paul Günter Krohn: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 1, Leipzig 1967, S. 562. Die Öffnung Herders gegenüber dem Osten veranlaßte übrigens noch 1942 den aus Prag stammenden Professor Herbert Cysarz zu folgender Betrachtung: „Deutsche Klassik und Romantik, Herder und Goethe haben fast alle Völker des Ostens und Südostens zu sich selbst befreien geholfen. [...] Und dieser Aufgang einer nationalen Ökumene, der sich im jüngsten Jahrhundert blind gegen uns vom Zaun gebrochen worden ist, eine Vorgeschichte und Jahrtausendtiefe [....].“ Zitiert nach Zeller, Klassiker in finsteren Zeiten 1933-1945, Bd. 1, S. 260. 20 Zwei der bekanntesten jüdischen Nachschlagewerke halten sich hier auffallend zurück, vgl. Georg Herlitz/Bruno Kirschner (Hg.): Jüdisches Lexikon, Bd. 2, Berlin 1927 (ND: Königstein/Ts. 1982); Sp. 1547f.; Encyclopedia Judaica, Bd. 8, Jerusalem 1971, Sp. 343f. 21 Eine deutliche Verbindung zwischen der deutschen Spätaufklärung und der Shoa konstruierte z.B. Paul Lawrence Rose: German Question Jewish Question. Revolutionary Antisemitism from Kant to Wagner, Princeton 1993; vgl. dazu die Kritik von Karl Menges: Another Concept in the „Sonderweg“Debate? P.L. Rose’s „Revolutionary Antisemitism“ and the Prehistory of the Holocaust, In: German Studies Review 18.2, 1995, S. 291-314, und Ernest A. Menze: Herders „deutsche Art von ‚Humanität’“ und die jüdische Frage: Geschichtliches Umfeld und moderne Kritik, in Judaica 49, 1993, S. 156-169 (eine englische Fassung dieses Aufsatzes erschien in Martin Bollacher (Hg.), Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Würzburg 1994, S. 213-228). 22 Das Moses-Mendelssohn-Zentrum an der Universität Potsdam veranstaltete vom 1.—4. September 2002 eine Konferenz „Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist“ zum „ambivalenten Verhältnis Herders zum Judentum sowie seine bislang in der Forschung unberücksichtigt gebliebene Rezeption

64 betrachtet für Herder kein Thema, zu dem er sich jemals im Zusammenhang geäußert hätte. Gleichwohl war ihm das Problem immer in einzelnen Aspekten dieser Thematik gegenwärtig, die für ihn aber wenig miteinander zu tun haben und in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen erörtert werden. Es scheint mir deshalb sinnvoll, diese Einzelkomplexe zunächst jeden für sich zu betrachten, bevor der höchst problematische Versuch einer Synthese gewagt wird. Um welche Komplexe geht es also?

1. Die „ebräische Poesie“ 2. Die rabbinische Literatur 3. Juden und Judentum als „Volk“.

1. Die „ebräische Poesie“ Herders Zugang zur „ebräischen Poesie“23 war zunächst ein ganz persönlicher. Die Bibel war seine erste Bildungsquelle überhaupt gewesen. Noch der alte Herder bekannte, er wäre der Bibel zuliebe Theologe geworden24. Schon im „Versuch einer Geschichte der lyrischen Dichtkunst“ noch aus der Königsberger Zeit25 tritt Herder für die dichterische Autonomie der Bibel ein. Diesen Gedanken wird er dann – nach mannigfachen weiteren Vorarbeiten in den Studien über die „Älteste Urkunde des Menschgeschlechts“, 1774/76 in Riga in vier Teilen erschienen - zu der Auffassung verdichten, die Schöpfungs-, Sintflut- und Mosesgeschichten der hebräischen Bibel seien nichts anderes als alte orientalische Nationalgesänge26. 1778 verteidigte Herder in der Schrift „Lieder der Liebe“ das Schir-ha-schirim des Salomo gegen die tradidurch jüdische Intellektuelle, etwa durch die Haskala – die jüdische Aufklärung – oder den Zionismus“ (Text eines Informationsblattes). Die Referate dieser Veranstaltung werden bei Olms in Hildesheim gedruckt. 23 Erstaunlicherweise findet Herders Beschäftigung mit der „ebräischen Poesie“ keinerlei Berücksichtigung bei Barbara Stemmrich-Köhler: Zur Funktion der orientalischen Poesie bei Goethe, Herder, Hegel. Exotische Klassik und ästhetische Systematik in den „Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans“ Goethes, in Frühschriften Herders und in Hegels Vorlesungen zur Ästhetik = Bochumer Schriften zur deutschen Literatur 31, Frankfurt/M. u.a. 1992. 24 Vgl. H. Hettner, Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Bd. 2, S. 34. 25 SWS 32, S. 93f. 26 Vgl. SWS 8, S. 485. Vgl. auch Christoph Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung. Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes = Beiträge zur historischen Theologie 110, Tübingen 1999.

65 tionellen jüdischen und christlichen mystischen und rationalistischen Uminterpretationen und klassifizierte das Hohelied als eine Sammlung „altmorgenländischer Minnegesänge“27. In den „Briefen, das Studium der Theologie betreffend“ von 1780 wurde die Perspektive lebendiger Volksdichtung auf die ganze hebräische Bibel ausgedehnt28. Alles, was bisher gleichsam noch tastend von Herder in dieser Richtung formuliert worden war, kumulierte in den Dialogen „Vom Geist der Ebräischen Poesie“, die Herder 1782 als „eine Anleitung für die Liebhaber derselben und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes“ verstanden wissen wollte. Einigermaßen revolutionär mußte Herders grundsätzliche Erklärung zu seinem Umgang mit der althebräischen Überlieferung wirken: „Wir wollen nur von ihr als einem Werkzeug alter Poesie reden.“29 Ebenso neu war – wenigstens in der Weise, in der das vorgetragen wurde - Herders Einbeziehung der historischen und klimatischen Rahmenbedingungen jeder Sprache in die Interpretation und seine Forderung, der Interpret müsse sich mit den unterschiedlichen Stadien poetischer Überlieferung gleichzeitig machen: „Um von einer Nation zu urtheilen, muß man in ihre Zeit, ihr Land, ihren Kreis der Denkart und Empfindung treten, sehen, wie sie lebt; wie sie erzogen wird; was für Gegenstände sie sieht; was für Dinge sie mit Leidenschaft liebt; wie ihre Luft, ihr Himmel, der Bau ihrer Organe, ihr Tanz, ihre Musik sei. Dies alles muß man nicht als Fremdling oder Feind, sondern als ihr Bruder und Mitgeborner kennen lernen [...].“30 Nur der „Bruder und Mitgeborene“ wird „den Geist der ebräischen Sprache“ begreifen: „Sie ist voll Athems der Seele; sie tönt nicht wie die griechische, aber sie haucht, sie lebt.“31 Aber gerade deshalb, weil sich Herder der alt-hebräischen Literatur so historisch präzise und einfühlend nähert, kann er diese als „eine Poesie Himmels und der Erde“32 apostrophieren und zum innersten Kern aller der weitläufigen Erzählzusammenhänge der hebräischen Bibel vorstoßen: „Bei den Ebräern ist die Geschichte selbst eigentlich Poesie, d.i. Tradition einer Erzählung, die auch als gegenwärtig gemacht wird: also hilft diese Unbestimmtheit oder Verschwebung der Zeiten ausdrücklich der Evidenz, der hellen und klaren Gegenwart dessen, was beschrieben, erzählt oder ver27

Vgl. SWS 8. Vgl. E. Adler, Johann Gottfried Herder und das Judentum, S. 388-391. Vgl. SWS 10,7: „Das beste Lesen dieses göttlichen Buches ist menschlich.“ 29 SWS 11, S. 225. 30 SWS 11, S. 226. 31 SWS 11, S. 232. 32 SWS 11, S. 255. 28

66 kündigt wird.“33 Jetzt wird, um hier von zahlreichen weiteren tiefschürfenden Einsichten Herders in den „Geist der ebräischen Poesie“ einmal abzusehen, die eigentliche Leistung dieser Interpretation erkennbar: Die konsequente Betrachtung der hebräischen Überlieferung als „Poesie“ nimmt dieser nichts weg, sondern verortet sie historisch so präzise, daß ihre überzeitliche Bedeutsamkeit nicht mehr nur reine Behauptung bleibt, sondern ihre „helle und klare Gegenwart“ aufzuscheinen beginnt34.

Im sechsten Buch der „Adrastea“, das 1804 posthum erschien, formulierte Herder eine weitere Begründung für seine „vernünftige Auslegung“ der hebräischen Literatur: „Man verglich, und fand eine Einförmigkeit der Denk- und Lebensweise, des Ausdrucks selbst, bei allen sogenannt-Semitischen Völkern, zum erstaunen. Die Schriften der alten Ebräer und ihre Traditionen erläuterten sich dadurch von selbst; sie treten aus einer mystisch-rabbinischen Dämmerung ins Licht einer gemeinsamen Völker-Ansicht. [...] Sollte nicht der Genius Eines Volks die Anstalten der andern erläutern? Man fand, man übertrieb Manches; die Forschung in den Alterthümern beider Völker weckte sich durch einander. [...] Die einzige göttliche Art der Auslegung ist natürlich, vernünftig; rabbinische Träumereien, die sich auf nichts gründen, sind es nicht; stolze Vorurtheile endlich, die nur dem Spott Platz machen, sind es am mindesten. Eine Reihe von Vorurtheilen gegen den Inhalt dieser Schriften fallen weg, seitdem man sie gesund, d.i. local und Zeitmäßig anzusehen und auszulegen gelernt hat; ein großer Theil von Voltaires Späßen paßt nicht mehr auf dieselbe.“35

Die gelehrte Forschung hat sich selbstverständlich mit der Frage nach der Originalität von Herders Umgang mit der hebräischen Bibel eingehend beschäftigt36. Die historisch-kritische Fragestellung Spinozas37 wird bei ihm ja nicht aufgenommen, sondern 33

SWS 11, S. 234. Vgl. L. Geiger, Die Deutsche Literatur und die Juden, S. 69: „Alles das mochte die Theologen befremden, den Gelehrten seltsam erscheinen. Für die große Menge der Gebildeten war das die einzige Möglichkeit der Rettung der alten Denkmäler, denn durch solche poetischen Darlegungen schuf Herder eine neue Epoche für das Verständnis der Bibel.“ Vgl. auch die Hinweise Geigers zu den weiteren Auswirkungen der Herderschen Studien zur hebräischen Bibel S. 70f. 35 SWS 24, S. 350-352. 36 Vgl. dazu beispielsweise Ulrich Faust: Mythologien und Religionen des Ostens bei Johann Gottfried Herder = Aevum Christianum 12, Münster 1977; S. 54-69. 37 Vgl. z.B. Franz R. Merkel: Zur Geschichte der Bibelkritik, in: Nieuw Theologisch Tijdschrift 26, 1937, S. 27-36, bes. S. 30. 34

67 zu einer „historisch-ästhetischen“38 umgeformt. Die Abhängigkeit Herders von Hamanns Inkarnationsverständnis, nach dem die Herabneigung Gottes ins „Fleisch“ der Heiligen Schrift geschah, ist zumindest erwägenswert39. Auch der Zusammenhang mit Rousseaus Mythos-Lehre ist keineswegs unwahrscheinlich40. Über die religionswissenschaftlich vergleichenden Studien, die ihn zu einer „gemeinen Völker-Ansicht“ der „morgenländischen Literatur“ führten, hat Herder selber ausführlich berichtet. Wie immer hier nun aber auch mögliche oder tatsächliche Einflüsse und Abhängigkeiten gesehen werden mögen, so bleibt doch festzuhalten, daß Herder auch hier nicht systematisch gedacht und gearbeitet hat. Er nahm manches auf und popularisierte es in so ungemein wirkungskräftiger Weise, daß viele davon zehren konnten. Aber das blieb dann eben auch so etwas wie ein Journalismus der höchsten Art, der sich den Anstrengungen der gelehrten, also auf Systematik bedachten Herder-Exegese prinzipiell versperrt.

2. Die rabbinische Literatur

So berechtigt die hermeneutischen Aufschlüsse gerühmt werden, die Herder hinsichtlich der hebräischen Bibel vermittelte, so unklar scheint sein Verhältnis zur rabbinischen Literatur des Judentums zu sein. Sehr viel hat er davon und vom rabbinischen Hebräisch und Aramäisch oder gar dem Judendeutsch bzw. Jiddisch übrigens nicht gewußt – wie schon Mendelssohn in einem Brief an Herder freundlich andeutete41. Das zeigt auch Herders Votum zur nachbiblischen Entwicklung der jüdischen Idiome: „Das arme Volk war in die Welt zerstreuet: die Meisten bildeten also ihren Ausdruck nach dem Genius der Sprachen, unter denen sie lebten, und es ward ein trauriges Gemisch, an das wir hier nicht denken mögen“42, heißt es da in direkter 38

So Klaus Scholder: Herder und die Anfänge der historischen Theologie, in: Evangelische Theologie 22, 1962, S. 425-440, bes. S. 432. Vgl. Hans-Joachim Kraus: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart, Neuenkirchen 1956, S. 104ff. 40 Vgl. z.B. Hans Matthias Wolff: Der junge Herder und die Entwicklungsidee Rousseaus = Publications of the Modern Language Association of America 57,1, 1942, S. 753-819. 41 In dem Brief vom 20. Juni 1780 heißt es: „Sie mein Herr, haben gezeigt, daß Sie das Hebräische sehr gut verstehen. Vielleicht haben Sie auch einige Kenntnis des Rabbinischen.“ Hier zitiert nach Franz Kobler (Hg.): Juden und Judentum in deutschen Briefen aus drei Jahrhunderten, Wien 1935 (ND: Königstein/Ts. 1984), S. 73f. 42 SWS 11, S. 229. 39

68 Gegenüberstellung zur „ebräischen Poesie“43. Unüberhörbar artikulierte Herder seine Verfallsidee, wenn er 1792 schrieb: „Die Poesie der Ebräer, als die älteste, faßt schon einen Zeitraum vielleicht von mehr als einem Jahrtausende in sich, und geht der Literatur der Araber, Griechen und Römer größtentheils ganz vorher. Sie ward in einer Sprache geschrieben, die sich zur eigentlich wissenschaftlichen Cultur nie ausgebildet hat, weil ihr lebendiger Gebrauch als einer Nationalsprache zu schnell unterging; man kann also diese Poesie nicht anders als ein frühverblühtes Kind, die Tochter der Jugend eines zerstreuten Volks betrachten, das seitdem nie seine Sprache hat fortbilden können.“44

Unter ästhetisch-poetologischen Gesichtspunkten konnte Herder nun allerdings nicht ganz an den „Jüdischen Dichtungen und Fabeln“ vorübergehen. Im „Teutschen Merkur“ von 1781 veröffentlichte er eine gleichnamige Textsammlung, die 1787 in die „Blätter der Vorzeit. Dichtungen aus der morgenländische Sage“ als dritter Teil der „Zerstreuten Blätter“ integriert wurde45. Bernhard Suphan hat sich seinerzeit die Mühe gemacht, die von Herder verwendeten Quellen zu bestimmen und nachweisen können, daß dieser hierbei durchweg aus zweiter, wenn nicht aus dritter Hand schöpfte46. Vor allem Johann Christian Schoettgen47, der Rektor der Dresdner Kreuzschule (1687-1751), mit seinen „Horae hebraicae et talmudicae“ von 1733/1742 43

Vgl. dazu Jeffrey A. Grossman: The discourse on Yiddish in Germany. From the enlightenment to the Second Empire = Studies in German Literature, Linguistics, and Culture, Rochester, NY 2000, S. 50: „The image of a corrupt language, a ‚sad mixture,’ that Herder presents here correspondents to that image of Jewish culture presented in the Ideen in cultural historical terms, which also appears as the image of Jewish culture in his day. [...] While Herder attributes the linguistic and moral corruption of Jewish culture in part of treatment of Jews by non-Jews, he also attributes it in his era to the influence exerted upon them by that separation from their national homeland over the centuries, a view that later finds resonance within some sections of the Zionist movement [...]. Herder does not, however, draw an analogy between the corruption of Jewish language and the moral corruption of Jewish culture. The linguistic corruption functions rather, according to Herder’s view of language and national character, as an audible, sensous sign of that moral corruption, one conditioned by and conditioning Jewis existence in the diaspora.“ Vgl. auch schon Ders.: Herder and the Language of Diaspoa Jewry, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur. Official organ of the German Section of the Modern Language Association of the Centra West and South. Publ. at the University of Wisconsin, Madison, Wis., 86, 1994, Heft 1, S. 59-79. Die Monographie von Grossman wurde 1992 unter dem Titel „The space of Yiddish in the German and German-Jewish discourse“ als Dissertation von der University of Texas at Austin angenommen (UMI Dissertation Services Order Number: 9309182). 44 SWS 16, S. 12. 45 Vgl. SWS 26, S. 487, Anm. zu S. 308. 46 Vgl. SWS 26, S. 486f. 47 Vgl. G. Müller: Art. Schöttgen, in Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche (RE), 3. Aufl., 17, 1906, S. 704f.

69 und der Heidelberger Orientalist Johann Andreas Eisenmenger (1654-1704) mit seinem „Entdeckten Judenthum“ von 1700 (Neuauflage: Dresden 1892) und dessen „lächerlichen und kurzweiligen Fabeln“ aus der jüdischen Tradition, wie es in dem barocken Titel dieses Hauptwerkes antijüdischer Polemik christlicher Provenienz heißt48, wurden von Herder ausgeschrieben und in einer Weise aneinandergereiht, die in ihrer Beziehungslosigkeit verwundern mag. Erklären läßt sich diese Vorgehensweise nur durch Herders poetische Auffassung auch dieser Textgenres, die er letztlich eben doch noch zur „ebräischen Poesie“ zählt. Die gebotene Trennschärfe zwischen der biblischen und der rabbinischen Literatur fehlt bei Herder. Das ermöglichte ihm, eines Traditionsstromes ansichtig zu werden, den er - je länger je mehr – durch die Rabbinen verunreinigt sah. Diese Betrachtungsweise konnte einerseits zutreffend die großen Zusammenhänge erkennbar machen, verhinderte allerdings auch, das Neue zu erkennen, das sich in der rabbinischen Literatur konkretisierte, als der Tempel verloren war und die Galuth zur jüdischen Existenzweise schlechthin wurde.

Diese Mangelanzeige verliert allerdings sofort an Schärfe, wenn man sich klar macht, was man im Zeitalter Herders überhaupt von der rabbinischen Literatur wußte und wie man mit dem vorhandenen Wissen umging. Im Regelfall wurde diese als Steinbruch für christliche, zumeist antijüdische Argumente benutzt, und selbst innerhalb des zeitgenössischen Judentums, zumindest soweit es Herder überhaupt zugänglich sein konnte, überwogen die antirabbinischen Affekte, z.B. bei Moses Mendelssohn, doch so eindeutig, daß eigentlich jeder angemessene Zugang für Herder zu dieser Tradition versperrt war49.

Das illustriert auch sein Umgang mit Begriff und Sache der Kabbala, von der Herder wie die allermeisten seiner christlichen und übrigens auch jüdischen Zeitgenossen fast nur die von durchweg christlichen Autoren des 17. und 18. Jahrhunderts verbreiteten Vorurteile kannte50. Diese werden in der 1787 zuerst erschienenen Abhandlung 48

Vgl. G. Dalman: Art. Eisenmenger, in: RE, 3. Aufl., 5, 1898, S. 276f. Vgl. hierzu u.a. E. Adler, Johann Gottfried Herder und das Judentum, S. 386-388. Vgl. Eveline Goodman-Thau/Gerd Mattenklott/Christoph Schulte (Hg.): Kabbala und Romantik, Tübingen 1994; Dies.: Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope = Conditio

49 50

70 „Gott“ auch nur am Rande aktiviert, wo es im Zuge der Spinoza-Renaissance seiner Zeit darum geht, die Position des großen Amsterdamer Philosophen gegenüber Lessing, der Spinoza in Verbindung mit der Kabbala gebracht hatte, zu präzisieren: „Die Philosophie des Spinoza ist von der Kabbala ebenso verschieden, als es vergebliche Mühe ist, jene durch diese läutern zu wollen. Die Kabbala ist ein zusammengeflossener Unrath guter und böser, im Ganzen aber schwärmerischer, dunkler Vorstellungen in ungeheuren Bildern, mit denen der reine heitre philosophische Sinn Spinoza’s nicht zu thun fand; sonst wäre er ein Jude geblieben. In seiner ganzen Ethik finden Sie kein Bild und seine wenigen Gleichnisse sind ihm fast mißrathen. Er ist ein Antipode der Kabbala, wenn es je Einen gegeben hat.“51 Die Heftigkeit dieser Attacke richtete sich vor allem gegen die in der Spinoza-Renaissance skandalisierte Gleichsetzung von Kabbala, Spinozismus und Atheismus, die Friedrich Heinrich Jacobi behauptet hatte52. So fern Herder nun auch der Tradition des rabbinischen Judentum gewesen sein mag53, so sei hier doch auch erwähnt, daß seine Nacherzählungen rabbinischer Legenden wegen ihrer hohen sprachlichen Qualitäten stets so sehr geschätzt54 wurden, daß der Berliner Schocken-Verlag noch 1936 eine Ausgabe der „Dichtungen aus der morgenländischen Sage“ veranstaltet hat55, zu der Fritz Bamberger das Nachwort Judaica 27, Tübingen 1999. Gershom Scholem: Die letzten Kabbalisten in Deutschland, in: Judaica 3, 1970, S. 218-246, hat wohl zurecht geurteilt, daß die kabbalistische Tradition in Deutschland „ziemlich abrupt“ abgebrochen sei. Was danach unter dem Begriff Kabbala bei Juden und Christen noch gegenwärtig war, hatte mit der eigentlichen Kabbala kaum noch Berührung. 51 SWS 16, 524. Vgl. dazu Horst Folkers: Der immanente Ensoph. Der kabbalistische Kern des Spinozismus bei Jacobi, Herder und Schelling, in: E. Goodman-Thau/G. Mattenklott/Chr. Schulte (Hg.), Kabbala und Romantik, S. 71-95, bes. S. 91f. 52 Vgl. Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, Breslau 1785, S. 14. (ND: Bearb. von Marion Lauschke = Philosophische Bibliothek 517, Hamburg 2000). 53 In den berühmten „Stimmen der Völker in Liedern“ taucht das jüdische Thema überhaupt nur in einer schottischen Ballade „Judentochter“ auf, einem „schauderhaften Märchen, dessen Sage einst so vielen Juden oft Land und Leben gekostet“, wie Herder hinzufügte. Vgl. dazu Christoph Daxelmüller: Kabbala und Kabbalistik in der Volksliteratur, in: E. Goodman-Thau/G. Mattenklott/Chr. Schulte (Hg.), Kabbala und die Literatur der Romantik, S. 235-258, bes. S. 239f. 54 Vgl. z.B. L. Geiger, Die Deutsche Literatur und die Juden, S. 71. 55 Vgl. Johann Gottfried Herder: Blätter der Vorzeit. Dichtungen aus der morgenländischen Sage (Jüdische Dichtungen und Fabeln). Mit einem Nachwort von Fritz Bamberger = Bücherei des SchockenVerlags 60, Berlin 1936. Bamberger machte sich allerdings über Herder als Übersetzer keinerlei Illusionen: „Es ist schön und wichtig, wie Herder es meist verstanden hat, aus sekundären Quellen, die zu apologetischen und dem eigentlichen Stoff meist fremden Zwecken zusamengestellt waren, den reinen jüdischen Kern herauszuspüren. Was dann zustande kam, ist allerdings nicht mehr ursprüngliche und in ihrer unberührten Eigenart übertragene jüdische Literatur, aber ein bemerkenswertes Zeugnis der Anregung, welche die alte jüdische Literatur der Weltliteratur gegeben hat.“ (S. 91)

71 schrieb. Bamberger (1902-1984), der im gleichen Jahr im Berliner Philo-Verlag noch einmal die „Geschichte des jüdischen Geistes von Moses bis Mendelssohn“ beschwor56, mußte 1939 in die USA emigrieren.

3. Juden und Judentum als „Volk“

Um nun von der Literatur weg zu einer gesicherten Einschätzung des Verhältnisses Herders zu Juden und dem Judentum als „Volk“ bzw. Nation“57 zu gelangen, mag es sinnvoll sein, zunächst zwei Voten aus den „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ einander unmittelbar gegenüberzustellen.

Zum einen heißt es da über die „Hebräer“ und ihre Rolle in der Geschichte: „Sehr klein erscheinen die Hebräer, wenn man sie unmittelbar nach den Persern betrachtet. Klein war ihr Land, arm die Rolle, die sie in und außer demselben auf dem Schauplatz der Welt spielten, auf welchem sie fast nie Eroberer waren. Indessen haben sie durch den Willen des Schicksals und durch eine Reihe von Veranlassungen, deren Ursachen sich leicht ergeben, mehr als irgend eine asiatische Nation auf andere Völker gewirkt; ja, gewissermaßen sind sie, sowol durch das Christenthum, als den Mohamedanismus, eine Unterlage des größten Theils der Weltaufklärung geworden.“58

Das andere berühmt-berüchtigte Zitat stammt aus dem Kapitel „Fremde Völker in Europa“, das über Araber59, Türken60, Juden, Armenier61 und Zigeuner62 handelt: 56

Vgl. Fritz Bamberger: Jüdische Gestalten und ihre Zeit. Eine Geschichte des jüdischen Geistes von Moses bis Mendelssohn = Schriftenreihe der C.-V. Zeitung 3, Berlin 1936. 57 Vgl. u.a. Ernest A. Menze: Herder and the „Jewish Nation“. Continuity and Supersession, in R. Otto (Hg.), Nationen und Kulturen, S. 471-486. 58 SWS 14, S. 58. 59 Das Problem der Araber in Europa betrachtete Herder als erledigt: „Ja, da viele derselben in den von ihnen bewohnten Ländern zum Christenthum übergetreten sind, so sind sie dadurch in Spanien, Sicilien und sonst, Europa selbst einverleibt worden.“ SWS 14, S. 282f. 60 Zu den Türken erklärt Herder kurz und bündig: „Denn was sollen Fremdlinge, die noch nach Jahrtausenden asiatische Barbaren sein wollen, was sollen sie in Europa?“ SWS 14, S. 283. 61 Die Armenier klassifizierte Herder „in unserem Welttheil nur als Reisende“, SWS 14, S. 284. 62 Die Zigeuner registriert Herder als „ein zahlreiches, fremdes, heidnisches, unterirdisches Volk fast in allen Ländern Europa’s“, abstammend von einer „verworfenen indischen Kaste“, zu der ihm nur die Frage einfiel: „Wozu taugt sie in Europa, als zur militärischen Zucht, die doch Alles aufs schnellste disciplinirt?“ SWS 14, S. 284f.

72 „Die Juden betrachten wir hier nur als die parasitische Pflanze, die sich beinah allen europäischen Nationen angehängt und mehr oder minder von ihrem Saft an sich gezogen hat. Nach dem Untergange des alten Roms waren ihrer, vergleichungsweise, nur noch wenige in Europa; durch die Verfolgungen der Araber kamen sie in großen Haufen herüber, und haben sich selbst nationenweise vertheilt. Daß sie den Aussatz in unseren Welttheil gebracht, ist unwahrscheinlich; ein ärgerer Aussatz war’s, daß sie in allen barbarischen Jahrhunderten als Wechsler, Unterhändler und Reichsknechte niederträchtige Werkzeuge des Wuchers wurden, und gegen eignen Gewinn die barbarisch stolze Unwissenheit der Europäer im Handel dadurch stärkten. Grausam ging man oft mit ihnen um, und erpreßte tyrannisch, was sie durch Geiz und Betrug, oder durch Fleiß, Klugheit und Ordnung erworben hatten; indem sie aber solcher Begegnungen gewohnt waren und selbst darauf rechnen mußten, so überlisteten und erpreßten sie desto mehr.“63

Unmittelbar anschließend setzt Herder, als ob er über seine antijüdische Suada selber erschrocken sei, dann jedoch ganz anders fort: „Indessen waren sie [= die Juden] der damaligen Zeit, und sind noch jetzt manchen Ländern unentbehrlich; wie denn auch nicht zu läugnen ist, daß durch sie die hebräische Literatur erhalten, in den dunklen Zeiten, die von den Arabern erlangte Wissenschaft, Arzneikunde und Weltweisheit auch durch sie fortgepflanzt und sonst manches Gute geschaffen worden, wozu sich kein Andrer als ein Jude gebrauchen ließ. Es wird eine Zeit kommen, da man in Europa nicht mehr fragen wird, wer Jude oder Christ sei, denn auch der Jude wird nach europäischen Gesetzen leben, und zum Besten des Staates beitragen. Nur eine barbarische Verfassung hat ihn daran hindern, oder seine Fähigkeit schädlich machen mögen.“64

Es muß hier nicht eigens erwähnt werden, daß sich in dem tief zerklüfteten Werk Herders noch manche und in der Literatur ausgiebig traktierte parallele Äußerungen finden lassen. Das Grundproblem des Themas „Herder und das Judentum“ ist aber bereits in diesen Zitaten vollständig präsent: Konnte Herder die hebräische Poesie 63 64

SWS 14, S. 283f. SWS 14, S. 284.

73 nicht genug preisen, so sieht er mit dem Beginn der jüdischen Diaspora ab dem Jahr 70 u.Z. einen großen Bruch, d.h. den Beginn der jüdischen Elends- und Verfallsgeschichte, die bis in die Gegenwart anhält – und nur dadurch beendet werden kann, daß die Umwelt die Juden besser behandelt und die Juden sich restlos assimilieren, also ihr Judesein aufgeben.

Was Herder zum nachbiblischen und zeitgenössischen Judentum zu sagen hatte, war stets – man kann es nicht anders sagen – von größter Herzenskälte bestimmt. Der lebendige, konkrete Jude kommt ihm nirgends in den Blick. Stets wird von den Juden nur als einem Kollektiv gesprochen, das als „fremdes Asiatisches Volk“65 – im Gegenüber zur deutschen und christlichen Mehrheitsbevölkerung, eben dem deutschen Volk - apostrophiert wird66. Welche Konsequenzen aus dieser Betrachtungsweise zu ziehen seien, entfaltete Herder einigermaßen zusammenhängend in dem Text „Bekehrung der Juden“, der im vierten Band der „Adrastea“ von 1802/3 enthalten ist67.

Ausgehend von den Aktivitäten des pietistisch motivierten Callenbergschen Instituts zur Bekehrung der Juden in Halle, bestätigt Herder hier, nachdem er jeder Judenmission eine entschiedene Absage erteilt hat, einmal mehr zunächst sein unendliches Distanzbewußtsein gegenüber allem Jüdischem, um sodann die Lösung der Judenfrage alleine als eine ökonomisch-politische zu skizzieren: „Das Volk ist und bleibt also auch in Europa ein unserem Welttheil fremdes Asiatisches Volk, an jenes alte, unter einem entfernten Himmelsstrich ihm gegebene und nach eigenem Geständniß von ihm unauflösbare Gesetz gebunden. Wiefern nun dies Gesetz und die aus ihm entspringende Denk- oder Lebensweise in unsre Staaten gehöre, ist kein Religionsdisputat mehr, wo über Meinungen und Glauben discurrirt würde, sondern eine einfache Staatsfrage. ‚Wie Viele nämlich von diesem fremden Volk, das unter

65

SWS 24,63. Zur Problematik des Volks- und Nationenbegriffs bei Herder vgl. weiter Wilhelm Dantines Beitrag „Frühromantik – Romantik –Idealismus“ in: Karl Heinrich Rengstorf/Siegfried von Kortzfleisch (Hg.): Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden, Bd. 2, Stuttgart 1970, S. 177-221, bes. S. 213ff. 67 Vgl. Karl Menges: Herders „Bekehrung der Juden“. Ein Beitrag zu vielen Beiträgen in der Geschichte der Emanzipation, in: R. Otto (Hg.), Nationen und Kulturen, S. 459-470. 66

74 solchem fremden Nationalgesetz, in solcher Denk- und Lebensweise solche und keine andere Geschäfte treibet, diesem und keinem andern Staat entbehrlich, nützlich, oder schädlich seyn? Wie man sie anzusehen und anzuwenden habe?’ dies ist das Problem. Wenn von Sinesen, Indiern, Persern, Zigeunern, Mamlucken, die eben einwanderten, die Rede wäre, bliebe es dieselbe Frage. Jeder Staat hat sie für sich zu beantworten, keiner darf dem andern darüber Gesetze vorschreiben, am wenigstens hat der Philosoph a priori hierüber zu entscheiden.“68

Herder lehnt jedes multi-kulturelle Konzept entschieden ab. Ja noch mehr: Er entzieht die Behandlung der Judenfrage auch ausdrücklich dem Bereich der Menschenrechte: „Wozu jene entfernteren Discußionen z.B. über Rechte der Menschheit, wenn blos die Frage ist: ‚wie viele von diesem fremden Volk dürfen in diesem Europäischen Staat dies ihr Geschäft ohne Nachtheil der Eingebohrenen treiben? unter welchen Bedingungen? in welchen Schranken? unter welcher Aufsicht?’ Denn daß eine unbestimmte Menge derselben einen Europäischen, zumal übel organisirten Staat verderbe, davon liefert die Geschichte leider! traurige Beweise. Nicht allgemein Menschenfreundliche Grundsätze, sondern die Verfaßung der Nation, in welcher Juden ihr Gewerbe treiben, giebt hierüber Auskunft.“69

Großmütig konzediert Herder den Juden allerdings, „daß die ehemalige Barbarei in Europa zum Verderbniß des Jüdischen Charakters durch ein gewaltthätiges und häßliches Betragen gegen dies Vvolk mit beigetragen, welches wir ihm, der Geschichte zufolge, nicht abläugnen können; so ist der Europäer Pflicht, die Schulden ihrer Vorfahren zu vergüten, und die durch sie Ehrlos wurden, der Ehre wiederum fähig und werth zu machen.“70 Um dieses Ziel zu erreichen, schlägt Herder vor: 1) „daß wir ihnen die Quellen Ehrlosen Gewinnes und Betruges verstopfen, die wir ihnen selbst öffneten und in schlechtorganisirten Staaten noch öffnen.“71

68

SWS 24, S. 63f. SWS 24, S. 64. SWS 24, S. 69. 71 SWS 24, S. 69. 69 70

75 2) „betrachte sich die Christenheit gegen das Judenthum als der Machthabende, gebildetere Theil, gehe ihm mit edlem Beispiel voran, und zwinge ihn gleichsam durch Vorsicht und Zutrauen zur Achtung gegen sich selbst, d.i. zur Ehre.“72 3) „beßere Erziehung; Moral und Cultur. Unvermerkt heben diese die Ungleichheit zwischen Menschen und Menschen auf; sie wecken das Gemüth und ebnen den Charakter. Nun hat der Staat unwidersprechlich das Recht und die Pflicht, Fremdlingen, die er schützt, eine Erziehung zu geben, die seinen Grundsätzen gemäß sei; die Sorge hierfür ist er seinen Eingebohrnen schuldig. [...] Gemeinschaftliche Cultur der Seele vereinigt die Menschen aller Zeiten, Gegenden und Völker.“73

Als Ergebnis der von ihm geforderten Erziehung des Judentums entwickelt Herder eine auf den ersten Blick hinreißende, bei genauerer Betrachtung aber eben doch nur auf die Liquidation des Judentums hinauslaufende Vision: „Welche Aussicht wäre es, die Juden, ein so scharfsinniges Volk, der Cultur, der Wißenschaften, dem Wohl des Staats, der sie schützt, und andern der Menschheit allgemeinnützlichen Zwecken treuergeben, in ihren Beschäftigungen und in ihrer Denkart selbst rein-humanisiert zu sehen! Abgelegt die alten stolzen Nationalvortheile; weggeworfen die Sitten, die für unsere Zeit und Verfaßung, selbst für unser Klima nicht gehören, arbeiten sie, nicht als Sclaven an einem Colisäum, wohl aber als Mitwohner gebildeter Völker am größesten und schönsten Coloßeum, dem Bau der Wißenschaften, der Gesammt-Cultur der Menschheit. Nicht auf den nackten Bergen Palästina’s, des engen, verheerten Landes, allenthalben stünde da geistig ihr Tempel aus seinen Trümmern empor: alle Nationen verehrten mit ihnen, sie mit allen Nationen verehrten den Weltschöpfer, indem sie sein Bild, Vernunft und Weisheit, Großmuth und Wohlthätigkeit im Menschengeschlecht ausbildeten und erhüben. Nicht durch Einräumung neuer merkantilischer Vortheile führt man sie der Ehre und Sittlichkeit zu; sie heben sich selbst dahin durch rein-menschliche, wißenschaftliche und bürgerliche Verdienste. Ihr Palästina ist sodann da wo sie leben und wirken, allenthalben.“74

72 73 74

SWS 24, S. 71. SWS 24, S. 72f. SWS 24, S. 74.

76 Was Herder hier als Vision entwickelt, läuft auf ein kulturell assimiliertes und auf pantheistischer Grundlage mit der übrigen Menschheit vereinigtes Judentum heraus, das eben nichts Jüdisches mehr an sich hat. So wie die christlichen Kirchen einst den „Fehler“ des Judeseins durch die Taufe geheilt sahen, so Herder durch die restlose Übernahme der europäischen Mehrheitskultur. Da ist nichts mehr von dem Respekt, ja der Bewunderung zu spüren, die Herder gegenüber der „ebräischen Poesie“ empfand. Für die jüdische Zions-Sehnsucht hat Herder nur Hohn und Spott übrig: „Glück also, wenn ein Meßias-Bonaparte sieghaft sie dahin führt, Glück zu nach Palästina! Schwerlich würde aber der reichen bewerbsamen Nation das enge Palästina gefallen, wenn ihr nicht zugleich der allgemeine Mittelhandel der alten und neuen Welt zugestanden würde. Für die alte Welt wäre ihr Land dazu wohlgelegen.“75

Herder war, sobald es um den konkreten Juden ging, ein Judenfeind – und das übrigen noch nicht einmal auf originelle Weise76. Nach Christian Wilhelm Dohms bahnbrechender Abhandlung „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ von 178177 hatte eine recht intensive Diskussion alle möglichen und auch unmöglichen Argumente in diesem Zusammenhang erörtert, so daß Herder hier – wie so oft – eigentlich nichts Neues hinzufügen konnte, sondern sich auf zusammenfassende Bewertungen beschränkte78.

Herders „Toleranz und Menschlichkeit“ ist so konditioniert, daß das Judentum darüber verloren gehen muß. Ob und inwieweit Herder den von ihm skizzierten Erziehungsprozeß überhaupt für praktikabel hielt, bleibt darüber hinaus eine schwer zu beantwortende Frage. Zumindest dürfte die Vermutung nicht ganz abwegig sein, daß die Herdersche Vision letztlich doch nur die Unmöglichkeit dieser Perspektive nahelegen sollte.

75

SWS 24, S. 67. Bezeichnenderweise wird Herder bei Michael Brenner/Stefi Jersch-Wenzel/Michael A. Meyer: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 2: Emanzipation und Akkulturation, München 1996, unter der Überschrift „Christentum gegen Judentum“ abgehandelt. 77 Vgl. Christian Konrad Wilhelm von Dohm: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin und Stettin 1781 (ND: Hildesheim 1973). 78 Vgl. hierzu Franz Reuss: Christian Wilhelm Dohms Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ und deren Einwirkung auf die gebildeten Stände Deutschlands. Eine kultur- und literaturgeschichtliche Studie (phil. Diss. Leipzig), Kaiserslautern 1891 (ND: Hildesheim 1973). 76

77 Bedeutet diese Feststellung nun aber auch, daß der Judenfeind Herder in einen direkten genetischen Zusammenhang mit den Massenmorden von Riga und vielen anderen Schreckensorten gebracht werden muß? Zur Beantwortung dieser Frage muß noch einmal neu angesetzt werden. Zunächst ist festzustellen, daß Herder kein rassistischer Antisemit gewesen ist79. Prinzipiell hält er ja an der Möglichkeit der „Rein-Humanisierung“ der Juden fest, so unklar diese Perspektive auch im einzelnen sein mag. Das Judesein ist für ihn noch keine unveränderbare anthropologische Befindlichkeit, sie ist vielmehr prinzipiell durch Erziehung und Bildung heilbar80. Das haben die spätestens zwei Generationen nach ihm auftretenden Rasse-Antisemiten dann ganz anders gesehen81. Insofern also wäre Herders Verbindung mit dem Massenmord am jüdischen Volk schlichtweg zu verneinen82.

Allerdings muß hier nun gleichzeitig die Frage gestellt werden, was Herder für die nationalsozialistische Antisemitismus-Propaganda so brauchbar machen konnte. Zumindest ein entscheidendes Stichwort für den Rasse-Antisemitismus hat Herder geliefert. Noch einmal sei hier an Herders Votum über das Judentum „als die parasitische Pflanze, die sich beinah allen europäischen Nationen anhängt“ erinnert. Diese Äußerung Herders muß heute – nach den Erfahrungen der Shoa – erschrecken. „Parasitentum“ gehörte zu den zentralen Begriffen der nationalsozialistischen Antisemi-

79

Sehr zutreffend beschrieb Karl Heinrich Rengstorf die Grundstruktur dieses frühen und „gebildeten“ Antisemitismus: „Jetzt wie auch in der Folgezeit erweisen sich persönliche Hilfsbereitschaft gegenüber einzelnen schutz- oder hilfebedürftigen Juden als Mitmenschen auf der einen Seite und eine je nachdem kühle oder leidenschaftliche Aversion gegen die Juden als Gruppe auf der anderen Seite als vielfach miteinander verbunden. Darin deutet sich ein Grundzug des späteren Antisemitismus an: Persönliche Unsicherheit im Blick auf dessen Objekt, sofern dieses sich in der Einzelperson konkretisiert, kompensiert durch das Aufgehen in einer Masse, die sozusagen die persönliche Verantwortung ihrer Glieder für das, was geschieht, aufhebt.“ Vgl. K. H. Rengstorf/S. von Kortzfleisch (Hg.), Kirche und Synagoge, Bd. 2, S. 152. 80 Vgl. dazu u.a. Karl Menges: Integration oder Assimilation: Herders Äußerungen über die Juden im Kontext der klassischen Emanzipationsthese, in: Euphorion 90, 1996, S. 394-415, wo die philosophischen Rahmenbedingungen dieser Auffassung weitläufig diskutiert werden. 81 Vgl. auch Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus, Bd. 5: Die Aufklärung und ihre judenfeindliche Tendenz, Worms 1983, S. 183: „Herder war der große Sänger der deutschen ‚Treue’, dieser leidenschaftlichen Fixierung auf die Person des ‚Vorgesetzten’ [...]. Seine Beschreibung der Juden [...] nimmt auch die Äußerungen der Rassisten der künftigen Generationen vorweg [...].“ 82 Vgl. hierzu auch Frederick M. Barnard: Herder and Israel, in: Jewish social studies. History, culture and society 28, 1966, S. 25-33.

78 tismuspropaganda. Damit aber darf Herder nun nicht ohne weiteres belastet werden. Er verwandte „parasitisch“ im eigentlichen Sinne des Wortes, sprach also in einer naiv-naturwissenschaftlichen Weise von dem „Volk Gottes“ als einer mitspeisenden, um den griechischen Begriff wörtlich zu übersetzen, Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen. Damit sagte er zunächst nichts anderes, als er auch sonst über das Judentum der Galuth gesagt hatte. Nicht zu übersehen sind allerdings die durchweg negativen Konnotationen, die sich mit dem Begriff „Parasit“ als Bezeichnung für ein „Lebewesen, das auf Kosten seines Wirtes lebt, ohne diesen zu töten, ihn jedoch durch Nahrungsentzug, durch seine Ausscheidungen u.a. schädigen und dadurch parasitäre Krankheiten hervorrufen kann“83, verbinden, sobald dieser Begriff aus dem Bereich von Biologie und Zoologie auf Menschen und gesellschaftliche Verhältnisse übertragen wird84. Und diese Verwendung des Begriffs „Parasit“ war in Herders Zeit bereits so geläufig, daß sie ihm nicht entgangen sein kann85.

Daß dem so war, markiert eine Textvariante, auf die Emil Adler 1990 erneut aufmerksam gemacht hat. In der ersten Handschrift des Textes von ca. 1786 fehlte nämlich der Satz von der „parasitischen Pflanze“ noch. An seiner Stelle war zu lesen: „Von den Hebräern als einem Volk des Althertums haben wir geredet; wir betrachten sie jetzt nur als zerstreute Bewohner Europas. Und da wird offenbar, daß sie eben in der Zerstreuung fürs Ganze weit wirksamer geworden sind, als wenn sie in einem Winkel der Erde auch noch so thätig lebten.“86 Wie läßt sich dieser Meinungsumschwung Herders innerhalb von etwa vier Jahren von einer insgesamt judenfreundlichen hin zu einer letztlich doch rein antijüdischen Betrachtungsweise erklären? Die überlieferten Texte geben hierzu kein Material her. Emil Adler versuchte eine Erklä83

So z.B. die Definition in Der Große Brockhaus in zwölf Bänden, 18. Aufl., Wiesbaden 1979, Bd. 8, S. 547. Eine systematische Untersuchung der Entwicklung des Begriffs Parasit scheint es noch nicht zu geben, vgl. aber Michel Serres: Der Parasit, Frankfurt/M. 1981. Zu den speziell jüdischen Bezügen vgl. Alex Bein: The Jewish Parsite, in: Leo Baeck-Institute Year Book 1964, S. 3-40. 85 1803 begann Schiller mit der Übersetzung des Lustspiels „Médiocre et rampant, ou le moyen de parvenir“ des L.B. Picard, die 1806 unter dem Titel „Der Parasit oder die Kunst sein Glück zu machen“ erschien. 86 Auf diese Textvariante hatte bereits Bernhard Suphan in SWS 14 aufmerksam gemacht. Die Handschrift von etwa 1786 findet sich auch bei Hans Dietrich Irmscher/Emil Adler (Bearb.): Der handschriftliche Nachlaß Johann Gottfried Herders = Kataloge der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz 2/1, Wiesbaden 1979, S. 33, verzeichnet. Vgl. E. Adler, Johann Gottfried Herder und das Judentum, S. 399-401. 84

79 rung mit seinen Hinweisen auf die „Methode der Kompensation“ bei Herder, die darauf hinausläuft, daß die Erklärung „im tieferen Zusammenhang zwischen der dichterischen Tätigkeit und den Lebensumständen des Dichters“87 zu suchen sei: „Es ist verständlich, daß Herder, ein Priester noch mehr, ein hoher kirchlicher Würdenträger, sich im religiösen und politischen Klima jener Zeit [...] nicht leisten konnte, als verschworener Judenfreund zu gelten, der er in Wirklichkeit war.“88 Dieser Versuch einer Entlastung Herders, der dann allerdings sehr stark auf gewisse Charakterschwächen des Literaten abstellt, mag teilweise hilfreich sein. Bei einer Gesamtwürdigung der Auslassungen Herders empfiehlt sich aber ein anderes Grundmuster der Interpretation: Herder war gewiß ein Freund der alten Hebräer und ihrer Poesie, die Juden der Galuth und die Juden als Zeitgenossen aber sah er – wie übrigens praktisch auch seine ganze Umwelt89 - nur als prekäre Objekte einer unbedingt notwendigen Erziehung, die auf die Auslöschung ihres Judeseins hinauslief90. In der „Oase der Toleranz und der Menschlichkeit“ war für sie nur dann Platz, wenn sie bereit waren, sich selbst aufzugeben91. Was alles aber das gebildete Judentum um die Mitte des 19. Jahrhunderts keineswegs daran hinderte, gerade Herder insgesamt außerordentlich zu schätzen92. 87

Emil Adler: Herder und die deutsche Aufklärung, Wien 1968, S. 190. E. Adler, Johann Gottfried Herder und das Judentum, S. 398. Vgl. dazu jetzt auch Horst Gronke/ Thomas Meyer/Barbara Neißer (Hg.): Antisemitismus bei Kant und anderen Denkern der Aufklärung, Würzburg 2001. 90 Vgl. hierzu u.a. Gudrun Hentges: Schattenseiten der Aufklärung. Die Darstellung von Juden und „Wilden“ in philosophischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts = Studien zu Politik und Wissenschaft, Schwalbach/Ts. 1999, die zwar Herder nicht berücksichtigt, aber die Schizophrenie aufgeklärter Humanität und deren Zusammenhang mit späteren rassistisch-antisemitischen Theorien andeutet, vgl. S. 283: „Die zentrale Differenz zwischen dem ‚aufgeklärten’ Antijudaismus und dem Antisemitismus, der sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert hat, besteht darin, daß Vertreter jener Richtung davon ausgehen, daß die Religion kein unveränderbares konstantes Merkmal eines Menschen ist, d.h. daß ein jüdischer Mensch durchaus zum christlichen Glauben konvertieren kann, wohingegen der Antisemitismus eine solche Variante vollkommen ausschließt. Entsprechend der antisemitischen Ideologie ist die jüdische Religion kein variables, sondern ein konstantes Merkmal, welches dem Individuum eingeschrieben ist, also ein Rassenmerkmal.“ Korrigierend muß hier allerdings hinzugefügt werden, daß dem Antisemitismus die Religion völlig gleichgültig ist. Es geht um Abstammung und letztlich das Judesein als Ganzes. 91 Vgl. Klaus L. Berghahn: Grenzen der Toleranz. Juden und Christen im Zeitalter der Aufklärung, Köln u.a. 2000 (2. Aufl. 2001), S. 205: „Wie man es auch dreht und wendet: Herder, der Freund der Hebräer, ist ein harscher Kritiker der Juden. Spricht er von der Schönheit der hebräischen Poesie, so ist er der beste Kenner und verständnisvollste Interpret des Alten Testaments, wendet er sich den zeitgenössischen Juden und ihrer Ökonomie zu, wird er pragmatisch und widersprüchlich, so daß man ihn für einen Juden halten könnte.“ 92 So berichtet der Baumwollfabrikant Salomon Kauffmann (1824-1900) aus Schweidnitzer Kindertagen: „Wenn abends die Familie versammelt und alles mit häuslichen Arbeiten beschäftigt war, pflegte dann der Hauslehrer vorzulesen, der insbesondere Herder bevorzugte, trotzdem die Kinder wenig 88 89

80 Wahrscheinlich hat Heinrich Graetz in seiner „Geschichte der Juden“, in der er nur ganz am Rande und jedesmal sehr knapp auf Herder zu sprechen kommt, doch ein alles in allem richtiges Urteil gefällt: „Selbst Herder, obwohl erfüllt von Bewunderung für das israelitische Judentum und das Volk in seinem biblischen Glanze, der zuerst die heilige Literatur mit dichtersinnigem Auge betrachtete, empfand eine Abneigung gegen die Juden [...]. Herder prophezeite zwar eine bessere Zeit, in welcher Christ und Jude in einmütiger Gesinnung am Bau der menschlichen Gesittung arbeiten würden. Aber er glich dem alten Bileam; er erteilte seine Segenssprüche für die Juden nicht mit frohem Herzen.“93

davon verstanden haben mögen. Der religiösen Anschauung und dem Empfinden meiner Mutter war dieser Schriftsteller äußerst kongenial.“ Vgl. Monika Richarz (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780-1871, Stuttgart 1976, S. 307. Adelheid Zunz, die Frau des Mitbegründers der Wissenschaft des Judentums Leopold Zunz, schreibt 1834 an Philipp Ehrenberg: „Meine Hausgötter sind jetzt Herder und Goethe [...]. Ich habe den Faust wieder und wieder gelesen und lese immer: Ideen zur Philosophie der Geschichte und Menschheit. Darin ist mir erst Gottes Allmacht klar geworden, und ich liebe inniger jedes Gräschen. [...] Diesem inneren Reichtum festere Stützen zu geben, ist jetzt mein ganzes Bestreben. Mein [Leopold] Zunz hilft mir treulich, indem er mich zum Denken anleitet [....].“ Vgl. Nahum N. Glatzer (Ed.): Leopold and Adelheid Zunz. An Account in Letters 1815-1885 = Publications of the Leo Baeck Institute of Jews from Germany, London 1958, S. 82. 93 Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 11: Vom Beginn der Mendelssohnschen Zeit (1750) bis in die neueste Zeit (1848), Leipzig 1900, 2. Aufl. (ND: Berlin 1998), S. 234. In einer Anmerkung gesteht Graetz Herders „Geist der hebräischen Poesie“ jedoch zu, „epochemachend“ gewesen zu sein (vgl. Bd. 1, S. 333 Anm. 38). Interessant ist die Wiedergabe dieses Zitates bei L. Geiger, Die Deutsche Literatur und die Juden, S. 63f., der ohne Namensnennung die „Geschichte der Juden“ als „ein an historischem Sinne armes und an Fehlern überreiches Werk“ charakterisiert. Zweimal wird Herder noch kurz im Zusammenhang mit Moses Mendelssohn bei Graetz genannt, vgl. Bd. 11, S. 19 und S. 36, wo es sehr bezeichnend heißt: „Der weise Jude Nathan-Mendelssohn steht bereits auf der Höhe humaner Gesinnung, der beste Christ, der Tempelherr, jeder gebildete Christ – die Nikolai, die Abt, die Herder – müssen sich erst von ihren dickhäutigen Vorurteilen los machen, um dazu zu gelangen.“

81 „Der Freund Israels“. F.A.G. Tholuck und die Judenmission des frühen 19. Jahrhunderts (1980)

Wer heute der Geschichte der deutschen Judenmission im 19. Jahrhundert gedenkt, nennt in der Regel die Namen von Franz Delitzsch (1813-1890) oder Hermann Leberecht Strack (1848-1922)1 und erinnert damit an gewiß bisher nicht wieder erreichte Höhepunkte christlichen Bemühens um das Volk Israel. Beide Männer gründeten ihre missionarischen Bemühungen ganz wesentlich auf eine vorlaufende und begleitende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Judentum, seiner Geschichte und seinen Glaubensanschauungen; auf diese Weise versuchten sie ihrer christlichen Missionsarbeit die notwendige inhaltliche Tiefe und wissensmäßige Stütze zu geben und wurden so gleichzeitig auch zu Mitbegründern einer modernen christlichen Judaistik, durch die die alttestamentliche und neutestamentliche Wissenschaft immer neue Anregungen und Korrektur erfuhren2. Begonnen wurde diese Arbeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber durch einen anderen, der zu den Schlüsselfiguren protestantischer Theologie und Frömmigkeit jener Zeit gezählt werden muß: Friedrich August Gotttreu Tholuck3.

1. Biographisches

Tholuck, geboren am 30. März 1799 zu Breslau, entstammte einer schlichten Handwerkerfamilie. Der durch Kurzsichtigkeit und andere körperliche Leiden gehemmte Junge las, was immer er unter die Finger zu bekommen vermochte, und lernte fremde Sprachen mit solcher Begabung und solchem Fleiß, daß der Siebzehnjährige bereits rund 19 Sprachen weit genug beherrschte, um sich in ihnen zumindest schrift-

1

3

Bezeichnend hierfür ist z. B. der Artikel „Judenmission“ von B. Pernow in RGG3 , Sp. 976-978 Vgl. S. Wagner, Franz Delitzsch. Lehen und Werk (= Beiträge z. evangelischen Theologie 80), München 1978, bes. S. 149-166. Eine ausreichende Würdigung der Leistung Stracks fehlt noch immer. 3 Wir müssen es uns versagen, auf die Vorgeschichte der Judenmission im 18. Jahrhundert einzugehen. Alles wesentliche Material hierzu findet sich bei J. F. A. de le Roi, Die evangelische Christenheit und die Juden unter dem Gesichtspunkte der Mission geschichtlich betrachtet, 3 Bände, Karlsruhe Leipzig 1884-1892 (Nachdruck Leipzig 1974) und derselbe, Judentaufen im 19. Jahrhundert. Ein statistischer Versuch, Leipzig 1899. 2

82 lich einigermaßen verständlich ausdrücken zu können4. So studierte er denn auch zunächst in Breslau, später dann in Berlin, Orientalistik. Hier kultivierte Tholuck aber vor allem sein Streben nach gemütvoller Herzensgemeinschaft, das schon den Hauptgegenstand des in etwa neun Sprachen bzw. Schriften abgefaßten Tagebuches des Knaben gebildet hatte, weiter und kam dort schließlich unter den alles entscheidenden Einfluß des schlesischen Barons Hans Ernst v. Kottwitz (1757-1843). Dieser war der unbestrittene Führer der Berliner Erweckung, „der dort innere Mission vor der Inneren Mission trieb“5. Aber damit ist das geistige Klima nur andeutend beschrieben, das die Berliner Erweckungsbewegung kennzeichnete. Fand sich doch in ihr ein Kreis „pietistischer Naturen und genialischer Anreger“ (E. Beyreuther) zusammen, der nicht nur die Theologie jener Zelt tiefgehend beeinflußte, sondern ebenso auch die preußische Staatsregierung eines Friedrich Wilhelm IV., das konsistoriale Kirchenregiment und schließlich auch das Kirchenvolk. Es war der Geist der Restauration mit allen seinen oftmals beschriebenen Nachteilen und seinen weniger häufig erkannten positiven Ansätzen, der hier wirksam wurde.

Kottwitz verdankte Tholuck seine Bekehrung, die er selbst als „Wiedergeburt“ zu bezeichnen pflegte. Trotzdem brauchte es noch eines eigenen Anstoßes6, bis der bereits an der Theologischen Fakultät in Berlin Eingeschriebene sich wirklich ernsthaft der Theologie selbst zuwandte. 1821 „habilitierte“ sich Tholuck trotz des hinhaltenden Widerstandes vor allem von seiten Schleiermachers an der Berliner Fakultät und veröffentlichte 1823 seine erste theologische Schrift, die bis 1871 neun Auflagen erleben sollte: „Guido und Julius. Die Lehre von der Sünde und dem Versöhner oder Die wahre Weihe des Zweiflers“. M. Kähler hat die Bedeutung dieses Werkes so cha4

In einem Brief an Bunsen vom 16.4.1829 schilderte Tholuck seine Begegnung mit dem berühmtesten Polyglotten seiner Zeit und späteren Kardinal (ab 1838).Josef Mezzofanti in Bologna, der angeblich über 60 Sprachen beherrschen sollte. Tholuck fand die Kenntnisse seines italienischen „Kollegen“ achtenswert, aber doch keineswegs ans Wunderbare grenzend, wußte doch dieser von vielen Sprachen lediglich einige Vokabeln. 5 M. Kähler, Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert, bearbeitet von E. Kähler, Berlin 1962, S. 131. Zu Kottwitz vgl. auch K. Kunert, Hans Ernst von Kottwitz (1757-1842), in: G. Bosinski – P. Toaspern (Hrsg.), Wer mir dienen will, Berlin 1978. S. 81-98, und P. Maser, Baron Hans Ernst von Kottwitz (1757-1843) und die Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts, in: Kirche im Osten 21/22, 1978/79, S. 126-1 411. F. W. Kantzenbach, Baron Hans Ernst von Kottwitz und die Erweckungsbewegung in Schlesien, Berlin und Pommern (Quellenhefte z. ostdeutschen und osteuropäischen Kirchengeschichte 11/12), Lübeck 1963. 6 S. weiter unten.

83 rakterisiert: „Hier trat neben den klassischen Redner, welcher hochgebildeten Verächtern Deutschlands die Religion wieder achtbar gemacht hatte, ein Zeuge in Feuerzungen, welcher in der protestantischen Bildungswelt mächtig für den Sündenheiland an die Herzen pochte, indem er auf Grund eigener und fremder Erfahrung den Weg und die Mittel schilderte, um aus dem edlen Humanismus den Übergang zum evangelischen Glauben zu finden.“7

1826 wurde Tholuck durch den preußischen Minister der Geistlichen-, Unterrichtsund Medizinalangelegenheiten v. Altenstein gegen den Willen der überwiegend rationalistisch gestimmten Fakultät nach Halle berufen. wo er bis zu seinem Tode am 10.6.1877, also rund fünfzig Jahre lang, als Professor wirkte und zu jenem fast legendären „Studentenvater“8 wurde, an den heutige Studenten in Halle nur noch das von ihm begründete und nach ihm benannte Konvikt erinnert, das im Jahre 1971 sein hundertjähriges Bestehen feiern konnte.

Die Bedeutung Tholucks für Kirche und Theologie des 19. Jahrhunderts ist allgemein unbestritten. Merkwürdig unklar sind jedoch die Auskünfte darüber, worin nun eigentlich diese Bedeutung bestanden habe9. Der Jüngling begann mit orientalistischen Studien und habilitierte sich mit einer Arbeit über den Sufismus, die Mystik des Islam, die noch von E. Lohmeyer sehr hoch bewertet worden ist10. Die späteren11 Veröffentlichungen zu verwandten Themen, vor allem die „Blüthensammlung aus der Morgenländischen Mystik nebst einer Einleitung über Mystik überhaupt und morgenländische insbesondere“ (Berlin 1825) und „Die spekulative Trinitätslehre des späteren Orients. Eine religionsphilosophische Monographie“ (Berlin 1826), bewiesen erneut, daß Tho7

3

M. Kähler, Art.: Tholuck, in: RE 19, S. 698. Vgl. H. Giesen, Studentenväter des 19. Jahrhunderts, Berlin 1937, S. 13-20. 9 Vgl. schon das Urteil von R. Rothe: „Wenn ich sagen sollte, wer am tiefsten und weitesten auf die Kirche unserer Zeit gewirkt hat, so würde ich unbedingt Tholuck nennen." Zitiert nach M. Kähler, Mittelstraße 10. Erinnerungen an August und Mathilde Tholuck, Leipzig 1899, S. 5. 10 Vgl. Kähler, Mittelstraße 10 (Anm. 9), S. 3ff. Die Grenzen Tholucks wurden bereits durch dessen Schüler Kähler klar erkannt, was auch an dessen Darstellung der protestantischen Dogmatik irn 19. Jahrhundert so deutlich abzulesen ist, daß E. Kähler im Vorwort zur postumen Ausgabe dieses Werkes (Anm. 5) eigens darauf aufmerksam macht (S. 10). 11 Vgl. E. Lohmeyer, August Tholuck, in: Schlesische Lebensbilder 3, Breslau 1928, S. 230-239, bes. S. 234: „Sie ist wissenschaftlich von grundlegender Bedeutung ... Dieses schmale Büchlein, das bis heute nicht veraltet ist, hat Tholuck zum Begründer einer neuen wissenschaftlichen Disziplin gemacht." 8

84 luck durchaus imstande war, aus den originalen Quellen zu schöpfen und sorgfältig durchdachte Ergebnisse zu formulieren, führen aber sachlich über das in der Lizentiatenschrift Gebotene nicht mehr wesentlich hinaus. Der weitere Lebensweg Tholucks ließ zudem dessen Interesse an den Orientalia dann so weit absinken, daß Nennenswertes von ihm auf diesem Gebiet nicht mehr geleistet worden ist.

Die wirkungsvollste Schrift aus der Feder des jüngeren Tholuck ist ohne Zweifel die bereits erwähnte „Lehre von der Sünde und vom Versöhner". Wenn Tholuck es überhaupt jemals unternommen hat, so etwas wie einen geschlossenen Entwurf zu einem systematisch-theologischen Problem vorzulegen, dann geschah es in diesem Buch. Aber schon die zeitgenössischen Kritiker haben die Kunstfehler dieses Werkes gerügt, und auch in der Folgezeit ist es Tholuck sogar von den wohhlwollendsten Rezensenten angekreidet worden, wie wenig er sich hier auf der „Höhe der Zeit“ befunden habe12. Ganz zutreffend hat E. Hirsch den Eindruck wiedergegeben, den die „Lehre von der Sünde“ erwecken muß: „Seine (d. i. Tholucks) Erstlingsschrift von 1823 ist keine Begriffsentwicklung, sondern ein empfindungsreiches Wogen, auf dessen bewegter Oberfläche Bibelsprüche und Gedanken treiben. Diese Darstellungsform ist mit Absicht gewählt.“13 Tholuck selber hatte ja doch die Forderung gestellt: „Soll jene höhere Einheit der wahren Philosophie zustande kommen und eben durch diese theologische Philosophie jede andere zu Boden geschlagen werden, dann muß die christliche Dogmatik geradeheraus in ihrem galiläischen Kauderwelsch reden, und eben dieses muß Landessprache werden, wie schwer es auch gewissen verwöhnten Ohren und glatten Zungen ankommt.“14 K. Barth, der alle diese Schwächen des theologischen Denkens Tholucks deutlich erkannt und beschrieben hat, fällte trotzdem das bemerkenswerte Urteil: „Darum bleibt es doch wahr, daß die Erweckungstheologie den Gedanken von der freien Sündergnade wieder gekannt, wenn auch nicht eigentlich nachgedacht hat, daß er durch sie, verstanden oder unverstanden, dem Jahrhundert in einer Weise zugerufen worden ist, daß es ihn nicht mehr ganz vergessen konnte. Tholuck ist eine wunderliche Figur. Aber dieses Ver12

Vgl. z.B. die herbe Kritik bei H. Stephan, Geschichte der deutschen evangelischen Theologie seit dem deutschen Idealismus, 2. Auflage, bearbeitet von M. Schmidt, Berlin 1960, S. 113f. E. Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Band 5, Gütersloh 1954, S. 104. 14 A. Tholuck, Die Lehre von der Sünde etc., Hamburg 1862, S. 109. 13

85 dienst ist so bedeutsam, daß man — wer weiß? — zum Schluß fragen muß, ob er, der verglichen mit den Anderen links und rechts neben ihm, ein Mann ohne Gesicht, eine Zahl ohne bestimmten Wert der Einheit, aus der sie sich aufbaut, gewesen ist — ob er nicht schließlich als eine Art Briefträger ähnlich dem Wandsbecker Boten, auf den er sich neben Luther besonders gerne berief, als Bote, der dies auszurichten hatte, ebenso verdient gemacht hat, wie zehn Andere. Es gibt ja wirklich Situationen, in denen einem der Besuch des Briefträgers lieber ist als alle anderen, an sich viel wertvolleren Besuche. Eine solche Situation konnte die der Theologie im 19. Jahrhundert gewesen sein.“15

Über das in der „Lehre von der Sünde“ Geleistete ist Tholuck in seinen späteren systematisch-historischen Arbeiten zur Vorgeschichte des Rationalismus insoweit hinausgestoßen, als hier der bereits alternde Erweckungs- und Vermittlungstheologe kräftig den geschichtlichen Zusammenhang zwischen lutherischer Orthodoxie, rationalistischer Verflachung und neupietistischer Erweckung betonte und auf Grund ausgedehnter Quellenstudien unter den mannigfaltigsten Gesichtspunkten darstellte. Daß er damit sowohl bei Rationalisten als auch bei Konfessionalisten wenig Anklang fand, kann kaum verwundern. Immerhin bot Tholuck gerade auch durch die von ihm gewählte Form der Darbietung („hallischer Gänsefüßchenstil“) den Gegnern genügend Anlaß zur Kritik, ist doch seine „Vorgeschichte des Rationalismus“ mehr eine erschöpfende — dieses ist durchaus zweideutig zu verstehen — Materialsammlung als die wohlbelegte, aber eben auch disziplinierte Darstellung eines geschichtlichtheologischen Zusammenhangs und der Lehren für Gegenwart und Zukunft, die aus solcher historischen Darstellung gezogen werden könnten.

Große Wirkungen haben neben den systematischen Arbeiten Tholucks vor allem dessen exegetische Werke gehabt. Sie richteten sich vorzüglich an die Pfarrer und haben alle mehrere Auflagen erlebt. Für die Geschichte der neutestamentlichen Exe15

3

K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Berlin 1961 , S. 468. Vgl. auch die weitschauende Bemerkung bei Hirsch, Geschichte (Anm. 13), S. 109: „Die neupietistische Theologie baute auf einem Boden auf, der langsam unterwaschen und weggespült wurde, und ihr einseitiger Einsatz in der Sündenpredigt war schlechterdings nicht geeignet, Deiche an der Stelle hauen zu helfen, wo die Flut wirklich eingebrochen war." Damit ist gewiß ein, wenn auch nicht der wesentlichste Grund dafür erkannt, weshalb uns Heutigen Tholuck so seltsam unzugänglich ist.

86 gese sind sie u. a. insofern bahnbrechend geworden, als in ihnen das reiche Erbe der altkirchlichen und reformatorischen Schriftauslegung erneut in Erinnerung gerufen wurde und damit der Verflachung rationalistischer Bibelauslegung wirksam begegnet werden konnte16. Auf welche Weise Tholuck im Detail exegetisch arbeitete, wird an späterer Stelle am Beispiel seiner Auslegung von Röm. 9 bis 11 zu analysieren versucht werden.

Neben dem Systematiker und Exegeten haben Zeitgenossen und Schüler in Tholuck aber vor allem den charismatischen Seelsorger gesehen, der in tiefschürfenden Einzelgesprächen und den regelmäßig gehaltenen Predigten des akademischen Gottesdienstes zum „Seelenführer“ einer ungezählten Schar von Menschen wurde. Trotz eigentlich niemals aussetzender körperlicher Gebrechen und höchster Belastung durch akademische und kirchliche Ämter wußte Tholuck ein Modell intimster Einzelseelsorge zu praktizieren, das ganz auf seine Art abgestimmt war, und gerade dadurch so einmalig und unvergleichlich war, daß es schon zu seinen Lebzeiten zur Legende wurde, die von Japan bis nach Amerika bekannt war. Was so als Einzelgespräch begann, setzte sich nahtlos in den Predigten fort, die Tholuck von der Kanzel des Hallenser Domes aus über Jahrzehnte hin gehalten hat. Sie waren erwecklich und ganz auf die Wirkung der jeweiligen Stunde hin angelegt17.

Alle diese Hinweise können jedoch nur andeuten, auf welchen Gebieten und in welcher Weise Tholucks Bedeutung für die Theologie des 19. Jahrhunderts zu suchen ist18. Die üblichen Methoden theologiegeschichtlicher Klassifikation bleiben, an welchem Punkt des Tholuckschen Lebenswerkes sie auch angesetzt werden, eigentümlich wirkungslos. So hat Barth wohl zu Recht gemeint: „Wer sich mit ihm beschäftigen 16

Vgl. z. B. die Beurteilung bei H. Cremer, Biblisch-theologisches Wörterbuch zur neutestamentlichen Gräcität, Gotha 1870, Vorrede; Kähler, Protestantische Dogmatik (Anm. 5), S. 147f.; W. Wiefel, Die neutestamentliche Arbeit an der Universität Halle-Wittenberg von 1817-1888 (= Wiss. Beiträge der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1975/4, T6), Halle 1975, S. 9ff. 17 Tholucks Predigten sind vielfach gedruckt worden, wodurch ihre Wirkung noch mehr in die Weite ging, und in jüngster Zeit, wenn auch ohne aufsehenerregende Ergebnisse, analysiert worden; vgl. J. Doehring, Die Predigtweise Tholucks, Diss. Königsberg 1939; M. Schellbach, Tholucks Predigt. Ihre Grundlage und ihre Bedeutung für die heutige Praxis. Berlin 1956 (dort die einschlägige Bibliographie). 18 Eine knappe, aber weitgreifende Skizzierung der Rolle Tholucks innerhalb der Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts findet sich bei E. Beyreuther, Die Erweckungsbewegung (= Die Kirche in ihrer Geschichte 4R I ), Göttingen 1963, S. 29.

87 will, muß sich notgedrungen vor Allem mit ihm selbst befassen... Wichtiger kann das religiöse Individuum, gestaltloser alles Übrige gar nicht werden, kräftiger kann die Biographie gar nicht an die Stelle der Theologie treten, mehr kann die christliche Sache unmöglich im christlichen Menschen aufgehen, als dies bei Tholuck der Fall gewesen ist“19. In welch hohem Maß das biographische und zeitgeschichtliche Element auch Tholucks Beteiligung an der Sache der Judenmission bestimmt hat, wird im folgenden deutlich werden20.

2. „Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“

Wohl nicht ohne fortwirkende Kraft dürfte bereits die Tatsache gewesen sein, daß es ein zum Christentum übergetretener Jude gewesen ist, der Tholuck zum entschiedenen Studium der Theologie zu bestimmen wußte21. Dazu bemerkt H. Cremer in seiner Rezension der Biographie Tholucks von L. Witte: „Endlich wäre es doch von Wichtigkeit gewesen, zu berichten, wie Tholuck zur Theologie gekommen ist. Der Segen, der von ihm ausgegangen, ist in reichstem Maß auf ihn zurückgekehrt. Ein durch seinen Glauben und seine Liebe bekehrter Israelit, — sein Erstling Sontheim ist es gewesen, der den totkranken Jüngling fragte: ‚Hast du denn nie daran gedacht, Christo als Theolog zu dienen?’ So hat Israel die erfahrene Liebe gelohnt!“22 Erst dieses Wort ist es gewesen, das den für persönliche Einflußnahme so überaus Empfänglichen endgültig die Entscheidung für die akademisch-theologische Laufbahn fällen ließ23. 19

Barth, Die protestantische Theologie (Anm. 15), S. 461. Die grundlegende Biographie Tholucks stammt aus der Feder von dessen Schüler Leopold Witte, Das Leben F.A.G. Tholucks, 2 Bände, Bielefeld-Leipzig 1884/1886. Das hier ausgebreitete Material ist jedoch durch verschiedene kleinere Schriften, vor allem von Cremer und Kähler, zu ergänzen. Die Bestände des Tholuck-Archivs, die sich heute in der Obhut des Katechetischen Oberseminars in Naumburg befinden, bedürfen noch gründlicher Auswertung. 21 Allerdings war Tholuck bereits vorher pro forma an der Berliner Theologischen Fakultät inskribiert, trotzdem standen die orientalistischen Studien in diesen ersten Semestern entschieden im Vordergrund. 22 2 H. Cremer, in: ThStKr 62, 1889, S. 415. Vgl. auch Kähler, Art.: Tholuck, in RE 19, S. 695-702, bes. S. 697. 23 Die Bekehrung Sontheims fällt in den Juni/Juli des Jahres 1820, Noch 45 Jahre später erinnert sich Tholuck: „Aber gerade jetzt denke ich daran, wie, noch in zarten Jünglingsjahren die erste Seele. die der Herr mir geschenkt hat, die Seele eines jüdischen Jünglings gewesen ist! Das ist der Erstling gewesen meiner Lebensernte, und darum rufe ich: Jerusalem, ehe ich deiner vergesse, sei meiner Rechten vergessen! Wünsche ich Jerusalem Glück: es müsse wohl gehen denen, die dich lieb haben! Amen!“ Vgl. A. Tholuck, Predigt beim Jahresfeste der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums 20

88 Von 1820 an widmete sich Tholuck vollständig der Theologie und von 1822 an wirkte er zugleich als Sekretär der „Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“. Diesen Posten behielt er bis zu seiner Berufung an die Universität Halle im Jahre 1826. Die „Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ war auf die Initiative des Begründers der „London Society for Promoting Christianity amongst the Jews“, Lewis Way, und des englischen Botschafters Sir George Rose24 in Berlin am 1. Februar 1822 gebildet und einen Tag später durch Friedrich Wilhelm III. von Preußen bestätigt worden, der der „Gesellschaft“ zugleich einen jährlichen Beitrag von 300 Talern und Portofreiheit zusicherte25. Zum organisatorischen Zentrum dieser „Gesellschaft“ wurde der Berliner Kaufmann Samuel Elsner, der die deutsche Missionsgeschichte des 19. Jahrhunderts in entscheidender Weise mitgestaltet hat26. Bereits ein Jahr später, 1823, fungierte Tholuck auch als offizieller Vertreter der oben erwähnten „London Society“ in Berlin und erhielt für diese Tätigkeit ein Jahresgehalt von 1000 Mark. Zu seinen Aufgaben gehörte es, Traktate zu übersetzen, der Judenmission dienliche Arbeiten zu schreiben, eine deutsche Zeitschrift herauszugeben, gelegentlich die Missionsstationen zu besuchen,

unter den Juden über Hosea 3, Berlin 1865. Vgl. weiter Dr. Tholucks fünfzigjähriges Jubiläum am 2. Dezember 1870, Halle 1871, S. 11 und Witte (Anm. 20), Band 1, S. 22 ff. Vgl. auch Tholucks Brief an Stier vom 2. 7. 1821, in: G. N. Bonwetsch (Ed)., Aus A. Tholucks Anfängen. Briefe an und von Tholuck. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Erneuerung im 19. Jahrhundert, Gütersloh 1922, S. 83. 24 Zu George Rose vgl. le Roi (Anm. 3), Band 3, S. 25f. 25 Zur Geschichte der Berliner „Gesellschaft“ vgl. u.a. „Einunddreißigster Bericht... über das Jahr 1853, nebst einer Übersicht der Geschichte der Gesellschaft, in: Neueste Nachrichten aus dem Reiche Gottes (= NN) 38, I854, S. 260-271; 289-294; W. Ziethe, 50 Jahre der Judenmission. Eine Denkschrift zur 50jährigen Jubelfeier der Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden. Berlin 1872; le Roi (Anm. 3). Band 2, S. 142-157. Vgl. auch Fr. Weichert, Die Anfänge der Berliner Judenmission, in: Jb. f. Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 38, 1963, S. 106-141. Zur neuesten Geschichte vgl. L. Wächter, Zum jüdisch-christlichen Gespräch, in: Zeichen der Zeit 1975, S. 138143, bes. S. 138f. Leopold Zunz, der Begründer der „Wissenschaft des Judentums“, notierte in einem Brief vom 1.3.1822 bissig: „Hier (in Berlin. P. M.) ist eine Gesellschaft zur Bekehrung der Juden entstanden, deren Präsident der Generalmajor von Witzleben und Vicepräsidenten Staatsrat Nicolovius und Hofprediger Theremin sind. Sie bitten uns in der erschienenen Ankündigung um Vergebung, predigen übrigens katholische und finstere Dinge." Vgl. N. Glatzer (Ed.), Leopold Zunz. Jude - Deutscher – Europäer. Ein jüdisches Gelehrtenschicksal des 19. Jahrhunderts in Briefen an Freunde, Tübingen 1964, S.126. Über die königliche Förderung der „Gesellschaft“ urteilt B. Offenburg, Das Erwachen des deutschen Nationalbewußtseins in der preußischen Judenheit. Ein geistesgeschichtlicher Beitrag zur Emanzipationsgeschichte der deutschen Juden, Diss. phil. Hamburg 1933, S. 7S: „Damit war der erste Schritt zur Christianisierung der Juden staatlicherseits geschehen... Der Übertritt vom Christentum zum Judentum, der bisher staatlich gestattet war, wurde ausdrücklich verboten.“ 26 Vgl. u. a. M. Funk, Samuel Elsner. Eine Lebensskizze, Berlin 1878. Besonders wichtig war Elsner als langjähriger Herausgeber der „Neuesten Nachrichten aus dem Reiche Gottes“, auf deren besondere Bedeutsamkeit auch für die Judenmission wir noch zu sprechen kommen.

89 Zeitschrift herauszugeben, gelegentlich die Missionsstationen zu besuchen, die Missionare zu unterrichten und jede ihm aufgetragene Korrespondenz zu erledigen.“27

Damit waren dem jungen Gelehrten die Aufgaben auf dem Feld der Judenmission eindeutig vorgezeichnet, und Tholuck hat versucht, diesen nachzukommen, soweit das in seinen Kräften stand. Neben den mancherlei Routinearbeiten, die die Stellung eines Sekretärs der Berliner „Gesellschaft“ mit sich brachte und die heute im einzelnen kaum noch nachzuweisen sind, war es zunächst der Unterricht der Missionare im Hebräischen und der rabbinischen Gelehrsamkeit, der Tholuck beschäftigte. Daß er es hierbei, seiner ganzen Wesensart und Frömmigkeitshaltung entsprechend, niemals nur auf reine Wissensvermittlung anlegte, darf als gesichert gelten. Zu seinen ersten und bedeutendsten Schülern gehörte hier der Proselyt und spätere Missionar Händes, dessen Tagebücher und Reiseberichte als wichtige Quellen zur Arbeit der Judenmission des 19. Jahrhunderts anzusehen sind. Über ihn gab die Jubiläumsschrift der Berliner „Gesellschaft“ von W. Ziethe das Urteil ab: „Er war in gleicher Weise ausgerüstet mit dem Muth und mit der Demuth des Glaubens, mit der heiligen rechten Freude und Ausdauer in der Liebe zu Israel, voll kindlicher Einfalt und doch auch voll geistlichen Scharfblicks und christlicher Weisheit. lm Herzen ein lebendiger Christ, der Sprache und zum Theil der Kleidung nach ein Jude, so war und wirkte er.“28 Auch später noch, bereits in Halle wirkend, hat Tholuck die Berliner „Gesellschaft“ immer wieder auf geeignete Männer für die Missionsarbeit unter den 27

Der entsprechende Passus in den Sitzungsprotokollen der „London Society“ lautet: „At a meeting of a General Commitee held 25th Febr. 1823. The foregoing minute of the Mission and Correspondence Sub-Commitee was real with the letters Therein mentioned. And a subsequent letter from His Excellency the Right Honorable Sir G.H. Rose, dated Berlin 21th Januarv 1823 both of whose letters strongly recommend the Committee to accept of the A. Tholucks offer of service on the several points mentioned, viz. to translate tracts, to prepare works useful to Jewish Missionaries, to publish a periodical work in German, to visit occasionally the Missionary stations, to give instruction to Missionaries and to conduct any correspondence which may be committed to him. Resolved that this offer be accepted and that Prof. A. Tholuck be appointed as Representative of this Society at Berlin for the above purposes and such others as this committee may find beneficial and which Prof. Tholuck may be able to undertake at an annual salary of fifty Pounds Sterling.” Zitiert nach Witte (Anm. 20), Band 1, S. 469. Tholuck wurde allerdings erst am 25. April 1823 zum außerordentlichen Professor der Theologie in Berlin ernannt, nachdem er bereits Ende 1820 mit nachdrücklicher Unterstützung des Preußischen Kultusministeriums die theologische Lizentiatur hatte erwerben können und in der Urkunde der Jenenser Fakultät, durch die er zum Doktor der Philosophie im April 1822 ernannt wurde, vorgreifend als „Professor extraordinarius designatus“ bezeichnet worden war. 28 Zitiert nach le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 148. Die Tagebücher und sonstigen Berichte von Händes wurden von Tholuck auszugsweise im „Freund Israels“ und später in den „Neuesten Nachrichten aus dem Reiche Gottes“ abgedruckt.

90 Juden hingewiesen, so z. B. den Hallenser Studenten Wedemann, der von 18311836 in der Missionsarbeit stand29. Durch die Tätigkeit an der Universität und die damit verbundenen Belastungen war Tholuck jedoch nicht mehr imstande, sich direkt und praktisch mit der Judenbekehrung zu befassen. Ganz offensichtlich war dieses auch von Anfang an gar nicht geplant. Seine Aufgabe sollte in erster Linie das literarische Wirken für die Zwecke der Berliner bzw. Londoner „Gesellschaften“ sein. Bevor wir dieses jedoch näher zu charakterisieren versuchen, ist zunächst auf die Reise nach England einzugehen, die Tholuck im Jahre 1825 durchführte. Sie festigte nicht nur seine Beziehungen zu den Missionsgesellschaften Englands, sondern brachte ihm auch die erste große, in aller Öffenlichkeit ausgetragene Kontroverse um den Rationalismus ein, durch die nicht nur seine Berufung nach Halle fast unmöglich gemacht wurde, sondern auch sein ganzes theologisches Denken und Arbeiten eine neue Richtung erhalten sollte.

Sir George Rose hatte Tholuck zugesagt, daß er die Reise nach England auf Kosten der Londoner „Society“ unternehmen könne. Deshalb richtete Tholuck bereits am 24. Juni 1823 ein Gesuch an den preußischen Minister v. Altenstein, in dem er den Zweck seiner Reise so beschrieb: „Ich habe den Wunsch, im nächsten Jahre von Frühling bis Herbst eine literarische Reise nach Holland, England und Frankreich zu machen. Meine Endzwecke sind erstens religiös-theologische, indem ich den Zustand des Christentums und der Theologie in diesen drei Ländern kennen zu lernen wünsche... In England, wo ich schon jetzt mehrere theologische Verbindungen habe, würde mir, da ich überdies so glücklich bin, die Sprache in der Gewalt zu haben, es besonders leicht werden, die mannigfaltigen Gestaltungen der Erscheinungen des religiösen Lebens zu untersuchen. Außerdem habe ich auch den Endzweck, Materialien zu einer ausführlichen Geschichte der morgenländischen Religionsphilosophie, woran ich schon lange arbeite, zu sammeln, und die gesammelten durch Vergleichung von Handschriften zu vervollständigen. Mein Hauptaufenthalt wird wohl Oxford und Paris sein.“30 Da v. Altenstein jedoch befürchtete, Tholuck könnte durch diese 29

Vgl. den „Siebenten Bericht ... über das Jahr 1829“, in: NN (Anm. 25) 14, 1830, S. 427 und die Berichte der folgenden Jahre. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch C. Schwanz, vgl. le Roi (Anm. 3), Band 3, S. 337 ff., und der spätere Missionsinspektor Wallmann, vgl. Witte (Anm. 20), Band 1, S. 230f. 30 Zitiert nach Witte (Anm. 20), Band 1, S. 354, wo der vollständige Text des Gesuchs abgedruckt ist.

91 Reise veranlaßt werden, sein Tätigkeitsfeld gänzlich nach England zu verlegen, lehnte er dessen Gesuch am 17. Juli 1823 ab. Am 30. Juli 1824 wiederholte Tholuck seinen Antrag und wies darauf hin, daß er weiterhin mit Studien zur orientalischen Religionsgeschichte beschäftigt sei, darüber hinaus aber einen großen Kommentar zu den messianischen Stellen der Propheten erarbeiten wolle, zu dem er viele arabische und rabbinische Werke, wie sie sich nur in den englischen Bibliotheken befänden, benutzen müsse31. Erst im Januar 1825 richtete nun v. Altenstein seinerseits ein Unterstützungsgesuch an Friedrich Wilhelm III., das am 19. Januar 1825 durch den König genehmigt wurde. Tholuck erhielt einen außerordentlichen Zuschuß von 300 Talern, und am 26. Februar des gleichen Jahres konnte die zu damaliger Zeit noch höchst beschwerliche Reise nach England angetreten werden.

Anfang Mai 1825 ist Tholuck nach mancherlei Zwischenstationen im westlichen Deutschland und in Holland in London eingetroffen. Im Jahr 1825 gab es in England rund dreißig christliche Gesellschaften und Vereinigungen mit unterschiedlicher Zielsetzung, die in London ihre Jahresfeste feierten. Während Tholucks Aufenthalt in London wurden drei weitere solcher Gesellschaften gegründet. Der junge deutsche Gelehrte hat diese „Spezialität“ des christlichen Lebens in England mit einer Mischung von nüchterner Kritik und bewundernder Anerkennung des darin zum Ausdruck kommenden christlichen Strebens beobachtet und beschrieben. Von den unterschiedlichen Gesellschaften bemerkte er in einem späteren Brief aus Paris an seine Berliner Freunde, sie seien fast „ein Luxusartikel im christlichen Leben Englands“. Kritisch hebt er bei aller Anerkennung vor allem folgende, gewiß zutreffende Beobachtungen hervor: „Der Hauptmakel ist die sichtbare Anstrengung, alle Nerven der Zuhörer zu erregen, um - Geld zu erpressen. Selbst rhetorische Kunstgriffe (vulgo: Kniffe) werden nicht verschmäht... Unter den verschiedenen Gesellschaften ist ein Wettlauf, wer den andern überholt. Ich kann aber diesen Wettlauf nicht mit dem gewöhnlichen Prädikate ‚edel’ belegen, wenigstens nicht geradezu; es ist viel Ambition dabei... Außer dem sichtlichen Bestreben, Geld zu pressen, ist mir anstößig gewesen der Geist der lügenhaften Komplimentiersucht, welcher in den Reden so allgemein ist.“ Trotzdem urteilte Tholuck zusammenfassend: „Bei allen diesen menschlichen 31

Vgl. Witte (Anm. 20), Band 1, S 355.

92 Gebrechen, über deren Abwesenheit bei einem so großen Werke man sich mehr wundern müßte, als über deren Anwesenheit, steht das Werk doch unter Gottes Leitung; und sind wir Deutsche das Auge des christlichen Europa, so soll das Auge im Körper Christi die Hand nicht verachten.“32

Am 6. Mai 1825 hielt die „London Society for Promoting Christianity amongst the Jews“, die im Jahr 1809 gegründet worden war33, ihr Jahresfest ab. Nach George Rose hielt Tholuck eine kurze Rede in englischer Sprache. Er gab „eine ermunternde Mitteilung von dem, was in den preußischen Landen für das geistige Heil dieses Volkes geschieht, von der teilnehmenden Gesinnung, mit welcher der König selbst diese Unternehmungen ins Auge gefaßt hat, von der gesegneten Tätigkeit des Missionars der Berliner Gesellschaft, von der zunehmenden Teilnahme der Christen an dem Schicksale des verstoßenen Volkes Gottes und von den hier und da stattfindenden Bewegungen unter diesem Volke selbst“34. Die Rede Tholucks scheint mit Wohlwollen, aber ohne übermäßige Begeisterung aufgenommen worden zu sein35.

Es ist übrigens überhaupt auffallend, wie wenig Raum die englische Judenmission in Tholucks Reiseberichten und Tagebüchern einnimmt. Auch wenn er auf Einladung und Kosten der „London Society“ nach England gekommen war, fesselten ihn die verschiedenartigen Aktivitäten und der eigentliche wissenschaftliche Zweck seiner Reise, wie er im Gesuch an v. Altenstein ausgesprochen worden war, eben mehr als das vergleichsweise engbegrenzte Feld der Judenmission. In den späteren Erinnerungen wurde die Englandreise Tholucks ohnehin völlig durch eine Begebenheit überschattet, die sich wenige Tage nach dessen Auftreten vor der „London Society“ ereignete. Auf der Jahresfeier der „Continental Society“ wurde er aufgefordert, über die kirchlichen Verhältnisse Deutschlands zu berichten. In seiner Stegreifrede erklärte Tholuck u.a.: „Jene preußische Universität, welche der größte Teil der Theologie32

Zitiert nach Witte (Anm. 20), Band 1, S. 392ff. Zur Geschichte der „London Socicty“ vgl. le Roi (Anm. 3), Band 3, S. 6 ff. Vgl, auch die „Einrichtung und Statuten der Londoner Gesellschaft zur Ausbreitung des Christenthuns unter den Juden“, in: NN (Anm. 25) 3, 1819, S. 92 bis 95. Die NN haben später fortlaufend über die Arbeit der „London Society“ berichtet. 34 So zitiert nach dem „Bericht der Jahresfeier der Londoner Gesellschaft zur Verbreitung des Christenthums unter den Juden, am 6. May 1825", in: NN (Anm. 25) 10, 1826, S. 90-100, bes. S. 95. 35 Bezeichnenderweise wird sie nicht wörtlich wiedergegeben! 33

93 Studierenden bezieht, Halle, von wo aus Professor Francke einst den Samen wahrer Religion über Deutschland ausstreute, ist nun der Sitz des Unglaubens. Es zählte diese Universität zwischen 500 und 600 Studenten der Theologie, und mehrere ihrer Professoren fahren fort, jahrein jahraus zu lehren, daß Christus ein Mensch war gleich den übrigen unseres Geschlechts, zum Teil wohl von der göttlichen Vorsehung geleitet, zum Teil aber auch von schwärmerischen Ideen. Wenn das die Lehren sind, die man künftigen Hirten der Herde erteilt, wie kann die Herde auf den Weg der Wahrheit geleitet werden?“

Diese Bemerkungen Tholucks wurden zunächst im Juniheft des Londoner „Missionary Register“ veröffentlicht und wenig später durch die hier zitierte Übersetzung der Sonntagsbeilage der „Darmstädter Allgemeinen Kirchenzeitung“, Nr. 138 vom 16. Oktober 1825, auch in Deutschland bekannt. Die Kirchenzeitung stellte sie unter die Überschrift „Verlästerung Deutschlands im Auslande durch Deutsche“ und gab ihr als Motto das Wort von Chr. M. Pauli „Eine frömmelnde Heilandsliebe mindert die Menschenliebe“ bei. Dadurch wurde eine literarische Kontroverse ausgelöst, die ihre eigentliche Brisanz durch die Tatsache erhielt, daß gerade im Oktober 1825 die Verhandlungen über eine Berufung Tholucks ausgerechnet an die Hallenser Theologische Fakultät, die er in seiner Londoner Rede so heftig attackiert hatte, begonnen hatten. Die Fakultät in Halle erhob deshalb heftigen Einspruch beim preußischen Kultusministerium, konnte aber letztlich damit nicht durchdringen, zumal sich Tholuck zu mancherlei versöhnenden Schritten bereit fand, ohne jedoch seinen grundsätzlichen Standpunkt aufzugeben. So hielt er, versehen mit dem aufmunternden Zuruf Hegels: „Gehen Sie hin und bringen Sie ein Pereat dem alten Hallischen Rationalismus“36 und der unter manchen Schwierigkeiten zustande gekommenen Promotion zum Dr. theol. der Berliner Fakultät vom 4. März 1826, am 1. April 1826 seinen Einzug in Halle, wo er von nun an über fünfzig Jahre lang bis zu seinem Tode am 10. Juni 1877 lehren, predigen, Seelsorge treiben und so zu einem der „Kirchenväter des 19. Jahrhunderts“ werden sollte37. 36

Zitiert nach Witte (Anm. 20), Band 1, S. 451. Zu den Umständen der Berufung Tholucks nach Halle und seiner Berliner Promotion vgl. Witte (Anm. 20), Band 1. S. 411 ff. — Die Bezeichnung Tholucks als „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“ wurde von Wilhelm Hoffmann geprägt: Vgl. L. Witte (Ed.), Immer geknickt, aber nie zerbrochen. Ge-

37

94 Der Wechsel von Berlin nach Halle bedeutete für diesen zugleich das Ausscheiden aus dem Komitee der „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“. Der Jahresbericht für 1825 bemerkt dazu: „An die Stelle des Herrn Prof. Tholuck, welcher nach Gottes Leitung in einen anderen Wirkungskreis versetzt ist, indem er dem an ihn ergangenen ehrenvollen Rufe als Professor ordin. an der Universität zu Halle gefolgt ist, haben wir den Herrn Prof. Hengstenberg in unsern Ausschuß aufgenommen; jedoch wird auch jener unserm Verein noch fernerhin seine Dienste mit freudiger Angelegenheit widmen.“38

Mit Ernst Wilhelm Hengstenberg(1802-1869), der heute weithin nur noch als Herausgeber der „Allgemeinen Evangelischen Kirchenzeitung“ und Hauptvertreter des kirchlichen Konservativismus und politischen Legitimismus apostrophiert wird, war für Tholuck ein Nachfolger gewonnen worden, der ganz nach dessen Herzen war. Beiden gemeinsam waren nicht nur die bemerkenswerten Kenntnisse in der orientalischen Philologie oder die editorischen Bemühungen um das Werk Calvins39, sondern vor allem die starke Beeinflussung durch die führenden Gestalten der Berliner Erweckungsbewegung. Wie Tholuck versuchte auch Hengstenberg die exegetische Arbeit durch die Rückbesinnung auf die altkirchliche und reformatorische Schriftauslegung zu befruchten40. Die gemeinsame Frontstellung gegen den Rationalismus zog beide in den denkwürdigen „Hallischen Streit“ des Jahres 1830 hinein, der durch eine von L. v. Gerlach in der „Allgemeinen Evangelischen Kirchenzeitung“ veröffentlichte Polemik gegen die rationalistische Schrifterklärung der Hallenser Professoren Gesenius und Wegscheider, die von den Betroffenen Tholuck zugeschrieben wurde, ausgelöst worden war41. 3

danken und Worte von August Tholuck, Hamburg 1907, S. 7; M. Kähler, Art.: Tholuck, in: RE 19, S. 702. 38 Vgl. NN (Anm. 25) 10, 1826, S. 294f. 39 Hengstenberg besorgte eine Neuausgabe des Genesis-Kommentars von Calvin (Berlin 1838);Tholuck veröffentlichte Calvins Synoptiker-, Johannes- und Apostelgeschichtskommentare (Ber4 lin 1833/34), die Kommentare Calvins zu den Briefen des Neuen Testaments (Halle 1864 ) und die Institutio christianae religionis (Berlin 1834/35 und 1846). 40 Vgl, vor allem seinen Kommentar zu den Psalmen, der in vier Bänden 1849-1852 in 2. Auflage erschien. 41 Vgl. Witte (Anm. 20), Band 2, S. 174ff. Die Literatur zu Hengstenberg ist sehr zahlreich und in den einschlägigen Nachschlagewerken schnell zu finden. Besonders instruktiv ist immer noch J. Bachmann — Th. Schmalenbach, E. W. Hengstenberg nach seinem Leben und Wirken. Gütersloh 18761879.

95 Tholuck durfte also sicher sein, daß die von ihm nur eine verhältnismäßig kurze Zeit in Berlin wahrgenommenen Aufgaben durch Hengstenberg in rechter Weise fortgeführt werden würden, und konnte sich fortan auf eine gelegentliche Mitwirkung an den Arbeiten der Berliner „Gesellschaft“ beschränken. Er tat dieses um so lieber, als ihm in Halle sehr schnell eine neue Aufgabe von gesamtkirchlicher Bedeutung zuwuchs, der er sein ganzes späteres Lebenswerk verpflichtet wußte: der Kampf gegen den theologischen Rationalismus.

Trotzdem versuchte Tholuck, wann immer sich die Gelegenheit dazu ergab, die Ziele der Judenmission zu unterstützen. Im Jahr 1827 erschien in den „Neuesten Nachrichten aus dem Reiche Gottes“ ein nicht namentlich gezeichneter Beitrag „Über das Verhältniß der gegenwärtigen Missionsversuche unter den Juden, zu der dereinstigen allgemeinen Bekehrung derselben“42. Die Gedankenführung, Argumentationsweise sowie die zitierten Autoritäten lassen Tholuck als Autor dieses Aufsatzes vermuten. Zumindest aber muß der nicht genannte Verfasser als sehr stark von Tholucks Anschauungen abhängig angesehen werden. Der Jahresbericht der Berliner „Gesellschaft“ für 1828 teilte sodann mit, daß die „Gesellschaft zur Bekehrung der Juden Glasgow“43 beschlossen habe, der Berliner „Gesellschaft“ einen dritten Missionar zu finanzieren, der durch Tholuck ausgewählt werden sollte44. Allerdings konnte diese Absicht erst 1830 verwirklicht werden, als der schon erwähnte Student Wedemann in Halle sein Examen bestanden hatte und sofort im Anschluß daran über Berlin in das damalige Großherzogtum Posen abreiste45. Auf welche Weise Tholuck zum Vertrauensmann der Glasgower Judenmission geworden war, ist nicht mehr sicher zu ermitteln. Noch im gleichen Jahr 1828 konnte die Berliner „Gesellschaft“ die Schrift von Händes „Das Passah-Lamm, oder Passahbelehrungen für Jüdische Kinder; drei Theile, in drei Abendgesprächen zwischen einem Vater und seinem Sohne“ erscheinen lassen, deren Druckkosten durch eine Spende aus Glasgow in Höhe von

42

NN (Anm. 25) 11, 1827, S. 89-97. „The Glasgow Society for promoting Christianity among the Jews", gegründet am 8.1.1811; vgl. le Roi (Anm. 3). Band 3, S. 305ff. 44 Vgl. NN (Anm. 25) 13, 1829, S. 346. 45 Vgl. NN (Anm. 25) 15, 1831, S. 338 und NN 16, 1832, S. 474f. 43

96 20 Pfund Sterling gedeckt wurden, die gleichfalls durch Tholuck vermittelt worden war46.

Am 5. April 1829 taufte Tholuck den aus Hamburg stammenden, jüdischen Maler Adolf Loesser in Rom, wo er für einige Zeit als Gesandtschaftsprediger gewirkt hatte. Loesser konvertierte allerdings bald danach zum Katholizismus47.

Auf dem Jahresfest der Berliner „Gesellschaft" von 1829 hielt Tholuck, der in dem darüber erschienenen Bericht als einer der „Directoren dieser Gesellschaft“ bezeichnet wurde, die Festpredigt über Röm. 9, 1-648. Seit 1829 wurde Wedemann auf Tholucks Vorschlag hin durch die Berliner „Gesellschaft“ bis zu seinem Examen im Jahr 1830 finanziell unterstützt49. Von 1830 an wurde dann, wiederum auf Tholucks Anregung hin, ein Student Kliem von der Berliner „Gesellschaft“ vorsorglich unterstützt, um den notwendigen Nachwuchs an Judenmissionaren sicherzustellen50. Allerdings scheint dieser dann später nicht in den Dienst der Judenmission getreten zu sein. In den Jahren 1836 und 1839 hielt Tholuck wiederum die Festpredigten bei den Jahresfesten der Berliner „Gesellschaft“. 1836 predigte er über Joh. 4, 22 „Das Heil kommt von den Juden“ und 1839 über Jer. 31, 20 „Ist nicht Ephraim mein teurer Sohn und mein trautes Kind? Denn ich denke noch wohl daran, was ich ihm geredet habe; darum bricht mir mein Herz gegen ihn, daß ich mich sein erbarmen muß, spricht der Herr“51.

46

Vgl. NN (Anm. 25) 13, 1829, S. 348. Vgl. Witte (Anm. 20), Band 2, S. 142; NN (Anm. 25) 13, 1829, S. 251 und „Mitteilungen aus Tholucks Leben“, in: Sonntagsbeilage Nr. 36 der „Kreuzzeitung“ 1878. 48 Vgl. NN (Anm. 25) 13, 1829, S. 241-252, bes. S. 244ff. 49 Vgl. NN (Anm. 25) 14, 1830,S.427 und NN 15, 1831,S. 338. 50 Vgl. NN (Anm. 25) 15, 1831.S.338. 51 Vgl. NN (Anm. 25) 20, 1836, S. 225-237. bes. S. 227--237. Der „Dreizehnte Bericht etc. über das Jahr 1835“, in: NN 20. 1836, S. 293 vermerkte: „Schließlich erwähnen wir noch für unsere auswärtigen Mitglieder, daß wir im Laufe des vorigen Monats das Jahresfest unserer Gesellschaft in der Neuen Kirche vor einer gedrängten Anzahl von Zuhörern begangen haben, und wir können es nicht unterlassen, eine Mittheilung dieser Feier, und insbesondere die bei dieser Gelegenheit von dem ConsistorialRat Dr. Tholuck aus Halle gehaltenen Predigt diesem Bericht beizufügen, indem wir hoffen, daß durch dieselbe Liebe, Eifer und Theilnahme für das Volk des Bundes, durch welches uns so große Segnungen zu Theil geworden sind, in vielen unseren Mitchristen angeregt und vermehrt werden wird.“ Vgl. weiter NN 23, 1839, S. 240, wo Tholuck wieder als „Secretair der Gesellschaft“ bezeichnet wird, sowie S. 252-262 „Altargebet und Festpredigt bei der Jahresfeier der Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden. Berlin 11. April 1839“ und S. 297. 47

97 Zu Anfang des Jahres 1837 trat Tholuck in Verbindung mit Leopold Zunz, der in einem Brief vom 14. Mai 1837 lakonisch darüber berichtete: „Kürzlich hat mich auch Prof. Tholuck aus Halle besucht und mich aufgefordert, einige Bücher zu schreiben. Ich forderte ihn auf, mir eine Pension zu verschaffen oder eine einträgliche Professur."52 In einem Brief vom 22. Dezember hieß es dann beiläufig: „Ich stehe jetzt in Correspondenz mit (F.A.G.) Tholuck in Halle.“53 Die einzig nachweisbare Frucht dieser Verbindung scheinen die Berichtigungen geblieben zu sein, die Zunz zu Tholucks „De ortu cabbalae“ in dessen „Litterarischem Anzeiger“ 1838 veröffentlichte54. 1839 empfahl Tholuck Karl Theodor Teichler als Judenmissionar55, der von 18401848 für die Berliner „Gesellschaft“ tätig war56.

Das Jahr 1840 wurde für die innere Biographie Tholucks von entscheidender Bedeutung. Er selber hat dieses in einem Brief vom 14. Januar 1872 so beschrieben: „Wie viel habe ich von diesem Unterschiede der Zeiten erlebt, wenn ich an meine Anfangszeiten denke und an diese letzten zwei Jahrzehnte! Welch ein Unterschied, wenn man selbst mit einem abgehenden Geschlechte von Feinden zu kämpfen hat, oder mit einem aufgehenden! Mit einem aufgehenden haben wir jetzt zu kämpfen. In jenen Zeiten, von 1817-1840, ein aufwachendes Geschlecht durch alle evangelischen Länder hindurch von dem baltischen Meere bis nach Genf, von Nordamerika bis Paris - gerade so wie 1650-1750 -, und jetzt der schwere Abfall unter den Geistlichen selbst und überdies unter den Laien, selbst in Ländern wie England und Schottland. Da gilt es auch am Tage der kleinen Dinge nicht zu verzagen...“57 Tholuck fühlte, daß seine eigentliche Arbeit, der Kampf gegen den Rationalismus, getan war. In die Auseinandersetzungen der Zeit nach 1840 um Hegelianer und Junghegelianer,

52

Zitiert nach Glatzer (Anm. 25), S. 195. Zitiert nach Glatzer (Anm. 25), S. 198. Vgl. Zunzens Brief vom 6. Mai 1838: „Dem Prof. (F.A.G.) Tholuck hatte ich zu seinem Werkchen de cabbala, das er mir geschickt, einige Bemerkungen eingesandt, die er in seinem Anzeiger Nr. 15 d. J. abdrucken lassen (wird). Das ist also mein neuestes Opus.“ Zitiert nach Glatzer (Anm. 25), S. 202. Vgl. auch L. Zunz, Gesammelte Schriften, Band 3, 1876, S. 105ff. 55 Vgl. NN (Anm. 25) 24, 1840, S. 362. 56 Vgl. le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 149. 57 Zitiert nach Witte (Anm. 20), Band 2, S. 391f. Vgl. auch die ähnlich lautenden Äußerungen in: Dr. Tholucks fünfzigjährigem Jubiläum (Anm. 23), S. 16f. 53 54

98 Lichtfreunde, Revolution und Reaktion wurde er zwar noch hineingezogen, ohne den Gang der Dinge jedoch noch entscheidend fördern und gestalten zu können.

Inwieweit auch die Entwicklung der deutschen Judenmission insgesamt und der Berliner „Gesellschaft“ insbesondere das merkliche Nachlassen des Tholuckschen Interesses an dieser Arbeit bedingt haben mag, wird noch zu erörtern sein. Daß auch der greise Tholuck die Anstöße, die er aus dem Wirken der Judenmission empfangen hatte, nicht vergaß, bewies u. a. die Predigt beim Jahresfest der Berliner „Gesellschaft" des Jahres 1865 über Hos. 3, 1-5, die er unter das Thema „Die Wahrheit Gottes in der Erfüllung seiner Drohung über Israel unser Unterpfand, daß er auch seine Verheißungen an ihm erfüllen werde“ stellte, sowie die Äußerungen aus Anlaß seines fünfzigjährigen Amtsjubiläums58.

In gewisser Weise hat sich Tholucks Gattin Mathilde, geb. v. Gemmingen, die von den Studenten hochverehrte „Frau Rätin“, der den Händen ihres Mannes entglittenen Aufgaben angenommen. Wilhelm Faber59 berichtete im Vorwort zu den „Erinnerungen an Professor Tholucks Heimgang von Mathilde Tholuck“, die 1892 in Leipzig erschienen: „Meinem früheren Berufe als Judenmissionar verdanke ich auch die Freundschaft der ehrwürdigen Lebensgefährtin Tholucks. Gastlich bot sie dem studentischen Judenmissionskreis ihren Saal zu Versammlungen, liebevoll betätigte sie ihre Teilnahme für Gläubige aus Israel. Ein kleiner bessarabischer getaufter Judenknabe, der mit seiner Mutter eine Zufluchtsstätte in Halle gefunden, ist täglicher Gast bei Frau Rätin, die mit großmütterlicher Sorgfalt sich seiner annimmt... Wie schön ist es doch, daß die von jugendlicher Begeisterung getragene Liebe Tholucks für das Heil des alten Bundesvolkes noch über sein Grab hinaus durch die Gefährtin seines Lebens weiter gepflegt wird.60

58

Vgl. die Belege Anm. 23. Zu Faber vgl. le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 171ff. Erinnerungen an Professor Tholucks Heimgang von Mathilde Tholuck, Leipzig 1892, S. 6f. An gleicher Stelle erwähnt Faber auch, daß Martin Kähler vor den Freunden der Instituta Judaica am 22. Juni 1884 (Gründungsfeier des Vereins) „ein Bild davon (gab), was Tholuck dem schweren Werk der Evangelisierung Israels, dem Aschenbrödel unter den Arbeiten am Reiche Gottes, und was er einzelnen Seelen aus Israel gewesen“. Leider ist dieser Vortrag Kählers nicht gedruckt worden. Zumindest ist er auch in der von E. Kähler zusammengestellten Bibliographie im Anhang zu Kähler, Protestantische Dogmatik (Anm. 5), S. 290ff. nicht nachgewiesen worden.

59 60

99 3. „Der Freund Israels"

Haben wir uns bisher darauf beschränkt, Tholucks Wirken im Dienste der Judenmission allgemein biographisch zu skizzieren, so gilt es nun, jenes Feld Tholuckscher Tätigkeit genauer zu schildern, welches ihm in besonderem Maß aufgegeben und gelegen war: das literarische Wirken für die Zwecke der Londoner und Berliner „Gesellschaften“61. An den Anfang sei „Der Freund Israels. Eine Zeitschrift für Christen und Israeliten“ gestellt, die nur zwei Jahrgänge in den Jahren 1824 und 1825 erlebte, bei Trowitzsch und Sohn in Berlin erschien und das Motto „Lasset uns in Liebe die Wahrheit suchen. Eph. 4, 15“ trug. In der Vorrede zum 1. Heft beschrieb Tholuck den Zweck und geplanten Inhalt folgendermaßen: „Sie (d. i. die Zeitschrift P. M.) soll suchen herzliche Theilnahme zu erwecken und durch die Theilnahme liebevolles Mitwirken zu dem großen Ziele. Denn wenn jeder Christ für jeden Juden, mit dem er in Berührung kommt, ein barmherziger Samariter, ein erleuchtender Philippus, ein Petrus am Pfingstfeste wird, der die großen Taten Gottes an seinen Herzen zu verkündigen sich gedrungen fühlt, dann wird Israel sein Ohr neigen, sein harter Nacken wird weich werden, sein steinernes Herz fleischern und es wird seinem Bräutigam entgegengehen. Auf der anderen Seite sollen diese Blätter auch dem Israeliten bestimmt sein, um ihm die liebevollen Gesinnungen zu offenbaren, welche jeder wiedergeborene Jünger Jesu für die Kinder Abrahams hat; um ihm zu zeigen wie sein Testament so genau mit dem unsers Herrn übereinkommt, und endlich um ihm auch in manchen wichtigen Beispielen die Kraft des Heilandes an den Herzen seines Volkes zu beweisen... Zu dem Ende wird diese Zeitschrift enthalten: 1. Abhandlungen über wichtige alttestamentliche Gegenstände; auch wichtige Stellen aus rabbinischen Schriften. 2. Erzählungen aus der jüdischen Geschichte und aus dem Leben bekehrter Israeliten. 3. Missionar-Berichte über die Verbreitung des Christenthums unter den Juden neuerer Zeit.“62

61

Vgl. den Anm. 27 zitierten Auszug aus dem Sitzungsprotokoll vom 25.2.1825 der Londoner „Society“!

62

Der Freund Israels. Eine Zeitschrift für Christen und Israeliten (= FI) 1, 1824, S. 1f.

100 Dieses Programm hat Tholuck mehr oder weniger im Alleingang zu bewältigen versucht, wenn er auch häufig von der Gelegenheit Gebrauch machte, aus fremden Schriften umfangreiche Zitate zu verwerten. Das trifft vor allem auf jene Gruppe von Beiträgen zu, die man als Berichte aus der Arbeit der Judenmission ansehen kann. Vornan standen hier solche Mitteilungen, in denen die Lage der Juden und Judenmission in den verschiedensten Ländern beschrieben wurde. Allerdings handelt es sich hierbei zumeist nur um streiflichtartige Nachrichten, aus denen es unmöglich wäre, ein auch nur einigermaßen geschlossenes Bild der tatsächlichen Vorgänge zu gewinnen. Am häufigsten waren die Berichte aus Preußen, Polen und Rußland, aber der Blick der Leser wurde auch nach Kleinasien, Jerusalem, Hinterindien und sogar nach Australien gelenkt63. Besondere Erwähnung mag in diesem Zusammenhang auch die Schilderung der Jahresfeier der Londoner „Society“ am 6. Mai 1825 verdienen, an der Tholuck, wie bereits erwähnt, ja selbst teilgenommen hatte64.

Zu den Nachrichten aus der Missionsarbeit müssen die umfangreichen Auszüge aus den Tagebüchern und Reiseberichten der Judenmissionare gezählt werden. An erster Stelle sind die umfangreichen Berichte aus dem Leben des Stephan Schultz (1714-1776) zu nennen65, für die Tholuck die autobiographischen Aufzeichnungen jenes Mannes verwandte, von dem le Roi später bemerkte: „Nie aber wohl seit der Apostel Tage wurde ein Judenmissionar so weit unter Juden und Christen bekannt als Stephan Schultz.“66 Er war der vielleicht bedeutendste Missionar, den das Callenbergsche Institutum Judaicum in Halle hervorgebracht hat. Seine Reisen führten ihn durch ganz Europa und bis nach Kleinasien sowie Palästina. Von 1760 an wirkte er als Nachfolger Callenbergs in der Leitung des Hallenser Institutum Judaicum, zugleich hielt er vielbesuchte Vorlesungen an der Hallenser Theologischen Fakultät, so z. B. 1775 ein „Collegium antijudaicum“67. In der Einleitung zu den Auszügen aus “Die Leitungen des Höchsten durch Europa, Asien und Afrika“ (Halle 1771-1775)

63

Die entsprechenden Berichte vgl. FI (Anm. 62) I, 1824, S. 76-79, 90-99, 158-176, 198-210; FI 2, 1825, S. 15-20, 32-41, 139-150, 150--155 und 189-196. 64 Vgl. FI (Anm. 62) 2, 1825, S. 88-104, 202-211, bes. S. 206. 65 Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 185-197; FI 2, 1825, S. 61-87 und 163-189. 66 le Roi (Anm. 3), Band 1, S. 322. 67 Zu Schultz und seinen umfangreichen Veröffentlichungen vgl. le Roi (Anm. 3), Band 1, S. 304ff, und 2 derselbe, Stephan Schultz, Gotha 1878 .

101 vermerkte Tholuck zur Darstellungsweise kritisch: „Schade, daß der Vortrag in diesem Werk zu breit ist, dabei so viel Unnöthiges mit eingeflochten!“ 68 Aber das war eben der Stil jener Zeit, wie er sich gewöhnlicherweise bereits in der Gestaltung der Titel bemerkbar machte.

Wenn Stephan Schultz wohl auch der bedeutendste Hallenser Judenmissionar gewesen ist, so dürfen doch zwei andere Männer den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, die ersten gewesen zu sein, die im Dienst des Institutum Judaicum auszogen: Johann Georg Widmann (gest. 1754) und Johann Andreas Manitius (1707-1758). Ihre erste Missionsreise geschah im Jahr 1730 und führte zunächst nach Polen. Widmann, durch unglückliche Jugenderlebnisse stark depressiv veranlagt, bereitete Callenberg auch in seiner Tätigkeit als Judenmissionar viele Schwierigkeiten, zumal „er glaubte Gesichte und Offenbarungen gehabt und ein prophetisches Amt nach Art Johannis des Täufers unter den Christen, zumal aber unter den Juden überkommen zu haben. Insbesondere hielt er sich berufen, dem endlichen Reiche Gottes unter Israel die Bahn zu brechen“69. Er stand bis 1739 in Callenbergs Diensten, versuchte dann, eine Gruppe von Christen und bekehrten Juden zu bilden, die in Palästina eine Kolonie gründen sollten, um so dem bevorstehenden Anbruch des Gottesreiches einen Stützpunkt zu bieten, starb aber über diesen Plänen 1754 in Stettin und wurde in der dortigen St. Jacobi-Kirche beigesetzt. Von ganz anderer Art war Manitius, der aus Etzien bei Brandenburg stammte, als Theologiestudent in Halle unter Callenbergs Einfluß kam und zunächst Widmann, später auch Schultz, auf ihren Missionsreisen begleitete. „Ohne jede überspannte Erwartung und von der Rechnung auf Erfolg in keiner Weise bestimmt, betrieb er sein Missionswerk. Nicht der Gedanke an eine bevorstehende allgemeine Judenbekehrung, so äußerte er sich einmal, als man ihm ein anderes Amt anbot, treibe ihn zu seinem Zeugnisse an die Juden, sondern dass die Pflicht der Liebe und Zurechtweisung von Irrenden zu keiner Zeit versäumt werden dürfe. Von einer allgemeinen Verstockung der Juden aber solle man nicht so schnell sprechen, ehe man nicht und zwar den Einzelnen in ihrer Muttersprache das theure Evangelium liebreich, deutlich, gründlich, überzeugend und anhaltend vor68 69

FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 185. le Roi (Anm. 3), Band 1, S. 281.

102 gehalten habe. Die Juden sollten uns auch am Tage des Gerichts nicht beschuldigen dürfen, wir Christen hätten ihnen den Glauben an den Messias nicht vorgehalten.“70 Bis 1744 hat Manitius für die Judenmission gewirkt, dann zwang ihn „eine krankhafte Anlage zum Fettwerden, welche auch nicht einmal durch die geringe und entbehrungsvolle Lebensweise im Missionsamt überwunden wurde und ihm große Atmungsbeschwerden verursachte“, zur Annahme einer Pfarrstelle zunächst in Nienburg, später in Köthen, wo er 1758 gestorben ist71. Tholuck druckte im „Freund Israels“ die „Geschichte der Gefangenschaft der zwei Missionare der Callenbergischen Anstalt im Österreichischen“72. Widmann und Manitius waren 1733 in Böhmen unter dem Verdacht in Haft genommen worden, hussitische Prediger zu sein. In der mehrmonatigen Haftzeit, die sie meistens in den Block geschlossen zubringen mußten, widerstanden die Missionare erfolgreich allen Versuchen, sie zum Übertritt zum Katholizismus zu bewegen.

Der dritte Bericht erinnert an das Wirken jenes Mannes, dem die Londoner „Society“, die Berliner „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“ und damit Tholuck selbst so viel verdanken: Lewis Way (1773-1840)73. Dieser ehemalige Advokat widmete sein ganzes Leben und beträchtliches Vermögen der Sache der Judenmission, die erst durch ihn zu einer Europa umspannenden Organisation wurde. Die Grabinschrift in der Palestine Place-Kapelle preist ihn als denjenigen, „dessen rastloser Eifer daheim und auswärts den Grund zu dem Missionswerke unter Gottes altem Volke legte, dessen kraftvolle Ansprache die christlichen Souveräne nicht erfolglos aufrief, das Unrecht der Jahrhunderte wieder gut zu machen, dessen Auslegungen des Wortes Gottes die Kirche Christi erweckten, mitfühlend Anteil an der Bekehrung und Wiederherstellung der Juden zu nehmen“74. Im „Freund Israels“ wurde die „Reise des Herrn Way nach Palästina und Stiftung einer Maltesischen Gesellschaft zur Beförderung des Christenthums unter den Juden“ geschildert75. 70

le Roi (Anm. 3), Band 1, S. 287. Zu Widmann und Manitius vgl. le Roi (Anm. 3), Band 1, S. 280ff. mit Angabe der von diesen verfaßten Schriften. 72 Vgl. FI (Anm. 62) 2, S. 21-31. Zu dieser Begebenheit vgl. auch le Roi (Anm. 3), Band 1, S. 288ff. 73 Zu L. Way vgl. le Roi (Anm. 3), Band 3, S. 19ff. mit Literatur. 74 Zitiert nach Ie Roi (Anm. 3) Band 3, S. 24f. 75 Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 76-79. Zur Gründung der Maltesischcn „Gesellschaft" vgl. auch le Roi (Anm. 3) Band 3, S. 23. Sie geschah am 2, Mai 1823. 71

103 An vierter Stelle ist ein „Brief des Missionars Moritz aus Zytomir in Rußland (im Auszuge)“76 zu nennen. Johann Christian Moritz wurde 1786 als Sohn des Kaufmanns Marcus Treitel in Bernstein (Pommern) geboren und erhielt den Namen Moses. 1809, aus Anlaß seiner Taufe, wechselte er den Namen. 1817 wurde er durch L. Way in die Judenmission eingeführt und arbeitete bis 1825 unter den Juden Rußlands im Auftrag des Zaren Alexander. Von 1825 an wirkte er dann 42 Jahre lang als Missionar der Londoner „Society“ vor allem in Skandinavien und in Deutschland. 1868 ist er in London gestorben77.

Zweimal veröffentlichte Tholuck auch Auszüge aus den Tagebüchern des Judenmissionars Joseph Wolff78, den man einen „Meteor in der Mission“79 genannt hat. Wolff wurde 1795 geboren und begehrte bereits als achtjähriger Knabe nach dem Evangelium, wenn er auch an einer ernsthaften Verfolgung dieses Zieles noch durch seine Eltern gehindert wurde. In der Zeit um 1810 begegnete er in Halle Georg Christian Knapp80, dem Vorgänger Tholucks, der dem Erkenntnis Ringenden zurief: „Kennen Sie Christum? Er ist Gott über alles. Wenn Sie das nicht glauben, ist es eine große Sünde Christ zu werden.“ Wegen der Nachstellungen durch die Juden Halles zog Wolff nach Weimar, wo ihm Johannes Daniel Falk, damals noch „ein Lump mit tausend andern Lumpen in der deutschen Litteratur“, wie er später von sich selbst bekannt hat, empfahl: „Lassen Sie sich raten, bleiben Sie, was Sie sind; wenn Sie Jude bleiben, werden sie ein berühmter Mann werden, als Christ hingegen nie einen Namen erlangen. Christen, die tüchtig sind, gibt es in der ganzen Welt im Überfluß.“ Goethe jedoch hielt dagegen: „Junger Mann, folgen Sie der Stimme Ihres eigenen Herzens, und lassen Sie sich nicht nach dem gelüsten, was Falk Ihnen sagt.“ Nach mancherlei Irrfahrten ließ sich Wolff 1812 in Prag durch den Abt des Benediktinerklosters Emmaus taufen. In Wien studierte er orientalische Sprachen und wurde 1815, trotz seiner katholischen Konfession, in das berühmte Tübinger Ev.Theologische Stift aufgenommen. Ständig zwischen Katholizismus und Protestantismus schwankend, begab sich Wolff 1816 nach Rom, um den Katholizismus an seiner 76

Vgl. FI (Anm.62) 1, 1824, S. 57f. Zu J. Chr. Moritz vgl. le Roi (Anm. 3), Band 3, S. 99ff. mit Literatur. Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 52-56 und 79-89. 79 Vgl. le Roi (Anm. 3), Band 3, S. 152. 80 3 Vgl. F. A. G. Tholuck, Art.: Knapp, G. Chr., in: RE 10, S. 588ff. 77 78

104 Wurzel kennenzulernen. Im Seminario Romano gehörte der spätere Papst Pius IX. zu seinen Kommilitonen. Als Wolff jedoch mit der Inquisition in Konflikt geriet, floh er 1819 nach London, wo er in die Dienste der „Society“ eintrat. „Sein Plan aber war, überall den zerstreuten Juden Jesum zu verkündigen und die Zeit der Versammlung Israels wieder anzubahnen. Seine überspannte Phantasie ließ ihn auch in der allerseltsamsten Weise überall gewisse Anzeichen der Erfüllung der Prophetie erblicken; zugleich aber erfüllte ihn ein übermässiges jüdisches Nationalbewußtsein. Das alles trieb ihn vorwärts.“81 Wolff bereiste ganz Europa und Kleinasien, kam bis nach Indien und Afrika und wurde schließlich 1837 bei einer Reise zu den Juden Amerikas durch den Bischof von New Jersey ordiniert, worauf er 1838 ein Pfarramt in England übernahm. Doch bereits nach fünf Jahren brach er erneut auf, und erst 1844 ließ er sich endgültig in England nieder, wo er als Inhaber einer kleinen Pfarrstelle 1862 gestorben ist82. Tholuck veröffentlichte im „Freund Israels“ Auszüge aus den Tagebüchern der Reise Wolffs nach Palästina und Ägypten, die im Jahr 1822 stattfand. An diesen Auszügen wird u. a. die antikatholische Haltung und Tätigkeit Wolffs besonders deutlich.

Schließlich ist noch eine kurze Mitteilung aus dem Tagebuch des Mai 1824, verfaßt von G.F.G. Händes, zu erwähnen83. Tholuck konnte hier die direkten Beziehungen zu seinem ehemaligen Schüler am Missionsseminar des Johannes Jänicke nutzen, um so auch einmal wirklich aktuelles Material den Abonnenten seiner Zeitschrift zu präsentieren84.

Auf die Gruppe der Berichte aus der Missionsarbeit in Vergangenheit und Gegenwart lassen wir diejenigen folgen, die man unter dem Begriff der „Bekehrungsgeschichten“ zusammenfassen könnte. An ihre Spitze sei die „Bekehrungsgeschichte eines Juden im zwölften Jahrhundert nach der Geburt Christi, von ihm selbst beschrieben“85 gestellt. Der Held dieser autobiographischen Erzählung ist der Proselyt und Prämonstratenser Hermann von Köln, ein Zeitgenosse des Bernhard von Clairvaux. Tho81

le Roi (Anm. 3), Band 3, S. 151. Zu Wolff vgl. le Roi (Anm. 3), Band 3, S. 146ff. mit Literatur. Vgl. FI (Anm. 62) 2, 1825, S. 212-214. 84 Zu Händes vgl. le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 148. Vgl. auch Anm. 28 dieser Arbeit. 85 Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 17-47. 82 83

105 luck benutzte hierzu nach eigener Angabe86 des „Raymundi Martini Ordinis Praedicatorum Pugio Fidei adversus Mauros et Judaeos, cum observationibus Josephi de Voisin, et introductione Joh. Benedicti Carpzovi, qui simul appendicis loco Hermanni Paulinae Academiae Lipsiensis recensuit“, welches 1687 in Leipzig erschien87. Darauf folgt, wohl mehr als warnendes Beispiel aufgenommen, der „Lebenslauf des Uriel Acosta, der von der christlichen zur Jüdischen Religion übertrat, von dieser zum Naturalismus überging, und durch Selbstmord endete; von ihm selbst beschrieben“88. Es handelt sich hierbei um einen Auszug, aus der Selbstbiographie Acostas „Exemplar humanae vitae“, die durch Ph. Limborch in „De veritate religionis christianae amica collatio cum erudito Judaeo“89 publiziert wurde. Uriel Acosta, eigentlich: Gabriel da Costa, wurde wohl 1585 (oder 1594) in Portugal als Glied einer marranischen Familie geboren. Aus Zweifeln an der katholischen Lehre vom Ablaß und am Christentum überhaupt floh er nach Amsterdam, um dort zum Judentum zu konvertieren. Seine Kritik an der jüdischen Tradition und die Leugnung der Unsterblichkeit führten zum synagogalen Bann in Hamburg und Venedig, sowie zu Geldstrafen, Autodafé der Schriften und körperlicher Züchtigung in der Synagoge von Amsterdam. 1640 nahm sich der Mann, der als Vorläufer Spinozas angesehen werden kann, das Leben, wenn man der späteren Überlieferung trauen darf90. Sein bewegtes und tragisches Schicksal hat noch 1846 Karl Gutzkow zu der Tragödie „Uriel Acosta“ angeregt.

Hatte Tholuck auf diese Weise eine der ganz und gar unglücklichen Existenzen zwischen Judentum und Christentum ins Gedächtnis gerufen, so vermochte er, indem er einen Nachfahren eben jenes Uriel Acosta dem Leser vorstellte, ein in seiner Sicht sehr viel glücklicheres Exempel darzustellen. Gemeint ist die „Bekehrungsgeschichte

86

Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824,S. 17f. 3 Zu dieser Ausgabe vgl. H.L. Strack, Art.: Raimundus Martin, in: RE 16, S. 413. Tholuck gab den Namen des Editors fälschlich mit Joh. And. Carpzow an, es handelt sich jedoch um Johannes Benedikt (II.) Carpzow (1639-1699), einen Schüler des Johannes Buxtorf d.J. (1599-1664). Tholuck selbst hat später in der 1. Auflage der „Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“ die Geschichte der berühmten Gelehrtenfamilie Carpzow geschrieben. Vgl. auch le Roi (Anm. 3), Band 1, S. 78. 88 Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 63-71. 89 Basel 1740, S. 651ff.; Erstdruck 1687; vgl. auch C. Gebhardt, Die Schriften des Uriel da Costa. Heidelberg 1922. 90 3 Vgl. dazu J. J. van Oosterzee, Art.: Acosta, Uriel, in: RE 1, S. 140, der als Todesjahr 1647 nennt. 87

106 der Israeliten Isaak Acosta und Abraham Cappadose in Holland“91. Tholuck publizierte hierzu einen „Brief des Herrn Missionarius Prediger Thelwall aus Amsterdam“ vom 17. Juni 1823. Rev. A. S. Thelwall (gest. 1864) war ein Schüler des Wayschen Seminars zu Stansted, lehrte dann am Trinity College zu Dublin und kam 1819 nach Amsterdam, wo er eine Traktatgesellschaft gründete, die Schriften für die Judenmission herausgab. Thelwall trat auch selbst als Verfasser von Missionstraktaten hervor, die unter dem Sammeltitel „Old Testament Gospel“ veröffentlicht wurden92.

Isaak da Costa, wie sein Name üblicherweise wiedergegeben wird, wurde 1798 als Großneffe des Uriel Acosta in Amsterdam geboren. Sein Vater, Daniel da Costa, gehörte zu den aufgeklärten Geistern der Zeit, ohne jedoch offen mit dem Judentum zu brechen. Durch Willem Bilderdijk wurde der junge Isaak von einem rationalistischen Deismus zum Christentum bekehrt und 1822 zusammen mit Abraham Cappadose getauft. Dieser, 1795 als Kind portugiesischer Juden in Amsterdam geboren, studierte auf Wunsch seiner Eltern Medizin, in deren Annalen er sich später durch die Bekämpfung der Kuhpockenimpfung eintragen sollte. Zugleich trieb er aber ausgedehnte philosophische Studien, bis er gleichfalls durch Bilderdijk zu einem positiven Christentum bekehrt wurde. Von da an haben beide Männer das kirchliche Leben ihrer Zeit in entscheidender Weise mitbestimmt93. Isaak da Costa, den man einen „Prophetensohn“ genannt hat und der als der größte holländische Dichter des 19. Jahrhunderts gefeiert wurde, wurde zum Vorkämpfer gegen den Vulgärrationalismus, den er in einer Flut von Schriften unterschiedlichsten Genres unermüdlich angriff. Dabei vergaß er seine Herkunft niemals und wies gerne darauf hin, daß er aus einer Familie stamme, die einst nicht aus der babylonischen Gefangenschaft nach Palästina zurückgekehrt war und deshalb auch keinen Anteil an der Kreuzigung Christi haben konnte! Dieser in seiner streng antirationalistischen Frömmigkeit Tholuck so ver-

91

Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 71-75. Vgl. le Roi (Anm. 3), Band 3, S. 24,27 und 81. Vgl. Tholucks durchaus nicht unkritische Bemerkungen zum Wirken beider in: NN (Anm. 25) 11, 1827, S. 93 (ohne Namensnennung!).

92 93

107 verwandte Geist starb 1860 mit den Worten: „Es ist noch vorhanden eine Ruhe dem Volke Gottes.“94

Abraham Cappadose gehörte zu den Mitbegründern des „Niederländisch evangelisch-protestantischen Vereins für Evangelisation“, der es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, das ganze Land mit der reinen Schriftlehre zu erfüllen. Zugleich bemühte er sich auf mannigfaltige Weise um die Katholiken in Spanien und Italien. Für die holländische Judenmission wurde seine Gründung einer Gesellschaft der „Freunde Israels“ wichtig. Aus der Kirche trat er aus, weil diese keine Lehrzucht ausüben wollte. 1874 ist er im Haag gestorben95.

Die Reihe der Bekehrungsgeschichten wird fortgesetzt durch den „Wahrhaften Bericht von Gottfrieds Bekehrung vom Judenthum zum Christenthum. Von ihm selbst aufgesetzt“96. Gemeint ist Johann Adam Gottfried, der 1720 in Altona geboren und 1750 in Erlangen getauft wurde. Aus seiner Feder stammen neben der mehrfach aufgelegten Selbstbiographie mehrere Schriften, in denen er sich an die Juden mit der Aufforderung zur Bekehrung wandte. 1773 starb er97. Es folgt die „Merkwürdige Bekehrungsgeschichte des Rabbi Selig und Rabbi Mendel, welche in der Synagoge Christum als den Heiland bekannten“98. Benjamin Selig, genannt Felix, aus JungBunzlau in Böhmen, konvertierte zunächst zum Katholizismus, lebte dann wieder als Jude und wurde schließlich in Weikersheim (Württemberg) durch den Hofprediger Kern getauft. Aron Mendel, der sich als Christ Johann Ludwig Karl Friedrich Christlieb nannte, wurde ebenfalls durch Kern in Weikersheim einige Jahre nach Selig, 1754, getauft. Ihre Bekehrungsgeschichte, aus der Tholuck zitierte, wurde durch Kern, der selbst Proselyt war, 1760 in Hildburghausen veröffentlicht99.

94

Zu Isaak da Costa und seinen Schriften vgl. le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 300ff., J.A. Gerth van Wijk, 3 Art.: Da Costa, Isaak, in: RE 4, S. 401ff.; J. Meyer, Isaak da Costas weg naar het christendom, Amsterdam 1946. 95 Zu Abraham Cappadose und seinen Schriften vgl. le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 298ff.; D. Kamijn, Abraham Capadose (Diss. Utrecht), 's-Gravenhage 1955. 96 Vgl. FI (Anm. 62) 2, 1825, S. 107— 128. 97 Zu J. A. Gottfried vgl. le Roi (Anm. 3), Band 1, S. 399ff. mit Literatur. 98 Vgl. FI (Anm. 62) 1. 1824, S. 129— 158. 99 Vgl. le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 50 mit Literatur.

108 Zu den „Bekehrungsgeschichten“ gehörte schließlich auch die des „Christian Salomon Deutsch, nachherigen christlichen Predigers“100. Dieser wurde 1734 in Temesvar, das damals zu Ungarn gehörte, geboren, besuchte die Talmudschule in Prag und durchstreifte anschließend fast ganz Europa, bis er schließlich in Amsterdam 1767 getauft wurde. 1777 erhielt er eine Pfarrstelle in Mijdrecht. Die aus diesem Anlaß gehaltene Antrittspredigt bildet den Kern des Tholuckschen Berichts. Das Hauptwerk des 1797 Verstorbenen ist der dreibändige Traktat „Israels verlossinge en eeuwige Behoudenis“ (Amsterdam 1769 bis 1793) gewesen101. Drei weitere Bekehrungsgeschichten, die Tholuck im „Freund Israels“ veröffentlicht hat, sind historisch nicht näher zu fixieren gewesen102.

Durch drei Beiträge versuchte Tholuck, auch grundsätzliche Probleme der Mission unter den Juden zu beleuchten. Der erste, aus Tholucks Feder stammend, trägt den Titel „Wie hat der Christ sich der zu Christo bekennenden Israeliten anzunehmen?“103 In ihm wird die geldliche Unterstützung der Proselyten ganz allgemein abgelehnt, dagegen wird die individuelle Fürsorge stark betont, die gelegentlich auch die materielle Versorgung mit einschließen kann. Um diese Aufgabe zu verwirklichen, möge jede Judenmissionsgesellschaft drei Mitglieder - und zwar einen Gelehrten, einen Kaufmann und einen Handwerker - wählen, die sich der Proselyten annähmen. Insbesondere aber soll jeder die Taufe begehrende Jude gründlich auf seine Motivation hin überprüft werden, ehe man ihn in die Kirche aufnimmt. Bei den Getauften sei dann streng darauf zu sehen, daß sich nicht Hochmut, Unwahrhaftigkeit, Trägheit und Liebe zum Müßiggang entwickeln. Tholuck bewies durch diesen Aufsatz, daß er die teilweise unhaltbare Lage erkannt hatte, in die Juden geraten konnten, wenn sie zum Christentum übertraten. In den allermeisten Fällen waren es bereits Erwachsene, die nach langen inneren Kämpfen die Taufe begehrten. Damit verloren diese a-

100

Vgl. FI (Anm. 62) 2, 1825, S. 55--60. Vgl.zu Christian Salomon Duytsch (so die korrekte Namenschreibung) le Roi (Anm. 3). Band 2, S. 59ff. mit Literatur. 102 Es sind die „Erzählung von der Bekehrung eines jüdischen Knaben an Bord eines Schiffes mit Gefangenen in Sheerneß“, in: FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 48-51, die sich als Gegenwartsereignis stilisiert; ein Beitrag „Verborgenes Christenthum unter den Juden“, in: FI 2, 1825, S. 104— 106, der von einem bekehrten Juden in Schlesien erzählt, der mit der Taufe wartete. bis sich auch seine Familie bekehrt hatte; die „Bekehrungsgeschichte eines jungen Israeliten“, in: FI 2, 1825, S. 128-139. 103 Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 109— 120. 101

109 ber fast automatisch die soziale Bindung zur jüdischen Gemeinschaft, in der sie aufgewachsen waren, ohne jedoch sofort und vollständig in die christliche Gesellschaft integriert zu werden. Da mußten Bildungsschranken und Zunftordnungen überwunden werden, um von dem latenten Mißtrauen der Christen den Proselyten gegenüber gar nicht erst zu sprechen. Selbst Tholuck war von solchen Regungen keineswegs vollständig frei, wie seine Forderung nach gründlichster Überprüfung der Motivation jüdischer Taufbewerber verrät. Zu tief saß der durch schlechte Erfahrungen genährte Verdacht, daß bekehrungswillige Juden weniger nach der durch Christus geschenkten Erlösung als nach materiellen Vorteilen unterschiedlicher Art streben könnten. Die Biographie so manches zum Christentum übergetretenen Juden aus dieser Zeit weiß in ergreifender Weise von der Heimatlosigkeit und Verlassenheit zu berichten, in die jener ohne Hoffnung auf eine gründliche Besserung seiner Lage geriet.

Welche Schwierigkeiten hier auf beiden Seiten zu überwinden waren, zeigt die Geschichte eben jener Einrichtungen, durch denen den jüdischen Proselyten Hilfe zu geben versucht wurde. 1823 gründete der „Rheinisch-Westfälische Verein für Israel“ eine Anstalt für jüdische Taufbewerber in Stockamp bei Düsseldorf, die allerdings bereits 1825 geschlossen werden mußte, weil man bei dieser Arbeit zu schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Wahrscheinlich sind es diese sich abzeichnenden Mißerfolge gewesen, die auch Tholuck zu solcher Reserviertheit veranlaßten. War die Anstalt in Stockamp im wesentlichen eine Missionsschule für Proselyten gewesen, so weitete Adalbert Graf von der Recke-Volmerstein die Aufgaben seines 1822 in Düsselthal gegründeten Rettungshauses bald dahingehend aus, daß in diesem bekehrungswilligen Juden auch der Übergang zu einem bürgerlichen Gewerbe ermöglicht werden sollte. 1824 wurden auf diese Weise 20 Juden in Düsselthal betreut, später stieg diese Zahl zeitweilig sogar bis auf 50 an. 1830 wurde jedoch auch dieses Asyl bereits wieder geschlossen, weil sich in ihm zu viele Arbeitsscheue versammelten, die lediglich eine sichere Versorgung anstrebten. Graf v. der Recke hat dann nur noch jüdische Kinder zusammen mit christlichen in seiner Anstalt aufgenommen und erzogen. 1836 begründete die Berliner „Gesellschaft“ einen „Verein zur christlichen Fürsorge für jüdische Proselyten“, der sich mit wechselndem Erfolg um das äußerliche Fortkommen der jüdischen Katechumenen und Proselyten bemüht hat. Le Roi

110 hat alle diese Versuche zusammenfassend dahingehend charakterisiert: „Hatte man hierbei mit vielen Unwürdigen zu thun, so hat es doch auch am Lohn für diese Arbeit durchaus nicht gefehlt; denn eine erhebliche Zahl der so Verpflegten hat nachher ihrem Christennamen Ehre gemacht. Innerhalb der Gemeinden aber ist für die geistliche Pflege der Proselyten meistens überaus wenig geschehn.“104 Später stellte Tholuck die Frage „Wann wird ein Israelit wahrhaft bekehrt?“105 Gewöhnlicherweise, so meinte er, würden die Juden dadurch bekehrt, daß sie die christliche Auslegung der alttestamentlichen Weissagungen anerkennen. In diesem Zusammenhang entwickelte Tholuck das „Ideal eines Buches..., welches Zeugniß vom Messias an Israel hieße, und dieses nach der Schrift fortschreitend so entwickelte, in steter Einfalt, und doch mit Abweisungen aller Mißverständnisse - daß im ganzen Buche der Name Jesus erst auf der letzten Seite stehen dürfte und etwa dabei: Nun seht einmal nach, ob ers nicht ist!“106 Der Verfasser der „Lehre von der Sünde“ wies dann aber zugleich auf einen zweiten, tiefer greifenden Weg der Erkenntnis und Bekehrung hin: „Mit dem Messer des Gesetzes muß unerbittlich die harte Haut aufgeschnitten werden, die jede Krümmung der geheimen Ader der Eitelkeit und des Stolzes verdeckt, damit der Unrath des alten Menschen ihm in der Tat stinkend erscheine und er ein Graun und einen Eckel vor sich selbst bekommt. Dann erst, dann erst werde ihm, wenn dieses Grauen vor sich selbst beginnt, davon gesagt, daß sein Messias aber nicht bloß gekommen sei um alle Adern der Tücke seines Herzens offenbar zu machen, sondern auch um ihm Vergebung bei Gott zu bewürken und dadurch denn auch ihm ein Heilmittel einzugeben, vermöge dessen die Giftadern allmählig absterben würden und gesundes Blut in seinen geistlichen Menschen sich ergießen werde ... So wird denn also der gewöhnliche Weg der Bekehrung der Israeliten durch Weissagungen nur Segen haben, wo zugleich damit Hand in Hand geht Erkenntniß der Sünde, Vergebung der Sünde, und das Flehen um den heiligen Geist.“ Für den christlichen Judenmissionar gelte aber vor allem die Gewißheit: „Ist

104

le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 258. Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 234-240. Die Anregung zu einem solchen Buch stammte von Rudolf Stier. Vgl. dessen Brief vom 10.5.1824, in: Tholucks Anfänge (Anm. 23), S. 100f.

105 106

111 Liebe stärker als der Tod, so ist sie auch stärker als alle Rabbinischen Spitzfindigkeiten und wird die armen Söhne Abrahams überwinden.“

Fast ein Jahrhundert zurück in die Vergangenheit führten die sehr viel grundsätzlicheren „Äußerungen eines Mitgliedes der Brüdergemeine über seine Art mit den Juden sich zu besprechen“107. Wiedergegeben wird ein Bericht des Samuel Lieberkühn, der 1710 in Berlin geboren wurde. Sein Vater, der Hofgoldschmied Friedrich Wilhelms I., hielt enge Verbindung zu Spener und Francke, weshalb er den Sohn auch in den Franckeschen Anstalten zu Halle erziehen ließ. Schon während seiner Studienzeit in Halle und Jena kam Lieberkühn in Kontakt mit der Brüdergemeine, der er 1735 beitrat. 1736 wirkte er gemeinsam mit Zinzendorf unter den Juden und Zigeunern der Wetterau108. Dadurch lernte er die Judenmission der Brüdergemeine näher kennen, über die le Roi urteilt: „Ganz besonders aber verdient es Erwähnung und Anerkennung, dass die Brüdergemeine die erste evangelische Kirche gewesen ist, welche die Judenmission als ein Werk ihrer Kirche selbst trieb, und welche es nicht der privaten Liebesthätigkeit überließ. In ihrem Namen und Auftrage gingen ebenso wie unter die Heiden Missionare unter die Juden. Hier zuerst wurde die Mission ein kirchliches Werk.“109 Im Auftrag der Herrnhuter kam Lieberkühn 1737 zu den Juden Böhmens und anschließend nach Amsterdam, wo er den Juden in allem, was ihm sein Gewissen nur irgend erlaubte, ein Jude wurde. 1740 bereiste er England, und auch in den folgenden Jahren, in denen er an verschiedenen Orten als Prediger der Brüdergemeine wirkte, blieb er der Sache der Judenmission und den Juden, die ihn ehrfurchtsvoll „Rabbi Samuel“ zu nennen pflegten, treu verbunden. Als Lieberkühn 1777 starb, betrauerte die Brüdergemeine ihn als denjenigen, der nicht nur durch seine Bemühungen um die Judenmission, sondern auch durch seine katechetischen und dogmatischen Arbeiten wegweisend geworden war.

Tholuck zitierte aus einem Bericht Lieberkühns an die Brüderunität aus dem Jahr 1764 über seine Methode, mit den Juden zu disputieren: „Ich bleibe bei dem Haupt107

Vgl. FI (Anm. 62), 2, 1825, S. 196-201. Vgl. C. Axenfeld, Graf Zinzendorf und Samuel Lieberkühn, Köln 1873; G. Dalman - A. Schulze, Zinzendorf und Lieberkühn, Studien zur Geschichte der Judenmission, Leipzig 1903. 109 le Roi (Anm. 3), Band. 1, S. 364. 108

112 punkt: Jesus der Gekreuzigte ist der Messias... Von diesem Punkt lasse ich mich nicht ablenken, und wenn mich die Juden in eine andere Materie hineinziehen wollen, z. B. von der Dreieinigkeit, so sage ich ihnen, daß man davon nicht eher sprechen könne, als bis es mit dem Glauben an Jesum, als dem Messias, seine Richtigkeit habe... Ich gebe den Juden zu, daß die Verheißungen des alten Testaments, welche von ihrer Erlösung aus der jetzigen Zerstreuung handeln, noch nicht erfüllt sind; daß sie aber zu seiner Zeit in Erfüllung gehen werden... Indem ich ihnen eingeräumt habe, daß sie ihr Gesetz behalten können, wenn sie an Jesum gläubig werden, habe ich vielen Anstoß bei ihnen weggenommen... Jesus hat nirgends gelehrt, daß bei den Juden das Gesetz aufgehoben sey. Hingegen ging dasselbe die Heiden, welche sich zu Jesus bekehrten, nichts an, weil es ihnen nicht gegeben worden war, und also ist es ihnen nicht aufzuerlegen ... Es ist sehr nöthig, daß die Juden einen rechten Begriff von dem Volke Gottes aus den Heiden bekommen, damit das Ärgerniß aufhöre, welches sie insgemein an den Christen nehmen.“110

Lieberkühn führte damit Gedanken aus, die auch Zinzendorf bewegt hatten. Dieser wollte innerhalb der Brüdergemeine eine besondere judenchristliche Gemeinschaft bilden, die missionierend auf die Judenheit einwirken sollte. Allerdings wandte sich Zinzendorf später von dieser Idee ab, als er ihre Undurchführbarkeit und Wirkungslosigkeit erkennen mußte. Die eigentliche theologische Problematik des „Judenchristen“, die auch heute noch keineswegs als bewältigt betrachtet werden sollte, war ihm dabei überhaupt nicht in den Blick gekommen. Möglicherweise aber ist der logenartige Zusammenschluß von Judenchristen, 1770 in Amsterdam, durch Gedankengut Zinzendorfs und Lieberkühns beeinflußt worden111.

Durch einige Artikel versuchte Tholuck auch in die Welt jüdischen Denkens einzuführen. Die Auswahl der Themen wurde weitgehend durch apologetische Interessen bestimmt. Am wichtigsten dürften die „Betrachtungen über das Buch Sohar und Aus-

110

FI (Anm. 62) 2, 1825, S. 197ff. Vgl. auch die etwas andere Textfassung, die le Roi (Anm. 3), Band 1, S. 367f. mitteilt. Zum Problem des „Judenchristentum“ vgl. den entsprechenden Artikel von F. Majer-Leonhard, in: 3 RGG 1, Sp. 972ff. mit Literatur.

111

113 züge daraus“112 sein. Tholuck konnte hier auf das Material zurückgreifen, das er in dem im gleichen Jahr erschienenen Büchlein „Wichtige Stellen des Rabbinischen Buches Sohar, in Text und Übersetzung, nebst einigen Anmerkungen“113 vorgelegt hatte. Dieses fußte auf dem „Specimen theologiae Soharicae“ des G. Chr. Sommer (Gotha 1734), der versucht hatte, die gesamte christliche Lehre aus dem Sohar zu entwickeln. Die Absicht seines Buches und damit auch des Aufsatzes im „Freund Israels“ beschrieb Tholuck folgendermaßen: „Aus diesem wichtigsten Buche (d. i. dem Sohar P. M.) teilen wir hier eine Reihe merkwürdiger Aussprüche mit, die schon früher ein christlicher Lehrer Sommer (Specimen theologiae Soharicae. Gotha 1734) gesammelt hatte. Es sind vorzugsweise solche, welche mit den christlichen Lehren große Übereinstimmung haben. Die evangelischen Glaubensboten unter den Juden werden sie benutzen können, teils um die Israeliten zu überzeugen, daß so vieles, was sie im Christenthun verschmähen, schon von ihren ältesten, für heilig geachteten Lehrern ausgesprochen worden ist...“ So war das Buch als regelrechte Missionsschrift aufgemacht und als solche auch durch die Berliner „Gesellschaft“ mit einem beträchtlichen Druckkostenzuschuß subventioniert worden, so daß es für nur 75 Pfennige verkauft werden konnte. Dieses bedeutete aber fast zwangsläufig, daß Tholuck sich von vornherein jede tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Kabbala, auf das er möglicherweise durch seine Studien über den Sufismus gestoßen war, und dessen Hauptwerk, dem Sohar (= Glanz), so genannt nach Dan. 12,3 „Die Lehrer werden leuchten wie des Himmels Glanz“, versagen mußte. Weshalb er sich denn auch darauf beschränkte, diejenigen Passagen aus dem Sohar erneut zu publizieren, die bereits seit der Reformationszeit dafür herhalten mußten, die christlichen Wahrheiten als auch in der jüdischen Kabbala bekannt auszuweisen114. So übernahm Tholuck aus dieser Tradition denn auch fast alle Irrtümer und Fehlauslegungen, durch die das Verständnis des Sohars wie der kabbalistischen Literatur überhaupt christlicherseits belastet war. Das betraf nicht nur die Frage der Entstehungszeit und Verfasserschaft, sondern vor allem auch die oberflächliche Inanspruchnahme kabbalistischer Spekulationen als Wahrheitsbeweise der christlichen 112

Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 120-128 und 179-183. Berlin 1824, revidierte Neuauflage Berlin 1837 (ed. Biesenthal), 1876 erschien in Leipzig eine 4. Auflage dieser Ausgabe. 114 3 Vgl. A. Wünsche, Art.: Kabbala, in RE 9, S. 688f. 113

114 Lehre. Um dazu nur ein Beispiel namhaft zu machen: In einer Anmerkung auf S. 71 seines Buches über den Sohar bemerkte Tholuck: „Es ist auffallend, daß die heutigen Kinder Israels so sehr die Lehre von der dreifachen Art des göttlichen Seins anfeinden und verwerfen, da doch die älteren Israeliten alle sie so fest glaubten.“ Daß damit der komplizierte Gottesbegriff der Kabbala, der ja letztlich auf eine Zehneinigkeit Gottes hinausläuft, unzulässig simplifiziert wurde, ist unbestreitbar115.

Etwa zur gleichen Zeit hat Tholuck für die Berliner „Gesellschaft" einen „Briefwechsel zweier Rabbinen über das ewige Leben“116 geschrieben, von dem nicht zu ermitteln war, ob er überhaupt gedruckt worden ist. Möglicherweise ist er als anonymer Traktat erschienen. In den „Proben Rabbinischer Weisheit“117 gab Tholuck Auszüge aus dem Talmudtraktat Abot, wozu er bemerkte: „Diese Aussprüche sind großentheils wahrhaft gottesfürchtig, sinnvoll und aus dem Leben gegriffen. Einige haben Aehnlichkeit mit einigen Aussprüchen unseres Herrn.“118 Weiter teilte er „Merkwürdige Aussprüche von Rabbinen über den Messias und sein Werk“119 mit. Die rabbinischen Aussagen aus Tikkune Sohar und den Midraschim Bereschit Raba, Kohelet und Tehillim werden ohne jeden näheren Kommentar aneinander gereiht, auch wird eine sichere Bezugnahme auf Christus nicht behauptet. Ebenso kurz war der Aufsatz „Die Jugendgeschichte Abrahams nach der rabbinischen und muhammedanischen Tradition“120 gehalten, zu dem noch „Die Geschichte Bileams“121 hinzugefügt werden kann.

115

Tholucks Schrift über den Sohar fand trotz oder gerade wegen dieser Schwächen so manchen Nachahmer: vgl. le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 120. Vgl. auch Tholucks spätere Schrift „De ortu Kabbalae, die 1837 in Hamburg als 2. Teil des Programms „De vi quam graeca philosophia in theologiam tum Muhammedanorum tum Judaeorum exercuerit" veröffentlicht wurde, und Anm. 54 unserer Arbeit hierzu. Zur Kabbala und dem Sohar vgl. G. Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt M. 1957, mit Literatur. Scholem hat zusammen mit E. Müller auch eine deutsche Teilübersetzung des Sohar publiziert. 116 Vgl. le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 142f. 117 Vgl. FI (Anm. 62) 2, 1825, S. 155-160. 118 FI (Anm. 62) 2, 1825, S. 155. 119 Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 59-62. 120 Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 176-179. 121 Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 219-234.

115 Im Jahr 1825 veröffentlichte Tholuck schließlich einen Beitrag zu einer aktuellen jüdischen Problematik. Unter dem Titel „Über die neue Synagoge der sogenannten reformierten Juden“122 äußerte er sich zu der Schließung der von Israel Jacobson (1768-1828) 1815 zunächst in seinem Haus, später dann in dem des Bankiers Jakob Beer, des Vaters von Giacomo Meyerbeer, eingerichteten Synagoge. Über dieses Unternehmen schrieb Heinrich Graetz später: „Infolge der Siege der Deutschen über Napoleon und der sogenannten heiligen Allianz war die Kirchlichkeit in Mode gekommen und steckte auch diejenigen Juden damit an, welche früher nicht das geringste Bedürfnis nach Andacht empfanden. Solche Halbbekehrte, aber nicht für das Judentum, sondern für religiöse Empfindelei Eingenommene fanden sich zum Jacobsonschen Gottesdienst ein, um sich zu erbauen und sich Andacht zu verschaffen... Das war der Ursprung einer winzigen Gemeinde in der Gemeinde, die aber durch ihre anfängliche Rührigkeit und das abstoßende Wesen des althergebrachten Gottesdienstes eine Zukunft hatte. Der Mittelpunkt dieses neuen Gottesdienstes war die deutsche Predigt, die Jacobson meistens selbst hielt. Sie übte den meisten Reiz aus, weil die sogenannten ‚gottesdienstlichen Vorträge’ der Rabbiner und der polnischen oder mährischen Wanderprediger nach jeder Seite geschmacklos waren... Plötzlich wurde der Berliner Betsaal von der preußischen Regierung auf Grund der Beschwerden einiger Altfrommen wegen Neuerung geschlossen. Friedrich Wilhelm III. war jeder Neuerung, auch in jüdischen Kreisen abhold und haßte sie als Umsturzversuche.“123

Tholuck wandte sich in seinem Beitrag vor allem gegen den Verdacht, daß die Berliner „Gesellschaft“ etwas mit den königlichen Repressalien zu tun gehabt habe und erklärte: „Die neue Synagoge in Berlin ist seit einem halben Jahr auf Befehl Sr. Majestät geschlossen worden. Die Judenschaft glaubt, daß dazu die Gesellschaft zur Beförderung des Christenthums unter den Juden Veranlassung gegeben habe. Sie 122

Vgl. FI (Anm. 62) 2, 1825, 9.41-53. H. Graetz, Volkstümliche Geschichte der Juden, Band 3, Leipzig o. J., S. 583. Schon Heinrich Heine hatte diese „gute, reinliche Religion, diesen Mosaikgottesdienst mit den orthographischen deutschen Gesängen und gerührten Predigten“ spöttisch apostrophiert. Zu den bekanntesten Predigern an der Reformsynagoge gehörte Leopold Zunz: Vgl. A. Altmann, Zur Frühgeschichte der jüdischen Predigt in Deutschland. Leopold Zunz als Prediger, in: Year Book, Leo Baeck Institute 6, London 1961, S. 3-59 und derselbe, The New Style of Preaching in 19th Century German Jewry, in: derselbe (Ed.). Studies in 19th Century Jewish Intellectual History, Cambridge (Mass.) 1964. S. 65-116.

123

116 sei aber überzeugt, daß durch diese Gesellschaft auch nicht Ein Schritt dafür geschehen ist. So wenig als diese Gesellschaft durch Geld zu locken sucht, so wenig wird sie durch Verordnungen zu zwingen suchen. Jene Schließung der neuen Synagoge ist aus den Grundsätzen hervorgegangen, die S. Majestät überall in Ausübung bringen, wo ein Theil einer vorhandenen Religionsgesellschaft Neuerungen im Cultus vornehmen will.“ Den Gottesdienst der Reformsynagoge sah Tholuck als Ausdruck eines „alttestamentlichen Deismus“ an und schlußfolgerte: „In jeder Rücksicht scheint daher, von christlichem Standpunkt aus betrachtet, die Nicht-Unterdrückung der neuen Synagoge wünschenswerth. Wendet sie sich immer entschiedener zum leeren Deismus, so wird sie das Schicksal treffen, was stets den Deismus traf, und für die geschichtliche Offenbarungsreligion wird ein neuer Triumph erwachsen. Sollten ihre Lehrer immer tiefer ins Alte Testament eindringen, so könnte ein lebendiges und dabei schlackenfreies Judenthum entstehen - welcher Fall freilich am unwahrscheinlichsten ist. Geschieht aber das, was den Fügungen Gottes nach in dieser Zeit das Wahrscheinlichste ist, werden einzelne Gemeindeglieder und Lehrer von dem im Christenthum erwachenden lebendigeren Geiste ergriffen, so erfolgt der Übertritt einer bedeutenden Anzahl in die Kirche Christi, und eine Vorbereitung für die Anderen in großem Umfange.“ Tholuck schloß mit einem Appell an die Glieder der Berliner Reformgemeinde: „Darum denn, ihr Seelen Israels, die ihr Christum kennet aber nicht bekennet, lasset euch bitten und ermahnen, aufzuheben eure Häupter und eure Hände von Stund an und von Grund der Seele zu flehen, daß die Kraft euch verliehen werden möge, die Banden, die euch jetzt binden zu durchbrechen!“ Tatsächlich erlebte das Berliner Judentum jener Zeit eine Taufbewegung, innerhalb derer bis zu über 200 Taufen im Jahr vorkamen. Inwieweit es sich hierbei aber durchweg um ein Ergriffensein „von dem im Christenthum erwachenden lebendigeren Geiste“ gehandelt haben mag, muß vorerst dahingestellt bleiben. Wohl so mancher den traditionellen Formen seiner Religion entfremdete Jude trat nur deshalb zum Christentum über, um mit der Taufe jenes „Entréebillett zur europäischen Kultur“ und einer dieser „Kultur“ gemäßen Form der Religionsausübung zu gewinnen, wie Heinrich Heine in sarkastischer Weise angemerkt hat124. 124

Zur inneren, geistigen Verfassung des Judentums der damaligen Zeit vgl. die Bemerkungen weiter unten.

117 In zwei Aufsätzen hat Tholuck endlich auch versucht, dem Leser umfassendere theologische Fragen nahezubringen. Der erste „Die Offenbarung des Alten Bundes und die des Neuen in ihrem genauen Zusammenhange“125 läuft auf den in der christlichen Literatur seit den Tagen des Neuen Testaments immer neu formulierten Gedanken hinaus: „Es kann zur Überführung der verblendeten Kinder Abrahams nicht mehr dienen, als sie darauf hinweisen, wie sie gerade in der Zeit ihr Heiligthum, ihre Priesterschaft, ihr Opfer verloren, als das Heiligthum des geistlichen Leibes Christi in der Welt erschien, als die Glieder des unsichtbaren Christenstaates allzumal die geistliche Priesterwürde empfangen hatten (1. Petri 2,9.), als das große Opfer für die Sünden der Welt dargebracht worden war.“126 Dieser Gedanke wurde dann durch den Aufsatz „Die Weissagungen Jesu über Jerusalem nebst Beschreibung der Zerstörung der heiligen Stadt“127 spezifiziert, in dem Tholuck weitläufig und nur leicht kommentiert die einschlägigen Passagen aus Josephus ausbreitete. Wichtig für die grundsätzliche Einstellung Tholucks zum theologischen Problem des Judentums ist jedoch die Einleitung: „Das deutlichste Zeichen, daß Gott den alten Bund als Vorbild gegründet, ist gewiß, daß, als das Urbild erscheint, er das Vorbild, welches sich nicht will verwandeln lassen ins Urbild, aus der Mitte thut unter dem Donner seines Grimms. Wichtig muß uns daher die Geschichte des Untergangs dieser heiligen Stadt seyn, weil mit dem Untergang dieser Stadt auch zugleich das Volk, das durch zwei Jahrtausende geleitet worden war von seinem Gott wie ein Adler seine Jungen auf seinen Fittigen trägt, entlassen wird aus der Kindschaft und in die Fremde gestoßen. Wogegen der Segen sich zu einem neuen Geschlechte wendet, zu dem nur ein Theil jenes alten Volkes hinzugethan wird.“128

In einer „Anzeige für die Theilnemer an der Zeitschrift: Der Freund Israels“ vom 10. bzw. 12. Dezember 1825 kündigte Tholuck dann an: „Den Theilnehmern an jener Zeitschrift zeige ich hierdurch an, daß dieselbe vom nächsten Jahre an nicht mehr besonders erscheinen, sondern mit der Zeitschrift: Neueste Nachrichten aus dem Reiche Gottes vereinigt werden wird. Jedes vierte Heft der letztgenannten Zeitschrift 125

Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 1-17 und 99-108. Vgl. FI (Anm. 62) 1, 1824, S. 12. Vgl. FI (Anm. 62) 2, 1825, S. 1-14. 128 FI (Anm. 62) 2, 1825, S. 1. 126 127

118 wird ausschließlich Mittheilungen gewidmet seyn, die sich auf die Vorbereitung der Heilserkenntniß unter den Israeliten beziehen. Es werden demnach jährlich vier Hefte dieser Monatsschrift an die Stelle der vier Hefte des Freundes Israel treten, auch wird jährlich für diejenigen Leser, welche sich diese vier Hefte besonders binden zu lassen wünschen, ein besonderer Titel ausgegeben werden: Der Freund Israels. Der Grund zu dieser Einrichtung liegt darin, daß die Neuesten Nachrichten aus dem Reiche Gottes sich einer viel weiteren Verbreitung erfreuen als der Freund Israels und um deßwillen eher das Interesse an der Sache Israels allgemein machen können, wie auch darin, daß die Versendungen auf diese Weise vereinfacht werden. Überdieß ist der Antheil an der Sache des Evangelii unter den Juden bisher so gering gewesen, daß die Zahl der Theilnehmer an einer diesem Gegenstande besonders gewidmeten Vierteljahresschrift nicht hinreichten, die Kosten völlig zu decken...“129

Der „Freund Israels“ war also bereits nach zwei Jahren schlicht pleite gegangen. Wenn wir ihn trotzdem so ausführlich darzustellen versucht haben, dann geschah das vor allem deshalb, weil gerade an dieser kurzlebigen Zeitschrift der Arbeitsstil und die Einstellung des jüngeren Tholuck zur Judenmission so besonders deutlich zu erkennen sind. Die Gründe für den geringen Erfolg dieser Tholuckschen Zeitschrift sind mannigfaltiger gewesen, als dieses der Herausgeber selbst erkannte und benannte. Ganz gewiß bestand ein Hauptübel von Anfang an darin, daß es in den seit 1817 erscheinenden „Neuesten Nachrichten aus dem Reiche Gottes“ eine Zeitschrift gab, die das Anliegen der Judenmission, eingebettet in die christlichen Missionsbestrebungen ganz allgemein, auf eine Weise förderte, die der mit Arbeit überhäufte junge Berliner Dozent nicht annähernd erreichen konnte. Der besondere Vorzug der „Nachrichten“, der auch dem heutigen Leser sofort auffällt, war deren Aktualität. Im. Vergleich dazu mußte der „Freund Israels“ wie ein häufig eben doch recht flüchtig zusammengestellter Almanach wirken, dessen Material fast durchweg veraltet war oder aus zweiter Hand stammte. Die Berechtigung dieses harten Urteils wird einsehbar, sobald man nur vergleicht, was der 8. und 9. Jahrgang der „Nachrichten“ 1824 und 1825, also gleichzeitig mit dem „Freund Israels“, an Beiträgen veröffentlichte, die die Judenmission betrafen. Wir finden da nicht nur den 15. Jahresbericht der Londo129

Vgl. FI (Anm. 62) 2, 1825, ohne Seitenzählung.

119 ner „Society“ für 1823, sondern auch den 1. Bericht der Berliner „Gesellschaft“. Darüber hinaus berichtete der 8. Jahrgang der „Nachrichten“ noch über die Juden in Palästina und die Tätigkeit der Missionare Moritz und Händes. Der darauf folgende 9. Band der „Nachrichten“ aus dem Jahr 1825 enthielt wiederum mehrere Berichte über die Missionsarbeit von Händes, druckte den 2. Jahresbericht für 1824 der Berliner „Gesellschaft“ und den „Ersten Bericht über die Wirksamkeit des Dresdner Vereines zur Verbreitung wahrer biblischer Erkenntniß unter dem Volk Israel. 1825“ ab und informierte so wiederum wesentlich aktueller und präziser über den gegenwärtigen Stand der Judenmission, als dieses der vergleichbare 2. Jahrgang des „Freundes Israels“ tat.

Darüber hinaus läßt sich feststellen, daß die „Nachrichten“ das neugegründete Publikationsorgan der Berliner „Gesellschaft“ zwar freundlich begrüßten, ihre eigene Informationstätigkeit über die Arbeit der Judenmission deswegen aber keineswegs einschränkten. Es war also nur folgerichtig, daß Tholuck, sobald er sich gezwungen sah, die Erfolglosigkeit seiner eigenen Zeitschrift zu erkennen, diese in den „Nachrichten“ aufgehen lassen wollte. Allerdings ist das in der von ihm angekündigten Weise, daß jedes vierte Heft der monatlich erscheinenden „Nachrichten“ Mitteilungen aus der Judenmission vorbehalten werden sollte, niemals geschehen. Vielmehr setzten die „Nachrichten“ im wesentlichen unverändert ihre Berichterstattung aus der Judenmission fort, bereichert durch die gelegentliche Mitarbeit Tholucks, deren Umfang und Dauer sich jedoch kaum eindeutig feststellen läßt, da die meisten Beiträge, dem Stil jener Zeit entsprechend, ohne Angabe des Verfassers erschienen.

War es also einmal die unüberwindliche Konkurrenz der bei den Missionsfreunden bereits bestens eingeführten „Nachrichten“, die den „Freund Israels“ in seiner Wirksamkeit beeinträchtigte, so war es andererseits aber vor allem der Stil, in dem Tholock seine Herausgeberschaft betrieb. Dieser mußte den Erfolg der Zeitschrift von Anfang an fraglich machen. Auf die mangelnde Aktualität des von Tholuck verwandten Materials wurde bereits hingewiesen. Schwerer aber mußte noch wiegen, daß aus dem „Freund Israels“ wirklich keinerlei abgerundetes Bild der Vorgänge innerhalb der Judenmission in Vergangenheit und Gegenwart gewonnen werden konnte. Viel-

120 mehr bot Tholuck in der Überzahl Beiträge an, die ohne näheren inneren Zusammenhang aneinandergereiht und zudem in der Regel unzureichend kommentiert dem Leser angeboten wurden. Kaum jemals erfährt dieser Einzelheiten über das Leben und Wirken der zitierten Persönlichkeiten130, geschweige denn, daß umgreifendere historische, kirchliche und theologische Zusammenhänge erläutert wurden. Trotz aller dieser Einwände soll le Rois Urteil nicht gänzlich verworfen werden: „Tholucks Blatt war recht lesenswerth gewesen und ein schöner Anfang der Missionszeitschriftenliteratur in Deutschland."131 Dieses Urteil würde an zusätzlichem Gewicht gewinnen, wenn der „Freund Israels“ tatsächlich die erste deutschsprachige Zeitschrift, die sich ausschließlich der Judenmission widmete, gewesen sein sollte132.

Die Berliner „Gesellschaft“ ließ 1836 als Nachfolger des „Freund Israels“ eine Zeitschrift mit dem Titel „Der wahre Israelit oder Mittheilungen für ernst gesinnte Israeliten“ erscheinen, die 1863 durch den „Friedensboten für Israel“ abgelöst wurde. Die 1885 durch H.L. Strack begründete Zeitschrift „Nathanael“ erschien in ihrem ersten Jahrgang noch als Organ der Berliner „Gesellschaft“, bevor sie sich 1886 unabhängig machte und den Untertitel „Zeitschrift für die Arbeit der Evangelischen Kirche an Israel“ annahm.

Wie schnell der Tholucksche „Freund Israels“ in den Kreisen der Judenmission vergessen gewesen sein muß, zeigt die Tatsache, daß die ab 1857 von E. Bernoulli publizierte Zeitschrift des Baseler „Vereins der Freunde Israels“, die auch in einer französischen Ausgabe („Ami d'Israel“) erschien, den gleichen Titel „Der Freund Israels“ tragen konnte.

130

Wir haben dieses in unserer Inhaltsübersicht über den „Freund Israels" nachzuholen versucht, soweit dieses möglich war, ohne den durch das Thema dieser Arbeit gesteckten Rahmen vollständig zu sprengen. 131 le Roi (Anm. 3), Band 2, S. 130. 132 3 Sowohl le Roi (Anm. 3) als auch der sehr gründliche Artikel „Mission unter den Juden", in: RE 13, S. 171 ff., von K. F. Heman geben hierzu keine eindeutige Auskunft.

121 4. „Litterarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt“

Von bleibenderer Wirkung war die Zeitschrift, die Tholuck 1830 unter dem Namen „Litterarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt“ begann und bis zum Jahr 1849 fortführte. Dieser „Anzeiger“ wurde zu einem wichtigen Kampfmittel der Erweckungs- und Vermittlungstheologie gegen den Rationalismus in seinen theologischen Spielarten. Damit war Tholuck die Aufgabe gestellt, eine Zeitschrift zu redigieren, die fast zweimal wöchentlich (80 Nummern pro Jahr und Beilagen) erschien und durch wichtige Beiträge des Herausgebers laufend bereichert wurde133. Sowohl der Geist einer sich wandelnden Zeit — wohl nicht ganz ohne Grund hat der „Anzeiger“ das Jahr 1848 nicht überlebt — und der in ihr herandrängenden neuen Fragestellungen als auch der Beginn von Tholucks umfassenden Studien zur Geschichte des Rationalismus führten dazu, daß der von Anfang an durch diese Aufgabe überlastete Herausgeber das Erscheinen des Anzeigers“ einstellte, ohne seinen Lesern Näheres über die Gründe hierzu mitzuteilen.

Uns muß im Rahmen dieser Untersuchung besonders interessieren, ob und in welchem Umfang Tholuck in dieser unter seiner Leitung stehenden Zeitschrift das Anliegen der Judenmission berücksichtigte. Erst im 8. Jahrgang des „Anzeigers“ von 1837 führte Tholuck eine Rubrik „Jüdische Theologie“ ein, die er durch folgende Vorbemerkungen einleitete: „Es war wohl natürlich, daß die unter uns lebende jüdische Nation auf theologischem Gebiete einen Einfluß jener Gährungen erfuhr, welche auf dem Gebiete der christlichen Theologie stattfinden. Man pflegt die neue Synagoge, die außerhalb Preußens in vielen deutschen Hauptstädten sich erhoben hat und gedeiht, als eine Frucht des Unglaubens, als eine unerfreuliche Copie unseres Rationalismus anzusehen; möglich, daß es diese Ansicht der Sache ist, welche in preußischen Staaten höchsten Orts her diesem Cultus den Zugang verschlossen und zur Aufhebung der in Berlin bereits begonnenen Gottesdienste beigetragen hat. Nun wird sich wohl nicht bezweifeln lassen, daß sehr viele Vertreter dieser neuen Synagoge des positiven Glaubens an eine alttestamentliche Offenbarung ermangeln mögen, 133

Die Aufsätze Tholucks im „Anzeiger“ erschienen später zusammengefaßt in den „Vermischten Schriften größtenteils apologetischen Inhalts“, Hamburg 1839, 2 Bände; 2., gekürzte Auflage in einem Band Hamburg 1867.

122 nichts destoweniger hat doch gewiß ein positives religiöses Interesse der neuen israelitischen Synagoge ihren Ursprung gegeben. Der alte synagogale Gottesdienst konnte Männern nicht mehr genügen, welche die Bildung der Christen theilten und mit dieser Bildung leider auch mehr oder minder den Unglauben an positive Offenbarung. Dennoch hatte seit den Befreiungskriegen die Religion wieder eine solche Bedeutsamkeit in Deutschland gewonnen, daß auch diese Juden dem Einfluß davon nicht fremd bleiben konnten; wollten sie nun doch im Judenthum verharren, was blieb übrig als an eine neue Form des Cultus zu denken. Als einen Beleg dafür, daß ein solches anerkennungswerthes religiöses Interesse diese neue Synagoge hervorgerufen, darf man wohl erwähnen, daß gerade die ältere, unter der Regierung Friedrich des Großen aufgewachsene Schule der jüdischen Aufgeklärten, deren Repräsentant in Berlin der gefeierte Freund Mendelssohns Friedländer134 war, bei der Einrichtung der neuen Synagoge am wenigsten warmen Antheil zeigte.“135 Im gleichen Zusammenhang erklärte Tholuck, daß Franz Delitzsch in Zukunft Judaica im „Anzeiger“ besprechen werde, denn „diese Kämpfe und Bestrebungen innerhalb der Synagoge können nun unter den erwähnten Umständen für den christlichen Theologen weder in wissenschaftlichem, noch in religiösem Betracht gleichgültig seyn“.

Dreierlei scheint an diesen Auslassungen bemerkenswert: Tholuck ließ immerhin sieben Jahre verstreichen, ehe er in dem von ihm allein herausgegebenen „Anzeiger“ überhaupt auf die „Jüdische Theologie“ eingeht. Diese war ihm dann aber offensichtlich auch nur insofern interessant, als sich in ihr der sein eigenes Denken beherrschende Gegensatz von rationalistischer Verwässerung und positiver Offenbarungsgläubigkeit wiederfinden ließ. Schließlich teilte er dann auch mit, daß nicht er selbst, sondern Delitzsch die Besprechung der Judaica übernehmen werde. Dieses ist in der Folgezeit auch nur sehr sporadisch geschehen und dann fast stets mit der Tendenz, die Tholuck in seinen Vorbemerkungen von 1837 vorgezeichnet hatte. Der Hallenser Professor betrachtete die Vorgänge innerhalb des Judentums mit innerer Distanz, aus der heraus sie ihm fast nur noch als Paradigmen für den Kampf innerhalb der eigenen Kirche wichtig waren. So findet sich gleichfalls im „Anzeiger“ von 1837 die 134

Tholuck meint hier David Friedländer (1750-1834), einen der Wortführer der Berliner Emanzipationsbewegung, dessen „Sendschreiben an Propst Teller“ allgemeine Aufmerksamkeit erregt hatte. Litterarischer Anzeiger für christliche Theologie und Wissenschaft überhaupt (= LA) 1837, S. 150f.

135

123 bezeichnende Bemerkung: „Das orthodoxe Judenthum steht dem rechtgläubigen Christenthum näher, als das moderne, in welchem die synagogalen Dogmen überhaupt und namentlich die der eigentlichen Synagoge und wahren Kirche gemeinsamen Glaubenselemente aufgelöst und verflüchtigt sind.“136

1839 wurde in den „Vermischten Anzeigen“ auf die Bekehrungsgeschichte des A. Capadose und M. J. A. Balbaith137 sowie die „Reise des evangelischen Missionar's (für die Juden) Chr. Ferd. Ewald von Tunis nach Tripolis und wieder zurück, im Jahr 1835 etc.“138 hingewiesen. Im „Vorwort des Herausgebers. Zum zehnten Jahrgange“ von 1840 gab Tholock eine ausführliche Schilderung und Wertung der damaligen theologischen Situation, die für ihn ganz wesentlich durch die Namen Schleiermachers, Hegels und Hengstenbergs bestimmt war, und versuchte eine genauere Standortbestimmung des „Anzeigers“ zu umreißen139. Das Problem des Judentums und seiner Mission fand dabei keine Erwähnung. 1844 wurde H.J. Koenen, Geschiedenis der Joden in Nederland, Utrecht 1843, besprochen und in diesem Zusammenhang zur jüdischen Emanzipation Stellung genommen: „Die Judenemanzipationsfrage ist in der heutigen politischen Welt an der Tagesordnung, und ist namentlich durch den Beschluß des Rheinischen Provinziallandtages, den König um die völlige politische Gleichstellung der Juden mit den christlichen Unterthanen zu bitten, für Preußen in gewaltige Anregung gekommen. Den Juden ist es gewiß nicht zu verdenken, daß sie sich über diesen Beschluß freuen; ihre Freude würde nur mehr Grund haben, wenn der Beschluß tiefer in dem Sinne des Volkes wurzelte, als es wirklich der Fall ist, und nicht die Meisten nur deßhalb mit dem Votum der Städte übereinstimmten, weil sie doch keine Männer des Rückschrittes seyn wollen, man ihnen allenthalben in den Zeitschriften vorsagt, daß der Geist der Zeit die Emanzipation der Juden nothwendig fordere. Da bringt denn freilich fast jeder, der auf den Namen eines Gebildeten Anspruch machen will, mit schwerem Herzen seine alte Abneigung gegen die Juden dem Zeitgeiste zum Opfer, und stimmt in die scheinbar allgemeine Meinung ein... Vielmehr kann nur der Geist des Christenthumes zu einem rechten 136

LA (Anm. 135) 1837, S. 160. Vgl. LA (Anm. 135) 1839, S. 103. Vgl. LA (Anm. 135) 1839, S. 119f. 139 Vgl. LA (Anm. 135) 1840, S. 1-11. 137 138

124 Begreifen des Standpunktes des jüdischen Volkes, und somit auch zu einer gerechten Behandlung desselben, die nicht zu einem Unrecht gegen die christliche Bevölkerung wird, leiten und führen...“ Es ist Christus, „welcher allein die wahre Emanzipation Israels gewährt“140. . Das letzte auf die Judenmission bezügliche Buch, das im „Anzeiger“ besprochen wurde, war das von B. St. Steger, Die evangelische Judenmission in ihrer Wichtigkeit und ihrem gesegneten Fortgange, Hof 1847141. Diese Rezension stammt wahrscheinlich von Tholuck selbst, da sie genaue Vertrautheit mit den Verhältnissen an der damaligen Berliner Theologischen Fakultät erkennen läßt: „Vor ungefähr 10 Jahren war die merkwürdige Erscheinung eingetreten, daß die theologische Fakultät in Berlin nicht weniger als vier ehemalige Juden unter ihren Dozenten zählte, Neander, Benary, Philippi, Neumann. Der letztere ging nach Rio de Janeiro als deutscher Prediger, der andere als Professor der Theologie nach Dorpat, und an ihre Stelle sind abermals zwei Proselyten getreten, die Licentiaten Jacobi und ein in kurzem sich habilitierender Docent Rau.“142

5. .“Auslegung des Briefes Pauli an die Römer“

Obwohl sich Tholuck fast sein ganzes Leben lang der Sache der Judenmission mehr oder weniger eng verbunden wußte, hat er niemals den Versuch unternommen, das Unternehmen einer christlichen Mission an Israel zusammenhängend theologisch zu reflektieren. Wenn wir also versuchen wollen, die theologischen Grundlagen dieser Arbeit Tholucks zu erfassen, sind wir darauf angewiesen, verwertbares Material aus unterschiedlichen Äußerungen Tholucks zusammenzutragen. Dabei beschränken wir uns im wesentlichen auf die bis 1824/25 erschienenen Veröffentlichungen, da nur bis zu jenem Zeitpunkt Tholucks Interesse direkt auf die Judenmission fixiert war, und 140

LA (Anm. 135) 1844, S. 566ff. Uns war nur zugänglich: B. St. Steger, Die evangelische Mission unter Heiden und Juden in ihrem gesegneten Wirken übersichtlich zusammengestellt. Neue Ausgabe. Drei Theile in einem Band, Halle 1857. Dort findet sich als Anhang zum III. Teil mit gesonderter Seitenzählung „Die evangelische Judenmission in ihrer Wichtigkeit und in ihrem gesegneten Fortgange“. 142 LA (Anm. 135) 1847, S. 231f. Schon in seiner Festpredigt bei der Jahresfeier der Berliner „Gesellschaft“ 1836 war Tholuck auf den bedeutenden Anteil jüdischer Proselyten an dem Lehrkörper der Berliner Theologischen Fakultät eingegangen. Vgl. NN (Anm. 25) 20, 1836, S. 236. 141

125 konzentrieren unsere Aufmerksamkeit besonders auf Tholucks bedeutsame Römerbriefauslegung.

Die erste Schrift, die unser Interesse verdient, erschien 1821 in Berlin unter dem Titel „Einige apologetische Winke für das Studium des Alten Testaments. Den Theologie Studierenden des jetzigen Decenniums gewidmet von August Tholuck“. Der jugendliche Privatdozent, dessen Dissertation über den Sufismus Schleiermachers Bedenken im Hinblick auf eine theologische Lehrtätigkeit hervorgerufen hatte143, versuchte durch diese schnell hingeschriebene Studie von 51 Seiten auch als Theologe sich einen Namen zu machen. Zudem entsprach er damit der ausdrücklichen Aufforderung des preußischen Kultusministeriums, eine positivere Behandlung des Alten Testaments zu bewirken, als sie bisher durch Schleiermachers generell kritische Einstellung zum Alten Testament oder durch de Wettes historisch-kritische, zugleich aber auch stark auf die Praxis der Kirche orientierte Arbeit am Alten Testament in Berlin üblich gewesen war.

In wenigen Sätzen umriß Tholuck die Situation, die er bei Antritt seiner akademischen Lehrtätigkeit in bezug auf das Alte Testament vorfand, und benannte die Ziele, die er mit seinem eigenen Versuch zu erreichen trachtete : „Es hat sich in den letzten Decennien fast allgemein, wie in der Theologie, so im gemeinen Leben, der Irrtum verbreitet, als sei das Studium des Alten Testaments für den Theologen, und die erbauliche Lesung desselben für den Laien entweder ganz unnütz oder wenig förderlich. - Mit besonderer Rücksicht auf den Theologen wollen wir daher in diesem Schriftchen andeutend entwickeln: 1) wie wichtig das Studium des Alten Testaments wäre, auch wenn es nicht mit dem Neuen Testament zusammenhinge. 2) wie tief und weise die Führungen und Institute der Israeliten eingerichtet waren. 3) wie der neue Bund so ganz auf dem alten ruht, und wie Christus der Kern ist des ganzen Alten Testaments.“144

143

Vgl. den Schriftwechsel der Berliner Fakultät hierüber bei Witte (Anm. 20), Band 1, S. 174ff. A. Tholuck, Einige apologetische Winke für das Studium des Alten Testaments. Den Theologie Studierenden des jetzigen Decenniums gewidmet, Berlin 1821, S. 3.

144

126 Für uns ist der dritte Abschnitt dieser Arbeit von besonderem Interesse, da Tholuck hier näher auf den Zusammenhang von Altem und Neuem Testament zu sprechen kommt. Als Motto steht über diesem Kapitel das Wort Augustins “Non sapit vetus Scriptura, si non Christus in ea intelligatur (Das Alte Testament schmeckt nicht, wenn Christus nicht darin erkannt wird.)“. Die damit aufgestellte These wird durch drei Behauptungen gestützt. Zunächst konstatierte Tholuck, daß die gesamte neutestamentliche „Moral“ auf dem Alten Testament beruht, da bereits dort Demut, Glaube und Liebe in unvergleichlicher Weise als Tugenden gepriesen wurden. Mag man dieser Feststellung noch folgen, so stimmt die nächste bereits recht nachdenklich. Tholuck behauptete nämlich nicht mehr und nicht weniger, als daß alle Lehren der christlichen Kirche bereits im Alten Testament wurzeln. Dabei stieß er allerdings auf die problematische Tatsache, daß verschiedene Anschauungen des Alten Testaments erst in nachexilischer Zeit eindeutig zu belegen sind, wie zum Beispiel die dem eschatologischen Gedankenkreis zugehörigen. Diese Schwierigkeit löste Tholuck schließlich durch die eigentümliche Behauptung einer „hebräischen Geheimlehre“, „welche unter den Weiseren sich in Überlieferung fortpflanzte und nur hie und da durchschimmert in allgemeinen Lehrschriften“145. „Durch göttliche Leitung (scheint) auch das Judentum in so nahe Berührung mit den persischen Lehren gekommen zu sein, daß, was lange im Dunkel geheimnisvoller Fortpflanzung gelehrt wurde, damals ans Licht trat, an den persischen Lehren sich noch aufklärte und vervollständigte und so zur Grundlage diente für die neue Ordnung der Dinge, welche Christus begründete.“146 Eine enge Beziehung zwischen Altem und Neuem Testament sah Tholuck endlich auch durch die Weissagungen geknüpft, bei denen er „solche, die im allgemeinen sich auf die Zeit des Christenthums, des Himmelreichs auf Erden beziehen, und solche, die bloß von der Person des Herrn handeln“, unterschied147.

Die sich hieran anschließenden Bemerkungen zu einer Typologie des Alten Testaments sind in sich nicht immer logisch zwingend und verraten, wie die gesamte Schrift überhaupt, die Eile, mit der Tholuck hier erste Überlegungen zu einer positiven, christlichen Interpretation des Alten Testaments zu formulieren versuchte. 145 146 147

Vgl. Tholuck, Winke (Anm. 144), S. 25ff., bes. S. 33. Tholuck, Winke (Anm. 144), S. 33f. Tholuck, Winke (Anm. 144). S. 34.

127 Trotzdem hat die Arbeit mannigfache Zustimmung erfahren und das wohl weniger um der tatsächlich erzielten Ergebnisse als um der religiösen Grundhaltung willen, die sich in ihr ausdrückte. In späterer Zeit hat Tholuck die hier in Angriff genommene Problematik mehrfach wieder aufgegriffen148, wobei manche Unzulänglichkeiten der ersten Schrift vermieden wurden, ohne daß sich an der grundsätzlichen Einstellung Entscheidendes geändert hätte: Der heilsgeschichtliche Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament sowie die durchgängig christlich-christologische Interpretation des Alten Testaments blieben das durchgehende Anliegen der Auslegungskunst Tholucks, die auf immer neue Weise beide Testamente unlösbar miteinander zu verbinden suchte.

Was dieses für die Arbeit am Neuen Testament zu bedeuten hatte, beweist unter anderem die Interpretation der problembeladenen Kapitel Röm. 9-11, die Tholuck innerhalb seines 1824 erschienenen Römerbriefkommentars149 vorlegte.

Der Römerbriefkommentar Tholucks ist bereits von den Zeitgenossen als „epochemachend“, um das Urteil F.Chr, Bauers150 aufzunehmen, angesehen worden151. Allerdings haftet auch diesem Urteil die fatale Eigentümlichkeit an, daß eigentlich niemals exakt beschrieben wird, worin die Bedeutsamkeit dieses Kommentars zu sehen ist152. Viel genauer sind wir dagegen durch die ätzende Kritik des zeitgenössischen Theologen K.A. Fritzsche über die Unzulänglichkeiten unterrichtet, deren sich Tho-

148

Vgl. A. Tholuck, Das Alte Testament im NeuenTestament. Ueber die Citate des Alten Testaments im Neuen Testament und Ueber den Opfer- und Priesterbegriff im Alten und neuen Testamente, Hamburg 1836 (insgesamt 6 Auflagen bis 1877); derselbe, Die Propheten und ihre Weissagungen. Eine apologetisch-hermeneutische Studie, Gotha 1860. 149 F. A. G. Tholuck, Auslegung des Briefes Pauli an die Römer nebst fortlaufenden Auszügen aus den exegetischen Schriften der Kirchenväter und Reformatoren, Berlin 1824. 150 Vgl. F. Chr. Bauer, Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und sei2 ne Lehre. Ein Beitrag zu einer kritischen Geschichte des Urchristenthums, Band 1, Leipzig 1862 , S. 346 Anm. 3; vgl. auch die 1. Aufl. Stuttgart 1845, S 335. 151 Vgl. die in Anm. 16 dieser Arbeit genannte Literatur. 152 Die bedeutsamen Darstellungen der Entwicklung der Paulus-Forschung von A. Schweitzer, R. Bultmann, W. G, Kümmel u, a. übergehen Tholuck auffallenderweise mit Stillschweigen. H.-J. Kraus, 2 Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 1969 , S. 215, skizziert Tholucks Bedeutung für die Geschichte der Exegese mit den Worten: „Tholuck lehrte die Einheit und Kontinuität der biblischen Aussagen - ohne freilich je ein geschlossenes heilsgeschichtliches System entwickelt zu haben. Der Sachzusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament war ihm über alles bedeutsam."

128 luck vor allem in philologischer Hinsicht bei seiner Auslegung tatsächlich oder auch nur vermeintlich schuldig machte. Ganz gewiß bemerkenswert ist wohl schon die Tatsache, daß Tholucks Kommentar die erste umfassende monographische Behandlung des Römerbriefes in der Neuzeit darstellte. Zwar war durch die Arbeiten J.A. Bengels von 1742 und die J.J. Wettsteins von 1752 bereits die Richtung gewiesen und beträchtliches Material zusammengetragen worden, trotzdem aber blieb es Tholuck vorbehalten, innerhalb nur eines reichlichen halben Jahres ein Kommentarwerk zu schaffen, das vor allem dadurch beeindruckte, daß in ihm das reiche Erbe altkirchlicher und reformatorischer Auslegung voll zur Geltung kam. Besonders durch diesen Rückgriff auf die Tradition der Väterauslegung vermochte Tholuck die theologische Öde der Exegese des vergangenen Jahrhunderts weitgehend zu überwinden, ohne die in diesem Zeitraum erzielten positiven Ergebnisse leichtfertig oder verständnislos zu vernachlässigen. So konnte sich Tholuck durch seinen Römerbriefkommentar als der Mann ausweisen, der in jeder Weise auf der Höhe der theologischen Wissenschaft seiner Zeit stand, die exegetischen Methoden, wenn auch teilweise etwas großzügig behandelnd, beherrschte und zudem und vor allem durch den festen Willen zur Einheit von systematischer und exegetischer Behandlung eines paulinischen Briefes Maßstäbe für die künftige Behandlung des Corpus Paulinum setzte.

Bevor wir jedoch nun auf Tholucks theologische Auseinandersetzung mit der Judenfrage an Hand seiner Auslegung von Röm. 9-11 näher eingehen, ist zuvor noch auf jenen inneren Zwiespalt hinzuweisen, der Tholuck hinsichtlich des Erscheinungsbildes des konkreten Juden erfüllte. Welche Probleme hier letztlich im Hintergrund lauern, hat Tholuck wohl geahnt. Noch in der Schrift „Ueber das Verhältniß der gegenwärtigen Missionsversuche unter den Juden, zu der dereinstigen allgemeinen Bekehrung derselben“ von 1827 bekennt er ganz offen: „Wenn wir es uns selbst gestehen wollen, so liegt auch in den gläubigen Christen noch immer ein so großer Widerwille gegen die Juden, der noch weniger geneigt macht, ihnen zu Hülfe zu eilen.“153 Ähnliches sprach er in der Predigt zum Jahresfest der Berliner „Gesellschaft“ über Joh. 4, 153

NN (Anm. 25) 11, 1827, S. 89. Wie skeptisch die Juden, auch die Judenchristen, in den Kreisen der Berliner Erweckungsbewegung beurteilt wurden, erhellt aus einem Brief des Baron v. Kottwitz an Tholuck vom 19. Juni 1827: „Es ist... meist nur ein äußerliches Treiben, wobey die Juden-Christen, Juden bleiben.“ Vgl. Bonwetsch, Tholucks Anfänge (Anm. 23), S. 32.

129 22 „Das Heil kommt von den Juden“ aus dem Jahr 1836 aus154. Und 1829 gelang es ihm, die Tiefe des Zwiespalts, in der er ebenso wie viele gläubige Christen stand, so zu beschreiben: „Mit Verachtung haben wohl schon manche von Euch das verstoßene Volk angesehen, etliche wohl auch mit Mitleid, denn man braucht nur Mensch zu sein um dabei gerührt zu werden, aber Brüder, Christen, habt ihr wohl schon mit dem Blick des Glaubens (von Tholuck gesperrt gedruckt) auf das verachtete Volk geblickt? Wenn Ihr sie vor Euch stehen sehet, wie sie Moses im Stande der Verwerfung schildert und wie sie bis zum heutigen Tage vor Euern Augen wandeln, zerstreut unter alle Völker von einem Ende der Welt bis ans andere, wie ihre Fußsohlen keine Ruhe haben und ihr Leben schwer geworden ist, mit dem feigen Herzen, daß ein rauschendes Blatt sie jagt, und daß sie ein Spott und ein Sprichwort sind: kann Euer Blick über das Alles hin im Glauben auch die Kindschaft und den Bund und die Verheißung und Christum anschauen, der von ihnen herkommt nach dem Fleisch? Kannst Du jeden einzelnen Israeliten, der vor Dich hintritt, mit dem Glaubensblick anschauen, und dabei all sein Elend und seine Schuld und seine Herzenshärtigkeit vergessen?“155

Im Kommentar zum Römerbrief wird die Kritik am Juden theologisch grundsätzlich so formuliert: „Der Charakter des Heiden, im allgemeinen betrachtet, ist, daß er nicht fragt ob ein Gott sei und zwar ein heiliger. Der Charakter des Juden, daß er es weiß, zittert, aber sich selbst den Muth wiedergiebt. Der Charakter des Christen, daß er es weiß, zittert, aber sich trösten läßt. Der Heide eifert nicht, der Jude eifert, aber mit Unverstand.“156 Wie es hierzu kommen konnte bzw. mußte, entwickelte Tholuck in enger Anlehnung an die Gedankenführung des Paulus in Röm. 9-11. Das Rätsel der Verstockung von Gottes eigenem Bundesvolk löste sich ihm durch den immer wiederkehrenden Gedanken einer „himmlischen Oeconomie“, innerhalb derer sich das von Gott im vorhinein bestimmte Schicksal Israels und der ganzen Welt seinem ewigen Ziel nähert. In der Interpretation von Röm. 10, 5 wird der Weg dieser „himmlischen Oeconomie“ so beschrieben: „Nach dem großen Gesetze göttlicher Weltent154

Vgl. NN (Anm. 25) 20, 1836, S. 227, wo die Juden als ein Volk bezeichnet werden, „zu welchem, wenn wir die natürliche Neigung befragen, auch unter uns (!) keiner so leicht sich hingezogen fühlt“. NN (Anm. 25) 13, 1829, S. 248. 156 Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 401. 155

130 wicklung und Weltregierung sollte ja das innere Reich Christi erst auf jener niederen Entwicklungsstufe (des Alten Testaments, P. M.) im Aeußeren vorgebildet werden. Alles demnach was das Judentum enthält in Rücksicht auf Cultur und Geschichte trägt den Charakter des Leiblichen, Aeußerlichen, und ist eine Weissagung, die zweimal in Erfüllung geht, zuerst in der innern unsichtbaren Gemeinde Christi, dann dereinst in der verherrlichten sichtbaren Gemeinde des Herren. Des Orig.(enes) Auslegungsnorm, nach welcher er in jedem Theile der Schrift das somatikon, psychikon und pneumatikon eines in dem anderen enthalten glaubt, ist demnach vollkommen wahr in Bezug auf das A.T., welches in seiner eigentlichen Geschichte ein somatikon ist mit den Weissagungen auf das psychikon der innern unsichtbaren Gemeinde, in diesen Weissagungen aber zugleich die Vorahnung des pneumatikon enthält, welches auch die unsichtbare Gemeinde Christi nur im dunkeln Spiegel schaut.“157 Dasselbe ist gemeint, wenn Tholuck von der „israelitischen Theocratie“ spricht, die „nur äußerlich vorbildet, was der neue Bund innerlich gewährt“158. In der Auslegung zu Röm. 9, 7 umschreibt er das Verhältnis dieser beiden „Theocratien“ zueinander, das sie miteinander Verbindende ebenso wie das sie grundsätzlich Trennende: „In Bezug auf die äußere Theocratie läugnet P.(aulus) nur, daß sie auf Grund von Anrechten wegen leiblicher Abkunft oder wegen der Werke ertheilt worden, ohne daß er dadurch sonstige in der Weisheit Gottes liegende Beweggründe zu verneinen beabsichtigt. Und was die innere neutestamentliche Theocratie anlangt, so findet in der Ertheilung des Zutritts zu derselben nur eine negative Uebereinstimmung mit der Ertheilung des Zutritts zu der alttestamentlichen statt, nämlich insofern als auch der Eintritt in das Reich Christi nicht auf den Grund leiblicher Geburt oder der Werke erlangt wird. Weil aber das Reich Christi etwas nicht bloß den äußeren Menschen angehendes ist wie die Jüdische äußere Kirche, so findet von Seiten des Positiven aus erwogen der Unterschied statt, daß das Reich Christi nur unter einer Bedingung an die Menschen kommt, unter der, daß sie die Gnade nicht zurückstoßen.“159 Aber nicht nur als äußerlichen, unvollkommenen Vorgänger der späteren vollkommenen neutestamentlichen Theokratie charakterisiert Tholuck die Theokratie des Alten Testaments, zumal durch solche Charakterisierung der innere, heilsgeschichtliche Zu157 158 159

Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 413f. Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 343 zu Röm. 9, 4. Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 356.

131 sammenhang und die geistliche Notwendigkeit der himmlischen Ökonomie kaum recht einsichtig gemacht werden würde. Den eigentlichen „Sinn“ dieser Aufeinanderfolge erblickt er in folgendem, wenn er zu Röm. 11, 17 bemerkt: „Er (Paulus) spricht hier... die erhabene Bestimmung der Israelitischen Thecocratie aus, indem er zeigt, wie das Volk der Juden gleichsam der göttliche Canal ist, der durch das ganze Menschengeschlecht geht, und aus dem alle, die göttliche Erleuchtung genießen wollen, ihr Lebenswasser ableiten müssen. Durch das Christenthum - will P.(aulus) sagen - ist das Judenthum nicht eigentlich aufgehoben; vielmehr war das Judenthum nur die Hülle, welche einst das Christenthum verdeckte.“160

Wohl nicht zuletzt aus dem Gedanken einer Ökonomie des göttlichen Heilsplanes, in der Juden und Christen als geistlich qualifizierte Gruppen unlösbar miteinander verbunden sind, rührt die gelegentlich zu beobachtende Gelassenheit des Auslegers im Blick auf das Geschick des Einzelnen, die z.B. in der Interpretation zu Röm. 9, 17 erkennbar wird: „Es läßt sich kein größerer Kampf denken als der eines unbußfertigen Menschenherzens mit seinem Gott. Gott aber wird Verherrlichung zu Theil, sei der Ausgang des Kampfes zum Segen, sei er zum Verderben. Läßt das stolze Herz sich überwinden, so singt es selbst seinem Überwinder jubelnden Dank; weiß es aber zu widerstreben, so bringen diejenigen Lob, Preis und Anbetung, welche, dem Kampf zusehend, theils die Barmherzigkeit Gottes anbeten lernen, theils die göttliche Allmacht und Allweisheit, nach der er auch aus unüberwundenen Feinden seinem Reiche Triumph zu bereiten versteht.“161 Diese Gelassenheit müßte tief erschrecken, wenn sie von Tholuck konstant durchgehalten worden wäre. Dann würde sich nämlich allen Ernstes die Gefahr abzeichnen, daß der Christ Tholuck, seines eigenen Standes viel zu sehr bewußt, dem Juden wie auch jedem anderen an Christus Nichtglaubenden gegenüber jene Solidarität verlassen könnte, die Paulus in Röm. 11,32 mit den Worten „Gott hat alle beschlossen unter dem Unglauben, auf daß er sich aller erbarme“ in so tiefgehender Weise begründet hat162. Wir werden beobachten 160

Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 449. Ähnlich prägnant z. B. auch S. 342 zu Röm, 9,4, wo von dem „besonderen Platz, den die Juden in der Ökonomie Gottes einnehmen als Canal des göttlichen dem Menschengeschlecht mitgetheilten Lichtes“ gesprochen wird. 161 Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 380f. zu Röm. 9,17. 162 Tatsächlich ist, eigentlich erstaunlicherweise, gerade die Exegese dieses Verses in Tholucks Römerbriefkommentar einigermaßen dürftig ausgefallen!

132 können, daß Tholuck das hier formulierte Axiom modifizierte, sobald er den konkreten Menschen ins Auge faßte.

Dieser Tatbestand wird sofort deutlicher, wenn wir uns Tholucks Äußerungen über das Israel post Christum natum vergegenwärtigen. Generell stand für ihn fest, daß das jüdische Volk in seiner gegenwärtigen Verfassung unter dem göttlichen Strafgericht steht. Dieser Zustand kann aber nicht Ergebnis einer unwandelbaren göttlichen Prädestination zum Verderben genannt werden, sondern muß als ernsthaftes Strafen mit „pädagogischer“ Abzweckung angesehen werden: „Die Strafe ist Liebe; sie ist Liebe über dem Herzen, das dadurch weich wird; sie ist strenge Gerechtigkeit nur über dem Herzen, das nicht weich werden will.“163 Oder anders begründet und formuliert: „So liegt denn also deutlich der Grund, warum Israel nicht in das neue Gottesreich aufgenommen wird, nicht in Gott, sondern Israel selbst habe diese Verwerfung sich beizumessen, weil sie durch eigenes Streben und auf Grund gewisser Ansprüche die Begnadigung erhalten wollen, nicht aber der von Gott nach freiem Entschlusse gestellten Bedingung sich fügen, die vollgültige Genugthuung Christi in kindlichem Glauben anzunehmen.“164 Tholuck folgte damit nicht nur im wesentlichen der Argumentationsweise des Paulus in Röm. 9-11, für den die (zeitweilige) Verwerfung Israels vor allem den dunklen Hintergrund abzugeben hat, vor dem die Erwählung der Christgläubigen nur um so heller aufstrahlt, und seiner eigenen Theorie von einer Ökonomie der Heilsgeschichte, sondern erwies sich gerade in diesem Punkt „von der innerprotestantischen Kontroverse bestimmt“, d.h. „betont antiprädestinianisch“165.

So konnte Tholuck einerseits die Existenz des jüdischen Volkes fast ausschließlich unter dem Aspekt des göttlichen Strafgerichts sehen, z.B. in seiner Predigt von 1839 über Jer. 31,20: „Was sagen jene Tränen, was sagt dieser Wehruf Jesu anders, als daß es eine Strenge göttlicher Gerechtigkeit giebt, die sich über aller Sünde vollziehen muß. Wenn wir sehen, wie so der Herr die grauenvolle Zerstörung der heiligen Stadt und des Tempels als ein Strafgericht dafür ankündigt, daß sie die Zeit ihres Heils nicht erkannt haben, können wir noch einen Augenblick daran zweifeln, daß wir 163 164 165

NN (Anm. 25) 23, 1839, S. 257. Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 351f. Wiefel, Neutestamentliche Arbeit (Anm. 16), S. 10.

133 auch in der Zerstreuung Israels, daß wir in diesem seinen Zustande, wo es ohne Tempel, ohne Opfer, ohne König und Herrn über die Erde hinirrt, ein Strafgericht Gottes anzuerkennen haben?... So ist es denn ein langer und ernster, ein anhaltender Zorn Gottes, der auf dem Volke ruht, das er einst seinen Augapfel, seine Taube, sein trautes Kind genannt hatte.“166 Dann waren es der „Hochmuth“ und „Dünkel“ der Juden, die sich auf die Abrahamskindschaft und die Werke berufen167, oder aber auch die Mitschuld am Tode Jesu168, die solch allgemeines Strafgericht begründen. Andererseits aber ist damit nun nicht alles gesagt, denn die Bundestreue Gottes blieb Tholuck unbezweifelbar. So konnte er praktisch-seelsorgerlich betonen: „Ein ewiger Bund ist es, den der Herr mit Abrahams Samen geschlossen hat, und welchen Israeliten Ihr auch anblickt, er ist ein abgewichenes Bundeskind, über welchem seinem Gott das Herz in Liebe bricht.“169 Und noch grundsätzlicher heißt es: „Hat Gott vor der Welt Grundlegung diesem Volke seine Bestimmung als Bundesvolk gegeben, so läßt es sich nicht denken, daß Gott es jetzt als Volk verwerfen sollte.“170

Die im Bundesgedanken sich anbietende Möglichkeit, jede mechanische Prädestination auszuschließen, wurde von Tholuck nun allerdings nur teilweise realisiert. Unüberhörbar begegnen uns immer wieder Äußerungen, die es als wahrscheinlich erscheinen lassen, daß Tholuck von der Verwerfung der Juden schlechthin überzeugt war. Gottes Bundestreue manifestiert sich nach Tholuck nicht mehr am Ganzen des Volkes Israel, sondern in der Berufung und Erwählung des Einzelnen! So argumentierte er im Zusammenhang von Röm. 11, 4-5, wo Paulus auf 1. Kön. 19,18 „Ich habe mir lassen übrig bleiben siebentausend Mann, die nicht haben ihre Kniee gebeugt vor dem Baal“ eingeht: „So sehr wie dem menschlichen Auge damals die treugebliebenen Gläubigen bemerkbar waren, so wenig kann der einzelne Mensch gegenwärtig bemerken, wie groß die Zahl der aus Israel an Jesum Gläubigen sei.“ Daß es einzelne solcher wahrhaft Glaubenden in Israel gegeben hat und wohl auch gegenwärtig noch gibt, lernte Tholuck bei Paulus: „Die Absichten Gottes sind nicht gänzlich an 166

NN (Anm. 25) 23,1831, S. 258f. So immer wieder im Römerbriefkommentar. Vgl. die Äußerung über das jüdische Volk, „über dem der Zorn Gottes ruht, weil sie Gottes Sohn ans Kreuz geschlagen“! NN (Anm. 25) 13, 1829, S. 244. 169 NN (Anm. 2.5) 23, 1839, S. 260. 170 Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 431. 167 168

134 Israel gescheitert; sind doch aus Israel die ersten Verkündiger des Heils ausgegangen... Es wird demnach hiermit ein unbedingtes Verwerfungsurteil geläugnet. P.(aulus) führt sich selbst an; sein Beispiel hatte um so mehr Gewicht, da er selbst die Verwerfung Israels gelehrt hatte.“171 Hier begegnen wir einer Fortentwicklung des Gedankens von Israel als dem „göttlichen Canal“. Die „israelitische Theocratie“ hat nicht nur äußerlich vorgebildet, was der neue Bund innerlich gewährt, um in Anlehnung an Tholuck zu formulieren, aus ihr ist nicht nur Christus dem Fleische nach hervorgegangen, ihr entstammen auch die ersten Zeugen Christi. Insofern, aber wohl nur insofern wird Gottes Bundestreue dem Israel post Christum natum gegenüber zunächst wirklich offenbar. Tholuck kann hierfür auf das sichere Zeugnis des Neuen Testaments zurückverweisen und in der Festpredigt des Jahres 1836, die das Wort Joh. 4, 22 „Das Heil kommt von den Juden“ auslegt, sagen: „Wenn es gewiß ist, daß es keine Erkenntniß Gottes giebt, so lange der Strom der Andacht sich in so viele Strahle zersplittern muß, als es Kräfte im Himmel und auf Erden giebt, und so lange nicht der Eine Mittelpunkt erkannt ist, von dem alle Menschengeister ausgegangen und in dem sie daher allein auch Ruhe finden können, wenn aber dieser Eine Vater der Geister nirgends angebetet wird, als wo das Wort, das er Jakob gegeben, gepredigt worden, wie mögt ihr es leugnen, daß das Heil der Völker von den Juden gekommen ist? ... Ist nun solches Heil uns gekommen von den Juden, o ihr Gesegneten des Herrn, die ihr vom geistlichen Israel seid, so rufe ich euch zu: Tröstet, tröstet das Volk, über welches der heilige Name genannt war, redet mit Jerusalem freundlich, auf daß ihre Gefangenschaft ein Ende habe, und ihre Missethat vergeben werde!“172 So gewiß Tholuck in der Überzeugung war, daß das Heil, nämlich Christus und seine ersten Zeugen, von den Juden gekommen ist, und damit Gottes Bundestreue ihre Bestätigung erfahren hat, so unsicher war er, wenn er versuchte, die Verheißung der göttlichen Bundestreue allgemeiner zu fassen. Wohl muß vermutet werden, daß einzelne in Israel wahrhaft Glaubende vorhanden sind, aber deren Zahl bleibt im Verborgenen und vermag das gegenwärtige Judentum keineswegs zu qualifizieren. So bleibt selbst für die Zeit des Anfangs der christlichen Verkündigung das Urteil Tholucks kompromißlos hart: „Bei Gott wird durch die gegenwärtige Aus171 172

Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 429. NN (Anm. 25) 20, 1836, S. 230f.

135 schließung der ungläubigen Israeliten ihrer künftigen Wiederaufnahme kein Hinderniß in den Weg gelegt. Sobald sie glauben, können sie sofort wieder in ihre Kindesrechte eintreten. Dies mußte allerdings unwahrscheinlich seyn in jener Zeit, wo es schien als ob ein göttlicher unabwendbarer Fluch auf den Juden ruhte, indem die neue Kirche von Stunde zu Stunde durch die Heiden Zuwachs erhielt, die Juden aber wie blind immer heftiger gegen ihr Heil eiferten, wo überdieß, nach der Weissagung des Herrn, der ganze Umsturz der äußeren Theocratie erfolgen sollte.“173

Da Tholucks Denken in so ausschließlicher Weise um Bekehrung und Glauben als Grundbedingung zur Erlangung des Heils kreiste, konnte er auch das Paulus offenbarte Mysterium, von dem der Apostel in Röm. 11,25ff. spricht, nur innerhalb dieser Kategorien verstehen. Schon seine Erklärung des Begriffes mysterion, die sich Chrysostomos verpflichtet weiß, ist nicht recht scharf: „Es bezeichnet nämlich mysterion in der heiligen Schrift nur seltener das was es in der Kirchensprache bezeichnet, nämlich diejenigen Lehren, welche über die Vernunft sind, so daß sie nur nach einigen ihrer Begriffe aufgefaßt werden können. Gewöhnlich wird es von den christlichen Lehren gebraucht, insofern dieselben, ehe sie geoffenbaret wurden, nicht durch menschlichen Scharfsinn errathen werden konnten... Wo nun eine göttliche Offenbarung kund wird, da werden alle menschlichen Weisheitspläne vernichtet.“ 174 Aber gerade dadurch wurde es Tholuck wohl möglich, den Inhalt des paulinischen Mysteriums als Ziel der himmlischen Ökonomie zu begreifen: „Die himmlische Oeconomie auf Erden ist erst dann vollendet, wenn auch die Juden sich bekehrt haben, diese sind das complementum von Allem, dann folgt die Auferstehung.“175

Bemerkenswerterweise hat Tholuck niemals den Versuch unternommen zu entfalten, was das für den Juden der Gegenwart und Zukunft zu bedeuten hat. Über die Gründe hierfür hat er sich 1827 sehr klar ausgesprochen: „Eine ganze Anzahl gibt es nämlich unter den Christen, welche sich auf jenes Wort des Apostels Paulus Röm. 11,25 berufen und eine übernatürliche Bekehrung des Volkes erwarten. Dergleichen Ansichten finden sich besonders in solchen Gegenden, wo ein größeres Haften an 173 174 175

Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 453 zu Röm. 11,23. Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 457. Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 443f. Tholuck zitiert hier Origenes.

136 dem Buchstaben der Schrift stattfindet, und wo zuweilen eben dadurch eine gewisse Starrheit entsteht, welche die Gesinnung erkaltet, und für das vor Augen liegende blind macht. Besonders in England, herrscht jene Ansicht unter den Christen, und stellt sich von der einen Seite der Judenmission entgegen, sie ist aber auch den deutschen Christen nicht ganz fremd.“176 Röm. 11,25ff. verfolgt nach Tholuck einen ausschließlich pädagogischen, auf die Heidenchristen abzielenden Zweck: „Diese Wahrheit nämlich von der zukünftigen Bekehrung des ganzen Israel diente dazu den Heiden den Wahn zu benehmen, als seien sie jetzt anstatt Israel das Bundesvolk geworden, und könnten auf das ehemalige Volk Gottes wie auf einen von Gott Verfluchten herabsehen.“177 Über diese Einsicht ist Tholuck auch durch die bereits zitierten Erwägungen zur Bundestreue Gottes nicht mehr wesentlich hinausgestoßen. Bekehrung und Glauben sind dem Juden eine stets offen gehaltene Möglichkeit. Die fortwirkende Kraft des mit Israel geschlossenen göttlichen Bundes bewährt sich darin, wie sie sich am Ende der Zeiten in der Heimholung ganz Israels178 bewähren wird. Das endzeitliche Schicksal Israels ist insofern kein „übernatürliches“, als sich in ihm die heilsgeschichtliche „Logik“ der himmlischen Ökonomie erfüllt, innerhalb derer sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einem Ganzen zusammenfügen, dessen Sinnhaftigkeit als göttliche Offenbarung im Glauben erfaßt werden kann. In sehr prägnanter Weise hat Tholuck dieses Ineinandergreifen und aufeinander Zugeordnetsein der einzelnen Phasen der Heilsgeschichte einmal so beschrieben: „Der ganze Inhalt der zweiten Hälfte dieses Cap. war Liebe Gottes, welche zuerst Israel lockte; da es nicht hörte, es mußte fallen lassen, seinen Fall aber zum Reichthum der Heiden machte und so die Heiden ins Reich Gottes einführte; dadurch am Ende der Zeiten die Juden lockt und als Endpunkt der Weltentwicklung auch dieses Volk dem großen geistigen Bruderbunde der unsichtbaren Gemeinde einverleibt.“179

Im Innersten ist sich Tholuck wohl klar darüber gewesen, daß diese fast mechanistische Sicht der Heilsgeschichte die Rätselhaftigkeit des göttlichen Heilsweges nicht angemessen zu beschreiben vermochte. Gegen Ende seiner Auslegung der Israel176

NN (Anm. 25) 11, 1827, S. 89f. Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 457. Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 458 zu Röm. 11,26a: „Pas Israel... bezeichnet die Gesammtheit des Israelitischen Volkes als solches.“ 179 Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 464. 177 178

137 Kapitel des Römerbriefes bekennt er deshalb: „Nur was der uns Unzugängliche durch seine unaussprechliche Erbarmung aus seiner geheimnisvollen Verborgenheit uns selbst kund gethan hat, nur das wissen wir. Und wie reich ist dies! Ein Erbarmen über Alle! Ein Endziel der Entwicklung des verderbten Geschlechts, an welchem seine Erlöseten Ihn sehen wie er ist, und Gott alles in allen seyn wird.“ Oder noch weitgreifender: “Gott ist der Grund von allem, was da ist, denn es ist alles aus ihm geworden. Gott ist das Mittel von allem, was da ist, denn es ist alles aus ihm geworden. Gott ist das Mittel von allem was da ist, denn er leitet alles was da ist zum Ziele. Gott ist das Ende von allem was da ist; denn in ihm ruhen alle Geschöpfe. Aus Gott ist der Mensch geworden; zu Gott muß er zurück, wenn er wahrhaft seyn will; durch Gott muß er zu Gott geführt werden. So ist denn Gottes Erbarmen der Anfang, das Mittel und das Ende!“ 180

180

Tholuck, Römerbrief (Anm. 149), S. 466.

139 Kaddisch für einen fast Vergessenen: Das Leben und Wirken des Nikolaua Heinrich Julius (1783-1862) aus Altona (1988)

Als Heinrich Heine, der jüdische Dichter, der den Taufzettel als „Entréebillet zur europäischen Kultur“ zu benutzen gedacht hatte, sein Gedicht „Gedächtnisfeier” niederschrieb, da war es für ihn schon zur unausweichlichen Einsicht geworden:

„Keine Messe wird man singen, Keinen Kadosch wird man sagen, Nichts gesagt und Nichts gesungen Wird an meinen Sterbetagen.”

Die lästerlich-grellen Phantasmagorien, die sich an diese trüben Aussichten anschließen, verschärfen nur noch den Eindruck von der verzweifelten Situation des zum Christentum konvertierten Juden, der die Religion der Väter aufgegeben hat und in der anderen Religion nicht heimisch geworden ist. Die exemplarische Bedeutung dieses jüdischen Dichterschicksals hat wohl wesentlich dazu beigetragen, das Phänomen der Konversion von Juden zum Christentum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weithin unter negativen Vorzeichen zu akzentuieren. Noch 1927 unterstellte der Leipziger Rabbiner Felix Goldmann (1882-1934), einer der Führer des jüdisch-religiösen Liberalismus in Deutschland und Verfasser des Buchs „Taufjudentum und Antisemitismus” (1914), es als selbstverständlich, daß jüdische Konversionen zum Christentum „dem Ansehen des Judentums ... stets schädlich gewesen” seien, weil alle Charakterfehler der Täuflinge, „also Strebertum, Eigennutz, Rücksichtslosigkeit, Oberflächlichkeit und Zynismus”, dem Judentum zugerechnet worden seien1.

Inwieweit diese Sicht zu Recht besteht, soll hier nicht weiter untersucht werden. Es gäbe wohl auch andere Betrachtungsweisen. Für etwa ein Jahrhundert galt aber ziemlich durchgängig, daß, wer die jüdische Gemeinde verlassen hatte, auch dem 1

F. Goldmann, Art.: Taufjudentum, in: Jüdisches Lexikon 4/2, Berlin 1927 (ND: Königstein/Ts. 1982), Sp. 877-885, bes. Sp. 882f.

140 Judentum nicht mehr zuzurechnen sei – über den sei „nichts gesagt und nichts gesungen”.

Heine hat die zukünftige Entwicklung sehr präzise prognostiziert. Erst angesichts des zur Staatsdoktrin erhobenen rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten unternahm es 1934 Siegmund Kaznelson, die Leistung der „Juden im deutschen Kulturbereich” auf rund tausend Seiten zu bilanzieren, wobei er erklärte: „Das Kriterium, das für die Aufnahme und Auswahl der in diesem Werke genannten Persönlichkeiten als maßgebend galt, war nicht die bloße konfessionelle Zugehörigkeit, sondern die jetzt in Deutschland geltende und gesetzlich festgelegte Rassenangehörigkeit.”2 Welche grauenvollen Entwicklungen diesen Satz ermöglicht haben, ist allgemein bekannt. Der sehr diskret vorgebrachte Appell an Wahrheitsliebe und Gerechtigkeitsgefühl verhallte damals praktisch ungehört. Kaznelsons Buch wurde sogleich nach seinem Erscheinen „im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung” von der Gestapo eingezogen und konnte erst nach dem Ende der Schreckensherrschaft unter ganz anderen Vorzeichen seinen Dienst tun.

Das Problem, was man von den getauften Juden zu halten habe, blieb weiterhin offen. Ja, man ist ihm in aller Regel sorgfältig aus dem Wege gegangen, wofür die schmerzhafte Sensibilisierung auf allen beteiligten Seiten gute Gründe genug bereitstellte. Wenn es nun aber auch zur Geschichte des neuzeitlichen Judentums gehört, daß vor dem Hintergrund der Aufklärung, unter dem Eindruck eines durch das Erlebnis der Freiheitskriege erstarkten Patriotismus und angesichts eines neubelebten Christentums die Konversion zum Christentum für Juden eine Alternative unter anderen auf dem Weg zur Emanzipation wurde, dann wird man diesem Phänomen gegenüber nicht mehr mit Allgemeinplätzen operieren dürfen, sondern wird zunächst einmal den Blick auf typische Einzelschicksale zu richten haben. Der Jubilar, dem diese Gedenkschrift gewidmet ist, hat dieses Verfahren in mustergültiger Weise angewandt, als er anhand des Falles „Baruch Sutro” den „Kampf der preußischen

2

3

S. Kaznelson, Juden im deutschen Kulturbereich. Ein Sammelwerk, Berlin 1962, S. XIII.

141 Juden um ihre Gleichberechtigung” in minutiöser Genauigkeit nachzeichnete3. Erst durch solche Einzeluntersuchungen werden die Bausteine für ein Gesamtbild von dem zusammengetragen, was in oft allzu bequemer Weise unter dem Stichwort „Emanzipation” abgebucht wird.

Wenn ich im folgenden an das Leben und Wirken von Nikolaus Heinrich Julius aus Altona erinnere, dann geschieht das zunächst in der Absicht, für einen fast vergessenen Juden und Christen „Kadosch” zu sagen. Weder das „Jüdische Lexikon” noch das „Philo-Lexikon” noch das „Lexikon des Judentums” von 1971 haben diesem großen Philanthropen und Polyhistor auch nur eine Zeile gewidmet. Dafür hat jedoch Hilde Ottenheimer in ihrem Beitrag „Soziale Arbeit” zu Kaznelsons Sammelwerk von 1934 den Namen Julius rühmend hervorgehoben4. Aber dabei ist der besondere Ansatz dieser Arbeit zu berücksichtigen, wie auch festgestellt werden muß, daß diese eine Würdigung nicht ausgereicht hat, Julius dem Vergessen zu entreißen. So fehlt sein Name erstaunlicherweise auch noch in Arbeiten aus jüngster Zeit, die sich speziell mit der Geschichte und Leistung Hamburger Juden im vorigen Jahrhundert beschäftigen5. Da nimmt es dann auch nicht wunder, wenn Julius auch heute noch in Sammlungen ausgespart bleibt, die das Thema „Juden in Preußen” zu umreißen versuchen6.

Versucht man dann aber auch der Frage nachzugehen, weshalb Julius zumindest in Arbeiten zur Geschichte des Judentums so gründlich vergessen werden konnte, drängt sich die Vermutung auf, das könne damit zu tun haben, daß Julius' Konversion zum Christentum zu jenen geglückten Unternehmungen gezählt werden darf, bei 3

Vgl. B. Brilling, Ein Kapitel aus dem Kampf der preußischen Juden um ihre Gleichberechtigung. Der Fall des Feldmessers und Bauführers Baruch Sutro in Münster (1853), in: Theokratia 2, 1970-1972, Leiden 1973, S. 273-306. 4 Vgl. S. Kaznelson, a. a. O., S. 827f. 5 Vgl. etwa H. Krohn, Die Juden in Hamburg 1800-1850. Ihre soziale, kulturelle und politische Entwicklung während der Emanzipationszeit = Hamburger Studien zur neueren Geschichte 9, Frankfurt/M. 1967; M. Zimmermann, Hamburgischer Patriotismus und deutscher Nationalismus. Die Emanzipation der Juden in Hamburg 1830-I865 = Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 6, Hamburg 1979; P. Freimark (Hrsg.), Juden in Preußen - Juden in Hamburg = Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 10, Hamburg 1983. 6 Vgl. etwa Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz (Hrsg.), Juden in Preußen. Ein Kapitel deutscher Geschichte (Offizieller Katalog der Ausstellung “Juden in Preußen”, Berlin 1981) = Die bibliophilen Taschenbücher 259/260, Dortmund 1981; E. G. Lowenthal, Juden in Preußen. Biographisches Verzeichnis, Berlin 1981.

142 denen der Verdacht auf „Strebertum, Eigennutz, Rücksichtslosigkeit, Oberflächlichkeit und Zynismus” von vornherein nicht aufkommen konnte. Aber gerade das würde diesen Fall ja weiter interessant machen.

Eine auch nur annähernd befriedigende Biographie dieses Mannes fehlt bisher, obwohl wesentliche Bestände seines Nachlasses im Staatsarchiv und der Staats- und Universitätsbibliothek „Carl von Ossietzky” in Hamburg sowie als Depositum in der Deutschen Staatsbibliothek in Ostberlin erhaltengeblieben sind, während „ein recht beträchtlicher Teil nach der kriegsbedingten Auslagerung nicht nach Hamburg zurückgekehrt ist und heute offiziell als verschollen gelten muß”7. Glücklicherweise aber hat Otto Beneke, der Freund und Nachlaßverwalter, die wichtigsten Fakten in einem Artikel der „Allgemeinen Deutschen Biographie” zusammengetragen8, so daß sich unter Zuhilfenahme auch anderer Quellen doch ein recht verläßliches und beeindruckendes Bild vom Leben und Wirken dieser bedeutenden Gestalt gewinnen läßt.

Nikolaus Heinrich Julius wurde am 3. Oktober 1783 als Sohn des wohlhabenden Bankiers und Armeelieferanten Isaak Julius und dessen Ehefrau Esther, geb. Heymann, in Altona geboren9. Bereits 1795 siedelte der Vater nach Hamburg über, weshalb sich Julius stets als „vollbürtiger Hamburger” betrachtet hat. Nach anfänglicher Erziehung durch Hauslehrer bezog er von 1799-1803 das berühmte Gymnasium zum grauen Kloster in Berlin, um dann 1805 in Heidelberg das Studium der Medizin aufzunehmen. Am 11. Februar 1809 erwarb er dann in Würzburg das medizinische Doktorat. Wenig später, nämlich am 22. Mai 1809, trat Julius, „dem Zug seiner inneren Ueberzeugung folgend”10, zum Katholizismus über. Von seinem geis7

Ich danke der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, insbesondere Herrn Dr. R. Burmeister, und dem Staatsarchiv Hamburg, insbesondere Herrn Dr. Ewald, für freundliche Unterstützung bei meinen Nachforschungen über den Verbleib und den Umfang des Julius-Nachlasses. 8 Vgl. O. Beneke, Art.: Julius, Heinrich Nikolaus, in: ADB 14, 1881 (ND: 1969), S. 686-689. 9 Die Angaben von O. Beneke, a. a. O., S. 686, sind vor allem durch die bei H. Schröder, Lexikon der hamburgischen Schriftsteller bis zur Gegenwart. Fortgesetzt von A. Kellighausen, Hamburg 1883, S. 513-517, bes. S. 513, ergänzt und korrigiert worden. Vgl. auch noch M. Grunwald, Hamburgs deutsche Juden bis zur Auflösung der Dreigemeinden 1811, Hamburg 1904, S. 64. 10 O. Beneke, a. a. O., S. 686. - Zu Kontakten zwischen Julius und Heine, der sich von 1815 an immer wieder und oft über Monate hin in Hamburg aufhielt, dort von 1816 bis 1819 eine kaufmännische Lehre absolvierte sowie als Kaufmann wirkte und der erst 1844 letztmalig die Hansestadt besuchte, scheint es nicht gekommen zu sein. Der Name von Julius fehlt auch in der gründlichen Untersuchung von Joseph A. Kruse, Heines Hamburger Zeit, Hamburg 1971.

143 tlichen Führer, dem Lizentiaten Nicolaus Förtsch, erhielt er, der bis dahin den Vornamen Heyman getragen hatte, die Vornamen Heinrich Nikolaus. Bedauerlicherweise ist über die Hintergründe dieser Konversion kaum etwas Verläßliches bekannt. Gewisse Hinweise sprechen für eine nachhaltige Beeinflussung durch Joseph Görres (1776-1848), der seit 1806 in Heidelberg als Privatdozent gewirkt hatte, seine entschiedene Rückwendung zum Katholizismus allerdings erst nach 1819 erleben sollte. Aus Julius' späterem Lebensweg und Wirken läßt sich aber erschließen, daß es insbesondere die mancherlei Erweckungstendenzen innerhalb des Christentums gewesen sind, die auf den Studenten anziehend gewirkt hatten. Daß Julius die katholische Konfession im doch ganz überwiegend lutherischen Hamburg wählte, mag mit der Person seines Seelenführers Förtsch zusammenhängen. Sein Christentum blieb jedoch stets von allen konfessionellen Engigkeiten frei, wie noch zu zeigen sein wird.

Die erste dienstliche Stellung, die der hochbegabte junge Mediziner in Hamburg erhielt, war die eines Distriktsarztes der Hamburger Armenanstalt, die durch das Wirken des Reichsfreiherrn Caspar von Voght in ganz Europa bekannt gemacht worden war. Neben solcher anspruchsvollen dienstlichen Tätigkeit entfaltete Julius eine bemerkenswerte literarische Produktion. So betätigte er sich 1810 als Mitherausgeber des von Friedrich Perthes betreuten „Vaterländischen Museums”, das, nachdem sieben Hefte erschienen waren, wegen seiner deutschen patriotischen Gesinnung von den französischen Besatzungsbehörden verboten wurde und 1971 in Liechtenstein von Kraus nachgedruckt worden ist. Im ersten Heft des „Museums” finden sich „Betrachtungen über Amerika” (S. 288-298) aus der Feder von Julius, mit denen bereits ein Thema angeschlagen wurde, das den Autor lebenslang faszinieren sollte.

Im Kriegsjahr 1813 widmete der patriotisch Gesinnte der Hanseatischen Legion ein „Liederbuch”, das manchen Vers aus seiner eigenen Feder enthielt, und trat als Stabs- und Brigadearzt in den Dienst der Legion. Dabei erwarb sich Julius nicht nur Verdienste um das Feldspitalwesen der Hamburger Truppenverbände, sondern auch um das anderer verbündeter Einheiten. Nach Beendigung der Kriegshandlungen ke-

144 hrte er nach Hamburg zurück, wo er wiederum die Stelle eines Armenarztes und eines Assistenten am Allgemeinen Krankenhaus bekleidete.

Neben seinen umfangreichen dienstlichen Verpflichtungen begann Julius, eine bedeutende Bibliothek zu sammeln, die es ihm gestatten sollte, die seit seiner Heidelberger Zeit gepflegten literarischen Interessen intensiver zu verfolgen. Schon 1815 erschien das Buch „Neue spanische Staatsschriften des Don Joh. Escoiquiz, Beichtvaters, und Don Peter v. Cevallos, Staatsraths Sr. Kathol. Maj. Ferdinands VII. Deutsch herausgegeben und mit einer Einleitung versehen”, das Joseph Görres, dem Lehrer aus der Heidelberger Studentenzeit, gewidmet war. Zwei Jahre später, also 1817, wandte sich Julius dann nördlicheren Regionen zu und veröffentlichte die „Bibliotheca germano glottica, oder Versuch einer Litteratur der Alterthümer, der Sprachen u. Völkerschaften der Reiche germanischen Ursprungs und germanischer Beimischung”. Erst mehrere Jahrzehnte später konnte Julius diese literaturwissenschaftlichen Studien fortführen und George Ticknors, des 1791 in Boston geborenen Harvard-Professors, „Geschichte der schönen Litteratur in Spanien” in zwei seitenstarken Bänden, die durch wertvolle Zusätze des Übersetzers bereichert worden waren, 1852 in Leipzig bei Brockhaus vorlegen.

Diese große zeitliche Lücke erklärt sich zum einen dadurch, daß sich Julius neben seinen literaturgeschichtlichen Untersuchungen auch auf medizinischem Gebiet unermüdlich publizistisch betätigte. Sein zusammen mit G. H. Gerson von 1821-1835 herausgegebenes und mit zahlreichen eigenen Beiträgen angereichertes „Magazin der ausländischen Litteratur der gesammten Heilkunde, und Arbeiten des ärztlichen Vereins in Hamburg” ist wohl in die Medizingeschichte eingegangen. Daneben erteilte Julius einen „Kurzen Unterricht von der Hundswuth” (Hamburg 1821), übersetzte G. Cheymes „Weg zur Gesundheit” aus dem Englischen (Leipzig 1823), gab von 1821-1827 regelmäßige „Nachricht von dem Gesundheitszustande der hamburgischen Kranken- und Versorgungshäuser und der Stadt Hamburg”, lieferte einen „Beitrag zur ältesten Geschichte der hamburgischen Medicinal-Verfassung, nebst ungedruckten Urkunden des 15ten und 16ten Jahrhunderts” (Hamburg 1826) und stellte nach langer Pause schließlich noch die „Zeugnisse Deutscher Irrenärzte für

145 die Nothwendigkeit einer besonderen Irrenanstalt und gegen einen Anbau an das Allgemeine Krankenhaus in Hamburg” (Hamburg 1855) zusammen11.

Die eigentliche Zäsur in Julius' so tatenreicher Biographie fällt in das Jahr 1824. Damals erschien in Berlin der 134 Seiten starke Katalog „Bibliotheca selectissima Bibiliophili Hamburgensis, Libros rarissimos ex antiquitatibus medii aevi linguarum et populorum, praecipue germanicis, scandinavicis, belgicis, gallicis, italicis et hispanicis complectens”, durch den Julius seine wertvolle Bibliothek zum Verkauf anbot, um eine mehrjährige Studienreise durch die europäischen Gefängnisse und Zuchthäuser finanzieren zu können. Julius hatte zu seiner eigentlichen Lebensaufgabe gefunden. Der Arzt und Wissenschaftler wurde zum Helfer der Menschheit und insbesondere der Gefangenen. Die Strafvollzugsreformen des vorigen Jahrhunderts sind ohne ihn überhaupt nicht zu denken, so daß er völlig zu Recht in allen einschlägigen Untersuchungen und Handbüchern zur Geschichte des Gefängniswesens ehrenvoll genannt wird.

Es war Julius, der zuerst auf die Wirksamkeit von Elisabeth Fry in Deutschland aufmerksam machte durch die kleine Broschüre „Die weibliche Fürsorge für Gefangene und Kranke ihres Geschlechtes”, die 1827 in Berlin gedruckt wurde. Auf das Titelblatt ließ der Autor den Hinweis setzen: „Der Ertrag ist zum Besten der in Berlin und Hamburg zu stiftenden Gefängniß-Vereine”. Aus der Enttäuschung über die Unfähigkeit der Staatsbehörde zur Durchführung einer wirklichen Reform des immer noch in mittelalterlichen Zuständen verharrenden Gefängniswesens war die Idee geboren, durch die Organisation von Vereinen, in denen sich wohlmeinende und reputierliche Bürger sammeln sollten, das oft entsetzliche Schicksal der Gefangenen zu mildern.

Die eigentliche Geburtsstunde dieser Reform des preußischen Gefängniswesens im 19. Jahrhundert fällt in das Frühjahr 1827. In Berlin hatten der Generalmajor Karl August von Rudloff (1782-1872), der Baron Hans Ernst von Kottwitz (1757-1843), der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) und der Kriminalrat und Literat Julius 11

Die Liste der medizinischen Veröffentlichungen ließe sich noch vermehren, vgl. H. Schröder, a. a. O., S. 513 ff.

146 Eduard Hitzig (1780-1849) einen „Verein für die Besserung der Strafgefangenen” ins Leben gerufen, der Julius in die preußische Hauptstadt berief, wo er „vor einer glänzenden und zahlreichen Versammlung von Staatsmännern und Menschenfreunden” über seine Erfahrungen in den Gefängnissen Englands und Irlands berichten sollte. Den zwölf Vorlesungen, die Julius damals im Beisein auch des Kronprinzen gehalten hat, war ein solcher Erfolg beschieden, daß sie unmittelbar danach unter dem Titel „Vorlesungen über die Gefängniß-Kunde, oder über die Verbesserung der Gefängnisse und sittliche Besserung der Gefangenen, entlassenen Sträfling usw.” in Berlin im Druck erschienen. Mit der Veröffentlichung dieses Buches wurde Julius zum Begründer der modernen Gefängniswissenschaft, in der die Haftbedingungen, die Erziehung der Straffälligen und deren Wiedereingliederung nach der Haftentlassung seitdem im Vordergrund stehen.

Fortan wirkte Julius unermüdlich für den Fortgang der Gefängnisreform. Als eigentlich amt- und titelloser Privatmann arbeitete er im Auftrag der zuständigen Ministerien zahlreiche Gutachten aus und koordinierte alle Bemühungen um die Gefängnisreform. Besondere Bedeutung erlangten die von ihm in zehn Bänden von 18291833 herausgegebenen „Jahrbücher der Straf- und Besserungs-Anstalten, Erziehungshäuser, Armenfürsorge und anderer Werke der christlichen Liebe”, die zu einem umfassenden Archiv aller diesbezüglichen Bestrebungen wurden und eine sozial-politische und geschichtliche Quellensammlung von hohem Rang darstellen. Ab 1833 richtete Julius sein Interesse dann zunehmend auf die in den Vereinigten Staaten von Nordamerika eingeleiteten Gefängnisreformen, die er zunächst durch die 1833 in Berlin erschienene Übersetzung von „G. v. Beaumont und A. v. Tocqueville Amerika's Besserungs-System und dessen Anwendung auf Europa” popularisierte.

1834 konnte Julius endlich auf einer ausgedehnten Studienreise – die Unterstützung durch die „Regierung meiner Vaterstadt Hamburg” hat er später dankbar anerkannt – durch Nordamerika die dortigen Gefängnisverhältnisse aus eigener Anschauung kennenlernen. Als prominentem europäischen Sachkenner öffneten sich ihm dort die Türen der Gefängnisse ebenso wie die der Behörden und Salons, so daß er nach

147 seiner Rückkehr, die ihn über Frankreich und Belgien nach Hamburg zurückführte, über das von ihm Gesehene einen umfangreichen und epochemachenden Bericht vorlegen konnte, der in zwei dicken Bänden unter dem Titel „Nordamerika's sittliche Zustände. Nach eigenen Anschauungen in den Jahren 1834, 1835 und 1836” in Leipzig 1839 erschien. Gewidmet war das Buch den „Freunden und Gönnern” Karl Godeffroy, Karl Sieveking und Caspar von Voght, also den Männern, die das Hamburger Armenwesen so vorbildlich gemacht hatten. Im ersten Band schilderte Julius sehr lebendig „Boden und Geschichte. Religiöses. Erziehung und Unterricht. Armuth und Mildthätigkeit. Volk und Gesellschaft”, so wie er es erlebt hatte. Der zweite Band unter dem knappen Untertitel „Verbrechen und Strafen” war dem amerikanischen Gefängniswesen und den dort unter quäkerischem Einfluß veranstalteten Reformen gewidmet. Julius war durch diese Reise und das Buch darüber endgültig zur internationalen Koryphäe auf dem Gebiet der Gefängnisreform geworden.

Noch während seines amerikanischen Aufenthalts erschienen 1835 in Philadelphia seine „Remarks on the relation between education and crime”, die Julius als „corresponding member of the Philadelphia Society for alleviating the miseries of the public prisons” auswiesen. „Auf Befehl der Gesetzgebenden Versammlung von Massachusetts” wurde ebenfalls 1835 in Boston Julius' „Outline of the Prussian System of education” gedruckt. Eine kleine Studie „Die amerikanischen Besserungssysteme” (Leipzig 1837) wurde noch im gleichen Jahr ins Holländische und ins Französische übersetzt. Über „Schleswig-Holsteins künftiges Strafsystem” handelte eine Broschüre, die 1840 in Altona herauskam, und 1841 gab Julius die Abhandlung des schwedischnorwegischen Kronprinzen Oskar (1799-1859), der 1844 den Thron besteigen sollte, „Über Strafe und Straf-Anstalten” in Leipzig heraus.

Nach seiner Amerika-Reise hatte sich Julius nach Hamburg zurückgezogen, wo er die Gastfreundschaft des Syndikus Sieveking und dessen Hammer Park genoß. 1840 berief ihn König Friedrich Wilhelm IV. jedoch erneut nach Berlin, wo er wiederum als eine eigentümlich freischwebende Erscheinung, also ohne feste Einbindung in ein Ministerium, zu wirken suchte. Das hat seinen Bemühungen letztlich ernsthaft geschadet, fand er doch so nicht die Beachtung bei der Bürokratie, auf die er An-

148 spruch erheben durfte. 1848, als die Zahl der Angestellten des königlichen Kabinetts drastisch reduziert wurde, gehörte Julius deshalb zu denjenigen, die schlicht entlassen wurden – „lediglich mit dankender Anerkennung seiner bisherigen Wirksamkeit”12.

Die letzten Lebensjahre verbrachte Julius wiederum in Hamburg. Vielfach und von allen Seiten in Gefängnisfragen um Rat angegangen, mußte er das Zusammenschmelzen seines einst beträchtlichen Vermögens erleben und war 1850 schließlich sogar gezwungen, seine wiederum auf einen bedeutenden Umfang angewachsene Bibliothek öffentlich versteigern zu lassen. Der 182 Seiten starke und 5770 Nummern umfassende Katalog dieser Versteigerung ließ in seinem Titel noch einmal die weitgespannten Interessen dieses Menschenfreundes, Gelehrten und Bibliophilen erkennen: „Eine während vierzig Jahren in Europa und Amerika zusammengebrachte Bibliothek, welche viele seltene Werke, insbesondere über die Alterthümer und die Litteraturen der Spanier, Italiener, Franzosen, der Briten und der Urbewohner Amerika's enthält, so wie aus den Gebieten der Heilkunde, der Armenfürsorge und Wohlthätigkeits-Anstalten, der Schulen, der Gefängnißkunde und verschiedenen Zweige der Statistik”13.

Nikolaus Heinrich Julius ist am 20. August 1862 in wieder gesicherten Verhältnissen, aber doch sehr einsam, gestorben. Sein Biograph hat mit Recht auf die bemerkenswerte, aber nicht verwunderliche Tatsache aufmerksam gemacht, daß Julius nie „einen fürstlichen Orden oder Titel” empfangen habe. Dafür fanden sich jedoch in seinem Nachlaß die Ehrendiplome und Mitgliedsurkunden von 24 wissenschaftlichen Gesellschaften, darunter die der Académie française, der der Verstorbene bereits seit 1834 angehört hatte. In dem Nekrolog der „Süddeutschen Zeitung” vom 20. November 1864 hieß es zusammenfassend: „Julius war einer der edelsten, reinsten, uneigennützigsten, aufopferndsten Charaktere, mit warmer Liebe der ganzen Menschheit, mit treuer Anhänglichkeit den einzelnen Freunden zugethan, ein eifrig

12

O. Beneke, a. a. O., S. 688. Vgl. auch F. L. Hoffmann, Zur Erinnerung an Nic. Heinr. Julius als Bücherfreund und litterarhistorisch-bibliographischer Schriftsteller, Hamburg 1864.

13

149 gläubiger katholischer Christ, dabei aber voll unendlicher Milde gegen alle und jede Person, gegen jeden ihm nicht geradezu verwerflich dünkenden Standpunkt.”14

Wenn Julius hier als „ein eifrig gläubiger katholischer Christ” apostrophiert wurde, so war das unbestreitbar richtig. Das zeigt sich vielleicht am schönsten in seiner Übersetzung des Buches von Antoine Frederic Ozanam ”Les Poètes franciscains en Italie au treizième siècle”, die er 1853 in der Theissingschen Buchhandlung in Münster unter dem Titel „Italiens Franziskaner-Dichter im dreizehnten Jahrhundert”, wiederum vermehrt durch eigene „Zusätze”, erscheinen ließ. Das Werk ist dem „Angedenken an den hochwürdigsten Vater in Christo, Seine Eminenz den Cardinal Melchior Freiherrn von Diepenbrock, Fürstbischof von Breslau” gewidmet. Der 1798 in Bocholt geborene und 1853 gestorbene westfälische Adelige, ein Freund und Schüler Johann Michael Sailers (1751-1832), war 1845 zum Fürstbischof von Breslau erhoben und 1850 mit dem Kardinalspurpur ausgezeichnet worden, womit seine Verdienste in den Auseinandersetzungen mit der von dem schlesischen Priester Johannes Ronge inspirierten deutschkatholischen Bewegung seitens der römischen Kurie unterstrichen wurden. Julius nimmt in seinem Vorwort auf den „drohenden Abfall” von Rom, der in der „ausgedehnten sturmbewegten Kirchenprovinz an Deutschlands östlichster Mark” drohte, ausdrücklich Bezug und beklagt den Tod des „erst 55 Lebensjahre zählenden großen Verstorbenen”, der dem Buch Ozanams einst einen „fähigen Übersetzer” gewünscht hatte. Nun sind solche Widmungen oft ein eigenes Ding und kaschieren mehr, als sie an wirklicher Überzeugung verraten. Die Übersetzung des französischen Textes aber und noch mehr die der italienischen bzw. lateinischen Dichtungen des Franz von Assisi, des Bonaventura und vor allem des „Stabat mater” des Giacopone da Todi geben eine lebendige Vorstellung davon, wie sehr sich der Konvertit in seiner Kirche zu Hause fühlte.

Dieser literarische Eindruck wird durch den Bericht über Julius' Sterben und sein Testament verstärkt, den O. Beneke überliefert hat. Der fast Erblindete, so heißt es da, „erhob sich in gläubigen Vorausblicken auf das nahe Jenseits, in welches abberufen zu werden sein von wahrhaft frommer Religiosität getragener aufrichtiger Wunsch 14

Zitiert nach O. Beneke, a. a. O., S. 686.

150 war”. Den wenigen Freunden, die ihn noch besuchten, konnte er dann wohl erklären: „Ich sitze hier und warte auf meinen letzten Freund.”15 Den größten Teil seines wieder angewachsenen Vermögens hat Julius der katholischen Gemeinde Hamburgs vermacht und damit die Auflage verbunden, es solle von diesem Legat ein Seelsorger besoldet werden, der die in der Diaspora um Hamburg lebenden Katholiken betreut.

So fest Julius mit seiner Kirche verbunden war, so sehr ging ihm jedoch jedes konfessionelle Eifern ab. Ganz im Gegenteil fällt auf, wie weitherzig er dachte, wenn es um religiöse Angelegenheiten ging. Konvertiten neigen ja entweder zu fanatischem Verfechten des neugewonnenen Glaubensstandpunkts oder aber zu einer tiefgegründeten Toleranz, die aus eigenster Erfahrung etwas davon weiß, daß die Wahrheit in vielfältigen Formen gebunden zu sein pflegt. Julius war ein exemplarisches Beispiel für die Verwirklichung dieser letzteren Existenzweise. Das dürfte auch damit zusammenhängen, daß er gerade in Hamburg protestantische Persönlichkeiten erlebte, die auf den Feldern des Armenwesens und der Gefängnisreform mutige Schritte in die Zukunft wagten. Zugleich war Julius aber auch ein Mensch, der von dem, was man die „Erweckung” genannt hat, tief innerlich berührt worden war. Im ersten Band seines Amerika-Buchs hat er sehr nüchtern sein Bild von diesem Phänomen definiert: „Erweckungen im allgemeinen Sinne des Wortes, wie es jetzt gebraucht wird, wollen sagen, daß eine Kirche in einem beschränkten und vergleichsweise kurzen Zeitraume in ihrem Frömmigkeitsgefühle beträchtlich erneut wird, und großen Zuwachs aus den glaubenslosen oder nicht werkthätigen Christen erhält. Ihnen geht gewöhnlich unter den Gläubigen ein Zustand der Muthlosigkeit voran, während gleichzeitig Unglaube und Sünde in der Nachbarschaft zugenommen haben. Einige wenige Christen, die sich besserer Tage entsinnen, auch vielleicht der Prediger, reden hierüber. Sie beschließen, gemeinschaftlich durch Gebet eine Aenderung zu erflehen, einer wirkt auf den andern ein, es werden noch andre Mittel

15

O. Beneke, a. a. O., S. 688 f.

151 angewendet, und so entsteht die sich immer verbreitende und Andre in ihren Bereich ziehende Erweckung.”16

Julius hat die Verbindungen zu den „einigen wenigen Christen, die sich besserer Tage entsinnen”, über alle Konfessionsgrenzen hinweg gesucht und lebenslang gehalten. Johann Michael Sailer hat er deshalb verehrt, besonders feste Beziehungen verbanden ihn aber auch mit allen denen, die innerhalb der evangelischen Kirche als Erweckte die Augen nicht vor den sozialen Nöten der Zeit verschlossen. In dem Gründungskomitee des Berliner „Vereins für die Besserung der Strafgefangenen” von 1827 waren maßgebliche Vertreter der evangelischen Erweckungsbewegung, allen voran der schlesische Baron Hans Ernst von Kottwitz, die vorwärtstreibenden Kräfte. Der Besserungsgedanke, den der pädagogische Optimismus der Aufklärung hervorgebracht hatte, wurde hier christlich aufgefüllt. Wie jedem Christen, so galt besonders dem Strafgefangenen das Wort aus Eph. 5,14: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten.” Julius selber war der festen Überzeugung, daß die Gefängnisreform betrieben werden müsse als Werk „der Hoffnung, der Liebe und des Glaubens an Den, der alle Leidenden und Kummerbeladenen an sich gezogen und ihnen Trost verheißen, und der die letzten Augenblicke seines irdischen Daseyns, der Besserung und Bekehrung eines Verbrechers gewidmet hat”17.

Der bedeutendste „Schüler”, den Julius gehabt hat, ist Johann Hinrich Wichern (1808–1881) gewesen, der in seiner epochemachenden Denkschrift von 1848/49 über die Innere Mission ausdrücklich auf die Pionierrolle von Julius hingewiesen hat18. Durch ihn hatte Wichern das Moabiter Zellengefängnis als Beispiel eines zeitgerechten Strafvollzugs kennengelernt, und ohne Julius' Vorbild wäre die von Wichern mit allem Nachdruck auf dem Wittenberger Kirchentag von 1848 erhobene Forderung vielleicht nicht zu der Konkretion gelangt, mit der sie dann vorgetragen wurde: „Es tut eines not, daß die evangelische Kirche in ihrer Gesamtheit anerkenne: ‘Die Arbeit der innern Mission ist mein!’, daß sie ein großes Siegel auf die Summe 16 17 18

N.H. Julius, Amerika's sittliche Zustände I, S. 156. N.H. Julius, Vorlesungen, S. CLXVIII. Vgl. J. H. Wichern, Sämtliche Werke I, hrsg. von P. Meinhold, Berlin–Hamburg 1962, S. 206f.

152 dieser Arbeit setze: die Liebe gehört mir wie der Glaube. Die rettende Liebe muß ihr das große Werkzeug, womit sie die Tatsache des Glaubens erweiset, werden. Diese Liebe muß in der Kirche als die helle Gottesfackel flammen, die kund macht, daß Christus eine Gestalt in seinem Volk gewonnen hat.”19

Julius hat sich dieser Arbeit Wicherns tief verbunden gewußt. In seinem Testament hat er das Rauhe Haus, Wicherns Hamburger Anstaltsgründung, mit einem Legat bedacht. Wie wenig er sich an konfessionelle Grenzen gebunden wußte, zeigt auch die Errichtung einer Stiftung zum Nutzen alter evangelischer Dienstmädchen, die den Namen seiner einzigen Schwester trug. Diese war evangelisch gewesen und bis zu ihrem Tod 1861 vielfach als zumeist ungenannte Verfasserin und Übersetzerin christlicher Schriften hervorgetreten. So stand Julius bei aller Treue zu der Kirche, der er aus eigenem Entschluß zugehörte, doch allen Strömungen des christlichen Lebens seiner Zeit in tatsächlich ökumenischer Offenheit gegenüber, was beweist, wie tief er sich, trotz aller Zurückhaltung bei öffentlichen Äußerungen darüber, der Erweckung verbunden fühlte.

So weit bisher festzustellen war, ist Julius nach seiner Konversion zumindest öffentlich niemals wieder auf seine jüdische Herkunft eingegangen. Möglicherweise könnte jedoch die Aufarbeitung seiner Korrespondenz im Hamburger Nachlaß hier das Bild noch geringfügig modifizieren, aber sehr wahrscheinlich ist das nicht. Der Übertritt zum Christentum war für ihn ein endgültiger Schritt, der die Lösung vom Judentum als selbstverständliche Konsequenz zur Folge hatte. Vor dem Hintergrund der Zeitverhältnisse war das nicht ohne Logik. Jude war, wer der jüdischen Glaubensgemeinschaft angehörte. Wurde diese verlassen, so ging damit auch das Judentum verloren. Eine rassische Dauerhaftung, die auf keine Weise aufzuheben sei, kannte man nicht. Die jüdische Gemeinde betrauerte den Verlust eines ihrer Glaubensbrüder, und unter Christen wurde über die jüdische Abstammung des Konvertiten nur unter dem Gesichtspunkt der Dankbarkeit dafür gesprochen, daß hier wieder einer aus dem Volk Israel zu Christus und seinem Evangelium gefunden 19

Ebd., S. 165.

153 habe. Diese Betrachtungsweise ermöglichte einen Weg jüdischer Emanzipation, der zugleich die völlige Assimilation bedeuten mußte. Gangbar war dieser Weg in einer menschlich erträglichen Weise nur für solche, die tatsächlich aus innerster Überzeugung diese Richtung einschlugen. Daß so etwas aber möglich war und welche menschliche Energien dann freigesetzt werden konnten, sollte mit dem eindrucksvollen Exempel des Lebens und Wirkens von Nikolaus Heinrich Julius in Erinnerung gerufen werden. Der Hamburger Arzt und Gefängnisreformer war aber keineswegs ein Einzelfall, wie die Beispiele von Julius Eduard Hitzig, den Heine deswegen in einer bösartigen Satire seines „Jehuda ben Halevy” (IV) als „frommen Pietisten” verhöhnte, oder von August Neander (1789-1850), der in der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung des vorigen Jahrhunderts eine eigentümliche Geltung erlangte, belegen können.

Wer über solche „geglückten” Konversionen vom Judentum zum Christentum unter dem Eindruck des nationalen, religiösen und sozialen Aufbruchs in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts berichtet, wird zugleich aber auch darauf hinweisen müssen, daß es sich hierbei um Ausnahmefälle gehandelt hat. Der übliche Weg jüdischer Emanzipation im 19. Jahrhundert war mühevoller und in vielen Fällen auch schmerzlicher. Der von Bernhard Brilling geschilderte Fall der Baruch Sutro in Münster illustriert an einem Einzelschicksal die Mühen der jüdischen Emanzipation und den hinhaltenden Widerstand, der gegen solche Bestrebungen geleistet wurde. Das eingangs in Erinnerung gerufene Dilemma, in das sich Heinrich Heine durch seine Taufe gedrängt sah, steht für die Schmerzen, die eine Emanzipation durch Verlassen der jüdischen Glaubensgemeinschaft ohne wirklich tief gegründete Überzeugung mit sich bringen konnte und mußte. Da wurde die schauerliche Vision des Dichters, daß man keine Messe singen und keinen Kaddisch sagen werde und nichts gesagt und nichts gesungen werde, nur zu schreckliche Wirklichkeit.

Das deutsche Judentum hat alles in allem nur rund hundert Jahre Zeit gehabt, sich zu emanzipieren. Dann verschlang der Holocaust es bis auf verschwindende Reste. Und da spielte es keine Rolle mehr, ob die Opfer der Religion ihrer Väter angehörten oder zum Christentum übergetreten waren, ob sie sich assimiliert hatten oder Zionis-

154 ten waren. In einer der tiefsinnigen Geschichten aus dem Umkreis des Baal Schem heißt es, daß zum Schluß nur noch bleibt, „die Geschichte davon zu erzählen”, was einst gewesen war. Im Kaddisch verbinden sich der Preis des erhabenen göttlichen Namens, die Bitte um Frieden für ganz Israel und das fromme Gedenken an die uns Vorausgegangenen zu einem Gebet, das auf Grundlagen des Lebens überhaupt aufmerksam macht. In diesem Sinn darf vielleicht auch der Versuch gewagt werden, für eine Persönlichkeit wie Nikolaus Heinrich Julius, in der die Nächstenliebe aus jüdischem Erbe und erwecktem Christentum unverwechselbare Gestalt gewann, Kaddisch zu sagen.

Spätantike und mittelalterliche jüdische Kunst

157 Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien und das spätantike rabbinische Judentum (1973)

In dem zwischen 203 und 211 wahrscheinlich im kappadozischen Caesarea geschriebenen „Paidagogos” kommt Clemens von Alexandrien u.a. auf den Siegelring zu sprechen, der ein unentbehrliches Requisit des spätantiken Alltagslebens war1. Das Problem, das er in diesem Zusammenhang sieht, ist nicht der Siegelring an sich, denn daß dieser unbedingt notwendig sei, sagt er ausdrücklich Paid. III. 11. 57 - sondern vielmehr das Bild des Siegelsteins auf dem Ring, das üblicherweise allerlei mythologische Figuren, Waffen oder gar Obzönitäten zeigte. Alle diese Siegelbilder verboten sich für den Christen von selbst. Clemens macht deshalb in Paid. III. 11. 59 eigene Vorschläge für die Siegelbilder auf der Hand des Christen: „Unsere Siegelbilder aber sollen sein eine Taube oder ein Fisch oder ein Schiff mit geschwellten Segeln oder eine Leier, das Musikinstrument, das Polykrates auf seinem Siegelring hatte, oder ein Schiffsanker, wie ihn Seleukos auf sein Siegel einschneiden ließ; und wenn einer ein Fischer ist,wird er an den Apostel denken und an die aus dem Wasser (der Taufe) emporgezogenen Kinder.”2

Th. Klauser hat aus diesen Sätzen des Clemens drei „Folgerungen” gezogen: (A) „Bilder, Personen und Vorgänge aus der christlichen Heilsgeschichte hat es in den Tagen und in der Umwelt des Clemens noch nicht gegeben. Ja, es gab nicht einmal Bildtypen mit einem ein für allemal feststehenden christlichen Symbolwert.” (B) Da es in den Tagen des Clemens eine Produktion von Bildern mit einem für alle unmittelbar ersichtlichen oder von ihnen allgemein anerkannten christlichen Gehalt noch nicht gab, gab es damals auch noch keine christliche Kunst.” (C) „In den kirchlichen Kreisen um Clemens scheut man vor der Zulassung menschlicher Figuren noch zurück;

1

Zur Bedeutung des Siegelrings in der Spätantike vgl. DÖLGER, F. J.: Sphragis. Paderborn 1911. S. 7-14 und PW 2. Reihe 2.2. Sp. 2361-2448. Art.: Signum (Wenger). Übersetzung nach STÄHLIN, 0.: Des Clemens von Alexandrien ausgewählte Schriften aus dem Griechischen übersetzt. Bd. 2. München 1934. S. 188 (= BKV 2. Reihe. Bd. 8). Die Übersetzung des letzten Satzes ist unsicher: vgl. EIZENHÖFER, L.: Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien und die älteste christliche Literatur. JbAC 3 (1960) S. 51-69, bes. S. 51f.; ders.: Zum Satz des Clemens von Alexandrien über das Siegelbild des Fischers. JbAC 6 (1963) S. 173f.; ALTENDORF, H.-D.: Die. Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien. ZNW 58 (1967) S. 129-138, bes. 5.129-134.

2

158 denn Clemens kennt als mögliche Siegelbilder nur Tiere und leblose Dinge, keine menschlichen Personen.”3 Diesen „Folgerungen” Klausers ist mit gewissen Einschränjungen zuzustimmen. Klauser hat später die wichtige Frage zu beantworten gesucht, woher Clemens die Anregungen zu seinen Siegelbildvorschlägen gehabt haben könne, und dabei auf jüdische Vorlagen verwiesen. Er beschäftigt sich hierbei im besonderen mit Münzen aus dem phrygischen Apameia, die in der ersten Hälfte des 3. Jh. im Umlauf waren, und mit einem ovalen Lignit aus der Sammlung Newell als gesicherten jüdischen Kleindenkmälern4. Die Ableitung der frühchristlichen Siegelbilder von jüdischen Vorlagen, wie sie Klauser vornehmen möchte, leidet an der Unsicherheit des von ihm herangezogenen Materials. Sowohl für die Münzen aus Apameia als auch für den Lignit der Sammlung Newell ist die jüdische Urheberschaft keineswegs als gesichert zu betrachten5, so daß, vorausgesetzt Klausers Ableitung sei grundsätzlich richtig, nach eindeutigeren Beweisen für die Verwendung jüdischer Vorlagen bei Clemens und den frühchristlichen Gemeinden allgemein gefragt werden muß. Immerhin gebrauch ja das Alte Testament den Beriff „Siegel” dreimal (Hi. 38, 14; Hhld. 8, 6; Ez. 28, 12) und den des „Siegelringes” zweimal (Jer. 22, 24; Hag. 2, 23) in bildlichen Wendungen, wobei mit Ausnahme von Hhld. 8, 6 stets Gott der Redende ist. Gerade Hhld. 8,6 bezieht dann der Targum zum Hohenlied (6./7. Jh.) gleichfalls direkt auf Gott: „Die Kinder Israels sprechen an jenem Tage zu ihrem Herrn: Ach, lege uns doch wie eine Siegelringgemme an dein Herz, wie eine Siegelringgemme an deinen Arm, damit wir nicht wieder ins Exil geführt werden.”6

3

KLAUSER, Th.: Studien zur Entstehungsgeschichte der christlichen Kunst I. JbAC 1 (1958) S. 20-51, bes. S. 23. Vgl. KLAUSER, Th.: Studien zur Entstehungsgeschichte der christlichen Kunst IV. JbAC 4 (1961) S. 128-145, bes. S. 139-145 mit Abb. 7 und 8; vgl. auch ders.: Die Äußerungen der Alten Kirche zur Kunst. Estratto dagli del VI Congresso Internazionale di Archeologia Cristiana, Ravenna 1962. S. 223242, bes. S. 237f.; ders.: Erwägungen zur Entstehung der altchristlichen Kunst. ZKG 76 (1966) S. 111, bes. S. 9-11. 5 Vgl. STRAUSS, H.: Jüdische Quellen frühchristlicher Kunst: Optische oder literarische Anregung? ZNW 57 (1966) S. 114-136, bes. S. 134-136. 6 Vgl. RIEDEL, W.: Die Auslegung des Hohenliedes in der jüdischen Gemeinde und der griechischen Kirche. Leipzig 1898. S. 38. 4

159 I.

Klauser schrieb: „Dieselben Erwägungen, die Clemens von Alexandrien dazu geführt haben, seinen Glaubensgenossen die Benutzung von Siegelringen zu gestatten, werden die Rabbinen genötigt haben, ihren Gläubigen das gleiche Zugeständnis zu machen. Auch die Rabbinen werden zunächst wie Clemens neutrale Motive für die Siegelsteine empfohlen, dann aber auch mit biblischen, Motiven sich abgefunden haben“7. Diese Vermutung ist richtig: Die Rabbinen haben sogar ziemlich genaue Anweisungen für den Gebrauch der Siegelringe erlassen. Eine andere Frage aber ist es, ob sie neutrale Motive für die Siegelbilder empfahlen.

Chananja, Sohn des R. Gamliel d. J. (von etwa 80-110 Leiter des Lehrhauses von Jabne) berichtet: „Die Angehörigen meines väterlichen Hauses pflegten ein Siegel zu verwenden, auf dem sich (menschliche) Figuren (!) befanden (Tosefta Aboda Zara 5,2 Zuckermandel 468).” In eben derselben Tosefta-Passage findet sich die „laxe” Erklärung: „Mit einem Ring, auf dem sich eine (menschliche) Figur befindet, darf man siegeln.” Diese wurde durch den Tannaiten R. Jehuda ben Elai (um 150) folgendermaßen eingeschränkt: „Wenn ein Siegel graviert ist, darf man nicht damit siegeln; denn (beim Abdruck) entsteht eine erhabene Figur.” Im gleichen Zusammenhang wird R. Jehudas Äußerung so erläutert: „Mit einem Ring, dessen Siegel graviert ist, darf man nicht siegeln, weil (beim Abdruck) etwas Erhabenes entsteht; man darf ihn jedoch an der Hand tragen. Wenn dagegen ein Siegel erhaben ist, darf man damit siegeln, weil sein (Siegelabdruck) tiefliegend ist; aber man darf ihn nicht auf der Hand tragen. ... Ein Siegelring, der eine heidnische Ikone enthält, ist (dem Juden) zur Nutznießung verboten, wenn sie erhaben ist; ist sie aber nicht plastisch, so ist der Ring zur Nutznießung erlaubt. Auf jeden Fall darf aber (ein Israelit) nicht damit siegeln. Befindet sich jedoch kein Götzenbild darauf, so ist (der Ring dem Juden) sowohl zur Nutznießung wie zum Siegeln erlaubt.” Diese rabbinischen Anweisungen zum Umgang mit den Siegelringen zeigen zum einen deutlich, wie ausgesprochen tolerant die Autoritäten, des 2./3. Jh. dem Siegelbild gegenüberstanden, sogar dann, wenn es ein „Götzenbild” zeigte. Zum anderen aber wird hier sehr klar die Warnung 7

KLAUSER, Th.: Studien IV. JbAC 4 (1961) S. 141f.

160 vor jeder plastischen Figur ausgesprochen. Sie darf sich weder auf dem Ringstein selbst befinden, noch durch den Abdruck desselben erzeugt werden8.

Klausers Vermutungen über die Haltung der Rabbinen gegenüber den Siegelbildern lassen sich demnach durch literarische Belege erhärten, deren Wert um so höher veranschlagt werden muß, als sie späterer jüdischer Auffassung widersprechen. Wie steht es nun aber mit seiner Meinung, daß es sich bei den von Clemens vorgeschlagenen Motiven für christliche Siegelringe um religiös neutrale Bilder gehandelt habe?

II.

L. Eizenhöfer hat-seinerzeit überprüft, inwieweit die von Clemens empfohlenen Siegelbilder Taube, Fisch, Schiff, Leier und Anker im beginnenden 3. Jh. als christliche Symbole bekannt waren, und hat dabei festgestellt, daß nur die Leier und der Anker für jene Zeit noch nicht als christliche Symbole nachgewiesen werden können9. Hier soll es nun ausschließlich darum gehen, inwieweit die genannten Symbole in jener Zeit eine spezifisch jüdische Deutung besaßen und inwieweit diese durch jüdische Quellen belegt werden kann.

Die Taube erwähnt das Alte Testament u. a. in der Sintfluterzählung (Gen. 8), wo sie das Ende des göttlichen Strafgerichts ankündigt10. Nach Lev. 1,14 sind Tauben die

8

Vgl. zu diesem ganzen Komplex MEYER, R.: Die Figurendarstellung in der Kunst des späthellenistischen Judentums. Judaica 5 (1949) S. 1-40, wo das vorgeführte Material zusammen mit weiteren rabbinischen Texten zu einer eindrucksvollen Darstellung der jüdischen Bildauffassungen in den ersten nachchrichstlichen Jahrhundert vereint worden ist. MEYER urteilt: „Unterlagen beide Darstellungsgebiete, Plastik und Relief, im besonderem Maße der religionsgeschichtlichen Betrachtung, ebenso wie sie je und dann das Augenmerk der zelotischen Kreise auf sich zogen, so bestand von vornherein eine größere Bewegungsfreiheit, wo es sich um nichtplastische Figuren, Gravierung, Stick- und Webarbeit sowie Malerei handelte. Hier hat es allem Anschein nach für den profanen Bereich überhaupt keine Beschränkungen gegeben (S. 38). ... Der wirkliche Umschwung, das heißt die Verweisung des Bildes aus der Synagoge, gehört allem Anschein nach erst in die Zeit, als der bilderfeindliche Islam dem christlichen Hellenismus in Palästina eine Ende bereitete (S. 40).“ 9 Vgl. EIZENHÖFER, L.: Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien. JbAC 3 (1960) S. 51-69. 10 Schon bei Tertullian, De baptismo 8, wird die Taube mit dem Ölzweig im Schnabel als Friedensbotin bezeichnet. Picassos „Friedenstaube“ ist Teil einer altehrwürdigen Tradition!

161 einzigen Vögel, die als Opfer taugen11. Durch Hhld. 2, 14; 5, 2 und 6, 9, wo die Geliebte als „meine Taube” angeredet wird, ist der in der rabbinischen Literatur mehrfach zu belegende Vergleich Israels mit einer Taube angeregt. Im Midrasch zum Hohenlied (8./9.Jh.), der viel altes Material enthält, wird dieser Vergleich besonders breit entfaltet: „Wie eine Taube ohne Fehl ist, so sind auch die Israeliten schön bei ihrem Gehen, so oft sie hinaufziehen zu den Festen. Wie eine Taube gekennzeichnet ist (durch ihre Federn), so sind die Israeliten gekennzeichnet durch den Haarschnitt, die Beschneidung und die Schaufäden. Wie die Taube sittsam ist, so sind auch die Israeliten sittsam. Wie die Taube von der Stunde an, da sie ihren Genossen (den Täuber) kennengelernt hat, diesen nicht mehr gegen einen anderen vertauscht,so haben auch die Israeliten Gott, nachdem sie ihn kennengelernt, nicht gegen einen anderen vertauscht”12. In b. Berakot 53b wird ausgeführt: „Warum wird die Gemeinde Israel mit der Taube verglichen (Ps. 68, 14)? Wie die Taube sich nur mit ihren Flügeln rettet, so wird Israel nur durch Gebotserfüllungen gerettet.” In b. Schabbat 49a und 130a heißt es: „Wie ihre Flügel die Taube schützen, so schützen auch die Gebote Israel.”13 Es ist deutlich, daß die Taube für das spätantike Judentum vornehmlich als Symbol eines besonders engen Verhältnisses des Volkes Israel zu seinem Gott und dessen Tora galt14. W. Riedel hat nachzuweisen gesucht, daß die allegorische Auslegung des HohenIiedes bereits im 1. Jh. in Alexandrien entstanden sei15. Wenn diese Meinung auch nicht als eindeutig bewiesen angesehen werden kann, so ist sie doch in unserem Zusammenhang interessant genug. Spezifisch jüdische Taubendarstellungen sind zwar, soweit ich sehe, sehr selten, dafür aber in ihrer Komposition recht typisch. Es handelt sich um zwei Goldgläser, von denen das eine in die vatikanischen Sammlungen gehört16, das andere befindet sich im Museo Borgiano17. Auf 11

Vgl. auch Gen. 15, 9; Lev. 12, 6; 15, 14. 29; Num. 6, 10. Das Taubenopfer war „vor allem Sache armer Leute“, vgl. NOTH, M.: Das dritte Buch Mose - Leviticus (ATD 6), Berlin1964. 12 Zitiert nach STRACK, H. L. - BILLERBECK, P.: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. Bd. 1. 3. Aufl. München 1961, S. 123. Vgl. auch den Targum zum Hohenlied, wo 4, 1 von den „Weisen“ Israels gesagt wird, sie glichen „jungen Tauben“. In 6, 9 wird die „Gemeinde Israels“ als „untadelige Taube“ bezeichnet; vgl. RIEDEL, W.:-a. a. 0. S. 23. 32. 13 Vgl. weitere Belege bei STRACK, H. L. - BILLERBECK, P.: a. a. O. S. 123f. 14 Eine gewisse Bedeutung hatte die Taube wohl auch als Sinnbild der Seele. Vgl. APTOWITZER, V.: Die Seele als Vogel. MGWJ 69 (1925) S. 150-169. 15 Vgl. RIEDEL, W.: a. a. O., S. 109f. Eine neuere Untersuchung dieses Gegenstands ist mir nicht bekannt geworden. 16 Vgl. GARRUCCI, R.: Storia dell’ arte cristiana nei primi secoli della chiesa. Bd. 6. Prato 1880, Tafel 490, Abb. 7 und S. 158.

162 beiden Gläsern sind neben dem Toraschrein, dem siebenarmigen Leuchter und verschiedenen jüdischen Kultgegenständen zwei Vögel dargestellt, die von R. Garrucci u. a. als Tauben gedeutet werden, die das jüdische Volk symbolisieren18. Wenn auf diese beiden Goldgläser auch keine zwingende Beweisführung gestützt werden kann, so lassen sie doch im Verein mit den zitierten Äußerungen aus der rabbinischen Literatur die Möglichkeit einer jüdischen, symbolischen Taubendarstellung wahrscheinlich werden, die als Siegelbild verkündete, daß der Besitzer sich mit Gott und der Tora unwandelbar verbunden fühlte.

Der Fisch wird im Alten Testament in unterschiedlichsten Zusammenhängen genannt, ohne daß dort eine symbolische Auffassung festgestellt werden kann. Dieses Bild ändert sich später wesentlich. Das weit verstreute Material hierzu wurde erstmalig von I. Scheftelowitz zusammengestellt und ausgewertet19. In unserem Zusammenhang ist besonders der Vergleich des treuen Tora-Juden mit einem Fisch interessant. R. Schemuel (Anfang des 3. Jh.) kommentierte die Wendung Hab. 1,14: „Und lässest die Menschen gehen wie Fische im Meer” folgendermaßen: „Deshalb werden hier die Menschenkinder mit den Fischen verglichen, um anzudeuten: Wie die Fische im Meere, sobald sie aufs Trockene heraufkommen, sogleich sterben, so sterben auch die Menschen, sobald sie sich von der heiligen Lehre und den heiligen Vorschriften trennen (b. Aboda Zara 3b).” Bereits die Schüler R. Gamliels d. Ä. (um 40 n. Chr.) wurden je nach sozialer Herkunft und Gesetzeskenntnis in vier verschiedene Arten von „Fischen” unterteilt (Abot de R. Nathan 40), und R. Akkiba (um 100 n. Chr.) verwendet das Bild vom Juden, der gleich dem Fisch im Wasser in der Tora „schwimmt” ganz selbstverständlich (Bereshit Rabba 97)20. Weiteres von Scheftelowitz gesammeltes Material zum Fisch-Symbol im Judentum ist in seiner Deutung und Datierung zu umstritten, als daß es hier herangezogen werden könnte. Interesse 17

Vgl. GARRUCCI, R.: a. a. 0. Tafel 490, Abb. 6 und S. 158. Auf beide Denkmäler weisen auch SÜHLING, F.: Die Taube als religiöses Symbol im christlichen Altertum. Freiburg/Br. 1930. S. 96 und GOODENOUGH, E. R.: Jewish Symbols in the Greco-Roman Period. Bd. 8. New York 1958. S. 44, hin. 18 Vgl. GARRUCCI, R.: a. a. 0. S. 158f. und GOODENOUGH, E. R.: a. a. 0. S. 44. 19 Vgl. SCHEFTELOWITZ, I.: Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum. ARW 14 (1911) S. 153, 321-392. 20 Vgl. SCHEFTELOWITZ, I.: a. a. 0. S. 2-6, wo weiteres Material nachgewiesen wird. Vgl. auch GOODENOUGH, E. R.: a. a. 0. Bd. 5 New York 1956. S. 32-35.

163 könnten immerhin die um den Leviathan (vgl. Hiob 40-41; Henoch 60, 24; 4. Esra 6, 52; Syr. Baruchapokalypse 29, 4; Jes. 27, 1) kreisenden Vorstellungen verdienen, nach denen dieser den Frommen in der Endzeit von Gott als Speise hergerichtet werden wird21. Nun ist es jedoch ziemlich sicher, daß der Leviathan immer mehr als gewaltiges Seeungeheuer denn als Fisch angesehen wurde22. Außerdem gewann wahrscheinlich das endzeitliche Mahl, bei dem der Leviathan verspeist werden soll, erst in nachtannaitischer Zeit allgemeinere Bedeutung23, so daß dieser Vorstellungskreis hier nicht weiter erörtert zu werden braucht. Weshalb aber sollte nicht ein Jude, der seine Treue zum Gesetz besonders sinnfällig dokumentieren wollte, einen Fisch als Siegelringbild wählen? Die Frage ist, ob uns nicht wenigstens anhaltsweise eindeutig jüdische Denkmäler überliefert worden sind, auf denen der Fisch in dieser Bedeutung abgebildet sein könnte. Das ist nicht der Fall. Auf zwei Goldgläsern, die durch siebenarmigen Leuchter, Toraschrein usw. als jüdische gekennzeichnet sind, ist eine Fischmahlzeit dargestellt, deren Bedeutung umstritten ist24. In den Malereien der jüdischen Katakomben und der Synagogen von Beth Alpha, Hammam Lif und Dura Europos begegnen Fische einerseits als rein dekorative Motive, andererseits als Bestandteil von Darstellungen des Schöpfungsbereichs, in denen ihnen jede ausgeprägtere symbolische Bedeutung abgeht. Unter den Denkmälern; der Kleinkunst, besonders unter den Siegeln und Amuletten mit Fischbildern, ist kein gesichert jüdisches nachweisbar. Das ist allerdings kein schwerwiegender Einwand gegen die Möglichkeit jüdischer Siegelbilder mit einer Fischdarstellung, da die Zahl der Siegel, Gemmen und Amulette mit Fischbildern, deren Herkunft überhaupt nicht festzustellen ist, verhältnismäßig groß ist. Ja, es muß sogar damit gerechnet werden, daß ein gewisser Teil der durch die Akrostichis IȋĬȊȈ als christlich ausgewiesenen Siegel usw. ursprünglich aus der Massenproduktion spätantiker Kleinkunst, die religiös weitgehend neutral war, stammt und erst nachträglich „christianisiert“ wurde.

Das Schiff wird im Alten Testament nur gelegentlich erwähnt und dann stets ohne jede symbolische Bedeutung. Das gleiche gilt für das Neue Testament, ausgenom21

Vgl. die Belege bei SCHEFTELOWITZ, I.: a. a. 0. S. 6-12 und GOODENOUGH, E. R.: a.a.O. Bd. 5. New York 1956. S. 35-41. Vgl. RUSSELL, D. S.: The Method and Message of Jewish Apocaloptic. London 1964. S. 124, 294. 23 Vgl. GINZBERG, L: The Legends of the Jews. Bd. 5. Philadelphia 1955. S. 43f. 24 Vgl. GOODENOUGH, E. R.: a. a. O. Bd. 5. New York 1956, S. 45. 22

164 men Jk. 3, 4, wo am Verhältnis von Schiff und Steuerruder „die Kleinheit des Mittels und die Größe seiner Wirkung“ demonstriert wird25. Auch in der rabbinischen Literatur ist ein symbolisches Verständnis nicht nachzuweisen26. Über eine außerchristliche Verwendung des Schiffes als Symbol einer Religionsgemeinschaft ist nichts bekannt27. Die auf Gemmen gar nicht seltenen Schiffsdarstellungen können deshalb wohl leicht als Symbole des Berufes des Seemanns oder Reeders verstanden werden. Welches Symbol sollte diesen Berufsgruppen näher liegen als das des Schiffes? In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß, wie Philo, In Flaccum 8 und Legatio ad Gajum 19 berichtet, die Juden seinerzeit den Nil- und Überseehandel beherrschten. Wie bedeutend der Anteil der Juden an der Schiffahrt gewesen sein muß, geht auch daraus hervor, daß es eine eigene „Gilde jüdischer Schiffer“ in Ägypten gab28. Es wäre also immerhin denkbar, daß das Schiff als Berufssymbol auch von Juden benutzt wurde. Das war um so eher möglich, als es ein geprägtes religiöses Verständnis dieses Symbols damals wohl noch nicht gab.

Für die Siegelbilder Leier und Schiffsanker gibt Clemens selbst an, woher er sie kennt. Die berühmte Geschichte von dem Siegelring des Polykrates, Tyrann von Samos im 6. Jh. v. Chr., die noch Schiller zu einer Ballade anregte, hat er bei Herodot III,41f.gelesen, den er auch sonst oft genug benutzt hat29. Allgemein bekannt war zur Zeit des Clemens auch die Gestalt des Seleukos Nikator, über die sich zahlreiche Nachrichten in der von lustin hergestellten Epitome aus den Historiae Philippicae des Pompeius Troges finden. Epitome 15, 3 wird über den mit dem Bild eines Ankers geschmückten Ring des Seleukos berichtet, der nach 15, 4 ein Geschenk des Gottes Apollon an die Mutter des Fürsten gewesen ist. In 15, 5 und 9 bezeichnet Pompeius Troges den Anker als das Stammeszeichen der Seleukiden, das diese als Muttermal auf dem Oberschenkel trugen. Von dem Siegelring des Seleukos erzählt auch der alexandrinische Zeitgenosse des Clemens, Appian, in den Romanae Historiae, Syriaca 56. Wie populär die Gestalt des Seleukos zu jener Zeit gerade in Alexandrien 25

Vgl. DIBELIUS, M.: Der Brief des Jakobus. 11. Aufl. Göttingen 1964. S. 227-235 z. Stelle. Dabei werden Schiffe, Ruder, Matrosen, Segel usw. durchaus erwähnt; vgl. etwa b. Schebiit 8,5 oder b. Baba Batra 5,1. 27 Vgl. GOLDAMMER, K.: Navis Ecclesiae. ZNW 40 (1941) S. 76-86, bes. S. 77f. 28 Vgl. FUCHS, L.: Die Juden Ägyptens in ptolemäischer und römischer Zeit. Wien 1924. S. 36. 29 Vgl. das Register bei STÄHLIN, O.: Clemens Alexandrinus. Bd. 4 (=GCS 39). Leipzig 1936, S. 28. 26

165 gewesen ist, geht schließlich aus der Rolle hervor, die dieser in dem wohl um 300 dort verfaßten sogenannten „Alexanderroman” spielt30. Noch Ausonius c. 287,11 weiß von dem Siegelring des Seleukos und dem darauf befindlichen Ankerbildnis.

III.

Wir haben feststellen können, daß das religiöse Problem des Siegelbildes von den Rabbinen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte sehr konkret behandelt und durch zugleich tolerante und doch exakte Bestimmungen über die Verwendung der Siegelringe abgeklärt wurde. Von den bei Clemens genannten Siegelbildvorschlägen konnte für die der Taube und des Fisches ein geprägtes jüdisches Symbolverständnis wahrscheinlich gemacht werden. Beide symbolisieren in erster Linie das enge Verhältnis des einzelnen Juden bzw. ganz Israels zu Gott und der Tora. Für das Bild des Schiffes konnte eine spezifisch jüdische Deutung nicht nachgewiesen werden. Es scheint iedoch als Berufssymbol der jüdischen Seeleute und Reeder Alexandriens nicht undenkbar zu sein. Für Leier und Schiffsanker hat Clemens seine „Vorlagen” selbst mitgeteilt, so daß sie nur kurz gestreift zu werden brauchten. Zusammenfassend kann deshalb gesagt werden, daß Klausers Vermutung jüdischer Anregungen für die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien nicht ohne Anhalt in der rabbinischen Literatur ist. Wahrscheinlich hat Clemens die grundsätzliche Haltung gegenüber den Siegelbildern in direkter Anlehnung an jüdische Anschauungen formuliert. Die Auswahl der einzelnen Siegelbilder jedoch ist wohl nur indirekt jüdisch beeinflußt gewesen. Hier galten Clemens nur jene Symbole als verwendbar, bei denen jede idiolatrische Deutung ausgeschlossen war. Da ihm die Verwendung ausschließlich christlich zu interpretierender Symbole jedoch nicht unbedingt notwendig gewesen zu sein scheint, kann damit gerechnet werden, daß er bei der Zusammenstellung seiner Vorschläge von dem vorhandenen „Angebot” der Gemmenschneider ausging, wobei er dann auch auf die für den Gebrauch der jüdischen Bürger hergestellten Siegelringe aufmerksam werden mußte.

30

Vgl. PW 2. Reihe 2.1. Sp. 1232f. Art.: Seleukos (Stähelin).

167 Zur Deutung der Fresken in Arkosol IV und Cubiculum II der jüdischen Torlonia-Katakombe in Rom (1975) „Heil denen, die in deinem Hause weilen, immerwährend werden sie dich preisen!“

In der Katakombe der Villa Torlonia in Rom wurden 1920 u. a. zwei Fresken entdeckt, denen die Forschung viel Beachtung geschenkt hat1. Die Rückwand des Arkosol IV zeigt in der Mitte einen Toraschrein, dessen geöffnete Türflügel die im Inneren liegenden Gesetzesrollen sichtbar werden lassen. Flankiert wird der Schrein durch zwei große siebenarmige Leuchter. Daneben finden sich in unregelmäßiger Anordnung verschiedene jüdische Kultrequisiten, so z. B. Schofar, Etrog (?), Beschneidungsmesser (?) und Lulaw. Über dem Dachgiebel des Toraschreins erscheinen Sonne und Mond sowie ein Stern, der direkt über der Giebelspitze des Schreins steht. Diese Darstellung auf der Rückwand des Arkosols wird durch eine Bogennische überwölbt, die an ihrem unteren Rand mit Landschaftsansichten bemalt war, von denen heute nur noch eine Wiese vor bergigem Hintergrund auszumachen ist, auf der ein Widder und ein Schaf (?) weiden.

Die Fresken der Torlonia-Katakombe stammen aus dem zweiten und dritten Jahrhundert und zeigen neben rein dekorativen Motiven, wie sie sich auch in nichtjüdischen Katakomben finden, zahlreiche speziell jüdischer Provenienz, deren Deutung teilweise noch umstritten ist. Was die oben beschriebene Darstellung angeht, so ist sich die größere Zahl der Gelehrten darin einig, daß diese eschatologisch zu interpretieren sei. Bereits H. Lietzmann sah in dem Toraschrein ein Bild des himmlischen Tempels, der beim Eintritt der messianischen Vollendung auf die Erde niedersteigen wird. Die Wiesenlandschaft auf dem Rand der Arkosolwölbung deutete er als Darstellung des Paradieses2 und den Stern über dem Schrein als Hinweis auf den Num 24,17 geweissagten Messias. Lietzmann wies auf die Münzen des Bar Kochba hin und erklärte: „Wenn man das Münzbild in Prosa übersetzt, so heißt es: ‚der Messias 1

Zur Torlonia-Katakombe vgl. H. W. Beyer — H. Lietzmann, Die jüdische Katakombe der Villa Torlonia in Rom, Berlin—Leipzig 1930; E. R. Goodenough, Jewish Symbols in the Greco-Roman Period, Bd. 2, New York 1953, 35-44 (Lit.). 2 So bereits H. Gressmann, Jewish Life in Ancient Rome, in: Jewish Studies in Memory of Israel Abrahams, New York 1927, 170-191, bes. 188 f.

168 wird den Tempel und seinen Kult wieder aufrichten.’ Der vom Stern überstrahlte Tempel ist das Sinnbild der messianischen Hoffnungen des Volkes und er konnte es bleiben, auch als der Aufstand Bar Kochba zusammengebrochen war: auf unserem Katakombenbild wird diese Bedeutung angenommen werden dürfen“3. K. H. Rengstorf dachte daran, „daß der Maler Ps. 121 vor Augen hatte, als er sein Bild schuf; dann würde es die Gewißheit. des Frommen, der in und mit der Tora gelebt hat (Ps. 1,2), zum Ausdruck bringen, auch über den Tod hinaus bei Gott geborgen zu sein. Möglich ist aber weiter, daß das Firmament über dem Schrein die Allgemeingültigkeit des Gesetzes für die gesamte Erde bzw. Schöpfung kennzeichnen soll. Dabei mag das Erscheinen der Gestirne damit zusammenhängen, daß es sich um ein Katakombengemälde handelt“4. A. Marmorstein zog zur Deutung der rätselvollen Darstellung die rabbinischen Quellen heran und schlußfolgerte: „Die Sonne, der Mond und die Sterne bedeuten also, daß die Verstorbenen in der Katakombe als Gerechte bei Gott wohnen und des Paradieses teilhaftig werden“5. Gleichfalls unter Benutzung rabbinischen Materials unterstrich P. Rieger Lietzmanns Deutung und qualifizierte Rengstorfs Interpretation als „abwegig“6.

Die bisher genannten Gelehrten bevorzugten eine eschatologische Deutung des Bildes aus der Torlonia-Katakombe, es gab jedoch auch solche, die eine nichteschatologische Erklärung vertraten. Besonders pointiert drückte sich J. B. Frey, der Herausgeber des Corpus Inscriptionum Judaicarum, aus: „Nous croyons plutôt que ce sont là de simples motifs d'ornamentation, car on ne constate pas que le symbolisme doctrinal ait eu une parte quelconque dans l’art funéaire juif“7. W. G. Kümmel verfährt nicht ganz so strikt, wenn er urteilt: „Alle diese (eschatologischen) Deutungen werden in der Hauptsache durch Heranziehung jüdischer Texte gestützt, wo solche symboli3

H. W. Beyer — H. Lietzmann (Anm 1), 24. Vgl. auch E. Peterson, Die geschichtliche Bedeutung der jüdischen Gebetsrichtung, in:. ders., Frühkirche, Judentum und Gnosis, Rom—Freiburg—Wien 1959, 1-14, bes. 5 f. 4 K. H. Rengstorf, Zu den Fresken in der jüdischen Katakombe der Villa Torlonia in Rom, ZNW 31 (1932), 33-60, bes. 46. 5 A. Marmorstein, Jüdische Archäologie und Theologie, ZNW 32, 1933, 32-41, bes. 41. 6 Vgl. P. Rieger, Zu den Fresken in der jüdischen Katakombe der Villa Torlonia in Rom, ZNW 33, 1934, 216-218. 7 J. B. Frey, La question des images chez les Juifs à la lumière des récentes découvertes, in: Biblica 15 (1934), 265-300, bes. 287 f.; vgl. auch ders., La catacombe juive de la voie Nomentane, RivAC 8 (1931), 360-363, bes. 362.

169 schen Gedanken unabhängig von bildlichen Darstellungen vertreten werden [...]. Darum ist das Postulat, die Katakombenbilder müßten auf das Schicksal der Verstorbenen nach dem Tode bezogen werden, durchaus unberechtigt. [...] Und wenn gelegentlich einmal in den besprochenen Gemälden der Torlonia-Katakombe über dem Gesetzesschrein die Gestirne zu sehen sind, so liegt keine Notwendigkeit vor, darin einen Hinweis auf das ewige Leben der Verstorbenen zu sehen, obwohl auch daran mit gedacht sein könnte; die Gestirne könnten ebenso die ewige Geltung des Gesetzes für die ganze Welt andeuten sollen“8. Auch A. Ferrua9 und H. J. Leon10 lehnen eine eschatologische Interpretation mit der ernstzunehmenden Begründung ab, daß die „comparatively uneducated Jews of the Roman community“ (Leon) kaum Berührung mit rabbinischen Autoritäten und Anschauungen gehabt hätten, und deshalb die rabbinischen Schriften nicht zur Erläuterung der jüdischen Sepulkralkunst Roms herangezogen werden dürften. Weiter wird auf die Tatsache verwiesen, daß etwa die Hälfte aller bekanntgewordenen jüdischen Grabinschriften Roms keinerlei symbolische Darstellungen zeigen.

Es gilt also zunächst, annähernde Gewißheit über die Anschauungen der römischen Juden jener Zeit über den Tod und das „Leben nach dem Tod“ zu erlangen, bevor wir uns erneut der Interpretation der Bilder in den jüdischen Katakomben zuwenden. Um dieses Ziel zu erreichen, sei auf eine Quelle hingewiesen, die in unmittelbaren Zusammenhang mit den jüdischen Grabstätten zu finden ist und von der zudem vorausgesetzt werden darf, daß sie die Auffassungen der jüdischen Gemeinden Roms direkt widerspiegelt: die jüdischen Grabinschriften Roms. Häufig werden diese mit der fast als Stereotype anzusehenden Formel geschlossen, daß der zuvor namentlich genannte Verstorbene „im Frieden“ ruhen möge. Dadurch, daß den durchgängig griechisch abgefaßten Inschriften gelegentlich der Friedenswunsch in der hebräischen Fassung schalom angefügt wurde, ist die speziell jüdische Akzentuierung dieser Formel gesichert. In einigen Fällen begegnet auch der Wunsch schalom al jisrael, 8

W. G. Kümmel, Die älteste religiöse Kunst der Juden, in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte. Gesammelte Aufsätze 1933-1964, Marburg 1965, 126-152, bes. 135-137. Ähnlich auch K. Galling, Die jüdischen Katakomben in Rom als ein Beitrag zur jüdischen Konfessionskunde, Theol. Studien und Kritiken 103 (1931), 352-360, bes. 359. 9 A. Ferrua, Simbolismo ebraico, RivAC 30 (1954), 237-243, bes. 242. 10 H. J. Leon, The Jews of Ancient Rome, Philadelphia 1960, 226-228.

170 der aus Ps 125,5 und 128,5 bekannt ist. Ganz bestimmt ist hier nicht nur „the aspiration of the departed for his people“11 in dem Sinn zu finden, daß das Volk Israel unter friedlichen Umständen leben möge. Schließlich legt der Text beider genannten Psalmen, die ursprünglich ganz irdische Hoffnungen artikulierten, die Vermutung einer späteren eschatologischen Auslegung nur zu nahe. Schalom gäbe dann gewissermaßen das höchste und und endgültige Heilsgut an, das sich der Beter von Gott erhofft. W. Foerster bleibt deshalb wohl zu allgemein, wenn er schreibt: „Im Sinne des Heil- und Wohlbehaltenseins wird auch der Gebrauch von schalom auf jüdischen Gräbern zu fassen sein.“ Zumal er wenig später selbst die letzte Bitte des babylonischen Achtzehnbittengebets anführt und feststellt: „Dabei wird schalom ein Parallelbegriff zu beracha und wird, wie im AT, zum Inbegriff des Segens der messianischen Zeit“12. So konstatiert auch G. Delling mit aller Vorsicht: „Der Wunsch schalom kann zunächst einfach die Bewahrung vor dem vorläufigen Strafort meinen, die vorläufige Aufnahme in den Schoß Abrahams im Sinne des palästinensischen Judentums. Jedenfalls kennt die jüdische Diaspora insofern ähnliche Vorstellungen, als sie die Möglichkeit eines bevorzugten Loses für den Juden unmittelbar annimmt. [...] Aber diese Aussagen, die freilich zunächst mit gewissen heidnischen Vorstellungen über das Schicksal nach dem Tode zusammenzuklingen scheinen, sind nicht das Letzte, was das fromme Judentum der Diaspora dazu zu sagen hat. Es hat die Erwartung der Auferstehung von Palästina her übernommen, mitten in einer Umgebung, der diese Erwartung so völlig anstößig war. [...] So findet sich in der Einstellung des Diasporajudentums zum Tode und seinem Hernach eine ganze Skala der Gefühle und Gedanken von der Hoffnungslosigkeit bis zur Gewißheit des Wiederauflebens in der dem Gottesvolk verheißenen Zukunft. Aus der relativ geringen Häufigkeit des Vorkommens einer ausdrücklichen Hoffnung auf den Grabinschriften können wir wohl keine Rückschlüsse ziehen auf die tatsächliche Verbreitung dieser Gedanken; gerade in den Kreisen der schlichten Frommen muß man sich aus wirtschaftlichen Gründen größere Aufträge an den Steinmetzen oft versagen“13. Es ist tatsächlich kaum annehmbar, daß derjenige Jude, der durch den Friedenswunsch eine sich im Jen11

So C. Roth, Messianic Symbols in Palestinian Archeology, PEQ 87 (1955), 151-164, bes. 154 f. W. Foerster, in: ThWNT II, S. 407. G. Delling, Speranda futura. Jüdische Grabinschriften Italiens über das Geschick nach dem Tode, in: ders., Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze 1950-1968, Berlin 1970, 39-44, bes. 41-43.

12 13

171 seits zu erfüllende Hoffnung dokumentierte, nicht die allgemeine Heilshoffnung der jüdischen Kreise seiner Zeit, die sich mit dem Begriff schalom verband14, geteilt haben sollte. Nur wenn der in den jüdischen Grabinschriften Roms erscheinende Friedenswunsch wirklich das Verlangen nach endzeitlichem Heil artikulierte, ist zudem die Übernahme dieser Formel in christliche Grabinschriften sinnvoll zu erklären. Wäre es hier nur um auf das Judentum bezogene, von den Christen jedoch nicht geteilte Hoffnungen, wie z. B. die vorläufige Aufnahme in den Schoß Abrahams, gegangen, hätte der Friedenswunsch kaum Eingang in die christlichen Katakomben finden können15.

Auf eine der jüdischen Grabinschriften Roms sei besonders hingewiesen, da in ihr Vorstellungen anklingen, die für die Deutung des Bildes aus der Torlonia-Katakombe wichtig werden können. Es geht um jene Inschrift, die ein trauernder Gatte seiner Gemahlin Regina in der jüdischen Katakombe am Monteverde gewidmet hat16. Sie gehört möglicherweise noch in den Anfang des 2. Jh.s17 und hat folgenden Text: „Hic regina sita est tali contecta sepulcro, / quod coniunx statuit respondens eius amori. / Haec post bis denos secum transsegerat annum / et quartum mensem restantibus octo diebus, / rursum victura, reditura ad lumina rursum. / Nam sperare potest ideo, quod surgat in aevom / promissum, quae vera fides, dignisque piisque, / quae meruit sedem venerandi ruris habere. / Hoc tibi praestiterit pietas, hoc vita pudica, / hoc et amor generis, hoc observantia legis, / coniugii meritum, cuius tibi gloria curae. / Horum factorum tibi sunt speranda futura, / de quibus et coniunx maestus solacia quaerit!“

Die Übersetzung von A. Deissmann lautet: „Hier ist Regina beigesetzt, in einem so schönen Grabe geborgen, / wie es ihr Gatte, ihre Liebe vergeltend, nur hat errichten 14

Zur Erwartung des endzeitlichen „Friedens“ vgl. auch H. L. Strack — P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 4/2, München 1928, 882 und 910-913; P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter, Tübingen 19348, 381-384. 15 Vgl. C. M. Kaufmann, Die sepulkralen Jenseitsdenkmäler der Antike und des Urchristentums, Mainz 1900, 41-52, bes. 43, Anm. 1. 16 Zur Regina-Inschrift vgl. u. a. N. Müller — M. A. Bees, Die Inschriften der jüdischen Katakombe am Monteverde zu Rom, Leipzig 1919, 133-136; A. Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament 4 und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 1923 , 387-390; G. Delling (Anm 13), 42 f. Die Inschrift findet sich bei Frey, CIJ, Nr. 476. 17 Vgl. N. Müller — N. A. Bees (Anm. 16), 133.

172 können. / Sie hatte zwei Jahrzehnte mit ihm zusammen gelebt und noch ein Jahr / und vier Monate weniger acht Tage. / Wieder ins Leben, wieder zum Lichte (s. u.) wird sie zurückkehren. / Denn die Hoffnung, daß sie aufersteht in die Ewigkeit, / die, ein wahrhaftiges Versprechen, verheißen ist den Würdigen und Frommen, / kann sie deshalb hegen, da sie es verdient hat, einen Sitz zu haben in dem hochheiligen Lande. / Solches wird Dir sichern Deine Frömmigkeit, solches Dein keusches Leben, solches auch Deine Liebe zum Stamm, solches Deine Hochachtung des Gesetzes, Dein Verdienst um die Ehe, deren Ruhm Deine Sorge war. / Für solches Tun darfst Du Künftiges erhoffen, / und auch der trauernde Gatte sucht darin seinen Trost!“18

Die Verstorbene darf aufgrund ihrer Liebe zum Volk Israel und der strengen Beobachtung der Tora auf eine Rückkehr in ein Leben unter den Gestirnen (!) in Palästina, dem von der in der Diaspora Lebenden als hochheilig verehrtem Land, hoffen. Die Erwartung der Auferstehung nach dem Tod, die feste Bindung des Diasporajuden an Palästina als dem heiligen Land der Auferstehung sowie die Verdienstlichkeit der Liebe zum Judentum, der Einhaltung der Tora, der Keuschheit und Frömmigkeit werden hier deutlich ausgesprochen. Das Leben nach der Auferstehung wird als Leben in Palästina ad lumina erhofft. Der Plural verlangt doch wohl die konkretere Übersetzung ‚Gestirne’ anstelle des blassen ‚Lichtes’19. Dann aber ist zu fragen, ob das Palästina, in dem die Verstorbene nach der Auferstehung zu leben hofft, nicht gerade durch die darüber stehenden lumina als endzeitliches Palästina, als Land ewigen Heils, umschrieben werden soll. Der ganze Zusammenhang der Inschrift scheint diese Deutung nahezulegen20. Da zumindest ein Teil der jüdischen Grabinschriften Roms einen eindeutig eschatologischen Bezug hat, darf wohl mit Recht unterstellt werden, daß auch die jüdische Sepulkralmalerei Träger eschatologischen Gedankenguts sein konnte.

Bevor wir uns jedoch der Frage zuwenden, um welche Gedanken es sich bei dem von uns behandelten Bild speziell gehandelt haben könnte, muß zuvor ein Fresko im 18

A. Deissmann (Anm. 16), 389. A. Deissmann (Anm. 16), 389 führt als Parallele lediglich die singularische Ausdrucksweise in Ps. 55 (56), 13 an. 20 Vgl. H. Bietenhard, Die himmlische Welt im Urchristentum und Spätjudentum, Tübingen 1951, 172. 19

173 Cubiculum II der Torlonia-Katakombe erwähnt werden, dessen stark fragmentarischer Zustand eine sichere Bestimmung des dort Dargestellten fast unmöglich macht. Eindeutig zu erkennen ist lediglich das Dach eines ‚Gebäudes’, über dem zwei Gestirne stehen. Lietzmann glaubte auch hier einen Toraschrein feststellen zu können, über dem (links) ein abnehmender und (rechts) ein zunehmender Mond abgebildet sind21. Dagegen wandte Rengstorf ein, daß Toraschreine stets in strenger Frontalität dargestellt würden, während das Bauwerk auf dem Fresko des Cubiculum II ganz offensichtlich in Seitenansicht gegeben ist, und schlug deshalb vor, hier eine Darstellung der Arche Noahs zu erkennen22. Goodenough, der in den 13 Bänden seiner „Jewish Symbols“ mehrfach auf dieses Fresko zu sprechen kommt, hat als wahrscheinlich erweisen können, daß hier nicht zwei Monde, sondern wie in Arkosol IV, Sonne und Mond zu sehen sind. In dem ‚Gebäude’ erkennt er einen Toraschrein bzw. Tempel und interpretiert die ganze Szene, wie auch die des Arkosol IV, eschatologisch: „I suspect rather, that it presents the cosmic and heavenly place of the Law as a divine symbol. The shrine flanked by the heavenly luminaeries suggest also that the Law is the Light, itself a manifestation of the Shekinah”23. Wenn als richtig angenommen werden darf, daß im Cubiculum II tatsächlich gleichfalls Sonne und Mond abgebildet wurden, könnte trotz der von Rengstorf erhobenen Einwände in dem dargestellten ‚Gebäude’ ein Toraschrein vermutet und damit das Fresko im Cubiculum II als Parallele zu dem aus Arkosol IV gewertet werden24. Wie dem aber auch sei, die entscheidende Frage lautet: Welche ikonographischen Elemente sichern den eschatologischen Charakter dieser Fresken, und wie ist deren Aussage im Einzelnen zu bestimmen? Lietzmann z. B. konzentrierte seine Deutung auf den Toraschrein und wollte in ihm den „himmlischen Tempel“ erkennen, der in der Endzeit auf die Erde hinabkommen wird25. Die Belege für diese Vorstellung sind

21

H. W. Beyer — H. Lietzmann (Anm. 1), 24. K. H. Rengstorf (Anm. 4), 43 f. E. R. Goodenough (Anm. 1), Bd. 4, New York 1954, 136. Daß in Cubiculum II Sonne und Mond dargestellt sein dürften, hatte schon Rengstorf (Anm. 4), 44 erkannt. Vgl. weiter Goodenough (Anm. 1), Bd. 2, New York 1953, 38 und Bd. 8, New York 1958, 175. 24 Auch C. Wendel, Der Thoraschrein im Altertum, Halle 1950, 30 (Anm. 36) Nr. 4 stellt fest: „Die ungewöhnliche Anwendung der Perspektive ist kein genügender Grund, die Deutung auf den ThoraSchrein abzulehnen.“ 25 Vgl. H. W. Beyer — H. Lietzmann (Anm. 1), 24. 22 23

174 allerdings nicht zahlreich und zudem auch nicht ganz eindeutig26, ebenso scheint die Gleichsetzung von Toraschrein und Tempel kaum nachweisbar zu sein. Daß es sich aber zumindest in Arkosol IV um die Darstellung des Toraschreins und nicht die des Tempels handelt, wurde bereits von Rengstorf bemerkt27. Auf ähnliche Schwierigkeiten stößt die von Marmorstein erwogene Lösung. Gewiß sind die Frommen und Seligen in der Endzeit mit „der Sonne, dem Mond, dem Firmament, den Sternen, dem Blitz, den Lilien und dem Leuchter des Tempels“ verglichen worden28, aber dieser Hinweis trifft das Spezifische dieser Katakombenbilder ebensowenig wie die von Kümmel und Goodenough geäußerte Vermutung, hier solle die ewige Geltung des Gesetzes für die ganze Welt angedeutet werden.

Daß es sich bei der Darstellung aus der Torlonia-Katakombe um ein eschatologisches Bild handelt, wird durch die über dem Toraschrein erscheinenden Gestirnszeichen wahrscheinlich gemacht. Das spätantike Judentum kannte sowohl die Erwartung einer Verfinsterung der Gestirne als „symptomatisches Zeichen“29 des Anbruchs der Endzeit30 als auch die Hoffnung auf eine Restitution des Urzustandes im Olam habba. Einer der wichtigsten Schriftbelege für diese Hoffnung war Jes 30,26: „Und des Mondes Schein wird sein wie der Sonne Schein, und der Sonne Schein wird siebenmal heller sein denn jetzt, zu der Zeit, wenn der Herr den Schaden seines Volkes verbinden und seine Wunden heilen wird.“ So erklärt z. B. R. Schimon b. Gamliel (um 140): „Alle, die über Jerusalem trauern während seiner Zerstörung, werden sich dereinst mit ihm freuen bei seinem Wiederaufbau [...]. Sonne und Mond haben getrauert, wie es heißt: Die Sonne verfinstert sich bei ihrem Aufgang usw. Jes 13,10; und sie werden sich mit ihm (Jerusalem) freuen, wie es heißt: Es wird das Licht des Mondes sein wie das Licht der Sonne usw. Jes 30,26“31. Und R. Hisda (gest. 309) differenziert noch genauer: „R. Hisda wies auf einen Widerspruch hin: Es

26

Vgl. P. Billerbeck (Anm. 14), Bd. 4/2, München 1928, 884-886 und 929-933. Vgl. K. H. Rengstorf (Anm. 4), 38 f. Vgl. A. Marmorstein (Anm. 5), 37. 29 Vgl. G. Mensching, Die Lichtsymbolik in der Religionsgeschichte, in: Studium Generale 10, 1957, 422-432, bes. 423. 30 Vgl, dazu zusammenfassend P. Maser, Die endzeitliche Verfinsterung von Sonne und Mond, in: Die Zeichen der Zeit 1974. 390-392. 31 Pes. 148 b. Zitiert nach P. Billerbeck (Anm. 14), Bd. 4/2, München 1928, 958 f. Dort auch weitere Belege. 27 28

175 heißt: Der Mond wird sich schämen und die Sonne zuschanden werden, denn der Herr der Heerscharen wird König sein, dagegen heißt es: das Licht des Mondes wird dem Licht der Sonne gleichen und das Licht der Sonne wird siebenfach sein, wie das Licht der sieben Tage!? Da ist kein Widerspruch; eines gilt von den messianischen Tagen und eines gilt von der zukünftigen Welt“32. Hier wird ganz deutlich ausgesprochen, daß die sich verfinsternden, einer Katastrophe entgegeneilenden Gestirne Zeichen der messianischen Zeit und damit des Anbruchs der Endzeit, die in ihrem Glanz wiederhergestellten, ja sogar verstärkten Himmelskörper dagegen Bestandteil der zukünftigen Welt, des Olam habba, sind33. Wir werden also nicht fehlgehen in der Annahme, daß durch die Gestirne über dem Toraschrein eine Szene im Olam habba dargestellt werden sollte. Diese Vermutung dürfte als weiter gesichert gelten, wenn es gelingt zu bestimmen, um welche Szene es hierbei konkret geht und ob sie als Bild über einem Grab sinnvoll war.

Ganz offensichtlich wird durch die Wiedergabe des Toraschreins und der wichtigsten jüdischen Kultrequisiten auf einen Synagogengottesdienst hingewiesen34, der durch die darüberstehenden Gestirne als endzeitlicher charakterisiert wird. Welche Hoffnungen aber konnten durch die Darstellung eines endzeitlichen Gottesdienstes versinnbildlicht werden? In der ersten Hälfte des 3. Jh.s erklärt R. Jehoschua b. Levi: „Wo ist die Auferstehung der Toten in der Tora zu finden? Es heißt: Heil denen, die in deinem Hause weilen, immerwährend werden sie dich preisen. Ps 84,5. Es heißt nicht: sie priesen dich, sondern: sie werden dich preisen. Hier ist also die Auferstehung der Toten in der Tora zu finden“35. Und verdeutlichend setzt er hinzu: „Wer (dem Herrn) in dieser Welt einen Lobgesang anstimmt, dem ist es beschieden, dies auch in der zukünftigen Welt zu tun, denn es heißt: Heil denen, die in deinem Hause weilen, immerwährend werden sie dich preisen“36. Ganz ähnlich argumentiert R. Hija im Namen R. Jochanans b. Nappacha, der 279 n. Chr. gestorben ist: „Wo ist die Auf-

32

Sanh. 91 b. Seit etwa 150 n. Chr. unterscheiden die rabbinischen Autoritäten konsequent zwischen den „Tagen des Messias“ und dem Olam habba als selbständigen Epochen der Endzeit. 34 Daß hier der synagogale Gottesdienst, nicht aber der Tempelkult, gemeint ist, hat bereits K. H. Rengstorf (Anm. 4), 38 f. erkannt. 35 Sanh. 91 b. 36 Sanh. 91 b. 33

176 erstehung der Toten in der Tora zu finden? Es heißt: die Stimme deiner Späher, sie erheben ihre Stimme, gemeinsam werden sie jauchzen etc. Jes 52,8; es heißt nicht sie jauchzen, sondern sie werden jauchzen. Hier ist also die Auferstehung der Toten in der Tora zu finden“37. Und R. Jehoschua b. Levi spezifiziert diese Auffassungen in einem Midrasch zu Ps 84 dahingehend: „Wer in die Synagogen und Lehrhäuser gegangen ist (in dieser Welt), der wird gewürdigt werden, in die Synagogen und Lehrhäuser (auch) im Olam habba (nach der Auferstehung der Toten) zu gehen, wie es heißt: Wohl denen, die in deinem Hause sitzen, sie werden dich noch preisen. Ps 84,5“38. Das kultische Leben setzt sich im Olam habba in den Formen des gegenwärtigen Äons fort, weil der Olam habba selbst häufig analog irdischen Vorstellungen gedacht wird, wie auch aus der Äußerung R. Eleazars hervorgeht: „Wenn ein Gemeindeverwalter die Gemeinde in Sanftmut leitet, so ist es ihm beschieden, sie auch in der zukünftigen Welt zu leiten, denn es heißt: denn ihr Erbarmer wird sie führen und an Wasserquellen behutsam geleiten. Jes 49,10“39.

In der apokryphen Vita Adae et Evae, die wohl zwischen 20 und 70 n. Chr. entstanden ist40, heißt es in c. 51: „Mann Gottes, nicht länger als sechs Tage sollst du um deine Toten trauern; denn die Ruhe am siebenten Tag (= Sabbat) ist das Zeichen der Auferstehung im künftigen Zeitalter, und am siebenten Tag hat der Herr geruht von allen seinen Werken.“ Hier erscheint der irdische Sabbat als Vorbild der künftigen Welt und als Bürgschaft für die Auferstehung der Toten. Die Vorstellung von der zukünftigen Welt, dem Olam habba, als einem „ewigen Sabbat" begegnet auch sonst in der rabbinischen Literatur. Dieser „ewige Sabbat“ hat in jedem irdischen Sabbat sein Vorbild und seinen Anfang und ist ohne den synagogalen Gottesdienst kaum vorzustellen41.

Die Darstellung des eschatologischen Synagogengottesdienstes in der TorloniaKatakombe weist dementsprechend auf die Hoffnungen der unter diesem Bild Beigesetzten hin. Wie sie Gott ihr Leben lang am Sabbat in der Synagoge gepriesen 37

Sanh. 91 b. Zitiert nach P. Billerbeck (Anm. 14), Bd. 4/2, München 1928, 975. Sanh. 92 a. 40 Vgl. 0. Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament, Tübingen 1964, 3. Aufl., 864. 41 Vgl. P. Volz (Anm. 14), 49 und 384 f.; H. Bietenhard (Anm. 20), 124 f. 38 39

177 haben, so werden sie auch im „ewigen Sabbat“ des Olam habba tun und damit Anteil haben an der endzeitlichen Auferstehung der Toten. Eine solche Darstellung war nur im unmittelbaren Zusammenhang mit einer Grabstätte sinnvoll. Die TorloniaKatakombe in Rom scheint uns die einzigen Beispiele dieses typisch sepulkralen Motivs erhalten zu haben. Immerhin konnte Goodenough auf einen, allerdings sehr späten Nachklang dieses Bildtyps verweisen. In einer jüdischen Handschrift aus dem Jahr 1272 findet sich ein Toraschrein, der von Sonne und Mond überstrahlt wird42. Ob hier allerdings mehr als nur formale Ähnlichkeiten vermutet werden dürfen, ist fraglich genug.

Die Basis des von uns vorgeschlagenen Deutungsversuches würde erheblich verbreitert werden, wenn die im Zusammenhang mit jüdischen Grabinschriften nicht seltenen Darstellungen (Graffiti) eines Toraschreins zwischen zwei siebenarmigen Leuchtern und verschiedener synagogaler Kultgegenstände als Abbreviaturen jenes Bildtyps aufgefaßt werden dürften, den uns die Malereien der Torlonia-Katakombe überliefert haben.

42

Vgl. E. R. Goodenough (Anm. 1), Bd. 4, New York 1954, Fig. 94 und 135.

179 Der Greis unter den Sternen. Ein Beitrag zur Deutung des Bildprogramms über der Toranische in der Synagoge von Dura Europos (1976)

Herrn Prof. Dr. Konrad Onasch zum 60. Geburtstag am 4. August 1976

Die Entdeckung der Synagoge in Dura Europos, einer Handels- und Garnisonsstadt am mittleren Euphrat im östlichen Syrien, ist in ihrer Bedeutung für die Aufhellung der spätantik-jüdischen und frühchristlichen Kunst nur mit der der Schriftrollen aus Qumran für die Bibelwissenschaft zu vergleichen. Beide Funde haben weithin als gesichert geltende Erkenntnisse grundsätzlich in Frage gestellt und dazu geführt, daß ein völlig neues Bild zu entwerfen ist, dessen Konturen allerdings noch lange nicht jene Schärfe erhalten haben, die man sich wünschen möchte 1.

Der Bau der Synagoge von Dura ist durch Ziegelinschriften in die Jahre 244/45 datiert. Sie entstand über den Resten einer älteren Haussynagoge, die in das Ende des 2. Jh.s gehört und mit rein ornamentalen Motiven ausgeschmückt war. Bereits nach etwa zehn Jahren wurde der zweite Bau im Zuge einer Verstärkung der Stadtmauern von Dura fast zur Hälfte zugeschüttet und blieb dadurch der Nachwelt erhalten. Innerhalb des knappen Zeitraums von etwa zehn Jahren, in der Mitte des 3. Jh.s, entstanden also jene großartigen Fresken, die die gesamten Wände des Innenraums in drei Streifen übereinander bedecken. Die Deutung dieser Wandbilder ist in den seit ihrer Auffindung vergangenen vier Jahrzehnten energisch vorangetrieben worden und hat als wesentliches Ergebnis die Erkenntnis gebracht, daß hier ein mit der rabbinischen Tradition vertrautes Judentum am Werk ist, welches die alttestamentlichen Szenen im Geiste schriftgelehrter Interpretationen darstellte. Daß daneben auch allerlei andere Einflüsse wirksam gewesen sind, etwa solche aus dem griechischhellenistischen Raum, darf gleichfalls als gesichert angesehen werden. Unklar ist allerdings nach wie vor die Herkunft der Bildvorlagen, die in der Durener Synagoge verwendet wurden. Immerhin dürfte unbestreitbar sein, daß die Fresken der Synago1

Leider besitzen wir für Dura Europos noch keine umfassende Bibliographie, deshalb sei hier nur auf 0. Eißfeldt, Art.: Dura-Europos, RAC IV (1959), 358-370 (Lit. 367-370); C. H. Kraeling, The Excavations at Dura-Europos, Final Report Bd. 8,1, The Synagogue, New Haven 1956 und E. R. Goodenough, Jewish Symbols in the Greco-Roman Period, Bd. IX—XI: Symbolism in the Dura Synagogue, New York 1964, verwiesen. Vgl. auch die in Anm. 3 genannte Lit.

180 ge von Dura bereits den Höhepunkt einer längeren Entwicklung dokumentieren, von der wir nicht wissen, ob sie sich beispielsweise in der Buchmalerei oder aber in der Wandmalerei anderer Synagogen vollzogen hat2. Ebenfalls unklar ist immer noch der Einfluß, den diese spätantik-jüdische Kunst auf die im Entstehen begriffene christliche Kunst auszuüben vermochte. Daß es hier Beziehungen gegeben hat, dürften die Arbeiten von K. Weitzmann, J. Gutmann, H. L. Hempel u. a. zwingend deutlich gemacht haben. Auf welchem Wege und in welchem Ausmaß diese Einflüsse jedoch wirksam wurden, ist bisher keineswegs endgültig geklärt.

Angesichts dieser Lage der Dinge kommt einer möglichst eindeutigen und überzeugenden Interpretation der einzelnen Fresken von Dura größte Bedeutung zu. Daß alle Interpretationen beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens nur den Charakter von Versuchen und Vorschlägen tragen können, muß ausdrücklich betont werden und gilt auch im vollen Umfang für den folgenden Versuch, die Deutung des zentralen Bildfeldes über der Toranische in der Synagoge von Dura ein wenig zu konkretisieren.

Hierbei gehen wir von der Überzeugung aus, daß die Gesamtdekoration des Raumes keinem einheitlichen Bildprogramm verpflichtet ist, sondern möglicherweise durch die speziellen Wünsche verschiedener Stifter bestimmt war3. Andererseits kann nicht übersehen werden, daß die sonst nur locker aneinander schließenden Bilderreihen sich an der Westwand der Durener Synagoge über der Ädicula zu einer Komposition verdichten, die auf eine sorgfältigere Planung schließen läßt. Es ist ja auch nur naheliegend anzunehmen, daß wenigstens für die Zone über der Ädicula, in der der Toraschrein seinen Platz hatte, und über dem Sitz des Archisynagogos eine theologische Konzeption erarbeitet wurde, die der rituellen Bedeutsamkeit dieses Raumteiles ent-

2

Vgl. hierzu die sorgfältigen Überlegungen von Mary L. Thompson, Hypothetical Models of the Dura Paintings, in J. Gutmann (ed.), The Dura Synagogue: A Re-Evalution (1932-1972) = (Religion and the Arts 1), Missoula (Mont.) 1973, 31-52. 3 So M. Rostovtzeff, Dura-Europos and its Art, Oxford 1938, 115 f. Anders dgg. ders., Die Synagoge von Dura, RQS 42 (1934), 203 bis 218, bes. 214. Vgl. auch H. Lietzmann, Dura Europos und seine Malereien, ThLZ 65 (1940), 113-117, bes. 117. Auf die zahlreichen Versuche einer Rekonstruktion und Deutung eines angeblich vorhandenen Bildprogramms des gesamten Raumes einzugehen, ist hier nicht der Platz. Einen Überblick über die wichtigsten Theorien bietet C. H. Kraeling (Anm 1) 92 f, 131 ff, 212 ff, 346 ff. Vgl. auch J. Gutmann, Art.: Dura Europos C, RBK 1, 1230-1240, bes. 1236 f.

181 sprach. Bereits eine rein formale Betrachtung dieser Zone läßt erkennen, daß die hier zur Verfügung stehende Wandfläche in symmetrische Bildfelder aufgeteilt wurde, die sich deutlich von den unregelmäßigen Größen und Proportionen der übrigen Fresken unterscheiden und auf eine planende und koordinierende Hand hinweisen. Vielleicht hat M. Rostovtzeff recht, wenn er an den Archisynagogos der Synagoge von Dura, Samuel den Priester, denkt, der hier seinen theologischen, amtlichen und persönlichen Einfluß geltend gemacht haben könne4. Diese rein formale Beobachtung wird durch die Erkenntnis gestützt, daß es sich bei der Durener Synagoge um einen „gerichteten Raum" handelt, dessen Zielpunkt in der Westwand, also in Richtung auf Jerusalem und den dort in der Endzeit wiederentstehenden Tempel hin, liegt5.

Die Bogenfläche der Ädicula über dem Toraschrein zeigt von links nach rechts einen siebenarmigen Leuchter, den Tempel von Jerusalem6, Lulaw und Ethrog sowie eine Darstellung der Opferung Isaaks. Wahrscheinlich sollte hier auf die Kontinuität göttlichen und kultischen Handelns abgehoben werden: Nach rabbinischer Auffassung waren der Berg im Land Morija (Gen 22,2), auf dem das Isaaksopfer stattfand, und der Berg Morija, auf dem der Jerusalemer Tempel errichtet wurde (2 Chron 3,1), identisch7. Die besondere Bedeutung des Isaaksopfers für die Frömmigkeit einer synagogalen Gemeinde hat R. Meyer so umschrieben: „Der gläubige Jude mußte in einer derartigen Auslegung (der Geschichte von Isaaks Opferung) die Vergegenwärtigung des göttlichen Heilsplanes sehen: Abraham steht nach dem vor aller Zeit von Gott gefaßten Plan in seiner schwersten Gehorsamsprüfung, aber vor aller Zeit hat ihm Gott auch bereits die Hilfe geschaffen, die im rechten Augenblick zur Stelle war. Für den Israeliten bedeutete aber ein solches Bild nicht nur eine einfache Reminiszenz an Gottes Heilstaten in der Geschichte, sondern es war ihm zugleich, wie die 4

Vgl. M. Rostovtzeff (Anm 3) 115 f. Zur Begründung vgl. G. Kretschmar, Ein Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Kunst in der Antike, in Abraham unser Vater, Leiden—Köln 1963, 294-319, bes. 302 f. 6 Vgl. dazu die bei R. Wischnitzer, The ,Closed Temple' Panel in the Synagogue of Dura-Europos, JAOS 91 (1971), 367 Anm. 2 zitierte Lit. 7 Daß der Morija, die Stätte der Opferung Isaaks, der Tempelberg ist, sagt u.a. Josephus, Ant. 1,226. (Nachtrag: Erst nach Abschluß dieser Studie wurde mir der Aufsatz von K. Schubert, Die Bedeutung des Bildes für die Ausstattung spätantiker Synagogen — dargestellt am Beispiel der Toraschreinnische der Synagoge von Dura Europos, Kairos 17 (1975), 11-23, bekannt, in dem das hier nur Angedeutete ausgeführt und belegt worden ist.) 5

182 dahinter stehende und längst vertraute Legende, ein Stück Anschauung für sein eigenes Leben. Nichts geschieht in der Welt von ungefähr, denn Gott hat seinen Plan für den Ablauf der Weltgeschichte vor aller Zeit festgelegt“8. Darüber hinaus aber mußte sich für den Betrachter dieser Darstellung die gerade für eine in der Diaspora lebende jüdische Gemeinde besonders wichtige Zusage Gottes an den Erzvater in Erinnerung bringen: „Ich habe bei mir selbst geschworen, spricht Jahwe, weil du solches getan und deinen einzigen Sohn nicht verschont hast, daß ich deinen Samen segnen und vermehren will wie die Sterne am Himmel und den Sand am Ufer des Meeres. Und durch deinen Samen sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden (Gen 22,16-18)."

So boten die einzelnen Bildmotive der Bogenfläche der Ädicula neben dem Hinweis auf den göttlichen Heilsplan für diese Welt und die Abrahamsverheißung in Gen 22 Anlaß zur Besinnung auf die Kontinuität des göttlichen und kultischen Handelns: Auf dem Berg Morija hatte Gott seinen Segen über den Erzvater des jüdischen Volkes und über alle seine Nachkommen gesprochen; an gleicher Stelle erhob sich später der Tempel, das „Haus seines Namens“9, in dem der später auch von der Synagoge übernommene und zum Symbol des Judentums schlechthin gewordene siebenarmige Leuchter, die Menora, stand10. Die jüdische Gemeinde von Dura Europos versinnbildlichte durch die Darstellungen auf der Bogenfläche über dem Toraschrein den Glauben, daß sie selbst als Glied in diese Kette heilsgeschichtlicher Zusammenhänge gehört.

8

R. Meyer, Betrachtungen zu drei Fresken der Synagoge von Dura-Europos, ThLZ 74 (1949), 29-38, bes. 30-34. 9 Vgl. Salomos Tempelweihgebet 1 Kön 8,16 ff. 10 Vgl. W. Eltester, Der Siebenarmige Leuchter und der Titusbogen, in Judentum, Urchristentum, Kirche (= FS J. Jeremias, BZNW 26), Berlin 19642, 62-76, bes. 76: „Ideogramm für Gottes Herrschaft und Sinnbild für den Gottestitel Kyrios pantokrator“. Vgl. auch E. R. Goodenough, The Menorah among the Jews of the Roman World, HUCA 23 (1950/51), 449-492; D. Sperber, The History of the Menorah, JJS 16 (1965), 135-159. Problematisch ist allerdings, daß Men 28 b, RH 24 a und AZ 43 a die Nachbildung der Menora verbieten. Sollte die Darstellung der Menora in der Synagoge von Dura ein Abbild der auf Gottes Befehl nach der Zerstörung des Ersten Tempels in den Himmel entrückten Tempel-Menora sein, wie die rabbinische Tradition zu erzählen wußte? Vgl. L. Linzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1947, Bd. 3, 161; Bd. 4, 282, 321; Bd. 6, 19 n. 112, 66 n 341, 377 f. n. 118 und J. Gutmann, A Note an the Temple Menorah, ZNW 60 (1969), 289-291, bes. 289 Anm 1. Dann wäre die Auffassung zusätzlich abgesichert, die in dem Tempelbild von Dura den in der Endzeit wiederkehrenden himmlischen Tempel sehen möchte.

183 In welch hohem Maße die Durener jüdische Gemeinde von solchem heilsgeschichtlichem Bewußtsein erfüllt war, soll eine Beschreibung der weiteren Fresken oberhalb der Ädicula zu erhärten suchen11. Dabei ist zunächst auf die Tatsache hinzuweisen, daß das Mittelbild, welches sich über zwei Registerbänder oberhalb der Toranische erstreckt, durch seinen überaus schlechten Erhaltungszustand heute weithin nur noch anhand von Nachzeichnungen, die unmittelbar nach Freilegung der Synagoge angefertigt wurden und deren Zuverlässigkeit nicht als völlig unbestritten gilt, interpretiert werden kann. Da es im Rahmen dieses Aufsatzes ohnehin nur eine sekundäre Rolle spielt, ist es fürs erste schon interessant, auf die Gründe für einen derartig schlechten Erhaltungszustand einzugehen, der in so auffälliger Weise von dem der unmittelbar anschließenden Bildfelder absticht. Wie bereits gesagt, hat die Durener Synagoge alles in allem nur etwa zehn Jahre lang als Kultraum gedient. Innerhalb dieser kurzen Zeitspanne wurden für das Mittelbild nicht weniger als drei Entwürfe geschaffen und übereinander gemalt. Daß die aufeinander gelegten Malschichten sich gegenseitig beeinflußten, zumal die Freskanten bei ihrer Arbeit nicht mit allzu großer Sorgfalt vorgegangen sind, bietet die technische Erklärung für den heutigen schlechten Zustand. Wichtiger aber ist die ganz offensichtliche Tatsache, daß die bildnerisch-theologische Aussage gerade dieses Bildfeldes als so eminent wichtig angesehen wurde, daß sie dem jeweilig neuesten Stand der rabbinischen Lehrauffassungen anzupassen versucht wurde.

Die unterste und älteste Malschicht zeigte einen großen weitverzweigten Baum, unterhalb dessen symbolische Darstellungen angebracht waren, deren sichere Deutung nicht mehr möglich ist. Um so wahrscheinlicher ist jedoch die Interpretation des Baumes als Lebensbaum, die durch manche Ausführungen im rabbinischen Schrifttum nahegelegt wird. Nach Gen 3,24 wurden die Stammeltern aus dem Paradies vertrieben und der Zugang zum Lebensbaum innerhalb des Paradieses von Gott durch die Keruben verhindert. Der Targum Neophyti, der Targum Ps. Jonathan und der Targum Jeruschalmi stimmen in dem Vergleich der Tora mit dem Lebensbaum überein, indem einer, der die Tora befolgt, jemandem gleich zu rechnen ist, der von den 11

Diese Beschreibung fußt auf der umfangreichen Spezialliteratur, ohne diese jeweils namhaft zu machen. Eine prägnante Zusammenfassung findet sich bei U. Schubert, Spätantikes Judentum und Frühchristliche Kunst (= SJA 2), Wien 1974, 55.

184 Früchten des Lebensbaumes ißt. Aber die Targumim wenden dieses Bild auch mit eschatologischem Bezug an, wenn sie erklären, daß diejenigen dermaleinst von dem Lebensbaum essen werden, die in dieser Welt den Gesetzen der Tora Gehorsam gewesen sind12. So versinnbildlichte bereits die älteste Malschicht des zentralen Bildfeldes in der Durener Synagoge die stark eschatologisch geprägte Hoffung dieser Gemeinde.

Aber diese Formulierung scheint als nicht genügend angesehen worden zu sein. Deshalb wurde die älteste Malschicht teilweise übermalt. Erhalten blieben der Baum im Mittelfeld und die symbolischen Gegenstände zu beiden Seiten seines Stammes. Neu hinzugefügt wurde dagegen eine Herrschergestalt in persischer Tracht, die auf einem Thron sitzt, vor dem zwei Gestalten in Chiton und Himation stehen. Man wird nicht fehlgehen, wenn man in der Gestalt des Thronenden eine messianische Gestalt erkennt, nämlich den in Gen 49,10 verheißenen König von Juda13. Diese Interpretation wird im besonderen durch die Figur eines Löwen, der vor dem Thron steht, gestützt: Er ist der Löwe von Juda. Die beiden Gestalten in Chiton und Himation mögen den Patriarchen, den Repräsentanten des Judentums im Imperium Romanum mit seiner Residenz in Palästina, und den Exilarchen, den Repräsentanten der Juden im Persischen Reich mit Sitz in Babylon, wiedergeben, die sich beide auf eine Abstammung aus dem Hause Davids beriefen. Vielleicht stellen sie aber auch „Schreiber" und „Gesetzeslehrer" dar, entsprechend dem Targum Ps. Jonathan zu Gen 49,10: „Könige und Herrscher sollen nicht vom Hause Juda weichen, noch Schreiber und Gesetzeslehrer von seinen Nachkommen"14.

12

Vgl. die immer noch grundlegende Studie von Z. Ameisenowa, The Tree of Life in Jewish Iconography, Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 2 (1938/39), 326-345, in der allerdings noch nicht auf das Durener Fresko eingegangen wird. Auch E. 0. James, The Tree of Life, An Archeological Study (= Studies in the History of Religions. Suppl. to Numen 11), Leiden 1966, berücksichtigt das Bild aus Dura nicht. 13 Zur Auslegungsgeschichte von Gen 49,10 vgl. neben den einschlägigen Kommentaren A. Posnanski, Schiloh, Ein Beitrag zur Geschichte der Messiaslehre, Leipzig 1904; die neuere Lit. bei J. Coppens, La bénédiction de Jacob, SVT 4 (1957), 113. 14 Vgl. auch Sanh 36 b-37 a, wo Schreiber und Gesetzeslehrer als „Mitarbeiter“ des Synhedriums genannt werden. Ahnlich wie der Targum Ps. Jonathan äußert sich auch der Targum Onkelos, während der Midrasch Gen rabba 98,9 zu Gen 49,10 die Stelle auf die zwei in Sanh 36 b-37 a genannten Schreiber bezieht.

185 Aber auch diese wiederum eindeutig eschatologisch getönte Aussage, deren Pointierung um so schärfer wäre, wenn in den beiden vor dem Thron des messianischen Herrschers Stehenden wirklich die Gestalten des Patriarchen und Exilarchen erkannt werden und damit die Hoffnungen sowohl des palästinensischen als auch des in der Diaspora lebenden Judentums ausgedrückt würden, entsprach nicht zur Gänze den gerade im 3. nachchristlichen Jh. sich schärfer profilierenden Auffassungen der Rabbinen von den kommenden Dingen. Man übermalte deshalb die gesamte Fläche einheitlich mit roter Farbe und sparte nur die Gestalt des Thronenden mit seinen beiden Begleitfiguren und dem Löwen aus. Die Fläche wurde nun in zwei etwa gleichgroße Bildfelder geteilt und damit der Einteilung in Register, wie sie die ganze Westwand zeigt, angepaßt. In der unteren Bildfläche wurde der Jakobssegen (Gen 48) über die beiden Söhne Josephs und der über die 12 eigenen Söhne Jakobs (Gen 49) dargestellt. Damit konnte man auf die im Judentum des 3. Jh.s besonders lebendige Erwartung des Erscheinens zweier Messiasse anspielen. Der eine, siegende Messias wurde aus dem Hause David erwartet, also aus dem Stamm Juda, während ein zweiter, kämpfender, leidender und unterliegender Messias aus dem Stamm Ephraims, dem Sohn Josephs, erwartet wurde. Dieser zweite Messias wurde als Vorläufer und Wegbereiter des davidischen Messias angesehen15. über der Szene des Jakobssegens findet sich die Darstellung eines thronenden Leierspielers in phrygischer Mütze und mit der Chlamys über der linken Schulter. Daß es hier um ein Bild Davids geht, ist kaum anzuzweifeln. Und damit ist das Gesamtthema dieses unteren Bildstreifens bestimmt: Es weist auf die Tage des Messias hin, die messianische Endzeit.

Bereits im 1. Jh. nun hatte aber eine Differenzierung der jüdischen Lehrmeinungen über die Phasen der Endzeit begonnen. Hatte man zunächst noch die messianische Zeit mit der zukünftigen Welt schlechthin identifiziert und als ewig dauernd angesehen, so unterschied man jetzt immer schärfer zwischen den „Tagen des Messias" 15

Vgl. dazu zusammenfassend das durch seine psychoanalytischen Ambitionen allerdings problematische Buch von S. Hurwitz, Die Gestalt des sterbenden Messias, Religionspsychologische Aspekte der jüdischen Apokalyptik (= Studien aus dem C. G. Jung-Institut Zürich 8), Zürich 1958. Daß die Freskanten der Durener Synagoge an der Gestalt des Messias ben Joseph besonderes Interesse hatten, geht aus der Szene der Erweckung des Sohnes der Witwe durch Elias hervor, der in der rabbinischen Literatur mit dem Messias ben Joseph identifiziert wurde. So schon I. Sonne, The Paintings of the Dura Synagogue, HUCA 20 (1947), 255-326, bes. 324 ff.

186 als einer einleitenden, zeitlich begrenzten Phase, die der des Olam ha-ba, der zukünftigen ewigen Welt, vorangeht und also im Grunde genommen noch dem Olam ha-zä zuzurechnen ist. Beide Phasen gehören zwar aufs engste zusammen, sind aber von grundsätzlich unterschiedlichem Charakter16. Offensichtlich haben die Künstler der Durener Synagoge versucht, dieser differenzierten Enderwartung, die im Verlauf des 3. Jh.s voll ausgeprägt worden ist, Rechnung zu tragen, indem sie in dem oberen Teil der zentralen Bildfläche den Thronenden mit seinen zwei Begleitfiguren aus der zweiten Übermalung beließen und die Szene um eine Doppelreihe von elf oder auch dreizehn Figuren in persischer Tracht — die genaue Zahl ist nicht mehr auszumachen — bereicherten. Auf diese Weise gelang es, ein Bild des Olam ha-ba zu gestalten, in dem — horribile dictu für jüdische Ohren — Gott selbst als Herrscher der zukünftigen Welt mit seinem Hofstaat erscheint. Sollte diese Interpretation zutreffend sein, so wäre in der Synagoge ein Bild von äußerster theologischer Kühnheit gewagt worden, das nicht nur das ansonsten sorgsam gemiedene Bild von Gott selbst, sondern sogar das des richtenden Herrn der jenseitigen Welt darstellte.

Beide Mittelbilder über der Ädicula werden von jeweils zwei hochformatigen Randbildern begleitet, deren Darstellungen in enger Beziehung zu denen der Mittelbilder gesehen werden müssen. Das rechte obere Randbild zeigt Moses vor dem brennenden Dornbusch (Ex 3). Die Deutung dieser Darstellung wird durch eine aramäische Inschrift „Moses, Sohn des Levi" zusätzlich abgesichert. Das Bild auf der linken oberen Seite dürfte gleichfalls Moses zeigen, wenn auch nicht sicher auszumachen ist, um welche Szene aus dem Leben Moses es sich im Einzelnen handelt. Der schlechte Erhaltungszustand des Fresko läßt lediglich die untere Körperhälfte eines in eine Tunika gekleideten Mannes erkennen, der seine Schuhe, wie der Moses vor dem brennenden Dornbusch, abgelegt hat. C. Hopkins wollte an das Jos 5,13-15 geschilderte Geschehen denken17, obwohl von der für diese Begebenheit wichtigen Gestalt des Engels keinerlei Andeutung zu entdecken ist. Mit Recht hat C. H. Kraeling weiterhin auch darauf hingewiesen, daß der biblische Bericht davon spricht, Josua sei auf sein 16

Eine Zusammenstellung der einschlägigen Quellentexte bietet P. Billerbeck in dem Exkurs „Diese Welt, die Tage des Messias und die zukünftige Welt“ seines Kommentars zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 4,2, München 1928, 799-976. 17 Vgl. C. Hopkins, La synagogue de Doura-Europos, Comptes rendus des séances de l'Académie des Inscriptions et Belles-Lettres 1933, 243-254, bes. 247.

187 Angesicht gefallen und habe angebetet, was bei einer Darstellung dieser Szene kaum unberücksichtigt hätte bleiben können18. Mit Goodenough19 u. a. wird man deshalb hier Moses erkennen dürfen, der am Sinai die Gesetzestafeln, die Tora, empfängt (Ex 34). Dafür spricht der im Hintergrund des Bildes angedeutete Höhenzug und die Bedeutsamkeit gerade dieses Geschehens für das religiöse Selbstverständnis des Judentums20. Beide Darstellungen sind gattungsmäßig den Theophaniebildern zuzurechnen, durch die Ereignisse, die für den Glauben Israels von grundlegender Bedeutung waren, verdeutlicht werden. Auffallenderweise wird der Moses dieser zwei Theophaniebilder im Profil dargestellt, während die synagogale Kunst jener Zeit sonst die Abbildung en face bevorzugt. Möglicherweise sollte so aber eine besonders enge Beziehung zu dem eschatologischen Theophaniebild des Mittelfeldes hergestellt und bereits so die Verknüpfung von Anfang und Ende der Heilsgeschichte angedeutet werden.

Wesentlich schwieriger gestaltet sich die Interpretation des unteren rechten Randbildes, das einen Mann zeigt, der aus einer Schriftrolle vorliest. Einige Gelehrte haben in dieser Gestalt Ezra, den Prototypen des Schriftgelehrten, erkannt21, während andere an Jeremia22, Samuel23 oder Nathan24 dachten. E. L. Sukenik25 und Goodenough26 glaubten ihrerseits, hier wiederum Moses identifizieren zu können, der das Gesetz vor dem Volk Israel verkündet (Ex 34). Goodenough schreibt: „Moses' audience is omitted, and Moses stands alone, so that he reads the Law to the living audience in the synagogue before him"27. Dieser Gedanke besticht allerdings nur auf den

18

Vgl. The Excavations at Dura-Europos, Preliminary Report of sixth Season, Report an the Synagogue at Dura, New Haven 1936, 347. 19 Vgl. E. R. Goodenough, By Light, Light, The Mystic Gospel of Hellenistic Judaism, New HavenLondon 1935, 242; ders. (Anm 1) Bd. IX, 112. 20 Der von R. Wischnitzer, The Messianic Theme in the Paintings of the Dura Synagogue, Chicago 1948, 81 f. unternommene Versuch, hier die Ex 4,1-9 berichtete Ausrüstung des Moses mit der Wundergabe illustriert zu finden, ist wenig überzeugend. 21 Z.B. C. H. Kraeling (Anm 1) 232 ff. und R. du Mesnil du Buisson, Les peintures de la synagogue de Doura-Europos 245-256 après J.-C. (= SPIB 86), Rom 1939, 92. Vgl. auch 0. Eißfeldt, Die Wandbilder der Synagoge von Dura-Europos, FF 31 (1957), 241-249, bes. 245. 22 Vgl. C. Hopkins (Anm 17) 247. 23 Vgl. R. Wischnitzer (Anm 20) 83 ff. 24 Vgl. R. Wischnitzer (Anm 6) 367-382. 25 Vgl. E. L Sukenik, Ancient Synagogues in Palestine and Greece, London 1934, 84. 26 Vgl. E. R. Goodenough (Anm 19) 242; ders., Jewish Symbols (Anm 1), Bd. IX, 113 ff. 27 Vgl. E. R. Goodenough (Anm 1) Bd. IX, 113.

188 ersten Blick, denn die Gestalt dieses Randbildes besitzt keine stärkeren Beziehungen zu der sich in der Synagoge versammelnden Gemeinde als die der übrigen, von denen eine so direkte Beziehung auf die damals gegenwärtige synagogale Gemeinde nicht ohne weiteres behauptet werden kann. Übrigens spricht gegen eine Identifizierung des Vorlesenden mit Moses auch die Ausrüstung mit einer Schriftrolle, die nach Neh 8,1 (sepher = Buch, Buchrolle) Ezra zukommt, während Moses die Tora auf Tafeln (luach) empfing. Goodenough möchte zwar, ausgehend von der Tatsache, daß die beiden oberen Randbilder Moses darstellen, annehmen, auch die beiden unteren müßten nun gleichfalls den großen Volksführer abbilden. Aber dieser Schluß ist keineswegs zwingend, denn ganz offensichtlich ging es bei der Auswahl der Themen dieser vier Randbilder doch darum, Begebenheiten darzustellen, die für die Geschichte und den Glauben Israels bzw. des Judentums konstitutiv waren. Dementsprechend stellte man an den Anfang die Selbstoffenbarung Jahwes (Ex 3), der der Bundesschluß Jahwes mit Israel und die Übergabe der Tora als der „Urkunde" dieses Bundesschlusses (Ex 34) folgt. Damit rief man die zwei Grundfakten der religiösen Existenz Israels ins Gedächtnis, auf denen das ganz besondere Verhältnis Israels zu seinem Gott beruht. Unwillkürlich fragt man dann aber, ob die Verlesung der Tora vor dem Volk durch Moses, wie Goodenough dachte, der Bedeutsamkeit der zuvor abgebildeten Ereignisse auch nur annähernd entspricht. Ist es nicht die Erneuerung des einstmals mit Israel geschlossenen Bundes durch Ezra (Neh 8-10), die sich gleichrangig an die zuvor geschilderten Ereignisse anschließt? Die spätere jüdische Tradition hat gerade diesen Vorgang nicht hoch genug preisen können und in Ezra denjenigen gesehen, welcher die Tora, nachdem sie von Israel vergessen worden war, wieder begründete. Die Bedeutung Ezras wurde von den Rabbinen so hoch angesetzt, daß er sogar zu Moses in Parallele gebracht werden konnte28 und zum Ruhme eines Schriftgelehrten gesagt wurde, er sei ein Schüler Ezras zu nennen29. Wie von Kraeling u. a. vorgeschlagen, dürfte also in der Gestalt des Vorlesen-

28

In Sanh 21 b heißt es sogar: „Ezra wäre würdig gewesen, die Tora zu bringen, wäre nicht Moses ihm zuvorgekommen.“ 29 2 Vgl. F. Weber, Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften, Leipzig 1897 , 1-5; M. Munk, Esra Hasofer nach Talmud und Midrasch, Jb. der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 21, Frankfurt/M. 1930, 129-198. Nach 4 Ezra 14,9.49 wurde Ezra sogar in den Himmel aufgenommen und nach. 13,52 (vgl. auch 7,28) wird er zu den Gefährten des Menschensohnes gehören, der am Ende der Tage erscheint.

189 den auf dem dritten Randbild rechts unten Ezra, der Wiederbegründer der Tora, zu erkennen sein.

Wenn diese Deutung richtig ist, würde sich der die vier Randbilder inhaltlich zusammenfügende Grundgedanke dahingehend genauer fassen lassen, daß hier die Geschichte Jahwes mit seinem Volk als „Geschichte“ der Tora geschildert wird. Diese inhaltliche Spezifizierung entspräche in ganz besonderer Weise dem Platz dieser Bilder über der Nische des Toraschreins. Die Richtigkeit unserer Annahme wird von der Interpretation abhängen, die für das vierte und letzte der Randbilder wahrscheinlich gemacht werden kann.

Dieses zeigt einen bärtigen weißhaarigen Greis, der sich dem Betrachter fast frontal zuwendet. Der Mann ist in einen weiten, weißen Mantel gehüllt, unter dem er die Arme gekreuzt hält. Ober seinem Haupt sind Sonne, Mond und sieben Sterne zu sehen. Die Identität dieser Figur ist bis heute ungeklärt geblieben. Man hat an Abraham gedacht, dem vor allem in der apokryphen Literatur eine besondere Kenntnis der Sterne zugeschrieben wurde30. Diese Identifikation soll zudem die ikonographische Beobachtung für sich haben, daß der Abraham der Wiener Genesis31 in gleicher Weise weißhaarig, mit gekreuzten und verhüllten Händen unter dem Sternenhimmel mit Sonne und Mond dargestellt wird32. Allerdings läßt bereits ein flüchtiger Vergleich beider Darstellungen die fundamentalen Unterschiede erkennen. Der Abraham der Wiener Genesis wird im Halbprofil gezeigt. Der „Gestus der verhüllten Hände" begegnet ebenso z. B. in der Szene der Begegnung des Erzvaters mit dem Priesterkönig Melchisedek33 und der von Isaaks Tod34 als Gebärde der Demut. Was aber vor allem den Hinweis auf den „Sternenhimmel mit Sonne und Mond“ angeht, so muß 30

Vgl. z. B. R. du Mesnil du Buisson (Anm 21) 53 ff.; A. Grabar, Le theme religieux des fresques de la synagogue de Doura (245-256 après J.-C.), RHR 123 (1941), 143-192, bes. 182; R. Wischnitzer (Anm. 20) 79 ff. Zur Beurteilung Abrahams im spätantiken Judentum vgl. M. Dibelius, Der Brief des Jakobus (ergänzt von H. Greeven), Göttingen 196411, 206-214 und U. Riedinger, Die heilige Schrift im Kampf der griechischen Kirche gegen die Astrologie von Origenes bis Johannes von Damaskus, Studien zur Dogmengeschichte und Astrologie, Innsbruck 1956, 106 bis 116. 31 Vgl. H. Gerstinger, Die Wiener Genesis, Farbenlichtdruckfaksimile der griechischen Bilderbibel aus dem 6. Jahrhundert n. Chr., Cod. Vindob. Theol. graec. 31, Wien 1931, Taf. 8. 32 Vgl. H.-L. Hempel, Zum Problem der Anfänge der AT-Illustration, ZAW 69 (1957), 103-131, bes. 117 Anm. 58 b. 33 H. Gerstinger (Anm 31) Taf. 7. 34 H. Gerstinger (Anm 31) Taf. 27.

190 hierzu festgestellt werden, daß die eigentliche Pointe dieses Details in der Wiener Genesis die Hand Gottes ist, die ebenso in der links daneben stehenden Szene des Abrahamstraumes, aber auch in der Wiedergabe des Sündenfalls35, der Austreibung aus dem Paradies36, des Noahbundes37, der erneuten Verheißung an Abraham38 und des Befehles Gottes an Jakob, nach Bethel zu ziehen39, in der Form wiedergegeben wird, daß solch übernatürliches Eingreifen regelmäßig durch eine kräftig blaue Halbellipse angedeutet, in der die Hand bzw. der Arm Gottes erscheint. Zum „Gestus der verhüllten Hände“ hat J. Gutmann40 auf b. Schab 10 a hingewiesen, wo die Gebetshaltung R. Rabas beschrieben wird. Allerdings zitiert er nur den wenig hilfreichen Anfang der betreffenden Passage: „Raba pflegte das Obergewand abzulegen, die Hände aneinander zu reiben und dann zu beten, indem er sagte: Wie ein Sklave vor seinem Herrn“. Offensichtlich ist Gutmann die viel interessantere Fortsetzung dieses Textes entgangen: „R. Asi erzählte: Ich sah, wie R. Kahana, wenn Unglück auf der Welt war, das Obergewand abzulegen, die Hände aneinander zu reiben und dann zu beten pflegte, indem er sagte: Wie ein Sklave vor seinem Herrn. Wenn Friede auf der Welt war, pflegte er sich anzukleiden, zu bedecken, einzuhüllen und dann zu beten, indem er sagte: Bereite dich vor, Israel, deinem Gott gegenüber zu treten.“ Die Beschreibung der Gebetshaltung R. Kahanas in Verbindung mit dem von ihm zitierten Schriftwort macht deutlich: Es geht um das unmittelbare Hinzutreten vor Gott, das einen Gestus besonderer Ehrfurcht, eben den der „verhüllten Hände“, erfordert. Allerdings wird diese Gebetshaltung R. Kahanas von dem Berichterstatter, R. Asi, offensichtlich als etwas Besonderes und deshalb Erwähnenswertes angesehen41.

35

H. Gerstinger (Anm 31) Taf. 1. H. Gerstinger (Anm 31) Taf. 2. H. Gerstinger (Anm 31) Taf. 5. 38 H. Gerstinger (Anm 31) Taf. 11: hier allerdings nicht die Hand Gottes, sondern dem Text entsprechend der Engel Gottes. 39 H. Gerstinger (Anm 31) Taf. 25. Vgl. auch die Wiedergabe des Joseftraumes Taf. 29. 40 Vgl. J. Gutmann, Programmatic Painting in the Dura Synagogue, in J. Gutmann (ed.), The Dura Synagogue (Anm 2) 137-154, bes. 143. 41 Zum Gestus der „verhüllten Hände“ vgl. A. Dieterich, Der Ritus der verhüllten Hände, in ders., Kleine Schriften, Leipzig—Berlin 1911, 438-488 und K. Wessel, Art.: Gesten J, RBK 2, 781-783 (mit Lit.). 36 37

191 Andere wiederum glaubten in der Figur des Greises Josua zu erkennen, für den Gott im Tal Ajalon Sonne und Mond stillstehen ließ42. Weiter wurde Henoch, der Astrologe par excellence innerhalb der spätantik-jüdischen Tradition, erwogen43, und schließlich auch der in den Himmel aufgenommene Moses44. Alle diese Vorschläge sind letztlich nicht mehr als ein tastender Versuch, der rätselvollen Gestalt des vierten Randbildes überhaupt einen Namen zu geben. Wenn der von uns angenommene Grundgedanke der Bilderreihe richtig erkannt sein sollte, müßte hier ein in die Endzeit gehöriges Ereignis bzw. eine dorthin gehörige Figur dargestellt sein, wodurch die Geschichte Jahwes mit seinem Volk und die der Tora ihr Ziel erreicht.

Vorzüglich müßte dann an eine jener Gestalten gedacht werden, deren ungewöhnliches Lebensende das spätantike Judentum zu eschatologisch-apokalyptischen Spekulationen anregte. In Betracht kommen hier Henoch45, Moses, Elias, Baruch und Ezra, denen die spätantik-jüdische Tradition eine „eschatologische Sonderfunktion“ zuschrieb, da sie „auf dem Wege der leiblichen Entrückung in die himmlische Welt eingegangen sind“46. Die Entscheidung, welche der genannten Personen in Dura Europos gemeint sein könnte, wird sich mit Hilfe ikonographischer Argumente nicht klären lassen, da zahlreiche Figuren von hervorgehobener Bedeutung die gleiche Kleidung tragen, und somit ein wichtiges Hilfsmittel zur Identifikation ausfällt47. So sind wir gezwungen, inhaltliche Kriterien zur Geltung zu bringen, um einer Lösung näherzukommen.

Wie bereits gesagt, muß nach unserer Auffassung das letzte der vier Randbilder ein auf die Endzeit bezogenes Thema gestalten. Dafür spricht neben dem eindeutig e42

Vgl. z. B. E. L. Sukenik (Anm 25) 84. Vgl. z. B. J. Hempel, Chronik, ZAW 51 (1933), 284-294, bes. 289. Vgl. u. a. E. R. Goodenough (Anm 19) 242; ders. (Anm 1) Bd. IX, 115 ff; M. Rostovtzeff (Anm 3) 108 (ders. Die Synagoge von Dura [Anm 3] 210 noch unentschieden); R. de Vaux, Les peintures de la Synagogue de Doura-Europos par M. du Mesnil du Buisson, RB 49 (1940), 137-143, bes. 139. 45 Zu Henoch vgl. jedoch E. Peterson, Henoch in jüdischem Gebet und in jüdischer Kunst, in ders., Frühkirche, Judentum und Gnosis, Rom—Freiburg—Wien 1959, 36-42. 46 G. Haufe, Entrückung und eschatologische Funktion im Spätjudentum, ZRRG 13 (1961), 105-113. Vgl. auch die Untersuchung von A. Schmitt, Entrückung — Aufnahme — Himmelfahrt, Untersuchungen zu einem Vorstellungsbereich im Alten Testament (= Forschungen z. Bibel 10), Stuttgart 1973, 47151 zu Elias und 152-192 zu Henoch. 47 Vgl. B. Goldman, The Dura Synagogue Costumes and Parthian Art, in J. Gutmann (ed.), The Dura Synagogue (Anm 2) 53 bis 77. 43 44

192 schatologischen Akzent des gesamten Mittelfeldes und dem wohl doch deutlich zu erkennenden, die Randbilder inhaltlich zusammenfügenden Anliegen, die „Geschichte" der Tora zu gestalten, auch die Ausstattung der hier gezeigten Person mit den Gestirnszeichen von Sonne und Mond sowie sieben Sternen. Wie wir bereits an anderer Stelle auszuführen versucht haben48, können solche astronomischen Attribute der spätantik-jüdischen Ikonographie als Hinweis darauf verstanden werden, daß es um eine Szene der Endzeit geht. Leider kennen wir bisher nur drei Zeugnisse spätantik-jüdischer Kunst, auf denen Sonne und Mond in solch hervorgehobener Weise begegnen: die Fresken in Arkosol IV und Cubiculum II der jüdischen TorloniaKatakombe in Rom und das hier zur Diskussion stehende Fresko aus der Synagoge von Dura Europos.

Ein wesentlicher Grund für das auffallend seltene Auftreten dieses ikonographischen Motivs in der spätantik-jüdischen Kunst dürfte, abgesehen von unseren ohnehin unzulänglichen Kenntnissen der einstmals vorhandenen jüdischen Kunst, darin zu finden sein, daß gerade die Darstellung der Gestirne, besonders aber die von Sonne und Mond, bei den rabbinischen Autoritäten heftig umstritten war. Im Traktat Abhoda Zara, der vom Götzendienst handelt, heißt es in 42 b: „Findet man Geräte, worauf das Bild der Sonne, des Mondes oder eines Drachen sich befindet, so werfe man sie ins Salzmeer. R. Simon b. Gamliel sagt, auf luxuriösen sind sie verboten, auf gemeinen sind sie erlaubt.“ Diese Mischna, in der der Name des von Josephus49 mehrfach lobend erwähnten R. Simon b. Gamliel d. Ä. aus der Zeit des Jüdischen Krieges festgehalten ist, wird ausführlich in einer Gemara diskutiert, in der Rabbinen des zweiten und dritten Jahrhunderts zu Worte kommen. Offensichtlich setzt die Mischna voraus, daß Geräte, auf denen Sonne und Mond dargestellt sind, nur gefunden werden können, sich also nicht von vornherein in jüdischem Besitz befinden. Solche Geräte sollen „ins Salzmeer geworfen“, d. h. vernichtet werden. R. Simons Unterscheidung von luxuriösen und gemeinen Geräten wird durch R. Rabh (gest. 247) erläutert: Luxuriös sind alle Gefäße zur Aufnahme von Flüssigkeiten, bei deren Gebrauch die Darstellung von Sonne und Mond sichtbar wird. Solche Gefäße müssen vernichtet werden. 48

Vgl. P. Maser, Zur Deutung der Fresken in Arkosol IV und Cubiculum II der jüdischen TorloniaKatakombe in Rom, Kairos 17 (1975), 81-88. Vgl. Josephus, Vita 38 und Bell Jud 4,3,9.

49

193 R. Samuel (gest. 254) dagegen erklärt alle Gefäße für gemein und also erlaubt, verbietet aber Armspangen, Nasenringe und Fingerringe, so daß in Übereinstimmung mit R. Samuel in der Gemara festgehalten werden kann: „Luxuriös sind solche, die sich auf Armspangen, Nasenringen und Fingerringen befinden; gemein, die sich auf Kesseln, Kasserollen, Kannen, Laken und Tüchern befinden.“ Die weitere Diskussion der Gemara läßt als Motiv für derartige diffizile Unterscheidungen die Furcht vor idololatrischem Mißbrauch dieser Geräte erkennen.

Deshalb verfügt R. Scheschet, ein Schüler R. Samuels: „Alle Planeten sind erlaubt, ausgenommen Sonne und Mond; alle Abbildungen (von Geschöpfen) sind erlaubt, ausgenommen die Abbildungen eines Menschen; alle (heraldischen) Figuren sind erlaubt, ausgenommen die Figur eines Drachen.“ Die Auseinandersetzung über die Darstellung von Sonne und Mond wird zusätzlich durch die Tatsache kompliziert, daß R. Gamliel auf seinem Söller die Abbildungen der verschiedenen Mondphasen aufbewahrte, die er jenen Zeugen zeigte, die vor Gericht das Erscheinen des Neumonds zu bekunden hatten, und diese fragte: „Habt ihr ihn so gesehen? Oder so?“ Hat R. Gamliel damit gegen das Gebot verstoßen: „Ihr dürft nicht fertigen Abbildungen meiner Dienstlinge, die vor mir Dienst tun?“ R. Abajje (gest. 338/9) beantwortet diese Frage: „Die Nachbildung und vor allem die Anbetung der Dienstlinge der oberen (= Dienstengel) und der unteren (= Sonne, Mond, Sterne und Planeten) Himmelswölbung ist durch die Tora verboten, nicht aber deren Abbildung.“ Deutlich wird hier die bekannte Abneigung der Rabbinen gegen alle Formen der Plastik ausgesprochen, die auf die Tatsache zurückging, daß vor allem die Freiplastik die bevorzugte Domäne des heidnischen Kultbildes war. Aus gleichen Beweggründen hat auch die frühchristliche Kunst die Freiplastik gemieden50. Zudem behauptete der Rabbi, daß Gamliel die Mondbilder nicht selbst angefertigt, sondern sie lediglich benutzt habe.

Im Traktat Abhoda Zara wird die Darstellung von Sonne und Mond sowie den Planeten nur im Zusammenhang heidnisch-astrologischer und jüdisch-kalendarischer Praktiken diskutiert. Er darf deshalb nicht als abschließende Äußerung des rabbini50

Die wenigen Beispiele frühchristlicher Freiplastik, wie die Statuetten des Guten Hirten oder die Sitzstatue des Hippolyt, sind aller Wahrscheinlichkeit nach nicht originär christlich.

194 schen Judentums zur Problematik der Darstellung von Gestirnen angesehen werden. Bekanntlich lagen die Dinge ja bereits wesentlich anders, wenn es nicht um voll- bzw. halbplastische Kunstwerke ging. Wie adaptionsfreudig man dann sein konnte, beweisen die Mosaikbilder des Zodiakus (!) in den wiederaufgefundenen spätantiken Synagogen, durch die ein eindeutig aus der paganen Symbolsprache stammendes astrales Motiv in den Dienst jüdischer Sakralkunst genommen wurde51. Eine ähnliche Wertung wie die Mosaiken erfuhren aber auch die Fresken, mit denen die Wände der Synagogen und Katakomben geschmückt wurden. Auch sie durften Darstellungen wagen, die in plastischer Ausführung wohl undenkbar gewesen wären. Und sie konnten dieses nicht zuletzt auch deshalb tun, weil der kompositionelle Zusammenhang die mehr oder weniger orthodoxe Auffassung des Bildes zusätzlich absicherte.

Wenn also die Darstellung von Sonne und Mond in der jüdischen Kunst auch nicht ganz unproblematisch war, so konnte sie doch als erlaubt gelten, wenn es um die nähere Kennzeichnung einer Situation ging, die sich eigentlich jeder künstlerischen Wiedergabe entzog, nämlich einer Szene, die in der Endzeit angesiedelt ist.

Im Falle des Freskos aus Dura Europos bleibt allerdings weiterhin die Frage offen, um welche Szene bzw. Figur des endzeitlichen Geschehens es sich hier handeln könnte. Die Identifikation des Greises unter den Gestirnen mit Moses hat die Schwierigkeit gegen sich, daß die Erwartung eines Moses redivivus eigentlich sekundär ist und zudem auch nur die Erscheinung eines Propheten „wie Moses“ erhoffte52. Eine andere Auffassung erwartete von Moses zwar auch eine zukünftige Funktion, die ihn jedoch nicht an die Seite des Messias in die himmlische Welt versetzt, sondern ihm lediglich die Aufgabe zuschreibt, die Wüstengeneration nach der Auferstehung in das gelobte Land zu führen: „Dabei ist offensichtlich vorausgesetzt, daß Mose selbst bis zum Ende der Tage im Wüstensande ruht und erst dann mit seinen Schicksalsgenossen, gleichsam als ihr ‚Erstling', aufersteht“53. Im allgemeinen hat sich das helle51

Zum Zodiakus und zur Beurteilung der Darstellung von Gestirnen in der spätantik-jüdischen Tradition vgl. jetzt auch G. Stemberger, Die Bedeutung des Tierkreises auf Mosaikfußböden spätantiker Synagogen, Kairos 17 (1975), 23-56. 52 Vgl. H. M. Teeple, The Mosaic Eschatological Prophet (= JBL Mon. Ser. 10), Philadelphia 1957, 4968. 53 G. Haufe (Anm 46) 109.

195 nistische Judentum darauf beschränkt, Moses als „idealisierten Menschen“ zu schildern, während er für das palästinensische Judentum in erster Linie der „Offenbarungsmittler“ war. Das entscheidende Hemmnis für allzu ausgedehnte Spekulationen über eine himmlische Funktion des Moses war der biblische Bericht über dessen Tod und Begräbnis (Dt 34,5-8), und so konnte nur ganz vereinzelt die Meinung vertreten werden, Moses sei entrückt worden. Josephus drückt sich in Ant 4,326 wohl absichtlich einigermaßen verschwommen aus, wenn er berichtet: „Eine Wolke stand plötzlich über ihm (Moses), und er wurde in ein Tal hinein den Blicken entzogen; in den heiligen Büchern schrieb er, er sei gestorben, aus Furcht, man möchte um seiner überragenden Tugenden willen zu behaupten wagen, er habe sich zur Gottheit empor zurückgezogen.“ Möglicherweise spielt der jüdische Historiker hierbei auf Auffassungen an, wie sie sich in einer Baraita erhalten haben: „Etliche sagen: Moses ist nicht gestorben, sondern er steht und verrichtet oben den (priesterlichen) Dienst“. Ähnlich heißt es im Midrasch ha-gadol zum Deuteronomium: „Drei fuhren lebendig in den Himmel: Henoch, Moses und Elias“54. In diesen Äußerungen ist die Distanziertheit nicht zu übersehen, mit der solche Anschauungen von der „offiziellen Theologie“ erörtert wurden. Auch wenn sich im Neuen Testament gewisse Spuren einer offenbar landläufigen Moses-Messias-Typologie aufzeigen lassen, wird dadurch nur der Eindruck verstärkt, daß Spekulationen dieser Art „in der volkstümlichen Erwartung beheimatet“ gewesen sind55. Im wesentlichen blieb Moses der Held des Exodus, der Empfänger der göttlichen Selbstoffenbarung und Vermittler der Tora, dessen Platz in der Geschichte Israels bzw. des jüdischen Volkes ‚historisch’ fest eingegrenzt war. Zudem ließ der biblische Bericht über seinen Tod und sein Begräbnis endzeitlichen Hoffnungen nur geringen Raum.

Anders dagegen verhält es sich mit der Gestalt des Propheten Elias, die, wie der Freskenschmuck der Durener Synagoge beweist, neben der des Moses große Bedeutung für die jüdische Gemeinde von Dura Europos besessen haben muß. Bereits der Name „Elijahu" = Jahwe ist mein Gott" deutet auf die jahwezentrische Orientierung dieses Mannes hin, die auch in den biblischen Berichten über Elias zu den her54 55

Vgl. J. Jeremias, ThWNT 4, 859 f. Vgl. dazu zusammenfassend J. Jeremias, Art.: Moses, ThWNT 4, 854-868 mit Lit.

196 vorstechenden Merkmalen des Propheten gehört. Wie Moses wurde auch Elias einer Theophanie gewürdigt. Die spätere Tradition wußte denn auch zu berichten, daß die Höhle, von der aus Elias Jahwe in „der Stimme eines verschwebenden Schweigens“ (1 Kön 19,12 b in der Übersetzung M. Bubers) erlebte, dieselbe gewesen sei, in der Moses der Gegenwart Gottes gewiß wurde56. Bereits das erste Königsbuch hat sich darum bemüht, gewisse Parallelen zu Moses anzudeuten57, so daß sich der Ansatzpunkt für spätere legendarische Ausschmückungen und Bezugnahmen schon im biblischen Text feststellen läßt. Der eigentliche Anlaß für alle späteren Spekulationen über die himmlische Wirksamkeit des Propheten aber ist der Bericht über die Himmelfahrt des Elias in 2 Kön 2,11, durch den dieser an die Seite Henochs gerückt wurde, von dem Gen 5,24 erzählt wird: „Weil er ein göttliches Leben führte, nahm ihn Gott hinweg, und er wurde nicht mehr gesehen“58. Wo und auf welche Weise diese Spekulationen ausgebildet wurden, läßt sich heute nicht mehr mit Sicherheit ausmachen. Daß sie sich aber immer stärker auf eine eschatologische Funktion des Elias konzentrierten, geht aus Mal 3,23 f. hervor: „Siehe, ich will euch senden den Propheten Elias, ehe denn da komme der große und schreckliche Tag des Herrn. Der soll das Herz der Väter bekehren zu den Kindern und das Herz der Kinder zu ihren Vätern, daß ich nicht komme und das Erdreich mit dem Bann schlage.“

Bis zu diesem Zeitpunkt weilt Elias nach jüdischer Auffassung zusammen mit Henoch und anderen Heroen im Paradies unter der Aufsicht des Erzengels Gabriel. Die ältere Tradition wollte sogar behaupten, daß der „Garten des Lebens“ nur für Henoch und Elias geöffnet wurde, und erst seit dem 1. Jh. n. Chr. setzt sich die Anschauung durch, daß auch die anderen „Erwählten" im Paradies weilen dürfen59. Während die Gestalt des Henoch und die mit ihr verbundene Literatur offensichtlich besonders in heterodoxen jüdischen Kreisen Beachtung fanden und deshalb im Zuge der Kanonbildung radikal unterdrückt wurden60, gewann Elias immer größere Bedeutung sowohl bei den Rabbinen als auch bei dem Volk. Wie lebendig vor allem die Erwartung 56

Vgl. Pes. 54a. Vgl. die Motive der Einsamkeit, des Überdrusses, die Zahl 40, die Höhle usw. 58 Auf die aus dieser kurzen Notiz erwachsenen Spekulationen, die auch in Lk 3,37; Hebr 11,5 und Jud 14 im Hintergrund stehen, kann hier nicht näher eingegangen werden. 59 Vgl. E. 0. James (Anm 12) 76 f. 60 Vgl. H. Odeberg, Art.: Henoch, ThWNT 2, 553-557 und E. Peterson (Anm. 45). 57

197 eines Elias redivivus gewesen sein muß, bezeugt neben anderen jüdischen Quellen auch das Neue Testament61. Zunächst aber wird der Prophet als der himmlische Beistand, Fürsprecher und Nothelfer Israels angesehen, der immer wieder helfend in die Geschicke des Einzelnen und des Volkes eingreift62. Das hat dazu geführt, daß bis heute seinem Namen gewöhnlich der Zusatz „seiner sei gedacht zum Guten“ o. ä. beigefügt wird, und man im Tischgebet um sein Kommen bittet. Am Seder-Abend des Passa wird eigens für ihn ein voller Becher bereitgestellt und die Tür geöffnet, auf daß er eintrete. Auch in der Hymne des Sabbatschlusses ist ihm ein eigenes Lied gewidmet63, und bei jeder Beschneidung ist er unsichtbar zugegen, weshalb man ihm auch einen Sessel hinstellt.

In einer Reihe dieser Bräuche wird bereits deutlich, daß Elias seine eigentliche Bedeutung erst in der Endzeit als Vorläufer des Messias erlangen wird64. Schon verhältnismäßig früh, nämlich bereits in vorneutestamentlicher Zeit, haben die Testamente der 12 Patriarchen die Erwartung eines endzeitlichen Hohenpriesters entwickelt. Auch wenn die betreffenden Stellen65 christlich überarbeitet worden sind, muß die Erwartung des endzeitlichen Hohenpriesters, die ja z. B. mit den Aussagen des Hebräerbriefes über das hohepriesterliche Amt Christi unvereinbar ist, als ursprünglich jüdisch angesehen werden. Besonders eindrücklich wird die Tätigkeit des endzeitlichen Hohenpriesters in Test Levi 18 geschildert: Nachdem ihre (der gottentfremdeten Priester) Bestrafung erfolgt ist, wird dann der Herr dem Priestertum einen neuen Priester erwecken, welchem alle Worte des Herrn enthüllt werden ... Dieser wird leuchten wie die Sonne auf der Erde und jedes Dunkel von der Erde

61

Vgl. J. Jeremias, Art.: Elias, ThWNT 2, 936-943; G. Richter, Die eschatologischen Eliasvorstellungen im Neuen Testament und ihre Vorgeschichte, Diss. Freiburg 1957. Vgl. M. W. Levinsobn, Der Prophet Elia nach den Talmudim- und Midraschimquellen (Diss. Zürich 1927), New York 1929, 17-34; G. Molin, Elijahu, Der Prophet und sein Weiterleben in den Hoffnungen des Judentums und der Christenheit, Judaica 8 (1952), 65-94, bes. 83; J. Jeremias, Art.: Elias, ThWNT 2, 930-936 mit Lit., bes. 932 f.; R. Zion, Beiträge zur Geschichte und Legende des Propheten Elia, Berlin 1931; P. Billerbeck (Anm 16) Bd. 4,2, 764-798. 63 Vgl. Sidur Sefat Emet in deutscher Obersetzung v. S. Bamberger, Basel 1972, 197 f. 64 Mal 3,23 f. spricht von Elias als dem Vorläufer des himmlischen Königs. Sir 48,10 scheint Elias selbst als messianische Gestalt angesehen zu haben. Wenn der Taxo der Ass. Mos. mit Elias identisch sein sollte, würde er auch dort als messianische Figur gelten. 65 Vgl. Test Ruben 6; Test Levi 2,8,18; Test Juda 21; Test Dan 5; Test Naphtali 8; Test Gad 8; Test Jos 19. 62

198 wegnehmen, und es wird Friede auf der ganzen Erde sein"66. Dieser endzeitliche Hohepriester ist bereits in vorneutestamentlicher Zeit mit Elias identifiziert worden und in den Talmudim und Targumim wird er als Pinchas, der Enkel Aarons aus dem Stamm Levi, angesehen. Auch wenn das rabbinische Judentum über diesen Punkt keine vollständige Einigung erzielen konnte, bleibt doch bemerkenswert, in welch hohem Maße die Gestalt des Elias fähig war, die unterschiedlichsten Traditionen an sich zu ziehen67. Wurde Test Levi 18 mit Bezug auf Elias gelesen, so leuchtete hier die Vorstellung von Elias als demjenigen auf, der den „ewigen Tag" und den Frieden bringen wird. Der „ewige Tag" aber gehört unmittelbar in den eschatologischen Vorstellungskreis hinein und ist aufs engste mit der Anschauung verbunden, daß die Gestirne ihren regelmäßigen Lauf, durch den der Wechsel von Tag und Nacht verursacht wird, beenden und entweder mit verstärkter Kraft leuchten, oder Jahwe selbst zum Licht seines Volkes werden wird68. Im Test Levi scheint diese Erwartung von Jahwe auf den endzeitlichen Hohenpriester übertragen worden zu sein, denn dieser wird den „ewigen Tag" herbeiführen und „wie die Sonne" leuchten.

Allgemein war man sich einig darüber, daß Elias es sein wird, der in der Endzeit noch strittige Probleme der Toraauslegung lösen wird69. So findet sich denn in der rabbinischen Überlieferung auch oft bei ungelösten Streitfragen die Wendung „bis Elias kommt". Ja, die Diskussion wird mit dem Hinweis darauf abgebrochen, daß Elias

66

Zu Test Levi vgl. P. Billerbeck (Anm 16) Bd. 4,2 789 f; P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter, Tübingen 19342, 190 f.; A. S. van der Woude, Die messianischen Vorstellungen der Gemeinde von Qumran, Assen 1957, 209. Zusammenfassend und eine zeitgeschichtliche Identifizierung der Priestergestalt vorschlagend D. Haupt, Das Testament des Levi, Untersuchungen zu seiner Entstehung und Überlieferungsgeschichte, Diss. Halle 1970, 106 ff. 67 Vgl. M. W. Levinsohn (Anm 61) 8 ff; G. Molin (Anm 61) 84 f; J. Jeremias, Art.: Elias, ThWNT 2, 934 f. Zu den zeitgeschichtlichen Hintergründen dieses Vorganges vgl auch V. Aptowitzer, Parteipolitik der Hasmonäerzeit im rabbinischen und pseudepigraphischen Schrifttum, Wien 1927, 95 ff. 68 Vgl. S. Aalen, Die Begriffe Licht' und Finsternis' im Alten Testament, im Spätjudentum und im Rabbinismus, Oslo 1951, 25 f. 69 Neben Elias wird allerdings auch dem Messias oder sogar Gott selbst die Lösung halachischer Probleme zugeschrieben. Vgl. P. Schäfer, Die Torah der messianischen Zeit, ZNW 65 (1974), 27-42, bes. 32 ff. Zum ganzen Problemkreis vgl. W. D. Davies, Torah in the Messianic Age and/or the Age to Come (= JBL Mon. Ser. 7), Philadelphia 1952; weitgehend übernommen in ders., The Setting of the Sermon on the Mount, Cambridge 1964, 109-190; verkürzte deutsche Fassung ders., Die Bergpredigt, München 1970.

199 dermaleinst das lösende Wort sprechen werde70, und überschüssiges Begräbnisgeld, dessen Verwendung umstritten ist, wird bis zu seinem Kommen aufbewahrt71.

Allerdings gibt es auch Fälle, in denen selbst Elias eine rabbinische Entscheidung nicht aufzuhalten vermag72, bzw. Tage, an denen er mit Sicherheit nicht erscheinen wird, um Streitfragen zu klären, nämlich am Vorabend des Sabbat und des Passafestes73. In jedem Fall wird und muß sein Urteil schriftgemäß sein, um Anerkennung finden zu können74. Vereinzelt wird sogar damit gerechnet, daß sich der Prophet auf die Erde herunter begibt, um an der Diskussion der Rabbinen teilzunehmen; dann ist seine Meinung aber nicht unbedingt als autoritativ anzusehen75. Das Wissen des Elias um die Geheimnisse der Schriftauslegung rührt davon her, daß er zu den Mitgliedern des himmlischen Gerichtshofes zählt und in der direkten Umgebung Gottes seinen Platz hat76. Er hat zudem Kenntnis von der Auslegung, die die Schriftgelehrten in der oberen Welt praktizieren, zeichnet die Taten Israels auf und legt sie Gott zur Unterschrift vor77. So wird Elias immer mehr zu dem, der durch letztgültige Interpretation der Tora dem göttlichen Gesetz zum Siege und seinem Volk zum Frieden verhilft. Indem er die ursprüngliche Einheit der Toraauslegung wiederherstellt, leistet er eine wesentliche Vorbedingung für das Kommen des Messias. Weil Israel ohne die Tora nicht das Volk des Gesetzes und des Bundes wäre, ermuntert Elias die Rabbinen zum Studium78, um so die Identität Israels wahren zu helfen.

Eine weitere wichtige Funktion des endzeitlichen Elias ist die der Wiedervereinigung der gewaltsam getrennten jüdischen Familien79. Durch Sir 48,10 wird deutlich, daß hiermit wohl vor allem die Scheidung der illegitimen von den legitimen Israeliten ge70

Vgl. z. B. Men 45 a; BM 37 a; Ber 35 b. Vgl. Scheq 2,5 Vgl. AZ 36 a. 73 Vgl. Pes 13 a; Er 43b. 74 Vgl. Jeb 102 a. 75 Vgl. die bereits zitierten Stellen AZ 36 a und Jeb 102 a. 76 Vgl. Qid 70 a; Git 6 b; Ber 3a. 77 Vgl. Jalkut Kön 207. 78 Vgl. Pesikt r 92b; Pirke R. Eliezer 1. 79 Vgl. Ed 8,7. Gerade diese Mischna zeigt, wie eng die eschatologischen Funktionen des Elias zusammengesehen wurden. Nach R. Jehoschua bzw. R. Jochanan b. Zakkai erscheint der Prophet, um die Frage der legitimen Abkunft zu klären. R. Schimon findet dgg. Anerkennung mit seiner Deutung von Mal 3,24, die er auf das Verhältnis von Lehrern und Schülern (= Väter und Söhne) und damit auf die rechte Auslegung der Tora bezieht. Vgl. z. St. P. Schäfer (Anm 68) 31. 71 72

200 meint ist. Das hat Bedeutung, da allein legitime Israeliten Anteil an der zukünftigen Herrlichkeit erlangen können. Auch hierin erweist sich Elias dadurch, daß er klare Verhältnisse schafft, als endzeitlicher Friedensbringer: „So rüstet Elias das Gottesvolk für die Heilszeit. Wenn die Friedensstiftung und die äußere Wiederherstellung der Gemeinde erfolgt ist, wenn der Antichrist besiegt und getötet und der Messias für sein königliches Amt gesalbt ist, beginnt die große, letzte Gnadenzeit“80.

Wenn wir hier auch nur Andeutungen über die Rolle und die Bedeutung des Elias in der Endzeit machen konnten, so dürfte dieses doch deutlich geworden sein: Elias war nächst dem Messias selbst die zentrale Gestalt der eschatologischen Hoffnungen des spätantiken Judentums. Daß die Gemeinde von Dura Europos Elias kannte und liebte, braucht nicht weiter bewiesen zu werden. Es erscheint deshalb nicht unbegründet, als abschließende Darstellung einer Bilderreihe, in der die grundlegenden Heilstatsachen zugleich auch als Geschichte der Tora und damit desjenigen, was Israels Identität recht eigentlich ausmacht, ein Bild des Elias zu postulieren. Denn er soll es sein, der als eschatologische Gestalt daran mitwirken wird, daß die Geschichte Israels ihr von Gott vor allen Zeiten gesetztes Ende erreicht.

Haben wir bisher unsere Argumentation nur auf den inneren Sinnzusammenhang der Randbilder des zentralen Mittelfeldes der Durener Synagoge aufgebaut, so sind nun noch einige Züge der rabbinischen Tradition hervorzuheben, durch die die Identifikation der viel umrätselten Gestalt möglicherweise auch ikonographisch gestützt werden kann. Zunächst ist auf die Tatsache hinzuweisen, daß der Elias der rabbinischen Überlieferung nur Männern erscheint. Diese Auffassung bedeutet eine Abweichung von dem alttestamentlichen Bild des Propheten, wo dieser durchaus auch Umgang mit Frauen hat81. Wir können heute nicht mehr feststellen, ob diese Anschauung möglicherweise auch auf die Darstellung des entrückten Elias in der Weise eingewirkt hat, daß sein Bild nur dort sich finden durfte, wo es nur von Männern betrachtet werden konnte, nämlich in der Synagoge. 80

J. Jeremias, ThWNT 2, 936. Nur in Ned 50 a erleben wir die Begegnung des Elias mit einer Frau, nämlich der des R. Akiba. Bezeichnenderweise bleibt Elias jedoch an der Tür des Raumes stehen, in dem sich der Rabbi mit seiner jungvermählten Frau befindet. Nach AZ 18 b wird es von einigen für möglich gehalten, daß Elias einmal die Gestalt einer Frau, einer Hure, angenommen habe, um R. Meir vor Verfolgung zu schützen.

81

201 Weiter scheint bemerkenswert, daß Elias gerne in der Gestalt eines Greises aufzutreten pflegt, wenn er sich den Menschen helfend, belehrend und mahnend naht82. Im Traktat Sukka des babylonischen Talmuds wird zu Beginn über die Maße der Festhütte gesprochen. In der Mischna Sukka 1 a heißt es dazu: „Eine Festhütte, die mehr als zwanzig Ellen hoch ist, ist unbrauchbar, nach R. Jehuda aber brauchbar; die keine zehn Handbreiten hoch ist, die keine drei Wände hat ... ist unbrauchbar." Die Gemara Sukka 5 a greift den Satzteil „eine, die keine zehn Handbreiten hoch ist" mit der Frage „Woher dies?" auf und führt dazu u. a. aus: R. Jose sagte: Nie ist die Göttlichkeit unten herabgekommen, und nie sind Moses und Elias in die Höhe gestiegen, denn es heißt (Ps 115,16): Der Himmel ist Himmel des Herrn, und die Erde hat er den Menschenkindern gegeben. — Ist denn die Göttlichkeit nicht unten herabgekommen, es heißt doch (Ex 19,20): Der Herr stieg auf den Berg Sinai herab!? Oberhalb zehn Handbreiten. — Es heißt ja aber (Zach 14,4): an diesem Tage werden seine Füße auf dem Olivenberg stehen!? — Oberhalb zehn Handbreiten. Sind denn Moses und Elias nicht in die Höhe gestiegen, es heißt doch (Ex 19,3): Moses stieg zu Gott hinauf!? Unterhalb zehn (Handbreiten). Es heißt doch aber (2 Kön 2,11): Elias stieg im Sturm in den Himmel. Unterhalb zehn (Handbreiten)." An dieser Gemara fällt besonders auf, daß Elias, wie auch Moses, der Platz in den himmlischen Regionen keineswegs bestritten wird, trotzdem aber der monotheistische Charakter der israelitisch-jüdischen Religion dadurch gewahrt bleibt, daß eben eine Höhe von „zehn Handbreiten“ den in den Himmel Aufgestiegenen von Gott trennt, und so dessen Einzigartigkeit gegenüber allem Geschaffenen erhalten bleibt. Wollte man versuchen, diese Aussage in ein Bild umzusetzen, könnte durchaus eine Darstellung wie die des Greises unter den Sternen in der Synagoge von Dura zustande kommen.

Und eine letzte Beobachtung: Wie bereits kurz angedeutet, wurde neben Elias auch dem Messias oder sogar Gott selbst die endgültige Lösung halachischer Probleme zugeschrieben83. Beide Auffassungen laufen zunächst einander parallel, später jedoch scheint sich die Ansicht durchgesetzt zu haben, daß es vor allem Elias sei, dem diese eschatologische Funktion zufällt. Um so interessanter ist ein Midrasch aus dem 82 83

Vgl. Anm 68. Vgl. hierzu und zu den sonstigen Erscheinungsweisen des Elias M. W. Levinsohn (Anm 61) 14.

202 „Alphabet des R. Akkiba“, einer Schrift des 8./9. Jh.s, wo es heißt: „Einst wird der Heilige, er sei gepriesen, im Garten Eden sitzen und auslegen. Alle Gerechten sitzen vor ihm, und die ganze obere Familie (= die Engel) steht auf ihren Füßen. Zu Rechten des Heiligen, er sei gepriesen, ist die Sonne mit den Planeten, zur Linken der Mond und alle Sterne. Der Heilige, er sei gepriesen, aber legt ihnen die Gründe der neuen Tora aus, die der Heilige, er sei gepriesen, ihnen einst durch den Messias geben wird"84. Daß der Text in der überlieferten Fassung verderbt ist, fällt schon bei flüchtiger Lektüre auf85. Aber wie immer man das hier gegebene Textproblem zu lösen gedenkt, für unsere Untersuchung ist wichtig, daß in diesem Midrasch der endzeitliche Toralehrer die Sonne mit den Planeten zur Rechten und den Mond mit allen Sternen zur Linken hat. Gewiß läßt sich auf eine so späte aggadische Schrift wie das „Alphabet des R. Akkiba“, in der ja zudem Gott als endzeitlicher Toralehrer geschildert wird, keine zwingende Beweisführung für unseren Fall aufbauen. Wenn wir aber berücksichtigen, mit welcher Zähigkeit einzelne Motive innerhalb der jüdischen Literatur tradiert wurden, und zugleich in Betracht ziehen, daß solche Motive im Stande waren, innerhalb einander eng verwandter Vorstellungskomplexe gleichsam zu „wandern", dürfte das so verhältnismäßig spät literarisch fixierte Zeugnis dieses Textes nicht ganz ohne Wert sein.

Wir fassen unsere Anschauung folgendermaßen zusammen: Das eigentliche „Thema“ der vier Randbilder des zentralen Mittelfeldes über der Toranische in der Synagoge von Dura Europos ist die Geschichte der Gottesoffenbarung und der Tora. Nach der grundlegenden heilsgeschichtlichen Tatsache der Selbstoffenbarung Jahwes am brennenden Dornbusch folgt die Übergabe der Tora an Moses. Ezra als Wiederbegründer der Tora steht zugleich auch als Ahnvater des Schriftgelehrten, gesetzestreuen Judentums, das seine Identität gerade auch in der Diaspora nur dadurch zu wahren vermag, daß es auf strengste Beachtung der Tora hält und durch immer diffiziler werdende Auslegung des göttlichen Gesetzes jede Möglichkeit einer Fehlinterpretation auszuschließen versucht. Den Besten unter jenen, die an dieser Aufgabe arbeiteten, ist es jedoch immer gewiß gewesen, daß es sich hierbei um ein 84

Beth ha Midrasch III, ed. Wertheimer, 27; zitiert nach P. Schäfer (Anm 68) 35 Anm. 30, dort auch Hinweise auf weitere Parallelüberlieferungen. P. Schäfer (Anm 68) 35 f. Anm. 30.

85

203 menschliches Werk handelt, das nicht frei von Fehlern und unlösbaren Problemen sein kann. Sie erhofften die Lösung der letzten Geheimnisse des Schriftsinnes für die Endzeit und sahen in Elias denjenigen, der durch endgültige Interpretation der Tora dem göttlichen Willen zum Siege verhilft. So steht die Gestalt des großen Propheten und Gottschauers, der im Wetter gen Himmel gefahren ist, mit demütig verhüllten Händen als Zeuge der himmlischen Herrlichkeit und Nothelfer seines Volkes, der für dieses vor Gott und den Menschen eintritt bis zu jenem Tag, da er an der Errichtung der Königsherrschaft Gottes mitwirken wird, vor dem Betrachter der Durener Fresken und weist ihn auf jenes letzte Ziel aller Geschichte hin, das Gott für sein Volk bestimmt hat. Die Maler der Synagoge von Dura Europos haben es gewagt, auch dieses letzte Ziel der Geschichte, die Königsherrschaft Gottes, bildlich zu gestalten. Sie haben damit Zeugnis abgelegt von der Intensität ihrer endzeitlichen Hoffnung und zugleich dem Besucher dieser Synagoge eindringlich vor Augen gestellt, welchen kostbaren Besitz die Rollen der heiligen Tora bedeuten. Durch sie und die getreue Befolgung des in ihnen niedergelegten göttlichen Willens gewinnt er Anteil an der zukünftigen Herrlichkeit Gottes.

205 SONNE UND MOND. Exegetische Erwägungen zum Fortleben der spätantikjüdischen in der frühchristlichen Kunst* (1983) In einem im November 1981 in Salzburg gehaltenen Vortrag versuchte ich auf der Grundlage einiger bereits veröffentlichter sowie einiger noch in Vorbereitung befindlicher Untersuchungen abzuklären, inwieweit es möglich ist, anhand eines ganz konkreten ikonographischen Motivs inhaltliche und formale Zusammenhänge zwischen spätantik-jüdischer und frühchristlicher Kunst festzustellen. Ausgehend von Beobachtungen zum frühchristlichen Kreuzigungsbild1, durch die ich auf die Tatsache aufmerksam wurde, daß die herkömmlichen Erklärungen für das ikonographische Motiv Sonne und Mond nicht recht zu überzeugen vermögen, schien es aussichtsreich, dieses dadurch inhaltlich genauer zu erfassen, daß seine Rolle im Alten Testament, im intertestamentarischen Judentum, im Neuen Testament und in der spätantikjüdischen und frühchristlichen Kunst aufgearbeitet wird. Für den jüdischen Bereich wurde das in den Studien „Zur Deutung der Fresken im Arkosol IV und Cubiculum II der jüdischen Torlonia-Katakombe in Rom“2 und „Der Greis unter den Sternen. Ein Beitrag zur Deutung des Bildprogramms über der Toranische in der Synagoge von Dura Europos“3 versucht, deren Ergebnisse dann in der Untersuchung „Irrwege ikonologischer Deutung? Zur Diskussion um die spätantik-jüdische Kunst“4 auf einer anderen Ebene erneut zur Sprache kamen. Dem Bereich der frühchristlichen Kunst wandte sich der Aufsatz „Parusie Christi oder Triumph der Gottesmutter? - Zur sogenannten ‚Parusie’-Tafel der Tür von S. Sabina in Rom“ zu5. Im Rahmen dieser Publikation soll nun das nachgeholt werden, was nicht nur in dem Salzburger Vortrag, sondern auch in den bisherigen Veröffentlichungen zu kurz kommen mußte, nämlich die genauere Darstellung und Analyse eines Teils der einschlä* Die hier vorgelegte Studie entstand während eines Studienaufenthaltes im Deutschen Priesterkolleg beim Campo Santo Teutonico zu Rom im Herbst 1981, den die Gerda Henkel Stiftung in Düsseldorf durch ein großzügig gewährtes Stipendium ermöglichte. Beiden Institutionen gegenüber bin ich zu aufrichtigem Dank verpflichtet. 1 Vgl. P. Maser, Das Kreuzigungsbild des Rabulas-Kodex, Byzantinoslavica 35 (1974), 34-46. 2 Kairos 17 (1975), 81-88; vgl, jetzt auch P. Maser, Darstellungen des Olam hab-ba in der spätantikjüdischen Kunst Roms?, in: Jenseitsvorstellungen in Antike und Christentum. Gedenkschrift f. A. Stuiber = JbAC Erg. Bd. 9, Münster/W. 1982, 228-238. 3 Kairos 18 (1976), 161-177. 4 RivAC 56 (1980), 331-367. 5 RQS 77 (1982), 30-51.

206 gigen literarischen Quellen, ohne deren Kenntnis die Interpretation der monumentalen Quellen sich letztlich nur in formalen Beobachtungen erschöpft. I. ‚Sonne und Mond’ im Alten Testament Sonne, Mond und Sterne wurden in Alt-Israel als Geschöpfe Jahwes betrachtet, „die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre“ (Gen 1,14). Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht wehrt durch seine ausgesprochen „rationalistisch“ gefärbten Aussagen über die Aufgaben der Gestirne jeder mythologischen oder magischen Auffassung. Die Sterne sind von Jahwe geschaffene „Lichter“ (meorot), denen göttliche Dignität abgeht. Diese Überzeugung findet ihren Ausdruck wohl auch in der voneinander getrennten Schöpfung des Lichts (or) am ersten Tag (Gen 1,3-5) und der der Gestirne am vierten Tag (Gen 1,16-18)6. Das Licht des ersten Schöpfungstages wird in Alt-Israel offensichtlich nicht ohne weiteres mit der Helligkeit identifiziert, die die Sterne erzeugen7. Der Wechsel von Tag und Nacht setzt mit der Erschaffung des Lichts am ersten Schöpfungstag ein (Gen 1,5), während Sonne und Mond erst am vierten Tag der Schöpfung als Attribute von Tag und Nacht hinzukommen (Gen 1,16-18). Der Hintergrund mythologischer Vorstellungen klingt jedoch unüberhörbar an, wenn davon gesprochen wird, daß Sonne und Mond, deren direkte Benennung vermieden wird, den Tag und die Nacht „regieren“ (maschal)8. Es dürfte sich hier allerdings wohl doch nur um ein Nachklingen von religiösen Überzeugungen, die im alten Orient allgemein verbreitet waren, handeln, denn gerade durch den Glauben an Jahwe als den Schöpfer von Himmel und Erde wird der Glaube an die Göttlichkeit der Gestirne erst eigentlich überwunden. Jahwe hat ihnen Bahn und Ordnungen zugewiesen (Hi 38,31-33) und damit den Bestand der Welt gesichert (Jer 31,35f.). Als Geschöpfe Jahwes werden die Gestirne auch in Ps 8,4 und Am 5,8 apostrophiert und damit unmittelbar zu Zeugen der Herrlichkeit Jahwes. Ja, nach Hi 38,7 stimmen die Morgensterne (kokebhe boqer) selbst das Lob des Schöpfers an!

6

Vgl. H.G. May, The Creation of Light in Genesis 1,3-5, JBL 58 (1939), 203-211 und S. Aalen, Die Begriffe ,Licht’ und ,Finsternis’ im Alten Testament, im Spätjudentum und im Rabbinismus = SNVAO. HF Oslo 1951, No. 1, 10ff. 7 Vgl. Ps 74,16; Hi 12,22 und 38,19f; Jes 5,30; Jer 4,23 u.ö. 8 Zum mythologischen Hintergrund des Schöpfungsberichtes Gen 1 allgemein vgl. S Herrmann, Die Naturlehre des Schöpfungsberichtes, ThLZ 86 (1961), 413-424.

207 Nun steht der Schöpfungsglaube mit Sicherheit nicht im Zentrum der religiösen Auffassungen Alt-Israels und kommt im Alten Testament außer in Gen 1-2 eigentlich nur bei Deuterojesaja9, im Hiobbuch10 und gelegentlich in den Psalmen11 expressis verbis zur Geltung12, trotzdem aber dürfte die Beurteilung der Gestirne gerade durch den Schöpfungsglauben entscheidend bestimmt worden sein. Die Gestirne haben einen von Jahwe erteilten Auftrag zu erfüllen, nicht mehr und nicht weniger ist ihnen zugemessen worden. Für unseren Zusammenhang ist die Beobachtung wichtig, daß Sonne und Mond im Alten Testament fest miteinander verbundene Größen sind. Außer in Hi 25,5 und Ps 8,4, wo der Mond gemeinsam mit den Sternen genannt wird, wird er sonst stets zusammen mit der Sonne genannt13. Dabei können solche Texte wie z.B. Gen 37,5-11 oder Jos 10,1-15 unberücksichtigt bleiben, da sie für unsere Problemstellung nichts austragen. Der Traum des Joseph in Gen 37 von den sich vor ihm verneigenden Gestirnen, unter denen sich auch Sonne und Mond befinden, weist auf ein im Alten Testament nur gelegentlich zu belegendes Mythologumenon hin: Sonne, Mond und Gestirne als machtvolle Wesenheiten verneigen sich vor dem höchsten Himmelsherrn14. Auch in Jos 10 und in dem Deboralied (Ri 5,20) werden älteste mythologische Vorstellungen wirksam, wenn dort gewissermaßen von einem „Mitkämpfen“ der Gestirne gesprochen wird. Das „Stillestehen“ von Sonne und Mond zu Gibeon und im Tal Ajalon gibt Josua erst die Möglichkeit, seinen Sieg zu vollenden, indem er die Verfolgung der Feinde „bis in die Nacht“ hinein ausdehnen kann. 9

Vgl. R. Rendtorff, Die theologische Stellung des Schöpfungsglaubens bei Deuterojesaja, ZThK 51 (1954), 3-13. Vgl. G. v. Rad, Hiob 38 und die altägyptische Weisheit, VT Suppl. III, 1955, 293-301. 11 Vgl. Ps 8 und 104. 12 Vgl. G. v. Rad, Das theologische Problem des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens, in: Werden und Wesen des Alten Testaments. Vorträge, hrsg. von P. Volz, Fr. Stümmer, und J. Hempel = BZAW 66, 1936, 138-147. 13 Vgl. S. Aalen (Anm. 6), 19f.: „Die Zusammenstellung von Sonne und Mond (und Sternen) ist typisch für at.lichen Sprachgebrauch und at.liches Denken, s.z.B. Jos 10,12; Jes 13,10; 24,23; 30,26; 60,19; Jer 31,35; Ezech 32,7; Joel 2,10; 3,4; 4,15; Hab 3,11; Ps 72,5; 104,19; 121,6; 136,8f.; 148,3; Pred 12,2. Diesem ständigen Zusammenstellen der Himmelskörper des Tages und der Nacht liegt die Vorstellung vom Wechsel zwischen Tag und Nacht zugrunde, der Gedanke, daß Tag und Nacht korrelate Größen sind.“ 14 E. L. Ehrlich, Der Traum im Alten Testament = BZAW 73, Berlin 1953, 58-64. 10

208 Auch Deut 4,19; 17,3; 2 Kön 23,5; Jer 8,2; Am 5,26 u.ä. Stellen dürfen hier übergangen werden, wenngleich auch durch diese verschiedenartigen Stimmen eindeutig belegt wird, wie scharf sich Alt-Israel von jeder Form des Gestirndienstes abgrenzte. Wichtiger dürften jene Texte sein, in denen gemeinsame „Aktionen“ von Sonne und Mond, mitunter zusammen mit den übrigen Gestirnen, im Zusammenhang „eschatologischer“ Ereignisse15 beschrieben werden. Das ist besonders im Zusammenhang mit der Botschaft vom Tag Jahwes der Fall16. Der älteste uns vorliegende Text17, der von Veränderungen am Himmel spricht, ist Am 8,9 (vgl. vor allem auch Am 5,18-20), wo als eines der Zeichen des JahweTages eine Sonnenfinsternis zur Mittagszeit genannt wird. Das Schreckliche dieses Vorgangs beruht nicht allein auf der plötzlich hereinbrechenden Finsternis, sondern vielmehr darauf, daß die Sonne (und mit ihr die übrigen Gestirne) ihre gesetzmäßige Bahn verläßt und der regelmäßige Wechsel von Tag und Nacht, den Jahwe selbst in der Schöpfung für gut befunden hatte (vgl. Gn 1,16-18), abgebrochen wird. Wenn es Jahwe selbst ist, der diese Veränderungen am Firmament befiehlt, so wird doch aus dem Zusammenhang des Textes deutlich, daß es eigentlich die Sünde des Volkes ist, die die Ursache hierfür abgibt. Zwar werden Sonne und Mond hier nicht zusammen genannt, aber aus dem oben Gesagten geht doch deutlich hervor, daß Amos an beide Gestirne gedacht haben muß 18.

15

„Eschatologisch“ soll hier nicht im strengen Sinn G. Hölschers, S. Mowinckels und G. Fohrers verstanden werden, sondern alle jene Verheißungen und Vorstellungskomplexe meinen, die sich auf ein zukünftiges Geschehen beziehen, in dem Jahwe der allmächtig Handelnde sein wird. 16 Zum Tag Jahwes vgl. H. Greßmann, Der Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie, Göttingen 1905, 141ff.; S.Mowinckel, Psalmenstudien 2, Kristiania 1922; ders., Jahves Dag, NTT 59 (1958), 156; L. Cerny, The Day of Jahweh and some relevant Problems, Prag 1948; G. v. Rad, Theologie des 3 Alten Testaments 2. Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, Berlin 1964 , 133ff.; ders., The Origin of the Concept of the Day of Yahweh, JSSt 4 (1959), 97-108; K-D. Schunck, Der „Tag Jahwes“ in der Verkündigung des Propheten, Kairos 11 (1969), 14-21 und die Kommentare zu den genannten Texten. 17 Die bei Amos begegnende Redeweise vom Tag Jahwes zeigt deutlich, daß die Vorstellung davon um 760-750 v. Chr. in Alt-Israel bereits bekannt gewesen sein muß und nicht von Amos erst geprägt wurde, wie M. Weiss, The Origin of the „Day of the Lord“ - Reconsidered, HUCA 37 (1966), 29-60, bes. 38ff., glauben machen will. 18 Vgl. S. Aalen (Anm. 6), 21. Inwieweit Amos in 8,9 eine tatsächlich stattgefundene Sonnenfinsternis reflektiert, ist angesichts der theologisch eindeutigen Aussage von zweitrangiger Bedeutung.

209 Deutlicher ausgeprägt sind diese Vorstellungen bei Ezechiel, der seine große Weissagung gegen Ägypten (Ez 30-32) mit der Ankündigung des kommenden Tages Jahwes verbindet19. Dort heißt es in 32,7, daß Jahwe nach dem Ende des Pharao den Himmel verhüllen und die Sterne verfinstern wird. Auch die Sonne wird mit Wolken überzogen werden, und der Mond soll nicht mehr scheinen. Ezechiel nimmt in diesem prophetischen Leichenlied auf den Pharao Bezug auf den Tag Jahwes, ohne das Stichwort in diesem Zusammenhang direkt zu erwähnen20. Ähnlich lautet dann auch das nachjesajanische Babelgedicht Jes 13, das in V. 5-16 im Sinn der Androhung des Tages Jahwes sekundär überarbeitet worden ist21. In 13,10 wird die Verfinsterung von Sonne und Mond als Ergebnis des Zornes Jahwes gedeutet, der seine Feinde in einem gewaltigen Kriegsgeschehen vernichten und die Erde verwüsten wird. In dieses Strafgericht soll auch der gesamte Kosmos einbezogen werden. Der Zusammenhang mit den Anschauungen des Amos wird deutlich, wenn auch hier die im Lande herrschende Sünde als Ursache für die furchterregende Dunkelheit und das Beben der Erde bezeichnet wird. Besonders eindrücklich sind dann die Aussagen bei Joel, der in 2,10 (wieder aufgenommen in 4,15) Elemente älterer Theophanieschilderungen rezipierend, die Wiederkehr des Chaos beschreibt. Die endzeitliche Katastrophe des Tages Jahwes, die Joel in einer furchtbaren Heuschreckenplage (vgl. Joel 1) präfiguriert sieht, besteht für ihn darin, daß Jahwe selbst seine Schöpfung an diesem Tag rückgängig macht und das Chaos hereinbrechen läßt. Die Verdunkelung von Sonne und Mond bildet nur eines von mehreren Zeichen für dieses Geschehen, aber sie ist das deutlichste Anzeichen des Kommenden. In Joel 3 werden die Vorstellungen vom Ablauf des Tages Jahwes vollends deutlich. Auf der Erde deuten „Blut, Feuer und Rauchdampf“ auf Krieg und vielleicht auch Vulkanausbrüche hin. Am Himmel werden Sonne und Mond verdunkelt werden22. Das Schreckliche dieser Verdunkelung liegt in der Verwandlung der Gestirne in Blut, die an eine Verfinsterung durch (kosmische) Katastro19

Vgl. L. Dürr, Die Stellung des Propheten Ezechiel in der israelitisch-jüdischen Apokalyptik, Münster 1923. 20 Vgl. W. Zimmerli, Ezechiel Bd. 2 = BK XIII/2, Neukirchen 1969, 770 z.St. 21 Vgl. K. Budde, Jesaja 13, in: Abhandlungen z. semitischen Religionskunde u. Sprachwissenschaft = FS W.W. Graf v. Baudissin, Gießen 1918, 55-70. 22 Vgl. hierzu auch noch Zeph 1,14ff. und Am 8,9.

210 phen denken läßt. Bei Joel wird dann auch deutlich gesagt, daß die Verfinsterung von Sonne und Mond ankündigenden Charakter hat: „ehe denn der große und schreckliche Tag Jahwes kommt“ (3,4b)23. In dem eschatologischen Psalm Hab 324 schließlich wird ein gewaltiges Kampfgeschehen geschildert, in dessen Verlauf Jahwe das „Haupt im Hause der Gottlosen“ (Luther) zerschmettern wird. An diesem Streit wird die Natur in Form eines gewaltigen Aufruhrs beteiligt, angesichts der hellstrahlenden Blitze Jahwes stehen Sonne und Mond still (3,11), wie es in deutlicher Anspielung auf Jos 10,13 heißt. In den bisher besprochenen Texten werden die Veränderungen im Bereich der Gestirnwelt, die letztlich als Rückkehr zum urzeitlichen Chaos zu verstehen sind, zu „symptomatischen Zeichen“25 des Weltendes, wobei allerdings strikt an der Auffassung festgehalten wird, daß Jahwe selbst der Urheber dieser kosmischen Katastrophe ist. Es ist sein „Tag“, der durch solche Zeichen am Himmel angekündigt und begleitet wird. Neben diese fest mit der Botschaft vom „Tag Jahwes“ verbundenen Aussagen über eine schreckenerregende Störung der himmlischen Ordnungen treten nun solche, in vollem Sinn eschatologische, in denen die Vorstellung einer „neuen Welt“ entwickelt wird. Zu den besonderen Kennzeichen dieser „neuen Welt“ gehört die Erneuerung der Gestirne. In dieser Schilderung des Gottesgerichts in Jes 24, die der in der Datierung sehr umstrittenen Jesajaapokalypse angehört26, wird 24,23 von der Verfinsterung von Sonne und Mond berichtet27. Jahwe wird das „Heer der Höhe“28 und die Könige der Erde gefangennehmen. Sonne und Mond als Repräsentanten des „Heers der Höhe“ verdunkeln („schämen“) sich angesichts des Kabhod Jahwes, der auf dem 23

Vgl. J. Bourke, Le jour de Jahvé dans Joel, RB 66 (1959), 5-31; H. W Wolff, Dodekapropheton Bd. 2, Joel und Amos = BK XIV/2 Neukirchen 1969, 55f. u. 81 z.St. 24 Zur Echtheit dieses Textes vgl. O. Eißfeldt, Einleitung in das Alte Testament unter Einschluß der Apokryphen und Pseudepigraphen sowie der apokryphen- und pseudepigraphenartigen Qumran3 Schriften = NTG, Tübingen 1964 , 568ff. 25 Vgl. G. Mensching, Die Lichtsymbolik in der Religionsgeschichte, StGen 10 (1957), 422-432, bes. 423. 26 Sicher ist nur die nachexilische Entstehung dieses Textes, vgl. O. Eißfeldt (Anm. 24), 434ff. Zum Begriff „Apokalypse“ in diesem Zusammenhang vgl. J. Lindblom, Die Jesaja-Apokalypse Jes 24-27. Lund - Leipzig 1938, 101ff., der lieber von einer „Jesajakantate“ sprechen möchte (103). 27 J. Lindblom (Anm. 26), 26 betrachtet 24,21-23 allerdings als „späteren Zusatz“. 28 Zum Begriff „Heer der Höhe“ vgl. die Belege bei J. Lindblom (Anm. 26), 27f.

211 Zion erstrahlt. Nach Jes 60,19f. wird der Kabhod Jahwes Sonne und Mond geradezu ersetzen, so daß davon gesprochen werden kann, daß Sonne und Mond dem Volk in der Heilszeit nicht mehr untergehen sollen, denn Jahwe selbst wird ihm „ewiges Licht“ sein. Wenn damit auch nicht restlos deutlich wird, wie die Existenz der beiden Hauptgestirne in dieser „neuen Welt“ zu denken ist, so ist doch sicher, daß der Verfasser dieses Textes an eine neue Qualität der Zeit denkt, die nicht mehr durch den Wechsel von Tag und Nacht, Licht und Finsternis bestimmt sein wird. In Jes 30,26 wird der soeben beschriebene Gedanke insoweit verstärkt und konkretisiert, als hier von einer siebenfach verstärkten Leuchtkraft von Sonne und Mond in der Heilszeit geredet wird. Sonne und Mond werden also nicht durch den Kabhod Jahwes ersetzt oder gemindert, sondern erfahren im Gegenteil eine Aufwertung, die allerdings letztlich nur erneut den Gedanken an „die Heilszeit als fortwährender Tag“29 unterstreicht. Daß es in diesem Vorstellungskreis tatsächlich um die Ablösung des Wechsels von Tag und Nacht in der bisherigen Weltzeit durch den „ewigen Tag“ der neuen Heilszeit geht, zeigt Sach 14,7: „Und es wird ein Tag sein - der dem Herrn bekannt ist - weder Tag noch Nacht; und um den Abend wird es licht sein“ (Luther). Zusammenfassend können zwei eschatologische Vorstellungskreise aus dem Bereich alttestamentlicher Schriften herausgehoben werden, in denen Sonne und Mond eine wichtige Rolle spielen. In dem ersten und älteren wird durch die Störungen im Gang der Himmelskörper und durch ihre Verfinsterung das „Überhandnehmen der Chaosmächte“ als Auftakt zu dem endzeitlichen Gerichtsgeschehen des „Tages Jahwes“ verkündigt, während der zweite und jüngere die Überwindung dieser Mächte in einer „neuen Welt“ in Gestalt des „ewigen Tages“ verheißt, wo Jahwe selbst zum „ewigen Licht“ seines Volkes wird und Sonne und Mond nicht mehr den Wechsel von Tag und Nacht regieren werden30.

29

P. Volz, Jesaja II, Leipzig 1932, 248. Vgl. S. Aalen (Anm. 6), 27: „Chaos heißt, daß Ordnung, Zielsetzung und Erlösung Gottes umgestürzt werden. Das eschatologische Licht bedeutet eine endgültige Sicherung dieser Dinge.“

30

212 II. ‚Sonne und Mond’ in der spätantik-jüdischen Literatur 1. Jüdische Apokryphen Die Literatur des spätantiken Judentums bietet ein in sich recht uneinheitliches Bild. Neben Schriften, in denen sich die prophetisch-eschatologische Tradition des Alten Testaments zur apokalyptischen Geschichtsschau ausweitet, stehen die der rabbinisch-talmudischen Autoritäten, die apokalyptischem Denken und Hoffen gegenüber deutliche Zurückhaltung erkennen lassen31. Inwieweit sich hier leidenschaftliche, phantasievolle Laienfrömmigkeit und kühl reflektierende, realistische „Schriftgelehrtheit“ gegenüberstehen, mag dahingestellt bleiben32. Immerhin dürfte es geraten sein, beide Schriftgruppen gesondert zu behandeln, um zu einem klareren Bild der vorhandenen Vorstellungen zu gelangen. Blicken wir zunächst auf die apokalyptische Literatur, in der die alttestamentlicheschatologischen Traditionen fortgesetzt wurden33, wobei allerdings von vornherein

31

Vgl. L. Wächter, Astrologie und Schicksalsglaube im rabbinischen Judentum, Kairos 11 (1969), 181-200. Ich beziehe mich hier auf die von J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu. Kulturgeschichtliche 3 Untersuchungen zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, Berlin 1963 , 271, W. Bousset und H. Greßmann gegenüber vertretene These, daß „die Apokalyptik, wie sie uns in den pseudegraphischen Schriften des Spätjudentums erhalten ist, mit ihren Schilderungen der eschatologischen Ereignisse und der kosmischen Topographie der Ober- und Unterwelt, zum esoterischen Traditionsgut der Schrift3 gelehrten gehörte.“ Vgl. auch J. Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 1960 , 118-123 und G. Kittel, Die Probleme des palästinensischen Spätjudentums und Urchristentums = BWANT, 3. Folge, Heft 1, Stuttgart 1926, 11-15. Gg. Jeremias könnte auf die leicht zu belegenden politischen Auswirkungen apokalyptischer Vorstellungen (Bar-Kochba-Aufstand usw.) hingewiesen werden. Die immer wieder begegnenden Aufforderungen der Apokalyptiker, ihre Schriften geheim zu halten, gehören zum ‚Stil’ dieser Literaturgattung und sind nicht beweiskräftig. Wahrscheinlich verläuft der sich in der frühjüdischen Literatur niederschlagende Gegensatz eher zwischen „dem ‚offiziellen’, durch die priesterliche Hierarchie und die reiche Laienaristokratie verkörperten Judentum, das in der Gegenwart Gottes in Kult und Tora sein Genüge fand“, und „den mehr vom einfachen Volk geschätzten Konventikeln der Frommen, in denen „besonders die eschatologische Überlieferung der Propheten tradiert und erweitert“ wurde; vgl. M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr. = WUNT 10, Tübingen 1969, 322. 33 Es ist im Zusammenhang und angesichts der dieser Untersuchung gestellten Aufgabe unmöglich, auf die höchst komplizierten Einleitungsprobleme der apokryphen und pseudepigraphischen Literatur einzugehen, weshalb auf einige grundlegende Untersuchungen verwiesen sei: P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter, Tübingen 19342; O. Eißfeldt (Anm. 24); H. H. Rowley, Apokalyptik. Ihre Form und Bedeutung zur biblischen Zeit, Einsiedeln 1965; L. Rost, Einleitung in die alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen einschließlich der großen QumranHandschriften, Heidelberg 1971. Die Texte sind in deutscher Übersetzung zu finden bei E. Kautzsch, Die Apokryphen und Pseudepigraphen des Alten Testaments, 2 Bde. Tübingen 1900 (ND: Darmstadt 32

213 der Versuch unterlassen werden soll, hier eine bestimmte Entwicklung in einer den einschlägigen Texten selbst abgewonnenen Systematik darzustellen. Schon P. Volz hat darauf hingewiesen, es gehöre zum Wesen dieser Literatur, daß in ihr die unterschiedlichsten Vorstellungen ohne Rücksicht auf deren Herkunft, Alter und ursprünglichen Sinnzusammenhang zusammengestellt werden, um eine bestimmte Aussage des jeweiligen Verfassers (Kompilators) zu illustrieren, und daraus das sachliche Recht abgeleitet, „die eschatologischen Akte und Zustände der Reihe nach für sich zu behandeln und aus den überlieferten Schriften allemal die Belege dafür zu sammeln“34. Auch der Apokalyptiker hält an der grundlegenden Überzeugung des Alten Testaments fest, daß die Gestirne ihre Bahnen nach einer von Jahwe gesetzten Ordnung ziehen, die im Grunde genommen nur dieser selbst außer Kraft setzen kann. Klassischer Ausdruck dieser Überzeugung ist Ps Sal 18,10-14: „Groß ist unser Gott und herrlich, der in der Höhe wohnt, der geordnet hat Leuchten in ihren Bahnen zur Bestimmung der Zeiten jahraus, jahrein, so daß sie nicht abgehen von dem Pfade, den du ihnen befohlen. In der Furcht Gottes wandeln sie Tag für Tag, seitdem Gott sie schuf, bis in Ewigkeit. Und sie gingen nicht fehl, seitdem Gott sie schuf, seit uralten Zeiten wichen sie nicht von ihren Wegen, es sei denn, daß Gott es ihnen gebot durch den Befehl seiner Knechte.“ Gegenüber dem Alten Testament sind die Akzente hier insofern verschoben, als es nun nicht mehr vorrangig um den regelmäßigen Wechsel von Tag und Nacht als sinnfälligen Ausdruck der Schöpfungsordnung geht, sondern um die Regelmäßigkeit des kosmischen Geschehens überhaupt35. Eine Störung dieser Ordnung wird entweder auf das Eingreifen widergöttlicher Mächte, z. B. Apk El 19,4 und 32,3-536, oder aber auf das Überhandnehmen der menschli1964) und P. Rießler, Altjüdisches Schrifttum außerhalb der Bibel, Augsburg 1928 (ND: Darmstadt 1966). 34 P. Volz (Anm. 33), 1f.; vgl. 10, wo Volz von „der Zeitlosigkeit der eschatologischen Traditionen“ (!) spricht, und C. Steuernagel, Die Strukturlinien der Entwicklung der jüdischen Eschatologie, in: FS A. Bertholet, Tübingen 1950, 479-487, bes. 479f. 35 Diese Akzentverschiebung dürfte auf hellenistischen Einfluß hindeuten, vgl. S. Aalen (Anm. 6), 160f., wo weitere Belege verzeichnet sind, die vielleicht durch Hinweis auf Aristobulos 1,22 ergänzt werden können. Im allgemeinen strebt die vorliegende Untersuchung jedoch keine Vollständigkeit der Belege an! 36 Zur frühjüdischen Tradition vom „Antichrist“, die in anderer Form auch Apk 11,3-12 begegnet, vgl. J. Jeremias, ThWNT 2, 941-943.

214 chen Sünde zurückgeführt, z.B. 1 Hen 80 und 94,937. Im übrigen aber deutet eine Störung der kosmischen Ordnungen auf das Hereinbrechen der Endzeit hin und wird wie im Alten Testament als „symptomatisches Zeichen“ verstanden. Allerdings tritt die Schilderung von Naturkatastrophen als Auftakt endzeitlicher Ereignisse in der Apokalyptik auffallend zurück und scheint in der Hauptsache als traditionelles Element Bedeutung zu haben38. Sib 4,57-66 sprechen von verschiedenen Naturkatastrophen und -wundern, die den Untergang der Meder ankündigen: „Unter ihnen werden diese Dinge geschehen: finstere Nacht wird sein zur mittelsten Stunde des Tages. Die Sterne werden vom Himmel verschwinden und die Scheibe des Mondes ... Aber wenn der große Euphrat von Blut überfließt, dann wird zwischen Persern und Medern schrecklicher Krieg erhoben werden.“ Wenn bereits ein irdisches Kriegsgeschehen sich so ankündigt, wie wird sich dann erst der endzeitliche Kriegszug Jahwes gegen seine Feinde zum Gericht in der Natur andeuten. Sib 3,802-807 (mit Auslassungen) gibt die Antwort: „Der Glanz der Sonne wird vom Himmel mitten (am Tage) verschwinden und des Mondes Strahlen sichtbar werden und zurück auf die Erde kommen. Dann wird das Ende aller Dinge (bzw. des Krieges) erfüllen Gott, der den Himmel bewohnt.“ Ähnlich auch Ass Mos 10,5: „Die Sonne wird kein Licht mehr geben und sich in Finsternis verwandeln; die Hörner des Mondes werden zerbrechen, und er verwandelt sich ganz in Blut, und der Kreis der Sterne wird in Verwirrung geraten.“39 Daß diese kosmischen Störungen als „Zeichen“ (mophetim) des endzeitlichen Gerichts zu betrachten sind, wird in anderen Texten ausdrücklich angemerkt, so z.B. 4 Esr 5,1-5. Der Seher fragt den Engel: „Was wird in jenen Tagen geschehen?“ Die Antwort lautet: „Die Zeichen aber sind ... Da wird plötzlich die Sonne bei Nacht scheinen und der Mond am Tage.“40

37

Zu 1 Hen 80 vgl. P. Volz (Anm. 33), 156 und S. Aalen (Anm. 6), 162. Vgl. N. Messel, Die Einheitlichkeit der jüdischen Eschatologie, Gießen 1915, 10 und H. Bietenhard, Die himmlische Welt im Urchristentum und Spätjudentum = WUNT 2, Tübingen 1951, 51. 39 Vgl. C. Lattey, The Messianic Expectation in the Assumption of Moses, CBQ 4 (1942), 9-21. Vgl. auch 1 Hen 102, 1-3, Apk El 39,6 und P. Volz (Anm. 33), 277f. 40 Vgl. auch Test Lev 4,1, obgleich diese Stelle wahrscheinlich christlich interpoliert worden ist; vgl. D. Haupt, Das Testament des Levi. Untersuchungen zu seiner Entstehung und Überlieferungsgeschichte, Diss. theol. Halle/S. 1969, 45-47 und J. Jervell, Ein Interpolator interpretiert. Zu der christlichen Bear38

215 Die an den Gestirnen zu beobachtenden Verwandlungen deuten aber nicht nur auf das Herannahen des Endgerichts hin, sondern weisen auch auf die von den Frommen erhoffte Verkürzung dieser Weltzeit hin, für die der pseudophilonische Lib. ant. bibl. 19,13 ein schönes Beispiel bietet: „Dieser Himmel aber wird vor mir wie ein fließender Nebel sein und wie der gestrige Tag, wenn er vorüber ist. Wenn ich komme, den Erdkreis heimzusuchen, dann befehle ich den Jahren und gebiete den Zeiten, und sie werden abgekürzt werden. Die Gestirne beeilen sich, das Sonnenlicht eilt dem Untergang zu, und das Mondlicht scheint nicht weiter mehr, weil ich euch aus dem Schlaf schnell erwecken werde, damit alle, die leben können, an der Heiligkeit Ort wohnen, den ich dir zeigte."41 Das eigentliche Ziel aller dieser kosmischen Schrecken ist dem Apokalyptiker die Errichtung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, in die auch die Gestirne einbezogen sein werden. Die jüdische Apokalyptik setzte dabei einen bereits in den alttestamentlichen Schriften angelegten Gedanken fort, wenn sie in bezug auf die Gestirne eine doppelte Erwartung hegte. Einerseits glaubte man an eine endgültige Zerstörung der Gestirne und ihre Ersetzung durch den Glanz des Kabhod Jahwes. Die Lehre vom Weltuntergang und der Vernichtung der Gestirne wird wird besonders ausführlich in den Sib entfaltet42, findet sich aber auch anderen Ortes, z. B. 1 Hen 72,1 43. In 4 Esr 7,39-44 wird die Erwartung einer endgültigen Zerstörung der Gestirne mit der Anschauung verbunden, daß Jahwes Kabhod der endzeitlichen Gemeinde der Auserwählten scheinen wird: „Jener Tag ist so, daß er Sonne nicht hat, nicht Mond, nicht Sterne, nicht Wolken, nicht Donner, nicht Blitz, nicht Wind, nicht

beitung der Testamente der zwölf Patriarchen, in: Studien zu den Testamenten der Zwölf Patriarchen, hrsg. von W. Eltester = BZNW 36, Berlin 1969, 50. Das Vorstellungsmaterial, mit dem Test Lev 4,1 arbeitet, dürfte jedoch jüdischen Usprungs sein. 41 Im Lib. ant. bibl. geht es allerdings weniger um die Errichtung eines neuen Himmels und einer neuen Erde, die ansonsten als Ziel der Verkürzung der Weltzeit gedacht wird, vgl. Apk Bar (syr.) 20,1; 54,1; 83,1; 4 Esr 4,26 und Apk Abr 29,13, als um die Auferweckung der Toten, vgl. Chr. Dietzfelbinger, Pseudo-Philos Liber Antiquitatum Biblicarum, Diss. theol. Göttingen 1964, 142 und 222; G. Stemberger, Der Leib der Auferstehung. Studien zur Anthropologie und Eschatologie des palästinensischen Judentums im neutestamentlichen Zeitalter (ca. 170 v. Chr. - 100 n. Chr.) = AnBib 56 (1972) 105ff. Zur Verkürzung der Weltzeit vgl. auch P. Volz (Anm. 33), 137f.; G. Schrenk, ThWNT 4, 193 und G. Delling, Die Weise von der Zeit zu reden, im Liber Antiquitatum Biblicarum, NT 13 (1971), 305-321, bes. 318f.;J.Jeremias, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, 141, Anm. 62. 42 Vgl. Sib 3,80-90; 5,477-482 und 5,528-531. 43 2 Hen 65,7 ist dieselbe Erwartung indirekt ausgesprochen.

216 Regen, nicht Nebel; nicht Dunkel, nicht Abend, nicht Morgen; nicht Sommer, nicht Frühling, nicht Hitze; nicht Winter, nicht Eis, nicht Frost; nicht Hagel, nicht Wetter, nicht Tau; nicht Mittag, nicht Nacht, nicht Dämmerung; nicht Glanz, nicht Helle, nicht Leuchten, sondern ganz allein den Glanz der Herrlichkeit des Höchsten, wobei alle das schauen können, was ihnen bestimmt ist. Jener Tag dauert eine Jahrwoche. So ist mein Gericht und meine Ordnung.“44 1 Hen 45,4 spricht von einem umgewandelten Himmel, der zu ewigem Segen und Licht gemacht wird, und in 1 Hen 58,26 wird diese Vorstellung voll entfaltet: „Selig seid ihr Gerechten und Auserwählten, denn herrlich wird euer Los sein! Die Gerechten werden im Lichte der Sonne und die Auserwählten im Lichte des ewigen Lebens sein; ihre Lebenstage haben kein Ende, und die Tage der Heiligen sind unzählig. Sie werden das Licht suchen und Gerechtigkeit bei dem Herrn der Geister finden; die Gerechten werden im Namen des Herrn der Welt Frieden haben. Darnach wird zu den Heiligen gesagt werden, daß sie im Himmel die Geheimnisse der Gerechtigkeit, das Los des Glaubens, suchen sollen; denn es ist wie Sonnenschein auf dem Festland hell geworden, und die Finsternis ist gewichen. Unaufhörlich wird das Licht sein, und unzählbar werden die Tage sein, in die sie kommen, denn die frühere Finsternis wird vernichtet, und das Licht wird vor dem Herrn der Geister kräftig sein, und das Licht der Rechtschaffenheit wird für immer vor dem Herrn der Geister kräftig (leuchten).“ Ähnliche Aussagen finden sich Sib 3,91-94, Lib. ant. bibl. 3,10 und 26,1345 und Test Lev 18,1-346. Andererseits findet sich nun aber in Fortführung der Traditionen von Jes 30,26 auch die Erwartung, daß die Gestirne in der neuen Welt verwandelt werden und ihr Lichtglanz verstärkt sein wird. Sib 5,212 setzt die Gottwidrigkeit der Gestirne voraus und glaubt an die Notwendigkeit einer „neuen Natur“ derselben47, ohne im einzelnen die Kennzeichen dieser neuen Natur zu charakterisieren. Deutlicher formuliert 1 Hen 91,16: „Der erste Himmel wird verschwinden und vergehen; ein neuer Himmel wird 44

Für den Verf. des 4 Esr fallen der Tag des Gerichts und der Anfang der kommenden ewigen Welt zusammen (4 Esr 7,113); vgl. J. Keulers, Die eschatologische Lehre des vierten Esrabuches, Freiburg/Br. 1922, S. 162. 45 Vgl. Chr. Dietzfelbinger (Anm. 41), 224. 46 Mit vollem Recht macht P. Volz (Anm. 33), 365 darauf aufmerksam: „In diesen Aussagen ist überall der Gedanke von dem sichtbaren Lichtkörper nicht ganz losgelöst, aber die Wirkung desselben ist als eine geistliche gemeint.“ 47 Vgl. jedoch Sib 5,346f. und 476-483, wo vom Untergang der Gestirne, die dem „Licht Gottes“ Platz machen müssen, gesprochen wird.

217 erscheinen, und alle Kräfte des Himmels werden siebenfach immerdar leuchten.“48 Auch Jub 1,29 und 19,25 drücken die Hoffnung auf eine Erneuerung der „Mächte des Himmels“ aus49. Zusammenfassend läßt sich über die apokalyptisch-pseudepigraphische Literatur sagen, daß sie im wesentlichen die alttestamentlichen Ansätze fortführt und ausbaut, ohne dem Schicksal der Gestirne einen zentralen Platz innerhalb ihrer auf die Endzeit gerichteten Spekulationen einzuräumen: „Noch klarer als im Alten Testament wird hier sichtbar, daß eine konsequente Systematik in diesem Punkt nicht beabsichtigt ist."50 2. Rabbinische Literatur Die Belege aus der rabbinisch-talmudischen Literatur sind durchweg später als die bisher aus den pseudepigraphisch-apokryphen Schriften herangezogenen Äußerungen. Mit den Pseudepigraphen gehen die Rabbinen konform, wenn sie „das Geschaffensein von Sonne und Mond oft und stark“ betonen51. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, daß die Rabbinen Veränderungen in der Sternenwelt nicht als Vorzeichen des Endes gedeutet haben52. Dies dürfte mit der oft beobachteten Zurückhaltung der Rabbinen gegenüber apokalyptischen Spekulationen zusammenhängen. Am schärfsten hat R. Jose b. Chalaphta (um 150) diese Haltung formuliert: „Wer das Ende (der Welt) angibt (berechnet), der hat keinen Anteil an der zukünftigen Welt.“53 Das ist um so bemerkenswerter, als die Rabbinen ansonsten Ereignisse in der Sternenwelt durchaus als „Zeichen“ werten, die für die Menschheit von Bedeutung sind54: „Eine Sonnenfinsternis im Osten oder Westen ist unheilvoll für die betreffende 48

Vgl. P. Volz (Anm. 33), 340. Die Qumran-Schriften scheinen trotz ihres stark eschatologisch-astrologischen Interesses für unsere Fragestellung nichts abzuwerfen, es sei denn, man folge der Interpretation von 1QS X, 1-8 bei J. Renov, A Proposed Reading of the Manual of Discipline (1QS) X, 4, ISSt 3 (1958), 356-362. Vgl. dazu die Kritik bei E. Ettisch, Eschatologisch-astrologische Vorstellungen in der Gemeinderegel (X,1-8), RdQ 2 (1959/60), 3-19. 50 S. Aalen (Anm. 6), 163. 51 S. Aalen (Anm. 6), 260 Anm. 2. 52 Vgl. [H. Strack-] P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 1, 3 München 1961 , 955 und S. Aalen (Anm. 6), 260f. Anm. 7. 53 Vgl. [H. Strack -] P. Billerbeck, Bd. 4, München 1928, 1013-1015. 54 Es würde den Rahmen dieser Abhandlung sprengen und sachlich zudem wenig aussagen, in diesem Zusammenhang die Stellung des rabbinischen Judentums zu Astrologie und Schicksalsglaube zu schildern. Auch wenn die Rabbinen astrologischem Denken weiten Raum gaben und der Abwehrkampf gegen die Astrologie im Bereich des spätantiken Judentums eigentlich niemals eindeutig ge49

218 Gegend der Welt, während eine Sonnenfinsternis in der Mitte des Himmels nichts Gutes für die ganze Welt verheißt. Sieht die Sonne dabei aus wie Blut, dann wird es in der Welt Krieg geben; sieht sie aus wie ein Sack, dann kommt Hungersnot. Andererseits können irdische Ereignisse eine Sonnenfinsternis bewirken: 1. wenn ein Gerichtsvorsteher starb und nicht nach der Regel betrauert wurde; 2. wenn ein verlobtes Mädchen in der Stadt vergeblich um Hilfe rief, 3. Päderastie; 4. wenn zwei Brüder gleichzeitig ums Leben gebracht werden. Sonne und Mond werden gleichzeitig verfinstert (!) 1. wegen solchen, die falsche Schriften verfertigen; 2. wegen Leuten, die falsches Zeugnis ablegen; 3. wegen solchen, die im jüdischen Lande Kleinvieh züchten; 4. wegen solchen, die gute Bäume fällen (Sukka 29ab)."55 Überhaupt scheinen den Rabbinen Veränderungen in der Sternenwelt mehr als „Zeichen für ein bereits eingetretenes Ereignis“ gegolten zu haben denn als hinweisende „Zeichen“ auf zukünftiges Geschehen56. So verfinsterten sich die Gestirne beim Fall Adams57, um bei der Geburt Isaaks wieder aufzuleuchten58. Einen ähnlichen Zusammenhang zwischen dem irdischen und dem himmlischen Geschehen kannte auch schon das Alte Testament, doch wirkte sich dort das irdische Ereignis als Störung des Wechsels von Tag und Nacht aus, während es in der rabbinischen Literatur die Lichtfülle der Gestirne beeinflußt59.

wonnen wurde, blieben die eschatologischen Vorstellungen davon doch eigentümlich unberührt. Vgl. L. Wächter (Anm. 31); ders., Sternglaube und Gottesglaube im Judentum, in: L. Wächter, Jüdischer und christlicher Glaube. Vier Vorträge = AVTRW, Berlin 1975, 26-43. 55 H. Bietenhard (Anm. 38), 45. 56 Vgl. jedoch T. Sukka 2,6 „Wenn sie (d.s. die Gestirne) verändert werden, (daß sie) wie Blut (aussehen), kommt Strafe des Schwertes in die Welt. (Wenn sie) wie Trauergewand (aussehen), kommt Strafe von Pest u. Hunger in die Welt.“ Zitiert nach H. Bietenhard (Anm. 38), 85. 57 Vgl. die Belege bei [H. Strack –] P. Billerbeck, Bd. 4, 958, und S. Aalen (Anm. 6), 266f. Immerhin hingewiesen sei auf die Berichte über das Verhalten der Gestirne in der christlichen Adams-Literatur, die möglicherweise älteres jüdisches Material verarbeitet hat. Bei Adams Tod „verfinsterten sich Sonne, Mond und Sterne sieben Tage lang“; vgl. E. Kautzsch 2, 524 und P. Rießler (Anm. 33), 1088. Nach dem Ableben des Protoplasten bittet die ganze Engelwelt um Verzeihung für Adam. In der „Vita Adae“ heißt es hierzu auf eine Frage Evas an ihren Sohn Seth: „Das sind Sonne und Mond; auch sie fallen nieder und beten für meinen Vater Adam. Spricht Eva zu ihm: Wo ist denn ihr Licht (geblieben), und warum sehen sie so schwarz aus? Und Seth spricht zu ihr: Ihr Licht haben sie nicht verloren; aber sie können nicht leuchten angesichts vom Lichte des Alls, dem Licht der Lichter; um deswillen verbarg sich das Licht von ihnen.“ Vgl. APAT 2, 525. 58 Vgl. [H. Strack-] P. Billerbeck, Bd. 4, 959. Außerordentliche kosmische Vorgänge und Lichterscheinungen kennzeichneten nach rabbinischer Auffassung auch die Geburt Abrahams u. Moses; vgl. [H. Strack-] P. Billerbeck, Bd. 1, 77f. 59 Vgl. S. Aalen (Anm. 6), 261.

219 Wenn die Rabbinen Veränderungen in der Sternenwelt auch eigentlich nicht als Vorzeichen des Endes betrachteten, so entwickelten sie doch recht klare Vorstellungen über das Schicksal der Gestirne in der Endzeit60, die sich allerdings kaum streng systematisieren lassen. In Anknüpfung an Jes 60,19f. erwartete man, daß Sonne und Mond in der zukünftigen Welt nicht scheinen werden, sondern Jahwe Israels „ewiges Licht“ sein wird. Aber nicht nur Jahwe selbst wird als „Lichtträger“ der zukünftigen Welt erhofft, sondern auch der Messias in Anlehnung an Ps 132,17 oder die „Gerechten“ unter Berufung auf Ri 5,3161. Von Jes 24,23 ist die Auffassung geprägt, daß die Sonne in der Endzeit durch die Schekhina verdunkelt werden soll62. Schließlich sei noch die Erwartung einer Reduktion der Gestirne in der Endzeit erwähnt, die als eine Bestrafung der Sonne und ihrer Verehrer verstanden wird63. Stärker als die Erwartung der Reduktion der Gestirne in der Endzeit, die wohl vorwiegend durch die genannten alttestamentlichen Stellen angeregt wurde, ist die einer Restitution des Urzustandes. Als Schriftbeleg diente hier Jes 30,26. Ein Vorgriff auf dieses Ereignis stellte die Verstärkung des Lichtglanzes von Sonne und Mond bei der Geburt Isaaks dar: „Wenn Isaak geboren wird, d. h., wenn das Volk oder die Gemeinde Israels Wirklichkeit wird, ist das eine Restitution der ursprünglichen Schöpfung.“64 Die endgültige Restitution des Urzustandes aber erfolgt erst in der Endzeit. R. Schimon b. Gamliel (um 140) verheißt: „Alle, die über Jerusalem trauern während seinrtZerstörung, werden sich dereinst (in der messianischen Zeit) mit ihm freuen bei seinem Wiederaufbau... Sonne und Mond haben getrauert, wie es heißt: Die Sonne verfinstert sich bei ihrem Aufgang usw. Jes 13,10; und sie werden sich mit ihm (Jerusalem) freuen, wie es heißt: Es wird das Licht des Mondes sein wie das Licht der Sonne usw. Jes 30,26."65 Einige der rabbinischen Ausleger erwarten, daß der Glanz der

60

Mit dem Begriff „Endzeit“ werden die „Tage des Messias“ und der zukünftige „Olam“ (olam habba) zu einer Einheit zusammengefaßt, obwohl die Rabbinen von etwa 150 an beide Epochen deutlich voneinander abheben. Vgl. P. Volz (Anm. 33), 71f.; K Schubert, Die Religion des nachbiblischen Judentums, Freiburg 1955, 216, Anm. 2. 61 Vgl. die Belege bei [H. Strack –] P. Billerbeck, Bd. 4, 962f., und S. Aalen (Anm. 6), 319f, (Zu den „Gerechten“ als Lichtträgern). 62 Vgl. Pes. 68a = Sanh. 91b; z.St. vgl. S. Aalen (Anm. 6), 262 Anm. 4, und 316f. 63 Vgl. Tanch. b. Bereschit § 12,5a; z.St. vgl. S. Aalen (Anm. 6), 262, Anm. 5. 64 S. Aalen (Anm. 6), 261; vgl. auch 201f. Anm. 1. 65 Vgl. auch die weiteren Belege und Verweise bei [H. Strack-] P. Billerbeck, Bd. 4, 958f.

220 Sonne in der Endzeit 49fach oder sogar 343fach verstärkt werden wird66. Dann wird die Sonne die Sünder verbrennen und die Gerechten [in Anlehnung Mt 3,19f.] erwärmen67. III. ,Sonne und Mond’ im Neuen Testament 1. Die synoptischen Apokalypsen Mk 13,24-27 heißt es: „Zu der Zeit, nach dieser Trübsal, werden Sonne und Mond ihren Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Und dann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen in den Wolken mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und dann wird er Engel senden und wird versammeln seine Auserwählten von den vier Winden, von dem Ende der Erde bis zum Ende des Himmels.“ Mit ähnlichen Wendungen, aber sachlich modifiziert wird Mt 24,29-31 und Lk 21,25-28 von der Parusie des Menschensohnes gesprochen. Es ist für unsere Fragestellung nicht notwendig, auf die Diskussion über Mk 13 par. im einzelnen einzugehen 68. Als gesichertes Ergebnis der exegetischen Forschung darf die Erkenntnis angesehen werden, daß Mk 13 par. weder auf eine einheitliche jüdische Apokalypse, die durch christliche Zusätze erweitert worden ist, zurückgeführt werden kann69, noch als ein durch die Einheit des Kerygma geprägtes Ganzes angesehen werden darf, an das die „Echtheitsfrage“, der Versuch, zwischen überkommenem Material, echten Jesusworten und Gemeindetraditionen zu unterscheiden, überhaupt nicht herangetragen werden sollte70: „Eine genaue Analyse des Textes zeigt vielmehr..., daß die ganze Rede aus Einzelsprüchen oder kleinen Spruchgruppen verschiedener Herkunft zusammengesetzt ist, so daß für die Frage nach der 66

Vgl. [H. Strack-] P. Billerbeck, Bd. 4, 959. Vgl. S. Aalen (Anm. 6), 316, Anm. 9. Vgl. hierzu den ausführlichen, kritischen Bericht bei G. R. Beasley-Murray, Jesus and the Future. An Examination of the Criticism of the Eschatological Discours, Mark 13 wich Special Reference to the Little Apocalypse Theory, London – New York 1956. 2 69 So R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition = FRLANT 29, Göttingen 1931 , 129; G. Hölscher, Der Ursprung der Apokalypse Markus 13, ThBl 12 (1933), 193-202 u.a. mit unterschiedlicher Abgrenzung der ursprünglich jüdischen Partien. 70 So F. Busch, Zum Verständnis der synoptischen Eschatologie; Markus 13 neu untersucht, Gütersloh 1938, bes. 29-37. 67 68

221 ursprünglichen Gestalt der Verkündigung Jesu auch hier die Einzelbestandteile ausgelöst und nach ihrer Herkunft befragt werden müssen!“ 71 Diese Feststellung gestattet es, unverzüglich mit der Betrachtung von Mk 13,24-27 par. einzusetzen. Die Parusie des Menschensohnes wird durchweg in alttestamentlichen Zitaten und Reminiszenzen und vor dem Hintergrund frühjüdisch-apokalyptischer Vorstellungen geschildert. Das führt bemerkenswerterweise dazu, daß in diesen Versen eine „Fülle von Begriffen“ zu belegen ist, „die sonst in den synoptischen Jesusworten nicht begegnen“72. „Was die Schrift sagt, wird nicht midraschartig ausgemalt, sondern in ihren eigenen Worten wiederholt. Dabei wird, wie ein Vergleich der Worte von Mk 13 mit ihren Vorlagen zeigt, nicht einmal alles mitgenommen, was die Texte sagen, und was schließlich auch ‚apokalyptisch’ wäre. Nur das Allernötigste wird mitgeteilt, so daß der Verfasser in gleicher Weise von der phantasievollen Ausmalung wie von der Sklaverei des Buchstabens frei ist.“73 Dieses „Allernötigste“ aber ist die Ankündigung einer zeitlich gestaffelten Abfolge apokalyptischer Ereignisse: Nach der mannigfaltigen „Trübsal“, die die Menschen nur ertragen können, weil der ‚Kyrios’ die Tage verkürzt (Mk 13,20; Mt 24,22), wird das unmittelbar bevorstehende Hereinbrechen der Parusie durch eine kosmische Katastrophe angekündigt, die die Welt in den chaotischen Zustand vor der Schöpfung zurückfallen läßt. Der Blick des Sehers hat sich von der Erde abgewandt, nichts wird über die Auswirkungen dieser Katastrophe auf die Menschenwelt gesagt, es geht vielmehr um das durchaus himmlische Geschehen der Parusie des Menschensohnes, das mit den Worten von Dan 7,13 beschrieben wird. Nach Mt 24,30, wodurch die unbestimmte Ausdrucksweise von Mk 13,26 konkretisiert wird, sind „alle Geschlechter auf Erden“ furchterfüllte Zeugen dieser Parusie, die durch die Sammlung der „Auserwählten“ ihren Abschluß und Höhepunkt findet. Das montageähnliche Verfahren dieses Textes führt dazu, daß die traditionellen Gedanken und Vorstellungen einerseits nur fragmentarisch zur Geltung kommen und

71

W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, 2 Zürich 1953 , 91. 72 W. G. Kümmel (Anm. 71), 96. Vgl. bes. Anm. 49: Zu den singulären Begriffen zählen 13,34 selene, skotizesthai und 13,25 asteres sowie dynameis = Gestirne! 73 H. Bietenhard (Anm. 38), 49.

222 andererseits der innere logische Zusammenhang der Komposition oft gestört ist74. Trotzdem aber bleibt das gewollte Bild von dem Ablauf der endzeitlichen Ereignisse deutlich genug, um feststellen zu können, daß dieses kaum mit der von Jesus vertretenen Ablehnung apokalyptischer Zeitberechnungen (vgl. Lk 17,20) und der von ihm häufig betonten Unberechenbarkeit und Plötzlichkeit des Endes (vgl. Mk 13,32-35!; Mt 24,43f.; 25,1-13; Lk 17,24) zusammenstimmt. Diese Beobachtung legt die kaum noch bestrittene Erkenntnis nahe, daß es sich hier nicht um ursprüngliche Jesusworte handeln kann. Wir haben es in Mk 13,24-27 mit jüdisch-apokalyptischem Traditionsgut zu tun, das von Markus zur Ausgestaltung seiner apokalyptischen Rede aufgenommen und verarbeitet wurde. Bezeichnenderweise ist diese Art, über das Ende der Welt zu sprechen, nicht nur innerhalb der synoptischen Evangelien singulär, sondern begegnet auch im übrigen Neuen Testament nur noch sehr vereinzelt (vgl. Apg 2,20 als Zitat von Joel 3,4 [zur Behandlung dieses Zitats vgl. E. Haenchen, Komm. z.St.] u. Kennzeichnung des Pfingstgeschehens als eschatologischem Ereignis; Hebr 12,26 in Anlehnung an Hag 2,6; 2 Petr 3,12f.; zur Apk vgl. weiter unten). Es ist deshalb schon fast zuviel, wenn H. Bietenhard urteilt: „In dem Hinweis, daß vor dem Kommen des Endes eine große Erschütterung durch den Kosmos geht, stellt sich das NT zur Schrift und zu ihrer traditionellen Auslegung.“75 Richtiger dürfte es sein, in Mk 13 den Versuch des Evangelisten zu erkennen, in traditionell-apokalyptischen Vorstellungen Näheres über die Parusie des als Menschensohn erkannten Christus auszusagen. Matthäus und Lukas haben die Markusvorlage mit charakteristischen Veränderungen übernommen. Matthäus spricht, nach einem eine deutliche Zäsur setzenden „dann“, in 24,30 von dem „Zeichen des Menschensohns“, das am Himmel erscheinen wird. Durch Mt 24,3 wird nahegelegt, dieses „Zeichen“ mit dem Menschensohn selbst gleichzusetzen. Folgte bei Markus der Parusie des Menschensohns die Sammlung der Auserwählten als ein letztlich freudevolles Geschehen, so wird bei Matthäus die Parusie als Furcht und Entsetzen auslösendes Ereignis beschrieben, denn mit ihr beginnt das Gericht. Die Sammlung der Erwählten durch die Engel, die Matthäus betont als die Engel des Menschensohns bezeichnet und mit apokalypti74 75

Vgl. dazu E. Lohmeyer, Komm. z.St. H. Bietenhard (Anm. 38), 50.

223 schen Posaunen ausgerüstet sein läßt, ist dem Gericht deutlich nachgeordnet. Das Kommen des Menschensohns beschrieb Mk 13,26 mit den Worten von Dan 7,13; Mt 24,30 dagegen ist ein Mischzitat aus der Danielstelle und Sach 12,10-14, wie es sich auch Apk 1,7 findet. Matthäus allerdings hat gerade den Versteil aus Sach 12,10 „ihn, den sie durchbohrt haben“, der sich, wie es dann auch in Apk 1,7 geschieht, mühelos auf Jesu Kreuzestod beziehen ließe, ausgelassen: „Es kommt ihm hier offenbar nicht darauf an, die Einheit des Gekreuzigten mit dem Menschensohn auszudrücken. Er will vielmehr das Gericht betonen, das mit dem Erscheinen des Menschensohnes anhebt. Nun ist aber sein besonderes Anliegen, das Gericht in seiner Bedeutung für die Gemeinde und alle Welt, nicht aber nur für die Ungerechten ... darzustellen. In dem Augenblick, wo er die Wendung aus Sacharja ‚die ihn durchbohrt haben’ aufnahm, beschränkte er aber die Drohung des Gerichts auf die Feinde, klammerte also die Gemeinde aus diesem Gericht aus – und das widerspricht eben seiner Auffassung vom Gericht. Wir nehmen daher an, daß Matthäus absichtlich den Teil des Zitates, der auf den Durchbohrten verwies, ausließ76.“ Lk 21,25 schließt locker an Mk 13,24f. an, vermeidet aber eine genauere zeitliche Fixierung und Schilderung des kosmischen Geschehens. Dafür setzt Lukas eine Schilderung des Eindrucks, den die „Zeichen an Sonne und Mond“ auf die Erdenbewohner machen. Die Parusie des Menschensohns wird wie bei Markus mit den Worten von Dan 7,13 beschrieben. Lukas hat jedoch im Unterschied zu Dan 7,13 und Mk 13,26 den Plural „Wolken“ in den Singular verwandelt, um damit möglicherweise, entsprechend Act 1,9 und 11, Parusie und Himmelfahrt in Analogie zu setzen77. Das auf die Parusie folgende Geschehen, von dem Markus und Matthäus berichten, fehlt bei Lukas, der in 21,28 eine Paränese anschließt, das Nahen der Erlösung in diesen Ereignissen zu erkennen: „Nach der Meinung des Lukas liegen die Handlungen von 21,25f., von 21,28 und 21,31 zeitlich auf der gleichen Ebene, auf der sich nur erst die Nähe des Reiches und des Kommens des Menschensohnes (21,27) ankündigt. Das definitive Ende wird zwar durch das sichtbare Kommen des Menschensohnes herbei76

H. E. Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh 1959, 75. Zur jüdischeschatologischen Deutung von Sach 12, 1 Off, vgl. E. Sjöberg, Der verborgene Menschensohn in den Evangelien, Lund 1955, 267. 77 5 Vgl. H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas = BHTh 17, Tübingen 1964 , 171 Anm. 1.

224 geführt, aber Lukas vermeidet die Schilderung dieses Geschehens.“78 Ganz deutlich hat hier die Anschauung von der in unbestimmter Ferne liegenden Parusie eingewirkt, von der die Eschatologie des Lukas bestimmt ist79. Es kann nicht Aufgabe dieser Untersuchung sein, den theologischen Konsequenzen der aufgezeigten Modifikationen in der synoptischen Verkündigung vom kommenden „Menschen“ nachzugehen, zumal die Diskussion zum Menschensohnproblem des Neuen Testaments bisher noch weithin kontrovers geführt wird80. Nicht zu umgehen ist jedoch die Frage, wie sich die synoptischen Aussagen über den kommenden Menschensohn zur frühjüdischen Tradition verhalten, wobei sich selbstverständlich unser hauptsächliches Interesse darauf richtet, ob die frühjüdische Apokalyptik, sofern sie vom Menschensohn spricht, dessen Erscheinung durch kosmische Erschütterungen begleitet sein läßt. Wie bereits gesagt, stellt Mk 13,26 deutlich ein Zitat aus Dan 7,13 dar. Matthäus ist hierin Markus gefolgt, nicht ohne dessen ungenaue Zitation zu korrigieren81, während Lk 21,27 sich wieder an Markus hält. Die verhältnismäßig knappen Aussagen von Dan 7 über den, „der aussah wie ein Menschenkind“, lassen vermuten, daß mit dem „Menschensohn“, der dem „Uralten an Tagen“ vorgestellt wird und „Macht und Ruhm und Herrschaft“ über „Völker, Nationen und Zungen“ empfängt, keine individuelle Person gemeint ist, sondern vielmehr eine kollektive Größe, die den durch die vier Tiere repräsentierten Reichen entspricht. Vers 21f. identifiziert den Menschensohn mit den „Heiligen des Höchsten“, die nach M. Noth ursprünglich We78

H. E. Tödt (Anm. 76), 94. Vgl. H. Conzelmann (Anm. 77), 112f.; E. Grässer, Das Problem der Parusieverzögerung in den synoptischen Evangelien und in der Apostelgeschichte = BZNW 22, Berlin 1957, 163f.; auch W. C. Robinson jr., Der Weg des Herrn. Studien zur Geschichte und Eschatologie im Lukas-Evangelium = Theologische Forschung 36, Hamburg 1964, 64-67. 80 Vgl. z.B. E. Sjöberg (Anm. 76); Ph. Vielhauer, Gottesreich und Menschensohn in der Verkündigung Jesu, in: FS für G. Dehn zum 75. Geburtstag. Neukirchen 1957, 51-79; E. Schweizer, Der Menschensohn. Zur eschatologischen Erwartung Jesu, ZNW 50 (1959), 185-209; H. E. Tödt (Anm. 76); Ferd. Hahn, 2 Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum = FRLANT 83, Göttingen 1964 , 13-53; A. Strobel, Kerygma und Apokalyptik. Ein religionsgeschichtlicher und theologischer Beitrag zur Christusfrage, Göttingen 1967, 53-84; C. Colpe, Der Begriff ‚Menschensohn’ und die Methode der Erforschung messianischer Prototypen, Kairos 11 (1969), 241-263. 81 Mt 24,30 wird das bei Mk 13,26 fehlende tou ouranou nachgetragen, vgl. H. Preisker, Sind die jüdischen Apokalypsen in den drei ersten kanonischen Evangelien literarisch verarbeitet?, ZNW 20 (1921), 199204. bes. 201. 79

225 sen aus der himmlischen Umgebung Gottes meinten, in den sekundären Versen 21f. aber bereits auf die Juden, das Volk Israel, bezogen werden82. Von kosmischen Erschütterungen, die die Amtseinsetzung des Menschensohns ankündigen bzw. begleiten, weiß das Danielbuch nichts, das dieses Geschehen als himmlische Gerichtssitzung schildert83. Da bei den Synoptikern der Menschensohn jedoch eindeutig als individuelle Person auftritt, zu deren Parusie die kosmischen Vorzeichen untrennbar gehören - selbst Lukas hat sie nicht übergehen können oder wollen -, sind hier auch die Menschensohnaussagen in der sonstigen jüdisch-apokalyptischen Literatur heranzuziehen, auch wenn eine direkte Benutzung dieser Schriften durch die Synoptiker nicht eindeutig nachzuweisen ist. Mit Sicherheit haben diese ja auch mehr oder weniger allgemein bekannten Vorstellungen, die abgelöst von ihren literarischen Ausprägungen im Volk umliefen, zur Ausgestaltung ihrer Menschensohntheorie benutzt und nur den locus classicus, eben Dan 7, direkt zitiert. In 1 Hen 32-72 ist der Menschensohn die zentrale Figur des eschatologischen Geschehens, in dem er als Richter, Erlöser und Offenbarer fungiert. Das Endgeschehen wird durch kosmische Begleiterscheinungen eingeleitet (51,3-5), wobei allerdings von Veränderungen an den Himmelskörpern nichts gesagt wird. Die Amtseinsetzung des Menschensohns wird als Inthronisation durch den „Herrn der Geister“ beschrieben, die der Auferstehung der Toten vorangeht. Als Richter urteilt der Menschensohn die bösen und guten Engel und die sündigen Menschen ab. Für die Gerechten dagegen ist er nicht der Richter, sondern der Erlöser, der sie von den Gottlosen befreit und mit ihnen in ständiger Gemeinschaft auf der verklärten Erde lebt: „Es ist wie Sonnenschein auf dem Festland hell geworden, und die Finsternis ist gewichen“ (58,5). So weiß das Henochbuch zwar nichts von himmlischen Vorzeichen des Endgeschehens, erwartet aber eine völlige Verwandlung von Himmel und Erde, ohne über den Ablauf dieser Verwandlung genauere Angaben zu machen: „An jenem Tage werde ich in ihrer Mitte meinen Auserwählten wohnen lassen, und ich werde den Himmel verwan-

82

Vgl. M. Noth, Das Geschichtsverständnis der alttestamentlichen Apokalyptik, in: ders., Gesammelte 2 Studien zum Alten Testament, München 1960 , 248-273. 83 Kosmische Bezüge werden allenfalls in 7,2b sichtbar, wo von einem ‚kosmischen Sturm’, ähnlich dem Gottessturm in Gen 1,2, die Rede ist: „Die vier Himmelswinde kennzeichnen nach den vier Himmelsrichtungen den gesamten Kosmos, der hier allerdings wie in der Urzeit vor der Schöpfung als ein chaotisches Meer geschildert wird.“ 0. Plöger, Das Buch Daniel = KAT, Berlin 1969, 108.

226 deln und ihn zu einem ewigen Segen und Licht machen; ich werde die Erde verwandeln und sie zu einem Segen machen“ (45,4f.). Hier wird bereits deutlich, daß für Henoch der Menschensohn zwar die zentrale Figur des eschatologischen Geschehens ist, hinter der aber Gott selbst als der Handelnde steht, der den Menschensohn inthronisiert, Himmel und Erde verwandelt usw. Der Menschensohn bleibt nach Henoch eine Gestalt zweiter Ordnung, auch und gerade dann, wenn er der „Auserwählte“ genannt wird und gelegentlich göttliche Funktionen ausübt 84. Markus nimmt wohl Intentionen des Henochbuchs auf, wenn er auf die Parusie des Menschensohns die Sammlung der Auserwählten folgen läßt, ohne ein endzeitliches Gerichtsverfahren zu erwähnen, das ja auch Henoch für die Gerechten nicht kennt. Schließlich sei noch 4 Esra 13 genannt. In eigenartiger Abwandlung von Dan 7 gebiert hier ein gewaltiger Sturm aus dem Meer „etwas wie einen Menschen“ (13,3), das mit den Wolken des Himmels fliegt und alles in Schrecken versetzt. Ein großes Heer zieht gegen den Menschensohn, der sich auf einem hohen Berg niederläßt und die Feinde durch einen feurigen Strom aus seinem Mund tötet (13,5-11). Danach versammelt der Menschensohn nun seinerseits ein „friedliches Heer“, das durch das Deutewort 13,39-50 als die zehn Stämme Israels erkennbar wird, die in den Tagen des Josias fortgeführt wurden (13,40-47). Ein offensichtlicher Nachtrag in 13,48 schlägt diesem Heer des Menschensohns dann auch noch den im Lande verbliebenen Rest Israels zu. So tritt in 4 Esra an die Stelle des danielischen Gottesreichs und der verklärten Erde Henochs die Hoffnung auf eine Restitution Israels. Neben dieser Erwartung verblaßt das Bild des Menschensohns auffallend. Er wird „Sohn Gottes“ (13,32.37.52) genannt und ist der Weltenrichter (13,37), der sein Gericht vom wunderbar erbauten Zion (13,36) aus abhalten wird, seine eigentliche Aufgabe aber ist die Sammlung des zerstreuten Israel. In allen diesen Aussagen ist die Bezeichnung ‚Menschensohn’ noch kein festgeprägter Titel, sondern lediglich die Beschreibung verschiedenartiger himmlischer Wesen. Wann sich die Vorstellung von diesen himmlischen Wesen so weit herausgebildet und vereinheitlicht hatte, daß sie die Bildung des Titels ‚Menschensohn’ gestattete, ist in den von uns vorliegen84

Vgl. insgesamt E. Sjöberg, Der Menschensohn im äthiopischen Henochbuch, Lund 1946, 61-82. Zu der Gruppe, in der diese Henoch-Menschensohntradition gepflegt wurde, vgl. C. P. van Andel, De structuur van de Henoch-traditie in het NT, Diss. Utrecht 1955.

227 den Quellen nicht mehr erkennbar. Auf jeden Fall muß dieser Vorgang zur Zeit Jesu bereits zum Abschluß gekommen sein, da ‚Menschensohn’ in der Verkündigung Jesu und in der diese Verkündigung explizierenden urchristlichen Tradition nur noch titular gebraucht wird. Und gerade Mk 13,24-27 par. läßt noch durchschimmern, wie durch Kombination ursprünglich nicht zusammengehöriger Motive eine neue Menschensohntradition entstehen konnte, in der Jesus selbst gestanden haben dürfte. Näheren Aufschluß über diese Tradition kann uns jedoch nur noch der Gebrauch des Menschensohntitels innerhalb des Neuen Testaments geben, für dessen Klärung eine Vorstellung der ihm zugrunde liegenden jüdischen Menschensohntradition unerläßlich ist. In diesem Zwang zum exegetischen Zirkelschluß liegt das Dilemma des neutestamentlichen Menschensohnproblems. Um auf Mk 13,24-27 zurückzukommen: Markus bzw. die ihm vorliegenden Quellen zitierten Daniel als locus classicus der Erwartung vom kommenden Menschensohn, übernahmen aus Henoch u.a. die Anschauung, daß die Gerechten ohne weiteres Gerichtsverfahren durch den Menschensohn gesammelt würden, und wurden möglicherweise durch 4 Esra zu der Gleichsetzung Jesu mit dem kommenden Menschensohn veranlaßt85. Von kosmischen Vorzeichen der Parusie des Menschensohns konnten Markus bzw. seine Vorlagen nichts bei Daniel, Henoch und 4 Esra lesen. Vermutlich wurde dieses ursprünglich in die Erwartung des Tages Jahwes gehörige Motiv erst in jener Zeit der Menschensohntradition angefügt, in der sich auch die Bezeichnung ‚Menschensohn’ titular verfestigte, doch läßt sich die Tendenz zu solcher Motivübertragung bereits in 4 Esra feststellen86. Im Neuen Testament gehört das Motiv der Verfinsterung von Sonne und Mond dann jedenfalls fest zur Erwartung des kommenden Menschensohns. Bereits innerhalb der Konkurrenz eschatologischer Entwürfe des Frühjudentums hat die Menschensohntradition wohl kaum eine bestimmende Rolle gespielt und blieb auf kleinere Gruppen beschränkt. Auf jeden Fall hat sie niemals auch nur annähernd dieje85

Zur Problematik der Bezeichnung ‚filius meus’ in 4 Esra vgl. Ferd. Hahn (Anm. 80), 284f. C. Colpe, ThWNT 7,430f.: „In der Schilderung des Kampfes sind offensichtlich Wesenszüge at.licher Theophanieschilderungen (Kriegsruf, Entmutigung, Erdbeben, Verfinsterung [von der 4 Esra aber eben gerade nichts berichtet wird, M. 7, Jahwes Stimme]) auf den Menschen übertragen worden (Sturm, Erdbeben, Krieg, Entmutigung, Feuer aus dem Mund des Menschen), wie auch das Motiv des Völkersturms in langer jüd. Tradition steht.“ 86

228 nige Bedeutung erreicht, die etwa der Erwartung eines Messias oder auch Elias redivivus zukam. Diesen Tatbestand spiegelt auch das Neue Testament noch wider, wo der Menschensohntitel doch ganz im Schatten des Christus- oder Kyriostitels steht. Wie wenig die Bezeichnung ‚Menschensohn’ und die damit verbundenen Vorstellungen in bezug auf Jesus sich wirklich durchgesetzt haben, zeigt das weitere Schicksal des Menschensohntitels nur allzu deutlich. Sein apokalyptischer Hintergrund geht sowohl in der Gnosis verloren, wo das ‚hyios’ im Titel nur noch genealogisch verstanden und zum Baustein der gnostischen Anthropos-Spekulationen wird87, als auch bei den orthodoxen Kirchenvätern, die den Menschensohntitel in die Streitigkeiten über die wahre Menschlichkeit Christi hineinziehen, indem z.B. Irenäus und Tertullian erklären: Christus, der ‚filius Dei’ ist ‚filius hominis’ als Sohn der Maria88. 2. Die Finsternis vor dem Tode Jesu Der Bericht von der drei Stunden andauernden Finsternis vor dem Tode Jesu wird von den Synoptikern (vgl. Mk 15,33; Mt 27,45 und Lk 23,44) in fast gleichlautender Weise erstattet, während er bei Johannes fehlt. Allerdings unterscheidet sich Lukas von seinen Seitenreferenten dadurch, daß er die bei Markus und Matthäus nicht näher definierte skotos als Sonnenfinsternis (vgl. Lk 23,45a) bezeichnet. Seitdem E. Nestle auf Am 8,9f. (LXX) als die maßgebliche Stelle alttestamentlicher Gerichtsweissagung hingewiesen hat, aus der dieser Zug der synoptischen Passionsgeschichte erwachsen sei89, gilt es wohl fast allgemein als sicher, daß der Bericht von der Verfinsterung vor Jesu Tod zu jenen aus dem Alten Testament herrührenden Elementen gehört, mit deren Hilfe die Markus bereits vorliegende Tradition90 den

87

Vgl. H.-M. Schenke, Der Gott ‚Mensch’ in der Gnosis. Ein religionsgeschichtlicher Beitrag zur Diskussion über die paulinische Anschauung von der Kirche als Leib Christi, Berlin 1962, 154, vgl. auch 15f. 88 Vgl. zu Irenäus A. Houssiau, La Christologie de Saint Irénée, Louvain 1955, 25-38, zu Tertullian u.a. C. Colpe, ThWNT 7, 481. 89 Vgl. E. Nestle, Die Sonnenfinsternis bei Jesu Tod, ZNW 3 (1902), 246f. Zur Auslegungsgeschichte vgl. J. Schreiber, Der Kreuzigungsbericht des Markusevangeliums. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung von Mk 15,20b-41, Diss. theol. Bonn 1959, 132-134. Dasselbe erschien 1967 unter dem Titel „Theologie des Vertrauens. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung des Markusevangeliums“ in Hamburg. 90 Vgl. G. Schneider, Das Problem einer vorkanonischen Passionserzählung, in: BZ 16 (1972), 222244.

229 Kreuzestod Jesu als das apokalyptische Ereignis zu kennzeichnen versuchte, mit dem die Offenbarungs- und Gerichtszeit Gottes beginnt91. Was das im einzelnen nun zu bedeuten vermag, ist keineswegs unumstritten. Zu weit hat wohl K. Graystone ausgeholt, der Mk 15,33 mit den Chaosmächten, die durch Gottes Schöpfertat in die Schranken verwiesen wurden, in Verbindung bringen wollte und dann den Tod Jesu als „neue Schöpfung“ deutete92. Auch J. Schreibers Behauptung, „daß Finsternis, Stimme Jahves und Zerstörung des Tempels im Alten Testament im Blick auf den Gerichtstag einen traditionellen Zusammenhang bilden, der dann in der Apokalyptik mit Bezug auf den Messias oder Menschensohn in vielfältiger Weise entfaltet wird“93, konnte nicht wirklich überzeugen, da E. Linnemanns Überprüfung dieser These ergab, daß die von Schreiber herangezogenen Elemente apokalyptischen Geschehens zwar einzeln nachzuweisen sind, ihr Zusammenhang jedoch keineswegs in der Tradition vorgegeben ist94. Will man nun aber nicht lediglich bei dem Hinweis „Die Verfinsterung der Sonne kann als Zeichen des Gerichts verstanden werden, Am 8,9 usw.“95, stehenbleiben, so wird es notwendig sein, die Finsternis von Mk 15,33 und ihre Funktionen innerhalb des Kreuzigungsgeschehens genauer zu beschreiben und zu erfassen. Ob man wirklich auf Am 8,9f. zurückgehen darf, wenn man über die „Finsternis“ bei der Kreuzigung Jesu spricht, hängt ganz wesentlich von der Entscheidung darüber ab, wie es um die Echtheit der letzten fünf Verse des Amosbuches bestellt

91

Vgl. A. Strobel (Anm. 80), 139f. und W. Popkes, Christus traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, Zürich – Stuttgart 1967, 230f. Anm. 654. Vgl. allerdings auch J. Ernst, Die Passionserzählung des Markus und die Aporien der Forschung, ThGl 70 (1980), 160-180, bes. 175f.: „Entgegen der heute mehrheitlich vertretenen Annahme eines apokalyptischen Motivs, welches auf eine frühe vormarkinische Redaktionsstufe verweisen würde, verdienen bekannte Vorstellungen des antiken Volksglaubens (vgl. Vergil, Georg. 1 466; Diogenes Laert. IV 64; Plutarch, Pelop. 285 A), vor allem aber eine Nachwirkung von Mk 13,24, Beachtung. Die Natur trauert beim Tode des Gottessohnes, der im Zeichen der Sonnenfinsternis als der kommende Menschensohn ausgewiesen ist.“ 92 Vgl. K. Grayston, The Darkness of the Cosmic Sea. A Study of Symbolism in St Mark's Narrative of the Crucifixion, Theol. 55 (1952), 122-127. 93 J. Schreiber (Anm. 89), 33. 94 Vgl. E. Linnemann, Studien zur Passionsgeschichte, Göttingen 1970, 163-168. 95 So G. Delling, Der Kreuzestod Jesu in der urchristlichen Verkündigung, Berlin 1971, 151, Anm. 417, unter Hinweis auf E. Best, The Temptation and the Passion: The Markan Soteriology, Cambridge 1965, 98.

230 ist. Wird die Integrität dieser Heilsprophetie anerkannt96, steht einer Rückführung von Mk 15,33 auf Am 8,9f. nichts ernsthaft im Wege. Nur dann, wenn man Am 9,11-15 dem Propheten abspricht97, entstehen gewisse, aber doch keineswegs unüberwindliche Schwierigkeiten. Würde bei Amos die abschließende Heilsweissagung fehlen, dann wäre tatsächlich die Zeit der Finsternis „eine endgültige Erscheinung und nicht eine vorübergehende Epoche“, wie W. Schenk in seiner Auslegung der Passionsgeschichte geurteilt hat98, was nicht der Funktion der Finsternis innerhalb der Kreuzigungsperikope entspräche. Nun scheint es aber doch ziemlich gewiß zu sein, daß Markus das Amosbuch in seiner jetzigen Gestalt gelesen hat und daraus nichts anderes entnehmen konnte als die Prophetie einer Gerichtsfinsternis, voller Trauer „wie um den Einzigen“ (Am 8,10), auf die durch den alleinigen Willensentschluß Jahwes die Heilszeit folgen wird, in der „die baufällige Hütte Davids“ (Am 9,11) wieder aufgerichtet werden soll. Damit aber wäre zumindest die Formulierung von Am 8,9f. in der Textgestaltung der LXX an der Ausdrucksweise in Mk 15,33 mitbeteiligt gewesen, zumal Markus seine Bibel nicht mit dem exegetischen Scharfsinn des neuzeitlichen Theologen gelesen haben dürfte. Selbstverständlich aber hat der Evangelist hier vor allem eine Vorstellung im Sinn gehabt, die bereits in Mk 13,24 erkennbar wurde: Die Verfinsterung von Sonne und Mond ist dort eines der Ereignisse, die der Parusie des Menschensohnes vorangehen. Und nur in diesem Verständnis von der Funktion einer die ganze Erde bedeckenden Finsternis erschließt sich das Denken des Markus wirklich. Auch in seiner Erzählung vom Kreuzestod Jesu behält die Finsternis einen „symptomatischen“ Charakter. W. Schenk hat deshalb sehr zutreffend geurteilt: „Die kosmische Finsternis ist das letzte Ereignis vor dem Eintritt der neuen Welt.“99 Die Finsternis darf keinesfalls als Mittrauer des Kosmos beim Tod großer Männer, von der die antike Literatur durchaus zu berichten weiß, mißverstanden 96

Vgl. dazu W. Rudolph, Joel - Amos - Obadja - Jona = KAT, Gütersloh 1971, 278-287, der sich für die Echtheit der Schlußverse ausspricht. 97 So zuletzt U. Kellermann, Der Amosschluß als Stimme deuteronomistischer Heilshoffnung, EvTh 29 (1969), 169-183. 98 Vgl. W. Schenk, Der Passionsbericht nach Markus. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der Passionstraditionen, Berlin 1974, 42; vgl. auch ders., Die gnostisierende Deutung des Todes Jesu und ihre kritische Interpretation durch den Evangelisten Markus, in: K.-W. Tröger (Hrsg.), Gnosis und Neues Testament. Studien aus Religionswissenschaft und Theologie, Berlin 1973, 231-243. 99 W. Schenk (Anm. 98), 42. Vgl. auch zum Folgenden Schenks Darlegungen, durch die das Verständnis der markirischen Passionsgeschichte unter den hier besonders interessierenden Aspekten sehr wesentlich gefördert worden ist.

231 werden. Wenn die antiken Quellen davon erzählen, daß der Tod Caesars eine große Finsternis auslöste, so wird nach dem Bericht des Markus durch den Tod Jesu die allgemeine Finsternis beendet. „Finsternis“ bedeutet für Markus eben nicht ein wunderbares Zeichen, sondern steht bei ihm für eine apokalyptische Epoche, die Bestandteil einer „Sieben-Stunden-Apokalypse“ oder „Kreuzigungsapokalypse“ ist100. Höhepunkt dieses apokalyptischen Dramas ist der wortlose Schrei, mit dem Jesus stirbt101: „Durch den Todesschrei Jesu wird in der letzten Stunde der Welt die Finsternis beendet und vernichtet, der Tempel zerstört, indem der Vorhang zerreißt, und das Bekenntnis des Centurio hervorgerufen.“102 In einer solchen Konzeption der Leidensgeschichte, in der der Tod Jesu bereits das Endgeschehen selbst ist, bleibt für die Auferstehung kaum noch Platz, denn die Epiphanie des apokalyptischen Herrn geschieht ja bereits am Kreuz. Hier wird ein Denken erkennbar, das dem Neuen Testament im wesentlichen fremdgeblieben ist. Ob man hier wirklich „deutlich gnostisierende Züge“ erkennen muß103, scheint allerdings schon deshalb, weil die späteren, nun wirklich eindeutig gnostischen Schriften aus dem nachneutestamentlich-apokryphen Bereich die „Finsternis“ eben doch ganz anders verstehen und verwerten, sehr fraglich zu sein. Markus schildert den Tod Jesu konsequent und unter Anwendung aller hierbei üblichen „Requisiten“ als apokalyptisches Offenbarungsgeschehen. Jesus erweist sich durch seinen Tod als der Herr, sein Tod ist der Anbruch der Endzeit, er beendet jegliche Finsternis. Ist es zuviel gewagt, wenn wir in den Vorstellungsschemata jüdischer Apokalyptik fortfahren: Über dem, der durch seinen Tod am Kreuz die Endzeit herbeiführte und als Toter am Kreuz der Herr ist, erstrahlen die Gestirne in erneuertem Glanz? Markus hat diese Konsequenz nicht gezogen, aber sie ist fast zwangsläufig. Schon Lukas hat das alles nicht mehr verstanden oder es entschieden abgelehnt. „Es entspricht der lukanischen Historisierungstendenz, daß die Finsternis ‚naturwissen100

So sehr prägnant und überzeugend W. Schenk (Anm. 98), 51. Vgl. H. W. Bartsch, Die Bedeutung des Sterbens Jesu nach den Synoptikern, ThZ 20 (1964), 87102, bes. 95. 102 W. Schenk (Anm. 98), 45. 103 So W. Schenk (Anm. 98), 50; vgl. auch ders. (Anm. 98, Deutung). 101

232 schaftlich’ als Sonnenfinsternis erklärt wird und mit dem Zerreißen des Tempelvorhangs so zusammengestellt wird, daß beide Ereignisse als Zeichen gemäß Apg 2,19 auf den unmittelbar danach erfolgenden gottergebenen Tod des Märtyrers (23,46) hinweisen.“104 In den übrigen Schriften des Neuen Testaments, in denen die Details des Kreuzigungsgeschehens ohnehin kaum erwähnt werden, begegnet der Bericht von der Finsternis vor dem Tod Jesu nicht, obwohl sie alle, wenn auch in unterschiedlicher Weise, an dem Verständnis der Kreuzigung als eschatologischem Geschehen festhalten. Erst in dem nachneutestamentlich-apokryphen Schrifttum wird dieser Zug der Passionsgeschichte mit unterschiedlicher Motivierung wieder aufgenommen. Das früheste Zeugnis dürfte das ‚vorgnostische’ Petrusevangelium bieten, das wohl in der Mitte des 2. Jh.s in Syrien entstanden ist105 . Kennzeichnend für das Petrusevangelium ist sein Unverständnis für die Benutzung des Schriftbeweises in den kanonischen Evangelien, das zu „sachfremden Motivierungen von Einzelzügen, welche ursprünglich nur auf dem Hintergrund des Schriftbeweises zu werten sind 106, führt. Typisch hierfür ist die aus den verschiedensten Details der kanonischen Passionsberichte zusammengestellte Erzählung über die Finsternis (5,15-6,21): „Es war aber Mittag und eine Finsternis bedeckte ganz Judäa. Und sie (die Juden) gerieten in Angst und Unruhe darüber, daß die Sonne schon untergegangen sei, da er ja noch am Leben war. [Denn] es steht ihnen geschrieben, die Sonne dürfe nicht über einem Getöteten untergehen (vgl. Joh 19,31; Deut 21,22f.). Und einer unter ihnen sprach: ‚Gebet ihm Galle mit Essig zu trinken.’ Und sie mischten es und gaben es ihm zu trinken (vgl. Mt 27,34.48 par.). Und sie erfüllten alles und machten das Maß der Sünden über ihr Haupt voll (vgl. Joh 19,28.30). Viele aber gingen mit Lichtern umher, [und] da sie meinten, es sei Nacht, [begaben sie sich zur Ruhe oder: fielen sie hin (vgl. Joh 11, 10)]. Und der Herr schrie auf und rief. ‚Meine Kraft, o Kraft, du hast mich verlassen!’ (vgl. Mk 15,34 par.). Und indem er dies sagte, wurde er aufgenommen. Und zu derselben Stunde riß der Vorhang des Tempels zu Jerusalem entzwei (vgl. Mk 15,38

104

J. Schreiber (Anm. 89), 59. Gleichzeitig damit Meliton von Sardes, De Pascha 97 [ed. J. Blank, Freiburg/Br. 1963, 128; vgl. auch 81f., wo die Verfinsterung den entblößt am Kreuz hängenden Christus verbirgt. 106 Chr. Maurer, in: Hennecke-Schneemelcher 1, 120. 105

233 par.). Und da zogen die Juden die Nägel (vgl. Joh 20,25.27) aus den Händen des Herrn und legten ihn auf die Erde. Und die ganze Erde erbebte und große Furcht entstand (vgl. Mt 27,51.54). Da leuchtete die Sonne (wieder), und es fand sich, daß es die neunte Stunde war (vgl. Mk 15,33 par.).“ Deutlich hat der Verfasser des Petrusevangeliums den Sinn des synoptischen Berichts über die Finsternis vor dem Tod Jesu nicht mehr verstanden und deshalb, angeregt durch Joh 19,3 1, diesen mit Deut 21,22f. in Verbindung gebracht und legendarisch ausgeschmückt, wobei Jes 59,9f. die Schilderung von Petrusevangelium 5,18 angeregt haben dürfte107. In den apokryphen „Fragen des Bartholomäus“, die in ihrer griechischen Urschrift wohl in gnostischen Kreisen des 3. Jh. s in Ägypten entstanden sind, wird der Bericht über die Finsternis vor dem Tod Jesu zu einer Spekulation über den Descensuskampf Christi108 ausgebaut: „Und als die Finsternis eintrat, da schaute ich (= Bartholomäus) hin und sah, daß du (= Christus) vom Kreuz verschwunden warst; nur deine Stimme hörte ich in der Unterwelt, und wie dort plötzlich ein gewaltiges Jammern und Zähneknirschen anhub. Künde mir, Herr, wohin du vom Kreuz gingst. Da antwortete Jesus: Gesegnet bist du, Bartholomäus, mein Geliebter, weil du das Geheimnis erschaut hast. Und jetzt werde ich dir alles, wonach du mich fragst, kundtun. Als ich nämlich vom Kreuze verschwand, da ging ich zur Unterwelt, um den Adam und alle Patriarchen, den Abraham, Isaak und Jakob, von dort herauszuführen. Der Erzengel Michael hatte mich dazu aufgefordert ... Und ich führte alle Patriarchen hinaus und ging wieder zum Kreuz (I,7-20)."109 Die apokryphen Pilatusakten schließlich, die dem 4. Jh. zugehören, berichten (11,12): „Und es war um die sechste Stunde, da verbreitete sich Finsternis über die Erde bis zur neunten Stunde, da die Sonne sich verdunkelte ... Pilatus aber ließ die Juden kommen und fragte sie: Habt ihr gesehen, was geschah? Sie aber antworteten: Eine Sonnenfinsternis ist eingetreten nach gewohnter Art.“ Die Tendenz ist deutlich genug. Während der römische Statthalter und seine Frau durch die Vorgänge um den 107

Eine andere Sicht der Dinge bei M. Dibelius, Die alttestamentlichen Motive in der Leidensgeschichte des Petrus- und des Johannes-Evangeliums, in: Botschaft und Geschichte. Gesammelte Aufsätze 1, Tübingen 1953, 221-247, bes. 227-229. Vgl. auch J. Schreiber (Anm. 89), 268-272. 108 Ähnliche Äußerungen bei Firmicius Maternus, De err. prof. rel. 24. 109 Vgl. auch J. Kroll, Gott und Hölle. Der Mythos vom Descensuskampfe, Leipzig 1932, 71-77.

234 Tod Jesu in große Trauer versetzt werden und einen Tag lang fasten, haben die Juden nichts anderes als eine platte rationalistisch gefärbte Erklärung für das Geschehene anzubieten. Bereits dieser kurze Überblick über das Schicksal des synoptischen Berichts von der Finsternis vor dem Tod Jesu, der nur die neutestamentlichen Apokryphen berücksichtigte, zeigt deutlich, daß die in der ältesten, vorsynoptischen Tradition vorhanden gewesene Tendenz, den Kreuzestod Jesu als apokalyptisches Ereignis zu kennzeichnen, eigentlich nur bei Markus voll ausgeschöpft worden ist. Von da an wird dieser Zug der Leidensgeschichte, sofern er überhaupt übernommen wird, zum frei verwendbaren Baustein innerhalb unterschiedlichster Berichte von der Passion Jesu. In Vergessenheit geraten konnte er nicht, dafür bürgten das Ansehen und der liturgische Gebrauch der kanonischen Evangelien, sein Verständnis aber blieb schwankend. 3. Die Apokalypse des Johannes Ähnlich den synoptischen Apokalypsen verwendet auch die des Johannes die traditionellen Vorstellungen von kosmischen Erschütterungen, die das endzeitliche Geschehen begleiten, um eine eigene, auf das durch Christus bestimmte Endgeschehen bezogene Aussage zu formulieren. Dabei fällt sogleich auf, daß Johannes die jüdisch-apokalyptische Tradition sehr viel freier verarbeitet, als es noch in den synoptischen Apokalypsen geschehen war. Dem nicht näher bekannten Verfasser der Johannes-Apokalypse ist deutlich abzuspüren, daß er aus judenchristlichen Kreisen stammt, ohne daß er seine Botschaft auf diese Kreise beschränkt. Vielmehr richtet sich seine Verkündigung vor allem an die synkretistischen Einflüssen ausgesetzten Missionsgemeinden Kleinasiens, und es dürfte trotz aller Versuche, das Gegenteil zu behaupten110, kaum zu übersehen sein, daß die JohannesApokalypse gerade die Verhältnisse dieser Gemeinden im Auge hat und hier ihr entscheidendes Wort sagen will: „Die Apokalypse ist ein Buch ihrer Zeit, aus dieser Zeit und für diese Zeit geschrieben, nicht für ferne Generationen der Zukunft oder gar

110

2

Vgl. E. Lohmeyer, Die Offenbarung des Johannes = KEK, Tübingen 1953 , 194: „So kümmern ihn (= den Vf. der Johannesapokalypse) nicht Zeit und Geschichte, sondern allein die übergeschichtlichen und unterirdischen Mächte, die der Vollendung entgegenstehen.“

235 der Endzeit.“ 111 Es geht ihr um die entscheidende, die Dinge letztgültig klärende Auseinandersetzung mit dem spätantiken Reichsmythos, dessen schärfste, die christlichen Gemeinden unmittelbar berührende Ausprägung der Kaiserkult darstellt. Und gerade weil diese Auseinandersetzung entscheidend wirken soll, wird sie von Johannes so umfassend, Himmel und Erde, Schöpfung und Endzeit einschließlich, angelegt. Er will ein „Trostbuch“ für die Gemeinde schreiben, die auf das Martyrium zugeht112, zugleich aber auch ein „Kampfbuch“, das die Dinge ein für allemal klarstellt113. Ganz grundsätzlich unterscheidet sich Johannes in seiner Schau der Geschichte von der jüdischen Apokalyptik: „Die jüdische Theologie weiß noch nichts von einer Gegenwart des Heils; sie hofft alles von der Zukunft. Die Gnosis aber läßt die Hoffnung auf die zukünftige Erfüllung des Heils verschwinden zugunsten des Glaubens an die volle Gegenwärtigkeit des Heils. Beide Vorstellungsreihen für sich genommen bringen ein Element der Theologie der Apc und zugleich des ganzen Neuen Testaments zur Geltung. Aber gerade in dem Fehlen des gegensätzlichen Gedankens wird die Besonderheit des christlichen Heilsverständnisses nicht erreicht. Dessen Eigentümlichkeit besteht in der dialektischen Spannung zwischen Noch-nicht und Schon, die durch keine Verlagerung des Schwerpunktes gemildert oder aufgehoben werden darf ... Christus ist der Kommende und zugleich der Gegenwärtige. Auf ihn harrt die Gemeinde; um an seiner Heilstat Anteil zu gewinnen, kämpft sie um Sieg. Dabei hat sie bereits in der Gegenwart, was sie von der Zukunft erhofft. Freilich ist dabei der Glaube an eine sich in der Geschichte als deren Ende realisierende Heilsvollendung, die die Vollendeten von der Bedingtheit ihrer Geschichtlichkeit befreit, ein tragendes Element ... Christus hat gesiegt über die Welt und damit auch über die Zeit und Geschichte, die mit der Welt in der Schöpfung gesetzt sind. Sein Sieg ist gewiß, er ist Gegenwart und Zukunft zugleich."114 Es ist diese Schau der Geschichte, die die Apoka111

P. Feine - J. Behm, Einleitung in das Neue Testament, völlig neu bearbeitet von W. G. Kümmel, 13 Heidelberg 1964 , 337. 112 Vgl. Feine-Behm-Kümmel (Anm. 111), 338. 113 Vgl. E. Stauffer, Domitian und Johannes, in: ders., Christus und die Caesaren. Historische Skizzen, 3 Hamburg 1952 , 160-209, wo anhand zeitgenössischer Quellen über Domitian, der sich als erster römischer Kaiser amtlich ‚Gott der Herr’ nennen ließ, die ganze Schärfe der Auseinandersetzung verständlich gemacht wird. 114 T. Holtz, Die Christologie der Apokalypse des Johannes = TU 85, Berlin 1962, 215f, und 222f.

236 lypse des Johannes für unsere Untersuchung wichtig werden läßt, haben wir es doch bei ihr zum erstenmal mit einer apokalyptischen Schrift zu tun, in der die jüdischapokalyptische Tradition restlos eingeschmolzen erscheint in die neue christliche Sicht der Geschichte. Die traditionellen Vorstellungen sind nicht mehr nur illustrierende Einschübe in eine christliche Aussagenreihe, wie dies in den synoptischen Apokalypsen wenigstens teilweise noch zu beobachten war; in der Johannes-Apokalypse sind sie unlösbar eingefügt in das Ganze der Schrift und gehören direkt zum Kern der Botschaft des christlichen Apokalyptikers. Für uns ist es deshalb von besonderer Wichtigkeit festzustellen, aus welchen Motiven Johannes die traditionellen Aussagen über das Schicksal der Gestirne in der Endzeit übernimmt, wie er die alttestamentlichen Zitate behandelt und in welchen Zusammenhängen seiner Botschaft die endzeitliche Rolle der Gestirne begegnet. Wir beschäftigen uns hierbei nur mit solchen Texten, deren Aussagen sich eindeutig auf Sonne und Mond beziehen, und verzichten auf die Heranziehung anderer, unter Umständen auch einschlägiger Stellen in der Hoffnung, daß auch so das erarbeitete Bild klar genug ist, um zu zeigen, daß die Äußerungen über Sonne und Mond in der Johannes-Apokalypse in das Zentrum dieser Schrift gehören. In Apk 6 wird die Eröffnung der ersten sechs Siegel an dem inwendig und auswendig versiegelten biblion (5,1) geschildert. Dieses Buch, das als Symbol der Weltherrschaft verstanden werden kann115, darf nur durch das arnion, den durch seinen Sühnetod zum Passalamm für die Gemeinde gewordenen Christus116, entsiegelt werden. Der Apokalyptiker ‚erlebt’ das Lösen der sieben Siegel mit, wobei der Eröffnung des sechsten Siegels (6,12-17) besondere Bedeutung zuzukommen scheint, denn durch sie wird ein Himmel und Erde umgreifendes Geschehen in Gang gebracht, dessen Schilderung ganz in die Nähe dessen gehört, was uns bereits aus den synoptischen Apokalypsen bekannt ist117. Auf ein großes Erdbeben folgt unmittelbar die kosmische Katastrophe: „Die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward schwarz wie Blut; und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, gleichwie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von großem Wind bewegt wird. Und der 115 116 117

Vgl. T. Holz (Anm. 114), 31-36. Vgl. zu arnion als Christusbezeichnung T. Holtz (Anm. 114), S. 39-50 und 78-80. Vgl. H. Bietenhard (Anm. 38), 50.

237 Himmel entwich wie ein zusammengerolltes Buch; und alle Berge und Inseln wurden bewegt aus ihren Örtern.“ Daraufhin verbergen sich die Menschen118 in Höhlen und bitten die Berge und Felsen um Schutz vor dem Zorn Gottes und des Lammes ( = Christus). In 6,17 sprengt Johannes den Rahmen der visionären Schilderung, indem er erklärend hinzufügt: „Es ist gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?“ Apk 6,12-16 stellt eine umfangreiche Sammlung und Kombination alttestamentlicher Zitate dar, die von Johannes teilweise recht frei und selbständig verwendet werden. In 6,12 sind Joel 2,10 und 3,3-4; Jes 13,10 und 50,3 verarbeitet worden119. 6,13 zitiert Jes 34,4 in der Fassung der LXX, wenn auch in freier Umgestaltung120. Hinter 6,15, der Flucht in die Höhlen, stehen Stellen wie Jes 2, 10 und 19, sowie 1 Hen 62-63 mag hier als Parallele gewertet werden können. 6,16 wiederum zitiert mit leichter Abweichung vom LXX-Text Hos 10, 8, was auch in Lk 23,30 begegnet. Für 6,17 schließlich ist an Joel 2,11 und 3,4 zu erinnern, dürfte im übrigen aber den gesamten alttestamentlichen Vorstellungskomplex vom „Tag Jahwes“ im Auge haben. Selbst die abschließende Frage „Wer kann bestehen?“ erweist sich als Zitat von Nah 1,6 und Mal 3,2. Auch wenn man geneigt ist, den Nachweis dieser Zitate nicht überzubewerten, ist doch dadurch sichergestellt, in welch starkem Maß Johannes aus der alttestamentlich-apokalyptischen Tradition heraus denkt. Wichtig ist dabei, daß er die verstreuten alttestamentlichen Aussagen und Vorstellungen ganz offensichtlich zu einer echten Abfolge der endzeitlichen Ereignisse zusammenzufügen sucht, auch wenn ihm dieses nicht restlos gelingt, wie die Erörterung von Apk 8,12 zeigen wird. Noch wichtiger aber ist die Frage: Zu welchem Zweck hat der christliche Apokalyptiker diese Aussagen in seine ‚apokalypsis Jesou Christou’ übernommen? Kapitel 6 schildert ein visionäres Geschehen, das durch die Öffnung der Siegel durch das ‚Lamm’ jeweils weitergeführt wird. Die Inthronisation dieses ‚Lammes’ beschreibt Kapitel 5 und gibt zugleich die Begründung für diese Inthronisation an: Das Lamm hat 118 119 120

Mehr will die Aufzählung in 6,15 wohl letztlich nicht besagen. Zur Parallele in Ass Mos 10,5f. vgl. E. Lohmeyer, Komm. z.St. Zur Parallele in Ginza 203,3f. vgl. E. Lohmeyer, Komm. z.St.

238 gesiegt (5,5)! 5,9 interpretiert diesen Sieg: „Du bist erwürgt und hast uns Gott erkauft mit deinem Blut aus allerlei Geschlecht und Zunge und Volk und Heiden.“ Es ist der den sühnenden Opfertod gestorbene Christus, der als Lamm erhöht wird und somit seine Herrschaft antritt. Die Grenzen jüdisch-apokalyptischer Vorstellungen werden überschritten, wenn Johannes die ‚weltweite’ Wirkung dieses Opfertodes betont. Als ‚Herr’ erweist sich das Lamm auch dadurch, daß es allein berechtigt und fähig ist, die sieben Siegel des biblion zu lösen. Indem das Lamm das Buch nimmt (5,7), erweist es sich als der Erhöhte und Herr der Schöpfung, der dieses Buch zu entsiegeln und damit in Geltung zu setzen hat. Über den eigentlichen Inhalt des Buches teilt Johannes nichts mit, und es dürfte müßig sein, diesen Inhalt in der Apokalypse des Johannes selbst wiederfinden zu wollen. Ganz offensichtlich liegt die entscheidende Bedeutung dieses Buches doch darin, daß es entsiegelt wird. Das Lösen der Siegel setzt die visionär geschauten Ereignisse in Gang, mehr vermag Johannes nicht davon zu sagen. So dürfte das Buch als Symbol der Weltherrschaft des Lammes zu verstehen sein, vielleicht in dem Sinn, daß in diesem Buch das Schicksal der Welt aufgezeichnet zu denken ist, das durch die Entsiegelung in Gang gesetzt wird. So dürfte der eigentliche Sinn der Kapitel 5 und 6 darin zu finden sein, daß der erhöhte Christus, das geopferte Lamm, als Herr der Welt und ihrer Geschichte bekannt werden soll. Die Öffnung der Siegel hätte dann vorwiegend Bedeutung als ein die Ereignisse ordnendes und gliederndes Kompositionselement. In den ersten fünf Visionen scheint es noch nicht um apokalyptische Ereignisse im eigentlichen Sinn des Wortes zu gehen, vielmehr verarbeitet Johannes hier offensichtlich zeitgenössische Erfahrungen, die er jedoch insoweit als apokalyptische qualifiziert, als er sie doch zumindest als Vorboten des Kommenden betrachtet. Besonders 6,10 legt diese Deutung nahe: „Das Schreien der Gerechten gilt als Mittel, das Ende der Welt herbeizuführen.“121 Erst mit der sechsten Vision beginnt das eigentliche apokalyptische Geschehen, das Himmel und Erde verändert und die Voraussetzung für eine neuen Welt schafft. Durch die kunstvolle Verbindung dieser traditionellen Erwartung mit dem visionär geschauten Lösen der sieben Siegel durch das Lamm ( = Christus) gelingt es Johannes, Christus als den Herrn und Inaugurator dieser 121

E. Lohmeyer, Komm. z.St., der auf Sir 36.10; Hen 47,1; 97,3.5; 99,3 und Lk 18,7 verweist.

239 Ereignisse zu kennzeichnen. Er übertrifft damit die Aussagen der synoptischen Apokalypsen insofern, als diese ‚nur’ von einem Vorherwissen und Vorhersagen Jesu zu sprechen wußten (Mk 13,8 par.) und im übrigen die Gestalt des Menschensohns die Zentralfigur dieser Apokalypsen ist, deren Identifikation mit Christus zumindest in der ältesten Tradition noch nicht völlig vollzogen worden sein dürfte. In direktem Zusammenhang mit den in Kapitel 6 geschilderten Ereignissen stehen die von Kapitel 8. Durch die Eröffnung des siebenten Siegels (8,1) werden neue apokalyptische Schrecken eingeleitet, die durch die sieben ‚Posaunen’ bezeichnet werden. Die Fortführung des Gerichts wird durch das ‚Gebet aller Heiligen’ (8,3) bewirkt. Die Ausgestaltung der einzelnen Posaunenvisionen ist an den ägyptischen Plagen des Exodus orientiert. Bemerkenswert scheint, daß die geschilderten Zerstörungen alle nur partiell sind, also nicht das Ende selbst, sondern seine Vorboten beschreiben wollen. In 8,12 heißt es über die vierte Posaunenvision: „Und der vierte Engel posaunte: und es ward geschlagen der dritte Teil der Sonne und der dritte Teil des Mondes und der dritte Teil der Sterne, daß ihr dritter Teil verfinstert ward und der Tag den dritten Teil nicht schien und die Nacht desgleichen.“ Hinter dieser Schilderung steht der Bericht von der durch Moses verursachten Finsternis in Ex 10,21-23. Allerdings hat Johannes diesen Bericht so vollständig in die Konstruktion seiner apokalyptischen Visionen integriert, daß die Erkenntnis dieser Vorlage nur zu erklären vermag, weshalb der Apokalyptiker in 8,12 ein Geschehen erzählt, das durch das in 6,12-14 berichtete eigentlich unmöglich gemacht ist. Die Verfinsterung der Sonne in 9,2 wiederum denkt nicht an eine eigentliche Sonnenfinsternis. Unter den von E. Lohmeyer herangezogenen alttestamentlichen Parallelen122 scheint keine wirklich stichhaltig zu sein. Wahrscheinlich ging es Johannes vor allem um eine einigermaßen stimmige Wiederaufnahme der ägyptischen Heuschreckenplage (Ex 10,13-15), die bei ihm dadurch zum apokalyptischen Schrecken wird, daß die schlichten Heuschrecken, die Moses herbeikommen ließ, bei Johannes zu dämonischen Wesen werden, die sich nicht mehr damit begnügen, Gras zu fres-

122

Vgl. E. Lohmeyer, Komm. z.St.

240 sen, sondern ganz im Gegenteil damit beauftragt sind, diejenigen unter den Menschen zu foltern, die nicht das Siegel Gottes an ihren Stirnen tragen. IV. Schlußfolgerungen Die Analyse der Texte des Alten Testaments, der spätantik-jüdischen Tradition und des Neuen Testaments hat zu zeigen vermocht, daß Sonne und Mond einen festen Platz in der Verkündigung vom Ende der Zeiten bzw. von der zukünftigen Welt einnehmen. Dieses Ergebnis würde auch dann nicht hinfällig werden, wenn die Exegese einzelner Texte, die hier zu behandeln sind, zu abweichenden Resultaten gelangen würde. Selbstverständlich muß eine genauere Untersuchung auch darauf verweisen, daß die Vorstellungen vom endzeitlichen Geschick der Gestirne sich in der gleichen Weise entwickelten, wie dieses die eschatologischen Anschauungen insgesamt taten. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die Tatsache, daß in der frühchristlichen Tradition zunehmend Christus zur Zentralfigur des endzeitlichen Dramas wird, das in den altbekannten Farben ausgemalt wird. Die Analyse der literarischen Quellen hat einen Vorstellungskomplex verdeutlichen können, der in das Zentrum des jüdischen und des christlichen Glaubens hineingehört. Das zu betonen, erscheint schon deshalb als notwendig, weil damit die Wahrscheinlichkeit beträchtlich erhöht wird, daß diese Vorstellungen auf den Bereich der Kunst in Judentum und Christentum eingewirkt haben. Der oft vorgetragene Versuch, das ikonographische Motiv von Sonne und Mond in der frühchristlichen Kunst aus dem Kaiserkult und der damit verbundenen SolInvictus-Verehrung zu erklären, dürfte als endgültig gescheitert anzusehen sein. Konnte schon die These von der mehr oder weniger unbefangenen Übernahme von Elementen der Sol-Invictus-Frömmigkeit in den Bereich der frühen Kirche und des christlichen Kaisertums einer genaueren Überprüfung nicht wirklich standhalten123,, so muß nun zusätzlich gefragt werden, ob es überhaupt vorstellbar ist, daß das Christentum, das von den Funktionen der Gestirne eine so präzise Vorstellung besaß, diese an die Seite schob, um sich Elementen des spätantiken Gestirnsglaubens zu 123

Vgl. etwa K Aland, Die religiöse Haltung Kaiser Konstantins, in: Studia Patristica 1 = TU 63, Berlin 1957,549-600.

241 öffnen. Das muß um so unwahrscheinlicher anmuten, als sich ja zusätzlich darauf verweisen läßt, welchen harten Kampf die frühe Kirche gegen alle Formen der Astrologie führte, die in der Kaiserzeit ihren Höhepunkt erreichte124. Als was für einen gefährlichen Gegner das Christentum die Astrologie ansah, mag auch Tertullians Votum in De idololatria 9.1 andeuten: „Diese Wissenschaft ist nun aber bis zur (Zeit des) Evangeliums gestattet gewesen (!), auf daß seit Christi Geburt niemand mehr die Geburt eines Menschen vom Himmel her deuten solle.“125 Schließlich ist aber auch daran zu erinnern, daß das frühe Christentum aus dem Judentum eine Tradition übernahm, die durchaus kritisch gegen jede Form von Gestirnsverehrung eingestellt war. Im Judentum aber ist das Motiv von Sonne und Mond in die Kunst übernommen worden, um Szenen, die im Olam hab-ba angesiedelt sind, eindeutig zu kennzeichnen. Es spricht nichts dagegen anzunehmen, daß die frühchristliche Kunst das ikonographische Motiv Sonne und Mond in dieser Prägung übernahm, um nun seinerseits damit eschatologische Ereignisse und insbesondere den endzeitlichen Kyrios auszuzeichnen. Daß mit einer solchen Deutung an das grundlegende Verständnis wichtigster Darstellungen des frühchristlichen Bilderkreises gerührt wird, läßt sich nicht vermeiden, eröffnet aber unter Umständen auch die Möglichkeit für einen neuen Zugang zu diesen Darstellungen. Im Blick auf den Bereich der frühchristlichen Kunst kompliziert sich die Sachlage nun allerdings zusätzlich dadurch, daß Elemente des christlichen Kaiserkults in die künstlerischen Darstellungen einbezogen wurden, die deren Bedeutungsgehalte veränderten oder ganz neu bestimmten. Es wird deshalb zu den Aufgaben, die noch zu lösen sind, zweifellos gehören müssen, hier sorgfältig zu differenzieren und den Stellenwert zeitgenössischer theologischer Interpretationen exakt gegenüber ins Auge springenden formalen Parallelen abzuwägen. Die Erforschung und Deutung der spätantik-jüdischen Kunst steht immer noch in ihren Anfängen. Schon jetzt aber dürfte sich erkennen lassen, daß von der Fragestellung, 124

Vgl. W.Gundel, Art.: Astronomie, RAC 1,817-831, bes. 821;U. Riedinger, Die Heilige Schrift im Kampf der griechischen Kirche gegen die Astrologie von Origenes bis Johannes Damaskos. Studien zur Dogmengeschichte und zur Geschichte der Astrologie, Innsbruck 1956, 146-193. 125 125 Vgl. zum Hintergrund dieses Textes L. Koep, Astrologia usque ad Evangelium concessa (zu Tertullian, De idololatria 9), in: Mullus. FS Th. Klauser = JAC.E 1, Münster 1964, 199-208.

242 was diese Kunst aussagen wollte, welche Mittel sie dabei anwandte und was davon in der christlichen Kunst aufgenommen und fortentwickelt werden konnte, Impulse ausgehen, die der Erforschung beider Kunstkreise neue und wichtige Aufgaben stellen.

243 Irrwege ikonokogischer Deutung? Zur Diskussion um die spätantik-jüdische Kunst (1980)

Zusammenfassende Darstellungen ganzer Kunstepochen haben ihre besondere Problematik. Sie sollen nicht nur die Linien der Entwicklung kennzeichnen, sondern auch über einzelne hervorragende Kunstwerke informieren. Sie sollen eine Einführung in ein Wissensgebiet geben, sollen Probleme der Forschung bewusst machen und Lösungsvorschläge vortragen. Damit sieht sich der Autor vor die Aufgabe gestellt, dem Leser nicht nur den gegenwärtigen Stand gelehrten Wissens zu vermitteln, zugleich muss er, will er sich nicht nur als Kompilator betätigen, neue Problemlösungen versuchen, durch die die Darstellung erst zur originären wissenschaftlichen Leistung wird. Die methodische Schwierigkeit, mit der es der Autor hierbei zu tun hat, ist vornehmlich die, das allgemeine Wissen und den eigenen Erkenntnisstand in das rechte Verhältnis zu bringen.

Eine „idee fixe” reicht noch nicht aus, um die Geschichte eines ganzen Kunstkreises umzuschreiben, wohl aber kann sie Anlass sein, in immer erneuter Betrachtung des einzelnen Denkmals zu prüfen, wie weit sie sich als gültig erweisen lässt. Glücklich darf derjenige Leser genannt werden, den der Autor hinlänglich darüber informiert, in welchem Ausmass er die hier beschriebene Aufgabe zu lösen bereit und imstande war.

Die jüdische Kunst der Spätantike ist seit etwa vierzig Jahren in das Bewusstsein von Kunsthistorikern, Judaisten und Theologen getreten. Kunsthistoriker insbesondere haben auf Stil und Form aufmerksam gemacht, während Judaisten und Theologen sich um die Erhellung des geistigen Hintergrundes bemühten. Wenn auch einzelne Ergebnisse dieser Bemühungen noch längst nicht als gesichert angesehen werden dürfen, scheint sich doch in grundsätzlichen Fragen eine opinio communis herauszubilden, die in den einschlägigen Artikeln der grossen Speziallexika widergespiegelt wird. Damit erhält diese opinio communis einen Bonus, der die Gefahr in sich birgt, dass übersehen werden könnte, wie viele Fragen noch ungelöst sind, ja, wie unsicher noch immer unser Bild von der jüdischen Kunst der Spätantike ist.

244 Bereits im Jahr 1962 hat der Jerusalemer Kunsthistoriker Heinrich Strauss seine grundsätzliche Auffassung vom Wesen jüdischer Kunst erstmals dargelegt1. In einer ausführlichen Besprechung der späteren Monographie von Heinrich Strauss „Die Kunst der Juden im Wandel der Zeit und Umwelt”2 bescheinigt Otto Böcher dem Verfasser, dass dieser durch seinen obengenannten Aufsatz „einem weiteren deutschen Leserkreis” ebenso bekannt wurde wie durch „seine Auseinandersetzung etwa mit den Hypothesen Erwin R. Goodenoughs”3, die Strauss an verschiedenen Orten vorgetragen hat4. Strauss hat sich mehrfach „In eigener Sache” zu Wort gemeldet5 und seine Auffassung temperamentvoll und nicht frei von polemischer Schärfe artikuliert. Das gilt besonders für die letzte mir bekannt gewordene Äusserung, die mit dem vernichtenden Diktum „Irrwege ikonologischer Forschung”6 überschrieben ist7.

H. Strauss beschäftigt sich mit den Auffassungen und Publikationen der sogenannten „Schubert-Gruppe”, gemeint sind der Leiter des Wiener Instituts für Judaistik, Kurt Schubert, sowie dessen Mitarbeiter Ursula Schubert, Günter Stemberger und Su Min (Andreas) Ri8. Von dieser weiss Strauss zu berichten: „Inzwischen ging durch die 1

Vgl. H. STRAUSS, jüdische Kunst als das Problem einer Minorität, in: Tribüne 1, 1962, S. 275-301; der Aufsatz wurde zunächst im Jewish Journal of Sociology 2, London 1960, S. 147-171, in engl. Sprache veröffentlicht. 2 H. STRAUSS, Die Kunst der Juden im Wandel der Zeit und Umwelt. Das Judenproblem im Spiegel der Kunst, Tübingen 1972. 3 Vgl. 0. BÖCHER, Rez.: H. Strauss, Die Kunst der Juden etc., in: Emuna. Horizonte 8, 1973, S. 386 f. 4 Vgl. z. B. H. STRAUSS, Rez.: E. R. GOODENOUGH, Jewish Symbols in the Greco-Roman Period etc., in: Judaism 7, 1958, S. 81-85 und ders., Jüdische Quellen frühchristlicher Kunst: Optische oder literarische Anregung?, in: ZNW 57, 1966, S. 114136. Vgl. dazu auch die Miszelle von H. STRAUSS, Jüdische Quellen frühchristlicher Kunst — Optische oder literarische Anregung, in: ZNW 64, 1973, S. 323 f. 5 Vgl. die oben bereits zitierte Miszelle in ZNW 64, 1973, S. 323 f. und die Replik auf Böchers Rezension „In eigener Sache”. Zu: 'Die Kunst der Juden', in: Emuna. Horizonte 9, 1974, S. 431 f. 6 H. STRAUSS, Irrwege ikonologischer Forschung. Entdeckungen der Schubert-Studiengruppe in der römischen Via-Latina-Katakombe?, in: Emuna. Horizonte 12, 1977, S. 19-25. 7 Der Vollständigkeit halber sei auch auf H. STRAUSS, Rez.: J. Gutmann (Ed.), No Graven Images. Studies in Art and the Hebrew Bible, New York 1971, in: Emuna. Horizonte 9, 1974, S. 311f., wo Strauss einmal mehr seine Auffassung bekräftigt. 8 Vgl. Spätantikes Judentum und frühchristliche Kunst, hrsg. von U. SCHUBERT unter Mitwirkung von Su Min (Andreas) Ri, Kurt Schubert und G. Stemberger (= Studia Judaica Austriaca II), Wien - München 1974. In dem dort auf den S. 81 ff. vorgelegten Literaturverzeichnis sind auch die einschlägigen Arbeiten der Wiener Gelehrten verzeichnet. Darüber hinaus ist noch auf folgende Titel hinzuweisen: K. SCHUBERT, Das Problem der Entstehung einer jüdischen Kunst im Lichte der literarischen Quellen des Judentums, in: Kairos 16, 1974, S. 1-13; ders., Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies in der Katakombe der Via Latina im Lichte der jüdischen Tradition, in: Kairos 16, 1974, S. 14-18: ders., Die Bedeutung des Bildes für die Ausstattung spätantiker Synagogen — dargestellt am Beispiel der Thoraschreinnische der Synagoge von Dura Europos, in: Kairos 17, 1975, S. 11-23; ders., Die Minia-

245 deutschsprachige Weltpresse die Notiz, einer österreichischen Studiengruppe von Kirchen- und Kunsthistorikern sowie Judaisten unter Führung von Professor Kurt Schubert, Wien, sei der sensationelle Nachweis jüdischer Vorbilder frühchristlicher Kunst gelungen; nunmehr sei es Sache der Kunsthistoriker, den Hinweis der Kirchengeschichtler weiter zu verfolgen.”9 Ganz so sensationell und unseriös ist die Verfahrensweise der Wiener Kunsthistoriker und Judaisten nun keineswegs gewesen, wie Strauss seine Leser glauben machen möchte 10.

In einem 1977 erschienenen Aufsatz hätte zumindest angedeutet werden müssen, dass die Auffassungen von K. Schubert und seinen Mitarbeitern in einer ganzen Serie von Aufsätzen im einzelnen dargelegt und begründet worden sind. Weiterhin hätten die Arbeiten von Antonio Ferrua11, Josef Fink12 und Lieselotte KötzscheBreitenbruch13 Erwähnung finden müssen, in denen die vielfältigen Probleme spätanturen des Ashburnham-Pentateuch im Lichte der rabbinischen Tradition, in: Kairos 18, 1976, S. 191212; U. und K. SCHUBERT, Marginalien zur „Sinai-Szene” in der Katakombe der Via Latina in Rom, in: Kairos 17, 1975, S. 300-302; U. SCHUBERT, Eine jüdische Vorlage für die Darstellung der Erschaffung des Menschen in der sogenannten Cotton-Genesis-Rezension?, in: Kairos 17, 1975, S. 110; dies., Die Erschaffung Adams in einer spanischen Haggadah-Handschrift des 14. Jahrhunderts (Br. Mus. Or. 2884) und ihre spätantike jüdische Bildvorlage, in: Kairos 18, 1976, S. 213-217; G. STEMBERGER, Die Patriarchenbilder der Katakombe in der Via Latina im Lichte der jüdischen Tradition, in: Kairos 16, 1974, S. 19-78; ders., Die Bedeutung des Tierkreises auf Mosaikfussböden spätantiker Synagogen, in: Kairos 17, 1975, S. 23-56; SU-MIN (ANDREAS) RI, Mosesmotive in den Fresken der Katakombe der Via Latina im Lichte der rabbinischen Tradition, in: Kairos 17, 1975, S. 57-80; ders., Zum Problem einer jüdischen Vorlage bei den Moseszenen auf der Holztüre der Basilika von St. Sabina in Rom, in: Kairos 18, 1976, S. 218-222. 9 H. STRAUSS, Irrwege, S. 19. Herrn Werner Wanschura vom Informationsdienst für Bildungspolitik und Forschung in Wien verdanke ich die Überlassung des Interview-Textes vom 12.4.1974, aus dem hervorgeht, dass K. Schubert folgendes feststellte: 1. Es gab jüdische Bildvorlagen, die von den christlichen Künstlern des 4. Jahrhunderts verarbeitet wurden. 2. Die Wandmalereien der Dura EuroposSynagoge waren kein Einzelfall einer jüdischen Illustration, sondern eher die Regel. 3. Man konnte nun als sicher annehmen, dass die frühchristliche Kunst in der Themenstellung, aber auch im Stil, von dieser Kunst beeinflusst worden sein musste. 10 Meine Sonderdrucksammlung verfügt über einen mehr als 40 Jahre alten Aufsatz, den der international bekannte Clark Hopkins am 29. Juli 1933 unter folgender Überschrift in den renommierten Illustrates London News (S. 189-191) erscheinen liess: „Jewish Prototypes of Early Christian Art? Unique freccoes found in a third-century synagogue at Dura-Europos: A discovery that reopens the question of Christian art origins.” 11 A. FERRUA, Le pitture della nuova catacomba di via Latina (= Monumenti di antichità cristiana 2,8), Città del Vaticano 1960. 12 J. Fink, Hermeneutische Probleme in der Katakombe der Via Latina in Rom, in: Kairos 18, 1976, S. 178-190. 13 L. KÖTZSCHE-BREITENBRUCH, Die neue Katakombe an der Via Latina in Rom. Untersuchungen zur Ikonographie der alttestamentlichen Wandmalereien (= JbAC Erg.-Bd. 4) Münster 1976 mit ausführlicher Bibliographie. Vgl. dazu die Rezension von J. Fink, in: RQS 72, 1977, S. 248-253; U. Schubert, in: Kairos 19, 1977, S. 232-235; Y. Torly, in: Nouvelle Revue Théologique 99, 1977, S. 878; ZAW 89, 1977, S. 306.

246 tik-jüdischer Kunst im Blick auf die Fresken der Katakombe in der Via Latina in Rom diskutiert werden.

Immerhin gibt aber der Aufsatz von Strauss Anlass dazu, die von ihm beharrlich herausgestellten Probleme erneut und grundsätzlich zu bedenken und das von ihm herangezogene Beweismaterial kritisch zu überprüfen, wobei die Fresken der Katakombe in der Via Latina, deren Erforschung und Wertung noch keineswegs abgeschlossen sind, unberücksichtigt bleiben sollen.

I.

Schon 1962 hat Strauss mit allem Nachdruck die These vertreten, dass die „Jüdische Kunst als das Problem einer Minorität” verstanden werden müsse. Dieser grundlegenden These ist er in allen weiteren Arbeiten treu geblieben, er dekretiert: „Für das jüdische Volk als geschichtliche Erscheinung ist der entscheidende Faktor sein Minoritätenschicksal. Um ein mögliches Missverständnis gleich auszuschliessen, sei betont, dass wir hier von den Juden als kultureller, nicht als politischer Minorität sprechen. Eine kulturelle Minorität, eine Insel im Meer altorientalischer und später hellenistisch-römischer Weltkultur, sind sie aber auch in Zeiten politischer Selbständigkeit gewesen.14 Der Begriff der „Minorität“, der als soziologischer, religiöser oder auch staatsrechtlicher Terminus verstanden werden kann, wird von Strauss auf die kulturellen Beziehungen des jüdischen Volkes in der Gesamtheit seiner Geschichte bezogen und umfasst also tatsächlich einen „Zeitraum von etwa drei Jahrtausenden: Vom Einbruch der Kinder Israels in Kanaan (um 1200 v. Chr.) bis in die Gegenwart”15.

Gerade aber der Bereich des „Kulturellen” ist es nicht, in dem sich Israel und das Judentum als Minorität erlebten und begriffen. Strauss erblickt das Kontinuum jüdischer Geschichte in dem Erlebnis der Vereinzelung und Absonderung seines Volkes, das er als „typisches Minoritätenvolk”16 bezeichnet. Der Leser vermag nur zu erahnen, 14

H. STRAUSS, Minorität, S. 276. Vgl. auch die fast wörtliche Wiederholung in ders., Kunst der Juden, S. 9; ders., Jüdische Quellen, S. 119 f. und ders. Irrwege, S. 20. H. STRAUSS, Kunst der Juden, S. 9. 16 H. STRAUSS, Minorität, S. 276. 15

247 welche leidvollen Erfahrungen den jüdischen Autor, der seine Monographie „Die Kunst der Juden im Wandel der Zeit und Umwelt“ dem Andenken seines Sohnes Dani, gefallen im 6-Tage-Krieg 1967, widmete, den Blick auf das Kontinuum und Proprium jüdischer Existenz und Geschichte so zwanghaft verengt haben, und mit Bestürzung wird er sich klar darüber werden, welche Dimension jüdischen Lebens und jüdischer Geschichte bei Strauss einfach nicht wahrgenommen wird.

Es ist die Dimension der eigentlichen Geschichte Israels und des Judentums, die Geschichte jener göttlichen Erwählung und jenes Bundesschlusses mit den „Vätern”, durch den Israel und das Judentum tatsächlich in einem ganz einzigartigen Sinne zur Minorität schlechthin unter der Menschheit geworden sind. Durch die göttliche Erwählung wurden Israel und das Judentum zu einer Minorität, deren eigentliches Wesen das der Elite, also einer „Gruppe auserlesener Menschen”, ist. Und nur in diesem Sinne darf Martin Noth zitiert werden: „Und doch erscheint. . . 'Israel' als ein Fremdling in dieser seiner Welt, der zwar deren Gewand trug und sich auf die in ihr übliche Weise gebärdete, in seinem Wesen jedoch von ihr geschieden war; und das nicht nur so, wie jede geschichtliche Grösse ihre individuelle Sonderart hat und daher niemals anderen geschichtlichen Grössen wirklich gleich ist, sondern vielmehr so, dass im Zentrum der Geschichte 'Israels' Erscheinungen begegnen, für die es keine Vergleichsmöglichkeiten mehr gibt, und zwar nicht deswegen, weil dazu bislang noch kein Vergleichsmaterial zur Verfügung steht, sondern weil nach allem, was wir wissen, dergleichen Dinge in der sonstigen Völkergeschichte überhaupt nicht begegnen.”17

Israels Erwählung durch den „Gott der Väter”, seine Zusammenführung zum „System der zwölf Stämme Israel”18 und der Bundesschluss Jahwes mit dieser „Gruppe auserlesener Menschen”, die das Bewusstsein der Elite im Wechsel geschichtlicher Ereignisse und Situationen zu bewähren hatte, sind Grunderfahrungen jüdischer Existenz, die jenseits historischer Ereignisse das Kontinuum einer dreitausendjährigen Ge17

2

M. NOTH, Geschichte Israels, Berlin 1965 , S. 11. H. STRAUSS, Kunst der Juden, S. 9 f. Anm. 2, zitiert Noth in unzulässiger und irreführender Weise. Gerade Noth betont auch kräftig die Zäsuren innerhalb der Geschichte Israels und des Judentums, die bei Strauss durch den Minoritäten-Begriff verdeckt werden. 18 Vgl. M. NOTH, Das System der zwölf Stämme Israels (= BWANT 3, 10), Stuttgart 1930.

248 schichte bilden. Die Möglichkeit eines solchen kontinuierenden Selbstverständnisses wurde unlängst so zu beschreiben versucht: „Weil sich der Gott des alttestamentlichen Gottesvolkes durch jene mündlichen Überlieferungen alter Glaubenserfahrungen hindurch als der Lebendige erwies, konnte es keine eigentliche Rückkehr zur Tradition geben, sondern in weiterführender Interpretation der Tradition des alten Jahweglaubens durfte das alttestamentliche Volk je und je den Weg in ein neues Verhältnis zu seinem Gott wagen.”19

Es ist hier nicht der Ort, die Stationen dieses Weges zu beschreiben. Er führte auf Höhen und in Tiefen, in denen die Identität dieses 'auserlesenen' Volkes immer wieder zu erlöschen drohte und doch immer wieder gefunden wurde in dem täglichen Bekenntnis:

Höre Jissrael: ER unser Gott, ER Einer! Liebe denn Ihn deinen Gott mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele, mit all deiner Macht. (Dtn. 6, 4 f.)

Dieses Festhalten am Bekenntnis und am göttlichen Gesetz bewahrt die jüdische Identität und bewirkt die elitäre Minorität dieses Volkes durch die Zeiten hindurch.

Israel und das Judentum haben ihr Erwähltsein als Verheissung und Auftrag durch die Jahrtausende erfahren und erlitten. In der Emanzipation des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts glaubte das Judentum, sich dieser Erwählung entziehen und verweigern zu können. Die bösen Zeiten des Dritten Reiches, in denen die „Erwählten” der „Endlösung” zugeführt wurden, haben das Bewusstsein der völligen Unvergleichbarkeit jüdischer Existenz mit der der anderen Völker dieser Erde in das Gedächtnis der unmittelbar Betroffenen und derer, die nur Zeugen dieses ungeheuerlichen Vorganges sein mussten, hineingezwungen. 19

D. GRIMM, Geschichtliche Erinnerungen im Glauben Israels, in: ThZ 32, 1976, S. 257-268, bes. S. 268.

249 Dass das Judentum auch diese Katastrophe geistig zu verarbeiten vermochte, ist wohl nicht zuletzt auch darin begründet, dass Israel um die Ambivalenz seiner Erwählung wusste: „Höret, was der Herr mit euch redet, ihr Kinder Israels, mit allen Geschlechtern, die ich aus Ägyptenland geführt habe: Aus allen Geschlechtern auf Erden habe ich allein euch erkannt; darum will ich auch euch heimsuchen in all euerer Missetat.” (Am. 3, 1-2)

Das Minoritätenschicksal des jüdischen Volkes ist ein religiöser Tatbestand, der seinen sinnfälligen Ausdruck im Bereich des Kultischen findet. Dort ist das Judentum wirklich ganz exklusiv und elitär und „unerreichbar” für die übrige Menschheit. Die Seinsweise einer „kultischen Minorität” ist dem Judentum wesenhaft zu eigen, und die Aufgabe dieser Seinsweise würde Identitätsverlust und letztlich historischen Untergang bedeuten müssen. Gerade aber weil diese Seinsweise so unbedingt die jüdische Existenz bestimmt, kann sich diese auch weithin nach aussen öffnen und mit der nichtjüdischen Welt in ein, wenn man es so nennen darf, unbefangenes Verhältnis treten, das eine weitgehende Partizipation an dem wirtschaftlichen, staatlichen und geistigen Leben dieser Umwelt gestattet. Es ist die Mentalität des mittelalterlichen Ghettos, die das Selbstverständnis jüdischer Existenz als „Problem einer Minorität” ausprägt, die ganz und nur von dem ängstlichen Bestreben erfüllt wird, die eigene Identität durch Absonderung und Verweigerung jeglicher Kommunikation zu retten.

II.

Betrachtet man jüdische Geschichte und jüdisches Schicksal also nicht als das „Problem einer Minorität”, sondern sieht es wesenhaft eingewurzelt in die Erfahrung der Erwählung und Aussonderung aus den „Völkern”, so finden sich auch Massstäbe zur Begriffsbestimmung einer „jüdischen Kunst”. Strauss hat in seinen beiden grundlegenden Studien20 aufgezeigt, wie divergierend selbst bei jüdischen Gelehrten die Ansichten darüber sind, ob es überhaupt so etwas wie eine „jüdische Kunst” gäbe, und was die Kennzeichen „jüdischer Kunst” seien. Ganz gewiss wird man nicht derart 20

H. STRAUSS, Minorität, S. 275 f. und ders., Kunst der Juden, S. 9 ff.

250 vom Inhalt künstlerischen Schaffens absehen und das Problem des Stils als massgeblich herausstellen können, wie es Focillon zu seiner Zeit tat21.

Jüdische Kunst ist auch keine Aufgabe, die es, da es sie in der Vergangenheit nicht gegeben habe, in der Zukunft zu lösen gilt22. Ebenso genügt die Behauptung ihrer blossen Existenz23 nicht, denn ihr könnte mit der gleichen Begründung entgegengehalten werden, es gäbe eine nationale jüdische Kunst überhaupt nicht24. Auch die Konstruktion einer jüdischen Kunst in der Weise, dass alles jüdischer Kunst zugerechnet wird, was von jüdischen Künstlern geschaffen wurde25, kann, wie Strauss völlig richtig bemerkt26, keineswegs befriedigen. jüdische Kunst konstituiert sich, das haben z. B. im Ansatz Ernst Cohn-Wiener27 und Franz Landsberger28 bereits sachlich zutreffend ausgesprochen, durch ihren Inhalt.

Von einer jüdischen Kunst, zumindest in spätantiker Zeit, kann wohl nur dann gesprochen werden, wenn erkennbar ist, dass Werke der Kunst in irgendeiner Weise das Schicksal der Erwählung des jüdischen Volkes und aller daraus herrührenden geschichtlichen und geistigen Konsequenzen widerspiegeln. Kunstwerke können demnach zunächst und vor allem als jüdische angesprochen und bewertet werden, wenn die auf ihnen dargestellten Szenen, Motive und Symbole dem Bereich der jüdischen Religion zugeordnet werden müssen, letztlich also dem Bereich des Sakralen im weiteren Sinne. Die besondere Schwierigkeit, die mit dieser Definition verbunden ist, ist die, dass auch das Christentum über einen längeren Zeitraum hin das Alte Testament als „einzige schriftliche Norm”29 kennt und verwendet. Damit ist es von 21

Vgl. H. FOCILLON, Das Leben der Formen (= Dalp 305), München 1954, S. 8: „Das Kunstwerk ist Mass des Raumes, es ist Form, und das gilt es vor allem zu berücksichtigen.” 22 So K. SCHWARZ, Die Juden in der Kunst, Berlin 1928, S. 215, vgl. auch S. 220. 23 Vgl. D. PINKFRFELD, Über die jüdische Kunst (1923), Merchavya 1957, S. 143. 24 So B. BERENSON, Aesthetics and History, Reprint: New York 1954, S. 178. 25 So C. ROTH, Jüdische Kunst, 2 Bde., Frankfurt 1963/64. 26 Vgl. H. STRAUSS, Minorität, S. 276 und ders., Kunst der Juden, S. 11. 27 Vgl. E. COHN-WIENER, Die jüdische Kunst, Berlin 1929, S. 11. 28 Vgl. F. LANDSBERGER, A History of Jewish Art, Cincinnati 1946, bes. 12 ff. 29 Vgl. H. V. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel (= Beiträge z. hist. Theologie 39), Berlin 1975, S. 77: „Die alte Bibel bleibt in Ehren und gilt nach wie vor als das offenbarende Buch Gottes ... Der Tatbestand ist eindeutig und darf nicht abgeschwächt werden: es gibt noch schlechterdings kein 'Neues Testament', das dem `Alten' im Sinne einer entsprechend verbindlichen Urkundensammlung an die Seite treten könnte. Die alte jüdische Bibel ist und bleibt zunächst die einzige schriftliche Norm der Kirche und ist - mit mehr oder weniger Betonung - als solche überall anerkannt.”

251 vornherein unmöglich, jede alttestamentliche Szene unbesehen als ein Stück jüdischer Kunst zu deklarieren.

Die archäologische Forschung ist dieser Versuchung auch kaum erlegen, galt doch unbestritten die Gültigkeit des alttestamentlichen. Bilderverbotes30 und dessen Praktizierung in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten bei Juden und Christen31. Erst durch die Auffindung der berühmten, vollständg ausgemalten Synagoge in Dura Europos wurde die Frage nach der prinzipiellen Möglichkeit einer spätantik-jüdischen Kunst gestellt. Dura Europos und seine Synagoge erzwangen die Überprüfung der schriftlichen Traditionen des Judentums, und zwar musste diese Überprüfung, wie sich bald herausstellen sollte, in zweierlei Richtung gehen. Einmal galt es abzuklären, ob und unter welchen Bedingungen die rabbinischen Autoritäten Werke der Kunst zu tolerieren imstande waren. Zum anderen musste versucht werden aufzuzeigen, auf welchem Wege und in welcher Weise sich das spätantike Judentum der bildenden Kunst bemächtigen konnte.

Joseph Gutmann hat einen grösseren Teil derjenigen Arbeiten, die sich diesem Problem widmen, in dem 1971 erschienenen Sammelband „No Graven Images. Studies in Art and the Hebrew Bible” zusammengefasst32, so dass hier nur noch auf die wichtigen Arbeiten von R. Meyer33, W. G. Kümmel34, E. E. Urbach35, E. R. Goodenough36, J. Baumgarten37 und K. Schubert38 hingewiesen sein soll.

30

Vgl. u. a. K.-H. BERNHARDT, Gott und Bild. Ein Beitrag zur Begründung und Deutung des Bilderverbotes im Alten Testament (= Theologische Arbeiten 2), Berlin 1956. Vgl. die klassischen Arbeiten von H. KOCH. Die altchristliche Bilderfrage nach den literarischen Quellen (= FRLANT 27), Göttingen 1917, und W. ELLIGER, Die Stellung der alten Christen zu den Bildern in den ersten vier Jahrhunderten, Leipzig 1930. 32 H. Strauss hat diesen Sammelband in Emuna 9, 1974, S. 311 f. ausführlich besprochen. 33 Vgl. R. MEYER, Die Figurendarstellung in der Kunst des späthellenistischen Judentums, in: Judaica 5, 1949, S. 1-40, vgl. auch ders., Betrachtungen zu drei Fresken der Synagoge von Dura-Europos, in: ThLZ 74, 1949, Sp. 29-38. 34 W. G. KÜMMEL, Die älteste religiöse Kunst der Juden, in: Judaica 2, 1946, S. 1-56 [dass. in: ders., Heilsgeschehen und Geschichte (= MarbThSt 3), Marburg 1965, S. 126-152.]. 35 Vgl. E. E. URBACH, The Rabbinical Laws of Idololatry in the Second and Third Centuries in the Light of Archeological and Historical Facts, in: Israel Exploration Journal 9, 1959, S. 149-165 und 229245. 36 Vgl. z. B. E. R. GOODENOUGH, The Rabbis and Jewish Art in the Greco-Roman Period, in: HUCA 32, 1961, S. 269-279, vor allem aber ders., Jewish Symbols in the Greco-Roman Period, 13 Bde. (= Bollingen Ser. 37), New York 1953-1968. Die wichtigeren Rezensionen dieses monumentalen und 31

252 K. Schubert hat neben anderen die einschlägigen Texte aus der spätantik-jüdischen Literatur zusammengestellt, kommentiert und kommt zu folgendem, heute wohl kaum noch bestreitbaren Ergebnis: „Diese Texte lassen also erkennen, dass es schon zu Beginn des 3. Jh.s n. Chr. bemalte Wände und Mosaikfussböden mit figürlichen Darstellungen gegeben hat, die von den rabbinischen Gelehrten zunächst ohne eigene Zustimmung zur Kenntnis genommen werden mussten, mit denen sie sich aber in verhältnismässig kurzer Zeit abgefunden haben. Das bedeutet wohl auch, dass die mit Fresken geschmückte Synagoge von Dura Europas aus der Mitte des 3. Jh.s n. Chr. keine Ausnahme gewesen sein kann, sondern dass es wohl mehr Beispiele dieser Art gegeben hat.”39 Am eindeutigsten wird diese Situation wohl durch die Nachricht über die Reaktion des R. Jochanan b. Nappacha, der 279 n. Chr. starb, gekennzeichnet: „In den Tagen des Rabbi Jochanan fing man an die Wände zu bemalen, und er hinderte sie nicht.”40

Offen ist dagegen wohl immer noch die Frage, auf welchem Wege das spätantike Judentum sich der bildenden Kunst genähert und diese schliesslich sich zu eigen gemacht hat. Vor allem Kurt Weitzmann41 hat die These zu begründen versucht, dass jüdische Kunst im Zusammenhang mit der Aufgabe einer Illustration der Septuaginta entstanden sein müsse. Diese Theorie setzt eine sehr frühe Entstehung spätantik-jüdischer Kunst voraus, nämlich das Ende des 1. bzw. den Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr.

Einen anderen Ansatzpunkt für die Entstehung einer jüdischen und dann auch christlichen Kunst hat Th. Klauser erwogen. Ausgehend von den Siegelbildvorschlägen des Clemens Alexandrinus im Paid. III. 11. 59 beschäftigt er sich mit Münzen aus

stark umstrittenen Werkes bei G. DELLING und M. MASER, Bibliographie zur jüdisch-hellenistischen und intertestamentarischen Literatur 1900-1970 (= TU 1062), Berlin 1975, S. 44 f. 37 Vgl. J. M. BAUMGARTEN, Art in the Synagogue. Some Talmudic Views, in: Judaism 19, 1970, S. 196-206. 38 Vgl. K. SCHUBERT, Das Problem der Entstehung einer jüdischen Kunst im Lichte der literarischen Quellen des Judentums, in: Kairos 16, 1974, S. 1-13. 39 K. SCHUBERT, Problem der Entstehung, S. 8. 40 j AZ 111, 3 (42 d Mitte). 41 Vgl. bes. K. WEITZMANN, Die Illustration der Septuaginta, in: Münchner Jb. der bildenden Kunst 3/4, 1952/53, S. 96-120; jetzt auch ders., Studies in Classical and Byzantine Manuscript Illumination, ed. by H. L. Kessler, Chicago - London 1971, passim.

253 dem phrygischen Apameia, die in der ersten Hälfte des 3. Jh.s im Umlauf waren und ein Bild der Arche sowie Noahs und dessen Frau zeigen, und einem Lignit aus der Sammlung Newell, der die Opferung Isaaks darstellt42. Der Siegelring war ein Gegenstand des Alltags, den Heiden, Juden und Christen in gleicher Weise benötigten. Wie die Christen den Umgang mit diesem Gebrauchsgegenstand verstanden wissen wollten, berichtet Clemens.

Dass auch die jüdischen Autoritäten das religiöse Problem des Siegelsteins erkannt „und durch zugleich tolerante und doch exakte Bestimmungen über die Verwendung der Siegelringe abgeklärt” haben, wurde von mir vor einigen Jahren ausführlich erörtert43. Klauser folgerte in einem 1962 in Ravenna gehaltenen Vortrag: „Von entscheidender Wichtigkeit für die Ausbildung eines eigenen christlichen Bildschatzes ist, wenn mich nicht alles täuscht, die Tatsache geworden, dass schon um 200 oder gar noch früher das Ringgemmenbild in der Kirche toleriert worden ist. Man muss wohl annehmen, dass die christlichen Hersteller von Siegelringen bald auf den Gedanken gekommen sind, statt der von Clemens empfohlenen neutralen Motive solche biblischer Herkunft zu wählen. Auffällig ist jedenfalls, dass die ältesten christlichen Bildmotive in Rom und in Dura übereinstimmend eine heraldisch anmutende Kurzfassung biblischer Vorgänge zeigen, eine Kurzfassung überdies, die auf einen Bildträger geringen Formats schliessen lässt. Dieser Bildträger könnte, so meine ich, die Ringgemme gewesen sein ... Wir kommen somit zu dem Schluss, dass das eigentliche Quellgebiet der christlichen Kunst in der Gemmenkunst zu suchen ist, dass aber dieses Quellengebiet selbst wieder gespeist wurde von einem schon älteren künstlerischen Traditionsstrom, dem einer jüdischen Ringglyptik.”44

42

Vgl. TH. KLAUSER, Studien zur Entstehungsgeschichte der christlichen Kunst IV, in: JbAC 4, 1961, S. 128-145, bes. S. 139-145 mit Abb. 7 und 8, und die einschlägigen Arbeiten in ders., Gesammelte Arbeiten zur Liturgiegeschichte, Kirchengeschichte und Christlichen Archäologie (= JbAC Erg. Bd. 3) Münster 1974. Zur Interpretation der Clemens-Stelle vgl. u. a. auch L. EIZENHÖFER, Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien und die älteste christliche Literatur, in: JbAC 3, 1960, S. 5169; ders.: Zum Satz des Clemens von Alexandrien über das Siegelbild des Fisches, Echo aus dem Jahrbuch für Antike und Christentum, in: JbAC 6, 1963, S. 173 f.; H.-D. ALTENDORF, Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien, in: ZNW 58, 1967, S. 129-138. 43 Vgl. P. MASER, Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien und das spätantike rabbinische Judentum, in: Wiss. Z. Univ. Halle XXII, 1973, Reihe G. S. 65-70 mit Lit. 44 TH. KLAUSER, Die Äusserungen der Alten Kirche zur Kunst. Revision der Zeugnisse, Folgerungen für die archäologische Forschung, in: ders., Ges. Arbeiten, S. 337.

254 Nur verhältnismässig wenige Forscher haben sich entschliessen können, Klausers Folgerungen vollständig zuzustimmen. H. Strauss hat das von Klauser angeführte Belegmaterial sorgfältig geprüft, kritisch gesichtet und ist dabei zu dem wohl überzeugenden Ergebnis gekommen, dass der „jüdische” Charakter der Münzen aus Apameia und des Lignit aus der Sammlung Newell kaum wahrscheinlich sei45. Ich selbst kam meinerseits zu dem Schluss: „Zusammenfassend kann deshalb gesagt werden, dass Klausers Vermutung jüdischer Anregungen für die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien nicht ohne Anhalt in der rabbinischen Literatur ist. Wahrscheinlich hat Clemens die grundsätzliche Haltung gegenüber den Siegelbildern in direkter Anlehnung an jüdische Anschauungen formuliert. Die Auswahl der einzelnen Siegelbilder jedoch ist wohl nur indirekt jüdisch beeinflusst gewesen. Hier galten ihm nur jene Symbole als verwendbar, bei denen jede idololatrische Deutung ausgeschlossen war.”46 Mit dieser Formulierung versuchte ich damals der Vermutung zu begegnen, die „die Möglichkeit nicht ausschliesst, dass auch auf dem Gebiet der plastischen Darstellung von den Juden als rein dekorativer Schmuck gleichgültig hingenommene Figurenbilder” denkbar gewesen wären47. Wenn wir einer Tatsache gewiss sein können, dann ist es die, dass das Judentum sein Verhältnis zu den Werken der bildenden Kunst jeglichen Genres zu jeder Zeit sorgfältig reflektierte. Das Ergebnis dieser Reflektionen konnte unterschiedlich ausfallen, es konnte positiver oder auch negativer Natur sein, nur gleichgültig konnte es niemals sein. Die Lektüre der rabbinischen Literatur gewährt uns ausreichenden Einblick in die Argumentationsweise des Für und Wider; sie gerade ist es, die die Möglichkeit einer „Neutralität” als unmöglich erscheinen lässt.

45

Vgl. H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 134 ff. Nur hingewiesen werden kann hier auf V. BUCHHEIT, Tertullian und die Anfänge der christlichen Kunst, in: RQS 69, 1974, S. 133-142. Der Autor kommt zu einer gänzlich anderen Wertung der von Klauser interpretierten Äusserungen Tertullians und des Clemens von Alexandrien: „Man kann also die beiden Kronzeugen Klausers eher als Zeugen dafür verwenden, wie sehr sich bereits Anfang des dritten Jahrhunderts Kirche und Kirchenvolk von der alttestamentlich bedingten strengen Auslegung des zweiten Gebotes freigemacht haben.” (S. 140). Sollten sich Buchhefts Thesen, die sich zunächst auf die Auswertung der literarischen Tradition stützen, auch im Hinblick auf die monumentalen Quellen erhärten lassen —der Autor hat eine entsprechende Untersuchung angekündigt —, so liessen sich auch manche chronologischen Probleme des Verhältnisses von spätantik-jüdischer und frühchristlicher Kunst neu beleuchten. 46 P. MASER, Siegelbildvorschläge, S. 69. 47 So H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 136.

255 Wenn zur Zeit also auch noch nicht mit letzter Sicherheit gesagt werden kann, auf welchem Wege das spätantike Judentum die bildende Kunst adaptierte, wird das Eingeständnis dieser Unfähigkeit doch nicht Anlass sein, diesen Vorgang überhaupt zu leugnen. Für die frühe Kunst des Judentums gilt auch das, was Theodor Klauser einmal resümierend über die Kunst der alten Kirche bemerkte: „Die Frühgeschichte der christlichen Kunst ist dunkel, so dunkel, dass es nur der gemeinsamen, beharrlichen, offenen Auseinandersetzung vieler wissenschaftlicher Individualitäten gelingen kann, das Dunkel zu lichten.”48

Immerhin mehren sich die Bespiele einer ausdrucksstarken und symbolträchtigen spätantiken Kunsttradition, die nur aus jüdischem Denken heraus zu erklären sind. Nachdem die Überprüfung der schriftlichen Traditionen des Judentums die Möglichkeit einer jüdischen Kunst überhaupt und wenigstens andeutungsweise auch deren „Sitz im Leben” erkennen liess, ist zu fragen, inwieweit es der Forschung gelungen ist, auch die inhaltlichen Probleme der spätantik-jüdischen Kunst und ihres Bilderkreises zu erfassen.

Als „Hilfskonstruktion” seiner Theorie von der jüdischen Kunst als dem „Problem einer Minorität” behauptet Strauss eine „Gleichgültigkeit” der Juden, mit der diese die Werke der Kunst, auch die in ihrem engsten persönlichen und religiösen Umkreis, hingenommen hätten. Den Beweis seiner Auffassung sieht Strauss in der mehrfach begegnenden Verwendung des Tierkreisbildes in den Synagogen der Spätantike. Besonders die Synagoge von Chammat-Tiberias und der dort freigelegte Tierkreis sind für ihn eindeutiges Beweismaterial, das nur den Schluss zulässt: „Als einer der Stifter einer solchen Darstellung ist ein klarer Anhänger der rabbinischen Richtung 48

TH. KLAUSER, Ausserungen der Alten Kirche zur Kunst, S. 337. Eine weitere Möglichkeit der Adaption bildender Kunst durch das Judentum hat K. SCHUBERT, Problem der Entstehung, S. 11, erwogen: „Wenn es aber die Aggadot (Legenden) in Talmud und Midrasch sind, die auf die frühchristliche Kunst eingewirkt haben, dann kommt der ausschliesslich griechisch sprechende Raum Ägyptens für die Entstehung von derart bildhafter Gestaltung biblischer Szenen überhaupt nicht in Betracht, da diese hebräischen und öfter noch aramäischen Legenden in Ägypten gar nicht verstanden worden wären. Es kommt daher nur der Raum zwischen Mittelmeerküste und Euphrat in Betracht, wo ein Judentum beheimatet war, das als Umgangssprache aramäisch und griechisch gesprochen hat.” Zum Vorgang von „Adaptierung/Usurpierung/Integrierung (am Modell 'Antike und Judentum')” hat sich C. ANDRESEN jüngst grundlegend in dem Artikel Antike und Christentum, in: TRE Bd. 3, Berlin - New York 1978, S. 52-55, geäussert.

256 durch eine Inschrift auf dem Mosaik verewigt! Kann es einen besseren Beweis geben, dass die Juden damals solchen dekorativen Darstellungen völlig gleichgültig gegenüberstanden?”49 Dass es sich hier um einen klassischen Fehlschluss handelt, hat G. Stemberger in seiner materialreichen Studie „Die Bedeutung des Tierkreises auf Mosaikfussböden spätantiker Synagogen”50 nachgewiesen: „Die Annahme einer reinen Dekoration entspringt apologetischen Motiven, der Angst, die Rechtgläubigkeit der talmudischen Zeit gefährdet zu sehen.”51

In behutsam differenzierender Weise fasst Stemberger sein Ergebnis zusammen: „Die Bedeutung des Tierkreises in den Synagogen ist nicht mit einem Wort zu umfassen. Der Tierkreis vermittelt zwischen irdischer und himmlischer Welt, spiegelt Gottes Willen, Gesetz und Treue zu seinem Geschichtsplan. Damit wird der Tierkreis zu einem Bild der Hoffnung, zu einem Symbol der erwarteten Erlösung.”52 Die Verwendung des Tierkreises zur Dekoration der Synagogen entsprang also keineswegs religiöser Gleichgültigkeit, ganz im Gegenteil erwies sie die Fähigkeit eines lebendigen Judentums, die Motive und Symbole seiner Umwelt selbständig zu erfassen und zu interpretieren. Ein wenig mehr Kenntnisse der frühchristlichen Kunst- und Frömmigkeitsgeschichte hätten Strauss vor übereilten Schlüssen warnen müssen: Auch das frühe Christentum wusste sich die Figur und die Ideologie des Sol Invictus so zu gestalten, dass mit ihr und in ihr die zentrale Person des Gottessohnes und Erlösers neue Leuchtkraft erhielt. Und auch der Tierkreis wurde in diesen Prozess miteinbezogen. In verschiedenartiger Ausprägung begegnet er bereits in frühchristlicher Zeit auf mosaizierten Fussböden, erlebt später grossartige Gestaltung in den mittelalterlichen Glasmalereien der französischen Kathedralen und behauptet einen festen Platz in der Buchmalerei, wo er in enge Verbindung mit dem gleichfalls antiken Motiv

49

H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 125. Ganz ähnlich STRAUSS, Kunst der Juden, S. 27: „Uns heutigen mag Helios (bzw. Sol invictus) mit den Sonnenpferden im Fussboden-Mosaik der Synagoge von Beth Alpha (in der Ebene Jesreel) oder von Hammat-Tiberias merkwürdig vorkommen; die Juden sahen damals darin den natürlichen Mittelpunkt einer Dekoration, die die Sternbilder in ihrer üblichen Darstellung widergab. Die künstlerische Ausdrucksform wurde übernommen, die inhaltliche Bedeutung war gleichgültig, und diese Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt der Darstellung bei Werken der bildenden Kunst werden wir immer wieder bei den Juden feststellen.” 50 Kairos 17, 1975, S. 23-56. 51 Ebd., S. 26. 52 Ebd., S. 56.

257 der Monatsbilder tritt53. Wie problematisch sein Begriff der „Gleichgültigkeit” ist, offenbart Strauss, wenn er die unbestreitbare Bilderfeindlichkeit gewisser jüdischer Kreise notiert und als Extrem dieser „Gleichgültigkeit” zu verstehen versucht: „Es wäre aber falsch anzunehmen, dass diese Gleichgültigkeit ausnahmslos herrschte. Vielmehr gibt es Beweise einer feindlichen Haltung gegenüber dieser figuralen Kunst. Ebenso wie an der Plastik mancher galiläischen Synagogen ist auch an den unteren Bildern der Dura-Synagoge zu erkennen, dass Anhänger einer strengeren Richtung die Gesichter ... deformiert haben. Da die Synagogenbilder von Dura nur wenige Jahre zu sehen waren, haben wir hier den klaren Beweis, dass es unter den Zeitgenossen aktive Gegner dieser Figurendarstellung gegeben hat, die Gleichgültigkeit sich also manchmal sogar in Feindschaft zuspitzte.”54 Um die Behauptung jüdischer „Gleichgültigkeit” zu untermauern, weist Strauss auch auf die „handwerkliche Massenproduktion” spätantiker Kunst hin, die durch den Maximallohn-Tarif Diokletians von 301 n. Chr. eindrucksvoll belegt wird, da in diesem die „Künstler” den „gehobenen Bauarbeitern” gleichgestellt werden.

Allerdings lässt sich nach Strauss auch eine sehr viel erheblichere, ja grundsätzliche Begründung für die jüdische „Gleichgültigkeit” der Kunst gegenüber aufweisen, durch die einerseits eben diese „Gleichgültigkeit” geistesgeschichtlich und theologisch erklärt wird, und andererseits die direkte Abhängigkeit der frühchristlichen von der spätantik-heidnischen Kunst in einem Masse hervorgehoben werden kann, dass die spätantik-jüdische Kunst ganz zwangsläufig aus diesem Zusammenhang auszuscheiden hat: „Dem transzendenten 'Kunstwollen' (A. Riegls Formulierung, P. M.), in dem sich das Christentum mit dem spätrömischen Heidentum vereinigt hatte, war das antike Judentum so fern, dass schon aus diesem Grunde eine ältere jüdische Bildkunst, selbst wenn es sie gegeben hätte, als Vorbild nicht in Frage gekommen wäre.”55 Diese Sicht der spätantik-heidnischen Kunst unter dem Gesichtspunkt transzendenten „Kunstwollens” hat Strauss von dem Wiener Kunsthistoriker Karl Schefold

53

Eine monographische Abhandlung zur Ikonographie der Gestirne scheint es bisher nicht zu geben. Zur vorhandenen, weit verstreuten Lit. H. NOBIS, Art.: Gestirne, in: LCI 2, Rom - Freiburg - Basel Wien 1970, Sp. 142-149. 54 H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 125. 55 H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 134.

258 übernommen56, wobei er allerdings die ohnehin nur einen von mehreren möglichen Gesichtspunkten hervorhebende Betrachtungsweise Schefolds nun seinerseits nochmals verschärft, so dass der Begriff Transzendenz nun dafür herhalten muss, eine sehr vielfältige und -schichtige Kunstepoche zu beschreiben und in ihrem „Kunstwollen” zu erfassen.

Damit wird aber dieser Begriff, in dem Teilaspekte spätantik-heidnischer Kunst, soweit sie religiösen Charakter hat, richtig beschrieben sind, eindeutig überfordert. Endgültig wird der Transzendenz-Begriff unbrauchbar, wenn er dazu dienen muss, die Endzeiterwartungen des spätantiken Judentums zu klassifizieren und als eben nicht transzendente zu erweisen. Die Behauptung, dass das spätantike Judentum „jede transzendentale Bedeutung des Messias abgelehnt und in ihm nur eine politische Figur gesehen (habe) im bewussten Gegensatz zur christlichen Auffassung”57, ist unhaltbar.

Ich erspare mir eine Darlegung der einschlägigen Texte der spätantik-jüdischen Literatur, sondern versuche, eine gegenteilige Auffassung anhand der Interpretation eines Kunstwerks zu verdeutlichen. Auf diese Weise kann nicht nur anschaulich gemacht werden, dass die schriftlichen Quellen sehr wohl zur Deutung monumentaler Quellen im Bereich des Judentums herangezogen werden dürfen, sondern zugleich auch ein Beispiel dafür vorgeführt werden, in welch hohem Masse eschatologische Vorstellungen die Gedankenwelt und damit auch Kunst des spätantiken Judentums beherrschten.

1932 veröffentliche Karl Heinrich Rengstorf seine Studie „Zu den Fresken in der jüdischen Katakombe der Villa Torlonia in Rom”58, durch die er unmittelbar auf die kurz zuvor publizierte Abhandlung von Hermann Wolfgang Beyer und Hans Lietzmann

56

Vgl. K. SCHEFOLD, Römische Kunst als religiöses Phänomen (= Rowohlts deutsche Encyclopädie 200), Reinbek bei Hamburg 1964; ders., Pompejanische Malerei. Sinn und Ideengeschichte, Basel 1952 und ders., Vergessenes Pompeji, Bern 1962. 57 H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 134. 58 K. H. RENGSTORF, Zu den Fresken in der jüdischen Katakombe der Villa Torlonia in Rom, in: ZNW 31, 1932, S. 33-60.

259 über die Torlonia-Katakombe59 reagierte. Schon Rengstorf konzentrierte seine Beschäftigung mit der Torlonia-Katakombe ganz auf die Fresken in Arkosol IV und Cubiculum II, die auch nach ihm immer wieder neue Beachtung gefunden haben. Ich selbst habe versucht, gestützt auf die Anregungen von Rengstorf u. a., eine Deutung der fraglichen Bilder zu geben60.

Die Rückwand des Arkosol IV zeigt in der Mitte einen Toraschrein, dessen offene Türflügel die Gesetzesrollen im Inneren des Schreins erkennen lassen. Rechts und links wird der Schrein durch grosse siebenarmige Leuchter flankiert. Daneben finden sich verschiedene jüdische Kultrequisiten (Schofar, Etrog, Beschneidungsmesser und Lulaw). Über dem Dachgiebel des Schreins erscheinen Sonne und Mond sowie ein Stern, der direkt über der Giebelspitze steht. Diese Darstellung auf der Rückwand des Arkosols wird durch einen Bogen überwölbt, dessen unterer Rand mit Landschaftsansichten bemalt war, von denen heute nur noch eine Wiese vor bergigem Grund auszumachen ist, auf der ein Widder und ein Schaf (?) weiden. Dieser Szene an die Seite zu stellen ist eine Darstellung im Cubiculum II, deren Zusammenhang und Deutung nicht sicher ist. K. H. Rengstorf61 hat hier eine Abbildung der Arche Noahs vermutet; dann hätten wir es also mit einer „geschichtlichen Szene” (S. 45) zu tun. Mit Beyer, Lietzmann62, C. Wendel63 und E. R. Goodenough64 neige ich jedoch zu der Annahme, dass auch hier ein Toraschrein unter Sonne und Mond dargestellt wird. Die ungewöhnliche Perspektive, in der der Schrein hier gezeigt wird, „ist kein genügender Grund, die Deutung auf den Tora-Schrein abzulehnen”65.

Die Deutung dieser bemerkenswerten Szenerie ist in verschiedener Weise erfolgt, allerdings waren sich die Interpretatoren darin einig, dass es sich um eine Szene aus 59

H. W. BEYER - H. LIETZMANN, (Jüdische Denkmäler I) Die jüdische Katakombe der Villa Torlonia in Rom (= Studien z. spätantiken Kunstgeschichte 4), Berlin - Leipzig 1930. Vgl. P. MASER, Zur Deutung der Fresken in Arkosol IV und Cubiculum Il der jüdischen TorloniaKatakombe in Rom, in: Kairos 17, 1975, S. 81-88. Dort habe ich, soweit wie möglich, auch die einschlägige Literatur erfasst und besprochen. 61 K. H. RENGSTORF, Fresken, S. 43 ff. 62 H. W. BEYER - H. LIETZMANN, Katakombe, S. 24. 63 C. WENDEL, Der Thoraschrein im Altertum (= Hallische Monographien 15), Halle 1950, S. 30. 64 E. R. GOODENOUGH, Jewish Symbols in the Greco-Roman Period, Bd. 4, New York 1954, S. 136; vgl. auch Bd. 2, New York 1953, S. 38 und Bd. 8, New York 1958, S. 175. 65 C. WENDEL, Thoraschrein, S. 30. 60

260 der Endzeit handeln müsse. Diese Deutung wird durch die über dem Toraschrein erscheinenden Zeichen von Sonne und Mond wahrscheinlich gemacht.

Das Judentum der Spätantike lebte in der Erwartung einer Verfinsterung der Gestirne als „symptomatischem Zeichen”66 des Anbruchs der Endzeit67 und in der Hoffnung auf eine Restitution des Urzustandes im Olam habba68. Wenn die Annahme zutreffend ist, Sonne und Mond über dem Toraschrein deuteten auf eine Szene im Olam habba hin, dann muss versucht werden, diese Szene näher zu bestimmen. Schon K. H. Rengstorf hat darauf hingewiesen, dass hier nicht ein endzeitlicher TempelGottesdienst gemeint sein könne, vielmehr sprächen alle Einzelheiten für einen endzeitlichen Synagogengottesdienst69. Welche Hoffnungen aber konnten durch die Darstellung eines endzeitlichen Synagogengottesdienstes über einem jüdischen Grab artikuliert werden?

Im frühen 3. Jh. erklärte R. Jehoschua b. Levi: „Wo ist die Auferstehung der Toten in der Tora zu finden? Es heisst: Heil denen, die in deinem Hause weilen, immerwährend werden sie dich preisen. Ps. 84, 5. Es heisst nicht: sie priesen dich, sondern: sie werden dich preisen. Hier ist also die Auferstehung der Toten in der Tora zu finden.”70 Und verdeutlichend setzt er hinzu: „Wer (dem Herrn) in dieser Welt einen Lobgesang anstimmt, dem ist es beschieden, dies auch in der zukünftigen Welt zu tun, denn es heisst: Heil denen, die in deinem Hause weilen, immerwährend werden sie dich preisen.”71 In ähnlicher Weise argumentiert auch R. Hija im Namen R. Jochanans b. Nappacha, der 279 n. Chr. starb: „Wo ist die Auferstehung der Toten in der Tora zu finden? Es heisst: die Stimme deiner Späher, sie erheben ihre Stimme, gemeinsam werden sie jauchzen. Hier ist also die Auferstehung der Toten in der Tora zu finden.”72 R. Jehoschua b. Levi erläutert in einem Midrasch zu Ps. 84: „Wer in

66

Vgl. G. MENSCHING, Die Lichtsymbolik in der Religionsgeschichte, in: Studium Generale 10, 1957, S. 422-432, bes. S. 423. Vgl. dazu auch zusammenfassend P. MASER, Die endzeitliche Verfinsterung von Sonne und Mond, in: Die Zeichen der Zeit 1974, S. 390-392. 68 Vgl. zu den Einzelheiten P. MASER, Deutung, S. 86 f. 69 Vgl. K. H. RENGSTORF, Fresken, S. 38 f. 70 Sanh. 91 b. 71 Ebd. 72 Ebd. 67

261 die Synagogen und Lehrhäuser gegangen ist (in dieser Welt), der wird gewürdigt werden, in die Synagogen und Lehrhäuser (auch) im Olam habba (nach der Auferstehung der Toten) zu gehen, wie es heisst: Wohl denen, die in deinem Hause sitzen, sie werden dich noch preisen. Ps. 84, 5.”73 Das kultische Leben des Olam habba setzt sich also in den Formen des gegenwärtigen Äons fort, weil der Olam habba selbst häufig analog irdischen Vorstellungen gedacht wird. Bezeichnend dafür ist die Äusserung R. Eleazars: „Wenn ein Gemeindeverwalter die Gemeinde in Sanftmut leitet, so ist es ihm beschieden, sie auch in der zukünftigen Welt zu leiten, denn es heisst: denn ihr Erbarmer wird sie führen und an Wasserquellen behutsam geleiten. Jes. 40,10.”74 Wie der irdische synagogale Gottesdienst eine Fortsetzung im Olam habba erfährt, so setzt sich auch der irdische Sabbat als „ewiger Sabbat” im Olam habba fort. Dieser „ewige Sabbat” hat sein Vorbild in jedem irdischen Sabbat und ist ohne den synagogalen Gottesdienst nicht vorstellbar.

Eine sorgfältige Entschlüsselung der ikonographischen Einzelheiten dieser Fresken aus der Torlonia-Katakombe lässt die Hoffnung der unter diesen Bildern Bestatteten erkennbar werden: Wie sie Gott ihr irdisches Leben lang Sabbat für Sabbat in der Synagoge gepriesen haben, so werden sie es auch am „ewigen Sabbat” des Olam habba tun und damit Anteil haben an der endzeitlichen Auferstehung der Toten75. Die Deutung der Fresken in der Torlonia-Katakombe erhielt ihre inhaltliche Konkretisierung erst durch die Heranziehung der etwa zeitgleichen rabbinischen Texte. Sie 73

Zitiert nach H. L. STRACK - P. BILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 4/2, München 1928, S. 975. Sanh. 92 a. 75 Die hier vorgetragene Deutung wird durch die jüdischen Grabinschriften, in denen sich die Laienfrömmigkeit widerspiegelt, gestützt. Vgl. G. DELLING, SPERANDA FVTVRA. Jüdische Grabinschriften Italiens über das Geschick nach dem Tode, in: ThLZ 76, 1951, Sp. 521-526 (dass. in: G. DELLING, Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum. Gesammelte Aufsätze 1950-1968, Berlin 1970, S. 3944), und E. DINKLER, Schalom — Eirene — Pax. Jüdische Sepulkralinschriften und ihr Verhältnis zum frühen Christentum, in: RivAC 50, 1974, S. 121-144. Dinkler ist Dellings Arbeit offensichtlich unbekannt geblieben. Im Blick auf die Grabinschriften konstatiert er: „Man schreibt für die Zukunft, was in der Vergangenheit für das Leben bestimmend war.” Die Verwendung synagogaler Symbole besagte nicht mehr als: „der Verstorbene war ein das Gesetz achtender Jude”. „In diesem Sinne einer zunächst auf weitere theologische Tiefe verzichtenden Minimal-Feststellung ist meine obige Feststellung gemeint. „Diese Feststellung bezieht sich explizit auf die Darstellungen der TorlonaKatakombe und wird nur durch Dinklers Absicht voll verständlich, sich mit ihr H. Lietzmanns Versuch anzuschliessen, der eine astrale Deutung des siebenarmigen Leuchters in der jüdischen Sepulkralkunst ablehnt. Vgl. S. 132. Vgl. auch G. SANDERS, Licht en Duisternis in de christelijke grafschriften. Bijdrage tot de Studie der Latijnse metrische epigrafie van de vroegchristelijke tijd, Bd. 2, Brüssel 1965. 74

262 erweisen, dass sich hier nicht irgendeine jüdische Randgruppe artikulierte, sondern orthodoxes, durch rabbinische Auffassungen bestimmtes Judentum seine endzeitlichen Hoffnungen angesichts des Todes bekannte. Die geistigen Voraussetzungen und bildlichen Vorstellungen konnte dieses Judentum aus der Botschaft des Alten Testaments entwickeln, die ikonographische Verwirklichung wurde wahrscheinlich erst dadurch ermöglicht, dass die nichtjüdische Umwelt eine Ikonographie von Sonne und Mond ausgebildet hatte, die das orthodoxe Judentum zur Kennzeichnung einer endzeitlichen Situation übernehmen konnte, ohne auch nur das geringste „Zugeständnis” an den Kaiserkult und die Sol-Invictus-Theologie der Spätantike machen zu müssen.

Die Übernahme des ikonographischen Instruments von „Sonne und Mond” aus der paganen Umwelt zeugt also keineswegs von der „Gleichgültigkeit” einer „Minorität”. Sie zeigt vielmehr die geistige Beweglichkeit einer religiös lebendigen Gruppierung, die im lebhaften Kontakt mit ihrer Umwelt deren Einflüsse selbständig und schöpferisch zu verarbeiten vermag. Das spätantike Judentum verfuhr hier in einer Weise, die es etwa zur gleichen Zeit dem frühen Christentum ermöglichte, die Gestirnszeichen von Sonne und Mond in die Ikonographie der Kreuzigung Christi einzuführen76. Ja, es könnte durchaus einer ernsthaften ikonographischen und ikonologischen Untersuchung wert sein, die Frage zu klären, ob das spätantike Judentum nicht überhaupt die Einführung der Gestirnszeichen von Sonne und Mond in die frühchristliche Kunst ermöglichte.

Bisher fehlt es noch immer an einem vollständigen und verlässlichen Katalog der hier in Betracht kommenden spätantik-jüdischen Denkmäler, denen dann ein differenzierender Katalog vergleichbarer frühchristlicher Denkmäler zuzuordnen wäre. Die Erwartung, hierdurch für beide Kunstkreise zu schärferen und eindeutigeren Ergebnissen zu gelangen, scheint nicht ganz unberechtigt zu sein.

76

Vgl. dazu P. Maser, Das Kreuzigungsbild des Rabulas-Kodex, in: Byzantinoslavica 35, 1974, S. 3646.

263 Die konkrete Beschäftigung mit einem Bildtyp spätantik-jüdischer Provenienz hat aber auch die Behauptung von Strauss ad absurdum geführt, das spätantike Judentum habe „jede transzendentale Bedeutung des Messias abgelehnt und in ihm nur eine politische Figur gesehen im bewussten Gegensatz zur christlichen Auffassung”77. Eine solche Auffassung überzeichnet ein bestimmtes Verhältnis von Wesen und Aufgabe des Messias und öffnet damit nicht zu rechtfertigenden Pauschalurteilen über die Kunst des Judentums den Weg78.

Sie ist auch nicht durch Heranziehung zweier willkürlich ausgewählter Stellen der rabbinischen Literatur zu belegen. Ein Blick in die klassische Darstellung der „Jüdischen Theologie” von Ferdinand Weber79 hätte Strauss bereits darüber informieren können, wie diffizil die spätantik-jüdischen Messiaserwartungen gewertet werden müssen. Es ist im Zusammenhang dieser Arbeit unmöglich, die Fülle der vorhandenen Probleme in bezug auf den Messias auch nur anzudeuten. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat deutlich zu machen gewusst, dass letztlich jede einzelne apokryphe und pseudepigraphische jüdische Schrift einen eigenen Beitrag zur Messianologie zu erbringen vermag, so dass verallgemeinernde Urteile hier nichts als unheilvolle Simplifizierung bedeuten.

77

H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 133 f. Die Bedeutung des eschatologischen Denkens für die inhaltliche Prägung spätantik-jüdischer Synagogalkunst hat K. SCHUBERT, Die Bedeutung des Bildes für die Ausstattung spätantiker Synagogen — dargestellt am Beispiel der Toraschreinnische der Synagoge von Dura Europos, in: Kairos 17, 1975, S. 11-23, dargestellt. Vgl. dazu auch P. MASER, Der Greis unter den Sternen. Ein Beitrag zur Deutung des Bildprogramms über der Toranische in der Synagoge von Dura Europos, in: Kairos 18, 1976, S. 161-177. Bei grundsätzlicher Übereinstimmung mit K. Schubert bin ich in Einzelheiten doch zu anderen Ergebnissen gekommen. 79 F. WEBER, Jüdische Theologie auf Grund des Talmud und verwandter Schriften gemeinfasslich 2 dargestellt, Leipzig 1897 , S. 348 ff. 78

264 IV.

Überraschend variantenreich und dementsprechend verwirrend sind die Ausführungen von Strauss zu der Art und Weise, in der jüdische Bildformen, wenn sie es denn überhaupt gegeben haben sollte, in der frühchristlichen Kunst adaptiert werden konnten. 1962 konstatierte er lediglich: „Es zeigt sich also auch bei diesen Bildern (gemeint sind die Fresken in Dura Europos, P. M.), dass die Juden die künstlerischen Ausdrucksformen der Umwelt, den syrisch-heidnischen Stil, zur Darstellung jüdischer Themen, das heisst ihres kulturellen Erbes, verwandt haben. Für die altchristliche Kunst mögen sie die Vermittler dieser dem klassischen Ideal entgegengesetzten Richtung gewesen sein, ähnlich wie früher die Phöniko-Kanaaniter altorientalische Kunstformen und später im Mittelalter die Araber vergessene klassisch-griechische Stilelemente dem Westen gebracht haben.”80

Aber bereits 1966 zeichnet Strauss dann ein Bild der jüdisch-christlichen Beziehungen, das er unter die tatsächlich aus seiner Sicht der Dinge nicht zu umgehende Frage stellt: „Wie erklären sich aber, wenn es keine jüdischen Vor-Bilder gegeben hat, die nur in der jüdischen nachbiblischen Literatur überlieferten Midrasch-Details in frühchristlichen Darstellungen alttestamentlicher Geschichten?”81 Unter Hinweis auf die bekannte Arbeit von Carl H. Kraeling über die jüdische Gemeinde Antiochiens82 spricht er von dem „überraschend starken Zusammenhang zwischen Juden und Christen noch in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts” und folgert: „Wir dürfen also die Beziehungen zwischen Juden und Christen in der Weltstadt Antiochia mit ihrem weitreichenden Einfluss auf die Umgebung als typisch ansehen für die Verhältnisse in anderen Städten, von denen solche Berichte fehlen.” Ja, unter Bezugnahme auf die Polemik des Chrysostomos aus dem Ende des 4. Jahrhunderts geht er noch weiter: „Sogar der religiöse Kontakt zwischen Juden und Christen war also nach dem zeitgenössischen Zeugnis des Chrysostomus in der 2. Hälfte des 4. Jahrhunderts in dieser repräsentativen Weltstadt noch sehr eng, vom sozialen ganz zu schweigen: Chrysostomus eifert zum Beispiel auch gegen die Konsultation jüdischer Ärzte und 80 81 82

H. STRAUSS, Minorität, S. 287 f. H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 127. Vgl. C. H. KRAELING, The Jewish Community at Antioch, in: JBL 51. 1932, S. 130-160.

265 'Dämonenaustreiber', d. h. Psychiater, durch Christen.”83 Der ganz logische wenn auch wieder bemerkenswert einschränkende Schluss aus allen diesen Folgerungen ist der: „Dann kann man aber auch ... annehmen, dass Volkserzählungen und Märchen, mit denen man die biblischen Geschichten ausschmückte, gemeinsames Geistesgut von Juden und Christen waren, auch wenn sie später nur niedergeschrieben in jüdischen Schriften uns überliefert sind.”84 Damit wird für Strauss die Behauptung, dass die „Volkserzählungen gemeinsames Geistesgut” von Juden und Christen bis weit in das 4. Jahrhundert hinein blieben, zur tragenden Grundlage seiner Leugnung jüdischer „Vor-Bilder” für die frühchristliche Kunst85. Bevor die weitere Engführung des Beweisganges bei Strauss dargestellt wird, müssen an dieser Stelle die grundsätzlichen Möglichkeiten, das Verhältnis von jüdischer und frühchristlicher Kunst zu erfassen, verdeutlicht werden: 83

H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 128 f. H. STRAUSS, Jüdische Quellen, S. 129. Völlig unverständlich bleibt die Art und Weise, in der Strauss sich „Bundesgenossen” zu verschaffen sucht. In seiner Rezension des Sammelbandes von J. GUTMANN, Na Graven Images, New York 1971, in: Emuna 9, 1977, S. 311, stellt er fest: „Auch der deutsche Forscher Georg Kretschmar weist auf die Möglichkeit literarischer und mündlicher Überlieferung bei Darstellung nachbiblischer Legenden in christlichen Bildern hin.” Das kann sich nur auf G. KRETSCHMAR, Ein Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Kunst in der Antike, in: Abraham unser Vater. FS O. Michel zum 60. Geb., Leiden - Köln 1963, S. 295-319 (dass., bei J. GUTMANN, a. a. O., S. 156184), beziehen. Kretschmar stellt jedoch zunächst (S. 301) nur fest : „Gerade hier (`im syrisch mesopotamischen und palästinensischen Raum') ist aber auch der Kontakt zwischen jüdischer und christlicher Exegese besonders eng gewesen, und deshalb besteht hier auch oft die Möglichkeit, dass haggadische Motive zuerst mündlich oder literarisch bei den Christen weiterlebten und auf diese Weise dann auch die christliche Bibelillustration beeinflussen konnten.” Übrigens sind „Volkserzählungen” (so Strauss) und der „Kontakt zwischen jüdischer und christlicher Exegese” (so Kretschmar) nun doch wohl zwei unterschiedliche traditionsgeschichtliche Grössen. aber darauf soll hier nicht insistiert werden. Wichtiger ist die Unterschlagung des zusammenfassenden Urteils von Kretschmar (S. 312): „Die frühchristliche Kunst hat also offenbar alttestamentliche Bildtypen, die im Judentum bereits entwickelt worden waren, nicht nur über die Werke der Kleinkunst, Gemmen, Münzen u. ä., sondern auch aus der synagogalen Wandmalerei oder von Wandmosaiken - die es vermutlich auch gegeben hat - übernommen. Als Zwischenträger sind wohl Musterbücher anzunehmen, sei es dass ein jüdisches Musterbuch für eine christliche Kirche verwandt wurde, sei es dass ein christlicher Mosaizist Szenen aus einer Synagoge in sein Musterbuch aufnahm.” - Ähnlich muss die Berufung von Strauss auf CARLOTTO NORDSTRÖM, The Water Miracles of Moses an Jewish Legend in Byzantine Art, in : Horae Soederblomianae 6, 1964, S. 54-81 (dass. bei J. GUTMANN, a. a. O., S. 277-308, vgl. auf S. LX f. die weiteren Arbeiten Nordströms), gewertet werden, da dieser ganz klar (und von Strauss abweichend) urteilt: „The fast is that rabbinic material became to some extent known to the Fathers of the Church and ist reproduced in their writings, through which it came to influence Christian iconography.” Vgl. C.O. NORDSTRÖM, Rabbinic Feature, in Byzantine and Catalan Art, in: Cahiers archéologiques 15, 1965, S. 180. — Erstaunlich bleibt auch die Inanspruchnahme, die J. Gutmann durch Strauss erfährt: „Der Herausgeber J. Gutmann betont in seinem Vorwort (zu No Graven Images) unter Bezugnahme auf meinen Artikel die Möglichkeit literarischer, nicht bildlicher Quellen für die nachbiblischen Darstellungen in der frühchristlichen Kunst ... So schliesst er denn diesen Teil seines Vorworts mit der Feststellung, dass das Problem noch weitgehende Untersuchung erfordert.” (S. 311 f.) Der Text bei J. GUTMANN, a. a. O., S. XLIII f., gibt verhältnismässig wenig Anlass zu solcher Darstellung!

84 85

266 1. Die spätantik-jüdische Kunst hat auf der Grundlage der rabbinischen Auslegung des Alten Testaments und unter Verwendung auch volkstümlichen Erzählgutes, dessen Platz auch in der jüdischen Literatur jener Zeit nicht zu bestreiten sein wird, ikonographische Schemata geschaffen, die mehr oder weniger direkt auf den frühchristlichen Bildkanon einwirkten und diesen auch dann noch in Details massgeblich beinflussten, als die christlichen Künstler von dieser Herkunft nichts mehr wussten.

2. Es gab in der Spätantike eine jüdische Kunst und neben ihr, allerdings von ihr vollständig unabhängig, eine christliche Kunst. Nicht zu leugnende Gemeinsamkeiten im ikonographischen Detail beider Kunstkreise lassen sich dann nur so erklären, dass die beiden Kunstkreisen gemeinsame Basis der ‘antiken Kunst' als wirkungskräftig und tragend genug angesehen werden muss, um solche Gemeinsamkeiten glaubhaft zu machen86. 3. Die sich nach und nach entwickelnde frühchristliche Kunst schuf in Kenntnis auch jüdischen Erzählgutes und jüdischer Tradition der Bibelexegese ikonographische Schemata, die in die gleichzeitig oder doch nur mit geringer Phasenverschiebung sich entwickelnde jüdische Kunst übernommen wurden.

86

Diese sehr schwierige Auffassung hat F. W. DEICHMANN, Zur Frage der Gesamtschau der frühchristlichen und frühbyzantinischen Kunst, in: ByZ 63, 1970, S. 43-68, vorgetragen. Deichmann setzt sich weithin zu Recht kritisch mit A. GRABAR, Die Kunst des frühen Christentums von den ersten Zeugnissen christlicher Kunst bis zur Zeit Theodosius' I. (= Universum der Kunst 9), München 1967, auseinander und formuliert dabei die provozierende These (S. 46): „Die christliche Ikonographie kam, soweit sie neutestamentliche Themen betrifft, durch Umbildung zum Teil uralter antiker ikonogragraphischer Schemata und Typen zustande, während die alttestamentliche Ikonographie in ähnlicher Weise bereits vorher für die 'jüdische Kunst' entwickelt worden zu sein scheint. Nochmals: sowohl bei Juden wie Christen handelte es sich also in der `Frühzeit' nicht um eine jüdische oder christliche Kunst, sondern um antike Kunst mit jüdischen oder christlichen Sujets, mit jüdischer oder christlicher Ikonographie.“ Das Wissen um die „Interdependenz innerhalb der allgemeinen antiken Tradition” verbietet nach Deichmann die Konstruktion von „Abhängigkeiten”. Mit Recht verweist Deichmann nachdrücklich auf die Rolle der Werkstätten, in denen für „Heiden, Christen und Juden” gleichzeitig gearbeitet wurde. Allerdings scheint mir das Bild jener spätantiken Handwerksbetriebe stark überzeichnet zu sein, wenn er dekretiert (S. 47): „Um Manifestationen des Heilsgeschehens darzustellen, zu denen sowohl Taufe wie Jonaswunder gehören, bedurfte es nicht einer besonderen theologischen Unterweisung oder Inspiration ... Die Religienszugehörigkeit hatte für die Tätigkeit der Künstler nichts zu besagen.” Das spricht gegen alle Erfahrungen einer jahrzehntelangen Wissenschaftsgeschichte und muss wohl erst in einer umfassenden Darstellung näher dargelegt werden, bevor das hier zunächst doch nur Behauptete und Angedeutete kritisch gewürdigt werden kann. Man wird auf die von Deichmann in der Wissenchaftl. Buchgesellschaft angekündigte „Einführung in die Christliche Archäologie” gespannt sein dürfen.

267 Die Auffassungen von Strauss bilden eine eigentümliche Mischung der oben als zweite und dritte Möglichkeit der Problemlösung dargestellten Hypothesen. Die christliche und die jüdische Kunst sind nach Strauss unabhängig voneinander entstanden, und beider Gemeinsamkeiten müssen als „Wandergut” aus dem Judentum ins Christentum und zurück in das Judentum betrachtet werden. Christliche Künstler konnten keine „optischen Anregungen” realisieren, da es sie nicht gab, d. h. sie mussten auf „orale” Traditionen bauen87. Bezeichnend aber ist, dass Strauss dabei stets nur von „Volkserzählungen und Märchen” spricht, von Gattungsformen also, mit denen die Vorstellung theologischer oder ideologischer Geprägtheit nicht ohne weiteres verbunden wird. In ihnen wurden nach Strauss Vorstellungsinhalte aus dem Bereich des Judentums exportiert, im Christentum in ikonographische Schemata umgesetzt und ihrerseits wieder im Judentum rezipiert, was schliesslich bedeutet: „Tatsächlich hat aber die jüdische Bildkunst ausser von der heidnischen auch von der christlichen Anregungen empfangen, so dass das Vorliegen einer bedeutungsvollen Mittlerrolle zwischen antiker und christlicher Kunst für die jüdische zu verneinen ist.”88

Der praktische Vollzug dieser „Wanderung” findet in den spätantiken Werkstätten statt, die ja zumindest in technischer Hinsicht 'neutral' arbeiteten. Erst in jüngster Zeit hat Strauss auch auf die Existenz von „Judenchristen” und „Zwischensekten” in spätantiker Zeit hingewiesen, wodurch „immer die Möglichkeit besteht, dass solche etwaigen Vorbilder von Judenchristen oder Angehörigen der Zwischensekte geschaffen wurden, also kein schlüssiger Beweis sind für jüdische, d. h. von richtigen Juden geschaffene Vorbilder”89. Nun, das ist alles recht undeutlich und kaum beweisbar. Weder lassen sich eindeutige Belege für Wanderungen ikonographischer Schemata auf solch verschlungenen Pfaden, wie Strauss sie vermuten möchte, vorlegen, noch wissen wir irgendetwas Verlässliches in bezug darauf, ob und in welcher Weise „Judenchristen” und „Zwischensekten” überhaupt an der Ausbildung einer bildenden Kunst beteiligt waren90. Rigoristische Grundhaltungen haben möglicherweise einen 87

Strauss selbst hat recht bald bemerkt, dass der Begriff der „literarischen Anregung” nicht ausreichend ist. 88 H. STRAUSS, Kunst der Juden. S. 40 f. 89 H. STRAUSS, Irrwege, S. 25. 90 In ausgesprochener Anlehnung an die „grundlegenden Untersuchungen” von Strauss hat R. STICHEL, Ausserkanonische Elemente in byzantinischen Illustrationen des Alten Testaments, in: RQS

268 solchen Vorgang gänzlich unmöglich gemacht. Aber auch darüber wissen wir zu wenig Beweiskräftiges.

Am Beispiel eines literarischen Textes hat Strauss die Existenz von „Volkserzählungen und Märchen”, die „gemeinsames Geistesgut von Juden und Christen” waren, aufzuzeigen versucht. Es handelt sich um eine Wendung in Tertullians Schrift „Von der Taufe”, wo es heisst: „Sed nos pisciculi secundum IXșYN nostrum Jesum Christum in aqua nascimur, nec aliter quam in aqua permanendo salvi sumus!”91 Strauss erläutert dazu: „Im Zusammenhang mit dieser Stelle bei Tertullian haben schon mehrere Forscher auf die ähnliche Erzählung Rabbi Aqibas im Talmud hingewiesen: (u. a. Goodenough in „Jewish Symbols in the Greco-Roman Period”, Band 5, S. 33/34) Die Rabbanan lehrten: Einst hatte die ruchlose Regierung einen Befehl erlassen, dass die Jisraeliten sich nicht mit der Tora befassen sollen. Da kam Papos b. Jehuda und traf R. Aqiba, wie er öffentlich Versammlungen abhielt und sich mit der Tora be69, 1964, S. 159-181, behauptet: „Es ist nicht möglich, die byzantinischen Bilddarstellungen, die ausserkanonische Bildelemente enthalten, als Argumente für eine nicht erhaltene, der christlichen Kunst vorangegangene jüdische Kunst anzuführen. Sie sind vielmehr Zeugnisse des Weiterlebens jüdischer exegetischer Methoden und deren Ergebnisse, die dem Mittelalter durch das Judenchristentum vermittelt wurden” (S. 181). Stichel, dessen besonderer Verdienst der Hinweis auf das Traditions-gut im slawischen Raum („Historische Palaia”, Tolkovaja Paleja) ist, übersieht in seiner Beweisführung, dass wir im sicheren Besitz jüdischer Kunstdenkmäler sind, die mit Hilfe der jüdischen Exegese bis ins Detail hinein zu interpretieren sind. Der Weg bzw. die Verbindung zwischen der Ikonographie dieser eindeutig jüdischen und vergleichbaren christlichen Bildkompositionen ist durch „optische Anregung” sehr viel besser zu erklären als durch die komplizierte Hypothese einer nicht existierenden jüdischen Kunst und einer auf unsicheren Pfaden vermittelten jüdischen exegetischen Tradition, die dann im christlichen Bereich aus ungeklärten Gründen die Umsetzung in das Medium des Bildes erfährt. Gerade auch Stichel weist immer wieder auf das geringe Wissen hin, das wir über das Schicksal der apokryphen Literatur und deren Rezeptionsgeschichte haben! Um den archäologischen Nachweis sogenannter „Synagogenkirchen” hat sich besonders A. S. Hiram bemüht; vgl. A. S. HIRAM, Die Entwicklung der antiken Synagogen und altchristlichen Kirchenbauten im Heiligen Lande, in: Wiener Jb. f. Kunstgeschichte 19, 1962, S. 7-63; ders., Synagogenkirchen der Ecclesia ex circumcisione im Heiligen Lande, in: SAC 27 = Akten d. VII. Internationalen Kongresses für Christliche Archäologie Trier, 511 September 1965. Textband, S. 451-558. Zu der hier ganz in den Vordergrund tretenden Problematik basilikaler Bauformen wird jetzt zunächst das von FR. HÜTTENMEISTER - G. REED, Die antiken Synagogen in Israel. Teil 1: Die jüdischen Synagogen, Lehrhäuser und Gerichtshöfe. Teil 2: Die samaritanischen Synagogen (= Beihefte z. Tübinger Atlas des Vorderen Orients, Reihe B Nr. 12/1 und 2), Wiesbaden 1977, gesammelte Material gesichtet werden müssen. Zum Problem „Basilika” vgl. den Forschungsbericht von N. Duval“ Les origines de la basilique chrétienne. Etat de la question, in: L'information d'histoire de l’art 7, 1962, S. 1-19 und E. LANGLOTZ, Der architekturgeschichtliche Ursprung der christlichen Basilika (= Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geistewissenschaftl. Vorträge G 172), Opladen o. J. 91 TERTULLIAN, De bapt. I 1. 3 = MPL 1, 1306; Strauss übersetzt: „Wir Fischlein werden gemäss unserem 'Ichthys' ('Fisch' das berühmte Akrostichon für Christus) Jesus Christus im Wasser geboren und fühlen uns nur wohl, wenn wir im Wasse bleiben.” Vgl. H. STRAUSS, Miszelle, ZNW 64, 1973, S. 323.

269 fasste. Da sprach er zu ihm: Aqiba, fürchtest du dich denn nicht vor der ruchlosen Regierung? Dieser erwiderte: Ich will dir ein Gleichnis vortragen, womit dies zu vergleichen ist. Ein Fuchs ging einst am Ufer eines Flusses, und als er Fische sich von Ort zu Ort versammeln sah, sprach er zu ihnen: Wovor flüchtet ihr euch? Sie erwiderten: Vor den Netzen, die die Menschenkinder nach uns auswerfen. Da sprach er zu ihnen: So möge es euch belieben aufs Land zu kommen, und wir, ich und ihr, wollen beisammen wohnen, wie einst meine Vorfahren mit euren Vorfahren beisammen gewohnt haben. Darauf erwiderten ihm jene: Bist du es, von dem man sagt, er sei der klügste unter den Tieren? Du bist nicht klug, sondern dumm; wenn wir uns schon in der Stätte unseres Lebens fürchteten, um wieviel mehr in der Stätte unseres Todes! So auch wir; wenn es schon jetzt so ist, wo wir sitzen und uns mit der Tora befassen, von der es heisst: 'denn sie ist dein Leben und die Verlängerung deiner Tage' (Deut. 30, 20), um wieviel mehr erst, wenn wir gehen und uns ihr entziehen!”92

Die Schlussfolgerung von Strauss: „Uns interessiert hier die Variation einer Juden und Christen gemeinsamen Volkserzählung: Für Rabbi Aqiba ist sie ein Gleichnis (maschal); er fühlt sich - wie der Fisch im Wasser - beim Lehren der Tora in seinem natürlichen Element; auch für Tertullian sind die im Wasser bleibenden Fische 'salvi', das heisst 'gesund wie ein Fisch im Wasser', aber hier 'gemäss dem Ichthys Jesus Christus'. Dass hier von Tertullian auf das bekannte griechische Akrostichon für Christus Bezug genommen wird, ergibt sich aus der Benutzung des griechischen Wortes 'Ichthys' für Fisch in einem lateinischen Text ... Da aber das Wort 'Ichthys' Fisch bedeutet, so ergibt sich leicht die christliche Variation der ursprünglichen Volserzählung, die uns von Rabbi Aqiba in vollem Wortlaut überliefert ist. Und der Zusammenhang von Wasser und Taufe ist naheliegend.”93

Der von Strauss herangezogene Tertullian-Text hat eine lange Deutungsgeschichte, die hier nicht näher beschrieben werden kann, aber bei jeder Interpretation mitbe-

92 93

H. STRAUSS, Miszelle, S. 323 f. H. STRAUSS, Miszelle, S. 324.

270 dacht werden sollte94. Eine genaue Überprüfung gerade dieses Textes führt zu einem erstaunlichen Ergebnis. Soweit mir bekannt ist, bietet nur R. Aqiba (um 100 n. Chr.) die ausführliche Fassung einer regulären „Erzählung”, in der der Fuchs als Verführer auftritt und versucht, die Fische, die hier für die toratreuen Juden stehen, aus ihrem Lebenselement Wasser, nämlich der Tora, herauszulocken (b. Ber. 61b). Geläufig dagegen ist das Bild des Fisches für den frommen Tora-Juden, der nur im „Wasser” der Tora zu existieren vermag. Bereits die Schüler R. Gamaliels d. Ä. (um 40 n. Chr.) wurden je nach sozialer Herkunft und Gesetzeskenntnis in vier verschiedene Arten von „Fischen” unterteilt95, und R. Schemuel (Anfang des 3. Jh. s) kommentiert die Wendung Hab. 1, 14: „Und lässest die Menschen gehen wie die Fische im Meer” folgendermassen: „Deshalb werden hier die Menschenkinder mit den Fischen verglichen, um anzudeuten: Wie die Fische im Meere, sobald sie aufs Trockene heraufkommen, sogleich sterben, so sterben auch die Menschen, sobald sie sich von der heiligen Lehre und den heiligen Vorschriften trennen.”96

Diese rabbinischen Äusserungen sind immerhin erstaunlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Fisch nach jüdischer Auffassung keineswegs zu den unbedenklichen Tieren zählte. Eigentlich gab nur die Unterscheidung in „reine“ und „unreine“ Fische im Speisegebot von Lev. 11, 10 die Möglichkeit, eine positive Wertung des Fisches zu wagen. Nach Lev. 10 sind nur solche Wassertiere geniessbar, die Schuppen und Flossen besitzen. Diese Bestimmung wird nun durch Philo in sehr bezeichnender Weise allegorisiert: „Auch diese (Wassertiere) sind Symbole: die zuerst erwähnten sind Symbole einer genussüchtigen Seele, die anderen Symbole einer Seele, die Selbstbeherrschung und Selbstzucht liebt. Denn der Weg zum Genusse ist abschüssig und sehr bequem und bewirkt eher ein Gleiten als ein Schreiten; steil dagegen ist der Weg zur Selbstbeherrschung und wohl mühselig, aber höchst lohnend; und während der erstere uns hinabträgt und abwärts zu gehen nötigt und uns 94

Erstaunlicherweise hat E. DASSMANN, Sündenvergebung durch Taufe, Busse und Martyrerfürbitte in den Zeugnissen frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst (= Münsterische Beiträge zur Theologie 36), Münster 1973, diesen Tertullian-Text gänzlich unberücksichtigt gelassen. 95 Abot de R. Nathan 40! 96 b. Aboda Zara 3b. Weiteres Material, das I. SCHEFTELOWITZ, Das Fisch-Symbol im Judentum und Christentum, in: ARW 14, 1911, S. 1-53 und 321-392, zusammengetragen hat, ist in seiner Deutung und Darstellung zu umstritten, als dass es hier herangezogen werden könnte. Vgl. aber auch E. R. GOODENOUGH, Jewish Symbols in the Greco-Roman Period, Bd. 5. New York 1956, S. 32-35.

271 kopfüber hinabreisst, bis er uns am äussersten Ende mit Getöse ausgeworfen, führt der andere diejenigen, die nicht zuvor ermüdet sind, gen Himmel und verleiht ihnen Unsterblichkeit.”97

Der Weg von Philos differenzierender Allegorese ist nicht weit bis zu Tertullians Bildsprache. Er muss um so direkter wirken, wenn die höchst negative Wertung der Antike hinzugenommen wird, wie sie etwa schon bei Plato zu finden ist: „Als vierte Art entstand die im Wasser aus den unvernünftigsten und dümmsten (der Landtiere), die die (Welten-)Bildner nicht einmal der reinen Atmung würdig erachteten, da sie ihre Seele infolge der äussersten Bosheit verunreinigt hatten; (deshalb) stiessen sie dieselben aus der leichten und reinen Atmung der Luft in die trübe und tiefe Atmung des Wassers hinab. So entstand die Menge der Fische und die Menge der Schaltiere im Wasser, die als Strafe ihrer äussersten Dummheit auch die letzten Wohnsitze erhielten.”98 Noch beeindruckender ist die Äusserung Plutarchs über die Wassertiere: Diese „sind insgesamt stumm und blind für die Vorsehung (und deshalb zur Zukunftsschau nicht geeignet); sie sind in den gottverlassenen Raum der Titanen wie in die Hölle der Gottlosen verstossen, wo der vernünftige geistige Teil der Seele ausgelöscht ist, wo sie bei dem winzigen Teil von Empfindungsfähigkeit, der ihrer Natur beigemischt oder vielmehr wie ein leichter Firnis darübergegossen ist, mehr mit dem Tode zu ringen als zu leben scheinen”99.

Wenn Tertullian also den Frommen und Rechtgläubigen mit einem Fisch vergleicht, dann übernimmt er dieses Bild aus dem Judentum, wo es wohl vertraut und in seiner Deutung bereits fixiert war. Tertullian verwendet es in einer Weise, die weder in der paganen Antike, wie soeben gezeigt wurde, noch in der Alten Kirche, wie noch dargestellt werden wird, geläufig war.

Eine genaue Erfassung des Sinnzusammenhangs im 1. Kap. von „De baptismo” zeigt nämlich, dass Tertullian, wenn er hier von „Fischen”, „Wasser” und „Heil” redet, eben, 97

PHILO v. ALEXANDRIA, Die Werke in deutscher Übersetzung hrsg. von L. Cohn, I. Heinemann, M. Adler und W. Theiler, Berlin 1962, Bd. 2, S. 279, 112. PLATO, Timaios 92 a. b. 99 PLUTARCH, De sollertia animalium 22. 98

272 so erstaunlich es klingen mag, nicht von der Taufe spricht. Es geht um die Häretikerin Quintilla100, die durch eine falsche Lehre die rechtgläubigen Christen verführt, indem sie gerade die Taufe zerstört („doctrina sua plerosque rapuit, imprimis baptismum destruens”). Die Erwähnung der Häretikerin, jener „de caina haeresi vipera venenatissima”, veranlasst Tertullian im folgenden zur Schilderung häretischen Tuns schlechthin. Dass unmittelbar zuvor von der durch die Häresie zerstörten Taufe die Rede ist, hat das Missverständnis produziert, Tertullian spräche nun auch weiterhin von der Taufe101. Das tut er nicht, vielmehr kennzeichnet er die Häretikerin als „Natter, Viper und Basilisk”, zählt sie also zu den Tieren, die „reguli serpentes arida et inaquosa sectantur”. Die Christen dagegen werden „secundum IXĬYN nostrum Iesum Christum” im Wasser geboren und können sich nur wohl fühlen, wenn sie im Wasser verbleiben102. Werden die Christen durch die häretische Lehre verführt, so werden sie, die pisciculi, aus ihrem eigentlichen Lebensraum, dem Wasser, herausgenommen und damit getötet.

Die ausserordentliche Nähe dieser Ausdrucksweise zur Taufterminologie ist nicht zu übersehen und mag wirklich verwirren, trotzdem muss daran festgehalten werden, dass diese Äusserung Tertullians nicht in die Reihe der Belege zum altkirchlichen Taufverständnis einbezogen werden kann103. Sie ist sogar, wie eine Überprüfung der 100

Wahrscheinlich wurde der Name Quintilla erst später eingefügt. So z. B. F. J. DÖLGER, IXĬYC. Die Fischdenkmäler in der frühchristlichen Plastik, Malerei und Kleinkunst, Bd. 5, Münster 1943, S. 311 f.: „Bereits Tertullian, der für uns älteste Schriftsteller, der das christliche Fischsymbol mit der Taufe in Zusammenhang bringt, greift das Bild von dem Wasser als Lebenselement des Fisches auf, um daraus die Taufgnade als Kennzeichnung des Christenstandes und als Seligkeitsgarantie dem Verständnis näher zu bringen. Tertullianus will die Wassertaufe gegen häretische Angriffe verteidigen und betont, dass der Christ bei seiner Taufe und in seiner Taufunschuld verharre ... In aqua permanendo ist hier nicht etwa nur die Beibehaltung der Taufe, sondern die Verharrung in der Taufgnade.” Ähnlich argumentiert auch J. ENGEMANN, Art.: Fisch, in: RAC 7, Sp. 1015 f., der von „Tertullians Vergleich der Getauften mit den pisciculi” spricht, die zudem „vom Ichthys Christus abhängig” sind. Interessant ist der Hinweis bei Engemann, Sp. 1039: „Ein dem Bilde des F. im Wasser für die Israeliten in der Torah entsprechender Vergleich findet sich bei Ephräm: wie die F. innerhalb der Grenzen des Flusses bleiben, dürfen die Menschen in ihrem Forschen die Grenzen der Schrift nicht überschreiten (hymn. de fide 46, 1 = CSCO Ser. Syr. 74, 123; 48, 10: ebd. 131; 64, 12: ebd. 175).” 102 Dieses hat ganz zutreffend auch F. J. DÖLGER, IXĬYC. Bd. 5. S. 312 bemerkt: „Alle diese Ausführungen vom Christen als dem Fisch im Lebenswasser der Taufe können nicht überleiten zum Bilde des Fischfangs in dem Sinne, dass der Christ als symbolischer Fisch aus dem Wasser gezogen wird.” 103 So in jüngster Zeit noch in der materialreichen Studie von L. WEHRHAHN-STAUCH, Christliche Fischsymbolik von den Anfängen bis zum hohen Mittelalter, in: ZfK 35, 1972, S. 1-68. Das bekannte Taufbecken des Baptisterium von Kelibia in Nordtunesien, das sich heute im Musée National du Bardo befindet, kann nicht mit der so schwierigen Tertullianstelle in Verbindung gebracht werden. P.-A. FE101

273 in der Alten Kirche zu belegenden Fischsymbolik zu erhellen vermag, völlig singulär. Die übliche Deutung des Bildes von den Christen als Fischen im Zusammenhang mit der Taufe ist nämlich unlösbar mit der Vorstellung des Fischfanges verknüpft, durch den der Christ aus dem (stürmischen) Meer dieser Welt in das Heil hinübergerettet wird. Diese Vorstellung ist so allgemein, dass sie hier nicht im einzelnen belegt werden muss104.

Tertullian aber besteht nun darauf, dass seine Fische nicht „fischbar” sind, da sie durch die Verbringung auf das Trockene das Leben verlieren („pisciculos necare de aqua auferens”). Die altkirchliche Literatur dagegen sieht zwar den Widerspruch, der darin liegt, dass der Christ (Fisch) durch die Taufe (Fang und Tod des Fisches) sein Leben verliert, das Bild des Fischfangs für die Taufe also unstimmig ist, löst die hier vorliegende Schwierigkeit aber mit Hilfe der „dissimilis similitudo” auf verschiedene Weise.

Patristische Texte, die wenigstens teilweise Tertullians Bildverständnis in „De baptismo” durchschimmern lassen, begegnen nur ganz vereinzelt, und in der Regel lässt sich ein direkter biographischer oder theologischer Zusammenhang mit Tertullian nicht ausmachen. So wäre z. B. Ambrosius, Hexameron V 7. 17105 zu erwähnen, wo es heisst: „Das Evangelium ist das Meer, in dem die Apostel fischen, in das das Netz, das wie das Himmelreich ist, geworfen wird ... Springe über die Wellen, oh Mensch, weil du ein Fisch bist; lass dich nicht von den Fluten dieser Welt erdrücken; wenn Sturm herrscht, eile in die Höhe und in die Tiefe; wenn es heiter wird, spiele in den Fluten; wenn es stürmt, hüte dich vor dem felsigen Ufer, damit dich die wütende Brandung nicht an einer Klippe zerschmettert.”106 Ein ähnliches Bild verwendet dann auch Augustin, Enarrationes in Psalmos: „Jetzt, nachdem wir durch die Netze des Glaubens im Meer gefangen sind, freuen wir uns, hier innerhalb dieser Netze bis zur VRIER - C. POINSSOT, Les cierges et l'abeille. Note sui l'iconographie du baptistère découvert dans la région de Kilibia (Tunisie), in: Cahiers archéol. 10, 1959, S. 149-156, haben allenfalls Bausteine zur Interpretation der schwer identifizierbaren Ikonographie dieses Taufbeckens bereitlegen können. Vgl. dazu auch J. ENGEMANN, Art.: Fisch, in: RAC 7, Sp. 1058. 104 L. WERHAHN-STAUCH, a. a. O., S. 54-68, hat ein sehr brauchbares Florilegium jener patristischen Texte vorgelegt, in denen Fische eine Rolle spielen. Vgl. auch S. 10 ff. 105 MPL 14, 226 f. 106 Vgl. auch AMBROSIUS, De sacramentis 111 1. 3 = MPL 16 450 f. 1,7 MPL 36, 780 f.

274 Stunde zu schwimmen; denn dieses Meer tobt bis jetzt von Stürmen, aber die Netze, die uns fingen, werden ans Ufer gebracht. Das Ufer ist das Ende des Meeres; so gelangen wir an das Ende der Zeitlichkeit.”107

Wohin die Entwicklung führt, mag zuletzt ein Zitat aus Isaak von Antiochien, Cantica nova 1 veranschaulichen: „Das Netz oder das Schiff ist die fischende Kirche. Schluckt den Angelhaken hinunter, auf dass ihr, in die Höhe gezogen, statt Menschen Engel werdet! Die Kirche ist das Netz, das die Apostel zum Fischfang ins Meer geworfen haben, es ist ausgeworfen, damit es mit allen Arten von Fischen gute und schlechte einsammle und an das Ufer des Meeres zöge; dass die ausgesonderten schlechten weggeworfen werden. In die Kirche treten Böse zugleich mit Guten ein; aber am Tag der zweiten Ankunft werden sie voneinander gesondert.”108

Alle angeführten Texte führen schon merkbar über das bei Tertullian gebotene Bild hinaus. Das Meer ist in ihnen zwar auch noch der Aufenthaltsort des Christen, aber dieser Aufenthaltsort ist stürmisch und kann lebendig nur dann überstanden werden, wenn der Christ sich in dem Netz birgt, das die Apostel ausgeworfen haben (Ambrosius) und die Kirche ist (Isaak von Antiochien). Damit wird hier schon ganz deutlich auf die Taufe abgehoben.

Gemeinsam mit Tertullian ist ihnen jedoch noch das Anliegen, das Verbleiben des Christen im Heil zu veranschaulichen. In dem Augenblick aber, wo die altkirchliche Literatur das Bild vom Meer, den Fischen und dem Netz ausweitet zur Szenerie des Fischfangs, ist das Taufgeschehen gänzlich in den Blick gerückt und wird zur alles bestimmenden Grundlage der Sinndeutung. Gerade aber diese Grundlage der Sinndeutung war Tertullian offensichtlich noch unbekannt109. Wenn er die Taufhandlung

107

MPL 36,780f. Ed. G. BICKEL, Bd. 2, Giessen 1877, S. 3 f. In De resurrectione carnis 52 = MPL 2, 872, erläutert Tertullian 1. Kor. 15, 39 „Nicht ist alles Fleisch einerlei Fleisch, sondern ein anderes Fleisch ist das der Menschen, ein anderes das des Viehs, ein anderes das der Vögel, ein anderes das der Fische” und erklärt „ ... anders ist das Fleisch der Vögel, d. h. der Märtyrer, die zur Höhe streben; anders auch das der Fische, d. h. derer, denen das Wasser der Taufe genügt”. Auch hier ist Tertullians Vorstellung wieder durchaus statisch: zwar lässt ihn die Erwähnung der „Fische” im neutestamentlichen Text an die Taufe denken, genauer gesagt an das Getauftsein der Christen, nicht aber an den Vorgang des Fischens als Bild für die Taufhandlung.

108 109

275 durch ein Bild verdeutlichen will, spricht er vom „Bad” der Taufe und nennt die unterschiedlichsten „Badestellen” (Bäche, Schwimmbäder, Kanäle, Zisternen und Brunnen; De bapt. I 5. 4). Das ist der kulturelle Umkreis des Nordafrikaners, in dem er denkt und aus dem er seine Bilder schöpft. Das Bild von den „Fischen” dagegen ist ihm zugetragen worden, er übernimmt es aus einer, wie zu zeigen versucht wurde, nichtchristlichen Tradition, über deren Provenienz kaum zu streiten sein wird. Tertullian hat es in seinen Auseinandersetzungen mit dem Judentum kennengelernt. Dort muss ihm der Vergleich eines Frommen und Orthodoxen mit einem Fisch eindrücklich geworden sein, und er nimmt ihn in einer bezeichnenden Situation wieder auf: als es um die Orthodoxie geht!

Mit Tertullians Bildrede von den Fischen, die nur im Wasser leben können, sind wir auf ein Stück traditionsgeschichtliches „Urgestein” gestossen, das vom Autor durch die ungeschickte und schwer verständliche Parenthese „secundum IXĬYN nostrum Iesum Christum” für christliche Leser aufbereitet wurde. Es blieb, da es keinen Anhalt in der neutestamentlichen Bilderwelt hatte, ohne Auswirkungen auf die so breit gefächerte christliche Fischsymbolik.

Nach diesem Exkurs zu Tertullians Vergleich der Christen mit den Fischen, in dem Strauss mit Recht einen Beleg für „gemeinsames Geistesgut von Juden und Christen” gesehen hat - wenn auch, wie gezeigt werden konnte, dieses Beispiel insofern unglücklich gewählt war, als es nur ganz punktuell in der christlichen Literatur begegnet und keine Wirkungsgeschichte entfaltet -, soll eine zusammenfassende Wertung der facettenreichen Argumentation von Strauss versucht werden: 1. Die These von der jüdischen Kunst als dem Problem einer Minorität hat zumindest für die spätantike Phase jüdischer Geschichte keine Berechtigung. Das Judentum versteht sich als eine „elitäre [Kult-]Gemeinschaft”, die in beachtenswertem geistigem und religiösem Selbstgefühl die Begegnung mit der kulturellen Umwelt wagt und in einer ganz selbständigen Weise zu verarbeiten weiss. Literarische und monumentale Quellen bestätigen dieses Urteil gleichermassen.

276 2. Jüdische Kunst der Spätantike ist zutiefst religiöse Kunst. Pagane Bildmotive werden für sie erst dann verwendbar, wenn sie einer jüdischen Deutung erschlossen wurden. In keinem Fall ist „Gleichgültigkeit” auf jüdischer Seite gegenüber dem Phänomen der Kunst und des künstlerischen Schaffens zu beobachten.

3. Die Subsumierung der spätantik-jüdischen Kunst unter den Begriff der „Transzendenz” führt zu Fehlurteilen über die wesensbestimmenden Vorstellungen, die jüdische Kunst prägen: Rückblick auf das erwählende Handeln Gottes in der Geschichte und Vorausschau auf Gottes Handeln in der Endzeit.

4. Die zwar noch verhältnismässig kleine Gruppe spätantik-jüdischer Kunstwerke spricht mit Nachdruck für eine direkte „optische” Anregung der frühchristlichen durch die jüdische Kunst. Dass daneben auch „literarische” (besser wohl: orale) Anregungen eine Rolle gespielt haben, darf als wahrscheinlich angenommen werden, wenn hier auch die Möglichkeiten und Wege des Kontaktes beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens nur vermutet werden können. Die Arbeitsweise der spätantiken Kunstwerkstätten, die „neutral” die Wünsche ihrer Auftraggeber zu befriedigen suchten, aus welcher religiösen Gruppierung diese auch stammen mochten, zeigt den „Sitz im Leben” optischer Anregungen sehr deutlich. Sehr viel schwieriger dagegen dünkt die Vorstellung christlicher Künstler, die in der Begegnung mit volkstümlichen Erzählstoffen jüdischer Provenienz oder auch angesichts der Aufgabe, literarische Texte mit jüdischem Sondergut zu illustrieren, ikonographische Lösungen gefunden haben sollen, deren geistige Grundlagen immer schneller in Vergessenheit gerieten. Die wiederholte Kopie einer bewährten Bildvorlage, auch wenn gewisse Details nicht mehr ganz verständlich waren, dürfte dagegen häufig praktiziert worden sein. Das Verdienst, das Strauss sich mit seinen provozierenden Thesen unbestreitbar erworben hat, ist, dass er grundsätzliche Anschauungen, die schon fast zur opinio communis geworden sind, in einer Weise hinterfragt, die zur Überprüfung und präziseren Formulierung des eigenen Standpunkts zwingt110. Die hier vorgelegten kriti-

110

Ganz bewusst habe ich es im Zusammenhang dieses Aufsatzes unterlassen, die Argumente gegen die Auffassung von Strauss zu zitieren, die der von diesem jüngst so ungewöhnlich hart attackierte K. Schubert in einer Rezension der Kunst der Juden im Wandel der Zeit und Umwelt, in: Kairos 16, 1974,

277 schen Anmerkungen verstehen sich als der Versuch einer Antwort auf Fragen, die gestellt zu haben, Heinrich Strauss gedankt werden muss.

S. 88-93, vorgebracht hat. Sie wurden von STRAUSS, Irrwege ikonologischer Forschung, nur ungenügend aufgegriffen.

279 Synagoge und Ekklesia. Erwägungen zur Frühgeschichte des Kirchenbaus (1993) „Und ist denn nicht das ganze Christentum aufs Judentum gebaut?“ Lessing, Nathan der Weise, 1. Aufzug, 7. Auftritt.

1. Das Problem der „Haus-Kirche“

Im Jahr 1964 stellte Willy Rordorf in der „Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft“ wieder einmal die Frage: „Was wissen wir über die christlichen Gottesdiensträume der vorkonstantinischen Zeit?“1 Die Ergebnisse, die hierbei erzielt werden konnten, waren bescheiden genug. Daß sich die Gemeindegottesdienste der Frühzeit in sogenannten Hauskirchen vollzogen, also in Häusern von „Mitgliedern der jeweiligen Lokalgemeinde“, lassen das Neue Testament und die patristische Literatur deutlich erkennen2. Unklar bleibt allerdings, wann, auf welchem Wege und unter welchen Umständen es dazu kam, daß die gelegentliche Nutzung einzelner Räume in Privathäusern den Gemeindebedürfnissen nicht mehr entsprach, so daß nun Privathäuser in ihrer Gesamtheit als „Gemeindezentren“ hergerichtet wurden3.

1 W. Rordorf, Was wissen wir über die christlichen Gottesdiensträume der vorkonstantinischen Zeit?, ZNW 55 (1964) 110-128. (Vgl. auch noch ders., Der Sonntag. Geschichte des Ruhe- und Gottesdiensttages im ältesten Christentum, AThANT 43, Zürich 1962). 2 Vgl. W. Rordorf, Gottesdiensträume (s.o. Anm. 1) 113-116, wo auch die einzelnen Belege aufgeführt werden. Zurückhaltung dürfte allerdings gegenüber der Tradition des Hauses der Mutter des Johannes Markus auf dem Jerusalemer Zionsberg geboten sein, die Rordorf im Gefolge von Th. Zahn, Die Dormitio Sanctae Virginis und das Haus des Johannes Markus, in: NKZ 10 (1899) 377-429, zu unkritisch referiert. Vgl. auch noch E. Dassmann, Hausgemeinde und Bischofsamt, in: Vivarium. FS Th. Klauser zum 90. Geburtstag, JAC.E 11, Münster 1984, 82-97, mit interessanten Hinweisen auf den jüdischen Hintergrund 87f und 90. 3 Vgl. u. a. die Schilderung der Hauskirche im numidischen Cirta nach den Gesta apud Zenofilum 2 consularem, hrsg. von H. von Campenhausen, KIT 122, Berlin 1950, Nr. 28 S. 37ff, und bei Optatus, Appendix (CSEL 26,187). Der Bericht über die Konfiszierung dieses Gebäudes, das eine bibliotheca und ein triclinium besaß, ist auf den 19. Mai 303 datiert. Zur Verwendung des tricliniums als Gottesdienstraum vgl. auch Thomasakten 131 (NTApos 2,334), und die Actus Vercellenses (NTApo5 2,274). Entscheidende Bedeutung wird beim Übergang von der gelegentlichen Nutzung von Privathäusern zur Einrichtung der domus ecclesiae der Herausbildung des Monepiskopats und der Entwicklung der Eucharistie zugemessen werden müssen. Vgl. auch noch die erneute Zusammenstellung der Belege bei H.J. Klauck, Hausgemeinde und Hauskirche im frühen Christentum, SBS 103, Stuttgart 1981. – Zur insula chrétienne von Hippo Regius, die rund 120 Säle umfaßte, vgl. H. Laag, Altchristliche Gemeindezentren, KuKi 27 (1964) 175-179.

280 Gewiß ist es generell zutreffend, von den ersten Jahrhunderten als der „Zeit der Hauskirchen“ zu sprechen4, trotzdem wird man aber wohl vom Ende des 2. Jh.s an damit zu rechnen haben, daß „auch eigentliche Kirchengebäude existierten, die von einzelnen Lokalgemeinden erbaut wurden“5. Einen bisher völlig singulären Einblick in die Verhältnisse des frühen 3. Jh.s gestattet die auf das Jahr 232 datierte „Hauskirche“ von Dura Europos, eine Hausanlage, die offensichtlich gänzlich Gemeindezwecken nutzbar gemacht worden war. Neben einem gottesdienstlichen Saal gab es eine „Sakristei“ und ein „Baptisterium“. Allerdings ist die letztere Zweckbestimmung bereits einigermaßen umstritten, wie auch die Deutung der anderen Räumlichkeiten in der Hauskirche von Dura Europos keineswegs abschließend geklärt werden konnte6. Möglicherweise befanden sich in einem oberen Stockwerk Wohnräume, die von Gemeindefunktionären oder aber dem Besitzer des Hauses genutzt wurden. Vergleichbare Verhältnisse offenbaren die Überreste der römischen Titelkirchen7. Wie schwierig sich die Probleme der literarischen und archäologischen Überlieferung hier im einzelnen darstellen, läßt sich etwa am Titulus Clementis demonstrieren, den bereits der Ausgräber, der große Giovanni Battista de Rossi, als conventiculum der Gläubigen Roms identifizierte, das der memoria des hl. Clemens gedient habe. Die letztere Behauptung dürfte zu weit greifen, näher liegt die Annahme, daß der Name des ursprünglichen Besitzers eine Symbiose mit dem des berühmten römischen Bischofs aus dem 1. Jh. einging8. Zu welchen Verwirrspielen es in solchen Fällen kommen konnte, zeigt auch das Beispiel des römischen Titulus Sabinae, wo der Na-

4 W. Rordorf, Gottesdiensträume (s.o. Anm. 1) 111. 5 W. Rordorf, Gottesdiensträume (s.o. Anm. 1) ebd.; vgl. zu den selbständigen Kirchengebäuden der vorkonstantinischen Epoche, die nur aus den literarischen Quellen rekonstruiert werden können, W. Rordorf a.a.O. 122-127. 6 Vgl. den immer noch hervorragend informierenden Artikel „Dura-Europos“ von 0. Eissfeldt, in: RAC 4, 358-370, sowie C.H. Kraeling, Excavations at Dura-Europos. Final Report 8,2: The Christian Building, New Haven 1967. 7 Vgl. J.P. Kirsch, Die römischen Titelkirchen im Altertum, SGKA 9/1.2, Paderborn 1918, Nachdr. New York 1967; P. Lanzoni, I titoli presbiterali di Roma antica nella storia e nella leggenda, RivAC 2 (1925) 195-257; G. Matthiae, Le chiese di Roma dal sec. IV al X seculo, Roma cristiana 3, Bologna 1962, 5477. Sehr kritisch beurteilt A. M. Schneider, Die ältesten Denkmäler der Römischen Kirche, in: FS zur Feier des zweihundertjährigen Bestehens der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 2. Phil.-hist. Klasse, Berlin u.a. 1951,166-198, hier 195ff, die Traditionen über die römischen Titelkirchen. 8 Vgl. C. Cecchelli, San Clemente, Le chiese di Roma illustrate 24/25, Rom 1930, und E. Junyent, Il titolo di San Clemente in Roma, Studi di antichita cristiana 6, Rom 1932.

281 me der Stifterin eine legendarische Passio und das Heiligenfest der Sabina von Rom am 29. August produzierte9.

So unbestreitbar also auch die Existenz von Hauskirchen in vorkonstantinischer Zeit ist, so wenig wissen wir bisher verläßlich über deren Genese, über ihre architektonische und künstlerische Ausgestaltung sowie über die Funktionen der einzelnen Bauteile. An der Wende vom 2. zum 3. Jh. dürfte sich die Bezeichnung ecclesia bzw. domus ecclesiae an die frühchristlichen Kirchenbauten geheftet haben10. Noch Clemens von Alexandrien bemühte sich jedoch um begriffliche Exaktheit und erklärte: „Ich nenne (hier) nicht den Raum, sondern die Gemeinschaft der Auserwählten die Ecclesia.“11 Aber das waren bereits Rückzugsgefechte, denn schon Origenes sprach ganz selbstverständlich von dem „Bau der Kirche“12. Gleicher Sprachgebrauch findet sich bei Tertullian13 und Laktanz14. Diese Entwicklung läßt Rückschlüsse auf bedeutsame Veränderungen zu, die das Verständnis des frühchristlichen Kirchenbaus noch in vorkonstantinischer Zeit erfuhr.

Sieht man nun allerdings die neueren Darstellungen der Christlichen Archäologie durch, wie sie zum Beispiel von Ekkart Sauser15, Carl Andresen16, Heinz Kähler17, Beat Brenk18, Pasquale Testini19, Friedrich Wilhelm Deichmann20 oder Arne Effenberger21 vorgelegt worden sind, so verdichtet sich der Eindruck, daß das Problem des vorkonstantinischen Kirchenbaus von der Forschung inzwischen als praktisch 9 Vgl. J.J. Berthier, L'église de Sainte-Sabine à Rome, Rom 1910, und F. Darsy, Santa Sabina, Le chiese di Roma illustrate 63/64, Rom 1961. 10 Vgl. A.M. Schneider, Die altchristliche Bischofs- und Gemeindekirche und ihre Benennung, NGWG.PH 1952, Göttingen 1952,154-161. 11 Clemens Alexandrinus, Strom VII 5 (GCS 17,21 PG 9,436; BKV 5,34f). 12 Origenes, Cels 6,77 (GCS 2,147); In Matth 24,9 (PG 13,1654). 13 Tertullian, De idololatria 7 (CSEL 20/1,36). Vgl. dazu L. Voelkl, Die konstantinischen Kirchenbauten nach den literarischen Quellen des Okzidents, RivAC 30 (1954) 99-136. 14 Lactantius, De mortibus persecutorum 12 (CSEL 27/2,186). 15 E. Sauser, Frühchristliche Kunst. Sinnbild und Glaubensaussage, Innsbruck 1966. 16 C. Andresen, Einführung in die Christliche Archäologie, KiG 1/B1, Göttingen 1971. Vieles von dem, was in dieser kommentierten Bibliographie zu kurz kommen mußte, findet sich ausführlich dargestellt und begründet bei dems., Die Kirchen der alten Christenheit, RM 29.1/2, Stuttgart 1971. 17 H. Kähler, Die frühe Kirche. Kult und Kultraum, Berlin 1972 (Nachdr. Frankfurt/M. 1982). 18 B. Break, Spätantike und frühes Christentum, PKG Suppl. 1, Frankfurt/M. 1977. 2 19 P. Tertia, Archeologia cristiana. Nozioni generali dalle origini alla fine del sec. VI, Bari 1980. 20 F. W. Deichmann, Einführung in die christliche Archäologie, Darmstadt 1983. 21 A. Effenberger, Frühchristliche Kunst und Kultur. Von den Anfängen bis zum 7. Jahrhundert, München 1986.

282 unlösbar zur Seite geschoben wird. Die Basiliken der konstantinischen Epoche haben ihre eigene Vorgeschichte praktisch vollständig verdrängt! Wobei es ja auch noch völlig ungeklärt ist, inwieweit die Basiliken aus konstantinischer Zeit überhaupt irgend etwas genetisch mit dem zu tun haben, was sich vor der Bekehrung des Kaisers zum Christentum als Kirchenbau etabliert hatte22. Nicht wenige Autoren neigen der Ansicht zu, die konstantinische Basilika sei so etwas wie die geniale Erfindung des frühen 4. Jh.s, die niemals wirklich überholte Leistung eines kaiserlichen Architektenbüros also23, das mit der Salvatorbasilika am Lateran ein typenbildendes Bauwerk von solcher Ausstrahlungskraft geschaffen habe, daß diese Kirche ihren alten Ehrentitel cunctarum caput et mater ecclesiarum sehr zu Recht trüge24.

Im Blick auf das zur Verfügung stehende vorkonstantinische archäologische Material wird man bis auf weiteres der bereits erwähnten Resignation innerhalb der Forschung wenig entgegenzusetzen haben. Selbst die Hauskirche von Dura Europos gibt ja genau genommen mehr Probleme auf, als sie lösen hilft25. Wenn die Frage nach dem vorkonstantinischen Kirchenbau nun trotzdem nicht als unbeantwortbar gestrichen werden soll, wird man sich von einer rein archäologisch orientierten Betrachtungsweise und Fragestellung lösen müssen und zu prüfen haben, woran die frühen christlichen Gemeinden anknüpfen konnten, sobald ihnen die Gestaltung eigener gottesdienstlicher Stätten möglich wurde bzw. diese durch das Anwachsen der Gemeinden und ihre endgültige Ausgrenzung aus dem Judentum einfach notwendig wurde.

22 Vgl. dazu zusammenfassend N. Duval, Les édifices de culte des origines à l'époque constantinienne, Studi di antichita cristiana 32, ACIAC 9,1 (1975) Rom 1978, 513-537. 23 So hat sich vor allem, wenn auch mit zunehmender Differenzierung E. Langlotz / F.W. Deichmann, Art. Basilika, RAC 1, 1126-1259, geäußert, vgl. auch F.W. Deichmann, Einführung (s.o. Anm. 20) 80ff. Von der „schöpferischen Leistung eines kaiserlichen Architektenbüros“ spricht neben anderen auch Andresen, Einführung (s.o. Anm. 16) 826. 24 Vgl. H. Brandenburg, Roms frühchristliche Basiliken des 4. Jahrhunderts, Heyne Stilkunde 14, München 1979,22-54. 25 Man vgl. nur A.v. Gerkan, Zur Hauskirche von Dura-Europos, in: Mullus. FS Th. Klauser, hrsg. v. A. Stuiber, JAC.E 1, Münster 1964,143-149.

283 Daß das Christentum, die Ekklesia, aus dem Judentum, der Synagoge, herausgewachsen ist, gilt als selbstverständliche Tatsache26, wenn es über die Abläufe hierbei im einzelnen auch noch viele Unsicherheiten gibt, so kann im Blick auf die Probleme des frühesten Kirchenbaus doch auf fortwirkende Gemeinsamkeiten von Juden und Christen aufmerksam gemacht werden. An erster Stelle sei die im Grundsätzlichen übereinstimmende Beurteilung der Bilderfrage genannt. Offensichtlich teilte man nicht nur die theoretische Grundeinstellung bis in das 4. Jh. miteinander, sondern kam auch bei der Zulassung von Ausnahmefällen zu parallelen Entscheidungen, wie die archäologischen Funde insbesondere in Dura Europos lehren. Die spätantikjüdische Kunst darf nun allerdings nicht nur als Parallelerscheinung zu den frühesten Beispielen einer christlichen Kunst interpretiert werden. Die Anzeichen mehren sich, daß weite Bereiche der frühchristlichen Ikonographie aus dem Motivschatz der spätantik-jüdischen Kunst entwickelt wurden27. Zur endgültigen Trennung kam es hier erst, als die Bilderfrage in der christlichen Theologie als christologisches Problem begriffen wurde. Welche Interdependenzen aber auch dann noch bestanden, ließe sich unter Umständen an den Hintergründen des Ikonoklasmus zeigen28.

Näher an die Problematik des frühesten Kirchenbaus führen dann allerdings Erwägungen zu strukturellen Gemeinsamkeiten von Judentum und Christentum, wie sie etwa mit dem Begriff der „Buchreligion“ oder dem der „Heiligen Schriften“ angedeutet werden. Die Gottesdienste von Juden und Christen waren in gleicher Weise auf das „Wort“ bezogen, das vor der Gemeinde rezitiert und ausgelegt wurde29. Vergleichbar waren deshalb auch die Anforderungen, die Juden und Christen an ihre gottesdienst-

26 Anstelle ausufernder Literaturlisten sei hier nur Origenes, Homil in Cant 2,3 (GCS Orig 8,45), in Erinnerung gerufen, wo die Kirche als die „kleine Schwester“ der Synagoge apostrophiert wird. 27 Zur Kontroverse über das Verhältnis von spätantik-jüdischer und frühchristlicher Kunst vgl. zuletzt u.a. H. Brandenburg, Überlegungen zum Ursprung der frühchristlichen Bildkunst, ACIAC 9,1 (1975) Rom 1978, 331-360, und P. Maser, Irrwege ikonologischer Deutung? Zur Diskussion um die spätantikjüdische Kunst, RivAC 56 (1980) 331-367. 28 Vgl. die Hinweise bei G. Strohmaier, Byzantinischer und jüdisch-islamischer Ikonoklasmus, in: Der Byzantinische Bilderstreit. Sozialökonomische Voraussetzungen, ideologische Grundlagen, geschichtliche Wirkungen, hrsg. v. J. Irmscher, Leipzig 1980, 83-90. Eine synoptische Behandlung des ikonoklastischen Phänomens in Judentum, Christentum und Islam gehört zu den dringenden Desideraten der Forschung, wie auch The Image and the Word. Confrontations in Judaism, Christianity and Islam, ed. by. J. Gutmann, Religion and the Arts 4, Missoula (Mo.) 1977, zeigt. 29 Vgl. W. Wiefel, Der Synagogengottesdienst in neutestamentlicher Zeit und seine Einwirkung auf den entstehenden christlichen Gottesdienst, Diss. theol. Leipzig 1959.

284 lichen Stätten stellten30. Im Unterschied zum Tempel, in dessen Zentrum das Götterbild oder dessen Entsprechung von der Priesterschaft mit Opfer und Gebet 'bedient' wurde, während das Volk, also die Gemeinde, von dem Allerheiligsten ausgeschlossen blieb, benötigten das (spätere) Judentum und das Christentum Räumlichkeiten, in denen sich die ganze Gemeinde zusammen mit den Funktionsträgern versammeln konnte. In übertragenem Sinn kann man deshalb im Blick auf den Gottesdienst im Tempel und den in Synagoge bzw. Kirche von einem Gegensatz von aristokratischem und demokratischem Gottesdienstvollzug sprechen, der die Architektur bestimmte31.

Ein auf „Wort“ und Mahlfeier konzentrierter Gottesdienst verlangte u.a. nach einem Platz, von dem aus die heiligen Schriften verlesen und die Predigt gehalten werden konnten. Für die Gemeindefunktionäre mußten besondere Plätze vorhanden sein, die ihnen die Leitung des Gottesdienstes ermöglichten. Versammelte sich die Gemeinde prinzipiell gemeinsam in einem Raum, so mußten auch Binnengliederungen der Gesamtgemeinde entwickelt werden, die einen geregelten äußeren Ablauf des Gottesdienstes sicherstellten. Die vielfältigen Aufgaben, die jüdische und christliche Gemeinden in gleicher Weise wahrzunehmen hatten, bedingten schließlich auch eine Multifunktionalität der Gemeindebauten, die sie durchaus mit den heutigen „Gemeindezentren“ vergleichbar machen (Gottesdienstraum, Tauchbäder bzw. Taufstätten, Räumlichkeiten für die sozialen Aktivitäten der Gemeinden und Wohnungen für die Gemeindefunktionäre).

Gibt es nun aber Zeugnisse dafür, daß zwischen Synagoge und frühestem christlichen Kirchenbau mehr als nur strukturelle Gemeinsamkeiten, also auch genetische Zusammenhänge, ja Abhängigkeiten bestanden? Da das archäologische Material hierzu bisher keine eindeutigen Auskünfte zu geben imstande ist, wird man sich verstärkt in der literarischen Überlieferung umzusehen haben, aus der im folgenden ein Traditionsstrang herausgearbeitet werden soll, dessen einzelne Bestandteile selbst30 Vgl. E. Werner, The Sacred Bridge. The Interdependence of Liturgy and Music in Synagogue and Church During the First Millennium, London u.a. 1959. 31 Vgl. auch die allerdings sehr problematischen Ausführungen von F.W. Deichmann, Vom Tempel zur Kirche, in: Mullus. FS Th. Klauser, hrsg. von A. Stuiber, JAGE 1, Münster 1964,52-59.

285 verständlich seit langem bekannt sind, zu deren Zusammenschau es aber merkwürdigerweise bisher nicht gekommen ist.

2. Jakobusbrief 2,2f.

Im Palästinajahrbuch von 1933 hat Leonhard Rost „Archäologische Bemerkungen zu einer Stelle des Jakobusbriefes (Jak. 2,2f.)“ vorgetragen, die hier weitergeführt werden sollen32. In Jak 2,1-4 heißt es: „Meine Brüder, nicht mit Ansehen der Personen besitzt den Glauben an unseren Herrn Jesus Christus der Herrlichkeit. (2) Wenn nämlich eintritt in eure `synagoge' ein goldberingter Mann in prächtigem Gewand, eintritt aber (gleichzeitig) auch ein Armer in schmutzigem Kleide, (3) ihr wendet aber euren Blick dem zu, der das prächtige Gewand trägt, und sprecht (zu ihm): Du da, setz dich schön hier nieder, und zu dem Armen sagt: Du da, bleib hier stehen, oder setze dich unten an mein 'hypopodion', (4) habt ihr da nicht bei euch selbst Unterscheidungen getroffen und wurdet Richter von schlechter Gesinnung?“

33

Worum es dem Verfasser des Jakobusbriefes geht, ist klar. Er schildert einen drastischen Fall von Diskriminierung innerhalb der Gemeinde aufgrund sozialer Ungleichheit. Dem Reichen wird ein bevorzugter Platz zugewiesen, während der Arme, der noch dazu in einem verunreinigten Gewand auftritt, sehr viel schlechter plaziert wird34. Die Frage, ob es sich bei solchem Verhalten um ein tatsächliches Vorkommnis in der Gemeinde gehandelt habe oder ob sich hier nur die „literarische Art des Jakobus“ niedergeschlagen habe, wie Dibelius gemeint hat, ist müßig35. Wenn ein solcher Beispielfall vorgetragen wurde, dann mußte er, um überzeugend zu wirken, tatsächlich vorstellbar sein, wie Rost richtig betont hat.

32 L. Rost, Archäologische Bemerkungen zu einer Stelle des Jakobusbriefes (Jak. 2,2f.), PJ 29 (1933) 53-66. 33 Die Übersetzung folgt im wesentlichen F. Mußner, Der Jakobusbrief, HThK 13/1, Freiburg/Br. 3 1975, 114f. 34 Wenn man in Rechnung stellt, „daß in ihrer Mehrzahl die Schriftgelehrten zu den Armen der Bevölkerung gehörten“, wird die eigentliche Brisanz der im Jakobusbrief vorgestellten Situation deutlich. Vgl. zur „Armut“ J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zur neu3 testamentlichen Zeitgeschichte, Göttingen 1962, 124-127, zu den Schriftgelehrten a.a.O. 127-132. 35 Die ausführlichen Erörterungen bei M. Dibelius, Der Brief des Jakobus, hrsg. und erg. v. H. Greeven, KEK 15, Göttingen 111964, 161-163, können hier nicht im einzelnen referiert und diskutiert werden.

286 Das Geschehen spielt sich innerhalb einer „Synagoge“ (ıȣȞĮȖȦȖ ) ab, in die der Reiche und der Arme „eintreten“ (İ ıİȜșİ

Ȟ). Was ist mit der „Synagoge“ gemeint,

die „Versammlung“ oder der „Versammlungsraum“ der Gemeinde? Eindeutig entscheiden läßt sich die Frage sicherlich nicht36, war doch ıȣȞĮȖȦȖ

zunächst ein

rechtes Allerweltswort, das Versammlungen unterschiedlichster Art und Herkunft ebenso bezeichnen konnte wie auch die Gebäude, in denen diese Versammlungen abgehalten wurden37. Nun hatte sich allerdings „zwischen der Zeit der LXX und der des Urchristentums und wohl nicht in Palästina, sondern in der Diaspora“38 ıȣȞĮȖȦȖ

zum terminus technicus für das jüdische „Gemeindezentrum“ verfestigt,

aber das hinderte doch nicht daran, daß der Begriff auch innerhalb der christlichen Gemeinden noch eine gewisse Zeit lang verwendbar blieb. Der Zusammenhang der Jakobusstelle spricht stark dafür, daß hier vorzüglich an das Gebäude zu denken ist, da die räumlichen Vorstellungen deutlich ausgeprägt sind („eintreten“, „hier niedersetzen“, „da stehenbleiben“, „unten [am

ʌȠʌ įȚȠȞ] setzen“)39. Das wird durch die

Beobachtung gestützt, daß der Verfasser des Jakobusbriefes an der einzigen Stelle, wo er dezidiert von der christlichen Gemeinde spricht (den Presbytern der Gemeinde in 5,14), den Begriff

țțȜȘı Į benutzt. Wenn auch noch in späterer Zeit gelegent-

lich die christlichen Gotteshäuser als „Synagogen“ bezeichnet werden konnten - pikanterweise läßt sich solcher Sprachgebrauch ausgerechnet bei den Marcioniten, aber nicht nur bei ihnen belegen –, so hindert nichts daran, in Jak 2,2 die Widerspiegelung eines ursprünglichen Zustandes auszumachen, der später im Zusammenhang mit dem wachsenden Gegensatz gegenüber dem Judentum fast vollständig unterdrückt worden ist40. 36 Eine recht eigenwillige Deutung vertrat B. Reicke, Diakonie, Festfreude und Zelos in Verbindung mit der altchristlichen Agapenfeier, AUU 1951/5, Uppsala u.a. 1951, 344f, der ıȣȞĮȖȦȖ konsequent mit sodalicium in Verbindung bringt. – Textkritisch bietet die Verwendung von ıȣȞĮȖȦȖ an dieser Stelle übrigens keine Probleme. Daß die altlateinische Überlieferung den anstößigen Wortgebrauch durchweg „korrigierte“, ist erklärlich, bietet Jakobus hier nun in der Tat einen Einblick in Verhältnisse, die einer späteren Zeit nicht mehr verständlich waren. Vgl. M. Dibelius, Jakobus (s.o. Anm. 35) 167, bes. Anm. 2 und 3. 37 Vgl. die Fülle der Belege bei W. Schrage, Art. ıȣȞĮȖȦȖ , in, ThWNT 7, 798-839. 38 W. Schrage, Art. ıȣȞĮȖȦȖ , ThWNT 7, 807. 39 Allzu selbstverständlich wird Jak 2,2f allerdings von F. Heyer, Kirchengeschichte des Heiligen Landes, Stuttgart 1984, 14, als Beweis für die Existenz judenchristlicher Synagogen im Jerusalemer Essenerviertel in Anspruch genommen. 40 Vgl. die Belege bei W. Schrage, Art. ıȣȞĮȖȦȖ , ThWNT 7,839. Epiphanius, Haer 30,18,2 (GCS 25,357), bezeugt, daß die Judenchristen den Ort ihrer Zusammenkunft als ıȣȞĮȖȦȖ bezeichneten. Erstaunt dieser Sprachgebrauch in der 2. Hälfte des 4. Jh.s noch nicht unbedingt, so ist seine Ver-

287 An dieser Stelle wird es unvermeidlich, sich den Einleitungsproblemen zu stellen, die der Jakobusbrief aufgibt. Von Anfang an ist diese „paränetische Lehrschrift“41, die sich als Brief eines Jakobus, „Sklave Gottes und des Herrn Jesus Christus“, an die „zwölf Stämme in der Diaspora“ gibt (1,1), in ihrer Integrität umstritten gewesen. Luthers kritische Stellungnahmen sind hinlänglich bekannt42. Daß der Brief als ein Schreiben des Herrenbruders Jakobus aufgenommen werden will, ist kaum zu bezweifeln. Nun sprechen aber das flüssige Griechisch, die eigentümlich peripheren Erwähnungen Christi, die Haltung gegenüber dem Gesetz und schließlich auch die zögernde Rezeption des Briefes in der Alten Kirche gegen den Herrenbruder als Verfasser43. Die Auseinandersetzungen mit der paulinischen Theologie in 2,14ff verweisen zudem auf eine verhältnismäßig späte Abfassungszeit, etwa das Ende des 1. Jh.s. Daß der geheimnisvolle Autor der jüdischen Tradition sehr nahegestanden haben muß, ist nicht zu übersehen. Die Rezeptionsgeschichte der Schrift läßt an Syrien als Entstehungsort denken44.

Daß der Jakobusbrief tatsächlich in ein jüdisch geprägtes bzw. judenchristliches Milieu im syro-palästinischen Raum gegen Ende des 1. Jh.s gehört, läßt sich nun aber auch mit Hilfe der hier besonders interessierenden Textpassage 2,2ff wahrscheinlich machen. Ohne hier in weitere Einzelheiten gehen zu können, ist doch so viel festzuhalten, daß es sich bei der „Synagoge“, in die der Reiche „hineingeht“, um einen Raum handelt, in dem es Plätze von unterschiedlicher Wertigkeit gab. Der Reiche soll sich

įİ țĮȜ Ȣ, setzen, während der Arme

țİ

stehen soll oder, um die Krän-

kung noch ätzender werden zu lassen, die Weisung erhält: „Setze dich her zu meiwendung in den späteren Act Phil 50 (Aa II 2,22) schon bemerkenswerter. Regional und biographisch umstritten (um 400?) bleibt das Zeugnis des Commodianus, Instructio 1,24,11 (CSEL 15,31). Auffallend ist es, wenn ausgerechnet die Marcioniten ihr gottesdienstliches Versammlungsgebäude ıȣȞĮȖȦȖ nannten, vgl. W. Schrage, Art. ıȣȞĮȖȦȖ , ThWNT 7, 807. Alle diese Belege zeigen, wie lange die terminologischen Grenzen auch innerhalb des Christentums fließend blieben. 41 Vgl. M. Dibelius, Jakobus (s.o. Anm. 35) 13-19. 42 WA.TR 5,157 Nr. 5443. 43 Vgl. u.a. G. Kittel, Die Stellung des Jakobus zu Judentum und Heidenchristentum, ZNW 30 (1931) 145-157; M. Hengel, Jakobus der Herrenbruder – der erste „Papst“? in: Glaube und Eschatologie. FS W.G. Kümmel, hrsg. von E. Gräßer u.a., Tübingen 1985, 71-104; W. Pratscher, Der Herrenbruder Jakobus und die Jakobustradition, FRLANT 139, Göttingen 1987; E. Bammel, Jesu Nachfolger. Nachfolgeüberlieferungen in der Zeit des frühen Christentums, StDel 3.1, Heidelberg 1988, 31-51. 44 Vgl. neben dem Kommentar von M. Dibelius, Jakobus (s.o. Anm. 35), auch F. Mußner, Jakobus21 brief (s.o. Anm. 33), und W.G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 1983, 356367.

288 nem

ʌȠʌ įȚȠȞ“ (2,3). Auch wenn an dieser Stelle aus räumlichen Gründen eine

eingehende Auseinandersetzung mit den von Rost vorgebrachten Bezügen auf das Interieur spätantik-palästinischer Synagogen nicht vorgetragen werden kann45, so ist es ihm doch zweifelsfrei gelungen nachzuweisen, in welchem Ambiente man sich die Szene des Jakobusbriefes zu denken hat: Sie spielte sich in einer jener Synagogen ab, wie wir sie seit den Ausgrabungen von Kohl und Watzinger aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg kennen46. Noch 1964/66 glaubte Wolfgang Schrage allerdings, Rosts Erwägungen durch den Hinweis darauf erledigen zu können, daß der von Rost vorausgesetzte Synagogentyp „für das 1. Jh. nicht nachweisbar“ sei47. Während sein Beitrag für das ThWNT im Druck war, fanden jedoch unter Leitung von Yigael Yadin die Ausgrabungen auf dem Felsen von Masada statt, bei denen - unmittelbar in die Westmauer eingefügt - eine kleine Synagoge des frühen 1. Jh.s zu Tage trat, die eindeutig auf Jerusalem orientiert und noch von den Zeloten kurz vor der Zerstörung der Festung mit jenen „so charakteristischen Bänken“ ausgestattet worden war, die in Jak 2,2ff vorausgesetzt werden48. Wenn damit Rosts These im Grundsätzlichen auch gestützt wurde49, so warnten die Größenverhältnisse auch dieser Synagoge wieder vor allzu strikten Hypothesen über die Binnengliederung des Versammlungsraumes, wie sie Rost aus Jak 2 herauszulesen versucht hat50.

Gewiß bliebe die Jakobus-Passage über die „Synagoge“ ohne größeres Interesse für die Geschichte des frühesten Kirchenbaus, wäre dieser nicht eine hoch interessante Rezeptionsgeschichte beschieden gewesen, an der sich die frühesten Entwicklungsstadien des Kirchenbaus ablesen lassen. Die Mahnung des Jakobusbriefes, den Ar-

45 Vgl. Rost, Bemerkungen (s.o. Anm. 32) 57-59. 46 H. Kohl / C. Watzinger, Antike Synagogen in Galiläa, Leipzig 1916. 47 Vgl. W. Schrage, Art. ıȣȞĮȖȦȖ , ThWNT 7,836 Anm. 256. 48 Eine befriedigende Publikation der Ausgrabungen von Masada steht noch immer aus, so daß alle 2 Angaben nach Y. Yadin, Masada. Der letzte Kampf um die Festung des HeȠdes, Hamburg 1967, 180-191, gegeben werden müssen. 49 Nur wenig später wurde die Synagoge des Herodeion durch V. Corbo ausgegraben; vgl. SBFLA 13 (1962/63) 129-277. Zusammenfassend vgl. F. Hüttenmeister, Die jüdischen Synagogen, Lehrhäuser und Gerichtshöfe, BTAVO B 12/1, Wiesbaden 1977, 173f (Herodeion) und 314f (Masada); B. Brenk, Zu den Grundrisstypen der frühsten Synagogen Palästinas, ACIAC 9,1 (1975) Rom 1978, 539-550, sowie: Ancient Synagogues. The State of Research, ed. by L Gutmann, Brown Judaic Studies 22, Chico (Cal.) 1981. 50 Vgl. L. Rost, Bemerkungen (s.o. Anm. 32) 57-59.

289 men im Gottesdienst nicht zu diskriminieren, tritt dabei gleichsam in die Funktionen eines Leitfossils ein, das auf genetische Zusammenhänge aufmerksam macht.

3. Die Didascalia Apostolorum

Ich nenne zuerst die Passage Didascalia Apostolorum II 157,1-58,6. Bei der Didasc handelt es sich um eine Kirchenordnung, die wohl in der ersten Hälfte des 3. Jh.s im nördlichen Syrien für heidenchristliche Gemeinden im Gegenüber zu einem starken Judenchristentum aufgestellt wurde51 und deren griechische Urfassung bis auf einige Fragmente verlorengegangen ist. Vollständig wurde sie nur in syrischer52 und teilweise in altlateinischer53, arabischer54, äthiopischer55 und koptischer56 Fassung überliefert. Da sich jedoch die ersten sechs Bücher der Constitutiones Apostolorum bis auf wenige, aber entscheidende Änderungen und Erweiterungen mit der Didasc decken, dürfte es weithin möglich sein, das griechische Original zu rekonstruieren57. Mit dem hier zur Debatte stehenden Text hat sich zuletzt eingehend Klaus Gamber auseinandergesetzt58. Eine kritische Beschäftigung mit Gambers Textanalyse verstärkt den Eindruck, daß die syrische bzw. die altlateinischen Fassungen der Didasc den ur51 Vgl. H. Achelis, Die Herkunft der syrischen Didascalia, in: H. Achelis / J. Flemming, Die syrische Didaskalia übersetzt und erklärt, TU 25/1, Leipzig 1904, 354-387, wo 355-358 besonders auf die Kritik der Didasc an den „Leuten des Jakobus in Jerusalem“ eingegangen wird, die offensichtlich auch zeitgenössische Auseinandersetzungen des Autors abzudecken hatte. 52 Vgl. R.H. Connolly, Didascalia Apostolorum. The Syriac Version Translated and Accompanied by the Verona Latin Fragments, Oxford 1929. Hier wurde benutzt H. Achelis / J. Flemming, Die syrische Didaskalia übersetzt und erklärt, TU 25/1, Leipzig 1904. Weitere syrische Ausgaben haben geliefert P.A. de Lagarde, Didascalia apostolorum syriace, Leipzig 1854, Nachdr. Göttingen 1911; M. Gibson, Horae Semiticae I. The Didascalia Apostolorum in Syriac, London 1903; F. Nau, La Didascalie des 2 douze apôtres, Ancienne littérature canonique syriaque 1, Paris 1912. 53 Vgl. F. Hauler, Didascalia Apostolorum fragmenta Veronensia latina, Leipzig 1900; F.X. Funk, Didascalia et Constitutiones Apostolorum, 2 Bde., Paderborn 1905; E. Tidner, Didascalia apostolorum. Canonum ecclesiasticorum, Traditionis apostolicae versiones Latinae, TU 75, Berlin 1963. 54 Vgl. G. Graf, Geschichte der christlichen arabischen Literatur, Studi e testi 118, Bd. 1, Rom 1944, 564-569. 55 Vgl. J.M. Harden, The Ethiopic Didascalia Translated, SPCKLP, London u.a. 1920. 56 Vgl. W. Till / J. Leipoldt, Der koptische Text der Kirchenordnung Hippolyts, TU 58, Berlin 1954. 57 Der erste Versuch einer Rückübersetzung der Didasc ins Griechische stammt von Lagarde, in: C.K.J. Bunsen, Analecta Ante-Nicaena, London 1854, Nachdr. Aalen 1968, Bd. 2, 45-224; vgl. auch F.X. Funk, Die Apostolischen Konstitutionen. Eine litterar-historische Untersuchung, Rottenburg 1891, Nachdr. Frankfurt/M. 1970, 17. 58 Vgl. K. Gamber, Die frühchristliche Hauskirche nach Didascalia Apostolorum Il 57,1-58,6, in: Studia Patristica 10, TU 107, Berlin 1970, 337-344; ders., Domus ecclesiae. Die ältesten Kirchenbauten Aquilejas sowie im Alpen- und Donaugebiet bis zum Beginn des 5. Jh.s liturgiegeschichtlich untersucht, SPLi 2, Regensburg 1968, 71-78. Vgl. dazu allerdings die harte Kritik von Th. Klausen, JAC 11/12 (1968/69) 215-224.

290 sprünglichen Text mit erstaunlicher Genauigkeit festgehalten haben59. Es geht in der Didasc II 57 und 58 aber nun keineswegs um eine Beschreibung des Kirchengebäudes, ja nicht einmal um die eines Gottesdienstes. Thema des gesamten Abschnitts ist vielmehr das rechte Verhalten des Bischofs im Gottesdienst, zu dessen wesentlichen Aufgaben nach Didasc II 57 und 58 die Einhaltung der korrekten Sitzordnung während des Gottesdienstes gehört.

Dennoch sind die Angaben über den Kirchenraum verhältnismäßig einfach zu entschlüsseln. An der Stirnseite des Raumes befindet sich der Thron des Bischofs, ihm zur Seite die Sitze der Presbyter. Davor haben die Männer ihren Platz, hinter denen wiederum die Frauen zu finden sind (Didasc II 57,3-5)60. Der Gläubigenraum der Didasc ist also quergeteilt. Innerhalb der in Männer und Frauen geschiedenen Gruppe der Laien gibt es mehrere Untergruppen, wie die der Jünglinge, der Älteren, der Kinder, der Jungfrauen, der verheirateten Frauen, Greisinnen und Witwen (Didasc Il 57,8)61. Die Aufsicht über die Gemeinde obliegt den Diakonen, von denen der eine an der Tür steht, während der andere im Inneren des Raums bei den eucharistischen Gaben seinen Platz hat (Didasc II 57,6). Die Didasc setzt einen gerichteten Raum voraus, in dem der Wert des einzelnen Platzes offensichtlich von dessen Nähe zum Thron des Bischofs abhängt. Die Wertigkeit des Platzes wird weiterhin dadurch be-

59 Ein in die Einzelheiten gehender Textvergleich von Didasc und ConstAp, der für die Rekonstruktion der ursprünglichen Fassung des Didasc-Textes selbstverständlich unerläßlich ist, würde den Rahmen der hier vorzutragenden Erwägungen sprengen. 60 Vgl. auch Herm 43,1 (GCS 48,40): „Er zeigte mir Menschen, die auf einer Bank saßen, und einen andern auf einem Sessel, und fragte mich: 'Siehst du diese, die auf der Bank sitzen?' 'Ja, Herr' antwortete ich. 'Das sind Christen', sagte er, 'und der auf dem Sessel sitzt, ist ein falscher Prophet ...'“ (Übersetzung nach: M.Dibelius, Der Hirt des Hermas, Apostolische Väter 4, HNT Erg., Tübingen 1923, 536) Damit wird gewissermaßen die Grundsituation eines Gottesdienstes skizziert, in dessen Mittelpunkt die Wortverkündigung steht. Als Zeuge des frühen 2. Jh.s wird der in Rom beheimatete Hermas hier allerdings nur am Rande gebucht werden dürfen. – Vgl. im übrigen auch schon H. Bethorst, Die Platzordnung im Gläubigenraum der altchristlichen Kirche, Diss. theol. Münster 1929, von der bedauerlicherweise 1931 in Münster nur ein Teildruck erschienen ist. 61 Die Sitzordnung in der Kirche wird von der Didasc zusätzlich mit einem apokryphen Herrenwort begründet, nach dem die Gemeinde einer mándra zu vergleichen sei, in der die „unvernünftigen Tiere” eine selbstverständliche Ordnung nach Art und Geschlecht halten. Vgl. dazu Barn 16,5: „Denn es sagt die Schrift: Und es wird übergeben der Herr die Schafe der Weide und ihre mándra und ihren Turm dem Verderben.” Der Barnabasbrief dürfte hier von äthHen 89,56 und 66f abhängig sein, wo der „Turm“ der Schafe und die Vernichtung der Herde durch die Hirten selber im Rahmen eines Traumgesichts als endzeitliche Ereignisse geschildert werden.

291 stimmt, ob es sich um einen Sitz- oder einen Stehplatz handelt62. Gewissermaßen in einem eigenen Paragraphen erläutert Didasc II 58 das Verhalten beim Besuch auswärtiger Gäste. Laien sollen durch die Diakone zu der Gemeindegruppe geführt werden, der sie zugehören. Presbyter sollen einen Platz auf der Presbyterbank erhalten. Ein auswärtiger Bischof soll neben dem einheimischen plaziert werden, eine Predigt halten und an der eucharistischen Liturgie beteiligt werden. Wenn aber Besucher, „denen Ehre in der Welt gebührt“, die Kirche besuchen, darf der Bischof auf keinen Fall den „Dienst seines Wortes“ verlassen. Abgeschlossen werden alle diese Mahnungen mit einer erweiterten und verschärften Wiederaufnahme von Jak 2,2f: „Wenn aber ein armer Mann oder eine arme Frau kommt, entweder von deinen Gemeindemitgliedern oder aus einer anderen Gemeinde, und besonders, wenn sie in hohen Jahren stehen, und es ist kein Platz da für solche, so schaffe ihnen Platz von ganzem Herzen, o Bischof, selbst wenn du auf dem Boden sitzen müßtest, daß du nicht seist wie einer, der die Person ansieht, sondern daß bei Gott dein Dienst wohlgefällig sei.“

Die Platzordnung der Didasc, für die die Existenz eines festen Altars noch nicht ausdrücklich vorausgesetzt wird63, erhält ihre eigentliche Begründung dadurch, daß die Didasc bereits einen nach Osten gerichteten Raum als die Regel annimmt. Maßgeblich ist nach Didasc II 57,5 für diese Orientierung des Raumes Ps 68 (67),34: „Lobsinget dem Gott, der aufgestiegen ist in den Himmel des Himmels – nach Osten zu.“ Damit wird auf die Himmelfahrt Christi „nach Osten zu“ angespielt, zugleich läßt der Text in seiner LXX-Fassung aber auch das Verständnis zu „Lobsinget dem Gott ... – nach Osten zu!“ Die Einbettung dieser Argumentation in den Zusammenhang von akuten Auseinandersetzungen zwischen Christentum und Judentum ist schon deshalb wahrscheinlich, weil man später die Orientierung des Kirchengebäudes meist

62 Die Vorstellung, daß die Gläubigen zunächst an Tischen gesessen hätten, die Gamber, Domus ecclesiae (s.o. Anm. 58) 86-93, zu begründen versuchte, ist wenig überzeugend. Gamber folgt hier weitgehend der Argumentation von 0. Nußbaum, Der Standort des Liturgen am christlichen Altar vor dem Jahre 1000, Bd. 1, Theoph. 18, Bonn 1965, 377f, stellt nun aber seinerseits nicht in Rechnung, in welch hohem Maße die Ikonographie der cena domenica durch die neutestamentlichen Berichte festgelegt war. 63 Eine Art von (transportablem?) Tischaltar, der für den Vollzug der Eucharistie einfach unerläßlich war, wird man annehmen dürfen, aber über den Platz, an dem dieser Altar aufgestellt wurde, äußert sich die Didasc an keiner Stelle. Im übrigen kennt die Didasc die Vokabel „Altar“ nur als metaphorische Bezeichnung der Witwen und Waisen, wie diese zuerst im Polyk 4,3 begegnet. Vgl. dazu H. Achelis, Eine Christengemeinde des dritten Jahrhunderts, in: H. Achelis / J. Flemming, Didaskalia (s.o. Anm. 51) 266-317, hier 274-276. Zu Rang und Bedeutung des Altars in der domus ecclesiae vgl. auch die knappe Charakterisierung bei J. A. Jungmann, Liturgie der christlichen Frühzeit bis auf Gregor den Grossen, Freiburg 1967, 105-108.

292 auf Mt 24,27 gründete, also auf eine neutestamentliche Aussage über die Parusie Christi64.

Die Didasc läßt mit ihrer stark differenzierenden Platzordnung die Existenz einer verhältnismäßig zahlreichen Gemeinde wahrscheinlich werden65. Offensichtlich bot das Gebäude selbst aber noch keinerlei architektonische Anhaltspunkte für eine Ordnung der gottesdienstlichen Versammlung der Gemeinde, wenn man von dem deutlichen Gegenüber von Klerus und Laien absieht. Es handelte sich um einen oblongen Raum mit Klerusbank, Bischofsthron, einem Tisch für die eucharistischen Gaben und einem eventuell noch transportablen Altar. Wahrscheinlich trug der Gottesdienstraum der Didasc bereits die Bezeichnung

țțȜȘı Į; allerdings begegnet auch hier noch be-

zeichnenderweise vereinzelt die gleiche terminologische Unsicherheit, die in Spuren bereits den Jakobusbrief kennzeichnete. Zumindest an drei Stellen dürfte im griechischen Original wie in der lateinischen Fassung von dem Kirchengebäude oder aber auch der Gemeinde als ıȣȞĮȖȦȖ

die Rede sein66.

Die terminologischen Unsicherheiten, die sich auch in der gleichzeitigen Verwendung von domus und

țțȜȘı Į widerspiegeln67, lassen darauf schließen, daß in der Di-

64 Vgl. dazu F.J. Dölger, Sol Salutis. Gebet und Gesang im christlichen Altertum. Mit besonderer Rücksicht auf die Ostung in Gebet und Liturgie, LF 4/5, Münster 21925, 171, und Nußbaum, Standort (s.o. Anm. 62) 3% Anm. 144. – Mit der ausdrücklichen Bezugnahme auf eine alttestamentliche Belegstelle ist unausgesprochen der antijüdische Affekt bereits zur Stelle, der restlos deutlich wird, sobald man sich vergegenwärtigt, daß die eigentliche Abkehr vom Judentum, das die Synagoge nach Jerusalem hin ausrichtete, erfolgt war, sobald man für die Kirche die Orientation nach Osten vorschrieb. Vgl. auch L. Voelkl, „Orientierung“ im Weltbild der ersten christlichen Jahrhunderte, RivAC 25 (1949) 155170, hier 163f; F. Landsberger, The Sacred Direction in Synagogue and Church, in: The Synagogue. Studies in Origins, Archaeology and Architecture, ed. by J. Gutmann, The Library of Biblical Studies, New York 1975, 239-261, und F. Merkel, Im Angesicht der Gemeinde. Celebratio versus populum – zu einem Problem des heutigen evangelischen Gottesdienstes, TEH 166, München 1970, 12-21. 65 Daß Platzmangel herrschen konnte, zeigt die Einschränkung Didasc II 57,8 si locus est. Über die reale Gemeindegröße zu spekulieren, dürfte ergebnislos bleiben. In Il 30,1 wird es für möglich gehalten, daß der Bischof nicht alle Gemeindeglieder und ihre Umstände kennt, andererseits genügen nach II 57,6 zwei Diakone für die Aufgaben der Gemeinde und die Feier der Liturgie. 66 Vgl. H. Achelis, Herkunft (s.o. Anm. 51) 362 Anm. 3. Eine Überprüfung der dort angegebenen Stellen zeigt, wie wenig Sicherheit bei der Entscheidung gewonnen ist, ob ıȣȞĮȖȦȖ mit „Gemeinde“, „Versammlung“ oder „Kirche“ (= Kirchengebäude) zu übersetzen sei. 67 Die bestehenden terminologischen Unsicherheiten werden schlaglichtartig durch Didasc Il 57,2f illustriert. Die gewundene Ausdrucksweise „in congregationibus vestris autem, in ecclesiis sanctis, conventus vestros facite“ ist zusammen zu sehen mit der Angabe über die Plazierung der Presbytersitze „in parte domus ad orientem versa“. Möglicherweise hatte man die Ausdrucksweise domus ecclesiae bzw. Ƞ țȠȢ țțȜȘı ĮȢ noch im Ohr, als man schon die volltönende, wenn auch noch nicht unumstrittene Bezeichnung ecclesia bzw. țțȜȘı Į verwandte, so daß man um der Vieldeutigkeit

293 dasc ein Gebäudetyp gemeint ist, der noch deutlich die Herkunft aus der antiken Hausanlage erkennen ließ, inzwischen aber seiner kirchlichen Verwendung doch so weit angepaßt worden war, daß er bereits im Vollsinne als „Kirche“ angesprochen werden konnte. In ihm ist der Kirchsaal nicht mehr nur ein Raum unter anderen, sondern inzwischen zum Hauptraum einer komplexen Anlage geworden.

Die archäologischen Belege für Kirchen dieses Übergangstyps – nicht mehr nur „Haus“, aber auch noch nicht ausschließlich Kirchenbau – sind nicht allzu zahlreich zumal dann, wenn wir uns auf den syrischen Raum beschränken, den wahrscheinlichen Ursprungsort der Didasc. Besonders typisch mag der Bau im südsyrischen 'Anz sein: „Der langgestreckte einschiffige Raum ... ist geostet und hat sowohl im Norden als auch im Westen je einen Eingang. Das ‚Kirchenschiff’ ist durch jeweils drei Mauervorlagen an den beiden inneren Langwänden in vier Bezirke gegliedert ... Spuren eines Steinaltars sind in der gesamten Anlage nicht gefunden worden.“68 Durch die Nebenräume im Nordwesten zeigt die Anlage noch deutlich ihre Herkunft aus dem antiken Haus. Interessanterweise zeigt die Saalkirche von

Anz auffällige Überein-

stimmungen mit der in der Doppelanlage von Aquileja: „Diese Beziehungen im Kirchenbau zwischen Syrien und Aquileja sind allem Anschein nach nicht zuletzt auch durch die Einführung der Didasc in Aquileja bedingt, wo sie zusammen mit der ägyptischen Kirchenordnung eine lateinische Übersetzung gefunden hat.“69

Die Constitutiones Apostolorum

Mit den Constitutiones Apostolorum, einer Kompilation aus der Didache, der Didasc, einer Sammlung jüdischer Gebete70 und einer Schrift Hippolyts über die Gnadenga-

der Begriffe zu entkommen, dann doch noch einen erläuternden Zusatz domus bzw. Ƞ țȠȢ hinzusetzte. 68 Vgl. Gamber, Domus ecclesiae (s.o. Anm. 58) 76. 69 Gamber, Domus ecclesiae (s.o. Anm. 58) 77. Zur Kirche von 'Anz im Hauran vgl. H. C. Butler, Early churches of Syria, Princeton 1929; Nußbaum, Standort (s.o. Anm. 62) 34, und Gamber, Domus ecclesiae (s.o. Anm. 58) 76-78. 70 Die Verarbeitung jüdischer Gebetstexte in den ConstAp, insbesondere in VII 33-38, weist auf die intensiven Querverbindungen hin, die noch im 4. Jh. zwischen Juden und Christen bestanden. Vgl. A. Baumstark, Das eucharistische Hochgebet und die Literatur des nachexilischen Judentums, ThGI 2 (1910) 353-370; W. Bousset, Eine jüdische Gebetssammlung im siebenten Buch der apostolischen Konstitutionen, NGWG.PH 1915, Göttingen 1916, 435-489; E.R. Goodenough, By Light, Light. The

294 ben sowie dessen Kirchenordnung, die gegen Ende des 4. Jh.s wohl in Syrien, vielleicht aber auch in Konstantinopel verfertigt wurde, endet die Spur, die mit Jak 2,2f aufgenommen wurde. Gegenüber der Didasc bieten die ConstAp eine spürbar entschärfte Fassung: „Wenn aber ein Armer oder Niedriger oder Fremder kommt, sei er alt oder jung, und wenn es an Platz fehlt, so soll auch diesen der Diakon (also nicht mehr der Bischof! Anm. des Verf.) ganz bereitwillig Platz verschaffen, damit er seinen Dienst versehe, nicht um den Menschen, sondern um Gott zu gefallen. Ebenso soll auch die Diakonisse verfahren, wenn Frauen kommen, seien diese nun arm oder reich.“ (ConstAp II 58,6)

Die übliche Bezeichnung des Kirchengebäudes in den ConstAp ist

țțȜȘı Į71. Da

der Begriff auch für die Gemeinde verwandt werden kann, benutzt der Kompilator in II 57,3, wo er die Bestimmungen über die Ausführung des Kirchengebäudes zusammenfaßt, die eindeutige Bezeichnung Ƞ țȠȢ72. Dieser soll länglich, nach Osten gerichtet und mit Pastophorien an der Ostseite versehen sein73. Der Hinweis auf den länglichen Raum ist wahrscheinlich aus dem Gegensatz zu den zunächst quadratischen Baptisterien zu erklären74. Als Hinweis auf die Existenz einer Basilika mit mehreren Schiffen wird man ihn hingegen nicht verwenden dürfen. Das Gebot der Orientierung wird in den ConstAp in der Nachfolge der Didasc mit Ps 68 (67),34 begründet, zusätzlich wird nun aber auch auf das gen Osten gelegene Paradies verwiesen, aus dem der Mensch vertrieben wurde, weil er Gottes Gebote verachtete75. Durch die Mystic Gospel of Hellenistic Judaism, New Haven 1935 (Nachdr. Amsterdam 1969), 306-358; W. Schneemelcher, Eine griechische Agende der jüdisch-hellenistischen Diaspora im VII. und VIII. Buche der Apostolischen Konstitutionen, Diss. theol. Berlin 1940; G. Delling, Perspektiven der Erforschung des hellenistischen Judentums, HUCH 45 (1974) 133-176, hier 144f. 71 Vgl. ConstAp II 10,4; 16,1f, 17,4; 36,6; 39,6; 54,2; 57,12.13.18; 59,1; 60,4.5; 61,1.2.4; V 19,3; VI 5,3.5; 30,2. 72 Die Belege für țțȜȘı Į in der Bedeutung von „Gemeinde“ sind zu zahlreich, als daß sie hier aufgezählt werden könnten. Selbstverständlich kann die Verwendung der Vokabel Ƞ țȠȢ in ConstAp 1157,3 nicht Anlaß zu der Vermutung sein, die ConstAp sprächen noch von einer „Haus“-Kirche. Das wird schon durch die Erwähnung der Pastophorien ausgeschlossen. 73 Unverständlicherweise hat Nußbaum, Standort (s.o. Anm. 62) 399f, angenommen, die ConstAp schrieben im Gegensatz zur Didasc die Eingangsostung vor. Das findet keinen Rückhalt im Text und widerspräche auch dem archäologischen Befund, vgl. H.W. Beyer, Der syrische Kirchenbau, Studien zur spätantiken Kunstgeschichte 1, Berlin 1925. Die wenigen Ausnahmen sind dort S. 123, 125 und 130 genannt. 74 Vgl. dazu J.H. Emminghaus, Baptisterien in Syrien und Palästina, Katalog und Interpretation, Diss. phil. Münster 1955; ders., Die Gruppe der frühchristlichen Dorfbaptisterien Zentralsyriens, RO 55 (1%0) 85-100. Die ConstAp lassen in den Abschnitten über die Taufe, vor allem III 16-18 und VII 22 und 39, zwar erkennen, daß die Taufe nicht in der Gemeindekirche stattfand, sagen aber nichts Näheres über den Taufraum aus. 75 Zur „Gebets-Ostung als Ausdruck der Sehnsucht nach dem Paradies“ vgl. Dölger, Sol Salutis (s.o. Anm. 64) 220-242, hier 232-234. Schon durch die Wiederaufnahme der Begründung der Orientation

295 Nennung der östlich gelegenen Pastophorien kann als gesichert angesehen werden, daß die ConstAp von einem Kirchengebäude sprechen, das eigens für diesen Zweck errichtet wurde. Durch die Pastophorien, die nun als liturgisch unentbehrlicher Bestandteil des Kirchenbaus betrachtet werden, wird auch der Vergleich dieses Baus mit einem Schiff angeregt, der bis in die Einzelheiten durchgeführt wird. Das damit entwickelte Bild stimmt zwar weder in technischer Hinsicht, noch erhalten Bischof, Presbyter und Diakone die zutreffenden seemännischen Funktionen zugewiesen76, trotzdem aber gestattet das sehr viel differenziertere Bild von der Kirche als einem Schiff wesentlich genauere Rückschlüsse als das in der Didasc verwendete von der Hürde, das in den ConstAp mühsam genug noch eingeschoben wird (ConstAp II 57,12).

Über die Inneneinrichtung des Kirchenraums der ConstAp erfahren wir zunächst etwas durch die Erwähnung des bischöflichen șȡ ȞȠȢ mit den Sitzen der Presbyter zu beiden Seiten, so wie es auch schon in der Didasc der Fall gewesen war. Neu hingegen ist die Erwähnung einer „Erhöhung“ (IJ

ȥȘȜ Ȟ) in II 57,5, von der aus der Lek-

tor die Schriftlesung hält. Dieses Bema hat seinen Platz in der Mitte des Raumes, während der Bischof als țȣȕİȡȞ IJȘȢ des „Kirchenschiffes“ seine Predigt wohl doch von der Kathedra aus hält. Von einem Altar wird auch hier merkwürdigerweise nichts gesagt, obwohl seine Erwähnung z.B. in II 57,15, wo die Beschreibung der Eucharistiefeier einsetzt, eigentlich kaum zu vermeiden war. Dafür wird aber an anderen Stellen das șȣıȚĮıIJ ȡȚȠȞ in so eindeutiger Weise genannt, daß die Existenz eines (Tisch?-)Altars für die ConstAp als selbstverständlich betrachtet werden muß77.

Das Kirchengebäude der ConstAp ist die „klassische Bischofskirche“, das „den Geist jenes altkatholischen Episkopats (atmet), der das Schiff der Kirche, bevor es in den gesicherten Port des sog. konstantinischen Friedens gelangte, durch die Stürme der

mit Ps 68(67),34 dürfte übrigens sichergestellt sein, daß die ConstAp die gleichen Verhältnisse wie Didasc voraussetzt. 76 Vgl. Andresen, Kirchen (s.o. Anm. 16) 253f. 77 Vgl. auch noch A.M. Schneider, Liturgie und Kirchenbau in Syrien, NGWG.PH 1949/3, Göttingen 1949, 45-68, dessen Theorien über den Altar und das „Westbema“ hier nicht im einzelnen diskutiert werden können.

296 Zeit lenken mußte“, wie Carl Andresen bemerkte78. Tatsächlich kündigte sich damit „bereits in der vorkonstantinischen Zeit – zumindest in der Baugesinnung – der basilikale Longitudinalbau der konstantinischen Periode“79 an.

5. Synagoge und Ekklesia

Mit dieser Erkenntnis sind wir an einem entscheidenden Punkt unserer Überlegungen angelangt. Die immer wieder aktuelle Weisung, den Armen im Gottesdienst nicht zu diskriminieren, gab die Möglichkeit, eine Traditionslinie zu rekonstruieren, die wohl gegen Ende des 1. Jh.s beginnt und sich bis in das späte 4. Jh., also bis in die konstantinische Epoche hinein, verfolgen läßt. Im Blick auf den Kirchenbau wird damit zugleich der Weg von der Hauskirche im strengen Sinne des Wortes (Jakobusbrief) über den Kirchensaal in einem frühchristlichen „Gemeindezentrum“ (Didasc), das noch immer die Grundformen des antiken Hauses wahrt, bis hin zu jenen Longitudinalbauten mit Pastophorien erkennbar, die den konstantinischen Basiliken unmittelbar vorausgingen bzw. regional mit diesen auch noch gleichzeitig errichtet wurden (ConstAp). Die These von der konstantinischen Basilika als dem Entwurf eines kaiserlichen Architektenbüros kann demnach nur noch mit äußerster Zurückhaltung verwandt werden. Die literarischen Quellen lassen eine Vorgeschichte der konstantinischen Basiliken sichtbar werden, die nicht allein unter formalen Gesichtspunkten, sondern vor allem unter funktionalen zu betrachten ist. Noch einmal sei Andresen zitiert: Nur die „letztlich ekklesiologisch bedingte Raumanordnung hat dem Baukonzept der Basilika mit ihrer Ausrichtung auf den Bischofsthron in der Apsis und dem Tischaltar vor ihm die kirchliche Bevorzugung gesichert“80.

Die Erkenntnis von der vorwiegend funktional-ekklesiologischen Bestimmtheit des Kirchenbaus, die das Kirchengebäude zunächst immer als „Zweckbau“ interpretiert, der die realen Bedürfnisse der jeweiligen Gemeinde widerspiegelt, gestattet nun aber auch die Frage, ob die mit Jak 2,2f aufgenommene Spur nicht gleichsam auch nach 78 Andresen, Kirchen (s.o. Anm. 16) 254. 79 Ebd. 80 Andresen, Einführung (s.o. Anm. 16) 1325. Eine prinzipiell andere Sicht hat G. Kretschmar, Liturgie und Kirchenbau in der frühen Christenheit, in: KuKi 22 (1959) 163169, hier 166, vorgetragen.

297 rückwärts zu verfolgen wäre. Hier ist an das Votum des Ambrosiaster, der ja oft mit einem judenchristlichen Verfasser in Verbindung gebracht worden ist81, zu erinnern: „Das große Synhedrion, in der Synagoge fortlebend und in die Kirche übergegangen, hat es zur Einrichtung gemacht, daß in allen Versammlungen, in denen man von Religion handelt, die Leute sitzen sollen, die an Würde Vornehmeren auf Stühlen, die nach ihnen kommen auf Bänken, der Rest der Versammlung auf Matten, die auf der Erde ausgebreitet sind.“82 Klarer kann die Entwicklungslinie von der Synagoge zur Ekklesia wohl kaum beschrieben werden.

Die frühchristliche Gemeinde übernahm aus dem Judentum, aus dem sie hervorgegangen war, nicht nur zunächst die Bezeichnung ihrer gottesdienstlichen Versammlungsstätte, sondern vor allem auch die grundlegenden Strukturprinzipien für die Raumgestaltung83. Nicht nur der Gedanke der kultischen Orientation ist hier zu nennen84, sondern auch die Vorliebe für basilikale Raumgestaltungen85, die dem Vollzug eines auf „Wort“ und Mahl konzentrierten Gottesdienstes am besten entsprachen. 81 A. Stuiber, Art. Ambrosiaster, TRE 2, 356-362, meint über den Verfasser: „Er ist vom Heidentum zur Kirche gekommen, war also kein ehemaliger Jude“ (357), hebt dann aber auch die bemerkenswerten Kenntnisse jüdischen Lebens hervor, die der Ambrosiaster immer wieder zu erkennen gibt (vgl. 359). 82 Ambrosiaster Ep 1 Kor 12,1f (PL 17,258). 83 Diese vorsichtige Ausdrucksweise empfiehlt sich angesichts der vielfältigen Probleme, die die fortlaufende Erforschung der palästinischen Synagogen immer neu produziert. Ein verläßliches Gesamtbild der Entwicklung ist also noch keineswegs gewonnen, vgl. z.B. A. Hiram, Die Entwicklung der antiken Synagogen und altchristlichen Kirchenbauten im Heiligen Lande, Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 19 (1962) 7-63; S.J. Saller, Second Revised Catalogue of the Ancient Synagogues of the Holy Land, PSBF. Collectio minor 6, Jerusalem 1972; Hüttenmeister, Synagogen (s.o. Anm. 49). – Wie schwierig eine rein formale Betrachtungsweise werden kann, läßt sich etwa an Brenk, Grundrisstypen (s.o. Anm. 49), illustrieren, wo z.B. bei der Frage, ob die Synagogen des Herodeion und in Masada eine „longitudinale Ausrichtung“ hatten, das Problem der Plazierung des Toraschreins überhaupt nicht zur Sprache kommt! 84 Die schwierigen Probleme, die die Orientation der spätantiken Synagogen kennzeichnen, können hier nicht im einzelnen verfolgt werden. Schon Rost, Bemerkungen (s.o. Anm. 32) 59-62, hat die damit verbundenen Schwierigkeiten der Interpretation gesehen und ausführlich behandelt. Sie müßten jetzt selbstverständlich auf der Grundlage einer viel weitgehenderen Denkmälerkenntnis neu diskutiert werden. 85 Der Begriff der „basilikalen Raumgestaltung“ verdiente eine eingehendere Behandlung. Grundsätzlich sollen damit alle Bauformen zusammengefaßt werden, die durch eingestellte Säulen, (Schein)Emporeneinbauten oder auch apsidiale Nischen den optischen Eindruck einer Basilika anstreben. Da in vielen Fällen nur der Grundriß zuverlässig überliefert worden ist, wird man sich bei der Entscheidung, ob es sich um einen „basilikalen“ Bau oder tatsächlich eine Basilika, wenn auch u.U. im „Kleinformat“, handelt, sehr vorsichtig zu verhalten haben. Weitgehend ungeklärt ist auch noch die Frage, aus welchen Gründen basilikale Lösungen oft auch unter engsten Verhältnissen im Judentum, in den Mysterienreligionen und dann auch im Christentum so beliebt waren. Zumindest Judentum und Christentum mußten der Basilika als Ausdruck heidnischer Herrschermacht eigentlich prinzipiell kritisch gegenüberstehen.

298 Schon in der großen Synagoge von Alexandrien, die eine regelrechte Basilika war, finden sich die 71 Presbytersitze im Gegenüber zur Gemeinde86. Die an den Wänden angebrachten Sitzbänke, aber auch bestimmte Ehrenplätze und die Sitze der Presbyter sind literarisch und archäologisch für die frühen Synagogen gut bezeugt87. Schwieriger stellt sich das Problem des Bema dar, das wahrscheinlich lange Zeit als hölzernes Gerüst ausgeführt wurde88. Welche Querverbindungen aber auch hier bestanden haben dürften, läßt sich mit der Bezeichnung des synagogalen Podestes im pamphylischen Side erhellen, das

ȝȕȦȞ genannt wird und damit eine Bezeichnung

trägt, die sonst nur für den entsprechenden Aufbau in der christlichen Kirche verwendet wird. Gewissermaßen in Parallele dazu wäre dann die Benennung des „Ambons“ in der christlichen Kirche als ȕ ȝĮ IJ Ȟ

ȖȞ ıIJȠȞ zu sehen89.

Schließlich ist auch bereits von der Synagoge das System einer Binnengliederung der gottesdienstlichen Gemeinde entwickelt worden, wobei wir nicht nur auf das Zeugnis des Ambrosiaster angewiesen bleiben. In bSuk 51b findet sich eine ausführliche Schilderung des Diastolon in Alexandria: „R. Jehuda sagte: Wer die Doppelsäulenhalle von Alexandria in Ägypten nicht gesehen hat, der hat die Herrlichkeit Israels nicht gesehen ... [Die Gemeindeglieder] saßen nicht vermischt, sondern Goldarbeiter unter sich, Silberarbeiter unter sich und gewöhnliche Weber unter sich. Und wenn ein Armer

86 Vgl. bSuk 51b: „Sie sagten, sie (= die Doppelsäulenhalle von Alexandria) sei von der Art einer großen Basilika gewesen, eine Säulenhalle in der anderen Säulenhalle ... Darin waren 71 Lehnstühle von Gold, entsprechend den 71 des Großen Synhedriums; jeder einzelne bestand aus nicht weniger als 21 Myriaden Goldbarren.“ Der legendenhaft überhöhte Bericht über die Große Synagoge von Alexandrien findet sich auch mit geringen Varianten tSuk 4,6 (Lieberman 273) und ySuk 5,2 (55b). Eine übersichtliche Zusammenstellung der Varianten lieferte S. Krauss, Synagogale Altertümer, Berlin u.a. 1922 (Nachdr. Hildesheim 1966), 261-265. 87 Vgl. K. Hruby, Die Synagoge. Geschichtliche Entwicklung einer Institution, SJK 3, Zürich 1971, 44. Ergänzend ist noch auf die steinernen Wandbänke in den Synagogen von Masada und im Herodeion hinzuweisen, die dem 1. Jh. angehören. Über die Sitzplätze der Presbyter liegen nur wenige Nachrichten vor. Im spanischen Elche hatten die Presbyter ihren Platz im östlichen Teil des Raumes mit dem Gesicht nach Süden, so daß der Toraschrein seitlich von ihnen stand (vgl. CIJ 11663). Die Anordnung der Presbyterstühle im Halbkreis deutet eine Mosaikinschrift aus Side an (vgl. CU 11781. Zur Deutung der Inschrift vgl. Kohl/Watzinger, Synagogen [s.o. Anm. 461 141). Eine weitere Inschrift aus Smyrna läßt darauf schließen, daß der Raum, in dem die Presbyter saßen, durch hölzerne, später durch steinerne Schranken vom übrigen Raum abgetrennt war (vgl. CIJ II 739). Eine andere Deutung gibt Krauss, Altertümer (s.o. Anm. 83) 3500. Zu den Ehrensitzen in der Synagoge vgl. noch I. Elbogen, Der 3 jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, Frankfurt/M. 1924, 475 und 575 (Belege). 88 Vgl. Krauss, Altertümer [s.o. Anm. 831 384f; Elbogen, Gottesdienst (s.o. Anm. 84) 474f, Schrage, Art. ıȣȞĮȖȦȖ , ThWNT 7, 818f mit Anm. 128f, und Hruby, Synagoge (s.o. Anm. 84) 411. 89 Vgl. CIJ II 781, A.M. Schneider, Art. Ambon, RAC 1, 363-365.

299 dort eintrat, erkannte er, die seinem Handwerk angehörten, und wandte sich dorthin. Und von dort bekam er seinen Unterhalt und den Unterhalt seiner Familienangehörigen.“

Das, was der Verfasser des Jakobusbriefes seiner in der „Synagoge“ versammelten „Ekklesia“ und die späteren Kirchenordnungen dem Bischof und dem Diakon eigens einschärfen mußten, war in der synagogalen Gemeinde von Alexandrien, dem Inbegriff der „Herrlichkeit Israels“, längst selbstverständliche Regelung: die Fürsorge für die Armen.

Damit schließt sich eine Beweiskette, die es ermöglichen mag, die teilweise beträchtlichen Unsicherheiten, die sich bei der Deutung der archäologischen Überlieferung immer wieder ergeben, abzubauen. Eine wirklich selbständige Entwicklung des frühchristlichen Kirchenbaus begann erst mit der Ausbildung des monarchischen Episkopats und der Verselbständigung der Eucharistiefeier90. Damit wuchsen dem frühchristlichen Kirchengebäude Funktionen zu, durch die die endgültige Trennung von „Synagoge“ und „Ekklesia“ auch architektonisch besiegelt wurde.

90 Zur Entwicklung der Eucharistie vgl. die detailreiche Zusammenfassung der weitverzweigten Spezialforschung bei G. Kretschmar, Art. Abendmahlsfeier I, TRE 1, 229278. In Abschnitt 5.1 „Liturgie und Kirchenbau“ seines Artikels (269f) betont Kretschmar als Differenz zwischen Synagoge und Hauskirche die Tatsache, „daß zum christlichen Gottesdienst von Anfang an eben nicht nur die eine, sondern verschiedene Kultformen gehörten, neben dem Wortgottesdienst auch Taufe und Abendmahl“ (269). Dieser Hinweis bleibt hilfreich, solange er nicht das Mißverständnis fördert, bei der antiken Synagoge habe es sich um einen monofunktionalen Baukörper gehandelt. Das würde an den tatsächlichen Verhältnissen, über die wir seit den Forschungen von Samuel Krauss bis ins Detail hinein informiert sind, nicht gerecht werden. Auch Kretschmar datiert den „Ausbau der Abendmahlsfeier in der Messe zum zentralen Gottesdienst“ (270) in das 4. Jh. Erst die „öffentliche (...) Anerkennung der Kirche“ (270) ermöglichte zu dieser Zeit eine Gestaltung des Kirchengebäudes, in der das sich wandelnde Eucharistieverständnis architektonischen Ausdruck finden konnte. Die Entwicklung in den Jahrhunderten davor wird in theologischer Hinsicht durch die überlieferten liturgischen Formulare faßbar. Diese geben jedoch für den praktischen Vollzug der Eucharistiefeier nur wenige Hinweise, die zudem zumeist regionaler Art sind. Ohnehin ist aber anzunehmen, daß die Eucharistiefeiern der vorkonstantinischen Ära von so schlichter Art waren, daß durch sie weder das kirchliche Inventar noch der Kirchenbau insgesamt geformt wurden. Erst „mit dem Festwerden der Liturgie entstehen auch verbindliche Formen des Kirchenbaus, sie entsprechen ... der Entwicklung, daß die Eucharistie kein Mahl mehr ist, sondern der von Gott gewährte und ihm geschuldete Gottesdienst in der Anamnese des Opfers Christi“ (270).

301 Probleme der mittelalterlichen Hagada-Illustration (1981)

Die Erforschung der mittelalterlichen Haggadot und ihres Bildschmucks beginnt in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts1. Aber auch dann wurden Fortschritte nur sehr langsam erzielt und waren u.a. stark von innerjüdischen Entwicklungen abhängig. So bemerkt Moché Catane wohl zutreffend: „C'est seulement au cours des dernières dècennies, sous l’nfluence du mouvement de réhabilitation de l'art juif lancé par Boris Schatz (1862-1932) et par suite du développement de toutes les sciences juives à l'Université hébraique de Jérusalem, puis dans les autres universités israéliennes et dans celles qui leur ont emboîté le pas dans le monde entier, et notamment aux Ơtats-Unis, que se sont révélés de véritables historiens de l’art consacrant leurs efforts aux manifestations propres du gènie juif.“2

So mag es denn auch nicht weiter verwundern, daß die entscheidenden und wirklich vorwärtsweisenden Leistungen nach mancherlei wichtigen Vorarbeiten erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und nach der jüdischen Katastrophe der „Endlösung“ möglich wurden. Endlich wurden die wichtigsten Haggadot, die Miniaturenschmuck aufweisen, in zumeist trefflichen Faksimileausgaben allgemein zugänglich gemacht. Parallel dazu entstand eine Sekundärliteratur, in der methodisch immer sicherer die vielfältigen Probleme dieses Kunstzweiges erörtert werden. Allerdings hat die Verhandlung einer solch diffizilen Materie im Rahmen von Zeitschriftenaufsätzen an teilweise entlegenem Ort auch zur Folge, daß die Diskussion selbst für die Beteiligten kaum noch überschaubar ist. Joseph Gutmanns Versuch, diese Diskussion durch die Herausgabe von Sammelbänden, in denen die wichtigsten Arbeiten zusammengefaßt wurden3, neu zu konzentrieren, muß trotz der hilfreichen Vorworte des Herausgebers insofern Stückwerk bleiben, als hier zwar Meinungen ausgetauscht und vergleichbar gemacht werden, nicht aber zugleich auch das behandelte Material zur Nachprüfung durch den Leser ausgebreitet werden kann. 1

Einen auch heute noch unverzichtbaren und damals einfach eine neue Forschungsrichtung eröffnenden Beitrag lieferten D. H. Müller - D. Kaufmann, Die Haggadah von Sarajevo, 2 Bde., Wien 1898. Zur Forschungsgeschichte vgl. J. Gutmann, The Illuminates Medieval Passover Haggadah: Investigations and Research Problems, in: Studies in Bibliography and Booklore 7, 1965, S. 3-25 mit Bibliographie S. 20ff. - Es sei gleich an dieser Stelle bemerkt, daß der zur Verfügung gestellte Raum dazu zwingt, bibliographische Nachweise auf das strikteste einzuschränken. 2 Bibliothéque de l'école des Chartes CXXXV, 1977, S. 156. 3 Vgl. vor allem J. Gutmann (Ed.), No Graven Images: Studies in Art and the Hebrew Bible, New York 1971, aber auch: ders., The Dura-Europos Synagogue: A Re-Evaluation (1932-1972), Missoula, Mont. 1973, und ders., The Synagogue: Studies in Origins, Archeology and Architecture, New York 1975.

302 Diesem Mangel wurde zumindest für das wichtigste Teilgebiet mittelalterlich-jüdischer Kunst, die Illustration der Passa-Haggada, durch eine voluminöse, leider bis heute noch nicht abgeschlossen vorliegende Untersuchung abgeholfen, die Materialsammlung, kritisches Referat der einschlägigen Sekundärliteratur und eigene Stellungnahme des Autors in weithin überzeugender Weise vereint:

Mendel Metzger: La Haggada enluminée I, Étude Iconographique et Stilistique des Manuscrits Enluminés et Decorés de la Haggada du XIIIe au XVIe siècle. Préface par R. Crozet. Leiden: Brill 1973. XXX, 518 S., 481 Abb. auf 83 Taf. 40 = Études sur le Judaisme Médiéval, dir. par G. Vajda, II.

Es ist nicht die Absicht dieser Betrachtungen, Mendel Metzgers Arbeit vorzustellen und zu rezensieren4. Vielmehr soll versucht werden, auf der Grundlage von Metzgers Untersuchung und der sich daran anknüpfenden internationalen Diskussion5 einige wenige wichtige Probleme der mittelalterlichen jüdischen Buchmalerei herauszugreifen und zu verdeutlichen. Es versteht sich von selbst, daß dadurch das höchst komplizierte Phänomen mittelalterlicher jüdischer Buchmalerei keineswegs ausreichend gewürdigt wird.

1. In seiner „Buchmalerei in hebräischen Handschriften“ berichtet J. Gutmann: „Als Olaus Gerhard Tychsen, ein christlicher Hebraist und Orientalist des 18. Jahrhunderts, den Buchschmuck in hebräischen Handschriften entdeckte und sich voller Wißbegier an einige jüdische Gelehrte seiner Zeit wandte, um Näheres darüber zu erfahren, wurde er tatsächlich streng getadelt, weil er nicht wußte, daß der mosaische Glaube die Ausmalung hebräischer Handschriften nicht gestattete."6 Diese Geschichte ist symptomatisch und wäre u.U. auch heute noch möglich. Zu tief hat sich durch Jahrhunderte bei Juden und Nichtjuden die Überzeugung eingefressen, daß das Bilderverbot des Alten Testaments (Ex. 20,4a) allgemeine Geltung besessen habe und stets beachtet worden sei. Selbst heute noch, über vierzig Jahre nach der Entdeckung der Synagoge von Dura Europos,

4

Das habe ich für meinen Teil in der Theologischen Literaturzeitung 101, 1976, Sp. 781-784, zu tun versucht. Ich habe Herrn Dr. Metzger-Straßburg sehr für seine kollegiale Bereitschaft zu danken, mit der er mir die Fülle der Rezensionen seiner Arbeit zugänglich gemacht hat. 6 J. Gutmann, Buchmalerei in hebräischen Handschriften, München 1978, S. 7. 5

303 sind Versuche festzustellen, die Existenz einer eigenständigen jüdischen Kunst zu leugnen7. Nun hat uns aber nicht nur Dura Europos mit seiner reichen figürlichen Malerei nachdrücklich darüber belehrt, daß dem Judentum die bildende Kunst keineswegs generell fremd war, auch die spätantiken Synagogen Palästinas und der Diaspora lassen hier keinen ernstzunehmenden Zweifel mehr zu. Der Befund ist ganz eindeutig und wird zudem auch durch die sehr bewußt differenzierenden Sentenzen der rabbinischen Autoritäten bestätigt, die in letzter Zeit mehrfach gründlich analysiert wurden8. Allerdings bleibt zu beachten, daß es neben dieser „toleranten“ jüdischen Haltung gegenüber dem Phänomen des Bildes, die es zumindest als „Biblia pauperum“ - wenn dieser mittelalterliche.Terminus hier angewendet werden darf - gelten ließ, gleichzeitig auch konsequent bilderfeindliche Richtungen vor allem im palästinensischen Judentum gegeben hat. Ja, es muß damit gerechnet werden, daß sich solche ikonoklastischen Strömungen schließlich im 7. Jahrhundert mehr oder weniger endgültig und allgemein durchsetzten und damit das jüdische Kunstschaffen spätantiker Provenienz unterging. Inwieweit es danach in der christlichen Buchmalerei oder Mosaikkunst fortlebte, ist bis heute einigermaßen umstritten, auch wenn immer mehr Anzeichen dafür ausgemacht werden können, daß es hier teilweise recht direkte Ein- und Nachwirkungen gegeben hat. Aber das sind Prozesse, die den Bereich des Judentums nicht mehr betrafen oder gar beeinflußten. Im Judentum bricht die Tradition offensichtlich ab, und es erhebt sich die Frage, inwieweit die jetzt wenigstens im Überblick faßbare mittelalterliche jüdische Buchmalerei in der Lage war, diese Traditionslücke von mehreren hundert Jahren zu schließen.

2. Das hier angezeigte Problem stellt sich angesichts der spätestens im 14. Jahrhundert einsetzenden Beispiele ausgemalter Haggadot als äußerst kompliziert dar. Fest steht, daß bisher keine Belege dafür vorgewiesen werden können, wie die erwähnte Lücke in der Tradition jüdischen Kunstschaffens geschlossen werden

7

Vgl. z.B. H. Strauss, Die Kunst der Juden im Wandel der Zeit und Umwelt. Das Judenproblem im Spiegel der Kunst, Tübingen 1972; dazu: P. Maser, Irrwege ikonologischer Deutung? - Zur Diskussion um die spätantikjüdische Kunst, in: Rivista di archeologia cristiana 56, Rom 1980, S. 331-367. 8 Vgl. etwa K. Schubert, Das Problem der Entstehung einer jüdischen Kunst im Lichte der literarischen Quellen des Judentums, in: Kairos 16, 1974, S. 1-13. Zu einem interessanten Sonderfall vgl. P. Maser, Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien und das spätantike rabbinische Judentum, in: WZ Halle, XXII, 1973, Reihe G, S. 65-70.

304 könnte. Gab es vielleicht doch eine „private“ jüdische Buchmalerei in jener Zwischenzeit, die uns völlig unbekannt blieb? Für eine solche Vermutung sprächen die immer wieder zu belegenden ikonographischen Details in der christlichen Buchmalerei, die nur aus jüdischem Gedankengut und jüdischer Ikonographie erklärt werden können. Allerdings läßt sich kaum vermuten, auf welche Weise solche Einflußnahme praktiziert worden sein sollte. Die naheliegendste Annahme, daß es jüdische Skriptorien mit angeschlossenen Malerwerkstätten gab, in denen nach „Musterbüchern“ gearbeitet wurde, deren sich auch christliche Künstler bedienen konnten, wenn es um die Ausgestaltung alttestamentlicher Szenen ging, ist historisch kaum zu konkretisieren. Das würde ja nicht nur verhältnismäßig intakte christlich-jüdische Beziehungen voraussetzen, sondern auch die Behauptung involvieren, die christliche Buchmalerei als ein „Tun der Kirche“ sei nicht der allumfassenden dogmatisch-ideologischen Kontrolle der kirchlichen Instanzen unterworfen gewesen. Das aber ist unvorstellbar! Es wäre also im Blick auf die jüdischen Reminiszenzen innerhalb der christlichen Kunst immer noch am wahrscheinlichsten anzunehmen, hier habe sich die Zählebigkeit ikonographischer Traditionen bewährt, die gerade dann ungefährdet sind, wenn sie nicht nur altehrwürdig sind, sondern zunehmend auch unverstanden weitergegeben werden. Das wurde allerdings auch bedeuten, daß diese Spuren jüdischer Ikonographie in der christlichen Buchmalerei für die innerjüdische Entwicklung belanglos waren und heute als Beweismittel in dieser Sache unzulässig sind.

3. Wie können dann aber die ikonographischen Details innerhalb der Illustration biblischer Szenen in den Haggadot erklärt werden, die sehr direkt auf spätantike jüdische Vorlagen hinzuweisen scheinen? Der Text der Haggada in seiner endgültigen Redaktion wurde erst im 8. Jahrhundert fixiert, zu einer Zeit also, aus der uns von einer jüdischen Illustrationskunst nichts mehr bekannt ist. Die bildliche Ausschmückung der Haggada setzt, soweit für uns erkennbar, erst im 14. Jahrhundert ein und weist sogleich jene problematischen spätantik-jüdischen Reminiszenzen auf, deren Tradierung so im Verborgenen liegt.

305 Mendel Metzger hat diese Frage sorgfältig untersucht und beantwortet sie mit Blick auf die biblischen Szenen der Haggada zunächst dahin gehend, daß die alttestamentlichen Illustrationen zusammen mit denen, die das Ritual des Seder darstellen, für die Haggada neugeschaffen wurden9. Später dann, im Zusammenhang seiner Untersuchung der alttestamentlichen Miniaturen, neigt er jedoch der Auffassung zu, es müsse wohl doch eine spätantike jüdische Ikonographie fortbestanden haben, wenn diese auch für die Haggadot, ihre Vorlagen und ihre Datierung, nicht als beweiskräftig herangezogen werden dürfte10. Schließlich und endlich gibt Metzger aber diesen Argumentationszusammenhang ganz auf und verweist auf die gemeinsame Textgrundlage als Erklärung für die beobachteten ikonographischen Parallelen11. Diese Überlegung hat etwas unmittelbar Überzeugendes für sich, sind doch die Texte des Alten Testaments und der daran anschließenden jüdischen Literatur aus talmudischer Zeit das Kontinuum jüdischer Geschichte schlechthin. In allen Wandlungen jüdischer Existenz und durch alle Katastrophen hindurch sind es die Schriften des Alten Testaments und der fromm-gelehrten Tradition, durch die das Judentum seine Identität zu wahren und sein Schicksal zu verarbeiten mag. Ein Judentum ohne diese Überlieferung als existenzformende Kraft ist schwer vorstellbar! Der besondere Charakter jener „Literatur“, deren unmittelbare Einwirkung auf die spätantike jüdische Kunst durch immer differenziertere Untersuchungen stets neu bestätigt wird, läßt es sehr wohl glaubhaft erscheinen, daß in einer Situation, in der bestimmte jüdische Kreise zur Illustrierung des liturgischen Buches für jenes Fest schritten, das für das jüdische Selbstverständnis konstitutiv wie kein anderes ist, nun auch den ganzen Reichtum der schriftlichen Tradition neu heranzogen, um die Aussagekraft der bildlichen Darstellung so weit als möglich zu steigern. Die infragekommenden Texte boten sich hierfür geradezu an, konnte doch E. L. Dietrich einmal formulieren: „Die Haggada mit ihrer Buntheit ersetzt der jüdischen Religion gleichsam die in ihrem Kult zurückgedrängte bildende Kunst.“12

Gegen solche Vermutung sind nun allerdings von Seiten der Kunsthistoriker schwere Bedenken angemeldet worden. Am deutlichsten dekretiert O. Pächt: „Die Möglichkeit 9

Vgl. M. Metzger, op. cit., S. 258. M. Metzger, ibid., S. 333. Vgl. M. Metzger, ibid. 12 3 E.L. Dietrich, Art.: Haggada, in: RGG III, Sp. 23. 10 11

306 einer zweimaligen, voneinander unabhängigen Entstehung des Motivs aus derselben literarischen Quelle kommt ... nicht in Betracht.“13 Auch J. Gutmann möchte auf die Annahme verlorengegangener Bildvorlagen spätantiker Provenienz nicht verzichten und hält das Postulat lediglich einer gemeinsamen Textgrundlage für nicht ausreichend14. Diese Einsprüche waren durchaus leicht von der Hand zu weisen - sind sie doch zunächst nichts anderes als Vermutungen über die Art und Weise der Textauswertung durch den bildenden Künstler und eine bis heute nicht vorweisbare jüdische Kunst in der Epoche zwischen Spätantike und hohem Mittelalter - ließe sich nicht an den biblischen Haggadot-Illustrationen eine Beobachtung machen, die die unmittelbare Textbindung dieser Bilder infragestellen würde. In dem Kapitel „Répertoire iconographique de la Bible dans la Haggada“15 weist Metzger nach, daß die Folge der biblischen Bilder erheblich über die im Text der Haggada integrierten alttestamentlichen Perikopen hinausreicht und erklärt diesen Tatbestand so: „Et justement l'image étant ainsi isolée du texte, le caractère fragmentaire du récit biblique pouvait paraître choquant. Sans le recours au texte qui aurait justifié leur caractère plus ou moins dispersé, les images, livrées à elles-mêmes, ne pouvaient pas offrir une suite assez explite. D’où la tentation de combler les vides. Et ainsi s’expliquerait aussi que ceux-ci soient plus ou moins comblés.“16 Es mag dahinstehen, ob das Bedürfnis nach Auffüllung der liturgischen Perikopen der Passa-Nacht mittels eines erweiterten Bilderzyklus wirklich so dringend gewesen ist, wie Metzger vermutet. Wichtiger ist die Überlegung, woher die Künstler, die die Haggadot und deren Überlieferung zu illustrieren hatten, die ikonographischen Details der über diese Textzusammenstellung hinausgreifenden Bilder nahmen. Der Text der Haggada kommt hier nicht in Betracht; eine Neuschöpfung auf der Grundlage der literarischen Tradition außerhalb der Haggada aber stößt in diesem besonderen Fall auf kaum zu lösende Schwierigkeiten. Dann liegt es schon näher anzunehmen, daß den Illustratoren regelrechte Bildzyklen mit alttestamentlicher Thematik geläufig waren, die sie mehr oder weniger geschlossen übernahmen. Man sehe sich nur einmal den dem Text der Haggada von Sarajewo

13

O. Pächt, Ephraim-Illustration, Haggada und Wiener Genesis, in: FS Karl M. Swoboda, Wien 1959, S. 213221, bes. S. 215. 14 Vgl. J. Gutmann, The Jewish Origin of the Ashburnham Pentateuch Miniatures, in: Jewish Quarterly Review 44, 1953, S. 55-72, bes. S. 66f, und ders., Passover Haggadah, S. 17f und S. 24 Anm. 41 (Lit.). 15 M. Metzger, op. cit., S. 234ff. 16 M. Metzger, ibid., S. 257.

307 vorangestellten großen Bildzyklus genauer an, der ganz offensichtlich ohne jeden direkten Textbezug in die Handschrift integriert wurde.

Daß wir über solche Bildzyklen eigentlich nichts wissen, mag auf Leser, die in den Bahnen üblicher europäischer Kunstgeschichtsforschung zu argumentieren gelernt haben, geradezu abschreckend wirken. Für denjenigen, der die Geschichte der Erforschung der frühen jüdischen Kunst verfolgt hat, ist seit der Entdeckung der Synagoge von Dura Europos allerdings jede Überraschung denkbar geworden. Und solche Erfahrung ist es denn auch, die die Hypothese von „Vorlagen“ für die mittelalterliche Haggada-Illustration mit allen Vorbehalten annehmbar erscheinen läßt.

4. Das besagt nun allerdings nicht, daß mit sicheren Belegen angegeben werden könnte, woher diese Vorlagen stammten und in welcher Weise sie die mittelalterliche Haggada-Illustration beeinflußten. Wie kompliziert diese Problematik sich bei genauerer Betrachtung darstellt, sei an nur drei Beispielen dargestellt:

a) In der Synagoge von Dura Europos, deren Fresken etwa um 250 n. Chr. entstanden, wird die Szene von der Auffindung des Moseknaben im Nil durch die Tochter des Pharao abgebildet. Nach. Ex. 2,1 erblickt die Prinzessin das Kind in dem Schilfkorb vom Ufer aus und schickt eine Dienerin, die es aus dem Fluß bergen soll. In Dura Europos aber ist es die „Pharaonentochter“ selbst, die in das Wasser hinabgestiegen ist und das Kind im Arm hält, während die Dienerinnen vollständig bekleidet am Ufer stehen. Diese Abweichung von der Schilderung des ExodusTextes erklärt sich aus der rabbinischen Legende, in der erzählt wird, die Prinzessin sei in das Wasser hinabgestiegen, um sich vom „Götzenschmutz ihres Vaterhauses“ zu reinigen (b Sota 12b). Nach anderer Auffassung war die Pharaonentochter von Gott mit Aussatz gestraft worden, sah den Schilfkorb im Wasser, berührte diesen und war augenblicklich auf wunderbare Weise genesen. Solche legendarische Ausdeutung der alttestamentlichen Erzählung muß auch die Illustration der Bibel von Pamplona, die 1197 geschaffen wurde, beeinflußt haben, denn dort steht die Königstochter mit ihren Dienerinnen in den Wellen des Flusses und hält das Kästchen mit dem Knaben in die Höhe. In der Goldenen Haggada (London, British

308 Library, Ms. Add. 27210, fol. 9r), die zwischen 1320 und 1330 in Katalonien geschaffen wurde, aber auch in der Kaufmann-Haggada (Budapest, Kaufmann-Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, MS 422, pag. 10), die einige Jahre später in Spanien entstand, wird der Vorgang in der Art gezeigt, daß die Prinzessin mit ihren Begleiterinnen im Wasser steht und das Kind seiner Schwester Mirjam übergibt. Der ikonographische Zusammenhang zwischen den genannten Darstellungen von Dura Europos - Bibel von Pamplona -Goldener Haggada und Kaufmann-Haggada ist nicht zu verkennen. Allen Bildern gemeinsam ist der nicht im Alten Testament überlieferte, wohl aber in der jüdischen Legende bekannte Zug der im Nil badenden Prinzessin, die das Mosekind selbst aufnimmt. Allerdings darf diese Übereinstimmung im ikonographischen Detail nun nicht gleich zur Behauptung unmittelbarer Abhängigkeit verleiten. Versucht man das Verhältnis zum grundlegenden Text als dem durchgängigen Kontinuum der Entwicklung zu beschreiben, so wird man annehmen dürfen, daß das Fresko von Dura Europos in direkter Auswertung der rabbinischen Legende geschaffen wurde. Vermutlich ging diese jüdische Ausprägung dann ziemlich unverstanden in das Repertoire christlicher Kunst über, wobei sich dann jede Beziehung zum Text der Legende verlor. Als das sefardische Judentum des 14. Jahrhunderts an die Illustration der Haggada ging, mußte es ganz zwangsläufig auf die christliche Bibelillustration vom Typ der Bibel aus Pamplona stoßen und in ihr gewissermaßen ein Stück religiösen „Eigentums“ wiederentdecken, um es sich sogleich durch Aufnahme in den Zyklus der biblischen Bilder der Haggada wieder anzueignen. Man wird sich jedoch diesen Vorgang von „Wiedererkennen“ und „Wiederaneignung“ nicht zu dramatisch vorstellen dürfen; ja, es ist fraglich, ob er überhaupt schon bei den Miniaturisten einsetzte. In der Goldenen Haggada wird das Geschehen durch Worte aus Ex. 2,4 und 5 gedeutet, und der Maler scheint (noch) nicht bemerkt zu haben, daß zumindest das Zitat „Ihre Jungfrauen gingen an dem Rande des Wassers“ einfach nicht zu dem von ihm übernommenen Bildtyp, nach dem ja auch die Dienerinnen im Wasser stehen, paßt.

b) Konnte das soeben besprochene Beispiel zeigen, wie ein durch einen literarischen Text angeregter „Urtyp“, nämlich das Fresko von Dura Europos, in der christlichen Tradition „fortgepflanzt“ wird, um dann etwa um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert wieder im Judentum Wurzeln zu schlagen, so soll jetzt ein Exempel vorgeführt werden, für das ein jüdischer Bildtyp, den man als „Urtyp“ bezeichnen dürfte, nicht vorgewiesen

309 werden kann. Es geht um die Darstellung Abrahams im Feuer, in welches er geworfen wurde, als er den Götzendienst seines Vaters Tharah ablehnte. Auf Befehl König Nimrods wird der „Bilderstürmer“ zum Tod im Feuer der Chaldäer verurteilt, aus dem er auf wunderbare Weise gerettet wird17. Diese vielfach überlieferte jüdische Legende18, deren ikonoklastische Tendenz nicht zu verkennen ist, hat sich auch im christlichen19 und im islamischen20 Bereich verbreitet und typische Ausprägungen erfahren. Aus allen drei Bereichen existieren nun auch bildliche Darstellungen, von denen zumindest einige hier erwähnt seien21. Eine Version des Speculum Humanae Salvationis, in Süddeutschland entstanden um 1330, zeigt z.B. den Erzvater inmitten der hochzüngelnden Flammen, der von Gott, der in Halbfigur in einem Himmelssegment voller Sterne sichtbar wird, an den Händen aus dem Feuer gezogen wird. Ganz anders stellt diese Szene eine persische Handschrift des Jami’ al-Tawarikh' (Edinburgh University Library, Arab. Ms. 20, fol. 3v) - eine Sammlung von Chroniken, die 1307 in Täbris entstand - dar: Nimrod mit seinen Ratgebern steht neben einer Wurfmaschine, mit der nach islamischer Überlieferung Abraham in das Feuer geschleudert wurde. Das Feuer erlosch jedoch dank göttlicher Einwirkung, und Abraham sitzt neben einer Quelle, die ein ganzes Blumenbeet aufblühen läßt. In den Haggadot hat M. Metzger sieben Illustrationen dieser Szene festgestellt22 während J. Gutmann schon neun Belege nennen konnte23.. Das Thema ist sowohl in aschkenasischen wie auch in sefardischen Haggadot geläufig und offensichtlich nicht einem festen ikonographischen Kanon verpflichtet. Ein besonders schönes Beispiel aschkenasischer Tradition bietet der Mahzor der Leipziger Universitätsbibliothek (MS V. 1102/11, fol. 164v) aus der Zeit um 1320: links im Bilde thront König Nimrod als Richter über Abraham, der in Begleitung Harans erschienen ist und von seinem Vater Tharah angeklagt wird. Die vor dem König hingestreckte Gestalt darf wohl auf den Kerkermeister gedeutet werden, von dem die Legende zu berichten weiß, daß er erlebte, wie Abraham

17

Vgl. hierzu durchgängig J. Gutmann, ‚Abraham in the Fire of the Chaldeans’. A Jewish Legend in Jewish, Christian and Islamic Art, in: Frühmittelalterliche Studien 7, Münster 1973, S. 342-352. Vgl. J. Gutmann, ibid., S. 344 Anm. 7. 19 Vgl. J. Gutmann, ibid., S. 344 Anm. 8. 20 Vgl. J. Gutmann, ibid., S. 344 Anm. 9. 21 Das gesamte Material hat J. Gutmann in seiner soeben zitierten Arbeit ausgebreitet und sorgfältig kommentiert. 22 Vgl. M. Metzger, op. cit., S. 236 (Katalog) und S. 262ff. (Kommentar). 23 Vgl. J. Gutmann, 'Abraham in the Fire', S. 345ff. 18

310 eine einjährige Untersuchungshaft, während derer er keinerlei Nahrung erhielt, dank göttlicher Hilfe unbeschadet überstand. Rechts im Bilde steht Abraham inmitten der Flammen und schaut gen Himmel, aus dem sich ihm die Hand Gottes rettend entgegenstreckt. - Vergleicht man die Darstellungen jüdischer, christlicher und islamischer Herkunft, so wird sofort einsichtig, daß sie zwar allesamt auf die gleiche jüdische Legende aus dem 1. Jh. n. Chr. zurückgeführt werden können. Der unmittelbare Anknüpfungspunkt für die Miniaturisten ist aber jeweils die eigene literarische Überlieferung gewesen. Diese wurde in Bilder umgesetzt, die von der Erfindungsgabe der einzelnen Künstler, ihrer religiösen und kulturellen Umwelt zeugen. Wir haben es also mit dem wohl gar nicht so seltenen Vorgang zu tun, daß ein literarisches - in unserem Falle ein exklusiv rabbinisches - Motiv in eine gänzlich andere religiöse Umwelt verpflanzt und dort integriert wird. Zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt kommt es dann aus durchaus unterschiedlichen Gründen zur Umsetzung ins Bild, die zwangsläufig, da es ja um die Gestaltung des gleichen Vorgangs geht, zu sehr ähnlichen Ergebnissen führen muß, ohne daß die Künstler in irgendeiner direkten Beziehung zueinander gestanden hätten.

c) Anhand eines dritten und letzten Beispiels sei schließlich nochmals verdeutlicht, mit welcher Vorsicht ikonographische Parallelen, die sich bei der Analyse der Haggadot-Illustration förmlich aufdrängen, behandelt werden müssen. Im Talmud b. Jom. 74b wird der Vers Deut. 26,7 „Da schrieen wir zum Herrn, dem Gott unserer Väter; und der Herr erhörte unser Schreien und sah unser Elend, unsere Angst und Not“ damit erklärt, daß Gott die Ehen der Israeliten in Ägypten unfruchtbar gemacht habe, um so dem Pharao Schaden zuzufügen. Im Text der Haggada dient dieser Vers aus dem Deuteronomium als Erklärung zu Ex. 2,25 „Er sah darein und nahm sich ihrer an." M. Metzger hat als Illustration zu diesem Text auf die Miniatur einer Haggada von 1583 (Paris, Bibliothèque Nationale, ms. hébr. 1388, fol. 10r) verwiesen, die ein junges Paar darstellt, zwischen dem ein großes Schwert mit der Spitze nach oben aufgestellt ist. Als Erklärung bemerkt der Autor dazu: „Cette épée à double tranchant est un symbole de séparation qui se laisse interpréter clairement. Il a été utilisé par exemple par Thomas, dans le célèbre épisode de Tristan et Yseult où le roi Mark surprend le couple dans la fo-

311 rêt, endormi mais separé par l’épée de Tristan.“24 Angesichts einer völlig anderen Verbildlichung der gleichen Textpassage in einer deutschen Haggada vom Ende des 15. Jahrhunderts (Darmstadt, Hessische Landes- und Hochschulbibliothek Cod. or. 28, fol. 6v)25 liegt tatsächlich der Schluß nahe, der Miniaturist der in Paris aufbewahrten Haggada habe auf das aus der ritterlichen Epik wohlbekannte Motiv des Schwertes als Zeuge der Unberührtheit eines Paares zurückgegriffen, um die haggadische Wendung „zo perishut derekh erez“ zu illustrieren. Und es ist wohl auch kaum ernsthaft zu bestreiten, daß die Anregung zu dieser bildlichen Ausgestaltung zeitgenössischen ‚Vorbildern’ verpflichtet ist. Die Frage aber, welche Überlegungen es möglich machten, daß ein solches ritterlichchristliches Motiv in die Haggada integriert werden konnte, ist damit noch nicht ausreichend geklärt. Zunächst müßte doch wohl danach Ausschau gehalten werden, ob nicht eine gleichsam ‚jüdische Interpretation’ des Motivs möglich ist. Dazu hat nun Dov Rappel in einer Rezension von Metzgers Untersuchung26 auf b. Sanh. 19b hingewiesen, wo das Verhältnis von David, Michal und Phalti (1. Sam. 25,44) bzw. Paltiel (2. Sam. 3,15) reflektiert wird. Es heißt dort: „R. Johanan erklärte: Sein eigentlicher Name ist Palti, und nur deshalb wird er Paltiél genannt, weil Gott ihn vor einer Sünde schützte [paltoél]. - Was tat er? - Er pflanzte ein Schwert zwischen sich und ihr [gemeint ist Michal, die Tochter Sauls und Frau Davids, die Saul dem Phalti gegeben hatte] auf und sprach: Wer dies tut, soll mit diesem Schwert erstochen werden.“ Hier haben wir bereits in der rabbinischen Tradition die Vorstellung vom Schwert als ‚Ehehindernis’ belegt, die zumindest insoweit bei der Haggada-Illustration im Spiel gewesen sein dürfte, als sie die den Zeitgenossen bekannte Geschichte von Tristan und Isolde jüdischem Verständnis zugänglich machte. Es ist nun nicht mehr das Paar selbst, das aus eigenem Entschluß dieses Zeichen aufrichtet, sondern Gott ist der Handelnde und das Werkzeug seines gnädigen Handelns an den Menschen.

5. Die mittelalterliche jüdische Buchmalerei, insbesondere der Bildschmuck der Haggadot, vermag auch auf den modernen Betrachter ganz „unmittelbar“ zu wirken. 24 25 26

Vgl. M. Metzger, op. cit., S. 317. Vgl. M. Metzger, ibid., S. 317 und Abb. 307 auf Taf. LIV. Vgl. D. Rappel, in: Deoth nº 46, Jerusalem 1977, S. 65-68.

312 Die prächtigen Farben und fremdartigen Sujets, die naive Erzählfreude und die minutiösen Genreszenen besitzen hohen künstlerischen Reiz. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine solche „unmittelbare“ Rezeption nicht der Intention der Künstler entspricht, die vor rund 500 Jahren diese Kunstwerke schufen. Sie verstanden sich als Handwerker, die im Auftrag ihrer jüdischen Glaubensgemeinschaft den Ritus jenes Festes zu veranschaulichen hatten, von dem es im Buch Exodus (12,15) heißt: Wer das Passa nicht hält, „des Seele soll ausgerottet werden von Israel“. Durch dieses Wort des Alten Testaments wird spürbar, um welchen hohen ‚Einsatz’ es auch für die Miniaturisten der Haggadot ging. Ihnen war es aufgegeben, mit dem Medium des Bildes eine reiche und lebenskräftige schriftliche Tradition zu begleiten, in der der Zusammenhang zwischen dem „Damals“ in Ägypten, dem „Heute“ des Gastes an der Seder-Tafel und dem eschatologischen

„nächstes

Jahr

in

Jerusalem“

und

damit

die

Kontinuität

des

heilsgeschichtlichen Handeln Jahwes an „seinem Volk“ in immer neuen Bezügen gedeutet und aktualisiert wird.

Schlesisches Judentum

315 Geschichte des schlesischen Judentums ab 1740 (1999)

I. Die Epoche Friedrichs des Großen (1740-1786) 1. Die schlesischen Juden unmittelbar vor dem Machtwechsel 2. Die Judenpolitik Friedrichs des Großen II. Das Zeitalter der Emanzipation 1. Friedrich Wilhelm II. (1786-1797) 2. Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) a) Die Städteordnung von 1808 b) Das Emanzipationsedikt von 1812 3. Emanzipation als innerjüdisches Problem 4. Jüdischer Neubeginn als Antwort auf die Emanzipation a) die Storch-Synagoge in Breslau (1829) b) Das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau (1854) III. Gemeindeausbau und Assimilierung 1. Jüdische Gemeinden und Organisationen nach 1812 in Schlesien a) Die schlesischen Synagogen b) Gemeindeorganisation c) Wohlfahrtspflege und Vereinswesen 2. Religiöses Leben IV. Schlesische Juden in Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft 1. Der jüdische Anteil an der Entwicklung der schlesischen Wirtschaft 2. Jüdische Politiker in und aus Schlesien 3. Der Beitrag schlesischer Juden zur Kultur 4. Jüdische Wissenschaftler V. Das Ende des schlesischen Judentums 1. Der Sonderfall Oberschlesien 2. Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung 3. Juden in Schlesien nach 1945

316 Das schlesische Judentum ab 17401 Die folgende Darstellung widmet sich der Geschichte des schlesischen Judentums vom Zeitpunkt des Übergangs der Provinz zu Preußen an2. Das schlesische Judentum darf Berücksichtigung in einem eigenständigen Kapitel des „Handbuchs der schlesischen Geschichte“ beanspruchen, weil von ihm ganz unzweifelhaft „viele und bedeutende Wirkungen nicht allein auf das deutsche Judentum und das Judentum überhaupt ausgegangen sind, sondern auch auf die allgemeine und die schlesische Geschichte“, wie Bernhard Brilling (1906-1987)3, der unvergessene Historiograph der schlesischen Judenheit, schrieb4. Der Versuch, rund 200 Jahre jüdischer Geschichte Schlesiens zumindest im Überblick zu erfassen, macht auf jeder Seite deutlich, wie viel wir der älteren Forschung, die jüdische Gelehrte Schlesiens leisteten, bis heute zu verdanken haben und welche Arbeit in Zukunft noch zu leisten sein wird. I. Die Epoche Friedrichs des Großen (1740-1786) 1. Die schlesischen Juden unmittelbar vor dem Machtwechsel Das am 8. Mai 1713 in Breslau publizierte Toleranzedikt Karls VI.5 vom 10. Jan. des gleichen Jahres hatte den Aufenthalt der possessionierten und erstmals auch der nichtpossessionierten Juden in Schlesien zwar rechtlich legalisiert, durch die damit verbundenen harten „Judenaufschläge und Accise“ war aber zugleich auch erkennbar geworden, daß es dabei weniger um die bürgerliche Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung als um die planmäßige Erschließung neuer Steuerquellen ging6. Im Widerstreit zwischen den landesherrlichen Interessen, die zunächst von den sog. Tole1

Zum Schicksal der jüdischen Archivbestände in Schlesien vgl. B. BRILLING: Das Archiv der Breslauer Jüdischen Gemeinde (Das schlesisch-jüdische Provinzial-Archiv). Seine Geschichte und seine Bestände, in: JSFWUB 18, 1973, S. 258-284. Über die Aufnahme von schlesischen Gemeindearchiven berichteten regelmäßig die Mitteilungen des Gesamtarchivs der deutschen Juden 1ff., 1908ff.; vgl. bes. die Aufstellung in den Mitteilungen 6, 1926, S. 116-120. 2 Bedauerlicherweise blieb J. KRÄCKER: Geschichte der Juden in Breslau, Breslau 1880, in deutschen Bibliotheken nicht nachweisbar. 3 Vgl. H. RICHTERING: Bernhard Brilling zum Gedenken, in: P. Freimark/H. Richtering (Hg.), Gedenkschrift für Bernhard Brilling = Hamburger Beiträge zur Geschichte der Juden in Deutschland 14, Hamburg 1988, S. 9-13. 4 B. BRILLING: Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens. Entstehung und Geschichte = Studia Delitzschiana 14, Stuttgart u.a. 1972, Vorwort. 5 Vgl. I. RABIN: Vom Rechtskampf der Juden in Schlesien (1582-1713), in: Wissenschaftl. Beilage z. Jahresbericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel'scher Stiftung für das Jahr 1926, Breslau 1927, S. 84, bes. Anm. 2. 6 Vgl. DERS.: Die Emanzipationsbestrebungen der schlesischen Juden um die Wende des 17. Jh.s, Oppeln 1929 [Separatdruck aus „Der Oberschlesier“].

317 ranzämtern7 und dann ab 1716 dem Kommerz-Kollegium in Breslau vertreten wurden und auf die Erhaltung der jüdischen Zahlungskraft ausgerichtet waren, und den Partikularinteressen der Zünfte und Kaufleute in Breslau und Glogau, die in den Juden nur die wirtschaftliche Konkurrenz sahen, verschlechterte sich die Lage der schlesischen Judenheit aber ab 1724 erneut dramatisch. Das Verbot des Hausierens traf zwar nur die ärmsten Juden, die „vagierenden Koberjuden“, besonders hart, aber auch die privilegierten Juden mußten wieder um ihr Niederlassungsrecht, den Fortbestand der Freizügigkeit und die Freiheit der wirtschaftlichen Tätigkeit kämpfen. Die als Überwachungsbehörde 1728 in Breslau installierte „Judenkommission“ wandte sich immer wieder besonders gegen die Handelsfreiheit der privilegierten Juden und bemühte sich darüber hinaus auch um die konsequente Verringerung der Zahl der nichtprivilegierten jüdischen Handelsangestellten in der Stadt. Eine zunächst in Glogau gültige und äußerst restriktive Heiratsordnung wurde 1737 auf ganz Schlesien ausgedehnt, um einen „stabilierten Numerus“ von Juden im Land zu erreichen. Die Versuche der städtischen Behörden, Sondersteuern gegen die Juden zu verhängen und die Vertreter der ausländischen Juden in Breslau, die sog. Schamesse, auszuweisen, scheiterten allerdings am Einspruch der kaiserlichen Beamten. Jedoch wurde auch dadurch das antijüdische Klima vor allem in Breslau weiterverschärft, wo man die einheimischen und auswärtigen Juden auf mannigfache Weise zu schikanieren versuchte und auch vor offener Gewaltanwendung nicht mehr zurückschreckte. Anfang 1737 verfügte der Breslauer Rat dann die Ausweisung aller einheimischen und ausländischen nichtprivilegierten Juden aus der Stadt. Diese vermochten nun auch auf dem flachen Land keine Zuflucht mehr zu finden, da durch ein kaiserliches Reskript von 1725 den Standesherrschaften und Obrigkeiten die neue Niederlassung von Juden in ihren Gebieten strengstens untersagt worden war. Als der Kaiser, der sich damit endgültig von dem Toleranzedikt aus dem Jahr 1713 abwandte, durch ein Dekret vom 14. Juni 1738 die Ausweisung aller nichtprivilegierter Juden aus Schlesien anordnete, spitzte sich die Situation noch stärker zu. Die restlose Vertreibung des schlesischen Judentums hätte erfolgreich durchgeführt werden können, wären nicht wiederum die Fürsten und Standesherren in vielen Einzelfällen bereit gewesen, die kaiserliche Verordnung im eigenen Interesse zu hintertreiben. So konnten sich ausgerechnet in Breslau trotz des Ausweisungsbeschlusses mindestens 900 Juden halten. Ihre rechtliche Lage war aber wieder völlig ungesi7

Vgl. L. v. RÖNNE - H. SIMON: Die Verfassung und Verwaltung des Preußischen Staates etc., Breslau 1843, darin u.a.: Die früheren und gegenwärtigen Verhältnisse der Juden in den sämmtlichen Landestheilen des Preußischen Staates, S. 232f.; zu Österreichisch-Schlesien vgl. F. v. SCARI: Systematische Darstellung der in Betreff der Juden in Mähren und im k.k. Antheile Schlesiens erlassenen Gesetze und Verordnungen, Brünn 1835.

318 chert: „An die Stelle des Rechts trat die Begünstigung.“8 Wie stark die hinhaltende Obstruktion im Land gewesen sein muß, zeigt die Tatsache, daß Maria Theresia noch am 24. Okt. 1740 die Gültigkeit des Abschaffungsdekrets von 1738 für Oberund Niederschlesien in einem eigenen Reskript erneut bekräftigte. 2. Die Judenpolitik Friedrichs des Großen Wie der schlesische Protestantismus hatte also auch die Judenschaft Schlesiens, die damals etwa 4.000 Menschen umfaßte9, von jedem Herrschaftswechsel im Land nur eine Verbesserung ihrer Lage zu erhoffen10. Der Breslauer „Rabbiner“ Baruch Gompertz begrüßte denn auch Friedrich II., der im Dezember 1740 nach Schlesien eingefallen war, mit einem hebräischen Akrostichon, dessen Anfangs- und Endbuchstaben beziehungsreich genug lauteten: „Friedrich, Melech [König (von)] Prussia, Herzog in Schlesien“. Das Gedicht, das wahrscheinlich die Gefühle der meisten schlesischen Juden gegenüber dem neuen Herrscher zutreffend ausdrückte, schloß mit den volltönenden Worten: „Lobet ewig! jauchzet und frolocket ihr Innwohner Schlesiens! Denn unter euch wird die herrliche Krone gross./ Es frolocket das Volck und klopfet in die Hände und sagen: Es lebe unser Herr der König! Er beschütze uns wie der Schatten eines Felssens.“11 Im Zuge der Verwaltungsreform, durch die Friedrich II. die altüberkommene standesherrliche Verwaltung Schlesiens im Interesse der allgemeinen bürokratischen Neuorganisation seines Staates auflöste, wurden 1741 Kriegs- und Domänenkammern in Breslau und Glogau als übergeordnete Verwaltungsorgane etabliert. In ihren Zuständigkeitsbereich gehörten auch die Judenregalien. Für die schlesische Judenschaft bedeutete diese zentrale staatliche Verwaltung zwar die Befreiung von der Willkür einzelner Standesherrschaften und Stadtregierungen und die Herstellung einheitlicher Rechtsverhältnisse, es gingen damit aber auch die den jüdischen Einwoh-

8

I. RABIN: Beiträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte der Juden in Schlesien im 18. Jh., Heft 1: Der rechtliche Zustand (1713-1740), in: Wissenschaftl. Beilage z. Jahresbericht des jüdischtheologischen Seminars Fraenckel'scher Stiftung für das Jahr 1931, Breslau 1932, S. 59. 9 Vgl. B. BRILLING: Die schlesische Judenschaft im Jahre 1737, in: JSFUB 17, 1972, S. 43-66. 10 Vgl. auch L. FRÄNKEL: Ein Sammelband jüdisch-deutscher Schriften über den 1. und 2. schlesischen Krieg, in: Zeitschrift f. die Geschichte der Juden in Deutschland 4, 1890, S. 286-289. 11 Hebräischer und deutscher Text bei M. BRANN: Geschichte des Landrabbinats in Schlesien, in: Jubelschrift zum 70. Geburtstag des Prof. Dr. Heinrich Graetz, Breslau 1887 (ND: Hildesheim - New York 1973), S. 218-278, bes. S. 243. Das Gedicht ist auf den 7. Nov. 1741 datiert.

319 nern von Zülz12 und Glogau13 von altersher verbrieften Privilegien weitgehend verloren. Außerdem wurde damit den schlesischen Juden die Möglichkeit genommen, die aus den zumeist höchst unterschiedlichen Interessenlagen der Fürsten, Standesherren und Städte herrührende „Toleranz“ in Zeiten der Bedrängnis in Anspruch zu nehmen. Und solche Notzeiten brachen auch unter preußischer Herrschaft schnell wieder über die schlesische Judenschaft herein, war Friedrichs II. Haltung den Juden gegenüber doch von kaum zu vereinbarenden Gegensätzen bestimmt. In einem der Glogauer Judenschaft am 25. Mai 1743 ausgestellten Privileg wird diese Einstellung des Königs mit aller Präzision ausgedrückt: „Das Glück und die Wohlfahrt eines jeden Unserer Unterthanen zu befördern, ist von jeher ein vorzügliches Augenmerk Unserer Regierungs-Geschäfte gewesen; Zu diesen Unterthanen gehören auch die, zur jüdischen Religion sich bekennenden Einwohner. Ob wir nun zwar wünschten, diese Nation den übrigen Staats-Bürgern völlig gleich zu machen, und sie an allen Rechten der Bürger Theil nehmen zu lassen: So stehen diesem Unsern Vorsatze doch Hindernisse entgegen, welche zum Theil in ihren religiösen Gebräuchen, zum Theil in ihrer ganzen Verfassung liegen, und die gänzliche Ausführung, wenigstens vor der Hand, noch unmöglich machen.“14 Friedrich II. bewies sich damit als Verfechter einer in religiösen Angelegenheiten vielfach konditionierten individuellen Toleranz, die im Einzelfall sehr weit gehen konnte, wie seine Stellungnahme im Fall des Ger Zedek Josef aus dem oberschlesischen Nicolai zeigte, der als Josef Steblitzki bis zu seinem 60. Lebensjahr katholisch gewesen war und dann zum Judentum konvertierte15. Auf volle staatsbürgerliche Gleichbehandlung konnten aber doch nur diejenigen Minderheiten bei dem König rechnen16, deren religiöse Überzeugungen, Gebräuche und Sitten den höheren Zielen des absolutistischen Staates, insbesondere seinen wirtschaftlichen Ambitionen, nicht im Weg standen17. So zeichnete sich die friderizianische Ju-

12

Vgl. I. RABIN: Die Juden in Zülz, in: J. Chrzaszcz (Chrzonz), Geschichte der Stadt Zülz in Oberschlesien. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Festgabe zur 700 Jahrfeier der Stadt Zülz OS., Zülz 1926, S. 117-163. 13 Vgl. F.D. LUCAS/M. HEITMANN: Stadt des Glaubens. Geschichte und Kultur der Juden in Glogau = Wiss. Abhandlungen des Steinheim-Instituts für deutsch-jüdische Geschichte 3. Beiträge zur Geschichte der Juden in Schlesien 1, Hildesheim - Zürich New York 1991. 14 Zitiert nach F.A. ZIMMERMANN: Geschichte und Verfassung der Juden im Herzogthum Schlesien, Breslau 1791, S. 41; vgl. auch LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 75ff. 15 Vgl. E.G. FRIED: Der Ger Zedek Josef aus Nicolai. Ein schlesischer Übertrittsprozeß zur Zeit Friedrichs des Großen, in: Menorah 4, 1926, S. 290-292. 16 Vgl. S. JERSCH-WENZEL: Minderheiten in der preußischen Gesellschaft, in: O. Büsch - W. Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1648-1947. Eine Anthologie 1 = Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 52/1, Berlin - New York 1981, S. 486-506. 17 Vgl. S. SCHWARZ: Frederick the Great, his Jews and his Porcelain, in: Year Book of the Leo Baeck Institute 11, 1966, S. 300-305; S. STERN [-Täubler]: The Jews in the Economic Policy of Frederick the Great, in: Jewish Social Studies 11, 1949, S. 129-152; DIES.: Der preußische Staat und die Juden 3:

320 denpolitik denn auch von Anfang an durch ein Miteinander von Judenbedrückung und Judenbefreiung aus, das von dem Prinzip bestimmt wurde: Einschränkungen, wo immer möglich; Privilegien und Toleranz, wo im Staatsinteresse nötig18! Auf das Toleranzedikt von 1743 folgte in dann schon fast konsequenter Verfolgung dieser politischen Grundsätze nur ein Jahr später, am 6. Mai 1744, die „Allergnädigste Declaration, welchergestalt das bisher in Dero Haupt-Stadt Bresslau überband genommene unnützes Juden Volck, [...], binnen zwey Monathen gedachte Stadt räumen [...] soll“19. Dadurch wurden alle Breslauer Juden, bis auf zwölf wohlhabende und deshalb „wohlberüchtigte“ Familien, denen man dauernde „Toleranz“ zugestand20, aus der Stadt getrieben. Allein die Juden von Glogau21 und Zülz22 konnten sich auch jetzt wieder dank ihrer alten und zumindest partiell durch Friedrich II. bestätigten Privilegien dieser neuen Bedrückung entziehen. Noch besser wurden allerdings die „würcklichen Pohlnischen Handelsjuden“ gestellt, die für die Aufrechterhaltung der Handelsverbindungen nach Polen und ganz Osteuropa einfach unentbehrlich waren. Sie wurden durch den Waad Arba Arazoth [= Rat der vier Länder Groß- und Kleinpolen, Reussen und Litauen, aus denen sich Polen zu jener Zeit zusammensetzte23] und die von ihm in Breslau stationierten und mit konsularischen Funktionen ausgestatteten Schamesse wirksam vor den preußischen Behörden vertreten24. Es kennzeichnet jedoch die Janusgesichtigkeit der friderizianischen Judenpolitik, daß ausgerechnet der Austreibungsbeschluß vom 6. Mai 1744 „zugleich die legale GrünDie Zeit Friedrichs des Großen 1: Darstellung = Schriftenreihe wiss. Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 24/1, Tübingen 1971, S. 1-10. Vgl. zusammenfassend P. BAUMGART: Absoluter Staat und Judenemanzipation in BrandenburgPreußen, in: Jb. für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 13/14, 1965, S. 60-87, bes. S. 87: „Der preußische Absolutismus förderte die Juden nicht um der Toleranzidee oder um des Prinzips der Menschen- und Bürgerrechte willen, sondern als Wegbereiter seiner eigenen Herrschaftsidee, als Helfer im Kampf gegen das Ständewesen, als Stütze des zentralistischen Einheitsstaates, als Partner der merkantilistischen Wirtschaftspolitik." 19 Vgl. BRANN, Geschichte des Landrabbinats, S. 244f. 20 Mit welchen Mitteln diese „Toleranz“ im Einzelfall erkauft werden mußte, zeigt beispielhaft A. GROTTE: Der Friedhof in der Claaßenstraße in Breslau, in: Denkmalschutz und Heimatpflege 28, 1926, S. 122-138; vgl. auch L. LEWIN: Geschichte der Israelitischen Kranken-Verpflegungs-Anstalt und Beerdigungs-Gesellschaft zu Breslau 1726-1926, Breslau 1926, S. 19ff. 21 Vgl. den Text des Glogauer Privilegs vom 25. Mai 1743 bei R. BERNDT: Geschichte der Juden in Gross-Glogau, Glogau (1873), S. 63-66. 22 Das Privileg für die Zülzer Juden datiert vom 17. Juli 1699, vgl. RABIN, Juden in Zülz, S. 130. 23 Vgl. I. HALPERIN: Pinkas Waad arba arazoth = Acta congressus generalis Judaeorum regi Poloniae (1580-1764), Jerusalem 1945 (hebr.). 24 Vgl. B. BRILLING: Friedrich der Große und der Waad Arba Arazoth. Ein Kapitel aus der Geschichte der Juden in Breslau im 18. Jh., in: Theokratia. Jb. des Institutum Judaicum Delitzschianum 1, 1967/69, S. 97-143; W.W. HAGEN: Germans, Poles, and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East, 1772-1914, Chicago/London 1980, bes. S. 31ff. 18

321 dungsurkunde der Breslauer Jüdischen Gemeinde (enthält), die jetzt erst, in der preußischen Zeit, als eine behördlich anerkannte Körperschaft auftreten konnte und von diesem Zeitpunkt an zwei Jahrhunderte in Breslau existierte“25. Den in Breslau tolerierten zwölf Familien und den von ihnen abhängigen Juden wurde nämlich erst jetzt der Zusammenschluß in einer staatlich anerkannten jüdischen Gemeinde mit zwei Vorstehern (§ 32), die Beschäftigung von Gemeindebeamten, die Anstellung eines Rabbiners, der den Titel eines „Königlichen geordneten Landrabbiners“ verliehen erhielt (§ 21)26, die Anmietung eines Saales als Synagogenraum und der Kauf eines Geländes außerhalb der Stadt für einen Friedhof27 (§ 30/31) gestattet28. Zugleich wurde die Breslauer Judenschaft in verschiedene Klassen mit unterschiedlicher Rechtsstellung eingeteilt. Die Generalprivilegierten und Privilegierten, deren Zahl auf zwölf beschränkt wurde, bildeten die Führungsschicht, die auf dem Gebiet des Handels den christlichen Kaufleuten weitgehend gleichgestellt war. Die fünf ausländischen Schamesse wurden wegen der ihnen verliehenen Toleranzprivilegien als Tolerierte bezeichnet. Zu den Tolerierten zählten auch die Offizianten, also die anerkannten Gemeindefunktionäre wie Rabbiner, Synagogenbeamten, Krankenwärter, Mikwebedienerinnen, Fleischer und Garköche, Beschneider und Totengräber. Eine weitere Gruppe, die sich ihr „vorübergehendes“ Aufenthaltsrecht durch eine jährliche Abgabe (= fixe Entrée) immer wieder neu erwerben mußte, wurde Fixentristen genannt. Völlig ohne eigene Rechte schließlich blieb die Gruppe der Schutz- oder Famulizjuden, die als Bedienstete in den Haushaltungen ihrer besser gestellten Glaubensbrüder ein Unterkommen gefunden hatten29. Diese kleinliche „Polizeigesetzgebung“30, die vordergründig auf Kontrolle, Limitierung und höchstmögliche steuerliche Ausbeutung der Juden hin angelegt war, hatte außerordentlich problematische Folgen für die Entwicklung der schlesischen Judenschaft. Einerseits verstärkte sie den 25

Vgl. ebd., S. 108 Anm. 3. Brilling korrigiert hier auf entscheidende Weise die von M. BRANN, Geschichte des Landrabbinats, S. 245, vorgetragene und weithin rezipierte Sicht der Deklaration von 1744. 26 Zu Bendix Ruben Gompertz aus Wesel (gest. 1753 oder 1754) vgl. BRANN, Geschichte des Landrabbinats, S. 239ff. 27 Vgl. MENZEL (HG.), Breslauer Juden, S. 36f. 28 Vgl. den Abdruck des vollständigen Textes der Deklaration von 1744 in der „Sammlung aller in dem souverainen Herzogthum Schlesien [...] publicierten und ergangenen Ordnungen, Edicten, [...] welche von der Zeit der [...] Regierung Friedrichs [...] vom I Dezember 1740 bis incl. 1744 [...] durch den Druck bekannt gemacht worden“, S. 41-60, Nr. XII, die in Breslau bei Korn ohne Jahresangabe erschien. 29 Vgl. BRILLING, Friedrich der Große, S. 110ff. Während Brilling eine Einteilung der Breslauer Judenschaft in vier „Klassen“ vorführt, sprach M. BRANN: Die schlesische Judenheit vor und nach dem Edikt vom 11. März 1812, in: Jahres-Bericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel'scher Stiftung für das Jahr 1912, Breslau 1913, S. 3-44, bes. S. 10f., von acht „Abteilungen“, ohne diese im einzelnen präzise zu benennen. 30 Vgl. BRANN, Schlesische Judenheit, S. 12.

322 Einfluß der wenigen wohlhabenden privilegierten Juden in der Gemeinde immer mehr, war die zahlenmäßig größte Gruppe der Famulizjuden doch von diesen rechtlich, wirtschaftlich und sozial restlos abhängig31. Andererseits verhinderte dieses Klassensystem jede räumliche und soziale Mobilität der Juden, was ihre ökonomische und kulturelle Leistungskraft erheblich behinderte. Im Kern liefen alle diese Maßnahme aber vor allem darauf hinaus, die Integration der zahlenmäßig immer noch sehr kleinen, aber kapitalkräftigen jüdischen Oberschicht voranzutreiben, auf deren Unterstützung der Staat im Stadium der Protoindustrialisierung des Landes immer stärker angewiesen war32. Zur jüdischen Gemeinschaft in Schlesien gehörten selbstverständlich auch die außerhalb Breslaus ansässigen Juden. Sie hatten sich schon in österreichischer Zeit in einer eigenen Organisation, der Landjudenschaft, zusammengefunden33, die aber erst unter preußischer Herrschaft offizielle Anerkennung fand, werden doch nun die „Vorsteher und Ältesten der Ober- und Niederschlesischen Stadt- und Landjudenschaft“ als eigenes Vertretungsorgan genannt34. Das schlesische Judentum der friderizianischen Zeit gliederte sich also in die Landjudenschaft sowie die drei großen und privilegierten Gemeinden in Breslau, Glogau und Zülz. Die erste Judenzählung in Schlesien 1751 ergab eine Gesamtzahl von 1.026 Familien, also etwa 4.000 Personen35. Die vergleichsweise sehr geringe Zahl der Juden in Breslau, Nieder- und Mittelschlesien im Gegenüber zu der starken jüdischen Bevölkerungsgruppe in Glogau sowie Zülz und dem übrigen Oberschlesien spiegelt den star31

Vgl. A. HERZIG: Das Problem der jüdischen Identität in der deutschen bürgerlichen Gesellschaft, in: W. Grab (Hg.), Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation = Jb. des Instituts f. Deutsche Geschichte Tel-Aviv. Beiheft 3, Tel-Aviv 1980, S. 243-264, bes. S. 245f. 32 Vgl. K. GESTWA: Protoindustrialisierung und „Judenfrage“ in Schlesien, in: Zeitschrift für Ostforschung 38, 1989, S. 58-81. 33 Vgl. I.F. BAER: The Organizations of the „Landjudenschaften“ (“Jewish Corporations" in Germany during the XVII and XVIII Centuries), 3 Bde., Jerusalem 1967 (hebr. mit engl. Abstract). 34 Vgl. M. BRANN: Etwas von der schlesischen Landgemeinde, in: Festschrift zum 70. Geburtstage Jakob Guttmanns = Schriften, hg. von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums 26, Leipzig 1915, S. 225-255, bes. S. 238. Die „Landschul“ genannte Synagoge neben dem „Storch“ zwischen Antonien- und Wallstraße wurde 1751 von Juden aus dem Umland Breslaus, insbesondere aus Dyhernfurth, gegründet; vgl. A. GROTTE: Die ehemalige „Landschule“ in Breslau und ihr Inventar, in: Denkmalpflege und Heimatschutz 1925, Heft 4-6; U. GERHARDT: Jüdisches Leben im jüdischen Ritual. Studien und Beobachtungen 1902-1933 = Studia Delitzschiana NF 1, Heidelberg 1980, S. 252ff. BRILLING: Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 10 Anm. 3, macht darauf aufmerksam, daß sich auch die aus Polen stammenden Juden, die in Breslau und seinen Vorstädten ansässig geworden waren, als „Landjudenschaft“ bezeichneten. 35 Man zählte damals in Breslau 76, Glogau 329, Zülz 190, Mittelschlesien 99, Niederschlesien 13 und Oberschlesien 355 Familien. STERN, Der preußische Staat und die Juden 3.2, Tübingen 1972, S. 1205-1240, gibt die kompletten Judenlisten mit Berufsangaben wieder.

323 ken Verdrängungsdruck innerhalb Schlesiens wider, dem insbesondere die Breslauer Judenschaft damals ausgesetzt war36. Eine solche Verdrängungsmaßnahme stellte beispielsweise auch die Verfügung von 1776 dar, durch die den Juden jeglicher Aufenthalt in Stadt und Land auf dem ganzen linken Oderufer untersagt wurde37. Ähnliche Wirkungen hatte 1781 auch das „Circulare wegen Wegschaffung der Juden vom platten Lande“38, das vor allem auf eine Konzentration der Juden in Oberschlesien abzielte39. Geradezu katastrophal aber wirkten sich die seit 1744 immer wieder neu verschärften Heiratsordnungen aus, durch die Juden der Erwerb des Heimatrechts nur noch nach Erfüllung anspruchvollster Bedingungen gestattet wurde. Wer diese nicht erfüllen konnte, mußte außer Landes gehen40. Jedoch nicht nur durch Aufenthaltsbeschränkungen engten die friderizianischen Behörden die Lebensmöglichkeiten der schlesischen Juden systematisch immer weiter ein. Im März 1780 wurde verfügt, daß „die von Adel auf ihren Gütern sich weiterhin keiner Juden bey ihren Oekonomien und Wirthschaftsangelegenheiten bedienen; sondern die in Schlesien tolerirten Juden sich lediglich mit dem Commercio und Handlung beschäftigen sollen“41. Noch im Mai des gleichen Jahres versuchten die Behörden die ökonomischen Möglichkeiten der Juden auch dadurch zu beschneiden, daß sie anordneten, „die Bier- und Brandweinpächter [sollten] abgeschafft“ werden42. Ähnliche Beschränkungen und Verbote trafen wenig später auch den Leder- und Fellhandel, das Pfandleihwesen, den Getreidehandel, die Belieferung der Garnisonsmagazine, das Hausieren und den Geldwechsel durch Juden43. Die Provinzialbeamtenschaft, die verständlicherweise nicht nur über genauere Kenntnisse der schlesischen Verhältnisse verfügte, sondern überhaupt stärker von den „Idealen des Naturrechts“ als den „Ideen der französischen Aufklärung“, denen 36

Zur geographischen Streuung und sozialen Gliederung des schlesischen Judentums um die Mitte des 18 Jh.s vgl. auch B. BRILLING: Die schlesische Judenschaft im Jahre 1737, mit der „Liste der jüdischen Gemeinden Schlesiens im Jahre 1737 geordnet nach der Zahl der Toleranz-Steuerzahler bzw. Familien“ (S. 50-59). 37 Vgl. BRANN, Landgemeinde, S. 240. 38 Vgl. Sammlung aller in dem souverainen Herzogthum Schlesien [...] ergangenen und publicirten Ordnungen, Edicte, Mandate, Rescripte ec., welche während der Zeit der glorwürdigsten Regierung Friedrichs II. König von Preußen [...] herausgekommen sind. 17. Band vom Jahre 1780 bis Ende des Jahres 1782, Breslau 1786, S. 198-201. 39 Vgl. BRANN, Landgemeinde, S. 240 Anm. 3; BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 8. 40 Vgl. BRANN, Landgemeinde, S. 241f. 41 Vgl. Sammlung aller in dem souverainen Herzogthum Schlesien [...] ergangenen und publicirten Ordnungen [...] 1782, S. 32. 42 Vgl. ebd., S. 55f. 43 Vgl. die Einzelnachweise bei LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 84ff.

324 sich der König verpflichtet fühlte, geprägt war44, versuchte immer wieder, allzu harte antijüdische Maßnahmen zu unterlaufen45. Die „von den übrigen Provinzen des preussischen Staates völlig getrennte Verwaltung“ unter dem dirigierenden Minister, Graf Karl Georg Heinrich von Hoym46, bot in Schlesien für ein derartiges, die königlichen Absichten zumindest in Teilbereichen hintertreibendes Behördenhandeln besonders gute Voraussetzungen47. Berühmtheit erlangte damals das Diktum des Königs, der persönlich „vor die Juden nicht sonderlich portiert war“, mit dem er seinem Provinzialminister bedeutete: „Ich weiß schon von lange her, daß Ihr so eine geheime inclination vor die Juden habt. Aber auf meiner Seite denke ich anders. Denn wenn die Juden abgeschafft und an deren Stelle Christen zum Wirtschaften genommen werden, so haben wir mehr Menschen und weniger Juden, und das ist zum Besten des Landes, wo hiernach nun Ihr Euch zu richten habt.“48 Hoym hat sich durch solche höchste Weisungen nicht irritieren lassen, stand er doch dem Kreis der Aufklärer um Mendelssohn nahe. Waren die bisher ergriffenen Maßnahmen, vor denen die wohlhabenden Juden ja durch ihre Privilegien weitgehend geschützt waren, vor allem auf das Zurückdrängen und Reglementieren der jüdischen Unterschichten gerichtet49, so wirkte sich die Einführung des Codex Fridericianus ab 174750 auf die Grundstrukturen der schlesischen Judenschaft in ihrer Gesamtheit aus, wurde dadurch doch „die Jahrhunderte alte, eifersüchtig bewahrte und verteidigte Unabhängigkeit und Selbständigkeit der jüdischen Rechtsprechung in ihren Wurzeln getroffen und ihre völlige Aufhebung einige Jahrzehnte später vorbereitet“51. Auch die Aufhebung der rabbinischen Rechtsprechung und damit der privatrechtlichen Autonomie der jüdischen Gemeinden wurde 44

Vgl. STERN, Der preußische Staat und die Juden 3.1, S. 17ff. Inwieweit hier auch der Einfluß des hallischen Pietismus in Betracht gezogen werden muß, ist noch nicht hinreichend geklärt; vgl. BAUMGART, Absoluter Staat, bes. S. 78ff. 46 Vgl. die sicher überarbeitungsbedürftige Studie von V. LOEWE: Karl Georg Heinrich Graf von Hoym, in: Schlesische Lebensbilder 2, Sigmaringen 21985, S. 14-22. 47 Vgl. FREUDENTHAL, Emancipationsbestrebungen, S. 47f. Zum Dissens zwischen König und Beamtenschaft in der Behandlung der Judenfrage vgl. weiter STERN, Der preußische Staat und die Juden 3.1, S. 17ff. 48 Zit. nach BRANN, Schlesische Judenheit, S. 8f. 49 Im ausgehenden 18. Jh. lebten noch rund 75% der Juden in Deutschland als „marginale Existenzen“ in Armut, 10% wurden als „Betteljuden“, also restlos Pauperisierte, betrachtet; vgl. J. TOURY: Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum, in: H. Liebeschütz/A. Paucker (Hg.), Das Judentum in der deutschen Umwelt 1800-1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tübingen 1977, S. 139242, S. 152, und DERS.: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847-1871, Düsseldorf 1977, S. 69ff.; J. KATZ: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770-1870, Frankfurt/M. 1986. 50 Vgl. STERN, Der preußische Staat und die Juden 3.1, S. 111-133. 51 Ebd., S. 112. 45

325 von dem Motiv geleitet, den prinzipiellen Anspruch des absolutistischen Staates gegenüber allen bislang autonomen Körperschaften durchzusetzen, jedem Bürger in gleicher Weise Leben und Eigentum zu garantieren und die „bürgerliche Verbesserung“ der Juden durch Angleichung ihrer Rechtsverhältnisse an die der Christen voranzutreiben52. Die traditionelle Gruppenautonomie mit eigener Rechtsstellung hatte für die Juden Schlesiens bedeutet, daß die Rechte des Einzelnen eigentlich immer nur über die Gruppe realisiert werden konnten. Die Zugehörigkeit zu dieser Korporation wurde durch die Geburt erworben und konnte durch keinen Wechsel der Lebensumstände, außer durch die Taufe, verloren gehen. Fortan aber sollten beispielsweise die wirtschaftlichen Verhältnisse des Einzelnen, sein kulturelles Niveau sowie seine religiöse und politische Einstellung maßgeblichen Einfluß darauf gewinnen, welcher Assoziation innerhalb des Staatsvolkes er sich anschloß bzw. anschließen konnte53. Damit wurde ein gesellschaftlicher Mobilisierungs- und Modernisierungsprozeß eingeleitet, der auch als soziale Widerspiegelung der frühindustriellen Umwälzungen verstanden werden muß, die auch in Preußen zu Beginn des 19. Jh.s auf der Tagesordnung standen. Diesem Ziel dienten übrigens auch die schon ab 1765 zu beobachtenden Versuche, das noch mittelalterlich-chaotische jüdische Namenwesen durch die Annahme und Registrierung von Familiennamen zu ordnen, die in der Emanzipationszeit schließlich zum Erfolg geführt wurden54. Auch die Zurückdrängung und das Verbot der Verwendung des Jiddischen im amtlichen Schriftverkehr der jüdischen Gemeinden beginnt in dieser Zeit, um dann durch das Emanzipationsedikt von 1812 endgültig verbindlich gemacht zu werden. Auch dieses Gebot, das vor allem den innergemeindlichen Schriftverkehr betraf, bezweckte die kulturelle Angleichung der Juden an ihre Umwelt. Auch wenn Friedrich der Große viele Erwartungen der schlesischen Judenschaft nicht erfüllte, blieb ihm deren Loyalität doch zeitlebens erhalten. Und nach dem Tod des großen Königs priesen die Breslauer Judenältesten Friedrich, weil die Juden unter seiner Herrschaft „ihre Vorschriften und Gesetze wie die übrigen Völker haben 52

Vgl. ebd., S. 131ff. Vgl. G. OESTREICH: Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 55, 1968, S. 329ff. 54 Vgl. RÖNNE- SIMON, Verhältnisse der Juden, S. 55, 114 und 274; vgl. auch I. FREUND: Art.: Namensgesetzgebung für Juden, in: Jüdisches Lexikon, begr. von G. Herlitz und B. Kirschner, 4/1, Berlin 1927 (ND: Königstein/Ts. 1982), Sp. 397-402. 53

326 ruhig ausüben können, ihre Handlungen treiben durften und sogar viele von uns mit besonderen Wohlthaten von ihm bedacht worden sind“55. Gewiß sprach sich in solchem Herrscherlob ein gutes Stück Konvention der Zeit aus, aber es darf doch wohl auch als Anzeichen dafür genommen werden, daß sich die Führung der schlesischen Juden der aufhaltsamen Fortschritte bewußt war, die man in dem ersten halben Jahrhundert preußischer Herrschaft über Schlesien insgesamt gemacht hatte. Trotz einer durchweg restriktiven Judenpolitik hatte sich die Zahl der Juden in der neuerworbenen preußischen Provinz in der Zeit von 1751-1791 auf insgesamt über 9.000 verdoppelt56, und in Breslau war sie sogar noch stärker angestiegen57. Um der Förderung einzelner von ihnen, die als besonders wichtig für die merkantilen Interessen des Staates eingestuft wurden, sind doch immer wieder auch Ausnahmen zugelassen worden, die letztlich der Gesamtjudenschaft Schlesiens zugute kamen. Zu den wirklich weitreichenden Folgen der friderizianischen Judenpolitik, die doch schon ganz in die Vorgeschichte des Zeitalters der Emanzipation einzuordnen ist58, gehörte die allmählich in breiten Kreisen des aufgeklärten Publikums wachsende Überzeugung, daß das odium religionis, der Religionshaß, als „Ursprung alles Unglücks und Verfolgungsgeistes in der Welt“59, auch gegenüber den Juden vor dem Urteil der Vernunft nicht länger bestehen könne60. Die „Vorschrift, wie es künftig mit dem Judenwesen in Breslau zu halten sey“ vom 21. Mai 179061, durch die nach dem 55

Zitiert nach M. FREUDENTHAL, Die ersten Emancipationsbestrebungen der Juden in Breslau. Nach archivalischen und anderen Quellen dargestellt, in: MGWJ 37, 1893, S. 41-48, 92-100, 188-197, 238247, 331-341, 409-429, 467-483, 522-536, 565-579, bes. S. 43f. 56 Vgl. BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 8f. 57 Vgl. ebd., S. 8 und 44. 58 Wenn BAUMGART, Absoluter Staat, schon die Judenpolitik des altpreußischen Staates in den „jahrhundertelangen Prozeß“ der Emanzipation einbeziehen will (S. 60), so verwischt die interessante These doch allzu sehr den Paradigmenwechsel, der mit Rationalismus, Aufklärung und Pietismus eintrat. Die Behandlung der Juden nach dem reinen Utilitätsprinzip, wie sie etwa bei dem Großen Kurfürsten zu beobachten ist, hat noch nichts mit Emanzipation tun. Von Emanzipation darf wohl erst dort gesprochen werden, wo ein wie auch immer begründetes Humanitätsdenken den Utilitarismus zähmt. Vgl. dazu auch GESTWA, Protoindustrialisierung, S. 80, der von „’Zwangsintegration’ volkswirtschaftlich unentbehrlicher sozialer Kräfte“ spricht. 59 Vgl. ebd., S. 19. 60 Vgl. etwa [KAUSCH:] Ausführliche Nachrichten über Schlesien. Vom Verfasser der Nachrichten über Pohlen und Böhmen, Salzburg 1794, S. 98-12O „§7 Schlesische Judenschaft“, bes. S. 110: „Wer wird behaupten, sage ich, daß der Andersdenkende, darum blos, weil er anders denkt, oder so lang er anders denkt, nicht gleiche Rechte mit den herrschenden Confessionisten in einem Staat herhalten sollte?“ Trotz dieser Einsicht und mancher Reformvorschläge meint Kausch schließlich doch, daß der „Zeitpunkt“ für „eine gänzliche Gleichsetzung mit den Christen [...] sowohl auf Seite der Juden, als auf Seite der Christen noch nicht da zu seyn“ scheint. 61 Der Text ist abgedruckt bei v. RÖNNE/v. SIMON, S. 226-231.

327 Tode Friedrichs II. Graf Hoym vorsichtige neue Akzente in der Judenpolitik setzte, spiegelt alle diese Tendenzen wider, wenn sie auch mit der Verminderung der Judenklassen auf nur noch drei, nämlich die der General-Privilegierten, der StammNumeranten und der polnischen Grenzjuden, sowie durch Gewährung einiger Handelserleichterungen auf halbem Weg stehen blieb. Die theoretisch-philosophischen Einsichten mit ihren weitreichenden Zukunftsperspektiven hatten sich auch in diesem Fall noch einmal den kurzsichtigeren Steuerinteressen des Staates und den Konkurrenzängsten der christlichen Bürgerschaft anpassen müssen. In dem Maße aber, in dem die religiöse Liberalisierung im Gefolge der Aufklärung zur oppinio communis wurde, setzte sich allmählich eine Einstellung in der christlichen Öffentlichkeit durch, die immer stärker nur noch nach der Nützlichkeit und Integrationsfähigkeit der jüdischen Bevölkerung fragte. Eine Schlüsselstellung war hierbei ganz gewiß Christian Wilhelm von Dohms Schrift von 1781 „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ zugekommen, die sich vornehmlich an die Fürsten, dann aber auch an das aufgeklärte Publikum ganz allgemein wandte62 und von der Überzeugung durchtränkt war: „Das Staatswohl erzwingt geradezu die Emanzipation der Juden.“63 Der Umschwung in der öffentlichen Meinung sollte auch den Juden Schlesiens vorher nicht gekannte Aufstiegschancen eröffnen. Zugleich zog damit aber auch eine Gefährdung der jüdischen Identität in ihren überkommenen Formen herauf, wie es sie grundsätzlicher vorher niemals gegeben hatte. Die Antwort, die zumindest Teile der schlesischen Judenschaft auf die Gewährung der neuen Chancen und das Heraufziehen neuer Gefahren im Zeitalter der Emanzipation fanden, wurde nicht nur für das europäische Judentum beispielgebend.

CHR.K.W. v. DOHM: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin und Stettin 1781, 21783 (ND: Hildesheim 1973); vgl. F. REUSS: Christian Wilhelm Dohms Schrift „Uber die bürgerliche Verbesserung der Juden“ und deren Einwirkung auf die gebildeten Stände Deutschlands. Eine kultur- und literaturgeschichtliche Studie, Kaiserslautern 1891 (auch im Anhang zum ND von Dohms Schrift Hildesheim 1973); I. DAMBACHER: Christian Wilhelm von Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jh.s, Bern/Frankfurt/M. 1974. 63 H. MÖLLER: Aufklärung, Judenemanzipation und Staat. Ursprung und Wirkung von Dohms Schrift über die bürgerliche Verbesserung der Juden, in: Grab (Hg.), Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation, S. 119-153, bes. S. 133. 62

328 II. Das Zeitalter der Emanzipation64 1. Friedrich Wilhelm II. (1786-1797) Nach dem Tode des großen Friedrich bestieg 1786 Friedrich Wilhelm II. den Thron, dessen Name wohl am dauerndsten mit dem sog. Woellnerschen Religionsedikt vom 9. Juli 1788 verbunden bleibt. Die antiaufklärerischen Intentionen dieses Edikts wurden allerdings schon von den Zeitgenossen fast immer überzeichnet65, übersah man dabei doch meistens, daß Woellner ein „in die Zukunft weit vorausgreifendes, kühnes, grundstürzendes Reformprogramm“ verfolgte, zu dem die Ideen seines Religionsedikts in überzeugendem Zusammenhang standen66. Immerhin wurden hier erstmals auch rechtlich bindend Glaubens- und Gewissensfreiheit für Preußen verkündet; beide Rechte waren bis dahin „lediglich eine Maxime preußischer Religionspolitik" gewesen67. In Schlesien ist das vielumstrittene Religionsgesetz Wöllners übrigens praktisch kaum zur Anwendung gekommen, weil Graf Hoym in der konfessionell gespaltenen Provinz keine religiös motivierten Unruhen provozieren wollte68. Ob die schlesische Judenschaft schon damals erkannt hat, welche Bedeutung die nun gesetzlich gesicherte Religionsfreiheit für ihre weitere Zukunft haben sollte, ist nicht sicher auszumachen. Wie das ganze Schlesien begrüßten auch die Juden den neuen König bereits kurz nach der Thronbesteigung bei seiner Reise durch Schlesien im Okt. 1786 mit Herzlichkeit69. Als besonders denkwürdig blieb die Ansprache in Erinnerung, die bei dieser 64

Zur komplizierten Begriffsgeschichte vgl. K.M. GRASS/R. KOSELLECK: Emanzipation, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, hg. von O. Brunner, W. Conze und R. Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 153-197, bes. S. 178ff., und die Korrekturen dazu bei R. RÜRUP: Emanzipation - Anmerkungen zur Begriffsgeschichte, in: Ders., Emanzipation und Antisemitismus. Studie zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 15, Göttingen 1975, S. 126-132; vgl. ebd., S. 184-202 auch die „Bibliographie zur Geschichte der ‚Judenfrage’, der Emanzipation und des Antisemitismus“. 65 Vgl. z.B. H.P.C. HENKE: Beurtheilung aller Schriften, welche durch das Religions-Edikt und andere damit zusammenhängende Verfügungen veranlaßt sind, Hamburg 1793. Zu den zeitgenössischen Reaktionen vgl. auch F. VALJAVEC: Das Woellnersche Religionsedikt und seine geschichtliche Bedeutung, in: HZ 72, 1953, S. 386-400. 66 P. BAILLEU: Art.: Woellner, J. Chr., in: ADB 44, 1898 (ND: 1971), S. 148-158, bes. S. 152ff. 67 Vgl. H. MÖLLER: Die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer antiaufklärerischen Geheimgesellschaft, in: H. Reinalter (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jh. in Mitteleuropa = suhrkamp taschenbuch wissenschaft 403, Frankfurt/M. 1983, S. 199-239, bes. S. 219ff. 68 Vgl. C. GRÜNHAGEN: Der Kampf gegen „die Aufklärung“ unter Friedrich Wilhelm II. mit besonderer Rücksicht auf Schlesien, in: Zeitschrift des Vereins f. Geschichte und Alterthum Schlesiens 27, 1893, S. 1-27, bes. S. 23. 69 Vgl. FREUDENTHAL, Emancipations-Bestrebungen, S. 44ff.; J. BLASCHKE: Geschichte der Stadt Glogau und des Glogauer Landes, Glogau 1913 (ND: 3. Aufl. Hannover 1986), S. 418.

329 Gelegenheit die deutsch-jüdische Dichterin Esther Gad (1770-1829) an den König richtete70. Die nur elf Jahre dauernde Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. ist in ihrer Bedeutung für die Geschichte des Judentums oft unterschätzt worden, obwohl in ihr doch die meisten konkreten Voraussetzungen für dessen Emanzipation geschaffen wurden71. Erinnert sei hier nur an die 1787 eingesetzte Kgl. Kommission, die neue Vorschläge zur Reform der Stellung der Juden in Staat und Gesellschaft auf der Grundlage einer Denkschrift von David Friedländer ausarbeiten sollte72. Wie sich aber auch auf jüdischer Seite allmählich das Klima zu verändern begann, bezeugen die bei den Gedächtnisfeiern am 3. Dez. 1797 in den beiden größten damaligen Synagogen Breslaus in hochdeutscher Sprache gehaltenen Gedenkreden auf Friedrich Wilhelm II.73. Bei der Wahl des Deutschen als Predigtsprache handelte es sich ja keineswegs nur um eine Stilfrage, verboten die Behörden doch noch 1829 eine deutsche Weiherede bei der Eröffnung der neuen Synagoge der Brüdergesellschaft in Breslau, der Storchsynagoge, um Unruhen in der jüdischen Bürgerschaft Breslaus zu vermeiden74. 2. Friedrich Wilhelm III. (1797-1840) Der zentralgesteuerte absolutistische Staat begann sich gegen Ende des 18. Jh.s unter dem reformerischen Einfluß der Ideen von Humanität und Toleranz immer stärker in einen Verfassungsstaat zu verwandeln, dessen rechtliche Grundlagen durch das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten vom 1. Juni 1794 in einer Weise kodifiziert wurden, die bis zu dessen Ablösung durch das Bürgerliche Gesetzbuch im Jahr 1900 Bestand haben sollte. Vieles von dem, was damals auch in Preußen vorbereitet wurde, konnte dann allerdings erst unter Friedrich Wilhelm III., der 1797 seinem Vater auf dem Thron folgte, realisiert werden. Dieser Herrscher, der 43 70

Vgl. A. HEPPNER: Jüdische Persönlichkeiten in und aus Breslau, Breslau 1931, S. 14f. Nach SCHWERIN, JSFUB 25, 1984, S. 149 Anm. 198, starb die Enkelin des Hamburger Großrabbiners Jonathan Eibenschütz, die zum Christentum konvertierte, als Esther Domeier erst 1836 in London. Vgl. auch G. SCHULZ: Jean Paul, Breslau und die Breslauer Schriftsteller, in: JSFUB 15, 1970, S. 329-354. 71 Vgl. dazu schon J. ZIEKURSCH: Das Ergebnis der friderizianischen Städteverwaltung und die Städteordnung Steins. Am Beispiel der schlesischen Städte dargestellt, Jena 1908, S. 64ff. 72 Vgl. MÖLLER, Aufklärung, Judenemanzipation und Staat, S. 147f. 73 Die Ansprachen von Joel Löwe in der Landschul und von Mendel Lewin Broese (auch Breslauer gen.) in der Synagoge der Brüdergesellschaft wurden in den Schlesischen Provinzialblättern von 1797, S. 307-320, abgedruckt; vgl. BRANN, Landrabbinat, S. 264f. HEPPNER, Jüdische Persönlichkeiten, S. 6 und 30f., gibt das Datum der synagogalen Trauerfeiern für eine Zeitpunkt an, zu dem der König noch lebte. 74 Vgl. ebd., S. 265 Anm. 1.; A. HEPPNER: Zur Jahrhundertfeier der Storchsynagoge, in: Breslauer Jüdisches Gemeindeblatt 6, Nr. 4, April 1929, S. 59-61, bes. S. 60.

330 Jahre lang regierte, prägte auf entscheidende Weise jene staatsbürgerliche Haltung, die als typisch preußisch in die Geschichte eingehen sollte und auch das Identitätsbewußtsein der preußischen Juden weithin bestimmte. Erst der Zusammenbruch des friderizianischen Preußen in den napoleonischen Kriegen, unter denen auch die schlesische Judenschaft schwer zu leiden hatte75, machte jedoch den Weg endgültig frei für wirklich umfassende Reformmaßnahmen. Die in der „Nassauer Denkschrift“ des Freiherrn vom und zum Stein und in Hardenbergs „Rigaer Denkschrift“ (beide 1807 verfaßt) niedergelegten Grundideen schlugen sich dann vor allem in der Städteordnung vom 19. Nov. 180876 und in dem Emanzipationsedikt vom 11. März 181277 nieder. a) Die Städteordnung von 1808 Die Städteordnung sicherte allen jüdischen Bürgern einer Stadt die Zuerteilung des Bürgerrechts zu, sofern diese dort ansässig waren und über einen unbescholtenen Ruf verfügten. Als Bürger im Vollsinn des Wortes hatten die Juden jedoch auch alle Abgaben mitzutragen, die die Städte in ihrer neuerworbenen Finanzhoheit den Bürgern auferlegten. Das führte immer wieder auch zu Konflikten mit den Juden, die z.B. in Glogau hartnäckig auf ihren Steuerprivilegien bestanden78. Trotzdem nutzten die Juden die Gunst der ersten Stunde, wenn sie sich in erstaunlich hoher Zahl zu den ersten Stadtverordnetenwahlen als Kandidaten aufstellen ließen und ihr Amt dann mit Energie und Geschick ausführten79, „obwohl sie von dem engherzigen Geiste der Majorität ihrer Collegen in ihren berechtigten Hoffnungen und Erwartungen für ihre Glaubens-Genossen bis zum Jahre 1812 bisweilen bitter getäuscht wurden“80. Wenn die Glogauer jüdische Gemeinde zur Feier der Einführung der Städteordnung im August 1809 eine Fahne stiftete, die eine der Sonne zugewandte Frau zeigte, die ver75

Insbesondere betraf das die Glogauer Juden, da ihre Stadt als Pfand für die Preußen auferlegte Kriegssteuer von den Franzosen besetzt gehalten wurde, vgl. LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 109ff. 76 Ordnung für sämmtliche Städte der Preußischen Monarchie mit dazugehöriger Instruktion, Behuf der Geschäftsführung der Stadtverordneten bei ihren ordnungsgemäßigen Versammlungen. Vom 19ten November 1808, in: Die Preußische Städteordnung von 1808. Textausgabe mit Einführung von A. Krebsbach = Neue Schriften des Deutschen Städtetages 1, Stuttgart/Köln 1957. 77 Vgl. C. ZANDER (HG.): Handbuch, enthaltend die sämmtlichen Bestimmungen über die Verhältnisse der Juden im Preussischen Staate, Leipzig 1881, S. 21-28. 78 Vgl. LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 118. 79 Vgl. J. TOURY: Der Anteil der Juden an der städtischen Selbstverwaltung im vormärzlichen Deutschland, in: Bulletin LBI 6, 1963, Heft 21/24, S. 265-286, wo insbesondere auf die schlesischen Verhältnisse eingegangen wird (vgl. die Ergänzungen dazu in Bulletin LBI 7, 1964, Heft 25/28, S.172182); S. WENZEL: Jüdische Bürger und kommunale Selbstverwaltung in preußischen Städten 18081848 = Veröffentl. d. Hist. Kommission zu Berlin 21, Berlin 1967, bes. S. 73-151. 80 So BERNDT, Gross-Glogau, S.110.

331 kündet: „Sie bescheint uns alle“81, so mußte das also so lange ein frommer Wunsch bleiben, so lange nicht durch eine spezielle Gesetzgebung der hinhaltende Widerstand der christlichen Bürgerschaft gegen die bürgerliche Verbesserung der Juden endgültig gebrochen wurde. Kurze Zeit nach dem Erlaß der Preußischen Städteordnung befragte der Minister von Schrötter den Königsberger Juristen Brand, ob er nicht ein Mittel wüßte, die Juden zwar unblutig, aber doch auf einmal totzuschlagen. Dieser soll darauf erwidert haben, er wäre im Besitz eines wirksamen Mittels, „zwar nicht die Juden auf einmal, wohl aber das Judentum allmählich totzuschlagen“82. Brands Vorschläge sind in modifizierter Weise in Wilhelm v. Humboldts Memorandum vom 17. Juli 1809 „Über den Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden“ eingegangen, in denen der große Reformer sich zwar dafür ausspricht, „Juden und Christen vollkommen gleich zu stellen“83, zugleich aber auch ein spezifiziertes Programm entwickelt, wie das Judentum „totzuschlagen“ sei: „Man sorge, wie das Edict sehr gut thut, für aufgeklärte und gelehrte Rabbiner, bestelle ja keinen Ober-Rabbiner [...], mache die Bande zwischen den einzelnen jüdischen Kirchen [= Gemeinden] recht locker, führe nicht eine eigene Orthodoxie unter den Juden ein, sondern befördere durch natürliche und billige Toleranz vielmehr Schismen, und die jüdische Hierarchie wird von selbst zerfallen. Die Individuen werden gewahr werden, dass sie nur ein Cärimonial-Gesetz und eigentlich keine Religion hatten, und werden [...] sich von selbst zu der christlichen wenden.“84 b) Das Emanzipationsedikt von 1812 Diesem Zweck diente dann auch und vor allem das Emanzipationsedikt vom 11. März 181285, das in seinem Paragraphen 1 bestimmte, daß alle „in Unsern Staaten jetzt wohnhaften, mit General-Privilegium, Naturalisations-Patenten, Schutzbriefen und Konzessionen versehenen Juden und deren Familien [...] für Einländer und

81

Vgl. ebd., S. 443. Vgl. BRANN, Schlesische Judenheit, S. 16. 83 Vgl. W. v. HUMBOLDT: Gesammelte Schriften 10, 2. Abt. Politische Denkschriften 1, Berlin 1903, S. 97-115, bes. S. 102. 84 Ebd. S. 105. Zu Humboldt vgl. auch H. LIEBESCHÜTZ: Judentum und deutsche Umwelt im Zeitalter der Restauration, in: H. Liebeschütz/A. Paucker (Hg.), Das Judentum in der Deutschen Umwelt 18001850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tübingen 1977, S. 1-54, bes. S. 3f. 85 Der Text findet sich u.a. bei E.R. HUBER (HG.): Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte 1, Stuttgart 21961, S. 45-47. 82

332 Preussische Staatsbürger zu achten“ seien86. Das preußische Gesetz muß im Zusammenhang mit der amerikanischen Bill of Rights von 1776, dem Toleranzpatent Josephs II. von 1782 und dem Gesetz der französischen Nationalversammlung von 1791 gewürdigt werden, durch die die aufgeklärte Menschenrechtsdiskussion zur praktischen Nutzanwendung weiterentwickelt worden war. Auch wenn hier auf die rechtlichen Details dieses Emanzipationsediktes nicht weiter eingegangen werden kann, muß doch fest gehalten werden, daß damit durch einen Eingriff „von oben“ her eine Minderheitenfrage, die bisher immer auf die wechselnde Gunst der Mehrheitsbevölkerung angewiesen war, aus ihrer Nischenexistenz in einer Weise befreit wurde, die auf eine Umkehrung aller bis dahin gültigen Werte hinauszulaufen schien. Gleichsam schlagartig wurde dadurch der „Staatsantisemitismus“ außer Kraft gesetzt, der letztlich immer ein religiös motivierter Antijudaismus gewesen war, konnte der Makel des Judeseins doch durch die Taufe immer noch gleichsam spurlos beseitigt werden. Die Juden erhielten durch das „preußische Kompromißmodell“ der Emanzipation87 das „Staatsbürgerrecht“ zuerkannt, wenngleich dieses bei genauer Betrachtung auch nicht mehr als ein „erweitertes und generell ausgesprochenes Privileg (war), das die Juden nur privatrechtlich den preußischen Einwohnern anglich“88. Die Möglichkeiten einer akademischen Karriere etwa blieben noch auf lange Zeit hin für Juden beträchtlich eingeschränkt, und völlig verschlossen waren für Juden auch weiterhin Beamtentum89 und Offizierslaufbahn90. Vielleicht der erste jüdische Beamte in Schlesien überhaupt war jener Briefträger, den die Postbehörde um 1825 in Breslau einstellte, damit er die in hebräischen Buchstaben beschrifteten Briefe, die von Juden aus Polen nach Breslau geschrieben wurden, sortierte und austrug91.

86

Vgl. I. FREUND: Die Emanzipation der Juden in Deutschland, 2 Bde., Berlin 1912; STERN, Der preußische Staat und die Juden (pass.); P. BAUMGART: Absoluter Staat und Judenemanzipation in Brandenburg-Preußen, in: Jb. für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 13/14, 1965, S. 60-87. 87 Vgl. z.B. A. EISENBACH: Die Judenemanzipation in den polnischen Gebieten im 19. Jh. vor dem europäischen Hintergrund, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 68/1984, S. 3-21, bes. S. 17ff. Die überarbeitete Fassung dieses Aufsatzes erschien unter gleichem Titel in S. Jersch-Wenzel (Hg.), Deutsche - Polen - Juden. Ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jh. = Einzelveröffentlichungen der Hist. Kommission zu Berlin 58, Berlin 1987, S. 169-189. 88 R. KOSELLECK: Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1975, S. 60. 89 Vgl. M. RICHARZ: Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678-18848 = Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 28, Tübingen 1974. 90 Vgl. H. FISCHER: Judentum, Staat und Heer in Preußen im frühen 19. Jh. Zur Geschichte der staatlichen Judenpolitik = Schriftenreihe wissenschaftl. Abhandlungen des LBI 20, Tübingen 1968. 91 Vgl. den Teildruck aus den „Lebenserinnerungen“ des führenden Berliner Bankiers Aron Hirsch Heymann (1802-1880) bei M. RICHARZ HG.): Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur

333 Daß die Durchsetzung des Emanzipationsedikts überhaupt noch in Angriff genommen wurde, ist wohl auch mit dem Ausbruch der Befreiungskriege zu erklären. Diese gaben den jüdischen Bürgern Gelegenheit, ihre patriotische Gesinnung in Tat92 und Wort93 unter Beweis zu stellen. Nach dem Sieg über Napoleon, der auch in mancher schlesischen Synagoge durch eine besondere Festpredigt gefeiert worden war94, setzten sich aber die gesellschaftlichen Orientierungen eines restaurativen Denkens dann allerdings wieder so energisch durch, daß die Realisierung der den preußischen Juden in Aussicht gestellten bürgerlichen Gleichberechtigung, besonders im Gefolge des Wiener Kongresses, nur noch sehr zögernde Fortschritte machte95. Aber das betraf ja den gesamten gesellschaftlichen und politischen Modernisierungsprozeß, der zu Beginn des 19. Jh.s mit der Gewährung der Gewerbefreiheit, dem freieren Zugang zum Grundbesitz und der Bauernbefreiung eingeleitet worden war. Für die Emanzipation der Juden bedeutete das allerdings, das deren erste revolutionäre Phase beendet war, alle weiteren Fortschritte konnten in Zukunft nur noch auf evolutionärem Wege erreicht werden. Die Bedeutung des Emanzipationsedikts von 1812 wurde auch von den Breslauer Judenältesten anerkannt, wenn sie an den Staatskanzler schrieben: „Welche Worte haben die Größe des Umfangs, um die Dankgefühle kräftig an den Tag zu legen, die uns bei Erblickung der uns nun zu Theil gewordnen Würde der Klasse der Staatsbürger einverleibt zu sein, ergriffen.“96 Am 2. Nov. 1812 wurden die Gemeinden zur Wahl von „Repräsentanten“ aufgefordert, mit den über die „allgemeinen Grundsätze“ der jetzt auszuführenden Reformen beraten werden sollte. Die Wahl dieser VertrauSozialgeschichte 1780-1871 = Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts, Stuttgart 1976, S. 213-235, bes. S. 221. Aus Schlesien meldeten sich mindestens 67 Juden als Freiwillige, unter ihnen der Student Meyer Hilsbach, der erste jüdische Offizier in der preußischen Armee. Die „Schlesische Zeitung“ berichtete über seinen Heldentod in der Schlacht von Groß-Görschen: „Seine Glaubensgenossen mögen dankbar anerkennen, daß sein Beispiel manche Zweifel beseitigte und ihren Jünglingen ein herrliches Muster aufstellte.“ Vgl. Katalog der Ausstellung „Das Judentum in der Geschichte Schlesiens“, Jüdisches Museum Breslau, Breslau 1929, S. 31. Vgl. weiter M. PHILIPPSON: Der Anteil der jüdischen Freiwilligen an dem Befreiungskriege 1813 und 1814, in: MGWJ 50, 1906, S. 1-21, 220-247; HEPPNER, Jüdische Persönlichkeiten, S. 20f. Neben Hilsbach hatte die jüdische Gemeinde Breslaus auch den Tod der Freiwilligen Julius Burgheim und Lazarus Zülchauer zu beklagen. Bekannt wurde auch der Kriegskommissar Blüchers, der aus Zülz stammende Simon Kremser, der 1806 für die Rettung der Kriegskasse den Orden „Pour le mérite“ verliehen bekam und 1825 in Berlin den „Kremser“ einführte; vgl. E.G. LOWENTHAL: Juden in Preußen. Ein biographisches Verzeichnis, hg. vom Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin 1981, S. 123. 93 Vgl. M. BRANN: Aus der Zeit von vor hundert Jahren, in: MGWJ 59, 1915, S. 131-141. 94 Vgl. J. JACOBSOHN: Eine Predigt aus der Zeit der Befreiungskriege, in: Menorah 4, 1926 (Nr. 5 Sonderheft „Kultur in Schlesein“), S. 266-270. 95 Vgl. LIEBESCHÜTZ, Judentum und deutsche Umwelt. 96 Zitiert nach BRANN, Schlesische Judenheit, S. 18. 92

334 ensmänner kam zwar noch zustande, aber die Ereignisse der Zeit, der Krieg gegen Napoleon und seine Folgen, insbesondere die politischen Maximen der Heiligen Allianz vom 26. Sept. 1815, verhinderten dann zumindest vorläufig jeden weiteren Schritt in der vorgenommenen Richtung. Zahlreiche der Grundsätze des Emanzipationsedikts wurden ausgehöhlt, ihre praktische Umsetzung zumindest immer weiter hinausgeschobene und schließlich in substantiellen Teilen auch ganz aufgegeben97. Insbesondere die Behandlung der im Gefolge des Emanzipationsedikts notwendig gewordenen Verfahren zur Erteilung des Bürgerrechts läßt die alltäglichen Schwierigkeiten anschaulich werden, mit denen Juden dann erneut zu kämpfen hatten98. Von welcher Seite hauptsächlich die Emanzipation der Juden immer wieder hintertrieben wurde, offenbart der Bericht der Schlesischen Provinzialstände über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden von 1824. In diesem erweisen sich alle alten Vorurteile und Ängste gegenüber den Juden als immer noch so lebendig, daß erneut auf die Mittel der Repression verwiesen wird: „Ist daher die Emancipation der Juden zu voreilig erfolgt, und muß das Gesetz welches sie aussprach einer Beschränkung unterliegen, so würde sich das Zweckgemäße auch nur auf diesem Wege finden laßen.“99 Der Einspruch der jüdischen Gemeinde in Breslau gegen diese rückwärtsgewandte Politik verhallte zunächst weithin erfolglos100. Erst durch die Erschütterungen der Revolution von 1848/49 sollte auf längere Sicht eine neue Lage herbeigeführt werden. Zunächst aber löste auch diese an manchen Orten heftige antijüdische Tumulte aus, so z.B. 1848 in Gleiwitz, wo Max Ring (1817-1901), der seinerzeit beliebte Dichter und Schriftsteller, sich nur durch die Flucht vor einem drohenden Pogrom, der durch ein Flugblatt „Nur keine Judenemanzipation“ eingeleitet worden war, retten konnte101.

97

Vgl. ebd., S. 19ff. Vgl. die sorgfältige Dokumentation für Glogau hierzu bei LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 124ff.Zu welchen geradezu grotesken Aktionen der Wunsch nach Erwerb des Staatsbürgerbriefes in Einzelfällen führen konnte, dokumentiert E. LUSTIG: Aus dem Leben von Löbel Moses Troplowitz 1785-1860, in: Mitteilungen des Beuthener Geschichts- und Museumsvereins 49, 1989, S. 117-131. 99 Vgl. ebd., S. 145-152, bes. S. 147. 100 Vgl. G. RIESSER: Sendschreiben israelitischer Preußen an die Mitglieder des vereinigten Landtags, Leipzig 1847; I. FREUND: Urkundliches zur neueren preußischen Judengeschichte, in: FS zum 75jährigen Bestehen des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel'scher Stiftung, Bd. 2, Breslau 1929, S. 85-94. 101 Vgl. M. RING: Erinnerungen 1 = Aus dem Neunzehnten Jahrhundert. Briefe und Aufzeichnungen hg. von K.E. Franzos, Berlin 1898, S. 203ff. 98

335 3. Emanzipation als innerjüdisches Problem Die Emanzipation der Juden bewirkte, so aufhaltsam dieser Prozeß im einzelnen auch verlief, einen tiefgreifenden Wandel in deren wirtschaftlicher Lage und ihrem Sozialprestige. Die neuen sozioökonomischen Strukturen der jüdischen Bevölkerung wurden gekennzeichnet durch die Herausbildung der Bourgeoisie, eines sehr zahlreichen Kleinbürgertums und einer markanten Intelligenzschicht, aber auch durch tiefgreifende Veränderungen des kulturellen Milieus, des Lebensstils, der sozialen Kontakte, der Mobilität und überhaupt der jüdischen Mentalität102. Erst jetzt entstand eigentlich das Problem der jüdischen Identität, das unter dem Stichwort „Judenfrage“103 zum Dilemma wurde angesichts der fordernden Erwartung auch in weiten Kreisen des Judentums, die fortschreitende bürgerliche Integration der Juden sei unlösbar verbunden mit deren Assimilation bzw. Akkulturation an die zumindest noch nach außen hin durchgängig christlich geprägte Mehrheitsbevölkerung. Aber auch diese Perspektive erwies sich bei näherer Betrachtung als höchst problematisch: „Akkulturierten sich die Juden, so wurden sie weniger verachtet, aber um so mehr als Konkurrenten und Emporkömmlinge gefürchtet und beneidet, verweigerten sie die Anpassung, so blieben sie verachtet und verspottet und galten als unwürdig und ausgeschlossen von jeder weiteren rechtlichen und gesellschaftlichen Emanzipation.“104 Prinzipiell gab es drei Möglichkeiten, wie sich das Judentum angesichts der Chancen und Gefahren, die die Emanzipation mit sich brachte, verhalten konnte: man konnte erstens in Beharrung auf einer starr traditionsgebundenen Orthodoxie versuchen, den alten und in vielfacher Weise als unwürdig erkannten Zustand festhalten; man konnte zweitens die Assimilation als die dem Zeitgeist entsprechende Lösung der „Judenfrage“ akzeptieren, oder aber drittens die Herausforderungen der Zukunft annehmen und versuchen, unter völlig neuen Bedingungen ein vertieftes Verhältnis zum eigenen religiösen und kulturellen Erbe, zur jüdischen Identität, zu gewinnen.

102

Vgl. EISENBACH, Judenemanzipation, S. 4. Vgl. J. TOURY: “The Jewish Question”. A Semantic Approach, in: LBI Year Book 11, 1966, S. 85106; R. RÜRUP: Die „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung des modernen Antisemitismus, in: Ders., Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 15, Göttingen 1975, S. 74-94. 104 Vgl. W. BERGMANN/R. ERB: „Die Juden sind bloß tolerirt“. Widerstand der christlichen Umwelt gegen die Integration der Juden im frühen 19. Jh., in: Zeitschrift für Volkskunde 83, 1987, S. 193-218, bes. S. 218. 103

336 Auch in Schlesien war über die Grundbedingungen für die Emanzipation der Juden intensiv nachgedacht worden105. So las man in den „Schlesischen Provinzblättern“ von 1798: „Gebe Gott, daß allen jüdischen Gemeinen - oder doch den meisten bereits erleuchteten Juden - die Augen über alle Unordnungen, Unregelmäßigkeit, verkehrten, vernunftwidrigen und auf unsre Zeiten gar nicht mehr anwendbaren Sitten und Gebräuche aufgingen, und sie einsehen lernten, wie nothwendig und wie heilsam es für ihr zeitliches und künftiges Heil wäre, eine, auf Vernunft und Moral gegründete Reformation vorzunehmen, die dem Wesentlichen ihrer ursprünglich unvergleichlichen Religion keinen Abbruch thäte; daß sie Ansehen lernten, daß nicht die Aeusserungen; sondern die guten Handlungen dem Menschen Werth und Adel geben; daß sie einsehen lernten, daß wahre Religiosität nicht auf eitelm leerem Wortgepränge, nicht auf unbedeutenden Formeln und Gebräuchen: sondern auf reiner Vernunftüberzeugung von der Existenz eines höchsten über alles waltenden, und die ganze ungeheure Schöpfung leitenden, Wesens gegründet ist. [...] Gebe endlich Gott, daß dieser so erhabene als gütige König die Rechte und Freyheiten, die er keinem seiner nicht jüdischen Unterthanen verweigert, wenn sie die Gesetze des Landes, der Vernunft und der Moral treulich befolgen, auch denjenigen seiner jüdischen Unterthanen, die mit Freude und Dankbarkeit die Befolgung aller Gesetze und die Erfüllung aller Pflichten zu übernehmen bereit sind, zu ertheilen geruhen möge.“106 Solche Appelle zu einer „Euthanasie des Judentums“, um einen Ausdruck Kants aufzugreifen107, stießen zumindest in Teilen auch der Breslauer jüdischen Bürgerschaft auf lebhafte Resonanz108, bemühte sich dort doch schon seit 1780 die „Gesellschaft 105

Vgl. auch P. MASER: Breslauer Judentum im Zeitalter der Emanzipation, in: JSFWUB 29, 1988, S. 157-176. [Anonymus:] Darstellung der Vorgänge und Resultate, wegen der aufs neue in Anregung gebrachten frühen Beerdigung der Juden, bey der jüdischen Gemeinde zu Breslau, in: Schlesische Provinzialblätter 1978, 7. Stück Juli, S. 21-53, bes. S. 49-52. 107 Vgl. Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 7: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, ND: Berlin 1968, S. 53; vgl. weiter M. GRAUPE: Kant und das Judentum, in: ZRGG 13, 1961, S. 308-333. 108 Vgl. die lebendige Schilderung der Breslauer Verhältnisse vor 1800 in S. MAIMON: Lebensgeschichte von ihm selbst geschrieben und erzählt, hg. von K.Ph. Moritz, neu hg. von Zwi Batscha, Frankfurt/M. 1984. Der aus Litauen stammende Philosoph und Kant-Schüler (1754-1800), dessen „Gesammelte Werke“ als chemographische Nachdrucke der Erstausgaben in sieben Bänden 1965 von V. Verra in Hildesheim ediert wurden, verbrachte seine letzten Lebensjahre in Nieder-Siegersdorf bei Glogau. Als er am 22.11.1800 starb, gewährten ihm die Glogauer Juden nur unwillig einen Begräbnisplatz, den handschriftlichen Nachlaß Maimons sollen sie verbrannt haben; vgl. auch LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 283. Hinzuweisen ist hier auch auf das Wirken Ephraim Kuhs (1731-1790) zwischen Aufklärung und Traditionalismus, vgl. M. KAYSERLING: Der Dichter Ephraim Kuh. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1864; A. GALLINER: Ephraim Kuh. Ein jüdisch-deutscher Dichter der Aufklärungszeit, in: Bulletin des LBI 5, 1962, Nr. 17/20, S. 189201. 106

337 der Brüder“, in der sich die gebildeten und wohlhabenden jüdischen Bürger der Stadt zusammengefunden hatten109, um die Verbreitung von Bildung, Aufklärung und die soziale Verbesserung der ärmeren Glaubensgenossen voranzutreiben110. Das führte verständlicherweise zu allerhand Konflikten, da die Landrabbiner ja noch ganz auf dem Boden der traditionellen jüdischen Frömmigkeit und Gelehrsamkeit standen. Als am 15. März 1791 in Breslau die Kgl. Wilhelms-Schule mit 125 Schülern eröffnet wurde111, deren Hauptlehrer Joel Brill Löwe (1762-1802) eine bekannte Gestalt im Kreis um Moses Mendelssohn war112, kam es zu langwierigen Auseinandersetzungen um die Frage des Talmudunterrichts, für den Landrabbiner Josef Ionas Fränckel das religionsgesetzlich vorgeschriebene Aufsichtsrecht fordern mußte113. Zum Skandal entwickelte sich der Werdegang des Ober-Landrabbiners Lewi Saul Fränckel, der im Jahr 1800 berufen wurde. Dieser hochbegabte Abkömmling einer der großen jüdischen Gelehrtenfamilien Schlesiens vermischte grundlegende Ideen der Aufklärungsepoche zu einem heillosen Konglomerat, konvertierte 1807 zum Christentum und suchte vor seinem Tod am 30. Nov. 1815 wieder den Anschluß an die Religion seiner Väter114. Auch der Kampf, den Salomon Tiktin (1791-1843)115, der orthodoxe Breslauer Oberrabbiner ab 1824, bis zu seinem Tod 1843 gegen Abraham Geiger (1810-1874)116, den bedeutendsten Vertreter der religiösen Reformbewegung, führte, muß hier erwähnt werden, führte er doch noch 1846, also nach Tiktins Tod, zu einer Spaltung der Breslauer Gemeinde in zwei „Kultusverbände“, von denen der eine unter Geigers Führung stand, während der andere dem Sohn Salomo Tiktins, Gedalja (1810-1886), zugeordnet wurde. Der Streitpunkt, um den es hier ging, betraf vordergründig nur ei109

1793 wurde die „Zweite Brüdergesellschaft“ ins Leben gerufen, die weniger exklusiv in ihren Ansprüchen an die Mitglieder war. 110 Vgl. M. BRANN: Geschichte der Gesellschaft der Brüder in Breslau, Breslau 1880. Die jüdische Freimaurerloge, die sich um 1790 in Breslau gebildet hatte und vornehmlich „gutmüthige Einrichtungen“ verfolgte, wie [Kausch], Ausführliche Nachrichten, S. 119f., berichtet, scheint keinen Bestand gehabt zu haben. 111 Vgl. zu den Einzelheiten [KAUSCH], Ausführliche Nachrichten, S. 118f. 112 Vgl. M. ROSENFELD: Art.: J.B. Loewe, in: JL 3, Sp. 1230. 113 Vgl. BRANN, Geschichte des Landrabbinats, S. 258ff. 114 Vgl. ebd., S. 266ff. Zum Problem des Konvertitentums in der Emanzipationszeit vgl. J. KATZ: Aus dem Ghetto in die bürgerliche Gesellschaft. Jüdische Emanzipation 1770-1870, Frankfurt/M. 1986, S. 119-139: „Die flüchtigen Randgestalten“. 115 Vgl. M. WIENER: Abraham Geiger and Liberal Judaism. The Challenge of the Nineteenth Century, Philadelphia 1962, S. 17-33. 116 Vgl. ebd., passim; L. GEIGER (HG.): Abraham Geiger. Leben und Lebenswerk, Berlin 1910, bes. S. 50-138 (Lit.); H. VOGELSTEIN: Abraham Geiger, in: Schlesische Lebensbilder 1, Breslau 1922 (ND: Sigmaringen 1985), S. 263-266.

338 ne Quisquilie aus dem talmudischen Familienrecht, tatsächlich aber stritt man um die legitime Autorisation und Führung des Rabbineramtes, wobei Geiger auf der Vereinbarkeit dieses Amtes mit der freien Forschung bestand117, die Amtstracht des Rabbiners und den Religionsunterricht. Da die Staatsbehörden nicht zögerten und aus rechtlichen Gründen auch nicht zögern durften118, bei solchen intern-jüdischen Auseinandersetzungen direkt einzugreifen, wurde der Zusammenhalt der Gemeinde dadurch immer wieder schwersten Belastungsproben ausgesetzt119. Hatten zuerst die Anhänger Geigers und damit der Reform die Überhand in Breslau gewonnen, so wendete sich allmählich das Blatt, daß sich um 1855 etwa 650 Gemeindeglieder für Geigers Position erklärten, während rund 950 sich für Gedalja Tiktin und die Orthodoxie aussprachen. Welche Unterstützung aus Berlin der orthodoxen Fraktion zuteil wurde, erhellt die Tatsache, daß Gedalja Tiktin noch durch Kabinettsordre des Königs vom 30. Jan. 1854 der inzwischen völlig unzeitgemäße persönliche Titel eines „Landrabbiners in Schlesien“ verliehen wurde120. Trotz solcher Widrigkeiten arbeitete Geiger in Breslau jedoch keineswegs ohne meßbare Erfolge. Ihm gelang es, Breslau zum Tagungsort der dritten Rabbinerversammlung von 1846 zu machen, die zu einem Markstein in der Entwicklung des deutschen Reformjudentums werden sollte121, zugleich aber auch als „der letzte erfolgversprechende Versuch“ bewertet werden muß, „eine einheitliche Richtung“ im deutschen Judentum durchzusetzen122. Noch größere Bedeutung erlangte allerdings das „Israelitische Gebetbuch“, das Geiger 1854 ganz im Geiste der Reform redigiert hatte123, also durchwegs mit deutschen Übersetzungen der stark gekürzten hebräischen Gebete, in denen zudem alle anthropomorphen Gottesaussagen sowie die nationaljüdischen und eschatologischen

117

Vgl. die vom Breslauer Gemeindevorstand herausgegebenen Hefte „Rabbinische Gutachten über die Verträglichkeit der freien Forschung mit dem Rabbineramte“, die im Herbst 1842 und März 1843 erschienen. 118 Grundlage allen behördlichen Eingreifens in die inneren Verhältnisse der jüdischen Gemeinde blieb die Kgl. Kabinettsorde vom 11. Sept. 1842, die es zwar ablehnte, „in die Differenzen, welche zwischen den Juden über ihren Kult entstehen mögen“, einzugreifen, dann aber darauf drang, „daß bei dem jüdischen Kultus eine in dem Herkommen nicht begründete Nachahmung christlicher Ornate der Rabbiner und Synagogendiener in keiner Weise geduldet werde“. Vgl.GEIGER (HG.), Abraham Geiger, S. 84. 119 Vgl. BRANN, Geschichte des Landrabbinats, S. 255ff. 120 Vgl. GEIGER (HG.), Abraham Geiger, S. 93ff. 121 Vgl. D. PHILIPPSON: The Reform Movement in Judaism, New York 1907. 122 Vgl. ELBOGEN/STERLING, Geschichte, S. 216. 123 Seder tefilloh dewar jaum bejaumau. Israelitisches Gebetbuch für den öffentlichen Gottesdienst im ganzen Jahr, mit Einschluß der Sabbate und sämtlicher Feier- und Festtage. Geordnet und mit einer neuen deutschen Bearbeitung versehen, Breslau: Julius Hainauer 1854. Von diesem Gebetbuch, das Siddur und Machsor zum synagogalen Gebrauch vereinte, erschien 1870 eine Neuauflage in zwei Bänden bei L. Gerschel in Berlin.

339 Partien eliminiert worden waren124. Wenn sich also in Breslau auch Reform und Orthodoxie in einer Weise gegenüberstanden, daß Geiger schließlich Breslau verließ, so war seine Arbeit doch keineswegs ohne äußere Anerkennung, und die Feier seines 25jährigen Amtsjubiläums am 21. Nov. 1857 wurde in der Öffentlichkeit stark beachtet125. Neben diesen Streitigkeiten, die im Gegensatz von Tradition und Reform vor allem das Breslauer Judentum erschütterten, drückten aber auch noch ganz andere und nun wirklich existenzbedrohende Schwierigkeiten das innere Leben der jüdischen Gemeinden in Schlesien nieder126, die im März 1812 insgesamt genau 3.755 Glieder zählten127. Die Emanzipationsgesetzgebung hatte doch immerhin zuwege gebracht, daß es ein gesetzlich verfaßtes Judentum nicht mehr gab: Die Judenältesten, die Obervorsteher-Kollegien und auch die Rabbiner besaßen keinerlei amtliche Autorität mehr. Die rabbinische Gerichtsbarkeit war ebenso vollständig aufgehoben wie schon vorher alle Kirchen- oder Synagogen- und Ritual-Connexion. Die Beziehungen der schlesischen Gemeinden untereinander lösten sich auf: „Das ehrwürdige Gebäude der altjüdischen Gemeindeverwaltung und des hergebrachten Kultus wurde nur noch durch die in den Familien und Gemeinden fortlebende Pietät aufrecht erhalten.“128 Noch drastischer wurde der Zustand des Judentums allerdings schon in einer amtlichen Verordnung vom 10. März 1812 beschrieben, wenn dort davon ausgegangen wurde, das Judentum sei heutigentages nicht mehr „als eine Religionspartei, sondern nur als Trümmer eines aufgelösten Volkes zu betrachten“129. Wie lange Pietät allein noch ausgereicht hätte, das schlesische Judentum zusammenzuhalten, läßt sich schwerlich sagen. Insgesamt konnten die Auspizien aber schon deshalb nicht positiv bewertet werden, weil allzu stark divergierende Einzelinteressen jetzt ohne jede bindende Verpflichtung zu gemeinsamem Wirken und trag124

Zu den Leitideen, die hier umgesetzt wurden, vgl. A. GEIGER: Grundzüge und Plan zu einem neuen Gebetbuche, Breslau: Leopold Freund 1849. Vgl. Breslauer Zeitung vom 23. Nov. 1857, S. 2278, Bericht von D. Honigmann. 126 Zu den theologisch bedeutendsten Vertretern jüdischer Orthodoxie gehörte der Beuthener Rabbiner Israel Deutsch (1800-1853), vgl. seine Briefe bei F. KOBLER: Jüdische Geschichte in Briefen aus Ost und West. Das Zeitalter der Emanzipation, Wien 1938, S. 95-103, und sein Bruder David Deutsch (1846-1873 Rabbiner in Sohrau), der orthodoxes Grundverständnis mit Reformbereitschaft im einzelnen zu vereinen wußte, vgl. I. DEUTSCH: Chronik der Synagogen-Gemeinde Sohrau O.-S., in: Jüdische Literaturblätter 24, 1900, S. 26-28. 35-37, bes. S. 35. 127 Vgl. Verzeichniß sämmtlicher in der Provinz Schlesien Breslauer Regierungs-Departements befindlichen jüdischen Staatsbürger, in: Beilage zum 45. Stück Amtsblatt der Königlich Breslauschen Regierung, März 1812 (47 S.) 128 BRANN, Schlesische Judenheit, S. 27f. 129 Vgl. ebd., S. 26 Anm. 1. 125

340 fähigem Interessenausgleich nebeneinander her existierten. Den streng traditionellorthodoxen Gruppen drohte die innere geistige und geistliche Verkrustung, die sie unfähig zu machen drohte, sich den Anforderungen einer neuen Zeit und ihrer liberaleren Tendenzen zu stellen. Die aufklärerischen Kräfte aber waren in der Gefahr, Aufweichungserscheinungen gegenüber einem Christentum zu erliegen, das im Namen von Vernunft und Toleranz zu Assimilation und sozialem Aufstieg einlud. 4. Jüdischer Neubeginn als Antwort auf die Emanzipation Angesichts dieser Lage konnte nur der Prozeß der Selbstbesinnung innerhalb des schlesischen Judentums den Weg in eine Zukunft sichern, in der das Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte und Gruppen auf eine völlig neue Grundlage gestellt wurde. Breslau sollte hierbei eine Schlüsselrolle zukommen, trafen hier doch mehrere Faktoren glücklich zusammen, die einen solchen Neubeginn ermöglichten. a) Die Storch-Synagoge in Breslau (1829) Zu Beginn des 19. Jh.s beteten die Breslauer Juden in mehr als zwanzig verschiedenen Synagogen und Bethäusern, die oft von der kümmerlichsten Art waren und jede Würde vermissen ließen130. Die vom Geist der Aufklärung inspirierten Staatsbehörden sahen in diesem betrüblichen Zustand aber vor allem die Gefahr, daß die Juden dadurch bei ihrem „Aberglauben“ festgehalten werden könnten, und dekretierten deshalb in aller Offenheit: „Ferner solle man darauf sehen, daß nicht zu viele Tempel und Kirchhöfe entständen, um sie (d.s. die Juden) durch allmähliche Entfernung von ihren großenteils schlecht bestellten Synagogen zu mehr vernunftgemäßem Nachdenken über Gottesverehrung zu erziehen.“131 In Breslau verband sich nun diese Zielsetzung der Behörden mit dem Wunsch der „Gesellschaft der Brüder“ nach einer neuen und größeren Synagoge, reichte die von ihr erst 1796 eingeweihte Andachtsstätte am Karlsplatz/Antonienstraße doch schon um 1815 nicht mehr aus. Als aber ein entsprechender Antrag bei den Behörden eingereicht wurde, ließ die Breslauer Regierung die jüdischen Repräsentanten im August 1819 wissen, daß „nach der ausdrücklichen Anordnung des Königs Majestät besondere Bethäuser und Privat-Synagogen der Juden nicht stattfinden sollen und, um die in dortiger Stadt befindlichen Bethäuser 130

Vgl. zu den Breslauer Synagogen J.-J. MENZEL (HG.): Breslauer Juden 1850-1945 (Ausstellungskatalog), St. Augustin 1990, S. 32-35. Zit. nach FREUDENTHAL, Emancipations-Bestrebungen, S. 426.

131

341 eingehen zu lassen, die Allerhöchste Erlaubniß ertheilt ist, daß die Judenschaft daselbst eine große, zum allgemeinen Gottesdienst geräumige Synagoge erbauen kann. Die Königl. Regierung hat daher die Judenschaft anzuhalten, die Synagoge in einem verhältnismäßig festzusetzenden Termine aufzubauen, damit dann die Bethäuser eingehen können.“132 Die Widerstände der verschiedenen Synagogenvorstände gegen die Errichtung einer „Einheitssynagoge“ waren beträchtlich, befürchtete man doch, daß ein Neubau die Einführung gottesdienstlicher Reformen begünstigen werde. Die von den Behörden vorgezeichnete Entwicklung konnte aber schon deshalb nicht mehr wirksam aufgehalten werden, weil sich die „Gesellschaft der Brüder“ mit dem staatlichen Anliegen identifizierte. Die Behörden ihrerseits ließen es dann auch nicht an Druck fehlen und drohten im April 1820 sogar mit der Schließung der bestehenden Bethäuser binnen zweier Jahre133. Es sei Sache der Judenschaft, sich bis dahin mit einer geeigneten Synagoge für die „Gesamtgemeinde“ zu versehen. Angesichts dieser Zwangslage fanden sich die einander widerstreitenden Gruppen schließlich doch zu gemeinsamem Tun zusammen. Spendenlisten wurden aufgelegt134, ein Mitbürger gefunden, der die Zwischenfinanzierung übernahm135, und der renommierte Architekt Karl Ferdinand Langhans d. J. (1782-1869)136, der 1823 die Elftausend-Jungfrauen-Kirche in Breslau entworfen hatte, mit der Planung für einen Synagogenneubau betraut. Mit seinem stilbildenden Entwurf für die Breslauer Storch-Synagoge137 an der Wallstraße, die am 23. April 1829 eingeweiht wurde138, gelang es Langhans gewisserma132

Zit. nach HEPPNER, Storchsynagoge, S. 59. Vgl. ebd. Vgl. die von HEPPNER, Storchsynagoge, S. 59f., aus dem Breslauer Gemeindearchiv mitgeteilten Einzelaufstellungen der Beiträge zum Synagogenbau. 135 Die Storch-Synagoge ging erst 1872 in den Besitz der Breslauer Gemeinde über, vgl. HEPPNER, Storchsynagoge, S. 60. 136 Vgl. M. BRIX: C.F. Langhans, in: Schlesische Lebensbilder 5, Würzburg 1968, S. 82-92 (Lit.), wo die Storch-Synagoge allerdings unerwähnt bleibt! 137 Vgl. auch H. HAMMER-SCHENK: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jh. (1780-1933), 2 Teile = Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 8, Hamburg 1981, S. 56f. und Abb. 58; C.H. KRINSKY: Europas Synagogen. Architektur, Geschichte und Bedeutung, Stuttgart 1988, S. 319f. (Abb.) Hammer-Schenks Ansicht, daß die „Einheits-Synagoge“ auch zum „Zweck einer besseren Kontrolle“ der Juden von der Regierung gefordert wurde, findet keinen Anhalt in den ausführlichen Darlegungen der Breslauer Behörden, die FREUDENTHAL, Emancipations-Bestrebungen, S.423ff., referiert. 138 Zum Einweihungsdatum vgl. HEPPNER, Storchsynagoge, S. 60. Die von Moses Simon Pappenheim für diesen Anlaß verfaßte deutsche Rede, die wegen eines Behördeneinspruchs nicht gehalten werden durfte, wurde in Pappenheims Literarischem Nachlaß, hg. von J. Hollaender, Breslau 1850, S. 165-180, gedruckt. Ein erster Druck dieser Rede war schon 1829 bei Löbel Sulzbach und Sohn in Breslau erschienen. 133 134

342 ßen auf Anhieb, ein Hauptproblem des neuzeitlichen Synagogenbaus in Mitteleuropa auf geradezu geniale Weise zu lösen. Das Problem bestand darin, daß Synagogen seit dem Beginn der Emanzipationsepoche zwar als repräsentative und sakrale Bauwerke erkennbar gemacht werden durften, zugleich aber sollten sie keinesfalls mit christlichen Kirchengebäuden verwechselbar sein. Langhans, der vor allem auch als Architekt bedeutender Theaterbauten hervorgetreten ist, entwarf einen kubusartigen Baukörper in den edlen Formen des zeittypischen Klassizismus139, den ein flaches und deshalb kaum sichtbares Dach mit einem kleinen Tambour deckt. Dominiert wird der Bau durch einen monumental proportionierten Mittelrisalit, korinthische Pilaster und einen flachen Dreiecksgiebel. Die gequaderten Fassadenwände werden durch hohe Rundbogenfenster kraftvoll gegliedert140. Spezifisch jüdische Elemente versuchte Langhans dem Bau dadurch hinzuzufügen, daß er bei der Gestaltung der Pilasterkapitelle und des Innenraums orientalisierend-ägyptisierende Motive (Palmetten, Papyrus- und Akanthusblätter) verwandte. Damit schlug er einen Weg ein, der wenig später als „maurischer Stil“ in der Synagogenarchitektur weithin bestimmend werden sollte141. Bis es aber so weit war, mußte sich das jüdische Selbstbewußtsein noch erheblich kräftigen, demonstrierte dieser importierte Stil doch in aller Öffentlichkeit die Anders- und Fremdartigkeit des Judentums. Langhans ging mit seinem Entwurf der Storch-Synagoge noch nicht so weit, aber es gelang ihm doch, den Synagogenbau endgültig vom jenem älteren schlichten Haustyp zu lösen, der bis dahin zumeist verwendet worden war. Die Aufnahme klassizistischer Formen meldete darüber hinaus nicht nur ganz allgemein den Anspruch auf Teilhabe an der zeitgenössischen Kultur an, sondern signalisierte zugleich auf geschmackvolle und dezente Weise die Weiterentwicklung von den alten „Judenschulen“, in denen sich landschaftlich, berufsständisch und religiös differenzierte Teilgrup139

HAMMER-SCHENK, Synagogen, S. 57, sieht in der Verwendung von „relativ ausgeprägten, nicht strengen, Formen des Klassizismus“ den Hinweis auf „einen konservativen Zug [...], der der jüdischen Gemeinde, zumindest nach Ansicht der Regierung, anstand“. Abgesehen von der unübersehbaren Vorliebe, die Langhans für den klassizistischen Stil hegte, verkennt diese Beobachtung aber auch, daß die Storch-Synagoge in ihrem Breslauer Umfeld durch konsequente Verwendung klassizistischer Stilelemente dem jüngsten Kirchenbau der Stadt, nämlich der Elftausend-Jungfrauen Kirche, gleichrangig an die Seite gestellt wurde. 140 Der Hinweis bei KRINSKY, Europas Synagogen, S. 319f., auf die „Fassade mit Pilastern“ der Altonaer portugiesischen Synagoge von 1771 an der Bäckerstraße (heute Hoheschulstraße) vermag keineswegs zu überzeugen, gehört dieser Bau doch noch ganz dem „Haustyp“ an; vgl. I. STEIN: Jüdische Baudenkmäler in Hamburg = Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 11, Hamburg 1984, S. 130f. und Abb. 55. 141 Vgl. generell dazu H. KÜNZL: Islamische Stilelemente im Synagogenbau des 19. und 20. Jh.s = Judentum und Umwelt 9, Frankfurt/M. 1984, wo allerdings die stilgeschichtliche Bedeutung der StorchSynagoge unerwähnt bleibt.

343 pen zu Gottesdienst und Thorastudium versammelten, zum neuzeitlichen „Tempel“ an, der als Kultstätte der Gesamtgemeinde dient. Mit der Storch-Synagoge schufen Langhans und die Breslauer Juden darüber hinaus aber auch eines der bedeutendsten Zeugnisse nichtchristlicher Sakralität in der neuzeitlich-europäischen Architektur, für die sich gleichrangige Beispiele möglicherweise am ehesten noch im nordamerikanischen Klassizismus finden lassen. b) Das Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckelscher Stiftung in Breslau (1854)142 Wenn man bei der Storch-Synagoge noch von einer Leistung sprechen kann, die der Breslauer Judenschaft fast abgezwungen werden mußte, so trifft das für jene andere Einrichtung keinesfalls mehr zu, mit der das schlesische Judentum seinen unverwechselbaren Beitrag zur Entwicklung des deutschen Judentums leistete. Am 27. Jan. 1846 starb in Breslau der Kgl. Kommerzienrat Jonas Fraenckel (geb. 1773 in Breslau), dessen Großvater Isaak Josef b. Chajim Jonah Theomim (Josef Jonas Fraenckel) sich ab etwa 1745 als „kgl. geordneter Landarbeiter“ in Breslau hohe Verdienste um den Gemeindeausbau erworben hatte143. Zusammen mit seinem Bruder David, der gleichfalls unverheiratet geblieben war, hatte Jonas Fraenckel schon 1836 in einem Erbvertrag das beträchtliche Familienvermögen für die Errichtung zahlreicher christlicher und jüdischer Wohltätigkeitseinrichtungen sowie für „ein Seminar zur Heranbildung von Rabbinern und Lehrern“ bestimmt144. Die Zeitgenossen haben die Bedeutung des Fränckelschen Testaments offensichtlich rasch erkannt. So las man in der in Leipzig erscheinenden Wochenschrift „Orient“ von 1846: „Was bisher als frommer Wunsch in der Brust von Tausenden geschlummert hat, was durch eine bettelhafte Subscription aus allen Gauen Deutschlands nicht zu Stande gebracht werden konnte, das wird endlich durch den letzten Willen eines Einzigen realisiert werden. Die Sache ist besten Händen anvertraut. Die Curatoren sind von dem regsten Eifer und dem geläuterten Bewußtsein beseelt, daß dieses folgenreiche Institut nur dann das wahre Heil des Judenthums fördern kann, wenn es sich von der Einseitigkeit der

142

Vgl. auch MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 38f. Vgl. BRANN, Geschichte des Landrabbinats, S. 252ff., und M.M. FRAENCKEL-TEOMIM: Der goldene Tiegel der Familie Fraenckel, 1928. 144 Vgl. I. RABIN: Jonas Fränckel, in: Schlesische Lebensbilder 3, Breslau 1928 (ND: Sigmaringen 1985), S. 195-202 (Lit.). Daß Fränckel erste Anregungen für seine Seminarstiftung von Geiger empfing, wird heute zumeist übersehen, weil dieser dann mit der Gründung und Gestaltwerdung des Breslauer Seminars nichts mehr zu tun hatte, vgl. GEIGER (HG.), Abraham Geiger, S. 124ff. 143

344 Tagesdoctrinen fernhielt, daß in einem derartigen Institut Wissenschaft und angestammter Glaube sich die Hand reichen.“145 Die Vorarbeiten zur Errichtung des Breslauer Seminars gestalteten sich schwierig, waren doch bisher alle Versuche, etwas Ähnliches zu schaffen, aus Geldmangel und wegen konzeptioneller Unklarheit schon in den Anfängen steckengeblieben146. In Breslau aber fand man in dem Dresdener Großrabbiner Zacharias Frankel (18011875) diejenige Persönlichkeit, die alle Voraussetzungen besaß, um das geplante Werk in Angriff nehmen zu können147. Gegenüber dem auch im Judentum weithin heimischgewordenen „Standpunkt des flachen Rationalismus und der Schöngeisterei des achtzehnten Jahrhunderts“148 erkannte Frankel es als Aufgabe der Zukunft, die zugleich zur Magna Charta des Breslauer Seminars werden sollte, nämlich „die Grundsätze der allgemeinen Wissenschaft auf das Studium der Gotteslehre und der übrigen jüdischen Religionsquellen anzuwenden und das jüdische Wissen zur jüdischen Wissenschaft empor zu entwickeln“149. Er schrieb: „Aussöhnung des Glaubens mit dem Leben, Fortschritt innerhalb des Glaubens, Erhaltung und Veredelung, Regeneration des Judenthums aus und durch sich selbst, dies ist der Kreis, in welchem sich die Bestrebungen bewegen müssen, und gemäßigte Reform muß die Losung der Gegenwart und der Zukunft sein.“150 Tatsächlich gelang es Frankel mit dieser Konzeption, das Breslauer JüdischTheologische Seminar Fraenckelscher Stiftung, das seine Arbeit offiziell am 10. Aug. 1854 aufnehmen konnte, zu einer Pflanzstätte der „Wissenschaft des Judentums“ von ganz spezifischer Art zu profilieren: „Das Seminar hat für das Judentum eine universelle Bedeutung; es gehört nicht einem Orte, nicht einem Lande, sondern der All-

145

Orient, Jg. 1846, S. 89; zit. nach M. BRANN: Geschichte des Jüdisch-Theologischen Seminars (Fraenckel'sche Stiftung) in Breslau. FS zum fünfzigjährigen Jubiläum der Anstalt, Breslau 1904, S. 15. 146 Vgl. BRANN, Seminar. Diese Darstellung ist angesichts der heutigen Quellenlage völlig unersetzlich geworden, vgl. G. KISCH (HG.): Das Breslauer Seminar. Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenckelscher Stiftung) in Breslau 1854-1938. Gedächtnisschrift, Tübingen 1963, wo man sich damit begnügen mußte, Auszüge aus Branns Arbeit von 1904 nachzudrucken (S. 39-54). 147 Vgl. M. BRANN: Zacharias Frankel. Gedenkblätter zu seinem hundertsten Geburtstage. Mit Beiträgen von Schülern Frankel's und einem Verzeichnis seiner Schriften, Breslau 1901; vgl. auch DERS., Seminar, S. 28-40. 148 Vgl. Z. FRANKEL: Alte und neue Zeit, in: MGWJ 13, 1864, S. 3-22, bes. S. 19f. 149 Vgl. DERS.: Religion und Humanität, in: MGWJ 14, 1865, S. 3-16, bes. S. 15. 150 So Frankel in der „Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judentums“, die in drei Bänden von 1844-1846 in Leipzig erschien. Hier zit. nach BRANN, Seminar, S. 38. Zu Frankels Konzeption vgl. weiter M. WIENER: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, Berlin 1939, S. 100ff. und 245f., sowie LIEBESCHÜTZ, Judentum, S. 38ff.

345 gemeinheit an; räumlich befindet es sich in Breslau, geistig muß (man es) als außer diesem Raum stehend betrachten.“151 Der Plan, das „Studium der jüdischen Theologie nach geeigneter Methode, in materieller Vollständigkeit, und in untrennbarer Vereinigung mit allgemeiner gelehrter Bildung“ in Breslau zu organisieren152, gelang auch deshalb von Anfang an in mustergültiger Weise, weil es Frankel durchsetzte, Gelehrte von überragender Bedeutung an die neue Lehranstalt zu verpflichten153. Hier sei stellvertretend für viele, die aus der „Wissenschaft des Judentums“ nicht hinwegzudenken sind, nur der Name von Hirsch Heinrich Graetz (1817-1891) genannt, der zum Begründer einer selbständigen jüdisch-nationalen Geschichtsschreibung wurde. Seine „Geschichte der Juden“ gab eine Schilderung des jüdischen Martyriums und der geistigen Selbstbehauptung von der Zeitenwende an. Graetz wurde damit nicht nur zum Begründer der jüdischen Universalgeschichte, sondern auch zu einem der meistgelesenen Interpreten des jüdischen Schicksals, dessen Betrachtungsweise nach dem größten Martyrium des jüdische Volkes, der Schoah unseres Jahrhunderts, neue Aktualität gewann154. Von Anfang an besaß das Breslauer Seminar mit der von Frankel schon seit 1851 herausgegebenen „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ ein „Hausblatt“, das - allerdings unter fast völligem Ausschluß aller orthodoxen Stimmen - zu einem der wichtigsten Zentren der geistigen Auseinandersetzung innerhalb des Judentums wurde. Die 83 Bände dieser Zeitschrift, die bis 1939 erscheinen konnten, stellen „eines der imponierendsten Denkmäler (dar), das sich der jüdische Geist

151

Zit. nach [J. FREUDENTHAL:] Das jüdisch-theologische Seminar Fränckelscher Stiftung zu Breslau am Tage seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens, den 10. August 1879, Breslau 1879, S. 62f. 152 So faßte BRANN, Seminar, S. 51f., den Organisationsplan für das zu gründende Rabbiner- und Lehrer-Seminar zusammen, den Frankel im März 1853 vorlegte. Dieser findet sich komplett abgedruckt als "Beilage I" in BRANN, Seminar, S. I-XII. 153 Vgl. zu den Lehrkräften des Breslauer Seminars sowie zu deren Veröffentlichungen und Lehrveranstaltungen BRANN, Seminar, bes. S. XVII-XXXVII (Verzeichnis der Vorlesungen 1854-1904), und KISCH, Seminar, S. 393-402 (A. JOSPE: Biographien und Bibliographien der Dozenten); MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 40-43. 154 Vgl. zusammenfassend PH. BLOCH: Heinrich Graetz. Ein Lebensbild, in: MGWJ 48, 1904, S. 3342. 87-97. 161-177. 224-241. 300-315. 346-360, E.J. COHN: Heinrich Graetz, in: Kisch, Seminar, S. 187-203 (zuerst gedruckt in JSFUB 5, 1960, S. 220-234), und F. PRIEBATSCH: Heinrich Graetz, in Schlesische Lebensbilder 2, Breslau 1926 (ND: Sigmaringen 1985), S. 286-290. Viel interessantes Material zu den Breslauer Verhältnissen in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s findet sich auch in H. GRAETZ: Tagebücher und Briefe, hg. von R. Michael = Schriftenreihe Wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 34, Tübingen 1977. Graetz' "Volktümliche Geschichte der Juden", die über Jahrzehnte hinweg ein wahres Hausbuch des deutschen Judentums war, wurde 1985 in einem sechsbändigen Reprint nach der Ausgabe Berlin-Wien 1923 vom Deutschen Taschenbuch Verlag München erneut zugänglich gemacht.

346 in der Diasporageschichte geschaffen hat“155. Hier veröffentlichten die gelehrten Dozenten des Breslauer Seminars - ausschließlich in deutscher Sprache - nicht nur ihre oft bahnbrechenden wissenschaftlichen Studien, sondern auch wichtigste Quellen zu Geschichte des Judentums. Der noch 1938 erschienene Registerband156 vermittelt einen tiefen Eindruck davon, welche klangvolle Fülle der Namen die Verfasser der rund dreitausend Aufsätze zusammenschließt, die in dieser Zeitschrift insgesamt vorgelegt wurden157. Unter dem Eindruck des in Breslau Geleisteten entstanden 1872 die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin, 1877 die heute noch existierende Budapester Landes-Rabbiner-schule, 1893 die Wiener Israelitisch-theologische Lehranstalt und einige bedeutende amerikanisch-jüdische Colleges158. Die Querverbindungen zwischen diesen Einrichtungen und ihre Abhängigkeitsverhältnisse sind im einzelnen bisher kaum befriedigend aufgearbeitet worden159. Faßbar werden sie zunächst in den Biographien zahlreicher Absolventen des Breslauer Seminars160, dann aber vor allem bei einer genaueren Betrachtung der Entwicklung der „Wissenschaft des Judentums“, die ja keineswegs nur in Breslau gepflegt wurde. Diese hat das anspruchsvolle Arbeitsprogramm, das in Breslau und später vor allem auch in Berlin aufgestellt worden war, nur in Teilen zu verwirklichen vermocht. 1927 beklagte Ismar Elbogen (1874-1943), einer der führenden jüdischen Historiker in Breslau, daß die „Wissenschaft des Judentums“ doch „fast ausschließlich Sache der Fachmänner geblieben“ wäre. „Nur auf dem Wege der Popularisierung durch Presse, Volksbildungswesen usw. sind ihre Ergebnisse in weitere Kreise gedrungen.“161 Trotzdem wird daran festzuhalten sein, daß das Breslauer Seminar die Konzeption der „Wis155

Vgl. K. WILHELM. Die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. Ein geistesgeschichtlicher Versuch, in: Kisch, Seminar, S. 327-349 (Lit.). 156 Vgl. A. POSNER (und S. HALLENSTEIN): Generalregister zu den Jahrgängen 1 bis 75 der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, 2 Teile, Breslau 1938 (ND: Tübingen 1966). 157 Vgl. auch noch L. BAERWALD: Register für die Jahrgänge 76 bis 83 der Monatsschrift, in: Kisch, Seminar, S. 351-380. 158 Zustimmend zitierte z.B. F. PRIEBATSCH: Geschichte der Juden in Schlesien, in: Menorah 4, 1926, S. 257-261, bes. S. 261, die Meinung, daß Breslau es verstanden habe, „der Hauptsitz der jüdischen Wissenschaft auf der ganzen Erde zu sein“. 159 Das gilt besonders für die Berliner Lehranstalt, deren Vorgeschichte parallel zu der des Breslauer Seminars verlief, auch wenn in Berlin die Gründung tatsächlich erst wesentlich später möglich wurde. Vgl. B. DRACHMANN: Activities, Contacts, and Experiences in Breslau, in: Kisch, Seminar, S. 317324. 160 Vgl. BRANN, Seminar, S. 134-207, und A. JOSPE: Biographien und Bibliographien der Hörer, in: Kisch, Seminar, S. 403-442. Eine wertvolle Ergänzung dazu bietete H. WECZERKA: Die Herkunft der Studierenden des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau 1854-1938, in: ZfO 35, 1986, S. 88139. 161 I. ELBOGEN: Art. „Wissenschaft des Judentums“, in: JL 4/2, Sp. 1461-1465, bes. S. 1461f.

347 senschaft des Judentums“ um eine eigenständige und höchst belangreiche Variante bereichert hat162. Bemühte man sich in Berlin vor allem um deren akademische Qualifizierung, so erkannte man in Breslau unter dem Einfluß Frankels, „dass der Wissenschaft des Judentums nur dann eine gedeihliche Wirksamkeit verbürgt sei, wenn sie der Glaubensgemeinschaft zugeführt werde in Verbindung mit den Grundlagen der allgemeinen Bildung, mit der Philosophie und dem klassischen Altertum, wenn sie herausträte aus dem beengenden Lehrhause der Vorzeit in den freien Lehrsaal moderner wissenschaftlicher Forschung“163. Die „Breslauer Schule“ mit ihrer gleichrangigen Verpflichtung gegenüber der jüdischen Tradition auf der einen und dem Prinzip freier wissenschaftlicher Forschung auf der anderen Seite verkörperte alles in allem wohl die zukunftsträchtigste Antwort auf die Emanzipation und Assimilation des Judentums im 19. Jh. Als „Mittelgruppe zwischen Orthodoxie und liberalem Judentum, deren konservativster Flügel an die orthodoxen Kreise angrenzte“164, akzeptierten die „Breslauer“ das Angebot bürgerlicher und wissenschaftlicher Emanzipation, ohne damit die Verbindung zu den Wurzeln jüdischer Existenz aufzugeben. Wenn damit die starre Alternative von Orthodoxie und Reform ausgeschlagen wurde, so machte das die Bahn für jenes Judentum frei, das in Deutschland unter der unscharfen Sammelbezeichnung „Konservativismus“ nicht mehr zu geschlossener Gestaltung finden konnte165, während es in den USA als „Conservativism“ zu großer Verbreitung und erheblichem Erfolg gelangt ist166. Die Vermittlungsposition des Breslauer Seminars hatte ohne Zweifel auch ihre Bedenklichkeiten. Neben apologetischen Tendenzen und einer gewissen Neigung zu sentimentaler Beschönigung der Vergangenheit war es vor allem das völlige Unverständnis für das geistige Wesen des osteuropäischen Judentums, für Kabbala und Chassidismus also, durch das in Breslau ganze Generationen deutscher Rabbiner geprägt wurden167. Aber damit wird ein generelles Manko der „Wissenschaft des Ju162

Vgl. WIENER, Religion, S. 175-257: „Die religiöse Idee in der Wissenschaft des Judentums“. So Stadtrat S. Marck (gest. 1888) als Kurator des Breslauer Seminars 1875, vgl. BRANN, Seminar, S. 104. 164 M. BREUER: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871-1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit. Eine Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts, Frankfurt/M. 1986, 25. 165 Vgl. A. WIENER: Art. „Konservativismus“, in: JL 3, Sp. 847-849. 166 Vgl. A. KOBER: Aspects of the Influence of Jews from Germany on American Jewish Spiritual Life, in: E. Hirschler (Ed.), Jews from Germany in the United States, New York 1955, S. 134f. 167 Ein besonders drastisches Beispiel für diese Haltung lieferte z.B. J. CARO: Polnische Juden, in: Ders., Vorträge und Essays, Gotha 1906, S. 110-130; zu Caro vgl. G. RHODE: Jüdische Historiker als Geschichtsschreiber Ostmitteleuropas: Jacob Caro, Adolf Warschauer, Ezechiel Zivier, in: Ders. (Hg.), 163

348 dentums“ markiert, das insbesondere Gershom Scholem bitter kommentiert hat168. Trotz solcher Einschränkungen wird man sagen dürfen, daß in der „Breslauer Schule“ der Typ des modernen Rabbiners geprägt wurde, der in einer grundsätzlich konservativen Haltung um Anpassung des ererbten Glaubens und der ehrwürdigen Tradition an die Forderungen der Zeit bemüht ist169. Der „Breslauer Schule“ gelang es, in der 2. Hälfte des 19. Jh.s zunächst das Erscheinungsbild des deutschen Rabbiners umzugestalten, dieses wirkte dann aber auch weit nach Südosteuropa, über Wien und Budapest, hinein, bevor es nach der Jahrhundertwende auch in Nordamerika zur Geltung kam170. III. Gemeindeausbau und Assimilierung Seit dem Beginn des Emanzipationszeitalters läßt sich nicht mehr ohne weiteres von einer spezifischen Geschichte des schlesischen Judentums sprechen, kann diese nun doch nur noch als Teil der Geschichte der Juden zunächst in Preußen und dann in Deutschland verstanden und dargestellt werden171. Aber damit enden die Schwierigkeiten noch nicht, die sich einer Darstellung der Geschichte des schlesischen Judentums nach 1812 entgegenstellen, für die ohnehin bis nur vergleichsweise wenige Spezialuntersuchungen vorliegen. Die Gründe hierfür liegen nicht in der Quellenüberlieferung, die allerdings auch noch längst nicht hinreichend aufgearbeitet worden ist, sondern in den spezifischen Problemen, die der Darstellung der Geschichte des deutschen Judentums anhaften, sobald diese mehr als die Geschichte einzelner jüdischer Gemeinden, Organisationen, Unternehmen oder Persönlichkeiten zu erfassen versucht.

Juden in Ostmitteleuropa von der Emanzipation bis zum ersten Weltkrieg = Ostmitteleuropa-Studien 3, Marburg/L. 1989, S. 99-113. Vgl. auch die kritischen Bemerkungen von K. WILHELM: Etwas vom jüdisch-theologischen Seminar in Breslau, in: S.F. RÜLF (HG.): Paul Lazarus Gedenkbuch. Beiträge zur Würdigung der letzten Rabbinergeneration in Deutschland, Jerusalem 1961, S. 52-59. 168 Vgl. G. SCHOLEM: Major Trends in Jewish Mysticism, Jerusalem 1941, S. VIIIf.; DERS.: Wissenschaft des Judentums einst und jetzt, in: Ders., Judaica 1 = Bibliothek Suhrkamp 106, Frankfurt/M. 1963, S. 147-164. 169 Vgl. auch K. FUCHS: Zur Entstehung, Entwicklung und Schließung des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau (Fraenckelsche Stiftung), in: JSFWUB 31, 1990, S. 301-306. 170 Vgl. A. ALTMANN: The German Rabbi: 1910-1939, in: YLBI 19, 1974, S. 31-49; A. JOSPE: A Profession in Transition. The German Rabbinate 1910-1939, in: ebd., S. 51-59. 171 Vgl. hierzu generell I. ELBOGEN/E. STERLING: Die Geschichte der Juden in Deutschland, Wiesbaden 1982. Ismar Elbogen (1874-1943) studierte am Breslauer Seminar, lehrte ab 1899 am Collegio Rabbinico Italiano in Florenz und ab 1903 an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, bis er 1938 nach New York emigrierte. Seine „Geschichte der Juden in Deutschland“ erschien erstmals 1935 und wurde 1966 in überarbeiteter und erweiteter Fassung wieder aufgelegt.

349 Mit der Emanzipation zerbrach die durch Jahrhunderte völlig selbstverständliche Einheit zwischen dem jüdischen Individuum und der jüdischen Kultusgemeinde. Die bis dahin alles in allem über Jahrhunderte tradierte jüdische Einheitskultur mußte der Assimilation weichen. Das Judentum wurde zur Konfession, die dem preußischen Staatsbürger nur noch als gleichsam privates und damit sekundäres Merkmal anhaftet. Insofern wäre es nur korrekt, wenn sich eine Darstellung der Geschichte der Juden in Schlesien ab 1812 ausschließlich auf die Entwicklung der jüdischen Gemeinden und Organisationen in dieser Provinz Preußens beschränken würde. Jede darüber hinausgehende Inanspruchnahme von Menschen jüdischer Herkunft, die sich nicht mehr zu einer jüdischen Gemeinde hielten und zum Judentum bekannten, müßte sich den Vorwurf einer letztlich am Rassegedanken orientierten Betrachtungsweise stellen. Eine solche reinliche Scheidung birgt nun aber gerade im Hinblick auf die Geschichte des Judentums in Deutschland aber auch mancherlei Schwierigkeiten in sich. Spätestens der Rassenwahn der Nationalsozialisten holte auch diejenigen Menschen jüdischer Abstammung auf furchtbarste Weise wieder ein, die im Zuge der Assimilation auf ihr Judentum verzichtet hatten, und zwang sie zurück in eine Schicksalsgemeinschaft der deutschen Juden, die nun gar nichts mehr mit der individuellen Konfession zu tun hatte, dafür aber um so mehr mit der Abkunft aus jenem Judentum, das nicht wenige deutsche Juden persönlich als abgetan und überwunden betrachtet hatten. Aber auch schon vorher war der Versuch, das Judentum vollständig zur Privatangelegenheit zu erklären und damit den „magischen Judenkreis“ zu verlassen, von dem Ludwig Börne einmal gesprochen hat, immer wieder in Frage gestellt worden. Schon der vom Rassegedanken geprägte Antisemitismus des späten 19. Jh.s hatte, obwohl er noch nichts vom Judenmord wußte, dafür gesorgt, daß Juden systematisch markiert und damit ausgegrenzt wurden. Man wußte, wer Jude war und wer nicht! Und das formte das jüdische Selbstbewußtsein ebenso wie das Bewußtsein der nichtjüdischen Umwelt. Die jüdischen Reaktionen auf diese Situation fielen sehr unterschiedlich aus. Neben dem Versuch, die Assimilation bis zur vollständigen Unkenntlichkeit der jüdischen Identität zu perfektionieren, und der Flucht in den „jüdischen Selbsthaß“ lassen sich auch ganz entgegengesetzte Bestrebungen beobachten.

350 Die größte Verbreitung unter den deutschen Juden fand der Versuch, an einem Judentum, das sich dem Geist der Zeit in Inhalt und Stil so weit wie möglich anpaßte, festzuhalten. Weshalb dieses jüdische „Projekt der Moderne“ scheitern mußte, liegt eigentlich auf der Hand. Die jüdischen Modernisten begannen, für die Ideale der Aufklärung zu streiten, als diese in der nichtjüdischen Umwelt bereits obsolet geworden waren. Ihr Unterfangen, das Judentum dem modernen nationalstaatlichen Gedanken zu inkorporieren, wollte nicht wahrhaben, daß die Idee vom Nationalstaat inzwischen immer stärker von nationalistischem und zunehmend auch rassistischem Denken verformt wurde. Das jüdische Bemühen um Offenheit gegenüber der deutschen Kultur zog ein Verwischen der Grenzen nach sich, das gerade jüdischen Intellektuellen auch mancherlei Wege aus dem Judentum heraus eröffnete, während sich in den jüdischen Mittelschichten eine jüdische-deutsche Mittelstandskultur etablierte, die in einem eigentümlich geprägten Stil jüdisch gefärbter Erbaulichkeit jene Mischung mit Leben zu erfüllen suchte, die es gestattete, gleichzeitig patriotischer Deutscher und loyaler Jude zu sein. Die „Realität der deutsch-jüdischen Symbiose“, die heute unter dem Eindruck der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ in der Forschung oft übersehen wird, eröffnete zunächst und über Jahrzehnte hinweg durchaus auch optimistische Perspektiven172. Erst aus der Enttäuschung über die Unmöglichkeit, dieses jüdische Projekt der Moderne zu verwirklichen, erwuchs dann gegen Ende des 19. Jh.s auch die wachsende Anziehungskraft des Zionismus in seinen verschiedenen Erscheinungsformen. Dieser fand seinen geschichtsmächtigen Nährboden zwar im Elend der osteuropäisch-jüdischen Massen, zur schlagkräftigen Ideologie hatten ihn allerdings zuerst jüdische Intellektuelle wie Theodor Herzl geformt, die dem Ostjudentum ebenso fremd gegenüberstanden wie die allermeisten der deutschen Juden. So fand auch die im November 1884 im oberschlesischen Kattowitz veranstaltete Konferenz der Chowewe ZionVereine, die sich, einberufen von Leo Pinsker, der Unterstützung der zionistischen Kolonisten in Palästina widmete, nur wenig Resonanz, betrachteten die meisten jüdischen Autoritäten solche Ambitionen doch ausschließlich als die Angelegenheit „russischer Palästina-Schwärmer“173. Ansonsten galt Abraham Geigers Diktum unverändert: „Jerusalem ist eine ehrwürdige Erinnerung aus der Vergangenheit, es ist die Wiege der Religion; es ist keine neue Hoffnung auf die Zukunft, nicht der Ort, aus 172

Vgl. die Hinweise bei P. SCHUMANN: Über jüdische Deutsche und Assimilation, in: Z.H. Nowaka (Red.), Emancypacja - Asymilacja - Antysemityzm. Zydzi na pomorzu w XiX i XX wieku = Stosunki narodowo'sciowe i wyznaniowe na Pomorzu w XiX i XX wieku 2, Toru'n 1992, S. 165-170. 173 Vgl. N.M. GELBER: Die Kattowitzer Konferenz 1884, Brünn 1920.

351 dem ein neues Leben sich entwickeln wird. [...] Ehre sei Jerusalem und seinem Andenken, wie einem jeden großen Toten, aber stören wir nicht seine Ruhe.“174 Unter Berücksichtigung der oben ausgeführten Vorbehalte kann es im folgenden also nur um Skizzen zur Geschichte des Judentums im 19. und 20. Jh. in Schlesien gehen, die nicht den Anspruch erheben können und wollen, eine Gesamtschau zu vermitteln. Zumindest im Überblick aber soll nachgezeichnet werden, was in Schlesien jüdisches Leben nach 1812 unter den sich eigentlich gegenseitig ausschließenden Stichworten von Assimilation und Gemeindeausbau prägte und zwar vor allem so, daß es auch über die Provinzgrenzen hinweg wirkte. 1. Jüdische Gemeinden und Organisationen nach 1812 in Schlesien Der mit der Einführung des Preußischen Landrechts verbundene Verlust des Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts, der überlieferten Privilegien und eines geordneten Steuerrechts stürzte die jüdischen Gemeinden, die jetzt nur noch als erlaubte Privatgesellschaften betrachtet wurden, in eine tiefe innere, finanzielle und soziale Krise. So berichtete ein zeitgenössischer Beobachter aus Glogau: „Es fehlt der hiesigen Gemeinde keineswegs an Mitteln, das Gute zu fordern, aber es fehlt an Gemeinsinn. Wir haben weder Rabbiner, noch Prediger, noch Vorsänger, Alles geht wie es will: die Herzen sind ohne Willen, die Gemeinde-Cassen ohne Geld, da die jährliche Beisteuer nur von äußerst wenigen Mitgliedern entrichtet wird; kurz es herrscht hier die vollkommenste Anarchie, da von der alten nur - die Mißbräuche übrig geblieben.“175 Solche desolaten Verhältnisse, die durchaus in den meisten jüdischen Gemeinden Schlesiens zu jener Zeit anzutreffen waren, konnten nur verändert werden, wenn es gelang, die Gemeindeordnungen den neuen Bedingungen anzupassen, das Sozialwesen der Gemeinden zu reformieren, die internen Streitigkeiten zwischen Konservativen, Progressiven und Indifferenten beizulegen oder doch zumindest zu kanalisieren und sich der durch die Emanzipationsgesetzgebung gewonnenen Mobilität der jüdischen Bevölkerung anzupassen. Die Hauptlast der jetzt zu lösenden Aufgaben übernahmen die Gemeindevorstände, also Laien, die unter oft bedeutendem Einsatz ihrer persönlichen finanziellen Mittel, ihres bürgerlichen Ansehens und ihrer Arbeits- und Organsisationskraft daran gingen, eine umfassende Reform der Gemeindeverhältnisse einzuleiten. Der Wiederaufbau der jüdischen Gemeindestrukturen mußte im wesentlichen von den Gemeinden 174 175

Zitiert nach ELBOGEN/STERLING, Geschichte, S. 276. Vgl. Allgemeine Zeitung des Judenthums 1, Nr. 83 vom 12.10.1837, S. 332.

352 selbst ausgehen. Die Regierung unterstützte diese Tendenz durch das „Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 27. Juli 1847 für die preußischen Landesteile, ausgenommen das Herzogtum Posen“, das den jüdischen Gemeinden eine weitreichende Autonomie zubilligte176. Die größeren Gemeinden in Schlesien konnten auf der Grundlage dieses Gesetzes ihre kulturellen, wirtschaftlichen, sozialen und schulischen Verhältnisse tatsächlich in erstaunlich kurzer Zeit konsolidieren. Der Aufbau leistungsfähiger Gemeindeverwaltungen, die Berufung durchweg akademisch gebildeter Rabbiner, die Einrichtung eines den örtlich sehr unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechenden jüdischen Schulwesens, die Reform des Sozialwesens der Gemeinden und die Neugründung von jüdischen Vereinen, die sich den unterschiedlichsten Zwecken widmeten, schufen die Grundlagen für einen Gemeindeausbau, der seinen sichtbarsten Ausdruck in den allerorts entstehenden Synagogenneubauten fand. a) Synagogenbau Über die Anfänge des schlesischen Synagogenbaus ist nur wenig bekannt. Die kleinen Gemeinden, die sich trotz aller Behinderungen und Vertreibungen zusammenfanden, mußten zunächst froh sein, wenn sie im Privathaus eines Glaubensgenossen eine Betstube einrichten konnten. Erst ab der Mitte des 18. Jh.s erlauben die politischen Umstände die Errichtung regulärer Synagogen, die sich oft genug in ihrem äußerem Erscheinungsbild noch kaum von einem Wohnhaus unterschieden. Die älteste Synagoge, die bis zum Ende des schlesischen Judentums dem Gottesdienst diente, stand in Langendorf und war 1771 erbaut worden. Die 1664 gegründete Gemeinde, die einst zu den größten Oberschlesiens gehört hatte und um 1785 einen Bevölkerungsanteil von rund 25% ausmachte177, errichtete sich einen schlichten Holzbau178. Als Schrotholzbau wurde auch die inschriftlich auf 1780 datierte Synagoge von Czieschowa errichtet, in der ein Leuchter die Initialen Friedrich d. Gr. zeigte, während der große Kronleuchter mit dem österreichischen Reichsadler geschmückt war. Die Synagoge in Czieschowa wurde wahrscheinlich von dem gleichen Baumeister errichtet, der auch die heute noch existierende Kirche des oberschlesischen Ortes baute. Zu 176

Vgl. BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 13f. Die Langendorfer Juden wurden auch von der Zirkularverordnung Friedrichs d. Gr. von 1781, die Juden vom platten Land fortzuschaffen, nicht betroffen, weil der Ort von altersher einen jüdischen Friedhof besaß; vgl. M. BRANN: Der älteste jüdische Gemeindeverband in Preußen, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden. FS zum siebzigsten Geburtstage M. Philippsons = Schriften hg. von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums 30a, Leipzig 1916, S. 342-369, bes. S. 347f. Anm. 3. 178 Vgl. B. BRILLING: Vom Werden und Sein einer jüdischen Dorfgemeinde. Zur Geschichte der Juden in Langendorf OS, in: Jüdische Zeitung für Ostdeutschland 18, 1930. 177

353 Beginn unseres Jahrhunderts verließen die letzten Juden Czieschowa und den dortigen jüdischen Friedhof. Dieser hat sich bis heute weit außerhalb des Dorfes inmitten der Felder erhalten. Seine ältesten Grabsteine stammen aus der Mitte des 18. Jh.s. Die hölzerne Synagoge wurde 1908 von dem katholischen Ortspfarrer gekauft und sorgfältig restauriert. Der schlichte Bau weist zahlreiche Parallelen zu gleichartigen einfachen Holzsynagogen in Polen179 und auch in Süddeutschland auf („Scheunensynagoge“ Bechhofen, 1732), die von polnischen Meistern dort errichtet und oft auch ausgemalt worden waren180. Der erste steinerne Synagogenbau Schlesiens, der bis in unser Jahrhundert fast unverändert fortbestand, wurde im oberschlesischen Zülz 1774 errichtet und ersetzte einen älteren Holzbau181. Die jüdische Gemeinde von Zülz, dem Makom zadik = Gerechter Ort, der auch als „Juden-Zülz“ in der Gegend geläufig war, hatte um 1780 einen Anteil von über 50% an der Bevölkerung der Stadt. Die in barocken Formen errichtete Synagoge ist in der Forschung oft mit gleichzeitigen jesuitischen Kirchenbauten in Beziehung gebracht worden, was die tatsächlichen Gegebenheiten jedoch verzeichnet. Die Synagoge wurde vielmehr mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von den gleichen Meistern errichtet, die auch das Zülzer Schloß um 1727 neu ausbauten. Die Zülzer Standesherrschaft hatte der von ihr so vielfach und energisch privilegierten Judenschaft also ihre „Baukapazitäten“ zur Verfügung gestellt, um ein im Bild der Kleinstadt durchaus markantes Gebäude zu errichten, das sich allerdings doch mit einer gewissen Randlage zufrieden geben mußte. Die Zülzer Synagoge, die 1939 abgerissen wurde182, nachdem die dortige Gemeinde schon 1914 erloschen war, muß nicht nur als ein bemerkenswertes Zeugnis der älteren Synagogenarchitektur überhaupt gewürdigt werden, sondern auch als Hinweis darauf, wie sich im Synagogenbau jeweils das Selbstbewußtsein der jüdischen Gemeinde nie179

Vgl. M. und K. PIECHOTKA: Wooden Synagogues, Warschau 1959, Abb. 12. Vgl. A. LÖWENTHAL: Die Holzsynagoge von Czieschowa, in: Mitteilungen zur jüdischen Volkskunde NF 1, 1905, S. 109f.; K. URBAN: Die katholische Kirche und die jüdische Synagoge zu Czieschowa, Kreis Lublinitz O./S., in: Oberschlesische Heimat 5, 1909, S. 105-115; M. BRANN: Die jüdischen Altertümer von Czieschowa, in: Oberschlesien 16, 1917/18, S. 127-139; A. GROTTE: Deutsche, böhmische und polnische Synagogentypen vom XI. bis Anfang des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1915, S. 62f.; DERS.: Jüdische Sakralkunst in Schlesien, in: Menorah 4, 1926 (Sonderheft Jüdische Kultur in Schlesien), S. 273-278, bes. S. 273f. Zur Synagoge in Bechhofen vgl. D. DAVIDOVICZ: Wandmalereien in alten Synagogen. Das Wirken des Malers Elieser Sussmann in Deutschland, HamelnHannover 1969; A. LANG: Bechhofen und seine zerstörte Synagoge, in: Ansbach gestern und heute, Heft 42, 1986, S. 991-1002. 181 Vgl. P. MASER: Oberschlesische Synagogen und ihre Gemeinden, in: JSFWUB 31, 1990, S. 218238, bes. S. 220-227. 182 Vgl. H.F.A. KREMZOW: Wie die Juden in die Stadt Zülz kamen. Ein geschichtlicher Rückblick zum Abbruch der Zülzer Synagoge, in: Der Oberschlesier 21, 1939, S. 267-269. 180

354 derschlägt. Die Zülzer Verhältnisse gaben die fast einmalige Gelegenheit, eine Synagoge in den barocken Bauformen des örtlichen Herrschaftssitzes zu errichten. Deutlicher konnte die Situation der Zülzer Gemeinde im 18. Jh. und ihre enge Bindung an die regionale Standesherrschaft nicht ausgedrückt werden. Die noch heute faßbare Geschichte des schlesischen Synagogenbaus beginnt aber eigentlich erst im 19. Jh., wobei es sich allerdings auch in Schlesien bis auf wenige Ausnahmen (Alte Synagoge Kattowitz, Oberglogau, Storch-Synagoge Breslau) um eine „verschollene Architektur“183 handelt, die in ihren Details aus den oft eher zufällig und lückenhaft überlieferten Dokumenten nicht immer zuverlässig rekonstruiert werden kann. Für die 1. Hälfte des 19. Jh.s sind die Synagogen von Pleß (1835)184, Liegnitz (1847), Groß-Strehlitz (1847) und Dyhernfurth (1848) zu nennen, unter denen die von Liegnitz und Dyhernfurth die gesamte Bandbreite des synagogalen Baugedankens der Zeit zu illustrieren vermögen. In Liegnitz hatte man zunächst beabsichtigt, der Synagoge ganz das Äußere eines Wohnhauses zu geben, wandte sich dann aber doch dem Entwurf des Bauinspektors Kirchner zu, der in der Nachfolge der stilbildenden Kasseler Synagoge des jüdischen Architekten A. Rosengarten, erbaut 1836/39185, zu sehen ist. Die Synagoge in Kassel, eine dreischiffige Pseudobasilika mit tonnengewölbtem Mittelschiff, zeigte einen dreiteiligen Fassadenbau mit Mittelgiebel und Seitenrisaliten, die wie Turmansätze wirkten, aber doch nur der Aufnahme der Treppen zu den Frauenemporen und der Gestaltung einer ansehnlicheren Straßenfassade dienen sollten. Die Kasseler Gemeindevorsteher hatten einen Bau gewünscht, der „ernst, würdig und kontrastlos zwischen den anderen öffentlichen Bauten der Stadt“ seinen Platz einnehmen solle. Die Synagoge von Kassel, in der sich altchristliche, klassizistische und romanische Formelemente mischten, paßte sich damit der Kirchenarchitektur der Zeit an, wirkte auch in gewisser Weise „kirchlich“, ohne jedoch Anlaß zu irgendwelchen Verwechslungsmöglichkeiten zu geben. Die Synagoge von Kassel sollte als Brücke zwischen Judentum und Christentum, zwischen Juden und Christen dienen. Sie verkörperte 183

Vgl.D. BARTETZKO: Eine verschollene Architektur. Über Synagogen in Deutschland = Zerstörung Verlust - Erinnerung. Essay und Materialien, hg. von P. Hahn, Frankfurt/M. 1988. 184 Zu den Schwierigkeiten, unter denen dieser Synagogenbau zustande kam, vgl. M. BRANN: Abraham Muhr. Ein Lebensbild, [1918], S. 53ff. 185 Vgl. R. HALLO: Geschichte der jüdischen Gemeinde Kassel unter Berücksichtigung der HessenKasseler Gesamtjudenheit 1, Kassel 1931; L. HORWITZ: Die Kasseler Synagoge und ihr Erbauer, in: Hessenland 21, 1902, S. 197-199. 213-216; H. HAMMER-SCHENK: Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. und 20. Jh. (1780-1933) = Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 8, Hamburg 1981, S. 87-113.

355 einerseits jüdisches Selbstbewußtsein und andererseits die Entschlossenheit, sich in die christlich-deutsche Umwelt einzugliedern. Der rundbogige Langhausbau der Synagoge in Liegnitz wurde von zwei quadratischen „Westtürmen“ dominiert, so daß er von ferne an ein hochmittelalterliches Kastell erinnerte. Die „quasi demonstrativ gekappten Türme“ der Liegnitzer Synagoge weisen über das Kasseler Vorbild hinaus zwar stärker in Richtung auch auf den Kirchenbau hin, verhindern dann aber doch durch die Kappung der Türme jede Verwechslungsmöglichkeit, die von der nichtjüdischen Umwelt als Anmaßung empfunden worden wäre186. Ganz andere Intentionen bestimmten offensichtlich den Bau der Synagoge in Dyhernfurth, dem durch seine hebräische Druckerei und seinen Friedhof für das schlesische Judentum so bedeutsamen Ort. Die kleine Synagoge von 1848, die einer Gemeinde von rund 120 Menschen als gottesdienstliche Versammlungsstätte dienen sollte, erinnert mit ihren Rundbogen und dem Dachreiter stark an eine kleine Dorfkirche. Die Verwendung romanischer Bauformen und der kirchliche Gesamtduktus dieser Synagoge mögen ihre Erklärung in dem Bestreben der Dyhernfurther Juden finden, sich bewußt als Teil der deutschen Bevölkerung zu artikulieren187. Die große Zeit des Synagogenbaus in Schlesien zog mit dem Beginn der 2. Hälfte des 19. Jh.s herauf und erlebte ihren triumphalen Abschluß mit der 1900 eingeweihten Kattowitzer Synagoge. Eine wichtige Übergangsform repäsentiert die 1861 eingeweihte Synagoge von Gleiwitz188, die gleichfalls in enger Anlehnung an das Kasseler Vorbild von den Gleiwitzer jüdischen Baumeistern Lubowski und Troplowitz entworfen worden war. Wie in Kassel wurde auch in Gleiwitz eine dreigliedrige Fassadenstruktur mit einem flachen Giebel über der Mittelzone gewählt, während die Seitenrisalite sich schon fast als Doppelturmanlage präsentieren, wurden die "Turmstümpfe" doch durch flache kuppelartige Abdeckungen und minarettartige Spitzen an den Ecken überhöht. Der ansonsten im bewährten Rundbogenstil errichtete Bau, der nur im Inneren orientalisierende Formelemente zeigte, erweist sich damit als ein Zeugnis für das wachsende Selbstbewußtsein der jüdischen Gemeinde in Gleiwitz. 186

Vgl. ebd., S. 114f.; M. PERITZ: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Liegnitz, Ein Beitrag zur Jahrhundertfeier, Liegnitz 1912; E. WOLBE: Eine Hundertjährige. Die jüdische Gemeinde Liegnitz, in: Allg. Zeitung des Judentums 76, 1912, S. 319f.; H.-P. SCHWARZ (HG.): Die Architektur der Synagoge, Frankfurt/M. 1989, S. 184. Die Liegnitzer Synagoge wurde 1938 zerstört. 187 Vgl. M. GRÜNWALD: Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Dyhernfurth, Breslau 1881; L. MANASSE: Das Schicksal einer alten schlesischen Judengemeinde, in: Oberschlesien 17, 1918, S. 116ff.; BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 57-69; HAMMER-SCHENK, S. 174. Die Synagoge wurde 1926 an die Stadt Dyhernfurth verkauft, die sie als Feuerwehrdepot benutzte. 188 Vgl. zur Geschichte der jüdischen Gemeinde und Synagoge in Gleiwitz MASER/WEISER, S. 96106 (Lit.)

356 Die Gleichstellung der Synagoge mit der Kirche ist nun nicht mehr undenkbar, wenn sie auch mit dem Ansatz zur Doppeltumfassade gerade nur angedeutet wird189. Einen Ausnahmebau von besonderer Art stellt die 1864 fertiggestellte Synagoge in Oberglogau in Oberschlesien dar190, die von dem dort ansässigen Baumeister Fränkel Wien entworfen wurde und eine hölzerne Synagoge von 1830 ersetzte191. Das in einem strengen Klassizismus gestaltete und bis heute fast unverändert erhalten gebliebene Bauwerk muß aus dem Gegensatz zum Barock heraus verstanden werden, der den Kirchenbau Oberglogaus bestimmte: Es „ist kein gewaltiges Denkmal dieser Bauauffassung, aber in ihrer schlichten, klaren und ruhigen Gliederung wirkt die Synagoge schön und edel. Durch Vorsprünge, Nischen, Säulen und Gesimse schafft der Baumeister eine sachliche Abwechslung.[...] Der ganze Innenraum macht einen würdigen und feierlichen Eindruck. Empiresäulen schaffen eine ruhige Aufwärtsbewegung, die durch eine flache, reich verzierte Holzdecke aufgefangen wird.“192 Über die näheren Umstände der Entstehung der Oberglogauer Synagoge, die auf so bemerkenswert entschlossene Weise dem Kirchenbau der Stadt gegenübertritt und sich zugleich ganz den herrschenden Stilempfindungen der Zeit anpaßt, ist leider kaum etwas bekannt. Die jüdische Gemeinde von Oberglogau besaß zur Zeit des Baus dieser Synagoge kaum mehr als 150 Glieder und erreichte damit noch nicht einmal 5% der Stadtbevölkerung193. Vielleicht kamen hier einmal tatsächlich christliche Interessen und jüdische Vorstellungen überein und ermöglichten eine Baulösung, die in ihrer Selbständigkeit nicht allein aus dem Selbstverständnis der kleinen jüdischen Gemeinde in Oberglogau abgeleitet werden kann. Ein ortskundiger Beobachter zumindest meinte: „Man ist des barocken Unmaßes, der Launen und Spiele des Rokoko nun gründlich müde geworden. Man sucht wieder das Klare, Unverzierte, Senkrechte und Waagerechte.“194 Repräsentative Baufgaben stellten sich in der 189

Vgl. B. NITSCHE: Geschichte der Stadt Gleiwitz, Gleiwitz 1886, S. 599-606; W. LUSTIG: Von den Juden in Gleiwitz, in: Alte Heimat. Stadt- und Landkreis Gleiwitz/Oberschlesien in Wort und Bild. 10 Jahre Patenschaft Bottrop-Gleiwitz O/S, Bottrop 1961, S. 53-55; HAMMER-SCHENK, S. 121f.; H. ESCHWEGE: Die Synagoge in der deutschen Geschichte. Eine Dokumentation, Dresden 1980, S. 114f. Von der 1938 verbrannten und dann abgerissenen Synagoge blieb das Kellergeschoß erhalten, auf dem sich heute ein Kinderspielplatz befindet. 190 Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde und der Synagoge in Königshütte vgl. MASER/WEISER, S. 122-125 (Lit.) 191 Vgl. J. STRECKE: Die Synagogengemeinde zu Oberglogau, in: FS zur 700-Jahrfeier der Stadt Oberglogau, hg. von J. Strecke, Oberglogau 1925, S. 16f.; MASER/WEISER, S. 131-134. 192 A. KOSIAN: Führer durch das schöne Oberglogau. Der Sinn der Geschichte einer oberschlesischen Kleinstadt, Oberglogau O.-S. 1931, S. 172-175, bes. S. 174. 193 Vgl. H. SCHNURPFEIL: Geschichte und Beschreibung der Stadt Ober-Glogau in Oberschlesien, Ober-Glogau 1860, S. 143f. 194 KOSIAN, S. 174.

357 Stadt, die damals kaum mehr als 3.500 Einwohner zählte, wohl nicht allzu häufig. So konnte es auch der christlichen Bevölkerung recht sein, wenn die jüdische Gemeinde mit ihrer neuen Synagoge dieser Baugesinnung Ausdruck verlieh. Die Oberglogauer Synagoge hatte mit ihrem Rückgriff auf klassizistische Formelemente einen Sonderweg eingeschlagen, dem innerhalb des Synagogenbaus keine Fortsetzung beschieden sein sollte. Wo sich ab der Mitte des 19. Jh.s jüdisches Selbstbewußtsein zu artikulieren versuchte, fand man fast durchweg eine andere Lösung, nämlich die betonte Herausstellung der fremden Herkunft des Judentums durch die Einführung orientalischer, zumeist als maurisch bezeichneter Architekturelemente, die die Synagogen zum „Fremdkörper“ im Stadtbild werden ließen. Ein besonders eindrückliches Beispiel für diese Ausdrucksform jüdischen Selbstbewußtseins findet sich wiederum in Oberschlesien: „In Leobschütz gab es eine ökumenische Anlage: An drei Seiten eines rechteckigen Platzes standen eine protestantische Kirche, eine römisch-katholische Kirche und eine große Synagoge.“195 Die Leobschützer Synagoge, unmittelbar neben dem Amtsgericht gelegen, wurde 1864 von dem einheimischen Maurermeister Knobel durchweg im sog. „maurischen“ Stil errichtet, der gelegentlich auch als „byzantinischer“ bezeichnet wurde196. Knobel wählte als Vorbild für seinen Entwurf die Synagoge in der Wiener Tempelgasse, die 1856/58 von Ludwig von Förster (1797-1863) errichtet worden war. Försters Wiener Synagoge, unter reicher Verwendung maurischer Formen bei der Ausgestaltung der Details, wie sie sich beispielsweise in der Alhambra nachweisen lassen, war vor allem aber „dem geheiligten Ideale aller Tempel, dem Salomonischen“197 in ihrer Raumfolge von Vorhalle, Hauptraum und Allerheiligstem verpflichtet198. In Leobschütz adaptierte man vor allem die Westfassade der Wiener Synagoge mit ihrem massiven turmartigen Mittelrisalit, vereinfachte jedoch die Details, da die oberschlesische Synagoge insgesamt beträchtlich kleiner ausfiel als ihr hauptstädtisches Vorbild199. Im unmittelbaren Gegenüber zu den beiden christlichen Kirchen, die mit ihren gotischen Doppelturm- bzw. Einturmfassaden die Synagoge bei weitem überragten, behauptete sich letztere jedoch durch ihr fremdartiges Erscheinungsbild, das mittels der Farbigkeit der verwendeten Baumaterialien noch gesteigert wurde200. Offensichtlich wurde der Leobschützer Versuch, 195

KRINSKY, S. 62. Vgl. F. TROSKA: Geschichte der Stadt Leobschütz, Leobschütz 1892, S. 229f. 197 Vgl. L. v. FÖRSTER: Über Synagogenbau, in: Allgemeine Bauzeitung 24, 1859, S. 1-14 und Taf. 230-235. 198 Vgl. HAMMER-SCHENK, S. 302-307; KÜNZL, S. 215-257; KRINSKY, S. 181-184. 199 Vgl. KÜNZL, S. 234. 200 Die Leobschützer Synagoge wurde im Nov. 1938 niedergebrannt und die Ruine noch im gleichen Jahr gesprengt und abgetragen. 196

358 eine erheblich verkleinerte Kopie der Wiener Synagoge in der Tempelgasse als Verkörperung jüdischen Selbstverständnisses noch gegen Ende des Jahrhunderts als so gelungen beurteilt, daß man 1892 in Groß-Gerau bei Mainz das Leobschützer Vorbild, wenn auch in wiederum etwas vereinfachter Form, wiederholte201. Im maurischen Stil, der oft mit freigewählten anderen Stilelementen kombiniert wurde, errichtete man auch in der Folgezeit mehrere Synagogen in Schlesien. So präsentierte die 1869 in Beuthen errichtete neue Synagoge202 einen „Mischstil aus oberitalienischen und arabischen Formen, mit hohen Turmaufsätzen, die barocke Stilelemente mit russischen des 16. und 17. Jh.s verbindet“203. Ein neues Stilelement stellte die nun eindeutig ausgebildete Doppelturmfassade der an prominenter Stelle im Stadtbild errichteten Synagoge dar, die in ihrer seltsamen Formenmischung durchaus an eine Kirche erinnern konnte und doch zugleich fremd wirken mußte204. Ihr an die Seite gestellt werden kann - mit gewissen Einschränkungen - die 1873 eingeweihte Synagoge in Hindenburg/Zabrze, die in ihren Grundstrukturen an die Kasseler Synagoge anschließt, ihre Vorlage aber durch eine Mischung von romanischen und orientalischen Details und vor allem die eigentümlichen Kugelkuppeln auf den „Westtürmen“ übertrifft205. Von ganz ähnlicher Art, wenn auch in größeren Dimensionen und in zentraler Ortslage angesiedelt, war die Synagoge von Ratibor, die sich, 1889 fertiggestellt, mit der Doppelturmanlage der Westfassade in eine belebte Geschäftsstraße einfügte und schräg gegenüber der Liebfrauenkirche stand, deren Anfänge bis in das 13. Jh. zurückreichen206. Auch die Synagoge von Königshütte207 von 1875208 war im maurischen Stil, angereichert durch Elemente ostarabischer Architektur, gebaut worden und gliederte sich mit ihrer dreiteiligen turmlosen Fassade in die Fluchtlinie einer Ge-

201

Vgl. HAMMER-SCHENK, S. 370 und Abb. 292. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde und Synagoge vgl. die Übersicht bei MASER/WEISER, S. 72-86 (Lit.). 203 Vgl. ebd., S. 122.; KÜNZL, S. 268f. 204 Vgl. M. KOPFSTEIN: Geschichte der Synagogen-Gemeinde in Beuthen O.-S., Beuthen O.-S. 1891, S. 44f. 205 Vgl. HAMMER-SCHENK, S. 367f.; B. BRILLING: Chronik der jüdischen Gemeinde Hindenburg, in: Hindenburg, O/S. Stadt der Gruben und Hütten, Essen 1965, S. 84ff.; vgl. auch: Muzeum Miejskie w Zabrzu, Z dziejów spo/leczno'sci z.ydowskiej na Górnym 'Slasku na przyk/ladzie Zabrza, Zabrze 1990. 206 Vgl. HAMMER-SCHENK, S. 367f.; ESCHWEGE, Synagoge, S. 128 Abb. 137. Die Ruine der Synagoge stand noch 1940, ihre Grundmauern sind bis heute deutlich erkennbar geblieben. Vgl. auch J. MOSLER: Ratibor und das Ratiborer Land im Schrifttum der Jahrhunderte. Ein Literaturnachweis, Ratibor 1938, S. 136f, mit 41 Titelangaben über „Das Judentum im Ratiborer Land“. 207 Vgl. zur Geschichte der jüdischen Gemeinde und der Synagoge in Königshütte MASER/WEISER, S. S. 122-125 (Lit.) 208 Vgl. F. ROSENTHAL: Die Bestimmung des Gotteshauses. Predigt bei der Einweihung der Synagoge zu Königshütte (Oberschlesien) am 23. Sept. 1875, Beuthen 1875. 202

359 schäftsstraße in Bahnhofsnähe ein209. Eine besondere Lösung bot die Synagoge von Waldenburg von 1877, die in ihrer äußeren Gestaltung jene klassizistische Einfachheit, wie sie bei kirchlichen und öffentlichen Bauwerken gegen Ende des 18. Jh.s beliebt wurde, verkörperte, auch auf jede Andeutung einer Turmanlage verzichtete, dafür aber im Inneren, vor allem bei der Dekoration des Thoraschreins, eine reiche Mischung von maurischen und gotischen Details zeigte210. In geradezu verschwenderischer Fülle wurde der maurische Stil zuletzt in der Synagoge von Bielitz eingesetzt211. Die zweitürmige, von Zwiebelkuppeln gekrönte Anlage, die von Karl Korn zwischen 1879 und 1881 erbaut wurde, wies manche Analogien zur Beuthener Synagoge auf, häufte die orientalisierenden Details aber in solcher Dichte, daß der durch kräftige Profile gegliederte Bau auf jeden Fall zu den bemerkenswerten im Stadtbild gezählt werden mußte212. Die doppeltürmigen Synagogenbauten im maurischen Stil konnten auf die Dauer den wachsenden Ansprüchen und dem sich gegen Ende des 19. Jh.s zunehmend festigenden Selbstbewußtsein der jüdischen Gemeinden nicht mehr genügen. Jede weitere Monumentalisierung dieser Bauidee hätte die Synagogen dieses Typs noch stärker dem zeitgenössischen Kirchenbau angleichen müssen. Eine intensivere Benutzung maurisch-orientalischer Stilelemente wäre dieser Tendenz zwar in gewissem Umfang entgegengetreten, hätte aber zugleich der Fremdartigkeit des Judentums in einer Zeit monumentalen Ausdruck verliehen, in der die deutschen Juden zunehmend Wert auf ihr Deutschtum zu legen begannen. Wenn also die wirtschaftlich florierenden Juden Zeugnis von ihrer national-deutschen Gesinnung ablegen und sich zugleich vom zeitgenössischen Kirchenbau abgrenzen wollten, mußten andere Formen des Synagogenbaus gefunden werden. Den Weg hierzu schlug man in Schlesien zuerst in Breslau ein, wo Opplers Neue Synagoge, errichtet von 1865 bis 1872, stilbildend eine völlig neue Bauidee formulierte.

209

Vgl. A. RUTKOWSKI: Historia Miasta Królewskiej Huty, Królewska Huta 1927, S. 80 und 60f.; H. MOHR: Geschichte der Stadt Königshütte in Oberschlesien. Nach Urkunden und amtlichen Aktenstücken, Königshütte O.-S. 1890, S. 34, 192 und 307. 210 Vgl. A. MEYER: Geschichte der Synagogengemeinde in Waldenburg in Schlesien. Anläßlich des 50-jährigen Bestehens der Synagoge, Waldenburg 1933. Abb. des Innenraums in: Israelitisches Familienblatt. Beilage: Aus alter und neuer Zeit, Nr. 4 vom 27.10.1927 zu Nr. 43, S. 32; HAMMERSCHENK, S. 364. 211 Vgl. zur Geschichte jüdischen Gemeinde und Synagoge in Bielitz MASER/WEISER, S. 87-95 (Lit.). 212 Vgl. E. CHOJECKA: Architektura i urbanistyka Bielska-Bial/ej 1855-1939, Katowice 1987, S. 33f. und Abb. 10a und b.

360 Die Breslauer jüdidsche Gemeinde hatte zwischen 1849 und 1871 die Zahl ihrer Glieder auf 13.916 fast verdoppeln können213 und nahm damit nach Berlin (36.000) und zusammen mit Hamburg den zweiten Platz in der Rangfolge der jüdischen Gemeinden in Deutschland ein. Die Konflikte zwischen den Anhängern der Orthodoxie und denen einer liberalen Reform, die von Abraham Geiger angeführt wurden, waren so weit befriedet worden, daß die neue Synagoge als ein Gemeinschaftswerk der Gesamtgemeinde betrachtet werden kann, wenn sie auch gelegentlich als „Reformtempel“ bezeichnet wurde214. Die damals schon sehr wohlhabende Breslauer Gemeinde beauftragte nach Prüfung mehrerer Wettbewerbsentwürfe den 1831 in Oels geborenen und vorwiegend in Hannover tätigen Architekten Edwin Oppler (gest. 1880) mit der Ausführung des Synagogenneubaus. Oppler skizzierte die Grundidee seines Entwurfs folgendermaßen: „Der Styl des von mir entworfenen Bauwerks ist der deutsch-romanische des 12. Jh.s, derjenige Styl, welcher mit Recht als der rein deutsche bezeichnet werden kann. [...] Bei großer Eleganz der Form und malerischer Abwechslung verleiht er einem Bauwerke Würde, Ruhe und Kraft, drei Eigenschaften, welche einem Gotteshause vor allem unentbehrlich sind. Es ist im Zeitraum der letzten Decennien, in welchen in allen Gegenden Deutschlands neue Synagogen sich erhoben haben, leider vielfach der Versuch gemacht worden, diese Bauwerke im maurischen Style auszuführen; ich sage leider, denn jene Versuche sind nur als Verirrungen zu betrachten, die aus einer unrichtigen Auffassung des jüdischen Gottesdienstes und Glaubens entstanden und in so fern zu entschuldigen sind, gleichzeitig aber auch bedauert werden müssen. Es ist meiner feststehenden Überzeugung nach die Zeit nicht mehr fern, wo keine jüdische Gemeinde im maurischen Styl sich Gotteshäuser erbauen wird. Soll ja doch ein monumentales Bauwerk von der Stufe geistiger Höhe Rechenschaft der Mit- und Nachwelt geben, auf welcher sie zur Zeit gestanden hat!“215 Noch deutlicher drückte Opplers Ateliernachfolger in Hannover, Johann Heinrich Kastenholz, die Intentionen Opplers aus: „Der deutsche Jude wolle vor allem ein Deutscher sein, er kämpfe und leide für die Gleichstellung mit seinen christlichen Brüdern, könne und dürfe er sich dann durch sein Gotteshaus ohne jeden rituellen Grund isolieren? Solle er sich durch die Annahme des maurischen Stils Eigenschaften seines Charakters und seiner Gefühlsweise andichten lassen, die keineswegs zur He213

Vgl. BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 44. So noch bei KRINSKY, S. 320f. 215 Zitiert nach HAMMER-SCHENK, S. 215; vgl. weiter DERS.: Edwin Opplers Theorie des Synagogenbaus. Emanzipationsversuche durch Architektur, in: Hannoversche Geschichtsblätter NF 32, 1979, S. 99ff.; H. ZIMMERMANN: Edwin Oppler, in: Leben und Schicksal. Zur Einweihung der Synagoge in Hannover, Hannover 1963, S. 70-79; P. EILITZ: Leben und Werk des königlichen hannoverschen Baurats Edwin Oppler, in: ebd., 25, 1971, S. 167-169. 214

361 bung seiner selbst bei seinen Mitmenschen beitragen? Nein! Bei der Errichtung eines Gotteshauses müsse man danach streben, nächst einem schönen Bauwerke zugleich ein nationales zu schaffen. Der deutsche Jude müsse also im deutschen Staate auch im deutschen Stile bauen!“216 Gemäß diesen Auffassungen, durch die die Idee der Assimilation monumentale Gestalt gewann, schuf Oppler einen Langhausbau, der durch seinen fast quadratischen Grundriß jedoch eher wie ein Zentralbau wirken mußte. Diesem wurde durch an der Nord- und Südseite angeschlossene Oktogone gewissermaßen ein „Querhaus“ inkorporiert, das die Unzulänglichkeiten des vorgegebenen Bauplatzes optisch auszugleichen versuchte. Die Außenwirkung der Synagoge wurde durch die große Kuppel über der „Vierung“ und die reichliche Verwendung rheinisch-romanischer Bauelemente (Rundbogenfriese und Zwerggalerie), vor allem nach dem Vorbild des Wormser Doms, bestimmt. Nur die Rose im Westgiebel zitierte als Kopie der Westrose von Chartres frühgotische Vorbilder217. Die Neue Breslauer Synagoge, die mit 1050 Männer- und 800 Frauenplätzen die zweitgrößte Synagoge Deutschlands nach der in der Oranienburger Straße in Berlin war, fand in der zeitgenössischen Publizistik vielfache und zumeist zustimmende Beachtung218 und wurde auch in Schlesien mehrfach als Vorbild für weitere Synagogenbauten in Anspruch genommen. Oppler selber wiederholte seinen Breslauer Entwurf, wenn auch in drastisch verkleinertem Format und vereinfachten Bauformen, in Schlesien mit dem Bau der Synagoge in Schweidnitz219, die 1877 fertiggestellt wurde und nur rund 250 Sitzplätze für eine Gemeinde aus rund 60 Familien bot220. Das Vorbild der Breslauer Synagoge blieb auch in Zukunft für den schlesischen Synagogenbau zumindest insofern beherrschend, als alle weiteren Bauten mit mehr oder weniger deutlich ausgebildeten Kuppeln ausgeschmückt wurden, wobei der von Oppler verabscheute maurische Stil dann aber durchaus in Details der Außengestaltung und vor allem bei der Dekoration des Innenraums auch weiterhin verwandt wurde. Das trifft beispielsweise auf die

216

Zitiert nach ZIMMERMANN, Oppler, S. 74f. Vgl. HAMMER-SCHENK, Abb. 159-161; ESCHWEGE, Synagoge, Abb. 132; SCHWARZ, Architektur der Synagoge, S. 224-227. 218 Vgl. die Angaben bei HAMMER-SCHENK, S. 595f. Anm. 495. 219 Vgl. BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 166-172. 220 Vgl. HAMMER-SCHENK, S. 329f.; A. WEISER: Die jüdische Gemeinde in Schweidnitz, in: W. Bein/U. Schmilewski (Bearb.): Schweidnitz im Wandel der Zeiten, Würzburg 1990, S. 284-286. Die dortige Abb. zeigt den Zustand der Schweidnitzer Synagoge nach dem Umbau von 1927. Zum Originalzustand vgl. die Bauzeichnungen Opplers bei HAMMER-SCHENK, Abb. 250f. 217

362 Kreuzburger Synagoge von 1886221, die das Werk des zuständigen Kreisbaumeisters Friedrich war, oder auch auf die Synagoge in Neisse zu, die 1892 eingeweiht werden konnte222. In Glogau jedoch schloß man sich bei der Synagoge, deren Bau 1892 beendet wurde, an ein anderes Vorbild an. Die damals etwa 850 Glieder zählende jüdische Gemeinde von Glogau hatte besonderen Wert darauf gelegt, daß die Berliner Architekten Abesser und Kröger einen Bau entwarfen, der durch seine imposante Ausführung das Stadtbild prägen und von der Integration der Juden in der Bürgerschaft Zeugnis ablegen sollte. Um diesem Ziel gerecht zu werden, schlossen sich Abesser und Kröger eng an das Vorbild der Münchener Synagoge von Albert Schmidt an, die 1887 eingeweiht worden war223. Dem Grundanliegen der „Monumentalität“ entsprach ein Baukörper, der durch einen funktionell eigentlich sinnlosen und enorm massiven Westturm mit einer mächtigen „Fassadenkuppel“ lediglich nach außen hin wirkte. Dieser Effekt wurde zusätzlich noch verstärkt durch die Einbindung der Synagoge in ein Ensemble von Gemeindebauten, so daß die Straßenfront insgesamt 40 m ausmachte. Welchen Grad des assimilierten Selbstbewußtseins die Glogauer Gemeinde erreicht hatte oder doch zumindest glaubte, erreicht zu haben, bezeugt schließlich die Tatsache, daß die Feier der Grundsteinlegung am 9. April 1891 mit dem von der Gemeinde gesungenen Choral „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren“ endete224. In den baulichen Details wies auch die Glogauer Synagoge, deren Gesamtbild von einer Mischung aus romanischen und gotischen Stilmerkmalen bestimmt wurde, zahlreiche Elemente des maurischen Stils auf. Vergleichbare Beobachtungen lassen sich an der Neuen Synagoge in Oppeln anstellen, die in bester Lage im Stadtzentrum durch eine mächtige Kuppel auf sich aufmerksam machte, ansonsten aber im maurischen Stil gehalten war. Sie, die in zeitgenössischen Berichten eine „Zierde der Stadt“ genannt wird, wurde am 22. Juni 1897 durch Rabbiner Leo Baeck eingeweiht,

221

Vgl. H. FUHRMANN: „Fern von gebildeten Menschen“. Eine oberschlesische Kleinstadt um 1870, München 1989, Reg.: Juden, jüdisch; DERS.: Die Einweihung der Kreuzburger Synagoge 1886, in: Oberschlesisches Jahrbuch 7, 1991, S. 157-162. 222 Vgl. M. AGETHEN: Die jüdische Gemeinde in Neisse, in: W. Bein/V. und U. Schmilewski (Bearb.), Neisse - Das Schlesische Rom im Wandel der Jahrhunderte, Würzburg 1988, S. 224f. 223 Vgl. hierzu HAMMER-SCHENK, S. 379-389, der herausstellt, daß Schmidts Entwurf für die Münchener Synagoge in einem komplizierten Zusammenhang mit vorhergehenden Entwürfen Opplers gesehen werden muß. 224 Vgl. HAMMER-SCHENK, S. 370ff.; LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 268-275.

363 der bis in den Herbst 1907 in Oppeln amtierte und dort 1905 sein epochales Werk „Das Wesen des Judentums“ schrieb225. Der letzte bedeutende Synagogenbau, der in Schlesien entstand, wurde 1900 in Kattowitz eingeweiht. In einem „Exposé“ über den Bau einer Synagoge und eines Verwaltungs-Gebäudes für die Synagogen-Gemeinde Kattowitz226 von 1896 hatte der Vorsteher der Gemeinde, Salomon Wiener, gefordert: „Diese Synagoge wird dem Ansehen der aufblühenden Gemeinde, den Ansprüchen, welche in unserer so schön gebauten Stadt an ein öffentliches Bauwerk gestellt werden und ihrer hohen Bestimmung in Ausstattung und Ausführung entsprechen müssen.“ Den Platzbedarf in der Neuen Synagoge bezifferte Wiener mit mindestens 600 Männer- und 450 Frauensitzen. Für das Erscheinungsbild der Kattowitzer Synagoge sollte es entscheidend werden, daß von Anfang an die Absicht bestanden hatte, mit der Synagoge zugleich ein Gebäude zu errichten, in dem eine „rituelle Badeanstalt nebst Tauche [Mikwe]“, eine Geflügelschlacht- und Fleischverkaufshalle, ein „Sessionssaal nebst Nebenräumen“ sowie Wohnungen für die Gemeindebeamten Platz finden mußten. Durch die gleichzeitige Errichtung der Synagoge und des Gemeindehauses entstand dann an der Kattowitzer August-Schneiderstraße jenes eindrucksvolle Bauensemble, in das sich auch das Städtische Gymnasium und sogar das „Städtische Badehaus“ einfügten. Es dürfte kaum sonst Beispiele für eine derartige Einbindung einer Synagoge in einen städtischen Gesamtbauplan geben, wie sie in Kattowitz an einer Hauptgeschäftsstraße verwirklicht wurde. Der Synagogenbau wurde von der Kattowitzer Firma Ignatz Grünfeld als eine Kombination von „deutscher Renaissance mit Anklängen an die Spätgothik“ projektiert. Die Grundidee, die diesen mächtigen und reich gegliederten Kuppelbau formte, war die des Tempels und sie wirkte so stark, daß sich auch die benachbarten städtischen Bauten in Material, Höhe und Stil ihr gleichsam „unterwarfen“ oder doch zumindest anschlossen227. Die am 12. Sept. 1900 eingeweihte Synagoge in Kattowitz wurde beim Einzug der deutschen Truppen am 4. Sept. 1939 niedergebrannt und die Ruine dann abgetragen. Heute erinnert ein Gedenkstein an den Ort, an dem sich dieser bedeutende jüdische Sakralbau einst erhob228.

225

Vgl. MASER/WEISER, S. 135-139. Vgl. zum kommunalen Hintergrund K. FUCHS: Ursprung und Entwicklung der Industriestadt Kattowitz, in: Ders., Aus Wirtschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte Schlesiens vom 18. bis 20. Jh. = Veröffentl. d. Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund A50, Dortmund 1990, S. 100-119. 227 Vgl. MASER, Oberschlesische Synagogen, S. 231-235. 228 Vgl. HAMMER-SCHENK, S. 361f.; MASER/WEISER, S. 107-121. 226

364 Mit ihren Synagogenbauten spiegelten die jüdischen Gemeinden zunächst eher unbewußt, dann aber in zunehmenden Maß sehr überlegt die Verhältnisse wider, in denen sich jüdisches Leben jeweils konkretisierte. Im Zeitalter der Assimilation wurden die Synagogen zu hervorragenden, auf Öffentlichkeitswirksamkeit bedachten Zeugnissen des jüdischen Selbstbehauptungswillen, der keineswegs die Offenheit gegenüber den ästhetischen Prinzipien der Zeit ausschloß. Das läßt sich auch noch an der kleinen Synagoge (Betraum) des Israelitischen Krankenhauses in Breslau ablesen, die 1903 eingeweiht wurde und bereits Elemente des Jugendstils anklingen ließ229. b) Gemeindeorganisation Der Synagogenbau signalisierte auch der nichtjüdischen Umwelt die Entwicklung, die die jüdischen Gemeinden Schlesiens auf dem Wege von der Emanzipation hin zur Assimilation und neuen Konsolidierung des jüdischen Selbstbewußtseins bis zum Beginn des 20. Jh.s absolviert hatten. Die sichtbaren Fortschritte, die hier zweifelsohne erreicht wurden, wären nicht möglich gewesen, hätte das schlesische Judentum es nicht verstanden, sehr rasch den negativen Folgewirkungen der Emanzipationsgesetzgebung entgegenzutreten. Diese hatte zwar die Individualrechte des einzelnen Juden in einer bisher nicht gekannten Weise gestärkt, dafür aber dem Judentum als Religionsgemeinschaft alle Rechte genommen, die es bisher besessen hatte. Die jüdischen Gemeinden sanken durch eine Ministerialverfügung vom 11. Juli 1812 auf den Status erlaubter Privatgesellschaften ab und ihre Funktionsträger verfügten somit über keinerlei amtliche Autorität mehr. Es lag in der rechtlichen Konsequenz dieser Gesetzgebung, daß nun auch jede gemeindeübergreifende Gesamtvertretung der Judenschaft gegenüber den Behörden und der Öffentlichkeit unmöglich wurde. Eine Änderung dieser untragbaren Verhältnisse konnte nur durch die Initiative von Einzelpersönlichkeiten erreicht werden, deren Autorität und Energie ausreichte, um das Judentum erneut zu gemeinsamem Handeln zu vereinen. Wegweisende Bedeutung erlangte in dieser Bewegung der Hamburger Jurist und Vizepräsident der Nationalversammlung nach 1848 Gabriel Rießer (1806-1863), dessen Schrift „Über die Stellung der Bekenner des mosaischen Glaubens in Deutschland. An die Deutschen aller Konfessionen“ von 1830 die Problemlage erstmals mit

229

Vgl. E. SANDBERG/G. REINBACH/P. EHRLICH: Das israelitische Krankenhaus zu Breslau. Denkschrift, Breslau 1904; KRINSKY, S. 321-324.

365 solcher Präzision erfaßte, daß sie allgemeine Aufmerksamkeit fand230. Von ihm stammen jene berühmt gewordenen Worte, die für das Selbstverständnis deutscher Juden kennzeichnend werden sollten: „Wer mir den Anspruch auf mein deutsches Vaterland bestreitet, der bestreitet mir das Recht auf meine Gedanken, meine Gefühle, auf die Sprache, die ich rede, auf die Luft, die ich atme; darum muß ich mich gegen ihn wehren, wie gegen einen Mörder.“231 Was Rießer durch sein Lebenswerk zu nationaler Bedeutung erhob, fand seine praktische Umsetzung aber durch andere, die in religiösen Fragen weniger liberal dachten als der große Vorkämpfer der vollständigen Emanzipation des deutschen Judentums. Die ersten Schritte in dieser Richtung machte der „oberschlesische Judenkönig“ Abraham Muhr (1781-1847)232, der am 13. April 1840 die Vorsteher der jüdischen Gemeinden Oberschlesiens zu einer Versammlung nach Gleiwitz einberief, die am 7. Mai stattfinden sollte. In seinem Rundschreiben ging Muhr davon aus, daß „die Erfahrung der letzten Jahre deutlich den Nachteil herausgestellt habe, der den Gemeinden daraus erwuchs, daß sie vereinzelt ohne inneren Verband und Zusammenhang dastehen“, und wies darauf hin, daß es „nach außen hin kein Organ gäbe, um das gemeinsame Interesse wahrzunehmen“. Die religiösen Auseinandersetzungen, die zu jener Zeit die jüdische Gemeinde der Provinzhauptstadt erschütterten, gäben auch kleineren Gemeinden das Recht, die Initiative zu ergreifen. Ausdrücklich betonte Muhr, daß bei der geplanten Versammlung „von Neuerungen und Abänderungen in religiöser Beziehung nicht die Rede sein werde“, sondern die Gründung eines oberschlesischen Gemeindebundes geplant sei. Dieser solle die nötige Verbindung untereinander organisatorisch festigen, eine einheitliche Auslegung der Staatsgesetze durch die Gemeinderepräsentanten anstreben und auf eine möglichst einheitliche Gestaltung der inneren Einrichtungen der Gemeinden bedacht sein. Der geplante „Verband der jüdischen Gemeinden des Regierungs-Bezirkes Oppeln“ verfolge somit den Zweck, daß „sämtliche jüdische Gemeinden im Regierungs-Departement als Genossen einer vom Staat tolerierten Religion einen moralischen Körper von ein und demselben Interesse, von ein und denselben Pflichten sowohl gegen den Staat, als gegen sich selbst bilden“. Im einzelnen sollte der Verband für die gleichförmige Führung der Personenstandslisten in den Gemeinden, einen geregelten Religionsunterricht, die Hebung der Würde der Gottesdienste und ein einheitliches Verhalten ge230

Vgl. G. RIESSER: Gesammelte Schriften, hg. von M. Isler, 4 Bde., Frankfurt/M. 1867/68 (enthält in Bd. 1 eine quellengesättigte Biographie Rießers). G. RIESSER: Börne und die Juden. Ein Wort der Erwiderung auf die Flugschrift des Herrn Dr. Eduard Meyer gegen Börne, Altenburg 1832, S. 21f. 232 Vgl. BRANN, Abraham Muhr. 231

366 genüber den polnischen Wandervorsängern und -predigern sorgen. Damit hatte Muhr von Anfang an alle jene wesentlichen Aufgaben erfaßt, die sich dann auch der seit 1869 bestehende Gesamtverband der jüdischen Gemeinden Deutschlands, der Deutsch-Israelitische Gemeindebund (DIGB), zu eigen machte233. In einer Erklärung zum Geburtstag Friedrich Wilhelms IV. am 15. Okt. 1840 fanden die Repräsentanten des Verbandes Gelegenheit, sich über ihre patriotische Gesinnung auch öffentlich auszusprechen: „Dem Glauben nach Juden, erfüllen wir nur eine Pflicht unserer Religion, in allen bürgerlichen Beziehungen durch und durch Preußen zu sein, freudig und bereitwillig alles zu leisten, was dieser Name uns auferlegt, um dagegen das erhabene Bewußtsein zu erlangen, demjenigen Volke anzugehören, dessen unveräußerliches Glück seit Jahrhunderten weise und fromme Regenten gegründet haben.“234 Der oberschlesische Gemeindeverband erwies sich rasch als so erfolgreich, daß schon 1841 ein gemeinsames Handeln aller schlesischen Gemeinden möglich wurde, als Friedrich Wilhelm IV. im September in Breslau die Huldigung der schlesischen Stände entgegennahm. Im Gefolge dieser Audienz trat Muhr im Auftrag des Verbandsvorstandes für das Recht der Juden auf Ableistung der Militärpflicht ein und entwickelte darüber hinaus sehr eingehende Vorstellungen über die Errichtung einer „Kolonie ackerbauernder Juden in Oberschlesien“, die zumindest zunächst das wohlwollende Interesse des preußischen Innenministeriums fanden235. Die organisatorischen Anfänge eines Zusammenschlusses der jüdischen Gemeinden, die Muhr in Oberschlesien und dann in ganz Schlesien ins Leben gerufen hatte, versandeten jedoch wieder, als die preußischen Behörden jede substantielle Entscheidung unter Hinweis auf den Erlaß neuer Gesetze über die Verhältnisse der Juden verweigerten. Wenige Wochen nach Muhrs Tod wurde dann das Gesetz vom 23. Juli 1847 erlassen, das in seinem Kern bis in die Weimarer Republik gültig blieb236.

233

Vgl. DERS., Gemeindeverband; W. NEUMANN: Art.: Deutsch-Israelitischer Gemeindebund, in: JL 2, 1927 (ND: 1982), Sp. 95-98. Vgl. Allgemeine Zeitung des Judenthums 1840, S. 612f.; hier zitiert nach BRANN, Gemeindeverband, S. 359. 235 Vgl. ebd., S. 362f., und BRANN, Abraham Muhr, S. 62ff. 236 Vgl. [Anonymus:] Zur Vorgeschichte des Gesetzes über die Verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847, in: Mitteilungen des Gesamtarchivs der deutschen Juden 2, 1910, und den Auszug aus dem Gesetz über die Verhältnisse der Juden vom 23. Juli 1847, in: M.P. BIRNBAUM: Staat und Synagoge 1918-1938. Eine Geschichte des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden (1918-1938) = Schriftenreihe wiss. Abhandlungen des LBI 38, Tübingen 1981, S. 262-265; zur Lit. vgl. ebd., S. 3 Anm. 2. 234

367 Es dauerte bis zum Jahr 1888, bis sich auf schlesischem Boden eine neue Regionalorganisation jüdischer Gemeinden konstituierte, und wieder ging die Bewegung von Oberschlesien aus, wo Stadtrat a.D. Huldschinski in Gleiwitz und Justizrat Berger in Königshütte nach einer Antwort auf die Nöte der Zeit suchten: „Gemeinden mit stark pulsierendem Leben bestanden dicht neben ganz kleinen, kaum noch lebensfähigen; dazu lebten hier und dort zerstreut einzelne Familien ohne jeden Zusammenhang miteinander und mit den Gemeinden. [...] Der religiöse Indifferentismus zog immer weitere Kreise. Gemeindeglieder schieden aus ihrer wohlorganisierten Gemeinde mit guten religiösen Einrichtungen aus und traten in die benachbarte leistungsunfähige Gemeinde ein, nur um einen kleinen Prozentsatz an Steuern zu ersparen. Kenntnis der Religionswahrheiten, religiöses Interesse, jüdisches Gemeinschaftsgefühl waren nicht zu finden. Angriffe von außen mehrten sich, gegen die die einzelnen machtlos waren.“237 Der in Übereinstimmung mit dem Deutsch-Israelitischen Gemeindebund begründete oberschlesische Gemeindeverband stellte sich dementsprechend folgende Aufgaben: „1. Stellungnahme gegen ungerechtfertigte Angriffe von außen; 2. gegenseitiger Schutz gegenüber Gemeindemitgliedern, die aus unzureichenden Gründen aus der Synagogengemeinde ihres Wohnortes ausschieden; 3. Sorge für die ordentliche Erteilung des Religionsunterrichts; 4. Förderung der Heranbildung von Religionslehrern und deutschen Kultusbeamten; 5. Gründung eines jüdischen Waisenhauses; 6. Stellungnahme zum Deutsch-Israelitischen Gemeindebunde.“238 Unterstützung fand der Synagogengemeinde-Verband der Provinz Oberschlesien durch den 1892 gegründeten Oberschlesischen Rabbinerverband, der einen Verbandsrabbiner zur Versorgung der rabbinerlosen Kleingemeinden anstellte, die Vereinigung der jüdischen Lehrer Oberschlesiens und den Oberschlesischen Kultusbeamtenverband. Besondere Bedeutung erlangte auch das 1897 gegründete „Waisenhaus des Synagogengemeinde-Verbandes für den Regierungsbezirk Oppeln“ in Rybnik, das eine „strengreligiöse häusliche Erziehung“ praktizierte239. Erst 1897 bildete sich dann der Verband der Synagogen-Gemeinden der Provinz Niederschlesien, der die Regierungsbezirke Breslau und Liegnitz umfaßte240. Etwa zur gleichen Zeit entstand auch der Verein israelitischer Lehrer in Schlesien, der eine 237

J. JACOB: Das 25jährige Jubiläum des Verbandes der jüdischen Gemeinden Oberschlesiens, in: Allg. Zeitung des Judentums 72, 1908, S. 244-246, bes. S. 245. 238 Ebd. 239 Vgl. J. JACOB: Aus Oberschlesien, in: Allg. Zeitung des Judentums 65, 1901, S. 268f. 240 Vgl. Synagogenverband Niederschlesien, in: Jüdische Zeitung für Ostdeutschland 37, Nr. 22 vom 30. Mai 1930; Breslauer Jüdisches Gemeindeblatt vom 10.12.1937, S. 3 zum 40jährigen Bestehen des Verbandes. Das Gründungsjahr 1877 bei W. COHN: Art.: Schlesien, in: JL 4/2, 1927 (ND: 1982), Sp. 222-225, bes. Sp. 225, ist irrig.

368 Unterstützungskasse für in Not geratene Mitglieder organisierte und als Unterverband dem Lehrerverband in Preußen angehörte, der seinerseits dem Reichsverband der jüdischen Lehrervereine angeschlossen war241. Die Rabbiner Schlesiens gehörten in ihrer ganz überwiegenden Zahl dem 1896 gegründeten Allgemeinen Rabbinerverband in Deutschland an, der sich der „Hebung des religiösen Sinnes und Lebens in der Judenheit, Wahrung der Ehre des Judentums und der Würde und des Ansehens des Rabbinerstandes sowie der Förderung der Mitglieder in wissenschaftlicher und amtlicher Tätigkeit“ verschrieben hatte242. Auch die Vereinigung der liberalen Rabbiner Deutschlands, gegründet 1898, und die Vereinigung traditionell-gesetzestreuer Rabbiner Deutschlands, hatten in Schlesien eine nennenswerte Anzahl von Mitgliedern, während der Verband orthodoxer Rabbiner Deutschlands, der die „Ablehnung einer Zusammenarbeit mit der Neologie“ verpflichtend machte, nur über einige wenige Anhänger in Breslau verfügen konnte243. Nach dem Inkrafttreten der Weimarer Verfassung eröffnete sich die Möglichkeit, den Deutsch-Israelitischen Gemeindebund, der bis dahin den Charakter eines privaten Vereins gehabt hatte, zur öffentlich-rechtlichen Körperschaft nach Verfassungsartikel 137 umzugestalten244. Ismar Freund, der 1876 in Breslau geboren worden war, das dortige Jüdisch-Theologische Seminar absolviert hatte und seit 1905 u.a. als Dozent „für Staatskirchenrecht“ an der Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums wirkte245, entwarf deshalb jenen grundlegenden „Entwurf einer Verfassung für die gesamte Organisation des deutschen Judentums“, der 1921 auf dem 15. Gemeindetag des DIGB angenommen wurde246. Interne Querelen verzögerten jedoch den weiteren Ausbau dieses Weges, so daß im Juni 1922 der Preußische Landesverband Jüdischer Gemeinden ins Leben gerufen wurde, dem schon 1925 praktisch alle jüdischen Bürger Preußens angehörten, sofern sie Mitglied einer Synagogengemeinde waren247. Bis zuletzt gehörte es zu den wichtigsten Aufgaben dieses 241

Vgl. Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung 1932-33, S. 555. Vgl. ebd., S. 552f. Vgl. ebd., S. 553-555. 244 Vgl. S. WERTHEIMER: Die Bedeutung des Artikels 137 der Reichsverfassung für die israelitischen Religionsgesellschaften, Karlsruhe 1929; BIRNBAUM, Staat und Synagoge, S. 27ff. 245 Vgl. G. HERLITZ: Art.: I. Freund, in: JL 2, 1927 (ND: 1982), Sp. 807. Freund, der 1938 nach Palästina emigrierte, starb 1956. Sein umfangreiches Privatarchiv befindet sich heute in den General Historical Archives in Jerusalem. Zu seinen Veröffentlichungen vgl. KISCH, SEMINAR, S. 414f. 246 Vgl. M. KOLLENSCHER. Art.: Gesamtorganisation der deutschen Juden, in: JL 2, 1927 (ND: 1982), Sp. 1050f.; BIRNBAUM, Staat und Synagoge, S. 35-40. 247 Vgl. ebd., S. 59ff., und L. LAZARUS: Die Organisation der preußischen Judengemeinden, Göttingen 1933. 242 243

369 Verbandes, eine vollständige Novellierung des preußischen Judengesetzes von 1847 anzustreben248. c) Wohlfahrtspflege und Vereinswesen Die Fürsorge des Einzelnen und der Gemeinden für die Armen, Kranken und für die Toten „wurde seit den ältesten Zeiten von der jüdischen Religionsgemeinschaft als eine ihrer heiligsten Pflichten angesehen“249. In dem Maße, wie der Wohlstand in den Gemeinden seit der Emanzipation stieg und sich die Gemeindeorganisation wieder konsolidierte, entwickelte sich - auch in Anlehnung an ältere Traditionen - ein vielfältig strukturiertes jüdisches Wohlfahrtswesen in Schlesien, das die Aktivitäten des Einzelnen ebenso umfaßte wie das Wirken zahlreicher Vereine mit unterschiedlichster Zielstellung der Aufgaben. Eine bedeutende, wenn auch zumeist regional beschränkte Rolle spielten daneben die unzähligen Stiftungen und Legate, die das Gedenken an verstorbene Gemeindeglieder wachhielten und zumeist von den örtlichen Gemeinden verwaltet wurden250. Sie alle wurden im Herbst 1939 entweder aufgelöst oder in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland eingegliedert. Eine wesentlich weiterreichende und kontinuierliche Wirkung erzielte die Arbeit der jüdischen Vereine, von denen es zu Beginn des 20. Jh.s mehr als 300 in Deutschland gegeben hat251. Ihre Bedeutung erschöpfte sich aber keineswegs in der Erfüllung des Vereinzwecks, bildeten die Vereine doch in den „Einheitsgemeinden“ auch einen wichtigen Integrationsfaktor. Wer sich als Jude und Gemeindeglied den religiösen Anliegen des Judentums nicht mehr eng oder überhaupt nicht mehr verbunden fühlte, konnte sich doch über die Mitarbeit in einem dieser Vereine trotzdem noch der gemeinsamen Sache verbunden fühlen und am Leben der Gemeinde teilhaben252. Auch die Verfolgung ganz spezieller Interessen, die nur von einem Teil der Gemeinden geteilt und von anderen Gruppen möglicherweise sogar bekämpft wurden, gefährdete die Existenz der Gemeinde so lange nicht grundsätzlich, so lange die Möglichkeit bestand, solche Anliegen in einem Verein zu pflegen. Offensichtlich war es durchaus 248

Vgl. I. FREUND: Art.: Preußischer Landesverband jüdischer Gemeinden, in: JL 4/1, 1927 (ND. 1982), Sp. 1117-1119. S. KAATZ: Jüdische Wohlfahrtspflege in OS., in: Jüdische Zeitung für Ostdeutschland, Heft 25, 1930. 250 Zu den einzelnen Orten vgl. die Aufstellung S. XX-XX in diesem Beitrag. 251 Vgl. J. THON: Die jüdischen Gemeinden und Vereine in Deutschland. Veröffentlichung des Bureaus für Statistik der Juden. Heft 3, Berlin 1906, S. 59. 252 Vgl. BREUER, Jüdische Orthodoxie, S. 243: „Im Zeitalter der Säkularisierung trat bei vielen der gesellige Verein und der Interessenverband an die Stelle der Gemeinde, die früher den jüdischen Zusammenhalt symbolisiert und konkretisiert hatte.“ 249

370 üblich, auch mehreren dieser Vereine gleichzeitig anzugehören, denn auf andere Weise läßt es sich nicht erklären, daß auch in vergleichsweise kleinen Gemeinden häufig mehrere Vereine nebeneinander arbeiten konnten253. Zu den jüdischen Vereinen, die auf eine große Tradition zurückblicken konnten und mit der Erfüllung zentraler ethischer Forderungen des Judentums aufs engste verknüpft waren, gehörten vor allem die Beerdigungsbrüderschaften (Chewra Kadischa = heilige Vereinigung), die die Kranken besuchten, deren Angehörigen beistanden254, dafür sorgten, daß dem Sterbenden ein Minjan das jüdische Glaubensbekenntnis, das Schma Israel, vorsprach, die rituelle Herrichtung der Toten und das Begräbnis übernahmen und die Trauerriten zusammen mit den Angehörigen der Verstorbenen abhielten. Die Chewra Kadischa (Israelitische Krankenverpflegungsanstalt und Beerdigungsgesellschaft) in Breslau wurde bereits 1726 gegründet255, im gleichen Jahr wurde dort ein jüdisches Krankenhaus eingerichtet, das 1902 durch einen Neubau mit 250 Betten abgelöst wurde. In Glogau ist das Wirken der „Heiligen Bruderschaft“ seit 1770 bezeugt256. Unter der Bezeichnung „Chewra Kaddischa“ (gelegentlich auch „Bikkur Cholim“ genannt, d.i. Krankenbesuch, auch Krankenpflege) bzw. „Israelitischer Krankenpflege- und Beerdigungsverein“ finden sich soziale Organisationen dieser Art später in Schlesien praktisch an allen Orten, in denen eine jüdische Gemeinde bestand257. Ihre außerordentliche Verbreitung erklärt sich nicht zuletzt auch daraus, daß die Aufnahme in die Chewrot Kadischot als hohe Ehrung und Gelegenheit betrachtet wurde, eines der für Juden zentralen Gebote der Nächstenliebe aktiv zu verwirklichen. Eine ähnliche Verbreitung besaßen in Schlesien nur noch die Jüdischen bzw. Israelitischen Frauenvereine, deren Aufgabenbereich die Unterstützung von Frauen, Mädchen, Witwen, Waisen, Wöchnerinnen, armen Bräuten und die „Übung der Liebeswerke an den Verstorbenen“ umfaßte. 1904 hatten sich die Frauenvereine in dem in religiösen und anderen internen Streitfragen des Judentums streng neutralen Jüdi-

253

Eine Durchsicht der Vorstandslisten der jüdischen Vereine belegt solche Mehrfachmitgliedschaften in zahlreichen Fällen. Der in Glogau seit 1796 bestehende Verein „Haspokas Avelim“ (Versorgung der Trauernden) beschränkte sich ausschließlich auf die finanzielle, nach der Größe der Familie gestaffelte Unterstützung der Hinterbliebenen; vgl. LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 293f. 255 Vgl. L. LEWIN: Geschichte der israelitischen Krankenverpflegungsanstalt zu Breslau 1726-1926, Breslau 1926. 256 Vgl. LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 290. 257 1933 existierten Chewrot Kadischot in Beuthen, Breslau, Gleiwitz, Glogau, Jauer, Kreuzburg, Landeshut, Leobschütz, Liegnitz, Neiße, Peiskretscham, Rosenberg, Schweidnitz und Striegau. 254

371 schen Frauenbund zusammengeschlossen258, der es zunächst als eine seiner Hauptaufgaben betrachtete, durch „Beratungszentren“ jüdische Mädchen in angemessenen beruflichen Stellungen unterzubringen259. 1913 verfügte dessen 1908 gegründete Breslauer Ortsgruppe, die größte des Provinzialverbandes Schlesien des JFB, über 272, 1922 schon über 600 und 1923 sogar über 800 Mitglieder260. Entsprechend groß waren die finanziellen Mittel, die der JFB auch auf Grund regelmäßiger Zuwendungen der Synagogengemeinde, für seine Arbeit einsetzen konnte. Bei ihrer Auflösung im November 1938 besaß die Breslauer Ortsgruppe ein Altersheim, eine Hauswirtschaftsschule und ein Erholungsheim261. Diese Einrichtungen wurden an die Reichsvereinigung der deutschen Juden übertragen262. Schon 1910 hatte der JFB als Filialgründung einen Lehrerinnenverband ins Leben gerufen, der bis zu 70 Mitglieder zählte und sich vorwiegend der Aufgabe der Stellenvermittlung widmete263. An nicht wenigen Orten waren darüber hinaus auch noch Jüdische bzw. Israelitische Jungfrauenvereine tätig, die sich der Bekleidung armer Kinder, der Gewährung von Feiertagskost an Arme und der Unterstützung mittelloser Bräute widmeten264. Die Aktivitäten von Jüdinnen innerhalb der Frauenverbände mußten immer wieder auch zur Unterstützung antisemitischer Affekte dienen. So erklärte Arnold Runge, tätiges Mitglied des „Bundes zur Bekämpfung der Frauenemanzipation“, in einer seiner bezeichnenden Polemiken: „Die Frauenbewegung heute [...] ist eine Bewegung, die sich zusammensetzt aus alten Mädchen, sterilen Frauen, Witwen und Jüdinnen [...].“265 Der Wohlfahrtspflege im engeren Sinn waren weiterhin auch die Israelitischen Wohltätigkeitsvereine266, Armen- und Waisenunterstützungsvereine verpflichtet sowie die

258

Vgl. J. SEGALL: Die jüdischen Frauenvereine in Deutschland, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 10, 1914, S. 2-5; M. A: KAPLAN: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904-1938 = Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 7, Hamburg 1981; E. WEINGARTEN-GUGGENHEIM: Die deutsche jüdische Frauenbewegung 1904-1938, in: Ariadne. Almanach des Archivs der deutschen Frauenbewegung 1987, Heft 7, S. 4-7. 259 Vgl. ebd., S. 294. 260 Vgl. ebd., S. 128 Anm. 47. 261 Vgl. ebd., S. 130 Anm. 56. 262 Vgl. ebd. S. 332. 263 Vgl. ebd., S. 281f. 264 Vgl. die Funktionsbeschreibung dieser Vereine in: Statistisches Jahrbuch Deutscher Juden. Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege, hg. vom Deutsch-Israelitischen Gemeindebund, Berlin 1899, S. 35 (zu Kattowitz). 265 Vgl. B. GUTTMANN: „Diese Frauenbewegung ist allmählich ein Skandal...“. Eine Auseinandersetzung zwischen Marianne Weber und Arnold Runge, in: Ariadne. Almanach des Archivs der Deutschen Frauenbewegung 1989, Heft 13, S. 12f.. 266 Vgl. L. ROTHSCHILD (Hg.): Gesinnung und Tat. FS zum achtzigjährigen Jubiläum des israelitischen Wohltätigkeitsvereins, St. Gallen 1948.

372 Vereine zur Förderung des Handwerks unter den Juden267, die später eng mit dem Zentralverband jüdischer Handwerker Deutschlands, gegr. 1909, zusammenarbeiteten, und der Verein gegen Wanderbettelei. Letzterer, der wohl besonders in Oberschlesien aktiv war268, unterstützte die Tätigkeit der Deutschen Zentrale für jüdische Wanderarmenfürsorge, die 1910 entstanden war und sich besonders der ostjüdischen Emigranten annahm, die auf dem Weg aus Polen und Rußland in die USA oft über Schlesien reisten269. Im Jahr 1917 wurde als Reichsspitzenverband der jüdischen Wohlfahrtspflege die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden gegründet270, die neben Innerer Mission, Deutschem Caritasverband und Deutschem Roten Kreuz 1926 in die Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege aufgenommen wurde271. Der oberschlesische jüdische Landeswohlfahrtsverband hatte seinen Sitz in Beuthen272, während der für Niederschlesien in Breslau eine Geschäftstelle unterhielt273. Über die Entwicklung und die einzelnen Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens, die von den jüdischen Landeswohlfahrtsverbänden in Schlesien fortgeführt oder neuerrichtet wurden, berichtete die Zentralwohlfahrtsstelle in zahlreichen Publikationen274. 267

Zur Tätigkeit des Vereins vgl. die Erinnerungen des 1808 in Badewitz OS. geborenen Breslauer Verlegers L. FREUND: Eine Lebensgeschichte, Breslau 1867; im Auszug abgedruckt bei RICHARZ, Jüdischen Leben in Deutschland 1780-1871, S. 177-185, bes. S. 183 (ND auch in Dies., Bürger auf Widerruf. Lebenszeugnisse deutscher Juden 1780-1945, München 1989, S. 124-133). Ortsgruppen waren in Beuthen, Breslau, Gleiwitz und Glogau tätig. 268 Nachgewiesen für Beuthen, Cosel, Fischbach, Gleiwitz, Glogau, Guttentag, Hirschberg, Kattowitz, Königshütte, Landeshut, Lublinitz, Myslowitz, Neisse, Neustadt OS, Oberglogau, Oppeln, Rybnik, Schweidnitz, Schwiebus, Tarnowitz, Waldenburg, Zabrze/Hindenburg und Züllichau. 269 Vgl. J. SEGALL: Geschichte und Organisation der jüdischen Wanderfürsorge in Deutschland bis zum Jahre 1914, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 1, 1924, S. 57-74; S.A. RUDEL: Die jüdische Wanderfürsorge in Deutschland im letzten Jahrzehnt, in: ebd. 2, 1925, Heft 5/6; Tätigkeitsbericht der Hauptstelle für jüdische Wanderfürsorge, Berlin 1927. In Schlesien war die Wanderfürsorge mit Arbeitsstellen und örtlichen Vereinen in Beuthen, Breslau, Gleiwitz, Oppeln und Ratibor vertreten. 270 Vgl. H. OTTENHEIMER: Art.: Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, in: JL 4/2, 1927 (ND: 1982), Sp. 1562-1564. Die Satzung der Zentralwohlfahrtsstelle ist abgedruckt im Führer durch die Jüdische Wohlfahrtspflege in Deutschland 1928/29, hg. von der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, Charlottenburg 1929, S. 281-285. 271 Vgl. zur Zentralstelle und ihren zahlreichen Spezialabteilungen: Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932-33, hg. von der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, bearb. von B. Schlesinger, Berlin 1933, S. 435-443. Örtliche Zentralen der jüdischen Wohlfahrtspflege in Schlesien gab es in Beuthen, Breslau, Gleiwitz, Glogau, Hindenburg, Oppeln und Ratibor. 272 Vgl. KAATZ, Jüdische Wohlfahrtspflege. 273 Vgl. Jüdischer Wohlfahrtsverband für Niederschlesien, in: Jüdische Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik NF 1, 1930, S. 384. 274 Vgl. Handbuch der jüdischen Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege 1924/25. Statistisches Jahrbuch. Hg. vom Büro des Deutsch-Israelitischen Gemeindebund und von der Zentralwohlfahrtstelle der deutschen Juden, bearb. vom Bureau für Statistik der Juden, Berlin 1925; Die geschlossenen und halboffenen Einrichtungen der jüdischen Wohlfahrtspflege, Berlin 1925; Führer durch die jüdische

373 Folgende Einrichtungen des jüdischen Wohlfahrtswesens, von denen manche nur für kurze Zeit wirken konnten, sind für Schlesien zu ermitteln: Bad Flinsberg: Kinderlandheim des Jüdischen Frauenbundes (gegr. 1924). Beuthen: Israelitisches Altersheim (gegr. 1899, Träger [= T:] Synagogengemeinde), Institut für jüdische Krankenpflegerinnen, Kinderhort (gegr. 1910) und Kindergarten (gegr. 1925) der Synagogengemeinde, Jüdische Haushaltungsschule (gegr. 1925, T: Jüdische Gemeinde), Gemeindebibliothek. Branitz OS: Heil- und Pflegeanstalt (T der Rituellen. Abt. in der staatlichen Anstalt war der Prov.-Verband f. jüd. Wohlfahrtspflege in der Provinz Oberschlesien). Breslau: Industrieschule für israelitische Mädchen (gegr. 1801), Jüdisches Betreuungshaus für alte Leute und langwierig Kranke in der Neudorfer Straße 35 (gegr. 1896, T: Julius und Anna Schottländer-Stiftung275), Zufluchtshaus der Fränckelschen Stiftung in der Junkerstraße (gegr. 1847), Lazarus-Kroh-Stift für alte und bedürftige Männer der jüdischen Gemeinde (gegr. um 1885), Commerzienrat Ernst Heymannsche Stiftung zum Zwecke der Armenpflege am Blücherplatz (gegr. um 1890), Adolph und Bertha Wollenberg Stiftung zur Linderung der Wohnungsnot in der Fischergasse (gegr. um 1900), Israelitische Volksküche, Fedor-Pringsheim-Stiftung zur Förderung der Armenpflege (gegr. 1909), Verein zur Ausbildungshilfe für junge Mädchen276, Beate-Guttmann-Heim (gegr. 1930, T: Ortsgruppe des Isr. Frauenbundes)277, Israelitische Kranken-Verpflegungsanstalt (gegr. 1726, T: Verein, 1903 Neubau des Jüdischen Krankenhauses, Hohenzollernstraße 96)278, Israelitisches Siechenhaus in der Menzelstraße (gegr. 1911, T: Stiftung), Jüdisches Schwesternheim (gegr. 1899, T: Verein), Israelitische Waisenverpflegungsanstalt (gegr. 1805, T: Verein), Schomre Schabbat (gegr. um 1880, ein Stellenvermittlungsverein für sabbathaltende Angestellte), Israelitisches Mädchenheim (gegr. 1891, T: Verein), Jüdisches Lehrlingsheim

Wohlfahrtspflege in Deutschland 1928/29. Hg. von der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden, Berlin 1928/30 (mit zwei Nachträgen). Das Publikationsorgan „Zedakah. Mitteilungen der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden“, das seit dem Januar 1921 „in zwangloser Folge“ veröffentlicht worden war, mußte kurz nach der „Reichskristallnacht“ im November 1938 sein Erscheinen einstellen. 275 Vgl. MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 88f. Julius Schottländer (1835-1911), Großgrundbesitzer in Hartlieb, stiftete 1891 auch den Südpark in Krietern. 276 Vgl. KAPLAN, Frauenbewegung, S. 69. 277 Vgl. MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 92f. 278 Vgl. ebd., S. 50-53.

374 Paula Ollendorff-Haus279 (gegr. 1880, T: Verein)280, Kindergarten und -hort der Vereinigung jüd. Frauen (gegr. 1906, T: Verein), Awodah-Kindergarten (gegr. 1924, T: Awodah-Verein), Rituelle Haushaltungsschule (gegr. 1925, T: Soziale Gruppe f. erwerbstätige jüdische Frauen und Mädchen), Montessori-Kinderhaus (gegr. 1931, T: Verein Jüdisches Jugendheim), Mädchenklub des Jüdischen Frauenbundes (gegr. 1913)281, Bahnhofshilfe und Übernachtungsheim des JFB für durchreisende und arbeitslose Mädchen282, Paula-Ollendorff-Haushaltungsschule (gegr. 1930, T: JFBOrtsgruppe, Jüdische Gemeinde und Stiftungen)283, Arbeitslosenhaus für männliche jüdische Jugendliche (gegr. 1932, T: Ortsausschuß der Jüd. Jugendverbände), Neues Jüdisches Altersheim im Gemeindehaus II am Schweidnitzer Stadtgraben 28284, Julius und Paul Oesterreichische Stiftung in der Kürassierstraße (gegr. 1935), Bibliothek der Synagogengemeinde (gegr. 1842, etwa 12.000 Bde.)285. Breslau-Krietern: Breslauer Kleinkinderheim des Jüdischen Frauenbundes (gegr. 1916). Gleiwitz: Jüdisches Altersheim (gegr. 1927, T: Synagogengemeinde), Jüdischer Kindergarten und Kinderhort (gegr. 1924, T: Vereine und Synagogengemeinde), Gemeindebibliothek. Glogau: Jüdische Altersversorgungs-Anstalt286. Guttentag: Jüdisches Waisenhaus. 279

Paula Ollendorff, geb. 1860 in Kostenblut/Schlesien und gest. 1938 in Jerusalem, seit 1929 stellvertretende Vorsitzende des Jüdischen Frauenbundes, gründete 1908 die erste JFB-Ortsgruppe in Breslau. Die Breslauer Gemeinde, zu deren Vorstandsmitgliedern sie gehörte, stiftete ihr zu Ehren den Paula-Ollendorff-Preis für besondere Verdienste auf sozialem Gebiet. Sie gehörte dem Breslauer Stadtrat an und wirkte im Hauptvorstand des Weltverbandes für religiös-liberales Judentum mit. Vgl. E. MOERING: Drei Frauen. Paula Ollendorff - Helene Heine - Else Wenzig, in: JSFUB 6, 1961, S. 411420, bes. S. 412ff.; KAPLAN, Frauenbewegung, S. 144f.; H. VOGELSTEIN: Paula Ollendorff zum Gedächtnis, in: Mitteilungen Breslau 17/18, September 1965. 280 Vgl. ebd., S. 86f. 281 Vgl. ebd., Abb. nach S. 178 und 213 Anm. 204, wonach der Mädchenklub 1922 rund 100 Mitglieder hatte und damit zu den größten Einrichtungen dieser Art in Deutschland zählte. Hier sei auch noch auf die Hilfsmaßnahmen der Breslauer Ortsgruppe des JFB für bedürftige junge Ehepaare und Bräute hingewiesen; vgl. ebd., S. 238. 282 Die Bahnhofhilfe wurde Ende der zwanziger Jahre eingestellt, weil der Mädchenhandel, dem mit solchen Maßnahmen gewehrt werden sollte, durch sorgfältigere Grenzkontrollen weitgehend zum Erliegen gekommen war; vgl. KAPLAN, Frauenbewegung, S. 234 Anm. 227. 283 Vgl. ebd., S. 299. 284 Vgl. den Bericht in Breslauer Jüdisches Gemeindeblatt 1934, Nr. 5, S. 3. 285 Vgl. ebd., S. 46f. 286 Zu den Glogauer Verhältnissen vgl. die detaillierte Darstellung bei LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 289-305.

375 Hindenburg/Zabrze: Jüdischer Kinderhort (gegr. 1925, T: Schwesternbund der Veritas-Loge), Kindergarten (gegr. 1930). Hirschberg: Jüdisches Kinder-Erholungsheim (gegr. 1910, T. Verein f. Ferienkolonien jüd. Kinder). Krummhübel: Erholungsheim der Breslauer Logen UOBB (gegr. 1926). Liegnitz: Israelitisches Altersheim (gegr. 1928, T: Verein). Oppeln: Gemeindebibliothek. Ratibor: Jüdische Schwesternstation (gegr. 1919, T: Synagogengemeinde und Friedens-Loge). Rybnik: Israelitisches Waisenhaus. Warmbrunn: Jüdisches Kurhospital (gegr. 1879). Ziegenhals: Kopfstein-Erholungsheim (gegr. 1925, T. Synagogengemeinde Beuthen). Da nach jüdischer Auffassung unter Wohlfahrtspflege „die Einwirkung auf die Lebensverhältnisse der Völker mit dem Ziel ihrer Erhaltung und Fortentwicklung“ insgesamt zu verstehen ist287, dürfen hier auch diejenigen Vereine nicht ungenannt bleiben, die insbesondere die Pflege jüdischen Wissens und Selbstbewußtseins zu ihrem Anliegen gemacht hatten. Hier ist an erster Stelle die 1780 in Breslau von L.B. Dohm gegründete Gesellschaft der Brüder zu nennen, die sich der Kultivierung des Gottesdienstes unter Wahrung des traditionellen Inhalts und der überlieferten Form, der gegenseitigen Hilfe, der sittlichen Veredelung und geistig-kulturellen Fortentwicklung des Judentums im Sinne der Aufklärung Mendelssohns annahm. Die als Geheimorden organisierte Gesellschaft besaß eine eigene Synagoge, nahm in der Mitte des 19. Jh.s energischen Anteil an den Auseinandersetzungen um die Kultusreform und leistete wesentliche Beiträge zu einer modernen Organisation des jüdischen Schul-

287

Vgl. S. WRONSKY: Art.: Wohlfahrtspflege, jüdische, in: JL 4/2, 1927 (ND: 1982), Sp. 1468-1475, bes. S. 1468.

376 wesens in Schlesien (Gründung der Wilhelmsschule in Breslau 1791)288. Ebenfalls dem Erhalt und Ausbau des jüdischen Schulwesens289, allerdings in traditioneller Ausrichtung, waren die Talmud-Thora-Vereine gewidmet, die es in allen größeren jüdischen Gemeinden Schlesiens gab290. Besonders das Studium der Thora förderten der Verein Ez Chajim291 und der Verein Machasike Torah in Breslau292, während der Verein Schalosch Regalim die Nachfeier der drei Wallfahrtsfeste (Pessach, Schawuot und Sukkot) „in geselligen Zusammenkünften der Gemeindeglieder“ zu organisieren suchte293. Der Arbeitsgemeinschaft Jüdische Studentenhilfe gehörten in Breslau der Verein Liwiath Chen am Jüdisch-Theologischen Seminar und der Verein zur Unterstützung jüdischer Studierender der Universität Breslau an294. In Breslau wirkte auch die 1919 gegründete Freie Jüdische Volkshochschule, die von rund 400 Hörern frequentiert wurde295.

Eine beachtliche jüdische Volksbildungsarbeit entwickelten die fast überall auch in Schlesien vertretenen Vereine für jüdische Geschichte und Literatur296, die seit 1893 in einem ganz Deutschland erfassenden Verband zusammengeschlossen waren und ab 1898 das vielgelesene „Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur“ herausgaben, das zeitweilig eine Auflage von 5.000 Exemplaren erreichte297. Die örtlichen Vereine führten regelmäßige Vortragsveranstaltungen durch und unterhielten in größeren Städten Bibliotheken und Lesehallen298. Eine selbständige Gründung stellte der Israelitische Lehr- und Leseverein in Breslau dar, dessen Entstehung, von Abra-

288

Vgl. M. BRANN: Festschrift zur Säcularfeier der Gesellschaft der Brüder am 21. März 1880, Breslau 1880. Ob die für Cosel bezeugte „Israelitische Brüder-Gesellschaft“, vgl. Statistisches Jahrbuch 1899, S. 34, als Filialverein betrachtet werden darf, konnte nicht geklärt werden. 289 1933 gab es in jüdische Schulen noch in Beuthen (Volksschule), Breslau (Volksschule und Höhere Schule für Knaben und Mädchen), Gleiwitz (Volksschule) und Hindenburg (Volksschule). Zu den Breslauer Schulen vgl. auch MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 44f. 290 Speziell für die Bekleidung armer Kinder sorgten die Malbisch-Arumim [= Bekleider der Nackten] Vereine; Vgl. I. DEUTSCH: Chronik der Synagogen-Gemeinde Sohrau O.-S., in: Jüdische Literaturblätter 24, 1900, S. 26-28. 35-37, bes. S. 36f. 291 Bezeugt z.B. für Beuthen; vgl. Statistisches Jahrbuch 1899, S. 34. 292 Vgl. BREUER, Jüdische Orthodoxie, S. 245. 293 Dieser Verein war zumindest in Gleiwitz zur Jahrhundertwende tätig; vgl. Statistisches Jahrbuch 1899, S. 34. 294 Vgl. Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung 1932-33, S. 504. 295 Vgl. ebd., S, 523. 296 Allenstein, Beuthen, Breslau, Glogau, Hirschberg, Lublinitz, Militsch, Myslowitz, Neisse, Oppeln, Pleß, Ratibor, Tarnowitz. 297 Vgl. I. ELBOGEN: Aus der Frühzeit der Vereine für jüdische Geschichte und Literatur, in: FS zum 70. Geburtstag von M. Schaefer, Berlin 1927, S. 48-54. 298 Über die Tätigkeit auch der schlesischen Regionalvereine finden sich mehrere Berichte in den „Jahrbüchern“, vgl. z.B. JGL 21, 1918.

377 ham Geiger angeregt299, bereits in das Jahr 1842 fällt. Seine Büchersammlung bildete den Grundstock der späteren Breslauer Gemeindebibliothek300. Ähnliche Lesevereine dürfte es später auch noch an anderen Orten gegeben haben, erwähnt sei hier nur der Leseverein israelitischer Frauen und Jungfrauen in Sohrau OS301. Mit ihrem reichen Vereinswesen, das hier nur in Umrissen nachgezeichnet werden kann, besaßen die jüdischen Gemeinden Schlesiens ein Instrument, mit dessen Hilfe sie auch auf neu aufkommende Bedürfnisse rasch und in spezifischer Weise reagieren konnten. Waren die Vereine, die sich den klassischen Aufgaben der Wohlfahrtspflege auf den Gebieten des Sozialen und der Bildung zugewandt hatten, fast alle noch in der Zeit vor 1850 entstanden, so entwickelten sich die Organisationen der jüdischen Jugendarbeit erst gegen Ende des 19. Jh.s. Der Israelitische Verein der Jugendfreunde, der sich zunächst lediglich die Bekleidung armer Schulkinder zur Aufgabe gesetzt hatte, betrieb später die Unterstützung der hilfsbedürftigen Jugend, auch der nichtjüdischen, ganz allgemein und förderte deren wissenschaftliche und berufliche Ausbildung302. Handelte es sich hier noch um Fürsorge an der Jugend, so wurde mit dem Erstarken des Antisemitismus die Jugend selber aktiv. Schlesien sollte dabei eine bemerkenswerte Rolle spielen. Bereits in den letzten zwei Jahrzehnten des 19. Jh.s war „mit der Studenten- und Jungakademikerschaft eine akademische Trägerschicht des modernen politischen und weltanschaulichen Antisemitismus entstanden“, die geprägt war durch „das Gefühl der Bedrohung ihres Prestiges, ihrer ökonomischen Lage, ihrer hauptsächlich vorindustriellen Wertvorstellungen, die Angst zu verproletarisieren infolge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses. [...] Das Bedürfnis zur Abgrenzung von den jüdischen Kommilitonen wurde verstärkt durch die Tasache, daß sich diese in besonderem Maße in einem Prozeß des sozialen Aufstiegs befanden. Dieser Aufstieg vollzog sich, obwohl im neuen innenpolitischen Klima [...] die Mehrheit der jüdischen Studenten doppelt diskriminiert war: als Juden und als soziale Aufsteiger.“303 Unter dem Einfluß der antisemitischen Propaganda des Grafen Waldersee und des Hofpre299

Vgl. HEPPNER, Jüdische Persönlichkeiten, S. 15. Vgl. BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 42. 301 Vgl. Statistisches Jahrbuch 1899, S. 37. 302 Vgl. ebd., S. 35. 303 N. KAMPE: Studenten und „Judenfrage“ im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 76, Göttingen 1988, S. 206-209. 300

378 digers Stoecker verweigerten damals immer mehr studentische Verbindungen die Aufnahme von Juden in ihre Reihen. Treitschkes Wort „Die Juden sind unser Unglück“ (1879/80) zeitigte seine schlimmen Folgen, obwohl gerade aus Breslau lebhafter und vernünftiger Protest dagegen eingelegt wurde304. Der Beitritt zahlreicher jüdischer Studenten bei den selbstverständlich nichtschlagenden sog. wissenschaftlichen Vereinen wurde weithin als Beweis für jüdische Feigheit genommen. Da wurde 1886 in Breslau mit der Viadrina die erste rein jüdische Studentenverbindung in Deutschland gegründet, deren Motto „Nemo me impune lacessit“ den Willen ihrer Mitglieder unmißverständlich aussprach, mit der Waffe in der Hand die Ehre zu verteidigen und antisemitische Verleumdungen zu ahnden305. In der Denkschrift „Ein Wort an unsere Glaubensgenossen“ erklärten die Gründer: „Wer sich selbst nicht achtet, wer seinen Glauben und seine Herkunft verleugnet, kann sich nicht wundern, wenn er die Achtung selbstbewußter Gegner verliert. Nur ein Verein jüdischer Studenten, der als solcher mit offenem Visier seinen Feinden gegenübertritt, wird imstande sein, Männer zu erziehen, die im späteren Leben ihre ganze Persönlichkeit, ihren ganzen Einfluß für die Verteidigung des Judentums und seiner Rechte einzusetzen gesonnen sind.“306 Zehn Jahre nach ihrer Gründung schloß sich die Viadrina mit der Badenia (Heidelberg, 1890), der Sprevia (Berlin, 1894), der Licaria (München, 1895) und der Friburgia (Freiburg, 1896) zum Kartellconvent Deutscher Studenten jüdischen Glaubens (K.C.) zusammen, der sich auf den „Boden deutsch-vaterländischer Gesinnung“ stellte, den „Kampf gegen den Antisemitismus“ und die Erziehung zum „selbstbewußten Juden“ sowie das Streben nach „politischer und gesellschaftlicher Gleichberechtigung“ auf sein Panier schrieb. Die betont nationale Einstellung des K.C. schloß eine positive Einstellung gegenüber den zionistischen Idealen aus307. Diese Haltung des K.C. und seine unübersehbare Fixierung auf die Probleme des studentischen Milieus erklären auch die eingeschränkten Wirkungsmöglichkeiten, die den K.C. trotz zahlreicher Reformdiskussionen bis zu seiner endgültigen Auflösung im November 1938 kennzeichneten308. Die orthodoxen Studenten hatten sich ab 1903 in der Vereinigung Jüdischer Akademiker zusammengefunden, die bald danach auch eine Ortsgruppe in Breslau besaß309. 304

W. BOEHLICH (HG.): Der Berliner Antisemitismusstreit = sammlung insel 6, Frankfurt/M. 1965. Vgl. A. ASCH: Geschichte des K.C. (Kartellverband jüdischer Studenten) im Lichte der deutschen kulturellen und politischen Entwicklung, London 1964, S. 1 und 35-43. 306 Ebd., S. 49. Der gesamte Text der Denkschrift S. 44-51. 307 Vgl. ebd., S. 75ff. 308 Dem K.C. gehörten in Breslau später neben der Viadrina auch noch die Thuringia an. Daneben waren das Kartell Jüdischer Verbindungen (K.J.V.) mit der Zephira und die Ortsgruppe Breslau des Verbandes jüdischer Studentenvereine in Deutschland aktiv. 309 Vgl. BREUER, Jüdische Orthodoxie, S. 331f. 305

379 Wenn die Breslauer Viadrina und später der Kartellconvent mit ihrem Protest gegen den sich immer stärker ausbreitenden Antisemitismus innerhalb der gewohnten Bahnen blieben, so ging die jüdische Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jh.s andere Wege. Sie begann „in Deutschland, dem ‚klassischen’ Land der Jugendbewegung, erst ein Jahr später als die allgemeine deutsche Jugendbewegung. [...] Die Jüdische Jugendbewegung entwickelt sich zuerst innerhalb des wachsten und lebendigsten Teiles der jüdischen Gesellschaft, innerhalb der zionistischen Bewegung.“310 Welche mentalen Schwierigkeiten es hier jedoch zunächst zu überwinden galt, schildert Aron Sandler (1879-1954), der schon 1906 als Delegierter der Breslauer Ortsgruppe am 6. Zionistenkongreß in Basel teilgenommen hatte, in seinen Lebenserinnerungen: „Viele jüdische Studenten stammten aus den östlichen Provinzen Deutschlands, nicht wenige aus frommen Häusern, von denen aber nur wenige gesetzestreu blieben; die meisten entstammten liberalen assimilatorischen Familien und waren ohne oder ohne tieferes jüdisches Wissen aufgewachsen; aber fast allen war die völlige Interesselosigkeit gegenüber jüdisch-nationalen Fragen gemeinsam.“311 Auch als Leiter der Breslauer Ortsgruppe der zionistischen Vereinigung in der Zeit vor 1912 gelang es Sandler nicht, „größere Massen zu beeinflussen, weder von Gegnern noch von Indifferenten“312. Im April 1912 war in Breslau der „Wanderverein 1907“ durch Joseph Marcus gegründet worden. Dieser trat sofort mit dem im Juli des gleichen Jahres in Berlin entstandenen Jüdischen Wanderbund „Blau-Weiß“ in so enge Beziehungen, daß es schon am 1. März 1914 zur völligen Verschmelzung beider Organisationen kam, bei der die Breslauer Gruppe die im zionistischen Sinn wesentlich präzisere Bezeichnung „BlauWeiß“ übernahm313. Damit war der erste zionistische Bund Deutschlands ins Leben getreten314, der in Breslau in zwei Zügen und einer Mädchengruppe organisiert war. Nach anfänglichen Erfolgen, besonders auch in der praktischen Arbeit in Palästina, zerbrach der „Blau-Weiß“ schließlich 1925 an den Auseinandersetzungen über die Frage „Zionismus und Sozialismus“ sowie an der Unmöglichkeit, das Verhältnis von

310

G. LUBINSKI: Art.: Jugendbewegung, jüdische, in: JL 3, 1927 (ND: 1982), Sp. 477-484, bes. Sp. 478. Vgl. die Autobiographie von A. Sandler bei RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland im Kaiserreich, S. 420-426, bes. S. 421. 312 Ebd., S. 424. Sandler gehörte mit der Breslauer zionistischen Ortsgruppe zum sog. „praktischen Zionismus“, der sich für eine Lösung der zionistischen Frage durch eine systematische jüdische Besiedlung Palästinas einsetzte. 313 Vgl. H. TRAMER: Jüdischer Wanderbund Blau-Weiß. Ein Beitrag zu seiner äußeren Geschichte, in: Publikationen des LBI. Bulletin 5, 1962, Nr. 17-20, S. 23-43. 314 Vgl. LUBINSKI, Sp. 480. 311

380 ost- und westeuropäischen Zionisten befriedigend zu ordnen315. Es bleibt aber festzuhalten, daß gerade in Breslau der Anteil des traditionellen Judentums an der zionistischen Bewegung auffallend groß gewesen ist316. Der 1924 gegründete Reichsausschuß der jüdischen Jugendverbände verfügte in Breslau über einen Ortsausschuß, in dem die Agudas Jisroel-Jugendorganisation, die Arbeitsgemeinschaft jüdisch-liberaler Jugendvereine Deutschlands („Arge“, mit Ortsgruppen in Breslau, Liegnitz, Oppeln und Ratibor), der Brith Haolim, ein 1920 gegründeter sozialistisch-zionistischer Jugendbund, der Jüdisch-Orthodoxe Jugendbund „Esra“, gegründet 1918 mit dem Ziel der Erziehung zu bewußtem Judentum und Ortsgruppen in Beuthen, Breslau, Hindenburg und Neisse, der Deutsche Landesverband des 1922 gegründeten zionistischen Hechaluz, der gleichfalls zionistisch orientierte, 1926 entstandene Bund jüdischer Jugend Kadimah, der Verband der Jüdischen Jugendvereine Deutschlands, 1909 entstanden, mit Repräsentanten in Oels und Rosenberg, der Jüdische Pfadfinderbund mit örtlichen Gruppen in Breslau, Glatz und Ratibor und der streng zionistisch ausgerichtete Zeire Hechaluz Wehapoel Hamisrachi, der Ortsgruppen in Beuthen und Breslau besaß, zusammenarbeiteten317. Gleichfalls 1924 war die Deutsch-jüdische Jugendgemeinschaft entstanden, die sich die bewußte Pflege der Einheit zwischen Deutschtum und Judentum zur Aufgabe machte und damit alle national-zionistischen Konzeptionen vom Wesen des Judentums ablehnte. Der Jugendgemeinschaft sehr nahe stand zunächst der auch in Schlesien mit mehreren Ortsgruppen vertretene, 1916 gegründete, deutsch-jüdische Wanderbund „Kameraden“, der mit Wandern, Spiel und Pflege des deutschen Volksliedes der allgemeinen Jugendbewegung in Deutschland („Wandervogel“) am nächsten kam. Am Ende der 20er Jahre wandelten sich die zunächst assimilatorisch gesinnten „Kameraden“ zum sozialistisch-zionistisch gefärbten Bund deutsch-jüdischer Jugend „Werkleute“, der in Breslau, Beuthen und Oppeln über eigene Ortsgruppen verfügte und 1936 den Kibbuz Hasorea bei Haifa ins Leben rief318.

315

Vgl. auch: Hamischmar. Vom Leben der Jüngeren im Blau-Weiß. Hg. von der Bundesleitung des Blau-Weiß, Berlin 1925. 316 Vgl. J: WALK: Profile of a Local Zionist Association 1903-1904, in: LBI Year Book 24, 1979, S. 369374. 317 Vgl. Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung 1932-33, S. 531-542. 318 Vgl. H. MEIER-CRONEMEYER: Kibuzzim. Geschichte, Geist und Gestalt. Teil 1 = Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung. Hist.-polit. Schriften, Hannover 1969, S. 181.

381 Der Abwehr des Antisemitismus und der Stärkung der jüdischen Solidarität diente auch die Alliance Israélite Universelle, jene 1860 entstandene internationale jüdische Hilfsorganisation, deren Lokalkomitees, von denen es einige auch in Schlesien gab, 1906 zur Deutschen Konferenzgemeinschaft der Alliance Israélite Universelle zusammengeschlossen wurden319. Auch der 1890 in Berlin gegründete Verein zur Abwehr des Antisemitismus, in dem namhafte christliche Persönlichkeiten mitarbeiteten, war in Schlesien vertreten320. Selbstverständlich wirkte auch der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.-V.), gegründet 1893 in Berlin321, mit zahlreichen Ortsgruppen in Schlesien und besonders in Breslau, „der bis zur NS-Zeit die Ansichten der Mehrzahl der Breslauer Juden vertrat“322. Diese größte Organisation des deutschen Judentums, die am 10. Nov. 1938 von den Nationalsozialisten aufgelöst wurde, bezweckte, „die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens ohne Unterschied der religiösen und politischen Richtung zu sammeln, um sie in der tatkräftigen Wahrung ihrer staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung sowie in der unbeirrbaren Pflege deutscher Gesinnung zu bestärken“323. Gewissermaßen als die Zusammenfassung aller Wohlfahrtsbemühungen auf Vereinsebene kann der religiös neutrale oder indifferente Unabhängige Orden Bne Briss (= Söhne des Bundes) betrachtet werden, der 1843 in New York gegründet wurde und in Deutschland - als Reaktion auf die sich ausbreitende antisemitische Bewegung - 1882 Fuß fassen konnte. Um 1930 gehörten der Großloge für Deutschland VIII rund 15.000 Brüder in 103 Logen an324. Der Orden „ist unpolitisch und hat mit der Freimaurerei nichts weiter gemeinsam als gleichartige, aber auf einen konfessionell engen Kreis beschränkte Tendenzen der ethischen Erziehung seiner Mitglieder und der Karitas“325. Über die weitgesteckten philanthropischen Ziele, die die „Söhne des Bundes“ verfolgten, instruiert z.B. die Satzung der Salomon-Munk-Loge in Glogau von 1910: „Der Orden B'nai B'rith hat sich die Aufgabe gestellt, Juden zu vereinigen zur Wahrnehmung ihrer höchsten Interessen und der der Menschheit; die geistigen und sittlichen Kräfte unserer Gemeinschaft zu entwickeln und zu stärken; die reinsten Grundsätze der Menschenliebe, der Ehre und der Vaterlandsliebe ihnen einzuschär319

Vgl. S. HALFF: Art.: Alliance Israélite Universelle, in: JL 1, 1927 (ND: 1982), Sp. 223-228. Vgl. R. WEISS: Art.: Verein zur Abwehr des Antisemitismus, in: JL 4/2, 1927 (ND: 1982), Sp. 1172f. Vgl. A. PAUCKER: Der Jüdische Abwehrkampf, Hamburg 1968. 322 BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 42. 323 § 1 der Satzung des C.-V. Der letzte Teil des Satzes führte zum Ausscheiden der zionistisch gesonnenen Mitglieder, so daß der C.-V. lange Zeit als antizionistische Organisation auftrat. 324 Vgl. A. GOLDSCHMIDT: Der deutsche Distrikt des Ordens Bne Briss, Berlin 1923; DERS.: Art.: Logen, jüdische, in: JL 3, Sp. 1190-1200, bes. 1195-1197. 325 E. LENNHOFF/O. POSNER: Internationales Freimauerlexikon, Wien 1932 (ND: Wien/München 1980), Sp. 194f. 320 321

382 fen; Wissenschaft und Kunst zu unterstützen; die Not der Armen und Bedürftigen zu lindern; Kranke zu besuchen und zu pflegen; Opfern der Verfolgung zu Hilfe zu kommen; Witwen und Waisen zu unterstützen und ihnen nach den Grundsätzen der Menschlichkeit hilfreich beizustehen.“326 Dem Orden Bne Briss, der nur Juden offenstand, wurden 1897 Logen-Frauenvereine bzw. Schwesternverbände angegliedert327. Die erste Vereinigung dieser Art wurde schon 1888 bei der Lessing-Loge in Breslau gegründet328. Als der Orden im April 1937 von den Nationalsozialisten aufgehoben wurde329, existierten fast überall dort, wo jüdische Gemeinden bestanden, auch Logen der Bne Briss, deren Mitglieder hohes gesellschaftliches Ansehen besaßen330. 2. Religiöses Leben Im Verlauf des 19. Jh.s erfuhr das religiöse Leben des deutschen Judentum eine in diesem Ausmaß vorher nicht gekannte Umwälzung. In deren Verlauf änderte sich nicht nur die religiöse Einstellung, sondern die gesamte Mentalität und überhaupt das Selbstbewußtsein der deutschen Juden grundsätzlich. Äußeres Anzeichen für die sich vollziehende Wandlung und zugleich auch wesentlich mitbeteiligt an dieser war die mit der Industrialisierung einsetzende Wanderungsbewegung der Juden vom flachen Land in die größeren Städte, die in ihren Wirkungen gewiß ambivalent war. Auf der einen Seite verstärkten sie die noch traditionell-orthodoxen Gruppen in den weithin rationalistisch gestimmten städtischen Synagogengemeinden, andererseits wurden durch die Abwanderung vom Land aber auch immer mehr Zentren jüdischen Lebens ausgelöscht, die einmal die Vielgestaltigkeit des schlesischen Judentums ausgemacht hatten. Die Landgemeinden erlebten etwa seit der Mitte des 19. Jh.s einen solchen Schrumpfungsprozeß, daß nicht wenige von ihnen gegen Ende des Jahrhunderts gänzlich aufgelöst werden mußten, weil einfach kein Minjan mehr zustande kam und ein Rabbiner schon lange nicht mehr am Ort war. Während sich z.B. in Breslau die 326

Zitiert nach LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 302. Vgl. KAPLAN, Frauenbewegung, S. 71-73. Vgl. GOLDSCHMIDT, Logen, Sp. 1196. 329 Vgl. K.A. SCHLEUNES: The Twisted Road to Auschwitz. Nazi Policy toward German Jews 19331939, Urbana/USA 1970, S. 182. 330 In Schlesien arbeiteten folgende Logen: Beuthen (Mamreh-Loge, gegr. 1884), Breslau (LessingLoge, Heinrich-Graetz-Loge, Nanuel Joel-Loge, Zacharias Frankl-Loge), Gleiwitz (Humanitas-Loge, gegr. 1884), Glogau (Salomon-Munk-Loge, gegr. 1910), Hindenburg (Veritas-Loge), Kattowitz (Concordia-Loge, gegr. 1883), Königshütte (Michael-Sachs-Loge), Kreuzburg (Caritas-Loge), Liegnitz (Silesia-Loge), Neiße (Humboldt-Loge), Oppeln (Freiheit-Loge) und Ratibor (Friedens-Loge, gegr. 1886). Vgl. Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung 1932-33, S. S. 545-547. 327 328

383 Zahl der Juden zwischen 1840 und 1880 von 6.000 auf etwa 18.000 fast verdreifachte, sank sie im oberschlesischen Zülz, wo gegen Ende des 18. Jh.s doch noch mehr Juden als Christen gelebt hatten, im gleichen Zeitraum von 755 (bei 1.902 Christen) auf etwa 350 (bei 2.214 Christen). 1925 hatte die Breslauer Judenschaft, allerdings auch verstärkt durch den Zuzug polnischer Juden, dann sogar eine Gesamtzahl von 23.240 erreicht, während in Zülz damals unter einer christlichen Bevölkerung von 2.600 Menschen gerade noch acht Juden lebten331. Ähnliche dramatische Entwicklungen lassen sich auch für andere schlesische Großstädte und Landgemeinden feststellen332. Mit dem Auszug aus den altgewohnten Verhältnissen der kleinstädtischen und ländlichen Gemeinden lockerten sich zumeist auch die Verbindungen zur religiösen Tradition ganz erheblich. Führte diese Entwicklung nicht über eine weitreichende kulturelle Assimilation direkt zur Taufe, so ersetzte das soziale Engagement jetzt oft die religiöse Bindung. Der entscheidende Einbruch in die traditionell religiös-jüdische Lebenswelt vollzog sich in der Zeit nach 1850, wußten die vorher Geborenen doch noch in aller Regel von einem frommen Elternhaus zu berichten, in dem die rituellen Gebote beachtet, der Sabbat gefeiert und auf eine jüdische Erziehung geachtet wurde333. Erstaunlich oft werden solche Erinnerungen auch von der durchaus glaubwürdigen Versicherung begleitet, daß das Verhältnis dieser traditionsgebundenen Familien zur christlichen Umwelt ein völlig ungestörtes gewesen sei334. Ob solche Zustände der „schlesischen Toleranz“, die „die eigenartige Mischung des protestantischen Niederschlesiens, des katholischen Oberschlesiens und des gemischt katholischprotestantischen Mittelschlesiens“ hervorgebracht hatte, zugeschrieben werden dür331

Zu Breslau vgl. BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 44; zu Zülz vgl. MASER, Oberschlesische Synagogen, S. 221. Vgl. auch W. COHN: Aufruf für Zülz, in: Breslauer Jüdisches Gemeindeblatt 11, 1934, Nr. 5, S. 2f. 332 Besonders auffällig ist die Entwicklung in den „neuen“ Städten Oberschlesiens, so z.B. in Kattowitz, wo für 1870 nur 812, für 1895 dann 1.600, für 1910 schon 2.979 und für 1932 dann 9.000 Juden bei einer Gesamteinwohnerzahl von 127.000 gezählt wurden; vgl. MASER, Oberschlesische Synagogen, S. 219. 333 Vgl. z.B. die bei RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland 1780-1871, gesammelten Lebensberichte: S. 177-185 (L. Freund, Badewitz OS),196-201 (E. Kirschner, Beuthen; ND in RICHARZ, Bürger auf Widerruf, S. 133-138), 306-316 (S. Kauffmann, Schweidnitz), 317-334 (H.E. Weigert, Rosenberg OS). 334 Vgl. neben den in der vorigen Anmerkung zitierten Berichten z.B. auch RING, Erinnerungen 1, S. 14, der von der „großen Toleranz“ spricht, die seinen strenggläubigen und im ganzen Ort geachteten Vater auszeichnete: „Allerdings herrschte damals noch in Glaubenssachen eine größere Duldung und die verschiedenen Konfessionen lebten friedlich miteinander, ohne sich zu hassen oder zu verfolgen.“ M. TAU: Das Land das ich verlassen mußte, Hamburg 1961, S. 14f., erzählt aus Beuthen: „Die Würdenträger aller Konfessionen waren freundschaftlich miteinander verbunden.“ Beim Besuch des Breslauer Erzbischofs in der Stadt hielt Oberrabbiner Max Kopfstein die Festansprache.

384 fen335, ist im Rückblick wohl kaum noch sicher zu entscheiden. Zutreffender ist vielleicht die Beobachtung, daß „engere Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden [...] im allgemeinen nur in den Dörfern und Kleinstädten (bestanden). Aber auch dort handelte es sich vorwiegend um individuelle Freundschaften oder um formelle Bekundungen gegenseitiger Achtung, besonders hinsichtlich der beiderseitig intensiven und einfach-frommen Religiosität, nicht um einen unbeschwert geselligen Verkehr. [...] Juden, die ihre religiösen Pflichten nicht mehr erfüllten, galten nicht als vollwertig und wurden dementsprechend weniger geachtet. [...] Man kann geradezu von einer Art 'Kontrolle' sprechen, die auf diese Weise über die religiöse Gewissenhaftigkeit der Juden ausgeübt wurde. [...] Zu der dörflichen und kleinstädtischen Intimität, die vor der mit dem Zeichen des Judentums behafteten Haustür des Juden keinen Halt machte, gesellte sich wohl auch die den dortigen frommen Juden und Christen gemeinsame Aversion gegen die Moderne mit ihrer entwurzelnden Macht.“336 Die wachsende soziale und geographische Mobilität des schlesischen Judentums und seine Assimilation an die christliche Umwelt, z.B. durch die fortschreitende Integration der jüdischen Jugend in das nichtjüdische Bildungswesen, und die durch die Emanzipation ausgelöste innere Krise des Judentums förderten seit Beginn des 19. Jh.s auch die Bereitschaft, vom Judentum zum Christentum zu konvertieren. Besonders deutlich zeichnete sich diese Entwicklung in Berlin und Breslau ab. In der schlesischen Hauptstadt wurden zwischen 1812 und 1821 169, 1822 und 1831 290, 1832 und 1841 223 und 1842-1846 92 Judentaufen registriert337. Die Täuflinge rekrutierten sich, wie B. Brilling feststellte, besonders unter den „labilen Elementen unter den Juden“. Der jüdische Historiker machte diese vor allem im „Großbürgertum“ und im „Proletariat“ aus, „beides im deutschen Judentum eine zahlenmäßig geringe Schicht und darum wegen ihrer Vereinzelung dem Abfall leichter ausgesetzt als der Mittelstand, dem noch immer der Großteil der jüdischen Bevölkerung angehörte“338. Diese Auffassung wird durch die Tatsache bestätigt, daß von dieser ersten Taufbewegung des 19. Jh.s in Schlesien nicht mehr als 1,6% der jüdischen Bevölkerung erfaßt wurden. Zumeist dürfte der Wunsch nach verbesserten beruflichen Aufstiegschancen 335

Vgl. K. SCHWERIN: Die Juden in Schlesien. Aus ihrer Geschichte und ihrem Beitrag zu Wirtschaft und Kultur, in: Bulletin des LBI 19, 1980, Nr. 56/57, S. 1-84, bes. S. 82f. Der Aufsatz erschien in einer „durchgesehenen, erweiterten und mit Bildmaterial ausgestatten Fassung“ unter dem Titel „Die Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben Schlesiens“ auch in JSFUB 25, 1984, S. 93-177, und in einem Auszug unter dem Titel „Die jüdische Bevölkerung in Schlesien nach der Emanzipation“ in Rhode (Hg.), Juden in Ostmitteleuropa, S. 85-98. 336 BREUER, Jüdische Orthodoxie, S. 279. 337 Vgl. BRILLING: Der zahlenmäßige Umfang der Judentaufen in Schlesien in der ersten Hälfte des 19. Jh.s, in: Beilage zur Jüdischen Zeitung für Ostdeutschland 23, 6. Juni 1930. 338 Ebd.

385 der treibende Grund für die Konversion zum Christentum gewesen sein, aber auch eine wachsende innere Distanz zum Judentum in seiner traditionellen Form läßt sich immer wieder als auslösender Faktor für das Taufbegehren feststellen339. Das Gemisch von Motiven, das zur Annahme der Taufe führen konnte, beschrieb der Glogauer Superintendent Kohler anläßlich der Taufe von Richard Wilhelm und Emil Otto Munk wohl einigermaßen zutreffend, wenn er im Kirchenbuch festhielt: „Die Eltern sind in ihrem Herzen überhaupt keine Juden mehr, und wollen ihre Kinder die Gnade und vielleicht auch von dem äußerlichen Nutzen des Christentums genießen lassen und sie zugleich von dem Namen 'getaufte Juden' befreien.“340 Welche Erfolge der christlichen Judenmission in der ersten Hälfte des 19. Jh.s in Schlesien beschieden waren, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit ausmachen. Schon 1822 entstand, angeregt durch die „London Society for Promoting Christianity amongst the Jews“, in Breslau eine Judenmissions-Gesellschaft, zu deren Vorstand so bekannte kirchliche Persönlichkeiten wie Johann Gottfried Scheibel und Hendrik Steffens gehörten. Größere Erfolge und eine längere Lebensdauer sind diesem Verein, dessen Ambitionen vor dem Hintergrund der aufbrechenden Erweckungsfrömmigkeit gesehen werden müssen, nicht beschieden gewesen341. Sehr viel bedeutendere, wenn schließlich auch nur zeitlich sehr begrenzte Wirkungen erreichte der 1799 in Breslau geborene Friedrich August Gotttreu Tholuck, der führende Theologe der preußischen Erweckungsbewegung, mit der gleichfalls 1822 gegründeten „Berliner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“, die sich der königlichen Unterstützung gewiß sein durfte. Mit ihrem Publikationsorgan „Der Freund Israels. Eine Zeitschrift für Christen und Israeliten“, die allerdings nur in zwei Jahrgängen 1824/25 erschien, wurden wichtige Einblicke in die Arbeit der damaligen Judenmission vermittelt342. In enger Verbindung mit den erweckten Kreisen um Tholuck stand auch der Graf von der Recke-Volmerstein, der in Düsseltal bei Düsseldorf 1822 eine Anstalt „für Bekehrung junger Israeliten zum Christentum“ etabliert hatte. Über die Verhältnisse in dieser Anstalt und die persönliche Haltung ihres Gründers berichtete der aus Badewitz in Oberschlesien stammende Leopold Freund in seiner 1867 in Breslau erschienenen „Lebensgeschichte“. Er beklagte das „klösterlich-militärische 339

Vgl. die diesbezüglichen Zeugnisse bei BRILLING, Umfang der Judentaufen. Zitiert nach ebd. 341 Vgl. J.F.A. de le ROI: Die evangelische Christenheit und die Juden in der Zeit des Zwiespalts in der christlichen Lebensanschauung unter den Völkern 2 = Schriften des Institutum Judaicum in Berlin 9, Berlin 1891 (ND: Leipzig 1974), S. 137. 342 Vgl. P. MASER: „Der Freund Israels“. F.A.G. Tholuck und die Judenmission des frühen 19. Jahrhunderts, in: Jb. für schlesische Kirchengeschichte 59, 1980, S. 108-161. 340

386 Leben“, die „trockene Lehre des Religionsunterrichts“, die „Augenverdrehereien des Anstaltspastors“, die „Gefangenenkost“ und die Verabfolgung von „Traktätlein [...] mystischen Inhalts“ in der Anstalt, nahm deshalb auch schließlich seinen Abschied von der Idee einer Konversion zum Christentum: „Der Graf, ein seelenguter, frommer, sanfter Mann, der Inbegriff des Christentums in allen seinen Handlungen und Äußerungen, ermahnte mich, meinen Vorsätzen treu zu bleiben, ein guter Mensch zu werden, und versicherte mich seiner Zuneigung und Hilfe auch für Berlin.“343 Aus dem schlesischen Judentum stammte übrigens auch einer der bekannten Judenmissionare des 19. Jh.s, nämlich der 1800 in Breslau als Zwi Nasi Hirsch oder Hirsch J. Samuel Prinz geborene Christian Wilhelm Heinrich Pauli, der 1823 in Minden getauft wurde und 1877 in England starb. Als bedeutender Kenner des Hebräischen wirkte er nach Studien in Cambridge zunächst als Dozent in Oxford, bevor er 1840 in die Dienste der Londoner „Society“ eintrat, die ihn ab 1844 mit beträchtlichem Erfolg in Amsterdam zum Nutzen der "Nederlandsche Vereeniging tot de werking aan de uitbreiding van het Christendom onder de Joden" einsetzte. Bis 1874 taufte Pauli über 120 Juden, die neben anderen Proselyten zum Kern der Gemeinde einer schon 1847 in Amsterdam errichteten Missionskirche gehörten. Dieser Breslauer Jude war zutiefst von der Notwendigkeit durchdrungen, seine Volksgenossen zu Christus zu führen. Auch unter erheblichen persönlichen Risiken hat Pauli seinen Missionsdienst in einer solchen Weise ausgerichtet, daß sogar von jüdischer Seite der Reinheit seines Wollens der Respekt nicht versagt wurde344. Gewiß mehrten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s die Konversionen vom Judentum zum Christentum, die vorwiegend durch Karriereinteressen und einen schleichenden Bindungsverlust an die jüdische Tradition ausgelöst wurden, das darf aber nicht verdecken, daß in zahlreichen Fällen auch eine Überzeugung diesen Schritt begleitete, der diesen als unabdingbar notwendig und in sich schlüssig erwies. Vielfach beachtet wurde z.B. das Schicksal der beiden Brüder Cassel aus Glogau. David Cassel (1818-1893), der 1843 das Rabbinerdiplom erwarb und ab 1872 an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums lehrte, erwarb sich durch seine grundgelehrten Editionen jüdischer Quellentexte, durch seine jüdischen Lehr- und Nachschlagewerke sowie wichtige Beiträge zur aktuellen Diskussion über Reform 343

Zitiert nach RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland 1780-1871, S. 177-185, bes. S. 181. Eine ausreichende Würdigung dieses Pioniers einer Judenmission, die heute zurecht vorwiegend kritisch beurteilt wird, fehlt bisher; vgl. le ROI, Die evangelische Christenheit und die Juden, Reg., und BRILLING, Umfang der Judentaufen.

344

387 und Wissenschaft des Judentums hohes Ansehen. Sein Bruder Paulus Stephanus (Selig) Cassel (1821-1892) konvertierte nach einer journalistischen Laufbahn 1855 zum Protestantismus, wurde 1859 zum Professor ernannt, 1866 in das Preußische Abgeordnetenhaus gewählt und amtierte von 1867-1891 als Missionar der Londoner Judenmissions-Gesellschaft und Prediger an der Berliner Christuskirche. Auch Paulus-Selig Cassel besaß das Rabbinerdiplom, hatte noch vor seiner Konversion eine durchaus lesenswerte populäre „Geschichte der Juden“ veröffentlicht und beeindruckte seine Zeitgenossen immer wieder durch die Breite seines Wissens, die Tiefe seiner seelsorgerlichen Arbeit und sein fortdauerndes Interesse an jüdischer Kultur und Geschichte. Dem Antisemitismus seiner Zeit, wie er von Treitschke und Stoecker propagiert wurde, ist Paulus Cassel immer wieder kenntnisreich und energisch entgegengetreten, so daß er auch in jüdischen Kreisen hohen Respekt genoß. Sein Bruder David hatte allerdings nach der Konversion auf Dauer jeden Kontakt zu dem Abtrünnigen abgebrochen345. Auch in Schlesien hatte der Geist der Assimilation gegen Ende des vorigen Jahrhunderts so weit um sich gegriffen, daß in Breslau das böse Wort umgehen konnte, als Vorsteher einer jüdischen Gemeinde sei einer erst dann würdig, wenn seine Kinder getauft seien346. Aber es gab doch innerhalb der jüdischen Gemeinden auch starke Kräfte, die dieser Entwicklung widerstanden. Insbesondere die Rabbiner, die als Prediger, Seelsorger und Wissenschaftler oft Bedeutendes leisteten, exemplifizierten die Möglichkeit, jüdische Frömmigkeit in einer sich immer rascher wandelnden Welt zu leben. Gerade die in Breslau ausgebildeten Rabbiner verkörperten den Typus des frommen Juden, der streng ethisches Verhalten im sozialen Leben als religiöses Ideal höher bewertete als die penible Sorgfalt in rituellen Dingen, so daß gelegentlich davon gesprochen werden konnte, daß hier Orthodoxie eigentlich durch Orthopraxie ersetzt worden sei347. Diese „Breslauer Rabbiner“ bildeten „eine Mittelgruppe zwischen Orthodoxie und liberalem Judentum, deren konservativster Flügel an die orthodoxen Kreise angrenzte“348. Aber auch innerhalb des wohlhabenden Bürgertums gab es zumindest noch einzelne Familien, deren Namen für ein pietätvolles Festhalten an der Orthodoxie standen, so z.B. in Breslau die sehr frommen Inhaber der Metallgroß345

Vgl. LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 390-398. Auf das Schicksal der Brüder Cassel weist auch A. ZWEIG: Bilanz der deutschen Judenheit. Ein Versuch (1. Aufl. Amsterdam 1943), Leipzig 1991 = RUB 1391, S. 110, hin. Zu Paulus Cassel vgl. auch le ROI, die evangelische Christenheit und die Juden, Reg., und H.L. STRACK: Art.: Cassel, P. St., in RE3 3, 1897, S. 743f. Das Grab von David Cassel befindet sich in der Ehrenreihe des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee. 346 Vgl. BRILLING, Umfang der Judentaufen. 347 Vgl. BREUER, Jüdische Orthodoxie, S. 322. 348 Ebd., S. 25.

388 handlung Kober, die mit bekannten deutschen Rabbinerdynastien verwandt und verschwägert waren349, oder auch die gleichfalls begüterte Familie Falk350. In den allerdings immer mehr zurückgehenden Landgemeinden hielt sich daneben noch immer eine „volkstümliche Orthodoxie“, die fundamentalistisch getönt war und zumindest vereinzelt sogar noch etwas von den geheimnisvollen Erleuchtungen der Kabbala wußte. Solche schattenhaften Erinnerungen belebten sich erneut, als ab 1868 die „ostjüdische“ Einwanderung nach Deutschland ständig zunahm. Die zunächst aus Galizien einwandernden Ostjuden, die ab 1880 von den russischen Juden abgelöst wurden, konfrontierten das deutsche Judentum mit einer bis dahin völlig fremden jüdischen Welt, zumal sie an ihren Lebens- und Glaubensformen mit größter Zähigkeit festhielten351. Besonders nach dem Ersten Weltkrieg kam es dann zu einem regelrechten „Ostjudenkult“ in Deutschland, der neue religiöse Energien freisetzte, sich mit zionistischen352 und sozialistischen Idealen verband und das Bild des Judentums in Deutschland bis heute nicht selten verzeichnet353. Zu überregionaler Bedeutung gelangte das religiöse schlesische Judentum zu Beginn des 20. Jh.s noch einmal durch das Wirken Leo Baecks354, der, 1873 im posenschen Lissa geboren, ab 1891 am Breslauer Jüdisch-theologischen Seminar und an schlesischen Landesuniversität studiert hatte, bevor er an die Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums und die dortige Universität überwechselte. Unmittelbar nach seiner Ordination zum Rabbiner erhielt Baeck ein erstes Rabbinat in Oppeln, wo er am 22. Juni 1897 die Neue Synagoge auf der Wilhelmstaler Insel einweihte und Natalie Hamburger, eine Enkelin des bekannten Oppelner Rabbiners Adolf Wiener, heiratete. 1901 äußerte sich Baeck in einer Rezension in der Breslauer „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“355 zunächst kaum beachtet zu den gerade im Druck erschienenen Vorlesungen des großen protestantischen

349

Vgl. ebd., S. 219. Vgl. ebd., S. 201. Die Einwanderung der Ostjuden ist innerhalb des deutschen Judentums zumeist nur als soziales und Fürsorgeproblem wahrgenommen worden; vgl. S. ADLER-RUDEL: Ostjuden in Deutschland 1880-1940. Zugleich eine Geschichte der Organisationen, die sie betreuten = Schriftenreihe wiss. Abhandlungen des LBI 1, Tübingen 1959. Die zukunftsgestaltende Bedeutung dieser aus einer mittelalterlichen Welt herkommenden östlichen Glaubensgenossen erkannten u.a. Martin Buber oder Gershom Scholem, während die Vertreter des Breslauer Seminars ihnen gegenüber zumeist ohne jedes nähere Verständnis blieben. 352 Zum unverhältnismäßig hohen Anteil des traditionell-orthodoxen Judentums in Breslau an der zionistischen Bewegung vgl. WALK, Profile, S. 372. 353 Vgl. BREUER, Jüdische Orthodoxie, S. 322ff. 354 Vgl. L. BAKER: Hirt der Verfolgten. Leo Baeck im Dritten Reich, Stuttgart 1982. 355 MGWJ 1901, S. 107-120. 350 351

389 Theologen Adolf von Harnack über „Das Wesen des Christentums“356. Harnack hatte in diesen allgemein beachteten akademischen Vorträgen durch Kritik an der geschichtlichen Entwicklung und Rückbeziehung auf die Quellen das Christentum von seinen dogmatischen Überformungen zu befreien und Jesus als große sittliche Persönlichkeit zu zeigen versucht. Der Oppelner Rabbiner erkannte die Gefahr für das Judentum, die durch diese Betrachtungsweise des Christentums heraufziehen mußte. Das Judentum, in sich zerstritten und zutiefst verunsichert durch den Traditionsabbruch im Gefolge von Emanzipation und Assimilation, wurde durch den repräsentativsten Vertreter eines Protestantismus, der sich in jeder Hinsicht als auf der Höhe der Zeit befindlich verstand, lediglich noch als dunkler Hintergrund für die davor um so heller erstrahlende Gestalt Christi in Anspruch genommen. Der junge Rabbiner in Oppeln bestritt in seiner Rezension nun nicht nur Harnacks Kenntnisse des Judentums, sondern auch dessen Sicht des Christentums. Zu historischer Wirkung gelangte allerdings erst die monographische Antwort, die „Dr. Leo Bäck [sic], Rabbiner in Oppeln“ Harnack auf seine Schrift „Das Wesen des Judentums“ erteilte. Diese erschien 1905 als erste Veröffentlichung der „Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums“, wurde von ihrem Autor später mehrfach bearbeitet, erlebte zahlreiche Auflagen und Übersetzungen bis heute357 und wurde als „eine ideale Repräsentation des deutsch-jüdischen Denkens im späten 19. Jahrhundert“ begriffen: „Sie bewies nicht nur, wieviel die jüdische Geisteswissenschaft in dem Jahrhundert, seit die Juden das Ghetto verlassen hatten, von der Methode der deutschen Philosophie übernommen hatte, sondern auch, wie sehr die deutschen Juden die Geleise des traditionellen Judentums verlassen hatten. Sie hatten nichts mehr gemein mit ihren ostjüdischen Brüdern, die noch immer an das mystische Wesen des Judentums glaubten und daran festhielten, daß es bei aller Betonung moralischen Verhaltens im Judentum ein Element des Glaubens darstellte.“358 Glaube bedeutet für Baeck, den Willen Gottes jetzt und hier zu tun: „Was Gott zu uns spricht, ist das Gute, das um unseres Lebens willen von uns gefordert ist. Auf dem Pfade des Rechten allein gelangen wir so zu unserem Gotte hin. Je mehr wir wahre Menschen sein wollen, desto näher sind wir ihm, desto näher ist er uns. Gott suchen,

356

Leipzig 1900. Der letzte ND davon erschien 1977 in Gütersloh. Vgl. dazu u.a. K.H. HEUFELD: Harnacks Konflikt mit der Kirche. Weg-Stationen zum „Wesen des Christentums“, Innsbruck 1978 (mit Bibliographie zum „Wesen des Christentums“). 357 Die als „8. Auflage“ bezeichnete und bisher letzte deutsche Ausgabe erschien 1988 in Wiesbaden. 358 BAKER, Hirt der Verfolgten, S. 70. Vgl. auch R. MAYER: Christentum und Judentum in der Schau Leo Baecks, Stuttgart 1961.

390 das ist: nach Gutem streben; Gott finden, das ist: Gutes tun. Übe, was Gott dir gebietet, dann weißt du, wer er ist.“359 Leo Baeck, „der aus der Dynamik der Polarität lebte, verband [...] sensible Zuwendung und menschliche Überlegenheit, sachliche Eindeutigkeit und vornehme Distanz, vereinigte deutsche Kultur und jüdischen Glauben, Liberalismus und Festhalten an Traditionen“360. Schon in Oppeln, wo er zehn Jahre lang als Rabbiner amtierte, hatte er sein „Talent als Schiedsrichter und Vermittler zwischen den Parteien“361 bewähren können: „Er wollte der Ort sein, an dem sich alle Parteien treffen konnten, aber er wußte auch, daß er, zumindest für einige, manchmal ein Endpunkt, das letzte Wort sein mußte. Daß er diese Stellung weder mißbrauchte noch leichtnahm, machte jene Augenblicke in seiner Rabbinerlaufbahn, in denen der große Schlichter zum unbeugsamen Mann wurde, besonders überzeugend.“362 Die schlesische Provinz hat Baeck auf die Dauer nicht festhalten können, über Düsseldorf (1907) folgte er einem Ruf als Rabbiner nach Berlin, wo er an der Berliner Hochschule am 4. Mai 1913 seine Antrittsvorlesung über „Griechische und jüdische Predigtkunst“ hielt. Bald wurde er zum Sachverständigen für jüdische Belange im preußischen Kultusministerium ernannt, 1922 wählte ihn der Allgemeine Rabbinerverband in Deutschland zu seinem Vorsitzenden und 1924 trat er als Großpräsident des deutschen Distriktes an die Spitze der Bne Briss-Logen. Als Baeck 1933 als Präsident der Reichsvereinigung der deutschen Juden und der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden gewählt wurde, übernahm er das schwerste Amt, das das deutsche Judentum damals zu vergeben hatte. Er hat es als wahrer „Hirt der Verfolgten“ unermüdlich benutzt, um für sein Volk einzustehen. In der Festschrift zum 80. Geburtstag, die der Council for the Protection of the Rights and Interests of Jews from Germany 1953 in London veröffentlichte, wurde in gültiger Weise festgehalten, was Baecks historische Bedeutung ausmacht: „Das deutsche Judentum in Leben und Untergang feiert in ihm seinen Großen. In dem Menschen, in dem sie ihre symbolische Spitze verehrt, kennzeichnet sich eine Gemeinschaft. In einer Zeit, die wie keine zuvor dem Massenwahn ihre Opfer gebracht hat und in mechanisiertem Getriebe ihre Entspannung sucht, fiel die Wahl der deutschen Juden auf einen Stillen, einen Einzelnen, einen Adeligen. In seiner Würde und seiner Weisheit liegt ein Glanz, der

359

L. BAECK: Das Wesen des Judentums, Wiesbaden 1988, S. 31. R. MAYER: Art.: Baeck, Leo, in: TRE 5, 1980, S. 112-115, bes. S. 112. BAKER, Hirt der Verfolgten, S. 56. 362 Ebd., S. 60. 360 361

391 selbst diese unglücklichste Epoche jüdischer Geschichte zu erhellen vermag.“363 1942 wurde Baeck, der alle Asylangebote für sich abgelehnt hatte, nach Theresienstadt deportiert, wo er im Mai 1945 von der Roten Armee befreit wurde. Bis zu seinem Tod 1956 galt Baeck „vielen Juden aus Deutschland, die in drei Erdteilen zerstreut lebten, als Symbol für ihrer aller Schicksal und als Bindeglied“364. IV. Schlesische Juden in Wirtschaft, Politik, Kultur und Wissenschaft Daß der Beitrag jüdischer Bürger zur Entwicklung von Wirtschaft, Poltik, Kultur und Wissenschaft in Schlesien ein bedeutender gewesen ist, gilt als weithin unbestritten. In welcher Weise dieser allerdings exakt zu qualifizieren und zu quantifizieren wäre, ist bis heute kaum wissenschaftlich erforscht worden. Eine komparatistisch angelegte Betrachtung, die versuchen wollte, die jüdischen Beiträge gegen die aus dem nichtjüdischen Bereich zu verrechnen, hätte vor allem die Schwierigkeit einer Bestimmung zu meistern, was hier als jüdische Leistung gebucht werden darf. Können das noch eindeutig jüdisch geprägte Elternhaus, die Zugehörigkeit zu einer Synagogengemeinde oder die Einbeziehung in die nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen darüber entscheiden, was als jüdische Leistung gewertet werden darf oder muß? Die Gratwanderung zwischen den Abgründen einer rassistischen Betrachtungsweise und einer solchen, die etwa die Jüdischkeit alleine nach der Religionszugehörigkeit zu bestimmen unternimmt, stellt eine unlösbare Aufgabe dar, solange sie sich im Genre der überblickhaften Darstellung bewegt. Zu bewältigen wäre sie nur durch die penible Betrachtung der Einzelschicksale, deren Bilanzierung dann jedoch auch sofort wieder in das erörterte Dilemma einmünden müßte. Wenn hier nun doch ein solch riskanter Überblick gewagt wird, dann läßt sich dieser nur als Versuch rechtfertigen, zumindest Hinweise darauf zu geben, welche Beiträge schlesische Juden zur ökonomischen und geistigen Entwicklung ihrer Heimat geleistet haben bis zu jenem Zeitpunkt, als ihnen das Recht genommen wurde, in dieser Weise mitzuwirken. 1. Der jüdische Anteil an der Entwicklung der schlesischen Wirtschaft 1927 faßte K. Zielenziger eine kurze Betrachtung über „Die Bedeutung der Juden für die schlesische Wirtschaft“ in der Zeitschrift des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten in den Worten zusammen: „Wenn auch vielfach die Nachkommen der jüdischen 363

E.G. REICHMANN: Widmung, in: Festschrift zum 80. Geburtstag von Rabbiner Dr. Leo Baeck am 23. Mai 1953, London 1953, S. 7-9, bes. S. 9. MAYER, Baeck, S. 113. L. Baeck wurde in London begraben, Auf dem Grabstein seiner 1937 verstorbenen Frau Natalie in der Ehrenreihe des Weißenseer Jüdischen Friedhofes wird auch seiner gedacht.

364

392 Pioniere der Volkswirtschaft sich heute nicht mehr zum Judentum bekennen, und manches der Häuser längst eingegangen oder mit einer anderen Firma vereinigt worden ist, können wir deutschen Juden doch mit voller Berechtigung darauf hinweisen, daß es jüdische Deutsche waren, die dazu halfen, Schlesien neben dem Rheinland und Westfalen zu einem der 'Lungenflügel' der deutschen Wirtschaft auszubauen.“365 In der Frühphase der Industrialisierung Schlesiens hatte sich das traditionellerweise im Handwerk und Kleinhandel tätige schlesische Judentum zunächst kaum am wirtschaftlichen Aufschwung beteiligen können, fehlte es ihm doch nicht nur an mobilem Kapital und einschlägigen Fachkenntnissen, sondern auch an einer gesellschaftlichen Position, von der aus es wirksam in die Entwicklung hätte eingreifen können. Federführend wurden in dem wirtschaftlich unterentwickelten und von der Krise der Leinenindustrie in der ersten Hälfte des 19. Jh.s besonders hart betroffenen Land zunächst der preußische Staat, erinnert sei nur an das Wirken des Grafen Friedrich Wilhelm von Reden366 oder die Aktivitäten der Kgl. Seehandlung unter der Leitung Christian von Rothers367, und einheimische Magnaten wie der Graf Colonna, dessen Schwiegersohn Graf Renard, Graf Ballestrem, die Grafen Henckel von Donnersmarck, die Hohenlohes, Schaffgotschs oder auch die Herzöge von Pleß368. Jüdische Unternehmer mußten sich demgegenüber noch geraume Zeit mit den Vorurteilen der preußischen Bürokratie gegenüber Juden auseinandersetzen, bevor auch sie sich uneingeschränkt in den Wirtschaftsprozeß einschalten konnten369. Besonders günstige Möglichkeiten boten sich hierfür in Oberschlesien, wo das Judentum die in der ersten Hälfte des 19. Jh.s dort noch weitgehend fehlende Mittelschicht zu bilden begann370, während in Mittel- und Niederschlesien diese gesellschaftliche Position durch das „handel- und gewerbetreibende protestantische Bürgertum“ längst besetzt war, so

365

K. ZIELENZIGER: Die Bedeutung der Juden für die schlesische Wirtschaft, in: Der Schild 6, 1927, S. 329. Vgl. dazu zuletzt K. FUCHS: Friedrich Wilhelm Graf von Reden, in: Ders., Beiträge zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte Schlesiens = Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund A44, Dortmund 1985, S. 25-45. 367 Vgl. DERS.: Neue Beiträge zur Bedeutung der königlichen Seehandlung für die schlesische Spinnstoff- und Metallindustrie, in: ebd., S. 77-91. 368 Vgl. u.a. DERS.: Zur Bedeutung des schlesischen Magnatentums für die wirtschaftliche Entwicklung Oberschlesiens, in: ebd., S. 123-152. 369 Vgl. die Nachweise bei K. FUCHS: Zur Rolle des schlesischen Judentums bei der wirtschaftlichen Entwicklung Oberschlesiens, in: Ders., Wirtschaftsgeschichte Oberschlesiens 1871-1945. Aufsätze = Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa A36, Dortmund 1981, S. 209-222, bes. S. 213. 370 Vgl. auch S. JERSCH-WENZEL: Die Juden als Bestandteil der oberschlesischen Bevölkerung in der ersten Hälfte des 19. Jh.s, in: Dies., Deutsche - Polen - Juden, S. 191-209. 366

393 daß Juden „hier eine sehr viel schmalere Aufgabenbasis zur Entfaltung ihrer Initiative“ vorfanden371. a) Montan- und Schwerindustrie Der Aufschwung der schlesischen Wirtschaft des 19. Jh.s vollzog sich vor allem in den Bereichen der Montan- und dem der Textilindustrie. Hierbei traten auch einige jüdische Familien, die regelrechte Dynastien bildeten und über gelegentlich kaum noch zu überschauende Unternehmensgruppen herrschten, in das Licht der Öffentlichkeit. Als erste dieser jüdischen Industriellendynastien wurde die der oberschlesischen Friedländers aktiv. 1840 gründete der aus Gleiwitz stammende Bankier Moritz Friedländer zusammen mit Simon Levy aus Beuthen und David Löwenfeld aus Breslau das Kokshochofenwerk Friedens-Eisenhütte im Beuthener Schwarzwald, die spätere „Friedenshütte“. Die Gründer konnten dieses für sich allein nicht lebensfähige Unternehmen allerdings nur bis 1851 halten, als es durch den Grafen Renard erworben wurde, der damit zum zweitgrößten Eisenindustriellen in Oberschlesien nach dem Grafen Henckel auf Siemianowitz aufstieg. Auch eine zweite Unternehmung der Friedländers erwies sich als problematisch. Die 1856 gegründete „Schlesische Bergwerks- und Hütten AG Vulcan“ bei Bobrek mußte 1869 Konkurs anmelden und wurde schließlich von den Söhnen Moritz Friedländers, die sich als Bankiers in Breslau und Beuthen betätigten, erworben. Als „Moritzhütte“ erlebte der Betrieb 1871 eine kurzfristige Blütezeit, der eine lange Phase des Niedergangs folgte, so daß über das tief verschuldete Unternehmen 1880 erneut der Konkurs verhängt wurde. Eine glücklichere Hand in unternehmerischer Hinsicht besaßen offensichtlich die Friedländers in Gleiwitz, wo der Kommerzienrat Emanuel Friedländer 1866 eine Kohlen-Großhandelsfirma eröffnete, die bald nicht nur in der Vermarktung der oberschlesischen Kohle eine führende Rolle einnahm, sondern auch erhebliche Interessen in der oberschlesischen Eisen- und Stahlindustrie verfolgte. Fritz Friedländer (18581917) wurde darüber zu einem der bedeutenden deutschen Industrieführer. Er gründete die „Oberschlesischen Kokswerke & Chemischen Fabriken AG“, errichtete die erste oberschlesische Benzolfabrik und schuf die „Rybniker Steinkohlen-Gewerkschaft“, die in der Zwischenkriegszeit rund 13.000 Arbeitsplätze bot. Auch als Initiator der Interessengemeinschaft oberschlesischer Steinkohlengruben und des Breslauer 371

S. JERSCH-WENZEL: 75 Jahre deutsch-jüdische Wirtschaftsgeschichte. Zum historischen Hintergrund der Entwicklung des Hauses Grünfeld, in: F.V. Grünfeld, Das Leinenhaus Grünfeld. Erinnerungen und Dokumente = Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 12, Berlin 1967, S. 7-26, bes. S. 15.

394 Kohlenforschungsinstituts, das seine Tochter und Alleinerbin Marie Anne 1922 eröffnete, sowie Mitinhaber bedeutender Unternehmungen des Montanbereichs im Ausland zu hohem Ansehen gelangt, konvertierte Fritz Friedländer 1898 - was unter Juden ein seltener Ausnahmefall war - zum Katholizismus, wurde als Fritz von Friedländer-Fuld geadelt und in das Preußische Herrenhaus berufen372. Die in Konkurs geratene „Moritzhütte“ der Beuthener Friedländers war in den Besitz der jüdischen Unternehmerdynastie Caro übergegangen, die den Betrieb als „Georg und Oscar Caro, Hochofenwerk Julienhütte“ weiterführten. Moritz Isaak Caro (17921860) hatte 1807 in Breslau eine Eisengroßhandlung begonnen, die unter seinem Sohn Robert 1848 die „Herminenhütte“ zu Laband bei Gleiwitz erwarb. Robert Caros (1819-1875) Name verband sich auch mit der Breslauer AG für Eisenbahn-WagenBau und Maschinen-Bau, die 1871 gegründet wurde. Nach Caros Tod 1875 trat der Konsul Joseph Friedländer an die Spitze des Aufsichtsrates der Breslauer Eisenbanhnwagenbau-AG373 Die Söhne des Kommerzienrates Robert Caro, Georg (18481913) und Oscar (1852-1931), führten die Familienbetriebe dann zu nationaler Bedeutung. Die „Oberschlesische Eisen-Industrie Actien-Gesellschaft für Bergbau und Hüttenbetrieb“, die 1887 aus der Fusion einiger kleinerer Hüttenbetriebe entstand, wurde 1889 in den größeren Verband der „Oberschlesischen Eisenindustrie AG für Eisenhüttenwesen und Bergbau“, in Börsenkreisen bekannt als „Obereisen“, überführt und 1926 durch Zusammenschluß mit der „Oberschlesischen Eisenbedarfs AG“ nochmals erweitert. Die Gründung der „Vereinigten Oberschlesischen Hüttenwerke AG“ mit Sitz in Gleiwitz stellte „auch eine sozialpolitische Leistung allerersten Ranges“ dar, „und zwar insofern, als sie tausende von Arbeitsplätzen in einer politisch und wirtschaftlich schwierigen Zeit sichern half“374. Während Oscar Caro die oberschlesische Montanindustrie zu einem modernen und leistungsfähigen Verbundsystem zusammenfügte, baute sein Bruder Georg den Breslauer Stammbetrieb systematisch weiter aus. Zusammen mit Leo Lustig entwi372

Vgl. R. WACHSMANN: Fritz von Friedländer-Fuld, in: Schlesische Lebensbilder 1, Breslau 1922 (ND: Sigmaringen 1985), S. 296-298; A. PERLICK: Fritz von Friedländer-Fuld, in: NDB 5, 1961, S. 458f.; SCHWERIN, Juden in Schlesien, S. 36f. 373 Vgl. MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 118f. 374 Vgl. K. FUCHS: Mitteilungen zum Wirken der Unternehmerfamilie Caro in Oberschlesien, in: Oberschlesisches Jahrbuch 4, 1988, S. 160-174, bes. S. 170 (ND des Beitrages in FUCHS, Aus Wirtschaft und Gesellschaft, S. 22-35). Bei RICHARZ, Bürger auf Widerruf, S. 513-527, findet sich der Bericht über die Emigration 1941 von Elisabeth Freund, die 1922 Rudolf Freund, Vorstandsmitglied der oberschlesischen Eisenindustrie AG, geheiratet hatte: „Wir müssen aus dem Lande fort, dessen Sprache wir sprechen, mit dessen Liedern und Gedichten wir aufgewachsen sind und dessen Wälder und Gebirge wir durchwandert haben. Unsere Familien haben seit vielen Generationen für dieses Land ihre ganze Kraft eingesetzt, und wir lassen in dieser Erde ihre Gräber zurück.“ (S. 519f.)

395 ckelte er aus dem väterlichen Eisenhandelsgeschäft die „Deutsche EisenhandelsAktiengesellschaft“, gegründet 1910, die mehr als 40 Tochterfirmen zusammenfaßte und einen Jahresumsatz von 120 Millionen erreichte375. Auch die 1872 gegründete „Kattowitzer AG für Eisenhüttenbetriebe in Kattowitz“, die ihren Standort in Oberheiduk bei Königshütte hatte, geht auf jüdische Initiative zurück. Schon 1873 nahm das Unternehmen die Firmenbezeichnung „Bismarckhütte AG für Eisenhüttenbetrieb in Ober-Heiduk“ an. Der patriotische Name ersparte es dem Hüttenbetrieb jedoch nicht, daß der Volksmund ihn unter Verwendung der Gründernamen Sachs, Hammer und Rosse als „Sächsisches Hammerwerk mit Rossebetrieb“ apostrophierte. Die „Bismarckhütte“, die sich der Verfeinerung von Eisen- und Stahlerzeugnissen widmete, war besonders beim Export nach England erfolgreich376. In die Geschichte der schlesischen, insbesondere der oberschlesischen Schwerindustrie haben sich aber noch weitere jüdische Familien mit durchaus bemerkenswerten Beiträgen eingetragen, auf die hier allerdings nur summarisch verwiesen werden kann, weil einfach noch alle Studien fehlen, die notwendig wären, um diese Leistungen genauer zu qualifizieren. Den bedeutendsten Teil der „Oberschlesischen Eisenbahnbedarfs AG“, kurz „Oberbedarf“ genannt, bildete seit 1905 die „Huldschinskysche Hüttenwerke AG“, die aus den 1863 von Salomon Huldschinsky in Gleiwitz gegründeten Röhrenwerken hervorgegangen war. Zum gleichen Konzern zählte auch die 1870 von Rudolf Pringsheim etablierte „Aktiengesellschaft Ferrum“. Pringsheim trat auch als Gründer der oberschlesischen Industriebahn, die für die wirtschaftliche Erschließung große Wichtigkeit erlangte, hervor. Zu den größten Unternehmen des deutsche Kohlehandels gehörte das von Cäsar Wollheim, der seine Laufbahn als Vertreter der Firma Friedländer begonnen hatte. Im Handel mit Montanprodukten betätigten sich im großen Stil auch die Rawack & Grünfeld AG in Beuthen und Berlin, Lippmann Bloch in Breslau und Josef Kober, gleichfalls in Breslau ansässig. Alle diese Handelsfirmen operierten auch international und besonders erfolgreich im Osteuropahandel377. Nimmt man nun noch die Tatsache hinzu, daß beispielsweise das Bankhaus Jarislowsky & Co. zu den Mitbegründern der „Donnersmarckhütte“ gehört hatte, die Roths an der Finanzierung der Kattowitzer Zinnhütte beteiligt waren und auch die Breslauer Metallhüttenwerke „Schäfer & Schael AG“ Juden zu ihren Grün375

Vgl. FUCHS, Mitteilungen, S. 170f. Vgl. auch DERS., Rolle des schlesischen Judentums, S. 218ff. Vgl. DERS.: Die Bismarckhütte in Oberschlesien. Ein Beitrag zur oberschlesischen Industriegeschichte in den achtziger Jahren des 19. Jh.s, in: Tradition. Ztschr. f. Firmengeschichte und Unternehmerbiographie 5, 1970, S. 255-272 (ND in FUCHS, Wirtschaftsgeschichte Oberschlesiens, S. 55-75. 377 Vgl. SCHWERIN, Juden in Schlesien, S. 38f. 376

396 dervätern zählten, vermag man zu ermessen, wie groß der jüdische Beitrag zum Aufbau der schlesischen Schwerindustrie gewesen ist. Zu Beginn unseres Jahrhunderts zählte Schlesien neben dem Rheinisch-Westfälischen Industriegebiet und Berlin zu den wichtigsten Industrieregionen Deutschlands. Als Fabrikanten und Großhändler waren Juden an dieser Entwicklung in einem Maße beteiligt, das weit über ihren Bevölkerungsanteil hinausging378. Wenn diese Leistung schon vor dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft weitgehend aus dem öffentlichen Bewußtsein geraten war, dann dürfte sich das vor allem daraus erklären, daß die meisten der von Juden gegründeten Firmen die betriebliche Organisationsform einer Aktiengesellschaft besaßen und Verschiebungen in den Besitzverhältnissen so häufig vorkamen, daß die Öffentlichkeit die Details der Geschichte dieser Unternehmungen und damit auch ihre Gründerpersönlichkeiten weithin aus den Augen verlor. Gerade deswegen gilt es heute aber zu betonen: „Ohne das Engagement und die Risikobereitschaft jüdischer Mitbürger hätte das oberschlesische Revier kaum die Bedeutung erlangen können, der es sich erfreute und deren Auswirkungen über die Zeit von 1918 und 1945 hinaus bis auf den heutigen Tag unübersehbar sind.“379 b) Textilindustrie Wie in der Montan- und Schwerindustrie bildete auch in der Textilbranche oft der Handel den Ausgangspunkt für ein weiterreichendes jüdisches Engagement in der schlesischen Wirtschaft. Das läßt sich beispielhaft am Werdegang der Firma Meyer Kauffmann zeigen. Diese ging aus einem 1824 in Schweidnitz eröffneten Weißwarenhandel hervor. Da Meyer Kauffmann (1796-1871) der „Detailverkehr“ aber schon bald nicht mehr ausreichte, nahm er wenige Jahre später die Leinen- und Baumwollproduktion im Verlagssystem auf, in dem auch Arbeitskräfte aus den Strafanstalten in Schweidnitz, Striegau, Brieg und Ratibor als Weber eingesetzt wurden, und überließ 1841 seinem Sohn Salomon (1824-1900) die Führung der Zweigniederlassung in Breslau. Auf der Londoner Weltausstellung von 1851 fanden die schlesischen Produkte der Firma Kauffmann eine solche positive Resonanz, daß sich Salomon Kauffmann zum Ankauf von 200 mechanischen Webstühlen entschloß. Die dadurch ermöglichte industrielle Fertigung erwies sich als erfolgreich, so daß die Firma Meyer Kauffmann gegen Ende des 19. Jh.s fünf Fabriken (u.a. in Tannhausen, Breslau, Beerburg bei Marklissa und Wüstegiersdorf) und je zwei Spinnereien und Färbereien 378 379

Vgl. JERSCH-WENZEL, 75 Jahre, S. 13. FUCHS, Rolle des schlesischen Judentums, S. 222.

397 besaß380. Salomon Kauffmann gehörte mehr als vier Jahrzehnte der Breslauer Handelskammer als Mitglied und stellvertretender Vorstand an. Als Vorsitzender des Breslauer Orchesterverbandes erwarb er sich darüber hinaus hohe Verdienste um das schlesische Kulturleben und stand im Kontakt mit Liszt, Brahms und Wagner381. Auch unter der Generaldirektion (ab 1918) von Meyer Kauffmanns Enkel, Hans Schäfer, blieb die „Meyer Kauffmann Textilwerke AG“ vor allem im Exportgeschäft erfolgreich. Hans Schäfer, der im Gegensatz zu seinem frommen Großvater durch eine stark assimilatorische Haltung geprägt und mit einer Nichtjüdin verheiratet war, mußte 1933 aus der Firmenleitung ausscheiden und in die Niederlande emigrieren382. Zu den Pionieren der schlesischen Textilindustrie gehörte auch Salomon Weigert, dessen Vater sich schon um 1800 im oberschlesischen Rosenberg der Tuchweberei zugewandt hatte. Salomon Weigert gründete 1839 in Berlin die mechanische Weberei Marx und Weigert (später Gebr. Weigert), deren Leitung später sein Bruder Hermann Elias übernahm, während Salomon Weigert eine zweite Weberei in Schlesien einrichtete. Durch mehre Studienaufenthalte im Ausland hatte sich Salomon Weigert solche Fachkenntnisse erworben, daß er zum Kommerzienrat und 1851 zum preußischen Ausstellungskommissar der Londoner Weltausstellung ernannt wurde. Die Weigerts hielten an der streng religiös-jüdischen Haltung ihres Vaters Abraham fest. Im Rückblick auf die Erfolgsgeschichte der Weigerts durch drei Generationen hindurch383, merkte Hermann Elias Weigert um 1895 als besonders erfreulich an, daß niemand untere den „Kindern und Enkeln dem elterlichen Glauben abtrünnig geworden“ war384. Das wohl populärste schlesische Unternehmen in der Textilbranche war das Leinenhaus Grünfeld, dessen Anfänge auf jenes kleine Manufakturwarengeschäft zurückgehen, das Falk Valentin Grünfeld (1837-1896), der seine Privatkorrespondenz noch hebräisch abzuwickeln pflegte, seinen Söhnen aus Abscheu vor der jüdischen Orthodoxie aber vom katholischen Kaplan Religionsunterricht erteilen ließ, 1862 in Landeshut eröffnete. Dieses Geschäft erlangte rasch eine gewisse Berühmtheit, weil in 380

Vgl. die Autobiographie von Salomon Kauffmann (1824-1900) bei RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland 1780-1871, S. 306-316. Vgl. auch H. SCHÄFER: Salomon Kauffmann, in: Schlesische Lebensbilder 3, Breslau 1928 (ND: Sigmaringen 1985), S. 312-320. 382 Vgl. den Auszug aus der Autobiographie von Hans Schäfer (1880-1945) bei RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland im Kaiserreich, S. 274-280; vgl. auch MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 116f. 383 Ein Enkel Abraham Weigerts wurde Stadtrat in Berlin, zwei andere „berühmte Professoren der medizinischen Wissenschaft“. Besonders bekannt wurde Carl Weigert (1845-1904), der sich bedeutende Verdienste in der Zell- und Tuberkuloseforschung erwarb. 384 Vgl. die Autobiographie von Hermann Elias Weigert (1819-1908) bei RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland 1780-1871, S. 317-334. 381

398 ihm zwei Grundsätze von Anfang an galten, die im damaligen schlesischen Handel noch weithin unbekannt waren: Grünfeld verkaufte nur zu „festen Preisen“ und führte ausschließlich Qualitätsware385. Das erlaubte der Firma 1873 den Übergang zur Eigenfabrikation und zum Versandhandel unter Einsatz von immer umfangreicheren Katalogen. Diese in Deutschland noch praktisch unbekannte Handelsform erwies sich rasch als so erfolgreich, daß die Grünfelds 1889 in Berlin ein repräsentatives Geschäft auf der Leipziger Straße errichten konnten. Nach dem Tod von Falk Valentin Grünfeld übernahmen dessen Söhne Ludwig, Heinrich und Max gemeinsam die Geschäftsleitung und verlegten im Jahr 1900 den Firmensitz nach Berlin, ohne damit die engen Verbindungen nach Schlesien aufzugeben386. Die „Landeshuter Leinen- und Gebildweberei F.V. Grünfeld“ mit ihren rund 2.000 Mitarbeitern blieb bis zu ihrer zwangsweisen Arisierung am 15. Sept. 1938 ein fester Begriff für jede deutsche Hausfrau, die gehobenere Ansprüche stellte. Der Arisator ließ auf einem Flugblatt mitteilen: „Auch für die Zukunft wird F.V. Grünfeld die Merkmale aufweisen, die seinen guten Ruf begründeten: Güte der Ware, reiche Auswahl und Preiswürdigkeit. Darum macht es Freude, bei Grünfeld einzukaufen.“ Die unfreiwillige Komik dieses Werbetextes blieb dem arischen Neubesitzer Max Kühl verborgen, aber auch die NSBehörden hatten der „Judenfirma Grünfeld“ ja noch kurz zuvor den Titel „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ verliehen387. Für die schlesische Wirtschafts- und Kulturgeschichte gleich bedeutend gestaltete sich auch das Unternehmen, das Samuel Fränkel (1801-1881), der aus Zülz stammte, 1827 im nahegelegenen Neustadt installierte. Auch hier verlief die Firmenentwicklung vom Schnittwarengeschäft über den Verlag für Heimweber hin zur Textilfabrik. 1913 gehörte die Firma „S. Fränkel, Leinen- und Damastweberei“ mit 1.400 mechanischen und 400 Handwebstühlen sowie 4.000 Mitarbeitern zu den großen ihrer Branche. Leitend am Ausbau des Unternehmens beteiligt war Fränkels Schwiegersohn, Josef Pinkus (1829-1909), der auch zahlreiche Leitungsämter in den Verbänden der deutschen Textilindustrie bekleidete. Der Geheime Kommerzienrat war auch ein bekannter Kunstsammler, insbesondere seine Kollektion goldener jüdischer Kultgegenstände galt als bemerkenswert388. Seine Tochter Hedwig war mit Paul Ehrlich verheiratet, und sein Sohn Max (1857-1934), der dem Vater in der Firmenleitung und zahlrei385

Vgl. H. GRÜNFELD: Falk Valentin Grünfeld und sein Werk, Berlin 1943; hier zitiert nach RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland 1780-1871, S. 335-341. 386 Vgl. den Auszug aus H. Grünfelds Firmengeschichte bei RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland im Kaiserreich, S. 266-273. 387 Vgl. die quellengesättigte Firmengeschichte von GRÜNFELD, Leinenhaus Grünfeld. 388 Vgl. H.H. PINKUS: Josef Pinkus, in: Schlesische Lebensbilder 1, Breslau 1922 (ND: Sigmaringen 1985), S. 270-275.

399 chen Ehrenämtern folgte, wurde in der Provinz besonders durch seine „Schlesienbücherei“, die 1936 in den Besitz der Breslauer Staats- und Universitätsbibliothek überging, bekannt. Max Pinkus genoß die Freundschaft Gerhart Hauptmanns, der 1934 als einziger Nichtjude am Begräbnis des Freundes teilnahm und dessem Gedächtnis das Requiem „Die Finsternisse“ widmete389. 1934 wurde die Firma S. Fränkel, die schon vorher in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war, in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Mit Hans H. Pinkus (1894-1977), der 1937 emigrieren mußte, schied der letzte Angehörige der jüdischen Gründerfamilie aus der Firmenleitung aus. Er war besonders an der jüdischen Familienforschung interessiert. Die von ihm veranlaßte und durch Bernhard Brilling durchgeführte Aufnahme der Grabinschriften des Zülzer Friedhofs wurde bis heute noch nicht ausreichend publiziert und bearbeitet390. Nach der Mitte des vorigen Jh.s entstanden weitere Textilunternehmungen, die von Juden gegründet wurden, so z.B. 1871 die „Albert Hamburger AG“ in Landeshut, die bis zur Enteignung durch die Nationalsozialisten eng mit der „Breslauer Leinengroßhandlung I.Z. Hamburger GmbH“ liiert blieb391. Ebenfalls in Landeshut ansässig war die Firma Isidor Rinkel, die auf der Grundlage verwandtschaftlicher Beziehungen mit der „Breslauer Garn- und Zwirnfabrik I. Schwerin & Söhne“ verbunden war392. Weitere jüdische Textilfirmen gab es in Sagan (Moses Löw-Beer, 1850 gegründet, 1923 mehr als 2.000 Mitarbeiter), Liegnitz (Wollwarenfabrik Mercur), Reichenbach (Cohn Gebrüder sowie Weil & Nassau), Neisse (Gardinen- und Spitzenfabrik D. Bloch), Görlitz (Textilfabrik Leopold Heymann sowie Strumpffabrik Louis Cohn, beide um 1925 je 300 Mitarbeiter), Freystadt (Jutespinnerei Gebr. Sandberg) und Schmiedeberg (Weigert & Co.)393.

389

Vgl. K. SCHWERIN: Max Pinkus, seine Schlesierbücherei und seine Freundschaft mit Gerhart Hauptmann, in: JSFWUB 8, 1963, S. 210-235 (dass. auch in Bulletin LBI 5, 1962, Nr. 17-20, S. 98125; W.A. REICHERT/C.F.W. BEHL (HG.): Max Pinkus. 3. Dez. 1857 bis 19. Juni 1934. Gedenkbuch, 1957. 390 Vgl. B. BRILLING: Vier Generationen Pinkus aus Oberschlesien, in: Aufbau, New York, 22. 4. 1977; DERS.: Zur Erinnerung an Hans H. Pinkus, in: Mitteilungen-Breslau Nr. 41, April 1977. 391 Zur Vorgeschichte der Hamburger-Betriebe vgl. H. HAMBURGER: Erinnerungen 1837-1920, in: RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland 1780-1871, S. 289-301. Itzig Hamburger begann mit einem Geschäft für Leinwand, Leder und Lumpen in Schmiegel/Posen. 392 Vgl. SCHWERIN, Juden in Schlesien, S. 46f. 393 Vgl. ebd. S. 46f.

400 c) Bankwesen An der vergleichsweise geringen Rolle, die Banken in jüdischem Besitz für die Wirtschaftsentwicklung der Provinz spielten, wird erkennbar, daß es in Schlesien an „altem Kapital“ in jüdischer Hand weithin mangelte. Überregionale Bedeutung besaß alleine die Bank von E. Heimann in Breslau am Ring 33/34, die Ernst Heimann (17981867) 1819 begründet hatte. Das „bedeutendste Privatbankhaus Ostdeutschlands“, das über vier Filialen verfügte und bis 1945 bestand, entwickelte sich besonders eindrucksvoll unter der Leitung des Kommerzienrates Heinrich Heimann (1821-1902), der die Interessen der väterlichen Firma auch auf die Bereiche des Zink- und Wollhandels, das Versicherungswesen und die Entwicklung der schlesischen Eisenbahnen ausweitete394. Das Breslauer Bankhaus Prinz & Marck, Schweidnitzer Straße 19, wurde zu Beginn unseres Jahrhunderts von der Disconto-Gesellschaft übernommen. Die Angehörigen der seit dem 18. Jh. in Breslau ansässigen Familie Marck spielten im Leben der Breslauer Jüdischen Gemeinde eine führende Rolle395. 1833 hatten Henschel und Jacob Alexander ihr Bankinstitut am Königsplatz 8 in Breslau eröffnet. Die Erinnerung an das „Alexanderhaus“, das in den 60er Jahren unseres Jahrhunderts abgerissen wurde, hält ein Relief auf dem Grabmal von Isidor und Neander Alexander auf dem Jüdischen Friedhof an der Lohestraße fest396. Die meisten der jüdischen Privatbanken gingen in Schlesien wie auch sonst in Deutschland zu Beginn des 20. Jh.s in den Besitz von Großbanken über, so wurde das Beuthener Bankhaus Max Heppner & Co. 1910 der Dresdner Bank eingegliedert, die auch die Bankinstitute von Lois Pollack in Liegnitz und Moritz Sachs (später: Breslauer Wechselbank) in Breslau übernahm. Das Breslauer Bankhaus Max Perls & Co. wurde als Schlesische Handelsbank AG in die Disconto-Gesellschaft überführt, während die Beuthener Bank von Sorauer & Förster 1912 einem sensationellen Bankrott zum Opfer fiel397. Schon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ließ sich also von einem flächendeckenden und beherrschenden jüdischen Bankwesen in Schlesien kaum noch sprechen. Das besagt aber wenig über den Einfluß, den einzelne jüdische Fachleute im schlesischen Bankgewerbe auch später noch ausübten. Erinnert sei hier nur an Fedor Pringsheim (1828-1923), den Leiter des Schlesischen Bankvereins und später der Deutschen Bank in Breslau. In den 20er Jahren standen aber auch an der Spitze der Filialen der Dresdner Bank in Breslau jüdische Finanz394

Vgl. ebd., S. 48; MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 120f. Vgl. SCHWERIN, Juden in Schlesien, S. 49f.; MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 122f. Vgl. ebd., S. 124f. 397 Vgl. SCHWERIN, Juden in Schlesien, S. 48ff. 395 396

401 fachleute wie die „Bankdirektoren Fränkel, Guttmann, Dr. Korpulus, Hanke und der vor wenigen Jahren verstorbene weit über Schlesiens Grenzen bekannte Bankier Georg Cohn“398. d) Kaufhäuser und Einzelhandel Im allgemeinen Bewußtsein der Bevölkerung standen die Kaufhäuser und großen Versandhandlungen als jüdische Firmen gewiß stärker im Vordergrund als die Industrie- und Bankunternehmen in jüdischer Hand. So war das Warenhaus der Gebrüder Barasch mit seinen „Spezialabteilungen für sämtliche Bedarfs- und Luxus-Artikel“ in Breslau in ganz Schlesien bekannt. Das Hauptgeschäft am Ring 31/32 wurde nach der Jahrhundertwende anstelle von „Moritz Sachs' Neuheitenmagazin“ als ein „viel Glas aufweisendes Jugenstilgebäude, dessen Eckwinkel ein beleuchteter Erdball aus Glas schmückte“, an der Ostseite des Rings errichtet, an der nur ein einziges Gebäude nicht in jüdischem Besitz war399. Filialen von Barasch gab es in Breslau außerdem am Neumarkt 17 und in der Friedrich-Wilhelm-Straße 12. Die Firma wurde von der Familie Barasch 1936 verkauft. Das inzwischen stark umgestaltete Hauptgebäude am Ring beherbergt heute das Kaufhaus „Feniks“. Ebenso bekannt wie Barasch war das Leinenhaus Eduard Bielschowsky (1826-1893) in Breslau am Ring 12 und in der Nicolaistraße 74/76, das Kleidung, Leinenwaren, Teppiche und sonstige Einrichtungsgegenstände führte400. Viel Beachtung fand auch das dem Stil einer expressiven Neuen Sachlichkeit verpflichtete Kaufhaus der Firma Petersdorff, das Erich Mendelsohn, geboren 1887 in Allenstein, 1927/28 in der Ohlauer Straße in Breslau errichtet hatte. Vom gleichen Architekten stammte auch das Warenhaus Weichmann in Gleiwitz401.

398

Vgl. ZIELENZIGER, Bedeutung. Vgl. MENZEL (HG.), Juden in Breslau, S. 130. Weitere jüdische Geschäfte am Ring in Breslau waren die Buchdruckerei Goldstein in Nr. 2, die Werkzeughandelsfirma Herz & Ehrlich, gegr. 1846, in Nr. 9, David Immerwahrs (1796-1861) Modewarengeschäft am Ring 19 (heute Teehandlung „Herbowa“), der Verlag von Felix Priebatsch (1867-1926) und die Kleiderfabrik von Cassel & Goldberg in Nr. 20, M.L Hirschsteins Englische und Deutsche Herren-Moden in Nr. 22, die Firmen Jaffe, Littauer, Oppenheim & Schweitzer in Nr. 26/27, die Firmen Rosenbach & Königsfeld, Krakauer, Freund & Kuttner, Guttentag & Co. im Haus „Zur Goldenen Krone“ Nr. 29, später dort Hecht & David, Eduard Kreutzbergers Bekleidungsgeschäft und die Firmen G. Fränkel und E. Graeupner in Nr. 35/36, das Warenhaus (Konfektion) von Emanuel Breslauer (18261899) in Nr. 43+46, Piano-Goldmann in Nr. 57 und Loius Janowers (1849-1918) Herrenbekleidungshaus in Nr. 58. 401 Vgl. ebd., S. 136f.; N. GUSSONE: Meisterbau im Schicksalsjahr. Pflegefälle: Das „Seidenhaus Weichmann“ von Erich Mendelsohn in Gleiwitz, in: FAZ Nr. 174 vom 29.7.1992, S. 34. 399 400

402 Bis heute hat sich das Gebäude des Kaufhauses Louis Lewy Jr. in Breslau am Ring 39/40 als Modehaus „Elegancja“ erhalten. Die 1861 entstandene Firma entwickelte sich aus kleinen Anfängen zum bedeutendsten Unternehmen der Konfektionsindustrie in Breslau und ganz Schlesien. Die Damenmäntel von Lewy fanden Absatz bis nach Rußland, England und in die Schweiz402. 1913 eröffnete Louis Friedländer in Görlitz „das größte und vornehmste Kaufhaus nicht nur der Provinz Schlesien, sondern ganz Ostdeutschlands“. In einer Werbebroschüre hieß es: „Das zeitgemäße Warenhaus setzt sich aus fast unzähligen Spezialgeschäften mit riesigen Warenvorräten zusammen.“ Mit dieser Konzeption, die heute wieder durchaus aktuell ist, erwies sich das „Kaufhaus zum Strauß“, das später von Karstadt übernommen wurde, als dauerhaft erfolgreich. Der prachtvolle Bau im Jugendstil, der in der DDR-Zeit als CentrumWarenhaus geführt und sorgfältig instandgehalten wurde, befindet sich heute wieder im Besitz der Karstadt AG403. Noch mehr aber als die großen Warenhäuser wurde das alltägliche Bewußtsein der Bevölkerung jedoch durch die in allen schlesischen Ortschaften präsenten Einzelhandelsgeschäfte geformt, die bis zum Beginn der nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen als selbstverständlich galten. Über diesen jüdischen Einzelhandel und seine Stellung in der schlesischen Wirtschaftswelt lassen sich keine exakten Aussagen machen, hatte man doch keinen Anlaß, etwa in den einschlägigen Statistiken und amtlichen Erhebungen darauf einzugehen, ob sich eine Handelsfirma in jüdischem oder nichtjüdischem Besitz befand. Für das oberschlesische Kreuzburg aber ist z.B. belegt, daß praktisch alle Geschäfte am dortigen Ring jüdische Eigentümer hatten404. Das war allerdings nicht unbedingt typisch, wenn sich auch im starken jüdischen Anteil am schlesischen Einzelhandel gewiß immer noch die Tatsache ausdrückte, daß für Juden auch in der Zeit nach der Emanzipation der Weg in staatliche und kommunale Ämter noch weithin verschlossen blieb. Wollten sie am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben, mußten sie - mit unterschiedlichem Erfolg - das Risiko der wirtschaftlichen Selbständigkeit oder des freien Berufs wagen. 2. Jüdische Politiker in und aus Schlesien Eine der aussichtsreichsten Möglichkeiten für einen Karrieresprung bedeutete seit der Mitte des 19. Jh.s für Juden sicherlich auch der Eintritt in eine politische Lauf402

Vgl. ebd., S. 126f. Vgl. H. FREI: En gros end en détail. Von Warenhäusern und deutscher Geschichte, in: FAZ - Ereignisse und Gestalten, 18.7.1992, Nr. 165. 404 Vgl. FUHRMANN, „Fern von gebildeten Menschen“, S. 88f. 403

403 bahn. Als Zugang hierzu bot sich der Gesamtbereich der publizistischen Tätigkeit an, der als freier Beruf auch schon vor 1848 für Juden offen war405. Die Erwartung, daß sich aus den besonderen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Juden in Deutschland in das öffentliche Leben traten, auch besondere politische Affinitäten ergeben hätten, ist bereits durch die grundlegenden Studien von Ernest Hamburger als irrig erwiesen worden. Juden „waren Reaktionäre und Revolutionäre, Idealisten und Realisten, Hüter der Tradition und Künder des Fortschritts, Doktrinäre und Opportunisten, Gläubige und Zyniker, Nationalisten und Menschheitsapostel, Beamtennaturen und politische Menschen. Sie repräsentierten auch alle Mischformen des Denkens und der Neigungen zwischen den Extremen. Sie dachten in großem Schwung oder hingen ängstlich am Detail, sie waren wortkarg oder übersprudelnd, feierlich beredsam oder gewandte Dialektiker, versöhnlich oder bitter polemisch.“406 Auch die Frage, ob sich bestimmte persönlich-biographische, charakterliche, intellektuelle, politische und religiöse Eigenschaften ausmachen lassen, die das Erscheinungsbild des „jüdischen Politikers“ auszeichneten oder belasteten, wird sich schon deshalb niemals befriedigend beantworten lassen, weil sie von der irrigen Voraussetzung ausgeht, daß Juden als Politikern ihr Judesein zu den wichtigen Voraussetzungen des politischen Denkens und Handelns gehört hätte407. Das war es aber nur in einer verschwindend geringen Anzahl von Fällen. Eher dürfen wohl als ein tatsächlich auffallendes allgemeines „Charakteristikum jüdischer Politiker, zumindest auf Reichsebene“, festgehalten werden die „verhältnismäßig schwachen Bindungen an die jüdische Gemeinschaft“408 Dieses Urteil, das schon auf die jüdischen Politiker des 19. Jh.s zutrifft, muß im Blick auf die nach der Jahrhundertwende tätig gewordenen noch eindeutiger ausfallen: „Bekenntnisjuden waren die wenigsten. In der Mehrzahl hatten sie sich schon als junge Menschen von der jüdischen Religionsgemeinschaft entfremdet und empfanden ihr Judentum, sofern sie sich nicht überhaupt von ihm abge405

Vgl. J. TOURY: Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar = Schriftenreihe wiss. Abhandlungen des LBI 15, Tübingen 1966, S. 4. E. HAMBURGER: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848-1918 = Schriftenreihe wiss. Abhandlungen des LBI 19, Tübingen 1968, S. 546. 407 Der Versuch bei HAMBURGER, Juden, S. 549ff, „dennoch bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen“ festzustellen, „die bei einer relativ größeren Anzahl von Juden in Amt und Mandat als bei Nichtjuden anzutreffen oder in besonders ausgeprägtem Maße bei einzelnen Juden [...] zu beobachten sind“, muß als fehlgeschlagen betrachtet werden. Die „besondere Eignung zum abstrakten Denken“ oder eine größere Zukunftsfreudigkeit als spezifisch jüdische Eigenschaften herauszustellen, ließe sich nur dann rechtfertigen, wenn diese Charakteristika bei sozial vergleichbaren Gruppen der nichtjüdischen Bevölkerung nicht hervortreten würden, was sich kaum beweisen läßt. 408 Vgl. P. PULZER: Die jüdische Beteiligung an der Politik, in: A. Paucker (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Ein Sammelband = Schriftenreihe wiss. Abhandlungen des LBI 33, Tübingen 1976, S. 143- 239, bes. S. 153. 406

404 wandt hatten, als etwas Zufälliges und Belangloses. [...] Religion hatte für sie jede Bedeutung verloren. Die Partei, oder in manchen Fällen die Karriere, war für sie die Hauptsache, und die Identifizierung mit oft idealistisch empfundenen politischen Zielen bestimmte ihren Lebensweg.“409 Zutreffend dürfte auch, solange man sie nur nicht allzu direkt auf die schlesischen Verhältnisse anwendet, die Beobachtung sein: „Mehr Juden waren links der Mitte politisch aktiv als rechts davon, eine Tatsache die sehr wohl bemerkt wurde. Innerhalb der Partei ihrer Wahl, sei es die nationalliberale, linksliberale oder sozialdemokratische, waren mehr Juden auf dem linken Flügel als auf dem rechten.“410 Eine gesonderte Betrachtung des Beitrages jüdischer Politiker in und aus Schlesien läßt sich bereits durch den Hinweis auf die „Unterschiede“ begründen, „die zwischen den in den einzelnen Teilen des Reichs ansässigen Juden bestanden, d.h. auf Differenzierungen, die sich aus der Anpassung an die engere deutsche Umgebung herleiteten“411. Insofern würde sich die Themenstellung also nur als ein Teilbereich der Frage nach dem schlesischen Beitrag zur Politik im 19. und 20. Jh. verstehen lassen, gäbe es da nicht noch jene spezifisch jüdische Wanderungsbewegung zu beachten, die erklärt, weshalb so viele Juden aus Schlesien und überhaupt aus dem ostdeutschen Raum erst in Berlin zur ihrer vollen politischen Wirksamkeit fanden. Daß es sich bei diesen ostdeutschen Juden nicht, oder nur in einer sehr geringen Anzahl, um „Ostjuden“ im eigentlichen Sinn handelte, versteht sich eigentlich von selbst, muß aber gegenüber einer Argumentationslinie doch eigens betont werden, die von Treitschke bis Percy Ernst Schramm reicht412. Den „Beitrag des ostdeutschen Judentums zur deutschen Politik“ hat Helmut Neubach in einem unfassenden Katalog überschaubar gemacht413, der als grundlegend für alle weitere Beschäftigung mit dem Thema angesehen werden muß, ist er doch in der Fülle der Namen, biographischen Details, parteipolitischen Querverweise und Literaturangaben kaum zu übertreffen. Hier kann es unter Verwendung auch dieser Studien nur darum gehen, zumindest jene jüdischen Politiker schlesischer Herkunft 409

W.T. ANGRESS: Juden im politischen Leben der Revolutionszeit, in: W.H. Mosse (Hg.), Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916-1923. Ein Sammelband, Tübingen 1971, S. 137-315, bes. S. 149. Ein eindrückliches Beispiel für die von Angress beschriebene Haltung bieten die Erinnerungen des aus Hirschberg stammenden und langjährigen Breslauer Stadtverordneten Adolf Heilberg (18581936) in RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland im Kaiserreich, S. 289-297. 410 Ebd., S. 237. 411 HAMBURGER, Juden, S. 549. 412 Vgl. P.E. SCHRAMM: Hamburg, Deutschland und die Welt, Hamburg 1952, S. 318. 413 H. NEUBACH: Der Beitrag des ostdeutschen Judentums zur deutschen Politik, in: G. Rhode (Hg.), Juden in Ostmitteleuropa, S. 115-150.

405 namhaft zu machen, die tatsächlich in erheblichem Ausmaß die politische Entwicklung in Schlesien und Deutschland mitgeformt haben. Schon in der Revolutionszeit 1848 wurden in Schlesien Juden in bemerkenswertem Ausmaß politisch aktiv. Ganz am linken Rand des politischen Spektrums agitierte der Schriftsetzer Julius Brill (auch Brüll) aus Breslau zusammen mit Wilhelm Wolff, dem „Kasematten-Wolff“, gegen die Feudalherrschaft, wurde in die Preußische Nationalversammlung gewählt und mußte 1850 in die USA emigrieren. Brill, der in den Quellen gelegentlich auch als Schriftsteller bezeichnet wird, verdient eigentlich nur deshalb Erwähnung, weil er einer der ganz wenigen jüdischen Politiker Schlesiens war, die es, aus dem Proletariat hervorgegangen, zumindest für eine gewisse Zeit zu überregionaler Bedeutung brachten414. Typischer waren da schon die Aktivitäten jüdischer Journalisten. Wenn die „Fliegenden Blätter“, die Ferdinand Behrend in nur sechs Ausgaben im April 1848 als Organ des Breslauer Arbeitervereins herausbringen konnte, auch Episode blieben, so gelang den Breslauer Juden David Kalisch (1820-1872)415, Ernst Dohm [eigentl. Elias Levy] (1819-1883), Ehemann der bekannten Frauenrechtlerin Hedwig Dohm416 und Großvater von Katja Mann417, und Rudolf Löwenstein (1819-1891418), die alle der gleichen Familie zugehörten, mit der Gründung der satirischen Zeitschrift „Kladderadatsch“ im Mai 1848 ein Wurf von besonderer Art419. Die politische Landschaft in Deutschland wäre bis 1944 ohne die bissigen Kommentare dieses wöchentlich erscheinenden Satire-Magazins, das sich zunächst allerdings politisch betont harmlos als „Organ für und von Bummler“ bezeichnet hatte, ärmer gewesen. Erstaunlich hoch war übrigens der Anteil der jüdischen Ärzte an den Revolutionsereignissen in Schlesien. In Breslau spielten Sigmund Asch (1825-1901), Louis Borchardt (1820-1883), Jonas Graetzer (1806-1889), Julius Lasker (1811-1876), K. Pinoff und Herrmann Wollheim eine führende Rolle420, in Oberschlesien Guido Weiß (1822-1899) und Max Ring (1817-1901), der „Sturmvogel der Revolution“ in Glei-

414

Vgl. NEUBACH, Beitrag, S. 125. Vgl. M. KRAMMER: David Kalisch, in: Schlesische Lebensbilder 2, 1926 (ND: Sigmaringen 1985), S. 254-258. Interessante Einzelheiten, mitgeteilt von einem Zeit- und Streitgenossen, bietet immer noch auch M. RING, David Kalisch, Berlin 1873. 416 Vgl. H. AUGUST: Ernst Dohm, in: NDB 4, 1959, S. 40f. 417 Vgl. K. MANN: Meine ungeschriebenen Memoiren. Hg. von E. und M. Plessen; Berlin 1975, S. 14f. 418 Vgl. K. FRANZ: Rudolf Löwenstein, in: NDB 15, 1987, S. 107f. 419 Vgl. H.R. FRITSCHE: Der schlesische Kreis um den „Kladderadatsch“. Zum 100. Geburtstag des Breslauer Publizisten Ernst Dohm, in: Schlesien 28, 1983, S. 17-19; NEUBACH, Beitrag, S. 123. 420 Vgl. ebd., S. 122. 415

406 witz421.Die meisten dieser Männer waren auch publizistisch tätig und engagierten sich später regional durchaus erfolgreich auf dem Gebiet der Kommunalpolitik. In der Frankfurter Nationalversammlung wurden lediglich 15 Juden unter 600 Abgeordneten verzeichnet, von denen die bekanntesten die Vizepräsidenten Eduard Simson und Gabriel Riesser waren. Aus Schlesien stammte Heinrich Simon (1805-1860), ein glänzender Publizist und hervorragender Jurist, dem es zum bedeutenden Politiker aber doch an „Sachlichkeit, Selbstbescheidung und Anpassungsfähigkeit“ fehlte422. Ebenfalls aus Schlesien kamen dessen Vetter, der Gerichtsassessor Max Simon (1814-1872), später Stadtverordnetenvorsteher in Breslau, der wie Heinrich Simon getauft war423, und der dem Judentum treugebliebene Druckereibesitzer, Verleger und Herausgeber des „Grünberger Wochenblattes“, Friedrich Wilhelm Levysohn (1815-1871), der der „äußersten Linken“ zugerechnet wurde und als „streitbarer Journalist“ galt424. Als Verleger von Abraham Geigers „Wissenschaftlicher Zeitschrift für Jüdische Theologie“ in den Jahren von 1844 bis 1858 erwarb sich Lewysohn auch bemerkenswerte Dienste um die innere Entwicklung des deutschen Judentums425. Betrachtet man die in der Politik aktiv gewordenen jüdischen Persönlichkeiten aus Schlesien unter quantitativem Aspekt hinsichtlich ihrer grundsätzlichen politischen Einstellung, wird man im Gegensatz zum Gesamtbild, das jüdischen Politikern in Deutschland eine gewisse Tendenz zu linken Auffassungen attestiert, für Schlesien davon sprechen müssen, daß hier alles in allem betrachtet die konservativen und vermittelnden Positionen vorherrschend gewesen zu sein scheinen. Die Linken oder sogar Radikallinken der Zeit um 1848 blieben im Erscheinungsbild des politisch ambitionierten Judentums in Schlesien doch eher Randerscheinungen von regionalem Rang. Zu überregionaler Bedeutung gelangten in aller Regel nur solche Vertreter des schlesischen Judentums auf dem politischen Feld, die eher der Mitte oder der Rechten zuzurechnen waren. Das trifft dann auch noch auf jene jüdischen Politiker aus Schlesien zu, die in der SPD eine Rolle spielen sollten.

421

Vgl. ebd., S. 126. Vgl. auch das Kapitel „1848“ bei RING, Erinnerungen 1, S. 200-248. Vgl. E. MAETSCHKE: Heinrich Simon, in: Schlesische Lebensbilder 2, 1926, (ND: Sigmaringen 1985), S. 208- 211. 423 Vgl. HAMBURGER, Juden, S. 171; Neubach, Beitrag, S. 117 und 119. 424 Vgl. U. SCHULZ: Die Abgeordneten der Provinz Schlesien im Frankfurter Parlament, in: JSFUB 12, 1967, S. 155-230, bes. 188ff.; DIES.: Wilhelm Levysohn (1815-1871). Ein schlesischer Verleger und Politiker, in: JSFUB 14, 1969, S. 75-137; NEUBACH, Beitrag, S. 119. 425 Vgl. SCHULZ, Levysohn, S. 134f. 422

407 Eine bemerkenswerte Ausnahme unter den jüdischen Politikern Schlesiens verkörperte Rudolf Friedenthal (1827-1890)426, der als Großgrundbesitzer427 in Gießmannsdorf bei Neisse und ab 1879 auch als Eigentümer der Herrschaft DeutschWartenberg sowie als gewählter Landrat des Kreises Grottkau besonders an Verwaltungsproblemen des agrarischen Bereichs interessiert war. Als Mitglied der Freikonservativen Partei („Reichspartei“) gehörte er dem Parlament des Norddeutschen Bundes, dem Zollparlamemt und dann bis 1881 dem Reichstag an. Der Anteil Friedenthals an der preußischen Verwaltungsreform von 1881, durch die die Steinschen Prinzipien der Selbstverwaltung zumindest teilweise auch auf das flache Land übertragen wurden, wurde ebenso geschätzt wie seine ausgezeichneten parlamentarischen Fähigkeiten. 1873 zum Vizepräsidenten des Preußischen Abgeordnetenhauses gewählt, wurde er 1874 zum Landwirtschaftsminister berufen und verwaltete kurzfristig auch das Ministerium des Innern. Im Sommer 1879 schied Friedenthal wegen unüberwindbarer Schwierigkeiten mit der sich immer mehr starr-konservativ gebärdenden Wirtschaftspolitik Bismarcks aus dem öffentlichen Leben aus: „Er gehört in die Reihe der konservativen Juden, die leichteren Herzens als die Erben des Feudalismus den Ballast über Bord zu werfen vermochten, von dem die Konservativen sich befreien mußten, um ihr Schiff durch die Stürme der neuen Zeit hindurch zu steuern.“428 Bismarck hat dem „semitischen Hosenscheißer“429 diesen Rückzug schwer verübelt. Daß er seiner Aversion einen antisemitischen Ausdruck verlieh, stimmt wenig mit Friedenthals Bild in der Öffentlichkeit überein, die in dem Mitglied des Preußischen Herrenhauses (ab 1879) eher den Prototyp eines „evangelischkirchlichen Sinns“ erkannte430. Eine beachtenswerte Laufbahn durchmaß auch Oscar Hahn (1831-1898)431, der wie Friedenthal als Landrat begann, ab 1870 dem Preußischen Abgeordnetenhaus und ab 1887 dem Reichstag für die konservative Partei angehörte, wo er vor allem bei Verwaltungs- und Steuerfragen aktiv wurde und die Germanisierungsbestrebungen gegenüber den Polen in den Ostgebieten befürwortete. Mit Stoecker verband ihn eine 426

Vgl. NEUBACH, Beitrag, S. 132. Zur Rolle der jüdischen Großgrundbesitzer vgl. die Anmerkungen bei SCHWERIN, Juden in Schlesien, S. 144. Der erste und einzige jüdische Majoratsherr in Deutschland war übrigens Julius Schottländer (1835-1911), Ehrensenator der Universität Breslau und bis 1933 Vorsitzender des Universitätsbundes Breslau, der das Rittergut Hartlieb bei Breslau besaß und, wie auch sein Sohn Paul, zu den großen Wohltätern der Jüdischen Gemeinde in Breslau zählte. 428 HAMBURGER, Juden, S. 265. 429 Vgl. L. BAMBERGER: Bismarck posthumus, Berlin 1899, S. 35. 430 E. KLEINSCHMIDT: Rudolf Friedenthal, in: Schlesische Lebensbilder 1, Breslau 1922 (ND: Sigmaringen 1985), S. 244-247, erwähnt noch nicht einmal Friedenthals jüdische Herkunft. 431 Vgl. H. HAHN: Oskar Hahn, in: ADB 49, 1904, S. 711. 427

408 in der Öffentlichkeit oft mißverstandene Freundschaft und Gesinnungsgemeinschaft, die ihre Grundlage nicht im Antisemitismus Stoeckers, sondern in dessen christlichen und sozialen Ideen hatte432: Hahn wurde 1879 in die Evangelische Generalsynode und 1891 in deren Vorstand gewählt, schon seit 1887 saß der Oberverwaltungsgerichtsrat auch im Vorstand der brandenburgischen Provinzialsynode. Erfreuten sich Politiker wie Friedenthal und Hahn eines beträchtlichen Ansehens, so galt der aus Oels stammende Jurist Paul Kayser (1845-1898) als „Typus des hohen kaiserlichen Beamten jüdischer Herkunft“433, was keineswegs als Lob zu verstehen war. Kaysers Weg führte über eine Repetitorenstelle bei den Bismarck-Söhnen und den Vortragenden Rat im Auswärtigen Amt nach Bismarcks Sturz, „an dem er nicht unbeteiligt gewesen sein dürfte“434, in das Amt des Direktors der Kolonialabteilung. Daß seine Begabung und sein Fleiß unbestritten waren, ließ die Stimmen doch nicht verstummen, die diesem politischen Beamten jüdischer Herkunft in „einflußreicher Stellung“435 immer wieder moralische Bedenkenlosigkeit zutrauten und sich an einer gewissen Würdelosigkeit dieses Emporkömmlings „aus Niedrigkeit“ stießen436. Da gab der durchaus auch konservativ eingestellte Bankier Ludwig Max Goldberger (1848-1913)437 aus dem oberschlesischen Tarnowitz denn doch eine andere Figur ab. Neben Albert Ballin, Carl Fürstenberg und Emil sowie Walther Rathenau wurde er zu den sog. „Kaiserjuden“ gerechnet, die das Vertrauen Wilhelms II. besaßen, bei Hofe zugelassen waren und über beträchtlichen Einfluß verfügten. Goldberger, der dem Preußischen Herrenhaus und dem Vorstand der Nationalliberalen Partei angehörte, die Berliner Handelskammer mitbegründete438, die Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park 1896 einrichtete und entscheidend an der Reorganisierung der Reichspost beteiligt war, förderte auch sehr bewußt das jüdische Leben. Er gehörte dem Vorstand der Berliner Jüdischen Gemeinde und dem Kuratorium der Berliner Lehranstalt an und leitete die von ihm 1906 gegründete Deutsche Konferenzgemeinschaft der Alliance Israélite Universelle. Oft setzte er seine erheblichen Einflußmöglichkeiten auch zugunsten verfolgter Glaubensgenossen in Osteuropa ein439. In aller Munde aber blieb der Geheime Kommerzienrat durch sein Amerika-Buch von 432

Vgl. HAMBURGER, Juden, S. 261f. u.ö.; NEUBACH, Beitrag, S, 135. Vgl. W. FRANK: Der Geheime Rat Paul Kayser, in: Historische Zeitschrift 168, 1943, S. 302-335 und 541-563, bes. S. 563. 434 Vgl. NEUBACH, Beitrag, S. 133. 435 Vgl. HAMBURGER, Juden, S. 84f. 436 Vgl. R. VIERHAUS (HG.): Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, Göttingen 31963, S. 365. 437 Vgl. H.-H. ZABEL: Ludwig Max Goldberger, in: NDB 6, 1964, S. 603f.; NEUBACH, Beitrag, S. 147. 438 Vgl. PULZER, Beteiligung, S. 182 und 228. 439 Vgl. B. KIRSCHNER: Ludwig Max Goldberger, in: JL 2, 1927 (ND: Königstein/Ts. 1982), Sp. 1181f. 433

409 1902, dessen Titel „Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ zum geflügelten Wort wurde440. Im Preußischen Herrenhaus saß wohl als erster Jude aus Oberschlesien auch der bereits erwähnte Fritz von Friedländer-Fuld441, der 1908 unter den Berliner Millionären an zweiter Stelle genannt wurde442. Auch Friedländer-Fuld wurde gelegentlich dem Kreis der „Kaiserjuden“ um Wilhelm II. zugerechnet443. Als Mitglied der Zentrumspartei trat er jedoch auf allgemein-politischem Gebiet wenig hervor, galten seine Interessen doch eigentlich ausschließlich der Vertretung jener aufstrebenden Schwerindustrie, zu deren bedeutendsten Führungsgestalten er um die Jahrhundertwende gehörte. In einen völlig anderen Bereich führt der Name von Lina Morgenstern [-Bauer] (18301909), die als „Suppenlina“ in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s in ganz Berlin und darüber hinaus bekannt war444. In ihr nahm die alte jüdische Überzeugung, daß Gerechtigkeit (Zedeka) und tätige Nächstenliebe einunddasselbe sind, lebensvolle Gestalt an. Die Tochter des wohlhabenden Breslauer Kaufmanns Albert Bauer gründete an ihrem 18. Geburtstag den „Breslauer Pfennigverein zur Unterstützung armer Schulkinder“. Nach dem finanziellen Ruin ihres Mannes siedelte Lisa Morgenstern 1854 nach Berlin über, wo sie zu einer „der wirksamsten unter den ersten deutschen Sozialpolitikerinnen“ werden sollte. Die Phantasie, das Arbeitsvermögen und die Durchsetzungskraft dieser Frau gewannen ihr Anerkennung in allen Schichten der Bevölkerung bis hin zur Kaiserin Augusta. Lina Morgensterns Sozialarbeit war ganz auf die Praxis ausgerichtet. Die Kindergartenarbeit im Sinne Fröbels förderte sie durch den Berliner Kindergartenverein und die von ihr begründete Kinderpflegerinnenschule. Die Volksküche wurde durch sie zu einer massenwirksamen Organisation entwickelt. Der Kinderschutzverein (1868) versuchte dem Abtreibungselend zu wehren, der Hausfrauenverein (1873) wollte die Wirtschaftsführung der einzelnen Familie auf konsumgenossenschaftlicher Basis preiswerter gestalten, die „Deutsche Hausfrauenzeitung“ (1874) verband die Orientierung in allgemein-frauenrechtlichen Problemen 440

Goldbergers Grab blieb auf dem Jüdischen Friedhof an der Schönhauser Allee in Berlin erhalten. Vgl. A. PERLICK: Fritz Friedländer-Fuld, in: NDB 5, 1961, S. 456f.; vgl. weiter K. ZIELENZIGER: Juden in der deutschen Wirtschaft, Berlin 1930, S. 150ff. 442 Vgl. W.E. MOSSE: Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Ders. (Hg.), Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890-1914. Ein Sammelband = Schriftenreihe wiss. Abhandlungen des LBI 33, Tübingen 1976, S. 57-113, bes. S. 78. 443 Vgl. ebd., S. 79. 444 Vgl.C. ROTH: Lina Morgenstern, in: Schlesische Lebensbilder 1, 1922 (ND: Sigmaringen 1985), S. 81-84. Das Grab L. Morgensterns findet sich auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee (Feld U1, Reihe 11). 441

410 mit praktischer Lebenshilfe. Die politische Basis für ihre Arbeit fand Lina Morgenstern im „Allgemeinen deutschen Frauenverein“, der für die Frauen das Recht auf Bildung, Arbeit und freie Berufswahl forderte, nicht aber auf politische Betätigung, wie das dann die Frauenrechtlerinnen taten, die aus Lina Morgensterns Schule hervorgingen. In der frühen Friedensbewegung war die „freimütige Demokratin“ als Mitglied des Weltfriedensbundes auch über die Grenzen Deutschlands hinaus aktiv. Mit ihren Büchern „Das Paradies der Kindheit“ (1861, 6. Aufl. 1904), „Friedrich Fröbel“ (1892), „Ernährungslehre“ (1882, 5. Aufl. 1903), „Universalkochbuch“ (1881, 4. Aufl. 1921), „Die Frauen des 19. Jh.s“ und „Frauenarbeit in Deutschland“ (1893) hatte Lina Morgenstern übrigens auch beträchtlichen publizistischen Erfolg. Eine wissenschaftlich erarbeite Biographie dieser großen „Frauenrechtlerin alten Stils“, deren Emanzipationsleistung eine angemessene Würdigung verdient, fehlt bis heute445. Daß die Sozialdemokratie unter Juden besonderen Anklang finden mußte, bedarf eigentlich keiner weiteren Erläuterungen. Die Möglichkeiten zum praktischen sozialen Engagement, zur oft polemischen publizistischen Auseinandersetzung und zum schier endlosen Theorienstreit, die die frühe deutsche Arbeiterbewegung bot, wurden auch in Teilen der deutschen Judenschaft nur allzu gerne aufgegriffen. Mit Ferdinand Lassalle (1825-1864)446 steht ein Breslauer Jude am Anfang der sozialdemokratischen Parteigeschichte, dessen persönliches und politisches Erscheinungsbild bis heute schillernd geblieben ist. Manches mag sich aus dem schnellen sozialen Aufstieg erklären lassen, den der Vater auf dem Weg von Loslau nach Breslau, wo er 1841 als erster Jude zum Stadtverordneten gewählt wurde, absolviert hatte. Für Friedrich Engels blieb der zeitweilige Kampfgefährte, der auf seine deutsche Kulturprägung und seinen Verkehr in den höheren Gesellschaftsschichten so sichtbar stolz war, doch immer nur der „echte Jud von der slawischen Grenze“, und Hermann Oncken, dem wir eine grundlegende Biographie Lassalles verdanken447, sprach sogar von dem „Ostjuden mit dünnem Kulturfirnis“448. Nach dem Besuch des Breslauer Magdalenen-Gymnasiums und dem Studium der Philosophie und Geschichte in Bres445

NEUBACH, Beitrag, S. 129, nennt neben Lina Morgenstern noch die Breslauerin Mina Pinoff, die 1868 eine Programmschrift „Die sozialen Reformbestrebungen unserer Frauen“ veröffentlichte, die allerdings keine größere Resonanz erfahren zu haben scheint. 446 Der Familienname Lassalle erklärt sich aus der Herkunft des Vaters aus dem oberschlesischen Loslau im Kreis Rybnik: man nannte sich zunächst Lossel oder Losel und dann Lassal (= Loslauer), erst Ferdinand paßte 1846 die Schreibung des Familiennamens dem Französischen an. 447 Vgl. H. ONCKEN: Lassalle. Eine politische Biographie, Stuttgart 1904 (eine 3. Aufl. erschien 1921, eine Neuauflage unter dem Titel „Lassalle. Zwischen Marx und Bismarck“ 1966). 448 Vgl. DERS.: Ferdinand Lassalle, in: Schlesische Lebensbilder 1, 1922 (ND: Sigmaringen 1985), S. 102-111, bes. S. 103.

411 lau und Berlin (1843/46), durch das er zum entschiedenen Hegelianer wurde, widmete sich der hochbegabte junge Mann zunächst praktisch ausschließlich der Eheaffäre der Gräfin Sophie von Hatzfeldt-Wildenburg, mit der er bis zu seinem Tod in einer Lebensgemeinschaft verbunden blieb. Im Revolutionsjahr 1848 kam Lassalle an den Rhein, wo er in Kontakt mit Marx und Engels geriet und zum Mitarbeiterstab der „Neuen Rheinischen Zeitung“ gehörte. Nach mehreren Haftstrafen im Zusammenhang mit der Hatzfeldt-Affäre und wegen revolutionärer Umtriebe widmete sich Lassalle in den Jahren von 1855 bis 1861 zunächst großangelegten wissenschaftlichen Studien zu Problemen der Philosophie, Jurisprudenz, Geschichte und Literaturwissenschaft. Seit 1859 wirkte Lassalle dann in Berlin, wo er im Verfassungskampf von 1862 zu historischer Größe vorstieß durch seine Reden „Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes“ und „Über Verfassungswesen“. Das „Offene Antwortschreiben“ vom 1. März 1863 und die Begründung des „Allgemeinen deutschen Arbeitervereins“ am 23. Mai 1863, zu dessen Präsident mit fast diktatorischen Vollmachten er gewählt wurde, ließen Lassalle, dem nur noch eine kurze Wirkungszeit gegeben war, zum Führer der politischen Bewegung des Vierten Standes und zur Gründergestalt der Sozialdemokratischen Partei aufsteigen. Als „ein neuartiger Typus des Agitators und Demagogen“449 forderte er Produktivgenossenschaften mit Hilfe von staatlichen Krediten, Beteiligung der Arbeiter an der Produktion und das allgemeine gleiche geheime und direkte Wahlrecht in einer so massenwirksamen Weise, daß auch Bismarck in näheren Kontakt mit diesem eigentümlichen Sozialisten trat, der in seiner Einstellung zum Staat und zu dessen nationalen und sozialen Aufgaben manche Berührungspunkte erkennen ließ. Zu dieser Zeit, etwa ab Mitte 1863, hatten die Führer der Kommunistischen Bewegung, Marx und Engels, die Beziehungen zu dem „Opportunisten“ und „Sektierer“ bereits abgebrochen, der vom Klassenkampf nichts wissen wollte und eine falsche Revolutionstheorie verfolgte. Das „Kapital“ von Marx und Engels (1867) widmete sich denn auch in wesentlichen Partien der Zurückweisung des „Lassalleanismus“, der der Schwächung der Arbeiterbewegung durch eine falsche Theorie und politische Praxis geziehen wurde. Der „Lassalleanismus“ galt seitdem in marxistischer Sicht als Vorläufer von Häresien wie „Revisionismus“, „Opportunismus“ und „Sozialdemokratismus“. Die hier aufgebrochenen Konflikte konnten von Lassalle nicht mehr ausgetra-

449

Ebd., S. 108.

412 gen werden, fiel er doch am 31. Aug. 1864 in einem Duell in Genf450. Lassalle fand sein Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Breslau451. Kurz vor seinem Tod hatte er bekannt: „Ich liebe die Juden durchaus nicht, ja im allgemeinen verabscheue ich sie.“452 Vielleicht noch umstrittener als Lassalles Position in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, zumindest aus orthodox-marxistischer Sicht, war die Eduard Bernsteins (1850-1932)453, der im März 1902 für den Wahlkreis Breslau-West in den Reichstag einzog. Bernstein, dessen bedeutendster Gegenkandidat in Breslau der Vertreter der Freisinnigen Partei und Mitbegründer der Deutschen Friedensgesellschaft Adolf Heilberg (1858-1936) gewesen war454, gehörte seit 1872 der Sozialdemokratie an und mußte auf Grund des Sozialistengesetzes von 1878 aus Deutschland emigrieren, wohin er erst 1901 zurückkehren konnte. Seine bedeutendste Schrift „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ (1898/99)455, die größtes Aufsehen erregte, stellte eine scharfsinnige Abrechnung mit den Irrtümern des Marxismus dar und wurde zur Programmschrift des „Revisionismus“. Bernstein verwarf den Materialismus marxistischer Prägung, dessen Revolutionstheorie, die marxistische Kapitalismusanalyse sowie die Lehre vom Klassenkampf und von der Diktatur des Proletariats. Der überzeugte Pazifist setzte auf Zusammenarbeit statt Konfrontation und erkannte, daß alleine in der Demokratie der Arbeiterbewegung dauerhafte Fortschritte gelingen könnten. Es ist wohl doch bezeichnend, daß dieser in Berlin geborene Emigrant und Jude, der damals bereits schon im scharfen Gegensatz zu Kautsky und Bebel stand und noch auf dem Dresdener Parteitag der SPD von 1903 verurteilt wurde456, von den Breslauer Wählern die Plattform für ein parlamentarisches Wirken eingeräumt bekam, das auf entscheidende Weise dazu beitrug, der deutschen Sozialdemokratie den Weg zu einer realitätsbezogenen Gesellschaftstheorie und Parteipolitik zu weisen. Es war übrigens Paul Löbe457, der damalige Ortsvorsteher des SPD-Ortsvereins in Breslau - später Reichstagspräsident 450

Vgl. zu Lassalle insgesamt auch das lebensvolle Porträt bei RING, Erinnerungen 1, S. 83-90, sowie K. KOSZYK: Der Organisator Ferdinand Lassalle im Jahre 1863. Eine Jahrhundert-Betrachtung, in: JSFUB 8. 1963, S. 154-171. 451 M. àAGIEWSKI: Der alte jüdische Friedhof in Wrocáaw/Breslau. Architektur-Museum in Wrocáaw 1988: Der Grabstein zeigt noch die ältere Namensform „Lassal“. 452 Vgl. S. BARON: Lassalle, in: JL 3, 1927, (ND: Königstein/Ts. 1982), Sp. 983-986. 453 Vgl. HAMBURGER, Juden, S. 455-474. 454 Vgl. RICHARZ, Jüdisches Leben in Deutschland im Kaiserreich, S. 289-297. 455 Das Buch erschien in Berlin 1923 in 3. Aufl. 456 Vgl. HAMBURGER, Juden, S. 463: Bernstein „erfocht diesen Sieg auf der Höhe des Revisionismus-Streits“. 457 Vgl. P. LÖBE: Eduard Bernstein als Breslauer Abgeordneter, in: Grundsätzliches zum Tageskampf. Festgabe zum 75. Geburtstag Eduard Bernsteins, Breslau 1925.

413 und auch noch Alterspräsidenten des ersten Bundestages der Bundesrepublik Deutschland, dem Bernstein seine erfolgreiche Kandidatur in Breslau verdankte458. Bernstein, der 1877 offiziell das Judentum verlassen hatte, revidierte später auch diesen Standpunkt: „Kein jüdischer Abgeordneter hat so intensiv in Diskussionen über das jüdische Problem eingegriffen, wie Eduard Bernstein, und kein sozialistischer Abgeordneter hat sich mit der Judenfrage so lebhaft auseinandergesetzt.“459 1917 erschien seine Abhandlung „Die Aufgaben der Juden im Weltkrieg“, in der die Theorie aufgestellt wurde, daß die Juden auf Grund ihrer Geschichte und ihrer Verflochtenheit in die verschiedenen Nationalstaaten in besonderer Weise der Völkerverständigung zu dienen hätten. Ohne selber Zionist zu sein, unterstützte Bernstein nach dem Ersten Weltkrieg doch gelegentlich einzelne Strömungen der zionistischen Bewegung und engagierte sich insbesondere für die sozialistische Palästina-Arbeit460. Zu den ersten Studenten der Breslauer Universität, die der Sozialdemokratischen Partei beitraten, gehörte Emanuel Wurm (1857-1920), der vom November 1918 bis zum Februar 1919 als Staatssekretär des Reichsernährungsamtes an der Regierung beteiligt war und 1919 in die Nationalversammlung gewählt wurde. In der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, der er von 1890-1906 und 1912-1918 für den Wahlkreis Reuß j.L. angehörte, genoß er als einziger Naturwissenschaftler und Spezialist für Gesundheits- und Ernährungsfragen unter seinen Fraktionskollegen beträchtliches Ansehen. Mit der Gründung des Konsumvereins Vorwärts 1888 in Dresden wurde er zum Initiator der Arbeiterkonsumvereinsbewegung in Deutschland. Auch als Journalist und Publizist erwarb sich Wurm, der von 1902-1917 die „Neue Zeit“ redigierte und das „Volkslexikon“ (Nürnberg 1894/98) herausgab, hohe Verdienste. Er vertrat in der Theorie durchaus radikale Anschauungen und zählte sich zu den Gefolgsleuten Kautskys, was ihn aber nicht daran hinderte, sich auf dem politischen Felde vornehmlich der Lösung praktischer Probleme in einer Weise zu widmen, die ihm Ansehen auch weit über die Kreise der eigenen Partei hinaus sicherte. Als Anhänger der Entwicklungslehre bekannte sich Wurm nicht mehr zum jüdischen Glauben, trotzdem aber blieb er zeitlebens Mitglied der Jüdischen Gemeinde, „um nicht den Anschein zu erwecken, daß ich mich von ihren Mitgliedern lossage, weil diese - außerhalb meiner Partei - ihrer Abstammung wegen zurückgesetzt werden 458

Vgl. HAMBURGER, JUDEN, S. 463. Vgl. ebd., S. 469ff. Vgl. P. MAYER: Eduard Bernstein, in: NDB 2, 1955, S. 133f. Vgl. weiter Bernsteins autobiographische Schriften: Aus den Jahren meines Exils. Erinnerungen eines Sozialisten, Berlin 1918; Eduard Bernstein. Entwicklungsgang eines Sozialisten = Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart. Hg. von F. Meiner, Leipzig 1924; Von 1850 bis 1872. Kindheit und Jugendjahre, Berlin 1926.

459 460

414 und minderen Rechts sind“461. Nach seinem Tod folgte ihm seine Witwe im Reichstagsmandat, das sie bis 1933 innehatte. Sie nahm sich im Londoner Exil 1935 das Leben462. Überregionale Bedeutung erlangte auch der 1869 im oberschlesischen Rybnik geborene Otto Landsberg, der von 1912-1918 Vertreter Magdeburgs im Reichstag, 19191920 Mitglied der Nationalversammlung und von Februar bis Juni 1919 Reichsminister der Justiz war. Von 1920 bis 1924 residierte Landsberg als deutscher Botschafter in Brüssel, um dann bis 1933 wieder der Reichstagsfraktion der SPD anzugehören. Die nationalsozialistische Zeit überlebte er in den Niederlanden, wo er 1957 in Utrecht gestorben ist. Als Rechtsexperte seiner Partei war Landsberg an vielen Gesetzesprojekten führend beteiligt, wobei er den Dissens in Einzelfragen mit seiner Fraktion keineswegs scheute, wenn er für zutreffend erkannte Rechtsmaximen verletzt oder doch in Gefahr sah463. Ebenfalls aus Oberschlesien, nämlich aus Guttentag, stammte Oscar Cohn (18691936), der „eine der interessantesten Gestalten unter den jüdischen Unabhängigen war“464. Der promovierte Jurist, der beim Kaiser-Franz-Garde-Regiment gedient hatte, war von jungen Jahren an Sozialist. 1909 wurde er von der SPD in das Berliner Stadtparlament entsandt und 1912 zog er in den Reichstag ein. 1917 trat Cohn nach Absolvierung des Kriegsdienstes der USPD bei und gewann durch seine Verteidigung revolutionärer Matrosen und Arbeiter bald einen hohen Bekanntheitsgrad. Seine Tätigkeit als Rechtsbeistand der Sowjetischen Botschaft löste 1918 einen vieldiskutierten Skandal aus. Grundsätzlich war Cohn in politischen Fragen pragmatischen Lösungen zugeneigt, was nicht hinderte, daß gerade er immer wieder zum bevorzugten Ziel antisemitischer Angriffe gemacht wurde. Unter den jüdischen Sozialisten war Cohn insofern eine bemerkenswerte Ausnahmeerscheinung, als er sich - geprägt von dem Eindruck der Begegnung mit dem Ostjudentum während des Ersten Weltkriegs - bewußt zu Judentum und Zionismus bekannte und bei den Verfassungsberatungen 1918 für die deutschen Juden den Status einer nationalen Minderheit verlangte. Cohn starb im Genfer Exil und wurde seinem Wunsch gemäß in Palästina im Kibbuz Deganja beigesetzt465.

461

Allgemeine Zeitung des Judentums vom 5.4.1912, S. 160. Vgl. HAMBURGER, Juden, S. 483-485. Vgl. ebd., S. 509-515; H.L. ABMEIER: Otto Landsberg. Gedenkblatt anläßlich seines 100. Geburtstages, in: JSFUB 14, 1969, S. 330-355; ANGRESS, Juden, S. 164f. 464 Vgl. ebd. S. 213-219. 465 Vgl. auch HAMBURGER, Juden, S. 502-508. 462 463

415 Generell läßt sich sagen, daß der ostdeutsche Anteil jüdischer Politiker, die sich in der Revolutionszeit 1918 exponierten, außerordentlich hoch gewesen ist. Er erreichte fast die gleiche Zahl wie der des gesamten übrigen Deutschland466. Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg reichte die Karriere des 1860 in Breslau geborenen liberalen Politikers Eugen Schiffer, der, 1896 evangelisch getauft, als Amtsrichter in Zabrze (Hindenburg), dann als Landrichter in Magdeburg, Kammergerichtsrat und Oberverwaltungsgerichtsrat wirkte, bevor er 1917 als Unterstaatssekretär in das Reichsschatzamt eintrat. Von 1903 bis 1918 gehörte Schiffer dem Preußischen Abgeordnetenhaus und dann dem Reichstag für die Nationalliberale Partei an: „Er war der klügste nationalliberale Parlamentarier der wilhelminischen Zeit.“467 Von Februar bis Juli 1919 bekleidete er das Amt des Reichsfinanzministers und stellvertretenden Präsidenten des Reichsministeriums im Kabinett Scheidemann. Schon im Oktober 1919 bekam der im wesentlichen konservativ eingestellte Schiffer im Kabinett Bauer, später auch im Kabinett Wirth, den Posten des Vizekanzlers und Reichsjustizministers übertragen. Mitte der zwanziger Jahre zog sich Schiffer, der in seinen Erinnerungen mit keinem Wort seine jüdische Herkunft erwähnt hat468, aus dem politischen Leben zurück. Die nationalsozialistische Verfolgung überlebte er versteckt in Berlin. Von 1945 bis 1948 wurde der nun schon Hochbetagte als Mitglied der LDPD mit der Justizverwaltung in der SBZ betraut469, 1948 siedelte Schiffer in die Bundesrepublik Deutschland über und starb 1954 in West-Berlin: Er war „ein kluger und wendiger Mann, dem es auch an persönlichem Ehrgeiz nicht fehlte. Seine Wendigkeit, [...] von Theodor Heuss einmal als ‚etwas beängstigend’ bezeichnet, verband sich jedoch mit Entschlußfähigkeit, Energie und, wenn es darauf ankam auch mir ‚Unabhängigkeit des Denkens und des Standpunkts’.“470 Neben Schiffer ist wohl nur noch ein einziger schlesischer Jude nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland als Politiker zu überregionaler Bedeutung gelangt. Herbert Weichmann, geboren 1896 im oberschlesischen Landsberg, hatte bis 1933 verschiedene hohe Posten innerhalb der staatlichen Verwaltung inne, ging dann nach Frankreich und in die USA ins Exil, wurde, 1948 nach Deutschland zurückgekehrt, 1957 Finanzsenator in Hamburg und 1965 Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt sowie Mitglied des Bundesrates. Der angesehene sozialdemokratische Politiker, der 466

Vgl. ANGRESS, Juden, S. 310. HAMBURGER, Juden, S. 360. Vgl. E. SCHIFFER: Ein Leben für den Liberalismus, Berlin-Grunewald 1951. 469 Vgl. K.W. FRICKE: Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 19451968. Bericht und Dokumentation, Köln 21990, S.35-39. 470 ANGRESS, Juden, S. 203-208, bes. S. 208; HAMBURGER, Juden, S. 355-360. 467 468

416 regelmäßig den Synagogengottesdienst besuchte, hat aus seinem Judentum niemals einen Hehl gemacht471. Das alltägliche Erscheinungsbild jüdischer Politiker wurde für die Bevölkerung Schlesiens in der Regel weniger durch das Auftreten der Spitzenkräfte bestimmt, die ihren Wirkungskreis ja auch zumeist außerhalb der Provinzgrenzen fanden. Prägender waren die Eindrücke, die die Kommunalpolitiker hinterließen, waren die Folgen ihrer Tätigkeit doch ganz unmittelbar erfahrbar. Die Geschichte der jüdischen Beteiligung an den schlesischen Kommunalparlamenten muß erst noch geschrieben werden. Aber schon ein erster Blick in die Chroniken schlesischer Städte läßt erkennen, in welchem hohen Maß jüdische Bürger immer wieder bereit waren, ihre Arbeitskraft im Interesse der Allgemeinheit einzusetzen, sobald und solange man ihnen hier Wirkungsmöglichkeiten einräumte. Die Verhältnisse in Breslau, wo von 1887 bis 1933 mit Wilhelm Salomon Freund (1831-1915)472, Adolf Heilberg (1858-1936) und Eugen Bandmann (gest. 1948 in New York)473 in ununterbrochener Reihenfolge Juden an der Spitze der Stadtverordnetenversammlung standen, waren nicht untypisch474. Ähnliche Beispiele ließen sich vor allem aus dem oberschlesischen Raum, etwa Oppeln und Gleiwitz, beibringen. Bis das Gift der nationalsozialistischen Propaganda zu wirken begann, fanden gerade die Leistungen jüdischer Bürger auf kommunalem Gebiet eine Anerkennung, die schon als fast selbstverständlich angesehen wurde. 3. Der Beitrag schlesischer Juden zur Kultur Wie bei den Politikern haben auch viele jüdische Kulturschaffende und Künstler Schlesiens ihr eigentliches Betätigungsfeld erst außerhalb der engeren Heimat gefunden. Die Randlage der Provinz und insbesondere die Anziehungskraft Berlins bewirkten immer wieder einen Exodus, der Schlesien einerseits zwar schöpferische Persönlichkeiten entzog, andererseits aber auch beträchtlich zu dessen Integration in das allgemeine deutsche Kulturleben beigetragen hat. Schon verhältnismäßig früh begannen schlesische Juden das Verlagswesen zu erobern. Im Herbst 1815 eröffnete Carl Heymann (1794-1862) in Glogau ein Antiquariat und eine Leihbibliothek, aus denen sich ab 1821 ein Verlag entwickelte. Heymann, Teilnehmer am Frankreichfeldzug von 1815, begann seine verlegerische Tätigkeit mit 471

Vgl. Encyclopaedia Judaica 16, Jerusalem, Sp. 373f. (Ed.). Vgl. A. HEILBERG: Wilhelm Salomon Freund, in: Schlesische Lebensbilder 1, 1922, S. 94-97. Vgl. zu Heilberg und Bandmann SCHWERIN, JSFUB 25, 1984, S. 153f. 474 Vgl. PULZER, Beteiligung, S. 187; SCHWERIN, Juden in Schlesien, S. 64f.; NEUBACH, Beitrag, S. 147f. 472 473

417 der Publikation von Autoren regionalen Ranges, bevor ihm 1826 mit dem „Haussekretär für die Preußischen Staaten“ von A.E.W. Schmalz, einem juristischen Ratgeber für Laien, ein Bestseller gelang, der bis 1856 16 Auflagen erlebte. Schon 1835 wanderte der Carl Heymann Verlag dann allerdings nach Berlin ab, wo er sich auf der Grundlage wesentlich besserer Geschäftsbedingungen zu einem der führenden Verlage für juristische Literatur, insbesondere im Bereich des Verwaltungsrechts, entwickelte, der noch heute zu den „bedeutendsten deutschen Fachverlagen für Rechtsund Staatswissenschaft mit Hauptsitz in Köln und einer Zweigniederlassung in Berlin“ zählt475. Besaß der Heymannsche Verlag schon nach seinen allerersten Veröffentlichungen kaum noch einen spezifisch jüdischen Charakter, so behielt das Verlagshaus M. & H. Marcus in Breslau diesen bis zu seiner zwangsweisen Auflösung im November 1938 in sehr markanter Weise bei. Das 1892 von Max Marcus (1862-1929) und seinem Bruder Hermann begründete Unternehmen wurde zum „Hausverlag“ des Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminars, in dem viele der Dozenten ihre wissenschaftlichen Editionen und Studien publizierten476. Auch der erste Band der „Germania Judaica“ von 1917/34477 und die Jubiläumsausgabe der Gesammelten Schriften von Moses Mendelssohn in sechs von 16 Bänden, betreut von Ismar Elbogen, Julius Guttmann und Eugen Mittwoch, erschien von 1929 bis 1933 bei Marcus in Breslau478, wo von 1932 bis 1938 auch die letzten Bände der „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“ und die Veröffentlichungen der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums publiziert wurden. Daneben gewann das Verlagshaus Marcus in Breslau für weitere Leserkreise aber vor allem Bedeutung durch die Betreuung der Veröffentlichungen der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländi-

475

LUCAS/HEITMANN, Stadt des Glaubens, S. 430-435, bes. S. 434. Vgl. auch Carl Heymanns Verlag Berlin. Zum Gedenktage des einhundertjährigen Bestehens der Buchhandlung, Berlin 1915. Erwähnt seien hier nur die Arbeiten von Jacob Guttmann, Isaac Heineman und die Ausgabe der „Werke Philos von Alexandria in deutscher Übersetzung“ von Leopold Cohn und I. Heinemann, die in sechs Bänden von 1909-1938 erschien und 1962/64 in Berlin nachgedruckt wurde. 477 GERMANIA JUDAICA. Im Auftrage der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums nach dem Tode von M. Brann hg. von I. Elbogen, A. Freimann und H. Tykocinski. Von den ältesten Zeiten bis 1238, Breslau: Verlag M. & H. Marcus 1934 (der Band war bereits 1917 weitgehend fertiggestellt, vgl. Vorwort S. IX-XV). Als Fortsetzung erschienen dann GERMANIA JUDAICA, Bd. 2: Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jh.s. Hg. von Z. Avneri, 2 Halbbände = Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts, Tübingen: Mohr 1968, und Bd. 3: 1350-1519. Hg. von A. Maimon. 1. Teilband, Tübingen: Mohr 1987. 478 Vgl. zur komplizierten Editionsgeschichte Alexander Altmanns „Geleitwort“ in M. MENDELSSOHN: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 1 (Faksimilenachdruck), Stuttgart - Bad Canstatt 1971, S. V-VIII. Die komplette Neuausgabe der Jubiläumsausgabe, im Verlag von Friedrich Frommann (Günther Holzboog) zwischen 1971 und 1974 erschienen, umfaßt 19 Bände. 476

418 sche Cultur479, der Schlesischen Gesellschaften für Volkskunde und Geographie, der Industrie- und Handelskammer und des Breslauer Osteuropa-Instituts. Der Sohn von Max Marcus, Theodor (1894-1973), wurde 1936 gezwungen, Breslau zu verlassen. Bis zum November 1938 konnte die jüdische Abteilung des Verlages dann noch von einem Verwandten unter der Firmierung „Stefan Münz. Jüdischer Buchverlag & Buchvertrieb“ weitergeführt werden480. Eine besondere Rolle im schlesischen Geistesleben spielte Felix Priebatsch (18671926, der Breslauer Verleger und Historiker. Obwohl seine Edition der politischen Korrspondenz des Kurfürsten Albrecht Achilles, in den „Publikationen aus den preußischen Staatsarchiven“ 1894/98 in drei Bänden veröffentlicht, vielfache Anerkennung gefunden hatte, wurde dem Juden Priebatsch nicht nur die Habilitation, sondern auch eine Anstellung im staatlichen Archivdienst verwehrt. Deshalb trat er 1899 in die väterliche Buchhandlung ein, die er in der Folgezeit durch Veröffentlichung von Handelsschul- und Berufsschulbüchern und vor allem von Literatur zu „Kulturproblemen der Ostgrenze“, insbesondere auch Oberschlesiens, zu überregionaler Bedeutung führte. Bleibende Verdienste erwarb sich der Verlag Priebatsch auch um die Entwicklung des Fachs Osteuropäische Geschichte durch die Herausgabe der „Jahrbücher für Geschichte und Kultur der Slaven“, in denen sich Gelehrte aus allen osteuropäischen Ländern unter Federführung des Breslauer Osteuropa-Instituts zusammenfanden. Trotz aller Belastungen, die das Verlegergeschäft mit sich brachte, blieb Priebatsch lebenslänglich auch der wissenschaftlichen Forschung verbunden. Seine Studie zur „Judenpolitik des fürstlichen Absolutismus im achtzehnten Jahrhundert“ von 1915 räumte mit der irrigen Meinung auf, die Gewährung erster politischer Rechte an die Juden sei erst aus den Ideen der Französischen Revolution entsprungen481. In den „Schlesischen Lebensbildern“, deren 4. Band von 1931 im Verlag Priebatsch erschien, finden sich Beiträge über Karl Fischer, Heinrich Graetz, Karl Jentsch und Richard Roepell aus seiner Feder. Eine großangelegte Studie zur europäischen Geschichte blieb unvollendet. Priebatsch, der immer „ein wenig über dem Leben und abseits“ stand und von sich selber zu sagen pflegte, „er sei als Gelehrter ein besserer Kaufmann und als Kaufmann ein besserer Gelehrter geworden“, verkörperte in seiner Person nicht nur noch einmal die unglücklichen Lebensumstände, in die Juden durch eine antisemitische Grundeinstellung im staatlichen und akademischen Bereich hi479

Ab 1929, vgl. M.R. GERBER: Die Schlesische Gesellschaft für Vaterländische Cultur (1803-1945) = Beihefte zum JSFWUB 9, Sigmaringen 1988, S. 27. Vgl. TH. MARCUS: Als jüdischer Verleger vor und nach 1933 in Deutschland, in: LBI Bulletin 7, Nr. 25-28, 1964, S. 138-153. 481 Der Aufsatz erschien in der Festschrift für Dietrich Schäfer, 1915. 480

419 neingezwungen wurden, sondern auch die Energien, die trotz solcher Behinderungen eine eindrucksvolle Lebensleistung ermöglichten482. Als ein in wesentlichen Bezügen schlesisch-jüdischer Beitrag zu deutschen Geistesund Kulturgeschichte darf, so erstaunlich das auch zunächst klingen mag, sogar Samuel Fischers „Neue Rundschau“ in Anspruch genommen werden. 1890 als Wochenzeitschrift „Freie Bühne“ von Otto Brahm und Fischer in Berlin gegründet, seit 1894 als Monatsschrift unter dem Titel „Neue deutsche Rundschau“ und ab 1904 als „Neue Rundschau“ erscheinend, eroberte sie sich rasch eine führende Stellung im deutschen Kulturleben, verstanden ihre Redakteure es doch, mit ihr „dem Zeitgeist einen Ort der Repräsentanz zu verschaffen“483. Reichlich ein Vierteljahrhundert lang, von 1894 bis 1921, wurde das geistige Antlitz dieser Zeitschrift maßgeblich von Oskar Bie (1864-1938) bestimmt. Der in Breslau geborene literarische Redakteur der „Neuen Rundschau“, der ansonsten als Theater- und Musikkritiker höchstes Ansehen genoß, leistete mit seinem Essay „Zwischen den Künsten. Beiträge zur modernen Ästhetik“, der 1894 gedruckt wurde, einen wegweisenden Beitrag für den künftigen Weg der Zeitschrift484. Für Bie galt wie für seinen, gleichfalls der „Neuen Rundschau“ eng verbundenen Kritikerkollegen Alfred Kerr, der 1867 als Alfred Kempner in Breslau geboren wurde und 1948 in Hamburg starb, das Urteil: „Soweit sie jüdischer Herkunft waren, gehörten sie meist nicht zuerst ihrem ursprünglichen Volk oder ihren Religionen, sondern waren ganz einfach Deutsche, Angehörige ihres Stammes, eines geistigen Berufes, einer bürgerlich-künstlerisch-liberalen Gesellschaft, die ihnen nicht erst die Anstrengung der Assimilation abforderte.“485 Kerr, den Marcel Reich-Ranicki einmal als „des Jahrhunderts mächtigsten Kritiker“ apostrophiert hat486, stammte aus einer gebildeten und assimilierten Familie. Jüdische Traditionen haben ihm wohl wenig oder nichts bedeutet, trotzdem aber beteuerte er: „Ich selber habe die Herkunft von diesem Fabelvolk immer als etwas Beglückendes gefühlt, so gewiß ich von seiner Sprache nichts weiß als die für mich gewaltig schönen, für mein Weltgewissen heute zweifelhaften, sechs 482

Vgl. H. WENDT: Felix Priebatsch, in: Schlesische Lebensbilder 3, Breslau 1928 (ND: Sigmaringen 1985), S. 396-401. Vgl. auch F. PRIEBATSCH: Geschichte der Juden in Schlesien, in: Menorah. Jüdisches Familienblatt für Wissenschaft, Kunst und Literatur 4, 1926, S. 257-261. 483 Vgl. CHR. SCHWERIN (HG.): Der Goldene Schnitt. Große Essayisten der Neuen Rundschau 18901960, Frankfurt/M. 1960, S. 725 (Nachwort). 484 Vgl. W. GROTHE: Die Neue Rundschau des Verlages S. Fischer = Archiv für Geschichte des Buchwesen (auch als Sonderdruck im Börsenblatt für den deutschen Buchhandel), 1961. 485 DERS.: Schlesiens Beitrag zu S. Fischers „Neuer Rundschau“, in: JSFWUB 15, 1970, S. 355-381, bes. S. 362. 486 Vgl. M. REICH-RANICKI: Des Jahrhunderts mächtigster Kritiker. Aus Anlaß eines neuen Auswahlbandes der Schriften Alfred Kerrs, in: FAZ Nr. 186, 13. Aug. 1983, Beilage.

420 rauhen Riesenworte: ‚Schma Jisroel, Adonai Elohenu, Adonai echod’; ‚Höre, Israel: der Herr, dein Gott, der Herr ist ewig.’ Ja, diese dunkel-machtvollen Klänge sind für meine Welterkenntnis, wie sich von selber versteht, nicht mehr giltig. (Eli will nur die Wahrheit.) Sie haben jedoch ewige Geltung für meine Phantasie. Schma Jisroel...“487 Über Kerrs literarische Bedeutung, der der „Neuen Rundschau von 1903 bis 1928 als ständiger Mitarbeiter verbunden war, wird das Urteil immer ein schwankendes bleiben. Viele der Texte, die er in ununterbrochener Folge dem Publikum vorlegte, werden einzeln betrachtet keinen dauernden Bestand haben, trotzdem aber bedarf gerade Kerrs Schrifttum der Gesamtausgabe neben den mancherlei Auswahlbänden, die daraus erschienen sind, blitzen in ihm doch auch an unverhofftester Stelle immer wieder Einsichten von einer Hellsichtigkeit auf, die diesen Literaten, der die Kritik neben Epik, Lyrik und Dramatik zur vierten Dichtungsform emporgehoben wissen wollte, zum Zeitzeugen von wirklich exemplarischer Bedeutung machen488. Noch wichtiger als alles, was Bie und Kerr für die Gestaltwerdung der „Neuen Rundschau“ leisten konnten, wurde aber der Gleiwitzer Gottfried Bermann Fischer (18971995), der bereits als Chirurg an einem großen Hospital im Berliner Osten tätig war, als er 1926 Brigitte B. Fischer, die Tochter des großen Verlegers, heiratete. Der Schwiegervater hatte dieser Verbindung nach einigem Bedenken mit der Bitte zugestimmt, der Arzt möge doch in das Verlagsgeschäft überwechseln. Die ungewöhnliche Karriere erwies sich als ein Glücksfall der besonderen Art. Nicht nur verstand es Bermann Fischer, der ab 1928 dem Verlag als Geschäftsführer vorstand, sich rasch die Achtung und Freundschaft der durchweg hochbedeutenden Hausautoren zu erwerben, ihm gelang es auch, den Verlag S. Fischer in der Emigration von 1935 bis 1947 so am Leben zu erhalten, daß er nach seiner Rückkehr nach Deutschland rasch wieder seine frühere führende Stellung im deutschen Verlagswesen einnehmen konnte. In seiner Autobiographie hat Bermann Fischer geschildert, daß er ganz wesentlich die Verantwortung dafür trug, daß die „Neue Rundschau“, die ihm erstmals

487

A. KERR: Lebenslauf, in: J. Chapiro, Für Alfred Kerr. Ein Buch der Freundschaft, Berlin 1928, S. 157-182, bes. S. 165 (vgl. auch A. KERR: Sätze meines Lebens. Über Reisen, Kunst und Politik. Hg. von H. Bemmann, Berlin 21980, S. 11-32, bes. S. 14). Man bemerke, daß Kerr tatsächlich von der „Sprache des Fabelvolks“ nichts wußte, übersetzte er doch sogar das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis, das Schma Jisrael, falsch, in dem es nicht heißt, Gott, der Herr, sei „ewig“, sondern vielmehr, er ist „einzig“! 488 Eine erste Ausgabe der "Gesammelten Schriften" erschien in zwei Reihen „Die Welt im Drama“ (5 Bände, 1917) und „Die Welt im Licht“ (2 Bände, 1920) bei S. Fischer in Berlin. 1927, zum 60. Geburtstag, wurde davon eine Neuausgabe vorgelegt. Nach Kerrs Tod wurden zunächst mehrere Auswahlausgaben seiner Schriften veranstaltet. Die beim Berliner Argon Verlag im Erscheinen begriffene Ausgabe der „Werke in Einzelbänden“ tendiert hin zu einer Gesamtausgabe, obwohl die Herausgeber auch hier nicht umhin zu kommen scheinen, allzu Peripheres auszuschließen.

421 1914 in Gleiwitz in die Hände gefallen war489, durch die Übertragung der Redaktion an Peter Suhrkamp weiter politisiert wurde, um damit ein Gegengewicht zu Blättern von national-konservativer oder gar chauvinistischer Ausrichtung zu bilden490. Schon im Juni 1945 erhielten die deutschen Kriegsgefangenen die erste Nummer der Neuausgabe der „Neuen Rundschau“ ausgehändigt, noch in Stockholm produziert, die dem 70. Geburtstag Thomas Manns gewidmet war491. Dieser Beitrag der nobelsten Art zur „Reeducation“, geleistet von einem in das Exil gejagten deutschen Juden, blieb vielen, die damals zu den Empfängern zählten, unvergeßlich. Sein Leben lang hat Alfred Kerr mit dem niemals ganz ausgeräumten Verdacht zu kämpfen gehabt, daß Schlesiens größte Dichterin seine Tante gewesen sei: „Sie war meine Tante nicht. Sie waaar es nichttt!!!“492 1909 gestatteten ihm die preußischen Behörden endlich, den peinlich gewordenen Familiennamen „Kempner“ in „Kerr“ zusammenzuziehen. Friederike Kempner (1836-1904), die unvergleichliche schlesische Dichterin und große Menschenfreundin, hatte sich mit Versen wie diesem aus ihrem Gedicht „Letzte Mahnung“ unsterblich gemacht: „Und wenn ich dereinst'mal sterbe, Mahnet euch der Musen Chor: Nicht enthaltet dieses Erbe Euren Nachekommen vor!“ Die „Nachekommen“ haben sich diese Mahnung der „schlesischen Nachtigall“ zu Herzen genommen und ihre so rührend naiven und verqueren Verse, daß es sich schon wieder um Kunst handeln muß, immer wieder neuaufgelegt493. Was bei allem Lesevergnügen, das die Kempner, die aus einer wohlhabenden jüdischen Familie stammte und lange Jahrzehnte auf ihrem schlesischen Gut Friederikenhof bei Reichthal in Schlesien verbrachte, wo sie auch starb, bis heute zu bereiten vermag, aber nur allzu schnell übersehen wird, ist die Tatsache, daß die „schlesische Nachtigall“ Vgl. G. BERMANN FISCHER: Bedroht - bewahrt. Der Weg eines Verlegers, Frankfurt/M. 21971 (als Taschenbuch 1978), S. 122ff. 490 Vgl. ebd., S. 81f. Vgl. auch B. B. FISCHER: Sie schrieben mir oder was aus meinem Poesiealbum wurde, Zürich 1978 (als Taschenbuch München 1981); G. BERMANN FISCHER: Lebendige Gegenwart. Reden und Aufsätze, hg. von W. Killy, Zürich 1977. 491 Vgl. BERMANN FISCHER, S. 318ff. 492 KERR, Lebenslauf, S. 19. 493 Nach dem Kriege erschienen u.a. Anthologien, zusammengetragen von G.H. Mostar (1953), W. Mechauer (1956) und H. Drescher (1971). 489

422 zuerst eine Philanthropin war, deren Bemühungen um das Verbot der Vivisektion, die Aufhebung der Einzelhaft in den Gefängnissen494 und für die „gesetzliche Einführung von Leichenhäusern“495 ihr den Respekt auch höchst ernsthafter Zeitgenossen eintrugen. Mit welcher Ernsthaftigkeit, Ausdauer und zeitweiligen Resonanz die Kempner ihre menschenfreundlichen Ziele verfolgte, läßt sich erst wieder genauer verfolgen, seit ihre autobiographische Skizze von 1884 aus dem Nachlaß Brümmer in der Berliner Staatsbibliothek bekannt geworden ist496. Als ihre Hauptforderungen lassen sich zusammenfassen: „1. Gleiche bürgerliche Rechte der Menschen ohne Unterschied der Geburt, der Stellung des Glaubens. 2. Die Unverletzlichkeit der menschlichen Würde und die Unveräußerlichkeit des menschlichen Rechtes, wie alt oder wie neu auch die Verträge sein mögen, wodurch jene oder dieses veräußert würde. 3. Das Recht jedes Einzelnen, seine Fähigkeit zu entwickeln. 4. Das Recht zu leben und sein Leben zu fristen.“497 Das Jüdische tritt im Lebensgang und Wirken der Dichterin und Menschenfreundin nur sehr gelegentlich in Erscheinung. Daß ihre Mutter, eine geborene Aschkenasy, sich als „in direkter Linie vom König David her“ abstammend zu bezeichnen pflegte, blieb Friederike Kempner aus Kindertagen ebenso erinnerlich wie die Tatsache, daß sie schon mit zehn Jahren die Psalmen in der Mendelssohnschen Übersetzung auswendig konnte498. Mit der Jüdischen Gemeinde in Breslau kam es zu genauerem Kontakt wohl nur nach dem Tode der über alles geliebten Mutter, der die Tochter auf jede Weise das von ihr stets befürchtete Schicksal des lebendig Begrabenwerdens ersparen wollte. Also wurde die Mutter nicht nur einbalsamiert, was ja einige Tage in Anspruch nahm, sondern auf dem jüdischen Friedhof in einer Gruft beigesetzt, eine

494

F. KEMPNER: Gegen die Einzelhaft oder das Zellengefängnis, 1869 (Anhang zu ihrem „Büchlein von der Menschheit“, Berlin 1885). F. KEMPNER: Denkschrift über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Einführung von Leichenhäusern, Breslau 21851 (die 1. Aufl. ist bibliographisch nicht feststellbar, die 6. Aufl. erschien 1867). 496 Vgl. G. PACHNICKE: Friederike Kempners Autobiographie vom Jahr 1884. Aus dem Nachlaß Brümmer der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, in: JSFUB 30, 1989, S. 141-171 (mit einem „Verzeichnis meiner Schriften“, S. 170f.). 497 M. KROHN: Friederike Kempner, die „schlesische Nachtigall“, als Kämpferin für Menschenrecht, in. JSFUB 7, 1962, S. 233-246. 498 Vgl. PACHNICKE, S. 145. 495

423 für Breslau bis dahin ganz unbekannte Bestattungsart, war sie doch auch im religionsgesetzlichen Sinn keinesfalls ohne Bedenken499. Alfred Kerr hatte sein Gedicht „Friedrike Kempner“ mit dem „Nachtrag“ geschlossen: „Trag's! ob auch der unverwandte Schmerz an Deiner Seele frißt: Daß Du, meine tote Tante, Gar nicht meine Tante bist.“500 Ob Kerr mit dieser Zurückweisung tatsächlich genealogisch korrekt handelte, ist wohl noch nicht abschließend geklärt worden. Daß ihn mit dieser „Tante“ aber mehr verband, als er sich selber jemals eingestehen konnte, ist doch kaum zu bezweifeln und von Bert Brecht schon ganz richtig gesehen worden. Beiden gemeinsam war der unbedingte Einsatz für die Verbesserung der menschlichen Verhältnisse. Beide setzten ihre, nun allerdings sehr unterschiedlich dimensionierten künstlerischen Mittel mit einer Bedenkenlosigkeit ein, die bei Friederike Kempner das Banale und unfreiwillig Komische stets sicher, bei Alfred Kempner/Kerr aber doch immerhin noch häufig genug traf. Beide beherrschten die ironische Camouflage, wobei die der „Tante“ um so vertrackter wirken muß, als niemals wirklich sicher auszumachen ist, inwieweit ihre oft zwerchfellerschütternden Reimereien und ihre hochgemut-ungeschickten Dramen und Novellen501 nicht auch oder doch zumindest gelegentlich das Produkt der höchsten Form der Ironie, der Selbstironie, gewesen sein könnten. Aus bester jüdischer Familie stammte Emil Ludwig (1881-1948), der Sohn des berühmten Breslauer Augenarztes Hermann Cohn, dessen Mutter eine Schwester von Fritz von Friedländer-Fuld war. Der Autor von Romanbiographien, Dramen und Essays war 1902 zum Christentum übergetreten und lebte ab 1906 als freischaffender Schriftsteller in der Schweiz. Ludwig genoß zu seiner Zeit als Interviewer und politischer Publizist internationales Ansehen. 1922 sagte er sich nach der Ermordung Rathenaus vom Christentum los und näherte sich der zionistischen Bewegung an. In 499

Vgl. Ebd. 165. In der gleichen Gruft, die sich bis heute erhalten hat, wurde dann auch Friederike Kempner bestattet. KERR, Sätze meines Lebens, S. 34.

500

424 den 20er Jahren zählte Ludwig zu den in der Welt meistgelesenen deutschen Autoren und galt als Prototyp des geistreichen, individualistisch-weltbürgerlichen Journalisten und Schriftstellers, dessen Werke in 27 Sprachen verbreitet waren. Schon frühzeitig regte sich allerdings auch die Kritik, die keineswegs immer frei von antisemitischen Untertönen blieb und sich vor allem gegen Ludwigs historische Studien wandte502. Und in der Tat ist die enorme Breitenwirkung seiner in einem doch reichlich prätentiösen Stil abgefaßten Skizzen heute nur noch schwer nachzuempfinden. Es versteht sich fast von selbst, daß seine Werke, in denen er in Themenwahl und Stoffbehandlung gerne provozierte, von den Nationalsozialisten 1933 öffentlich verbrannt wurden, die in ihm nichts anderes als den jüdischen „Asphaltliteraten“, was immer darunter verstanden wurde, schlechthin zu erkennen glaubten. Die größte Verbreitung erlangten Ludwigs Romanbiographien, die auf der Grundlage genauer historischer Detail- und biographischer Quellenkenntnisse künstlerisch fiktive Porträts von Persönlichkeiten aus den unterschiedlichsten Zeitepochen und Lebensverhältnissen entwarfen: Richard Dehmel (1913), Goethe. Geschichte eines Menschen (3 Bde, 1920), Rembrandt (1923), Napoleon (1925), Bismarck (1926), Wilhelm II. (1926), Jesus (Der Menschensohn. Geschichte eines Propheten, 1928), Lincoln (1930), Michelangelo (1930), Schliemann (1932), Hindenburg (1935), Cleopatra (1937), Roosevelt (1938), Bolivar (1939), Beethoven (1943) und Stalin (1945). Besondere Charakterstudien galten Sigmund Freud, Lassalle und Rathenau. 1940 war Ludwig in die USA emigriert, wo er u.a. als Sonderbeauftragter Roosevelts tätig war. Sein Buch über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs unter dem Titel „Juli 1914“ (1929) sowie die Interviews mit Mussolini (1932) und Masaryk (1935) erweisen sich gleichfalls auch heute noch als lesenswert. Noch 1945/46 wurde Ludwig mit einer allerdings lediglich fünfbändigen Ausgabe seiner „Gesammelten Werke“ geehrt, die auf ihre Weise jedoch auch schon anzeigte, daß der Ruhm seiner biographischen Fiktionen allmählich zu verblassen begann.

501

Vgl. dazu die Übersicht bei KROHN, S. 237ff. Vgl. etwa N. HANSEN. Der Fall Emil Ludwig, Oldenburg 1930, S. 90: „Ludwig verbindet ein starkes Formgefühl mit einer erstaunlichen Mühelosigkeit des Schaffens. Er feilt wohl einmal nachträglich; aber im allgemeinen strömen die Worte leicht und fertig gerundet aufs Papier. Was aber leicht fertig ist, das macht dann wohl den Eindruck des Leichtfertigen.“

502

425 V. Das Ende des schlesischen Judentums 1. Der Sonderfall Oberschlesien

Während das übrige Schlesien von den antijüdischen Maßnahmen der nationalsozialistischen Machthaber in vollem Umfang erfaßt wurde, genossen die Juden Oberschlesiens als nationale Minderheit bis 1937 noch den Schutz des Genfer Abkommens vom 15. Februar 1922. Als auch in Oberschlesien das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 in Kraft gesetzt wurde503 , erhob der nach Prag emigrierte Franz Bernheim aus Gleiwitz, veranlaßt von Georg Weissmann und Georg Wiener, dagegen Beschwerde beim Völkerbund. Die deutsche Reichsregierung mußte sich bei der Sitzung des Völkerbund-Rates über die „Bernheim-Petition“ am 30. Mai 1933 verpflichten, den Rechtszustand, wie er vor dem 30. Januar 1933 in Oberschlesien bestanden hatte, wiederherzustellen504. Damit eröffnete sich für den neugebildeten Aktionsausschuß aller Juden Oberschlesiens die Möglichkeit, aktiv auf die Beachtung der Minderheitenrechte auch gegenüber den jüdischen Oberschlesiern zu dringen505. Im September 1933 intervenierte der Ausschuß mit einer Beschwerdeliste erneut in Genf, was wieder ein gewisses Einlenken der Reichsregierung zur Folge hatte. Damit ging dann aber auch die Zuständigkeit für die oberschlesischen Minderheitenprobleme auf die Gemischte Kommission in Kattowitz über, die unter dem Vorsitz des Schweizer Politikers Felix-Louis Calonder mehr als 150 Beschwerden aus der jüdischen Minderheit zu verhandeln hatte. Dabei ging es um die nationalsozialistische Boykottpropaganda gegenüber jüdischen Firmen, die Praktizierung der Rassegesetze, das Schächtverbot, die Verweigerung staatlicher Subventionen für Wohlfahrtsunternehmen der oberschlesischen Synagogengemeinden und die Haschara, das Programm der „Landhilfe“ zur Vorbereitung der Auswanderung nach Palästina, die Praxisfreiheit von Ärzten und Rechtsanwälten, die Verdrängung von Juden aus öffentlichen Ämtern und andere antijüdische Maßnahmen. 503

Vgl. Comité de delegations juives (Hg.): Das Schwarzbuch. Tatsachen und Dokumente. Die Lage der Juden in Deutschland 1933, Paris 1933 (ND: Frankfurt/M.-Berlin 1983), S. 121 ff. Vgl. Comité de delegations juives (Hg.): La Question des Juifs allemands devant la Societé des Nation, Paris 1933. 505 Vgl. G. WEISSMANN: Die Durchsetzung des jüdischen Minderheitenrechts in Oberschlesien 19331937, in: Bulletin LBI 6 (1963), Nr. 21-24, S. 154-199. 504

426 Alle Erfolge, die hier im einzelnen erkämpft werden konnten, waren nur von vergleichsweise kurzer Dauer. Mit dem 15. Juli 1937 endete, nachdem alle Versuche, das Genfer Abkommen zu verlängern, gescheitert waren, der Minderheitenschutz für die oberschlesischen Judenheit: „Der Kampf um das jüdische Minderheitsrecht in Oberschlesien ist – geschichtlich gesehen – letzten Endes eine Episode geblieben.“506 Die unmittelbar darauf einsetzende Gleichschaltung Oberschlesiens in der nationalsozialistischen Rassenpolitik fand zwar starke internationale Beachtung, konnte aber die Entwicklung nicht mehr aufhalten507.

2. Entrechtung, Verfolgung und Vernichtung

Die nationalsozialistische antijüdische Politik von der Entrechtung über die Verfolgung bis hin zur Vernichtung vollzog sich in Schlesien, wo 1933 etwa 34.000 Juden ansässig waren, in der gleichen Weise wie im ganzen Deutschen Reich. Eingehende Regionaluntersuchungen zu dieser Endphase der Geschichte des schlesischen Judentums fehlen bis heute noch weitgehend. Die Stufen der Verfolgung lassen sich aber zumindest in Umrissen am Beispiel Breslaus verdeutlichen. Die Tagebücher von Walter Tausk508 und Willy Cohn509 geben hierfür wichtige Anhaltspunkte.

Nach der Berufung Hitlers zum Reichskanzler und den für die NSDAP so erfolgreichen Reichstagswahlen vom 5. März 1933 kam es in Breslau zunächst zu organisierten Aktionen gegen jüdische Richter und Anwälte. Am 27. März wurde das Schächtverbot verkündet. Bis zum 3. April mußten Juden ihre Auslandspässe ablie506

Ebd., S. 154. Vgl. A. WEISER: Der Schutz der jüdischen Rechte in Oberschlesien unter dem Mandat des Völkerbundes (1933-1937), in: Nowak: Emancypacja, Teil 2, ToruĔ 1992, S. 173-189; DIES.: In Oberschlesien. Ein historischer Überblick, in: P. Maser u. A. Weiser, Juden in Oberschlesien 1 (= Schriften der Stiftung Haus Oberschlesien. Landeskundliche Reihe 3.1), Berlin 1992, S. 13-63, bes. S. 48-60. 508 Vgl. W. TAUSK: Breslauer Tagebuch 1933-1940, 3. Aufl. Berlin 1984 (Neuausgabe: Berlin 1988). Der Verf. des Vorworts, R. Kincel, bemerkt zu diesem Zeitzeugenbericht einschränkend: „Nicht alle Eintragungen [ ... ] sind glaubhaft. Bittere Wahrheit steht häufig neben banalem Straßenklatsch. Aber auch wenn sich manche Meldungen und Einschätzungen nicht mit den Tatsachen decken, so besitzen sie doch eine bedeutende Aussagekraft und großen Wert, weil sie die damals in der Stadt vorherrschende Stimmung widerspiegeln und der Meinung der damaligen deutschen Bevölkerung Ausdruck verleihen.“ (S. 19). 509 Vgl. W. COHN: Als Jude in Breslau 1941, hg. v. J. Walk. Aus den Tagebüchern von Studienrat a.D. Dr. Willy Israel Cohn, Gerlingen 1984; DERS.: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Ju507

427 fern. Bereits am Nachmittag des 31. März standen die ersten „Plärrkommandos“ der SA vor jüdischen Warenhäusern und Geschäften, um auf den auch in Breslau exzeßhaft verlaufenen Boykott am 1. April einzustimmen. Zum 8. April bzw. 30. Juni wurde allen jüdischen Ärzten an den Städtischen Krankenanstalten gekündigt. Seit Mai 1933 arbeitete im Breslauer Polizeipräsidium das Judendezernat unter Leitung des Polizeirats Eile, der sich gerne „Judenschreck“ titulieren ließ. Ab Mitte November 1935 zieren rund 800 Einzelhandelsgeschäfte in Breslau Anschläge „Jüdische Vertreter nicht erwünscht“. Im Juli wurden die „Judenpässe“ eingeführt. Die arischen Dienstmädchen, die vom 1. Januar 1936 an nicht mehr in jüdischen Häusern arbeiten dürfen, legen in vielen Fällen gegen diese Maßnahme Beschwerde ein. Zu Anfang Oktober 1935 werden alle jüdischen Notare und noch amtierenden Richter zwangsbeurlaubt. In der „Polenaktion“ vom 27. Oktober 1938 wurden in Breslau etwa 3.000 Juden erfaßt und abgeschoben.

Im Zusammenhang mit der sogenannten „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 meldete SS-Oberführer Katzmann für Breslau und Niederschlesien: „Breslau - 1 Synagoge niedergebrannt, 2 Synagogen zerstört, 2 jüdische gesellschaftliche Lokale zerstört, 1 Haus der ‚Gesellschaft der Freunde’ demoliert, mindestens 500 Geschäfte demoliert, mindestens 10 jüdische Gasthäuser demoliert; mit Hilfe der Polizei wurden mindestens 600 Männer verhaftet, ungefähr 35 andere jüdische Unternehmungen wurden zerstört. 1 Synagoge in Oels niedergebrannt, 1 Synagoge in Neumarkt demoliert.“510 Zu ähnlichen Ausschreitungen kam es in ganz Schlesien, alleine in Oberschlesien wurden etwa 500 jüdische Männer in Konzentrationslager verschleppt511, vor allem nach Buchenwald. Der Jüdische Kulturbund, der zunächst verboten worden war, mußte am 24. November 1938 wieder aktiviert werdentum vor seinem Untergang (= Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 3), Köln–Weimar– Wien 1995. Zitiert nach K. JONCA: Judenverfolgung und Kirche in Schlesien, in: St. Jersch-Wenzel: Deutsche – Polen – Juden. Ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jh. (= Einzelveröffentl. der Historischen Kommission zu Berlin 58) Berlin 1987, S. 211-227, bes. S. 217 (dort auch die wenigen polnischen Untersuchungen zum Thema, S. 226 f.). 511 Ebd. S. 218. Nach H. STEIN: Juden in Buchenwald 1937-1942, Gedenkstätte Buchenwald 1992, S. 42, wurden nach der „Reichskristallnacht“ aus Breslau 2.471 und aus Oppeln 703 Juden in Buchenwald eingeliefert. Damit wurde die Zahl der Breslauer Juden in Buchenwald nur noch geringfügig von der der Frankfurter (2.621) übertroffen. In den Zahlen für die Großstädte, die Sitz von GestapoZentralen waren, wurden auch die Juden umliegender kleinerer Ortschaften erfaßt. Das dürfte auch für Breslau und Oppeln zutreffen. 510

428 den, bevor er dann im September 1941 endgültig aufgelöst wurde. Am 16. Dezember 1938 starb im Jüdischen Krankenhaus der bekannte Breslauer Architekt Heinrich Tischler an den Buchenwalder Haftfolgen. In der zweiten Jahreshälfte 1939 wurden in Breslau die „Judenbänke“ eingeführt, ein Ausgehverbot für Juden ab 20 Uhr verhängt und der Einkauf durch Juden nur noch bei bestimmten Händlern gestattet. Zwischen dem September und Dezember 1939 wurde das Jüdische Krankenhaus zuerst teilweise geschlossen und dann zusammen mit Siechenhaus und Altersheim restlos „evakuiert“. Am Hohen Feiertag des Jom Kippur am 22. September 1939 waren alle Gottesdienste verboten, bis auf einen Jugendgottesdienst in der „Rhediger-Schule“ und einen Gottesdienst für die Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde im Gemeindehaus in der Wallstraße. Zwischen September und November 1939 beschlagnahmte die Gestapo zunächst die Kleider- und dann auch die Lebensmittelkammer des Wohlfahrtsamtes der Jüdischen Gemeinde.

Im Juni 1941 weilte Leo Baeck in Breslau und sagte in einer synagogalen Feierstunde: „Früher hatten wir viel Sicherheit und wenig Gewißheit, jetzt haben wir die Gewißheit und wenig Sicherheit.“512 Im Sommer 1941 tauchten erste Gerüchte über eine Evakuierung der Breslauer Juden in das Generalgouvernement auf. Zunächst aber kam es zu kleineren Aussiedlungsaktionen im Juli/August 1941, vor allem nach Tormersdorf bei Görlitz, die dazu dienten, jüdische Wohnungen für andere Zwecke freizumachen. Am 28. August 1941 vollführten Angehörige der Hitlerjugend einen Überfall auf das Jüdische Gemeindehaus. Seit dem 19. September 1941 muß in Breslau der Judenstern getragen werden: „Das Publikum hat sich durchaus tadellos benommen.“513 Im Oktober und November 1941 finden größere Aussiedlungsaktionen nach Grüssau, Landeshut und Riebnig/Kreis Brieg statt. Nach der Schließung des Jüdisch-Theologischen Seminars Fraenckelscher Stiftung dient das Gebäude in der Wallstraße als jüdisches Altersheim. Es folgten bis in das Jahr 1942 hinein alle jene Verbote, die der legalen Existenz von Juden in der „deutschen Volksgemeinschaft“ ein Ende setzten514. 512

Vgl. COHN, Jude in Breslau, S. 70. Ebd., S. 99. Ebd., S. 123-128: „Jüdisches Leben in der Provinz Schlesien und in Breslau 1940/41“. Vgl. auch K. JONCA: Schlesiens Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft 1933-1945, in: F.-C. Schultze-

513 514

429 Aus Breslau wurden bis zum Sommer 1942 rund 2.800 Juden nach Theresienstadt und von da aus meist weiter in die Vernichtungslager deportiert. Nur etwa 200 von ihnen haben den Krieg überlebt515. Ähnliche Dimensionen erreichte das nationalsozialistische Vernichtungswerk in ganz Schlesien: „Es ist nicht festzustellen, wieviel Juden in Schlesien den Krieg überlebten. Eins steht unzweifelhaft fest, daß es nur ein Häuflein von Menschen war, das aller Menschenrechte beraubt überleben konnte. Die Gestapo setzte noch während der Belagerung der ‚Festung Breslau’ bis zum 6. Mai 1945 die Judenverfolgung fort. Im März 1945 plante sie, alle Juden, die bisher der Deportation entgangen waren, auf ein beschädigtes Schiff zu laden und in der Nähe des Oderhafens zu versenken.“516

In der Shoah kamen aus Schlesien u. a. die Rabbiner Bernhard Hamburger, Altglogauer Schul Breslau (1875-1941 Auschwitz), Reinhold Lewin, seit 1938 in Breslau (geb.

1888),

Ison

(Israel)

Scheftelowitz,

seit

1920

Aufsichtsbeamter

des

Kaschruthwesens und dann Rabbiner in Breslau (geb. 1878, deportiert 1942), Herbert Bileski, seit Anfang 1939 Rabbiner in Beuthen (geb. 1909, vermutlich 1942 deportiert), Adalbert Saretzki, ab 1942 Rabbiner in Gleiwitz (geb. 1911, nach Auschwitz deportiert), Julius Lewkowitz, Rabbiner der Synagoge Levetzowstraße in Berlin (geb. 1876 in Georgenberg/OS, deportiert im März 1943), Saul Kaatz, Rabbiner in Hindenburg (geb. 1870, deportiert im Sommer 1942) und Joseph Norden, bis 1907 Rabbiner in Myslowitz, dann in Hamburg (geb. 1870, gest. 7. Febr. 1943 in Theresienstadt) um. Das Gedenkbuch „Bewährung im Untergang“ des Council of Jews from Germany in London verzeichnet darüber hinaus als Opfer zahlreiche Mitglieder und Vorsitzende der Vorstände jüdischer Gemeinden sowie überregional tätige Funktionäre der jüdi-

Rhonhof. Geschichte der Juden in Schlesien im 19. und 20. Jh., Hannover 1991, S. 55-65 (Lit.); E POàOMSKI: Die „Arisierung“ des jüdischen Vermögens in Schlesien 1933-1945, in: ebd. S. 67-74. Die Zahlenangaben, hier nach BRILLING, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens, S. 43, geben allenfalls Annäherungswerte an. 516 JONCA: Judenverfolgung und Kirche, S. 226. Vgl. auch F POàOMSKI: Deportacje Īydów z Dolnego ĝląska w latach 1941-1944. Próba rekonstrukcij, in: Z dziejów ludnoĞci Īydowskiej na ĝląsku, Wrocáaw 1991, S. 83-119. – Zur Judenverfolgung und zum jüdischen Widerstand in PolnischOstoberschlesien, das im September 1939 nach der Besetzung durch die Wehrmacht ins Deutsche Reich eingegliedert wurde, vgl. A. LUSTIGER: Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945, Köln 1994, S. 143-160. 515

430 schen Hilfsvereinigungen, die zumeist unter dem Einsatz der letzten Kräfte das Los ihrer Leidensgenossen zu mildern versuchten517.

3. Juden in Schlesien nach dem Kriegsende 1945

Nach dem Ende des Krieges lebten in Schlesien, abgesehen von einigen Ausnahmefällen, nur noch solche Juden, die durch „privilegierte Mischehen“ geschützt worden waren. In Breslau gehörten im Juni 1945 etwa 2.000 Juden dem Jüdischen Komitee an, von denen 200 als polnische Juden bezeichnet wurden518. Das Verhältnis beider Gruppen war schlecht, zu Unterschieden kultureller und ritueller Art kam auch der nationale Gegensatz. Die Breslauer Juden mußten das besonders tragische Schicksal erleiden, zunächst von den Nationalsozialisten aufgrund ihrer „Rasse“ brutal verfolgt, nach Kriegsende dann von den zuwandernden Polen, auch von den polnischen Juden, als Deutsche diskriminiert zu werden519. Ein zeitgenössischer Bericht charakterisierte die Lage mit den Worten: „Es blieb also weiter nichts übrig als erneute Auswanderung. [ ... ] Das war das Los der deutschen Juden und Antifaschisten, die aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zurückkamen – unter der polnischen Verwaltung, von Rußland geduldet.“520

Durch die Zuwanderung polnischer und russischer Juden nach Schlesien stieg die Zahl der jüdischen Bevölkerung Schlesiens bis in die Mitte der 60er Jahre wieder auf etwa 52.000, von denen rund 10.000 in Breslau lebten. 1967, nach dem Sechs-TageKrieg, verließ der ganz überwiegende Teil von ihnen Schlesien und die Volksrepublik Polen. Zurück blieben die größtenteils unzerstörten Friedhöfe521, die jedoch in vielen Fällen durch mangelnde Pflege oft bis zur Unkenntlichkeit verändert wurden, einige 517

Vgl. E. G. LOWENTHAL (Hg.): Bewährung im Untergang. Ein Gedenkbuch. Im Auftrag des Council of Jews from Germany, London-Stuttgart 1965. Vgl. M. ORDYLOWSI: ĩycie codzienne we Wrocáawiu 1945-1948, Wrocáaw 1991, S. 35. 519 Vgl. J. ROGALL: Die Deutschen in Breslau von der Kapitulation bis Ende 1945, in: Beiträge zur deutsch-polnischen Nachbarschaft. FS für Richard Breyer, hrsg. v. C. J. Kendz u. a., Berlin-Bonn 1992, S. 138-151, bes. S. 143. 520 Bericht des ehemaligen Bezirksbürgermeisters H. aus Breslau 1946, in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, hrsg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Bd. 1/2, München 1984 (Erstdruck 1954), S. 327-336, bes. S. 333. 521 Vgl. dazu das wichtige Nachschlagewerk von P. BURCHARD: Pamiatki i Zabytki Kultury ĩydowskiej w Polsce, Warszawa 1990. – Zum Breslauer jüdischen Friedhof vgl. M. àAGIEWSKI: Der alte jüdische Friedhof in Wrocáaw/Breslau, hrsg. vom Architektur-Museum in Wrocáaw, [Bonn] 1988. 518

431 wenige Synagogen und das Archiv der Jüdischen Gemeinde Breslau, das sich seit 1947 in der Obhut des Jüdisch-Historischen Instituts in Warschau befindet. Die wenigen heute noch in Schlesien lebenden Juden stammen zumeist aus den ostpolnischen Gebieten. Ihre kleinen Gemeinden sind, trotz mancher Bemühungen auch des ausländischen Judentums, vom Aussterben bedroht.

433 Heinrich Graetz (2006)

Hirsch Heinrich Graetz, der bedeutendste jüdische Historiker des 19. Jh.s, wird zwar bis heute oft genug noch mit hohem Respekt genannt, ist aber tatsächlich weithin vergessen. Die hier vorgelegte Untersuchung vermag deshalb nur erste Umrisse nachzuzeichnen und Aufgaben für künftige Forschungen zu benennen. In einem ersten Teil wird die Biographie des Breslauer Gelehrten beschrieben. Der zweite Teil soll das wissenschaftliche und geistige Umfeld näher charakterisieren, das Heinrich Graetz prägte, aber auch durch ihn auf entscheidende Weise geformt wurde. Der dritte Teil schließlich notiert einige Beobachtungen zum Hauptwerk von Heinrich Graetz, seiner berühmten „Geschichte der Juden. Von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ (GdJ), die in 11 Bänden bzw. 13 Teilen von 1853 bis 1878 erschien und deren Ausgabe letzter Hand 1890 bis 1909 im Leipziger Verlag Oskar Leiner vorgelegt wurde. Ein kompletter Nachdruck dieser Ausgabe erschien 1998 im Arani-Verlag Berlin. Seit 2002 liegt eine elektronische Fassung der „Geschichte der Juden“ vor, die ganz neue Recherchemöglichkeiten eröffnet1. A) Heinrich Graetz: Biographie bis 18532

Über sein Leben und seine wissenschaftliche Karriere hat Heinrich Graetz selber die besten Auskünfte erteilt. Seine Tagebücher, die den Zeitraum von 1833 bis 1856 abdecken, und seine Briefe aus den Jahren 1843 bis 1891, deren systematische Auswertung noch aussteht3, spiegeln nicht nur die Persönlichkeit des Breslauer Gelehr1

Vgl. H. GRAETZ: Geschichte der Juden (elektron. Fassung), Berlin: Directmedia Publishing GmbH 2002 = Digitale Bibliothek, ISBN 3-89853-144-9. 2 Vgl. zusammenfassend PH. BLOCH: Heinrich Graetz. Ein Lebensbild, in: MGWJ 48, 1904, S. 33-42. 87-97. 161-177. 224-241. 300-315. 346-360. E.J. COHN: Heinrich Graetz, in: G. KISCH (HG.), Das Breslauer Seminar: Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenckelscher Stiftung) in Breslau 1854-1938. Gedächtnisschrift, Tübingen 1963, S. 187-203 (zuerst gedruckt in JSFUB 5, 1960, S. 220-234), F. PRIEBATSCH: Heinrich Graetz, in: Schlesische Lebensbilder 2, Breslau 1926 (ND: Sigmaringen 1985), S. 286-290, und P. MASER. Graetz; Heinrich (Hirsch), in: Ostdeutsche Gedenktage 1991, Bonn 1990, S. 165-169.Viel interessantes Material zu den Breslauer Verhältnissen in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s findet sich auch in H. GRAETZ: Tagebuch und Briefe, hg. von R. Michael = Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 34, Tübingen 1977. Graetz’ „Volktümliche Geschichte der Juden“, die über Jahrzehnte hinweg ein wahres Hausbuch des deutschen Judentums war, wurde 1985 in einem sechsbändigen Reprint nach der Ausgabe Berlin-Wien 1923 vom Deutschen Taschenbuch Verlag München erneut zugänglich gemacht. 3 Die von R. Michael besorgte, sehr verdienstvolle Ausgabe von GRAETZ, Tagebuch und Briefe, weist in ihrer Kommentierung bedauerlicherweise so manche Lücke auf.

434 ten auf höchst anschauliche Weise wider, sondern vermitteln auch einen Eindruck von der Weite der persönlichen Kontakte und Interessen, die er pflegte. Aus den Akten des Breslauer Seminars hat Markus Brann darüber hinaus die kurzen „Aufzeichnungen des Dr. Graetz über seinen Lebensgang“, die dieser am 16. Dez. 1853 in Berlin im Zusammenhang seiner Berufung nach Breslau niedergeschrieben hatte, veröffentlicht4.

Hirsch Graetz, der sich später Heinrich nannte, wurde am 31. Okt. 1817, dem 21. Marcheschwan 5578 jüdischer Zeitrechnung, in Xions, auch als Kschonz bekannt5, im damaligen preußischen Großherzogtum Polen geboren. Die Familie dürfte aus dem nahegelegenen Grätz (Grodzik) stammen, wo damals etwa die Hälfte der Einwohner Juden waren. Heinrich Graetz entstammt also jener neuen preußischen Provinz, deren jüdischer Anteil damals etwa 6 % der Bevölkerung und damit „mehr als ein Drittel der preußischen Juden“6 ausmachte. In diesem Judentum war die Tradition rabbinischer und talmudischer Gelehrsamkeit noch weithin ungebrochen. Mit der Abwanderung der Juden aus der Provinz Posen, die den jüdischen Bevölkerungsanteil bis 1910 auf knapp 1,3 % herabdrückte, wurden die Traditionen des Posener Judentums im 19. Jh. nach ganz Deutschland, vor allem aber nach Berlin, verpflanzt. Der Anteil der Posener Juden an der Entwicklung der Wissenschaft des Judentums (Graetz, Ismar Elbogen, Julius Fürst, Leo Baeck u.a.), der Reform des synagogalen Gottesdienstes (Louis Lewandowski), am Neubau des jüdischen Gemeindelebens und an der allgemeinen Kultur (Eduard Lasker, Maximilian Harden, Lesser Ury, Rudolf Mosse, die Brüder Schocken und Oskar Tietz) ist kaum zu überschätzen7.

4

M. BRANN (HG.): Heinrich Graetz. Abhandlungen zu seinem 100. Geburtstag (31. Oktober 1917, Berlin-Wien 1917, S. 23-26. Ebd., S. 1-22, ein Lebensbild von Graetz aus der Feder seines Schülers Brann, der zwar die Tagebücher des Meisters kannte, aber nur die wenigsten seiner Briefe, deren Kenntnis es heute gestattet, oft präzisere Angaben zu machen. 5 Vgl. H. WUTTKE, Städtebuch des Landes Posen, Leipzig 1877, S. 350f. 6 Vgl. M. BRANN: Heinrich Graetz, in: DERS., Heinrich Graetz, S. 1-22, bes. S. 2. 7 Vgl. J. JACOBSON: Art. Posen, in: Jüdisches Lexikon, Bd. 4/1, Berlin 1927 (ND: 1982), Sp. 10541065 (Lit.); D. AVRON: Art. Poznan, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 13, Jerusalem o.J., Sp. 946-951 (Lit.); ST. JERSCH-WENZEL: Zur Geschichte der jüdischen Bevölkerung in der Provinz Posen im 19. Jh., in: G. Rhode (Hg.), Juden in Ostmitteleuropa von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg = Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 3, Marburg 1989, S. 73-84.

435 Die Eltern von Graetz, Jacob und Vogel, geb. Hirsch, aus Wollstein, betrieben einen „unbedeutenden Fleischereibetrieb“, den sie um 1820 nach Zerkow verlagerten, wo es eine jüdische Gemeinde von rund 100 Personen gab. Von dort aus ging Graetz 1831 nach Wollstein zu den mütterlichen Verwandten. Das Städtchen, das eigentlich nur durch Robert Koch bekannt geworden ist, der dort als Kreisphysikus seine bahnbrechenden bakteriologischen Entdeckungen begann, hatte damals rund 2300 Einwohner, von denen etwa 850 Juden waren. An der Wollsteiner Jeschiwa (Talmudschule) lehrte der Rabbiner Samwel (Samuel) Munk, von dem gesagt wurde, er könne sogar deutsch lesen und schreiben8. Das war insofern wichtig, als der junge Bachur (Schüler) unter solcher Anleitung sich nicht nur gründliche talmudische Kenntnisse aneignen, sondern auch die keineswegs selbstverständliche Möglichkeit nutzen konnte, sich eine – zunächst noch kaum geordnete – profane nichtjüdische Bildung, darunter auch Latein und Französisch, anzueignen. 1834 – nach der Rückkehr nach Zerkow – beschrieb Graetz seinen damaligen Entwicklungsstand in seinem Tagebuch selbstkritisch genug: „Ich war religiös und zugleich leicht und freigeistig, ohne Grund schwärmerisch, und so waren alle Produkte meiner Feder so phantastisch, ob mir gleich die Realität viel zu schaffen machte.“9

1836 veröffentlichte der Oldenburger Landrabbiner Samson (Ben) Raphael Hirsch (1808-1888) seine berühmten „Neunzehn Briefe über das Judentum“ unter dem Pseudonym Ben Usiel. Darin und noch deutlicher dann in der Programmschrift „Choreb oder Versuche über Jissroels Pflichten in der Zerstreuung“ von 1837 vertrat der Begründer und das geistige Oberhaupt der Neo-Orthodoxie in Deutschland die Auffassung: „Die Reform, deren das Judentum bedarf, ist eine Erziehung der Zeit zur Thora, nicht eine Nivellierung der Thora nach der Zeit.“10 Der junge Graetz entdeckte 8

Zur Biographie vgl. neben der Skizze von M. Brann vor allem PH. BLOCH. Biographie des Dr. H. Graetz, in: H. Graetz, Geschichte der Juden, Bd. 1, 2. Aufl., Leipzig (1901), S. 1-72. Die Belege aus diesen Arbeiten werden nicht im einzelnen angegeben, sondern nur die aus den Tagebüchern und Briefen detailliert nachgewiesen. 9 GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 5 (1834). Die Tagebücher sind durchweg in flüssigem Deutsch niedergeschrieben worden, allerdings finden sich häufig hebräische Zitate und Redensarten eingestreut. Der junge Graetz hat immer wieder auch seine Tagebuch zu Sprachübungen benutzt und vor allem die Datumsangaben in verschiedenen Sprachen notiert. 10 Vgl. M. JOSEPH: Art. Hirsch, S.R., in: Jüdisches Lexikon, Bd. 2, Sp. 1621f.; S. KATZ: Art. Hirsch, S.R., in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 8, Sp. 508-515 (Lit.); I. GRUNFELD: Three Generations, The Influence of Samson Raphael Hirsch on Jewish Life and Thought, 1958 (Bibl.).

436 die „Neunzehn Briefe“ Hirschs wohl sehr bald nach deren Erscheinen und wurde durch sie zu einer traditionellen Auffassung vom Judentums zurückgeführt: „Mit gierigen Blicken sog ich die Sätze darin ein, und so abtrünnig ich dem Talmud vorher gewesen, so söhnte dieses Buch mich mit ihm aus, und ich kehrte zu ihm wie zu einer untreu gehaltenen, aber treu gefundenen Geliebten zurück, nahm mir vor, ihn womöglich zu ergründen, ihn philosophisch zu lernen, und, da mir viele weis machten, ich könne ein sogenannter studirter Rabbiner werden, dessen Wahrheit und Nützlichkeit allen zu zeigen.“11 Nach einem mißglückten Versuch, seine Studien in Prag fortzusetzen, wurde Graetz von einem Freund dazu ermutigt, bei Hirsch in Oldenburg anzufragen, ob ihm gestattet werden könnte, „in seiner Nähe die Lehrjahre des ächten Judenthums zuzubringen“12. Bereits zehn Tage später kam die zustimmende Antwort des „göttlichen Mannes“, „idolirten Rabbiners“ und „Wiederbringers des Geistes an das lange entgeisterte und verunstaltete Judenthum“13, so daß sich Graetz am 3. April 1837 auf die Reise nach Oldenburg über Berlin und Leipzig machen konnte. Im Tagebuch dieser Reise wurden typische Eindrücke festgehalten: Über Potsdam heißt es z.B. nur kurz, es „machte weiter keinen Eindruck auf mich, weil ich schon an den Anblick großer Städte gewöhnt bin“14. Wittenberg taucht als der „schöne Ort“ auf, „wo Luther auf dem Markte müßig steht, wie er im Leben müßig war, als viel zu thun war“15. In Leipzig erlebt Graetz die Messe und die Einweihung der Eisenbahnstrecke nach Halle („und die Schnelligkeit war so groß, daß man die Augen schließen mußte“16). In Neustadt am Rübenberg liest er „zum ersten male das neue Testament: Trotz der vielen [...] Widersprüche sprach mich die Sanftmuth in Christi Charakter an [...].“17 Am 8. Mai 1837 trifft Graetz dann in Oldenburg ein, wo Hirsch ihn bereitwillig in seinem Haus aufnimmt.

11

GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 15 (1835/36). Vgl. ebd., S. 22. Der Brief von Graetz an Hirsch vom 16. Dez. 1836 ebd., S. 22-24. Vgl. ebd., S. 26 (Brief Hirschs vom 26. Dez. 1836) und S. 27f. (Antwortbrief von Graetz an Hirsch vom 16. Jan. 1837). 14 Vgl. Ebd., S. 39 (17. April 1937). 15 Ebd. 16 Ebd., S. 42f. 17 Ebd., S. 46. In der Ausgabe von R. Michael ist der „Rübenberg“, an dem Neustadt gelegen ist, als „Rabenberg“ verlesen worden. 12 13

437 Graetz genoß im Hause des Oldenburger Landrabbiners die Stellung eines Privatschülers, der jeden Vormittag mit dem Meister Talmud und am späteren Nachmittag die Psalmen18 „lernen“ darf, aber auch zu allerhand Korrekturarbeiten und ähnlichen Hilfsdiensten herangezogen wird. Graetz teilte damals noch vollständig den orthodox-konservativen Standpunkt Hirschs, bewunderte ihn wegen seiner religiösen Prinzipienfestigkeit, die ihn beispielsweise dazu veranlaßte, anstößige Seiten aus Heinrich Heines jüngst erschienenem Traktat „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ herauszuschneiden19. Im Sommer 1838 notierte der gerade zwanzigjährige Graetz: „Bei keiner Klasse hat die Kontagie der Hohen Aufklärung so sehr geschadet, wie bei den Töchtern der jüdischen Krösusse. Sie, die von Natur schon mit einer Dosis Stolz begabt sind, finden bei diesem Verhältnis noch mehr Vorschub. Als Mädchen lassen sie die Väter aus der religiös-indifferenten Zeit alles ohne Ausnahme lernen, womit sie einst prangen können, weil die Väter selbst ohne Lebens-Grundsätze sind. Sind sie einmal Mamsels, dann greifen sie zum Schiller, der ein Liebling der jüdischen Damen geworden ist, wie einst Aristoteles der hispanisch-maurischen Jehudim. Schiller stellt ihnen nur auf ein rosafarbiges Romanleben, und dies wollen die Dämchen in ihrem Kreis wiederfinden, darum blicken sie hoffärtig und verächtlich auf jede nichtschillersche Situation und die mizwot [= religiöse Gebote und deren Erfüllung] der getreuen Töchter von Palästina müssen vor den Schöpfungen heimischer Anschauungen weichen.“ Und in diesem Stil geht es dann noch so über manche Zeile weiter20.

Im Frühjahr 1840 verfällt auch Hirsch selber einer scharfen Kritik im Tagebuch von Graetz, die – über ihren aktuellen Anlaß hinaus – anzeigt, wo Graetz sich inzwischen von dem ja nur gut zehn Jahre Älteren abzugrenzen beginnt: „Er [S.R. Hirsch] macht 18

Als H. GRAETZ 1882/83 in Breslau seinen zweibändigen „Kritischen Commentar zu den Psalmen nebst Text und Uebersetzung“ erscheinen läßt, erwähnt er diese erste Bekanntschaft mit dem Psalmenbuch, die dann allerdings auch bereits fast 50 Jahre zurückliegt, mit keinem Wort mehr. Nun erklärt Graetz: „Die strenge Textkritik ist eine Lebensfrage für Religion und Sittlichkeit. Die bisher nur schüchtern und tastend angewandte positive Kritik kann allein die Würde der Heiligen Schrift wiederherstellen und sie Einfluß auf das moderne Geschlecht gewinnen lassen.“ (a.a.O., Bd. 1, S. XI) Bei Hirsch hatte er es anders gelernt, der eine wissenschaftliche Kritik an den „religiösen Urkunden” nicht zulassen wollte und auch den Talmud als ganz auf Offenbarung beruhend und deshalb unantastbar betrachtete. 19 Vgl. GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 49 (28. Mai 1837). 20 Ebd., S. 62f. (26. Aug. 1838).

438 sich hier lächerlich; die Leute von Oldenburg wollen ihn weder anerkennen noch seinen Schabbatpredigten zuhören; da ist niemand, mit dem er sich aussprechen oder Gedanken tauschen könnte; so sitzt er über den Folianten Tag und Nacht wie ein weltfremder, polnischer Gelehrter. Dazu kommt noch, daß man in seiner ganzen Umgebung die Lehre übertritt, während seine Kinder und sein Haus das mitansehen und noch davon lernen werden.“21

Die Spannungen zwischen Graetz und Hirsch wuchsen in den folgenden Wochen weiter, so daß am 26. Juni 1840 der Scheidebrief geschrieben wurde22. Der Abschied einen Monat später war – im Gegensatz zu allem, was in der älteren Graetz-Literatur zu lesen ist – außerordentlich kühl. Graetz notierte: „Beim Abschied küßte er mich, Ben Usiel [= Hirsch] mich küssen – diese Phrase würde in Posen wie ein Mirakel klingen, mir ist es nicht viel werth – ne sois pas ingrat!“23

Die folgenden Jahre waren für Graetz außerordentlich schwierig. Für eine herkömmliche jüdische Laufbahn war er durch die bei Hirsch erworbene Allgemeinbildung praktisch nicht mehr zu gebrauchen. Eine Hauslehrerstelle in Ostrowo, wo das alte jüdische Schtetl noch weitgehend intakt war, konnte nur eine Notlösung sein. Neben finanziellen Sorgen drücken den jungen Mann auch die Kümmernisse unerwiderter Liebe. Das Tagebuch zu jener Zeit notiert Niederlage auf Niederlage und die niedergedrückte Stimmung seines Verfassers: „Ein Tag nach dem anderen schwindet hin, und mir zeigt sich keine Spur einer Veränderung; keine Bekannten hier, keine Freunde auswärts, nichts Angenehmes von den Meinigen, nichts Erfreuliches von Innen, so schleiche ich im Leben hin.“24 Erst der Wechsel nach Breslau, um dort die Universität zu besuchen, bewirkt allmählich eine Veränderung der Situation. Die Vorlesungen, die Graetz zunächst als Gast hört, bis er nach längeren Bemühungen endlich

21

Ebd., S. 72 (1. Mai 1840). Der Text ist übrigens der einzige rein hebräisch niedergeschriebene in den Graetz-Tagebüchern, sicherlich eine Vorsichtsmaßnahme gegenüber der Neugierde von Hirschs Frau, die in der gleichen Eintragung als „verfluchtes Weib“ bezeichnet wird und auch sonst Graetz gründlich verhaßt war, vgl. S. 78. 22 Vgl. ebd., S. 80: „Ich habe es hebräisch geschrieben, daß sie [= Hirschs Frau] mit ihren frivolen Augen es nicht bald zu Gesicht bekäme.“ 23 Ebd., S. 82. 24 Ebd., S. 101 (19.1.1841).

439 die behördliche Genehmigung zur Immatrikulation erhält25, können ihn jedoch kaum beeindrucken26, so daß zunächst die alten Verstimmungen wieder hervortreten: „Welch ein kolossaler Misthaufen von Gedankenlosigkeit liegt zwischen beiden Nummern [der Tagebuchhefte]. Ein ganzer lauer Winter mit lauen Empfindungen, ein verkümmerter Frühling, ein von Sorgen und Indifferenz versengter viertel Sommer – eine Art Eunuchennatur hat mich ergriffen, ich fasse alles nur mit schlaffen Fingern an. – Keine Leidenschaft – keine Liebe, kein Haß, nur eine Grumetärnte [?] alten Hochwuchs ist zurückgeblieben! Sind es die Jahre, die weiser machen und unglücklicher?“27

Auch wenn Graetz sich dieser Umstände kaum selber bewußt gewesen sein dürfte, so spiegelt sich doch in seiner Situation die der Emanzipationsepoche überhaupt wider. Noch ist nicht entschieden, ob die klassisch-jüdische, also talmudische Bildung, weiterhin eine Existenz zu begründen vermag. Unsicher bleibt aber auch, welche Möglichkeiten sich ansonsten für Juden eröffnen könnten, die Taufe und Assimilation als „Entrébillett zur europäischen Kultur“ ablehnen. Die Alternativen jüdischer Existenzmöglichkeiten verkörperten sich im Breslau der damaligen Zeit in zwei überragenden Persönlichkeiten, die Graetz beide kennenlernte, ohne sich einer von ihnen tatsächlich anzuschließen. Rabbiner Salomo Tiktin (1791-1843), dessen Vater und Großvater schon zu den Leuchten der jüdischen Gelehrsamkeit in Schlesien gehört hatten, vertrat die traditionellen Kräfte28, während Abraham Geiger (1810-1874) als zweiter Rabbiner neben Tiktin einen strikten Reformkurs verfolgte, der ihn später an die Spitze der jüdischen Reformbewegung in Deutschland bringen sollte29. Auf Graetz haben sie beide keinen tieferen Eindruck mehr gemacht30. Mit einem anonym erschienenen Aufsatz über die „Rabbinatswirren“ in Breslau, also die Auseinandersetzungen zwischen den Konservativen um Tiktin und den Reformern um Geiger31,

25

Vgl. ebd., S. 123. Vgl. ebd., S. 124ff. (ab 13.11.1842). Ebd., S. 126 (7.6.1843). 28 Vgl. ED.: Art. Tiktin, rabbinical family, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 15, Sp. 1140f. 29 Vgl. JACOB S. LEVINGER: Art. Geiger, Abraham, in: Encyclopaedia Judaica, Bd. 7, Sp. 357-359. 30 Vgl. GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 120 (4.7.1842). 31 Vgl. A. GOTZMANN: Der Geiger-Tiktin-Streit. Trennungskrise und Publizität, in: M. Hettling, A. Reinke, N. Conrads (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit = Studien zur jüdischen Geschichte 9, Hamburg 2003, S. 81-98 und 213-226. 26 27

440 der im „Orient“ 1844 erschien32, beginnt Graetz jene Laufbahn, die mit ihm zusammen und auch nach ihm noch vielen Juden zum bürgerlichen Aufstieg verhelfen sollte. Im publizistischen Bereich sind ja trotz oft drückender Zensurbestimmungen die Regeln nicht so festgeschrieben wie bei Beamten oder Handwerkern, vom Militär gar nicht zu reden. Hier können sich Juden einigermaßen ungehindert und auf vielfältige Weise betätigen, bleiben doch die Grenzen zwischen einem rein politischen Journal, einem erbaulichen Gemeindeblatt oder einem Jahrbuch für die ganze Familie fließend.

Mit Hilfe seiner Artikel gelingt es Graetz recht schnell, in Breslau und ganz Schlesien bekannt zu werden, zumal er sich mit scharfer polemischer Feder immer wieder in die Fehde zwischen den Traditionalisten und Geiger einschaltet. Bereits damals ist sich Graetz seiner „unverwüstlichen Anhänglichkeit an dem göttlichen und geoffenbarten Judenthum gegenüber dem leeren Deismus oder gar der Vergötterung des anthropos“ sicher, welche er in Geiger verkörpert sieht33. Seine ausführliche Kritik an Geigers „Lehrbuch zur Sprache der Mischna“, das 1844 zu erscheinen beginnt, bringt Graetz vielfache Beachtung in jüdischen Kreisen ein, vor allem aber die Einladung Zacharias Frankels, an dessen „Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums“ mitzuwirken. Graetz hat selber mit instinktiver Sicherheit erkannt, welche bedeutsame Verbindung sich damit für ihn anbahnte, konnte hier doch „das Judenthum mit meinem Ehrgeiz Hand in Hand gehen“34, wie es im Tagebuch heißt. Die orthodoxen Kreise fordern Graetz auf, eine konservative Religionsschule als Gegengründung gegen eine Anstalt im Reformgeist Geigers ins Leben zu rufen. Um eine solche Schule leiten zu können, ist allerdings der Besitz eines akademischen Grades unerläßlich. Graetz verfaßt darauf die Dissertation „Über den Einfluß und die Bedeutung, die die Gnosis im Judenthum hatte“35, mit der er im April 1845 in Jena promoviert wird. Diese Studie zeigt bereits einige der typischen Merkmale des späteren Graetz. Persönliche jüdische Frömmigkeit verbindet sich auf unlösbare Weise mit umfassenden Kenntnissen der einschlägigen Texte und einem klaren Methodenbe32

Vgl. GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 131 (29.2.1844). Vgl. ebd., S. 135 (28.8.1844). Ebd., S. 139 (19.1.1845). 35 Vgl. ebd., S. 140f. (9. bzw. 20.3.1845). 33 34

441 wußtsein, das es Graetz ermöglicht, auch einige beachtliche Vorschläge zur Deutung des ältesten kabbalistischen Literaturdenkmals, des Sefer Jezira („Buch der Schöpfung“), zu unterbreiten. Die Buchausgabe der Dissertation erscheint dann 1846 bei B.L. Monasch in Krotoschin unter dem Titel „Gnostizismus und Judentum“36. Bei dieser Gelegenheit lernt Graetz seine spätere Frau, Marie Monasch, kennen, „ein junges, frischblütiges, bildbares Mädchen, nicht ohne Reize u. Mutterwitz, von zarter Aufmerksamkeit für mich“37.

Bereits im Dezember 1844 hatte Graetz davon gehört, daß er für die Rabbinerstelle im oberschlesischen Gleiwitz, „damals der zweiten und wohlhabendsten Gemeinde in Schlesien“38, in Aussicht genommen worden sei39, es dauerte dann aber doch noch ein gutes dreiviertel Jahr, bis im Oktober 1846 die Probepredigt fällig wird. Über seine Eignung für das Rabbinat gab sich Graetz keinerlei Illusionen hin: „Unter allen Ämtern ist das Rabbinat am wenigsten für mich geschaffen, mir fehlt auf allen Seiten jene Macht der Erscheinung des imponirenden Auftretens, auch ist mein Wissen höchst mangelhaft, aber mein Wille ist stark, energisch, wenn Gott mit einem solchem Werkzeug gedient ist, dann stehe ich da mit Leib u. Seele, aber das Predigen. Prrrr!40 Die Vorahnung hatte Graetz nicht getrogen: „O was litt ich 14 Tage mit dem Predigen, ich hatte ja für nichts weiter Sinn! Und endlich, als der Abend anrückt, als das Publikum wie Maulaffen dastand, da konnte ich kein Wort herausbringen, ich hatte das Memorandum vergessen u. bleib stecken. O welch ein Schmerz, u. von diesem hängt nicht nur meine ganze Zukunft ab, sondern auch die meiner Marichen. Die Eltern, Verwandte, Freunde sehen mit Spannung auf mich hin, u. ich mußte die Kanzel beschämt, den Tod, die Verzweiflung im Busen, verlassen.“41 36

Das erste richtige Buch, das Graetz in die Öffentlichkeit gebracht hat, erscheint in der noch immer grundlegenden Graetz-Bibliographie bei BRANN, Heinrich Graetz. Abhandlungen, S. 124-171, als Nr. 27. 37 Vgl. GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 142 (20.3.1845). 38 BRANN, Heinrich Graetz, S. 13. 39 Vgl. GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 138ff. 40 Ebd., S. 154 (6.10.1846). 41 Ebd., S. 154 (11.10.1846). Zu Graetz als Rhetoriker bemerkt BLOCH, Biographie, S. 29, aus eigenem Erleben: „Es war nicht gerade die äußere Erscheinung, die ihm im Wege stand, denn er war von kräftiger, untersetzter, guter Mittelgestalt, aber es fehlte seiner Stimme bei lautem Ansatz die Modulation und Vortragsweise, vor allem gebrach es ihm an Fähigkeit zu irgend welcher Posierung, in seinem Wesen lag auch nicht die leiseste Spur von dem Komödianten, der, wie Goethe sagt, ‚einen Pfarrer könnt’ lehren’.“

442 Für Graetz beginnt damit eine Phase tiefer Depressionen. Die orthodoxe Schule in Breslau kommt ebenso wenig zustande wie die Landes-Rabbinerschule im mährischen Nikolsburg. Erst 1850 gelingt es Graetz, als Leiter einer Gemeindeschule in der Kleinstadt Lundenburg in der Nähe Wiens Fuß zu fassen: „Das ist das selige Ende hochfliegender Träume.“42 In gewisser Weise bezieht dieses Urteil auch noch die im Oktober 1850 endlich verwirklichte Ehe mit Marie Monasch ein, die getreulich darauf gewartet hatte, daß Graetz eine, wenn auch bescheidene bürgerliche Sicherheit zu bieten vermochte. In seinem Tagebuch hält der Bräutigam fest, wie zerrissen er im Blick auf die persönliche Zukunft noch ist: „[...] u. nun geht’s toll ans Heirathen. Mein Gemüth ist ruhig; ich empfinde nicht jene wallende Freude, jenes übermannende Entzücken, das der Jugend u. Unerfahrenheit eigen ist. Aber jede prickelnde Sorge ist meinem Gemüthe fern. Marie ist für mich der Beisatz, der meinem schwankenden Charakter Härte giebt, sie ist entschieden, reif, aber auch ziemlich gleichgültig gegen das Religiöse. Ich bin ungewiß, soll ich sie darin lassen oder nicht. Einem weiblichen Herzen ist Religion ebenso nöthig wie Liebe; der Mann kann sich schon mit Kritik durchhelfen.“43

Die ersten Monate in Lundenburg waren schwierig genug („eine unheimlich leere Wohnung u. nur kalte, fremde Gesichter“), es gab Ärger mit dem „Stinkthier von Rabbiner“, man „denunzirt“ Graetz „wegen politischer Vorträge, wegen demokratischer Gesinnung“ und verlangt, „daß M[arie] sich das Haar vermummen soll, damit sie auf der Waage des himmlischen Richters schwerer wiegen soll“. Zusammenfassend heißt es im Tagebuch: „Ich fluchte [...] meinem Mißgeschick, in solche Lage gerathen zu sein. Die Niederträchtigkeit zum Feinde, die politische Demokratenfresserei zum Richter, die kleinmüthige Unbeholfenheit u. pedantische Gradheit zum Helfer u. die bornirte eingebildete Dummheit zum Rivalen zu haben.“44

Erst ab Mitte 1851 beginnt sich die Lage des „Schuldirigenten“ in Lundenburg vorübergehend zu bessern. Am 27. Juli kann er nicht nur die Geburt der Tochter Flora, „ein gesundes, klug aussehendes Mädchen“, melden, sondern auch „das andere er42 43 44

GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 200 (4.9.1850). Ebd. (1.10.1850). Ebd., S. 202f. (3.12.1850).

443 freuliche Ereignis: Frankels Zeitschrift wird wieder erscheinen, u. er hat mich ehrenvoll aufgefordert, mitzuarbeiten“45. Die Zeitschrift „Für die religiösen Interessen des Judentums“, die Zacharias Frankel bis 1846 herausgegeben hatte, erlebte zwar keine direkte Wiederauferstehung, wie Graetz offensichtlich zunächst angenommen hatte. Ihr folgte ab dem Oktober 1851 aber die später so berühmte „Monatsschrift für die Wissenschaft des Judentums“, in der Graetz bis zu seinem Tod rund zweieinhalbtausend Druckseiten veröffentlichen sollte, wodurch die „Monatsschrift“ zu einem wichtigen Sprachrohr seiner Auffassungen werden sollte46. In Lundenburg schließlich begann Graetz auch mit der Arbeit an seiner epochalen „Geschichte der Juden“, ohne daß sich das irgendwie im Tagebuch niedergeschlagen hätte. Als erster Band wurde der spätere vierte Band „Geschichte der Juden vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmud“ begonnen.

Schon 1851 kam es zu erneuten Schwierigkeiten, die zur Schließung der Lundenburger Schule führten. Graetz versuchte, sich in Wien niederzulassen, ging dann aber doch „ohne einen Schatten von Aussicht“ nach Berlin47. Über Prag und Dresden kam die Familie am 17. Sept. 1852 dort an. Hier gelingt es Graetz, den zuerst fertiggestellten (und späteren vierten) Band seiner „Geschichte der Juden“ 1853 in der Buchhandlung Veit & Comp. unterzubringen. Moritz Veit (1808-1864), der Verleger von Zacharias Frankel, Michael Sachs und Leopold (Lipmann) Zunz, selber poetisch tätig („Berliner Musenalmanach“ 1830/31), Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung 1848 und des preußischen Abgeordnetenhauses ab 1858 sowie Stadtverordneter und Stadtrat in Berlin48, gehörte zu den führenden Persönlichkeiten der Jüdischen Gemeinde in der preußischen Hauptstadt. Die Veröffentlichung der „Jüdischen Geschichte vom Untergang des jüdischen Staates bis zum Abschluß des Talmuds“ in einem damals so prominenten Verlag dürfte Graetz auch die Möglichkeit eröffnet haben, neben den Berliner Koryphäen der „Wissenschaft des Judentums“, Sachs und Zunz, bezahlte Abendkurse in jüdischer Geschichte für jüdische Studenten zu halten, 45

Vgl. ebd., S. 203 (27.7.1851). Bereits im 1. Jg. Der „Monatsschrift“ 1851/52 veröffentlichte Graetz „Jüdischgeschichtliche Studien“, eine große Rezension sowie Untersuchungen zur „talmudischen Chronologie und Topographie“ sowie „den absetzbaren Hohepriestern während des zweiten Tempels“. 47 Vgl. Brief Graetz an Abraham Placzek vom 23.1.1852, in: ebd., S. 224; S. 204 (9.3.1853). 48 Vgl. ADB 39, S. 535ff. 46

444 wodurch es ihm, zusammen mit dem Honorar seines Verlegers, möglich wurde, der Familie das notwendige Auskommen zu sichern. So hätte es noch unbestimmte Zeit weitergehen können, wäre da nicht im Februar 1853 Josef Lehmann (1801-1873), der Redakteur der „Preußischen Staatszeitung“, „im Auftrag der Fränkelschen Curatorien“ in Breslau an Graetz herangetreten, um ihm „eine Stelle in dem [dort] zu organisirenden Seminar“ anzubieten: „Mit einem Mal eröffnet sich eine glänzende Aussicht.“49 Im September 1853 kann Graetz frohgemut notieren: „In der That haben wir uns glücklich zu nennen. Da ist zuerst unser Florchen, so liebenswürdig, geschwätzig, neckisch und gescheit, daß sie uns zu den angenehmsten Erwartungen berechtigt. Unsere Anstellung in dem Seminar ist gesichert, beziehen Gehalt u. haben dadurch den Defizit gedeckt. Mein Buch ist bereits im Buchhandel, wird von Sachkennern gelobt u. scheint Absatz zu finden.“50

Endlich, im Alter von 36 Jahren, bietet sich für Graetz jene Stellung, die für ihn den in jeder Weise geeigneten wissenschaftlichen, jüdischen und menschlichen Rahmen zu bieten

vermag.

Die

Zugehörigkeit

zum

Dozentenkollegium

des

Jüdisch-

Theologischen Seminars Fraenckelscher Stiftung in Breslau hat Graetz immer als eine Grundbedingung seines Seins verstanden, so gerne er später auch seine Professur an der Breslauer Universität auf den Titelblättern seiner Werke vermerkte. Zum Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminar muß hier nur auf den betreffenden Abschnitt in der in diesem Band abgedruckten „Geschichte des schlesischen Judentums ab 1740“ verwiesen werden.

B) Heinrich Graetz: Biographie und Wirken ab 1853

Die Schilderung der Entstehung des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau muß hier so ausführlich ausfallen, weil diese bedeutende jüdische Lehranstalt ohne Graetz kaum zu dem geworden wäre, was sie war, wie auch Graetz selber in einem anderen geistigen Umfeld kaum zu jener universalen Betrachtungsweise und jenen weitreichenden Kontakten gefunden hätte, die ihm in Breslau eröffnet wurden: „In 49 50

Vgl. GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 204f. (9.3.1853). Ebd., S. 206 (13.9.1853).

445 Breslau, wo mir zuerst das freie Selbstbewußtsein aufgegangen, wo ich so schweren, verschwiegenen Kummer erduldet, wo ich zuerst beachtet, gehoben u. zugleich angefeindet u. vergessen wurde, soll ich jetzt ein quasi öffentliches Leben führen. Der Umschwung ist so bedeutend, daß ich ihn kaum in Worte zu fassen vermag.“51

Äußerlich betrachtet blieb das Leben von Graetz seit seiner Aufnahme in das Dozentenkollegium des Breslauer Seminars von größeren Erschütterungen frei. Zu den Höhepunkten dieser professoralen Existenz gehörte ohne Zweifel eine Reise nach Palästina 1872, zu der es mehrere Anläufe gab. Die Bedeutung dieser Reise ist kaum zu unterschätzen: „Augenschein ist nicht gleich Hörensagen [im Original hebräisch]! Es ist klimatisch ein wundervolles Land und wirklich geschaffen, ein gelobtes Land zu sein. Ich hoffe, daß ich die alte Geschichte, die ich unter der Feder habe [gemeint sind die beiden ersten Bände der GdJ von den Anfängen bis zum babylonischen Exil], durch die Anschauungen, die ich von den Localitäten gewonnen habe, sich gut lesen wird.“52 Oder: „Meine palästinensische Reise hat mir allerdings die Augen geöffnet. Ich finde mich auf dem Boden heimisch. Ich kann in Gedanken die Helden u. Propheten auf ihren Wegen verfolgen, weiß welche Berge sie bestiegen, welche Thäler sie passirt haben müssen. Die Localitäten erhalten ihre individuelle Physiognomie.“53 Neben der Förderung der wissenschaftlichen Einsichten verstärkte diese Reise ins Heilige Land aber auch das Interesse bei Graetz für die praktischen jüdischen Angelegenheiten der Gegenwart, wie sie besonders von der Alliance Israélite Universelle betrieben wurden.

Als große Ehrung hat Graetz seine Ernennung zum Honorarprofessor an der Breslauer Universität 1869 empfunden, diese aber auch durchaus ironisch kommentiert. An Moses Hess ergeht am 23. Jan. 1870 die Meldung: „Minister Mühler oder Wilhelm I. hat mich zum Professor an der hiesigen Universität für orientalische Sprachen, Literatur u. Geschichte ernannt, mich den Antichrist, den Demokraten! Q’en ditesvous? Geschehen nicht Wunder in unserer Zeit? Die Juden freuen sich fast noch mehr über meine Ernennung als ich. Das Erfreulichste daran ist, daß die hiesige Uni51 52 53

Vgl. GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 208 (16.4.1854). Vgl. ebd., S. 322 (an Moses Hess, 5.7.1872). Vgl. ebd., S. 328 (an S. Halberstamm. 16.6.1873).

446 versität mich dazu vorgeschlagen hat. Es ist also gewissermaßen vox populi.“54 Schon vorher hatte sich der jüdische Gelehrte darüber mokiert, daß „ich vor einer Hochschule, welche die Jesuiten erbaut haben, vom Judenthum sprechen darf“.55

Die „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums“, von Frankel 1851 gegründet, wurde von 1869 bis 1887 von Graetz verantwortlich herausgegeben: „Unter Graetz wird die Breslauer Zeitschrift zum führenden wissenschaftlichen Forum des Judentums, und unter den hunderten von Mitarbeitern begegnen wir den Namen der bedeutendsten Forscher, auch solcher, die anderswo in hebräischer Sprache publizierten. [...] Graetz selbst drückte der Monatsschrift seinen Stempel auf durch die Leichtigkeit und Intensität seiner Produktion. Er ist der erste jüdische Bibelexeget, der in der Monatsschrift systematisch die Bibelwissenschaft eingeführt hat mit geistreichen Kombinationen und auch gelegentlichen Fehlschlägen.“56

Am sog. Berliner Antisemitismusstreit, der 1879/80 den rassischen Antisemitismus salonfähig machte, hat sich Graetz mit deutlichen Worten gegenüber Heinrich von Treitschke und unter Hinweis auf seine „Geschichte“ beteiligt: „Ich mußte allerdings auch von dem späteren Christenthum sprechen, von dem gefälschten Christenthum, dem Christenthum der Lieblosigkeit, der Herzenshärte, der Menschenschlächterei, welches das Wort seines Meisters von hingebender Menschenliebe, Milde und Demuth verläugnet hatte. Ich hatte die tausendfachen Leiden der Juden durch dieses Christenthum zu schildern, und kein Blatt vor den Mund genommen. Wenn Sie selbst den Grund der Verfolgung der Juden ‚christliche Tyrannei’ nennen, wie dürfte ich ihn verschweigen oder vertuschen, der ich aus den unmittelbaren Martyrologien geschöpft und gewissermaßen die Aussagen aus dem röchelnden Munde der zu Tode Verbluteten aufgefangen habe?“57 Treitschke antwortete: „Nein, Herr Graetz ist ein Fremdling auf dem Boden ‚seines zufälligen Geburtslandes’, ein Orientale, der unser

54

Vgl. ebd., S. 300 (an M. Hess, 23.1.1870). Vgl. ebd., S. 299 (an S. Halberstamm, 1.1.1870). 56 K. WILHELM: Die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums. Ein geistesgeschichtlicher Versuch, in: Kisch, Das Breslauer Seminar, S. 327-349, bes. S. 336. 57 H. GRAETZ: Erwiderung an Herrn von Treitschke, in: Schlesische Presse, 7.12.1879, hier zitiert nach W. BOEHLICH (HG.): Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt/M. 1965, 2. Aufl. , S. 27-33, bes. S. 31. 55

447 Volk weder versteht noch verstehen will; er hat mit uns nichts gemein, als daß er unser Staatsbürgerrecht besitzt und sich unserer Muttersprache bedient – freilich um uns zu verlästern.“58.

Unter den erhaltenen, heute weitverstreuten Briefen von Graetz verdienen die an Moses Hess und Karl Marx Beachtung weit hinaus über jüdische Kreise. Mit Moses Hess (1812 Bonn – 1875 Paris), dem Linkshegelianer, Gründer der „Rheinischen Zeitung“ (1841) und Anreger von Marx, Engels und Bakunin, dem „Kommunistenrabbi“, der ab etwa 1850 die Erkenntnis von der Nationalität der Juden gewann und mit der dann 1862 erschienenen Programmschrift „Rom und Jerusalem“ zum ersten Mal die Grundideen des Zionismus formulierte, verband Graetz eine intensive Freundschaft, die sich in zahlreichen Briefen dokumentierte. In einem Brief an die Witwe vom Nov. 1877 spricht Graetz von Hess als „meinem verewigten Freunde, mit dem ich in vielen Punkten harmonirt habe“59. Ein Jahr zuvor hatte Graetz in Karlsbad Karl Marx (1818-1883) kennengelernt. Der einzige Brief, der diese Verbindung bezeugt, wurde bereits 1937 vom Jiddischen-Wissenschaftlichen Institut (YIVO) in Wilna veröffentlicht. Graetz antwortet damit auf die Zusendung eines Exemplars des 1. Bandes des „Kapitals“, das folgende Widmung trug: „Herrn Professor Graetz als Ausdruck meiner Hochachtung und Freundschaft Karl Marx! London, 23. Januar 1877.“ Graetz replizierte nicht ohne feine Ironie: „Ich weiß nicht, was ich Ihnen von meinen opera omnia als Revanche bieten könnte. Der Inhalt meiner zwölfbändigen Geschichte liegt weit, weit außerhalb Ihres Horizonts.“ Der Brief schließt im übrigen mit liebenswürdigen Komplimenten an die Marx-Tochter Eleonore („Tussy“), die, wie auch in anderen Briefen zu lesen ist, zeigen, daß der große Gelehrte für die Reize wesentlich jüngerer Weiblichkeit durchaus aufgeschlossen war60.

In seinen späteren Jahren, also etwa ab 1875, hat sich Graetz weitgehend von der historischen zur exegetischen Forschung umorientiert61. Die Auslegung der Psalmen 58

H. v. TREITSCHKE: Herr Graetz und sein Judenthum, in: Preußische Jahrbücher, Dezember 1879, hier zietiert nach BOEHLICH, Berliner Antisemitismusstreit, S. 33.47, bes. S. 45. 59 GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 343 (an S. Hess, 26.11.1877). 60 Vgl. GRAETZ, Tagebuch und Briefe, S. 336f. (an K. Marx, 1.2.1877). Zuerst als Faksimile veröffentlicht im 2. Band der „Historischen Schriften“ des YIVO, Wilna 1937, S. 662f. 61 Vgl. N. PORGES: Graetz als Exeget, in: BRANN, Heinrich Graetz, S. 47-64.

448 von 1881, die 1882/83 in erweiterter Gestalt zweibändig erneut vorgelegt wurde, bildet die Spitze einer Reihe von Einzeluntersuchungen, insbesondere zum Schir haSchirim und zu Kohelet, die Graetz als Meister der philologischen und rabbinischen Auslegung erwiesen. Markus Brann bemerkte dazu 1917: „Überall war er [= Graetz] mit erstaunlichem Spürsinn darauf bedacht, durch Benutzung aller erreichbaren Hilfsmittel der Schwierigkeiten im Schrifttext Herr zu werden und vor allem den Wortlaut der Gottesbücher da, wo er ihm durch Unachtsamkeit oder sonstige Unfälle im Verlauf der Jahrtausende verdunkelt und verderbt erschien, wiederherzustellen. [...] Sonst in den Fragen der Bibelkritik dem Zerstören grundsätzlich abhold, und in steter Fehde gegen die Phantasien und Machtsprüche der modernen Exegese begriffen, wurde er in Sachen der Textkritik allmählich ein schonungsloser Eiferer, der die Buchstabengläubigen wie Fetischanbeter rücksichtslos bekämpfte.“62

Die letzten Lebensjahre verfolgte Graetz den Plan, seine immensen Textstudien in einer Ausgabe der gesamten hebräischen Bibel mit textkritischem Apparat und Kommentar zusammenzuführen. Der Prospekt für dieses Werk von 1891 war der letzte Text, der zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Heinrich Graetz starb am 7. September 1891 auf einer Reise in München im Hause seines Sohnes. Die Beerdigung fand drei Tage später auf dem jüdischen Friedhof in Breslau statt. Auf dem Grabstein, unter dem Heinrich Graetz zusammen mit seiner Frau Marie, geb. Monasch, und einer Ausgabe der „Geschichte der Juden“, die man ihm in den Sarg gelegt hatte, ist zu lesen: „Die Liebe zu seinem Volke führte seinen unsterblichen Griffel.“63

Philipp Bloch (1841-1923), der aus Oberschlesien stammende Rabbiner und Historiker in Posen, einer der großen Kenner der Kabbala und zugleich über viele Jahre hinweg Vorsitzender der Vereinigung liberaler Rabbiner in Deutschland, hat in seiner „Biographie des Dr. H. Graetz“, die der 2. Auflage der „Geschichte der Juden“ vorangestellt wurde, faßte die Bedeutung seines Lehrers folgendermaßen zusammen: „Ein Prophet in seiner Art, hat er den Schleier der jüdischen Vergangenheit gelüftet und 62

BRANN, Heinrich Graetz, S. 20. Vgl. M. àAGIEWSKI: Das Pantheon der Breslauer Juden. Der jüdische Friedhof an der Lohestraße in Breslau = Schlesische Kulturpflege. Schriftenreihe der Stiftung Schlesien 7, Berlin 1999, S. 133.

63

449 ihrer Stimme für alle Zukunft lebendigen Klang und neue Frische wiedergegeben. Indem er ohne Menschenfurcht und ohne Lohnsucht nur der historischen Gerechtigkeit und Wahrheit zu dienen strebte, hat er den Ruhm Zions verkündet und wie mit einer Wünschelrute den Quellengrund aufgeschlossen, aus dem für die Bekenner des einzig-einigen Gottes stets Trost und Labung, Hoffnung und Erhebung in reicher Fülle hervorströmen wird.“64

C) „Die Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“

Die Bedeutung, die Heinrich Graetz als Historiker des Judentums zuzumessen ist, läßt sich nicht in wenige Worte fassen und bedarf noch intensiver Weiterarbeit. Hier müssen Andeutungen genügen.

1. Graetz war mit seiner „Geschichte der Juden“ (GdJ) außerordentlich erfolgreich. Die deutsche Ausgabe des Gesamtwerkes wurde immer wieder neu aufgelegt. Zum Hausbuch in praktisch jeder jüdischen Familie wurde die GdJ jedoch erst in ihrer Fassung als „Volkstümliche Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart“, die in drei Bänden erstmals 1888 erschien und von da an immer neu aufgelegt wurde bis hin zur dtv-Ausgabe von 1985. Imponierend ist jedoch auch die Reihe der Übersetzungen der GdJ: 1867 erschien eine erste englische Teilausgabe in Cincinnati. 1872 begann die Serie der französischen Ausgaben. Ab 1875 wurde die GdJ allmählich komplett ins Hebräische übersetzt. Die „Volkstümliche Geschichte“ erschien unter dem Titel „Divrei jami Jisroel“ 1888 in Warschau. 1897/98 folgten die jiddischen Editionen unter verschiedenen Titeln wie „Geschichte von Jisroel“ (Warschau 1913). Es folgte ab 1902 eine polnische Ausgabe und besonders wichtig schon ab 1880 die russische „Istorija Jewrejew“, die in St. Petersburg u.a. von der Gesellschaft zur Verbreitung von Bildung unter den Juden in Rußland betreut wurde, und unzählige Einzel- und Neudrucke erlebte. Vergegenwärtigt

64

BLOCH, Biographie, S. 72.

450 man sich die Fülle dieser Übersetzungen, Ausgaben und Verlagsorte65, so wird erkennbar, daß Heinrich Graetz mit seiner GdJ tatsächlich fast das gesamte Judentum aschkenasischer Prägung in Amerika und ganz Europa erreichte, während die Welt des Sephardentums von dieser eurozentrierten Darstellung verständlicherweise weniger berührt wurde.

2. Graetz lieferte erstmals eine jüdische Gesamtgeschichte, die zeitgenössischen Ansprüchen genügte. In Materialkenntnis und sprachlicher Gestaltungskraft seinen Historikerkollegen durchaus vergleichbar, erschloß der Breslauer Gelehrte im Alleingang eine Welt, die bis dahin entweder völlig unbekannt gewesen war oder nur noch in Liedern und Legenden weiterlebte.

3. Die GdJ läßt sich nur verstehen, wenn man auch Graetz’ Programmschrift „Konstruktion der jüdischen Geschichte“ von 1846, die 1969 in der hebräischen Übersetzung „Darkhei ha-Historija ha-Yehudit“ und 2000 in Düsseldorf66 wiederaufgelegt wurde, zur Kenntnis nimmt. Graetz war davon überzeugt, daß die Grundideen des Judentums ewige Gültigkeit besitzen, so sehr ihre äußeren Formen auch wechseln mögen. Das Ideal ist die Harmonie von politischen und religiösen Elementen: „So schwebt die transmundane [= überweltliche] Gottesidee nicht in der ätherischen Region des Gedankens, sondern schuf sich eine konkrete Volkssubstanz: eine adäquate Staatsverfassung sollte der lebendige Träger dieser Idee sein, die sich als Volkssitte, als individuelle Gesinnung in immer weiteren Schwingungen realisieren soll. Die geoffenbarte Gottesidee ist nicht um ihrer selbst willen da, um bloß theoretisch gewußt zu werden, sondern will zugleich eine Heilsanstalt sein, die zeitliche Glückseligkeit zu fördern; die Gottesidee soll zu gleich Staatsidee sein.“67 Graetz verstand das Judentum als einen einzigartigen politisch-religiösen Organismus, dessen Seele die Thora und dessen Körper das Heilige Land sei. In der Zeit des Exils überwanden die theoretisch-philosophischen Interessen die na65

Vgl. auch die Auflistung der „Übersetzungen und Bearbeitungen der Geschichte der Juden“, in: BRANN, Heinrich Graetz, S. 161-171. Vgl. H. GRAETZ: Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Hg. von Nils Römer = Jüdische Geistesgeschichte 2, Düsseldorf 2000. 67 Ebd., S. 16. Die Kursivierungen stammen von Graetz. 66

451 tionalen und politischen. Das Judentum wurde zur Wissenschaft! Unter dem Einfluß von Moses Hess öffnete sich Graetz der messianischen bzw. zionistischen Ausrichtung und Sinngestaltung jüdischer Geschichte. Das messianische Volk, so lehrte Graetz, ist die höchste Form des messianischen Volkes. Vom jüdischen Volk erwartete er die Führung am Ende der Weltgeschichte: Der Gedanke des ewigen Friedens und der Wiederbringung der Verlorenen bezeugen einen jüdischen Enthusiasmus, den Graetz nicht auf Dauer durchhalten konnte. Später erkannte er die fortwirkende, ja ewige Bedeutung des Judentums für die Welt in der jüdischen Ethik.

4. Mit seiner GdJ gab Graetz dem europäischen und amerikanischen Judentum seine Würde zurück. Die Geschichte der jüdischen Leiden wurde in seiner Betrachtung zu einem sinnvollen Geschehen, das dem Heil der Welt dient. Auch die dunkelsten Nebengänge der jüdischen Tradition konnten in dieser Betrachtungsweise noch von dem Licht einer frommen Rationalität erfüllt werden. Kritiker haben hier allerdings zu Recht angemerkt, daß Graetz’ Blick etwa in die Welt der Kabbala und des Sabbatianismus den Quellen kaum gerecht werden konnte. Die Abgründe der Welterkenntnis, die hier formuliert worden waren, wurden durch Graetz’ ordnende und letztlich immer belehrende Darstellung so überdeckt, daß wir erst rund 100 Jahre später durch Gerschom Scholem darüber genauer informiert wurden, wie radikalste Versenkung in das Göttliche zugleich auch Ekstasen des Abfalls und der Häresie produziert. Aber solche Erwägungen haben die Juden der Graetzschen Epoche und nachfolgende Generationen kaum beschäftigt. Wichtiger war ihnen allen, daß ihnen hier ein Bild ihrer Vergangenheit entworfen wurde, das den Platz der Juden in der Geschichte positiv beschrieb und bewies, daß deren Platz auf den Höhen der modernen Kultur deutscher Prägung sich ganz natürlich ergeben mußte, ohne eine Verleugnung der Thora und der Jüdischkeit notwendig zu machen.

5. Die GdJ von Heinrich Graetz ist heute in vielen Teilen historisch überholt. Von der inneren Geschichte des östlichen Judentums in Polen, Rußland und der Türkei hat der Breslauer Gelehrte wenig gewußt. Die Chassidim waren ihm

452 persönlich so unsympathisch, daß er auch ihre geistige Welt kaum angemessen würdigen konnte. Auch seine Deutung der Quellen ist heute trotz aller stupenden Gelehrsamkeit in vielen Einzelheiten korrekturbedürftig. Wichtige Texte sind überhaupt erst nach seinem Heimgang bekannt geworden. Richtig aber bleibt trotzdem: Die „Geschichte des Judentums von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart“ gehört zu den epochalen Ereignissen in der Geschichte und Geschichtsschreibung des neuzeitlichen Judentums. 6. Das Werk Theodor Herzls und die zionistische Bewegung des 19. und 20. Jh.s hätte es so ohne Graetz nicht gegeben. Aber auch die neuere jüdische Geschichtsschreibung baute bis weit in das 20. Jh. noch auf wesentlichen Fundamenten, die der Breslauer Gelehrte gelegt hat: „Hundert Jahre liegen zwischen der heutigen Generation der jüdischen Historiker und Heinrich Graetz. Trotz aller Anerkennung für seine Leistung, die zur Legitimierung der Historiographie als Zweig der Wissenschaft des Judentums beigetragen hat, kann seine Gesamtdarstellung keine, das gegenwärtige Erkenntnisinteresse, befriedigende Antworten geben, genau so wenig wie dies die Werke von Niebuhr, Ranke oder Michelet können. In Theorie, Methode und Themenschwerpunkten hat sich die Historiographie eben weit über das 19. Jahrhundert hinwegbewegt. Mit um so größerer Überraschung stellt man fest, daß die Konzepte der Einheit und Kontinuität, die das Graetzsche Geschichtsbild beherrschten, bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts [des 20. Jh.s] immer noch bestimmend waren, sowohl in Israel als auch in Amerika.“68

7. Als die europäische Judenheit in die Gaskammern von Auschwitz und der anderen Schreckensorte geführt wurde, so daß nur noch ein „Rest“ übrigblieb, da gewann die Sinndeutung jüdischer Geschichte, wie Graetz sie einst so wortgewaltig vorgetragen hatte, neue Virulenz: „Ein Volk, dem seine Gegenwart nichts, seine Zukunft hingegen alles gilt, das gleichsam von Hoffnung lebt, ist eben deswegen ewig wie die Hoffnung. Das Gesetz und die Hoffnung auf einen Messias waren zwei Schutz- und Trostengel an der Seite der Ge68 M. GRAETZ: Jüdische Geschichtsschreibung hundert Jahre nach Heinrich Graetz = Veröffentlichungen der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg 4, Wiesbaden 1992, S. 8.

453 beugten und bewahrten sie vor Verzweiflung, vor Verdumpfung und Selbstaufgeben.“69 1853 hatte Graetz diese Sätze im Blick auf den Untergang des jüdischen Staates im 1. Jh. u.Z. niedergeschrieben. Rund fünfzehn Jahre später dichtete Naphtali Herz Imber in Jassy die „Hatikvah“, das Lied der Hoffnung, „zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jeruschalajim“. 1948 ging diese Hoffnung mit der Gründung des Staates Israel, der die Hatikvah zu seiner Hymne machte, in Erfüllung. Graetz hätte in diesem Geschehen den „logischen Faden“ erkannt, von dem er schon in seiner „Konstruktion der jüdischen Geschichte“ gesprochen hatte70.

69 70

GdJ 4, S.3. Vgl. GRAETZ, Rekonstruktion, S. 19.

455 Die eigentliche Heimat. Das ‚Breslauer Tagebuch’ des Walter Tausk und seine Geschichte

Daß Bücher ihre Geschichte haben, hat schon.der afrikanische Grammatiker Terentianus im 2./3. Jahrhundert n.Chr. gewußt. Seine zum Sprichwort gewordene Wendung „Habent sua fata libelli“ schmückte das Signet des 1825 gegründeten Börsenvereins der Deutschen Buchhändler. Für Walter Tausks ‚Breslauer Tagebuch 1933-1940’ gilt das Wort des Terentianus gleich in mehrfacher Weise - nämlich für den Autor und seine Aufzeichnungen, aber auch für den Herausgeber und das Zustandekommen der deutschen Ausgabe. Dieses Tagebuch eines Breslauer Juden erschien in erster Auflage im Ost-Berliner Verlag Rütten & Loening 1975 und erlebte bis 1988 drei weitere Auflagen im gleichen Verlag. 1995 veranstaltete der Reclam-Verlag in Leipzig eine Lizenzausgabe, zu der Henryk M. Broder das Nachwort schrieb. Anfang des Jahres 2000 veröffentlichte der Aufbau Taschenbuch Verlag in Berlin eine vom Autor dieses Aufsatzes besorgte Neuausgabe1. Doch soll hier keine Zusammenfassung dieses wichtigen Dokuments zur jüdischen Alltagsgeschichte des nationalsozialistischen Breslau geliefert, sondern über die Geschichte eines Manuskripts berichtet werden, das unter den Bedingungen der ersten deutschen Diktatur seinem Autor zur ‚eigentlichen Heimat’ bis zur Deportation im Jahr 1940 geworden war. Es befindet sich heute in der Breslauer Universitätsbibliothek, wurde zunächst in polnischer Übersetzung veröffentlicht und konnte dank der Initiative eines polnischen Historikers und Publizisten dann auch in einem DDR-Verlag erscheinen.

WALTER TAUSK UND SEIN ‚BRESLAUER TAGEBUCH’

Der verdienstvolle polnische Entdecker der Aufzeichnungen Walter Tausks, Ryszard Kincel, teilte zum Autor des ‚Breslauer Tagebuchs’ mit:

1

Walter Tausk, Breslauer Tagebuch 1933-1940. Hg. von Ryszard Kincel. Mit Anmerkungen vorn Peter Maser sowie einem Gespräch zur Neuausgabe des Bandes. Berlin 2000 (Aufbau Taschenbuch 1233).

456 „Walter Tausk, der seit dem 1. Januar 1938 im Sinne der Rassengesetzgebung den zusätzlichen Vornamen Israel führte, wurde am 16. April 1890 in Trebnitz geboren, wo sein Vater als Kaufmann ansässig war. Walter war von Beruf Dekorateur und bestritt seinen Lebensunterhalt als Vertreter für Möbel, Innenausstattung und Textilbekleidung. Er hatte das Gymnasium in Hirschberg besucht (wo er übrigens Primus war) und auch eine praktische Ausbildung als Tischler erhalten. Danach vervollständigte er seine Kenntnisse, indem er im Wintersemester 1910/1911 an der Königlichen Kunstakademie Breslau Vorlesungen hörte"2. Weiter erfahren wir aus Kincels Vorwort, daß die Familie Tausk 1892 nach Breslau kam, was auch die Breslauer Adreßbücher belegen. Der junge Handelsvertreter war eine unglückliche Natur. Eigentlich fühlte er sich als Künstler, als Schriftsteller. „Ich schreib's auf, weil ich nicht anders kann“, bekannte Tausk in einer Tagebucheintragung vom 14. November 19383, als schon jede Hoffnung hinfällig geworden war, das Geschriebene jemals an die Öffentlichkeit bringen zu können. In besseren Zeiten hatte er an einem Roman ‚Werner Baron’ gearbeitet, der niemals erschien. Seine Novelle ‚Olaf Höris Tod. Skizze zu einer Vollmondphantasie’ hingegen wurde 1924 in Buchform gedruckt, wenn auch die zum Roman erweiterte Fassung dieses Stoffes, die Alfred Döblin den Autor zur Weiterarbeit ermuntern ließ, nicht über einen Teilabdruck 1926 in der buddhistischen Zeitschrift ‚Der Pfad’ hinauskam. Noch im Juli 1936 schickte Tausk allerdings erfolglos das Manuskript eines Romans ‚Ruth Baruch’ an den Berliner Morgen-Verlag. Im Zentrum seiner weiteren publizistischen Bemühungen stand Tausks Engagement für den Buddhismus, die ihn sogar zu „einer Art Ideologe und philosophischem Führer der Breslauer Buddhisten“ aufsteigen ließen. 1926 und 1928 veröffentlichte er mehrere Beiträge in der ‚Zeitschrift für Buddhismus’ und der Zeitschrift ‚Der Pfad. Eine buddhistische Zeitschrift’. Der Versuch, in der asiatischen Religion eine Heimat zu finden, hat Tausk intensiv beschäftigt4 und weist auf interessante Facetten der Geschichte

2

Vgl. Tausk (gemeint ist hier und im folgenden immer die vom Autor besorgte Neuausgabe), S. 5. Ebd. S. 196. 4 Vgl. ebd. S. 44 (25.3.1933), 47 (30.3.1933), 49 (30.3.1933), 77 (25.5.1933), 105 (30.8.1933), 119 (20.12.1933) und 254 (27.2.1940). 3

457 des Buddhismus in Deutschland hin, in der Juden keine Ausnahmeerscheinungen darstellten. Die Geschichte des Buddhismus in Deutschland begann mit Arthur Schopenhauer (1788-1860), der 1856 in seinem Hause eine Buddha-Statue aufstellte, nachdem er bereits in seinem Buch ‚Die Welt als Wille und Vorstellung’ (2. Aufl. 1844) erklärt hatte: „Wollte ich die Resultate meiner Philosophie zum Maßstabe der Wahrheit nehmen, so müßte ich dem Buddhismus den Vorzug vor den anderen (Religionen) zugestehen“. Im August 1903 gründete Karl Seidenstücker in Leipzig den Buddhistischen Missionsverein für Deutschland (ab 1906: Buddhistische Gesellschaft für Deutschland), in dem die Mitgliedschaft unabhängig von der Konfession, dem Übertritt zu einer buddhistischen Gemeinschaft oder der Anerkennung bestimmter Glaubensartikel möglich war. Im gleichen Jahr wurde Walther Florus Gueth in Birma als erster Deutscher buddhistischer Novize. In der Zwischenkriegszeit differenzierte sich der deutsche Buddhismus in eine Vielzahl von Gruppen und Zentren. Walter Tausk hatte flüchtige Verbindungen zu dem Berliner Arzt Wolfgang Schumacher (1908-1961), der 1933 das Blatt ‚Wiedergeburt und Wirken. Zeitschrift für Erneuerung von Kultur und Geistesleben’ gründete, das jedoch bereits nach vier, nur 24 Seiten starken Heften sein Erscheinen einstellte. Schumacher, der mit Hitler wegen dessen Vegetarismus sympathisierte, empfahl den Buddhismus als ideale Religion „zur Vergeistigung der Kräfte des Blutes [ ... ] der heutigen arischen Menschheit“. Im September 1933 organisierte er einen Buddhisten-Kongreß mit internationalen Teilnehmern im Berliner Buddhistischen Haus. Engere Beziehungen als zu Schumacher unterhielt Tausk zu Oskar Schloß (1881-1945). Der Sohn jüdischer Eltern gab in acht Jahrgängen bis 1928 die ‚Zeitschrift für Buddhismus’ heraus. Seinen Verlag mußte er 1929 aus wirtschaftlichen Gründen an Ferdinand Schwab verkaufen, der ihn in Benares-Verlag umbenannte. Im Verlag Oskar Schloß erschienen neben wichtigen buddhi-stischen Grundtexten auch einige Schriftenreihen, wie die ‚Buddhistische Taschenbibliothek’ (5 Bde.), die ‚Benares-Bücherei’ (10 Bde.), die ‚Buddhistische Volksbibliothek’ (26 Bde.) und die ‚Untersuchungen zur Geschichte des Buddhismus’ (23 Bde.). Nach der Übersiedlung nach Locarno wollte Schloß sich in Ceylon niederlassen, mußte diesen Plan aber aufgeben, als 1933 seine Konten in Deutschland gesperrt wurden. Er

458 betrieb dann in Basel ein Antiquariat. Eine gezielte Verfolgung der Buddhisten durch die nationalsozialistischen Behörden hat es nicht gegeben. Minutiös hat Tausk in seinem Tagebuch den „alltäglichen Faschismus“ (Michail Romm) beschrieben, wie er ihn in Breslau erlebte. Die persönliche Situation des Tagebuchschreibers verschärfte sich auch dadurch, daß er zunächst jeden Kontakt zur jüdischen Gemeinde ablehnte, von der er sich mit der abschätzigen Bezeichnung „Judenkirche“ distanzierte5. Ebenso heftig waren seine Aversionen gegen den Zionismus6. So kann Tausk immer wieder über die „vorzugsweise polnischen Juden“ herziehen, die er einmal „Überzionisten“ nennt, „die überall auf Erden Antisemitismus machen“7.

Der Zionismus als eine auf den Verheißungen der hebräischen Bibel und den nationalstaatlichen Ideen des 19. Jahrhunderts beruhende gesamteuropäische und amerikanische Bewegung strebt die Rückkehr der Juden in das ‚Land Israel’ (Erez Israel) mit dem Zentrum des Zionsberges in Jerusalem an. Von Anfang an war der Zionismus in verschiedene Richtungen aufgeteilt. Der religiöse Zionismus von Zvi Hirsch Kalischer, dem sich auch Moses Heß anschloß, betonte die religiöse Komponente („Land der [biblischen] Verheißung“) einer jüdischen Kolonisation Palästinas. Die praktischen Zionisten um Leo Pinsker aus Odessa propagierten unter dem Eindruck der Pogrome in Rußland die möglichst rasche Auswanderung nach Erez Israel. Die Kultur-Zionisten um Achad Haam (eigentl.: Ascher Ginzberg) forderten ein geistiges Zentrum in Palästina, von dem die Erneuerung des Judentums ausgehen sollte. Unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre begründete Theodor Herzl (‚Der Judenstaat’ 1896, ‚Alt-Neuland’ 1902) auf dem 1. Zionistischen Weltkongreß in Basel 1897 den politischen Zionismus. Chaim Weizmann führte die unterschiedlichen Richtungen zum synthetischen Zionismus zusammen. Er erreichte 1917 die bedeutsame Erklärung des britischen Außenministers Arthur J. Balfour, mit der sich Großbritannien für „die Errichtung einer nationalen Heimstätte des jüdischen Volkes in Palästina“ aussprach. Nach den russi5 6 7

Vgl. ebd. S. 32 (7.3.1933). Vgl. ebd. S. 87 (7.3.1933), 138f (12.1.1936), 162f (14.10.1938). Vgl. ebd. S. 149 (15.5.1936).

459 schen Pogromen von 1905 verstärkte sich die jüdische Auswanderung nach Palästina. Weizmann trat für eine Besiedlungspolitik ein, die auch die arabischen Forderungen berücksichtigte. Die Union der Zionisten-Revisionisten unter Wladimir Jabotinsky forderte ab 1923 ein Israel in seinen historischen Grenzen unter Einbeziehung des Ostjordanlandes. In der Zwischenkriegszeit spielte auch der religiöse Zionismus in der spezifischen Ausprägung durch Martin Buber, der auf einen Ausgleich mit den Arabern bedacht war, eine erhebliche Rolle. Innerhalb des deutschen Judentums blieb der Zionismus, in dem es auch eine starke sozialistische Komponente gab, stets umstritten. Anfang der dreißiger Jahre zählte die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVFD) nur etwa 20.000 Mitglieder. Das änderte sich schlagartig ab 1933, als der zionistische Standpunkt, die Emanzipation bzw. Assimilation der Juden sei keine Lösung, sondern nur deren Auswanderung nach Palästina, durch die nationalsozialistische Judenpolitik eine furchtbare Bestätigung fand. Die Nationalsozialisten haben die Zionistische Bewegung in Deutschland instrumentalisiert, um die Auswanderung der deutschen Juden zu beschleunigen. Im August 1933 unterzeichneten die ZVFD, Vertreter des Deutschen Reiches und der AngloPalestine Bank das Haavara-Abkommen zur Beschleunigung der Auswanderung. Noch bis 1941 hat sogar die SS die Bemühungen der Zionisten um die Einwanderung von Juden in Palästina unterstützt. Besonders aktiv war die zionistische Jugendbewegung Deutschlands, die sich mit vielfältigen Programmen für die Berufsausbildung und Auswanderung der Jugend nach Palästina (Jugend-Alija) einsetzte. Die Gratwanderung der ZVFD zwischen ihrem Bemühen um Rettung der verfolgten Juden, der unvermeidbaren Zusammenarbeit mit den nationalsozialistischen Behörden und der Aktivierung auch der breiten jüdischen Kreise, die dem zionistischen Gedanken ursprünglich fremd gegenüber standen, löste viele Mißverständnisse und Konflikte aus. Unter dem ständig wachsenden Verfolgungsdruck mußte Walter Tausk seine Distanz zur jüdischen Gemeinde bald abbauen, hatte er doch nur über deren Dienststellen die Möglichkeit, die Hilfe jener Einrichtungen und Organisationen in Anspruch zu nehmen, die den bedrängten Juden zu helfen versuchten.

460 Als Reaktion auf den ab 1870 ständig zunehmenden rassistischen Antisemitismus war 1893 der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) entstanden, der sich als Interessenvertretung aller deutscher Juden verstand und zunächst antizionistische Positionen vertrat. Nach der nationalsozialistischen ‚Machtergreifung’ versuchte der CV, politisch für die Rechte der Juden einzutreten, ihnen Rechtsberatung anzubieten und durch vielfältige Veranstaltungen das jüdische Selbstbewußtsein zu wecken und zu stärken. Das schloß auch eine Zusammenarbeit mit der im September 1933 gegründeten Reichsvertretung der Deutschen Juden ein. Nach dem Erlaß der Nürnberger Gesetze mußte der CV seinen Namen in ‚Centralverein der Juden in Deutschland' ändern, 1936 dann in ‚Jüdischen Centralverein’. Nach der Reichskristallnacht wurde der CV von der Gestapo aufgelöst. Er ging mit anderen jüdischen Organisationen in der am 4. Juli 1939 eingerichteten Reichsvereinigung der Juden in Deutschland auf, deren Präsident Rabbiner Leo Baeck war. Die Reichsvereinigung baute mit dem Zentralausschuß der Deutschen Juden für Hilfe und Aufbau ein umfangreiches Programm in den Bereichen Erziehung und Bildung (Mittelstelle für Jüdische Erwachsenenbildung), Berufsausbildung und Umschulung zur Vorbereitung auf die Emigration, Unterstützung von Bedürftigen (Einrichtung und Unterhalt von Krankenhäusern und Altenheimen), Organisation der Emigration (Hilfsverein der Deutschen Juden, Palästina-Büro) und kulturelle Arbeit auf (der Kulturbund Deutscher Juden war bis 1941 eine formal unabhängige Organisation). Eine wichtige Rolle spielten auch die verschiedenen jüdischen Jugendorganisationen, die sich zwangsweise zum Reichsausschuß der Jüdischen Jugendverbände hatten zusammenschließen müssen. Die in Deutschland verfolgten Juden konnten sich zunächst an unterschiedliche Einrichtungen (Jüdische Unterstützungsstelle, Jüdische Winterhilfe, Hilfskomitee für deutsche Juden, Hilfsverein der Deutschen Juden, Hilfsstellen der einzelnen Gemeinden und Landesverbände) um Hilfe wenden, deren Wirksamkeit allerdings zunehmend beschnitten wurde, bis 1941/42 mit dem Beginn der ‚Endlösung der Judenfrage’ auch ihre Tätigkeit verboten wurde. Auch die 1943 aufgelöste Reichsvereinigung hatte die Zusammenarbeit mit den nationalsozialistischen Behörden nicht vermeiden können. Sie wurde deshalb schon während der Zeit ihres Wirkens wie auch nach Kriegsende teilweise heftig kritisiert.

461 Tausks Hoffnungen auf eine wirksame Hilfe flammten rasch auf, erloschen aber eben so schnell wieder, wie er erkennen mußte, daß tatsächlich wirksame Hilfe kaum möglich war 8. Diese sah er deshalb eigentlich nur noch in der Auswanderung. Aber auch diese Projekte zerschlugen sich mit grausamer Regelmäßigkeit9, weil Tausk einfach zu arm war und über keine wirksamen Verbindungen in das jüdische Milieu verfügte. In der Zeit ab 1933 wanderten zirka 295.000 Juden von 502.799 sog. ‚Glaubensjuden’ aus Deutschland aus und retteten damit oft wenig mehr als ihr Leben. Bis Mitte 1938 nahm noch Palästina mit über 40.000 Emigranten die Spitze unter den Aufnahmeregionen ein. Erst nach der Änderung der Einreisebestimmungen in die USA im Jahr 1938 verstärkte sich die Fluchtbewegung dorthin so, daß für den Gesamtzeitraum 1933 bis 1945 die USA mit 130.000 Einwanderern die Spitzenposition erreichten, auf Platz zwei folgte Palästina mit 80.000 Einwanderern. In Großbritannien fanden rund 50.000 Juden Aufnahme, unter ihnen etwa 8.000 Kinder ohne ihre Eltern. Rund 50.000 Juden gelangten schließlich nach Südamerika und 15.000 nach Schanghai. Um die Organisation und Finanzierung der Emigration bemühte sich eine so große Vielzahl in- und ausländischer Organisationen, daß es für den einzelnen Auswanderungswilligen oft schwierig war, die richtigen Ansprechpartner zu finden. Die Zionisten und Nichtzionisten im Ausland schlossen sich in Dachverbänden wie dem anglo-amerikanischen Council for German Jewry, dem amerikanischen Joint, in der Hebrew Immigrant Aid Society (HIAS) und in der Vereinigung HICEM aus HIAS, der Jewish Colonization Association (ICA) und dem Emigrationsdirektorium (EMIG-DIRECT) zusammen. Ein wesentlicher Teil der zur Verfügung stehenden Gelder wurde vom Central Bureau for the Settlement of German Jewry in London verwaltet, an dessen Spitze seit Herbst 1933 Chaim Weizmann stand. In Deutschland spielten das Palästina-Amt in Berlin, das die Auswanderung nach Palästina über 22 Orts- und Bezirksbüros organisierte, der Hilfsverein der deutschen Juden mit achtzehn ‚Regionalbüros’, zustän8

Vgl. ebd. S. 101 (13.8.1933), 150 (21.5.1936), 205 f (27.11.1938), 218 (5.2.1939), 236 (28.9.1939) und 247 f (26.12.1939). 9 Vgl. ebd. S. 47 f (30.3.1933), 87 f (3.7.1933), 116 (21.10.1933), 147 (10.4.1936), 155 (11.9.1938), 156 f (20.9.1938), 160 f (1.10.1938), 165 f (21.10.1938), 205 f (24.11.1938), 208 ff (11. 12.1938), 239 f (22.10.1939), 246 f (26.12.1939), 254 ff (25. und 27.2, 5.3.1940).

462 dig für die Auswanderung in sonstige aufnahmewillige Länder, und die Mittelstelle für jüdische Erwachsenenbildung die wichtigste Rolle. Letztere war neben den jüdischen Jugendbünden und dem Hechaluz (hebr. = Pionier), der weltweiten Organisation zur Vorbereitung junger Menschen für ein Arbeiterleben in Erez Israel, in der Berufsausbildung, Umschulung und Sprachkurse der Auswanderungswilligen führend. Die innerhalb der deutschen Juden bestehenden Auffassungsunterschiede über die Zukunft des deutschen Judentums erschwerten die Organisation der Auswanderung beträchtlich. Viele jüdische Führer rechneten damit, daß für die Auswanderung Zeiträume zwischen 15 und 30 Jahren zur Verfügung stünden. Die liberalen und deutsch-vaterländischen Kräfte lehnten allerdings jede Auswanderung ab und traten für den ‚Kampf um das Heimatrecht’ der Juden in Deutschland ein. Die radikalen Revisionisten setzten sich hingegen für die mit den nationalsozialistischen Machthabern abgestimmte totale „Liquidation des deutschen Judentums“ durch Auswanderung ein. Die Leitungen der ZVFD und des Hechaluz planten eine auswählende Alija (hebr. = Aufstieg, der übliche zionistische Terminus für die Einwanderung nach Erez Israel). Nur möglichst gut ausgebildete Chaluzim (hebr. = Pioniere), die die Ausbildung der HachscharaLehrgüter und -Ausbildungseinrichtungen (Hachschara hebr. = Ertüchtigung) durchlaufen hatten, sollten die wenigen zur Verfügung stehenden Einwanderungszertifikate nach Palästina erhalten. Wohlhabende Juden konnten jedoch mit sog. ‚Kapitalistenzertifikaten’ auswandern. Diese wurden im Rahmen des Haavara-Abkommens (Haavara hebr. = Transfer) vergeben, das im Sommer 1933 von internationalen jüdischen Organisationen mit dem deutschen Reichswirtschaftsministerium abgeschlossen worden war. Danach wurden in Deutschland eingezahlte Reichsmarkbeträge zur Bezahlung von Warenexporten nach Palästina verwendet, deren Gegenwert ihren Einzahlern (allerdings zumeist mit erheblichen Abschlägen) nach der Einwanderung in der dortigen Währung zur Verfügung stand. Trotz vieler Bedenken auf allen beteiligten Seiten wurde das Haavara-Abkommen, durch das 140 Mio. Reichsmark transferiert wurden, auf Hitlers Anweisung hin bis 1939 weitergeführt. Die nationalsozialistische Führung setzte noch bis 1941/42 auf die ‚Lösung der Judenfrage’ durch Auswanderung. Nach dem ‚Anschluß’ Österreichs im März 1938 entstand in Wien die Zentralstelle für jüdische Auswanderung unter

463 Leitung von Adolf Eichmann, die die Emigration von etwa zwei Dritteln der österreichischen Juden organisierte. Die Schwierigkeit, Aufnahmeländer für die Emigranten zu finden, ließ immer neue Projekte entstehen, wie z.B. den MadagaskarPlan oder ein ‚jüdisches Reservat’ in Ostpolen, die eine geschlossene Ansiedlung größerer Gruppen von Juden vorsahen. Vieles davon blieb bereits in den Anfängen stecken, und manches war niemals mehr als ein Gerücht. Der Beginn des Krieges machte allen diesen Projekten ein Ende. Auf der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1942 beschloß die nationalsozialistische Führung, die ‚territoriale Lösung der Judenfrage’ durch die ‚Endlösung’, den planmäßigen Massenmord am jüdischen Volk, abzulösen.

Die letzte Eintragung trug Walter Tausk am 5. März 1940 in sein Tagebuch ein, in der er notierte, „daß Polen so zugerichtet ist, daß es noch nicht in fünfundzwanzig Jahren vom Kriege wieder aufgebaut" sein wird10. Das ganze Jahr 1940 lebte er noch in Breslau, was aus verschiedenen Korrekturvermerken in seinen Tagebüchern zu erschließen ist. 1941 erhielt er sogar noch eine neue Judenkarte ausgestellt. Dann wurden die Sammellager für die Breslauer Juden im Schießwerder und in Rybna, Kreis Brieg, eingerichtet. Die erste große Razzia fand in Breslau am 21. November 1941 statt und erfaßte 877 Juden. Unter ihnen war Walter Tausk mit seiner Mutter und seiner Schwester Ilse. Bereits am 25. November wurde eine erste Gruppe Breslauer Juden nach dem litauischen Kowno deportiert, zu der auch der Tagebuchschreiber gehörte, und wahrscheinlich sofort in einer Massenexekution von SS, Sicherheitsdienst und litauischen Hilfswilligen durch Maschinengewehrgarben ermordet. Da die Opfer dieser Aktion nicht in Listen erfaßt wurden, ist der Todestag von Walter Tausk nicht bekannt. Es muß ein Tag Anfang Dezember 1941 gewesen sein. Wenig später folgten die beiden Schwestern, während seine Mutter, die zwischenzeitlich von der Deportation freigestellt worden war, ihren 90. Geburtstag am 11. Mai 1942 noch in Breslau erlebte. Auch über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

10

Vgl. ebd. S. 257.

464 Am 30. Januar 1942 lösten Beamte des Breslauer Oberpräsidentenbüros die Wohnung der Tausks auf. In der erhaltengebliebenen Aufstellung heißt es: „Ein Schränkchen mit Büchern, die Erinnerungen vom Weltkrieg bis heute enthalten, maschinengeschrieben und leicht gebunden“. Eine spätere Hand hat dem Protokoll hinzugefügt: „Zur Nachprüfung wegen Hetzschrift“ 11. Auf welchem Weg die insgesamt sieben Tagebuchbände aus der Zeit von 1925 bis 1940 zusammen mit fünf Bänden Briefen in die Universitätsbibliothek Breslau gelangt sind, wo sie 1949 unter der Signatur Ako. 1949 KN 3151-1354 akzessioniert wurden, ist heute nicht mehr festzustellen.

DAS TAGEBUCH ALS „EIGENTLICHE HEIMAT“

Einerseits erfordert das Schreiben eines Tagebuchs ein gewisses Maß an Selbstbewußtsein: „Das Tagebuchschreiben ist der typische Ausdruck der typischen Überschätzung des eigenen Ichs“ (Ödön v. Horvath) 12. Andererseits gilt für Tagebücher aber auch das ernüchternde Bonmot Susanne zur Niedens: „Sie setzen ebensowenig ein Publikum wie einen Schriftsteller voraus. Jeder kann sie schreiben, niemand muß sie lesen“. Tagebücher werden - so die gängige Typologie - entweder als reine Notizensammlungen zum privaten Gebrauch, als Erinnerungsstütze, als Materialsammlung für den Schriftsteller, so etwa im Falle Thomas Manns, oder aber von vorneherein im Blick auf eine spätere Publikation geschrieben, wie das z.B. bei Ernst Jünger oder Max Frisch der Fall war. Eine besondere Form des Tagebuchs, die sich nicht ohne weiteres in die übliche literaturwissenschaftliche Typologie einfügen läßt, ist das Tagebuch in totalitären Zeiten. Dieses enthält zwar alle Elemente der üblichen Tagebuchtypen, ist also selbstverständlich auch Faktensammlung, Journal der politischen Entwicklungen, Protokoll des Alltags, Spiegel der inneren Biographie des Tagebuchverfassers zwischen Selbstbetrachtung und Selbstrechtfertigung. Vor allem ist es aber Ersatz für alle die Gespräche und Kontakte, die in Zeiten totalitärer Machtausübung 11 12

Vgl. ebd. S. 18. Ödon von Horváth: Jugend ohne Gott. Frankfurt a.M. 1999 (Suhrkamp Basis Bibliothek 7), S. 57.

465 nicht mehr möglich sind. Dabei muß der Begriff des Gesprächs allerdings möglichst weit gefaßt werden. Er umfaßt sowohl die private Kommunikation in der Familie und im sonstigen persönlichen Umfeld wie auch die halböffentlichen Äußerungen in der Straßenbahn, im Laden oder vor dem Kino und vor allem die öffentliche politische Auseinandersetzung. Das Tagebuch in totalitären Zeiten ist deshalb vor allem Selbstgespräch. Die Einsamkeit, die diese Texte umgibt, ist keine selbstgewählte, sondern eine von außen her erzwungene. Der unter konspirativen Bedingungen lebende Widerständler, die untergetauchte Jüdin, der in die ‚innere Emigration’ abgewanderte Künstler, die in der Zelle auf ihr Urteil Wartenden oder auch diejenigen, die sich gegenüber den totalitären Zumutungen zu verweigern versuchen, benutzen ihre Tagebücher als Kontaktersatz und als Aussprachemöglichkeit ohne direkte Antwort. Wo man nicht mehr einfach irgendwen fragen kann, wie dieses oder jenes eigentlich gewesen sei, muß man sich alles aufschreiben. Notiert werden muß auch alles, was zunächst nicht klar ist. In totalitären Diktaturen an wahrheitsgemäße Informationen heranzukommen, ist systembedingt außerordentlich schwierig. Die Tagebuchschreiber müssen ständig Zusatzinformationen sammeln, diese kritisch untereinander abgleichen, weitere Erkundigungen einziehen, Gerüchte überprüfen und in andere Gespräche hineinhören, um oft erst nach Tagen an die (manchmal lebenswichtige) Wahrheit heranzukommen. Viele Fragen bleiben jedoch auch unbeantwortet. Ja, es scheinen die Fragen im Lauf der Zeit zuzunehmen, auf die die Schreiber selber keine Antwort mehr erwarten. Je länger die Einsamkeit der Tagebuchschreiber andauert, um so wichtiger werden - angesichts des wachsenden gesellschaftlichen Kontrollverlustes - auch alle Formen der persönlichen Selbstvergewisserung im Rahmen des Tagebuchs – von der Selbstbetrachtung über die Selbstrechtfertigung bis hin zur bekenntnishaften Selbstanalyse. Tagebücher in totalitären Zeiten dienen übrigens gar nicht so selten auch einfach dem Zeitvertreib, um nicht vom Zeittotschlagen zu reden. Wer nicht mehr in die Öffentlichkeit kommt und überhaupt nur noch über sehr minimale menschliche Kontakte verfügt, der füllt seine Zeit eben auch mit der Niederschrift über Dinge, die ihm unter ‚normalen Umständen’ keine Zeile wert gewesen wären. Alle

466 Tagebücher in totalitären Zeiten appellieren aber mehr oder weniger deutlich an die Nachwelt. Die Nachgeborenen sollen erfahren, in welchen finsteren Zeiten der Tagebuchschreiber zu leben gezwungen war. Diese Perspektive verleiht solchen Tagebüchern immer auch den Charakter eines Testaments. Es geht um ein letztes Wort, um das Zeugnis für spätere Zeiten und das Weiterwirken über den eigenen Tod hinaus.

In einem Gutachten für die Hauptabteilung Verlage und Buchhandel des Ministeriums für Kultur der DDR (HV), auf das noch weiter unten genauer einzugehen sein wird, hat der Weimarer Dozent Dr. S. vorgeschlagen, Günter Kunert für ein Vorwort zu Walter Tausks ‚Breslauer Tagebuch’ zu verpflichten. Etwas diffus heißt es in dem Gutachten weiter: „Seine Erinnerungen an Eltern und Kindheit, die er bruchstückhaft verstreut gibt, lassen mich das vermuten". Es ist heute nicht mehr zu eruieren, an welche Texte Kunerts der Gutachter im einzelnen gedacht hat. In den ‚Schreien der Fledermäuse’ spricht sich Günter Kunert über „das Talent“ des Schriftstellers aus, „sich, seine Psyche, sein Bewußtsein, auch sein Unbewußtes, seine Persönlichkeit zu verwandeln: in einen knappen Text von wenigen Zeilen. Aus diesem Text kann er weder vertrieben noch ausgebürgert werden, er ist seine eigentliche Heimat“. Diese Beobachtung Günter Kunerts dürfte auf die Tagebücher in totalitären Zeiten in besonderer Weise zutreffen: In dem Maße, in dem die reale Heimat unter dem Druck der totalitären Repressionen entfremdet wird, gewinnt das Tagebuch die Bedeutung der „eigentlichen Heimat“ für den längst Heimatlosen. Hier ist er noch Herr seiner Erinnerungen, Wertvorstellungen, Hoffnungen, Irrtümer, Ängste. Deshalb hält der längst Heimatlose auch bis zuletzt fest an der „eigentlichen Heimat“ seines Tagebuchs. Nur dort kann die eigene Identität noch aufrechterhalten werden. Deshalb wird es auch so wichtig, das Tagebuch an die Nachgeborenen weiterzugeben. Das Tagebuch ist eben nicht nur ein Stapel vollgeschriebener Hefte. Unter dem Druck der Zeit ist es zum tatsächlichen Leben, zur unverfälschten Identität und damit zur „eigentlichen Heimat“ geworden. Das fiktive Leben des Tagebuchs erweist sich oft als dauerhafter als manches direkt gelebte Leben. Auch Walter Tausk ist das Unglaubliche gelungen: Der kleine Handelsvertreter aus Breslau lädt die Leserschaft bis heute in

467 seine „eigentliche Heimat“ ein. In seinen Tagebuchblättern hat sie überdauert und lebt mit jedem neuen Leser wieder auf. Das ist der große und dauerhafte Triumph des Walter Tausk über diejenigen, denen sein Tod nicht einmal mehr einen Eintrag in eine Todesliste wert war! Die Jahre des Nationalsozialismus sind zutreffend einmal als das „Zeitalter der Tagebücher“ bezeichnet worden. Ob das auch über die Zeit der kommunistischen Regime gesagt werden kann, bleibt abzuwarten. Im nachkommunistischen Rumänien hat sich aber der Begriff der ‚memorialistica’ als Genrebezeichnung für zahllose bisher veröffentlichte Tagebücher aus der Zeit der berüchtigten Zwangsarbeitslager am sog. Donau-Kanal immerhin bereits fest eingebürgert. Die Liste der veröffentlichten Tagebücher aus nationalsozialistischer Zeit ist beträchtlich. Die größte Verbreitung fand das ‚Tagebuch der Anne Frank’. An Umfang und Genauigkeit der alltäglichen Beobachtungen nicht zu übertreffen sind die Tagebücher Victor Klemperers. Erwähnt seien aber auch die Tagebücher von Erich Kuby, Ursula von Kardorff, Margaret Boveri, Luise Rinser, Ernst Jünger, Ruth-Andreas Friedrich oder Ulrich von Hassell. Besondere Bezüge zu Breslau bzw. Schlesien weisen die Tagebücher von Jochen Klepper, Willy Cohn und Paul Peikert auf. Am engsten berühren sich die Aufzeichnungen Willy Cohns mit denen von Walter Tausk. Die bisher von Joseph Walk veröffentlichten Texte (‚Als Jude in Breslau 1941’, Gerlingen 1984) und die von Norbert Conrads herausgegebenen autobiographischen Aufzeichnungen Willy Cohns (‚Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang’, Köln-Weimar-Wien 1995) bieten jedoch eine völlig andere Sicht auf das Breslau jener Jahre als das Tagebuch Walter Tausks. Der wohlsituierte Studienrat und anerkannte Historiker Cohn stand fest im Leben der jüdischen Gemeinde in Breslau. Berührungen mit der Lebenswelt Tausks sind deshalb kaum feststellbar. Es wäre sehr zu wünschen, daß die über dreitausend Seiten Tagebücher von Willy Cohn (Oktober 1937 bis September 1941), die in den Central Archives for History of the Jewish People in Jerusalem verwahrt werden, bald der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, um ei-

468 nen vertieften Eindruck von der Verfolgungssituation der Breslauer Judenheit in nationalsozialistischer Zeit vermittelt zu bekommen.

HABENT SUA FATA LIBELLI Das Erscheinen des ‚Breslauer Tagebuchs’ 1975 in dem traditionsreichen DDRVerlagshaus Rütten & Loening war keineswegs selbstverständlich. Die Editionsgeschichte dieses Tagebuchs eines in der Shoa verschollenen Breslauer Juden läßt vielmehr auch die Schwierigkeiten deutlicher erkennen, die die DDR sowohl mit dem Judentum, jüdischer Geschichte und dem Staat Israel13 als auch mit den deutschen Ostgebieten und deren Geschichte hatte. Eine genauere Betrachtung der DDR-Ausgabe des ‚Breslauer Tagebuchs’ zeigt einige Auffälligkeiten. So fehlt jeder Hinweis darauf, daß im Warschauer Verlag ‚Ksiazka i Wiedza’ bereits eine Auswahl von Tagebüchern Walter Tausks unter dem Titel ‚Dzuma w miescie Breslau’ (‚Die Pest in der Stadt Breslau’) erschienen ist, die allerdings bereits mit den Aufzeichnungen Walter Tausks ab 1925 einsetzt. Ebenso fehlen alle näheren Angaben zu Ryszard Kincel, der die polnische und deutsche Ausgabe betreut hat. Die der DDR-Ausgabe von 1975 beigefügten Abbildungen illustrieren, soweit sie nicht Zeitungsausschnitte und andere Zeitdokumente, die Tausk seinen Tagebüchern beigefügt hat, reproduzieren, vor allem das „faschistische Breslau“. Das trifft auch auf die Anmerkungen zu, deren Urheber nicht bekannt ist. Auch sie versuchen deutlich, einen weiten Bogen um das „jüdische Breslau“ zu schlagen. In der vom Autor dieses Aufsatzes besorgten Neuausgabe sind diese ideologisch bedingten Einseitigkeiten korrigiert worden. Das setzte aber voraus, sich zunächst Klarheit über den polnischen Herausgeber zu verschaffen und dann

13

Vgl. dazu Peter Maser, Juden und Jüdische Gemeinden in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur. In: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag. Baden-Baden/Frankfurt a.M. 1995, Bd. 3.3, S. 1550-1597 - Michael Wolffsohn, Die Deutschland-Akte. Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden. München 1995 - Lothar Mertens, Davidstern unter Hammer und Zirkel. Die Jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat 1945-1990. Hildesheim/Zürich/New York 1997 (Haskala 18) - Angelika Timm, Hammer, Zirkel, Davidstern. Das gestörte Verhältnis der DDR zu Zionismus und Staat Israel. Bonn 1997 - Ulrike Offenberg, „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945-1990. Berlin 1998.

469 die Bedingungen genauer abzuklären, unter denen der Druck des ‚Breslauer Tagebuchs’ in der DDR überhaupt möglich wurde.

DER HERAUSGEBER RYSZARD KINCEL Der Herausgeber Ryszard Kincel, der gelegentlich auch unter dem Pseudonym Artur Ryszkin veröffentlichte, wurde am 3. November 1933 in Orlowo, in der Nähe von Hohensalza (Inowrocáaw), geboren und studierte am Historischen Institut in Krakau. 1957 wurde er wegen der Beteiligung an der Organisation studentischer Streiks von der Universität relegiert und inhaftiert. Von 1964 bis 1968 war Kincel als Schulleiter in Rudawy Janovickie tätig, anschließend arbeitete er bis 1972 als Redakteur der ‚Nowiny Jeleniogórskie’ (‚Hirschberger Mitteilungen’). Bis 1975 wirkte er dann als Leiter des Staatsarchivs in Klodzko (Glatz) und bis 1979 als Abteilungsleiter am Städtischen Historischen Museum im oberschlesischen Racibórz (Ratibor). 1976 konnte Kincel seine Dissertation zur Entwicklung der Touristik in den schlesischen Sudeten im 18./19. Jahrhundert abschließen. Seit 1979 leitet der Historiker, Schriftsteller und Publizist die Städtische Öffentliche Bibliothek in Ratibor. Kincel, der sich auch besondere Verdienste um die Popularisierung der Werke von Joseph von Eichendorff in Polen erwarb, ist Mitglied der ‚Gesellschaft der Freunde des Gebietes um Ratibor’ und des ‚Vereins der polnischen Literaten’. Nach vielen anderen Auszeichnungen erhielt er zuletzt 1992 den ‚Literarischen Preis der Wojewodschaft Oppeln’. Seine Bibliographie umfaßt inzwischen mehr als 300 Titel. Die vorerst letzte Buchveröffentlichung erschien 1994 unter dem Titel ‚Von den schlesischen Quellen. Aus der Geschichte der schlesischen Kurorte und deren polnische Traditionen’. Die damalige Lektorin des Verlages Rütten & Loening, Brigitte Struzyk, erinnert sich, daß Ryszard Kincel 1973 selber mit dem Vorschlag an den Verlag herantrat, die Tagebücher Walter Tausks auch in der DDR zu veröffentlichen.

470 DIE GUTACHTEN FÜR DIE HAUPTABTEILUNG VERLAGE UND BUCHHANDEL

Für die deutsche Ausgabe wurden zunächst die Manuskripte in der Universitätsbibliothek Breslau erneut durchgesehen. Damit war es nun aber keineswegs getan! In der DDR mußte jedes Buch, bevor es gedruckt werden konnte, ein aufwendiges und konspirativ abgesichertes Zensurverfahren durchlaufen. Das Wort ‚Zensur’ war in der DDR ein Tabubegriff, der zuletzt im Art. 6 der DDR-Verfassung von 1949 („Eine Pressezensur findet nicht statt“) auftauchte. Die DDRVerfassung von 1968/74 verkündete in Art. 27 hingegen nur noch: „Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet“. Der offizielle Kommentar zur Verfassung, 1969 im Staatsverlag der DDR erschienen, erläuterte, daß die hier garantierte „Freiheit“ vor allem meine, „keinerlei Mißbrauch der Massenmedien für die Verbreitung bürgerlicher Ideologien zu dulden“ und „die Verbreitung der marxistisch-leninistischen Ideologie [...] voll zu entfalten“ 14. Für die Zensur in der DDR waren zunächst der ‚Kulturelle Beirat für das Verlagswesen’, dann das ‚Amt für Literatur- und Verlagswesen’ und die ‚Staatliche Kommission für Kunstangelegenheiten’ zuständig. 1963 wurde die ‚Hauptabteilung Verlage und Buchhandel’ des Ministeriums für Kultur der DDR gegründet. Diese unterstand ab 1973 bis zum Ende der DDR Klaus Höpcke in seiner Eigenschaft als stellvertretender Kulturminister. Die in der DDR praktizierte Zensur des Verlagswesens war nicht völlig einheitlich geordnet. Ideologische Akzentverschiebungen, innen- und außenpolitische Entwicklungen, aber auch ganz praktische ökonomische Überlegungen (Papierkontingente, West-Lizenzen, Buch-Export, Devisen!) bestimmten entscheidend über das Schicksal aller Manuskripte mit, für die beim ‚Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Ministerium für Kultur, HV Verlage und Buchhandel’ mit dem „Vordruck PS“ die „Erteilung der Druckgenehmigung“ für ein „Einzelobjekt“ zu beantragen war.

14

Vgl. Klaus Sorgenicht, Wolfgang Weichelt, Tord Riemann, Hans Joachim Semler, Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Dokumente. Kommentar. Bd. 2, Ost-Berlin 1969, S. 111.

471 Für das ‚Breslauer Tagebuch’ stellte der Verlag Rütten & Loening diesen Antrag am 29. November 197415. Die Auflage sollte 10.000 Exemplare umfassen. Das ‚Werk’, dessen Druck bei einem geplanten Umfang von 240 Seiten genau 2.200 kg des in der DDR immer knappen Papiers benötigen würde, sollte im Buchhandel 6, 90 Mark kosten und 1975 „zum 34. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus“ 16 erscheinen. Alle Textveränderungen, aber auch jeder nachgereichte ‚Illustrationsandruck’ mußten einzeln nachträglich in die Druckgenehmigung Nr. 415/10/75 einbezogen werden. Mag man dieses Verfahren noch mit den Notwendigkeiten einer zentralgeleiteten Planwirtschaft erklären, die systembedingt immer auch eine Mangelwirtschaft war, so zeigen die für das Genehmigungsverfahren grundlegenden Gutachten, worauf es eigentlich ankam. Ihre Verfasser waren handverlesene, ideologisch gefestigte und zur konspirativen Zusammenarbeit mit der HV Verlage und Buchhandel bereite Persönlichkeiten aus allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens der DDR (bis hin zu Pfarrern und Theologieprofessoren). Die geheimen Gutachter übten ihre Tätigkeit oft über viele Jahre hinweg aus und kassierten dafür - im Vergleich mit den in der DDR üblichen Gehältern recht ansehnliche Honorare17.

Das Hauptgutachten zum ‚Breslauer Tagebuch’ erstellte ein Geschichtsdozent am Institut für Lehrerbildung in Weimar. Dieser hatte schon im Herbst 1973 ein erstes ‚Arbeitsgutachten’ vorgelegt, das nicht erhalten geblieben zu sein scheint. Am 28. September 1974, also immer noch rund zwei Monate vor der offiziellen Antragsstellung durch den Verlag, lag dann das fünf Seiten umfassende „Gutachten zu Manuskript Walter Tausk Tagebücher“ vor18. Der Text sei hier in seinen Hauptzügen referiert, um zu illustrieren, wie einem eigentlich nicht ideologiekonformen Manuskript in der DDR zum Druck verholfen werden konnte. Gerade diejeni15

Der Vorgang ist in seinen wichtigsten Teilen zu finden in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde (SAPMO-BArch, DR1/ 2229 a, fol. 461-476). 16 Ebd. 17 Vgl. Ernst Wichner u. Herbert Wiesner (Hg.), „Literaturentwicklungsprozesse“. Die Zensur der Literatur in der DDR, Frankfurt a.M. 1993 – Siegfried Bräuer u. Clemens Vollnhals (Hg.), „In der DDR gibt es keine Zensur“. Die Evangelische Verlagsanstalt und die Praxis der Druckgenehmigung 1954-1989. Leipzig 1995 – Gunter Holzweißig, Zensur ohne Zensur. Die SED-Informationsdiktatur. Bonn 1997. 18 Siehe Anm. 15.

472 gen Gutachter, die einen problematischen Text durch setzen wollten, argumentierten vordergründig oft besonders linientreu: Die Gebetsmühlen ihrer Argumente klapperten um so lauter, je schwieriger dieses Ziel zu erreichen war. Es kommt bei Texten dieser Art also darauf an, sehr genau zwischen den Zeilen zu lesen. Die Leitfrage lautet: Was wollte der Gutachter schließlich tatsächlich erreichen? Nur so läßt sich der Stellenwert seiner Einzelargumente exakt bewerten. Das Gutachten des Dr. S. entwickelt sein Anliegen in mehreren Schritten. Der Gutachter gleicht dabei einem Bergsteiger, der immer noch ein Eisen einschlägt und noch einen Sicherheitshaken setzt, um das erwünschte Ziel ohne Gefährdung des Buchprojekts (und der eigenen Person) zu erreichen: 1.

Schritt: Dr. S. zitiert Brechts „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“, um dann auf die „Ereignisse“ in Griechenland 1967, Chile 1974, Spanien und Portugal, aber eben auch in Israel hinzuweisen, die alle lehren: „Faschistische und faschistoide Gesellschaftsentwicklungen gibt es noch, und phänomenologisch neue Varianten sind auch in der weiteren Entwicklung in der Welt nicht auszuschließen“. Diese Einleitung ist geschickt gewählt. Der Hinweis auf die Aktualität des „Faschismus“ bereitet nämlich das entscheidende Argument vor, Tausks Tagebücher müßten heute gedruckt werden, um das „Wesen des Faschismus“ in seinen verschiedenen Widerspiegelungen zu begreifen. Die Einbeziehung Israels in die Reihe faschistischer Gesellschaftsentwicklungen entlastet Gutachter und Verlag zudem von dem Verdacht, sie könnten mit der Veröffentlichung eines jüdischen Textes dem „zionistischen Aggressor“ Israel Vorschub leisten.

2.

Schritt: Der Gutachter zitiert die bekannte Definition des VII. Weltkongresses der Komintern vom Juli/August 1935, nach der der Faschismus die „offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ ist. Hilfsweise werden dann auch noch Palmiro Togliattis „Lektionen über den Faschismus“ hinzugezogen, hatte der italienische Kommunistenführer doch eingestanden, daß der Faschismus tatsächlich über eine Massenbasis, „insbesondere aus dem Kleinbürgertum“, verfügte, und selbst die Kommunistische Internationale noch

473 bis Mitte der dreißiger Jahre Schwierigkeiten hatte, das „Wesen des Faschismus“ klar zu erfassen. Dieser geschichtliche Rückblick entschuldigt in der Sicht seines Zensors von 1974 auch Walter Tausk: „Der politische Horizont des Autors [ist] viel zu begrenzt, und der Anlaß des Zusammenstoßes mit dem Faschismus viel zu speziell, zu individuell“, um zu einer klaren ideologischen Definition des Faschismus vorzustoßen. Oder noch treffsicherer: „Der Autor ist ein Mann, der politisch und klassenmäßig ,zwischen den Stühlen’ sitzt“. Diese Argumentation zielt im Gesamtzusammenhang eindeutig auf die ideologische Entlastung des Autors!

3.

Schritt: Ganz auf der SED-Parteilinie liegt Dr. S. mit seiner Behauptung, „Judenhaß“ und „Judenverfolgung“ seien „kein objektiv integrierter Bestandteil des Faschismus als besonderer Erscheinungsform des Imperialismus“. Diese Behauptung muß mit Bemerkungen des Gutachters über die Notwendigkeit zusammengesehen werden, „das sogenannte Judenproblem aus dem mehr oder weniger mystischen Nebel der Rassen- und Nationalitätendiskussion herauszulösen und als Klassenfrage ganz spezifischer Brechung zu sehen“. Diese ideologisch verordnete Ausblendung, ja Leugnung des jüdischen Schicksals unter nationalsozialistischer Herrschaft spiegelte den Monopolanspruch der SED wider, wonach die Kommunisten (und nicht die Juden) das Hauptangriffsziel und Hauptopfer der nationalsozialistischen Gewaltpolitik gewesen seien. Daß die Nationalsozialisten auf der Grundlage ihrer rassistischen Ideologie alle Juden systematisch verfolgten, ungeachtet ihrer sog. Klassenzugehörigkeit, paßte nicht in ein Weltbild hinein, das ausschließlich vom Klassenkampf bestimmt war. Deshalb durften z.B. die Untersuchungen des Dresdner jüdischen Historikers Helmut Eschwege über den jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus nicht in der DDR erscheinen. Deshalb verlor Erich Honecker in seinen Memoiren kein Wort darüber, daß die meisten Mitglieder der Widerstandsgruppe um Herbert Baum Juden gewesen waren. Deshalb wurde das Erinnern an die jüdischen Häftlinge in den Nationalen Mahn- und Gedenkstätten der DDR bis zur Unkenntlichkeit marginalisiert. Der Gutachter begegnete mit seinen Erörterungen, die selbst in der DDR

474 der siebziger Jahre allmählich zu den Relikten einer ideologischen Steinzeit gezählt wurden, vor allem dem immer noch möglichen Einwand, die Tagebücher Tausks berichteten zu wenig oder gar nichts vom „heldenhaften Kampf der Arbeiterklasse unter Führung der Kommunistischen Partei“.

4.

Schritt: Nach allen diesen ideologischen Umständlichkeiten hat Dr. S. dann endlich sein Ziel erreicht. Er möchte sich nämlich - ideologisch nach allen Seiten abgesichert - für das Erscheinen des ‚Breslauer Tagebuchs’ einsetzen! Um kein Risiko einzugehen, schlägt der Gutachter noch eine weitere Absicherung vor, für die er persönlich keine Verantwortung zu übernehmen braucht: ein „kurzes Geleitwort“. Solchen Lesehilfen entkam in der DDR fast keine Publikation; ‚Geleitworte' als ideologisch korrekte Leseanweisungen machten aber eben auch manche Veröffentlichung überhaupt erst möglich. Dr. S. schlägt also ein „Geleitwort“ vor - „von einem geschrieben, der den Faschismus auch als ‚kleiner Mann’, als politisch Unbedarfter an sich selbst erlebt hat und der - historisches Paradoxon - durch die Faschisten zum Kommunisten wurde“. Der Gutachter hat auch einen Vorschlag parat, wer das „Geleitwort“ schreiben könnte: „Ich würde etwa an [Günter] Kunert denken, als Typ, nicht unbedingt als Person“. Der Vorschlag, Günter Kunert um ein ‚Geleitwort’ zu bitten, war nicht ohne eine gewisse Delikatesse. Mitte der siebziger Jahre galt der Autor, 1929 als Sohn einer jüdischen Mutter und eines ‚arischen’ Vaters in Berlin geboren, zwar noch als ein achtenswertes Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR. Allerdings hatten die Ideologiewächter schon in den sechziger Jahren damit begonnen, auch öffentlich Kritik an dem Dichter zu üben und die Veröffentlichung seiner Werke zu behindern. 1976 unterschrieb Kunert dann die Künstler-Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, verlor daraufhin selbstverständlich sein SEDParteibuch und reiste 1979 in die Bundesrepublik Deutschland aus.

5.

Schritt: Erst jetzt kann der Gutachter auch deutlicher markieren, was eigentlich die Manuskripte Walter Tausks für eine Veröffentlichung empfiehlt. Da ist z.B. die Rede von einem „plastischen Eindruck von der Machterschleichung des Faschismus“, dem „Chronisten-Ethos“ des Tagebuchschreibers

475 sowie „ergreifenden Bekenner-Bekenntnissen“ eines „interessanten Menschen unter interessanten, historisch bedeutsamen Bedingungen“. Daß das Tagebuch auch „kaum lesbare Familien-Intim-Stellen“ enthält, darf demgegenüber vernachlässigt werden und kann im Einzelfall durch leichte Kürzungen reguliert werden: „Es ist auch gut und richtig, daß politische Fehleinschätzungen [...],kleinbürgerliche Borniertheit [...] und falsche Verallgemeinerungen so gegeben werden, wie das Manuskript sie enthält. Auch didaktische Fußnoten hielte ich für deplaziert“. Walter Tausk wird als „verfolgter Jude“ beschrieben, als „ein Getriebener in jeder Hinsicht“", ein Mensch ohne „persönliches Positivum“ und „ideelle oder praktische Selbstbestätigung“. Der Gutachter bescheinigt: Walter Tausk „will und muß nur davonkommen, durchkommen“. Das unterscheidet ihn, meint Dr. S., z.B. von Victor Klemperer, dessen Tagebücher er wohl nur in der Form des LTI-Buches kannte, und Anne Frank, die mit ihren Aufzeichnungen bewußt eine „gesellschaftliche Verantwortung“ und eine „gesellschaftliche Rolle“ übernahmen. 6.

Schritt: Sonderbar berühren die Anmerkungen, die der Gutachter zur „Kompliziertheit des Zusammengehörigkeitsgefühls jüdischer Bevölkerung im deutsch-polnischen Grenzgebiet“ macht. Im Zusammenhang mit Breslau von „Grenzgebiet“ zu sprechen, entsprach nicht dem Lebensgefühl der Zeit, in der Tausk lebte. Es geht eigentlich auch um ein ganz anderes und sehr schwerwiegendes Problem: Wer in der DDR von Breslau - also nicht von Wrocáaw - sprach, der war bereits als ‚Revanchist’ überführt! Dr. S. ist diese Gefahr gegenwärtig, die er allerdings positiv zu wenden weiß: „Natürlich wird das Buch auch ‚breslau-gebunden’ wirken. Man soll das durchaus einkalkulieren und die Attraktivität in dieser Hinsicht durch Bilder und authentische Dokumente auch unterstreichen, weil es ja reaktionärromantischen Heimattümlertendenzen wirksame Dämpfer aufsetzt“. Diese Argumentation erklärt schließlich auch, wie der damals in der DDR noch sensationell wirkende Titel ‚Breslauer Tagebuch’ überhaupt zugelassen werden konnte. Möglicherweise spielte dabei aber auch eine Rolle, daß z.B. der Union Verlag, der der Ost-CDU Gerald Göttings zugeordnet war,

476 schon 1971 Paul Peikerts „,Festung Breslau’ in den Berichten eines Pfarrers“ herausgebracht hatte. Diese Veröffentlichung war eine Lizenzausgabe des polnischen Ossolineum-Verlages in Breslau und auch in seiner deutschsprachigen Fassung für den Union-Verlag dort gedruckt worden. 7. Schritt: Auf welch schwankendem Boden sich der Gutachter insgesamt bewegte, illustrieren auch seine abschließenden Bemerkungen, mit denen er der Zensurbehörde förmlich Mut zuspricht: „Der Leser darf und muß klüger sein als der Autor, und ich glaube, daß es unser Leser ist. Vor 10 oder 15 Jahren hätten noch viele Einwände geltend gemacht werden müssen. Sowohl der Grad, der politischen Konsolidierung unserer Gesellschaft als auch der ideologische Entwicklungsstand rechtfertigen, ja fordern solche Bücher, in denen der Erlebnis-Nachvollzug Ausgangsmaterial ist, das schlüssige, vor der Gegenwart bestehen könnende Ergebnis, die Lehre, aber der eigenen Anstrengung des Gedankens bedarf“.

Die Lektorin des Verlages Rütten & Loening hat in ihrem Gutachten vom 18. November 1974 im wesentlichen das ihr bekannte Gutachten von Dr. S. ausgeschrieben. Der Vorschlag eines „Geleitwortes“ wird jedoch abgelehnt: „Wir meinen hingegen, daß Dokument und Vorwort (von Ryszard Kincel) für sich sprechen“19. Stärker betont als bei Dr. S. wird im Verlagsgutachten: „Das Buch richtet sich auch gegen die immer noch aktiven revanchistischen Landsmannschaften und Heimatverbände in der Bundesrepublik, zeigt es doch, daß gerade die deutschen Faschisten Schlesien in die Katastrophe führten. Auch in dieser Hinsicht halten wir es für einen glücklichen Umstand, daß ein polnischer Staatsbürger dieses Buch herausgibt und dadurch beweist, wie behutsam in der Volksrepublik deutsche Kulturgüter gepflegt werden“20. Die schwierige Logik dieser Argumentation scheint die Zensurbehörde endgültig überzeugt zu haben. Der ideologisch verformte Gutachteraufwand hat sich ge-

19 20

Siehe Anm. 15. Ebd.

477 lohnt: Das ‚Breslauer Tagebuch’ des Walter Tausk erlebte in der DDR bis 1988 nicht weniger als vier Auflagen, während es in der Bundesrepublik unbekannt blieb.

479 Das Ende des schlesischen Judentums im Spiegel der Tagebücher von Walter Tausk und Willy Cohn (2007)

Wenn von „Fluchtbewegungen, Vertreibungen, Umsiedlungen, Grenzverschiebungen im 20. Jahrhundert“ die Rede ist, kann vom Massenmord am jüdischen Volk nicht geschwiegen werden, der sich als Holocaust, Shoah oder auch Churban in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Die Juden waren die „Heimatvertriebenen der ersten Stunde“1 – zuerst in die Emigration und dann in den Tod! Eine wirklich angemessene Bezeichnung für die planmäßige Ausrottung von sechs Millionen Juden wurde bis heute nicht gefunden. Holocaust, wohl erstmals im Dezember 1942 im „News Chronicle“ gebraucht, ist seit der Ausstrahlung der gleichnamigen amerikanischen Fernsehsaga 1979 am meisten verbreitet. 1980 wurde der Begriff sogar zum „Wort des Jahres“ gewählt. Shoah begegnet bereits in der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel von 1948, wo bis heute der Jom-ha-Shoah, der Tag der Opfer des Massenmordes am jüdischen Volk, begangen wird, und bürgerte sich 1985 mit dem gleichnamigen Film von Claude Lanzmann verstärkt ein. Churban bzw. jidd. Churbn begegnet vor allem im jüdisch-theologischen Schrifttum. Alle drei Begriffe haben deutlich theologische Bezüge, was sie in der Sicht vieler Historiker mit falschen Assoziationen kontaminiert. Holocaust bedeutet Ganzopfer, Shoah bezeichnet ein großes Unglück, eine Katastrophe, Churban heißt Zerstörung und benennt in der jüdisch-jiddischen Literatur zunächst die zweifache Zerstörung des Tempels in Jerusalem, bevor der Massenmord am jüdischen Volk als „Dritter Churban“ eingestuft werden konnte. Da Shoah am wenigsten theologisch aufgeladen zu sein scheint, dürfte dieser Begriff noch am ehesten geeignet sein, das Unbeschreibbare in einem inzwischen auch international geläufigen Wort zu fassen.

Aber was ist schon damit gewonnen, wenn wir uns auf einen Begriff zu einigen vermögen? Damit wird die Unfaßbarkeit jener „großen Katastrophe“ doch auch nicht annähernd erfaßt, die zwischen 1933 und 1945 über das jüdische Volk planmäßig und mit konsequenter, mörderischer Brutalität gebracht wurde. Es begann ab 1933 und 1

Vgl. Thomas Lackmann, Die Heimatfalle. Die Entdeckung: Willy Cohns „Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums“ in: Der Tagesspiegel vom 9.11.2006.

480 der Machtergreifung Hitlers mit der schrittweisen Entrechtung und Verfolgung der Juden in Deutschland, führte weiter zur Arisierung des jüdischen Besitzes und endete in Ghettoisierung, Deportation, industriemäßigen Massenmorden in den Vernichtungslagern und exzeßhaften „Aktionen“ in den besetzten Gebieten, also dem systematischen Völkermord ab September 1939. Insgesamt wurden rund sechs Millionen Juden ermordet, nur etwa 280.000 deutschsprachigen Juden gelang die Emigration. Für den osteuropäischen Raum sind genauere Fluchtzahlen nicht zu ermitteln, da insbesondere in der Sowjetunion nicht erfaßt wurde, wie viele Juden sich auf deren Gebiet retten konnten. Die schaurigen Details der Shoah müssen hier nicht nachgezeichnet werden, sind sie doch in unzähligen wissenschaftlichen Studien und Erinnerungstexten längst unserem Volk zu unauslöschlicher Schande festgehalten worden. Und doch verlangt das Unfaßbare nach immer neuen Versuchen des Begreifens, was in jenen immer dunkler werdenden Jahren zunächst in Deutschland und dann in fast ganz Europa geschah.

I.

Wir sind hier in Breslau zusammengekommen, wo sich einst die drittgrößte jüdische Gemeinde – nach Berlin und Frankfurt am Main – befand. Deshalb sei hier der Versuch gewagt, dem Unfaßbaren im Mikrokosmos dieser Stadt deutlichere Konturen zu verleihen. 1925 zählte die schlesische Hauptstadt rund 573.000 Einwohner, von denen gut 23.000 Juden waren, was einem Bevölkerungsanteil von ca. vier Prozent sprach. Im Umfeld der Jüdischen Gemeinde Breslau wirkten 35 soziale und 20 kulturelle Vereinigungen. Zwei jüdische Nobelpreisträger, nämlich Fritz Haber und Max Born, waren Breslauer. Der Anteil von Juden in allen Segmenten des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens Breslaus war beträchtlich. Breslau war ein wichtiger jüdischer Ort, dessen Strahlkraft weit über die Stadtgrenzen hinaus reichte.

Was das bedeutet, soll hier einleitend durch jene Breslauer Institution exemplifiziert werden, deren Ruhm über ihren Untergang hinaus innerhalb der jüdischen Welt noch immer nachwirkt. Ich spreche vom berühmten Jüdisch-Theologischen Seminar

481 Fraenckelscher Stiftung: Am 27. Januar 1846 starb in Breslau der Kgl. Kommerzienrat Jonas Fraenckel (geb. 1773 in Breslau). Zusammen mit seinem Bruder David hatte Jonas Fraenckel schon 1836 in einem Erbvertrag das beträchtliche Familienvermögen für die Errichtung zahlreicher christlicher und jüdischer Wohltätigkeitseinrichtungen sowie für „ein Seminar zur Heranbildung von Rabbinern und Lehrern“ bestimmt2.

Die „Breslauer Schule“ hat den Typ des modernen Rabbiners geprägt, der in einer grundsätzlich konservativen Haltung um Anpassung des ererbten Glaubens und der ehrwürdigen Tradition an die Forderungen der Zeit bemüht ist3. Der „Breslauer Schule“ gelang es damit, in der 2. Hälfte des 19. Jh.s zunächst das Erscheinungsbild des deutschen Rabbiners umzugestalten. Dieses wirkte dann aber auch weit nach Südosteuropa über Wien und Budapest hinein, bevor es nach der Jahrhundertwende auch in Nordamerika zur Geltung kam4.

II.

Die nationalsozialistische antijüdische Politik von der Entrechtung über die Verfolgung bis hin zur Vernichtung vollzog sich in Schlesien, wo 1933 in der ganzen Provinz etwa 34.000 Juden ansässig waren, in der gleichen Weise wie im ganzen Deutschen Reich. Eingehende Regionaluntersuchungen zu dieser Endphase der Geschichte des schlesischen Judentums fehlen bis heute noch weitgehend, wenn es hier auch in den letzten Jahren zu einer verstärkten und vielversprechenden deutsch-polnischen Zusammenarbeit gekommen ist. Die Stufen der Verfolgung lassen sich aber zumindest in Umrissen auch am Beispiel Breslaus verdeutlichen.

2

Vgl. I. Rabin, Jonas Fränckel, in: Schlesische Lebensbilder 3, Breslau 1928 (ND: Sigmaringen 1985), S. 195-202 (Lit.). Daß Fränckel erste Anregungen für seine Seminarstiftung von Geiger empfing, wird heute zumeist übersehen, weil dieser dann mit der Gründung und Gestaltwerdung des Breslauer Seminars nichts mehr zu tun hatte, vgl. Geiger (Hg.), Abraham Geiger, S. 124ff. 3 Vgl. auch K. Fuchs, Zur Entstehung, Entwicklung und Schließung des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau (Fraenckelsche Stiftung), in: JSFWUB 31, 1990, S. 301-306. 4 Vgl. A. Altmann, The German Rabbi: 1910-1939, in: YLBI 19, 1974, S. 31-49; A. Jospe: A Profession in Transition. The Geman Rabbinate 1910-1939, in: ebd., S. 51-59.

482 Nach der Berufung Hitlers zum Reichskanzler und den für die NSDAP so erfolgreichen Reichstagswahlen vom 5. März 1933 kam es in Breslau zunächst zu organisierten Aktionen gegen jüdische Richter und Anwälte. Am 27. März wurde das Schächtverbot verkündet. Bis zum 3. April mußten Juden ihre Auslandspässe abliefern. Bereits am Nachmittag des 31. März standen die ersten „Plärrkommandos“ der SA vor jüdischen Warenhäusern und Geschäften, um auf den auch in Breslau exzeßhaft verlaufenen Boykott am 1. April einzustimmen. Zum 8. April bzw. 30. Juni wurde allen jüdischen Ärzten an den Städtischen Krankenanstalten gekündigt. Seit Mai 1933 arbeitete im Breslauer Polizeipräsidium das Judendezernat unter Leitung des Polizeirats Eile, der sich gerne „Judenschreck“ titulieren ließ. Ab Mitte November 1935 zieren rund 800 Einzelhandelsgeschäfte in Breslau Anschläge „Jüdische Vertreter nicht erwünscht“. Im Juli wurden die „Judenpässe“ eingeführt. Die arischen Dienstmädchen, die vom 1. Januar 1936 an nicht mehr in jüdischen Häusern arbeiten dürfen, legen in vielen Fällen gegen diese Maßnahme Beschwerde ein. Zu Anfang Oktober 1935 werden alle jüdischen Notare und noch amtierenden Richter zwangsbeurlaubt. In der „Polenaktion“ vom 27. Oktober 1938 wurden in Breslau etwa 3.000 Juden erfaßt und abgeschoben.

Im Zusammenhang mit der sogenannten „Reichskristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 meldete SS-Oberführer Katzmann für Breslau und Niederschlesien: „Breslau — 1 Synagoge niedergebrannt, 2 Synagogen zerstört, 2 jüdische gesellschaftliche Lokale zerstört, 1 Haus der Gesellschaft der Freunde demoliert, mindestens 500 Geschäfte demoliert, mindestens 10 jüdische Gasthäuser demoliert; mit Hilfe der Polizei wurden mindestens 600 Männer verhaftet, ungefähr 35 andere jüdische Unternehmungen wurden zerstört [...].“5 Zu ähnlichen Ausschreitungen kam es in ganz Schlesien, alleine in Oberschlesien wurden etwa 500 jüdische Männer in Konzentrationslager verschleppt6, vor allem nach Buchenwald. Der Jüdische Kulturbund, der zunächst verboten worden war, mußte am 24. No5

Zitiert nach K. Jonca, Judenverfolgung und Kirche in Schlesien, in: St. Jersch-Wenzel, Deutsche – Polen –Juden. Ihre Beziehungen von den Anfängen bis ins 20. Jh. ( = Einzelveröffentlichungen der Hist. Kommission zu Berlin 58), Berlin 1987, S. 169-189, bes. S. 226f. 6 Vgl. ebd., S. 218. Nach H. Stein, Juden in Buchenwald 1937-1942, Gedenkstätte Buchenwald 1992, S. 42, wurden nach der „Reichskristallnacht“ aus Breslau 2.471 Juden in Buchenwald eingeliefert. Damit wurde die Zahl der Breslauer Juden in Buchenwald nur noch geringfügig von der der Frankfurter (2.621) übertroffen.

483 vember 1938 wieder aktiviert werden, bevor er dann im September 1941 endgültig aufgelöst wurde. In der zweiten Jahreshälfte 1939 wurden in Breslau die „Judenbänke“ eingeführt, ein Ausgehverbot für Juden ab 20 Uhr verhängt und der Einkauf durch Juden nur noch bei bestimmten Händlern gestattet. Zwischen September und Dezember 1939 wurde das Jüdische Krankenhaus zuerst teilweise geschlossen und dann zusammen mit Siechenhaus und Altersheim restlos „evakuiert“. Am Hohen Feiertag des Jom Kippur am 22. September 1939 waren alle Gottesdienste verboten bis auf einen Jugendgottesdienst in der „Rhediger-Schule“ und einen Gottesdienst für die Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde im Gemeindehaus in der Wallstraße. Zwischen September und November 1939 beschlagnahmte die Gestapo zunächst die Kleider- und dann auch die Lebensmittelkammer des Wohlfahrtsamtes der Jüdischen Gemeinde. Noch 1939 zählte die jüdische Bevölkerung der schlesischen Hauptstadt aber 10.309 Personen.

Im Juni 1941 weilte Leo Baeck in Breslau und erklärte in einer synagogalen Feierstunde: „Früher hatten wir viel Sicherheit und wenig Gewißheit, jetzt haben wir die Gewißheit und wenig Sicherheit“7. Im Sommer 1941 tauchten erste Gerüchte über eine Evakuierung der Breslauer Juden in das Generalgouvernement auf. Zunächst aber kam es zu kleineren Aussiedlungsaktionen im Juli/August 1941, vor allem nach Tomersdorf bei Görlitz, die dazu dienten, jüdische Wohnungen für andere Zwecke freizumachen. Seit dem 19. September 1941 muß in Breslau der Judenstern getragen werden: „Das Publikum hat sich durchaus tadellos benommen“8, wie ein jüdischer Zeitzeuge notierte. Im Oktober und November 1941 finden größere Aussiedlungsaktionen nach Grüssau, Landeshut und Riebnig/Kreis Brieg statt, die den Auftakt zur „Ausmordung des jüdischen Volkes“ auch in Breslau bilden. Es folgten bis in das Jahr 1942 hinein alle jene Verbote, die der legalen Existenz von Juden in der „deutschen Volksgemeinschaft“ ein Ende setzten9.

7

Vgl. Willy Cohn, Kein Recht, nirgends. Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 19331941, hg. von N. Conrads ( = Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte 13), Köln-Weimar-Wien 2006, Bd. 2, S. 948. 8 Ebd., S. 982. 9 Vgl. K. Jonca, Schlesiens Juden unter nationalsozialistischer Herrschaft, in: F.-C. Schultze-Rhonhof, Geschichte der Juden in Schlesien im 19. und 20. Jh., Hannover 1995, S. 55-65; F. Poáomski, Die „Arisierung” des jüdischen Vermögens in Schlesien 1933-1945, in: ebd., S. 67-74.

484 Zwischen dem 25. November 1941 und April 1944 wurde die Judenheit Breslaus in 15 Transporten deportiert, zuerst nach Kaunas/Kowno, dann nach Theresienstadt und Auschwitz. Übrig blieben lediglich 150 Juden, die mit arischen Ehepartnern verheiratet waren10. Ähnliche Dimensionen erreichte das nationalsozialistische Vernichtungswerk in ganz Schlesien: „Es ist nicht festzustellen, wieviel Juden in Schlesien den Krieg überlebten. Eins steht unzweifelhaft fest, daß es nur ein Häuflein von Menschen war, das aller Menschenrechte beraubt überleben konnte. Die Gestapo setzte noch während der Belagerung der ‚Festung Breslau’ bis zum 6. Mai 1945 die Judenverfolgung fort. Noch im März 1945 plante sie, alle Juden, die bisher der Deportation entgangen waren, auf ein beschädigtes Schiff zu laden und in der Nähe des Oderhafens zu versenken.“11

Nach dem Ende des Krieges lebten in Schlesien, abgesehen von einigen Ausnahmen, nur noch solche Juden, die durch „privilegierte Mischehen“ geschützt worden waren. In Breslau gehörten im Juni 1945 etwa 2.000 Juden dem Jüdischen Komitee an, von denen 200 als polnische Juden bezeichnet wurden12: Das Verhältnis beider Gruppen war schlecht, zu Unterschieden kultureller und ritueller Art kam auch der nationale Gegensatz. Die Breslauer Juden mußten das besonders tragische Schicksal erleiden, zunächst von den Nationalsozialisten aufgrund ihrer „Rasse“ brutal verfolgt, um dann nach Kriegsende von den zuwandernden Polen, auch von den polnischen Juden, als Deutsche diskriminiert zu werden13. Ein zeitgenössischer Bericht charakterisierte die Lage mit den Worten: „Es blieb also weiter nichts übrig als erneute Auswanderung. [...] Das war das Los der deutschen Juden und Antifaschisten, die aus den nationalsozialistischen Kon-

10

Die Zahlenangaben, hier nach B. Brilling, Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens. Entstehung und Geschichte (= Studia Delitzschiana 14), Stuttgart 1972, S. 43, geben allenfalls Annäherungswerte an und werden wahrscheinlich niemals exakt zu präzisieren sein. 11 Jonca, Judenverfolgung und Kirche (wie Anm. 24), S. 226. 12 Vgl. M. Ordylowski, ĩycie codzienne we Wrocáawiu 1945-1948, Wrocáaw 1991, S. 35. 13 Vgl. J. Rogall, Die Deutschen in Breslau vor der Kapitulation bis Ende 1945, in: Beiträge zur deutsch-polnischen Nachbarschaft. FS für Richard Breyer, hg. von C. J. Kenéz u.a., Berlin-Bonn 1992, S. 138-151, bes. S. 143.

485 zentrationslagern zurückkamen - unter der polnischen Verwaltung, von Rußland geduldet.“14

III.

Die Leidensgeschichte der Breslauer Juden in Daten und statistischen Angaben zu erfassen, ist eine Sache, aber was begreifen wir dabei von dem, was Shoah wirklich bedeutet? Um das allmähliche Heraufziehen des Verhängnisses, die Unüberschaubarkeit der damaligen Situation und die durchaus verschiedenartigen sozialen und politischen Konditionen der jüdischen Opfer begreifen zu können, empfiehlt sich das Studium von Tagebüchern als Protokollen des alltäglichen Elends – bis hin zu jener letzten, oft erschütternd banalen Eintragung, die den Tagebuchschreibern noch möglich war. Das Schreiben eines Tagebuchs erfordert einerseits ein gewisses Maß an Selbstbewußtsein: „Das Tagebuchschreiben ist der typische Ausdruck der typischen Überschätzung des eigenen Ichs“ (Ödon v. Horvath)15. Andererseits gilt für Tagebücher aber auch das ernüchternde Bonmot Susanne zur Niedens: „Sie setzen ebensowenig ein Publikum wie einen Schriftsteller voraus. Jeder kann sie schreiben, niemand muß sie lesen“. Tagebücher werden - so die gängige Typologie - entweder als reine Notizensammlungen zum privaten Gebrauch, als Erinnerungsstütze, als Materialsammlung für den Schriftsteller, so etwa im Falle Thomas Manns, oder aber von vorneherein im Blick auf eine spätere Publikation geschrieben, wie das z.B. bei Ernst Jünger oder Max Frisch der Fall war.

Eine besondere Form des Tagebuchs, die sich nicht ohne weiteres in die übliche literaturwissenschaftliche Typologie einfügen läßt, ist das Tagebuch in totalitären Zeiten. Dieses enthält zwar alle Elemente der üblichen Tagebuchtypen, ist also auch Faktensammlung, Journal der politischen Entwicklungen, Protokoll des Alltags und Spiegel der inneren Biographie des Tagebuchverfassers zwischen Selbstbetrach14

Bericht des ehemaligen Bezirksbürgermeisters H. aus Breslau 1946, in: Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, hg. vom Bundesministerium für Vertriebene, Bd. 1.2, München 1984 (Erstdruck 1954), S. 327-336, bes. S. 333. 15 Ödon v. Horváth, Jugend ohne Gott (= Suhrkamps Basis Bibliothek 7), Frankfurt/M., S. 57.

486 tung und Selbstrechtfertigung, vor allem ist es aber Ersatz für alle die Gespräche und Kontakte, die in Zeiten totalitärer Machtausübung nicht mehr möglich sind. Dabei muß der Begriff des Gesprächs allerdings möglichst weit gefaßt werden. Er umfaßt sowohl die private Kommunikation in der Familie und im sonstigen persönlichen Umfeld wie auch die halböffentlichen Äußerungen in der Straßenbahn, im Laden oder vor dem Kino und vor allem die öffentliche politische Auseinandersetzung. Das Tagebuch in totalitären Zeiten ist vor allem Selbstgespräch. Die Einsamkeit, die diese Texte umgibt, ist jedoch keine selbstgewählte, sondern eine von außen her erzwungene. Der unter konspirativen Bedingungen lebende Widerständler, die untergetauchte Jüdin, der in die „innere Emigration“ abgewanderte Künstler, die in der Zelle auf ihr Urteil Wartenden oder auch diejenigen, die sich gegenüber den totalitären Zumutungen zu verweigern versuchen, benutzen ihre Tagebücher als Kontaktersatz und als Aussprachemöglichkeit ohne direkte Antwort. Wo man nicht mehr einfach irgendwen fragen kann, wie dieses oder jenes eigentlich gewesen sei, muß man sich alles aufschreiben. Notiert werden muß auch alles, was zunächst nicht klar ist. In totalitären Diktaturen an wahrheitsgemäße Informationen heranzukommen, ist systembedingt außerordentlich schwierig. Die Tagebuchschreiber müssen ständig Zusatzinformationen sammeln, diese kritisch untereinander abgleichen, weitere Erkundigungen einziehen, Gerüchte überprüfen und in andere Gespräche hineinhören, um oft erst nach Tagen an die (manchmal lebenswichtige) Wahrheit heranzukommen. Viele Fragen bleiben jedoch auch unbeantwortet. Ja, es scheinen die Fragen im Lauf der Zeit zuzunehmen, auf die die Schreiber selber keine Antwort mehr erwarten. Je länger die Einsamkeit der Tagebuchschreiber andauert, um so wichtiger werden - angesichts des wachsenden gesellschaftlichen Kontrollverlustes - auch alle Formen der persönlichen Selbstvergewisserung - von der Selbstbetrachtung über die Selbstrechtfertigung bis hin zur bekenntnishaften Selbstanalyse. Tagebücher in totalitären Zeiten dienen übrigens gar nicht so selten auch einfach dem Zeitvertreib, um nicht vom Zeittotschlagen zu reden. Wer nicht mehr in die Öffentlichkeit kommt und überhaupt nur noch über sehr minimale menschliche Kontakte verfügt, der füllt seine Zeit eben auch mit der Niederschrift über Dinge aus, die ihm unter „normalen Umständen“ keine Zeile wert

487 gewesen wären. Alle Tagebücher in totalitären Zeiten appellieren aber mehr oder weniger deutlich auch an die Nachwelt. Die Nachgeborenen sollen erfahren, in welchen finsteren Zeiten der Tagebuchschreiber zu leben gezwungen war. Diese Perspektive verleiht jenen Tagebüchern immer auch den Charakter eines Testaments. Es geht um ein letztes Wort, um das Zeugnis für spätere Zeiten und das Weiterwirken über den eigenen Tod hinaus.

In dem Maße, in dem die reale Heimat unter dem Druck der totalitären Repressionen entfremdet wird, gewinnt das Tagebuch die Bedeutung der „eigentlichen Heimat" für den längst Heimatlosen. Hier ist er noch Herr seiner Erinnerungen, Wertvorstellungen, Hoffnungen, Irrtümer, Ängste. Deshalb hält der Heimatlose auch bis zuletzt fest an der „eigentlichen Heimat“ seines Tagebuchs. Nur dort kann die eigene Identität noch aufrechterhalten werden. Deshalb wird es auch so wichtig, das Tagebuch an die Nachgeborenen weiterzugeben. Das Tagebuch ist eben nicht nur ein Stapel vollgeschriebener Hefte. Unter dem Druck der Zeit ist es zum tatsächlichen Leben, zur unverfälschten Identität und damit zur „eigentlichen Heimat“ geworden. Das fiktive Leben solcher Tagebücher erweist sich oft dauerhafter als manches direkt gelebte Leben.

Gerade die Jahre des Nationalsozialismus sind zutreffend einmal als das „Zeitalter der Tagebücher“ (Gerhard Nebel) bezeichnet worden. Die Liste der veröffentlichten Tagebücher aus nationalsozialistischer Zeit ist beträchtlich. Die größte Verbreitung fand das „Tagebuch der Anne Frank“. An Umfang und Genauigkeit der alltäglichen Beobachtungen kaum zu übertreffen sind die Tagebücher Victor Klemperers. Erinnert sei aber auch an die Tagebücher von Erich Kuby, Ursula von Kardorff, Margaret Boveri, Luise Rinser, Ernst Jünger, Ruth-Andreas Friedrich oder Ulrich von Hassell. Besondere Bezüge zu Breslau bzw. Schlesien weisen die Tagebücher von Jochen Klepper und Paul Peikert auf. Für unser Thema von besonderer Wichtigkeit aber sind die Tagebücher von Walter Tausk und Willy Cohn.

488 IV.

Der verdienstvolle polnische Entdecker der Aufzeichnungen Walter Tausks, Ryszard Kincel, teilte zum Autor des „Breslauer Tagebuchs“, das ich 2000 in einer ausführlich kommentierten Neuausgabe vorlegte, mit: „Walter Tausk, der seit dem 1. Januar 1938 im Sinne der Rassengesetzgebung den zusätzlichen Vornamen Israel führte, wurde am 16. April 1890 in Trebnitz geboren, wo sein Vater als Kaufmann ansässig war. Walter war von Beruf Dekorateur und bestritt seinen Lebensunterhalt als Vertreter für Möbel, Innenausstattung und Textilbekleidung. Er hatte das Gymnasium in Hirschberg besucht (wo er übrigens Primus war) und auch eine praktische Ausbildung als Tischler erhalten. Danach vervollständigte er seine Kenntnisse, indem er im Wintersemester 1910/1911 an der Königlichen Kunstakademie Breslau Vorlesungen hörte.“16

Weiter erfahren wir aus Kincels Vorwort, daß die Familie Tausk 1892 nach Breslau kam, was auch die Breslauer Adreßbücher belegen. Der junge Handelsvertreter war eine unglückliche Natur. Eigentlich fühlte er sich als Künstler, als Schriftsteller. „Ich schreib's auf, weil ich nicht anders kann", bekannte Tausk in einer Tagebucheintragung vom 14. November 193817, als schon jede Hoffnung hinfällig geworden war, das Geschriebene jemals an die Öffentlichkeit bringen zu können. In besseren Zeiten hatte er an einem Roman „Werner Baron“ gearbeitet, der niemals erschien. Seine Novelle „Olaf Höris Tod“ hingegen wurde 1924 in Buchform gedruckt. Im Zentrum seiner weiteren publizistischen Bemühungen stand Tausks Engagement für den Buddhismus, das ihn sogar zu „einer Art Ideologe und philosophischem Führer der Breslauer Buddhisten“ aufsteigen ließ.

Minutiös hat Tausk in seinem Tagebuch den „alltäglichen Faschismus“ (Michail Romm) beschrieben, wie er ihn in Breslau erlebte. Die persönliche Situation des Tagebuchschreibers verschärfte sich auch dadurch, daß er zunächst jeden Kontakt zur jüdischen Gemeinde ablehnte, von der er sich mit der abschätzigen 16

Vgl. Walter Tausk, Breslauer Tagebuch 1933-1940. Hg. von R. Kincel. Mit Anmerkungen von P. Maser sowie einem Gespräch zur Neuausgabe des Bandes, Berlin 2000, S. 5. Ebd., S. 196 (14.11.1938).

17

489 Bezeichnung „Judenkirche“ distanzierte18. Ebenso heftig waren seine Aversionen gegen den Zionismus19. So zog Tausk immer wieder über die „vorzugsweise polnischen Juden“ her, die er einmal „Überzionisten“ nennt, „die überall auf Erden Antisemitismus machen"20. Unter dem ständig wachsenden Verfolgungsdruck mußte Walter Tausk seine Distanz zur jüdischen Gemeinde allerdings bald abbauen, hatte er doch nur über deren Dienststellen die Möglichkeit, die Hilfe jener Einrichtungen und Organisationen in Anspruch zu nehmen, die bedrängten Juden zu helfen versuchten.

Tausks Hoffnungen auf wirksame Hilfe flammten rasch auf, erloschen aber eben so schnell wieder, wie er erkennen mußte, daß tatsächliche Hilfe kaum möglich war21. Diese sah er deshalb eigentlich nur noch in der Auswanderung. Aber auch diese Emigrationsprojekte zerschlugen sich mit grausamer Regelmäßigkeit22, weil Tausk einfach zu arm war, über keine wirksamen Verbindungen in das jüdische Milieu verfügte und insgesamt wenig zielstrebig agierte.

Die letzte Eintragung trug Walter Tausk am 5. März 1940 in sein Tagebuch ein, er notierte, „daß Polen so zugerichtet ist, daß es noch nicht in fünfundzwanzig Jahren vom Kriege wieder aufgebaut“ sein wird23. Das ganze Jahr 1940 lebte Tausk noch in Breslau, was aus verschiedenen Korrekturvermerken in seinen Tagebüchern zu erschließen ist. 1941 erhielt er sogar noch eine neue Judenkarte ausgestellt. Dann wurden die Sammellager für die Breslauer Juden im Schießwerder und in Riebnig, Kreis Brieg, eingerichtet. Die erste große Razzia fand in Breslau am 21. November 1941 statt und erfaßte 877 Juden. Unter ihnen war Walter Tausk mit seiner Mutter und seiner Schwester Ilse. Bereits am 25. November wurde diese erste Gruppe von mehr als tausend Breslauer Ju-

18

Vgl. ebd., S. 32 (7.3.1933). Vgl. ebd., S. 87 (3.7.1933), 138f. (12.1.1936), 162f. (14.10.1938). Vgl. ebd., S. 149 (15.5.1936). 21 Vgl. ebd., S. 101 (13.8.1933), 150 (21.5.1936), 205f. (27.11.1938), 218 (5.2.1939), 236 (28.9.1939) und 247f. (26.12.1939). 22 Vgl. ebd., S. 47f. (30.3.1933), 87f. (3.7.1933), 116 (21.10.1933), 147 (10.4.1936), 155 (11.9.1938), 156 (20.9.1938), 160f. (1.10.1938), 165f. (21.10.1938), 205f. (24.11.1938), 208ff. (11.12.1938), 239f. (22.10.1939), 246f. (26.12.1939), 254ff. (25. und 27.2 sowie 5.3.1940). 23 Vgl. ebd., S. 257. 19 20

490 den, darunter mindestens 150 Kinder, nach dem litauischen Kaunas/Kowno deportiert. Der Tagebuchschreiber starb zusammen mit seiner Schwester Ilse am 29. November 1941 bei einer Massenexekution des SS-Einsatzkommandos 3, des Polizeibataillons 11 und litauischer Hilfswilliger unter Leitung von SSStandartenführer Karl Jäger im Fort IX24. Seine Schwester Hertha wurde im April 1942 in den Tod evakuiert, während seine Mutter ihren 90. Geburtstag am 11. Mai 1942 noch in einem Breslauer jüdischen Altersheim erlebte, bevor die Greisin im Frühherbst nach Theresienstadt deportiert wurde, wo sie verschollen ist.

Am 30. Januar 1942 lösten Beamte des Breslauer Oberpräsidentenbüros die Wohnung der Tausks auf. In der erhalten gebliebenen Aufstellung heißt es: „Ein Schränkchen mit Büchern, die Erinnerungen vom Weltkrieg bis heute enthalten, maschinengeschrieben und leicht gebunden“. Eine spätere Hand hat dem Protokoll hinzugefügt: „Zur Nachprüfung wegen Hetzschrift.“25 Auf welchem Weg die insgesamt sieben Tagebuchbände aus der Zeit von 1925 bis 1940 zusammen mit fünf Bänden Briefen in die Universitätsbibliothek Breslau gelangt sind, wo sie 1949 unter der Signatur Ako. 1949 KN 3151-1354 akzessioniert wurden, ist heute nicht mehr festzustellen.

V.

„Nirgends ist mehr Recht in Deutschland! Nirgends“: Zu dieser Überzeugung gelangte der Breslauer Studienrat und Historiker Willy Cohn bereits drei Wochen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung26. Wer sich näher mit der Geschichte des jüdischen Breslau oder mit der normannisch-staufischen Geschichte befaßt hat, dem ist der Name Willy Cohns durchaus vertraut27. Schon vor dem Er-

24

Vgl. Wolfgang Scheffler, Massenmord in Kowno, in: Wolfgang Scheffler/Diana Schulle (Bearb.), Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden, München 2003, Bd. 1; S. 83-87. In der dort abgedruckten Liste des Transports „Breslau – Kowno 25.11.1941“, S. 171-187, finden sich die Namen der Geschwister Tausk auf S. 187. 25 Vgl. Tausk, Tagebuch, S. 18. 26 Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 13 (24.2.1933). 27 Vgl. das 491 Nr. umfassende Schriftenverzeichnis Willy Cohn, in: Willy Cohn, Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang. Hg. von N. Conrads ( = Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 3), Köln-Weimar-Wien 1995, S. 675-734.

491 scheinen seiner Tagebücher durfte man den Autor als den bedeutendsten Chronisten des Breslauer Judentums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnen28. Dieses Urteil bezog sich zunächst auf seine Lebenserinnerungen, die in der Zeit seines Berufsverbotes 1940/41 niedergeschrieben wurden und 1995 erschienen29.

Willy Cohn stammte aus einer Breslauer Kaufmannsfamilie, seine Mutter war eine geborene Hainauer aus der bekannten Musikverlegerfamilie. Die Eltern waren wohlhabend und bauten sich 1902 am Breslauer Ring ein großes Geschäftshaus im Jugendstil. Cohns Eltern verstanden sich als deutsche Juden, die dem im „Dreikaiserjahr“ 1888 geborenen Sohn den Namen des Kaisers Wilhelm gaben. Sie gehörten zur liberalen Neuen Synagoge am Schweidnitzer Stadtgraben, wo sie einen eigenen Platz mit Namensschild besaßen und Willy Cohn 1901 die Bar-mizwah feierte.

Cohn begann 1906 ein geschichtswissenschaftliches Studium in Breslau. 1909, noch keine 21 Jahre alt, legte er seine Dissertation zur Geschichte der normannisch-sizilischen Flotte vor, die ihm allmählich auch internationale Beachtung sicherte. Walter Laqueur, der Cohn als Lehrer am Johannes-Gymnasium erlebte, erinnert sich, daß dieser als „Normannen-Cohn“ bekannt war. Die PennälerBezeichnung „WC“ war weniger unehrerbietig, als sie zunächst klingen mag, diente sie doch der Unterscheidung zu Alfred Cohn, der als „AC“ in Schülerkreisen bezeichnet wurde30. Die Hoffnungen auf eine akademische Laufbahn mußte Willy Cohn frühzeitig begraben. Eine direkte Ablehnung seines Habilitationswunsches vermied er31. Noch zehn Jahre später sollte auch Edith Stein mit ihrem Habilitationswunsch in Göttingen scheitern. Die Hoffnungen auf eine Professur für mittlere und neuere Geschichte an der neugegründeten Pädagogischen Hochschule zer-

28

Vgl. Arno Herzig, Der Historiker Willy Cohn (1888-1941, in: „... der den Erniedrigten aufrichtet aus dem Staube und aus dem Elend erhöht der Armen“. Die Fünfte Josef-Carlebach-Konferenz. Unvollendetes Leben zwischen Tragik und Erfüllung, hg. von M. Gillis-Carlebach und W. Grünberg, Hamburg 2002, S. 98-107. 29 Vgl. Cohn: Verwehte Spuren (wie Anm. 46). 30 Vgl. Laqueur, Tragik (wie Anm. 57). 31 Vgl. Cohn, Verwehte Spuren (wie Anm. 46), S. 342.

492 schlugen sich. Cohn war überzeugt, er hätte 1929 den Ruf erhalten müssen, wenn er nicht „Jude gewesen wäre und den Namen Cohn getragen hätte“32.

Angesichts dieser Lage ging Cohn in den Schuldienst, wo er – „eher klein, mit einem rundlichen Gesicht, kahlköpfig, freundlich“33 – durchaus erfolgreich war. 1913 hatte er geheiratet, 1915 wurde der erste Sohn geboren. Cohn stand zu dieser Zeit in Frankreich an der Front. Auf das damals verliehene Eiserne Kreuz blieb er dauerhaft stolz, noch 1934 bewarb er sich um das neu geschaffene Ehrenkreuz des Weltkrieges34.

Die Erfahrung, daß jüdische Frontkämpfer trotz allem patriotischen Einsatz zurückgesetzt wurden, bestärkte Cohns Zweifel am Sinn jüdischer Assimilationsbestrebungen. Er wandte sich einem entschiedenen Zionismus zu, in dessen Mittelpunkt der Aufbau eines jüdischen Palästina stand. Politisch orientierte sich Cohn auf die Sozialdemokratie, wurde aktives Mitglied der SPD und schrieb Artikel und sozialistische Biographien für die Jugend35. Ein Sozialist blieb er sein Leben lang, das Grab Lassalles auf dem Friedhof an der Lohestraße besuchte er regelmäßig. Als Cohn aus dem Lehramt gejagt wurde, blieb offen, was ihn mehr belastete, sein Judesein oder seine prominente SPD-Zugehörigkeit.

Über viele Jahre waren die Tagebücher Willy Cohns unbekannt geblieben, erst 1975 erschien, herausgegeben von Joseph Walk, in Jerusalem ein Taschenbuch „Als Jude in Breslau — 1941“36, das 1984 auch in Deutschland publiziert wurde37. Damit wurde allmählich erkennbar, welche unvergleichliche historische Überlieferung hier die finsteren Zeiten der Verfolgung überdauert hatten. Norbert Conrads, dem Stuttgarter Historiker und Schlesien-Spezialisten, ist es zu verdanken, daß das umfangreiche Tagebuchwerk Willy Cohns, das in Umfang und Bedeutung 32

Vgl. ebd., S. 544. Vgl. Laqueur, Tragik (wie Anm. 57). 34 Vgl. Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 156 (12.9.1934). 35 Vgl. die Lebensbilder von Lassalle (1921), Karl Marx (1923), Robert Owen (1924), Friedrich Engels (1925) und August Bebel (1927) im zitierten Schriftenverzeichnis Willy Cohns (vgl. Anm. 26). Auch diese Bücher wurden am 10. Mai 1933 in Breslau öffentlich verbrannt. 36 Willy Cohn, Als Jude in Breslau – 1941. Hg. von J. Walk, Jerusalem 1975. 37 Ders., Als Jude in Breslau 1941. Hg. von J. Walk ( = Bleicher-Taschenbuch), Gerlingen 1984. 33

493 gleichrangig neben das Viktor Klemperers tritt, jetzt in kompletter Auswahl allgemein zugänglich ist38. Seine Einleitung in die Tagebücher bietet einen hier dankbar genutzten Überblick über die rund tausend Druckseiten der Aufzeichnungen Willy Cohns.

Das Überdauern der Tagebücher von Willy Cohn erklärt sich ähnlich wie das der Aufzeichnungen von Walter Tausk. Der Judenmord war bürokratisch organisiert. Die zur Evakuierung vorgesehenen Juden wurde zwei Wochen vor dem Abtransport per Post benachrichtigt, wann sie ihren Besitz und ihre Wohnung zu übergeben hatten. Drei Wochen vor dem Deportationsbescheid vom 17. November 1941 waren „arische“ Berliner Verwandte bei ihm zu Besuch, mit ihnen muß damals abgesprochen worden sein, wie die Manuskripte in Berlin sichergestellt werden sollten. Dort haben die Aufzeichnungen den Krieg überdauert, so daß sie später den überlebenden Kindern Willy Cohns übergeben werden konnten. Die 120 Manuskripte Cohns befinden sich heute in den Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem unter der Signatur P 88, darunter nicht weniger als 112 erhaltene Tagebuchhefte aus den Jahren 1907 bis 1941.

Seit 1907 hat Cohn täglich Tagebuch geführt, der Gesamtumfang dürfte über 10.000 handschriftliche Seiten ausmachen. Tagebuchführen war für ihn Pflicht, Orientierungshilfe in allen äußeren und inneren Umbrüchen, aber auch ein

38

Vgl. die Literaturhinweise in Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 26), Bd. 1, S. IXf. Anm. 6. Walter Laqueur, Die Tragik der deutschen Juden, in: Die Welt vom 29.1.2007, vergleicht Cohns Tagebücher mit denen von Viktor Klemperer: „Die Bedeutung [der Tagebücher Cohns] besteht darin, daß die Tagebücher wie kein anderes Dokument den Untergang des deutschen Judentums schildern [...]. Damit soll die Bedeutung der berühmteren Tagebücher von Viktor Klemperer nicht geschmälert werden, aber Klemperer befand sich in mehrerlei Hinsicht in einer Sonderstellung; er lebte in einer sogenannten privilegierten Mischehe, war getauft (‚schlecht getauft’, hätte Sigmund Freud gesagt, denn er konnte seine Ressentiments dem Judentum und besonders dem Zionismus gegenüber nie überwinden). Als menschliches Dokument sind Klemperers Aufzeichnungen von größtem Interesse, aber über die deutschen Juden, ihre Lage und Ängste sagt es in Wahrheit nur wenig aus, denn Klemperer lebte abseits von ihnen. Willy Cohn war anders: bewußter Jude, fromm Zionist, und recht häufig schimpft er über das würdelose Assimilantentum besonders unter wohlhabenden Juden, denen nicht einmal nach der ‚Machtergreifung’ von 1933 klar war, was die Stunde geschlagen hatte.“ Vgl. weiter Cord Aschenbrenner, Deutscher Patriot und Zionist. Der Untergang des Breslauer Judentums in den beklemmenden Aufzeichnungen Willy Cohns, in: Neue Zürcher Zeitung vom 27.12.2006; Helga Hirsch, Willy Cohn: „Kein Recht, nirgends“. Sendung vom 12.1.2007, in: www.dradio.de/dkultur/sendungen/ politischesbuch/582189; Karsten Deventer/Otto Langels, Die Aufzeichnungen des Breslauer Historikers Willy Cohn 1933-41. Sendung vom 31.1.2007, in: www.dradio.de/dkultur/sendungen/zeitreisen/5888726.

494 selbstauferlegter Zwang. Der Gedanke an eine Veröffentlichung hat ihm wohl zumindest zunächst ferngelegen. Als Historiker war Cohn sich aber auch durchaus bewußt, ein exemplarisches Schicksal zu erleiden, das einmal von allgemeinem Interesse sein könnte. 1935 notierte er z.B.: „Ich will hinfort in diese Bücher stärker unser Judenschicksal einschreiben, vielleicht ist es für spätere Geschlechter interessant.“39 Diese Perspektive blieb dem Tagebuchschreiber stets gegenwärtig, so notierte er im November 1938 unter dem Eindruck der „Reichskristallnacht“: „Oft schreibe ich jetzt in diesem Buch. Wenn es die Zeiten überdauern sollte, wird es vielleicht einmal späteren Generationen sagen, was ein jüdischer Mensch in dieser Zeit gelebt und gelitten hat.“40

Im Unterschied zu Tausk, der eher ein Randsiedler der Breslauer Judenheit und überhaupt der dortigen Bürgergesellschaft war, spielte Cohn in Breslau, in Schlesien und teilweise auch darüber hinaus eine öffentliche Rolle. Er war bekannt und kannte viele Persönlichkeiten im Bildungsbereich und in der jüdischen Gemeinde persönlich. Vor allem das Bildungs- und Schulwesen der Gemeinde war ihm wichtig. Als überzeugter Zionist sah er sich aber auch immer stärker in deutlicher Distanz zu seinen assimilierten und materialistisch eingestellten Glaubensbrüdern. Die Treue zu sich selbst machte ihn in mancher Hinsicht einsam, seine zionistische Kompromißlosigkeit wurde auch innerhalb der eigenen Familie problematisch. Die Repressionen, die Cohn in wachsendem Ausmaß ertragen mußte, interpretierte er in deutlicher Resignation als Gottes Willen. Immer wieder quälte er sich mit der Frage, inwieweit die Juden selber Anteil an dem Unheil hatten, das über sie hereinbrach. In seinen Tagebüchern äußerte Cohn – wenn überhaupt – nur diskrete Kritik am politischen System, dem er sich ausgesetzt sah. Das hatte sicherlich viel mit der nicht auszuschließenden Gefahr zu tun, seine Aufzeichnungen könnten der Gestapo in die Hände fallen. Die politische Desorientierung des Tagebuchschreibers dürfte sich aber auch aus seinen sozialistischen und patriotischen Bindungen erklären. Den sozialen Nationalismus konnte und wollte Cohn nicht grundsätzlich ablehnen! 39 40

Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 263 (19.8.1935). Ebd., Bd. 2, S. 558 (30.11.1938), vgl. auch S. 569 (19.12.1938).

495 Die thematisch spezifizierte Aufarbeitung der Tagebücher bleibt eine Zukunftsaufgabe. Eine hervorgehobene Rolle spielte selbstverständlich das jüdische Breslau mit seinen verschiedenen religiösen, politischen und sozialen Gruppierungen, Institutionen und Gremien. Cohn beobachtete die ständigen Einschränkungen des jüdischen Lebens in seiner Heimatstadt mit großer Anteilnahme, mußte aber auch die Erfahrung machen, daß sich viele Gegensätze unter dem äußeren Druck eher noch verschärften. Da Cohn nach seiner Zwangsemeritierung auf zusätzliche Einnahmen angewiesen war, unternahm er, so lange das noch möglich war, zahlreiche Vortragsreisen. Auch seine Beobachtungen aus den jüdischen Gemeinden in der schlesischen Provinz sind als Zeitzeugenberichte kaum zu unterschätzen, bieten sie doch einen unsentimentalen Blick auf die damaligen innerjüdischen Verhältnisse, der von einer späteren Warte her praktisch nicht mehr möglich ist. Cohn war überzeugt, „das Sterben der jüdischen Provinz geht in einem sehr schnellen Tempo vor sich“41. Seit Dezember 1936 konnte Cohn einen Lehrauftrag am Jüdisch-Theologischen Seminar wahrnehmen: „Spät hat man sich meiner erinnert“, lautet der bittere Kommentar in den Tagebüchern42. Eine volle Dozentur war für den politisch Belasteten auch im Rahmen dieser jüdischen Einrichtung nicht mehr erreichbar.

Bis in die späten dreißiger Jahre waren, so erstaunlich das heute wirken mag, Reisen für deutsche Juden nach Palästina nicht ungewöhnlich. Auch Cohn bereiste noch 1937 mit seiner Frau das Hl. Land, wo ihn das Leben in den Kibbuzim besonders beeindruckte. Nach der „Reichskristallnacht“, die in Breslau pogromartige Ausmaße annahm, und dem Kriegsausbruch begriff Cohn, daß er nun endgültig in die „Mausefalle“ geraten war43 und die rechtzeitige Alija verpaßt hatte. Die wachsende Einschnürung des jüdischen Lebens, die systematische Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben und die reduzierten Informationsmöglichkeiten belasteten Willy Cohn schwer. Seine Tagebücher beschreiben detailliert, wie schleichend, aber auch konsequent diese Prozesse abliefen.

41 42 43

Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 26), Bd. 1, S. 461 (24.8.1937). Ebd., Bd. 1, S. 366 (5.12.1936). Ebd., Bd. 1, S. 6 (30.1.1933).

496 Willy Cohn lebte als frommer Jude, der regelmäßige Synagogenbesuch, das tägliche Gebet und zunehmend auch das traditionelle „Lernen“ waren ihm wichtig. In seinen Tagebüchern hat er den Name Gottes niemals ausgeschrieben, sondern stets durch die Chiffre „G“tt“ ersetzt. In der Neue Synagoge bewunderte er die Pracht synagogaler Musik. Mit dem liberalen Rabbiner Hermann Vogelstein und seinen Predigten konnte er wenig anfangen. Cohn hielt sich zur orthodoxen Storch-Synagoge und den Predigten von Rabbiner Max Simonsohn. Ab 1934 gehörte Cohn zur Abraham-Mugdan-Synagoge am Rehdigerplatz. Diese Synagoge war nicht nur für ihn „am bequemsten gelegen“, sondern dort amtierte Rabbiner Louis Lewin: „Wie himmelweit steht doch ein solches Beten in einer kleinen Schule wie der Abraham-Mugdan-Synagoge über dem G“ttesdienst in der Neuen Synagoge. Das hier ist wirklich eine große betende Gemeinde!“44 Als diese Synagoge und auch der Betsaal im Beate-Guttmann-Heim geschlossen wurden, hielt sich Cohn zu den Gottesdiensten im Freundehaus. Cohn war ein frommer deutscher Jude, der stolz auf seine Integration in die deutsche Kultur und Bildung war. Die „Ostjuden“ blieben ihm fremd, wenn er auch – wie viele seiner deutsch-jüdischen Zeitgenossen – deren tiefe Frömmigkeit und religiöse Hingabe aus gebührender Distanz bewunderte.

Nicht ohne weiteres verständlich dürften den Nachgeborenen die politischen Stellungnahmen Cohns sein, die sich nur erklären lassen, wenn akzeptiert wird, daß Juden einst auch deutsche Patrioten sein konnten. Cohn wurde zutiefst durch seine Fronterfahrungen geprägt, die er mit einer ganzen Generation teilte. Sein Eisernes Kreuz hat er mit Stolz getragen; noch 1941 notierte er erfreut, wenn er einen Kameraden von der vierten Feldhaubitzen-Munitionskolonne traf45. Der Bericht über die Zwanzigjahrfeier von Verdun 1936 rührte ihn zutiefst und ließ ihn bekennen: „Ja, auch ich habe mich mit ganzer Kraft eingesetzt, und ich bedaure nicht, daß ich es getan habe.“46 Die Liebe zu Deutschland war für diesen jüdischen Historiker eine Herzensangelegenheit auch noch zu jener Zeit, als Deutschland seine jüdischen

44 45 46

Ebd., Bd. S. 285 (8.10.1935). Ebd., Bd. 2, S. 978 (7.9.1941). Ebd., Bd. 1, S. 337 (15.7.1936).

497 Kinder zu verfolgen begann: „Es ist trotz all' dem sehr schwer, sich die Liebe zu Deutschland ganz aus dem Herzen zu reißen.“47 Über Cohn als homo politicus urteilt Norbert Conrads48: „Das Widersinnige an der Situation lag darin, daß Cohn alle Juden verurteilte, die ihr Judesein verleugnet hatten, um Deutsche zu werden, er selbst aber seinen deutschen Patriotismus nicht ablegen konnte, der ihn wiederum hinderte, seine zionistischen Hoffnungen in die Tat umzusetzen. Er hielt die Friedensregelungen von Versailles für ein Unrecht, weshalb er für die revisionistischen Ziele des Dritten Reiches Verständnis zeigte. Als ‚der Führer’ die Grenze nach Österreich überschritten hatte und den ‚Anschluß’ verkündete, meinte Cohn ‚bewundern’ zu müssen, ‚mit welcher Energie das alles durchgeführt worden ist’“49. Auch das Ende der Tschechoslowakei war ihm nur die Wiederherstellung eines jahrhundertealten Zustandes. Ein „unnatürlicher Staat“ war verschwunden50. Noch problematischer war, wenn Cohn sich bemühte, die Argumentation von Führerreden nachzuvollziehen, ja, wenn er ihnen teilweise beipflichtete: „Daß das deutsche Volk Lebensraum braucht, kann man verstehen, und wenn man ihm diesen Lebensraum gewährt hätte, so wäre es niemals zu dieser Judengegnerschaft in Deutschland gekommen.“51 Cohn sah Analogien zwischen dem nationalsozialistischen Postulat nach „Lebensraum“ für Deutschland und dem zionistischen Ziel eines jüdischen Staates in Palästina: „Der nationale Gedanke marschiert auf der ganzen Linie. Wenn wir Juden diese nationale Geschlossenheit hätten, so würden wir auch weiter sein.“52 Der Wehrmacht attestierte er bei ihrem Vormarsch nach Polen eine „völlige Manneszucht, [...] wie ich es auch nicht anders erwartete“53, nur, was man Anfang 1940 an ,,schlimme[n] Dinge[n] über das Verhalten der Deutschen in Posen und Polen“ hörte, stand in krassem Widerspruch zur Haager Landkriegsordnung, um die sich wohl niemand mehr kümmerte54. Zuvor jedoch, als Hitler den Polenfeldzug 47

Ebd., Bd. 1, S. 13 (26.2.1933). Ebd. Bd. 1, S. XXf. 49 Ebd., Bd. 1, S. 523f. (13./14.3.1938). 50 Ebd., Bd. 2, S. 616f. (16.3.1939). 51 Ebd., Bd. 2, S. 597 (31.1.1939). 52 Ebd., Bd. 1, S. 516 (18.2.1938). 53 Ebd., Bd. 2, S. 724 (30.11.1939). 54 Ebd., Bd. 2, S. 745 (26.1.1940). 48

498 scheinbar mühelos gewonnen hatte, vergaß Cohn für einen Augenblick alles, was er seit der Reichspogromnacht erlitten hatte: „Die Größe dieses Mannes, der der Welt ein neues Gesicht gegeben hat, muß man anerkennen.“55

Ruth Atzmon, die durch rechtzeitige Emigration überlebende Tochter Cohns, erklärte die komplizierte Gemüts- und Bewußtseinslage ihres Vaters nach der Veröffentlichung der Tagebücher in lakonischer Kürze: „Er hat eine Schizophrenia gehabt zwischen dem Judentum und zwischen dem Deutschland.“56 Die patriotischen Grundüberzeugungen, die zionistischen Visionen und die horriblen Alltagserfahrungen ließen sich immer weniger in Einklang bringen. Der Tagebuchschreiber agierte in einer Situation dramatischer Unübersichtlichkeit: Was sollte, was konnte jetzt noch gelten? Der Historiker, der zum Chronisten seiner Zeit wurde, registrierte all das große und all das kleine Unrecht genau, das ihm und dem Judentum angetan wurde. Die Markierung der Sitzbänke in den Straßen und Parkanlagen durch den Aufdruck „Für Juden verboten“ bedeutete dem Herzkranken auch eine schwere persönliche Belastung. Die antijüdischen Maßnahmen der Deutschen im besetzten Polen noch vor dem Beginn der Massenvernichtung ließen ihn erkennen: „Deutschland hat den Rest an moralischem Kredit verloren.“57 Die Führerreden widerten ihn an, waren sie doch „im Ton außerordentlich grob“ in ihrem brutalem Antisemitismus und „ziemlich gewöhnlich“58. Nach der Hitler-Rede vom 9. November 1941 heißt es im Tagebuch: Sein „Ton ist furchtbar und eines Staatsoberhauptes unwürdig.“59

Der Herausgeber der Tagebücher, Norbert Conrads, der eine Auswahl aus den überlieferten Texten zu treffen hatte, hat dabei nach dem Gebot der historischen Wahrheit, aber auch der Diskretion und der Lesbarkeit schwierige Entscheidungen fällen müssen: „Das tägliche Leben, die Familie, das Privatleben, die Verwandtschaft in Breslau und Berlin füllen die Tagebücher mehr, als es in der Edition der Tagebücher zum Abdruck kommt. Der engere Verwandtenkreis der Cohns bot ein 55

Ebd., Bd. 2, S. 703 (7.10.1939). Zitiert nach www.zdf.de/ZDFde/inhalt/13/0,1872,4089165,00.html. Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 26), Bd. 2, S. 754 (14.2.1940). 58 Ebd., Bd. 2, S. 760 (26.2.1940). 59 Ebd., Bd. 2, S. 1005 (10.11.1941). 56 57

499 Spiegelbild der Breslauer Gemeinde, denn in ihm fanden sich alle unterschiedlichen religiösen und politischen Haltungen wieder. Familienbegegnungen endeten unvermeidlich in Gesprächen über die politische Lage, und da jeder auf seiner Ansicht beharrte, waren Spannungen nicht selten.“60 Auch die gedruckten Auszüge aus den Tagebüchern lassen aber noch deutlich erkennen, Willy Cohn war kein einfacher Mensch. Unter dem Druck der Verhältnisse macht er es sich selber, aber auch seiner Familie und den wenigen Freunden noch weniger leicht.

Vom Beginn der Nazizeit an war für Juden die Frage der Emigration gestellt, wobei die Zeitgenossen oft glaubten, sie hätten noch sehr viel Zeit bis zu endgültigen Entscheidungen. In der Cohn-Familie war der älteste Sohn Wolfgang unmittelbar nach seinem Abitur 1933 nach Paris geflohen, weil er einen Klassenkameraden angezeigt hatte, der in SA-Uniform in die Schule kommen wollte. Die beiden jüngeren Kinder Ernst und Ruth teilten die religiösen Überzeugungen des Vaters nicht, aber seine zionistischen Hoffnungen auf Palästina. Ernst absolvierte eine Hachscharah auf Gut Winkel, bevor seine Breslauer Gruppe Ende März 1935 von Triest aus nach Palästina in einen Kibbuz ging. Von hier aus unternahm er alles, um die Eltern zur Auswanderung zu bewegen. Die Mutter sorgte dafür, daß die Tochter Ruth 1939 eine Jugendalijah nach Dänemark wahrnahm. Ruth war damals noch nicht fünfzehn Jahre alt. Im April 1940 wurde Dänemark dann von den Deutschen besetzt. Unter schwierigsten Umständen gelang es ihr, sich noch im Dezember 1940 mit einer Sonderhachscharah von Dänemark über Stockholm, Helsinki, Moskau, Odessa, Istanbul nach Palästina durchzuschlagen.

Zwischen der Emigration von Sohn und Tochter reisten Willy Cohn und seine Frau 1937 nach Palästina, hatten aber bereits vor Reiseantritt ihre Rückfahrkarten gelöst, denn die damals zwölf Jahre alte Tochter Ruth und die fünfjährige Susanne waren daheimgeblieben. Außerdem konnte Cohn sich nicht vorstellen, wovon er dort leben sollte, war er doch zu körperlicher Arbeit nicht geeignet. Ob die Pension auch in Palästina ausgezahlt werden würde, war eine weitere nicht zu beantwortende Frage, und Cohns Frau Gertrud konnte sich ein Leben im Kibbuz nicht vor60

Ebd., Bd. 1, S. XXII.

500 stellen. Bereits damals resignierte Cohn: „Ich kann keine großen Kämpfe mehr durchführen, und so wird dieser Traum ins Nichts zerrinnen.“61 Hinzu kam, daß der Kibbuz Giwath Brenner seinerseits eine Aufnahme Cohns ablehnte62. Nach der Rückkehr nach Breslau begann Cohn immer neue Buchprojekte und Planungen: „Wenn es nicht Palästina sein kann, so will ich schon gern das Schicksal Deutschlands mittragen.“63 Insgeheim hoffte er wohl noch immer, irgendwie doch überleben zu können.

Selbst der Schock des 9. November 1938 konnte an dieser Einstellung nichts ändern. Die Neue Synagoge und die meisten Synagogen und jüdischen Einrichtungen Breslaus wurden demoliert. Verwandte und Freunde kamen als „Schutzhäftlinge“ nach Buchenwald, auch der Bruder Rudolf und der Ehemann der Schwester Erna, ebenso mehr als 2000 Breslauer Juden: „Diese Tage zählen meiner Ansicht nach zu den schwärzesten Tagen nicht nur der jüdischen, sondern auch der deutschen Geschichte, und ich glaube, daß sich viele Deutsche ihrer schämen.“64 Cohn litt unter mancherlei Beschwerden und Depressionen, so daß er sich immer öfter den Tod wünschte. Die Sorgen um die zwölf Jahre jüngere Frau und die Töchter wuchsen. Zur Jahreswende 1938/1939 waren diese erst vierzehn (Ruth), sechs (Susanne) und ein halbes Jahr (Tamara) alt. Als Ende 1938 dann doch die Anforderung aus Palästina eintraf, wurde sofort ein Spediteur bestellt und der Verkauf des Familienhauses am Ring in die Wege geleitet65. Aber diese Pläne zerschlugen sich aus mancherlei Gründen, vor allem deswegen, weil Cohn vor dem Hintergrund seiner „Schizophrenia“ jede wirkliche Entschlußkraft verloren hatte. Diese Belastungen ruinierten schließlich auch die Ehe der Cohns immer mehr.

In dieser destruktiven Phase wurden für Cohn die Kontakte zu prominenten Zeitgenossen, bekannten und weniger bekannten, immer wichtiger. Norbert Conrads hebt vor allem drei von ihnen heraus: „Einmal handelt es sich um Fritz Arlt, einen Exponenten der NS-Rassenpolitik, dann um den jungen Kirchenhistoriker Hubert Jedin, 61

Ebd., Bd. 1, S. 411 (9.4.1937). Ebd., Bd. 1, S. 467 (13.9.1937). Ebd., Bd. 2, S. 827 (10.8.1940). 64 Ebd., Bd. 2, S. 541 (13.11.1938). 65 Ebd. Bd. 2, S. 578 (31.12.1938). 62 63

501 dessen Bedeutung sich damals bereits ahnen ließ, und schließlich den führenden Repräsentanten des deutschen Judentums, Oberrabbiner Leo Baeck.“66

Zur Durchführung der antijüdischen Maßnahmen benötigten die nationalsozialistischem Behörden eine vollständige Auflistung aller Juden und Personen jüdischer Herkunft. Das Rassepolitische Amt der NSDAP war zuständig für die genealogische Ermittlung von Juden und „jüdisch Versippten“. Die Lösung dieser Aufgabe erforderte Sachkenntnisse, die eigentlich nur im jüdischen Milieu selber vorhanden waren. Am 15. Juli 1939 erhielt Cohn eine Einladung in das Breslauer Landesamt für Rassen- und Sippenforschung67. Der Leiter des Amtes für Rassen- und Sippenforschung, der SS-Mann Dr. Fritz Arlt, wollte Cohn zur Mitarbeit gewinnen. Cohn durfte Arlt die Einrichtungen des jüdischen Breslau zeigen, führte ihn an das Grab Lassalles und zu den Gedenkstätten der für Deutschland gefallenen Juden68. Später arbeiteten sie zusammen das Verzeichnis der jüdischen Vereine durch und überprüften im Universitätsarchiv die Dozentenkartei nach Personen jüdischer Abstammung69. Cohn fühlte sich dabei durchaus geschmeichelt, rechnete wohl auch damit, so die unsichere Existenz seiner Familie stabilisieren zu können, und zeigte auch Haltungen einer subalternen Einstellung, die wieder viel mit seiner „Schizophrenia“ zu tun gehabt haben dürften.

Deutlich unproblematischer gestaltete sich die Mitarbeit an den Germania Judaica, um die Leo Baeck den Breslauer Historiker gebeten hatte. Dazu brauchte er Arbeitsmöglichkeiten in einer wissenschaftlichen Bibliothek. Die öffentlichen Bibliotheken Breslaus waren für Juden gesperrt, aber in der bedeutenden Diözesanbibliothek auf der Dominsel durfte Cohn arbeiten. Von Mai 1939 bis zuletzt war er hier ein gern gesehener häufiger Benutzer, an dessen persönlichem Schicksal Anteil genommen wurde. Die Pförtnerin versorgte Cohn mit Lebensmitteln, die für Juden nicht mehr erreichbar waren. Am Dom wußte man über die Verbrechen an Juden Genaueres. Cohn erfuhr hier aus sicherer Quelle von der Erschießung von 12.000 66

Ebd., Bd. 1, S. XXV. Ebd., Bd. 2, S. 664 (15.7.1939) und 667 (26.7.1939). Ebd., Bd. 2, S. 669f. (3.8.1939). 69 Ebd., Bd. 2, S. 677 (23.8.1939). 67 68

502 Juden in Lemberg70. Neben dem Archivdirektor Kurt Engelbert und dem Kirchenhistoriker Hermann Hoffmann fand er vor allem in dem entlassenen Privatdozent Hubert Jedin sachlich kompetente Gesprächspartner. Jedin wußte als Halbjude, mit welchen Belastungen Cohn zu leben hatte. Er hatte noch Zugang zur Universitätsbibliothek, wo er für Cohn Bücher entlieh, die er ihm sogar nach Hause brachte, wenn Cohn nicht an seinem Arbeitsplatz in der Bibliothek erschien, was dort stets mit Besorgnis registriert wurde. Jedin ging jedoch bald nach Rom, von wo aus er allerdings noch gelegentlich Kontakt zu Cohn hielt71. Die unauffällige Resistenz gegenüber den nationalsozialistischen Anmaßungen, die hier praktiziert wurde, sollte nicht in Vergessenheit geraten. Unter den Bedingungen der totalitären Diktatur erfuhr Cohn die katholische Diözesanbibliothek zu Breslau als einen Hortus inclusus, wo seine Würde als Mensch und Gelehrter noch geachtet wurde.

Leo Baeck kannte Cohn durch den Jüdischen Kulturbund, aus seiner Mitarbeit in der Breslauer Lessing-Loge, vielleicht auch durch Baecks Breslauer Verwandtschaft, vor allem aber durch die Mitarbeit an den Germania Judaica. Die Tagebücher registrieren, wie Cohn oft täglich Beiträge zu den jüdischen Gemeinden in Schlesien, Böhmen, Mähren, Sachsen, Thüringen, Luxemburg und Belgien verfaßte. Norbert Conrads berichtet: „Aus diesem großen Anteil leitete Cohn den Wunsch ab, im zweiten Band der Germania Judaica als Mitherausgeber genannt zu werden72. Wenn Baeck bei seinen Brüdern in Breslau weilte, gab es Gelegenheit, sich zu verabreden und miteinander auszutauschen. Cohn spielte hier für Baeck den Fremdenführer, zusammen suchten sie das katholische Domarchiv auf und bewunderten dort neuentdeckte hebräische Schriften. Eine Unterredung der beiden im September 1940 entwickelte sich zu einer umfassenden Lagebeurteilung des Judentums und der allgemeinen politischen Perspektiven, so daß Cohn sie ausführlich protokollierte. Sie ist eine der bemerkenswertesten Passagen des Tagebuchs.“73

70

Ebd., Bd. 2, S. 960 (25.7.1941). Vgl. Hubert Jedin, Lebensbericht. Mit einem Dokumentenanhang. Hg. von K. Repgen, Mainz 1984. Cohn, Kein Recht, nirgends (wie Anm. 26), Bd. 2, S. 762 (3.3.1940). 73 Ebd., Bd. 2, S. 845-849 (14.9.1940). Die Zusammenfassung von Conrads ebd., Bd. 1, S. XXVII. 71 72

503 Am 15. November 1941 wurde den Cohns der Verschickungsbescheid zugestellt. Cohn hatte diese Möglichkeit lange verdrängt, doch seit der Deportation der badischen Juden Ende Oktober 1940 mußte man mit allem rechnen. Damals, am 1. November 1940, hatte die Familie „einige Handkoffer gepackt, um für den schlimmsten Fall der Austreibung mit dem Notwendigsten gerüstet zu sein“74. Es blieben vom 15. November 1941 an noch zwei Wochen bis zur Wohnungsräumung. Die Hoffnung, die Gemeinde könne Willy Cohn eine Ersatzunterkunft und eine Bescheinigung seiner Unentbehrlichkeit verschaffen, zerschlug sich. Kardinal Bertram war über die letzte Stufe der Judenverfolgung informiert und schrieb noch am 17. November 1941 an den Münchner Kardinal Faulhaber, ob und wie die Kirche auf die beabsichtigten Deportationen reagieren könne75. Ein Memorandum der Bischofskonferenz an die Reichsregierung kam jedoch nicht zustande. Willy Cohns Tagebuch bricht am 17. November 1941 mitten im Satz ab, weil das Tagebuchheft voll war. Wahrscheinlich hat er seine Aufzeichnungen in einem neuen Heft noch bis zuletzt weitergeführt und dieses mit auf seine letzte Reise genommen. Es ist dann mit ihm und seiner Familie verschollen.

Was sich nach dem 17. November in Breslau ereignete, muß aus anderen Quellen erschlossen werden, die Norbert Conrads ausgewertet hat76: „Was nun begann, war bisher ohne Beispiel in Breslau. Es bedeutete den skrupellosen Übergang zur ‚Endlösung’. In einer polizeilichen Blitzaktion vom 21. November wurden bereits eine Woche nach dem Bescheid über tausend Breslauer Juden in aller Frühe aus den Betten geholt und zu einem vorbereiteten Sammelplatz in der Nähe des Odertorbahnhofes gebracht. Dort lag ein von der Stadt bewirtschaftetes Gesellschaftslokal mit einem ungenutzten Konzertsaal. Das etwas heruntergekommene Etablissement trug den historischen Namen ‚Schießwerder’ und lag an der Schießwerderstraße 25. Ein jüdischer Augenzeuge hat später die Vorkommnisse zu Protokoll gegeben: ‚Es ist mir genau in Erinnerung, als die ersten Deportationstransporte von Breslau erfolgten. Der erste wurde aus 1000 Frauen, Männern und Kindern im November 1941 zusammengestellt. Diese Menschen wurden von der Polizei (in 74 75 76

Ebd., Bd. 2, S. 865 (2.11.1940). Vgl. Jonca, Judenverfolgung und Kirche (wie Anm. 24), S. 224. Vgl. Cohn, Kein Recht, nirgends, (wie Anm. 26), Bd. 1, S. XXVIIIff.

504 Uniform) gegen 6 Uhr morgens aus den Wohnungen geholt und durften nur die notwendigsten Habseligkeiten mitnehmen. Sie wurden in Lastkraftwagen nach dem sogenannten Sammellager Schießwerder gebracht. Da sich diese Aktion wie ein Lauffeuer unter uns, d.h. den Juden, schnell verbreitet hatte, ging ein großer Teil unserer Leute nach dem Schießwerder. Wir fanden sofort heraus, daß die uniformierte Polizei nur den Auftrag hatte, die verhafteten Menschen nach dem Schießwerder zu bringen. Von diesem Punkt an führten Hampel und Fey das Kommando. Hampel, ein kleiner rundlicher Mann, trug mit Vorliebe einen Lodenhut und Joppe mit schwarzen Stiefeln, zum Gegensatz zu Fey, der ungefähr 1,80 ist und immer einen Anzug trug. Wir gingen deshalb nach dem Schießwerder, da fast jeder von uns Verwandte oder Freunde hatte, aber leider hatte man uns beim Eingang den Eintritt verweigert, obwohl wir unseren Lieben nur auf Wiedersehen sagen wollten. Im übrigen wurden die Wohnungen von den Deportierten sofort von der Gestapo versiegelt. Die Wohnungen waren nach ein paar Tagen vollkommen leer und wurden wieder bezogen. Die Gestapo benutzte die [Storch-]Synagoge auf der Wallstraße als Lagerhaus, welches mit Möbeln und Haushaltsgegenständen gefüllt war. Mir sind diese Einzelheiten so gut in Erinnerung, weil ich sehr nahe an der Jüdischen Gemeinde gewohnt habe und ich mit anderen jüdischen Nachbarn die Gegenstände von den Deportierten nach der Wallstraße im Handwagen bringen mußte.’77 Vier Tage mußten die Menschen im Schießwerder-Etablissement ausharren, dann wurden sie am 25. November zum nahen Odertorbahnhof getrieben, wo ein Zug auf sie wartete, dessen Ziel niemand kannte: Kaunas (Kowno) in Litauen. In Kaunas wartete auf sie das Ghetto im sogenannten Fort IX. Inzwischen weiß man aus Berichten von Überlebenden des Ghettos und durch historische Ermittlungen von den fürchterlichen Geschehnissen, denen nur an diesem Ort insgesamt 67.000 Menschen zum Opfer fielen. Parallel zur Ankunft des Breslauer Zuges traf in Kaunas ein weiterer Zug mit Juden aus Wien ein; auch in ihm befanden sich genau abgezählt eintausend Menschen. Sie alle wurden kurz nach ihrer Ankunft an eine vorbereitete Grube geführt, wo sie am 29. November 1941 im 77

Vgl. den Bericht von Ismar Pick bei K. Jonca, Die Deportation und Vernichtung der schlesischen Juden, in: H. Grebitz, K. Bästlein, J. Tuchel (Hg.), Die Normalität des Verbrechens. Bilanz und Perspektiven der Forschung zu den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen = Reihe deutsche Vergangenheit 112, Berlin 1994. S. 150-170, bes. S. 159.

505 Maschinengewehrfeuer sterben mußten. Der verantwortliche SS-Standartenführer Dr. Karl Jäger überwachte den Vorgang. Sein schriftlicher Bericht registrierte die genauen Zahlen dieser Mordaktion, 1.155 Frauen, 693 Männer und 152 Kinder, alles ‚Umsiedler’.“78

Zu den Opfern dieses Massakers gehörten das Ehepaar Willy und Gertrud Cohn und die Geschwister Walter und Ilse Tausk. Die dreijährige Tamara Cohn, geboren in Breslau am 19. Juli 1938 und ermordet in Kaunas am 29. November 1941, und ihre Schwester Susanne, die neun Jahre alt war, als sie in Kaunas getötet wurde, sucht man vergeblich im „Buch der Erinnerung“ an die ins Baltikum deportierten Juden!

78

Der sog. „Jäger-Bericht“ findet sich faksimiliert in V. Bartuseviþius, J. Tauber, W. Wette (Hg.), Holocaust in Litauen. Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahr 1941, Köln 2003, S. 303-311.

Juden im östlichen Europa

509 Von Menschen und Büchern. Ein Erinnerungsgang durch das alte Galizien und die Bukowina. Einladung zu einer Exkursion (2007)

Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur, als seine mangelhafte Kanalisation vermuten läßt; viel Unordnung und noch mehr Seltsamkeit. [...] Es hat seine eigne Lust, eigene Lieder, eigene Menschen und einen eigenen Glanz; den traurigen Glanz der Geschmähten.“ (Joseph Roth) Europa findet am Ende einer langen Nachkriegszeit seine Stimme wieder. Dieses Europa hat Bedarf an Städten, die aus dem Schatten der Grenze und der verödeten west-östlichen Provinz heraustreten. Europa braucht neue Grenzstädte, Städte der „verwischten Grenzen“. (Karl Schlögel)

I.

Wer sich auf Galizien einläßt, wendet sich einer Landschaft zu, die nach Jahrhunderten der Vernachlässigung durch fremde Herrschaftsmächte überhaupt erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Zentrum eines intensiven europäischen Kulturaustauschs wurde. In Krakau, Lemberg und Czernowitz, um die Bukowina hier dann doch gleich kulturell zu Galizien zu schlagen, auch wenn sie nur von 1775 bis 1849 als Teil Galiziens verwaltet wurde, dachten die intellektuellen Eliten dann in europäischen Dimensionen, die sich immer wieder auch bis nach New York ausweiten konnten. Selbst den einfachen Leuten blieben diese Weiten nicht ganz fremd, versuchten doch viele dem „galizischen Elend“ durch die Auswanderung, vor allem in die USA, zu entgehen1.

In Galizien lebten Ukrainer (Ruthenen), Polen, Juden, Deutsche, Armenier, Griechen, Bulgaren und Rumänen in einem oft spannungsvollen Miteinander zusammen, das durch die aufkommenden nationalen Strömungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht einfacher wurde. Trotz solcher Gegensätze und der Versuche, sich

1

Vgl. Isabel Roskau-Rydell (Hg.): Galizien und Bukowina, Moldau = Geschichte der Deutschen im Osten, Berlin 1999.

510 voneinander abzugrenzen, gehörten Mehrsprachigkeit, Multikulturalität sowie nationale und konfessionelle Vielfalt zum galizischen Alltag, der zumindest in den Städten auch etwas vom abendlichen Glanz der k.u.k. Monarchie überstrahlt wurde.

Das österreichische Kronland trug den offiziellen und geradezu mythischen Namen Königreich Galizien und Lodomerien, zu dem zeitweilig auch das Großherzogtum Krakau und die Herzogtümer Auschwitz und Zator (sowie die Bukowina) gehörten. Galizien bildete immer wieder eine vielfach umkämpfte Brücke zwischen dem Westen und dem Osten. So wie seine Geschichte von dieser geographischen Lage bis hin zur Unerzählbarkeit partioniert wird, so verhält es sich auch mit den Grenzen Galiziens, die immer wieder wechselten2 - „verwischte Grenzen“ eben in jenem Teil Europas, der sich bis heute noch nicht restlos wieder konsolidiert hat.

Die heute zumeist literarisch imaginierte Faszination des alten Galizien darf jedoch die Tatsache nicht verdecken, welches Elend dort zumeist herrschte3. Die literarischkulturelle Blüte war ein Phänomen der Zeit zwischen 1850 und 1941 und der städtischen Zentren Lemberg und Czernowitz, die im krassen Gegensatz zur sozialen Wirklichkeit stand: „Zur nostalgischen Verklärung Galiziens besteht [...] kein Grund. Galizien – insbesondere der östliche Landesteil – war kein gelobtes Land, in dem Milch und Honig flossen; von der Fruchtbarkeit des Bodens und den bedeutenden Vorrat an Schätzen in ihm war dies gewiß ein reiches Land, und doch waren die Menschen, die es bewohnten, bitterarm und oft in nacktes Elend gedrückt. Ob jüdische Hausierer aus dem Schtetl oder ruthenische Bauern vom Land, die Armut war ihrer aller Schicksal. [...] Über das ganze 19. Jahrhundert hin ist das Kronland Galizien fortschreitend verarmt, ein Phänomen, das viel über den Charakter der österreichischen Verwaltung aussagt – man schöpfte die Rohstoffe ab, ohne an der Wirtschaftsentwicklung des Landes interessiert zu sein. [...] Die Armut der galizischen 2

Vgl. Carl Kummerer Ritter von Kummersberg: Administrativ-Karte von den Königreichen Galizien und Lodomerien. Mit dem Großherzogthume Krakau und den Herzogthümern Auschwitz, Zator und Bukowina. In 60 Blättern. Seiner Kaiserlichen Hoheit [...] Erzherzog Carl Ludwig [...] gewidmet, Wien 1855 [ND: Berlin 1995]. 3 Vgl. u.a. die berühmten Berichte von Bertha Pappenheim (Ps.: P. Berthold): Zur Judenfrage in Galizien, Frankfurt/M. 1900; Dies. mit Sara Rabinowitsch: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien, Frankfurt/M. 1904; Dies.: Sisyphus: Gegen den Mädchenhandel – Galizien. Bertha Pappenheim, die Anna O. Hg. von Helga Heubach, Freiburg 1992.

511 Bauern, das ‚galizische Elend’, war ebenso sprichwörtlich wie der Schmutz der galizischen Dörfer, denen wir auch in der Literatur immer wieder in Beschreibungen von beklemmender atmosphärischer Dichte begegnen. ‚Goáicja in Gáodomeria’ wurde das Kronland Galizien und Lodomerien von seinen Bewohnern mit bitterer Ironie genannt – goáy ist das polnische Wort für ‚nackt’ und gáodny bedeutet ‚hungrig’.“4

Im Ersten Weltkrieg wurde Galizien zu einem der Hauptkampfplätze mit verheerenden Folgen für die Region und bereits damals insbesondere für die dort ansässige Judenheit5. 1918 annektierte das wiederentstandene Polen Westgalizien. In Ostgalizien kam es zunächst zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Ukrainern und Polen, bevor auch dieses Gebiet zu Polen kam6.

Am 26. Oktober 1939 errichtete das Deutsche Reich, das am 24. August 1939 mit Stalin die Zerschlagung und Auslöschung Polens vertraglich vereinbart hatte, für diejenigen Teile Polens, die von Deutschland besetzt, aber nicht unmittelbar dem Reich einverleibt waren, das „Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete“. Dieses bestand zunächst aus den vier Distrikten Krakau (zugleich Hauptstadt des GG), Warschau, Radom und Lublin. Im sowjetisch besetzten Teil Ost-Polens wurden etwa 130.000 Juden nach Sibirien deportiert, von denen rund 30.000 ums Leben kamen, 100.000 allerdings durch die Deportation vor den Mordbanden der NSEinsatzkommandos auch gerettet wurden7. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion wurde am 1. August 1941 Ostgalizien als fünfter Distrikt dem Generalgouvernement hinzugefügt, wo etwa 540.000 Juden lebten. Die ersten großen Mordaktionen an Juden fanden bereits während der Feldzüge im September 1939 und im Juli

4

Karl-Markus Gauß/Martin Pollack: Das reiche Land der armen Leute. Literarische Wanderungen durch Galizien, Wien 1992, S. 17f. Vgl, Frank M. Schuster: Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914-1918) = Lebenswelten osteuropäischer Juden 9, Köln-Weimar-Wien 2004. 6 Julius Krämer (Hg.): Heimat Galizien. Ein Gedenkbuch, Stuttgart-Bad Cannstatt, um 1965; Rudolf A. Mark: Galizien unter österreichischer Herrschaft. Verwaltung – Kirche – Bevölkerung = Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 13, Marburg 1994; Isabel Röskau-Rydel (Hg.): Galizien – Bukowina - Moldau = Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin 1999. 7 Vgl. Arno Lustiger: Rotbuch: Stalin und die Juden. Die tragische Geschichte des Jüdischen Antifaschistischen Komitees und der sowjetischen Juden, Berlin 1998, S. 96f. 5

512 1941 in Ostgalizien durch „Einsatzgruppen“ als

Massenerschießungen statt8. Im

Frühjahr 1942 begann der Abtransport der Juden aus den Ghettos vor allem in das Vernichtungslager Belzec, wo rund 200.000 galizische Juden ermordet wurden. Allein im Distrikt Galizien sind unter deutscher Herrschaft mehr als 500.000 Juden ermordet worden: „Etwa jedes elfte Opfer des Völkermordes lebte vorher in Ostgalizien.“9 Der Industrielle Berthold Beitz rettete im ostgalizischen Borylaw zahlreiche Juden, indem er sie als unentbehrliche Arbeitskräfte deklarierte10. Zusammenfassend urteilte der 1925 in Czernowitz geborene Professor für Alte Geschichte der Universität Tel Aviv, Zvi Yavetz, mit gallebitterer Ironie: „Die sowjetische NKVD, die rumänischen Truppen und die Gestapo haben ihre Schuldigkeit getan.“11

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Galizien zwischen Polen und der Sowjetunion geteilt. In den zur UdSSR gehörigen Gebieten stellten die Russen den größten nichtukrainischen Bevölkerungsanteil. Die alten Verwaltungsgliederungen wurden aufgehoben, die Griechisch-Unierte Kirche aufgelöst und die Manifestationen eines ukrainischen Nationalbewußtseins unterdrückt. Für Polen war der Verlust der galizischen Landesteile der unfreiwillige Preis für die Westverschiebung. Insbesondere der Verlust Lembergs blieb in Polen immer unvergessen.

Der Zusammenbruch der Sowjetunion brachte der Ukraine 1990/91 die staatliche Souveränität. Die nun wieder mögliche nationale Emanzipation sowie die kulturelle und sprachliche Abgrenzung gegenüber den Russen machen die Notwendigkeit einer Integration der heterogenen Regionen der heutigen Ukraine zur dringlichen Notwendigkeit. Die konfessionellen Aufbrüche der nachkommunistischen Zeit knüpfen in

8

Vgl. Bericht des SS- und Polizeiführers über die Vernichtung der Juden Galiziens. Dokumentensammlung. Zusammengestellt von T. Friedman = Institut of Documentation in Israel for the Investigation of Nazi War Crimes, Haifa 1993. 9 Dieter Pohl: Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941-1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechen = Studien zur Zeitgeschichte 50, München 1996, S. 9. 10 Zum Schicksal der galizischen Juden vgl. Pinkas Hakehillot. Encyclopedia of Jewish Communities. Poland, Bd. 2: Eastern Galicia, hg. von Danuta Dabrowska/Abraham Wein/Aharon Weiß, Jerusalem 1980; Thomas Sandkühler: „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiative von Berthold Beitz 1941-1944, Bonn 1996; zu den einzelnen Orten vgl. Israel Gutman (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust, 3 Bde., Berlin 1993. 11 Zvi Yavetz: Erinnerung an Czernowitz. Wo Menschen und Bücher lebten, München 2007, S. 101.

513 Galizien vorwiegend an die Griechisch-Unierte Kirche an, während in der sonstigen Ukraine die autokephale orthodoxe Kirche im Vordergrund steht. Wer Galizien heute bereist, sollte sich darüber im Klaren sein, daß er es mit einer Region zu tun bekommt, die im 20. Jahrhundert immer neue Verwüstungen erleiden mußte. Hier erinnern nur noch die Landschaften, die Friedhöfe und manche Partien in den Städten an jenen Kosmos, den Karl-Emil Franzos einst als „Halb-Asien“ apostrophierte12.

II.

Im kollektiven kulturellen Gedächtnis der Welt bleiben Galizien und die Bukowina trotzdem auf Dauer eingeschrieben eigentlich „nur“ wegen der Vielzahl bedeutender Persönlichkeiten, die hier wirkten, von hier ihren Ausgang nahmen oder dort ihr Leben gewaltsam verloren. Aus der fast endlosen Reihe der Namen, die hier genannt werden müßten, kann nur eine kleine Auswahl repetiert werden:

Achad Haam, (eigentl.: Zwi Ascher Ginzberg) jüdischer Schriftsteller und Philosoph, *Skwyra (Gebiet Kiew) 5.8.1856, gest. Tel Aviv 2.1.1927; vertrat in zahlreichen Essays (u.a. „Am Scheidewege“, 1895) die Utopie von einem auf dem gemeinsamen Kulturerbe (und weniger auf politischen Aspekten) gegründeten jüdischen Staat. Agnon, Schmuel (Samuel) Josef (eigentl.: J. S. Czaczkes), hebr. Schriftsteller, *Buczacz (Galizien) 17.7. 1888, gest. Rehovot (bei Tel Aviv-Jaffa) 17.2 1970; schrieb Erzählungen, Romane („Die Aussteuer“, 1934; „Nur wie ein Gast zur Nacht“, 1939; „Gestern, Vorgestern“, 1945; „Schira“, herausgegeben 1971); auch Gelehrter und Traditionsforscher. 1966 erhielt er mit Nelly Sachs den Nobelpreis für Literatur. Appelfeld, Aharon, Romancier, *1932 Czernowitz, KZ-Haft, Küchenjunge bei der Roten Armee, 1946 Palästina, lebt in Jerusalem, Verf. international anerkannter Romane, u.a. „Der

12

Karl Emil Franzos: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Runänien, Leipzig 1876.

514 eiserne Pfad“ (Jewish Book Award) und „Die Eismine“, 1999 „Alles, was ich liebte“ (Autobiographie, dt. 2002). Ausländer, Rose,

eigentlich

Rosalie

Beatrice

Ruth

Scherzer-Ausländer,

Schriftstellerin,

*Czernowitz (heute Tschernowzy) 11.5.1907, gest. Düsseldorf 3.1.1988; schrieb u.a. Gedichte, „36 Gerechte“ (1967), „Andere Zeichen“ (1974), „Ich spiele noch“ (1987). Zentrale Themen sind Judenverfolgung und Exil. Schule und Studium in Czernowitz. 1921 Auswanderung in die USA, 1931 Rückkehr nach Czernowitz, ab 1936 meist in Bukarest, 1941 mit Mutter und Bruder im Ghetto Czernowitz, Begegnung mit Celan, 1946 Übersiedlung nach New York, 1966 Übersiedlung als „Überlebende des Grauens“ nach Düsseldorf; 1984 Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Baal Schem Tov, [hebräisch „Herr des (göttlichen) Namens“], Beiname des Mystikers Rabbi Israel ben Eliezer Baal Schem Tov, führende Gestalt des osteuropäischen Judentums, *Okop (Podolien) um 1700, gest. Miedzyboz (Podolien) 1760; wirkte als Wundertäter; vertrat die Lehre vom Einssein Gottes mit seiner Schöpfung, der jedem Wesen innewohnenden Göttlichkeit (Chassidismus). Babel, Isaak

Emmanuelowitsch,

russischer

Schriftsteller,

*Odessa

13.7.1894,

gest.(erschossen) Moskau 27.1.1940; Vertreter der „revolutionären Romantik“ und der „ornamentalen Prosa“; Erzählzyklen („Budjonnys Reiterarmee“, 1926, „Odessaer Erzählungen“, 1923; Dramen, Drehbücher; Opfer des stalinistischen Terrors, 1957 rehabilitiert. Sein „Tagebuch 1920“, das die Erlebnisse im nördlichen Galizien des Russisch-Polnischen Krieges festhielt, erschien in einer sorgfältig kommentierten deutschen Ausgabe erst 1989/90 und gehört zu den wichtigsten Zeitzeugenberichten aus revolutionärer Zeit. Bergner, Elisabeth, österreichische Schauspielerin, *Drogobytsch (Galizien) 22.8.1897, gest. London 12.5.1986; kam über Wien, München nach Berlin; seit 1933 mit dem Regisseur Paul Czinner; lebte seitdem in London. Auf der Bühne und in Filmen wie „Fräu-

515 lein Else“ (1929), „Ariane“ (1931), „Der träumende Mund“ (1932) und „Wie es euch gefällt“ (1936) hatte sie mit ausdrucksvollen Frauenrollen Erfolg. Bialik, Chajim Nachman, hebräischer Dichter, *Rady (Wolhynien) 9.1.1873, gest. ҏWien 4.7.1934; schilderte in Gedichten und Erzählungen das ostjüdische Leben; trug zur Wiederbelebung der hebräischen Sprache und geistigen Neuorientierung des Judentums bei. Buber, Martin, jüdischer Religionsphilosoph, *Wien 8.2.1878, gest. Jerusalem 13.6.1965; 1924-33 Professor in Frankfurt am Main, 1938-51 in Jerusalem; 1953 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bubers Hauptziel war die menschliche und politische Erneuerung des abendländischen Judentums aus dem Geist der Bibel und des Chassidismus, dessen Texte er sammelte und interpretierte. Kernpunkt seiner Anschauungen ist das unmittelbare Verhältnis zum Gegenüber (dialogische Philosophie). Diese Einstellung beeinflußte die moderne Pädagogik und Philosophie, ebenso eine Reihe protestantischer und katholischer Theologen. Bubers Übersetzung der hebräischen Bibel (zusammen mit F. Rosenzweig) verbindet deutsche sprachschöpferische Kunst mit jüdischer Bibelexegese und hebr. Sprachduktus. Werke: Ich und Du (1923); Die Schrift, 15 Bände (1926 38); Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre (hebräisch 1947); Der Jude und sein Judentum (1963). Burg, Josef, letzter jiddischer Schriftsteller in Galizien, *1912 in Wischnitz/Bukowina. Besuch der Schule und des Lehrerseminars in Czernowitz, Germanistikstudium in Wien, 1938 Rückkehr nach Czernowitz, 1941 Flucht in die Sowjetunion, seit 1958 lebt. B. wieder in Czernowitz. Erste Erzählung erschien 1934, später zumeist Veröffentlichungen in „Sowjetisch Hejmland“. Werke: Josef Burg: Ein Gesang über allen Gesängen, Leipzig 1988; Ders.: Ein verspätetes Echo/ A farschpektikter echo, Kirchheim 1999; Ders./Michael Martens: Irrfahrten. Ein ostjüdisches Leben, Winsen/Luhe 2000; Josef Burg: Jom Kippur. Erzählungen, Winsen/Luhe 2001.

516 Celan, Paul, eigentlich Paul Antschel, Lyriker, *Czernowitz 23.11.1920, gest. (Selbstmord) Paris April 1970. Sohn deutschsprachiger jüdischer Eltern; studierte zeitweise Medizin in Frankreich, dann Romanistik in Czernowitz; 1942 deportiert (Tod der Eltern), bis 1944 im Arbeitslager; kam 1947 nach Wien, lebte seit 1948 in Paris (französischer Staatsbürger). Celans Dichtung wurzelt in der jüdischen Kulturtradition, die abstrakten Verse sind von einer sehr persönlichen Sprachsensibilität, einer eigenen Welt der Metaphern und Chiffren bestimmt („Mohn und Gedächtnis“, 1952, darin die 1945 entstandene „Todesfuge“). Mit „Sprachgitter“ (1959) wird die Aussage härter; indirekt thematisiert er immer die Erlebnisse im Ghetto und den Mißbrauch der Sprache durch die Nationalsozialisten. Celan war auch ein bedeutender Übersetzer, u.a. aus dem Russischen (A. Blok, O. Mandelstam, S. Jessenin), Französischen (A.Rimbaud, R. Char), Englischen (Shakespeares Sonette) und Italienischen. 1960 erhielt er den Georg-Büchner-Preis. Weitere Werke: Der Sand aus den Urnen (1948); Von Schwelle zu Schwelle (1955); Die Niemandsrose (1963); Atemwende (1967); Fadensonnen (1968); Lichtzwang (1970); Schneepart (herausgegeben 1971); Zeitgehöft (herausgegeben 1976). Chargaff, Erwin, Biochemiker und Wissenschaftskritiker, *Czernowitz 11.8.1905, gest. New York 20.6.2002, Promotion in Wien, 1935 Emigration, Deportation der Mutter 1943, Professor an der Columbia-Universität, 1970-1974 dort Leitung der Abteilung für Biochemie, Entdecker wichtiger Grundlagen der Gentechnik (paarweises Vorkommen der Basen in der DNS, Grundlage für das berühmte Spiralmodell des Erbguts), später prominenter und scharfzüngiger Kritiker der Nuklearforschung und modernen Gentechnologie, mehr als 300 wissenschaftliche Veröffentlichungen. Deutsch, Helene, amerikanische Psychoanalytikerin polnischer Herkunft, *Przemysl (Galizien) 9.10.1884, gest. Cambridge (Massachusetts) 29.3.1982; grundlegende Arbeiten auf dem Gebiet der weiblichen Sexualität („Die Psychologie der Frau“, 1944 53); in Wien vorübergehend Assistentin bei S. Freud (mit dessen Arzt Felix Deutsch); 1934 Emigration in die USA, dort u.a. Professorin für Psychiatrie an der Boston University.

517 Eisler, Hilde; geb. Rothstein, Journalistin, *Tarnopol 28.1.1912, gest. 8.10.2000 Berlin, ab 1930 Mitarbeit im Marx-Engels-Verlag, Exil in Frankreich, Teilnahme am span. Bürgerkrieg, Emigration in die USA, 1942 Heirat mit Gerhart Eisler. 1949 Rückkehr nach Ost-Berlin, 1953 Mitbegründerin der „Wochenpost“, ab 1954 Redaktion des „Magazins“ (1955-1976 Chefredakteurin), seit 1976 Rentnerin, zahlreiche DDR-Orden. Franzos, Karl Emil, österreichischer Schriftsteller, *Czortków (heute Tschortkiw, Gebiet Ternopol) 25.10.1848, gest. Berlin 28.1.1904; Wiederentdecker der Werke G. Büchners; schrieb aus liberaler Sicht Kulturbilder und Erzählungen aus der Welt des osteuropäischen Judentums. Aufgewachsen in Czernowitz. Jurastudium in Wien und Graz. Journalist in Wien. Trotz seiner germanisierenden und aufklärenden Tendenzen gehören seine Reiseberichte und Romane aus „Halb-Asien“ heute zu den wichtigsten Zeitzeugenberichten aus dem untergegangenen Ostjudentum. Goldfaden, Avram, Dramatiker und Komponist („Vater des jiddischen Theaters“), *12.7.1840 Staro Konstantinow, gest. 1.9.1908 New York. 1862/63 hebräische und jidd. Gedichte, Verf. von über 50 musikalischen Dramen, Operetten und Musikkomödien, 1876 Gründung des ersten Jiddischen Theaters in Iaúi. Nach dem Verbot des jidd. Theaters durch die russ. Regierung 1883 ging Goldfaden nach London, Paris und schließlich New York. Gottlieb, Maurycy (Moritz), Maler, *1856 Drogobytsch, gest. 17.7.1879 Krakau. Studium in Lemberg, München, Wien und Krakau bei Matejko. Nach Alexander Lesser war G. der erste jüdische Maler in Polen, der jüdische Themen im großen Umfang aufgriff: „Betende Juden am Jom Kippur“ (1878). Granach, Alexander (eigentl. Jessaja Szajko Gronach, bis 1912 Hermann Gronach), Schauspieler, *18.4.1890 Werbowitz, gest. 14.3.1945 New York. Spielte zunächst bei jidd. Wandertheatern, 1912/13 Reinhardt-schule in Berlin, 1919 Münchner Schauspielhaus, Engagements bei Reinhardt, Jessner und Piscator. 1933 Emigration in die Schweiz, 1935/37 Aufenthalt in der UdSSR und Zusammenarbeit mit dem Moskauer

518 Jüdischen Akademischen Theater, später Direktor des Jüdischen Nationaltheaters in der Ukraine (Kiew). 1938 Emigration in die USA. Autobiographischer Roman „Da geht ein Mensch“, Stockholm 1945. Kacyzne, Alter, Fotograf, Schriftsteller und Regisseur, *1885 Wilna, 1941 auf der Flucht von ungarischen Kollaborateuren auf dem Friedhof von Tarnopol erschossen. Berühmt wurden seine Aufnahmen aus den ostjüdischen Schtetl, die Kacyzne ab 1921 im Auftrag des New Yorker „Forwerts“ aufnahm (Poylin – Eine untergegangene Welt, Berlin: Aufbau Verlag 2000). Kaléko, Mascha, Schriftstellerin, *Chrzanów (Galizien) 7.6.1912, gest. Zürich 21.1.1975; wuchs in Berlin auf, emigrierte 1938 in die USA, lebte zeitweise auch in Jerusalem. Ihre Lyrik ist geprägt durch Charme, Melancholie, politisch-satirische Schärfe und pointierte Sprachkunst (u.a. „Das himmelgraue Poesie-Album“, 1968). Kesten, Hermann, Schriftsteller und Lyriker, * 28.1.1900 in Podwoloczyska/Galizien (nicht Nürnberg, wie Brockhaus, Killy u.a. mitteilen), gest. 1996 in Basel, 1927-1933 Lektor und Leiter des Kiepenheuer-Verlags, 1933 Emigration nach Rom und später New York, 1972-1976 Präsident des deutschen Pen-Zentrums, zahlreiche Romane, Biographien und Essays. Kipnis, Alexander, Sänger (Baß), *Schitomir 1.2.1891, gest. Westport/USA, 14.5.1978, vor dem Ersten Weltkrieg Chorsänger der Großen Synagoge Warschau, 1930/33 Bayreuther Festspiele und Berliner Lindenoper, 1933 Emigration in die USA. Krochmal, Nachman, Philosoph, * Brody 17.2.1785, gest. Tarnopol 31.7.1840. 1851 erschien sein „Führer für die Verirrten unserer Zeit“, hg. von Leopold Zunz. Lem, Stanislaw, polnischer Schriftsteller, *Lemberg 12.9.1921, gest. Krakau 27.3.2006, schreibt neben philosophischen und literarischen Essays, Hör- und Fernsehspielen u.a. utopische, jedoch Struktur und Methode gegenwärtigen wissenschaftlichen Denkens spiegelnde Romane und Erzählungen, mit denen er zu den bedeutendsten

519 Science-Fiction-Autoren zählt; u.a. „Der Planet des Todes“ (1951, auch unter dem Titel „Die Astronauten“), „Das Hospital der Verklärung“ (1955), „Eden“ (1959), „Solaris“ (1961), „Transfer“ (1961), „Fiasko“ (1986), „Apokryphen“ (1998). Luxemburg, Rosa, marxistische Theoretikerin und Politikerin, *Zamosc bei Lublin (RussischPolen) 5.3.1870, ermordet Berlin 15.1.1919; jüdischer Herkunft, schloß sich schon als Schülerin der sozialistischen Arbeiterbewegung an, emigrierte 1889 nach Zürich und studierte dort Nationalökonomie (1897 Promotion). Zusammen mit dem ihr eng verbundenen L. Jogiches beteiligte sie sich 1893 führend an der Gründung der im Untergrund tätigen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei des Königreichs Polen (und Litauen; ab 1900). Nach Übersiedlung nach Berlin (1899) und Eintritt in die SPD entwickelte sie sich zur führenden Theoretikerin des linken Parteiflügels. 1905 ging sie in den unter russischer Herrschaft stehenden Teil Polens und nahm in Warschau an Demonstrationen und Kämpfen gegen die russische Staatsmacht teil. Vom 4.3. bis 28.6.1906 in Warschau in Haft, kehrte sie über Finnland (Schrift „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften“) nach Deutschland zurück. Im November 1906 begann ein engeres Verhältnis zu C. Zetkins Sohn Konstantin (Kostja; *1885, gest. 1976). Am 1.10. 1907 wurde sie Dozentin an der Parteihochschule der SPD in Berlin. Schon im Vorfeld, u.a. auf den Internationalen Sozialistenkongressen (1907, 1912, 1914) und in der II. Internationale aktiv gegen die Kriegsgefahr eintretend, bekämpfte sie im Ersten Weltkrieg 1914-18 die Burgfriedenspolitik der SPD („Die Krise der Sozialdemokratie“, unter dem Pseudonym „Junius“, deshalb auch »Junius-Broschüre“ genannt, 1916) und initiierte zusammen mit K. Liebknecht die „Gruppe Internationale“, für die sie Mitherausgeberschaft der Zeitschrift „Die Internationale“ übernahm (ab 1915; Spartakusbund). Vom 31.3.1915 bis 18.2.1916 sowie ab 10.7.1916 war sie als Kriegsgegnerin in Berlin, Wronke (Posen) sowie Breslau inhaftiert. Nach ihrer Freilassung (9.11.1918) ging sie nach Berlin. Nach dem Sturz der Monarchie strebte sie eine Rätedemokratie an. Ihre im Dezember verfaßte Schrift „Was will der Spartakusbund“ wurde zur programmatischen Grundlage der am 31.12.1918 /1.1.1919 gegründeten KPD, zu deren Vorsitzender sie gemeinsam mit Liebknecht gewählt wurde. Im Januar 1919 unterstützte sie aus Gründen der Parteiräson den Aufstand des Sparta-

520 kusbundes in Berlin, von dessen Scheitern sie überzeugt war und den sie deswegen mißbilligt hatte; sie wurde von Freikorpsoffizieren ermordet. Werke: Gesammelte Briefe, herausgegeben von A. Laschitza, 6 Bde. (1984-96); Gesammelte Werke, herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 6 Bde. (1987-90); Politische Schriften, herausgegeben von O.K. Flechtheim (Neuausgabe 1987). Manger, Itzik, jiddischer Schriftsteller, *30.5.1901 Czernowitz, gest. 21.2.1969 Gedera/Israel. 1921 erste Gedichte in der „Kultur“ (Bukowina), ab 1929 jiddische Gedichtbände, „Megille Lider“ (1936), Roman „Dos Bukh fun Gan Eydn“ (1939). 1940 Emigration nach London; 1951 Übersiedlung nach New York, 1967 nach Israel. Das Musical von Dov Seltzer nach der „Megilla“ des Itzik Manger, wurde 1968 zum großen BroadwayErfolg. Margul-Sperber, Alfred (eigentl.: A. Sperber), Lyriker, Übersetzer, Publizist. *23.9.1898 Storozinec/Bukowina, gest. 3.1.1967 Bukarest. Nach 1924 als Journalist in Czernowitz tätig. Die NS-Zeit überlebte M.-S. in Wien. Seine Haltung im kommunist. Rumänien blieb umstritten. Wesentlicher Förderer von Ausländer, Celan, Rosenkranz, Cisek u.a. Meerbaum-Eisinger, Selma, Lyrikerin. *Czernowitz 14.8.1924, gest. Arbeitslager Michailowka westl. des Bugs 16.12.1942. Übersetzungen aus dem Französischen, Rumänischen und Jiddischen. Nach der deutschen Besetzung zunächst im Ghetto Czernowitz, im Juni 1942 im SS-Arbeitslager Michailowka, dort am Flecktyphus gestorben. M.E. hinterließ nur 57 Gedichte, gewidmet ihrem Freund Lejser Fichman: „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“ (Frankfurt/M. 1989, 5.Aufl.). Mikulicz-Radecki, Johannes von, Chirurg, * Czernowitz 16.5.1850, gest. Breslau 4.6.1905, Schüler von Theodor Billroth, führender Magen- und Darm-Chirurg seiner Zeit. Morgenstern, Soma, Schriftsteller, *Budzanów (Ostgalizien) 3.5.1890, gest. New York 17.4. 1976; aus jüdisch-chassidischer Familie, lebte bis 1938 in Wien, emigrierte nach der Annexion Österreichs nach Frankreich, war dort interniert, konnte in die USA fliehen. Mor-

521 gensterns (autobiografisches) Werk, das erst seit den 90er-Jahren editorisch erschlossen wird, spiegelt die Welt des ostgalizischen Judentums und der Wiener Kultur der 20er-Jahre („Joseph Roths Flucht und Ende. Erinnerungen“, herausgegeben 1994; Trilogie „Funken im Abgrund“, vollständig herausgegeben 1996). Werke: Soma Morgenstern: Werke in Einzelbänden, 11 Bd.e, Lüneburg 2001. Perez, Issak Leib (eigentl. Itzhok Lejb), Schriftsteller, *18.5.1851 ZamoĞü, gest. 3.4.1915 Warschau. 1908 Präsident der Jiddischistischen Konferenz in Czernowitz. Zahlreiche jidd. und einige hebräische Veröffentlichungen. Radek, Karl (eigentl.: Karl Sobelsohn), sowjetischer Politiker, *Lemberg 1885, gest. in einem sowjetischen Straflager 1939; Journalist; 1918/19 am Aufbau der KPD beteiligt; wurde 1919 Mitglied des ZK der russischen KP, 1920 Sekretär des Exekutivkomitees der Komintern, dort bis 1923 verantwortlich für die politische Ausrichtung der KPD; 1924 als Trotzkist aus allen seinen Parteiämtern entlassen, 1927, erneut 1936 aus der KPdSU ausgeschlossen. 1927 bis 1929 verbannt, anschließend u.a. Redakteur der „Prawda“; 1937 zu zehn Jahren Haft verurteilt. Redl, Alfred, österr.-ungar. Offizier, * Lemberg 14.3.1864, gest. Wien 25.5.1913 (Suizid), 1900-1912 Nachrichtendienst des Generalstabes, auf Grund homosexueller Neigungen zu Spionagediensten für Rußland erpreßt. Reich, Wilhelm, österreichischer Psychoanalytiker, *Dobrzcynica 24.3.1897, gest. Lewisburg (Pennsylvania) 3.11.1957; ging 1939 in die USA. Reich strebte eine Verbindung zwischen Marxismus und Psychoanalyse an. In seiner Charaktertheorie hob er die repressive Funktion der Gesellschaft hervor, die ihre autoritäre Ordnung u.a. durch sexuelle Unterdrückung aufrechterhalte. Reich glaubte, eine kosmische Lebensenergie entdeckt zu haben (Organtheorie), die er mit selbst gebauten Apparaten zu speichern und für Heilzwecke einzusetzen suchte. Werke: Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral (1930; Neuausgabe 1966 unter dem Titel „Die sexuelle Revolution“); Der Einbruch der Sexualmoral (1931).

522 Rezzori, Gregor von (eigentl.: G. von Rezzori d'Arezzo), Schriftsteller, *Czernowitz 13.5.1914, gest. Donnini bei Florenz 23.4.1998; verfaßte sprachlich virtuose, geistvoll-witzige Romane und Erzählungen, deren Schauplatz meist das fiktive Land „Maghrebinien“ ist, das an die ehemalige Donaumonarchie erinnert („Maghrebinische Geschichten“,1953; „Ein Hermelin in Tschernopol“, 1958; „1001 Jahr Maghrebinien“, 1967; „Der Tod meines Bruders Abel“, 1976; „Memoiren eines Antisemiten“, 1979; „Über dem Kliff“, 1991); war auch Schauspieler und Drehbuchautor. Richter, Swjatoslaw Teofilowitsch, Pianist, *Schitomir 20.3.1915, gest. Moskau 1.8.1997; einer der bedeutendsten Klaviervirtuosen der neueren Zeit. Sein Repertoire reichte von der Klaviermusik des Barock über die Klassik und Romantik bis zu Werken zeitgenössischer Komponisten. Rosenkranz, Moses (eigentl.: Edmund R., auch Martin Brant), Lyriker und Übersetzer, *20.6.1904 Berhometh/Pruth (Bukowina), gest. 19.5.2003 in Lenzkirch/Schwarzwald, ab 1941 über ein Jahrzehnt in rumänischen und sowjetischen Arbeitslagern, 1961 Ausreise nach Deutschland. Gefördert von A. Margul-Sperber, veröffentlichte R. in Czernowitz bis 1940 vier Gedichtbände, darunter 1930 die „Lebendigen Verse“, und 1947 unter dem Pseudonym Martin Brant in Bukarest die Sammlung „Gedichte“. „Im Untergang. Ein Jahrhundertbuch“ erschien in München 1986 (Innsbruck 1988). Seine 1942 im Arbeitslager von Cirlibaba entstandene „Blutfuge“ wirkte in einigen Elementen auf Celans „Todesfuge“ ein. Roth, Henry, amerikanischer Schriftsteller, *Tysmeniza 8.2.1906, gest. Albuquerqe (New Mexico) 13.10. 1995, wuchs in New York auf; als Klassiker der jüdischamerikanischen Literatur gilt sein autobiographisch bestimmter Roman „Nenne es Schlaf“ (1934; Wiederveröffentlichung 1960). Roth, Joseph, österreichischer Schriftsteller, *Brody (bei Lemberg) 2.9.1894, gest. Paris 27.5.1939; veröffentlichte während des Ersten Weltkrieges erste feuilletonistische Arbeiten und Gedichte; war nach dem Krieg für verschiedene Zeitungen in Wien,

523 Prag und Berlin tätig, dann Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“, in deren Auftrag er nach Frankreich, in die Sowjetunion, nach Polen und Albanien reiste. Roth emigrierte 1933 nach Frankreich, lebte zuletzt in Paris, wo er sich in österreichischmonarchistischen Kreisen gegen den Nationalsozialismus engagierte und schließlich an den Folgen seiner Trunksucht in einem Armenhospital starb. Seine ersten Romane („Das Spinnennetz“, 1923 veröffentlicht in der „Arbeiterzeitung“; „Hotel Savoy“, 1924; „Die Rebellion“, 1924) sind wie seine zahlreichen journalistischen Arbeiten dieser Zeit von sozialistischem Engagement und Auseinandersetzung mit dem Stil der „Neuen Sachlichkeit“ geprägt. Unter dem Eindruck einer Reportagereise in die Sowjetunion 1926 wandte er sich zunehmend vom Sozialismus ab; thematisch vorherrschend wurden in der Folge die Welt des Ostjudentums („Hiob“, 1930) sowie der Untergang der Donaumonarchie („Radetzkymarsch“, 1932; „Die Kapuzinergruft“, 1938), deren Völkergemeinschaft ihm in verklärter Sicht auch als realpolitische Alternative zum Nationalismus und Faschismus seiner Zeit erschien. Weitere Werke: Romane: Flucht ohne Ende (1927); Zipper und sein Vater (1928); Rechts und links (1929); Tarabas (1934); Beichte eines Mörders (1936); Die hundert Tage (1936); Das falsche Gewicht (1937); Die Geschichte von der 1002. Nacht (1939); Der stumme Prophet (herausgegeben 1966); Perlefter (herausgegeben 1978). Erzählungen: Die Legende vom heiligen Trinker (1939); Der Leviathan (herausgegeben 1940). Essay: Juden auf Wanderschaft (1927). Ausgaben: Werke, herausgegeben von H. Kesten, 4

Bde. (Neuausgabe 1975-76);

Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten, 192039, herausgegeben von K. Westermann (1984); Werke, herausgegeben von K. Westermann und F. Hackert, 6 Bde. (1989-91); Briefe aus Deutschland. Mit unveröffentlichten Materialien, herausgegeben von R. Schock (1997). Heinz Lunzer/ Victoria Lunzer-Talos: Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern, Köln 1994. Rybakow, Anatoli Naumowitsch (eigentl.: Aronow), russischer Schriftsteller, *Tschernigow (Ukraine) 14.1.1911, gest. New York 23.12.1998 ; begann mit Abenteuergeschichten für Kinder und Produktionsromanen („Menschen am Steuer“, 1950). Sein späteres Werk ist durch psychologische Einfühlsamkeit und die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen gekennzeichnet („Schwerer Sand“, 1978). In dem Roman „Die Kinder vom

524 Arbat“ (1987) und der Fortsetzung „Jahre des Terrors“ (1989) setzt er sich mit der Stalinzeit auseinander. 1989 wurde Rybakow zum ersten Präsidenten des russischen PEN-Zentrums gewählt. 2001 erschien die deutsche Ausgabe des „Romans der Erinnerung. Memoiren“ (russ. 1997). Sacher-Masoch, Leopold Ritter von, Schriftsteller, *Lemberg 27.1. 1836, gest. Lindheim (heute zu Altenstadt, Wetteraukreis) 9.3.1895; schrieb Romane mit pessimistischer Darstellung des Familienlebens und Neigung zum nach ihm benannten Masochismus („Venus im Pelz“, 1866). Seine Novellen schildern das polnisch-jüdische Bauern- und Kleinbürgerleben. Schmidt, Joseph, berühmter Opernsänger und zeitweilig auch Kantor in Czernowitz (Tenor), *Dawideny (Bukowina) 4.3.1904, gest. Girenbad (Gemeinde Hinwil, Kanton Zürich) 16.11.1942; wurde als Konzertsänger sowie durch Rundfunk, Schallplatte und Tonfilm („Ein Lied geht um die Welt“, 1933) weltbekannt. Schneerson, (Rabbi Schneerson), Menachem Mendel, ukrainischer jüdischer Philosoph, Mathematiker, Elektrotechniker, *Nikolajew 14.4.1902, gest. New York 12.6.1994; lebte seit 1940 (nach abenteuerlicher Flucht aus Litauen) in den USA, übernahm 1951 in New York (Brooklyn) die Leitung der chassidischen Chabad-Bewegung („Lubawitscher Gemeinde“) und baute sie zur weltweit einflußreichsten orthodoxen jüdischen Bewegung aus; wurde von seinen Anhängern auch als der kommende „Messias“ verehrt. Scholem Alejchem, [jiddisch „Friede sei mit euch“], eigentl.: Schalom Rabinowitsch, jiddischer Schriftsteller, *Perejaslaw (heute Perejaslaw-Chmelnizki, bei Kiew) 2.3.1859, gest. New York 13.5.1916; als Autor, Kritiker und Herausgeber maßgeblich an der Erneuerung der jiddischen Literatur beteiligt. Seine Romane und Erzählungen beschreiben die alltägliche Welt der osteuropäischen Juden um die Jahrhundertwende („Tewje, der Milchmann“, 1894, danach Musical „Anatevka“, 1964, von J. Bock). Schulz, Bruno, polnischer Schriftsteller und Grafiker, *Drogobytsch 12.7.1892, 1924-41 Zeichenlehrer in Drogobytsch, am 19.11.1942 im Ghetto von einem SS-Soldaten er-

525 schossen; schrieb die durch autobiographische Kindheitserinnerungen geprägten Erzählungen „Die Zimtläden“ (1934) und „Das Sanatorium zur Todesanzeige“ (1937). Sperber Manès, französischer Schriftsteller österreichischer Herkunft, * Zablotów (heute Sabolotow, Ukraine) 12.12.1905, gest. Paris 5.2.1984; Sohn eines Rabbiners, aufgewachsen in Galizien, ab 1916 in Wien. Dort studierte er Psychologie und war Schüler und Mitarbeiter von A. Adler. 1927 wurde er Dozent für Psychologie und Soziologie in Berlin; es folgten der Bruch mit Adler (1932) und der Eintritt in die KPD, deren Mitglied er bis 1937 blieb. 1933 emigrierte Sperber über Österreich und Jugoslawien nach Frankreich. 1939 diente er als Kriegsfreiwilliger in der französischen Armee, nach deren Niederlage floh er in die Schweiz. Nach Kriegsende kehrte er nach Paris zurück, wo er im Verlagswesen und zeitweise auch als Hochschullehrer tätig war. Sperber verknüpft in seinem nachhaltig vom eigenen Erleben geprägten Werk narrativen Aufbau und Elemente der Spannung mit geistreich-ironischen Analysen. Wissen, Bewußtsein, Gewissen waren ihm als geistige Einheit oberstes Gebot in Leben und Werk; als skeptischer Humanist wandte er sich gegen jede Art von Totalitarismus. Sein wohl bekanntestes Werk ist die (auto)biographisch-politische Romantrilogie „Wie eine Träne im Ozean“ (1961). Des Weiteren veröffentlichte er eine Reihe von Essaybänden, in denen er sich u.a. mit jüdischer Identität, dem Problem der Gewalt und literarischen Themen auseinandersetzte, sowie psychologische Abhandlungen. Seine Erinnerungen „All das Vergangene“ umfassen die Bände „Die Wasserträger Gottes“ (1974), „Die vergebliche Warnung“ (1975) und „Bis man mir Scherben auf die Augen legt“ (1977). Sperber schrieb auch in französischer Sprache. 1975 erhielt er den Georg-Büchner-Preis, 1983 den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.

Weitere Werke: Essays: Alfred Adler (1926); Zur Analyse

der Tyrannis (1939); Zur täglichen Weltgeschichte (1967); Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie (1970); Leben in dieser Zeit (1972); Individuum und Gemeinschaft (1978); Churban oder Die unfaßbare Gewißheit (1979); Nur eine Brücke zwischen gestern und morgen (1980). Die Wirklichkeit in der Literatur des 20. Jahrhunderts (1983); Ein politisches Leben. Gespräche mit Leonhard Reinisch (1984); Geteilte Einsamkeit. Der Autor und sein Leser (1985).Der schwarze Zaun (herausgegeben 1986, Romanfragment).

526 Steinbarg, Eliezer, jiddischer Schriftsteller, *1880 Lipkany, Bessarabien, gest. 1932 Czernowitz. Bis 1920 Schulleiter in Lipkany, seit 1920 in Czernowitz. Populärer Verf. vor allem von hebr. Erzählungen und Fabeln für Kinder. Stern, Manfred, langjähriger Mitarbeiter der Komintern, als „Général Kléber“ Chef der XI. Internationalen Brigade vor Madrid November 1936, *20.1.1896 Woloka, gest. 1954 in der UdSSR, während des ersten Weltkrieges Übergang zu den Bolschewiki, 1921 Teilnahme an den Arbeiterkämpfen in Mitteldeutschland, 1927 Stabschef der chinesischen Roten Armee, Spanienkämpfer, nach Rückkehr nach Moskau 1938 verhaftet und zu langjähriger Haft verurteilt, 25.8.1956 rehabilitiert. Wander, Fred, Erzähler [eigentl.: Fritz Rosenblatt], Jugendbuch- und Theaterautor * Wien 5.1.1917, gest. Wien 10.7.2006. Die Eltern, arme Ostjuden, stammten aus Czernowitz. 1942 nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. 1958 Übersiedlung mit seiner Frau Maxie Wander in die DDR, seit 1983 wieder in Wien. W. schreibt gegen Erinnerungsverlust und Resignation. Wichtigstes Werk die Erzählung „Der siebente Brunnen“ (1971/85): „In einer faszinierenden Mischung aus Magie und Rationalität wird die chassid. Erzähltradition wiederbelebt, die Literatur derer, die seit Jahrhunderten verfolgt sind und daher im Wort leben.“ (Eliach) Weissglas, (James ) Immanuel, Lyriker und Übersetzer, *14.3.1920 Czernowitz, gest. 28.5.1979 Bukarest. Gehörte zur Czernowitzer Gruppe um Celan und Ausländer. Unter deutscher Besatzung nach Transnistrien verschleppt, 1945 Flucht vor den Sowjets nach Bukarest. Dort vor allem als Übersetzer tätig (Goethes „Faust“). Sein Gedicht „Er“ von 1944 spielte im Zusammenhang mit Plagiatsvorwürfen gegen Celans „Todesfuge“ eine entscheidende Rolle. Wiesenthal, Simon, österreichischer Publizist, *Buczacz 31.12.1908, gest. Wien 20.9.2004, als Jude 1941 in Lemberg verhaftet und bis 1945 im KZ; trug wesentlich zur Aufspürung A. Eichmanns in Argentinien (1960) und über 1000 anderer nationalsozialistischer

527 Haupttäter bei („Nazi-Jäger“); eröffnete 1961 das jüdische Dokumentationszentrum in Wien, das er seitdem leitetete. Zöckler, Theodor, Pfarrer und Anstaltsgründer, *5.3.1867 Greifswald, gest. 18.9.1949 Stade. 1890 Judenmissionar. 1891 Pfarrer in Stanislau (heute Ivano-Frankivsk), 1896 Eröffnung eines Kinderheims, danach einer deutschen Schule, seit 1913 mit dem Diakonissenhaus „Sarepta“ verbunden: Stanislauer Anstalten. 1926 bewirkte Zöckler den Zusammenschluß der sechs protestantischen Kirchen Polens zum „Rat der ev. Kirchen in Polen“. 1939 wurde Zöckler mit den Stanislauer Anstalten nach Deutschland umgesiedelt. Fortsetzung der Arbeit in Stade, nach 1990 auch wieder in bescheidener Weise in Stanislau.

III.

Fast jeder der hier genannten Namen aus dem „galizischen Pantheon“ lädt dazu ein, sich über die damit verbundene Persönlichkeit genauer auszulassen. Das ist hier nicht möglich, vielmehr soll zunächst versucht werden, einige verallgemeinernde Beobachtungen zu formulieren, die helfen können, das wundersame Phänomen Galizien deutlicher zu erfassen.

1. Die kulturelle Blüte, die sich heute im kulturellen Gedächtnis mit dem Stichwort Galizien (und Bukowina) verbindet, umfaßte nur einen Zeitraum von wenigen Jahrzehnten und beschränkte sich zudem auf kleine Kreise13. Karl Emil Franzos’ zweibändige Sammlung „Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien“ erschien erstmals 1876 in Leipzig. Was es vorher an literarischer Produktion zwischen Lemberg und Czernowitz oder über Galizien gab, war allenfalls von landes-, verwaltungskundlicher14 und historischer15 Art, gehörte in we-

13

Vgl. Yavetz, Czernowitz, S. 179: „Man sollte sich nicht von Nostalgie überwältigen lassen. Nur für wenige war die Literatur ein Lebenswegweiser. Zwar liebte man Gedichte, aber es bestand kein Zweifel, daß die große Mehrheit den Gesang von Joseph Schmidt lieber hatte als die Gedichte von Alfred Margul-sperber und Rose Ausländer, die in den Tageszeitungen erschienen.“ 14 Vgl. z.B. Maurycy Drdacki von Ostrow: Die Frohnpatente Laiziens. Ein Beitrag zur Kunde des Unterthanenwesens, Wien 1838 (ND: Berlin 1990); Hipolit Stupnicki: Das Königreich Galizien und Lodomerien, sammt dem Großherzothume Krakau und dem Herzogthume Bukowina in geographisch-

528 nigen Fällen zur Reiseliteratur über abseitige Gebiete16 oder war auch sonst einigermaßen randständig, wie z.B. Josef G. Riedels Abhandlung „Die asiatische Brechruhr. Nach den in Galizien gemachten Erfahrungen und Beobachtungen“, 1832 in Prag erschienen. Genau genommen geht es also, wenn wir über Galizien reden, eigentlich immer nur um die Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg.

2. Der Glanz Galiziens und der Bukowina war ein fast ausschließlich jüdisches Phänomen. Von den hier besonders berücksichtigten 59 Persönlichkeiten waren lediglich acht nichtjüdischer Herkunft, was einem Anteil von knapp fünf Prozent entspricht. 3. Betrachtet man die Biographien der großen jüdischen Persönlichkeiten Galiziens und der Bukowina genauer, so fällt der enorm rasche soziale und kulturelle Aufstieg auf, der in diesen Familien in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stattfand. Die Großväter und Urgroßväter stammten nicht selten aus Rußland oder den an Galizien angrenzenden Gebieten Polens. Sie waren zumeist arm, verfügten aber teilweise über eine beträchtliche rabbinisch-talmudische Gelehrsamkeit. Deren Kinder brachten es dann in vielen Fällen zu einem gewissen Wohlstand in allerlei bürgerlichen Berufen vom Holzhändler bis zum Rechtsanwalt. Die spezifischjüdisch-gelehrten Traditionen innerhalb der Familien und Gemeinden wurden dabei oft in ein dezidiert säkulares Bildungsstreben transformiert, das auch einem Hochschulstudium sogenannter „brotloser“ Fächer ein hohes Sozialprestige sicherte. Universitätsstudien an deutschen und österreichischen Hochschulen, aber auch in Krakau, Warschau oder Prag waren keine Seltenheit mehr.

4. Das gebildete Galizien sprach Deutsch – meistens in einer leicht wienerisch gefärbten Variante. Das „Czernowitzer Deutsch“, ein Gemisch von Deutsch und Jid-

historisch-statistischer Beziehung, Lemberg 1853 (ND: Berlin 1989); Orts-Repertorium des Königreiches Galizien und Lodomerien mit dem Grossherzogthume Krakaus. Auf Grundlage der Volkszählung vom Jahr 1869, Wien 1874 (ND: Berlin 1989) 15 Vgl. z.B. Ludwig Albrech Gebhardi: Geschichte der Königreiche Galizien, Lodomirien und Rothreussen, Pesth 1804. 16 Vgl. z.B. Alphons Heinrich Traunpaur D’Ophanie: Dreyßig Briefe über Galizien oder Beobachtungen eines unpartheyischen Mannes, der sich mehr als nur ein paar Monate in diesem Königreiche umgesehen hat, Leipzig 1787 (Nd: Berlin 1990); Adolf Schmidl: Reisehandbuch durch das Königreich Böhmen, Mähren, Schlesien, Galizien, die Bukowina und nach Jassy, Wien 1836; Briefe eines Deutschen über Galizien, Breslau 1847.

529 disch, benutzten hingegen nur Juden17: „Zarter und derber/ Viersprachenklang/ von Deutsch beherrscht/ Jiddische/ deutsche/ Dichter/ heimattreu“, dichtete Rose Ausländer. Deutsch waren die meisten Zeitungen, die in den Cafés von Lemberg und Cernowitz auslagen. In Czernowitz sollen es über 100 Zeitungen und Magazine gewesen sein, die das gebildete Publikum las18. Neben dem Deutschen war viel öfter und allltäglicher das Jiddische zu vernehmen, die Sprache der kleinen Leute, die ab der Jahrhundertwende allerdings auch endgültig zur Literatursprache avancierte. Traditionell gestimmte Juden verfügten oft auch über exzellente HebräischKenntnisse. Polnisch, Rumänisch und Russisch, selbst noch Armenisch komplettierten einen Sprachenkosmos, der keineswegs nur die Welt der gebildeten Menschen zum Klingen brachte. Auch sog. „kleine Leute“ lebten in Galizien oft in einer selbstverständlichen Vielsprachigkeit, die auf der Straße, dem Markt, in der Schule und im Gottesdienst tagtäglich praktiziert wurde. Welche sprachlich-literarischen Auswirkungen diese Präsenz der vielen Sprachen hatte, ist erst in Ansätzen erforscht.

5. Galizien war und blieb bis in den Zweiten Weltkrieg hinein ein Gebiet der vielen Volksgruppen19. Genaue Zahlenangaben bleiben problematisch: „Das Spektrum der damals im Kronland Galizien beheimateten Völker und Nationalitäten war sehr bunt, ist aber statistisch schwierig zu erfassen. Die offiziellen Statistiken führten keine Rubrik Nationalität, sondern unterschieden lediglich zwischen der Religionszugehörigkeit: Katholiken, Unierte, Griechen (= Orthodoxe), Evangelische/Reformierte und Juden. Dahinter blieben verborgen: Ukrainer, die als Ruthenen, häufig auch noch als Rusniaken bezeichnet wurden, Polen, Juden, Armenier, Deutsche, Zigeuner, Russen, Magyaren, Philipponen oder Lippowaner, Rumänen, Tschechen, Slowaken und Karaimen.“20 Jede Verklärung dieser Multiethnizität würde aber in die Irre führen. Die einzelnen Gruppen blieben in aller Regel unter sich und kommunizierten nur in dem Maße miteinander, wie das durch die rasch wechselnden politischen Rahmenbedin-

17

Vgl. Yavetz, Czernowitz, S. 199ff. Vgl. Yavetz, Czernowitz, S. 220-237: „Die Czernowitzer Presse als Quelle zur Geschichte der Stadt“. 19 Vgl. u.a. Ludwig Adolf Simiginowicz-Staufe: Völkergruppen in der Bukowina, Czernowitz 1884 (ND. Stuttgart 1971). 20 Rudolf A. Mark: Galizien unter österreichischer Herrschaft. Verwaltung – Kirche – Bevölkerung = Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 13, Marburg 1994, S. 55. 18

530 gungen und die Erfordernisse des Alltags erzwungen wurde. Auch in Galizien war die multikulturelle Gesellschaft eher ein Alptraum den ein Traum. Die galizische Toleranz war praxisorientiert und zerbrach regelmäßig in den Krisensituationen, die es in der Geschichte Galiziens so oft gegeben hat. Um so bewundernswerter ist die pazifizierende und moderierende Leistung des habsburgischen Staatsgedankens und der k.k Verwaltung gewesen – trotz aller Schatten, die auch darüber immer gelegen haben. Als die Donaumonarchie zerbrach, war das auch der Anfang vom Ende Galiziens als geistigem Zentrum von europäischer Bedeutung.

6. Zum geistigen Zentrum von europäischer oder sogar weltweiter Bedeutung konnte Galizien während weniger Jahrzehnte aber auch nur deshalb werden, weil es ein gewissermaßen flüchtiges Zentrum bildete: Man wurde in Galizien geboren, ging dort zur Schule, studierte vielleicht sogar noch in Lemberg oder Czernowitz, aber der mobilere Teil der galizischen Gesellschaft durch alle ihre Schichten hindurch verließ dann Galizien. Im ersten deutschen Reiseführer durch Galizien von 1914 werden die sozioökonomischen Gründen für diese Bewegung sehr eindrücklich beschrieben: „Mit seinen mehr als acht Millionen Einwohnern ist Galizien eines der dichtest besiedelten Länder Europas, indem auf 1 km2 102 Menschen entfallen. Da dreiviertel der Gesamtbevölkerung von der Landwirtschaft leben, erzeugte diese Überbevölkerung einen außerordentlichen Bodenhunger und beide zusammen die Auswanderung [...]. Gegenwärtig führt die Auswanderung aus Galizien jährlich fast eine halbe Million Menschen teils über See, teils als Saisonwanderer nach Deutschland (auch Frankreich und Dänemark).“21 Genaue Zahlen sind aus verschiedenen Gründen nicht festzustellen22, aber die Auswanderungsbewegungen bis 1914 ergaben zusammen mit den Flüchtlingsströmen, den Ausgesiedelten und den Ermordeten danach einen Wirbel, in dem das historische Galizien derartig pulverisiert wurde, daß es allenfalls noch als Traum, Idee, als wehmütig-sehnsuchtsvolle Erinnerung weiterleben konnte: eine „Gegend, in der einmal Menschen und Bücher lebten“, wie Paul Celan das unwieder-

21

Mieszyáaw Oráowicz/Roman Kordys: Illustrierter Führer durch Galizien = A. Hartlebens Illustrierter Führer 66, Wien-Leipzig 1914 (ND: Berlin 1989); S. 3. Vgl. dazu R.A. Mark, Galizien, S. 76-80.

22

531 bringlich Zerstörte 1958 benannte, als man ihm den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen verlieh23.

IV.

Das alte Galizien mit seiner „weltverlorenen Einsamkeit“, seiner „Kultur“ und „Unordnung“, seiner „eigenen Lust, eigenen Liedern, eigenen Menschen und einem eigenen Glanz“ (Joseph Roth) ist in den Katastrophen des vorigen Jahrhunderts untergegangen, aber die Region der „verwischten Grenzen“ (Karl Schlögel), diese Region der vielen Flüsse, Gebirge und weiten Ebenen bleibt in dem Wirken der Menschen unverloren, die hier lebten und zumeist ganz woanders ihre Bücher schrieben und großen Karrieren erlebten.

Eine Typologie der galizischen Beiträge und ihrer Autoren zur europäischen und Weltkultur kann hier nicht entwickelt werden. Aber Streiflichter vermögen ja manchmal schärfer auszuleuchten, worauf es wirklich ankommt, als ein gleichmäßig helles, alles gleichmachendes Bühnenlicht.

Wenn wir eine streng chronologische Reihenfolge einhalten wollen, dann gehört an ihre Spitze ein Mann pommerscher Herkunft, der in Greifswald 1867 geboren wurde und 1949 in Stade verstarb. Und doch verband über viele Jahre hinweg jeder den Pfarrer Theodor Zöckler ganz automatisch mit Galizien und den berühmten Zöcklerschen Anstalten in Stanislau. Das „Bethel des Ostens“, gegründet 1896, besaß einen über Galizien weit hinausreichenden Ruf. Zöckler sah die bittere Not in Stanislau, wohin er als Judenmissionar von dem großen Franz Delitzsch geschickt worden war, und erbarmte sich des Elends, dabei maßgeblich unterstützt von seiner Frau Lily. Stanislau wurde so einer der vorgeschobensten Posten evangelischer Diakonie im Osten. Mit dem Kriegsbeginn 1939 mußten „Kyr Theodor“, wie ihn die Ukrainer verehrungsvoll anredeten, seine Anstalten schließen und in den Warthegau übersiedeln. Die Flucht im Januar 1945 verschlug den fast Achtzigjährigen nach Stade. Und noch 23

Vgl. Paul Celan: Der Meridian und andere Prosa. Ansprache anläßlich der Verleihung des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen 1958, Frankfurt/M. 1983.

532 einmal ließ sich „Vater Zöckler“ für seine Wahlheimat in führender Rolle in den Dienst nehmen. Das von ihm 1946 gegründete Hilfskomitee der Galiziendeutschen sammelte die doppelt durch Aussiedlung und Flucht Geschlagenen, organisierte Besuchsdienste, half bei Familienzusammenführungen und Auswanderungsaktionen und bot den evangelischen Galiziendeutschen in einer neuen Welt wieder eine geistliche Heimat. Theodor Zöcklers geistliche Vatergestalt ist bei den Galiziendeutschen bis heute unvergessen geblieben, die ihn als größten Glaubenszeugen verehren, der ihnen geschenkt wurde.

Die nächste hier zu nennende Persönlichkeit führt uns in eine ganz andere Region Galiziens und überhaupt in eine völlig andere geistige Welt: Rosa Luxemburg wurde 1870 oder 1871 in ZamoĞĨ, dem Padua des Nordens, als Tochter eines gutsituierten Holzhändlers geboren. An ihrem großbürgerlichen Geburtshaus unmittelbar am Markt erinnert eine Tafel an die große Revolutionärin aus einer Randzone des alten Galiziens. ZamoĞĨ, das heute zum UNESO-Weltkulturerbe gehört, war auch der Geburtsort des großen jiddischen Schriftstellers und Sozialisten Itzhok Lejb Perez (geb. 1851), an dessen Beerdigung 1915 in Warschau etwa 100.000 Menschen teilnahmen. Über Rosa Luxemburg, die an ihrer polnisch-jüdischen Herkunft und einer körperlichen Behinderung ein Leben lang leiden sollte, und ihre Rolle in der marxistischen Theorieentwicklung und in der internationalen Arbeiterbewegung kann hier nicht im einzelnen gehandelt werden. Galizien hat in ihrem Leben und Denken seit dem Umzug der Familie wahrscheinlich kaum noch eine Rolle gespielt, wohl aber Polen, handelte ihre Züricher Dissertation doch über dessen „industrielle Entwicklung“. Jiddisch verstand sie selbstverständlich, ihre Mutter soll mit ihr jiddisch korrespondiert haben, aber sie verachtete das Jiddische als „Jargon“ und benutzte nur die dort reichlich vorkommenden Schimpfwörter. Von den jüdischen Traditionen ihrer Familie hat Rosa Luxemburg schon von früher Jugend an keinen Gebrauch mehr gemacht. Wo sie später auf die Juden zu sprechen kam, geschah das ohne wahrnehmbare innere Anteilnahme. Die hochintellektuelle Revolutionärin war zugleich eine leidenschaftliche Natur, wie ihre Beziehungen zu verschiedenen revolutionären Führern und ihre Gefängnisbriefe aus Breslau zeigen. Der orthodoxe Kommunismus hat mit dieser galizischen Jüdin wenig anfangen können. In der DDR wurde ihr Ge-

533 samtwerk erst 1970 in eine Gesamtausgabe entsorgt. Als 1988 die DDRBürgerrechtsbewegung beim jährlichen Begängnis von Rosa Luxemburgs Todestag im Januar auf dem Friedhof Berlin-Friedrichsfelde, der Gedenkstätte der Sozialisten, Rosa Luxemburgs Wort von der „Freiheit der Andersdenkenden“ auf Plakaten zeigte, war das der Anfang der Friedlichen Revolution und des Sturzes der SED-Diktatur.

Was das ist oder war - das Ostjudentum, hat Martin Buber die westliche Welt gelehrt. Seine Interpretationen des Chassidismus blieben ebenso umstritten wie wirkungsmächtig. Was wüßten wir ohne ihn von der Weisheit eines Baal-Schem-Tow, des R. Isaak Ben Elieser (1699-1760), der seine Schüler und über Martin Buber uns lehrt: „Womit wärst du angesehener als ein Wurm? Dient er doch dem Schöpfer mit seiner ganzen Einsicht und Kraft!“24 Darüber muß man erst wieder zur Ruhe kommen, um sich dann in Bubers „Erzählungen der Chassidim“ festzulesen, wo die ganze Weisheit und abgrundtiefe mystische Erfahrung der großen Zaddikim und Rebben Galiziens ausgebreitet zu finden ist. So sagte R. Abraham Jakob von Sadagora einst: „Das Licht der Erlösung breitet sich um uns in Haupteshöhe. Wir merken es nicht, denn unsere Köpfe sind unter der Last der Verbannung gebeugt. Möchte Gott unsere Köpfe aufrichten!“25 Auch hier wieder dieses tiefe Wissen um Gott und den Menschen – und das gleich in vielhundertfacher Weise bezeugt. Martin Buber hat es poetisch gefaßt und geordnet, bevor die Welt der Zaddikim und großen Rebben, jener in Gott „Begeisterten“, in den Feueröfen erlosch. Buber, 1878 in Wien geboren, war kein Kind Galiziens, aber in Lemberg lebte sein Großvater, ein Handelskammerrat, Direktor zweier Banken und zugleich einer der bedeutendsten aufgeklärten Talmudkenner seiner Zeit, dessen Werke bis heute nachgedruckt werden. Als Dreijähriger kam der Enkel zum hochbedeutenden Großvater nach der Scheidung der Eltern, und in Galizien erlebte er den letzten Abglanz des Chassidismus, erkannte er die Glut unter der Asche. Bubers erste Veröffentlichung zum Chassidismus von 1907 war denn auch dem Lemberger Großvater gewidmet, „dem letzten Meister der alten

24

Martin Buber: Des Rabbi Isaak ben Elieser, genannt Baal-schem-Tow, das ist Meister vom Guten Namen, Unterweisung im Umgang mit Gott, aus den Bruchstücken gefügt. Neugestaltete Ausgabe, Heidelberg 1981, S. 90. 25 Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 1949, S. 517.

534 Haskala“26. Über Buber, der 1965 in Jerusalem starb, als Philosophen des „Lebens im Dialog“, Zionisten und grandiosen „Verdeutscher“ der „Schrift“ muß hier nichts gesagt werden. Sein Credo lautete: „Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.“27 Seit 1968 erinnert die Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille auch eine weitere Öffentlichkeit an eine der großen geistigen Gestalten des vorigen Jahrhunderts, die schon als Kind in Galizien ihre großen Lebensthemen fand.

Im Nachlaß Joseph Roths, der 1894 in Brody bei Lemberg geboren wurde und 1939 in Paris starb, fand sich ein fiktiver Brief, in dem das ganze Elend dieser sich selbst zerstörenden Existenz auf den Punkt gebracht wurde: „Der Krieg und der Hunger haben unsern kleinen Ort vernichtet und jetzt grasen die Kühe, wo früher noch die Kinder gespielt haben. Das ist ein seltsames Gefühl, wenn die Stadt, in der man geboren wurde, nicht mehr vorhanden ist. Es ist so, als wäre man tausend Jahre alt und gerade vom Jenseits wiedergekehrt. Wenn man mich fragt, wo ich zur Welt gekommen wäre, weiß ich nichts zu sagen. Und weil meine Heimat nicht mehr vorhanden ist, bin ich nirgends zu Hause.“28 Roths Vater, ein Chassid namens Nachum verschwand in geistiger Umnachtung am Hofe eines russisch-polnischen Wunderrabbis. Der Verlust des Vaters war das erste Desaster im Leben des hochbegabten jungen Juden, der bereits zu diesem Zeitpunkt begann, sein Leben mythomanisch ständig neu zu erfinden. Mochte das noch zunächst als harmlose pubertäre Fluchtbewegung aus einer gestörten Familienwirklichkeit erscheinen, so bedeutete das Ende des alten Galiziens und die Zerstörung der habsburgischen Monarchie für Roth eine Verlusterfahrung, die nur noch im Alkohol zu ertragen war. In seinem großen Roman „Radetzkymarsch“ von 1932 wird die Geschichte des Leutnants Trotta mit der des Untergangs einer ganzen Epoche verwoben. Der junge Leutnant fällt, als er gegen Ende des großen Krieges im Gefecht seinen Männern Wasser zu holen versucht. Dann sterben fast gleichzeitig Ende November 1916 der alte Kaiser Franz Joseph I. und

26

Vgl. Hans Kohn: Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte Mittel4 europas 1880-1930, Wiesbaden (1961 ), S. 17. Vgl. auch Peter Maser: Art. Buber, Martin, in: Bernd Lutz (Hg.), Metzler Philosophen Lexikon. Von 2 den Vorsokratikern bis zu den Neuen Philosophen, Stuttgart-Weimar 1995 , S. 149-153. 28 Zitiert nach David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie, München 1981, S. 20. 27

535 der Vater des Leutnants: „Sie konnten beide Österreich nicht überleben.“29 Im Vorwort zum Vorabdruck des „Radetzkymarsches“ in der „Frankfurter Zeitung“ schrieb Roth: „Ein grausamer Wille der Geschichte hat mein altes Vaterland, die österreichisch-ungarische Monarchie, zertrümmert. Ich habe es geliebt, dieses Vaterland, das mir erlaubte, ein Patriot und ein Weltbürger zugleich zu sein, ein Österreicher und ein Deutscher unter allen österreichischen Völkern. Ich habe die Tugenden und die Vorzüge dieses Vaterlandes geliebt, und ich liebe heute, da es verstorben und verloren ist, auch noch seine Fehler und Schwächen. Deren hatte es viele. Es hat sie durch seinen Tod gebüßt. Es ist fast unmittelbar aus der Operettenvorstellung in das schaurige Theater des Weltkriegs gegangen.“30 Der „heilige Trinker“ Joseph Roth sollte aus der alles bestimmenden Verlusterfahrung des „alten Österreich“ aber noch ein großes Werk journalistischer und dichterischer Art synthetisieren. 1930 war der „Hiob. Roman eines einfachen Mannes“ erschienen, 1938 „Die Kapuzinergruft“, 1939 „Der heilige Trinker“ – und dann 1939 der Tod im ärmlichen Hôpital Necker in der Pariser Rue de Sèvres. Ein Jahr später wurde Roths Frau Friedl, die in einem Sanatorium für Geisteskranke verwahrt werden mußte, als Opfer der Euthanasie in einer Linzer Anstalt ermordet. Stefan Fingal schrieb im „Aufbau“ von 1949 über den Freund, der sich zuletzt einigermaßen unglaubwürdig katholisch gebährdet hatte: „Die haben einen Juden mit Litaneien und Kreuz begraben. [...] Er starb an einem Wendepunkt seines Daseins, im Begriff, zur Ideenwelt seiner Jugend zurückzukehren. Es war zu spät. Ein mit Lederriemen ans Sterbebett gefesselter Prometheus, so hauchte er seine Feuerseele aus.“31. Der Jude aus Brody hat kraft seiner Seele und Kunst ein Galizien konstruiert, das es so nie gegeben hatte, aber als Idee unverlierbar in das kulturelle Gedächtnis Europas eingegangen ist. Der Emigrant aber notierte die gallebittere Erkenntnis: „Wir sind alle Bruchstücke, weil wir die Heimat verloren haben.“32

29

4

Joseph Roth: Radetzkymarsch, Berlin-Weimar 1976 , S. 405. Frankfurter Zeitung, 17.4.1932, zitiert nach Bronsen, Joseph Roth, S. 400. 31 Stefan Fingal: Legende vom Heiligen Trinker. Gedenkblatt zum 10. Todestag von Joseph Roth, in: Aufbau, 24. Juni 1949, S. 9, zitiert nach Heinz Lunzer – Victora Lunzer-Talos, Joseph Roth. Leben und Werk in Bildern, Köln 1994, S. 274. 32 Zitiert nach Bronsen, Joseph Roth, S. 28. 30

536 Als Joseph Roth in Paris verreckte, erschien in Czernowitz ein Gedichtband „Der Regenbogen“, promoviert von Alfred Margul-Sperber. Seine Autorin kannte man in der Stadt noch als Rosalie Scherzer, Die literarische Welt sollte sie erst zwanzig Jahre später als Rose Ausländer registrieren. Geboren 1901 in Czernowitz, wanderte sie schon 1920 in die USA aus. Die Ehe mit Ignaz Ausländer hielt drei Jahre. Es folgten unruhige Jahre nach der Rückkehr nach Czernowitz, wo Rose Ausländer das Ghetto überlebte und mit Paul Antschel Gedichte tauschte, der als Paul Celan späten Weltruhm erlangen sollte. Nach dem Kriegsende ging die Dichterin zunächst in die USA, versuchte – schwer gezeichnet durch die Verfolgungszeiten – englisch zu schreiben und kehrte doch ab 1956 wieder in das vertraute Deutsch ihrer Kindheit und Jugend zurück. 1965 kam sie in die Bundesrepublik, wo sie bis zu ihrem Tod 1988 in Düsseldorf lebte, die letzten zehn Jahre durch eine schwere Arthritis praktisch ans Bett gefesselt. Ihre späten Gedichte mußte sie alle diktieren. Die Dichterin lebte in den Wörtern, mit und durch die Wörter an sich: „Warum ich schreibe? Weil Wörter mir diktieren: schreibe uns. Sie wollen verbunden sein, Verbündete. Wort mit Wort mit Wort. [...] Warum schreibe ich? Weil ich, meine Identität suchend, mit mir deutlicher spreche auf dem wortlosen Bogen. Er spannt mich. Ich bin gespannt auf die Wörter, die zu mir kommen wollen. Ich rede mit ihnen zu mir, zu dir, rede dir zu, mich anzuhören.“ Die Begegnung mit den Wörtern – für Rose Ausländer war das spätestens seit den Czernowitzer Ghetto-Tagen eine lebenserhaltende Angelegenheit: „Wir zum Tode verurteilten Juden waren unsagbar trostbedürftig. Und während wir den Tod erwarteten, wohnten manche von uns in Traumworten – unser traumatisches Heim in der Heimatlosigkeit. Schreiben war Leben. Überleben.“33 Rose Ausländers Texte sind heute in einer achtbändigen Werk-Ausgabe des Fischer Verlages eingeschreint, stehen aber auch in dutzenden Einzelausgaben zu Verfügung. Wie ihr Bruder im Geist Paul Celan ist die Dichterin auf das genaue Hören angewiesen. Ihre Texte müssen gesprochen werden, der Laut der Wörter muß hörbar werden. Erst dann wird das oft Ungeheuerliche ihrer kleinen Formen erahnbar, wie im folgenden himmelzerstörenden Gedicht:

33

4

Rose Ausländer: Alles kann Motiv sein, in: Dies., Gedichte, Frankfurt/M. 2005 , S. 7 und 10.

537 Vaterunser

Vaterunser Nimm zurück deinen Namen Wir wagen nicht Kinder zu sein

Wie Mit erstickter Stimme Vater unser Sagen Zitronenstern An die Stirn genagelt

Lachte irr der Mond Trabant unserer Träume Lachte der tote Clown Der uns einen Salto versprach

Vaterunser Wir geben dir zurück Deinen Namen Spiel weiter den Vater im kinderlosen luftleeren Himmel34

Galizien und die Welt: In Joseph Schmidt kam das in unvergeßlicher Weise zusammen. 1904 in Dawideny bei Czernowitz geboren – der kleine Sänger mit der großen Stimme bis zum hohen D hinauf - wurde ein internationaler Star, dessen Lieder tatsächlich „um die Welt gingen“. Seine Schallplatten und Rundfunkaufnahmen lassen die unglaubliche Präsenz dieser hohen und berührend altmodischen Tenorstimme

34

Ebd., S. 138f.

538 noch erahnen. Aber die üblichen Zusammenschnitte aus Oper und Operette vermitteln nur die halbe Botschaft. Dieser Jude aus orthodoxem galizischen Elternhaus hatte seine Karriere einst im Tempel von Czernowitz begonnen. Wenn er dort das Schema Jisroel oder das Baruch schem intonierte, weinte die Gemeinde. Bald hielt Schmidt nichts mehr in Galizien, die Königliche Musikschule Berlin lockte und dann die Rundfunkstudios, Konzertsäle und Bühnen Europas. In den frühen 30er Jahren kehrte der weltberühmte Tenor aber noch einmal zu seinen Wurzeln zurück und sang in den Berliner Rundfunkstudios die großen synagogalen Hymnen für die Schallplatte ein. Die heute zu den unvergleichlichen Kostbarkeiten der kantoralen Tradition Berlins und des östlichen Europas gehörenden Tondokumente geben einen zutiefst berührenden Eindruck von der Pracht und religiösen Innigkeit dieser Kunst. Joseph Schmidt starb 1942 im Alter von 38 Jahren nach einer Flucht durch mehrere europäische Länder in einem schweizerischen Auffanglager. Sein Grab auf dem Israelitischen Friedhof „Unterer Friesenberg“ in Zürich trägt nur seinen Namen, die Lebensdaten und die Inschrift „Ein Stern fällt...“. Seine Mutter und einige seiner Geschwister überlebten die Shoah in der bukowinischen Heimat. Mutter Sara stirbt am 31. Mai 1950 im rumänischen Gura Humorolui. Eine Wiener Verehrerin des großen Sängers läßt seiner Mutter auf den Grabstein schreiben: „Ein Lied geht um die Welt.“

1951 schrieb Theodor W. Adorno den berühmten Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“, in dem er dekretierte: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“35 Der große Guru mindestens zweier Generationen bundesdeutscher Intellektueller wurde umgehend eines besseren belehrt: 1952 erschien der Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ von Paul Celan, darin die „Todesfuge“, bereits 1945 geschrieben, mit der furchtbar wahren Feststellung: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“. Plötzlich hatte das Unsagbare, das in Auschwitz und an den anderen Orten des Entsetzens geschehen war, ganz ins Wort gefunden. Man muß diesen gewaltigen Text einmal vom Dichter selber gelesen gehört haben, um die grauenerfüllte Sprachmagie dieser Dichtung zu begreifen. Vieles darin ist Sprachklang, das allermeiste Zitat und Anspielung, auf kunstvollste Weise in der Art einer Fuge mitein35

Theodor W. Adorno: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, in: Ders., Kulturkritik und Gesellschaft I. Ges. Schriften 10.1, hg. von Rolf Tiedemann = suhrkamp 1977, Darmstadt 1998, S. 30.

539 ander verwoben zu einem Teppich, der die kostbaren Leiber der Ermordeten bedeckt: ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland dein goldenes Haar Margarete dein aschenes Haar Sulamith

Dieses Gedicht war wahrlich kein Akt der Barbarei! Einem Dichter aus der Bukowina wurde es gegeben, den Millionen Ermordeten ein sprachliches Grabmal zu schaffen, das der Größe dieses millionenhaften Todes angemessen war. Paul Celan wurde 1920 in Czernowitz geboren. Bereits durch die Schulen, die er besuchte, war er im Deutschen, im Hebräischen, im Rumänischen und Ukrainischen vollständig zu Hause. Mit 21 Jahren wurde der Student der Romanistik ins Ghetto gezwungen. Der Vater starb in einem Lager in Transnistrien, die Mutter wurde erschossen. 1942/43 mußte Celan Zwangsarbeit in rumänischen Lagern leisten. 1944 konnte er in das befreite Czernowitz zurückkehren, flüchtete aber bereits 1947 aus seiner nun kommunistisch beherrschten Heimat über Ungarn und Wien nach Paris. Der Dichter der „Todesfuge“ vermochte auch dort den Schrecken seiner Jugend nicht zu entkommen, stets sind sie in seinen Gedichten auf peinigende Weise gegenwärtig. Die Mutter wurde ihm zur Chiffre des großen Verlustes: „Meiner Mutter Herz ward wund von Blei.“ Sie war es gewesen, deren Seele „die Haie vor ihm her peitschte“, so lange es immer noch möglich war. Die letzten Jahre des Dichters wurden nicht nur von den ständig dunkler werdenden Schatten der Erinnerung verdüstert, sondern auch von allerlei mediokren Plagiatsvorwürfen. Natürlich hatte Celan seinen Georg Trakl gelesen, natürlich hatte er auch vieles andere, darunter Rose Ausländer und Immanuel Weißglas, gekannt. Als er seine „Todesfuge“ schrieb, rann ihm das alles aber in einem großen, ganz ihm gehörigen, ganz einzigartigen und völlig selbständigen Text zusammen. Die Beckmessereien der kleineren Geister und gelehrter Germanistik konnten daran nichts ändern, aber sie belasteten das beschwerte Herz Celans noch

540 mehr. Wahrscheinlich am 20. April 1970 suchte der Dichter den Tod in der Seine, der Leichnam wurde erst zehn Tage später geborgen.

Kenotaph

Streu deine Blumen, Fremdling, streu sei getrost: du reichst sie den Tiefen hinunter den Gräten.

Der hier liegen sollte, er liegt nirgends. Doch liegt die Welt neben ihm. Die Welt, die ihr Auge aufschlug vor mancherlei Flor.

Er aber hielts, da er manches erblickt, mit den Blinden: er ging und pflückte zuviel: er pflückte den Duft – und die’s sahn, verziehen es ihm nicht.

Nun ging er und trank einen seltsamen Tropfen: das Meer. Die Fische – stießen die Fische zu ihm?36

Erst 1980 wurde das schmale Werk – gerade einmal 100 Druckseiten umfassend einer jungen Dichterin aus Czernowitz wirklich bekannt, die im Alter von 18 Jahren Ende 1942 im Arbeitslager Michailowka an Flecktyphus starb. Selma MeerbaumEisingers 57 Gedichte unter dem Titel „Blütenlese“ waren ihrem Freund Lejser Fichman gewidmet. Jürgen Serke, von Hilde Domin aufmerksam gemacht, veröffentlichte 36

Das Gedicht stammt aus der Sammlung „Inselhin“, in: Paul Celan, Von Schwelle zu Schwelle, Frankfurt/M. 1955.

541 diese auf wundersame Weise geretteten Texte, die das Ende des großen literarischen Erbes der zerstörten deutsch-jüdischen Kultur in der Bukowina und Galizien markieren. Erste Hinweise hatte es allerdings bereits in der 1968 in der DDR erschienenen Anthologie „Welch Wort in die Kälte gerufen. Die Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht“ gegeben37 Selmas Liebes- und Naturlyrik wird heute zur Weltliteratur gezählt. Hilde Domin schrieb: „Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.“ Selma Meerbaum-Eisingers Schicksal weist viele Parallelen zu dem Anne Franks auf. Ihre Liebe zu Lejser Fichman mußte in den finsteren Zeiten, in die Selma hineingeboren wurde, unerfüllt bleiben. Ihre Gedichte protokollieren die Klagen darüber bis hin zu jener wunderschön-todtraurigen Zeile: „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“38. Das letzte Gesicht in dem schmalen Bändchen, das uns Selma Meerbaum-Eichinger hinterlassen hat, trägt den Titel

Tragik Das ist das Schwerste: sich verschenken Und wissen, daß man überflüssig ist, sich ganz zu geben und zu denken, daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.

Mir rotem Stift fügte Selma diesem letzten Gedicht noch einen Nachsatz hinzu, in dem das ganze Schicksal Galiziens auf den Punkt gebracht wird: „Ich habe keine Zeit gehabt zu Ende zu schreiben.“39 Galizien durfte nicht zu seinem Ende kommen. Es wurde ausgelöscht in den Malströmen der Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Aber: Es war niemals überflüssig! Aber: Es verfloß nicht wie Rauch ins Nichts! Aber: Wir bemühen uns heute ganz neu darum, das uns anzueignen, was Galizien der Welt geschenkt hat – das Traumland zwischen den Strömen.

37

Heinz Seydel (Hg.): Welch Wort in die Kälte gerufen. Die Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht, Ost-Berlin 1968. Seydel druckte das „Poem“ ab (S. 352-354), wußte aber über die Urheberin fast nichts, so konnte er nur ein ungefähres Geburtsdatum angeben und wußte nichts über die genaueren Umstände ihres Todes. 38 Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte. Hg. von Jürgen Serke, Ham3 burg 2006 , S. 89. 39 Ebd., S. 100.

543 Simon Dubnow (1860-1941): „Buch des Lebens. - Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit“ (2006)

„Eine neue Welt wird in Schmerzen geboren. Nach der blutigen Sintflut (des Ersten Weltkrieges, P.M.) leuchtete am Horizont der Regenbogen des Friedens auf: der Völkerbund, der Abrüstungsgedanke, der Schutz der nationalen Minderheiten, das Ideal Paneuropa. Indessen sieht sich der Pazifismus noch immer mächtigen Feinden gegenüber: einerseits den altüberkommenen Anschauungen des Militarismus und der Revanchesucht, andererseits den zwei neuen Polen des Staatslebens, dem Bolschewismus und Fascismus, die innerhalb ihres Herrschaftsbereiches gewaltsam die Links- und Rechtsdiktatur aufrechterhalten und schwertrasselnd den internationalen Frieden bedrohen.“1 Diese nüchterne Einschätzung notierte im Frühjahr 1929 Simon Dubnow, „ein litauischer Emigrant, bereits in fünfter Generation“2, im Epilog zu seiner zehnbändigen „Weltgeschichte des Jüdischen Volkes“. Der große jüdische Historiker lebte zu dieser Zeit in der Charlottenbrunner Straße im Stadtteil Grunewald, „im damals noch ruhigen Berlin, bevor die nazistischen Banden in Erscheinung traten“3.

Bereits zehn Jahre zuvor, am 7. Januar 1918, hatte der gleiche Simon Dubnow als Augenzeuge des roten Terrors in Petersburg ahnungsvoll notiert: „Aber uns (Juden) wird man die Beteiligung jüdischer Revolutionäre am Terror der Bolschewiki nicht vergessen. Die Kampfgenossen Lenins: die Trotzkis, Sinowjews, Urizkis und andere stellen ihn selbst noch in den Schatten. Den Smolny nennt man insgeheim ‚Judenzentrum’. Später wird man laut darüber reden, und die Judophobie wird sich in allen Schichten der russischen Gesellschaft tief verwurzeln... Sie werden nicht verzeihen. Der Boden für Antisemitismus ist bereitet.“4

1

Zitiert nach Simon Dubnow: Weltgeschichte des Jüdischen Volkes. Kurzgefaßte Ausgabe in drei Bänden. Bd. 3, 2. Aufl. Mit Epilog 1914-1928, Jerusalem 1971, S. 749. 2 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 3, S. 131. Die ausführlichen bibliographischen Angaben siehe weiter unten im Text. 3 Ebd., S. 126. Vgl. auch Karl Schlögel: Berlin. Ostbahnhof Europas. Russen und Deutsche in ihrem Jahrhundert, Berlin 1998, S. 218-233 und 347f.: Simon Dubnows Berliner Tagebuch. 4 Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 2, S. 248f.

544 Am 31. Juli 1933, am Abend von Tische be-Aw, wo man der Zerstörung des Jerusalemer Tempels gedenkt, beklagte Dubnow in seinen Tagebüchern den „Churban Aschkenas“, die Katastrophe des deutschen Judentums: „Ich hätte in eine der Berliner Synagogen gehen, mich auf den Boden setzen und die Zerstörung der deutschen Judenheit beweinen sollen, die gerade erst beginnt und noch Jahre fortdauern wird.“5

Drei Tage später floh der greise Gelehrte ins lettische Riga, um dort noch in einiger Ruhe sein Lebenswerk vollenden zu können. Am 1. Juli 1941 marschierten die deutschen Truppen aber auch in Riga ein. Ende Oktober 1941 war das Ghetto für rund 30.000 Juden in der sog. Moskauer Vorstadt funktionsfähig, doch schon Anfang Dezember des gleichen Jahres wurde der „jüdische Wohnbezirk“ liquidiert. Die allermeisten seiner Bewohner wurden in den Wäldern von Rumbula bzw. Bikernieki bei Riga erschossen bzw. mit Knüppeln erschlagen6: „In Lettland wurde die Zahl der in Riga verbliebenen 29.500 Juden auf 2.500 verringert.“7 Wie Simon Dubnow ums Leben gekommen ist, läßt sich heute nicht mehr klären8. Am bekanntesten wurde jene Überlieferung, nach der der 81 Jahre alte Historiker, als man ihn zu den Mordplätzen abführte, mit lauter Stimme gerufen haben soll: „Schraibt, Jidn, un verschraibt...“9 Die innere Wahrheit dieser Überlieferung ist geradezu überwältigend: Der große jüdische Historiker, der angesichts des Todes sich selber als Objekt einer Geschichte erkennt, die um jeden Preis aufgeschrieben werden muß, und der dazu die Augenzeugen in der Mameloschn, der Muttersprache des osteuropäischen Judentums, auffordert. Wahrscheinlich ist aber auch Simon Dubnows Tod in jenen dunklen Jahren um vieles entsetzlicher und zugleich banaler gewesen, als es die Legende zu erzählen versucht. Den Mördern zumindest war Dub-

5

Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 3, S. 168f. Vgl. Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 2, Berlin 1993, Art.: Riga, S. 1228-1232. 7 Zitiert nach Peter Klein (Hg.): Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD = Publikationen der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz 6, Berlin 1997, S. 281. 8 Vgl. Anke Hilbrenner – Nicolas Berg: Der Tod Simon Dubnows in Riga 1941 – Quellen, Zeugnisse, Erinnerungen, in: Jb. Des Simon-Dubnow-Instituts für Jüdische Geschichte und Kultur 1, 2002, S. 457472. 9 Vgl. ebd., S. 460, bes. Anm. 13. 6

545 nows Name keine Eintragung in irgendeine Liste wert! Natürlich gibt es auch kein Grab, das in den „Gruben“ der Wälder vor Riga ihm zugeordnet werden könnte.

Bis vor zwei Jahren ist es verhältnismäßig still um Dubnow geblieben. Seine 1971 in Israel nachgedruckte „Weltgeschichte des Jüdischen Volkes. Kurzgefaßte Ausgabe in drei Bänden“ (Erstausgabe: Berlin 1937/38) war ebenso wie die 1982 in Königstein /Ts. nachgedruckte zweibändige „Geschichte des Chassidismus“ (Erstausgabe: Berlin 1931) allenfalls noch etwas für Spezialisten. Die noch 1937 unter dem Titel „Mein Leben“ von Elias Hurwicz in der Berliner Jüdischen Buchvereinigung herausgegebenen, stark gekürzten autobiographischen Aufzeichnungen galten praktisch als verschollen. Die komplette jiddische Ausgabe dieser Texte, die 1962/63 in Buenos Aires erschien, wurde in Europa zunächst kaum registriert. So führte Dubnow in allen einschlägigen Lexika und Handbüchern nach dem Krieg denn auch ein eigentümliches Schattendasein.

Simon Dubnow wurde 1860 im weißrussischen Mstislawl in einer traditionellen jüdischen Familie geboren. Zunächst stand er, wie eigentlich alle seine aufgeweckteren Generationsgenossen, der Haskala, der jüdischen Aufklärung, nahe. Schwerpunkte der frühen Forschungen Dubnows, der eigentlich immer ein Autodidakt der höheren Ordnung blieb, waren zunächst die Epochen jüdischer Autonomie in Polen und Litauen sowie die Geschichte des Chassidismus. Ein großer Teil dieser Untersuchungen erschien in Zeitschriften, in denen sich Dubnow auch für religiöse Reformen einsetzte. 1922 – nach Zwischenstationen in St. Petersburg, Odessa und Wilna - siedelte Dubnow nach Berlin über, um die Arbeiten an seinem Hauptwerk, der zehnbändigen „Weltgeschichte des Jüdischen Volkes“ voranzutreiben, die 1929 abgeschlossen werden konnte. Dubnow stand zunächst unter dem Einfluß des großen Breslauer Gelehrten, Heinrich Graetz (1817-1891), der seine 1876 vollendete elfbändige „Geschichte der Juden“ als Darstellung der Entwicklung des jüdischen Denkens und der jüdischen Institutionen sowie des Martyriums des Judentums angelegt hatte. Dubnow übersetzte 1881 die dreibändige „Volksausgabe“ dieses monumentalen Werkes ins Russische, konzipierte jedoch parallel dazu die Grundzüge seiner jüdischen „Weltgeschichte“ als Sozial- und Alltagsgeschichte. Aus dieser heraus entwickelte Dubnow

546 seine auch politisch ambitionierte Konzeption des Autonomismus (1906 Gründung der Jüdischen Volkspartei), war er doch überzeugt, daß das kleine jüdische Volk nicht beides bewahren konnte: seinen Staat und seine Nationalität. Beides mußte zerbrechen, um in gesetzlicher Autonomie und spiritueller Unabhängigkeit zu überleben.

Dubnows breitgestreute Studien, auch die zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, zeichnen sich durch eine stupende Quellenkenntnis aus. Der unermüdliche Publizist und Vortragsredner in vielen europäischen Sprachen war auch als Wissenschaftsorganisator bedeutsam. So gehörte er zu den Gründern der berühmten „Jüdischen Historisch-Ethnographischen Gesellschaft“, die - nach einem entsprechenden Aufruf Dubnows von 1891 – endlich 1908 als Nachfolgerin der „Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Rußland“ die Genehmigung der Behörden erhielt. Ebenso war Simon Dubnow an der Gründung des berühmten YIVO (Yidisher Visenshaftlikher Institut) im August 1925 in Berlin beteiligt, das seinen Hauptsitz bis 1940 in Wilna hatte, bevor es dann mit seinen unermeßlich wertvollen Sammlungen zur jiddischen Kultur nach New York flüchtete. Noch heute beeindruckend ist Dubnows praktisch-politisches Engagement in unterschiedlichsten jüdischen Vereinigungen als Vortragsredner, Vorstandsmitglied und Autor, der auch die Bereiche der Tagespublizistik nicht scheute.

Seit dem Jahr 2004 ist eine umfassende Begegnung mit Persönlichkeit und Wirken des großen jüdischen Historikers nun auch einem deutschsprachigen Publikum durch eine nur monumental zu nennende Publikation wieder möglich:

Simon Dubnow, BUCH DES LEBENS. ERINNERUNGEN UND GEDANKEN. MATERIALIEN ZUR GESCHICHTE MEINER ZEIT. Bd. 1: 1860-1903; Bd. 2: 1903-1922; Bd. 3: 1922-1933. Hg. im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur von Verena Dohrn. Aus dem Russischen von Verena Bischitzky und Barbara Conrad. Mit einem Vorwort von Dan Diner. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004/05, Gesamtpreis 119,- Euro.

547 Dubnows Memoiren und „Materialien zur Geschichte meiner Zeit“ existierten bisher nur in russischer, hebräischer und jiddischer Fassung, sieht man einmal von der bereits erwähnten deutschen Kurzfassung von 1937 ab. Die komplette deutsche Neuedition stellte an die Herausgeberin und die Übersetzerinnen höchste Anforderungen. Dubnow lebte und arbeitete in einer Welt extremer Vielsprachigkeit, das prägte seine Texte, die deshalb auch nicht einfach übersetzt werden können, zumal sie von unzähligen Zitaten durchsetzt sind, die in ihrer originalen Sprachgestalt zu verifizieren waren. Sehr viel größere Probleme bereitete allerdings die Tatsache, daß Dubnows Memoiren eine heute weitgehend untergegangene Welt reflektieren. Verena Dohrn, seit ihrer „Baltischen Reise“ von 1994 und ihrer „Reise nach Galizien“ (zuletzt 2003) auch in breiteren Kreisen als eine exzellente Kennerin der östlichen Welten und ihrer jüdischen Hintergründe bekannt, hat deshalb den Memoiren Dubnows eine überaus kompetente Einführung vorangestellt, die sein Leben, Denken und Schaffen präzise porträtiert. Die reichhaltigen Anmerkungen zum Text geleiten auch diejenigen Leser, deren Kenntnisse der Geographie und Geschichte des östlichen Europas eher gering sind, um von den speziellen jüdischen Zusammenhängen erst gar nicht zu reden, stets sicher und zuverlässig. Die „Autobiliographien“ vermitteln einen genauen Eindruck von der enormen Schaffenskraft des jüdischen Gelehrten, der eigentlich niemals eine wirklich ausreichende berufliche Position erringen konnte, sondern sich lebenslang auf den Grenzlinien von Journalistik, Publizistik und Wissenschaft einrichten mußte. Auch das „kommentierte Namensverzeichnis“ stellt eine wahre Fundgrube für diejenigen dar, für die die großen jüdischen Nachschlagewerke nicht zur Hand sind. Gleiches gilt für „Sachindex und Ortsregister“ als „Seitenzugänge zum Text“10. Da der Verlag bei dieser Edition nun wirklich keine Mühen und Kosten gescheut hat, bieten alle drei Bände zusätzlich noch eine Fülle von Abbildungen, die – bisher weithin unbekannt - weit über den unmittelbaren Lebenskreis Dubnows hinausreichen.

Das „Buch des Lebens“ des Simon Dubnow gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten Dokumenten europäischer Memoirenliteratur. Der Autor schildert die Menschen, Städte und Landschaften, mit denen er es zu tun hatte, mit großer Plastizität. Vor allem aber bieten diese „Erinnerungen und Gedanken“ so etwas wie einen höchst 10

Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 3, S. 301.

548 eindrucksvollen Entwicklungsroman, in dessen Mittelpunkt der Weg vom altjüdischen Cheder hin zu einer jüdischen Aufklärung geschildert wird, die sich ihren Platz im Gegenüber zum traditionellen Judentum, aber auch einer zunehmend antisemitisch entartenden Außenwelt erst erobern mußte. Dubnows Schilderungen aus seinen jüngeren Jahren legen sich zu jeder Schtetl-Sentimentalität quer, helfen aber auch zu begreifen, welche Motive gegen Ende des 19. Jahrhunderts den Aufbruch einer jungen Generation von Juden begleiteten, die sich einer zumeist feindlich eingestellten Außenwelt als Juden verständlich zu machen versuchten. Daß diese Memoiren zudem auch noch so etwas wie ein ausführliches Werkstattprotokoll darstellen, wird auch Fachkreise zu interessieren haben. Dubnow schildert mit großer Offenheit, unter welchen oft banalen Umständen die Grundlagen zu seinen großen Studien gelegt wurden, wie er diese schreibend weitentwickelte und gelegentlich auch gründlich revidierte, wenn es sachlich geboten schien. Schließlich gestatten Dubnows Erinnerungen einen intensiven Einblick in das Entstehen der unterschiedlichen politischen Gruppierungen des östlichen Judentums, die in der Shoa ebenso vernichtet wurden wie der greise Autor des „Buchs des Lebens“. Dubnows Memoiren wurden von dem lebhaften Bewußtsein geprägt, in einer „historischen Endzeit“ Zeugnis abzulegen von einer „entschwindenden Epoche“11. Als Dubnow im Juni 1934 in Riga sein Werk so charakterisierte, konnte auch der jüdische Welthistoriker noch nicht ahnen, daß er damit seinem bald fast vollständig „ausgemordeten Volk“ (Jizchak Katzenelson) ein Erinnerungsmal von ganz besonderem Rang stiftete.

11

Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, S. 49.

549

Vom Verlöschen des Lichts. Zur Situation und den Perspektiven des Judentums nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in den osteuropäischen Staaten (1993)

Der Zusammenbruch der kommunistischen Regime in den osteuropäischen Staaten hat nicht zuletzt auch für die dort beheimateten Religionsgemeinschaften völlig neue Rahmenbedingungen geschaffen. Nach Jahrzehnten der mehr oder minder offenen Unterdrückung und Verfolgung wird das Recht auf freie Religionsausübung dort jetzt als eines der wichtigsten Anzeichen für den Wandel betrachtet, durch den das politische System des osteuropäischen Kommunismus seit dem Ende der 80er Jahre beseitigt wurde. Schon heute ist allerdings jedoch erkennbar, daß die neue Freiheit für die Religionsgemeinschaften Osteuropas auch mannigfaltige Probleme mit sich bringt, die diese bis in ihre Grundfesten erschüttern. Das Selbstverständnis der evangelischen Kirchen in der DDR ist angesichts der Vorwürfe, diese seien in einer vorher nicht für glaublich gehaltenen Weise vom Staatssicherheitsdienst durchseucht und durch die Konzeption der „Kirche im Sozialismus“ in ihrem Kern angetastet worden, ins Wanken geraten. Die katholische Kirche Polens, die sich in den Krisen der Nachkriegsjahrzehnte immer wieder als identitätsstiftende Kraft der Gesellschaft bewährt hatte, muß heute erleben, daß ihre Führungsrolle einer scheinbar unaufhaltsamen Erosion unterworfen ist. Die Russische Orthodoxe Kirche vermag sich nur mit Mühe des Vorwurfs zu erwehren, sie sei eine allzu willfährige Gehilfin des KGB gewesen und habe sich darüber hinaus in einer nicht zu rechtfertigenden Weise als systemstabilisierende Kraft durch das kommunistische System mißbrauchen lassen. Aber es sind nicht nur die Belastungen, die aus der Vergangenheit herrühren, die die Lage der meisten Religionsgemeinschaften im östlichen Europa heute oft so kompliziert erscheinen lassen: Offensichtlich sind auch die Schwierigkeiten zumindest der größeren Religionsgemeinschaften Osteuropas, innerhalb des sich nun allmählich entwickelnden gesellschaftlichen Pluralismus ihren angemessenen Platz zu finden. Die neubelebten und oft übersteigerten nationalistischen Strömungen und Bewegungen, die Teile Osteuropas in kriegerische Auseinandersetzungen gestürzt haben, bieten gerade auch den Religionsgemeinschaften

550 immer wieder höchst problematische Koalitionen an. Ganz generell ist zu beobachten, daß die osteuropäischen Religionsgemeinschaften gegenwärtig eine Identitätskrise durchleben, die die zunächst eigentlich naheliegende Erwartung, gerade sie würden sich als führende Kraft beim Wiederaufbau ihrer Staaten bewähren, inzwischen als geradezu naiv erscheinen läßt. Die Beschäftigung mit der Lage der Religionsgemeinschaften in den Staaten Osteuropas konzentriert sich immer noch weitgehend auf die christlichen Kirchen. Über die Situation der Freikirchen, der Sekten oder gar der nichtchristlichen Religionsgemeinschaften liegen im Vergleich dazu nur verhältnismäßig wenige Nachrichten und brauchbare Analysen vor. Das zeigt einen Mangel an politischer Wahrnehmung an, der sich vielleicht noch einmal als verhängnisvoll erweisen könnte. In dem Maß, in dem die Großkirchen die in sie gesetzten Erwartungen weiterhin enttäuschen, werden die Freikirchen und Sekten zum Zufluchtsort von immer mehr religiös geprägten Menschen werden. Diese Entwicklung verdient auch in politischer Hinsicht Aufmerksamkeit, beschreibt sie doch auch den Auszug von Menschen aus der Gesellschaft, auf die schon wegen ihres hohen persönlichen Engagements und ihres Willens zu einem verantworteten Leben nicht so ohne weiteres verzichtet werden kann. Daß der Islam sich heute noch gewissermaßen in einer europäischen Randlage befindet, vermag nicht mehr die Tatsache zu überdecken, daß diese Religion, in der fundamentalistische und nationalistische Strömungen zu den offensichtlich unvermeidbaren Ingredienzen gehören, ständig an Bedeutung zunimmt. Auf dem Territorium der früheren Sowjetunion wird die Zahl der Muslime in absehbarster Zeit die der orthodoxen Christen erreichen. Am schwierigsten dürften aber zur Zeit die Situation und die Perspektiven des Judentums in den osteuropäischen Staaten zu beschreiben sein. Wenn hier der Versuch gewagt wird, zu diesem Thema erste Einsichten zu formulieren, dann kann dieses zunächst nur in Form von Thesen geschehen, deren Überprüfung und weitere Ausarbeitung im Rahmen einer politikwissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Forschung geleistet werden muß, die bewußt auf Interdisziplinarität und Teamwork setzt.

551 I. Situationsbeschreibung Um die heutige Situation der Judenheft in den osteuropäischen Staaten angemessen zu erfassen, ist es notwendig, sich zunächst einige Grundvoraussetzungen ihrer Existenz bewußt zu machen:

1. Alles, was heute über das osteuropäische Judentum gesagt werden kann, muß vor dem Hintergrund der Shoah geschehen. Diese Katastrophe der jüngsten jüdischen Geschichte bestimmt das Selbstbewußtsein und das Erscheinungsbild des osteuropäischen Judentums in einer Weise, die kaum überschätzt werden kann. Es ist noch immer die Situation derer, die überlebt haben und ihrer Nachkommen, um die es geht, wenn wir uns mit der Situation des osteuropäischen Judentums beschäftigen.

2. Judentum meinte seit der Emanzipationsepoche des 19. Jh.s in erster Linie die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Diese Feststellung muß allerdings sogleich durch die Beobachtung relativiert werden, daß sowohl nach jüdischem Selbstverständnis wie auch nach der Auffassung der nichtjüdischen Umwelt die Grenzen des Judentums weiter gezogen sind, als die Zugehörigkeit zu einer Synagogengemeinde erkennen läßt. Judentum beschreibt also nach heutigem Sprachgebrauch sowohl die Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft als auch die zur nationalen Gemeinschaft der Juden, die sich außerhalb des Staates Israel immer als Minderheit vorfindet.

3. Nach der Shoah ist es im Blick auf das europäische Judentum weithin üblich geworden, dieses als eine im wesentlichen homogene Gruppe zu betrachten. Diese Sichtweise verkennt jedoch die beträchtlichen sozialen, politischen, religiösen und „nationalen“ Binnendifferenzierungen, die das europäische Judentum kennzeichneten, bis es im Gefolge der nationalsozialistischen „Endlösung der Judenfrage“ zwangsweise homogenisiert wurde.

4. Wenn im folgenden ein skizzen- und stichworthafter Überblick über die heutige Situation der Juden in den einzelnen osteuropäischen Staaten versucht wird, so ist

552 fast immer von zweierlei Beobachtungen zu berichten. Zum einen kann durchaus berechtigt von einem Aufblühen jüdischen Lebens, einer „jüdischen Renaissance“ geradezu, gesprochen werden, zum anderen muß aber auch auf die tiefen Schatten hingewiesen werden, die diesen Neubeginn verdunkeln.

a) Ehemalige Sowjetunion

Auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion lebt die drittgrößte jüdische Gemeinschaft – nach denen der USA und Israels – der Welt. Wie viele Juden es heute tatsächlich noch in diesem Gebiet gibt, läßt sich vor allem angesichts der beträchtlichen Emigration sowjetischer Juden in den letzten Jahren nicht mehr mit Sicherheit sagen. Bis Ende 1990 sollen rund 1 300 000 Ausreisevisa von jüdischen Sowjetbürgern beantragt worden sein. Berücksichtigt man die sich in der jüngsten Zeit stark abflachende Kurve der Emigrationszahlen, darf man heute wohl noch von etwa drei Millionen Juden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ausgehen, die zu rund 80% Aschkenasim sind. Die Bucharischen Juden, die mit der georgischen Kultur eng verbundenen Juden Georgiens, die Berg-Juden Daghestans oder die Samstägler aus Ilinka, dem „kleinen Israel“ bei Woronesch, stellen demgegenüber Randgruppen unter den „Evrei“ dar, die nach sowjetischem Recht als eine nationale Minderheit galten, die auch im Paß eingetragen wurde. Das sowjetische Judentum litt auf entsetzliche Weise nicht nur unter den Verfolgungen der nationalsozialistischen Mordbanden, sondern auch unter dem stalinistischen Terror. Schon 1913 hatte Stalin in seiner Abhandlung „Marxismus und nationale Frage“ festgestellt: „Die jüdische Nation hört auf zu existieren [ ... ].“ Hier sei nur an das Ende des genialen jüdischen Volksschauspielers Solomon Michoels erinnert, der im Januar 1948 bei Minsk vom NKWD totgeschlagen wurde, und an die 25 Führer des Jüdischen Antifaschistischen Komitees der Sowjetunion, die am 12. August 1952 hingerichtet wurden. Jüdische Aktivisten aus der Sowjetunion fordern heute, über den Opfern der Shoah doch nicht die Hunderttausende von jüdischen Opfern zu vergessen, die der Stalinismus in seine Strudel hineinriß.

553 Als im Frühjahr 1987 in der Sowjetunion Rede- und Versammlungsfreiheit eingeführt wurden, blühte auch das jüdische Leben erneut auf. Im Februar 1988 wurde in Moskau das Solomon-Michoels-Kulturzentrum eröffnet, dem inzwischen eine Reihe ähnlicher Einrichtungen in anderen Städten gefolgt sind (z. B. in L'vov'/Lemberg und Kischinew). Im Sommer 1990 wurde das 1949 geschlossene und verwüstete Jüdische Museum im litauischen Vilnius/Wilna wiedergegründet. Schon im Mai 1989 hatte in Riga ein erster Kongreß jüdischer Intellektueller, Schriftsteller und Künstler stattgefunden. Der zweite Kongreß dieser Art im Dezember 1989 in Moskau vereinte dann bereits 800 Delegierte, die nicht weniger als 170 jüdische Kulturvereinigungen vertraten. Deren Zahl beläuft sich inzwischen auf rund 300. Im Januar 1991 trat der jüdische Schriftstellerverband zu seinem ersten Kongreß in Moskau zusammen. Seit dem Dezember 1989 werden alle diese jüdisch-kulturellen Bestrebungen im Dachverband des „Rates der jüdischen Organisationen in der Sowjetunion“ (VAAD) zusammengefaßt, der im Juli 1990 offiziell anerkannt wurde. Auch das jüdische Bildungswesen begann sich nun wieder zu beleben. An einigen Schulen wird Hebräisch und Jiddisch gelehrt. Es existiert seit 1989 ein Verband jüdischer Lehrer, der auf eine weitere Stärkung seiner Reihen aus den Absolventen der Moskauer Jeschiwa hofft, die unter Leitung von Rabbiner Steinsaltz der Moskauer Akademie der Wissenschaften angegliedert ist. Eine ähnliche Einrichtung existiert inzwischen auch in St. Petersburg. Größte Bedeutung hat auch das Wiederaufleben des unter Stalin restlos ruinierten jüdischen Buchwesens. Hebräische Sprachlehrbücher, Gebetbücher und andere hebräische Werke religiösen und historischen Inhalts erscheinen u. a. im Wilnaer Verlag „Gescharim“ (= Brücken), der auch das Hauptwerk von Schneur Salam von Ljadi (1746-1812), dem Begründer des „Chabad-Chassidismus“, in einer Neuauflage vorlegte. Als Sprache des jüdischen Proletariats durfte das Jiddische, die Mamelosche, auch in den Zeiten der Pressionen zumindest im Verborgenen weiterleben, während das Hebräische als Sprache der Zionisten unbarmherziger Verfolgung ausgesetzt war. Die jiddischen Theater in Moskau, Wilna, Kischinew und Birobidschan vermittelten deshalb zumindest noch eine Ahnung vom Glanz der jiddischen Kultur, die von den Nationalsozialisten und Kommunisten in Osteuropa vernichtet wurde. Inzwischen haben sich auch „Sowjetisch Hejmland“ und der „Birobidschaner Schtern“, die seit dem Beginn der 60er Jahre die Par-

554 teitexte aus der „Prawda“ und der „Iswestija“ in jiddischer Sprache verbreiteten und vor allem auf Wirkung im Ausland angelegt waren, so gründlich gewendet, daß sie namhafte Beiträge zur „Jüdischen Renaissance“ auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zu leisten vermögen.

Als Religionsgemeinschaft wurde das Judentum in der Sowjetunion 1927 liquidiert. Der bekannteste religiöse Führer des sowjetischen Judentums, der damals neben anderen zum Tode verurteilt und erst nach weltweiten Protesten ins Ausland abgeschoben wurde, war der Lubawitscher Rebbe Joseph Isaak Schneersohn, der Großvater des heutigen Oberhauptes der Lubawitscher Chassidim, die jetzt von New York aus eine weitgespannte missionarische Tätigkeit entwickeln. Am Ende der Stalin-Zeit soll es in der ganzen Sowjetunion noch etwa 450 „arbeitende“ Synagogen, vor allem in den größeren Städten, gegeben haben. 1983 gab es für die mindestens 3,5 Millionen sowjetischen Juden gerade noch 50 Synagogen. Das bedeutet, daß ein sehr erheblicher Teil dieser Juden über keinerlei Möglichkeiten mehr verfügte, wenigstens zu den Hohen Feiertagen in einer Synagoge zu beten. Die rund 300 darüber hinaus registrierten Minjanim (= Gebetsgemeinschaften) vermochten dem religiösen Notstand, der von der sowjetischen Partei- und Staatsführung herbeigeführt war, kaum abzuhelfen. Wenn heute mancherlei jüdische Publikationen diesem völligen Abbruch der religiösen Tradition entgegenzusteuern versuchen, so zeigt die Art der Beiträge in der seit Mai 1990 in Moskau erscheinenden Zeitschrift „Menorah“ oder in der Kiewer „Wosroschdenie“ (= Wiedergeburt) doch, daß es hier zunächst oft nur um die Vermittlung von schlichten Grundkenntnissen geht, z. B. die Beantwortung der Frage „Was ist eine Synagoge“ oder die Information über die Bedeutung jüdischer Symbole wie den Mogen David.

Das Bild dieser „Jüdischen Renaissance“ auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion unter dem Zeichen von Perestroika und Glasnost wird nun allerdings durch das Aufkommen eines Antisemitismus verdüstert, der an die schlimmsten Traditionen Rußlands anknüpft. Die ultranationalistische und betont antisemitische Bewegung „Pamjat’“ (= Gedächtnis), 1985 als Untergrundorganisation entstanden, erfreut sich

555 inzwischen der Unterstützung und Mitarbeit von führenden Intellektuellen, Künstlern und Kirchenvertretern. Sie soll heute über zwei Millionen Mitglieder zählen und Niederlassungen in mehr als 40 Städten besitzen. Als Sammelbewegung vereint „Pamjat’“ mehr als 120 Einzelorganisationen unterschiedlicher Couleur, die ein breites Spektrum gesellschaftlicher Aggressivität abdecken, auf breite Zustimmung in der Bevölkerung rechnen können, wenn sie den Neuaufbau Rußlands auf der Grundlage des Zarentums und der Russischen Orthodoxen Kirche propagieren, und inzwischen ein antisemitisch-terroristisches Klima geschaffen haben, das die Anzeichen einer „Jüdischen Renaissance“ ganz entscheidend relativiert.

Angesichts dieser Entwicklung finden jene Beobachter wachsende Zustimmung, die meinen, daß das Judentum auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion trotz der vergleichsweise großen Zahl der dort noch lebenden Juden keine Zukunft mehr hat. Die Furcht vor zukünftigen Pogromen treibt die sowjetischen Juden in die massenweise Emigration. Diese Emigrationsbewegung schwächt aber nicht nur zahlenmäßig das sowjetische Judentum, sondern verschärft auch das antisemitische Klima in der von tiefgreifenden Krisen geschüttelten Gesellschaft der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, erscheinen Juden doch durch die ihnen prinzipiell offenstehende Möglichkeit der Emigration einmal mehr als ungerechtfertigt Bevorzugte, wie z. B. Sonja Margolina in ihrem gewiß in manchen Details zu Recht umstrittenen Buch über das „Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert“ (Berlin 1992) zutreffend diagnostiziert hat.

b) Polen Das polnische Judentum wurde in der Shoah auf 0,1% seines Bestandes dezimiert. Was sich hinter dieser statistischen Angabe an Leid und Verlust verbirgt, läßt sich in Worten nicht ermessen. Zu sprechen wäre von dem Mikrokosmos des Schtetl, den Wunderwerken der polnischen Holzsynagogen, der mystischen Welt des Chassidismus, der jüdischen Aufklärung, genannt Haskalah, den jiddischen Dichtern und Schriftstellern, den Meistern des synagogalen Gesangs, der revolutionären Bewegung der Bundisten und so vielem anderen, was in Auschwitz und an den anderen

556 Orten des Schreckens versank, deren Namen im Märtyrergebet des El mole rachamim und in der Gedenkhalle von Yad Washem kommemoriert werden. Die „letzten Juden in Polen“, so der Titel einer erschütternden Bilanz von Malgorzata Niezabitowska und Tomasz Tomaszewski (Schaffhausen u. a. 1987), bilden heute eine solche verschwindende Minderheit, daß die Vermutung nicht ganz abwegig ist, es gebe in Polen heute mehr jüdische Friedhöfe als lebendige Juden.

Auch die jüdische Nachkriegsgeschichte in Polen blieb eine Geschichte der Verfolgung und Unterdrückung. Bereits am 4. Juli 1946 starben wieder einmal polnische Juden in einem Pogrom, der als Folge eines angeblichen Ritualmordes in Kielce ausbrach. Die polnische kommunistische Partei aktivierte den Antisemitismus immer dann neu, wenn ihr die innenpolitischen Schwierigkeiten über den Kopf wuchsen. Insbesondere die „Kampagne zur Entzionisierung des öffentlichen Lebens in Polen“ im Frühjahr 1968, durch die mehr als 20 000 Juden zum Verlassen ihrer Heimat gezwungen wurden, blieb im Gedächtnis des polnischen Judentums haften. Hatte es unmittelbar nach Kriegsende noch etwa 250 000 Juden in Polen gegeben, so sind es heute vielleicht noch 3000 zumeist alte Menschen, die sich einer breiten antisemitischen Front, die von den Kommunisten bis weit in die katholische Kirche hineinreicht, gegenübersehen: „Was Hitler nicht geschafft hat, führen die aufeinander folgenden Emigrationen zu Ende. Sie treiben jene aus dem Land, die zu ermorden er nicht mehr geschafft hat. Polen wird tatsächlich judenfrei.“ (Artur Sandauer) 1925 gab es in Polen beispielsweise 113 Schulen mit Jiddisch und 71 Schulen mit Hebräisch als Unterrichtssprache. Heute würden alle jüdischen Schulkinder Polens vielleicht gerade noch eine Schulklasse füllen.

Erst zu Anfang der 80er Jahre erlebte das polnische Judentum eine gewisse Veränderung der politisch-gesellschaftlichen Atmosphäre. 1983 gedachte man des 40. Jahrestages des Aufstandes im Warschauer Ghetto und richtete nun auch im Block 27 des früheren Konzentrationslagers Auschwitz eine Gedenkstätte für die Shoah ein. Aber bis heute tun sich offizielle polnische Stellen schwer damit, das politisch verzerrte Geschichtsbild zu korrigieren. Zu tief sind die antisemitischen Vor-

557 behalte in einer Bevölkerung verankert, die in dieser Hinsicht auch von kirchlicher Seite kaum positiv beeinflußt wird, wie die quälenden Auseinandersetzungen um die Installation eines Karmelklosters im Bereich des Stammlagers Auschwitz und die damit zusammenhängenden Äußerungen des Primas von Polen, Kardinals Glemp, erschreckend markierten. Die Anfänge einer „jüdischen Renaissance“ in Polen datieren in das Jahr 1984, als erstmals wieder ein regulärer Vorstand des Verbandes der Religionsgemeinden gewählt wurde. Seit 1983 erscheint auch wieder regelmäßig ein sogar recht üppig aufgemachter „Luach“ bzw. „Kalendarz Zydowskj Almanach“, der allerdings wohl mehr für das Ausland als die eigene Judenschaft produziert wird. Die 16 noch bestehenden jüdischen Gemeinden in Polen besitzen keinesfalls alle noch eine Synagoge, das ist nur in Warschau, Krakau, Breslau, Lodz und Liegnitz der Fall, die meisten müssen sich mit mehr oder weniger dürftigen Betstuben behelfen, die oft nichts anderes sind als ein Zimmer in der versteckten Privatwohnung, die das Gemeindebüro beherbergt. Aber das Vorhandensein geeigneter Räumlichkeiten garantiert auch noch keineswegs wenigstens ein minimales jüdisches Gemeindeleben, fehlt den „letzten Juden in Polen“ doch in vielen Fällen bereits jegliches jüdisches Wissen.

Seit dem Sommer 1989 amtiert nach einer rund zwanzigjährigen Zwangspause wieder ein Rabbiner in Warschau, der aus Israel delegiert wurde. Da dieser aber der streng orthodoxen Richtung angehört, vermag er wenig in einem Land auszurichten, in dem es auch an den primitivsten Voraussetzungen zur Wahrung der Kaschruth fehlt. In Krakau, diesem einst so glanzvollen Zentrum jüdischen Lebens in Polen, fand 1985 nach 30 Jahren erstmals wieder eine Bar-Mizwa-Feier statt, aber der Bar Mizwa war zu diesem Fest eigens aus dem Ausland zu dem Ort gereist, wo seine Vorväter gelebt hatten. Seit der Öffnung der Grenzen sind solche Besuche von im Ausland lebenden Juden polnischer Herkunft sehr zahlreich geworden, alleine aus Israel sollen pro Jahr 5000 junge Juden im Rahmen eines staatlichen Programms nach Polen kommen, aber die ausländischen Gäste besuchen die Stätten der jüdischen Vergangenheit in Polen (Warschau und das Ghettodenkmal, die Krakauer Judenstadt, die zahllosen jüdischen Friedhöfe und die Gedenkstätten der Sho-

558 ah), können aber mit den in Polen lebenden Juden kaum etwas anfangen. Neben dem Verband der Religionsgemeinden sammelt der Kulturverein der Juden in Polen auch solche Juden, die sich religiös nicht gebunden fühlen. In 14 Clubs versucht der Kulturverein so etwas wie ein jüdisch-kulturelles Leben zu organisieren und mit Hilfe des „Joint“ praktische Überlebenshilfe, etwa durch regelmäßige Mittagstische, zu organisieren. Zu den wenigen Zeugnissen jüdischen Lebens in Polen gehört heute die Wochenzeitung „Folkssztyme“, die ihre neun Seiten jiddischer Texte allerdings durch drei polnische Seiten ergänzt, weil längst nicht alle Abonnenten mehr in der Lage sind, ihre Zeitung in der Mamelosche zu lesen. Seitdem der Verlag „Jiddisch Bukh“ 1969 von staatlicher Seite geschlossen wurde, fehlt es auch an jeder Möglichkeit einer selbständigen Buchproduktion. Das Jüdische Historische Institut in Warschau vegetiert unter jämmerlichen äußerlichen Bedingungen dahin, verfügt kaum noch über jüdische Mitarbeiter, findet aber mit seiner Quartalsschrift „Biuletyn Zydowskiego Instytutu Historycznego w Polsce“ und dem seit 1980 nach zwölfjähriger Zwangspause wieder erscheinenden Jahrbuch „Bleter far Geschichte“ vor allem im Ausland berechtigte Beachtung. Das gilt auch für das Jiddische Theater, das unter Ester Rachel Kaminska einst Weltgeltung besaß. Aber An Skis mystischkabbalistische Tragödie „Dybbuk“ wird heute zumeist von Schauspielern gespielt, die Jiddisch als Fremdsprache gelernt haben, und von den Zuschauern über die Simultanübersetzungsanlage verfolgt.

Gewiß haben sich in den letzten Jahren auch einige positive Entwicklungen bemerkbar gemacht, wie die Polnisch-Israelische Gesellschaft oder der Christlich-Jüdische Rat, sicherlich werden hin und her im Land Zeugnisse vergangenen jüdischen Lebens restauriert und als Museen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und auch die katholische Kirche Polens versucht, einen Umdenkungsprozeß einzuleiten, wie etwa der Hirtenbrief des polnischen Episkopats vom 30. Nov. 1990 anzeigt, aber das alles bleibt doch auf eigentümliche Weise gespenstisch, weil es kaum noch etwas mit lebendigen Menschen zu tun hat, deshalb auch nicht mehr wirklich authentisch ist und eigentlich nur noch der Erfüllung der jüdischen Pietätspflicht des Jiskor dient, einer Verpflichtung, der sich Juden und Nichtjuden des Auslandes unterziehen, weil

559 die letzten polnischen Juden zu alt, zu schwach und zumeist auch zu unwissend sind, um im Jiskor noch Kraft zu einem neuen Leben zu schöpfen. Knapp resümierte einer der besten nichtjüdischen Kenner des polnischen Judentums in Vergangenheit und Gegenwart dessen Situation mit den Worten: „Für die jüdische Gemeinschaft in Polen scheint die Wende zu spät gekommen zu sein."

c) Tschechoslowakei Prag trug einst den Ehrennamen eines „europäischen Jerusalem“, und noch heute besuchen alljährlich Tausende von Touristen die Prager Judenstadt mit ihren ehrwürdigen Synagogen, dem alten Friedhof, wo der Hohe Rabbi Löw (gest. 1609) sein Grab hat, dem jüdischen Rathaus mit der hebräischen Uhr und dem „auf der Welt größten Museum des jüdischen Kultes und der Kultur“, das, in den 20er Jahren gegründet, ab 1942 von den Nationalsozialisten mit den Schätzen der aufgelösten böhmischen Synagogengemeinden gefüllt wurde, damit auf diese Weise das „Museum einer ausgestorbenen Rasse“ (H. Volavkova) entstünde. 1930 gab es in der Tschechoslowakei 356 830 Menschen jüdischen Glaubens und 186 642 jüdischer Nationalität. Nach dem Kriegsende lebten davon noch etwa 30 000 bis 40 000 auf dem Territorium der Tschechoslowakei, heute mögen es noch 5000 bis 6000 sein. Wie die anderen Religionsgemeinschaften wurden auch die Jüdischen Gemeinden in der ýSR ab etwa 1950 besonders brutalen Verfolgungen unterworfen. Das Land, das durch seine Waffenlieferungen in den 40er Jahren einen entscheidenden Beitrag zur Staatwerdung Israels geleistet hatte, verfiel ab Beginn der 50er Jahre in eine antijüdische Hysterie, deren widerlichsten Höhepunkt der bewußt antisemitisch aufgezogene Slansky-Prozeß vom Herbst 1952 darstellte. Schon 1950 war dem American Joint Distribution Committee jegliche Tätigkeit in der ýSR verboten worden, 1951 wurde die „Zionistische Organisation“ in Prag geschlossen, und bald suchten Parteiorganisation und Geheimpolizei überall nach den Spuren „eines konspirativen Weltjudentums“, das auch Tausende von Kommunisten zu „zionistischen Verbrechen“ angestiftet habe. 1967 brach Prag dann die diplomatischen Beziehungen zu Israel ab, und der Versuch der Gestaltung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, der als „Prager Frühling" in die Geschichte einging, wurde rasch als Produkt einer „zionisti-

560 schen Weltverschwörung“ entlarvt, waren doch einige der führenden Reformkommunisten jüdischer Herkunft. Die antijüdischen Kampagnen lösten jedesmal eine neue Emigrationswelle aus, durch die das Judentum der CSR weiter geschwächt wurde, bis es Ende der 70er Jahre auch hier zu einer gewissen Entspannung des antisemitischen Klimas kam. Jetzt durften einzelne Mitglieder des Rates der Jüdischen Gemeinden als Beobachter an den Tagungen des Jüdischen Weltkongresses teilnehmen, und 1981 wurden auch wieder Kontakte zum „Joint“ geknüpft. Das Jahr 1985 brachte jedoch einen neuen Rückschlag, als das Regime den gesamten Vorstand des Rates der Jüdischen Gemeinden unter seinem auch international angesehenen Präsidenten Galsk'y absetzte und durch politisch willfährige Figuren ersetzte. Es gehörte zu den ersten Auswirkungen der „friedlichen Revolution“ 1989 in Prag, diesen Vorstand zu entmachten und Präsident Galsk'y zu rehabilitieren. Der neue Staatspräsident der ýSR, Vaclav Havel, unterzeichnete im April 1990 bei seinem Staatsbesuch in Israel die Urkunde über die Wiederaufnahme der 1967 abgebrochenen diplomatischen Beziehungen. Noch im gleichen Jahr tagten in Prag der Internationale Rat der Christen und Juden, das Internationale Liaison-Komitee des Vatikans und der Jüdische Weltkongreß.

Nach der Sowjetunion und Ungarn gehört die jüdische Gemeinschaft in der Tschechoslowakei heute zu den größeren auf dem Gebiet des Ostblocks. Die Religionsgemeinden, die aschkenasisch geprägt sind, sind zusammengeschlossen im Rat der Jüdischen Gemeinden Böhmens und Mährens und dem Rat der Jüdischen Gemeinden in der Slowakei. Die Monatsschrift „Vestnik“ und ein alljährlich erscheinendes Jahrbuch berichten über die Arbeit und das Leben der Gemeinden, von denen es in der Slowakei 14 sowie in Böhmen und Mähren 17 gibt. Nur die größeren unter ihnen verfügen noch über reguläre Synagogen, die sich in der Provinz oft in einem jämmerlichen baulichen Zustand befinden. Seit Mai 1984 amtierte in Prag auch wieder ein aus Ostrau stammender Rabbiner, der sein Amt inzwischen allerdings aufgeben mußte, weil ihm eine jahrelange Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei nachgewiesen wurde.

561 Die gegenwärtige Lage wird von gelegentlichen Neueintritten in die jüdischen Gemeinden bestimmt, die allerdings kaum den natürlichen Schwund auszugleichen vermögen. Inwieweit die jüdischen Gemeinden der zerfallenden ýSR noch befähigt sein werden, eine eigenständige Existenz aufzubauen, ist im Moment nicht abzusehen. Wie auch in Polen sind die meisten jüdischen Aktivitäten, die etwa in Prag zu verzeichnen sind, aus dem Ausland importiert und erreichen die einheimische Judenheit allenfalls noch indirekt. Der wiederauflebende Antisemitismus ist besonders in der Slowakei eine verhängnisvolle Verbindung mit dem dort grassierenden Nationalismus eingegangen.

d) Rumänien Hannah Arendt hat gemeint, es sei „kaum eine Übertreibung zu sagen, daß Rumänien das antisemitischste Land im Vorkriegseuropa war“. Wenn das wirklich zutreffen sollte, müßte es wohl vorwiegend aus der gerade in Rumänien extremen Mischung von selbstbewußten oder doch zumindest zahlenstarken Nationalitäten erklärt werden. Unter den Rumänen, Ungarn, Deutschen und Zigeunern bildeten auch die rund 800 000 Juden Großrumäniens im Jahr 1939 eine Minderheit von erheblichem kulturellen und wirtschaftlichen Gewicht. Als Opfer des Krieges, der Pogrome und Deportationen sowie der Gebietsabtretungen Rumäniens an die Sowjetunion, die mit der Bukowina und Bessarabien Hauptsiedlungsorte der rumänischen Judenheit betrafen, sank die Zahl der jüdischen Bürger im Rumänien der Nachkriegszeit auf etwa 450 000. Von den etwa 151 000 von den Nationalsozialisten und ihren rumänischen Helfershelfern Deportierten kehrten nach Kriegsende lediglich rund 10% in ihre Heimat zurück. Bis in die 80er Jahre emigrierten dann rund 350 000 rumänische Juden nach Israel, so daß man gegenwärtig mit vielleicht noch etwa 18 000 Juden in Rumänien rechnen darf, die ihr Hauptzentrum in Bukarest haben. Die 67 jüdischen Gemeinden, denen 81 Synagogen zur Verfügung stehen, sind heute in vielen Fällen bis auf allerletzte Reste zusammengeschmolzen. So wird z. B. die Synagoge im siebenbürgischen Schäßburg von dem einzigen dort noch lebenden Juden betreut. Auch in der Hermannstädter Synagoge, die als einziges älteres Bauwerk im dortigen Bahnhofsviertel nicht abgerissen wurde, fin-

562 den nur noch sehr selten Gottesdienste statt, weil ein Minjan kaum noch zusammenzubekommen ist. Auf dem kleinen jüdischen Friedhof in Alzen konnte ein Zigeuner ohne staatliche Einwände ein Haus bauen.

Solchen Meldungen sind nun aber Berichte darüber entgegenzustellen, daß die „Föderation der jüdischen Gemeinden Rumäniens“ auch unter der Diktatur Ceausescus beträchtliche Aktivitäten entfalten konnte. Da im sozialistischen Rumänien „die erlaubte Form jüdischen Lebens allein die religiöse“ war, waren diese allerdings alle auf den engen kulturell-sozialen und kultischen Bereich zugeschnitten. Seit 1956 erscheint in Bukarest die dreisprachige „Revista Cultului Mozaic“, die neben Rumänisch und Jiddisch als einzige jüdische Ostblockzeitschrift auch hebräische Texte veröffentlichen durfte. Die Auflage von etwa 10 000 Exemplaren wurde zu knapp 10% in die bukowinischen und bessarabischen Gebiete der Sowjetunion geliefert, die früher zu Rumänien gehört hatten. Jiddischsprachige Literatur wurde vom staatlichen Verlag „ Kriterion" in Bukarest verlegt. Seit 1948 erwarb sich das Staatliche Jiddische Theater in Bukarest auch im Ausland Ansehen, das sich darum bemüht, die großen Traditionen des Jiddischen Theaters weiterzuführen, das Abraham Goldfaden in der 2. Hälfte des vorigen Jahrhunderts kreiert und zu internationalem Ruhm geführt hatte. Allein in Rumänien war unter dem kommunistischen Regime auch ein organisierter Religions- und Hebräischunterricht möglich, an dem sich bis zu 800 Interessenten beteiligt haben sollen. Welcher Zusammenbruch aber auch das jüdische Leben in Rumänien in der Zeit nach dem Krieg verstörte, wird alleine schon aus der Tatsache ersichtlich, daß der langjährige Oberlandesrabbiner Moses Rosen 1948 noch von nicht weniger als 66 Rabbinern gewählt wurde, während 1984 in Rumänien neben Rosen gerade noch drei Rabbiner in Bukarest, Timisoara und Cluj-Napoca amtierten. Bis 1972 hatten die jüdischen Gemeinden bereits über 3000 Thora-Rollen und mehrere Lastwagen voll religiöser Literatur, die in Rumänien nicht mehr benötigt wurden, nach Israel abgegeben. Lebendig erscheinen die Reste des rumänischen Judentums nur noch im Bereich der sozialen Fürsorge für die zumeist älteren Gemeindeglieder. Mit energischer Unterstützung durch den „Joint“ werden fünf Pflegeheime, 15 Mikwaoth und fünf Al-

563 tenheime sowie in Bukarest eine Poli- und Zahnklinik unterhalten. Die Gehälter der Rabbiner und Kultusangestellten werden vom Staat getragen, während die sonstigen Ausgaben der Gemeinden aus Mitgliederbeiträgen und aus dem Verkauf von jährlich rund 400 000 Flaschen koscheren Weins, den der „Joint“ aus Israel einführt, bestritten werden müssen. Die „Zentralstelle für Sozialfürsorge“ versorgt ihre Klientel mit Kleidung und Lebensmittelpaketen, organisiert einen ambulanten Hilfsdienst, der in Bukarest rund 700 Alte und Kranke mit Essen in ihren Wohnungen versorgt, während weitere 600 Gemeindeglieder täglich in der „Kantina“ des Jüdischen Gemeindezentrums ein koscheres Essen erhalten. Die disparaten Eindrücke, die die Lage der rumänischen Judenheit beim Beobachter hervorruft, erklären sich vor allem aus der eigenwilligen Rolle, die das Rumänien Ceausescus in der sozialistischen Staatengemeinschaft spielte. Nur Rumänien führte seine diplomatischen Beziehungen mit Israel über den Sechstagekrieg von 1967 hinaus fort. Ostblock-Bürger, die offiziell nach Israel reisten, konnten dieses lediglich über Bukarest tun, von wo aus die rumänische Fluggesellschaft TAROM eine regelmäßige Verbindung nach Lod bedient. Daß Ceausescu bei den israelischägyptischen Verhandlungen über einen Friedensschluß 1977 eine wichtige Vermittlerrolle gespielt hat, ist heute allgemein bekannt.

Nach dem Sturz des Ceausescu-Regimes im Dezember 1989 hat sich die Lage der rumänischen Juden keineswegs vereinfacht. An der Stelle des alten Judenviertels von Bukarest erhebt sich heute der monströse Palast, den der Diktator seinem völlig verarmten Land abgepreßt hatte. Die rumänische Beteiligung an der von den Nationalsozialisten organisierten Shoah wird in Rumänien bis heute weitgehend verdrängt. Ebenso wird kaum über die Tausende von jüdischen Opfern gesprochen, die während der Herrschaft der Kommunisten verschwanden, wie Oberrabbiner Rosen im Mai 1991 öffentlich beklagte. Auf einer Gedenkveranstaltung, die am 1. Juli 1991 in der Bukarester Choral-Synagoge abgehalten wurde, erinnerte man an die am 8. Juli 1941 von General Antonescu angeordnete „Zwangsmigration des gesamten jüdischen Elementes aus Bessarabien und der Bukowina“. Vor der Synagoge wurde ein Mahnmal zum Gedenken an die Opfer enthüllt. Im Beisein von führenden Vertretern

564 der rumänischen Öffentlichkeit appellierte der in Sighet geborene Nobelpreisträger Eli Wiesel an die rumänische Regierung, gegen den neuen Antisemitismus in Rumänien Stellung zu beziehen. Ob die Brandstiftung, durch die Ende 1990 die gerade erst in mehrjähriger Arbeit restaurierte Synagoge von Buhusi in Moldawien restlos zerstört wurde, als antisemitische Ausschreitung zu werten ist, scheint nicht ganz sicher zu sein. Beobachter berichten allerdings immer wieder von antisemitischen Ausfällen in der rumänischen Presse, so wurde aus der Zeitung der kommunistischen Jugend 1989 ein Gedicht bekannt, das von denen spricht, „die arm waren, die zu uns kamen". In der Reimerei, in der das Wort „Jude" nicht vorkommt, heißt es dann: „Wir haben sie erwürgt und auf Haken aufgehängt und werden es wieder tun.“ Damit wurde darauf angespielt, daß 1941 der Kantor der Bukarester Synagoge erwürgt und mit zwei seiner Mitarbeiter an Fleischerhaken aufgehängt worden war.

e) Albanien, Bulgarien und Jugoslawien Über das Schicksal der albanischen Sephardim ist in der Nachkriegszeit kaum etwas zu erfahren gewesen. 1930 lebten in Albanien lediglich noch 204 Juden. Ihre Zahl vermehrte sich dann seit 1939 wieder durch einige Emigrantenfamilien aus Deutschland und Österreich. Ab dem Sommer 1943, also seit der deutschen Besetzung Albaniens durch deutsche Truppen, die bis zum Sommer 1944 andauerte, kam es zu Deportationsmaßnahmen, in die auch aus Serbien und Kroatien nach Albanien geflüchtete Juden einbezogen wurden. Wie viele von ihnen ermordet wurden, ist bis heute nicht verläßlich festgestellt worden. Um 1970 lebten in Tirana etwa 200 Juden, auch in Scutari und Valona gab es einzelne jüdische Familien. Durch das seit 1967 in Albanien geltende Verbot jeglicher Religionsausübung war es auch den Juden verwehrt, irgendwelche Organisationen des Gemeindelebens zu unterhalten. Das albanische Judentum erlosch endgültig im Frühjahr 1991, als in einer streng geheimgehaltenen Aktion „Fliegender Teppich“ rund 300 Juden von der „Jewish Agency“ nach Israel ausgeflogen wurden. Diese Aliya wurde mit diskreter Unterstützung von italienischer und griechischer Seite ermöglicht. Welche Kompensationen die „Jewish Agency“ an Albanien gezahlt hat, ist nicht bekannt geworden.

565 Eine erlöschende Gemeinschaft ist auch die der bulgarischen Juden. Vor 1939 umfaßte diese knapp 50 000 Menschen, davon 4500 in Sofia. Trotz des Bündnisses mit dem Dritten Reich und der Besetzung durch die Deutsche Wehrmacht fielen in Bulgarien „nur“ 7000 Juden der Deportation zum Opfer. Unter Mitwirkung der bulgarischen Behörden gingen dann aber 1948 rund 40 000 Juden auf Aliya nach Israel. Der in Bulgarien verbliebene Rest genoß eine beschränkte Kulturautonomie. Dem jüdischen Zentralkonsistorium in Sofia unterstehen neben der Sofioter Synagogengemeinde 13 Kleingemeinden. Dürftige Informationen über das Gemeindeleben wurden durch das Mitteilungsblatt „Evreiski Vesti“ verbreitet. Seit der politischen Wende macht sich der auch in Bulgarien traditionell starke Antisemitismus wieder bemerkbar, allerdings glaubt der bulgarische Oberrabbiner, Josif Levi, daß die kleinen nationalistischen Parteien und der alltägliche Antisemitismus für die neueinsetzende Emigrationswelle der noch etwa 4000 Juden nicht verantwortlich zu machen seien. Es sind vielmehr die wirtschaftlichen Probleme des Landes, die inzwischen mindestens 25% der bulgarischen Judenschaft zur Auswanderung veranlaßt haben. Die im Sofioter Archäologischen Museum gezeigte Ausstellung „Jüdische Kultur in Bulgarien“ führte vielleicht ein letztes Mal vor, welche reiche Tradition jetzt endgültig abzubrechen droht.

In Jugoslawien lebten in der Zwischenkriegszeit rund 70 000 Juden, von denen rund 60 000 in der Shoah vernichtet wurden. Die etwa 6000 Juden, die sich im Jugoslawien der Nachkriegszeit vor allem in Belgrad (1500), Serajewo (1000) und Zagreb (1400) eine neue Existenz aufzubauen versuchten, sind im Verband der Jüdischen Gemeinden Jugoslawiens zusammengeschlossen, der 35 Gemeinden in allen Landesteilen umfaßt. In Serajewo existierten ein Jüdisch-Theologisches Seminar und eine Ausbildungsstätte für Religionslehrer, der Oberrabiner hat seinen Sitz in Belgrad. Das titoistische Regime hat seinen jüdischen Bürgern stets die Auswanderung nach Israel freigestellt, was ungewollt zu einer spürbaren Schwächung der jüdischen Gemeinschaft und des religiösen Lebens in Jugoslawien beigetragen hat. Im Herbst 1991 appellierte die Organisation der jugoslawischen Juden in Israel an die noch in der alten Heimat lebenden Juden, das Land möglichst rasch zu verlassen. Ein Vertreter der „Jewish Agency“ ist in Belgrad darum bemüht, die Aliya der jugoslawi-

566 schen Juden zu organisieren. Wie viele von ihnen inzwischen nach Israel ausgeflogen werden konnten, ist nicht bekannt.

f) Ungarn Einen ganz besonderen Platz nimmt im Bereich des ehemaligen Ostblocks das ungarische Judentum ein, das nach vertrauenswürdigen Schätzungen bis zu 100 000 Menschen umfaßt, von denen alleine 75% in Budapest leben. Weitere jüdische Gemeinden existieren in Pécz, Szeged, Györ, Miskolc und Debrecen. Ungarn, das vor dem Krieg über eine jüdische Bevölkerung von etwa 450 000 Menschen verfügte, wurde erst im März 1944 von den deutschen Truppen besetzt und hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt der Deportation seiner Juden weitgehend widersetzen können. Aber am 15. Mai 1944 begann dann, organisiert von Adolf Eichmann, auch die „Endlösung der Judenfrage“ in Ungarn, der etwa 200 000 Juden zum Opfer gefallen sind. Unvergessen blieb im Gedächtnis des jüdischen Volkes der heroische Einsatz des schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg zur Rettung der ungarischen Juden. Wallenberg wurde nach der Besetzung Budapests durch die Rote Armee im Spätsommer 1944 in die Sowjetunion verschleppt und dort wahrscheinlich ermordet. Der Aufklärung des Schicksals dieses im sowjetischen GULAG verschollenen „Gerechten unter den Völkern“ widmen sich zahlreiche Initiativgruppen in aller Welt. Der rasche Einmarsch der sowjetischen Truppen hat aber die völlige Extermination des Budapester Ghettos und der ungarischen Judenheit überhaupt verhindert, so daß nach Kriegsende noch etwa 140 000 Juden in Ungarn lebten.

Die Epoche des Stalinismus brachte eine Zeit schwerster Pressionen auch für das ungarische Judentum mit sich. Der Rajk-Prozeß 1949/50 gestaltete sich zu einem antisemitischen Exzeß der schlimmsten Art, aber auch im Gefolge des Volksaufstandes vom Oktober 1956 entfesselten die Kommunisten erneut eine Pogromstimmung in Ungarn. Unter den zahllosen Emigranten, die damals das Land verließen, befanden sich auch viele Juden.

567 Trotz dieser Bedrückung und des scharf antiisraelischen Kurses, den die ungarischen Kommunisten vom Juni 1967 an einschlugen, konnte sich das ungarische Judentum doch im wesentlichen behaupten. Der Vorsitzende des Rabbinerkollegiums gehörte zusammen mit den Leitungspersönlichkeiten der anderen Religionsgemeinschaften dem Präsidium des ungarischen Parlaments an, was dann nach der Wende in Ungarn zu heftigen innerjüdischen Auseinandersetzungen führte. Wichtig war für das ungarische Judentum, daß auch über den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel im Jahr 1967 hinaus Kontakte dorthin aufrecht erhalten werden konnten. Ein bewegendes Zeugnis dafür waren die große Ausstellung „Juden in Ungarn“, die 1984 im Beth Hatefutsot in Tel Aviv gezeigt werden konnte, und die Gedenkveranstaltungen im gleichen Jahr aus Anlaß des 40. Jahrgedenkens der Deportation der ungarischen Juden. Erste zwischenstaatliche Kontakte setzten bereits 1988 wieder ein, so besuchte Ministerpräsident Schamir im Mai „privat“ Budapest, es folgte die Eröffnung von Interessenbüros in Tel Aviv und Budapest. Die aschkenasischen Juden Ungarns gehören bis auf eine kleine orthodoxe Gemeinde alle der Reformrichtung an. Sie sind in mehr als 25 Synagogengemeinden organisiert, die in der Regel über einen Rabbiner und das ansonsten notwendige Kultuspersonal verfügen. In Budapest dient die Synagoge in der Kazincy-Straße dem orthodoxen Ritus, während der prächtige, erst 1990 restaurierte Dohány-Tempel in der gleichnamigen Straße von der Reformgemeinde genutzt wird. Die Zahl der Gottesdienstteilnehmer soll sich in den letzten drei Jahren praktisch verdoppelt haben. In Pápa und Monor konnten in dieser Zeit sogar völlig neue Gemeinden gegründet werden.

Die organisatorische Grundlage des ungarischen Judentums bilden der Verband der Jüdischen Kultusgemeinden Ungarns und die Landesvertretung der Ungarischen Juden, die beide ihren Sitz in Budapest haben. Außerdem gibt es als festorganisiertes Gremium die Rabbinerversammlung sowie ein orthodoxes und ein reformorientiertes Rabbinatsgericht (Beth-Din).

568 Das jüdische Leben Ungarns weist bis heute alle jene Einrichtungen auf, die für eine bewußte Jüdischkeit eigentlich unentbehrlich sind. In Budapest gibt es einen Kindergarten und das Anne-Frank-Gymnasium für Jungen und Mädchen, der jüdischen Weiterbildung dienen darüber hinaus die Talmud-Thora-Anstalt in der LeoFrankel-Straße und die orthodoxe Jeschiwa. Eine ganz unvergleichliche Bedeutung besitzt das 1877 gegründete Budapester Rabbinerseminar, die Leuchte jüdischen Wissens im Osteuropa der Nachkriegszeit, läßt sich doch allein hier eine vollständige Rabbiner- oder Kantorenausbildung absolvieren. Schon 1989 wurde mit Hilfe der Weltzionisten-Organisation ein erster Austausch zwischen Studenten des Budapester Seminars und israelischen Ausbildungsstätten vereinbart. Neben dem Rabbinerseminar dürfen aber auch das „Centrum für jüdische Studien“, 1987 an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gegründet, die weltberühmte „Sammlung Kaufmann“ im Besitz der Akademie der Wissenschaften, das Budapester Jüdische Museum und das wesentlich kleinere Museum in Sopron nicht vergessen werden. Die Bibliothek und das Archiv des Rabbinerseminars können in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft des Judentums nur mit den Sammlungen in Jerusalem und New York verglichen werden.

Auch im sozialen Bereich verfügt das ungarische Judentum über eine bemerkenswerte Ausstattung. Das Jüdische Krankenhaus in Budapest konnte in jüngster Zeit baulich sogar noch erweitert werden, es gibt ein Waisen- und Kinderheim, drei Altenheime, das koschere Restaurant „Schalom“, die Großküche des „Joint“, die täglich mehr als 1000 Essensportionen verteilt, und einen Senioren- sowie einen Kulturclub. Die Mazzot-Bäckerei und die koschere Weinkellerei versorgten die jüdischen Gemeinden im gesamten Ostblock mit ihren rituell notwendigen Produkten.

Der Information der Gemeindeglieder dient die 14tägig erscheinende Zeitung „Uj Elet“ (Neues Leben), regelmäßig erscheint ein Luach, und im Zweijahresabstand wird ein Jahrbuch vorgelegt. 1990 wurde ein jüdischer Verlag in Budapest eröffnet, während es eine eigene jüdische Buchhandlung in Budapest schon seit dem Ende der 80er Jahre gibt.

569 Trotz dieser erfreulichen Meldungen darf nicht übersehen werden, daß auch das ungarische Judentum heute von tiefgreifenden inneren Auseinandersetzungen um die eigene Vergangenheit in der kommunistischen Zeit erschüttert wird. Außerdem hat der Antisemitismus in der ungarischen Gesellschaft in erschreckendem Ausmaß zugenommen. Das ungarische Judentum, das wohl als einzige jüdische Gruppe im ehemaligen Osteuropa in seiner Existenz nicht ernsthaft gefährdet ist, muß sich heute der Frage stellen, ob es sich weiterhin als Religionsgemeinschaft verstehen will, oder ob es sich um die Position einer nationalen Minderheit mit entsprechenden Rechten bemühen soll. Die Gründung eines Christlich-Jüdischen Rates im Juni 1990 wird in Ungarn als ein Schritt gewertet, der der Begrenzung aufbrechender Konflikte dienen könnte. g) DDR Über die Lage der jüdischen Gemeinden in der DDR soll hier nicht gehandelt werden. Der Verfasser hat über die Geschichte der Bedrückung dieser Gemeinschaft 1991 im Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte (S. 393-426) eine ausführliche Darstellung vorgelegt. Die Judenschaft der DDR befand sich durch ihre räumliche und persönliche Nähe zur Bundesrepublik Deutschland immer in einer besonderen Lage, die durch eine den Umständen nach vorbildliche soziale Betreuung bei gleichzeitig konsequenter Unterdrückung aller Formen jüdischen Lebens, die über die engen Grenzen der winzigen Gemeinden hinaus zu wirken drohten, gekennzeichnet war. Helmut Eschwege, der bedeutende Dresdner jüdische Historiograph, dessen unveröffentlichte dreibändige Geschichte der jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR jetzt in der Anne-Frank-Shoah-Bibliothek der Deutschen Bücherei Leipzig zugänglich gemacht wurde, hat in seinem jüngst erschienenen Lebensbericht (Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991) erschütternde Einzelheiten über die Brutalität mitgeteilt, mit denen das DDR-Regime alle Anzeichen eines selbständigen jüdischen Lebens in der DDR unterdrückte. II. Kultureller Genocid Versucht man, die Judenpolitik der kommunistischen Regime Osteuropas auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, wird man vor dem harten Urteil nicht zurückschre-

570 cken dürfen, daß hier ein geistiger Genocid stattgefunden hat, der auf der Grundlage der kommunistischen Klassenideologie planmäßig organisiert wurde. Die nationalsozialistischen Verbrecher zielten mit ihrer „Endlösung der Judenfrage“ auf die physische Ausrottung der Judenheit, denn nur so konnte die „Judenfrage“ im Sinne der Rassenideologie endgültig gelöst werden. Die kommunistischen Machthaber hingegen setzten sich die psychische Vernichtung des Judentums zum Ziel, die Auslöschung des jüdischen Selbstbewußtseins. Wo allerdings die Mittel einer terroristischen Umerziehung des Bewußtseins nicht umfassend und schnell genug Erfolge zeitigten, erwogen auch sie den Weg der physischen Vernichtung, wie aus Stalins monströsen Deportationsplänen hervorgeht. Wenn in der Vergangenheit einzelne Beobachter deshalb von dem „kulturellen Genocid“ sprachen, so vor allem Manès Sperber in seinem Buch „Churban oder Die unfaßbare Gewißheit“ (Wien-München-Zürich 1979), dem das Judentum in den osteuropäischen Staaten unterworfen worden sei, so wurde das noch in der jüngsten Vergangenheit häufig als Ausdruck einer aus dem Denken des Kalten Krieges genährten Psychose zurückgewiesen. Heute muß vor dem Hintergrund wesentlich vertiefter Informationen über die Situation des osteuropäischen Judentums diese Diagnose jedoch bestätigt und bekräftigt werden. Die kommunistischen Regime haben tatsächlich über Jahrzehnte hinweg und völlig konsequent gegen das ihnen ausgelieferte Judentum einen schleichenden Pogrom inszeniert, der immer wieder auch exzeßhaft ausuferte. In seinen Auswirkungen muß dieser „geistige Genocid“ mit denen der nationalsozialistischen „Endlösung“ in Beziehung gesetzt werden. Ja, Manès Sperber war der Meinung, daß Stalin die von Hitler betriebene physische Vernichtung des europäischen Judentums durch diesen „kulturellen Genocid“ erst vollendet habe.

Zur Begründung dieser niederschmetternden Diagnose seien hier einige umrißhafte Beobachtungen mitgeteilt, die gewiß noch einer weitergehenden Vertiefung bedürfen: 1. Die jüdischen Gemeinschaften in allen osteuropäisch-kommunistischen Staaten wurden zwangsweise auf den Bereich der Kultgemeinde begrenzt. Das entsprach den Grundprinzipien marxistisch-leninistischer Religionspolitik, traf die Juden als

571 extreme Minderheit aber in besonderer Weise, verloren doch damit gerade auch diejenigen unter ihnen, die sich der Religion ihrer Väter entfremdet hatten, jegliche Möglichkeit, ihr Identitätsbewußtsein zu erhalten. Sie gehörten ja nicht mehr zur Kehillah, hatten aber auch keine wirkliche Chance, in der Mehrheitsbevölkerung aufzugehen, weil diese in einer durchaus rassistischen Weise ihr fortwährendes Judesein festhielt. Integration war immer nur da möglich, wo es das Parteiinteresse gebot. Wandelte sich dieses Interesse, wurde der Jude sogleich wieder als Jude markiert.

2. Die überregionalen jüdischen Organisationen in den osteuropäischen Staaten, insbesondere die Gemeindeverbände, dienten nicht mehr in erster Linie als Instrumente zur Förderung jüdischen Lebens, sondern wurden als Kontroll- und Pressionsorgane im Auftrag der herrschenden Partei mißbraucht, die alle Regungen eines bewußten Judentums zu ersticken oder zu manipulieren hatten.

3. Die Judenpolitik der kommunistischen Staaten war generell auf die Enteignung der Juden von ihrer Jüdischkeit ausgerichtet. Deshalb wurden konsequent alle Formen einer eigenständigen jüdisch-theologischen oder jüdisch-kulturellen Arbeit unterbunden. Wenn auf diesem Felde doch gelegentliche Aktivitäten zugelassen wurden, dann handelte es sich in der Regel um die Reproduktion altüberkommener Inhalte und Formen, die nur im engsten Kreise praktiziert werden durften, oder den auf das Ausland ausgerichteten Mißbrauch solcher Konzessionen unter eindeutig propagandistischem Aspekt.

4. Wohl am schwersten getroffen wurde aber die osteuropäische Judenheit durch die Enteignung ihrer Vergangenheit, insbesondere die Leidensgeschichte in der Epoche der Shoah. Jewtuschenkos „Kein Denkmal steht in Babi Jar“ von 1961 gibt eine Ahnung von der Ungeheuerlichkeit dieses Vorganges, der den Überlebenden, die doch zugleich immer auch Opfer in nicht mehr zu übertreffender Weise waren, das tödliche Gefühl vermitteln mußte, nicht einmal die ermordeten Familienangehörigen und Freunde auf angemessene Weise betrauern zu dürfen.

572 5. Die Aussichtslosigkeit ihrer Lage wurde der Judenheit Osteuropas immer dann vor Augen geführt, wenn die kommunistischen Machthaber sie zwangen, jede Verbindung zur weltweiten jüdischen Gemeinschaft abzubrechen. Jeder Versuch, diese extreme Ghettoisierung zu durchbrechen, wurde dann als staatsfeindliche Handlung erster Ordnung brutal verfolgt. Daß auch hierbei lediglich taktische Überlegungen bestimmend waren, zeigt die Liaison, die Erich Honecker mit dem Jüdischen Weltkongreß begann, als er hoffte, dadurch die Unterstützung des amerikanischen Judentums für seine Pläne einer Staatsvisite in den USA zu gewinnen.

6. Die kommunistischen Regime zwangen denen ihnen ausgelieferten Juden eine Homogenität auf, die dem Wesen des Judentums zutiefst widerspricht. Wo einst die Fülle der unterschiedlichen religiösen und politischen Richtungen, der offen ausgetragene Streit um den richtigen Weg und die Vielzahl der Lebensformen bestimmend gewesen waren, herrschte nun eine erzwungene Einheitlichkeit, auf die von jüdischer Seite eigentlich nur mit einem fortwährend wachsenden Distanzverhalten gegenüber der eigenen Identität reagiert werden konnte.

7. Während das osteuropäische Judentum im Würgegriff der kommunistischen Judenpolitik zuerst sein Antlitz und dann später immer mehr auch sein Leben einbüßte, mußte es zugleich Zeuge einer staatlich organisierten gesellschaftlichen Schizophrenie werden, die schamlos genannt werden muß. In dem Maße, in dem die eigene jüdische Existenz reduziert wurde, wuchs die politische Instrumentalisierung des jüdischen Schicksals. In der Belletristik, im Film und auf dem Theater wurde dieses Schicksal unter dem Stichwort des „Antifaschismus“ immer neu inszeniert und manipuliert. Diejenigen aber, um deren Schicksal es da ging, verloren sich immer mehr in einer schier unentrinnbaren Schattenexistenz. Den widerlichsten Höhepunkt solcher gesellschaftlichen Schizophrenie erlebte die DDR mit den „Festspielen“, die Honecker zum 50. Jahrgedenken der „Reichskristallnacht“ veranstalten ließ. Es gehört zu den unvergeßlichen Leistungen der evangelischen Kirchen in der DDR und der in ihnen wirkenden „Arbeitsgemeinschaften Kirche und Judentum“, daß sie schon verhältnis-

573 mäßig frühzeitig versucht haben, durch Information und persönliche Begegnungen zwischen Juden und Christen diese Schattenwelt aufzuhellen.

8. Eine wirklich befriedigende Erklärung für den Antisemitismus der kommunistischen Regime scheint kaum möglich zu sein. An der Ausgestaltung der kommunistischen Machtverhältnisse waren Juden von Anfang an in durchaus merklicher Weise beteiligt gewesen. Strukturelle Ähnlichkeiten zwischen marxistischem und jüdischem Geschichtsdenken wurden nicht nur von Ernst Bloch beobachtet. Der Staat Israel, der einst mit Unterstützung der sozialistischen Staaten in Flushing Meadows das Licht der Welt erblickt hatte, lag keineswegs so sehr im unmittelbaren Interessenbereich des sozialistischen Lagers, daß er ernsthaft als Kern des antijüdischen Feindbildes in den kommunistischen Staaten in Anspruch genommen werden dürfte. Der Haß galt ja auch eigentlich nicht dem konkreten Juden. Dieser wurde immer erst dann zum Gegenstand der Verfolgung, wenn er als Teil einer anonym bleibenden Gruppe ausgemacht worden war, die unter Bezeichnungen wie „Kosmopolitismus“ oder „Zionismus“ verketzert wurde.

Einer Beantwortung der Frage nach der Rolle des Antisemitismus in den kommunistischen Regimen wird man wohl nur näher kommen, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Frage richtet, welche anderen konkreten oder fiktiven Gruppen in diesen Staaten mit einem vergleichbar anhaltenden Haß bis zu ihrer gesellschaftlichen Vernichtung verfolgt wurden. Geht man diesem Gedanken weiter nach, läßt sich das Phänomen herausarbeiten, daß die kommunistischen Regime mit instinktiver Konsequenz überhaupt alle tatsächlichen oder vermeintlichen sozialen und kulturellen Eliten verfolgten, durfte es in ihrem Bereich doch nur eine Elite, nämlich die der Partei, geben. Sollte diese Beobachtung richtig sein, könnte der kommunistische Antisemitismus schließlich sogar noch als eine – allerdings höchst verquere – Form des Respekts vor dem „auserwählten Volk“ interpretiert werden.

574 III. Perspektiven Über die Perspektiven des osteuropäischen Judentums nach dem Sturz der kommunistischen Regime nachzudenken, muß heute zunächst heißen, neben der Shoah, in die die Nationalsozialisten das jüdische Volk stürzten, die Tatsache des „kulturellen Genocids“ völlig ernst zu nehmen. Die Reste des osteuropäischen Judentums, die die erste Shoah und die stalinistischen Verfolgungen physisch überlebten, sind heute psychisch liquidiert. An diesem Befund ändern auch die Anzeichen einer „Jüdischen Renaissance“, die vielerorts in Osteuropa verzeichnet werden, nichts. Es handelt sich hier nicht um die wunderbare Beseelung der Totengebeine, von der Hesekiel in einer seiner größten Visionen zu sprechen wußte, sondern um letztlich vergebliche Wiederbelebungsversuche an einem entseelten Körper. Was da heute als Lebenszeichen wahrgenommen wird, ist zu allermeist von außen importiert, wird getragen von Schuldbewußtsein, folkloristischem Interesse und dem begreiflichen Wunsch derer, die sich auch nach dem „kulturellen Genocid“ noch als Juden von außen her definiert vorfinden, aus ihrer Situation das Beste zu machen. Das Beste aber, so glauben zumindest gegenwärtig viele dieser Überlebenden, ist die Aliya in das völlig unbekannte Land der Väter, ist die Emigration nach Israel. Auch wenn man im einzelnen kaum eine Ahnung davon hat, was da an kulturellen, politischen und religiösen Anforderungen zu erfüllen sein wird, ist man sich doch sicher, auf diesem Weg einigermaßen sicher in jene westliche Welt überwechseln zu können, die als die eine große und verheißungsvolle Alternative erscheint. Wie immer aber auch diese Hoffnungen erfüllt oder enttäuscht werden mögen, mit dem osteuropäischen Judentum hat das dann nichts mehr zu tun.

Andere, die diesen radikalen Bruch mit einer Wirklichkeit, in der man sich nun schon über Jahrzehnte zwangsweise einrichten mußte, nicht wagen oder mit diesem keine wirkliche Perspektive verbinden, werden den Weg der völligen Assimilation an die Mehrheitsbevölkerung in der Hoffnung gehen, daß ihr Judentum eines Tages tatsächlich gänzlich unerkennbar geworden sein wird. Die im Entstehen begriffenen pluralistisch orientierten nachkommunistischen Gesellschaften lassen diese „Endlö-

575 sung der Judenfrage“ in begrenztem Maß als durchaus realistisch erscheinen, sofern die Mehrheitsbevölkerung das zuzulassen bereit ist.

Hier sind aber angesichts des überall in Osteuropa neu aufbrechenden Antisemitismus erhebliche Zweifel angebracht. Über die Motive und den Charakter dieses neuen Antisemitismus ist inzwischen bereits viel nachgedacht und geschrieben worden. Soweit das heute erkennbar ist, ist er nicht primär rassistisch motiviert. Wichtiger dürften allerhand Weltverschwörungstheorien sein, die dem noch völlig unsicheren wiedererwachenden nationalen Selbstgefühl der osteuropäischen Völkerschaften als Stütze dienen müssen. Der gegenwärtige osteuropäische Nationalismus leidet ja unter besonderen Argumentationsschwierigkeiten. Ein Affronthaltung gegenüber dem Westen ist nicht möglich, erhofft man sich von diesem doch alles Heil. Eine Abrechnung mit der eigenen kommunistischen Vergangenheit verbietet die bittere Einsicht in die Tatsache, in welchem Ausmaß man selber Teil dieser Vergangenheit ist. Selbst die Ausschaltung der kommunistischen Eliten und ihrer Helfershelfer erweist sich als unmöglich, weil es keine anderen Eliten gibt, auf die man zurückgreifen könnte. So lassen sich die Affekte nur in zweierlei Richtung entladen. Einmal geht es gegen die national andersartigen Nachbarn und damit auch um ganz handfeste Verteilungskämpfe, ist doch die Überzeugung keineswegs nur in Osteuropa weit verbreitet, daß man zunächst das Eigene sichern müsse, ehe man mit anderen über Zusammenarbeit reden könne. Der Weg in das vielbeschworene „europäische Haus“ wird deshalb im Osten über ein Europa führen, dessen Kleinteiligkeit an mittelalterliche Verhältnisse gemahnt. Dieser nach außen gewendete Affekt erfährt seine innere Ergänzung nun durch jenen Antisemitismus, der sich präzise die einzige Gruppe innerhalb der jeweiligen Nation aufs Korn nimmt, die unter den gegenwärtigen realen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen ausgrenzbar ist, auf die man glaubt, verzichten zu können.

Ausgrenzbar aber sind die Juden wiederum aus mehrerlei Gründen. Zum einen hielt der kommunistische Antisemitismus durchweg das Bewußtsein dafür wach, wer überhaupt Jude ist. Zum anderen finden sich Juden aber auch als Mitglieder in

576 praktisch allen gesellschaftlichen Gruppen mit Ausnahmen der Kirchen, vom kommunistischen Spitzenfunktionär über den dissentierenden Künstler und Intellektuellen bis hin zum Proletarier, so daß ihre Ausgrenzung praktisch für keine dieser Gruppen eine entscheidende Bestandsgefährdung darstellt. Schließlich befinden sich Juden, zumindest im Urteil ihrer nichtjüdischen Umwelt, im Besitz eines Vorteils, den sie nicht selber erworben haben: Sie können gewissermaßen qua Geburt Anspruch darauf erheben, ihr Heimatland auf vergleichsweise komfortable Weise verlassen. Dieser Vorzug ist in den krisengeschüttelten Staaten Osteuropas heute ein solches Privileg, daß allein dieses einfach Neidgefühle wachrufen muß, die dann alle altbekannten antisemitischen Vorurteile wieder virulent werden lassen.

Die Judenheit Osteuropas befindet sich heute deshalb in einem schier unauflösbaren Dilemma. Zur Gestaltung einer zwar angefochtenen, aber doch lebensfähigen Gemeinschaft fehlt es ihr nach dem „kulturellen Genocid“ an jenem Selbstbewußtsein, das als Jüdischkeit über Jahrhunderte hinweg den Bestand dieser Gemeinschaft durch alle Verfolgungen hindurch sicherte. Alle Versuche aber, dieser Jüdischkeit wieder aufzuhelfen, beflügeln jenen neuen Antisemitismus, der den Menschen jüdischer Herkunft die restlose Assimilation verweigert, weil er auf dieses Feindbild nicht verzichten kann. Eine echte Perspektive läßt sich, wenn dieses Dilemma zutreffend beschrieben ist, für das osteuropäische Judentum nicht mehr ausmachen.

In seiner historischen Überlieferung weiß das Judentum von dem Schicksal der Zehn Stämme zu erzählen, die sich nach dem Tode Salomon unter Jerobeam von Gesamtisrael trennten, damit die Verbindung nach Jerusalem aufgaben und im 8. Jh. v. u. Z. im assyrischen Exil verlorengingen. Es könnte sein, daß sich das osteuropäische Judentum heute einer vergleichbaren Situation ausgesetzt sieht. Der Titel einer bekannten Predigtsammlung des Ost-Berliner Rabbiners Martin Riesenburger, die erstmals 1960 erschien, lautete: „Das Licht verlöschte nicht“. Heute ist das Licht des osteuropäischen Judentums am Verlöschen, und es ist nicht erkennbar, was diesen glimmenden Docht zu neuem Glanz entfachen könnte.

Juden und Jüdische Gemeinden in der DDR

579 Juden und Jüdische Gemeinden in den verschiedenen Phasen der SEDDiktatur (1991/95)

Ein Bericht, vorgelegt der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland"1

1921 hat Leo Baeck in seinem epochalen Buch über „Das Wesen des Judentums“ die bisher wenig beachtete Einsicht notiert: „Nicht nur um uns handelt es sich, wo es sich um uns handelt.“2

Jüdisches Schicksal als Indikator gesellschaftlicher Zustände?

Eine nähere Betrachtung der Verhältnisse von Juden und Jüdischen Gemeinden in der DDR zeigt, daß Baecks These auch für die politische Analyse des „ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden“ herangezogen werden kann. Gerade auch in der DDR ließ sich das Schicksal von Juden und Jüdischen Gemeinden als Indikator der gesellschaftlichen und innenpolitischen Verhältnisse in Anspruch nehmen. Das macht allerdings eine genauere Einsicht in die Geschichte der Jüdischen Gemeinden in der DDR unvermeidlich3.

In der Pessach-Ausgabe für das jüdische Jahr 5750 des „Nachrichtenblatts des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik“, die im März 1990 erschien, erklärte Siegmund Rotstein4 zusammen mit seinen Redaktionskollegen: „Es ist in der deutschen Geschichte eine Einmaligkeit, daß Bürger des Staates gegen ein Machtmonopol in friedvollen Demonstrationen antreten, um den Machtmißbrauch eines sich als antifaschistisch darstellenden Regimes zu beenden. 1

Der Bericht faßt verschiedene Studien und Vorträge des Autors zum Thema „Juden in der DDR“ zusammen. Die Ausführlichkeit der Darstellung berücksichtigt die Tatsache, daß zu diesem Thema bisher nur sehr wenige detailorientierte Untersuchungen vorliegen. 2 Hier zitiert nach L. BAECK: Das Wesen des Judentums, Wiesbaden 1988, 8. Aufl., S. 311. 3 Die folgende Darstellung verarbeitet fast durchweg allgemein zugängliche Materialien. Eine noch ausstehende aus den Akten der SED, der Ost-CDU und des Staatsapparates der DDR geschöpfte Behandlung des Themas dürfte das hier gezeichnete Bild in den Details wesentlich bereichern, ohne daß dadurch die Grundlinien wesentlich verändert werden. 4 Vgl. auch S. Rotstein zur Situation der Juden in der DDR: Die Geschichte muß intensiver aufgearbeitet werden (mit einem Biogramm Rotsteins von A. Hinze), in: SZ Nr. 239, 15./16.10.1988, S. 5.

580 Heute können wir Bilanz ziehen und müssen erkennen, daß die Hinterlassenschaft dieses gestürzten selbstherrlichen Apparates einen Scherbenhaufen darstellt. Nicht nur wirtschaftlich wurde dem Staat unvergleichlicher Schaden zugefügt, sondern auch politisch. Jahrzehntelang versuchte man immer wieder, den Antisemitismus als mit der Wurzel ausgerottet hinzustellen. Heute müssen wir erkennen, daß Antisemitismus, Rassenhaß, Ausländerfeindlichkeit und Überheblichkeit in aller Stille gewachsen sind. Ist es möglich, dieses Geschehen zu analysieren? Wir glauben, daß es vielerlei Faktoren gab, die diese Entwicklung ermöglicht haben. Dazu gehören der verordnete Antifaschismus, eine verfehlte Schulpolitik mit einer in Überheblichkeit dargestellten Gleichstellung von Antifaschismus und der als kommunistisch deklarierten Staatspolitik. Die Schande des nationalsozialistischen Vandalismus wurde im Hinblick auf die Schoah in einer Weise behandelt, die den Schülern keinen Spielraum gab, mit notwendigen didaktischen Methoden diese grausame Zeit von 1933-1945 und die Wurzeln des Antijudaismus und späteren Antisemitismus ernsthaft zu erforschen. [...] Dazu kam noch eine Medienpolitik, die antizionistisch ausgerichtet war und leider auch von vielen jungen Menschen als antisemitisch verstanden wurde. Fast 40 Jahre wurde der Staat Israel aus Gründen der Staatsräson als unmenschlicher Staat dargestellt, um so die arabischen Staaten zu hofieren.“5

Daß die Herausgeber des „Nachrichtenblattes“ mit ihrem Editorial nicht lediglich die extreme Anschauung besonders Betroffener formuliert hatten, unterstrich wenig spä5

S. ROTSTEIN/P. KIRCHNER/H.-J. LEVY/R. SCHARF-KATZ: Unsere Meinung, in: Nachrichtenblatt des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik [künftig: Nachrichtenblatt], Dresden: März 1990, S. 2; vgl. auch das Editorial im Nachrichtenblatt Dez. 1989, S. 2, wo es u.a. hieß: „So wie die Lichter im wiedergeweihten Tempel zur Hasmonäerzeit vom jüdischen Selbstverständnis kündeten, so mögen die Chanukkahlichter in diesem Jahr unsere Hoffnungen zur Anerkennung des Staates Israel durch die DDR erhellen.“ - Um den Kontrast noch deutlicher hervorzuheben, sei hier auch eine Passage aus der Rede in Erinnerung gerufen, die S. Rotstein am 9. Nov. 1988 bei der Gedenkveranstaltung des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR zum 50. Jahrestag des faschistischen Pogroms im Deutschen Theater Berlin gehalten hat: „In unserer von uns miterbauten sozialistischen Heimat wissen wir, daß antihumanistisches Gedankengut grundsätzlich beseitigt, es mit der Wurzel herausgerissen wurde und daß Versuche, Überlebtes, dem Menschen feindliches Denken und Handeln wiederzubeleben, streng bestraft werden. Wir haben [...] ein ganzes Volk wissend gemacht. Das ist viel. [...] Das Wissen allein reicht niemals aus, wir müssen immer wieder tiefe Emotionen des Abscheus erfahrbar machen, des Abscheus vor Rassismus und Chauvinismus, vor Intoleranz und Krieg. [...] Wir leben gern als jüdische Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik, wir erfahren Achtung und Wertschätzung. Unsere Freunde in anderen Ländern erkennen zunehmend deutlicher, daß in diesem sozialistischen deutschen Staat der Humanismus den Antihumanismus besiegt hat, die Menschenwürde an die Stelle der Menschenverachtung getreten ist, die Freiheit die Unterdrückung überwunden hat.“ Vgl. Damit die Nacht nicht wiederkehre, S. 59f.

581 ter auch die Erklärung der Volkskammer der DDR vom 12. April 1990, in der es u.a. heißt: „Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.“6

Die Herausgeber des „Nachrichtenblatts“ antworteten auf diese Erklärung des ersten freigewählten Parlaments in der DDR mit den Worten: „Danken können wir nicht dafür, denn ein derartiges Bekenntnis zur Schuld und Wiedergutmachung kommt 40 Jahre zu spät.“7 Die unsensible Selbstgerechtigkeit, die aus diesen Formulierungen spricht und nichts mehr von den unzähligen Ergebenheitsadressen gegenüber dem SED-Regime zu wissen vorgibt, die einst die Spalten des „Nachrichtenblatts“ füllten, hat allerdings auch bei Mitgliedern der Jüdischen Gemeinden in der DDR mehr als Unbehagen ausgelöst und eine erste interne Diskussion über die „Wendehälse“ in der Leitung des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR ausgelöst.

„Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger“ auch nach 1945?

Bei der Begegnung Erich Honeckers mit jüdischen Bürgern im Staatsrat am 8. Nov. 1988 hatte der Staatsratsvorsitzende noch erklärt: „Für alle jene jüdischen Mitbürger, die das faschistische Inferno überlebten oder aus der Emigration zu uns zurückkehrten, wurde unser Land zur Heimstatt. Viele von ihnen haben als Aktivisten der ersten Stunde an der Errichtung der neuen Gesellschaft mitgewirkt. Geachtet, anerkannt und geehrt, erwarben sie sich bleibende Verdienste um unser sozialistisches Vaterland.“8 6

Hier zitiert nach Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 45, Nr. 16 vom 19.4.1990, S. 2. - Vgl. auch den Tenor der Rede, die DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziére am 8. Mai 1990 vor dem Jüdischen Weltkongreß in Berlin gehalten hat: „Geschichte wurde hinweggeschwiegen, als sei in der DDR alles getan - mit auskömmlichen Renten und offiziellem Antifaschismus - und Schuldner gäbe es nicht in unserem Land.“ Zitiert nach Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 45, Nr. 20 vom 17.5.1990, S. 11. 7 Nachrichtenblatt Juni 1990, S. 2. 8 Damit die Nacht nicht wiederkehre, S. 12. Es wäre interessant zu erfahren, ob Honecker den Begriff „Heimstatt“ bewußt benutzte. Für jeden seiner Zuhörer, der die jüngste jüdische Geschichte kennt, verband sich damit die Erinnerung an die Balfour-Deklaration vom 2. Nov. 1917, in der der englische Außenminister Arthur James Balfour (1848-1930) erklärt hatte: Seiner Majestät Regierung betrachtet die Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen und wird

582 Die älteren unter Honeckers Zuhörern werden diese Worte mit gemischten Gefühlen gehört haben, wußten sie doch nur allzugut, wie problematisch die jüdische Existenz zu allen Zeiten in der DDR war9.

Unmittelbar nach Kriegsende lebten noch etwa 3.500 Juden in dem Gebiet der SBZ. Diese hatten die nationalsozialistischen Konzentrationslager überlebt, waren als illegale „Untergetauchte“ gerettet worden, hatten als Partner in sogenannten „privilegierten Mischehen“ ihr Leben retten können10 oder waren aus der Emigration in das sowjetisch besetzte Gebiet Deutschlands u.a. auch deshalb zurückgekommen11, weil sie dort die Verwirklichung ihrer sozialistischen oder kommunistischen Ideale zu erleben hofften12. Stellvertretend für viele andere seien hier nur die Namen von Ernst Bloch, Arnold Zweig, Anna Seghers13, Stefan Heym, Walther Victor, Alfred Kantorowicz, Max Zimmering, Walter Felsenstein, Helene Weigel, Albert Norden und Gerhart Eisler genannt. Für das Judentum in der DDR spielten diese prominenten Intellektuellen allerdings kaum eine Rolle, weil sie sich nicht mehr als Juden verstanden oder in ihrer jüdischen Identität von der SED-Zensur unkenntlich gemacht wurden14.

Der entschieden größere Teil der überlebenden deutschen Juden war damals allerdings der Auffassung, daß Juden auf Dauer nicht mehr in Deutschland mit dem Volk die größten Anstrengungen machen, um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern [...].“ Vgl. CH. WEIZMANN: Art. Balfour-Deklaration, in: Jüdisches Lexikon 1, Berlin 1927 [ND: Königstein/Ts. 1982], Sp. 689-696. 9 Vgl. auch R. NEUMANN: Antisemitismus in Ost-Deutschland, in: Tribüne 2, 1963, S. 595f. 10 Zu dieser „deutsch-jüdischen Restgruppe“ vgl. H. MAOR: Über den Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinden in Deutschland seit 1945, Diss. phil. Mainz 1961, S. 1-14. 11 Zu den Problemen der „Rückwanderer“ aus privaten Gründen vgl. MAOR, Wiederaufbau, S. 31-50. 12 Vgl. z. B. G. STILLMANN: Berlin - Palästina und zurück. Erinnerungen. Mit einem Vorwort von R. Hirsch, Ost-Berlin 1989. Besonders eindrücklich auch L. JALDATI/E. REBLING: Sag nie, du gehst den letzten Weg. Erinnerungen, Ost-Berlin 1986, wo die Rückkehr aus der Illegalität in den Niederlanden geschildert wird. Aus der Sowjetunion kam zurück M. LIEBERMANN: Aus dem Ghetto in die Welt. Autobiographie, Ost-Berlin 1977, 21979. Zu den jüdischen „Spätheimkehrern“ aus der Sowjetunion vgl. C. BERLINER: Rückkehr nach Berlin aus der Sowjetunion, in: R.Ostow, Jüdisches Leben in der DDR, Frankfurt/M. 1988, S. 111-119 [dort 219-223 auch eine brauchbare, wenn auch keineswegs vollständige Bibliographie zum Gesamtthema]. Wieder einen anderen Weg ging z.B. U. KATZENSTEIN: Von Nazideutschland in die DDR über Palästina, Frankreich und die USA, in: Ostow, S. 137145. 13 Vgl. ihre Rede „Gedanken zu unserer Zeit“ von 1954 über die Motive ihrer Rückkehr nach Deutschland, in A. SEGHERS: Aufsätze, Ansprachen, Essays 1954-1979, Berlin- Weimar 1980, S. 42-48. 14 Vgl. K. HARTEWIG: Eine dritte Identität? Jüdische Kommunisten in der Gründergeneration der DDR, in: E. Scherstjanoi, „Provisorium für längstens ein Jahr“. Protokoll des Kolloquiums Die Gründung der DDR, Berlin 1992, S. 292-302.

583 der Mörder zusammenleben könnten15. Deshalb war für viele in Deutschland lebende Juden in den Jahren 1945/46 die Auswanderung nach Palästina die einzige sinnvolle Zukunftsperspektive. Die Berliner Gemeinde erhielt damals die schrecklich präzise Bezeichnung „Liquidationsgemeinde“, die aber eben auch unmißverständlich deutlich machte, was man damals von der Zukunft in Deutschland erwartete16. Die Behörden der sowjetischen Besatzungsmacht und die deutschen Verwaltungsstellen taten in den ersten Nachkriegsjahren gewiß das Menschenmögliche, um den Überlebenden der Schoah zu helfen. Schon am 11. Mai 1945, also drei Tage nach der Befreiung, konnte Rabbiner Martin Riesenburger einen ersten SabbatGottesdienst in der Kapelle des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee abhalten17. Die Jüdische Gemeinde von Berlin wurde offiziell bereits am 15. Juli 1945 neu gegründet, konnte ihre Tätigkeit jedoch erst im Februar 1946 wirklich wieder aufnehmen. Die ersten Nachkriegsjahre waren zumindest in der Berliner Jüdischen Gemeinde auch „von Unbeständigkeit und kleinlichen Machtkämpfen sowohl in der Führung als auch in der Masse gezeichnet“18, was jeglichen Neuanfang zusätzlich verzögerte und erschwerte.

Ein erster dunkler Schatten fiel bereits 1947 auch von außen her wieder über die jüdische Gemeinschaft, als der erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin bis zum Herbst 1945, Erich Nelhans, ein ehemaliger Misrachi-Führer, von den sowjetischen Sicherheitsorganen verhaftet und wegen Begünstigung sowjetischer Deserteu-

15

Vgl. dazu Heinz Galinskis Stellungnahme in der Kulturpolitischen Korrespondenz 736 vom 25.9.1989, S. 3-5. 16 Vgl. H. ESCHWEGE: Die jüdische Bevölkerung der Jahre nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands auf dem Gebiet der DDR bis zum Jahr 1953, in: S.Th. Arndt/H. Eschwege/P. Honigmann/L. Mertens, Juden in der DDR. Geschichte - Probleme - Perspektiven (= Arbeitsmaterialien zur Geistesgeschichte 4), Duisburg 1988, S. 63-100, bes. S. 69. - Robert Weltsch erklärte 1946 nach einem Besuch in Deutschland: „Wir können nicht annehmen, daß es Juden gibt, die sich nach Deutschland hingezogen fühlen. Hier riecht es nach Leichen, nach Gaskammern und nach Folterzellen. Aber tatsächlich leben heute noch ein paar Tausend in Deutschland [...]. Dieser Rest jüdischer Siedlungen in Deutschland soll so schnell wie möglich liquidiert [!] werden [...]. Deutschland ist kein Boden für Juden." Vgl. MAOR, Wiederaufbau, S. 34. 17 Vgl. M. RIESENBURGER: Das Licht verlöschte nicht. Dokumente aus der Nacht des Nazismus, Ost-Berlin 1960 ( 2. Aufl. 1984). 18 OSTOW, S. 12. Vgl. auch M. RICHARZ: Juden in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945, in: M. Brumlik/D. Kiesel/C. Kugelmann/J.H. Schoeps (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945, Frankfurt/M. 1988, S. 13-30.

584 re zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt wurde. Wie so viele andere, die damals in die Hand des NKWD fielen, ist auch Erich Nelhans spurlos verschollen19.

Um die damalige Lage der Jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR adäquat würdigen zu können, müssen immer wieder auch die Zeitumstände in Erinnerung gerufen werden, unter denen sich diese Gemeinden erneut zusammenfanden. Neben den wenigen einheimischen Juden, die in „privilegierten“ Mischehen überlebt hatten oder von den Alliierten aus den nazistischen Lagern befreit werden konnten, bestimmten ab dem Winter 1946 auch diejenigen jüdischen Menschen zumindest in Berlin das Bild der Gemeinde, die zu Tausenden vor den Pogromen der unmittelbaren Nachkriegszeit in Polen geflohen waren und nun in den sogenannten DP-Lagern untergebracht wurden20. Ihre Lebensauffassung war weitgehend von den religiösen und kulturellen Traditionen des osteuropäischen Judentums geprägt21.

Schon im Februar/März 1946 berichtete z.B. Philip Skorneck, ein Funktionär des „Joint“, u.a. nach New York: „Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen polnischen und deutschen Juden treten in Berlin deutlich zutage. Die polnischen Juden, die erst vor kurzem aus Polen eingereist sind, tadeln das unjüdische Gebaren der Gemeindemitglieder, während diese keine Gelegenheit auslassen, die Schwarzmarktgeschäfte der polnischen Juden anzuprangern.“22

In solchen Beobachtungen und Klagen dokumentieren sich die tiefgreifenden Veränderungen, die die Jüdischen Gemeinden in dem Gebiet der SBZ/DDR durch die Zuwanderung der osteuropäischen Juden in der Nachkriegszeit erfuhren. Schon am 19

Vgl. OSTOW, S. 12. Vgl. W. JACOBMEYER: Die Lager der jüdischen Displaced Persons in den deutschen Westzonen 1946/47 als Ort jüdischer Selbstvergewisserung, in: Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945, S. 3148, bes. S. 36: „Allein das [richtig: der] Pogrom von Kielce im späten Frühjahr 1946 forderte 50 Tote. Nicht nur stießen die Versuche polnischer Juden auf bedrohlichen Widerstand, wenn sie sich wieder in den Besitz ihres ‚arisierten’ Eigentums setzen wollten; sondern auch der polnische Untergrund der Kriegsjahre wies rechtsradikale Gruppen auf (vor allem die NSZ, die schon während der Besatzungszeit eine erschütternd antisemitische Linie gefahren waren). Es ist eine bittere Wahrheit, daß die polnischen Juden sich in der gesamten Zeit vor 1939 nicht so unsicher und bedroht hatten fühlen müssen, wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg.“ Vgl. auch S. SCHREINER: Im Schatten der Vergangenheit - Zur Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Polen seit 1945, in: Judaica 46, 1990, S. 67-81. 21 Zu den Einzelheiten vgl. MAOR, Wiederaufbau , S. 15-31. 22 Zitiert nach OSTOW, S. 13. 20

585 1. November 1946 zählte die Jüdische Gemeinde Berlin insgesamt 7.274 Mitglieder, von denen 2.442 im Ostsektor der Stadt wohnten23. In Dresden gab es am 15. Februar 1945, nach der letzten Deportation noch 70 Juden, die mit einem nichtjüdischen Ehepartner verheiratet waren. Am 29. Oktober 1946 wurden bei der Volkszählung dann 112 jüdische Bürger in Dresden selbst und 22 im Landkreis Dresden gezählt24.

Eine etwas andere Entwicklung läßt sich hingegen in Leipzig feststellen. Dort gab es unmittelbar nach dem Kriegsende 300 Juden, zumeist Menschen, die aus Theresienstadt und dem Lager Osterode befreit worden waren. Unter diesen Juden gab es etwa 80, die ohne jede Ausstattung an Kleidung aus den Lagern zurückgekehrt waren. Im Oktober 1945 wandten sie sich deshalb an den Oberbürgermeister Zeigner mit der Bitte um Überweisung von Pelzen für den Winter als Ersatz für die zwangsweise von ihnen in der Nazizeit abgelieferten Rauchwaren. Das offizielle „Amt der verfolgten Leipziger“ antwortete darauf in einem Stil, der den Umgang der späteren DDRBehörden mit den jüdischen Bürgern in vielem vorwegnahm: „Den Juden wurden diese Pelze nicht aus politischen Gründen weggenommen, sondern weil sie Juden waren [...]. Im Ganzen können die Juden nicht als ‚antifaschistisch’ [...] bezeichnet werden. Sie wurden passive Opfer der NS-Kampfführung. [...] Eine Wiedergutmachung in einzelnen Fällen halten wir nicht für zweckmäßig.“ Infolge solcher und ähnlicher Erfahrungen verminderte sich die Zahl der in Leipzig ansässigen Juden rasch. Bei der Volkszählung am 29. Oktober 1946 wurden noch 231 Juden in Leipzig gezählt, 1953 gab es dann in der Messestadt nur noch etwa 140 zumeist ältere jüdische Bürger25.

Die Volkszählung vom 29. Okt. 1946 gestattet es überhaupt erstmals wieder, sich einen genaueren Eindruck von der Zahl der Juden zu machen, die damals noch oder

23

Vgl. ESCHWEGE, Bevölkerung, S. 70. Ebd., S. 72f. Vgl. ebd., S. 74f. - Selbstverständlich verliert die drucktechnisch hervorragend aufgemachte Broschüre „Juden in Leipzig. Eine Dokumentation zur Ausstellung anläßlich des 50. Jahrestages der faschistischen Pogromnacht im Ausstellungszentrum der Karl-Marx-Universität Leipzig, KrochHochhaus, Goethestraße 2, vom 5. November bis 17. Dezember 1988“, die der Rat des Bezirkes Leipzig, Abteilung Kultur, herausgegeben hat, kein Wort über diese Vorgänge! Vgl. jetzt aber auch B.L. LANGE: Davidsstern und Weihnachtsbaum. Erinnerungen von Überlebenden, Leipzig 1992; DERS:: Jüdische Spuren in Leipzig. Ein Begleiter durch die Stadt, Leipzig 1993.

24 25

586 wieder in der SBZ lebten. Bei der Bewertung der im folgenden genannten Zahlen wird allerdings zu berücksichtigen sein, daß sich wahrscheinlich keineswegs alle Juden als solche eintragen ließen. Ebenso darf davon ausgegangen werden, daß sich nicht alle, die sich als Juden gemeldet hatten, nun auch Mitglieder der Jüdischen Kultusgemeinden waren. Im Oktober 1946 gab es in Sachsen-Anhalt 435, in Thüringen 428, in Brandenburg ohne Berlin 424, in Mecklenburg 153 und in Sachsen 652 Juden26. Rechnet man diesen Zahlen die 2.442 Juden im Ostsektor Berlins hinzu, so kommt man auf eine Gesamtzahl von etwa 4.500 jüdischen Menschen, die Ende 1946 im Bereich der SBZ und des Ostsektors von Berlin lebten. Diese Zahl entspricht reichlich dem Zehnfachen der heute auf dem Gebiet der DDR lebenden Juden, wobei allerdings festzuhalten bleibt, daß seit 1946 alle Zahlenangaben über jüdische Bürger der DDR lediglich auf Schätzungen beruhen, die von der Zahl der den Jüdischen Gemeinden in der DDR bekannten Juden ausgehen.

Die Auswirkungen des Slansky-Prozesses in der DDR

Trotzdem wird man aber feststellen dürfen, daß der Rückgang der Zahl jüdischer Menschen im Bereich der DDR bald auffallend hoch gewesen ist. Die Ursachen hierfür sind vor allem in den antijüdischen Haßtiraden zu suchen, mit denen die DDRMedien den unter eindeutig antisemitischen Vorzeichen ablaufenden SlanskyProzeß27 in der Tschechoslowakei begleiteten, der bereits 1948 in Ungarn ein trauriges Vorspiel gehabt hatte28. Rudolf Slansky, Generalsekretär der KP der Tschechoslowakei, wurde 1951 abgesetzt und verhaftet, um als „trotzkistisch-titoistischer, zionistischer, bürgerlich-nationalistischer Verräter und Feind des tschechoslowakischen Volkes“ am 27. Nov. 1952 zum Tode verurteilt und am 3. Dez. des gleichen Jahres hingerichtet zu werden. Erst 1963 hob der Oberste Gerichtshof der ýSSR dieses

26

Vgl. ESCHWEGE, Bevölkerung, S. 80. Vgl. Prozeß gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slansky an der Spitze, Prag 1953, S. 53ff. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwaltes vermerkte ausdrücklich, daß elf der vierzehn Angeklagten von „jüdischer Abstammung“ seien. 28 Vgl. J. SZABO: Wer Jude war, kam auf die Anklagebank. Erst 1990 beschloß Ungarns Parlament die Rehabilitierung der Verurteilten der Schauprozesse von 1948 bis 1956, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 45, Nr. 28 vom 12.7.1990, S. 3. 27

587 Schandurteil auf29. Alfred Kantorowicz, der jüdische Schriftsteller und Literarhistoriker, der damals noch an der Ost-Berliner Humboldt-Universität lehrte, notierte zur Berichterstattung über den Slansky-Prozeß im „Neuen Deutschland“ in seinem Tagebuch am 30. Nov. 1952: „Das ist die Sprache Streichers, die Gesinnung Himmlers, die Atmosphäre der Gestapoverhöre und der Volksgerichtshof-Verhandlungen unter Freislers Vorsitz, der ‚Moral’ der Menschenschlächter von Dachau und Buchenwald, der Vergaser von Auschwitz und Maidanek. Es ist unmenschlich. Hitler, du hast Schule gemacht - nicht nur im Westen [...], sondern auch im Osten.“30

Wie zutreffend Kantorowicz die damalige Lage beurteilte, mag auch durch eine zufällige Detailbeobachtung erhärtet werden. Fred Oelßner, damals Mitglied des Politbüros der SED und Sekretär für Propaganda des ZK der SED, forderte 1952 in Vorbereitung des 3. Parteilehrjahres der SED eine verstärktes Studium der Werke Stalins, gab aber zugleich zu bedenken, daß als Folge einer intensiveren Schulung die „Vermehrung der Buchstabengelehrten und Talmudisten“ verzeichnet werden müsse31. Da war sie wieder da, völlig unreflektiert und ungezielt, gerade deswegen aber so besonders verräterisch, die „Sprache Streichers“, von der Kantorowicz gesprochen hatte!

Mit dem Prozeß gegen den Juden Slansky begann eine Welle antisemitischer Aktionen in Osteuropa32, die ihren Höhepunkt in der Behauptung einer angeblichen

29

Vgl. Prozeß gegen die Leitung des staatsfeindlichen Verschwörerzentrums mit Rudolf Slansky an der Spitze, Prag 1953; J. SLANSKA: Bericht über meinen Mann. Die Affäre Slansky, Wien 1968/69; J. PELIKAN (HG.): Das unterdrückte Dossier. Bericht der Kommission des ZK der KPTsch über politische Prozesse und „Rehabilitierungen“ in der Tschechoslowakei 1949-1968, Wien 1970; A. LONDON: Ich gestehe. Der Prozeß um Rudolf Slansky, Hamburg 1970; K.W. FRICKE: Warten auf Gerechtigkeit. Kommunistische Säuberungen und Rehabilitierungen. Bericht und Dokumentation, Köln 1971, S. 4761. 30 A. KANTOROWICZ: Deutsches Tagebuch. Zweiter Teil, Berlin 1979, S. 335. 31 Vgl. F. OELSSNER: Ideologische Fragen zur Vorbereitung des dritten Parteilehrjahres, Ost-Berlin 1952, S. 16. 32 In den Malstrom der Ereignisse wurden auch viele jüdische KPD-Mitglieder hineingerissen, die als Flüchtlinge vor den Nazis in der Sowjetunion ums Leben kamen. Vgl. dazu H. WEBER: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Bd. 2: Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1969, wo folgende Funktionäre als Juden erkennbar werden: A. Abusch, A. Dombrowski, G. Eisler, A. Emel, A. Ende, E. Eppstein, R. Fischer, L. Flieg, H. Fröhlich, B. Goldhammer, St. Heymann, W.D. Hirsch, E. Hommes, I. Katz, A. Kleine, G. Krausz, A. Langendorf, A. Levy, A. Maslow, H. Neumann, A. Norden, I. Piontek, K. Rosenbaum, A. Rosenberg, F. Rubiner, W. Scholem, H. Schrecker, H. Staufer, A. Thalheimer, K. Volk und R. Wolfstein. Vgl. jetzt auch DERS.: H. WEBER: „Weiße Flecken“

588 Verschwörung jüdischer Ärzte gegen Stalin fand. Noch am 1. März 1953 fand eine von Stalin einberufene Sitzung des Ministerrates der UdSSR statt, bei der er die vorbereitete Deportation aller Juden nach Sibirien erläuterte: „Der Plan sah vor, daß die Ärzte am 9. März auf dem Roten Platz gehängt werden sollten. Der organisierte Zorn der Massen sollte zur Deportation der Juden führen. Nur ein Drittel der Menschen sollte die Lager lebend erreichen, denn unterwegs sollten die meisten von der Bevölkerung erschlagen werden.“33 Nur der Tod des sowjetischen Diktators am 5. März 1953 verhinderte einen antijüdischen Pogrom größten Ausmaßes in der Sowjetunion und deren osteuropäischen Satellitenstaaten34.

Heinz Brandt, Jude und bis 1953 Sekretär der Abteilung Agitation der SEDBezirksleitung Berlin, hat in seinem Erinnerungsbuch „Ein Traum, der nicht entführbar ist. Mein Leben zwischen Ost und West“ eindringlich geschildert, wie der antijüdische Terror aus der Sowjetunion in die DDR überschwappte, nachdem der PrawdaArtikel über die jüdische Ärzteverschwörung unter dem Titel „Bestien der Menschheit“ in wörtlicher Übersetzung im „Neuen Deutschland“ erschienen war35.

„Die antijüdische Richtung der DDR manifestierte sich zuerst Mitte Dezember 1952 [also nach der Hinrichtung Slanskys] in einem sechzig Seiten umfassenden Rundschreiben, herausgegeben vom Zentralkomitee der SED, über die Auswirkungen des Slansky-Prozesses. Der Zionismus und die internationalen jüdischen Organisationen,

in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, Frankfurt/M. 2 1989, der allerdings nicht ausweist, wieviele der „305 ermordeten oder verschollenen deutschen Kommunisten“ Juden waren. H. Eschwege recherchierte, daß von den rund 200 KPD-Genossen jüdischer Herkunft, die in den dreißiger Jahren in den 1928 errichteten Jüdischen Nationalbezirk Birobidschan, der 1934 zum Jüdischen Autonomen Gebiet aufgewertet wurde, übergesiedelt waren, wohl fast alle ermordet oder ausgewiesen wurden. Vgl. A[rbeitsgemeinschaft] V[erfolgter] S[ozialdemokraten]Informationsdienst, April 1989, und den Vorwärts, Nr. 15 vom 15.4.1989, S. 8. 33 A. LUSTIGER: „In den heiligen Körper Rußlands eingedrungen.“ Eine Bilanz der bedrückenden Verfolgungsgeschichte russischer Juden bis in die Gegenwart, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 45, Nr. 21 vom 24.5.1990, S. 11. Vgl. auch S. SCHREINER: Zwischen Hoffnung und Enttäuschung. Anmerkungen zur Geschichte der russischen Juden in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Judaica 46, 1990, S. 99-112. 34 Vgl. zum Terror der späten Stalinjahre jetzt zusammenfassend G. H. HODOS: Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-54, Frankfurt/M.-New York 1988. Zum persönlichen Hintergrund des sowjetischen Diktators vgl. jetzt auch D. WOLKOGONOW: Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt, Düsseldorf 1989. Der Verfasser, Philosophieprofessor und Generaloberst der sowjetischen Armee, leitet das Institut für Militärgeschichte des Verteidigungsministeriums der UdSSR. 35 München 1967 [ND: Berlin 1977], S. 183-186.

589 wie z.B. der ‚Joint’, wurden als 'Werkzeuge des amerikanischen Imperialismus' bezeichnet, die das Mitgefühl der arbeitenden Klassen für die jüdischen Opfer des Faschismus dazu ausnutzten, in den Volksdemokratien Spionage und Sabotage zu betreiben.“36

Diese Direktive der SED-Führung löste eine Fülle von eindeutig antijüdischen Hetzartikeln in der Parteipresse der DDR aus. Jüdische Inhaber hoher Ämter in der SED und im Staatsapparat wurden abgelöst und jüdische Bürger überhaupt verstärkt kontrolliert und überwacht. Der von Stalin kreierte Vorwurf des „Kosmopolitismus“37, im Verein mit dem des „Sozialdemokratismus“38 und „Objektivismus“39, traf in der DDR beispielsweise Bruno Goldhammer, der damals in Dresden die Illustrierte „Zeit im Bild“ herausgab, Hans Schrecker, den Vorsitzenden der Nationalen Front in Sachsen, Leo Zuckermann, den Staatssekretär in der Präsidialkanzlei Wilhelm Piecks, Paul Merker, Mitglied des Politbüros der SED, Leo Bauer, Mitglied des ZK der SED, Alexander Abusch, der es später wieder zu höchsten Regierungsämtern in der DDR bringen sollte, Lex Ende, der bis 1949 Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“ gewesen war, und auch seinen Nachfolger als Chefredakteur des „Neuen Deutschlands“, Rudolf Herrnstadt, der wegen „parteifeindlicher Fraktionsbildung“ aus ZK und Politbüro der SED im Juni 1953 und im Januar 1954 auch aus der SED ausgeschlos-

36

GERALD E. THOMPSON: The Political Status of the Jews in the German Democratic Republic since 1945, ungedruckte Magisterarbeit, University of Iowa 1967, S. 63; vgl. auch JERRY E. THOMPSON: Jews, Zionism and Israel: The Story of the Jews in the German Democratic Republic since 1945, Ph. D. Washington State University 1978. Der Beschluß „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky“ findet sich in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands 4, Ost-Berlin 1954, S. 199ff. Vgl. ebd., S. 394ff., auch den Beschluß „Über die Auswertung des Beschlusses des ZK der SED zu den ‚Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slansky’“ vom 14. Mai 1953. 37 Vgl. Kleines Politisches Wörterbuch, Ost-Berlin 1986 [Erstauflage 1967!], S. 519: „In der Gegenwart ist er [der Kosmopolitismus] zu einer reaktionären Ideologie geworden, die dem Imperialismus als Mittel dient, andere Nationen unter dem Aushängeschild der Integration zu unterdrücken und auszubeuten.“ Ihre „Weltläufigkeit“ praktizieren die sozialistischen Staaten auf der Grundlage des proletarischen Internationalismus im Rahmen der internationalen kommunistischen Bewegung, vgl. ebd., S. 418-424. 38 Heute wird der „Sozialdemokratismus“ zumeist unter dem Begriff „Sozialreformismus“ neben dem „Antikommunismus“ als „Hauptwaffe des Imperialismus gegen die revolutionären Hauptströme unserer Epoche“ definiert, vgl. Kleines Politisches Wörterbuch, S. 892. 39 Der „Objektivismus“ dient „der Bourgeoisie heute zur Verschleierung des Klasseninhalts ihrer Ideologie und zur Verleumdung der sozialistischen Ideologie“, vgl. Kleines Politisches Wörterbuch, S. 683.

590 sen wurde40. Insbesondere gegen Paul Merker wurde der Vorwurf erhoben, er habe die „Finanzierung der Auswanderung jüdischer Kapitalisten nach Israel“ und damit die „Verschiebung von deutschem Volksvermögen“ gefordert, außerdem habe er im Zusammenhang mit der Wiedergutmachung „die aus den deutschen und ausländischen Arbeitern herausgepreßten Maximalprofite der Monopolkapitalisten in angebliches Eigentum des jüdischen Volkes“ umgefälscht41. Im Kampf gegen "Trotzkisten, Zionisten, Freimaurer" verwandte die SED-Führung nicht nur die Methoden der Nationalsozialisten, sondern auch deren Vokabular, wenn sie z.B. ungeniert von den „Volksschädlingen“ sprach, gegen die es zu den Kampf aufzunehmen gälte42.

Die Vorsteher der Jüdischen Gemeinden in der DDR wurden damals hart verhört und verpflichtet, Erklärungen abzugeben, in denen etwa der „Joint“ als eine Organisation amerikanischer Agenten denunziert, der Zionismus dem „Faschismus“ gleichgestellt und die Wiedergutmachungszahlungen als Ausbeutung des deutschen Volkes43 bezeichnet wurden44. Der von 1950 bis 1953 in Berlin amtierende Rabbiner Nathan Peter Levinson, der 1948 in den USA das Rabbinat erlangt hatte, forderte deshalb um die Jahreswende 1952/1953 die Juden zum Verlassen der DDR auf, obwohl sich Heinz Galinski zunächst gegen einen solchen Appell gewandt hatte. Levinson erklärte noch 1984 dazu: „Ich beharrte auf meinem Standpunkt, weil wir schon einmal einen Holocaust erlebt hatten, und wenn Stalin nicht glücklicherweise gestorben wäre...“45

40

Vgl. FRICKE, Warten, S. 94-96; R.G. REUTH: Erinnerung an einen in Ungnade Gefallenen. Die SED holt zugleich Ulbricht und Herrnstadt aus der Vergessenheit zurück, in: FAZ Nr. 158, 11.7.1988, S. 12. - Zur Situation der aus Palästina bzw. Israel zurückgekehrten jüdischen Kommunisten vgl. bes. J. DANZIGER: Die Partei hat immer recht, Stuttgart 1976, und die Erinnerungen von Rosemarie Silbermann, in: D. Bednarz/M. Lüders (Hg.), Blick zurück ohne Haß, Köln 1981, S. 26-41. 41 Vgl. FRICKE, Warten, S. 83. 42 Vgl. ebd., S. 88. Zum Gesamtzusammenhang vgl. auch K.W. FRICKE: Politik und Justiz in der 2 DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968. Bericht und Dokumentation, Köln 1990 (Erstaufl. 1979). 43 Vgl. den bereits erwähnten Beschluß der SED zu den Lehren aus dem Slansky-Prozeß vom Dezember 1952. 44 Vgl. OSTOW, S. 15. Über die einzelnen Vorgänge liegen bisher nur unzusammenhängende Berichte von Zeitzeugen vor. Eine systematische Auswertung der Quellen in den Archiven der SED, des Staatssicherheitsdienstes und der staatlichen Dienststellen der DDR, aber auch in den Archiven der Jüdischen Gemeinden in der DDR, die jetzt möglich werden könnte, gehört ebenso zu den dringend zu lösenden Aufgaben der zeitgeschichtlichen Forschung wie die Aufarbeitung der parallelen sowjetischen Quellen. 45 Vgl. OSTOW, S. 15f.

591 Am 13. Jan. 1953 floh der Vorsitzende der Ost-Berliner Jüdischen Gemeinde, Julius Meyer, über Nacht in den Westen46. Ebenso handelten die Vorsitzenden von mehreren anderen Jüdischen Gemeinden in der DDR47. Bis zum März 1953 waren es etwa 550 Juden, die vor den Verfolgungen des SED-Regimes geflohen waren48. Helmut Eschwege, der verdienstvolle Dresdner jüdische Historiker, erinnert sich: „Ein jeder von ihnen floh unter Zurücklassung seines gesamten Eigentums, nur mit dem Anzug, den sie trugen, angetan. Sie wurden vor das Problem gestellt, ein drittes Mal aus dem Nichts ihren Familien eine Lebensbasis zu schaffen.“49

Für die Verfolgung der Juden in der frühen DDR dürfte übrigens neben den stalinistischen Wahnvorstellungen auch ein spezifisches Motiv wichtig gewesen sein, das in der Forschung bisher kaum analysiert worden ist. Mit der „antifaschistischdemokratischen Umwälzung“ in der SBZ wurde bekanntlich eine bürokratisch organisierte „Revolution“ in Gang gesetzt, die auf den völligen Austausch aller Führungskräfte in Wirtschaft, Verwaltung, Politik, Schulen und Universitäten abzielte. Technisch wurde diese „Revolution“ vor allem durch die rigorose und zugleich pauschalierende Handhabung der Entnazifizierung ermöglicht.

Entscheidend gesichert wurde die verordnete „Revolution“ in der SBZ ökonomisch aber durch die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher, durch die die Grundlagen für eine auf der Basis des Volkseigentums organisierte sozialistische Wirtschaft gelegt wurden. Die einzige Menschengruppe, deren Behandlung in diesen Zusammenhängen gewisse Probleme aufwarf, war die der Juden. Der Respekt vor ihrem Schicksal konkurrierte mit der „revolutionären Notwendigkeit“, auch im Juden den Bourgeois, Kapitalisten und Gegner der sozialistischen Umgestaltung zu entlarven. Auf ökonomischem Gebiet sorgte die SED jedoch von Anfang an hier für Klarheit in 46

Julius Meyer, Auschwitz-Häftling, später Mitglied der Volkskammer der DDR, zweiter Nachkriegsvorsitzender der Berliner Jüdischen Gemeinde nach Hans-Erich Fabian, überzeugter Kommunist und streng orthodoxer Jude (Kohen) zugleich, befand sich in einem stark ausgeprägten Gegensatz zu Heinz Galinskis religiösem Liberalismus und politischem Antikommunismus. Vgl. OSTOW, S. 23 Anm. 5, und S. 29f. (Interview mit P. Kirchner, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde von Ost-Berlin seit Juni 1971). 47 Aus Leipzig floh Helmut Lohser, aus Dresden Leo Löwenkopf und aus Erfurt Günter Singer. Vgl. FRICKE, Warten, S. 88. 48 Vgl. OSTOW, S. 16. 49 ESCHWEGE, Bevölkerung, S. 96.

592 ihrem Sinn. Als der sächsische Landtagsabgeordnete Ralph Liebler im Juni 1947 den Antrag stellte, durch die Nationalsozialisten arisiertes jüdisches Eigentum an seine Besitzer zurückzugeben, sofern diese dazu überhaupt noch in der Lage waren, entsprechende Anträge zu stellen, wurde diese Initiative von der SED nicht zur Abstimmung zugelassen50. Damit korrigierte die SED übrigens auch eine Ankündigung der Sowjetischen Militäradministration vom Juli 1946, nach der den jüdischen Besitzern ihr Eigentum wiedergegeben werden sollte51. Endgültig wurden die nationalsozialistischen „Arisierungsgewinne“ dann allerdings erst 1953 in das sozialistische „Volkseigentum“ überführt, was nachweisbar eine weitere Abwanderung von Juden aus der DDR bewirkte52.

In diesem Zusammenhang muß schließlich auch daran erinnert werden, daß es die DDR bis in die endenden 80er Jahre strikt abgelehnt hat, Wiedergutmachungsleistungen in irgendeiner Form zu erbringen. Noch 1974 sah sich Peter Kirchner, der Vorsitzende der Ost-Berliner Jüdischen Gemeinde - im wahrsten Sinne des Wortes - genötigt, „klar einzuschätzen, daß nicht durch finanzielle Mittel an Dritte der Mord an den deutschen Juden ‚wiedergutgemacht’ werden kann. Im Mittelpunkt müssen die Vernichtung der faschistischen Ideologie und der aus ihr erwachsenen

50

Vgl. ESCHWEGE, Bevölkerung, S. 88. Vgl. New York Times 95, No 32310 vom 11.7.1946, S. 5: “Russians in Thuringia restore Property taken by Germans from Jewish Owners”. 52 Vgl. ESCHWEGE, Bevölkerung, S. 91. Ein besonderes Problem, das noch sorgfältiger Klärung bedarf, stellt der Besitz der Jüdischen Gemeinden auf dem Territorium der SBZ/DDR dar. In der Regel wurden die den Jüdischen Gemeinden gehörenden Immobilien und sonstigen Besitztümer den Gemeinden nur dann zurückgegeben, wenn sie der unmittelbaren Nutzung durch die Gemeinden dienen sollten. So wurde ein Teil der Synagogen zwar zurückgegeben, nicht aber die meisten Gemeindehäuser, Sozialeinrichtungen, Schulen und Anlageobjekte, die die Gemeinden besessen hatten. Inwieweit darüber hinaus Vermögenswerte, Kunstbesitz, Bibliotheksbestände u.a. prinzipiell für eine Rückgabe zur Verfügung standen, ist im einzelnen kaum bekannt. Für die Ost-Berliner Jüdische Gemeinde gab THOMPSON, Jews, S. 256, den Wert des verstaatlichten Besitzes 1978 mit 13 Millionen Mark an, was sicherlich zu niedrig eingeschätzt ist. Vgl. auch das Interview mit Peter Kirchner, dem Vorsitzenden der Ost-Berliner Jüdischen Gemeinde, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 44, Nr. 43 vom 27.10.1989, S. 1, der den Verlust für Ost-Berlin mit 11 Millionen Goldmark beziffert, zugleich aber auch erklärt: „Erhielte die Gemeinde aber jetzt diese Objekte (Elternheime [gemeint sind wohl: Altersheime], Schulen etc.) zurück, so könnte sie diese weder nutzen noch erhalten, aber auch nicht verkaufen, weil es ja nicht wie in einem westlichen Land potentielle [gemeint sind wohl: potente] private Käufer gibt.“ 51

593 antisemitischen Politik gesehen werden, und diese ist seit der Zerschlagung des Faschismus 1945 systematisch erfolgt“53.

In welchem Ausmaß die Gesamtentwicklung in der DDR der Stalin-Ära auf eine bewußte Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben angelegt war, läßt sich auch aus einem Vorgang vom 21. Febr. 1953 ablesen, der in einer offiziösen DDRDarstellung noch 1989 folgendermaßen beschrieben wurde: „Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes stellt ihre Tätigkeit ein, weil ihr Programm durch die Entwicklung der DDR erfüllt ist. Es wird das Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der DDR gebildet.“54 Damit wurde das „Gesetz zur Rechtsstellung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN-Gesetz) vom Anfang 1948 außer Kraft gesetzt, das noch keinerlei Unterschiede machte, was die Ursachen der Verfolgung anlangte. Jüdische Bürger als „Verfolgte des Naziregimes“ gehörten nun dem neugebildeten Verband nicht mehr an, wurden sie jetzt doch als „Opfer des Faschismus“ (OdF) eingestuft, womit auf die Passivität ihres Gegensatzes zum nationalsozialistischen Regime abgehoben wurde55.

Die SED-Führung lancierte damit eine geschichtsverfälschende Legende, die in der DDR kanonische Gültigkeit behielt. Untersuchungen, in denen der jüdische Widerstand gegen das Hitlerregime aufgearbeitet wurde56, wurden in der DDR unterdrückt und blieben, wenn sie außerhalb der DDR erschienen, unbeachtet. Eine im wesentli-

53

Vgl. „Gleichberechtigt und dem Fortschritt aufgeschlossen“. Gespräch Günter Wirths mit Dr. Peter Kirchner, in: Standpunkt 2, 1974, S. 47-49, hier S. 48f. Zur Position Kirchners vgl. auch das mit ihm geführte Interview bei Ostow, S. 27-41. 54 Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hg.): Unser Staat. DDR-Zeittafel 19491988, Ost-Berlin 1989, S. 45. Man beachte auch den Begriffswechsel von „Nationalsozialismus“ zu „Faschismus“. Zu den ideologischen Hintergründen dieser Sprachregelung vgl. u.a. D. EICHHOLTZ/K. GOSSWEILER (HG.): Faschismus-Forschung. Positionen - Probleme - Polemik, Ost-Berlin 1980, 2. Aufl.. 55 Bisher gibt es wohl noch keine substantiellen Untersuchungen über die Frage, inwieweit Zeugen Jehovas, Ernste Bibelforscher, Homosexuelle oder auch Zigeuner in der DDR als „Opfer des Faschismus“ eingestuft wurden. 56 Vgl. z.B. R. AINSZTEIN: Jewish Resistance in Nazi-Occupied Eastern Europe with a historical survey of the Jews as fighter and soldier in the Diaspora, London 1974, und I. KOWALSKI (ED.): Armed Jewish. Anthology on Resistance 1939-1945, 3 Bde. Brooklyn 1986. A. LUSTIGER: Schalom Libertad! Juden im spanischen Bürgerkrieg, Frankfurt/M. 1989, zeigt erstmals umfassend auf, welchen hohen Blutzoll die stalinschen Verfolgungen von den in die Sowjetunion emigrierten Spanienkämpfern forderten.

594 chen in der DDR entstandene Arbeit zu dieser Thematik konnte deswegen auch nur in der Bundesrepublik Deutschland einen Verlag finden57.

Mit dem Tod Stalins am 5. März 1953 endete die Epoche der offen antijüdischen Maßnahmen in der DDR, keineswegs aber innerhalb der kommunistischen Staaten Osteuropas. In der DDR entlud sich die krisenhafte Entwicklung in dem Volksaufstand des 17. Juni, der mit aktiver Unterstützung der sowjetischen Besatzungstruppen und des sowjetischen Geheimdienstes blutig niedergeschlagen wurde. Nach einer vergleichweise kurzen Phase des Terrors gegenüber den aufständischen Arbeitern und ihren Verbündeten, sah sich das DDR-Regime zu Zugeständnissen auf verschiedenen Gebieten gezwungen58. So kam es zu ökonomischen Korrekturen, einer Neuformulierung der Kirchenpolitk und auch zu Rehabilitationsmaßnahmen für verfolgte Juden, die zumindest in einzelnen Fällen wieder ihre früheren Positionen einnehmen konnten59.

Juden und Jüdische Gemeinden in der DDR bis in die späten 80er Jahre

In vielen Darstellungen wurde der Eindruck erweckt, daß mit dem „neuen Kurs“ nach dem Tod Stalins und dem Juni-Aufstand 1953 für die Juden der DDR eine langdauernde und stabile Phase der Normalität begonnen habe60. Dieses Urteil trifft nur sehr bedingt zu, berücksichtigt es doch nicht ausreichend die Schizophrenie, die das Verhältnis des DDR-Regimes zu seinen jüdischen Bürgern, zur jüdischen Kultur und zum internationalen Judentum kennzeichnete. Diese Einstellung kann vordergründig vor dem Hintergrund der Politik der DDR-Führung gegenüber dem Staat Israel ver57

H. KWIET/H. ESCHWEGE: Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933-1945, Hamburg 1984, vgl. weiter unter den Abschnitt: „Der Fall Helmut Eschwege“. 58 Vgl. u.a. K.W. FRICKE: Der Arbeiteraufstand. Zeitzeugen und Zeitdokumente zum 17. Juni 1953 = Schriftenreihe des DLF 32, Köln 1984. 59 Die offizielle Geschichtswissenschaft der DDR hat alle diese komplizierten und widersprüchlichen Entwicklungen nicht zu Kenntnis genommen, vgl. etwa R. BADSTÜBNER (HG.): Geschichte der Deut3 schen Demokratischen Republik, Ost-Berlin 1981 ( 1987). 60 So auch THOMPSON, Jews. Selbst ein kritischer Geist wie ESCHWEGE, Bevölkerung, S. 99, glaubte noch 1986 auf einer Tagung in Berlin (West) erklären zu müssen: „Die Juden der DDR fühlen sich heute als Bürger ihres Staates, der Chauvinismus und Rassenhetze unter Strafe gestellt und die einstigen Nazis entmachtet hat. Auch waren [...] in vielen führenden Funktionen des Staates, der Parteien, der Wissenschaft, Literatur wie aller Art Kultur einstige bewährte Antifaschisten und unter ihnen nicht wenige jüdischer Herkunft und das ist auch in der Gegenwart so.“

595 ständlich gemacht werden, deren wichtigste Entwicklungsstadien und Positionen hier zumindest überblickhaft skizziert werden sollen61. Im Hintergrund muß dabei allerdings auch die marxistische Auffassung stets mitbedacht werden, nach der jedes staatliche Handeln nur als Instrument des Klassenkampfes richtig verstanden und eingesetzt wird.

Der Staat Israel - die „imperialistische Speerspitze“ im Nahen Osten

Als die Voraussetzungen für die Ausrufung des Staates Israel durch die Resolution 181 (II) der UN-Vollversammlung vom 29. Nov. 1947 geschaffen wurden, geschah das mit den Stimmen der Sowjetunion, Weißrußlands, der Ukraine, Polens und der Tschechoslowakei. Die Sowjetunion hatte den Teilungsplan für das britische Mandatsgebiet Palästina zunächst getreu der antisemitisch-antizionistischen Politik Stalins abgelehnt. Kurz vor der Abstimmung kam es dann aber zum Gesinnungswechsel, weil sich die Sowjetunion eine bedeutende Stärkung ihrer Position im Nahen Osten, eine Schwächung Großbritanniens, eine Erschütterung der angloamerikanischen Beziehungen und eine enorme Aufbesserung ihres eigenen internationalen Ansehens ausrechnete, wenn sie den Teilungsplan unterstützen würde. Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel gegründet.

Die Gründung des jüdischen Staates wurde in der SBZ nicht nur von allen jüdischen Gemeinden begrüßt, sondern auch von den zentralen staatlichen Stellen der bald darauf gegründeten DDR: Die „staatlichen Regierungsämter wie alle damaligen Landesregierungen und die Vertreter der Sozialistischen Einheitspartei beglückwünschten hierzu die jüdischen Gemeinden.“ Das Zentralsekretariat der SED gab eine von Paul Merker eingeleitete Sonderinformation heraus, in der Gromykos Rede vor den UN vom Anfang 1948 abgedruckt wurde, in der der sowjetische Außenminister der Bildung des Staates Israel zustimmte, weil diese Staatsgründung den Wünschen des jüdischen Volkes entspreche. Wilhelm Pieck erklärte: „Die demokratischen Kräfte Deutschlands begrüßen den Beschluß der UN, Palästina in einen arabischen und 61

Vgl. dazu auch L. MERTENS: Staatlich propagierter Antizionismus: Das Israelbild der DDR, in: Jb. für Antisemitismusforschung 2, 1991, S. 139-153.

596 einen jüdischen Staat zu teilen. Wir betrachten die Schaffung eines jüdischen Staates als einen wesentlichen Beitrag, um Tausenden von Menschen, denen der Hitlerfaschismus die schwersten Leiden zufügte, den Aufbau eines neuen Lebens zu ermöglichen [...].“ Auch aus der Rede des sowjetischen Außenministers Molotows wurden die Kernsätze publiziert: „Ich teile hierdurch mit, daß die Regierung der UdSSR beschlossen hat, den Staat Israel und seine provisorische Regierung offiziell anzuerkennen. Die Sowjetregierung hofft, daß die vom jüdischen Volk vorgenommene Gründung seines souveränen Staates der Festigung des Friedens und der Sicherheit Palästinas und im Nahen Osten dienen wird, und spricht die Überzeugung aus, daß sich zwischen der UdSSR und dem Staat Israel freundschaftliche Beziehungen ersprießlich entwickeln werden.“62

Die Zustimmung der Jüdischen Gemeinden zur Gründung des Staates Israel manifestierte sich in Festsitzungen, an denen sich auch hochrangige Vertreter der SED, der Länderregierungen und der Stadtverwaltungen beteiligten. Zu bestimmten Anlässen zogen die Gemeinden seitdem vor ihren Büros die israelische Fahne auf. Das soll bis in das Jahr 1952 so geblieben sein. Am 15. Febr. 1948 beschloß der Vorstand der Dresdner Jüdischen Gemeinde, eines seiner Häuser zu verkaufen, um zusammen mit anderen Gemeinden ein Schiff für Israel bauen zu lassen. Im gleichen Jahr noch bot Ministerpräsident Otto Grotewohl dem Staat Israel Wiedergutmachung an, so daß es im April 1948 zu einem Treffen von israelischen und SBZRegierungsvertretern in München kam, dem eine weitere Zusammenkunft in OstBerlin gefolgt sein soll, bei dem Grotewohl offerierte, Schiffe bereitzustellen, mit denen Juden aus den westeuropäischen Flüchtlingslagern nach Israel gebracht werden könnten63.

Diesem ersten Frühling sollte allerdings rasch und übergangslos ein langandauernder Winter folgen.

62 63

Zitiert nach ESCHWEGE, Bevölkerung, S. 89f. Vgl. ebd., S. 90.

597 Die internationalen Entwicklungen spiegelten sich fortan auch in der innenpolitischen Situation in den sozialistischen Staaten wider, die in ihren Auswirkungen auf die Juden und die Jüdischen Gemeinden immer stärker von schizophrenen Elementen geprägt wurde64.

„Den Juden als Nation nichts, den Juden als Menschen alles“

Diese Schizophrenie in der offiziellen Einstellung gegenüber Juden und Judentum in der DDR wird am besten mit den Worten jener Forderung umschrieben, die der Graf von Clermont-Tonnèrre bereits 1789 in der Debatte der französischen Nationalversammlung über die Erklärung der Menschenrechte formuliert hatte65. Schon die liberalen Judenfreunde des endenden 18. Jh.s hatten die Emanzipation des Judentums ja unabdingbar mit deren Assimilation in religiöser und kultureller Hinsicht, mit der Selbstaufgabe des Judentums also, verbunden. Rund anderthalb Jahrhunderte später legte man in der DDR und den übrigen Ostblockstaaten den Juden zwar nicht mehr wie die Nationalsozialisten rassisch auf sein Judesein fest, sondern man definierte und konstatierte dieses über seine „jüdische Haltung“, die etwa in der Verbindung zu den jüdischen Gemeinden, in Kontakten zu internationalen jüdischen Organisationen und vor allem in seiner Einstellung gegenüber dem Staat Israel erkennbar werden konnte.

Bei dieser Behandlung der „Judenfrage“ - so der Titel der berühmten Abhandlung aus dem Jahr 1843 - spielte zumindest hintergründig die Position, die Karl Marx einst eingenommen hatte, immer noch eine gewisse Rolle. Clermont-Tonnèrres Auffassung von 1789 las sich bei Marx etwa so: „Welches ist der weltliche Grund des Ju64

Entgleisungen grob antisemitischer Machart wurden in der DDR, sobald sich Protest dagegen erhob, jeweils schnell revidiert. So veröffentlichte die „Berliner Zeitung“ im Dezember 1985 eine Karikatur, die den „israelischen Aggressor“ mit einer Hakennase à la „Stürmer“ zeigte. In der außenpolitischen DDR-Zeitschrift „Horizonte“ sollen Bilder zu sehen gewesen sein, „auf denen eine Parallele gezogen wurde zwischen einem Kind hinter KZ-Stacheldraht und einem arabischen Kind hinter israelischen Stacheldrahtzäunen“. In einem Märchenbuch wurde ein palästinensisches „Märchen“ abgedruckt, in dem der böse „Drache Zion“ ins Meer getrieben wird. Vgl. D. URBAN: Antisemitismus, in: Kirche im Sozialismus 12, 1986, S. 54f. 65 Vgl. M. GRAUPE: Die Entstehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden 1650-1942 (= Hamburger Beiträge zur Geschichte des deutschen Judentums 1), Hamburg 1969, S. 157 Anm. 106.

598 dentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld. Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unserer Zeit.“66

In welchem Ausmaß das antisemitische Reservoir marxistischer Provenienz seit etwa 1950 in der Sowjetunion und in der DDR dazu dienen mußte, dem nun zur Staatsdoktrin werdenden Antizionismus Schützenhilfe zu leisten, läßt sich anhand einer reichen Fülle einschlägiger Propagandaschriften zeigen. Es seien hier nur der auch international verbreitete Aufsatzband des sowjetischen Historikers Juri Iwanow „Caution: Zionism!“67 und das im Militärverlag der DDR publizierte Buch von Arne Jörgensen „Israel intern“68 genannt. Gemeinsam ist diesen Veröffentlichungen, von denen vielfache Varianten produziert wurden69, die durchgängige Behauptung einer imperialistisch-zionistischen „Verschwörung“, deren Organisationszentrum der Staat Israel darstelle70.

Bei der Ausarbeitung dieser Polemik feierten viele der antisemitischen Stereotypen fröhliche Urständ, die ihren „klassischen“ Niederschlag einst in den von Antisemiten gefälschten „Protokollen der Weisen von Zion“ gefunden hatten. Diese von den Nationalsozialisten besonders intensiv verwerteten Dokumente des Judenhasses wurden zwar weder in der Sowjetunion noch in der DDR jemals expressis verbis veröffentlicht, aber „die Diffamierung des Zionismus, wie sie unter Stalin in allen kommunistischen Staaten eingesetzt hat, erinnert nicht nur dem Wortlaut nach erstaunlich an die Erfindungen der ‚Protokolle der Weisen von Zion’ - allerdings mit der Verschiebung, 66

Karl Marx' Abhandlung „Zur Judenfrage“ in MEGA 1 Abt., Bd. 2, Ost-Berlin 1982, S. 141-169; diese ist bequem auch in dem Auswahlband K. MARX: Die Frühschriften, hg. von S. Landshut, Stuttgart 1953, S. 171-207, erreichbar. 67 Y. IVANOV: Caution: Zionism! Essays on the Ideology, Organisation and Practice of Zionism, Moskau 1970. Noch schlimmer ist das Buch von L. KORNEJEW: Feinde des Friedens und des Fortschritts, Moskau 1978, in dem die Zahl der in der Shoah ums Leben gekommenen Juden bezweifelt, der Zionismus als Gehilfe Hitlers und Hitler als Gründer des Staates Israel bezeichnet wurde. 68 A. JÖRGENSEN: Israel Intern. Ereignisse - Tatsachen - Zusammenhänge, Ost-Berlin 1984. 69 Eine geschickt aufgemachte antizionistische Propagandaschrift, „nicht zuletzt auch im Hinblick auf das Ringen des palästinensischen Volkes um sein Recht auf Heimat und nationale Selbstbestimmung“ (Klappentext), verbirgt sich z.B. auch hinter dem harmlos klingenden Titel K. POLKEHN: Palästina. Reisen im 18. und 19. Jahrhundert, Ost-Berlin 1986. 70 Vgl. L. MERTENS: Staatlich propagierter Antizionismus: Das Israelbild der DDR, in: Jb. f. Antisemitismusforschung 2, 1992, S. 139-153.

599 daß nunmehr Israel und die zionistische Weltorganisation zu Werkzeugen des Weltkapitalismus zwecks Vernichtung des sowjetischen Vaterlands und der von ihm getragenen proletarischen Weltrevolution geworden sind“71. Man hat deshalb auch zutreffend von einer „Stalinisierung“ der „Protokolle“ in den Staaten Osteuropas gesprochen72. Unterstützt wurde diese permanente Verleumdungskampagne immer wieder auch durch Autobiographien und Reiseberichte aus Israel, durch die der staatlich verordnete Antizionismus auch emotional abgestützt werden sollte. Dem Vorwurf des Antisemitismus versuchte man dabei dadurch zu entgehen, daß man zumeist jüdische Autoren bemühte, die dann auch über „progressive“, also „gute“ Juden zu berichten wußten73.

Staatlich gelenkte Manipulation Der gegen Israel gerichtete radauhafte Antizionismus stellt allerdings nur den außenpolitischen Aspekt jener innenpolitischen Unterdrückungsmaßnahmen dar, mit denen das DDR-Regime den Juden als „Nation“, als Gemeinschaft also, permanent Rechte verkürzte oder überhaupt verweigerte. Insbesondere behielten sich die Behörden eine strikte Kontrolle aller Öffentlichkeitsarbeit der Jüdischen Gemeinden vor.

So konnte das „Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde von Groß-Berlin und des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik“74 bis zuletzt nicht im Abonnement von jedermann bezogen werden, sondern stand auf staatliche Anordnung hin nur den Mitgliedern der Gemeinden und deren ausgewählten Freunden zur Verfügung. Sein äußeres Erscheinungsbild blieb immer von der allerdürftigsten Art. Der Umfang, lange Zeit auf 28 Seiten festgelegt, konnte erst in den letzten Jahren auf 36 Seiten gesteigert werden. Von Anfang an wertvoll waren im „Nachrichtenblatt“ die mancherlei Beiträge zur Geschichte der Jüdischen Gemeinden

71

E. v. SCHENCK: Die politisch-ideologisch motivierte Judenfeindschaft, in: K. Thieme (Hg.), Judenfeindschaft. Darstellung und Analysen, Frankfurt/M. 1963, S. 126-179, bes. S. 174. Vgl. A. PFAHL-TRAUGHEBER: Die Verbreitung der „Protokolle der Weisen von Zion“ nach 1945 Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte einer antisemitischen Fälschung, in: Judaica 46, 1990, S. 32-41, bes. S. 35ff. 73 4 Vgl. aus den letzten Jahren z.B. W. KAUFMANN: Reisen ins Gelobte Land, Leipzig 1980 ( 1988); R. LUBITSCH: Ich kam nach Palästina. Geschichten meines Lebens, Ost-Berlin 1988. 74 Ab Juni 1977 „Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinde von Berlin etc.“ und März 1982 „Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik“. 72

600 auf dem Territorium der DDR, über bedeutende jüdische Persönlichkeiten oder zum Verständnis der religiösen Feste und Bräuche. In den letzten Jahren der DDR durfte die Redaktion dann allerdings auch in zunehmendem Maß Berichte über die Arbeit internationaler jüdischer Verbände und Gremien veröffentlichen. Peinlich wirkte in diesem äußerlich immer mehr als schlicht aufgemachten Mitteilungsblatt die über Jahrzehnte hin festgehaltene Praxis, in der Rubrik der Nachrichten aus den einzelnen Gemeinden alle jene Ergebenheitsadressen im immer gleichen Wortlaut vollständig abzudrucken, in denen die jüdischen Funktionäre der SED- und Staatsführung uneingeschränkte Dankbarkeit und Unterstützung zusagten. In welchem Ausmaß das „Nachrichtenblatt“ von direkten Weisungen der DDR-Organe abhängig war, läßt sich auch am „Fall Gollomb“ illustrieren.

Der „Fall Gollomb“

Eugen Gollomb, der 1967 zum Vorsitzenden der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig gewählt wurde, an deren Spitze er bis zu seinem unerwarteten Tod am 10. Januar 1988 stand, wurde 1917 in Breslau in einer orthodox-jüdischen Familie geboren und besuchte in seiner Jugendzeit zwei Jahre lang das berühmte JüdischTheologische Seminar Fraenckelscher Stiftung in seiner Heimatstadt. Bei Kriegsbeginn kämpfte er auf polnischer Seite gegen die Okkupanten, geriet in Kriegsgefangenschaft, kam zunächst in ein Arbeitslager und dann 1943 nach Auschwitz-Birkenau in das Häftlingskommando des Krematoriums. 1944 gelang ihm als einem von ganz wenigen die Flucht aus Auschwitz. Sofort schloß sich Eugen Gollomb den Partisanen an, wurde Anfang 1945 in die polnische Volksarmee aufgenommen und mit hohen militärischen und anderen Auszeichnungen geehrt. Nach dem Krieg ließ er, der Frau und Kind sowie die meisten Familienangehörigen in der Schoah verloren hatte, sich in Leipzig nieder, wo er ein zweites Mal heiratete. Die Predigten, die dieser kleinwüchsige schwächliche Mann hielt, sind allen denen, die sie hören durften, unvergeßlich geblieben. Ebenso unvergessen sind Gollombs Verdienste um die christlichjüdische Verständigung in der DDR, zu deren Pionieren er gehörte75.

75

Vgl. den Nachruf im Nachrichtenblatt Juni 1988, S. 27.

601 Eugen Gollomb war ein aufrechter und mutiger Mann, der in den Jahren der Verfolgung gelernt hatte, Widerstand zu leisten. Als er Anfang der 80er Jahre seine Proteste gegen die immer schamlosere antiisraelische Propaganda in der DDR auch öffentlich vorzutragen begann, wurde der „verdiente Kämpfer gegen den Faschismus“, Auschwitzhäftling und hochdekorierte Offizier der polnischen Volksarmee von den Funktionären zusammen mit seiner Leipziger Gemeinde aus dem Bewußtsein der Öffentlichkeit gelöscht76. Seit dem Dezember 1982 erschienen im „Nachrichtenblatt“ keinerlei Meldungen aus oder über die Israelitische Religionsgemeinde zu Leipzig mehr. In der Liste „Unsere Jubilare“ und der Liste der Verstorbenen durfte keines Leipziger Gemeindegliedes mehr gedacht werden. Selbst die Grußadresse des DDRStaatsratsvorsitzenden Honecker zu Gollombs 70. Geburtstag 1987 wurde nicht gedruckt. In ihr hatte es u.a. geheißen: „In den nun schon zwei Jahrzehnten Ihres Wirkens als Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig setzen Sie sich mit hohem Engagement für die Erhaltung des Friedens und die Verhinderung eines atomaren Infernos, für die humanistischen Ziele unserer sozialistischen Gesellschaft ein.“77 Dieser Bann wurde erst nach dem Tode Gollombs aufgehoben, den das „Nachrichtenblatt“ zwei Monate danach zunächst mit einer achtzeiligen Notiz meldete78. In dem Nachruf auf den „teuren Verstorbenen“, der dann mit halbjähriger Verspätung im „Nachrichtenblatt“ erschien, wird mit keinem einzigen Wort auf die Pressionen hingewiesen, von denen die letzten Lebensjahre dieses bedeutenden Vertreters des DDR-Judentums verdunkelt worden waren79. Seit der Märzausgabe 1988 -

76

Das Nachrichtenblatt Juni 1982, S. 18f., veröffentlichte immerhin noch die offiziellen Glückwunschschreiben zu Gollombs 65. Geburtstag. In der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung 45, 1990, Nr. 26 vom 28.6.199O, S. 3, hat H. Eschwege enthüllt, daß das Antifaschistische Komitee der DDR noch Ende 1987 Eugen Gollombs Rehabilitierung mit der lästerlichen Behauptung ablehnte, Gollomb fehlten „einige Monate im Widerstand“, so daß er nicht als „Kämpfer gegen den Faschismus“ anerkannt werden könne. 77 Vgl. die ADN-Meldung in der „Neuen Zeit“ vom 19.1.1987. Bereits am 17. Januar hatte die „Neue Zeit“ einen kurzen Eigenbericht zu Gollombs 70. Geburtstag gebracht. - Die hier geschilderten Umstände erhärten den Eindruck, daß im „Fall Gollomb“ neben politischen Komponenten auch persönliche Animositäten in den jüdischen Gemeinschaft der DDR eine Rolle gespielt haben. 78 Nachrichtenblatt März 1988, S. 36: „In memoriam Eugen Gollomb. Am 10. Januar 1988 verstarb plötzlich und unerwartet, kurz vor seinem 71. Geburtstag, unser langjähriger Vorsitzender, VdN-Kamerad Eugen Gollomb. Mit ihm verlieren wir einen aufrichtigen, pflichtbewußten Juden, der, trotz seiner schweren Leiden, stets für die Interessen der Leipziger Gemeinde und des gesamten Judentums eingetreten ist.“ 79 Vgl. Nachrichtenblatt Juni 1988, S. 27. Über die Beisetzung Gollombs wurde in einer ADN-Meldung berichtet, die das „Neue Deutschland“ und die „Berliner Zeitung“ vom 19.1.1988 jeweils auf S. 2 druck-

602 der ersten, die nach Eugen Gollombs Tod herauskam! - durfte es denn auch die Leipziger Israelitische Religionsgemeinde wieder für das „Nachrichtenblatt“ geben. Daß das Gebot, Eugen Gollomb in der Öffentlichkeit totzuschweigen, ein umfassendes gewesen war, wird aber auch noch an anderer Stelle in peinlichster Weise bezeugt. Noch Anfang 1989 erschien eine großformatige und reichillustrierte Dokumentation „Juden in Leipzig“ in der Messestadt, auf deren knapp 240 Seiten der Name des jüngst verstorbenen Vorsitzenden, der der Leipziger Gemeinde fast ein Vierteljahrhundert vorgestanden hatte, an keiner einzigen Stelle genannt wird, als habe es Eugen Gollomb niemals gegeben80!

Der Fall „Helmut Eschwege“

Das Schicksal Eugen Gollombs ist keineswegs ein Einzelfall gewesen. Ähnliches widerfuhr z.B. auch dem 1913 in Hamburg geborenen jüdischen Historiker Helmut Eschwege, der 1936 über Dänemark, Estland und Lettland nach Palästina emigriert war. Unmittelbar nach Kriegsende kehrte er als einer der ersten Rückwanderer von Palästina nach Deutschland zurück und begann sofort bei der SED-Kreisleitung Dresden als Mitarbeiter für Literatur zu wirken. Unter dem Eindruck des SlanskyProzesses und der damit anlaufenden „antisemitischen Ära“ beschloß der Nichtakademiker Eschwege: „Ich werde schreiben, jüdische Geschichte genau studieren, ihnen zeigen, was die Nazis getan haben, und sie werden sehen, daß es genau dasselbe ist.“81 In der Folgezeit stellte Eschwege seine inzwischen klassisch gewordene Dokumentation „Kennzeichen J“ zusammen, die nur erscheinen durfte, weil sich u.a. Arnold Zweig für sie eingesetzt hatte und marxistische Historiker dem Werk den ideoten. Die „Neue Zeit“ vom gleichen Tag meldete zusätzlich die Teilnahme eines Mitgliedes des CDUHauptvorstandes an der Trauerfeier. 80 Vgl. Juden in Leipzig; die von M. Unger und H. Lang bearbeitete Dokumentation erschien in einer Auflage von 10.000 Stück erst nach Beendigung der Ausstellung 1989 (vgl. die DruckgenehmigungsNummer). H. Istor, der die Dokumentation in der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung 45, Nr. 15 vom 12. April 1990, S. 9, angezeigt hat, ist überhaupt nicht aufgegangen, in welch unverschämter Weise hier jüdische Geschichte manipuliert worden ist. Vgl. auch den Bericht „Gedenken an die Verfolgten und Ermordeten bewahren. Kranzniederlegungen und Ansprachen in den Gemeinden der DDR“, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 44, Nr.47 vom 24.12.1989, S. 11, wo über die Präsentation der Dokumentation berichtet wird, bei der offensichtlich von keiner Seite angemerkt wurde, welche Spuren der DDR-Vergangenheit hier festgehalten worden sind. 81 Zitiert nach H. ESCHWEGE: Die Unorthodoxe Sicht der jüdischen Geschichte in der DDR, in: Ostow, S. 167-188, bes. S. 183.

603 logisch korrekten Rahmen aufpfropften82. Ein zweites Manuskript zur gleichen Thematik konnte bis heute nicht erscheinen83. Das inzwischen auch international vielbeachtete Buch über „Die Synagoge in der deutschen Geschichte“ lag schon zwölf Jahre beim Verlag und mußte inhaltlich verändert werden, bevor es 1980 endlich gedruckt wurde84. Eschweges Standardwerk über den Widerstand deutscher Juden gegen das nationalsozialistische Gewaltregime, den es für die SED-Historiker niemals gegeben hat, durfte weder in der DDR noch im kommunistisch lancierten Röderberg-Verlag in Frankfurt/M. publiziert werden und erschien 1984 schließlich bei Christians in Hamburg85. Jahrelang arbeitete der Dresdner Historiker an einer „Geschichte der Juden auf dem Gebiet der DDR“. An eine Veröffentlichung konnte bis zur Abdankung des DDR-Regimes jedoch nicht gedacht werden. Erst in jüngster Zeit hat Eschwege auch öffentlich darüber berichtet, in welchem Ausmaß er ab 1956 vom Staatssicherheitsdienst der DDR „betreut“ und „beraten“ wurde86. Nach mehreren Parteiverfahren wurde Helmut Eschwege schließlich aus der SED ausgeschlossen. Erst im Juni 1990 wurde er durch eine Schiedskommission der PDS, der Nachfolgeorganisation der SED, „rehabilitiert“87. Es paßt in dieses trostlose Bild einer bösartigen und konsequenten Judenverfolgung dann auch durchaus hinein, daß das „Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinden in der DDR“ zumindest in den letzten 15 Jahren keinen thematischen Beitrag von Eschwege publizieren konnte oder wollte88. 82

Vgl. H. ESCHWEGE HG.): Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden 1933-1945. Mit einem Geleitwort von Arnold Zweig, einer Einleitung von Rudi Goguel und einer Chronik der faschistischen Judenverfolgungen von Klaus Drobisch, Ost-Berlin 1966. 83 Vgl. ESCHWEGE, Sicht, S. 183. 84 Vgl. H. ESCHWEGE: Die Synagoge in der deutschen Geschichte. Eine Dokumentation, Dresden 1980. In der Rezension des Nachrichtenblatts Dez. 1980, S. 26, die der Berliner Vorsitzende Kirchner verfaßt hat, heißt es abschließend: „Dieses langvorbereitete und langerwartete Buch zu einem bei uns publizistisch bisher nur wenig beachteten Themenbereich erschien leider in einer viel zu kleinen Auflagenhöhe, die keinesfalls dem großen Bedürfnis nach einem solchen Band auch nur annähernd entsprechen kann.“ 85 Vgl. Kwiet/Eschwege, Selbstbehauptung. - Wenn ich richtig sehe, wurde der zuletzt genannte Titel nicht im „Nachrichtenblatt“ besprochen. 86 Vgl. H. ESCHWEGE: Unheimliche Begegnungen der diskriminierenden Art. In der Vergangenheit wurden viele Bürger der DDR durch die Staatssicherheit verfolgt: Historiker Eschwege berichtet von persönlichen Erfahrungen, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 45, Nr. 17 vom 26.4. 1990, S. 11, und DERS.: Mit bewußtem Schweigen deckte die SED ihre Verbrechen zu. Vielen Juden wurde in der DDR die Anerkennung als „Opfer des Faschismus“ vorenthalten, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 45, Nr. 26 vom 28.6.1990, S. 3. 87 Vgl. FAZ Nr. 145, 26.6.1990. S. 4: „PDS rehabilitiert wieder Opfer des Stalinismus“. 88 Der letzte Beitrag erschien unter dem Titel „Jizchok Leib Perez zum 125. Geburtstag“ im Nachrichtenblatt März 1976, S. 4-6.

604 Immerhin meldete es aber in einer achtzeiligen Meldung aus der Dresdner Gemeinde, daß Helmut Eschwege zusammen mit dem Leipziger Pfarrer Siegfried Theodor Arndt 1984 die Buber-Rosenzweig-Medaille des Deutschen Koordinierungsrates für christlich-jüdische Zusammenarbeit verliehen wurde89. Folgerichtig beschrieb Helmut Eschwege, der kurz nach dem Ende der SED-Diktatur starb, sein Leben im Realsozialismus der DDR dann auch unter dem Titel „Fremd unter meinesgleichen“90.

Die falsche Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde von Halle

Am 9. Nov. 1988 erschien in der Liberal-Demokratischen Zeitung (LDZ) ein Beitrag von Dr. Michael Pantenius zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde, der mit den pathetischen Worten schloß: „’Erinnern heißt leben.’ Wir haben dieses jüdische Sprichwort angenommen. Wir sind zutiefst durchdrungen von dem Wissen: Unsere Gesellschaft hat Platz für jeden Bürger - gleich welcher Weltanschauung oder Konfession der bereit ist, an der Verwirklichung ihrer humanistischen Ideale mitzuarbeiten. Gleichgeachtet. Gleichberechtigt. Gleichverpflichtet seiner Heimat, unserem Land des Friedens.“91 Offensichtlich galten diese alles umarmenden Willenserklärungen auch für Karin Mylius, geb. Loebel, die „unter noch zu klärenden, gegenwärtig abenteuerlich anmutenden Umständen als Konvertitin zum Judentum übergetreten“ war und 1968 den Vorsitz in der Jüdischen Gemeinde in Halle erlangte92: „Diesen nahm sie, als Gemeindevorsitzende gleichzeitig Mitglied des Beirates des Verbandes der

89

Vgl. Nachrichtenblatt Juni 1984, S. 15. Im März 1979 notierte das „Nachrichtenblatt“ allerdings, versteckt in den Meldungen aus der Berliner Gemeinde, einen Vortrag Eschweges vom 13. Jan. über „Synagogen in Deutschland“ (S. 25). Im Nachrichtenblatt Juni 1990, S. 27, konnte dann endlich gemeldet werden, daß Eschwege am 19. Febr. 1990 aus der Hand des Rektors der Dresdner Technischen Universität den Preis dieser Forschungsstätte entgegennehmen konnte, für den er schon 1982(!) vom Direktor der Sektion Philosophie und Kulturwissenschaften, Prof. Sonnemann, vorgeschlagen worden war. 90 H. ESCHWEGE: Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991. 91 M. PANTENIUS: „Erinnern heißt leben“ Zur Geschichte der Juden und der Jüdischen Gemeinde in Halle (Saale), in: LDZ, 9.11.1988, S. 3. Der Artikel verwertete vor allem einen Vortrag von Dr. Paul Aring „Zur Geschichte der Jüdischen Gemeinde in Halle an der Saale“, den dieser beim Kirchentag 1988 in Halle gehalten hatte. Manuskript im Archiv des Verf.s. 92 H.M. BRODER: Erbarmen mit den Deutschen, Hamburg 1993, S. 47ff. behandelt den im folgenden geschilderten Fall im Kapitel „Die Republik der Simulanten“ und meint, er gehöre „mit goldenen Lettern in das große Simulanten-Buch der DDR eingeschrieben“ (S. 49).

605 Jüdischen Gemeinden in der DDR, 18 Jahre bis kurz vor ihrem Tod, 1986 wahr.“93 In der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kreise der Nationalen Front und bei anderen Gelegenheit fiel Karin Mylius, deren Mann als SED-Genosse marxistische Philosophie an der Karl-Marx-Universität in Leipzig lehrte, einerseits stets durch ein besonders linientreues Verhalten im Sinne des SED-Regimes und andererseits durch ihre aufdringlich hervorgekehrte Jüdischkeit auf. Der Sohn des Ehepaars Mylius, Frank, wurde zum „jüdischen Wunderknaben“ emporstilisiert, den man gelegentlich auch im Fernsehen der DDR bewundern durfte. Im Oktober 1981 wurde Frank Mylius dann am hochberühmten Rabbiner-Seminar in Budapest immatrikuliert, worüber gleichfalls ausführlich in den Medien der DDR berichtet wurde. Der hoffnungsvolle junge Mann, der sich als erster DDR-Bürger in Budapest auf eine Rabbiner-Karriere vorbereitete, benutzte seinen Studienaufenthalt in Budapest allerdings vorwiegend dazu, die ungemein wertvolle Bibliothek des jüdischen Lehranstalt zu berauben. Nachdem ihm die ungarischen Behörden auf die Schliche gekommen waren, wurde er kurzzeitig inhaftiert und dann an die DDR-Organe überstellt, die ihm zusätzlich beträchtliche Devisenvergehen, den Verkauf gestohlenen Silbers im Wert von 120.000 Mark der DDR und die Beteiligung am Diebstahl einer seltenen Talmudausgabe aus dem 17. Jh. anlasteten94. Nach bisher noch nicht sicher bestätigten Berichten betätigte sich Frank Mylius späterhin als Brandstifter in der elterlichen Wohnung, was die DDRMedien über antisemitische Exzesse orakeln ließ.

Bereits seit 1969 gab es Gerüchte, daß der familiäre Hintergrund der Gemeindevorsitzenden ein äußerst problematischer sei. Ihre Behauptung, sie sei das Kind jüdischer Eltern namens Morgenstern und nur das Pflegekind der Loebels, fand von Anfang an so wenig Glauben, daß die Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden von Berlin, Leipzig und Magdeburg sowie Rabbiner Ödon Singer/Budapest gegen die Ernennung von Karin Mylius zur Gemeindevorsitzenden protestierten. 1982 machten Assistenten der Sektion Theologie der Martin-Luther-Universität in Halle Helmut Eschwege darauf aufmerksam, daß Paul Loebel, der „Pflegevater“ von Karin Mylius, von 1937 93

G. HELBIG: Die Entwicklung der Jüdischen Gemeinde zu Halle von 1962 bis zur Gegenwart, in: Jüdische Gemeinde zu Halle (Hg.), 300 Jahre Juden in Halle. Leben - Leistung - Leiden - Lohn, Halle 1992, S. 287-291, bes. S. 288f. 94 Vgl. V. DIETZEL: Staat deckte dunkle Machenschaften. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Halle in den Zeiten der DDR, in: Mitteldeutsche Zeitung, 4.3.1992, S. 18.

606 bis 1947 Polizist in Halle gewesen war. Der Ordnungshüter, der in den 70er Jahren seine letzte Ruhestätte in der Ehrengrabreihe des „Guten Orts“ in Halle fand95, war während des Krieges zeitweilig Einsatzgruppenmitglied in der Sowjetunion gewesen und hatte 1947 als Hausmeister der Jüdischen Gemeinde in Halle Unterschlupf gefunden. Alle Versuche Eschweges, die jüdischen Verbandsfunktionäre in der DDR davon zu überzeugen, daß Frau Mylius schnellstens abgelöst werden müßte, blieben zunächst erfolglos: Erst „Anfang 1987 war Frau Mylius von [Helmut] Aris [dem Vorsitzenden des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR] nicht mehr zu halten, Sie wurde abgesetzt und die Gemeinderäume versiegelt. Mitte des Jahres 1987 [richtig: Dezember 1986] starb sie. Kurz zuvor hatte sie aus den versiegelten Räumen alles Verwertbare herausgebracht. Die Kasse war leer, die Korrespondenz zum Teil vernichtet, die Kassenbücher waren verschwunden und auch Teile des hier lagernden Archivs vernichtet. Selbst die Möbel der Gemeinde waren zum Teil verschwunden.“96

Selbstverständlich lassen sich alle diese Vorgänge, die die kleine Jüdische Gemeinde in Halle fast zum Erlöschen brachten, verhältnismäßig einfach in den Bereich des Psychopathologischen abschieben97. Karin Mylius glaubte tatsächlich an den Identitätsaustausch, den sie sich verordnet hatte, und ihr Größenwahn war ganz gewiß auch von psychiatrischer Relevanz. Zum politischen Fall wird diese tragische Groteske einer „Hochstaplerin und Lügnerin“ (E. Gollomb), die am 13. Dez. 1986 einen entsetzlichen Krebstod starb, durch die hemmungs- und gewissenlose Instrumentalisierung, die die SED-Machthaber hier betrieben. Sie benutzten die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, so lange diese noch zu halten war, als Speerspitze gegen jüdische Verbandsfunktionäre, wie Eugen Gollomb in Leipzig und Dr. Peter Kirchner in Ost-Berlin, die sich gegenüber den Weisungen der „Organe“ renitent verhielten, und als Paradebeispiel einer fortschrittlichen jüdischen Persönlichkeit, die uneingeschränkt die Ziele der SED-Herrschaft bejahte: „In Schmerz, Einsamkeit und die angenommene Identität aufrechterhaltendem Leid fand Karin Mylius ihr Ende als 95

Eugen Gollomb schrieb dazu am 28.11.1985 an die Verbandsleitung: „Wir möchten darauf hinweisen, daß wir auf dem jüdischen Friedhof in Halle ein eigenes Bitburg haben.“ Vgl. DIETZEL, Staat deckte dunkle Machenschaften. 96 Vgl. ESCHWEGE, Fremd unter meinesgleichen, S. 162ff. 97 Vgl. HELBIG, Entwicklung, S. 288f.

607 eine Statistin im antifaschistischen Heldendrama sich selbst belügender Machthaber, die in ihren Köpfen ein ritualisiertes Wunschbild der Vergangenheit illuminiert hatten, und in dem Karin Mylius als eine Vollstreckerin umgelogener Vergangenheit ihre Erfahrung und Willfährigkeit dankbar einbrachte.“98

Verweigerung öffentlicher Wirksamkeit

Die Einschränkungen, denen das „Nachrichtenblatt der Jüdischen Gemeinden in der DDR“ unterworfen wurde, sowie die Pressionen, denen sich so hervorragende jüdische Persönlichkeiten wie Eugen Gollomb und Helmut Eschwege ausgesetzt sahen, sind hier vor allem deshalb eingehender geschildert worden, weil an ihnen erkennbar wird, in welchem Ausmaß die SED-Führung bereit war, auch vor moralisch bedenklichsten Mitteln nicht zurückzuschrecken, wenn es darum ging, den Juden als „Nation“ nichts zuzugestehen. Tatsächlich komplettiert wird dieses Bild allerdings erst dann, wenn folgende Tatsachen hinzugenommen werden, die hier als symptomatisch für die Innenpolitik der DDR gegenüber ihren jüdischen Bürgern nur summierend aufgelistet werden können:

a) Seit dem Tod Rabbiner Riesenburgers im April 1965 verfügten die Jüdischen Gemeinden in der DDR nicht mehr über einen ständigen Rabbiner. Von 1966-1969 durfte immerhin noch Rabbiner Dr. Ödon Singer/Budapest gastweise in der DDR amtieren und einen Lehrauftrag an der Leipziger Universität wahrnehmen. Erst im September 1987 wurde im Zuge der neuen Politik Honeckers gegenüber dem Judentum Rabbiner Isaac Neumann aus den USA als Ost-Berliner Rabbiner installiert, der sein Amt allerdings aus persönlichen Gründen bereits am 2. Mai 1988 wieder aufgab99.

98

DIETZEL, Staat deckt dunkle Machenschaften. Vgl. L. MERTENS: Schwindende Minorität. Das Judentum in der DDR, in: Arndt/Eschwege/Honigmann/Mertens, Juden in der DDR, S. 155-159. Der Beitrag ist weithin identisch mit L. MERTENS: Juden in der DDR. Eine schwindende Minorität, in: Deutschland Archiv 19, 1986, S. 1192-1203.

99

608 b) Bis 1989 gab es an den Universitäten und Hochschulen der DDR keine Seminare, Lehrstühle oder Dozenturen für Judaistik100. Damit fehlten alle Möglichkeiten zum Studium der jüdischen Theologie, der jüdischen Gesamtgeschichte unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte des deutschen Judentums und solcher Spezialdisziplinen wie Literatur, Musik oder Kunst des Judentums.

c) Erst seit der Wende in der Politik Honeckers gegenüber den Juden in der DDR im Jahr 1988 konnten sich deren Vertreter an internationalen Kongressen beteiligen, in internationalen jüdischen Vereinigungen mitarbeiten und gelegentlich auch Veranstaltungen in Israel besuchen101.

d) Bis zu Honeckers Wende gegenüber dem Judentum gab es für Juden in der DDR auch keinerlei Möglichkeit, sich politisch zu organisieren. Der einzige offiziell zugelassene jüdische Verband war der der jüdischen Religionsgemeinden, der unter der strikten Kontrolle der SED und des Staatssicherheitsdienstes arbeitete. Die Anmeldung und Durchsetzung sozialer, kultureller und religiöser Forderungen seitens jüdischer DDR-Bürger wurde damit weithin unmöglich gemacht.

e) Völlig unterbunden blieb auch jedes öffentliche Sichtbarmachen innerjüdischer Auseinandersetzungen, etwa über Fragen des Kultus oder der Gemeindeverfassung.

f) Die öffentliche Ankündigung spezifisch jüdischer Veranstaltungen, so z.B. der Konzerte des Leipziger Synagogenchores oder von Auftritten ausländischer jüdischer Künstler oder Wissenschaftler, wurde immer wieder scharfen Restriktionen unterworfen, so daß entweder nur ein ausgewählter Personenkreis oder sogar ausschließlich die Mitglieder der Jüdischen Gemeinden angesprochen werden konnten. Lediglich im Zusammenwirken mit kirchlichen Institutionen konnten diese Beschränkungen ab den 70er Jahren gelegentlich unterlaufen werden.

100

Erst 1989 erhielt Dr. sc. theol. Stefan Schreiner eine Dozentur für Altes Testament und Judaistik an der Sektion Theologie der Ost-Berliner Humboldt-Universität. Er lehrt inzwischen in Tübingen! Vgl. MERTENS, Minorität, S. 142-146.

101

609 g) Der Anteil jüdischer Menschen am Widerstand gegen den Nationalsozialismus durfte nicht erwähnt werden102. Auch in der Präsentation der antifaschistischen Gedenkstätten, z.B. auf dem Boden ehemaliger Konzentrationslager, erschienen Juden lediglich als die beklagenswerten Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung103. Die SED-Führung verwirklichte ihre innenpolitische Maxime, den „Juden als Nation“ in ihrem Machtbereich „nichts“ zu gewähren, tatsächlich in perfekter Weise. Neben der Anwendung zahlreicher Repressionsmaßnahmen kam ihr dabei zustatten, daß die Zahl der sich bewußt als Juden fühlenden DDR-Bürger nach 1953 immer geringer wurde. Später spielte dann auch die Überalterung der Jüdischen Gemeinden eine immer größere Rolle. Politisch durchsetzbar wurde diese Restriktionspolitik aber auch deshalb, weil es sowohl der Öffentlichkeit innerhalb als auch außerhalb der DDR weithin verborgen blieb, welchen politischen Leitlinien die Innenpolitik der DDRFührung hier folgte, zeigte sich doch die gleiche DDR-Führung in überzeugender Weise bereit, ihren jüdischen Bürgern „als Menschen alles“ zu geben104.

„Den Juden als Menschen alles...“

a) Persönliche Fürsorge

Schon unmittelbar nach dem Kriegsende bemühten sich die SMAD und die Behörden der SBZ darum, das individuelle Elend der jüdischen Menschen, die die Schoah überlebt hatten, auf ihrem Territorium zu beseitigen. Den „Verfolgten“ oder später „Opfern des Faschismus“ wurden bevorzugt Wohnungen und Arbeitsplätze beschafft. Später wurde ihnen eine monatliche Ehrenpension von 1.350 Mark zugesprochen, 102

Vgl. jetzt auch die mit persönlichen Erinnerungen angereicherte Studie von A. PAUCKER: Jüdischer Widerstand in Deutschland. Tatsachen und Problematik = Berlin Beiträge zum Widerstand 1933-1945. Heft 47, Berlin 1989 (Lit.). 103 Man vgl. nur die Beiläufigkeit, in der E. HONECKER: Aus meinem Leben, Ost-Berlin 1982, S. 130f., zu erkennen gibt, daß es sich bei den Mitgliedern der Widerstandsgruppe Herbert Baum um „vorwiegend junge jüdische Menschen“ handelte. 104 Eine eindrucksvolle und sorgfältig differenzierte Schilderung der in der DDR gezüchteten Schizophrenie im Verhalten gegenüber Juden und Judentum bis über den Zeitpunkt der „Wende“ vom November 1990 hinaus zeichnet R. HESSE: Die zweite Schuld der Linken. Juden und Antisemiten in der DDR, in: Trans-Atlantik, Heft 5, München 1990, S. 19-28.

610 womit sie reichlich das Dreifache einer üblichen DDR-Rente bekamen105. Das Rentenalter wurde für die „Opfer des Faschismus“ generell um fünf Jahre gesenkt. Daß anerkannte „Opfer des Faschismus“ bei der Vergabe von Kuren und Urlaubsplätzen in besonderer Weise berücksichtigt wurden, verstand sich fast von selbst106. Eine Rückerstattung der von den Nationalsozialisten geraubten und dem DDR-Regime verstaatlichten jüdischen Vermögenswerte fand allerdings nicht statt.

b) Fürsorge für die Jüdischen Gemeinden in der DDR

Der persönlichen Fürsorge für die einzelnen jüdischen Bürger korrespondierten die alles in allem umfangreichen materiellen Zuwendungen, die den Jüdischen Gemeinden regelmäßig zugestanden wurden. Keine einzige der Jüdischen Gemeinden in der DDR konnte ohne die planmäßig zugewiesenen Staatsmittel ihre vielfältigen Aufgaben bestreiten107. Aus Staatsmitteln wurden die Funktionäre und Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinden entlohnt. Der Staat finanzierte den Wiederaufbau und die Instandhaltung der Synagogen bzw. Gebetsräume in Ost-Berlin, Dresden, Leipzig, Erfurt, Karl-Marx-Stadt, Halle, Magdeburg und Schwerin108.

Fast unlösbare finanzielle und technische Probleme verursachten die insgesamt über 130 jüdischen Friedhöfe in der DDR109, von denen immerhin 43 unter Denkmalschutz 105

Zuletzt betrug die „Ehrenpension“ für „Kämpfer gegen den Faschismus“ 1.600 Mark, „Opfer“ erhielten 200 Mark weniger. Vgl. R. RIETZLER: Das rote Hexeneinmaleins. über den verordneten Antifaschismus in der DDR, in: SPIEGEL-Spezial: 162 Tage Deutsche Geschichte. Das halbe Jahr der gewaltlosen Revolution, Hamburg 1990, S. 136-143, bes. S. 140. Vgl. auch M. FASSLER: Versöhnung heißt Erinnerung, in: Kirche im Sozialismus 11, 1985, S. 103-111, bes. S. 105, wo „das Realeinkommen der Rentenempfänger auf monatlich etwa 2.000 Mark“ unter Einbeziehung geldwerter Leistungen, wie z.B. der freien Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, geschätzt wurde. 106 Offensichtlich ist der Bereich der individuellen sozialen Wiedergutmachung in der DDR bisher noch nicht systematisch aufgearbeitet worden. 107 Vgl. VEB Bibliographisches Institut (HG.): Handbuch Deutsche Demokratische Republik. Jubiläumsausgabe 1984, Leipzig 1984, S. 730, zu den jüdischen Gemeinden: „Den Finanzhaushalt der Gemeinden trägt der Staat.“ - Die geringfügigen Mitgliedsbeiträge, die von den jüdischen Gemeindegliedern gefordert werden, sollen nur von etwa 50% der Zensiten tatsächlich auch gezahlt werden, vgl. K.-J. HERRMANN: Political and social Dimensions of the Jewish Communities in the German Democratic Republic, in: Nationalities Papers 10, 1982, S. 41-54, bes. S. 46. 108 Vgl. dazu die erst nach der Wende erschienene, aber bereits vorher erarbeitete Dokumentation: Zeugnisse jüdischer Kultur. Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Berlin 1992. 109 Vgl. A. STILLER: Jüdisches Gemeindeleben in der DDR, in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 29, Nr. 24 vom 14.6.1974, S. 3.

611 standen110. Der Jüdische Friedhof in Berlin-Weißensee ist der größte jüdische Friedhof Europas überhaupt. Für ihn sollen jährlich 150.000 Mark zur Verfügung gestellt worden sein111, was eine sehr geringe Summe bedeuten würde angesichts der etwa 115.000 Gräber dieses "Guten Orts", von denen nur für 1.500 Pflegeverträge existieren112. Da für jede Jüdische Gemeinde die Unterhaltung des Friedhofs wichtiger ist als die einer Synagoge, mag man die hier niemals gelösten Probleme erahnen. Vor dem Krieg waren auf dem Weißenseer Friedhof insgesamt etwa 270 Mitarbeiter tätig, heute sind es noch knapp 15113. Mit staatlichen Mitteln wurden schließlich auch das Jüdische Altersheim114, die koschere Fleischerei115 und der wöchentlich aus Ungarn eingeflogene Schächter sowie die Jüdische Bibliothek in Ost-Berlin116 unterhalten. Die Jüdischen Gemeinden in der DDR außerhalb Ost-Berlins sollen mit jährlich 250.000 Mark subventioniert worden sein117. Diese Summe ist allerdings gewiß zu niedrig angegeben und erfaßt wahrscheinlich nur die Zuwendungen aus dem zentralen Staatshaushalt, nicht aber die Subventionen, die von den Bezirken und Städten zur Verfügung gestellt werden.

110

Vgl. A. DIAMANT: Jüdische Friedhöfe in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt/M. 1982, S. V. Vgl. Kirche im Sozialismus 10, 1984, Heft 6, S. 6. 112 Vgl. A. ETZOLD/J. FAIT/P. KIRCHNER/H. KNOBLOCH: Jüdische Friedhöfe in Berlin, Ost-Berlin 1987, S. 80f. - Die hohe Bedeutung der jüdischen Friedhöfe in historischer Sicht wurde in der DDR erst in den letzten Jahren erkannt und publizistisch herausgestellt, vgl. H. KNOBLOCH: Berliner Grab3 steine, Ost-Berlin 1987 ( 1989); J. RENNERT/D. RIEMANN: Der Gute Ort in Weißensee. Bilder vom Jüdischen Friedhof und eine Sammlung jüdischer Stimmen zu Vergehen und Werden, Bleiben und Sein, Ost-Berlin 1987. Zu notieren ist auch P. MELCHER: „Weißensee“. Ein Friedhof als Spiegelbild jüdischer Geschichte in Berlin, Berlin 1986. 113 Vgl. MERTENS, Minorität, S. 125-159, bes. S. 131. 114 Wilhelm-Wolf-Straße 30/38, Berlin-Niederschönhausen. 115 Eberswalder Straße 20, Berlin. Die Fleischerei ist mittwochs nur für Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zugänglich, ansonsten wird sie auch gerne von muslimischen Diplomaten und SiebentenTags-Adventisten frequentiert. 116 Diese befindet sich im Gebäude der Hauptverwaltung der Jüdischen Gemeinde, Oranienburger Straße 28, Berlin. 117 Vgl. C. GIRARDET: Juden in der DDR - eine aussterbende Minderheit?, in: Neue Züricher Zeitung 205, Nr. 220 vom 22.9. 1984, S. 42-44. 111

612 c) Fürsorge für Gedenkstätten des Judentums in der DDR

Bis in die letzten Jahre gab es in der DDR auch deutliche, um es sehr vorsichtig auszudrücken, Hemmungen, die Stätten, die in besonderer Weise mit dem Leben und der Geschichte des Judentums verbunden waren, als solche kenntlich zu machen. Alleine für Ost-Berlin ließe sich hier eine lange Liste aufstellen118. Unzerstört blieb z.B. das Gebäude der Knabenschule der Berliner Jüdischen Gemeinde, Große Hamburger Straße 27, in Berlin-Mitte, in dem nach dem Krieg eine Berufsschule für Industriekaufleute eingerichtet wurde. Diese Schule war einst unter dem Einfluß von Moses Mendelssohn und David Friedländer zum Ausgangspunkt der modernen jüdischen Schulen in Deutschland geworden. Die verwitterte Inschrift über dem Eingang „Knabenschule der Juedischen Gemeinde“ hatte sogar die Nazizeit überdauert. Die Behörden der Volksbildung in der DDR verliehen dieser Schule - in deren unmittelbarer Nachbarschaft sich der älteste jüdische Friedhof Berlins mit dem Grab des großen Aufklärers Moses Mendelssohn, die älteste Synagoge Berlins in der Heidereutergasse, das erste jüdische Krankenhaus in der Auguststraße119 und das erste jüdische Altersheim in der Großen Hamburger Straße 26, das ab 1942 als sogenanntes „Judenlager“ diente, von dem mehr als 56.000 Berliner Juden deportiert wurden, befinden - den Namen „Kommunale Berufsschule Prof. Dr. Richard Fuchs“. Der Berliner Schriftsteller Heinz Knobloch bemerkte hierzu 1979 in seinem glänzenden Buch über Mendelssohn in Berlin: „Ich frage laut und hörbar: Warum ist diese Schule nicht nach ihrem Gründer benannt worden? Vielleicht ist der frühkapitalistische Industriekaufmann Moses Mendelssohn kein Vorbild für sozialistische Industriekaufleute? ‚Eine Gedenktafel für Moses Mendelssohn ist in unserem Haus nicht vorhanden’ [so in einem Brief der Schulleitung von 1977 an den Autor], ein fürchterliches Armutszeugnis, dem der Nebensatz fehlt, sechs Millionen ermordete

118

Vgl. hierzu die ungemein instruktive Arbeit von N. GALLINER [unter Mitwirkung von E. Geisel u.a.]: Wegweiser durch das jüdische Berlin. Geschichte und Gegenwart, Berlin 1987. 119 Vgl. dazu jetzt R. SCHEER: AHAWAH. Das vergessene Haus. Spurensuche in der Berliner Auguststraße = Aufbau Taschenbuch 1008, Berlin 1993. Dieses Buch der Berliner Publizistin stellt nicht nur einen bemerkenswerten Beitrag zur Geschichte des Scheunenviertels dar, sondern illustriert auch eindrücklich die oft gespenstisch anmutenden Verdrängungsleistungen des DDR-Regimes gegenüber der jüdischen Vergangenheit.

613 Juden betreffend, von denen einige tausend hier zur Schule gegangen sind, in diesem Gebäude, in diesen Räumen.“120 Erst 1983 wurde Moses Mendelssohn an diesem Ort durch ein Porträtrelief und eine Gedenktafel angemessen geehrt121. Auf der Gedenktafel stehen jene Worte Mendelssohns, mit denen Heinz Knobloch 1979 sein Buch über den „Herrn Moses“ eröffnet hatte: „Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun.“122

Was andererseits aber auch möglich war, wenn es nur genügend Privatinitiative gab, zeigt das Schicksal des Synagogengebäudes in der Kleinstadt Gröbzig, 12 km südwestlich von Köthen gelegen, das die Nazizeit überdauerte, weil es schon 1931 in ein Heimatmuseum umgewandelt worden war. Bereits 1954 unternahm eine Arbeitsgruppe der Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund der DDR in Gröbzig erste Anstrengungen, um die Synagoge und den jüdischen Friedhof des Ortes, der einst wegen seines hohen jüdischen Bevölkerungsanteils als „Juhn-Jreebz'ch“ [= JudenGröbzig] bekannt war, wieder herzurichten. 1969 konnte der mustergültig restaurierte Synagogenbau endgültig der Öffentlichkeit als Stätte der Erinnerung zugänglich gemacht werden123. 1982 begann eine erneute großzügige Rekonstruktion, in die nun auch das jüdische Kantoren- und Schulhaus einbezogen wurden. Am 3. Nov. 1988 fand die Wiedereröffnung des mit UNESCO-Unterstützung umgestalteten Museumskomplexes statt124. Die Synagoge von Gröbzig, die wie die im Park von Wörlitz bei Dessau in Dehios „Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler“ in der DDR-Neu-

120

H. KNOBLOCH: Herr Moses in Berlin. Auf den Spuren eines Menschenfreundes, Ost-Berlin 1979 4 [ 1985], S. 340. 121 Vgl. GALLINER, S. 250. 122 Vgl. KNOBLOCH, S. 5 und 485; Nachrichtenblatt Juni 1983, S. 12f. - Vgl. jetzt auch MOSES MENDELSSOHN. Schriften über Religion und Aufklärung, hg. und eingeleitet von M. Thom (= Texte zur Philosophie- und Religionsgeschichte), Ost-Berlin 1989. 123 Vgl. E. HOBUSCH: Jugenderinnerungen, in: Nachrichtenblatt Juni 1979, S. 6-9; DERS.: Synagoge Gröbzig gerettet und bewahrt. 1984 anläßlich des 50jährigen Bestehens des Stadtmuseums Gröbzig erschienen (= Stadtmuseum Gröbzig. Museumsführer Teil 1 [= Jreebz'jer Allerlei Heft 2]), Gröbzig 1984. Vgl. auch P. MASER: Das „Dritte Reich“ überdauert. Vom wechselhaften Schicksal der Gröbziger Synagoge, in: Tribüne 24, 1985, S. 160-162; R. HAMMER: Entdeckungen im Alltag der DDR. Das verpflichtende Erbe für unser Heute und Morgen gut bewahren. Wie in Gröbzig ein einmaliges Denkmal gepflegt wird, in: Freiheit [Tageszeitung der SED für den Bezirk Halle] vom 15.11.1986, S. 3; J. LEITHÄUSER: Was die alten Zeichen sagen, wissen die Handwerker nicht. Zum Jahrestag der „Kristallnacht“ restauriert die DDR eine Synagoge auf dem Lande, in: FAZ Nr. 225 vom 27.9.1988, S. 6. 124 Vgl. Nachrichtenblatt März 1989, S. 33.

614 bearbeitung von 1967/76 als solche noch nicht kenntlich gemacht wurde125, durfte damit baulich als endgültig gesichert betrachtet werden. Was sich allerdings im Hintergrund dieser auch in der internationalen Öffentlichkeit positiv beachteten Entwicklung in negativer Hinsicht abspielte, wird hoffentlich bald von berufener Seite offengelegt werden.

d) Fürsorge für das jüdische Erbe

Über die tatsächliche Situation von Juden und Jüdischen Gemeinden in der DDR konnte es aber innerhalb und außerhalb der DDR auch deshalb immer wieder Illusionen geben, weil sich der staatlich gelenkte Kulturbetrieb der DDR die Pflege des jüdischen Erbes ganz offensichtlich angelegen sein ließ. Diese Feststellung bleibt allerdings nur dann richtig, wenn man genau erfaßt, von welcher Art das „Erbe“ war, das da so sorgsam gepflegt und popularisiert wurde. Immer ging es um jenes den Unkundigen exotisch-fremd anmutende Erbe des Ostjudentums, das dem DDRBürger als Produkt einer fiktiv-poetischen Welt erscheinen mußte, die nicht mehr existierte, wenn es sie denn je überhaupt gegeben hatte. Jeglicher Hinweis auf ein gegenwärtiges und konkretes Judentum hingegen hatte zu unterbleiben. Allenfalls als Opfer der Nazibarbarei durften Juden menschliche Anschaulichkeit gewinnen. Aber auch diese Menschen sahen DDR-Bürger ja zumeist als Erscheinungen aus einer anderen und untergegangenen Welt!

So erschienen zumindest seit den 60er Jahren die Werke der wichtigsten jiddischen Autoren Osteuropas in oft aufwendigen bibliophilen Ausgaben, deren Attraktivität häufig durch die Bilder des sowjetischen Künstlers Anatoli Lwowitsch Kaplan126 aus

125

Vgl. auch die Neubearbeitung G. DEHIO: Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler. Neubearbeitung. Der Bezirk Halle. Bearb. von der Abteilung Forschung des Instituts für Denkmalpflege, Ost-Berlin 1976, S. 147, wo überhaupt nur noch „Heimatmuseum“ ohne jede Erläuterung notiert wurde, und S. 518 zum „Vestatempel“ im Wörlitzer Park. 126 Anatoli Kaplan (geb. 1902), ab 1937 zunehmend Beschäftigung mit jüdischen Themen, zumeist Lithographien, erste Ausstellungen 1962 London und Dresden 1965. Vgl. LEXIKON der KUNST, Bd. 2, Leipzig 1971, S. 541, und G. HEIDER: Anatoli L. Kaplan. Keramik, Ost-Berlin 1977 (mit ausführlichen Hinweisen zu Biographie, Gesamtwerk und Publikationen).

615 der Welt des Ostjudentums weiter gesteigert wurde127. Zumindest in Auswahlausgaben und zumeist sorgfältig kommentiert wurden z.B. auch die „Kulturbilder“ aus „Halb-Asien“, gemeint ist Galizien, von Karl Emil Franzos128, herausgegeben129, dessen großer Roman „Der Pojaz“ bereits 1953 erstmals vorgelegt wurde.

Jiddische Volksmusik und synagogale Gesänge veröffentlichte nicht nur der VEB Deutsche Schallplatten unter seinem Label „Eterna“130. Dieses Angebot wurde gelegentlich auch durch Produktionen aus Polen131, der CSSR132 und auch aus Ungarn133 ergänzt. 127

Vgl. u.a. SCH. ALEJCHEM: Der Sohn des Kantors, Ost-Berlin 1965; DERS.: Tewje, der Milchmann. Mit Illustrationen von Anatoli Lwowitsch Kaplan, Dresden 1967; DERS.: Der behexte Schneider. Mit 26 Farblithographien von Anatoli L. Kaplan, Ost-Berlin 1969; I.L. PEREZ: Baal Schem als Ehestifter und andere Erzählungen. Illustriert von Anatoli L. Kaplan, Ost-Berlin 1969; I. MANGER: Das Buch vom Paradies, Ost-Berlin 1971; I.B. SINGER: Zlateh die Geiß und andere Geschichten. Zeichnungen von Maurice Sendak, Ost-Berlin 1971; H. HEINE: Der Rabbi von Bacharach. Ein Fragment. Mit elf Faksimiles nach Farblithographien von El Lissitzky zum „Chad Gadya“, Ost-Berlin 1978; M.M. SFORIM: Fischke der Lahme. Bettlerroman mit 26 Lithographien von Anatoli Kaplan, Leipzig 1978; I.L. PEREZ/SCH. ALEJCHEM: Ein Zwiegespräch. Erzählungen (= Sammlung Dietrich 398), Leipzig 1981; SCH. ALEJCHEM: Schir-ha-Schirim. Lied der Lieder. Roman einer Jugend. Sieben Reproduktionen nach Farblithographien von Anatoli Lwowitsch Kaplan, Ost-Berlin 1981; OSTJÜDISCHE LEGENDEN. Aus dem Jiddischen übertragen von A. Eliasberg. Mit 52 Bildern von Anatoli L. Kaplan, LeipzigWeimar 1983; M.M. SFORIM/SCH. ALECHEM/J.L. PEREZ: Des Rebben Pfeifenrohr. Humoristische Erzählungen aus dem Jiddischen. Mit 33 farbigen Reproduktionen nach Pastellen, Gouachen und 3 Ölbildern von Anatoli L. Kaplan, Ost-Berlin 1983 ( 1989); SCH. ALEJCHEM: Methusalem. Die Geschichte eines Pferdes. Mit Reproduktionen nach Kaltnadelradierungen von Regine Grube-Heinecke, Ost-Berlin 1988; I. SKIRECKI (HG.): Die Wunder von Chanukka. Geschichten zu jüdischen Fest- und Feiertagen. Mit einem Beitrag zum jüdischen Kalender von H. Simon und Reproduktionen nach Originalen von Anatoli L. Kaplan, Ost-Berlin 1989; SCH. ALEJCHEM: Stempenju. Roman. Mit 28 Lithographien von Anatoli Kaplan, Leipzig 1989. 128 Karl Emil Franzos (1848-1904) wurde in der DDR offiziell als „bedeutender österreichischer Schriftsteller demokratischer Gesinnung“ und „volksverbundener kritischer Realist“ schon frühzeitig anerkannt, vgl. G. ALBRECHT/K. BÖTTCHER/H. GREINER-MAI/P.G. KROHN: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 1, Leipzig 1967; S. 357-359. 129 Vgl. K.E: FRANZOS: Der wilde Starost und die schöne Jütta. Novellen um Liebe und Ehe, OstBerlin 21967; DERS.: Vom Don zur Donau. Ausgewählte Kulturbilder, Ost-Berlin 1970; DERS.: Moschko von Parma. Drei Erzählungen, Ost-Berlin 1972. 130 U.a. „Meisterwerke der Synagoge“ mit dem Leipziger Synagogalchor unter Werner Sander (ETERNA 8 20 471); „lin jaldati singt“ mit Eberhard Rebling am Klavier (ETERNA 8 10 024); „Kostbarkeiten jüdischer Folklore in freien Bearbeitungen von Werner Sander“ mit dem Leipziger Synagogalchor (ETERNA 8 25 954); „Jüdische Gesänge mit dem Leipziger Synagogalchor“ unter Leitung von Werner Sander (ETERNA 8 25 880); „Lomp noch nit farloschn“. Gruppe Aufwind mit jiddischen Liedern (AMIGA 8 45 366). 131 „Piesny zydowskie - Jewish Songs“ mit dem Zentralen Künstlerensemble der Polnischen Armee (MUZA XL 0163); „Z Album piesni Zydowskich - From the Album of Jewish Songs“ (MUZA XL 0181). 132 U.a. „Synagogal Songs“ mit dem Trio Loránd (SUPRAPHON SUA 12144); „Jewish Religious Songs“ mit Schalom Katz, Salomon Weisz und Eugen Katz [ehemalige Chefkantoren von Bukarest, Prag und Budapest, die diese Aufnahmen unmittelbar nach der Befreiung aus der Lagerhaft in Prag machten] (SUPRAPHON SUA 12605); „Songs and Tunes from the Ghetto“ mit Jenö Kohn und dem Trio Loránd (SUPRAPHON SUC 12140).

616 Vereinzelt kamen auch Titel zur jüdischen Kunst aus eigener Produktion134 oder der der befreundeten sozialistischen Staaten135 in die Buchhandlungen. Auch das Zentralantiquariat der DDR in Leipzig entdeckte die Attraktivität von Reprints wichtiger Abhandlungen

zu

jüdischen

Themen136.

Nach

Überwindung

erheblicher

Schwierigkeiten konnten sogar ein knapper Überblick über die Geschichte der jüdischen Philosophie137 und eine Einführung in das Iwrith138 gedruckt werden.

Dieses alles in allem durchaus beachtliche Angebot sollte allerdings den Blick dafür nicht verstellen, daß in der DDR niemals eine Ausgabe des Siddur oder Machsor, der jüdischen Gebetbücher also, der Thora oder der hebräischen Bibel überhaupt, noch der Werke einer der großen religiös-orthodoxen Autoritäten des Judentums gedruckt wurde. Auch die Einfuhr dieser für ein lebendiges jüdisches Selbstbewußtsein unverzichtbaren Literatur wurde ständig behindert und zumeist ganz unmöglich gemacht.

e) Gedenken an die Schoah

Das Gedenken an den Massenmord am jüdischen Volk nahm von Anfang an einen hohen Stellenwert in der SBZ/DDR ein. Frühe DEFA-Filme, wie Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“139, Kurt Maetzigs „Ehe im Schatten“140, Erich Engels „Affäre Blum“141 und Maetzigs „Der Rat der Götter“142 mögen hier zugleich auch für eine

133

„Liturgy of Dohány Street Synagogue, Budapest“ mit Chefkantor Sándor Kovács (HUNGARTON SLPD 18091). Vgl. R. KRÜGER: Die Kunst der Synagoge. Eine Einführung in die Probleme von Kunst und Kult des Judentums, Leipzig 1966. 135 H. VOLAVKOVA: Schicksal des Jüdischen Museums in Prag, Prag 1965; M. FUKS/ Z. HOFFMANN/ M. HORN/J. TOMASZEWSKI: Polnische Juden. Geschichte und Kultur, Warschau 1984. 136 Vgl. J.F.A. de le ROI: Die evangelische Christenheit und die Juden, 3 Bde., Berlin 1884-1892 [Leipzig 1974]; L. GEIGER: Geschichte der Juden in Berlin, Berlin 1871 [Leipzig 1988]; J. PREUSS: Biblisch-talmudische Medizin. Beiträge zur Geschichte der Heilkunde und der Kultur überhaupt, Berlin 1911 [Leipzig 1989]. 137 H. und M. SIMON: Geschichte der jüdischen Philosophie, Ost-Berlin 1984. Vgl. dazu die Rezension von K. Cohn, in: Nachrichtenblatt Sept. 1985, S. 44-46. 138 H. SIMON: Lehrbuch der modernen hebräischen Sprache (= Lehrbücher f. das Studium der orientalischen und afrikanischen Sprachen 18), Leipzig 1970. 139 Dieser erste DEFA-Film überhaupt wurde am 15.10.1946 uraufgeführt. 140 Uraufführung am 3.10.1947. 141 Uraufführung am 3.12.1948. 142 Uraufführung am 12.5.1950. Weitere wichtige DEFA-Filme zum Thema waren dann u.a. Joachim Hellwegs Dokumentarfilm „Ein Tagebuch für Anne Frank“ (Uraufführung am 26.2.1959), Konrad Wolfs 134

617 Fülle von Theaterinszenierungen stehen, in denen das Schicksal der Juden während der nationalsozialistischen Epoche beschworen wird. Diese Tradition sollte sich fortsetzen, z.B. in Konrad Wolfs Film „Professor Mamlock“ von 1961, der nach dem gleichnamigen Bühnenstück seines Vaters Friedrich Wolf gedreht wurde, aber auch in einer Reihe von Spielfilmen aus den sozialistischen Ländern, die die tiefe Anteilnahme der DDR-Bevölkerung fanden143. Die Fülle der Buchtitel, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzt, ist schier unübersehbar. Bereits in den 50er Jahren erschien erstmals als Lizenzausgabe „Das Tagebuch der Anne Frank“144. 1960 fesselten die Erinnerungen von Rabbiner Martin Riesenburger, die dann allerdings erst 1984 ein zweites Mal aufgelegt werden durften145, die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit. 1966 wurde in zwei Bänden das Leiden, aber auch der Widerstand des osteuropäischen jiddischsprechenden Judentums dem Vergessen entrissen146. Insbesondere der Aufstand im Warschauer Ghetto wurde mehrfach dokumentiert147. Überschaut man die Gesamtproduktion der DDR-Verlage, läßt sich feststellen, daß es wohl niemals ein der Schoah vergleichbares Thema in der DDR gab, mit dem die Hürden der Zensur und der bürokratischen Schwerfälligkeit so schnell und entscheidend überwunden werden konnten148. Hier

„Sterne“ (Uraufführung am 27.3.1959) und „Professor Mamlock“ (Uraufführung am 19.5.1961) sowie Frank Beyers „Jakob der Lügner“ (Uraufführung am 22.12.1974). 143 Erinnert sei hier nur an „Das Haus in der Karpfengasse“ nach M.Y. Ben-Gavriel (CSSR), „Der Tod heißt Engelchen“ nach L. Mnacko (CSSR) und „Der Laden auf dem Korso“ nach L. Grosman. Die literarischen Vorlagen zu diesen Filmen wurden allesamt in der DDR in preiswerten Ausgaben zugänglich gemacht. - Erst allmählich wird jetzt erfaßbar, welche Grenzen aber auch diesem Erinnern gesetzt waren; vgl. dazu z.B. die Bemerkungen von Korad Weiß in: Der Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern. Schawuot 5749/Mai-Juni 1989, S. 13ff. 144 1960 veröffentlichte der der CDU gehörende Ost-Berliner Union Verlag die dritte, broschierte Auflage. 145 M. RIESENBURGER: Das Licht verlöschte nicht. Dokumente aus der Nacht des Nazismus, OstBerlin 1960 (2. Aufl. 1984). 146 L. JALDATI/E. REBLING (HG.): Es brennt, Brüder es brennt. Jiddische Lieder. Deutsche Texte: Heinz Kahlau, Ost-Berlin 1966; H. WITT (HG.): Der Fiedler vom Ghetto. Jiddische Dichtung aus Polen (= Reclams Universal-Bibliothek 195), Leipzig 1966. 147 Die erste ausführliche Materialsammlung zu diesem Thema wurde noch aus Polen übernommen: Jüdisches Historisches Institut Warschau (Hg.): Faschismus, Getto, Massenmord. Dokumentation über Ausrottung und Widerstand der Juden in Polen während des zweiten Weltkrieges, Ost-Berlin 1960; zuvor erschien allerdings schon B. MARK: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, Ost-Berlin 1957, wo es sich gleichfalls um eine Übersetzung aus dem Polnischen handelte. Vgl. dann aber R. HIRSCH (HG.): Ghetto. Berichte aus dem Warschauer Ghetto 1939-1945, Ost-Berlin 1966; K. WOLFF (HG.): Hiob 1943. Ein Requiem für das Warschauer Ghetto, Ost-Berlin 1981 (2. Aufl. 1984). 148 Man vgl. die Zusammenstellung der Texte und Autoren unter diesem Gesichtspunkt in der von der Evangelischen Verlagsanstalt vorgelegten Anthologie von A. WALLMANN (HG.): Das Brandscheit. Ein Stück Wegs mit dem alten Gottesvolk. Mit einem Geleitwort von Helmut Gollwitzer, Ost-Berlin 1967.

618 fehlt - zumindest im belletristischen Bereich - wahrscheinlich kein wirklich wichtiges Buch149. Ohne vergleichbares Gegenstück blieb die eindrucksvolle Anthologie „Welch Wort in die Kälte gerufen“, in der die Erinnerung an die Judenverfolgung des Dritten Reichs im deutschen Gedicht dokumentiert wurde150. Auch im Kinderbuch wurde die Zeit der Verfolgung gelegentlich dargestellt151.

Allerdings wurde auch das Gedenken an den Massenmord am jüdischen Volk von der SED-Führung weitgehend in den künstlerisch-poetischen Raum abgedrängt. Auf diese Weise verhinderte die SED-Führung nicht nur die konkrete historisch-politische Analyse der nationalsozialistischen Judenverfolgung, sondern auch alle Ansätze zu einer kritischen Bewertung der aktuellen SED-Poltik gegenüber den jüdischen Mitbürgern und dem Staat Israel. Der Jom ha-Schoa (Gedenktag der Katastrophe) konnte deshalb auf dem Boden der DDR erstmals am 23. April 1990 in der Synagoge Rykestraße in Ost-Berlin mit einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR und des Zentralrates der Juden in Deutschland begangen werden152. Vorher war ein öffentliches Auftreten der Verfolgten, Emigrierten oder Überlebenden nicht erwünscht.

Antisemitismusforschung

Nachdem lange Jahre der Zurückhaltung in der DDR-Geschichtswissenschaft zu beobachten waren, die Phänomene des Antisemitismus und des Judenmordes eingehender zu bearbeiten, erschien im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften in OstBerlin erstmals 1972 eine Untersuchung zum Antisemitismus, in der es „um die Kennzeichnung des klassenmäßigen Wesens vom Antisemitismus als seinem entscheidenden Merkmal und um die Erläuterung seiner Funktion in der Ideologie und 149

Vgl. u.a. A. SCHWARZ-BART: Der Letzte der Gerechten, Ost-Berlin 21963; L. FUKS: Herr Theodor Mundstock, Ost-Berlin 1966; M. ROLNIKAITE: Mein Tagebuch, Ost-Berlin 1967; B. WOJDOWSKI: Brot für die Toten, Ost-Berlin 1974; K. VIDOR: Unterm Zeichen des Sterns, Leipzig 1963; W. TAUSK: Breslauer Tagebuch 1933-1940, Ost-Berlin 1975; R. ANDREAS-FRIEDRICH: Der Schattenmann. Tagebuchaufzeichnungen 1938-1945. Mit einem Nachwort von K. Drobisch, Ost-Berlin 1972. 150 H. SEYDEL (HG.): Welch Wort in die Kälte gerufen. Die Judenverfolgung des Dritten Reichs im deutschen Gedicht, Ost-Berlin 1968. 151 Vgl. u.a. W. PÜSCHEL: Kaddisch für Liebermann. Eine Prenzlauer-Berg-Geschichte aus dem Jahre 1935, Ost-Berlin 1985. 152 Vgl. Nachrichtenblatt Juni 1990, S. 18-22.

619 Politik des deutschen Imperialismus“ ging153. Der orthodox-marxistische Autor, der sein Thema, wie das Literaturverzeichnis ausweist, fast ohne jede Unterstützung durch andere marxistische Studien entwickeln mußte, kam zu einem Ergebnis, das irrig sein mußte, weil schon die Analyse realitätsfremd war. Er sprach nämlich von der DDR als einem „stabilen sozialistischen Staat, in dessen Grenzen Antisemitismus, Rassismus wie allen reaktionären Erscheinungen der Ausbeutergesellschaft erstmalig und endgültig die klassenmäßigen Wurzeln entzogen worden sind“154.

Eine größere Arbeit, in der die Entwicklung des Antisemitismus von der deutschen Reichsgründung bis zu den Nationalsozialisten und die „Verfolgung und Ausrottung der deutschen Juden 1933-1945“ zusammen behandelt wurde, erschien dann 1973. Die Autoren dankten Helmut Eschwege „für Anregung und Vorarbeiten zu diesem Buch“, das ansonsten wissenschaftlich keinen Fortschritt darstellte, schloß doch auch dieses noch mit der Falschbehauptung: „Der sozialistische Staat schützt seine Bürger vor jeglicher nationalistischer, rassistischer oder religiöser Diskriminierung, der die klassenmäßigen Wurzeln entzogen wurden.“155

Als Lizenzausgabe konnte 1975 die bekannte Dokumentation von Léon Poliakov und Josef Wulf „Das Dritte Reich und seine Diener“ erscheinen, mit der der Ost-Berliner Verlag Volk und Welt auch das Gedächtnis an Josef Wulf ehrte, der im Oktober 1974 in Berlin (West) aus dem Leben geschieden war. In einem Vorwort des Verlages zu dieser Ausgabe, in der dem DDR-Leser erstmals eine wirklich umfassende Sammlung von Texten zum Judenmord zugänglich gemacht wurde, sieht man hier von Eschweges sehr viel knapperer Dokumentation „Kennzeichen J“ einmal ab, wird dann aber auch die eigentliche Stoßrichtung dieser Publikation deutlich. Die Beschäftigung mit Antisemitismus und Judenmord wird instrumentalisiert im Gegenüber zu

153

Vgl. W. MOHRMANN: Antisemitismus. Ideologie und Geschichte im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Ost-Berlin 1972, S. 8. 154 Ebd., S. 204f. 155 K. DROBISCH/R. GOGUEL/W. MÜLLER unter Mitwirkung von H. DOHLE: Juden unterm Hakenkreuz. Verfolgung und Ausrottung der deutschen Juden 1933-1945, Ost-Berlin [Frankfurt/M.] 1973, S. 394.

620 jenem „Neofaschismus“, der vorgeblich die Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland bestimmt156.

Diesem Anliegen dient auch ein Reclam-Band von 1983, über den es im Umschlagtext heißt: „Eine Dokumentation des stufenweisen Abstiegs in die Barbarei, die in Zeiten des in manchen Weltregionen wiederauflebenden Nazi-Ungeistes von beklemmender Aktualität ist.“157 Erst 1989 erschien in der DDR eine Essaysammlung von Rosemarie Schuder und Rudolf Hirsch, in der diese primitiv-propagandistische Verwertung des Judenelends aufgegeben und der Blick auf die Geschichte von den Scheuklappen der marxistischen Ideologie zumindest einigermaßen freigehalten wurde158.

Prozesse gegen Nazi- und Kriegsverbrecher

Ein besonderes Kapitel der Vergangenheitsbewältigung erschließt sich auch bei der Betrachtung der Prozesse, die die DDR-Führung, begleitet durch einen von der Bevölkerung oft als unerträglich empfundenen Propagandaaufwand, gegen solche „Nazi- und Kriegsverbrecher“ inszenierte, die in der Bundesrepublik Deutschland nicht vor Gericht gestellt worden oder mit Bagatellurteilen davongekommen waren159. In zahlreichen populären Schriften wurde der andere deutsche Staat in überzogener Polemik als ein Eldorado derjenigen Kräfte, die den Nationalsozialismus gefördert hatten und zutiefst in dessen Verbrechen verstrickt gewesen waren, vorgeführt. Besondere Beachtung gewann der Prozeß, den das Oberste Gericht der DDR in absentia gegen den Bonner Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Hans Globke, führte. Der enge Mitarbeiter Adenauers wurde als Mitautor des offiziellen Kommentars zu den Nürnberger Rassegesetzen angeklagt und am 23. Juli 1963 als „intellektueller Mas-

156

Vgl. ebd., S. 8. Vgl. K. PÄTZOLD (HG.): Verfolgung - Vertreibung - Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 bis 1942 (= Reclams Universal-Bibliothek 1008), Leipzig 1983. 158 Vgl. R. SCHUDER/R. HIRSCH: Der gelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte. Essays, Ost-Berlin 1989. Das Copyright des Bandes ist bereits auf 1987 datiert, die Lizenznummer der staatlichen Zensurbehörde und das vom Verlang angegebene Erscheinungsjahr lauten jedoch 1989. 159 Vgl. z.B. BRAUNBUCH. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Westberlin, hg. vom Nationalrat der Nationalen Front des demokratischen Deutschland, Ost-Berlin 1968. 157

621 senmörder“ zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt160. Auch im Zusammenhang mit diesen Prozessen und Medienkampagnen blieb zuletzt der Eindruck vorherrschend, daß es ihren Initiatoren weniger auf historische Aufklärung und gerechte Aburteilung tatsächlich Schuldiger ankam als auf die propagandistischen Effekte. Dieser Verdacht wurde insbesondere auch durch die Art und Weise genährt, in der die DDRBehörden in sorgfältig dosiertem Vorgehen gewisse, propagandistisch besonders nützliche Aktenmaterialien aus ihren umfangreichen Archivbeständen als Anklagematerial publizierten, während sie gleichzeitig die Ermittlungen westdeutscher Strafverfolgungsbehörden entweder vollständig untersagten oder doch zumindest erheblich behinderten.

Die „Gedenkepidemie“ des Jahres 1988 Zum 50. Jahrgedenken der sog. „Reichskristallnacht“161 versammelte sich die Volkskammer am 8. Nov. 1988, um in einer Sondersitzung Gedenkreden ihres Präsidenten, Horst Sindermann, und des Präsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Siegmund Rotstein, anzuhören. Dieser Staatsakt in Anwesenheit von Honecker und mehr als 100 hervorragenden jüdischen Persönlichkeiten des Inund Auslandes, zu dem das Programm in Deutsch und Hebräisch gedruckt worden war162, stellte den Höhepunkt einer Kampagne dar, durch die die darauf in keiner Weise vorbereitete Bevölkerung so überfordert wurde, daß sehr bald auch antisemitische Affekte zu registrieren waren.

160

Vgl. u.a. Globke und die Ausrottung der Juden, Ost-Berlin 1961; Globke, der Bürokrat des Todes, Ost-Berlin 1963. Der Begriff der „Reichskristallnacht“ gehört nicht in die LTI, wie heute vielfach behauptet wird. Er ist vielmehr ein typisches Produkt des todernsten Berliner Humors, der in grotesker Überhöhung das Pogromgeschehen, von dem vor allem das Klirren der Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte in der Erinnerung haften blieb, zur Reichsangelegenheit erklärte und damit die Schuldigen exakt benannte und zugleich einer furchtbaren Lächerlichkeit preisgab. 162 Vgl. Staatsrat und Volkskammer der DDR gedenken der faschistischen Pogromnacht vom 9. November 1938. Begegnungen Erich Honeckers mit jüdischen Bürgern im Staatsrat. Sondersitzung der Volkskammer, Berlin 1988. Das Faksimile des zweisprachigen Programms dort S. 12f. 161

622 Neben zahlreichen Gedenkveranstaltungen auf allen Ebenen163, Buch- und Zeitschriftenpublikationen, Fernsehbeiträgen und Gedenksteinenthüllungen in einer Vielzahl von Städten fanden vor allem die mehrfachen Begegnungen Beachtung, die der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, mit Erich Honecker hatte. Dabei kündigte der SED-Chef nicht nur Entschädigungsleistungen für die jüdischen Opfer in Höhe von 100 Millionen Dollar an, sondern auch die Gründung einer Internationalen Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum“164.

Zu ähnlichen Absichtserklärungen kam es bei dem Besuch des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses165, Edgar M. Bronfman166, in Ost-Berlin im Oktober 1988167. Im Vorfeld der Gedenkfeiern des 9. November 1988 ging über die jüdischen Repräsentanten des In- und Auslandes eine wahre Ordensflut nieder, die für Verleiher und Empfänger nur peinlich sein konnte. Die Sektion Theologie der Ost-Berliner Humboldt-Universität durfte durch die Hand ihres Dekans Heinrich Fink (IM „Heiner“) dem Ehrenpräsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Gerhart Riegner, ihre Ehrendoktorwürde verleihen168.

In der kritischen Öffentlichkeit ist diese „Gedenkepidemie“, wie der Volksmund diese Kampagne des Jahres 1988 bald nannte, vorwiegend und gewiß zutreffend als taktisches Manöver des alternden Honecker interpretiert worden, der in völliger Verkennung der tatsächlichen Lage daran dachte, seine politische Laufbahn mit einem 163

Vgl. Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR (Hg.): Damit die Nacht nicht wiederkehre. Gedenken an die faschistische Pogromnacht vom 9. November 1938. Eine Dokumentation, Berlin 1988. Vgl. den Aufruf Rotsteins vom 5. Juli 1988. Maschinenschriftl. Fassung im Archiv des Verfassers. Die Verordnung über die Errichtung einer Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum“ vom 16. Juni 1988 wurde im Gesetzblatt der DDR am 4.7.1988 (Teil I, Nr. 13, S. 145) veröffentlicht. Die Geschichte dieser Stiftung, zu der die DDR-Regierung, die Bundesregierung und die Kirche finanzielle Beiträge leisteten, muß erst noch erforscht werden. Der SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel war Ehrenmitglied des Internationalen Kuratoriums, das von Siegmund Rotstein, Klaus Gysi und Heinz Galinski geleitet wurde. 165 Der Jüdische Weltkongreß (World Jewish Congress, WJC) besitzt übrigens längst nicht jene globale Bedeutung, die seine Selbstbezeichnung nahelegen könnte. Der 1936 in Genf erstmals zusammengetretene Zusammenschluß von jüdischen Organisationen in mehr als 60 Ländern ist keineswegs die einzige Vertretung des weltweiten Judentums. 166 Zu den Hintergründen vgl. auch M. WOLFFSOHN/S. TEMPEL: Wie Juden-Vertreter Bronfman mit DDR-Chef Honecker Politik und Geschäfte machen wollte, in: WELT AM SONNTAG, 14.2.1993. 167 Vgl. auch M. WOLFFSOHN: Aufs falsche Pferd gesetzt. Über die Versuche des Jüdischen Weltkongresses, mit der sterbenden DDR ins Geschäft zu kommen, in: FAZ Nr. 297, 21.12.1990, S. 35. 168 Vgl. Ehrendoktorwürde für Vizepräsidenten des Jüdischen Weltbundes, in: epd ZA Nr. 217 vom 9.11.1988, S. 4. 164

623 Staatsbesuch in den USA zu krönen. Dafür versuchte das SED-Regime übrigens nicht nur das internationale Judentum zu aktivieren, sondern auch Mormonen169 und Siebenten-Tags-Adventisten. Beide Gemeinschaften haben ja ihre religiösen und organisatorischen Zentralen in den USA, ebenso wie die großen internationalen Verbände des Judentums.

Allerdings würde man es sich wahrscheinlich zu einfach machen, sähe man in der Kampagne von 1988170 nur dieses taktische Kalkül Honeckers am Werk. Mindestens ebenso wichtig war damals die Absicht der SED-Führung, bei der Aufarbeitung und Aneignung des historischen „Erbes“ als einer unabdingbaren Voraussetzung für die Herausbildung eines „sozialistischen Nationalbewußtseins“ in der DDR nun auch das spezifisch jüdische Erbe zu vereinnahmen. Damit tritt die „Gedenkepidemie“ von 1988 in eine unübersehbare Parallele zu den von der SED inszenierten „LutherFestspielen“ des Jahres 1983. In beiden Fällen instrumentalisierten die SEDFunktionäre völlig hemmungs- und schamlos Elemente einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die sie stets nach Kräften marginalisiert hatten. Die Repräsentanten dieser marginalisierten Wirklichkeiten wurden dabei zu Formen einer Kollaboration gezwungen, die zumindest außerhalb der DDR zu größter Distanz hätten Anlaß sein müssen. Wie groß die Unwissenheit über alle jüdischen Angelegenheiten in der DDR tatsächlich war, offenbarte z.B. die „Junge Welt“, das Zentralorgan der FDJ, noch im Herbst 1987 mit einer Meldung, in der es hieß, in der DDR gäbe es „heute etwa 3.000 Bürger jüdischen Glaubens, davon sind noch etwa 400 aktiv in acht Gemeinden“. Gemeint war selbstverständlich, daß sich in der DDR etwa 3.000 Bürger unter ethnischen Gesichtspunkten als Juden betrachten, während nur 400 davon sich zum Judentum als Religionsgemeinschaft bekennen.

169

Vgl. L. MERTENS: Das Buch Mormon oder Kommunistisches Manifest? Die Mormonen in der DDR, in: D. Voigt/L. Mertens (Hg.), Minderheiten in und Übersiedler aus der DDR, Berlin 1992, S. 173188. 170 Vgl. auch TH. AMMER: Wandlungen im Verhältnis der DDR-Führung zum Judentum, in: DA 21, 1988, S. 699-703, DERS.: DDR und Judentum. 50 Jahre nach den Novemberpogromen, in: ebd. 22, 1989, S. 17-23.

624 Die Juden der DDR zu Beginn der „Wende“ 1989

Wie für alle Gruppen und Schichten kam auch für die Juden in der DDR der Zusammenbruch des SED-Regimes im Herbst 1989 völlig überraschend. Noch am 8. Nov. 1988 hatte der Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Siegmund Rotstein, vor der Volkskammer erklärt: „Von ganzem Herzen und mit gutem Wissen kann ich sagen, daß die Bürger jüdischen Glaubens der DDR in ihrem Lande eine wahre Heimstatt gefunden haben, daß wir Achtung, soziale Geborgenheit, die umfassende Fürsorge unserer Gesellschaft erfahren, daß wir gleichberechtigt und hochgeachtet an der Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft mitwirken, daß freie Religionsausübung täglich zu erfahrender Alltag ist.“171

Im Mai 1989 gab die Ost-Berliner Journalistin Salomea Genin, die 1938 als Jüdin aus Deutschland emigrieren mußte und 1963, nach 25 Jahren im australischen Exil, in die DDR übergesiedelt war, ihr Parteibuch (nach 40 Jahren der Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei, davon 24 Jahre in der SED) zurück und begründete ihren Schritt folgendermaßen: „Es gibt in diesem Land unter den Machthabern vorwiegend Mißtrauen gegenüber den vielfach selbständig denkenden Juden und unter der ‚Normal’-Bevölkerung den schon immer dagewesenen Antisemitismus. [...] Trotz der ‚Gedenkepidemie’ vom Frühjahr bis November 1988 und eines neuen Bewußtseins, daß es hier Juden gibt, wird um das vergangene Schweigen keine Auseinandersetzung geführt.“172

Solche Stimmen waren damals jedoch noch Einzelerscheinungen. Der Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR versicherte in einem Glückwunschschreiben an 171

S. ROTSTEIN: Menschenwürde und Achtung vor dem Leben sind in unserem Land für alle Zeit unantastbar, in: Gedenken der Opfer, S. 29-38, bes. S. 33. Vgl. Weil Mangel an Öffentlichkeit sie zu ersticken drohte. Eine Jüdin trat nach 26jähriger Mitgliedschaft aus der SED aus, in: epd ZA Nr. 95 vom 19.5.1989, S. 6f.; der vollständige Text findet sich in Kontinent 15, 1989/4, S. 76-86. Schon 1988 hatte Salomea Genin einen Artikel „Vergessene oder verdrängte Vergangenheit?“ in der evangelischen Wochenzeitung „Die Kirche“ (Berliner Ausgabe, 43. Jg., Nr. 21, 22.5.1988) veröffentlicht, der mit den Worten schloß: „Wann hören wir auf, uns aus diesem Teil der deutschen Geschichte [gemeint ist die Geschichte der „Mitläufer“, die auch in der DDR lebten] auszuklinken? Wann werden wir diese Probleme miteinander diskutieren?“ Vgl. auch S: GENIN: Wie ich in den Schoß der Familie zurückkehrte, in: A. Lixl-Purcell, Erinnerungen deutsch-jüdischer Frauen 1900-1990 = Reclam-Bibliothek 1423, Leipzig 1992, S. 423-448.

172

625 die Staatsführung noch am 9. Okt. 1989 vielmehr pflichtgemäß: „Am Aufbau des antifaschistischen sozialistischen deutschen Staates haben wir allseits mitgewirkt.“ Am 4. Nov. hieß es dann jedoch bereits schon zeitgemäß von gleicher Stelle aus: „Jüdische Gemeinden unterstützen Wandlungen.“

Nur durch die in der DDR üblichen überlangen Drucklegungsfristen war es dann zu erklären, daß die Herausgeber des „Nachrichtenblattes der Jüdischen Gemeinden in der DDR“ noch in der Dezemberausgabe 1989 wissen ließen: „Die Mitglieder unserer Gemeinden haben die DDR als ihre Heimat angenommen und sind in ihr geblieben in der Gewißheit, daß antifaschistisches Denken und Handeln sowie soziale Sicherheit Grundpfeiler des Staates sind.“ Allerdings wurde in diesem Text auch schon unüberhörbare Kritik an der Haltung des SED-Regimes gegenüber dem Staat Israel geübt und die Anerkennung des Staates, „dessen Bürger zum großen Teil Verfolgte des deutschen Faschismus waren“, durch die DDR gefordert.

Hier wird die tiefe Verunsicherung faßbar, die für die gesamte DDR-Gesellschaft im Spätherbst 1989 typisch war. So betonte der Verband der Jüdischen Gemeinden am 4. Dez. 1989 auch, daß „die deutsche Frage genauso offen sei wie die Zukunft Europas“, und erläuterte diese Auffassung einen Tag später dahingehend, daß die Aufrechterhaltung der Zweistaatlichkeit Deutschlands eine Anerkennung des Urteils der Geschichte darstelle. Mit solchen Fehlurteilen standen in jenen Tagen die jüdischen Verbandsfunktionäre in der DDR allerdings keineswegs alleine da, wie ein Blick in so manche Parteiprogramme und kirchliche Verlautbarungen aus jenen Wochen zeigt.

Erst in der Märzausgabe 1990 des „Nachrichtenblattes“ fanden dessen Herausgeber, die zumindest teilweise hochverdiente SED-Genossen waren, jene Worte einer deutlichen Kritik, mit denen dieser Bericht eingeleitet wird. Wenn dort Bekundungen von „Antisemitismus, Rassenhaß, Ausländerfeindlichkeit und Überheblichkeit“ beklagt wurden, so ist zu beachten, daß damals noch nicht bekannt war, in welchem Ausmaß

626 auch der Staatsicherheitsdienst der DDR und der KGB173 als Drahtzieher und Organisator solcher Aktionen tätig geworden waren.

Differenzen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft

Der Zusammenbruch des SED-Regimes befreite auch die Jüdischen Gemeinden in der DDR vom Zwang zu uniformem, von der SED vorformuliertem Auftreten in der Öffentlichkeit und gab ihnen die Möglichkeit, Differenzen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft der DDR auch nach außen hin sichtbar werden zu lassen.

Bis zum Herbst 1989 hatten die Jüdischen Gemeinden in der DDR sich stets lediglich als Religions- bzw. Kultusgemeinden darstellen dürfen. Dementsprechend hatten dort, von einzelnen durch die SED und das MfS in die Gemeindearbeit delegierten Funktionären abgesehen, nur solche Menschen einen Platz, die sich nach Herkunft und religiöser Bindung als gläubige Juden verstanden. Wer sich als jüdischer Bürger in der DDR hingegen als Atheist deklarierte, mußte damit weitgehend auf seine jüdische Identität verzichten. Es hatte zwar auch schon vor der „Wende“ einige Versuche gegeben, diese von der SED verordnete und völlig unjüdische Selbstbeschränkung zu durchbrechen, aber dagegen opponierte nicht nur das zuständige Staatssekretariat für Kirchenfragen, sondern auch innerhalb der Gemeinden selbst wurde Widerspruch gegen solche Aktivitäten laut.

Noch im Dezember 1989 wurden Pläne für die Konstituierung eines „Jüdischen Kulturvereins in der DDR“ publiziert: „Er soll [...] der Zusammenschluß von in der DDR lebenden Bürgern jüdischer Herkunft und ihrer Angehörigen unabhängig von ihrer Weltanschauung sein und ist dem Gedenken der Millionen jüdischer Opfer verpflichtet.“174 Zu den Aufgaben des dann am 22. Jan. 1990 offiziell gegründeten Vereins gehören die „Verbreitung des Wissens über jüdische Geschichte und Kultur“, die

173

Vgl. Zahlreiche antisemitische Ausschreitungen ein Werk des KGB, in: idea Nr. 96/90 vom 25.10.1990, S. 4. Vgl. Gründungsaufruf für jüdischen Kulturverein in der DDR, in: epd ZA Nr. 242 vom 14.12.1989, S. 7f., FAZ Nr. 290, 14.12.1989, S. 3.

174

627 „Bewahrung des Judentums und des jüdischen Lebens“ sowie die „Wahrnehmung der Interessen von Bürgern jüdischer Herkunft“.

In den jüdischen (Religions-) Gemeinden wurde diese Neugründung mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis genommen, befürchtete man doch, hier könnten durch die Installierung einer säkularen Parallelinstitution die Kräfte der kleinen jüdischen Gemeinschaft in der DDR weiter aufgesplittert werden. Auch die Beschränkung der Mitgliedschaft im Kulturverein auf „Bürger jüdischer Herkunft“ wurde als eine Art „Arierparagraph“ mit umgekehrtem Vorzeichen kritisiert, weil dadurch gerade jene nichtjüdischen Bürger diskriminiert würden, die sich unter oft erheblichen Schwierigkeiten bereits seit langem um Kontakte mit jüdischen Menschen, die Verbreitung jüdischen Wissens und die Pflege jüdischer Kultur in der DDR verdient gemacht hatten. Um diesen Bedenken abzuhelfen, wurde ein Freundeskreis des jüdischen Kulturvereins gebildet, der auch nichtjüdischen Mitgliedern offenstehen sollte. Vor allem aber wirkte die unverkennbare Nähe des Kulturvereins zur SED/PDS, wie sie sich z.B. in dem gemeinsamen Aufruf mit der SED/PDS und anderen kommunistischen Gruppierungen zur Luxemburg-Liebknecht-Gedenkdemonstration am 17. Jan. 1990 öffentlich abzeichnete, irritierend.

Das Verhältnis DDR-Israel

Bereits vor der Wende im Herbst 1989 war das Verhältnis der DDR zum Staat Israel Gegenstand offener Diskussionen geworden, nachdem Honecker mit seiner Kampagne zum 50-Jahr-Gedenken der „Reichskristallnacht“ das Gespräch darüber sogar auf internationaler Ebene freigegeben hatte. In seiner Regierungserklärung vom 17. Nov. 1989 sprach Hans Modrow mehrfach von der Bereitschaft, normale Beziehungen zu Israel aufzunehmen, und am 13. Dez. hatte der DDR-Kulturminister Dietmar Keller in einem Interview mit der „Jerusalem Post“ sogar 500 Millionen Wiedergutmachung angekündigt, die die DDR leisten wolle175. Ende Januar 1990 wurden dann

175

Vgl. DDR will moralische Schuld für Naziverbrechen anerkennen, in: epd ZA 242 vom 14.12.1989, S. 3.

628 auch offizielle Gespräche zwischen Vertretern der DDR und Israels in Kopenhagen aufgenommen.

Obwohl sich Ministerpräsident Modrow Anfang Februar 1990 in einem Brief an den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses sowie den israelischen Ministerpräsidenten ausdrücklich zur „Verantwortung des gesamten deutschen Volkes für die Vergangenheit“ bekannt hatte und daraus eine „humanitäre Verpflichtung gegenüber den Überlebenden des jüdischen Volkes“ abgeleitet hatte, kam es jedoch zu keinen konkreten Vertragsabschlüssen. Die von mancher Seite eher als peinlich empfundene gemeinsame Visite der deutschen Parlamentspräsidentinnen Rita Süssmuth und Sabine Bergmann-Pohl in Israel Ende Juni 1990 vermochte den Eindruck nicht zu verwischen, daß die neue DDR-Führung zu großzügigen Versprechungen besonders deshalb bereit war, weil sie wußte, daß sie diese nicht mehr einzulösen brauchte bzw. für deren Finanzierung nicht mehr zuständig sein würde. Auch die Gründung der „Gesellschaft DDR-Israel für Verständigung und Zusammenarbeit e.V.“ am 31. März 1990 sah sich dann der Frage ausgesetzt, weshalb man eine solche Gesellschaft noch in einem Staat gründe, dessen Ende bereits beschlossene Sache war.

Auf dem Wege zur Wiedervereinigung Deutschlands

Die sich immer stärker abzeichnende Möglichkeit einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten stellte auch die jüdischen Bürger und ihre Organisationen vor besondere Aufgaben. Daß es dabei sogar erhebliche Schwierigkeiten gab, offenbarte ein Zeitungsinterview des Direktors der Ost-Berliner Stiftung „Neue Synagoge Centrum Judaicum“ und stellvertretenden Ost-Berliner Gemeindevorsitzenden, Hermann Simon, der noch am 13. Dez. 1989 die mangelnde Unterstützung aus dem Westen beklagte: „Nichts haben wir gehört, absolut nichts. Wir erhielten Anrufe aus Schweden, Amerika, aus der Schweiz, aber nicht aus West-Berlin. [...] Nicht daß wir

629 ihnen zur Last fallen wollen, aber manchmal denke ich doch an so etwas wie Solidarität.“176

Es dauerte dann noch bis zum 6. Febr. 1990, bis sich offizielle Vertreter des Zentralrates der Juden in Deutschland und des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR in Berlin (West) trafen. Offensichtlich wurden dadurch die bestehenden Probleme so weit geklärt, daß Hermann Simon am 4. März in der Volksbühne in Berlin (West) davon sprechen konnte, daß es nach der Öffnung der Grenzen zu „einer weiteren Annäherung der beiden Berliner Jüdischen Gemeinden gekommen ist“177. Als Zeichen wachsender Gemeinsamkeit durfte auch der Ablauf der Tagung von Jüdischem Weltkongreß und Europäischem Jüdischem Kongreß Anfang Mai 1990 gewertet werden, deren Delegierte auch Ost-Berlin besuchten und dort von Ministerpräsident de Maiziére im Palast-Hotel empfangen wurden178.

Zunehmend übernahm nun auch Heinz Galinski als Vorsitzender des Zentralrates, dem der DDR-Verband mit zwei Landesverbänden beigetreten war, die Gesamtvertretung der Juden in der DDR. So forderte er beispielsweise am 18. Sept. 1990 in scharfer Form die Volkskammer auf, ihrer Verpflichtung zur Rückgabe des von den Nationalsozialisten enteigneten Eigentums an die Jüdischen Gemeinden bis zum 3. Oktober, dem Tag der Wiedervereinigung, nachzukommen179.

Starke internationale Aufmerksamkeit fand die Gründung des „AMCHA-Vereins in der DDR“ („Mein Volk“) am 17. März 1990, der das AMCHA-Zentrum in Jerusalem unterstützen wollte. Die Stiftung, die von der DDR-Regierung, den Jüdischen Gemeinden und der kirchlichen „Aktion Sühnezeichen“ in der DDR getragen wurde, fördert die psychosoziale Betreuung von Überlebenden der nationalsozialistischen Judenver-

176

Vgl. DDR: Über bundesdeutsche Jüdische Gemeinden enttäuscht. Direktor der Stiftung Neue Synagoge vermißt Solidarität, in: epd ZA Nr. 241 vom 13.12.1989, S. 3. 177 Vgl. Dr. Simon begrüßt weitere Annäherung der Berliner Jüdischen Gemeinden, in: Der Neue Weg Nr. 56, 7.3.1990, S. 2. 178 Vgl. Jüdischer Weltkongreß in Berlin eröffnet, in: epd ZA Nr. 87 vom 7.5.1990, S. 1. 179 Vgl. Zentralrat der Juden fordert Eigentum der DDR-Gemeinden zurück, in: epd ZA Nr. 181 vom 19.9.1990, S. 2.

630 nichtung. Die DDR-Regierung sagte eine Finanzierungshilfe von 6,2 Millionen Mark zu.

Noch im Vorfeld der deutschen Wiedervereinigung wuchs auch den Juden in der DDR und ihren Gemeinden eine Aufgabe zu, auf die sie in jeder Hinsicht nicht vorbereitet sein konnten: das Eintreten für die in der Sowjetunion von wachsendem Antisemitismus bedrohten Juden. Am 4. Mai 1990 demonstrierten jüdische Bürger aus beiden Teilen Berlins gemeinsam vor der Sowjetischen Botschaft Unter den Linden gegen diese bedrohliche Entwicklung. Nach praktischer Solidarität verlangten die sowjetischen Juden, denen in der DDR Asyl gewährt wurde180. Die Jüdischen Gemeinden,

die

Ausländerbeauftragte

der

Regierung

der

DDR

und

die

Berlin-

Brandenburgische Kirche arbeiteten bei der Lösung der damit verbundenen Probleme eng zusammen.

Der Jüdische Kulturverein eröffnete am 18. Juli 1990 eine Sprachschule im OstBerliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg, die allerdings nicht nur sowjetischen Juden offenstand, um eine Ghettoisierung dieser Menschen zu vermeiden181. Bis Ende August 1990 wurden 800 sowjetische Juden als Asylsuchende in der DDR registriert182. Diese Zahlen stiegen weiter und beschäftigen seit der deutschen Wiedervereinigung immer wieder auch die Bundesregierung und den Bundestag.

Bilanz

Die DDR-Führung hat mit ihrer schizophrenen Haltung gegenüber Juden und Jüdischen Gemeinden in ihrem Herrschaftsbereich innen- und außenpolitisch lange Zeit scheinbare Erfolge erzielt.

Der antinationalsozialistische Konsens in der eigenen Bevölkerung unter dem Stichwort des „Antifaschismus“ war tiefgehend und umfassend. Das Schicksal der Juden 180

Vgl. DDR-Ministerrat setzt Grundrecht auf Asyl durch. Sowjetische Juden erhalten Aufenthaltsrecht, in: epd ZA Nr. 132 vom 12.7.1990, S. 1. Vgl. Jüdischer Kulturverein gründet Schule für Aussiedler, in: epd ZA Nr. 137 vom 19.7.1990, S. 3. 182 Vgl. 800 sowjetische Juden leben jetzt in der DDR, in: epd ZA Nr. 169 vom 3.9.1990, S. 14. 181

631 im „Dritten Reich“ wurde als Last einer Vergangenheit empfunden, die glücklicherweise endgültig vorüber sei. Mit lebendigen Juden hatte der DDR-Bürger in der Regel nichts zu tun. Wer z.B. in der SED-Führung jüdischer Abstammung war, war kaum bekannt und interessierte auch wenig. Die DDR-Bevölkerung hatte - wenn überhaupt - ein weitgehend „theoretisches Verhältnis“ zu Juden und Judentum, das in Teilbereichen, besonders unter kirchlich gebundenen Menschen, von starker Sympathie grundiert wurde.

Die jüdischen Bürger der DDR lebten in dem Gefühl vollständiger sozialer Sicherheit und individueller gesellschaftlicher Anerkennung. Der Antisemitismus war in der DDR, so zumindest die immer wiederholte offizielle Versicherung, mit seine Wurzeln, der bürgerlichen Gesellschaft, ausgerottet. Als Belastung, über die aber zumindest öffentlich kaum je geredet wurde, empfand man das haßerfüllte Verhältnis des DDRRegimes gegenüber dem Staat Israel, das über Jahrzehnte hin jeden menschlichen Kontakt zwischen Juden in der DDR und ihren Verwandten oder Freunden in Israel fast unmöglich machte oder doch zumindest enorm erschwerte183.

Soziale Sicherheit und gesellschaftliche Anerkennung wurden den jüdischen DDRBürgern aber jeweils nur zuteil, so lange sie sich in das von der Innenpolitik der DDR errichtete Ghetto einfügten. Jedes Überschreiten der unsichtbaren Mauern, die das Regime um seine Juden errichtet hatte, zog Sanktionen nach sich. Der Preis für jüdisches Wohlverhalten im Sinn des Regimes war hoch: er hieß vollständiger Verzicht auf jüdische Identität, Verschweigen und Verleugnung der eigenen Vergangenheit und der jüdischen Traditionen, Abschottung gegenüber den Verwandten und Freunden außerhalb der DDR184.

Erste Risse in der scheinbar heilen Welt des DDR-Ghettos wurden für Juden und Nichtjuden durch den christlich-jüdischen Dialog sichtbar, der Anfang der 70er Jahre 183

Vgl. u.a. ESCHWEGE, Sicht, S. 186; DERS., Begegnungen. Vgl. dazu jetzt V. v. WROBLEWSKY (HG.): Zwischen Thora und Trabant. Juden in der DDR = Aufbau Taschenbuch 7011, Berlin 1993. Der Band enthält neun überaus aufschlußreiche Lebensberichte von Juden in der DDR, die in der Mehrzahl weder Thora noch Trabant ihr eigen nannten. Interessante Einblicke in das jüdische Identitätsbewußtsein junger jüdischer DDR-Bürger vermittelt auch A. LEO: Briefe zwischen Kommen und Gehen = BasisDruck Zeitgeschichte 4, Berlin 1991.

184

632 von evangelischer Seite in der DDR initiiert wurde. Dank der umfassenden Unterstützung durch maßgebliche Führungspersönlichkeiten in den Jüdischen Gemeinden entwickelte sich hier allmählich ein Forum, in dem auch kritische Fragen in Bezug auf die gesellschaftliche Wirklichkeit in der DDR entwickelt wurden. Die Tagungen der Arbeitsgemeinschaft „Kirche und Judentum“ in Leipzig konnten allmählich auch zu einem Ort internationaler Begegnungen ausgebaut werden, die über gemeinsame Gottesdienste, Gedenkveranstaltungen, Seminare und Arbeitseinsätze auf jüdischen Friedhöfen hinaus auch in die Gemeinden hineinwirkten185. Hier erlebten die kleinen jüdischen Gemeinden in der DDR erstmals, daß sie auch als „Nation“ wieder ernstgenommen wurden. Der Staatssicherheitsdienst hat alle diese Aktivitäten von Anfang an mit tiefem Mißtrauen begleitet, sah sich aber an direkten Eingriffen immer wieder durch die Tatsache gehindert, daß die Kirchen darauf bestanden, hier ginge es um elementare Teilbereiche des kirchlichen Auftrags.

Ein erstes deutliches Wort in dieser Richtung stellte die „Erklärung der leitenden Geistlichen zur Zionismus-Resolution der Vereinten Nationen vom 27. Nov. 1975“ dar, in der die Bischöfe aller evangelischen Landeskirchen in der DDR zusammen mit dem Bischof der Evangelisch-Methodistischen Kirche und dem Präsidenten des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR Protest gegen die Gleichsetzung von Rassismus und Zionismus erhoben186. Diese Erklärung durfte in der DDR niemals veröffentlicht oder auch nur ausschnittweise zitiert werden.

Auch die zunehmende Internationalität der Begegnungen von Christen und Juden schuf Freiräume187. Und schließlich scheute man sich vor einem direkten Angriff auch angesichts der engen Solidarität, in der Christen und Juden gemeinsam darauf

185

Vgl. FASSLER, S. 108ff. Vgl. R. RENDTORFF/H.H. HENRIX (HG.): Die Kirchen und das Judentum. Dokumente von 1945 bis 1985, Paderborn-München 1988, S. 580. 187 Die leitenden kirchlichen Stellen schalteten sich ab 1978 in den christlich-jüdischen Dialog ein. Die Synode des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR nutzte den 40. Gedenktag an die „Reichskristallnacht“, und die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR veröffentlichte eine Botschaft, in der eine intensive Beschäftigung mit der Geschichte des Judentums, eine neue Sicht des Verhältnisses von Juden und Christen, die Aufdeckung verborgener Judenfeindschaft und eine echte Bewältigung der unseligen Vergangenheit gefordert wurden. Vgl. FASSLER, S. 108f. 186

633 beharrten, hier zu Lebensfragen der „sozialistischen Nation“ insgesamt Stellung zu nehmen188.

Außerhalb der DDR war der Erfolg der schizophrenen Einstellung der DDR-Führung gegenüber den Juden noch wesentlich größer. Die Versicherung, in der DDR habe der Antisemitismus jeglichen Nährboden verloren, wurde in der Bundesrepublik Deutschland von weiten Kreisen bis zum Beweis des Gegenteils nach dem Ende der DDR mit aller Zähigkeit als wahr unterstellt. Noch 1986 konnte in Köln ein Sammelband „Antisemitismus nach dem Holocaust. Bestandsaufnahme und Erscheinungsformen in deutschsprachigen Ländern“ erscheinen, in dem die DDR einfach nicht vorkam189. Da passierte das, was bedauerlicherweise nur allzu oft geschah, daß nämlich die ideale Theorie in der DDR mit der gelegentlich miserablen Praxis des Westens verglichen wurde. Das Ergebnis solchen Verfahrens mußte zwangsläufig die Verzeichnung und teilweise völlige Verkennung der tatsächlichen Situation sein. Es wäre gewiß eine eigene Aufgabe, der an dieser Stelle nicht nachgegangen werden kann, zu untersuchen, inwieweit das in der Bundesrepublik Deutschland latent vorhandene antizionistische Einverständnis eines großen linken Teils der veröffentlichten Meinung dazu beigetragen hat, in dieser Beziehung die Wahrnehmung im

188

Vgl. S. TH. ARNDT: Das christlich-jüdische Gespräch in der DDR, in: Arndt/Eschwege/Honigmann/ Mertens, Juden in der DDR, S. 11-62. - Das Verhältnis der Kirchen in der DDR, ihrer Synoden und Amtsträger, gegenüber dem Judentum, dem Staat Israel und dem Zionismus bedarf noch der sorgfältigen Aufarbeitung. Die Bischöfe und die Synode des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR, der Bischof der Evgl.-Methodistischen Kirche sowie der Präsident des Bundes Evgl.-Freikirchlicher Gemeinden in der DDR ehrten sich selber, als sie am 27.11.1975 gemeinsam gegen die von der UNVollversammlung am 10. Nov. vorgenommenen Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus protestierten. 189 A. SILBERMANN/J.H. SCHOEPS (HG.): Antisemitismus nach dem Holocaust. Bestandsaufnahme und Erscheinungsformen in deutschsprachigen Ländern, Köln 1986. Von der gleichen Grundüberzeugung war offensichtlich auch H.A. STRAUSS/N. KAMPE, Antisemitismus, getragen, wo gleichfalls ausführlich über den Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland gehandelt wird, während die DDR-Wirklichkeit allenfalls indirekt in dem bereits zitierten Aufsatz „Antisemitismus in marxistischer Sicht“ zur Geltung kommt. Ein gleicher Befund läßt sich auch noch erheben bei M. BRUMLIK/D. KIESEL/C. KUGELMANN/J.H. SCHOEPS (HG.): Jüdisches Leben in Deutschland seit 1945 (= Die kleine weiße Reihe 104), Frankfurt 1988, wo die DDR-Entwicklung nicht angemessen zur Geltung kommt, weil M. Richarz zu dem aussichtslosen Versuch genötigt wurde, das Thema „Juden in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945“ in einem zusammenfassenden Beitrag zu behandeln. Wie gänzlich anders die Akzente gesetzt werden müssen, sobald man das Thema „Juden in der DDR“ nur zu seinem Recht kommen läßt, belegen S. ARNDT/H. ESCHWEGE/P. HONIGMANN/L.MERTENS, Juden in der DDR. Aber hier waren es auch vorwiegend Autoren aus der DDR selbst, die die Mauern des Schweigens diesseits und jenseits der deutschdeutschen Grenze durchbrachen.

634 Blick auf die DDR-Verhältnisse einzuschränken. Material für eine solche Untersuchung liegt reichlich vor190.

Als Honecker im Vorfeld des 50. Jahrestages der „Reichskristallnacht“ und in Vorbereitung seines Staatsbesuchs in den USA, mit dem er seine politische Laufbahn zu krönen gedachte, eine totale Wende in der Behandlung der „Judenfrage“ einleitete, der eine teilweise Wende in der Haltung gegenüber dem Staat Israel korrespondierte, wurde eine neue Stufe in der Entwicklung eingeleitet. Sie kann wegen der Fülle der Fakten und der Kompliziertheit der Zusammenhänge an diesem Ort nicht behandelt werden, muß hier aber zumindest erwähnt werden, wird an ihr doch nochmals deutlich, was die Einstellung der DDR-Führung gegenüber Juden und Jüdischen Gemeinden von Anfang an bestimmte.

Diese Einstellung war, das wird man im Rückblick sagen dürfen, bis auf die Anfangsjahre in der SBZ, von einem rein politischen Machtkalkül bestimmt. In dem Maße, in dem die jüdischen Bürger und ihre Gemeinden in der DDR als Mittel der Innen- und noch mehr der Außenpolitik instrumentalisiert wurden, wurde die Politik der DDRFührung auch auf diesem Gebiet unmoralisch. Eine in der Nazizeit geschundene Minderheitengruppe wurde in der DDR entsprechend den Anforderungen der Tagespolitik manipuliert und damit in ihren Rechten gemindert. Der aggressive Antizionismus der Außenpolitik der DDR scheute auch vor antisemitischen Mißverständnissen nicht zurück. Nach innen gewendet gehört die gebetsmühlenhaft wiederholte Behauptung von der Unmöglichkeit des Antisemitismus in der DDR zu den zahlreichen Lebenslügen, an denen das Regime schließlich zerbrach191. Heute wird offen über zahlreiche Friedhofsschändungen und andere antisemitisch akzentuierte Vorfälle in der DDR berichtet, deren Häufung zuletzt noch sogar das ZK der SED veranlaßt haben soll, dieses Problem unter strengster Geheimhaltung zu behandeln. 190

Seitdem im Frühsommer 1990 das erhebliche Ausmaß der Unterstützung des SED-Regimes für die RAF-Terroristen enthüllt und damit auch erneut die Querverbindungen zwischen den palästinensischen Terrororganisationen, der RAF und dem Staatssicherheitsdienst der DDR ins öffentliche Bewußtsein gerückt worden sind, stellt sich das Versagen einer kritischen Publizistik in der Bundesrepublik Deutschland noch peinlicher dar. 191 Wie ein jüdischer DDR-Bürger, der nicht in eine der Gemeinden integriert war, die Situation beurteilt, zeigt eindrucksvoll H. NOLL: Früchte des Schweigens. Jüdische Selbstverleugnung und Antisemitismus in der DDR, in: Deutschland Archiv 22, 1989, S. 769-778.

635 Zu den folgenreichsten Langzeitwirkungen der SED-Diktatur gehört die Störung bzw. Zerstörung des jüdischen Identitätsbewußtseins. Wie dieser Vorgang im einzelnen erfaßt, beschrieben und bewertet werden kann, muß weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. In welcher Richtung hier zu fragen wäre, spricht Irene Selle (geb. 1947), die Tochter Rudolf Schottlaenders, in einem Interview an: „Ich möchte aber betonen, daß ich die besondere Sensibilität meiner Herkunft gegenüber [...] eigentlich erst in der DDR entwickeln konnte, weil hier die Tabuisierung so weit verbreitet war. Du hast gefragt, ob mir Antisemitismus begegnet ist. Ich möchte eher sagen, in der DDR ist mir begegnet, daß das Wort ‚Jude’ gemieden wurde, Juden wurden, wenn es überhaupt nicht vermeidbar war, als ‚Jüdische Menschen’ bezeichnet.“192

Die freigewählte Volkskammer der DDR tat angesichts dieser Vergangenheit das einzig Richtige, als sie vor aller Öffentlichkeit einmütig erklärte: „Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Land.“193 An diesen Worten ist nichts zu mindern, ihnen ist nichts hinzuzufügen. So wie von der DDR, um ein bitteres Wort Stefan Heyms zu zitieren, nicht mehr als eine Fußnote in der Weltgeschichte übrigbleiben wird, so wenig wird es auch ein von den Juden und den Jüdischen Gemeinden in der DDR hinterlassenes Erbe geben. In den 40 Jahren seines Bestehens hat das SED-Regime auch auf diesem Gebiet nicht nur versagt, sondern auch schwere Schuld auf sich geladen.

192

I. SELLE: Wir wußten gar nicht, wie bedroht wir waren, in: V. v. Wroblewsky, Zwischen Thora und Trabant, S. 82-99, bes. S. 96. Vgl. Allgemeine Jüdische Wochenzeitung 45, Nr. 16 vom 19.4.1990, S. 2.

193

637 Helmut Eschwege. Ein jüdischer Historiker in der DDR (2003/04)

Als Helmut Eschwege am 11. März 1984 zusammen mit Siegfried Theodor Arndt die Buber-Rosenzweig-Medaille in Worms verliehen wurde, fand das allgemeinste Zustimmung. Ehrte der Koordinierungsrat für christlich-jüdische Zusammenarbeit doch damit zwei Persönlichkeiten, die ebenso klug wie zäh dafür gesorgt hatten, dass im antifaschistischen Musterstaat DDR endlich nicht nur innerhalb von Kirchenmauern über Juden, die Shoah und Israel geredet wurde. Arndt, Pfarrer und Journalist, hatte in Leipzig 1964 eine Arbeitsgruppe „Kirche und Judentum“ ins Leben gerufen, die mit ihren Jahrestagungen ein immer zahlreicher werdendes Publikum erreichte. Eschwege, 1913 in Hannover geboren, Jude, Atheist, Kommunist und immer wieder auch SED-Mitglied, war ein Einzelkämpfer, der erst Ende der siebziger Jahre begriff, dass der „Schutzraum Kirche“ auch für Außenseiter wie ihn Wirkungsmöglichkeiten zu bieten hatte1.

Die Szenerie der Preisverleihung in Worms war übrigens nicht ohne hintergründigen Reiz. Die Medaillen wurden nämlich an die zu ehrenden DDR-Bürger durch Rabbiner Nathan P. Levinson überreicht, der Anfang 1953 – damals noch als amerikanischer Militärrabbiner - die Juden in der DDR zur sofortigen Flucht aus dem kommunistischen Teil Deutschlands aufgefordert hatte, weil sie ihres Lebens angesichts der das ganze kommunistische Imperium überziehenden stalinistischen Judenhetze nicht mehr sicher seien. Zumindest Helmut Eschwege muss diese Episode noch im Gedächtnis gewesen sein, war er doch über lange Zeit der bedeutendste Kenner der Geschichte des deutschen Judentums, den es in der DDR gab.

Wer war dieser Helmut Eschwege? Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Interessierte Leser in der DDR kannten vor allem zwei Bücher von diesem Autor, die beide bahnbrechend gewirkt hatten. 1966 erschien im VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften „Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden 1933-1945“, die 2. Aufla1

Siefried Theodor Arndt/Helmut Eschwege/Peter Honigmann/Lothar Mertens: Juden in der DDR. Geschichte – Probleme – Perspektiven. Arbeitsmaterialien zur Geistesgeschichte 4, Duisburg 1988.

638 ge dieses Buches folgte 1981. Mit diesem Buch wurde erstmals in der DDR eine dokumentarische Übersicht über den nationalsozialistischen Judenmord greifbar. Die ideologisch korrekte und Eschwege von der Zensur aufgezwungene Einleitung von Rudi Goguel hingegen repetierte das SED-typische Klischee vom Antisemitismus als „integrierendem Bestandteil des imperialistischen Herrschaftssystems“, natürlich ohne der Judenverfolgungen Stalins zu gedenken. Dafür geriet dem ideologischen Aufpasser der Schluß seiner Einleitung besonders hymnisch: „Mit dem Sieg des Sozialismus wird auch in der vieltausendjährigen Geschichte des jüdischen Volkes ein neues Blatt aufgeschlagen. Die Periode der grausamen Verfolgungen durch die herrschenden Klassen ist zu Ende gegangen. Das Zeitalter der endgültigen Emanzipation, der brüderlichen Solidarität, ist angebrochen.“2 Nun, so etwas überlasen wir damals, wußten wir doch schon genug davon, wie bedenkenlos die SED-Machthaber das jüdische Schicksal im Kampf gegen die „Bonner Ultras“ und das „zionistische Israel“, die „Speerspitze des Imperialismus im Nahen Osten“ instrumentalisierten.

1980 publizierte Helmut Eschwege im Dresdner VEB Verlag der Kunst seine umfassende und reich illustrierte Dokumentation „Die Synagoge in der deutschen Geschichte“, die 1988 in dritter Auflage erscheinen und auch in der Bundesrepublik veröffentlicht werden konnte. In seiner Autobiographie „Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines deutschen Juden“, 1991 bei Christoph Links in Berlin gedruckt, hat Eschwege ausführlich geschildert, welche fast unglaublichen Schwierigkeiten ein deutscher Jude in der DDR überwinden mußte, um Sachbücher zu jüdischen Themen im „antifaschistischen Musterstaat“ publizieren zu können.

Als Helmut Eschwege sich allerdings daran machte, das von der SED-Führung kanonisierte Klischee von den Juden aufzubrechen, die lediglich „Verfolgte des Naziregimes“, aber keine „Kämpfer gegen den Faschismus“ gewesen seien, war es mit der Geduld der Parteiideologen zuende. Seine große Studie „Selbstbehauptung und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde 1933-1945“ drohte, den Alleinvertretungsanspruch der kommunistischen Arbeiterbewegung als einzige Kraft im antifaschistischen Widerstandskampf kritisch zu hinterfragen. So 2

H. Eschwege, Kennzeichen J., S. 23.

639 konnte dieses wichtige Buch über den jüdischen Widerstandskampf, in dem dieses auch außerhalb der DDR weithin verdrängte Thema erstmals umfassend aufgegriffen wurde, dank des Einsatzes der Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg und der Hamburger Bibliothek für Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung, 1984 in der Bundesrepublik im Verlag Christians3 erscheinen. Wer es in der DDR lesen wollte, war beispielsweise auf eine mutige Großmutter angewiesen, die es bei einer Rentnerreise über die innerdeutsche Grenze schmuggelte.

Helmut Eschwege war gewiß keine einfache Persönlichkeit. Wenn man ihn zu seinem großen Thema befragte, bekam man in der Regel zunächst nur eine knappe Antwort hingeknurrt. Erst im näheren Kontakt ließ sich der missionarische Eifer erahnen, mit dem dieser Mann sein Thema in die Öffentlichkeit zu bringen versuchte. Gewiß hat er auch immer darunter gelitten, nicht der professionellen Historikerzunft anzugehören, sondern als Autodidakt gelegentlich auch regelrecht abqualifiziert zu werden. Wer ihn wie ich über die Arbeitsgemeinschaft „Kirche und Judentum“ kennen lernen durfte, begriff zudem bald, daß der Jude, Atheist und Kommunist Eschwege sich doch recht schwer mit diesen Kirchenleuten tat, die über sein Thema in einem Kauderwelsch zu reden pflegten, das ihm nicht wirklich sympathisch sein konnte. Natürlich wußte Eschwege andererseits sehr gut, welche Art eines ganz speziellen „Schutzdaches“ ihm die Kirche bot. Wir allerdings waren ihm für seine Mitarbeit immer dankbar, weil wir in ihm ein Stück authentisches Judentum erleben durften. Die meisten der etwa 350 Juden, die es in der DDR überhaupt noch gab, waren alte Menschen, die von ihrem schweren Schicksal gezeichnet, eigentlich nur noch in Ruhe gelassen werden wollten. Helmut Eschwege aber war zum Gespräch nach seinen Konditionen bereit und gehörte damit neben Eugen Gollomb, dem unvergessenen Vorsteher der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, zu den wichtigsten Partnern im christlich-jüdischen Dialog, wie er in der DDR möglich war4.

3

Die hier genannten Veröffentlichungen von Helmut Eschwege dürften z.Zt. im Buchhandel nur noch als Restexemplare greifbar sein, können aber im Internet über das Zentrale Verzeichnis antiquarischer Bücher (ZVAB) oder über www.booklooker.de preisgünstig beschafft werden. 4 Vgl. Irena Ostmeyer: Zwischen Schuld und Sühne. Evangelische Kirche und Juden in SBZ und DDR 1945-1990. Studien zu Kirche und Israel (SKI) 21, Berlin 2002.

640 Über all die Schwierigkeiten, die er mit den kleinen und großen SED-Bonzen auszustehen hatte, und die beruflichen und wissenschaftlichen Demütigungen, die er von dieser Seite hinnehmen mußte, hat Eschwege niemals ausführlicher gesprochen. Was da einem deutschen Juden zugemutet worden war, der die Emigration in Estland und Palästina durchleben mußte, bevor er 1946 aus Überzeugung über die ýSSR, wo er Gast Egon Erwin Kischs war, in die SBZ, die spätere DDR, zurückkehrte, erfuhr man erst aus Eschweges bereits erwähnter Autobiographie. Hier erst ließen sich auch Einzelheiten darüber nachlesen, wie seine Projekte zur Geschichte des Jiddischen und des jiddischsprachigen Judentums, zu den jüdischen Friedhöfen auf dem Gebiet der DDR und seine bis heute nicht veröffentlichten Studien zur Geschichte der Juden auf dem Territorium der DDR durch die diversen Dienststellen der Staats- und Parteibürokratie torpediert oder behindert wurden.

Die friedliche Revolution und den Sturz der SED-Diktatur erlebte Eschwege noch in voller Aktivität. Ende 1989 gehörte er zu den Wiederbegründern der SPD in Dresden. Bei der ersten SPD-Großveranstaltung in Dresden am 7. Dezember hielt der einst 1929 in Hamburg in die SPD eingetretene Jude das Eröffnungsreferat über die Verfolgung der sächsischen Sozialdemokraten unter der SED-Herrschaft. 1990 verlieh ihm die TU Dresden durch ihren Senat den 1982 von der SED verweigerten Universitätspreis. Vorträge in ganz Deutschland, aber auch z.B. in New York, folgten, ebenso zahlreiche Artikel vor allem in jüdischen Zeitungen über die Geschichte der Juden in der DDR. Am 28. Juni 1990 erfuhr der „international anerkannte jüdische Historiker“ aus der Zeitung sogar, die SED/PDS habe ihn rehabilitiert und seinen Ausschluß aus der SED aufgehoben: „Die Danksagung habe ich mir erspart.“5 Anfang 1993 starb Helmut Eschwege.

Insgesamt also könnte man, so schien es, von einem Happy-End sprechen, hatte Helmut Eschwege doch zum Schluß seines Lebens jene Anerkennung erfahren dürfen, die ihm über lange Jahre so bitter gefehlt hatte. Doch dabei blieb es nicht: 1997 veröffentlichte der Münchner Historiker Michael Wolffsohn erste Hinweise auf eine

5

H. Eschwege, Fremd unter meinesgleichen, S. 284.

641 langjährige IM-Tätigkeit Helmut Eschweges6. Inzwischen haben insbesondere Karin Hartewig7 und Stefan Meining8 diese traurige Geschichte restlos ausermittelt9. Ausweislich der Stasi-Akten arbeitete Eschwege bereits vom 28. Mai 1956 bis zum 30. Juni 1958 als Geheimer Informant (GI) „Bock“ für das MfS. Andererseits war schon seit Mai 1953 über ihn die Postüberwachung verhängt worden. Auch verschiedene Spitzel wurden auf den widerspenstigen West-Emigranten angesetzt. Bei der Werbung nutzt das MfS in gewohnter Manier die persönliche Zwangslage aus, in der sich Eschwege damals befand. Einen Parteiausschluß hatte er bereits hinter sich. Von der Kreisparteischule „Ernst Thälmann“ war er unter Einleitung eines neuen Parteiausschlußverfahrens abberufen worden. Die Bearbeitung einer Reisegenehmigung nach Israel wurde immer wieder verzögert. Wahrscheinlich glaubte Eschwege, er könne diesen Schwierigkeiten entgehen, wenn er sich „aus Überzeugung“ dem MfS zur Verfügung stellte, wie es in der handschriftlichen Bereitschaftserklärung zur Zusammenarbeit heißt.

GI „Bock“ berichtete über seine internationalen Kontakte zu führenden jüdischen Funktionären, sparte andererseits nicht mit Kritik an den Judenverfolgungen Stalins. Insgesamt aber konstatierte das MfS bei diesem Mitarbeiter eine so hervorragende Arbeit, dass Eschwege im Sommer 1956 zu einer „Dienstreise“ in die „BRD“ aufbrechen durfte, um jüdische Einrichtungen dort auszuforschen. Vor allem aber versuchte er im Auftrag des MfS Kontakte zu Leo Löwenkopf herzustellen, dem führenden jüdischen DDR-Flüchtling. Dabei kam nun allerdings wenig heraus, außerdem sparte Eschwege in seinen ausführlichen Berichten nicht mit allerlei Seitenhieben gegen die SED, so dass sein Führungsoffizier 1957 mit unüberhörbar antisemitischen Anklängen notierte, der GI sei ein leicht zu beeinflussender Charakter, dem es vor allem um persönliche Vorteile und um Geld ginge. Trotz dieser Bedenken schickte das MfS – 6

Vgl. Michael Wolffsohn: Meine Juden – Eure Juden, München-Zürich 1997, S. 155. In seinem Buch: Die Deutschland-Akte. Juden und Deutsche in Ost und West. Tatsachen und Legenden, München 1995, fehlen entsprechende Hinweise noch. 7 Vgl. Karin Hartewig: Zurückgekehrt. Die Geschichte der jüdischen Kommunisten in der DDR, KölnWeimar-Wien 2000, S.186-194. 8 Vgl. Stefan Meining: Kommunistische Judenpolitik. Die DDR, die Juden und Israel. Diktatur und Widerstand 2, Münster-Hamburg-London 2002, S. 205-210 und 234-239. 9 Vgl. zur neueren Forschung auch die Übersicht von Peter Maser: Juden in der DDR, in: Rainer Eppelmann/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.), Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, Paderborn u.a. 2003, S. 217-225, bes. S. 218.

642 gegen den Widerstand der SED – ihren Topagenten 1957 auf Erkundungsreise nach Israel. Das Unternehmen lohnte sich für das MfS, denn Eschwege brachte umfangreiche Berichte und Materialien in die DDR zurück. Die SED war über diese GuerillaAktion des MfS so empört, dass Eschwege erneut aus der Partei ausgeschlossen wurde. Im September 1957 trennte sich deshalb auch die HVA des MfS von ihm, im Juni 1958 unterschrieb Eschwege eine Entpflichtungserklärung gegenüber dem MfS. Seine Akte wurde im Archiv der MfS-Bezirksverwaltung Dresden abgelegt.

Es dauerte bis 1982, bis Eschwege erneut im Visier des MfS auftauchte. Er wurde der nachrichtendienstlichen Tätigkeit und der staatsfeindlichen Hetze innerhalb der jüdischen Gemeinden verdächtigt. Zur erneuten Zusammenarbeit kam es dann im Zusammenhang mit der wüsten Affäre um die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, Karin Mylius, die zwar keine Jüdin, dafür aber die Tochter eines Angehörigen eines SS-Einsatzkommandos war. Frau Mylius ließ sich in Sachen ideologischer Linientreue von niemandem übertreffen, zumal ihr Mann an der Leipziger Universität sich als Professor für Marxismus-Leninismus betätigte. Eschwege kannte die Gerüchte um die Hallenser Vorsitzende ebenso wie alle, die damals mit der Jüdischen Gemeinde in Halle zu tun hatten. Anläßlich einer Vortragreise durch die Bundesrepublik trieb er den Taufschein von Karin Mylius auf. Damit trug er wesentlich dazu bei, eine für die SED außerordentlich peinliche Affäre zu beenden. Im Oktober 1985 aktivierte das MfS seine Beziehungen zu Eschwege erneut. Der IM „Ferdinand“ wurde per Handschlag am 28. Oktober verpflichtet und berichtete sofort wieder umfangreich über den Dresdner kirchlichen Arbeitskreis „Begegnung mit dem Judentum“, Westbesucher in der DDR und zahlreiche andere Angelegenheiten, die für das MfS von großem Interesse waren. Das MfS war allerdings vorsichtig genug, den IM seinerseits unter Beobachtung zu stellen. IMS „Sylvia Lüders“ musste berichten, dass Eschwege sich weiterhin unangepaßt verhielt und die Situation der Juden in der DDR offen kritisierte, so z.B. noch auf dem Leipziger Kirchentag im September 1989. Selbstverständlich begriffen die MfS-Führungsoffiziere sehr rasch, dass Eschwege mit diesem Verhalten über eine fast perfekte Tarnung verfügte. Niemand argwöhnte, dass ausgerechnet dieser Mann auf der Lohnliste der Stasi stand. Ende 1986 war Eschwege erneut für das MfS in Israel unterwegs, berichtet darüber zur vollen Zu-

643 friedenheit seiner Auftraggeber und erhielt einen Agentenlohn von 300 M der DDR ausgezahlt. Bereits im Januar 1987 gab es wieder 200 M Prämie, hatte er doch nun auch die Reise seiner Tochter nach Budapest nachrichtendienstlich verwertet und umfangreiche Materialien über die Situation in Israel übergeben. Die erneute Israelreise im Mai 1989 verfolgte unter anderem den Zweck, die näheren Lebensumstände des ehemaligen israelischen Ministers Josef Burg aufzuklären.

Der hochbetagte IM spitzelte auch noch im Herbst 1989 für seine Auftraggeber. So berichtete er u.a. ausführlich über die Großveranstaltung in der Dresdner Kreuzkirche am 17. Oktober und die Stimmungslage in der Jüdischen Gemeinde. Noch nach dem Fall der Mauer blieb Eschwege für das MfS aktiv. Bei dem letzten dokumentierten Treff mit seinem Führungsoffizier, der als Krankenbesuch getarnt war, erklärte er noch am 14. November nicht nur seine Bereitschaft zu weiterer Zusammenarbeit, sondern übergab dem Stasi-Abgesandten auch das Statut der neuzugründenden SPD in der DDR (SDP).

Aus seiner Autobiographie ist zu erfahren, wie sich Eschwege nach 1989/90 hochgeehrt noch in „mehreren gesellschaftlichen Zusammenschlüssen“ betätigte, darunter auch in der „Deutsch-Israelischen Gesellschaft auf dem Boden der ehemaligen DDR“. In der Volkshochschule hielt der bekennende Atheist jetzt sogar „Vorlesungen über die jüdische Religion“. Im gleichen Zusammenhang findet man allerdings auch das Eingeständnis: „Allmählich macht sich mein Alter bemerkbar – vor allem mein Gedächtnis läßt nach [...].“10

Macht das verständlich, weshalb Helmut Eschwege über seine Zusammenarbeit mit dem MfS auch dann noch so hartnäckig schwieg, als die SED und das MfS die Macht verloren hatten? Wie Eschwege seine Doppelexistenz als jüdischer Historiker in der DDR und Zuträger für das MfS durchhalten konnte, wird letztlich sein Geheimnis bleiben.

10

Vgl. Helmut Eschwege, Fremd unter meinesgleichen, S. 284.

644 Der Fall Helmut Eschwege illustriert auf geradezu dramatisch-konkrete Weise, was ich am Schluß meines Berichtes „Juden und Jüdische Gemeinden in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur“ für die Enquete-Kommission des 12. Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ 1993/94 notiert habe: „Diese Einstellung (der DDR-Führung gegenüber Juden und Jüdischen Gemeinden) war, das wird man im Rückblick sagen dürfen, bis auf die allerersten Anfangsjahre in der SBZ, von einem rein politischen Machtkalkül bestimmt. In dem Maße, in dem die jüdischen Bürger und ihre Gemeinden in der DDR als Mittel der Innen- und noch mehr der Außenpolitik instrumentalisiert wurden, wurde die Politik der DDR-Führung auch auf diesem Gebiet unmoralisch. Eine in der Nazizeit geschundene Minderheitengruppe wurde in der DDR entsprechend den Anforderungen der Tagespolitik manipuliert und damit in ihren Rechten gemindert. Der aggressive Antizionismus der Außenpolitik der DDR scheute auch vor antisemitischen Mißverständnissen nicht zurück. Nach innen gewendet gehört die gebetsmühlenhaft wiederholte Behauptung von der Unmöglichkeit des Antisemitismus in der DDR zu den zahlreichen Lebenslügen, an denen das Regime schließlich zerbrach. [...] Zu den folgenreichsten Langzeitwirkungen, denen die SED-Diktatur die ihrer Herrschaft ausgesetzten jüdischen Menschen aussetzte, gehört die Störung bzw. Zerstörung des jüdischen Identitätsbewußtseins. Wie dieser Vorgang im Einzelnen erfaßt, beschrieben und bewertet werden kann, muß weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.“ Mit der nun kompletten Biographie Helmut Eschweges wird dazu ein erschütterndes Anschauungsmaterial geliefert.

645 DDR: Jüdisches im Lutherjahr 1983 (2009)

Martin Onnasch, dem ich seit gemeinsamen Assistentenjahren in Halle freundschaftlich verbunden bin, hat sich immer wieder auch mit der Geschichte des Judentums, Problemen des christlich-jüdischen Dialogs und der Situation der Jüdischen Gemeinden in der DDR beschäftigt. Deshalb seien ihm zu seinem 65. Geburtstag einige Lesefrüchte gewidmet, die ich am Rande meiner Studien zum Lutherjahr 1983 in der DDR einsammeln konnte.

Es mag erstaunen, wenn auch Jüdisches eine nicht unbeträchtliche Rolle im Zusammenhang mit dem Lutherjahr 1983 gespielt hat. Dabei ging es zunächst um die bekannten antijüdischen Äußerungen des Reformators, dann um die Beteiligung des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR an den Lutherfeiern. Außerdem fiel in das Jahr 1983 das 45. Jahrgedenken der „Reichskristallnacht“. Und schließlich spielte die jüdische Problematik auch bei den Kirchentagen und in der Friedensdekade des Lutherjahrs eine erhebliche Rolle1.

1. Luthers „notorischer Antisemitismus“

Soweit die Quellen zu erkennen geben, kam der erste Anstoß, über Luther und sein Verhältnis zu den Juden auch vor dem Horizont des Lutherjahres 1983 intensiver nachzudenken, ausgerechnet aus den USA. Am 2. Februar 1981 schrieb der Herausgeber der „Jewish Currents - A progressiv monthly“, Morris U. Schappes, an die außenpolitische DDR-Zeitschrift „Prisma” unter Bezugnahme auf die Rede Honeckers bei der Konstituierung des staatlichen Luther-Komitees: „Ich hoffe, daß die Gedenkveranstaltung in der DDR auch einer der großen Schwächen Martin Luthers Aufmerksamkeit geben wird, seinem notorischen Antisemitismus, von dem die Nazis vollen Gebrauch machten.” Der jüdische Journalist aus den USA verwies auf einschlägige Publikationen aus der Nazizeit, in denen Luthers antijüdische Äußerungen betont herausgestellt worden waren, und unterstrich: „Ich glaube, daß das DDR1

Vgl. Ostmeyer, Irena: Zwischen Schuld und Sühne. Evangelische Kirche und Juden in SBZ und DDR 1945-1990 = Studien zu Kirche und Israel 21, Berlin 2002, S. 235-242 und 297.

646 Martin-Luther-Komitee einen großen Beitrag zur internationalen Diskussion und dem Kampf gegen Neonazismus und Antisemitismus leisten könnte, wenn es auch diese negativen Aspekte in Luthers Leben, Wirken und historischer Wertung betonen würde.”2 Der „Prisma“-Chefredakteur, M. Frank-Weiland, wandte sich darauf hin an das staatliche Luther-Komitee mit der Bitte um „Wertung“ der angesprochenen Probleme. Offensichtlich schrillten die Alarmglocken, denn in der Akademie der Wissenschaften der DDR wurde eine „Beratung über den Brief mit den Historikern“ einberufen. Diese erklärten beruhigend: „Das Problem antijüdischer Äußerungen Luthers ist uns natürlich nicht unbekannt. Wir gehen jedoch davon aus, daß es sich dabei nicht um einen bestimmenden Aspekt in Luthers Auffassungen handelte, eher um ein abgeleitetes Problem aus seiner grundsätzlichen Haltung gegen den Wucher. Nichts desto weniger gehört es zu den widersprüchlichen Seiten im Lutherbild, und wir werden in unseren Publikationen, auf Konferenzen etc. selbstverständlich bemüht sein, den ganzen Luther, auch in seinen Widersprüchen zu zeigen. Wenn wir Luther ehren, dann allerdings wegen seiner großen Leistungen für den gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritt, und diese in erster Linie müssen unser Lutherbild bestimmen.“3

Eine ähnliche Haltung bezog auch das kirchliche Lutherkomitee in einer „thematischen Orientierung für die kirchliche Arbeit im Lutherjahr 1983“. Einleitend wurde dort vor einer “Verherrlichung des Menschen Martin Luther” und einem “Lutherbild nach den wechselnden Idealen der Zeit” gewarnt und hinzugefügt: „Gegen diese Gefahr ist man nicht dadurch gesichert, daß man diejenigen Themen in den Vordergrund stellt, die nicht ‚jubiläumsfähig’ sind: z.B. Luthers Äußerungen und Verhalten zu den Juden, zur Täuferbewegung oder auch seine Beurteilung des Bauernkrieges. Diese Themen dürfen allerdings 1983 nicht fehlen, weil Luthers Stellungnahmen von beträchtlicher geschichtlicher Wirkung bis in die jüngste Zeit hinein waren. [...] Die Auseinandersetzung darüber ist nicht zu umgehen, kann aber nicht den Hauptgegenstand kirchlicher Arbeit im Lutherjahr ausmachen.“ Theologisch recht leichtfertig wurde weiter argumentiert: „Werden unter diesem Leitwort Luthers vieldiskutierte Entscheidungen in 2

Organisationsbüro der Martin-Luther-Ehrung 1983: Brief Rakotz an Prof. Bartel mit Anlagen: Brief von Morris Schappes/Jewish Currents an M. Frank-Weiland/Prisma, Brief M. Frank-Weiland an Rakotz und Briefentwurf [ohne Verfasserangabe] an Rakotz, 1.4.1981 Akademie der Wissenschaften der DDR, ZIG 709, Bd. 1. 3 Ebd.

647 der Zeit des Bauernkrieges oder seine Äußerungen zur Judenfrage betrachtet, so ist auch der Tatsache Raum zu geben, daß auch ein Mensch, der aufrichtig ‚Gott über alle Dinge’ stellt, zu Fehlentscheidungen gelangen kann, die seine Mitmenschen belasten.“4

Die Brisanz, die in dem Thema „Luther und die Juden“ steckte, war KirchenStaatssekretär Klaus Gysi, der selber einer jüdischen Familie entstammte, durchaus bewußt. 1996 erinnerte sich Erich Selbmann, früher Leiter des Bereichs Dramatische Kunst des DDR-Fernsehens, daran, wie er im Vorfeld des Luther-Spielfilms der DDR zu Klaus Gysi mit der Frage kam: „Mit wem bekommen wir Ärger, wenn wir Luther so darstellen, wie wir das vorhaben?“ Gysi soll darauf geantwortet haben, bei Protestanten und Katholiken sei nichts zu befürchten: „Es gibt eine Ausnahme: Laß den Antisemitismus bei Luther nicht so deutlich werden!“5

Noch im März 1983 beschäftigte sich das MfS mit dem Problem der antijüdischen Stellungnahmen Luthers. In einem achtseitigen Papier wurden zunächst die „kirchlichen Veranstaltungen im Rahmen der Luther-Ehrungen 1983 zum Thema Luther und die Juden in der DDR“ aufgelistet. Insgesamt registrierte das MfS sechs einschlägige Veranstaltungen auf unterschiedlicher Ebene, darunter die Kirchentage in Eisleben und Magdeburg, den Internationalen Luther-Kongreß und einen Vortrag von Prof. Dr. Ellen Flessmann-van Leer im Rahmen der Friedensdekade in Erfurt. Anschließend wurden einige Informationen zu einer gemeinsamen Konsultation von Lutherischem Weltbund und Internationalem Jüdischen Ausschuß für interreligiöse Konsultationen referiert, die im Juli 1981 in Kopenhagen stattgefunden hatte und 1983 eine Fortsetzung in Stockholm erleben sollte. Über die antijüdischen Schriften Luthers aus der Zeit ab 1543 informierte sich das MfS mit Hilfe einer 1945 (!) in Genf erschienenen Veröffentlichung „Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Judenfrage“6. Auf 4

Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR: Schreiben an Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen und Bundeskanzleramt, Betr.: Luther-Komitee der Evgl. Kirche DDR“ mit Anlagen, 2.2.1983, Bundesarchiv II6-3430-18010. 5 Vgl. Dähn, Horst; Heise, Joachim (Hrsg.): Luther und die DDR. Der Reformator und das DDRFernsehen 1983; Berlin 1996, S. 251. 6 Die Evangelische Kirche in Deutschland und die Judenfrage. Ausgewählte Dokumente aus den Jahren des Kirchenkampfes 1933 bis 1943. Bearb. und hrsg. auf Veranlassung des Flüchtlingsdienstes des Ökumenischen Rates der Kirchen, Genf 1945.

648 der Grundlage eines Katalogs der schlimmsten antijüdischen Äußerungen des Reformators versuchte das MfS zu klären, ob es sich bei „Luthers Judenfeindlichkeit“ um „Antijudaismus“ oder „Antisemitismus“ gehandelt habe. Hierzu beriefen sich die Zuarbeiter des MfS auf unterschiedlichste Autoritäten wie z.B. Karl-Heinz Deschner, Leon Poliakov oder auch den damaligen nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Johannes Rau. Zur Entlastung Luthers, auf die doch alles hinauslaufen sollte, wird in dem MfS-Papier auf der Grundlage der „Lutherischen Welt-Information“ von einem “lutherisch/jüdisch/römisch-katholischen Kolloquium am Ökumenischen Institut in Graymoor, USA, „Mitteilung gemacht, auf dem der amerikanische Historiker Mark U. Edwards ausführte: Die ‚eigentliche Ursache’ für Luthers antijüdische Auffassung sei damit jedoch im Christentum selbst begründet, und zwar in den Unterscheidungen, die der neutestamentliche Apostel Paulus getroffen habe zwischen dem ‚Gesetz’ (mosaisch-gesetzeshörige Juden) und dem ‚Evangelium’ (neutestamentliche Christen).”7 Die Lösung des Dilemmas, mit Luther möglicherweise einen Antisemiten zu ehren, findet das MfS unter Berufung auf Gerhard Brendlers Buch über Martin Luther, aus dem das Votum zitiert wird: „Der Antijudaismus von Luthers Judenschriften entstammt nicht, wie sein noch bornierterer säkularisierter Zwillingsbruder, der Antisemitismus, dem bornierten Nationalismus, sondern subtilster priesterlicher Mentalität.“8

Die Diskussion über den Antijudaismus bzw. Antisemitismus Luthers hat während der Feiern des Lutherjubiläums 1983 selbst keine hervorragende Rolle mehr gespielt. Man war sich auf allen beteiligten Seiten - in der Sache gewiß zutreffend - darüber einig geworden, daß eine simple Identifizierung Luthers als Antisemit nicht zutreffend sei. Joachim Rogge wies bei einem Pressegespräch zum Internationalen Lutherforscherkongreß im August 1983 allerdings noch einmal auf das Thema Luther und die Juden hin, das er zu den „Schwachstellen“ zählte, „an denen weitergearbeitet werden muß“, würden doch damit „Fragen“ berührt, „die Luthers Grenzen betreffen“9.

7

Vgl. Lutherische Welt-Information. Informationsdienst des Lutherischen Weltbundes 2/83, S. 15ff. MfS 71, vgl. Brendler, Gerhard: Martin Luther. Theologie und Revolution, Ost-Berlin 1983, S. 436. Pressegespräch am 22.8.83, 14-15.30 Uhr, im Sekretariat des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR, unter Leitung von Pressepfarrer Günther, über den 6. Internat. Lutherforschungskongreß vom 14.20.8.193 in Erfurt, BA SAPMO DO 4/455; vgl. auch BStU HA XX/4 2064.

8 9

649 2. „Wir wollen nicht von Luther überschattet werden“: Das Gedenken an die Reichskristallnacht im Lutherjahr

Anfang 1983 wurde Helmut Aris, Präsident des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR von 1962 bis zu seinem Tod 1987, beim Staatssekretariat für Kirchenfragen vorstellig. Er teilte mit, er habe „von einigen Aktivitäten der Evangelischen Kirchen Kenntnis, die im Zusammenhang mit der Luther-Ehrung stehen und ihn als Präsidenten des Verbandes unangenehm berühren”10. Der jüdische Spitzenfunktionär wies u.a. auf eine Veranstaltung zum Thema „Luther und die Juden“ hin, die der Dresdner Arbeitskreis Kirche und Judentum im Frühherbst 1983 durchführen wolle: „Bei der Zusammensetzung des Arbeitskreises könne nach seiner Auffassung nicht dafür garantiert werden, daß die Veranstaltung politisch sauber verläuft.“ Zu Besorgnissen Anlaß gaben im Staatsekretariat auch Bemühungen des Ost-Berliner Pfarrers Johannes Hildebrandt, der als Sprecher der Berliner Arbeitsgemeinschaft „Kirche und Judentum“ angeblich einen „Versuch“ startete, „nach Konfliktstoff im Verhältnis zwischen Staat und Kirche gerade im Jahr des Luther-Jubiläums zu suchen“11.

Von Karin Mylius, der Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Halle von 1966 bis 1986, hatte Helmut Aris zudem erfahren, „daß die Evangelische Kirche der Provinz Sachsen beabsichtigt, zum Kirchentag in Eisleben zwei Rabbiner (Dr. Ödön [= Ödon] Singer und einen Rabbiner aus Großbritannien) einzuladen“. Frau Mylius, die nur vorgab, Jüdin zu sein12, fragte an, „ob das von der Kirchenleitung mit dem Präsidenten [des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR] abgesprochen und er auch eingeladen worden sei“. Das Staatssekretariat für Kirchenfragen notierte abschließend: „Genosse Aris stellt uns die Frage, ob uns etwas über die damit verbundene Absicht - etwa interreligiöser Dialog - bekannt sei. Er habe bisher noch nie eine

10

Staatssekretariat für Kirchenfragen: Notiz über Telefonat von Gen. Aris, 5.1.1983, BA SAPMO DO 4/454. 11 Vgl. Ostmeyer, S. 154f. 12 Vgl. Mertens, Lothar: Davidstern unter Hammer und Zirkel. Die Jüdischen Gemeinden in der SBZ/DDR und ihre Behandlung durch Partei und Staat 1945-1990 = Haskala 18, Hildesheim, Zürich, New York 1997, S. 137-142: Die Mylius-Affäre.

650 Teilnahme von Rabbinern an evangelischen Kirchentagen beobachtet. Hält es im übrigen für problematisch.“

Die SED-Führung hat sich solchen Interventionen von jüdischen Funktionären gegenüber offensichtlich sehr restriktiv verhalten. Möglicherweise gab man den Kirchen aber ein Signal, die Vertreter der jüdischen Gemeinden in der kirchlichen Einladungspolitik gesondert zu bedenken. Zumindest heißt es in einem Protokoll des kirchlichen Lutherkomitees vom 18. Februar 1983: „Aufgrund verschiedener Hinweise erscheint es dringend nötig, bei den Einladungen auch an die jüdische Gemeinde zu denken. Der geeignete Zeitpunkt für eine Teilnahme werden die ökumenischen Begegnungstage in Eisleben/Leipzig sein. Der GA [= Geschäftsausschuß des kirchlichen Lutherkomitees] ist der Meinung, daß man zwei Vertreter dazu einladen könnte.“ Solche Einladungen wurden dann auch tatsächlich ausgesprochen, und Helmut Aris nahm an den Luther-Feierlichkeiten in Eisleben und Leipzig teil. Allerdings sprach er noch im September 1983 im Staatssekretariat für Kirchenfragen seine Sorge darüber aus, daß das Gedenken an die Reichskristallnacht im Jahr 1938 durch die Luther-Feierlichkeiten verdrängt werden könnte: „Wir wollen nicht von Luther überschattet werden.“13

Erst sehr spät wurde der SED-Führung klar, wie stark das Lutherjahr 1983 mit anderen Fest- und Gedenkterminen kollidierte. Am 26. Oktober 1982 kam diese Problematik dann aber ausführlich auf einer Beratung der Arbeitsgruppe beim Zentralkomitee der SED zur Luther-Ehrung zur Sprache. Paul Verner gab zu bedenken: „Was die Koordinierung politischer Aktivitäten zur Luther-Ehrung betrifft, muß längerfristig folgendes berücksichtigt werden: Der Festakt des Zentralkomitees, des Staatsrates, des Ministerrates und des Nationalrates der Nationalen Front zur Luther-Ehrung findet am 9. November 1983 in der Staatsoper statt. Zeitgleich damit begeht der Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR den 45. Jahrestag des faschistischen Pogroms, der sog. ‚Reichskristallnacht’. Der Staatssekretär für Kirchenfragen bereitet dafür eine Vorlage für das Sekretariat des Zentralkomitees vor. Es müssen dabei 13

HA XX Berlin: Information: Interessantes Gespräch mit dem Präsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Genossen Aris, Helmut, am 12.9. und 20.9.1983, 26.9.1983, BStU MfS BV Halle XX, Sachakten 1118.

651 Fragen der zeitlichen und räumlichen Trennung dieser Veranstaltungen entsprechend ihrer Bedeutung berücksichtigt werden. Das Zusammenfallen dieser Veranstaltungen ist auch von einiger politisch-ideologischer Brisanz. Luther war ja - um das behutsam zu sagen - bekanntlich nicht frei vom antisemitischen Geist. Die Kirchen haben in ihren Programmen einige Vorträge aufgenommen, in denen das Problem ‚Luthertum und Judentum’ abgehandelt werden soll. Um so notwendiger erscheint es, daß die Gedenkveranstaltung zum 45. Jahrestag der ‘Kristallnacht’ deutlich vom Festakt in der Staatsoper abgehoben wird. Das gilt auch für Veranstaltungen zu beiden Anlässen in den Bezirken.“14 Am 22. Februar 1983 richtete Klaus Gysi ein Schreiben an Verner, indem es um die Ausgestaltung des 45-Jahr-Gedenkens an die „Reichskristallnacht“ ging. In diesem Schreiben unterbreitete Klaus Gysi „nach Konsultation mit dem [...] Gen. Helmut Aris“ folgende Vorschläge: „1. Eine zentrale Gedenkveranstaltung des Verbandes der jüdischen Gemeinden in der DDR wird am 8.11.1983 im Deutschen Theater oder einem anderen repräsentativen Saal der Hauptstadt durchgeführt. Es nehmen die Leitungen der jüdischen Gemeinden, Vertreter des Staates, der Parteien, von Massenorganisationen und gesellschaftlichen Gremien sowie Gäste des Verbandes teil. [...] Die Wahl des Zeitpunktes und des Ortes trägt nicht nur der politischen Bedeutung und der internationalen Wirkung Rechnung, sondern auch der Tatsache, daß am folgenden Tag die Festveranstaltung des Luther-Komitees der DDR in der Staatsoper erfolgt.“ Weiter wurde vorgeschlagen, am Vormittag des 8.11.1983 „eine Kranzniederlegung in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück durch das Präsidium des Verbandes unter Beteiligung von Vertretern des politischen Lebens“ durchzuführen. Außerdem sollte der Staatssekretär für Kirchenfragen einen Empfang für den Verband der Jüdischen Gemeinden und seine Gäste geben. Auch in den Bezirken, Kreisen, Städten und Gemeinden sollten Kranzniederlegungen durchgeführt werden. Bedeutungsvoll hieß es weiter: „Als politische Würdigung empfehle ich, den Verband mit dem Orden ‚Stern der Völkerfreundschaft in Gold’ auszuzeichnen.“ Helmut Aris wurde aus diesem Anlaß zugestanden, „Repräsentanten jüdischer Verbände und Gemeinden aus sozialistischen und nichtsozialistischen Ländern“ einzuladen. 14

Tagesordnung für die Beratung der Arbeitsgruppe beim ZK der SED zur Koordinierung und Kontrolle der politischen Aktivitäten zur Martin-Luther-Ehrung der DDR 1983, 26.10.1982, BA SAPMO DY30/IV2/2.036/48.

652 Auch für die „propagandistisch-publizistische Vorbereitung“ wußte Gysi manche Vorschläge zu machen. So schlug er eine Ausstellung zum Thema „Faschistische Barbarei und Pogrom - Leben einer jüdischen Gemeinde in der DDR“ vor. Das „Neues Deutschland“, die „Deutsche Lehrerzeitung“, die „Wochenpost“, die Frauen-Illustrierte „Für Dich“ und die Bezirkspresse sollten „differenzierte aktuelle wie auch historische Informationen“ aus Anlaß des Gedenktages veröffentlichen. Zudem waren diverse Fernsehsendungen „im Vorfeld des Gedenktages“ vorzusehen. Schließlich wurde empfohlen, „das Nachrichtenblatt des Verbandes berichtet für die in- und ausländischen Leser in einer Gedenknummer mit erhöhter Auflage im Januar 1984“15.

Noch im August 1983 war man sich auf staatlicher Seite aber keineswegs klar darüber, wie man mit dem Gedenken an die „Reichskristallnacht“ im November umgehen wollte. Dem MfS gegenüber berichtete Gysi, der nach Auskunft Horst Dohles stets um ein „persönliches, intensives und positives Verhältnis“ zum Mielke-Imperium bemüht blieb16, am 17. August über „die Bestätigung der eingereichten Vorlage zur Durchführung einer Gedenkveranstaltung anläßlich des 45. Jahrestages der Kristallnacht unter Teilnahme einer Anzahl ausländischer Gäste“. Weiter erfuhr das MfS bei diesem Gespräch von Gysi: „In diesem Zusammenhang ist vorgesehen, dem Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR den ‚Stern der Völkerfreundschaft’ zu überreichen. Auch dazu muß eine Entscheidung getroffen werden.“17

Im September kam es zu einem „internen Gespräch“ des Präsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Helmut Aris, beim MfS, bei dem offensichtlich noch von einer zentralen Gedenkveranstaltung zur „Kristallnacht“ im November ausgegangen wurde: „Genosse Aris antwortete in ziemlicher Erregung auf diese Information, daß das Präsidium der jüdischen Gemeinde (Aris, Ringer, Rotstein) der Meinung sei, es solle keine [gesperrt!] zentrale Veranstaltung in Berlin erfolgen, sondern repräsentative Veranstaltungen in den einzelnen jüdischen Gemeinden. Diesen Vorschlag begründete er vor allem damit, daß aufgrund einer Reihe von Meldungen und 15

Brief von Staatssekretär Klaus Gysi an Paul Verner, 22.2.1983, BStU MfS BV Halle XX, Sachakten 1118. Vgl. Dohle, Horst; Heise, Joachim (Hrsg.): Klaus Gysi. Staatssekretär für Kirchenfragen 1979-1988. Dokumente, Selbstzeugnisse, Interviews und Kommentare, Berlin 2003, S. 56. 17 Gespräch mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen, Gen. Gysi, 18.8.1983, BStU XX/4 2064. 16

653 Artikeln in der Presse der DDR [...], die mit einer undifferenzierten Darstellung der Situation im Nahen Osten eine antijüdischen bzw. antisemitischen Stimmung in der DDR Vorschub leisten würden, internationale Gäste - vor allem aus nichtsozialistischen Ländern - nicht eingeladen werden sollten, zumal sie aus diesem Grund die Einladung ohnehin nicht annehmen würden. In diesem Zusammenhang erwähnte Genosse Aris verstärkt auftretende Fälle von Schändungen auf jüdischen Friedhöfen.“ Zugleich verwies Aris auf die große zeitliche Nähe dieser Gedenkfeier zum Festakt anläßlich des 500. Geburtstages von Luther: „Unter Hinweis auf westliche Pressestimmen machte er deutlich, daß nach seiner Auffassung eine kritische Auseinandersetzung des Staates und der Kirchen mit Luthers Judenfeindlichkeit nur ungenügend erfolge, was für die Juden hier unverständlich und belastend sei.“

Offensichtlich lösten diese Bemerkungen des Präsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden eine heftige Kontroverse aus: „Nach eingehender Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Argumenten, die im Kern den Vorwurf aufkommenden Antisemitismus in Teilen der Bevölkerung unseres Landes oder zumindest einer nicht ausreichenden Bekämpfung antisemitischer Erscheinungen enthalten, zeigte Genosse Aris Bereitschaft, den Vorschlag anzuerkennen.“ Allerdings galt diese Bereitschaftserklärung wohl nur für Helmut Aris persönlich, denn er verwies auf die nächste Präsidiumssitzung des Verbandes der Jüdischen Gemeinden „nach den Hohen Feiertagen“, bei denen die Frage einer zentralen Gedenkveranstaltung erneut behandelt werden sollte, wobei Aris sich bereit erklärte, „für die Durchführung der Gedenkveranstaltung am 8.11.83 zu votieren“. In ein freundlicheres Fahrwasser geriet das Gespräch erst dann, als „die Frage“ angesprochen wurde, „ob eine vorgesehene Auszeichnung des Verbandes im Prinzip von ihm als möglich gesehen werden könnte“. Nach dem MfS-Bericht „beantwortete Genosse Aris mit deutlicher Genugtuung zustimmend und war sichtlich angetan von der Möglichkeit eines Grußschreibens des Generalsekretärs Genossen Honecker“18.

Trotz dieser Teileinigung waren die Besorgnisse der Führung des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR über eine Verstärkung des Antisemitismus in der 18

Vgl. Anm. 13.

654 DDR nicht zur Ruhe gekommen. Am 20. September 1983 informierte Helmut Aris darüber, „daß er von einigen Vorfällen Kenntnis erhielt, die nach seiner Auffassung aus einer antisemitischen Einstellung resultieren“. Dabei ging es vor allen Dingen um eine Störung des Neujahrsgottesdienstes in der Erfurter Synagoge. Jugendliche hatten sich vor dem Gotteshaus „zusammengerottet und Schmährufe ausgebracht“. Anklagend bemerkte Helmut Aris hierzu: „Eine Untersuchung sei nicht erfolgt.“ Außerdem beklagte Helmut Aris, daß einem Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde zu Dresden, einem Rentner und ehemaligen Emigranten, im VP-Meldeamt in Dresden die Ausgabe von Reiseformularen verweigert worden sei, als dieser eine Rentnerreise zu Verwandten in Israel beantragen wollte19.

Die Bedenken von Helmut Aris fanden rasches Gehör. Offensichtlich wollte die SEDFührung die Lutherfeiern nicht durch weitere Interventionen der Führung des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR stören lassen. Bereits am 28. September 1983 entschied Erich Honecker in einem Gespräch mit Paul Verner und Kirchen-Staatssekretär Gysi: „Die vorgesehene zentrale Gedenkveranstaltung anläßlich des 45. Jahrestages der Kristallnacht wird nicht realisiert und damit dem Anliegen der jüdischen Gemeinde entsprochen. Es wird darauf orientiert, diese Gedenkveranstaltung dezentralisiert in die Bezirke zu verlegen.“20

3. „Die Öffentlichkeitswirksamkeit war gering“: Christen gedachten der Judenverfolgungen

Im Zusammenhang mit den Kirchentagen, wo die Problematik „Juden und Christen“ diskutiert wurde, sowie der Friedensdekade im November 1983 und dem Gedenken an die Reichskristallnacht kam es an verschiedenen Orten innerhalb der DDR zu Aktionen, die das MfS alarmierten. So wird aus Potsdam berichtet: „Am 9. 11. 1983 versammelten sich im Verlaufe mehrerer Stunden in wechselnder Zahl (bis zu ca. 18 Personen) vorwiegend jugendliche Personen an einer Gedenktafel in Potsdam am ehemaligen Standort der von den Faschisten zerstörten Synagoge. Sie entzündeten 19

Ebd. MfS HA XX: Gespräch des Genossen Honecker mit dem Genossen Paul VERNER und dem Staatssekretär ür Kirchenfragen, Genossen GYSI, 28.9.1983; BStU XX/4-836.

20

655 Kerzen und beteten. Die Ansammlung wurde von der VP aufgelöst. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden noch zweimal an der Gedenktafel betende Personen gewaltsam durch Kräfte der VP entfernt (am 9.11.1982 hatte an gleicher Stelle eine ähnliche Aktion stattgefunden).“21

Für Rostock gab es eine Vorwarnung des MfS vom 1. November 1983: „Des weiteren wurde bekannt, daß durch den Studentenpfarrer der Evangelischen Studentengemeinde Rostock, Kleemann, gemeinsam mit dem ESG Friedenskreis und mehreren namentlich bekannten feindlich-negativen Kräften eine Gedenkveranstaltung anläßlich der Jahrestagung der Kristall-Nacht am 9.11.83 auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof durchgeführt werden soll. Im Anschluß daran ist geplant, daß sich die Teilnehmer einzeln oder in kleinen Gruppen zum Denkmal für die Opfer des Faschismus begeben, um dort zu singen und zu beten.“22 In einer Meldung vom 18. November 1983 konnte dann das MfS jedoch mit einiger Befriedigung vermelden: „Am 9.11.1983 begaben sich nach dem Gottesdienst in der Christuskirche Rostock ca. 90 Personen zum jüdischen Friedhof und entzündeten an Gräbern Kerzen, die dort abgestellt wurden. Anschließend gingen ca. 50 Jugendliche zum VdN-Ehrenmal in Rostock, hielten dort eine Ehrenwache mit Kerzen und legten Blumen nieder. Die Öffentlichkeitswirksamkeit war gering.“23

Im Rahmen der dezentralen Veranstaltungen zur Erinnerung an die Reichskristallnacht wurde am 6. November 1983 in der Synagoge Rykestraße in Ost-Berlin ein Synagogenkonzert veranstaltet, das nach einem MfS-Bericht von rund 700 Personen besucht wurde. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Dr. Peter Kirchner, hielt die Gedenkansprache. Das Konzert selber wurde vom Kammerchor des Magdeburger Domchores unter Leitung von Kirchenmusikdirektor Günther Hoff und Oberkantor Estrongo Nachama aus West-Berlin gestaltet. Das MfS notierte erleich-

21

MfS HA XX: Information: Verlauf der „Friedensdekade“ der evangelischen Kirchen in der DDR (6.16. November 1983), 18.11.1983, BStU HA XX/4 1221. (MS HA XX): Pläne und Absichten der Evangelischen Kirchen in der DDR im Zusammenhang mit der Durchführung der Friedensdekade vom 6. bis 16.11.1983, 1.11.1983, BStU HA XX/4 1222. 23 Vgl. Anm. 21. 22

656 tert, das Konzert habe „ausschließlich Gebetslieder zum Inhalt“ gehabt: „Die gesamte Veranstaltung verlief ohne Vorkommnisse.“24

Aus Leipzig berichtete das MfS in einem als „streng geheim“ gekennzeichneten Bericht vom 18. November 1983: „Am 9. November 1983 (45. Jahrestag der ‚Kristallnacht’) erfolgte in der Innenstadt (Gottschedstraße) am Gedenkstein zur Mahnung an die faschistischen Jugendpogrome [sic!] von 1938 die Ansammlung von ca. 30 Personen. Diese waren gegen 18 Uhr in mehreren kleinen Gruppen erschienen, hatten dort Kerzen angezündet und diese auf dem Boden abgestellt. Durch Einsatz von Kräften der Deutschen Volkspolizei erfolgte die Auflösung der Ansammlung. Gegen 18.55 Uhr traf eine weitere Gruppe (vom sog. Friedensgebet aus der Nikolaikirche kommend) von 25 Personen an dieser Gedenkstätte ein. Vor dem dort stationierten Funkstreifenwagen wurden demonstrativ mehrere mitgeführte Kerzen angezündet. Aus beiden Gruppen wurden die Personalien von 35 Teilnehmern festgestellt. Am 10. November 1983, gegen 19 Uhr, kam es an der gleichen Stelle zu einer erneuten Ansammlung von elf Jugendlichen/Jungerwachsenen, die dort ebenfalls mitgebrachte Kerzen anzündeten; zu allen Beteiligten erfolgte Personalienfeststellung.“25

Von totaler Unkenntnis bzw. Unverständnis gegenüber jüdischen Belangen sprechen einzelne MfS-Berichte über die Kirchentage im Lutherjahr 198326. In Eisleben wurde im Rahmen des dortigen Kirchentages am 17. Juni 1983 eine Gedenktafel an der St. Andreas-Kirche enthüllt. Die bronzene Tafel trägt das Wort aus 5. Mose 6, Vers 4: „Höre Israel, der Ewige, unser Gott, der Ewige ist einzig.“ Unterhalb einer Menora war zu lesen: „Dem Andenken der jüdischen Bürger, die in unserer Stadt gelebt und gelitten haben und von 1933 bis 1945 ihr Leben ließen.“ Daß diese Tafel an der Andreas-Kirche in Eisleben angebracht wurde, hatte seinen tiefen Sinn. Hier in dieser Kirche hatte Martin Luther 1546 seine letzte Predigt gehalten, in der er noch einmal

24

Vgl. MfS HA XX/4: Vermerk Synagogenkonzert zur Erinnerung an das Novemberpogrom vor 45 Jahren, 7.11.1983, BStU HA XX/4 1222. 25 Vgl. Anm. 21. 26 Vgl. dazu Irmgard Lents Bericht „Der Weg des Kirchentages in der DDR durch drei Jahrzehnte“, in: Schröder, Otto; Peter, Hans-Detlef (Hrsg.): Vertrauen wagen. Evangelischer Kirchentag in der DDR, Berlin 1993, S. 157-197, bes. S. 185f.

657 vor der Gefahr warnte, die von den Juden für den christlichen Glauben ausgeht27. Über die „Enthüllung einer Gedenktafel für die jüdischen Bürger der Stadt Eisleben“ war das MfS rechtzeitig orientiert28. Der IM B „Herzog“ berichtete noch am gleichen Tag ausführlich über die „Enthüllung der Gedenktafel vor etwa 60 bis 80 Personen“29. Interessanter aber und keineswegs frei von Komik ist der konfuse Bericht des gleichen IM über eine Kirchentags-Diskussion zur Frage des Antisemitismus: „In der Gruppe 3 wurde u.a. die Frage diskutiert, inwieweit es auch heute noch bei den Bürgern der DDR einen latenten Antisowjetismus (!) gibt. Dabei wurde darauf hingewiesen, daß es immer wieder Jugendliche gibt, die antisowjetische Äußerungen machen oder das es auf verschiedenen jüdischen Friedhöfen immer wieder Schändungen gegeben hätte. Ein Teilnehmer wies darauf hin, daß in seiner Schulzeit noch immer davon die Rede war, daß sowohl Kommunisten, Antifaschisten und Juden während der Nazi-Zeit umgebracht worden sind und hätte jetzt festgestellt, daß bei dieser Darstellung die Juden weitgehend ausgelassen würden.“ Die Verwechslung von „Antisemitismus“ und „Antisowjetismus“ ist in dem IM-Bericht ständig festzustellen, so heißt es weiter: „Man sollte die zwar wenigen [jüdischen] Gemeinden besuchen, die jüdische Zeitschrift lesen und die jüdische Bibliothek in Magdeburg benutzen. Man sollte in den Gemeinden die Frage nach dem Antisowjetismus näher diskutieren, untersuchen, ob bestimmte Klischees in der Darstellung - so wurden hier die Passionsgeschichten genannt - antisowjetischen Vorstellungen Vorschub leisten. [...] In einer Diskussion im Rahmen der kleinen Arbeitsgruppe sagte ein sehr junges Mitglied, daß die Frage Antisowjetismus keine Rolle spielt, sie würden Frieden und Umwelt diskutieren.“ Ganz unbeeindruckt durch die Gespräche in der Arbeitsgruppe blieb der IM B „Herzog“ offensichtlich aber nicht: „Aus meiner Sicht könnte geschlußfolgert werden, daß dieser Problematik Christen – Juden in der nächsten Zeit eine größere Bedeutung zukommt. Insbesondere unter dem Aspekt, daß hier und dort einige kritische Stellen aufgeworfen werden können; einerseits in der Politik des Staates Israel, andererseits in der nicht zu verleugnenden Schuldfrage, in die immer wieder alle Deut27

Vgl. Peter, Hans-Detlef; Schröder, Otto (Hrsg.): Vertrauen wagen. Kirchentage in der DDR im Lutherjahr 1983, Ost-Berlin 1984, dort S. 32ff. 28 Vgl. MfS HA XX: Information Evangelischer Kirchentag der Kirchenprovinz Sachsen vom 17.-19. Juni 1983 in Eisleben, BStU BV Halle XX, Sachakten 367. 29 Vgl. MfS BV Halle XX/4: IMB „Herzog“ – Tonbandabschrift: Information zum Kirchentag in Eisleben am 17.6.83, BStU BV Halle XX, Sachakten 296.

658 schen einbezogen werden – und das auch von den Ausländern und natürlich auch von den jüdischen Leuten so gesehen wird.“30

Andere Eindrücke vom Eislebener Kirchentag sammelte ein IM der KD Sangerhausen: „Neben der Kirche im Hof vom Pfarrhaus war ein Jude mit einer Gitarre. Er war mit einem großen Hut (Schäferhut) und einem braunen Umhang bekleidet. Dieser Jude hat Lieder gesungen und über die Juden im KZ erzählt. Um den Juden herum saßen im Gras viele Jugendliche (80-100) und hörten ihm zu. [...] Da kam ein in der Nähe stehender Korrespondent aus der BRD hinzu. Er hatte an der Jacke ein Zeichen ‚Presse’ angesteckt. Er zeigte diesen Jugendlichen seinen Presseausweis und stellte sich mit dem Namen [geschwärzt] vor. Er fragte: ‚Was haltet ihr denn von den Juden, sind die richtig behandelt worden und können die jetzt hier ihrem Glauben nachgehen.’ Darauf wurde geantwortet, daß damals in der Nazizeit nicht richtig gehandelt worden wäre an den Juden, daß aber jetzt Israel mit dem Krieg und Besetzung der anderen Länder auch nicht richtig handele. Er fragte dann, ob wir bzw. die Jugendlichen kirchlich gebunden sind. Die Antwort war nein. Da fragte er, was macht ihr denn hier? Antwort: ‚Wollten mal aus Neugier sehen, was hier los ist’.“31

Vom Kirchentag der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in Frankfurt/Oder wußte das MfS lediglich zu berichten: „Die sogenannten Rahmenveranstaltungen zum Kirchentag, wie die Foren ‚Juden und Christen’ (ca. 200 Teilnehmer), ‚Junge Christen’ (350 Teilnehmer), ‚Kinder und Eltern’ (250 Teilnehmer) sowie die Schriftstellerlesung mit Heinz Knobloch32 verliefen programmgemäß und ohne negative Aussagen."33

Beim Kirchentag in Frankfurt/Oder wurde am 19. Juni 1983 der DEFA-Dokumentarfilm „Dawids Tagebuch“ gezeigt, den Konrad Weiß 1981 über die Tagebücher

30

Ebd. MfS BV Halle XX: (IM-)Bericht (Abschrift), Sangerhausen 18.6.83, BStU BV Halle XX, Sachakten 292. 32 Heinz Knobloch (1926-2003), bekannter Schriftsteller und Feuilletonist. 33 MfS HA XX: Information Kirchentage der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg in Frankfurt/Oder und der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen in Eisleben (zweiter Tag), 19.6.1983, BStU HA XX/4 2064. 31

659 des jüdischen Schülers Dawid Rubinowicz34 gedreht hatte. Die „Potsdamer Kirche“ berichtete dazu: „’Dawids Tagebuch’ ist ein Film, der nicht mit einem hoffnungsvollen Ausblick, sondern mit einer Totenklage endet. War da noch etwas zu spüren von dem ‚Vertrauen’, wo Dawids Vertrauen auf Gerechtigkeit erschüttert war? So fragte Konrad Weiß in dem anschließenden Gespräch. [...] Ein Film, der betroffen und traurig machte, aber zugleich herausforderte zur Aufarbeitung der noch immer nicht bewältigten Geschichte des polnisch-jüdischen Volkes.“35

Auf dem Kirchentag der Kirchenprovinz Sachsen in Magdeburg wurde gleichfalls das Thema „Juden und Christen“ in einer eigenen Arbeitsgruppe behandelt. In einem „Hinweis“ des MfS, der laut beigefügtem Verteiler auch Stasi-Minister Mielke vorgelegt wurde, fand die Arbeitsgruppe lediglich eine kurze Erwähnung36. In einer MfSInformation vom 26. Juni 1983 wurde dann mitgeteilt, die Arbeitsgruppe „Juden und Christen“ sei „ohne operativ bedeutsame Probleme“ verlaufen: „Die Arbeitsgruppe Juden und Christen veranstaltete am 25. 6. 1983 in der Zeit von 13 bis 14 Uhr eine Gedenkstunde am Mahnzeichen für die jüdischen Opfer der Nazi-Diktatur am Dom zu Halberstadt. An dieser Veranstaltung, die ohne Vorkommnisse verlief und auf der der ökumenische Gastprofessor Friedländer (London) sowie Pfarrer Gabriel (Halberstadt) sprachen, nahmen etwa 300 Personen teil, unter ihnen die 162 Teilnehmer der Arbeitsgruppe.“37

In den Zusammenhang der Friedensdekade, aber auch des Jahrgedenkens an die „Kristallnacht“ gehört wohl auch noch jener „provokatorisch-demonstrative ‚Friedensmarsch’“, den die Arbeitsgruppe „Frieden stiften“ des „Friedenskreises der Samaritergemeinde Berlin“ für den 13. November 1983 zur Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen/Oranienburg geplant hatte. Laut MfS-Bericht konnte „diese auf Öffentlichkeitswirksamkeit abzielende Aktion [...] durch vorbeugend eingeleite34

Vgl. Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz. Hg. von Walther Petri = Gulliver Taschenbuch 34, Weinheim 1996. 35 Potsdamer Kirche 30/83; zitiert nach, S. 45. 36 Vgl. Hinweis über den Verlauf des evangelischen Kirchentages der Kirchenprovinz Sachsen vom 23 bis 26. Juni 193 in Magdeburg, undatiert, BStU ZA/G 5570. 37 MfS HA XX/4: Information über den Verlauf des dritten Tages des evangelischen Kirchentages in Magdeburg, 26.6.1983, BStU HA XX/4 2064. Vgl. Peter, Schröder 1984, S. 64-67, die Ansprachen von Martin Gabriel und Herrn Levy, Synagogengemeinde Magdeburg.

660 te Maßnahmen wirkungsvoll verhindert und der störungsfreie Besucherverkehr zur Gedenkstätte gewährleistet werden“. Der Termin des Friedensmarsches des Friedenskreises der Samaritergemeinde war nicht ohne politische Brisanz, legte doch am gleichen Tage der Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR in der Zeit zwischen 11 und 12.30 Uhr in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen einen Kranz nieder. In dem MfS-Bericht über den Ablauf der Aktion heißt es: „Am 13. November 1983, gegen 13 Uhr versammelten sich auf den SBahnhöfen Oranienburg und Lehnitz ca. 50 Jugendliche/Jungerwachsene, die an dem genannten ‚Friedensmarsch’ teilnehmen wollten. Die Mehrheit dieser Personen wurde zurückgewiesen. Um 13.05 Uhr erschienen beim Revierleiter der Transportpolizei Oranienburg die Pastorin Schulze, Friederike/Oranienburg, Pfarrer Buntrock/Berlin-Marzahn und Sozialdiakon Boduell, Thomas/Berlin-Biesdorf und erklärten, daß sie durch Superintendent Rißmann/Berlin-Marzahn beauftragt seien, Jugendliche von der Teilnahme abzuhalten. Eine aus 18 Jugendlichen bestehende Gruppe begab sich trotz Einflußnahme der kirchlichen Amtsträger bis zur Gedenkstätte (Zurückweisung erfolgte dort von Sicherungskräften) und anschließend zu einem in der Nähe befindlichen Gedenkstein zu Ehren der Opfer des Todesmarsches. Sie legten dort Blumen nieder, entzündeten zwei Kerzen und verrichteten ein Gebet. (Diese Aktion erreichte keine Öffentlichkeitswirksamkeit.) Maßnahmen zur weiteren Aufklärung der Organisatoren und der Zusammenhänge der Vorbereitung des ‚Friedensmarsches’ sowie zur Feststellung von Reaktionen beteiligter Personenkreise auf die offensiven Maßnahmen der staatlichen Organe sind eingeleitet.“ 38

Insgesamt gesehen ist es sowohl der staatlichen Seite wie auch den kirchlichen Vertretern wohl gelungen, das Thema „Luther und die Juden“ rechtzeitig politisch, historisch und auch theologisch zu domestizieren. Zu einer „verstärkten Ökumene über die Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche hinaus (freikirchliche Gemeinschaften und Jüdische Gemeinden)“, die das MfS als „Zielstellung“ der evangelischen Kir38

MfS (ohne weitere Angaben): Geplanter provokatorisch-demonstrativer „Friedensmarsch“ zur Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen/Oranienburg/Potsdam, BStU HA XX/4 1221. Anhänge zu diesem Bericht BStU HA XX/4 1258.

661 chen ausgemacht hatte, ist es nicht gekommen39. Die Irritationen auf der Seite des Verbandes der Jüdischen Gemeinden konnten rechtzeitig aufgenommen werden, so daß durch die Absage an eine zentrale Gedenkfeier zum 45-Jahr-Gedenken der Reichskristallnacht der ärgste Konfliktstoff beseitigt war. Die Aktionen am 9. November 1983 selber waren weithin von der Basis getragen und konnten in ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit begrenzt werden. Das gilt auch für diejenigen Aktivitäten, die eher dem Umfeld der Friedensdekade des Herbstes 1983 zuzuordnen sind. Trotzdem registrierte das kirchliche Luther-Komitee Ende 1983/Anfang 1984 kritisch zurückblickend: „Luthers Stellung zu den Juden hat viele offenbar in besonderem Maße bewegt. Die Erklärung des Lutherkomitees ist darin verschiedentlich als unzureichend empfunden worden, daß sie sich mit dieser Frage nicht eingehender und kritischer auseinandergesetzt hat. Hier wäre eine Weiterarbeit wünschenswert. Daß Luther keineswegs in allem ‚jubiläumsfähig’ ist, soll auch künftig nicht vergessen werden. Seine Irrtümer und Fehlentscheidungen können gerade angesichts seiner grundlegenden theologischen Einsichten nicht übersehen werden. Doch auch das Luther-Verständnis früherer Zeiten und Luthers Stellung im Rahmen der gegenwärtigen Rezeption des Kulturerbes enthalten offene Fragen an Theologie und Kirche, die des weiteren Nachdenkens bedürfen.“40

39

MfS BV Halle Auswertungs- und Kontrollgruppe Abt. XX: Erkenntnisse über Aktivitäten feindlichnegativer und klerikaler Kräfte zum Mißbrauch der Veranstaltungen der Lutherehrung 1983 im Bezirk und die Wirksamkeit der eingesetzten Kräfte und Mittel im Rahmen der eingeleiteten politischoperativen Sicherungsmaßnahmen sowie Schlußfolgerungen, 23.11.1983, BStU BV Halle XX, Sachakten 366. 40 Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR: Konzeption und Veranstaltungen des Lutherkomitees der Evangelischen Kirchen in der DDR – Einsichten am Ende des Lutherjahres 1983, 19.1.1984, BA II6-3430.

663 Nachweis der Erstdrucke

Christen und Juden

Luthers Schriftauslegung in dem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543). Ein Beitrag zum ‚christologischen Antisemitismus’ des Reformators, in: Judaica 29, Zürich 1973, S. 71-84 und 149-167

Erbarmen für Luther? Zu zwei neuen Büchern über den Reformator und die Juden, in: Judaica 39, 1983, S. 166-178

Der alte Bileam. Herder und das Judentum, in: Beiträge zur ostdeutschen Kirchengeschichte 6, 2004, S. 106-123

„Der Freund Israels“ - F.A.G. Tholuck und die Judenmission des frühen 19. Jahrhunderts, in: Jb. f. Schlesische Kirchengeschichte 59, 1980, S. 108-161

Kaddisch für einen fast Vergessenen: Das Leben und Wirken des Nikolaus Heinrich Julius (1783-1862) aus Altona, in: Freimark, Peter/ Richtering, Helmut (Hg.), Gedenkschrift für Bernhard Brilling = Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 14, Hamburg 1988, S. 190-202

Spätantike und mittelalterliche jüdische Kunst

Die Siegelbildvorschläge des Clemens von Alexandrien und das spätantike rabbinische Judentum, in: Wiss. Ztschr. d. Universität Halle, Gesellschaftswiss. Reihe 22, 1973, S. 65-70

664 Zur Deutung der Fresken in Arkosol IV und Cubiculum II der jüdischen TorloniaKatakombe in Rom, in: Kairos 17, Salzburg 1975, S. 81-88

Der Greis unter den Sternen. Ein Beitrag zur Deutung des Bildprogramms über der Toranische in der Synagoge von Dura Europos, in: Kairos 18, 1976, S. 161-177

Sonne und Mond. Exegetische Erwägungen zum Fortleben der spätantik-jüdischen in der frühchristlichen Kunst, in: Kairos 25, 1983, S. 41-67

Irrwege ikonologischer Deutung? Zur Diskussion um die spätantik-jüdische Kunst, in: Rivista di Archeologia Cristiana 56, 1980, S. 331-367

Synagoge und Ekklesia. Erwägungen zur Frühgeschichte des Kirchenbaus, in: Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. FS f. Heinz Schreckenberg, Göttingen 1993, S. 271-292

Probleme der mittelalterlichen Haggada-Illustration, in: H. Goltz (Hg.), Eikon und Logos. Beiträge zur Erforschung byzantinischer Kulturtraditionen, Bd. 1 = MLU HalleWittenberg. Wiss. Beiträge 1981/35 (K6), Halle 1981, S. 159-171

Schlesisches Judentum

Das schlesische Judentum, in: H.J. Menzel (Hg.), Geschichte Schlesiens Band 3, Stuttgart 1999, S. 333-360

665 Heinrich Graetz (1817-1891), in: Dietrich Meyer/ Christian-Erdmann Schott/ Karl Schwarz (Hg.), Über Schlesien hinaus. Zur Kirchengeschichte in Mitteleuropa. Festgabe für Herbert Patzelt zum 80. Geburtstag = Beihefte zum Jb. f. Schlesische Kirchengeschichte 10, Würzburg 2006, S. 251-275

Die eigentliche Heimat. Das „Breslauer Tagebuch“ des Walter Tausk und seine Geschichte, in: R. Mohr (Hg.), „Alles ist euer, ihr aber seid Christi“. FS für Dietrich Meyer = Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte 147, Köln 2000, S. 1009-1028

Das Ende des schlesischen Judentums im Spiegel der Tagebücher von Walter Tausk und Willy Cohn, in: Beiträge zur ostdeutschen Kirchengeschichte 8, 2007, S. 278-299

Juden im östlichen Europa

Von Menschen und Büchern. Ein Erinnerungsgang durch das alte Galizien und die Bukowina. Arbeitsmaterialien zur Vorbereitung einer Exkursion (unveröffentlicht, 2007)

Simon Dubnow (1860-1941): „Buch des Lebens - Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit“, in: Glaube in der 2. Welt 34, 2006, S. 16f.

Das verlöschende Licht. Zur gegenwärtigen Lage des Judentums in den Ländern Osteuropas, in: Kirchliche Zeitgeschichte 6, 1993, S. 159-182

Juden und Jüdische Gemeinden in der DDR

Juden und Jüdische Gemeinden in den verschiedenen Phasen der SED-Diktatur, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Band III/3, Baden-Baden - Frankfurt/Main 1995, S. 1550-1597

666 Helmut Eschwege. Ein Historiker in der DDR, in: Horch und Guck Nr. 44/2003, S. 2123

DDR: Jüdisches im Lutherjahr 1983, in: Irmfried Garbe (Hg.), Kirche im Profanen. Studien zum Verhältnis von Profanität und Kirche im 20. Jahrhundert. FS für Martin Onnasch zum 65. Geburtstag = Greifswalder theologische Forschungen 18, Frankfurt/M. u.a. 2009, S. 415-429

667 Der Autor Geb. 1943 in Berlin. Studium der Evangelischen Theologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1962-1968. Promotion in Halle 1972. Seit 1977 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Kirchenamtes der EKD in Hannover. Habilitation in Münster 1988. 1993 Ernennung zum Professor für Kirchengeschichte und Christliche Archäologie. Ab 2001 Direktor des Ostkirchen-Instituts und Leiter der Abteilung Christliche Archäologie und Geschichte der Kirchlichen Kunst der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. 1995 bis 1998 sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“. 2000 bis 2002 sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“. Ab 1995 Mitherausgeber der Internationalen Halbjahresschrift „Kirchliche Zeitgeschichte“ (KZG) und ab 1997 der „Beiträge zur ostdeutschen Kirchengeschichte“ (BOKG). Seit 1998 Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Archive der Parteien und Massenorganisationen der ehemaligen DDR im Bundesarchiv (SAPMO), ab 1999 Vorsitzender des Fachbeirats Wissenschaft der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SEDDiktatur. Vorsitzender des Fachausschusses Kirchengeschichte der EKMOE der EKD, des Vereins für ostdeutsche Kirchengeschichte (VOKG) und des Pförtner Bundes e.V. Gemeinnütziger Verein der ehemaligen Schülerinnen und Schüler sowie der Freunde und Förderer der Landesschule Pforta. Sommer 2008 Ruhestand.