Zur Technik von Anspielung und Zitat in der römischen Dichtung: Vergil, Gallus und die Ciris ISBN 3 406 43294 8

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Zur Technik von Anspielung und Zitat in der römischen Dichtung: Vergil, Gallus und die Ciris
 ISBN 3 406 43294 8

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ZETEMATA MONOGRAPHIEN ZUR KLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFT Heft ioo

Dorothea Gail

Zur Technik von Anspielung und Zitat in der römischen Dichtung Vergil, Gallus und die Ciris

VERLAG C. H. BECK MÜNCHEN

ZETEMATA MONOGRAPHIEN ZUR KLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFT BEGRÜNDET VON ERICH BURCK UND HANS DILLER IN GEMEINSCHAFT MIT CHRISTIAN GNILKA UND DIETER TIMPE HERAUSGEGEBEN VON ECKARD LEFEVRE UND GUSTAV ADOLF SEECK HEFT ioo

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Zur Technik von Anspielung und Zitat in der römischen Dichtung Vergil, Gallus und die Ciris

VON DOROTHEA GALL

VERLAG C. H. BECK MÜNCHEN

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Gail, Dorothea:

Zur Technik von Anspielung und Zitat in der römischen Dichtung : Vergil, Gallus und die Ciris / von Dorothea Gail. - München : Beck, 1999 (Zetemata; H. 100) Zugl.; Köln, Univ., Habil.-Sehr., 1994/95 ISBN 3 406 43294 8

ISBN 3 406 43294 8 © C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1999 Satz der Autorin mit Word 6.0 für Macintosh Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“ GmbH, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany

Inhalt

Vorwort.7 Einleitung.9 I.

Die Technik der literarischen Zitation.12 1. Literarische Zitation und Originalität.12 2. Strukturen literarischer Zitation.22 3. Vergilische Fremdzitation.31 4. Vergilische Selbstzitation.42 5. Methodische Folgerungen.46

II. Die Ciris.50 1. Standorte der Czr/s-Forschung.50 2. Komposition und Erzähltechnik der Ciris.71 3. Stilistische Eigenheiten der Ciris.84 III. Die Ciris und Vergil.90 1. Bestimmung des Untersuchungshorizontes.90 2. C/r/^-Similien in den Eclogen.92 3. C/m-Similien in den Georgica.118 4. Czris-Similien in der Aeneis.126 IV.

C.

Cornelius Gallus und die Ciris.141

1. Die Testimonien zu Gallus' Leben und Werk.141 2. Gallus und die subjektive Liebeselegie.151 3. Epische Werke des Gallus.158 4. Gallus als Autor der Ciris: Hinweise bei Vergil.175 5. Gallus als Autor der Ciris: Hinweise bei Properz.181

6

Inhalt

V. C. Cornelius Gallus und Georgica 4.192 1. 2. 3. 4.

Georg. 4, 315 ff. - Aristaeus und Orpheus.192 Die laudes Galli.197 Georg. 4, 315 ff. und ecl. 6 und 10.203 Zur Bedeutung des mythischen Schlusses der Georgica.208

VI. Die Gallus-Fragmente von Qasr Ibrim.219 1. Der Textbefund.219 2. Die Echtheit der Fragmente.226 3. Die Entstehungszeit der Fragmente.235 Schluß.246 Appendix: Der Culex.

253

Literaturverzeichnis.269 Indices.285 1. Namen und Begriffe.285 2. Stellen.289 3. Verglichene Textstellen.300

Vorwort

Die vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Habili¬ tationsschrift, die im Wintersemester 1994/95 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Ohne das otium eines Habilitations¬ stipendiums wäre sie erheblich später vollendet worden; der Deutschen For¬ schungsgemeinschaft gilt deshalb mein erster Dank. Den Herausgebern der Zetemata weiß ich mich durch die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe verpflichtet; auch ihnen sei herzlich gedankt. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Lehrer Clemens Zintzen; auf seinen klugen Rat und freundschaftlichen Beistand konnte ich mich immer veriassen.

Köln, im November 1998

Dorothea Gail

I

Einleitung

Die vorliegende Abhandlung untersucht Funktionsweisen der literarischen Zitati¬ on und macht sie für die Fragen der Authentizität literarischer Werke und der relativen Bestimmung ihres Entstehungszeitpunktes fruchtbar. Von den beiden möglichen methodischen Verfahrensweisenist dabei nicht der Weg einer systema¬ tischen Analyse des Phänomens in den verschiedenen Phasen und Werken der Literatur gewählt; vielmehr ist die Untersuchung in den Kontext eines literaturge¬ schichtlichen Problemkreises gestellt, der durch drei Namen umrissen werden kann: Vergil, das unter Vergils Namen überlieferte Kleinepos Ciris, C. Cornelius Gallus. Das Verhältnis zwischen den beiden methodisch-thematischen Feldern ist durchaus dialektisch: Wie die Betrachtung der zugrunde gelegten literarischen Werke und Fragmente ihrerseits durch die Einbeziehung von Aspekten der Similienforschung neue Akzente gewinnt, so gelangt die Similienforschung durch die Analyse literarischer Einzelfälle zu Ergebnissen von paradigmatischer Relevanz. Die Untersuchungsrichtung ist also eine zweifache, da nicht allein Maximen li¬ terarischer Zitation aus deren Einzelphänomenen erschlossen, sondern diese Ma¬ ximen auch für das der römischen Philologie schon lange anhängige Thema fruchtbar gemacht werden, in welchem Verhältnis zu Vergil das Kleinepos Ciris steht. In dieser Frage gibt es drei Möglichkeiten: 1. Die Ciris ist ein Werk Vergils, wie seit dem 4. Jh. durch mehrere Testimo¬ nien bezeugt ist; die zahlreichen Übereinstimmungen zwischen ihr und Vergils opera maiora in Wortjunkturen und ganzen Versen gehen auf Selbstzitation zu¬ rück. 2. Die Ciris ist vorvergilisch und von Vergil ausgiebig zitiert, ihr Autor aber fraglich. 3. Sie ist nachvergilisch und zitiert ihrerseits Vergil, als Werk eines Plagiators oder eines imitator Vergilii. Daß das vieldiskutierte Problem der Ciris erneut zur Debatte gestellt wird, bedarf in Anbetracht einer fast durchgängigen communis opinio, derzufolge die Autor¬ schaft Vergils unmöglich, die Priorität Vergils nicht zu bestreiten sei, und eines gewissen Überdrusses der Forschung angesichts gelegentlicher neuer Angriffe auf

Einleitung

10

dieses „Bollwerk“ der Vergilforschung1 einer besonderen Rechtfertigung, die nicht allein in der Widerlegung bisher geführter Beweisgänge bestehen kann: Diese sind selten methodisch reflektiert;2 meist beruhen sie auf ästhetischen Urtei¬ len oder auf dem Kriterium größerer Sinnhaltigkeit oder Stimmigkeit, Aspekten also, die in hohem Maße der Gefahr des Vorurteils ausgesetzt sind. Ihre Kritik kann die These, die Ciris hänge von Vergil ab, nur relativieren, nicht aber wider¬ legen oder als signifikant unwahrscheinlicher erweisen. Dasselbe gilt für eine Gesamtanalyse des Kleinepos: Der Nachweis, daß die Ciris in Sprache, Struktur und Entfaltung der Motive einen einheitlichen Kunstcharakter und in weiten Tei¬ len auch einen offensichtlich eigenständigen künstlerischen Rang erreicht, entkräf tet zwar das Verdikt, ein Dichter wie Vergil könne das Flickwerk der Ciris weder erstellt noch umfänglicher Zitation gewürdigt haben, bietet aber damit noch kein schlüssiges Kriterium in den Fragen von Autorschaft und Priorität. Einem neuen Beweisgang müssen Richtlinien zugrunde gelegt werden, die von der Forschung bisher nicht bzw. nicht hinlänglich berücksichtigt wurden. Ein solch neuer Aspekt ist zu gewinnen, wenn in eindeutigen Zitationszusammenhän¬ gen Kriterien erschlossen werden können, nach denen mit einiger Sicherheit zwi¬ schen „Original“ und Zitat differenziert werden kann; zu diesem Zweck werden im ersten Kapitel Texte analysiert, in denen verschiedene römische Dichter einan¬ der zitieren bzw. rezipieren. Die Auswahl der Beispiele folgt keinem inneren Prinzip, sondern ist unter dem Gesichtspunkt ihrer Aussagekraft und Anschau¬ lichkeit getroffen; entsprechend der Zielrichtung der vorliegenden Untersuchung ist aber Vergil in besonderer Weise berücksichtigt. Im Verlaufe der folgenden Untersuchungen zu Vergil und der Ciris tritt nahezu zwangsläufig ein weiteres „Rätsel“ der klassischen Philologie in den Blick:

Symptomatisch ist R. E. H. Westendorp-Boerma, Oü en est aujourd'hui l'enigme de f Appendix Vergiliana?, in: H. Bardon u. R. Verdiere (Hgg.), Vergiliana, Leiden 1971, 386-421, 411: „Sil est legitime d'oser esperer que la question

de l'authenticite

ne

reclame pas d'etude nouvelle, ...“ 2

Aufschlußreich zur Problematik von Echtheits- und Prioritätsnachweis

überhaupt

sind die Arbeiten von W. R. Hardie, A Criticism of Criteria, CQ 10, 1916, 32-48; K. Vretska, Zur Methodik der Echtheitskritik, WS 70, 1957, 306-321, 306 f.; B. Axelson, Lygdamus und Ovid. Zur Methodik der literarischen Prioritätsbestimmung, Eranos 58, 1960, 92-111, 92 ff. Eine

umfänglichere Methodendiskussion

zur C/r/s-Frage

bieten E. Bickel, Syllabus indiciorum quibus pseudovergiliana et pseudoovidiana carmina defmiantur. Symbolae ad Cirim, Culicem, Aetnam, RhM 93, 1950, 289-324, und Westendorp-Boerma. Bickel ordnet die Kriterien zeitlicher Zuordnung unter den Aspekten de eruditione,de imitatione, de latinitate et re metrica, de saeculo in carminibus incertis comparente', Westendorp-Boerma führt als Kriterien

Testimonien,

historische Argumente, Viten, Sprache, Metrik und Stil an und postuliert die Berück¬ sichtigung all dieser Aspekte gemeinsam.

Einleitung

11

C. Cornelius Gallus, dessen Name mehrfach mit Vergil verknüpft ist und den v.a. Franz Skutsch als Autor der Ciris zu erweisen suchte. Die Analyse der einschlä¬ gigen Texte vermittelt, insbesondere unter Berücksichtigung antiker Zitations¬ technik, einigen Aufschluß über Gallus' dichterisches Werk; in diesem Zusam¬ menhang sind auch die C/r/s-Similien der properzischen Monobiblos aufschlu߬ reich. Um eine gewisse Vollständigkeit im literaturgeschichtlichen Bereich zu erzielen, wird die Tragfähigkeit der Similienforschung abschließend an den neun Versen von Qasr Ibrim erprobt, einem gewöhnlich dem Gallus zugesprochenen Papyrusffagment.

I. Die Technik der literarischen Zitation

1. Literarische Zitation und Originalität

In seinem Gedicht „Was schlimm ist“ entwickelt Gottfried Benn in einer mehr¬ gliedrigen Klimax Beispiele des „Schlimmen“. Das dritte dieser Beispiele lautet so: jEinen neuen Gedanken haben, den man nicht in einen Hölderlinvers einwickeln kann, wie es die Professoren tun. (6-8)

Bei isolierter Betrachtung teilt sich dem Leser zunächst vor allem der Sarkasmus der Verse mit, und er erkennt den bitteren Ton wieder, in dem Benns Lyrik auch sonst das Epigonentum seiner Zeit an den Pranger stellt. Vers 8 scheint zudem eine spezifische Form wissenschaftlicher Selbstdarstellung zu geißeln, ein sich schöngeistig gelierendes „Professorentum“, dem Dichtung zur Fundgrube von Zitaten erstarrt ist. Berücksichtigt man jedoch den Titel des Gedichts, so kehrt sich der Sinn um, und das „Einwickeln des neuen Gedankens in einen Hölder¬ linvers“ offenbart sich als Wunschbild, die Unfähigkeit dazu als leidvolle Erfah¬ rung. Angesichts der Ambivalenz der Aussage ist die Metapher näher zu betrach¬ ten. Im Begriff des „Einwickelns“ hegt die Vorstellung, daß der „neue Gedanke“ zugedeckt und erstickt wird; andererseits kann ein solches „Einwickeln“ aber auch der Ausbreitung und Wirkung einer Aussage dienlich sein, indem es ihr eine spezifische ästhetische Dimension verleiht und das Verstörende des Neuen durch die Anknüpfung an anerkanntes Kulturgut (es ist kein Zufall, daß Beim Hölderlin und nicht beispielsweise Brecht nennt) mildert. Ist ein solches „Einwickeln“ nicht möglich, so mag dies am Unvermögen des lüngeren hegen, an seiner unzulängli¬ chen Teilhabe an der geistigen Tradition, aus der seine Epoche erwächst; es mag aber auch - und für den poeta doctus Beim selbst ist dies die wahrscheinlichere Ursache - dadurch verschuldet sein, daß die Distanz zwischen den jeweiligen 1 „Was schlimm ist“ gehört der 1956 von Benn selbst getroffenen Auswahl seiner Ge¬ dichte an; die Verse sind zitiert nach: Gottfried Benn, Gesammelte Werke in acht Bänden, hg. v. D. Wellershoff, Bd. 1, Gedichte, Wiesbaden 1960, 280.

1. Literarische Zitation und Originalität

13

geistigen Identitäten zu groß geworden ist: Die (im weitesten Sinne) kulturelle Kontinuität ist gestört. So vermitteln die Verse auch das Bekenntnis zu einer konservativen Verwurzelung in der geistigen Tradition, die sich freilich ihrer eigenen Problematik bewußt ist; aus diesem Zwiespalt erwächst die Ironie. „Einen neuen Gedanken in einen Hölderlinvers einwickeln“ - die Metapher os¬ zilliert in ihrer Bedeutung zwischen Plagiat und literarischem Zitat, zwischen produktiver Aneignung und epigonalem Mangel an eigenem Schöpfertum. Benns Verse setzen einen ironischen Akzent zu einem Thema, das im deutschen Sprachraum insbesondere seit der Epoche des „Sturm und Drang“, und nicht nur für die Literatur, zum Problem geworden ist.2 Programmatisch sind in dieser Hinsicht die Reflexionen über das Wesen der Kunst, die Goethe auf seinen ersten Besuch des Straßburger Münsters zurückführt. In der Schrift „Von deutscher Baukunst“ entwickelt er einen Begriff künstlerischen Schöpfertums, in dem der Rang poetischer Technik gegenüber einer platonisch anmutenden Vorstellung von der Idee des Schönen weitgehend beschnitten wird. Der Künstler - ein Halbgott, ein Prometheus von eigenen Gnaden - erschafft aus seinem empfindenden Ich eine Welt, deren Maßstab nicht das im landläufig-tradierten Sinne Schöne und Harmonische ist, sondern das Charakteristische; je freier dieses Charakteristische sich entwickeln kann, je ungebundener von Traditionen und Kunstregeln, die ihm von außen auferlegt werden, desto leichter wird es zur Übereinstimmung mit den wahren Kriterien der Schönheit gelangen, die in den Dingen selbst liegen und allenfalls in ihren groben Linien dem analytischen Verstand zugänglich sind, während ihre arcana sich nur der fühlenden Seele erschließen3

2 Vgl. J. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945, 2 Bde, Bd. 1, Von der Aufklärung bis zum Idealismus, Darmstadt 1985, 5 ff. 3 „Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch so wahre, große Kunst, ja oft wahrer und größer als die schöne selbst. Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich tätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist. Sobald er nichts zu sorgen und zu fürchten hat, greift der Halbgott, wirksam in seiner Ruhe, umher nach Stoff, ihm seinen Geist einzuhauchen. Und so modelt der Wilde mit abenteuerlichen Zügen, gräßli¬ chen Gestalten, hohen Farben seine Kokos, seine Federn und seinen Körper. Und laßt diese Bildnerei aus den willkürlichsten Formen bestehn, sie wird ohne Gestaltsverhältnis zu¬ sammenstimmen, denn eine Empfindung schuf sie zum charakteristischen Ganzen. Diese charakteristische Kunst ist nun die einzige wahre. Wenn sie aus inniger, einiger, eigner, selbständiger Empfindung um sich wirkt, unbekümmert, ja unwissend alles Frem¬ den, da mag sie aus rauher Wildheit oder aus gebildeter Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz und lebendig. Da seht ihr bei Nationen und einzelnen Menschen dann unzähli¬ ge Grade. Je mehr sich die Seele erhebt zu dem Gefühl der Verhältnisse, die allein schön und von Ewigkeit sind, deren Hauptakkorde man beweisen, deren Geheimnisse man nur fühlen kann, in denen sich allein das Leben des gottgleichen Genius in seligen Melodien

14

1. Die Technik der literarischen Zitation

Goethes Polemik gegen das einschränkende Regelwerk der Kunst ist freilich auf ihrem zeitgeschichtlichen Hintergrund zu sehen: Lessings Kampf gegen die Orientierung des deutschen Dramas an „den Franzosen“, vor allem Corneille und Racine, und seine Bevorzugung der englischen Literatur, insbesondere Shake¬ speares,4 haben ihr ebenso den Weg bereitet wie Winckelmanns idealisierende Antikenbetrachtung, die einer an vordergründiger Wirkung orientierten Gegen¬ wartskunst das „Klassische“ entgegenstellt, das, aus der Einheit von Kunst und Philosophie geboren, die „große Seele“ des Künstlers in seinem Werk widerspie¬ gelt.5 In der Ablehnung einer den eigenen Geschmack bildenden Auseinanderset¬ zung mit künstlerischen Vorfahren, sei es der von Lessing bevorzugte Shake¬ speare, seien es „die Alten“ in Winckelmanns Auffassung, liegt aber ein we¬ sentlicher Neuansatz der Konzeption des jungen Goethe. Der folgende Passus belegt dies besonders klar: „Und unser aevum? hat auf seinen Genius verziehen, hat seine Söhne umhergeschickt, fremde Gewächse zu ihrem Verderben einzusammeln. Der leichte Franzose, der noch weit ärger stoppelt, hat wenigstens eine Art von Witz, seine Beute zu einem Ganzen zu fügen, er baut jetzt aus griechischen Säulen und deutschen Gewölben seiner Magdalene einen Wundertempel. Von einem unsrer Künstler, als er ersucht ward, zu einer altdeutschen Kirche ein Portal zu erfinden, hab ich gesehen ein Modell fertigen, stattlichen antiken Säulenwerks. [...] Und ihr selbst, treffliche Menschen, denen die höchste Schönheit zu genießen gegeben ward und nunmehr herabtretet, zu verkünden eure Seligkeit: ihr schadet dem Genius. Er will auf keinen fremden Flügeln, und wären's die Flügel der Morgenröte, emporgehoben und fortgerückt werden. Seine eigne Kräfte sind's, die sich im Kindertraum entfalten, im Jünglingsleben bearbeiten, bis er stark und behend wie der Löwe des Gebürges auseilt auf Raub.“°

Mit ihrem Ideal des genialisch-schopfenden Künstlers hat die Epoche des „Sturm und Drang“ in Deutschland der Originalität als Maßstab der Kritik einen besonde¬ ren Rang gesichert. Wenngleich die Rezeption künstlerischer Vorbilder zur Ent¬ wicklung des eigenen Künstlertums nicht wirklich außer Kraft gesetzt werden

herumwälzt; je mehr diese Schönheit in das Wesen eines Geistes eindringt, daß sie mit ihm entstanden zu sein scheint, daß ihm nichts genugtut als sie, daß er nichts aus sich wirkt als sie, desto glücklicher ist der Künstler, desto herrlicher ist er, desto tiefgebeugter stehen wir da und beten an den Gesalbten Gottes.“ (J.W. von Goethe, Von deutscher Baukunst, 1771/72, zitiert nach: Goethe, Berliner Ausgabe Bd. 19, Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen. Schriften zur bildenden Kunst 1, Berlin/Weimar 1985, 35 f.). Ein häufiges Thema in Lessings „Briefe, die neueste Literatur betreffend“; vgl. vor al¬ lem den Siebzehnten Brief (1759). Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, 1755. Goethe, Von deutscher Baukunst, 36 f.

1. Literarische Zitation und Originalität

15

konnte, prägt ein gewisser Kult des Genialischen auch die moderne Literaturkritik. Originalität im Sinne der individuellen Erfindung, Durchdringung und Ge¬ staltung eines Themas gilt ihr als bedeutender Wertmaßstab: Vom Künstler wird erwartet, daß er in Abgrenzung von der produktiv wahrgenommenen Tradition seines Wirkungsbereichs seinen eigenen und - im Goetheschen Sinne - charakte¬ ristischen Standort bestimmt.7 Natürlich wäre die Behauptung zutiefst unsinnig, das Streben nach individuel¬ ler und zeitgemäßer Formung der tradierten Stoffe sei der Antike fremd gewesen; der Wert künstlerischer Originalität war aber durch einige die antike Kulturge¬ schichte prägende Aspekte deutlich relativiert: Der moderne Geniebegriff setzt den Willen zu einer revolutionär neuen Lei¬ stung voraus; er postuliert damit auch die Ablehnung des Tradierten oder zumin¬ dest das Bewußtsein einer das Tradierte deutlich übersteigenden und sich von ihm abgrenzenden Innovation. Im Bereich der deutschen Literatur pflegt dementspre¬ chend seit dem Geniekult der „Sturm und Drang“-Zeit eine jede künstlerische Epoche ihr Selbstverständnis und ihre gestalterische Praxis vorzugsweise in einer zumindest partiellen Abgrenzung vom Regelkanon und den geistigen Stand¬ punkten ihrer Vorgänger zu entwickeln, ein dialektischer Prozeß, in dem natürlich auch eine Sonderform der Auseinandersetzung mit dem Überlieferten zu sehen ist Die Geschichte der klassischen Literatur griechischer und lateinischer Sprache stellt sich demgegenüber als ein Prozeß vergleichsweise ungebrochener Konti¬ nuität dar: Selbst die von den alexandrinischen Philologen entfachte Kunstdiskus¬ sion bedeutet keine „Revolution“ im modernen Sinne, sondern ist im Grunde, ohne daß die Bedeutung von Ilias und Odyssee etwa grundsätzlich in Frage ge¬ stellt würde, Reflexion auf die seit Homer in vieler Hinsicht geänderten Bedin¬ gungen literarischer Produktivität und Rezeption, die Möglichkeiten einer sich bildenden wissenschaftlichen Philologie inbegriffen. Veränderung wird unter dem Aspekt allmählicher Fortentwicklung, analog den Lebenszyklen des Menschen, erfaßt. Damit ist auch die Vorstellung verbunden, daß jede Gattung etc. einem Punkt der Vollendung entgegenstrebt, dem dann Abstieg und Verfall folgen.8 Solchem Denken entspricht das Bewußtsein der eigenen Traditionsgebundenheit

7 Die Debatte um Jntertextualität“, die derzeit in der neueren Literaturwissenschaft ge¬ führt wird, ist nicht zuletzt dem Umstand zuzuschreiben, daß die für die Antike ganz selbstverständliche Einbettung jeder schriftstellerischen Produktion in ein literarisches Kontinuum nahezu in Vergessenheit geraten war. 8 Vgl. R. Wellek, Concepts of Criticism, New Haven/London 1963, aus dem Amerikan. übertr. v. E. u. M. Löhner u.a., Grundbegriffe der Literaturkritik, Stuttgart/Berlin 21971, 35.

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I. Die Technik der literarischen Zitation

- insofern nämlich ein Beitrag zum Fortschreiten der literarischen Form nur auf der Basis des bisher Erreichten zu erzielen ist. An dem Bekenntnis der Dichter der klassischen Antike zu einer ihr Kunst¬ schaffen tragenden Kontinuität wirkt besonders der Rang des Mythos mit. Trotz politischer Umbrüche, der Entwicklung miteinander konkurrierender philosophi¬ scher Schulen und der gewaltigen Ausdehnung des geographischen Horizonts bleibt der griechische Mythos in den Gattungen der Lyrik, Dramatik und Epik weitgehend verbindlich: Er stellt das bedeutendste Stoffreservoir dar, aus dem sich die Dichter von den Anfängen der griechischen Dichtung bis zu den letzten Ausläufern spätantiker Literatur (und darüber hinaus) bedienen; eigene stoffliche Erfindung ist demgegenüber von geringem Rang.9 In diesem historischen Konti¬ nuum erfahren die Gestalten des Mythos und ihre Geschicke zwar nicht selten neue, mitunter gegensätzliche Interpretationen; ihrer repräsentativen Kraft als Prototypen des Menschen und seiner Situation in der Welt tut das keinen Ab¬ bruch, im Gegenteil sichert gerade die jeweilige Neuwertung die zeitspezifische Bedeutung des tradierten Stoffes. Das gilt natürlich auch für die neuzeitliche Mythenrezeption, die die vielfältigen Neuerun¬ gen und Umbrüchen poetologischer Programme und Postulate unbeschadet überdauert hat. Neubearbeitungen mythischer Stoffe in Tragödie und Komödie sowie in anderen literari¬ schen Gattungen, die Trivialliteratur mit eingeschlossen, legen einerseits ein Zeugnis ab von der Macht der Tradition und der bleibenden Attraktivität mythischer Themen; die Tradition zerbräche aber und die Attraktivität des Erzählstoffes würde zerstört, wenn nicht die Perspektive auf das alte Thema und die Auslegung seiner Gestalten und ihrer Geschikke jeweils neu wären. So dokumentiert die fortlaufende Mythenrezeption vor allem das menschliche Bedürfnis, in den einfacheren Strukturen der mythischen Welt Erklärungsmu¬ ster der eigenen Gegenwart zu entdecken - bzw. sie dort hineinzulegen. Für solche Rezep¬ tionsprozesse, in denen der Kontinuität des Erzählstoffs oder seiner einzelnen Strukturen und Motive die geistige Neuorientierung entgegengesetzt wird, gibt es zahlreiche Beispiele aus jeder Epoche bis in unsere Zeit. Heinrich von Veldeke zeichnet mittels des AeneasStoffes ein dem antiken Epos fernstehendes Bild von Rittertum und Minne; Petrarcas Mythengebrauch ist vor allem durch die Intention einer Neubestimmung menschlicher Existenz gekennzeichnet; Goethe erhebt in seiner Ipigenie das Ideal der für das Menschen¬ bild von Aufklärung und Klassik zentralen sittlichen Autonomie; Christa Wolf bedient sich in den Erzählungen Kassandra (1983) und Medea (1996) der heroischen Mythen, um aus der Perspektive der als Opfer einer patriarchalisch-heroisch orientierten Gesellschaft definierten Frauen Krieg, Heroentum und männlichen Chauvinismus zu entlarven; Chri¬ stoph Ransmayr entwickelt in seinem „postmodernen“ Roman Die letzte Welt (1988) aus

Programmatisch urteilt Horaz, a.p. 129 f.: rectius lliacum carmen deducis in actus / quam si proferres ignota indictaque primus. Vgl. C. Zintzen, Das Zusammenwirken von

Rezeption und Originalität am Beispiel römischer Autoren, AAWM, Geistes- und Sozialwiss. Kl., 1986, 7, 15-36, 18 ff.

1. Literarische Zitation und Originalität

17

der Vielfalt ovidischer Mythenerzählungen ein Panorama der Sehnsüchte, Obsessionen, Gefährdungen und Beschränkungen der eigenen Gegenwart.

Der Mythos wirkt nicht in allen dichterischen Gattungen der griechischrömischen Antike mit gleicher Kraft, drückt aber allen seinen Stempel auf. In der Tragödie ist die Bandbreite menschlicher Schicksale (insoweit sie der Tragik „fähig“ sind) durch einen relativ engen Kreis mythischer Prototypen definiert, anhand derer das Menschen- und Götterbild jeweils neu entwickelt werden könnea10 Historische Stoffe sind demgegenüber nicht nur von weitaus geringerer interpretatorischer „Dynamik”, sie stehen auch in dem Dilemma, die geistige Teilnahme der Zuschauer durch die unverhüllte Wertung relativ aktueller politi¬ scher Prozesse erkaufen zu müssen, eine Tendenz, die kurzfristig zu einer nicht künstlerisch motivierten Polarisierung der Publikumsgunst (bis hin zur Ächtung des Werks) führen kann und der langfristigen Wirkung eher abträglich ist.* 11 Das Experiment einer Tragödie mit geschichtlichem Stoff ist in Griechenland und Rom letztlich gescheitert. Im Epos bestimmt das Modell des Götterapparats mit seinen konträren Interes¬ sen und Favoriten die Stoffgestaltung selbst dort, wo der Mythos unmittelbar in die Historie überleitet (Naevius; Ennius, Vergil);12 daneben sind es spezifische 10 Vgl. die ausführlichen Erörterungen zur antiken und modernen Tragödie bei K. von Fritz, Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie, Studium generale 8, 1955, 195-220; 229-232; Nd in: ders., Antike und moderne Tragödie, Berlin 1962,1-112. 11 Die religiöse Funktion des Schauspiels hat in Griechenland an der geringen Zahl hi¬ storischer Tragödien mitgewirkt; immerhin hat aber Aischylos nach dem Debakel des Phrynichos, der für seine tragische Bearbeitung der Einnahme von Milet mit einer Geld¬ strafe belegt wurde (Hdt. 6, 21), noch die Perser verfaßt - für die Athener akzeptabel, da hier nicht die Niederlage der Griechen, sondern ihr Sieg gestaltet war - und mit der tragi¬ schen Tetralogie, der sie angehörten, 472 den Sieg errungen. Die weiteren Stücke dieser Tetralogie waren aber mythisch. In Rom erfreut sich die fabulapraetexta mit ihren spezi¬ fisch römischen Stoffen von den Anfängen dramatischer Dichtung bis über das Ende der Republik hinaus (Sen., Octavia) einer gewissen Beliebtheit, steht aber insgesamt hinter den mythischen Stoffen weit zurück. Im Prinzipat konnten selbst mythische Dramen der politi¬ schen Parteinahme verdächtigt werden (vgl. Tac., Ann. 6, 29, 3 und Dio 58, 24, 3, über Tiberius' Reaktion auf den Atreus des Aemilius Scaurus); um wieviel gefährlicher der historische Stoff war, belegt Tacitus, der im Dialogus vom Cato und Domitius des Curiatius Maternus berichtet (dial. 2 f.). 12 Das gilt in mancher Hinsicht selbst für Lucan; der Kampf von stoischer virtus und fortuna ist in Vergils stoischem Helden Aeneas gewissermaßen vorbereitet. Hier wie dort ist das menschliche Geschick aufgehoben in dem Konflikt übergeordneter Kräfte, der bei Vergil noch in der Sprechweise des Mythos und letztlich optimistisch, bei seinem bedeu¬ tendsten Nachfolger in der Sprechweise der Philosophie und zutiefst pessimistisch entfaltet wird.

I. Die Technik der literarischen Zitation

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Merkmale bzw. situativ geprägte Erfahrungen des mythischen Heros (Adel, Schönheit, Stärke; kriegerische Bewährung, Abenteuer, Frauengunst) die die Stoffe und Strukturen prägen. Und selbst in der subjektiven Lyrik ist es vor allem der Mythos, der den Fundus der Vergleiche und Exempla stellt, die das Subjekti¬ ve zu Beginn überhaupt erst sagbar machen und ihm später Fülle und Farbe ver¬ leihen. Die Neubearbeitung des Mythos erfolgt auf der Basis der literarischen Gestal¬ tungen, die den Mythos tradiert haben; mit den Vorgängern tritt der jüngere Dichter in Konkurrenz, an ihnen muß er sich messen lassen. Die Vorgängerwerke sind damit in den Rezeptionsprozeß des Mythos selbst miteinbezogen; jede neue literarische Formung eifert den tradierten Werken mit den Mitteln des literari¬ schen ^rj^oq nach und hält sie dadurch ihrerseits für nachfolgende Rezeptionen offen. In diesem Prozeß hat die verhältnismäßige Irrelevanz eigener stofflicher Erfindung zwar keine völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Phänomen zur Folge, das heute mit dem Rechtstitel „geistiges Eigentum“ bezeichnet wird. Der Vorwurf des Plagiats zielt aber in der Dichtung nicht eigentlich auf den Inhalt, sondern auf Aspekte des Ausdrucks und rhetorischen Schmucks;13 er trifft zudem nicht den Nachahmer an sich, sondern nur den, der sich zu seinem Vorbild nicht bekennt.14 Am spezifischen Verhältnis der nacheifemden Nachahmung wirkt neben dem Mythos auch das xexvri-Verständnis antiker Literatur mit, das vom Dichter Ge¬ lehrsamkeit, von der Dichtung formale Perfektion in Sprache und Metrik ver¬ langt. Beides wird in erster Linie durch das Studium der dichterischen Vorbilder erworben. Das Bekenntnis zu diesen Vorbildern schlägt sich in der Nachahmung nieder, wobei das Selbstbewußtsein der Dichter nicht zuletzt durch die Deutlich¬ keit dieser Nachahmung dokumentiert wird. Die leicht variierende Übernahme einzelner Wendungen, Verse oder Verstehe, eines gelungenen Vergleichs, einer anschaulichen Schilderung oder einer spezifischen Erfassung seelischer Gestimmtheit ist den Dichtem ebenso wie den Theoretikern antiker Poetik15 insofern

Vgl. E. Stemplinger, Das Plagiat in der griechischen Literatur, Lpz./Berlin 1912, hier 12 ff. Vgl. Cicero, Brutus 76, über Naevius und Ennius: Sit Ennius sane, ut est certe, perfectior; qui si illum, ut simulat, contemneret, non omnia bella persequens primum illud Punicum acerrimum bellum reliquisset. Sed ipse dicit cur id faciat. ’Scripsere,' inquit ’alii rem vorsibus - et luculente quidem scripserunt, etiam si minus quam tu polite. Nec vero tibi aliter videri debet, qui a Naevio vel sumpsisti multa, si fateris, vel, si negas, surripuisti. Bei Seneca pater, Controv. 9, 1, 13, differenziert Arellius Fuscus analog zwischen surripere und vincere bzw. provocare.

" Vgl. hierzu den Überblick bei D.A. Russell,De imitatione, in: D. West & T. Woodman, Creative Imitation and Latin Literature, Cambridge 1979, 1-16.

1. Literarische Zitation und Originalität

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selbstverständlich; sie legitimiert den jüngeren Dichter, weist ihn als „Fachmann“ aus und verleiht seinem Einzelwerk den bedeutsamen Hintergrund der Tradition, an der er konstruktiv weiterbaut. Insofern literarische imitatio nicht jedem belie¬ bigen Werk gilt, sondern dem vorbildlichen, vermittelt sie auch ein literarisches Urteil und den eigenen Anspruch des Nachahmers.16 In der geringfügigen Abwei¬ chung, der Integration übernommener Motive in neue Kontexte oder der völligen Umstrukturierung bzw. Bedeutungsänderung offenbart sich zugleich die eigene dichterische Begabung. Einem rein auf das Formale gerichteten Blick mögen die spezifischen Merkmale postmo¬ derner Literatur, wie sie in verschiedenen Bestimmungsversuchen erläutert werden, in mancher Hinsicht auch auf antike imitatio anwendbar erscheinen - so insbesondere ihre Funktion als die Vergangenheit neu belebende „Zitatensammlung“, der Aspekt der unbe¬ schränkten Verfügbarkeit des Mythos , die ironisch-parodistischen Tendenzen der Zitati¬ on. Dennoch ist hier zu differenzieren: Antike Imitation und Zitation erwachsen keines¬ wegs aus dem Ungenügen an vorangegangenen Formen dichterischer Realitätsgestaltung, sondern aus dem Bewußtsein einer künstlerischen und ideologischen Kontinuität, die sie zugleich fortlaufend konstituieren; sie setzen den Mythos nicht in Konkurrenz zu einer in Unverbindlichkeiten und Fragwürdigkeiten aufgelösten Wirklichkeit, sondern suchen in ihm das für die Wirklichkeit fraglos Repräsentative; sie nutzen das Zitat nicht als Mittel der Fragmentarisierung der künstlerischen Form, sondern als Ornat innerhalb der harmoni¬ schen Komposition.

Die Entstehungsbedingungen der römischen Literatur mußten die bereits inner¬ halb der griechischen Literatur wirksame Technik der nachahmenden Rezeption noch verstärken, war es doch die enge stoffliche und formale Orientierung an den griechischen Werken, die der römischen Literatur von Anfang an die Richtung wies.

Bereits die Übersetzung griechischer Werke ins Lateinische erschien den

16 Im übrigen trägt eine solche Zitation auch zu Wirkung und Lebensdauer des zitierten Werkes bei. Ein philologisches Interesse an dieser Art des Fortlebens eines Dichters im Werk eines anderen hatte schon die Antike selbst; das zeigen die häufigen Verweise auf Zitate in den Kommentaren und auch etwa die (keineswegs vollständige) Auflistung der von Vergil zitierten Stellen bei Macrobius, Sat. 6, 1 ff. Macrobius verteidigt hier Vergils Übernahmen aus der älteren römischen Epik, quod non nulla ab Ulis in opus suum, quod aeterno mansurum est, transferendo fecit ne omnino memoria veterum deleretur ... (Sat. 6, !,5| Vgl. U. Ecco, Nachschrift zum „Namen der Rose“, München 1986, 77 f. 18

Vgl. L. A. Fiedler, Überquert die Grenze, schließt den Graben, in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, 5774. 19 Vgl. I. Hassan, Postmoderne heute, in: Welsch (Hg.), 47-56. 20 Den Wandel in der Rezeption der griechischen Literatur erörtert A. Reiff, interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Rö¬ mern, Diss. Köln 1959. Das Entstehen der römischen Literatur in stetiger Auseinanderset-

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I. Die Technik der literarischen Zitation

Urhebern wie den Lesern als gewaltige Leistung - vor allem, wenn auch die dem lateinischen Wortmaterial mit seinem relativen Mangel an Füllwörtern und kur¬ zen Silben nicht eben gemäße Form des Hexameters gewahrt blieb. Kritik scheint sich zunächst nicht an der interpretatio Graecorum, sondern an der imitatio Ro¬ manorum entzündet zu haben. Zumindest muß sich Terenz im Prolog zum Eunuchus nicht gegen den Vorwurf der Menander-Nachahmung zur Wehr setzen, sondern weil er zwei personae aus Naevius und Plautus imitiert haben soll. Er verteidigt sich mit dem Hinweis, er habe die lateinischen Stücke nicht gekannt und die fraglichen Rollen direkt aus Menanders Kolax entnommen. Selbst wenn die hier zurückgewiesene Kritik weniger der römischen Quelle an sich als der Tatsache, daß Terenz sie nicht nannte, gegolten hat, zeigt der Prolog, wie selbst¬ verständlich die Übernahme aus dem Griechischen ist. Kritik an literarischer imitatio richtet sich später vor allem gegen die dem Vor¬ bild nicht angemessene Qualität der Rezeption,21 gegen die Nachahmung fehler¬ hafter Werke22 und gegen übermäßige Treue zum Vorbild, die dem neuen Werk nicht gerecht wird.23 Ein Sonderfall literarischer imitatio ist die wörtliche Zitation von Begriffen, Junkturen und Verstehen innerhalb der eigenen Nationalliteratur. Die Römer konnten sich auch hier auf das Vorbild griechischer Autoren, vor allem in der Homernachfolge, berufen. Ein solches Verfahren wurde natürlich durch die Kon¬ stanz der Gattungen erleichtert; die den einzelnen genera zugeordneten sprachli¬ chen, metrischen und stilistischen Gmndmerkmale ermöglichten den antiken Dichtem, fremdes Gut in ihre eigenen Werke einzubetten, ohne doch deren Ein¬ heitlichkeit und innere Geschlossenheit zu zerstören.24 Im Laufe der Tradition zung mit den Vorbildern der griechischen Literatur bis hin zur Entwicklung einer eigenen literarischen Klassik, die ihrerseits Vorbildcharakter gewinnt, stellt C. Zintzen, Rezeption und Originalität, in grundsätzlichen Erwägungen und anhand von Beispielen dar. Ein berühmtes Beispiel ist Probus' Urteil über die Artemis-Vergleiche bei Homer (Od. 6, 102 ff.) und Vergil (Aen. 1,498 ff.) - zu Ungunsten Vergils. 22 Horaz, epist. 1, 19, 17. Horaz vertritt hier freilich für seine Archilochos-Nachfolge die eigene Erfindung bei metrischer imitatio (RA ff.). 23 Vgl. Horaz, a.p. 132 ff. 24

Einen Extremfall stellt der Cento dar, der ja - bei weitgehendem Verzicht auf eigene stoffliche Erfindung und sprachliche Ausformung - künstlerisch keineswegs anspruchslos ist, das Talent des Dichters aber vor allem in der Kombination und inhaltlichen Variation des Übernommenen demonstriert; beim Leser wird die Freude daran, Vertrautes in neuem Kontext wiederzuentdecken, vorausgesetzt. Die Geschichte der europäischen Literatur kennt einige Werke, die in ihrer Gesamtheit oder weitgehend aus fremdem Versgut kom¬ piliert sind und gerade mit dieser Technik brillieren. Daß Vergil, in dem die eigene Zeit und Kultur die bedeutendste literarische Gestaltung ihres Anspruchs und Nationalbewußt¬ seins erkannte, den das Christentum als seinen Propheten für sich in Anspruch nahm, der

1. Literarische Zitation und Originalität

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entsteht so vor allem in der Epik ein Fundus metrisch brauchbarer und poetisch wirkungsvoller Wendungen, der eher gattungstypisch ist, als daß er einem „Erfinder“ zugerechnet werden könnte. Vor allem in der römischen Epik wirkten technisch-pragmatische Aspekte an der Entfaltung der Zitationstechnik mit. Ennius hatte in seinen Annales die ge¬ waltige Arbeit vollbracht, die lateinische Sprache dem Hexameter gefügig zu machen; aus seiner Leistung schöpften all seine Nachfolger, an seinen Versen bildete die römische Schuljugend ihr Sprachgefühl und ihren literarischen Ge¬ schmack. Eine Vielzahl ennianischer Wendungen wurde zum Allgemeingut römi¬ scher Dichter und floß wie von selbst in die Verse ein.25 Daß aber die literarische Zitation nicht in erster Linie dem Streben nach Ökonomie entspringt, zeigen die Adaption aus dem Griechischen26 und die Zitation über die Grenzen der Gattun¬ gen und ihrer spezifischen Metra hinweg.

als Schulautor das Denken und Schreiben zahlreicher Generationen Europas in Altertum, Mittelalter und Neuzeit prägen half, in besonderer Weise für solche Centones ausgebeutet wurde, kann nicht überraschen: Auch der Cento ist nicht nur Spiel, sondern zugleich Hom¬ mage an das Vorbild, aus dem er schöpft. Das berühmteste Beispiel dürfte der Cento nuptialis des Ausonius sein; aber auch die christliche Dichterin Proba beutet Vergil aus, und im 12. Jh. übernimmt der Tegernseer Mönch Metellus in seinen geistlichen Liedern zahl¬ reiche Verse aus Horaz und Vergil. Der Xpiatöi; rcdoxcov ist ein Cento aus Euripides; Maripetro verfaßt 1536 in Venedig einen Cento aus Petrarca-Versen mit dem Titel ,fl Petrarca spirituale“, Etienne de Pleure 1618 die Sacra Aeneis, ein Leben Christi in Vergilversen. Vgl. dazu Stemplinger, 193 ff., der allerdings bereits in der wiederholten Über¬ nahme nur geringfügig veränderten Versguts einen Cento sieht und den Begriff insgesamt weniger auf das Gesamtwerk, als auf einzelne Verse (Cento-Verse) anzuwenden pflegt, und H. Müller Sievers, Patchwork und Poesie. Bemerkungen zum antiken Cento, Denk¬ zettel Antike. Texte zum kulturellen Vergessen, hg. v. G. Treusch-Dieter, Histor. Anthropol. No. 9, Berlin 1989. 1 25 • • A. Zingerle, Zu späteren lateinischen Dichtern, Beiträge zur Geschichte der römischen Poesie, Innsbruck 1873, H. 1, Zur imitatio Horatiana, 45, konstatiert auf der Basis seiner Betrachtung identischer Versschlüsse, „dass ein undderselbe Versschluß sich durch eine ganze Reihe der bedeutendsten Dichter hindurchzieht und uns in Zweifel lässt, welchen Vorgänger der letzte dabei zunächst vor Augen gehabt, wenn hier überhaupt noch überall von direkter Nachahmung die Rede sein könnte.“ Zingerle führt die Vielzahl identischer Versschlüsse nicht zuletzt auf die Vorliebe der Römer für einen Verstyp zurück, in dem (nach dem Muster lumina somno) die beiden letzten Metra durch je ein Wort eingenom¬ men werden (93 f.). 26 Auf die große Kunst, die in der vergilischen Homerzitation liegt, verwies nach dem Zeugnis Donats, Vita Verg. 44 f. (Hardie) bereits Asconius Pedianus, der den obtrectatores Vergilii, die dessen furta zusammengestellt hätten (Herennius tantum vitia eins, Perellius Faustus furta contraxit. sed et Q. Octavi Aviti

'Oßoiorrjrcovoclo volumina quos et unde

versus transtulerit contineni), entgegengehalten habe: Cur non illi quoque [seil, obtrecta¬ tores] eadem furta temptarent? verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam

I. Die Technik der literarischen Zitation

22

Der Horizont des literarischen Zitats27 spannt sich also zwischen den Polen der selbstverständlichen Anwendung von Allgemeingut hier, der produktiven U mformung übernommenen Gutes dort; im ersten Fall ist der Vorwurf des Plagiats grundsätzlich nichtig, im zweiten wird er nach Maßgabe der vom Autor bewußt erzeugten Transparenz des Übemahmeprozesses zurückzuweisen sein. Dem heu¬ tigen Urteil erschließt sich allerdings diese Transparenz nicht notwendig: Auch wo Fremdes in einem Kontext steht, der den Bezug zum zitierten Autor nicht unmittelbar - etwa durch die Nennung seines Namens oder deutliche Hinweise auf sein Werk - kundgibt, muß den Dichter kein Vorwurf treffen, schrieb er doch für ein literarisch kompetentes Publikum, in dem er die Kenntnis zitierter Motive voraussetzen konnte.

28

2. Strukturen literarischer Zitation

Aus den Annalen des Ennius stammt der in seiner alliterativen Technik für den Autor und für frühe Epik überhaupt charakteristische Vers 621 Vahlen Ma c h i n a

mul t a mi n a x minitatur maxima muris.

29

Mit einer Variante zum ersten Hemistichon dieses Verses schließt Catull das Spottgedicht auf Mamurra, c. 115, in dem er dessen reichen Besitz anpreist: omnia magna haec sunt, tarnen ipsest maximus ultro, non homo, sed vero m e n t u l a magna

mi n a x.

(7f.)

Homero versum subripere (46). Inwieweit unter den von Perellius Faustus aufgelisteten

vergilischen/urta auch Entlehnungen aus römischer Literatur getadelt waren, ist ebenso¬ wenig zu erschließen wie eventuelle Verteidigungen dieser Technik, die nicht ihr Eigenes in einer dem Vorbild adäquaten Übersetzung aus der fremden Sprache zu demonstrieren wußte. 27 Der Begriff,Zitat“ wird im Folgenden im Sinne einer literarischen Reminiszenz an Vorgeformtes gebraucht, deutlich als solche erkennbar, aber in einen neu erstellten Kon¬ text integriert. Zitate mit Belegcharakter, bei Grammatikern oder in wissenschaftlicher Literatur, werden nicht berücksichtigt. Der begriffliche Unterschied zu „Similien“ liegt grundsätzlich in der im Zitat vorausgesetzten Absicht der Übernahme, während Similien auf Zufall beruhen k ö n n e n ; da dieser Unterschied aber jeweils nur im Einzelfall und oft genug nicht mit letzter Sicherheit zü klären ist, werden beide Begriffe, wenn sie nicht durch ihren Kontext näher determiniert sind, in gleicher Bedeutung benutzt. Grundlegend hierzu ist das Kapitel Originalität und Nachahmung bei W. Kroll, Studi¬ en zum Verständnis der römischen Literatur, Darmstadt 1964, 139-178. 29 Wörtliche oder thematisch wesentliche Übereinstimmungen werden bei der Textwiedergabe regelmäßig durch Sperrung hervorgehoben.

2. Strukturen literarischer Zitation

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Der Halbvers ist zum zweiten Teil des Pentameters geworden, die Variation wahrt aber die metrische Struktur. Den alliterativen Stil des Vorbilds imitiert Catull bereits im vorangehenden Vers,30 kehrt aber das Ethos des Verses von der Evozierung kriegerischer Bedrohung - die gleichen Wortanklänge malen die unablässigen Angriffe des Rammbockes - in die Ironie einer (wohl als in ähnli¬ cher Weise unablässig aktiv zu denkenden) mentula minax um. Der ennianische Hintergrund, thematisch ursprünglich völlig different, auf der Ebene sexueller Metaphorik aber partiell adäquat, bedeutet hier vor allem eine Steigerung der komischen Wirkung, das Motiv wird im Sinne bekannter Epigrammtechnik zu einer das Gedicht abschließenden Pointe, die sich erst dann voll erschließt, wenn die Quelle der Zitation bekannt ist. Ähnlich pointenreich ist die Calvus-Zitation in Catull 96. Calvus, fr. 16 Courtney ,for s i t an hoc etiam gau deat ipsa cinis ist mit großer Sicherheit einem Epikedion auf den Tod seiner Frau oder Geliebten Quintilia zuzurechnen. Der Sinn dürfte sein, daß sich Quintilia (genaugenommen ihre Asche) auch noch im Tode über die Liebesgaben des Calvus freuen wird.31 Catull 96, ein Trostgedicht für Calvus, endet in den Versen: c e r t e non tanto mors immatura dolori est Quintiliae, quantum g a u d e t amore tuo. (5 f.)

Catull greift hier aus Calvus' Gedicht die Pointe der Freude selbst im Tode auf und übernimmt den Begriff gaudere, den er an identischer Stelle im Vers ver¬ wendet; dem zweifelnden forsitan bei Calvus setzt er, ebenfalls am Versbeginn, sein affirmatives certe (5) entgegen. Dem hoc bei Calvus korrespondiert amore tuo bei Catull; so bestätigt die Anspielung auch den oben paraphrasierten Sinn und Kontext des Fragments. Die pointierte Abweichung vom Vorgegebenen ist dabei insgesamt nicht polemisch, sondern eher dialogisch: Die Hoffnung des Calvus-Verses wird als erfüllt bestätigt, der im zitierten Text veimittelte Gedanke gewissermaßen einer Lösung zugeführt. Auch hier steht die Zitation an hervorge¬ hobener Stelle am Gedichtschluß und setzt - um ihren Sinn voll zu entfalten beim Leser die Kenntnis der Quelle vo raus.32

30 So auch W. Kroll ad loc. (C. Valerius Catullus, Stuttgart 61980). 31 Fr. 15 Courtney (The Fragmentary Latin Poets, ed. with a Comm., Oxford 1993) cum iam fulva cinis fuero eröffnet die Möglichkeit, daß Quintilia selbst spricht; fr. 16 könnte dann eine Verheißung der noch Lebenden sein, an die sich der lyrische Sprecher erinnert Courtney ad loc. (209) konjiziert cum iam fulva cinis fuero [condarque sepulcro ], / forsi¬ tan er vermutet in den Versen eine Botschaft Quintilias an Calvus, der sie zuvor verlas¬ sen habe. 32 Ein ähnlich dialogisches Verhältnis sieht W. Wili, Die literarischen Beziehungen des Properz zu Horaz, FS E. Tieche, Sehr. d. lit. Gesellsch. Bern, H. 6, Bern 1947, 179-190,

I. Die Technik der literarischen Zitation

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In der Zitation überschneiden sich häufig vielfältige Intentionen. Ein umfängli¬ ches Beispiel dafür bietet Properz 2, 34, 59 ff., eine an Lynceus gerichtete Elegie, die als Eifersuchtsgedicht einsetzt, im zweiten Teil aber dem nunmehr gleich Properz der Liebe verfallenen Freund die Liebesdichtung ans Herz legt.33 Properz verweist auf die Bedeutung, die er selbst, ohne namhaften Besitz und berühmte Ahnen, allein durch sein ingenium unter den Mädchen erworben habe (55 ff). Kontrastierend folgt ein Überblick über das Werk Vergils. Dabei kennzeichnet Properz zunächst dessen großes episches Gedicht, das wohl zur Abfassungszeit der Elegie im Entstehen begriffen ist. Er bedient sich dabei verschiedener Begrif¬ fe, die dem Anfang der Aeneis entnommen sind: me iuvet hestemis positum languere corollis, quem tetigit iactu certus ad ossa deus; Actia Vergilium custodis litora Phoebi, Caesaris et fortis dicere posse ratis, qui nunc Aeneae T r o i a n i suscitat ar ma iactaque L a v i n i s moenia l itoribus. cedite Romani scriptores, cedite Grail nescio quid maius nascitur Iliade. (59-66)

Das vergilische arma virumque ist in Aeneae Troiani ... arma (63) variiert, wobei der Zitatcharakter dadurch pointiert ist, daß Troiani an derselben metri¬ schen Stelle einsetzt wie Vergils Troiae (qui primus ab oris), arma aber nun statt am Versbeginn an seinem Ende steht. Vergils auffälliges Enjambement 2 f. L avini a que venit /litora ist auf gegriffen in iactaque L avi n i s moenia litoribus; Attribut und Substantiv sind hier nicht auf zwei Verse verteilt, sondern auf die beiden Hälften des Pentameters/4 Daß Properz in seiner Skizze des vergilischen Werkes das Schwergewicht auf Actium und Caesar legt, gab Anlaß zu der Vermutung, er gehe noch von einem früheren Konzept der Aeneis aus, so wie es auch in Georg. 3, 1 ff. skizziert wird,35 oder aber er beziehe sich allein auf Aen. 8;30 andererseits zeigt aber 63 ff., 181 ff., in Prop. 2, 1 und Horaz 2, 12; das horazische carmen sei eine Antwort auf Properz' Hervorhebung der Freundschaft zwischen Augustus und Maecenas; Horaz betone demge¬ genüber die Bedeutung der Frau des Maecenas, Terentia. 33 Zur Gesamtstruktur der Elegie vgl. W. Wimmel, Kallimachos in Rom. Die Nachfolge seines apologetischen Dichtens in der Augusteerzeit, Wiesbaden 1960 (= Hermes E. 16),

202 ff. 34 Einen Verweis auf Aen. 1, 1 ff. vermutet auch Enk ad loc. (Sex. Propertii Elegiarum liber 1 (Monobiblos) ed. P. J. Enk, Pars prior, Proleg. et textum continens, Leiden 1946). In Details analog sind auch Aen. 3, 280/1 c t i a que Iliacis celebramus litora ludis und Aen. 8, 704 Ac t i u s haec cernens arcum intendebat Apollo. Ad 63 weist Enk weiter auf die Analogie zu Aen. 12,497 hin. 35 .... Vgl. Enk ad loc. (mit Überblick über die Forschung).

2. Strukturen literarischer Zitation

25

daß ihm die Zentralstellung des Aeneas-Mythos durchaus bewußt war. Indem Properz dennoch an den Beginn seiner Skizze den Caesar und seinen bedeutend¬ sten Sieg rückt, geht er über die Paraphrase hinaus und nimmt Stellung zur Aeneis; er enthüllt den partiell typologisch-allegonschen Charakter der AeneasErzählung.37 Es folgt eine Skizze von Vergils bukolischer Dichtung: tu canis umbrosi subter pineta G a l a e s i T h y r s i n et attritis D a p h n i n harundinibus, utque d e c e m possint corrumpere mala puellas missus et impressis haedus ab uberibus. f e I i x,

qui vilis pomis mercaris amoresl

huic licet ingratae Ti tyrus ipse canat. felix intactum C o r y d o n qui temptatA l exin agricolae d o mi n i carpere delicias! quamvis ille sua lassus requiescat avena, laudatur f a c i I i s inter Ha niadryadas. (67-76)

Die Hirtennamen Thyrsis und Daphnis sind den vergilischen Eclogen entnom¬ men; der Galaesus, ein Fluß in Kalabrien, begegnet aber nicht in den Bucolica, sondern Georg. 4, 126, ebenfalls am Versende, als Ortshinweis für den Garten des Korykischen Greises. Auf die Georgica verweist vielleicht auch das anaphorische felix qui

(Georg. 2, 490felix qui potuit rerutn cognoscere causas; vgl. auch 2,

493 fortunatus et ille deos qui novit agrestis), wobei Georg. 2, 490 seinerseits ein Echo auf Lucrez ist;39 diese „Abstammung“ des Motivs dürfte Properz zu seiner Zitation motiviert haben. Auch das Apfelgeschenk (69) kommt bei Vergil vor, und zwar ecl. 3, 70 f., wo Menalcas singt: Quodpotui, puero silvestri ex arbore lecta aurea mala

d e c e m misi; cras altera mittam.

36 E. Paratore, De Propertio Vergiliani carminis iudice, Miscellanea Properziana, a cura del Primo Comizio (Arti, Lett., Scienze), Atti delP Accad. Properziana del Subasio 5, 5,

1957, Assisi 1957, 71. 37 Wimmel, Kallimachos in Rom, 209 („Was folgt, ist ein Katalog aus Vergils Gedich¬ ten, eingeleitet durch den bekannten Hinweis auf ein Caesargedicht (als Fortsetzung oder als Nachfolge-Epos der begonnenen Äneis?), der die Kenntnis des Äneisanfangs vorauszu¬ setzen scheint ...“) verkennt diese kommentierende Funktion der Zitation; vgl. aber ebd.: „Auf die Frage, ob liier Preis von Actium und Äneisstoff als zweierlei gedacht ist, wollen wir nicht ei ngehen.“ 38 Zum Topos s. E. Norden, Agnostos theos, Lpz./Berlin 1913, 100, Anm. 39 Lucr. 5, 1185 ... cognoscere causas; ähnlich auch Lucr. 3, 1072 (vgl. Virgil, Georgics, ed. with a comm. by R. A. B. Mynors, Oxford 1990, ad. loc.; Wimmel, 209).

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I. Die Technik der literarischen Zitation

Vergil übernimmt das Motiv aus Theokrit 3, wo allerdings die Äpfel der Galatea dargebracht werden sollen: T)vi8e xoi Seica paZa cpepcü • xqvcöfte KafteiZov ndtep, & noXv; zurückzuführen sein; das Motiv übernimmt auch Plautus, Bacch. 932 o Troia, o patria, o Pergamum: o Priame, periisti senex. Vergil stellt sich also in eine weitreichende Traditionslinie. Auch Vergils Lucrezrezeption ist deutlich als hommage an den großen Vorgänger kenntlich gemacht.69 Das gilt v.a. für die Schlußpassage des zweiten Buches der Georgica (475 ff.) mit ihrer lucrezischen Terminologie;70 zwei größere Textzu¬ sammenhänge aus De rerum natura - das Gebet an Venus in 1, 1 ff. und die das Werk beschließende Seuchendarstellung - finden außerdem in Vergils Lob des Frühlings (Georg. 2, 315 ff.) und in der norischen Tierseuche (Georg. 3, 478 ff.) ein literarisches Echo. Wie Vergil hier die Rezeption lucrezischer Dichtung und Weltanschauung in einem Prozeß vollzieht, der durch sorgfältige Neuakzentuie¬ rungen das Eigenständige auf der Folie des Vorgänger-Werkes hervortreten läßt, weist Herta Klepl in sorgfältigen Einzelvergleichen nach.71 Ein repräsentatives Beispiel auf der Ebene der Gesamtkomposition bietet Vergils Verschiebung der

Vgl. auch Aen. 6, 179 ff., eine freie aemulatio von Ennius 187-191; die Analogien umfassen nicht nur das Wortmaterial, sondern auch den Satzbau und die Alliteration. Vgl. Macrob., Sat. 6, 2, 18. Auch hier steht schon Ennius in einer umfassenden litera¬ rischen Tradition; vgl. H D. Jocelyn, The Tragedies of Ennius. The Fragments, ed. with an Introduction and Comm., Cambridge 1967 (= Cambr. Class. Texts and Comm. 10), ad loc. Vgl. R. G. Austin, P. Vergilii Maronis Aeneidos lib. 2 with a Commentary, Oxford 1964, ad Aen. 2, 241. 69 Vgl. L. P. Wilkinson, The Georgics of Virgil. A Critical Survey, Cambridge 1969, 68, zur Lucrez-Rezeption in den Georgica: „Far from wishing to conceal his ’furta ', he clearly wished recognition of their provenance to be a pleasure to the reader.“ H. Klepl, 7, spricht von einem „Bekenntnis zu dem Werke des Lucrez ..., welches zu¬ gleich das künstlerische und menschliche Verständnis, das sichere Gefühl des Abstandes und die neidlose Bewunderung für den großen Vorgänger zum Ausdruck bringt“; zum Verhältnis der Texte im einzelnen zueinander s. Klepl, 7 ff. 71 Vgl. Klepl, 11 ff.

3. Vergilische Fremdzitalion

35

Seuchenschilderung vom Schluß des Gesamtwerkes (Lucrez) zum Abschluß des vorletzten Buches: Der Pessimismus, in dem De rerum natura mündet, ist da¬ durch partiell zurückgenommen, den Abschluß des Gesamtwerkes bildet stattdessen als Folge des Bienentodes der Mythos von Aristaeus, der in der Bugonie dem Sterben das neu entstehende Leben programmatisch entgegensetzt. In der Übernahme einzelner Junkturen aus Lucrez ist Imitation des Typischen (im Sinne der Frequenz des Vorkommens) angestrebt; Vergil verleiht seinem Gedicht bewußt „ein lukrezisches Gepräge“.72 Demselben Zweck dient die Ver¬ wendung typischer Überleitungen in lucrezischen Argumentationsgängen an sorgfältig ausgewählten Stellen73 - ein Beispiel ist die lucrezische Wendung nonne vides; die Lucrez häufig, aber ohne gesteigerte Bedeutung verwendet.74 Vergil greift die Formel auf, behält sie sich aber für die Einführung neuer wichti¬ ger Motive (1, 56; 3, 103) vor - sowie die imitatio lucrezischer Stileigenheiten, die Vergils Verskunst eigentlich nicht entsprechen, so besonders die Stellung von Konjunktionen, Präpositionen oder Pronomina am Versende, wo sie ihre Bedeu¬ tung erst im Zusammenhang mit dem folgenden Vers entfalten. 75 Neben der Hommage schließt die Zitation vielfach auch eine gewisse Abgren¬ zung von epikureischer Weitsicht mit ein, wie die beiden folgenden Beispiele belegen: Der Passus Georg. 1, 477 f. steht im Kontext der portenta, die auf Caesars Ermordung folgten: ... et s i mul acr a

mo di s pa 11 ent i a mi r i s

/visa sub obscurum noctis, ... Die vier Worte, die 477 beschließen, sind wörtlich aus Lucrez' Polemik gegen Ennius' Hadesglauben entnommen: etsi praeterea tarnen esse Acherusia templa Ennius aeternis exponit versibus edens,

quo neque permaneant animae neque Corpora nostra, sed quaedam s i mu I a c r a mo di s pallentia mi r i s . (Lucr. 1, 120 ff.)

Otto Skutsch hält die Junktur selbst, ebenso wit Acherusia templa (120), bereits für ein Ennius-Zitat.76 Wenn das zutrifft, bestätigt sich auch hier Vergils Interesse an Zitationen in seinen epischen Quellen. Vergils Lucrez-Zitation wahrt genau den Wortlaut und die Stelle im Vers, ist aber deutlich polemisch; gegen Lucrez

72 Klepl, 112. 73 Vgl. Klepl, 114 und 116. 74 Lucrez selbst folgt hier Homer und Arat; vgl. Mynors ad Georg. 1, 56. 75 Klepl, 114 ff., zählt in den Georg. 42 „indifferente Worte am Versschluß“, in der Aeneis nur noch 14. Die Bedeutung dieses Versschlusses bei Lucrez betont K. Büchner, Beobachtungen über Vers und Gedankengang bei Lucrez, Berlin 1936 (= Hermes E. 1), 77. 76 The Annals of Q. Ennius, ed. with Introd. and Comm. by O. Skutsch, Oxford 1985, hier fr. Ann. 1,4; vgl. auch ebd., 155 ff.

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I. Die Technik der literarischen Zitation

vertritt Vergil die Existenz von Gestalten und Phänomenen, die im aufkläreri¬ schen Licht epikureischer Vernunft als blanker Aberglaube erscheinen. Luciez führt den Beweis des allgemeinen Todesschicksals durch den Hinweis auf Scipio; er zitiert hier seinerseits Ennius, 313 V. ... ut famul

i nfimus

esset: S c ip i a d a s ,

belli f ulmen , Carthaginis horror,

ossa dedit terrae proinde ac fa mul i n f i mu s esset. (Lucr. 3, 1034 f.)

Die Enniusreminiszenz hat wohl Vergils Interesse geweckt;77 er zitiert in Aen. 6: quis te, magne Cato, tacitum aut te, Cosse, relinquat? quis Gracchi genus aut geminos, duof u l mi n a

belli,

S c i p i a d a s , cladem Libyae, ... (Aen. 6, 841-3)

Der vergiüsche Versbau imitiert den schwerfälligen Schritt des lucrezischen Vo rbilds. Inhaltlich jedoch ist das Motiv neu gefaßt: Wohl sind die Scipionen in die Welt der Toten aufgenommen. Dem lucrezischen proinde ac famul inßmus esset respondiert aber Vergils rühmendes quis te ... tacitum relinquat: Der Ruhm gibt den Heldengestalten römischer Geschichte auch im Tode Unsterblichkeit im Gedächtnis der Menschen.

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Dieses Beispiel verdeutlicht zugleich die Problematik der Prioritätsfrage bei Similien. Wären die Abhängigkeiten unbekannt, so könnte die Vorstellung, Lucrez setze dem vergilischen Gedanken der ideellen Unsterblichkeit den epikurei¬ schen Gedanken der Totalität des Todesschicksals konträr entgegen, ebensoviel Plausibilität für sich beanspruchen wie das historisch erwiesene Rezeptionsver¬ hältnis. Inhaltliche Kriterien sind also für sich allein nur in sehr begrenztem Ausmaß ein Indiz für die Richtung der Zitation. Allenfalls wären hier zwei Ar¬ gumente für die Priorität von De rerum natura vorzubringen: - Die Stilistik der vergilischen Fassung entspricht in der syntaktisch schwerfäl¬ ligen Folge von Nomina weitaus eher lucrezischer als vergilischer Gestaltung. - Die rhetorische Frage, in die das Motiv bei Vergil eingekleidet ist, erweckt eher den Eindmck einer Responsion auf Lucrez als den des umgekehrten Ver¬ hältnisses.

E. Norden, Aeneis 6, ad 841 ff., sieht auch in dem Homoioteleuton der folgenden Verse (843 f.) eine beabsichtigte ennianische Reminiszenz, „denn Ennius hat von diesem Ornament, wenigstens in den Tragödien, reichlich Gebrauch gemacht.“ Vgl. B. Farrington, Polemical Allusions to the De rerum natura of Lucretius in the Works of Vergil, in: Geras, Studies presented to G. Thomson, ed. by V. Willets, Prag 1963, 87 ff.

3. Vergilische Fremdzitation

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Catulls Beschreibung der auf Naxos verlassenen Ariadne prospicit et magn is curarum f luctuat undis (64, 6279) rezipiert Vergil zweimal.80 Aen. 4, 531 f. wendet er das Motiv auf Dido an: ... ingeminant curae rursusque resurgens saevit amor magno que irarum fluctuat aestu.

Die Metapher ist beibehalten und dient auch hier der Veranschaulichung weibli¬ cher Liebesqualen; Vergil intensiviert sie aber kunstvoll, indem er der ihr inkludenten Vorstellung vom Anbranden und Verebben der Wellen die analoge Vor¬ stellung eines rursus resurgens amor zugesellt. Aen. 8, 19 ist Aeneas zu Beginn des latinischen Krieges geschildert: cunctavidens magno

cur ar um fluctuat aestu. Die zitierte Junktur könnte noch

als Stereotype gelten, wäre nicht eine zweifache leichte Umdeutung, die dem Zitat seinen besonderen Reiz gibt. Denn bei einer in vielfacher Hinsicht identi¬ schen Situation - Ariadne wie Aeneas sind auf fremdem Boden, ungewissen Gefahren ausgesetzt, in einer Lage, die sie weder gewollt noch verschuldet haben - ist es doch der Unterschied, der ins Auge sticht: Catnil s Heroine blickt nur nach dem treulosen Geliebten aus; Aeneas aber, seiner Verantwortung treu, hält alles im Blick; bei Catull sind die curae die Qualen der enttäuschten Liebenden, bei Vergil ist es die Sorge um die anvertrauten Menschen und den göttlichen Auftrag. Die Variation ist nicht polemisch, aber sie gibt der Zitation eine sehr individuelle Note. Die bekannte Textparallele Catull 66, 39 s'invita,oregina,tuo tice ces si - Aen. 6, 460 i nvi tu s, r eg in a, tu o

de ver-

de litore cess i setzt der

Klage von Berenikes Locke die Selbstexkulpation des Aeneas gegenüber Dido entgegen; die metrische Struktur ist beibehalten, vertice durch das metrisch iden¬ tische litore ersetzt. Auch hier ist durch die geringe Variation im Wortmaterial ein neuer Sinn hergestellt.82 In allen angeführten Beispielen, und diesbezüglich sind sie für die Rezeption literarischer Vorgänger repräsentativ, ist der Umfang der Zitation beschränkt; 79 Vgl. Kroll ad loc. Fordyce (P. Vergilii Maronis Aeneidos libri 7-8 with a Commentary by C. J. Fordyce, Oxford 1977) ad Aen. 8, 19 verweist weiterhin auf 12, 486. 80

81 Vgl. Kroll ad loc. Vgl. J.P. Eider, Notes on some conscious and subconscious elements in Catullus' Poetry, HSCPh 60, 1951, 101-136, ND in: Catull. Wege der Forschung, hg. v. R. Heine, Darmstadt 1975, 85-132, hier 112 ff. Russells Kritik (De iniitatione, 13: „Catullus wasted a splendid line; Virgil shows how it can be put to better use.“) geht aber zu weit: Catull hat einen hervorragenden Vers geschaffen, der auch die Einbettung in einen anders gestimm¬ 82

ten Kontext verträgt. Von „Verschwendung“ kann hier wie dort keine Rede sein.

1. Die Technik der literarischen Zitation

38

ganze Verse übernimmt Vergil allenfalls mit geringfügiger Variation, Blöcke aus mehreren zusammenhängenden Versen zitiert er, soweit dies nachzuverfolgen ist, weder aus Ennius, noch aus Lucrez oder Catull.83 Dennoch gibt es für Vergil Anzeichen einer Rezeption der Werke von unmittelbaren Zeitgenossen, die sich von der imitatio des Ennius, Lucrez und Catull unterscheidet.84 Im auch sonst erkennbaren Rahmen bleibt die durch Servius Notiz zu ecl. 6, 52 bestätigte Zita¬ tion eines Halbverses aus der Io des Calvus a, virgo infelix (fr. 9 Courtney). Das¬ selbe gilt für Georg. 2, 505 ff.: hic petit excidiis urbem miserosque penatis, ut gemma b i b a t et Sarrano dormiat ostro; condit opes alias defossoque i n c u b a t a u r o .

Hierzu verweist Macrob. 1, 6, 40 auf einen Vers aus dem Ende der 40er Jahre vollendeten Gedicht De morte des Varius Rufus: i neu bet ut Tyriis atque ex solido b i bat au ro (fr. 2 Courtney). Die freie Zitation dürfte auch inhaltlich leicht variiert sein; was Varius vermutlich in den Kontext epikureischer Verach¬ tung der Jagd nach Reichtum stellt, ist für Vergil Symptom des schlechten Bür¬ gers, also politisch determiniert. Zu L. Varius Rufus und Varro Atacinus liegen aber auch Testimonien einer wortgetreuen Zitationspraxis vor: Aen. 6, 621 f. ist unter den Büßern in der Unterwelt auch der korrupte Verräter des Vaterlandes aufgeführt: vendidit hic auro patriam dominumque potentem imposuit; f i xi t l e ge s p r e t i o atque r efi xi t;

Dazu führt Macrobius, Sat. 6, 1,39, zwei Verse aus Varius Rufus, De morte, an: vendidit hic Latium populis agrosque Quiritum eripuit, f i xi t

l e ge s p r e t i o

atque r ef i xi t. (fr. 1 Courtney)

Im Hinblick auf den Umfang zitierter Textstellen kommt D. Knecht, Virgile et ses modeles latins, zu folgenden Ergebnissen: Ganze Hexameter werden nur unter Variation zumindest eines Wortes übernommen; selten übersteigt die unveränderte Zitation einen Halbvers. Mehrere aufeinander folgende Hexameter werden eher in ihrer Struktur und Idee als im Vokabular imitiert (503). Seine Beobachtung, daß Zitate gewöhnlich in einen Kon¬ text integriert werden, in dem sie ihre ursprüngliche Bedeutung beibehalten (504), trifft zu für kurze Junkturen, insbesondere am Versschluß, ist aber im übrigen undifferenziert. 84

So vermutete bereits Skutsch, Gallus und Vergil, 15, ohne aber Belege anzuführen.

3.

Vergilische Fremdzitation

39

Rostagni vermutet in dem Varius-Fragment Kritik an Antonius, dessen Name im Kontext genannt gewesen sei.85 Wenn das zutrifft, bietet die Textparallele wieder ein Beispiel dafür, wie Vergil sich die Konnotation zitierter Stellen zunutze macht: Indem er zitiert, kann er einen konkreten politischen Bezug anklingen lassen, ohne doch die Sprechhaltung allgemeinerer admonitio aufzugeben. Zu Ecl. 8, 88 verweist Macrobius, Sat. 6, 2, 20 auf sechs Verse aus Varius, De morte: ceu canis umbrosam lustrans Gortynia vallem, si veteris potuit cervae deprendere lustra, saevit in absentem et circum vestigia latrans aethera per nitidum tenues sectatur odores; non amnes illam medii, non ardua tardant, p erdita

n e c s e r a e me mi n i t decedere n o c t i. (fr. 4 Courtney)

Den letzten dieser Verse hat auch Vergil; allerdings wird aus der eine Hirschkuh jagenden Hündin eine junge Kuh, die den Stier sucht. Das Motiv, das bei Varius wohl politische oder philosophische Bedeutung gehabt hat,87 ist in den Kontext von Liebe und Liebeszauber übertragen: talis amor Daphnin qualis cum fessa iuvencum per nemora atque altos quaerendo bucula lucos propter aquae rivum viridi procumbit in ulva p e r dit a ,

n e c s er a e me minit decedere n o c ti,

talis amor teneat, nec sit mihi cura mederi. (ecl. 8, 85-89)

Ad Georg. 1, 375 ff. zitiert Servius Dan. mehrere Verse des Varro Atacinus (fr. 14 Courtney); der vierte Vers des Fragments ist Wort für Wort identisch mit Ge¬ org. 1, 377: aut arguta lacus circumvolitavit hirurtdo.

85 A. Rostagni, II De morte di L. Vario Rufo, RFIC 87, 1959, 381-394; Rostagni folgen V. Buchheit, Der Anspruch des Dichters in Vergils Georgica. Dichtertum und Heilsweg, Darmstadt (Impulse der Forschung) 1972, 138 f., und Courtney ad loc. 86 Die Konjektur von Willis (5 f. tardant / culmina, s. Courtney, ad loc. u. app. crit.) dürfte auf die bei überliefertem Textbestand ungewöhnlich genaue Zitation zurückzufüh¬ ren sein; vgl. Courtney, 274: „... it is quite exceptional for Vergil to take over a whole line without alteration ..., and that is the main justification for Willis' alteration. The text of Vergil could easily have influenced that of Varius; ...“. Selbst unter der Voraussetzung, daß die Similien im Lauf der Texttradition oder unbewußt von Macrobius in einzelnen Worten an die vergilische Fassung angeglichen wurden, liegt aber eine erstaunlich genaue Zitation seitens Vergils vor. 87 Der Vergleich könnte bei Varius die Flucht des Proskripierten veranschaulichen oder aus epikureischer Sicht die Jagd nach Glücksgütern o.ä. demonstrieren; vgl. Courtney, 274 f.

40

I. Die Technik der literarischen Zitation

Der Vers entstammt wahrscheinlich den varronischen Regenzeichen der Ephe¬ mer is, die auf Arat 938 ff. zurückgehen. Die gemeinsame Quelle Arat wird hier demnach von Vergil unverändert in einer ihm vorangehenden römischen Adapti¬ on benutzt. Aus Varros römischer Version der Argonautica stammt nach Servius ad loc. (iVarronis hic versus est) Georg. 2, 404, und zwar, wenn Servius zuverläs¬ sig ist, ebenfalls unverändert: frigidus et silvis Aquilo decussit honorem. Wie die verschiedenen Beispiele belegen, ist innerhalb der römischen Literatur die Zitation ein Phänomen, dessen Ausmaß der moderne Betrachter angesichts des Überlieferungsstandes zwar nicht hinreichend sicher beurteilen kann, das aber dennoch ganz unbestreitbar mitwirkt an dem spezifischen Charakter dieser Dich¬ tung. Anhand tradierter Texte ist nachzuweisen, daß Fremdzitation verschiedenen Zielen dienen kann: - hommage an den zitierten Autor; - Einbezug von oder polemische Auseinandersetzung mit einer dem zitierten Kontext inkludenten Auffassung oder Wertung; - geistreiches Spiel, oft in witzig-pointierter Verfremdung des ursprünglichen Sinns und Kontextes; - Responsion auf das vorgegebene Thema oder Motiv. - Dokumentation eigener „Kennerschaft“ hinsichtlich des fremden Werkes, seiner Quellen und stilistischen oder auch metrischen Charakteristika. Verschiedene dieser Intentionen können Zusammentreffen. Zitationen werden nicht verhüllt, sondern, auch wenn die Quelle nicht nament¬ lich genannt ist, durch deutliche Hinweise - etwa die Beibehaltung metrischer Strukturen oder die Verwendung gleicher Worte an gleicher Versstelle - akzen¬ tuiert. Die näher betrachteten Zitationen in Vergils Werken lassen außerdem einige Spezifika e rkennen: - Übernommene Textstellen aus Ennius tragen öfter für diesen typische Merk¬ male; man könnte von „Paradeversen“ sprechen. - Auch in frei variierten Zitationen neigt Vergil dazu, solche wesentlichen Stilmerkmale der Quelle beizubehalten oder in veränderter Form zu imitieren. - Eine bereits in der Quelle vollzogene Zitation scheint für Vergil einen spezi¬ fischen Anreiz geboten zu haben, sich seinerseits des Motivs und seiner sprachli¬ chen Fassung zu bemächtigen, also sozusagen die Rezeptionsgeschichte fortzu¬ schreiben. In den meisten angeführten Beispielen vollzieht sich die Fremdzitation nicht als wörtliche Übernahme von Versen oder Versgruppen, sondern als Arbeit mit und an übernommenen Junkturen, die häufig durch den Kontext im weitesten Sinne

4. Vergilische Selbstzitation

41

neu determiniert werden. Es gibt aber Hinweise darauf, daß Vergil in den Eclogen und Georgica zeitgenössische Dichter auch mit ganzen Versen zitierte.

4. Vergilische Selbstzitation

Insbesondere im Epos kommt neben der Fremdzitation der Wiederaufnahme eigenen Versguts eine hohe Bedeutung zu. Gleiche bzw. analoge Dinge, Ereignis¬ se, Zustände oder Personen werden gern durch identische Wendungen geschildert.

Die Wiederholung epischer Formeln war den römischen Dichtem aus Ho¬

mer vertraut; sie imitierten ihn, auch wenn mit der Schriftlichkeit der Überliefe¬ rung eine seiner Grundbedingungen entfallen war. Wie viele dieser epischen Kurzformeln bereits von Ennius geprägt waren und zum festen Gut römischer Epiker wurden, ist nicht mehr festzustellen; die Zahl war aber kaum gering. Die Technik vergilischer Selbstzitation

soll hier nur kurz anhand zweier Bei¬

spiele demonstriert werden:

88 Beispiele aus Vergil: Ecl. 8, 15 / Georg. 3, 326; Aen. 7, 749 / Aen. 9, 613 (mit Varia¬ tion eines Wortes); Ecl. 3, 87 / Aen. 9,629. 89 F. Gladow, De Vergilio Ipsius Imitatore, Greifswald 1921, kommt auf Grund der Prü¬ fung sämtlicher einschlägiger Fälle zu dem Ergebnis, Vergil verfahre nie so, „ut quattuor versus continuos qui formulam non prae se ferunt, omnibus verbis expressis repetiverit“ (84). Gladows Begriff der formula entspricht der Vorstellung eines sprachlichen Prototyps für Gleiches; veranschaulichende Beispiele sind die konkrete Beschreibung und deren Wiederholung als Gleichnis (Beispiel: Georg. 3, 232-4 / Aen. 12, 104-6) oder die Ankün¬ digung eines Ereignisses (etwa im prodigium) und dessen Erfüllung (Beispiel: Aen. 3, 390 ff. / Aen. 8, 43 ff.). Eine umfassende Sammlung vergilischer Dublette n gibt E. Albrecht, Wiederholte Verse und Verstheile bei Vergil, Hermes 16, 1881, 393-444; die im Vergleich zu anderen römischen Epikern auffällig starke Präsenz von Dubletten führt er auf Homers Einfluß, gelegentlich auch auf das Fehlen einer letzten Redaktion, zurück (431 f.). Seine Untersuchung steht in erster Linie im Zusammenhang der Echtheitskritik wiederholter Verse (von einzeln analysierten Fällen abgesehen, kommt Albrecht zu dem generellen Ergebnis, die Wiederholung rechtfertige keinen Zweifel an der Authentizität der Verse in einem der Kontexte), manifestiert aber auch die Art der Selbstzitation. An glei¬ cher Stelle im Vers werden demnach v.a. „für sich verständliche Verbindungen, Sätze oder Substantive mit einem Attribut und dergleichen, die durch die Wiederholung formelhaft werden“ (435), verwandt. Vgl. auch J. Marouzeau, Repetitions et hantises verbales chez Virgile, REL 9, 1931, 237-257, der vor allem die Vielfalt der Übernahmetechnik hinsicht¬ lich Syntax und Umfang herausstellt; K. Mylius, Die wiederholten Verse bei Vergil, Diss. Freiburg 1946; W. W. Briggs, Narrative and Simile from the Georgics in the Aeneid, Leiden 1980 (= Mnem. Suppl. 58); ders., Lines Repeated from the Georgics in the Aeneid, CJ 77, 1982, 130-147. D. Knecht, Virgile et ses modeles latins, vergleicht vergilische

42

I. Die Technik der literarischen Zitation

Einer der bedeutendsten Rückgriffe auf das eigene Werk, der über die Wieder¬ verwendung stereotyper Kurzformeln hinausgeht, ist die Schilderung der Schatten im Totenreich, Aen. 6, 306 ff.; der Passus entspricht in drei Versen und einigen Motiven Georg. 4, 471 ff.,90 wo der Weg des Orpheus in die Unterwelt geschildert ist. Orpheus begegnet dort den Scharen der Toten: at cantu commotae Erebi de sedibus imis umbrae ibant tenues simulacraque luce carentum, quam mul t a in foliis a vi u m se milia condunt, Vesper u b i aut hibernus agit de montibus imber, ma t r e s a t q u e v i r i defunctaque corpora magnanimum h e r o u m, pueri imp o si t i q u e r o gis

vita

innuptaeque p u e11a e,

i uv enes ante o r a parentum,

quos circum limus niger et deformis harundo Cocyti tardaque palus inamabilis unda alligat et novies Styx interfusa coercet. (Georg. 4, 471-480)

Bei seinem Gang in die Unterwelt kommt Aeneas, von der Sibylle begleitet, zum Totenstrom, wo der Fährmann Charon die Schatten in seinen Nachen aufnimmt: huc omnis turba ad ripas ejfusa ruebat, ma tr e s atque v i r i defunctaque corpora

vita

magnanimum herou m, pueri innuptaeque p u e11a e, imp o si t i q u e r o gis

i uve nes

ante o r a parentum:

quam multa in silvis autumni frigore primo lapsa cadunt folia, aut ad terram gurgite ab alto quam mu 11 a e glomerantur aves, u b i frigidus annus trans pontum fugat et terris immittit apricis. (Aen. 6, 305-312)

Die beiden Versionen sind in drei ganzen Versen völlig gleich.91 Der Vogelver¬ gleich ist thematisch und in manchen Begriffen analog, durch den Kontext aber unterschiedlich determiniert.92 In den Georgica strömen die Schatten, die bereits in den Hades aufgenommen sind, im Banne der Musik zusammen; so wie die Vögel vor dem Abend oder aber dem kalten Winterregen Schutz unter den Blät¬ tern eines Baumes finden (se ... condunt, 473), finden auch die Schatten in Or¬ pheus' Stimme ein Trostmittel (cantu commotae, 471) gegen die freudlos-dunklen Tiefen der Unterwelt. In der Aeneis drängen die Schatten zu dem Fährmann hin, der über ihr weiteres Los entscheiden wird; sie stehen nicht im Banne dessen, der aus der Welt der Selbst- und Fremdzitation, beschränkt sich aber, von kurzen Hinweisen abgesehen, auf die Auswertung hinsichtlich des Umfangs übernommener Versteile. 90 Die Frage „innervergilischer“ Priorität muß hier zurückgestellt werden. 91 . Norden, Aeneis 6, ad 305, vermutet hier Abhängigkeit von Ennius. 92 Zur Tradition des Bildes vgl. Norden, ebd.

4. Vergilische Selbstzitation

43

Lebenden zu ihnen kommt, sondern streben danach, möglichst rasch ihren Be¬ stimmungsortjenseits des Totenflusses zu erreichen, ein Ziel, das durch die dem Vogelvergleich inkludente Vorstellung als freundliche Heimat (312: terris immittitapricis) gekennzeichnet ist. In Anbetracht dieser Unterschiede ist die Selbstzitation der drei identischen Verse erstaunlich starr und blockhaft. Das ist möglich, weil die jeweilige Vor¬ stellung für sich allein - isoliert von ihrem Kontext - dieselbe ist: Es ist jeweils die aus unterschiedlichen „Elementen“ - Frauen, Männer, Heldengestalten, zarte Knaben und Mädchen - zusammengesetzte Menge, die geschildert wird. Insofern ist die Selbstzitation hier Versatzstück; in beiden Kontexten entfalten die analo¬ gen Motive für sich isoliert dieselbe Wirkung. Anders steht es mit den Vogelver¬ gleichen; hier erfolgt aber die Zitation unter deutlicher Variation. Ein weniger spektakuläres, aber dennoch signifikantes Beispiel bietet das Ora¬ kel der Tische. Aen. 3 weissagt die Harpyie Celaeno den Troianem, nicht eher würden sie eine Heimat finden, als bis bitterer Hunger sie gezwungen habe, die Tische zu verspeisen, quam vos dira James nostraeque iniuria caedis ambesas subigat malis absumere men s a s . (256 f.)

Das Orakel erfüllt sich anders, als gedacht. In Latium angekommen, speisen die Troianer im Gras liegend; als Unterlagen der Speisen benutzen sie adorea liba, Fladen aus Dinkel, die anschließend auch verzehrt werden, was Iulus zu dem Ausruf veranlaßt: 'Heus, etiam mensas c o nsumimus ?' (7, 116). Aeneas erkennt die Bedeutung des Geschehens und referiert das Orakel (freilich als Pro¬ phezeiung von Anchises, hier zeigt sich das Fehlen einer letzten Redaktion der Aeneis): cum te, nate, James ignota ad litora vectum accisis coget dapibus consumere mensas, tum sperare domos dejessus, ... (7,124-6)

Der Sprachgebrauch und die identische metrische Stellung der zentralen Begriffe in den beiden Orakelwiedergaben zeigt deutlich, daß die Stellen aufeinander verweisen sollen; Vergil strebt hier nicht variatio an, sondern eine innere Ge¬ schlossenheit der Darstellung, in der der Leser (ebenso wie Aeneas) Bekanntes wiede rfmden und deuten kann.

I. Die Technik der literarischen Zitation

44

5. Methodische Folgerungen

Daß Zitation nicht nur als unbewußte oder halbbewußte Integration allseits be¬ kannten Versmaterials auf der Basis einer „Zitatentradition von Schule oder Le¬ ben“,93 sondern als planvolle Auseinandersetzung mit dem zitierten Autor und seinem Werk vorkommt, dürfte erwiesen sein,94 ebenso auch, daß die Übernahme fremden Versgutes keinen Makel bedeutet. Man kann wohl davon ausgehen, daß Zitation nicht auf Texte zielt, die als min¬ derwertig empfunden werden. Die von Macrobius, Sat. 6, 1, 4 überlieferte Recht¬ fertigung des Afranius hat sicherlich generelle Gültigkeit: sumpsi non ab illo [seil, a Menandro\ sed ut quisque habuit conveniret quod mihi, quod me non posse melius facere credidi, etiam a Latino!

Was ihm - wohl unter thematischem Aspekt - gelegen kam (conveniret) und er in einer keiner Verbesserung fähigen Form vorfand, übernahm er aus Menander ebenso wie aus anderen griechischen und römischen Autoren.95 Daraus ist aller¬ dings nicht der Schluß zu ziehen, die optimale bzw. bessere Fassung von Similien sei immer die frühere.90 Dieses nicht zuletzt aus einem modernen Begriff von Schöpfertum erwachsen¬ de Vorurteil, es sei grundsätzlich der schlechtere Dichter, der vom besseren ab93 K. Vretska, Zur Methodik der Echtheitskritik, WS 70, 1957, 306-321, hier 317. Soviel zu Axelsons Bemerkung: „Immer wieder liest man von einer Ge wo h n heit der römischen Dichter, einander durch Nachahmung zu komplimentieren, aber 94

einen brauchbaren Beweis für dieses kulturhistorische Phänomen hat man kaum gesehen.“ (B. Axelson, Lygdamus und Ovid. Zur Methodik der literarischen Prioritätsbestimmung, Eranos 58, 1960, 92-111, hier 93 f.) Allzu skeptisch ist auch - angesichts des vielfach deutlichen Befunds der zitierenden imitatio - Axelsons unmittelbar anschließende Frage (94): „... wie denkt man sich eine komplimentierende Nachahmung im eigentlichen Sinne, einschliesslich der typischen Entlehnung unscheinbarer Verskrümchen, Phrasen, Gedan¬ kenfragmente, Motivfetzen, deren Provenienz erst unter dem philologischen Mikroskop zum Vorschein kommt und auch vom Gegenstand der diskreten Huldigung' selbst nicht leicht geahnt werden konnte?“ Die oben angeführten Beispiele reichen über „unscheinbare Verskrümchen“ etc. weit hinaus und waren vom zitierten Autor, wenn dieser denn noch lebte, in jedem Fall aber von einem kunstverständigen Publikum spontan zu diagnostizie¬ ren. 95

Immerhin ist interessant, daß er die Übernahme aus lateinischen Schriften besonders hervorhebt. 96

Geradezu entgegengesetzt urteilt Seneca, Epist. 79, 6: Condicio optima est ultimi. Pa-

rata verba invenit, quae aliter instructa novam faciem habent.

5. Methodische Folgerungen

45

schreibe, verstellt in der literaturwissenschaftlichen Similienforschung leicht den Weg objektiver Wertung, zumal darin zugleich das zweite Vorurteil impliziert ist, die kunstvollere Gestalt, der inhaltlich stimmigere Kontext und die nahtlose Ein¬ bettung in diesen bezeuge den ursprünglichen Platz von Similien; es entspringt nämlich der Vorstellung vom „schlechten Dichterling“, der unkritisch und ohne Kunstverstand sein Versgut zusammenstiehlt. Im Einzelfall mag das zutreffen; als methodische Prämisse der Prioritätsbestimmung ist es untauglich.97 Zur Demon¬ stration genügt bereits der Hinweis auf Horaz, Epode 16, und Vergil, ecl. 4. Wie auch immer der Prozeß der Rezeption verlaufen ist, daß hier ein „Klassiker“ den anderen ausgebeutet hat, ist ebenso unbestreitbar wie der eigene literarische Rang beider Gedichte. Und was die Stimmigkeit des Motivs im Kontext und seine Bedeutungstiefe angeht, so relativiert schon die vergilische Homerrezeption, in der sich des öfteren zeigen läßt, wie Übernommenes eigenständig und poetisch wirkungsvoll umgeformt und auch vertieft wird, die Relevanz solcher Erwägun¬ gen für die Prioritätsbestimmung: Daß ein Motiv in Kontext b sinnvoller oder schöner erscheint, sagt nichts darüber aus, daß Kontext a der spätere ist; der Nachahmer kann auch bessern.98 Hinsichtlich vergilischer Zitation konstatiert so Macrobius: denique et iudicio transferendi et modo imitandi consecutus est ut, quod apud illum legerimus alienum, aut illius esse malimus aut melius hic quam ubi natum est sonare miremur.

99

Außerdem ist angesichts der Tatsache, daß nicht allein die römische Literatur selbst, sondern auch die Quellen und Vorlagen, an denen sie sich orientiert hat, nur in Bruchstücken erhalten sind, das Stemma einzelner Motive und Junkturen niemals in all seinen Wurzeln und Verästelungen nachzuzeichnen. Zu einer schwierig oder unangemessen erscheinenden Version a und einer schönen und stimmigen Version b mag es eine beiden gemeinsame Ursprungsversion geben, die der Autor von a als erster und unbeholfen rezipierte, während der Autor von b - unter Berücksichtigung von a - dem Motiv eine bessere Gestalt bzw. der Aus¬ sage einen tieferen Sinn verleihen konnte. Der Prozeß textueller Rezeption könnte sich auch hier in das Bild von Zwergen fassen lassen, die auf den Schultern von Riesen stehen. Insofern sich die literarische Auseinandersetzung mit einer Stofftradition nicht auf die Arbeit an identischen Stoffen und Motiven beschränkt, sondern auch durch wörtliche Zitation auf frühere Gestaltungen hinweist, kann sie unterschied¬ liche Wirkungen erzeugen: Sie kann in erster Linie den Respekt vor einer sprach-

97 So auch A. Scott, The Assumed Inferiority of Litterary Borrowings, CJ 16, 1920, 114 ff. Zur Problematik einer solchen Vorgehensweise vgl. auch Vretska, 371 und passim. 98

Das konzediert auch Helm, 79.

" Sat. 6, 1,6.

I. Die Technik der literarischen Zitation

46

liehen Wendung bekunden, der nichts Gleichwertiges oder Besseres entgegenge¬ setzt werden könnte; sie kann auch einfach der Absicht dienen, das fremde Werk durch typische Wendungen zu repräsentieren. In polemischer Weise kann durch die geringfügige Abweichung eine gedankliche Distanzierung vermittelt bzw. die eigene Gegenposition verdeutlicht werden.100 Als Teil eines literarischen Diskur¬ ses führt sie zu witzig-pointierten Umwandlungen, kontextabhängigen Umdeu¬ tungen und Verfremdungen. Es liegt auf der Hand, daß ein solch spielerischer Umgang mit fremdem Gut vor allem dort blüht, wo ein Dichterkreis in engem und freundschaftlichem Kontakt zueinander lebt und schreibt; auch diese Technik des pointenhaften Verweises auf das dichterische Werk eines Zeitgenossen ist geistvolle Entfaltung eigener Kunst im Prozeß von imitatio und aernulatio. Für die Römer mußte sie einen ganz besonderen Reiz haben. Eine Literatur, die seit ihrem Beginn bei einer literarischen Hochkultur in die Lehre geht, an deren Mu¬ stern sie sich formt, bleibt sich auch in der Auseinandersetzung mit der eigenen Nationalliteratur treu: Man dichtet weder in bornierter Mißachtung der literari¬ schen „Szene“ noch in genialischer Unabhängigkeit von Vorgängern und Zeitge¬ nossen, sondern nimmt sich in freundschaftlicher oder auch polemischer Weise gegenseitig zur Kenntnis.101 Das Phänomen der Similien ist in mehrfacher Hinsicht für die Philologie fruchtbar zu machen: Im Einzelfall kann es der Textkritik Beistand leisten.102 In entstehungs- und werkästhetischer Hinsicht ist es relevant für den zitierenden, in rezeptionsästhetischer Hinsicht für den zitierten Autor. Wenn der letztere aber nicht bzw. nicht in den zitierten Teilen seines Werkes erhalten ist, sind beide Wege versperrt: Der Anspielungscharakter zitierter Texte und die jeweilige Zi¬ tattechnik lassen sich zunächst ja nur im Vergleich mit dem zitierten Text ermit¬ teln. Ein Text, der auf einen „verlorenen“ Autor zitierend Bezug nimmt, mag noch so viel an indirekter Infonnation enthalten: Der Leser kann sie mcht als

Zwischen „konkurrierender Nachgestaltung oder kontrastierender Umgestaltung“ unterscheidet Zintzen, Rezeption und Originalität, 15. Dabei dürfte sich der Prozeß der Rezeption häufig auch in beide Richtungen entfaltet haben. So vermutet auch W. Kraus in seiner Auseinandersetzung mit der angesichts zahl¬ reicher Zitationen weiterhin ungeklärten Frage des Prioritätsverhältnisses zwischen Lygdamus und Ovid (WS 70, 1957, 197-204, hier 202), es sei „keineswegs undenkbar, daß zwischen den beiden Dichtern, die wir Uns als Mitglieder des Messallakreises befreundet denken dürfen, ein gegenseitiges Geben und Nehmen stattfand ...“. 102.

...

Ein Beispiel gibt Th. Birt, Kritik und Hermeneutik, nebst Abriß des antiken Buchwe¬ sens, München 1913 (= Handbuch d. Klass. Altertumswiss. 1, 33), 38 f., wenn er für Aen. 1, 2 auf Grund von Prop. 2, 34, 64 (Lavinis) die mehrfach bezeugte Lesart Lavinaque litora vorzieht.

5. Methodische Folgerungen

47

solche identifizieren. Doch gibt es aus diesem Dilemma einen Ausweg, der durch zwei Beispiele erläutert werden soll: Auch wenn kein einziger Vers aus Tibulls Werk überliefert wäre, ließe sich doch mit Sicherheit sagen, daß er beispielsweise Elegien auf Delia verfaßt hat; der Konsens verschiedener Testimonien wäre überzeugend. Je indirekter und andeutender die Hinweise sind, desto unsicherer ist freilich eine solche Deutung: So könnten z.B. bei völligem Verlust des vergilischen Werkes die beiden oben zitierten Textstellen zu Vergils Aeneis - Properz 2, 34, 61 ff. und Ovid, Trist. 2, 503 f. - zwar zu dem Schluß berechtigen, daß Vergil den Aeneas-Stoff bearbeitet hat. In welcher Gattung aber und mit welcher thematischen Akzentuierung dies geschah, wäre allenfalls auf der Basis weiterer diesbezüglicher Überlieferung oder literatur- und stoffgeschichtlich begründeter Vorerwartungen zu vermuten. Der Zitatcharakter der Junktur arma virumque in Trist. 2, 534 wäre allenfalls zu erkennen, wenn diese in signifikanter Weise auch in weiteren Testimonien zu Vergils Behandlung des Aeneas-Stoffes begegnete. Daraus ist ein Umkehrschluß zu ziehen: Wenn in mehreren Texten, die jeweils ein- und demselben Autor gewidmet sind bzw. diesen erwähnen, seien es Werke desselben Autors oder verschiedener Schriftsteller, Themen, Motive oder auch gewisse Stilphänomene in signifikanter Form begegnen, so handelt es sich bei diesen Aspekten höchstwahrscheinlich um „Zitate” im weiteren Sinn, d.h. die Adaption oder Imitation typischer Merkmale oder Inhalte des Autors oder Textes, auf den verwiesen wird. Die Wahrscheinlichkeit nimmt zu, wenn nachzuweisen ist, daß die jeweiligen Verfasser hier Wege beschreiten, die sie üblicherweise nicht zu wählen pflegen; dies kann v.a. in stilistischer oder metrischer Hinsicht aufsschlußreich sein. Natürlich sind auf diesem Wege allenfalls Spekulationen anzustellen, nicht aber Beweise anzutreten; Vermutungen über ein nicht erhalte¬ nes Werk bringen zudem die Forschung nur in sehr begrenzten Einzelaspekten weiter. Anders steht es bei erhaltenen Texten um die Frage der Rezeptionsrichtung. Hierzu ergeben sich aus dem Charakter antiker Zitation Kriterien einer Priontätsbestimmung, die, zumal, wenn sie in deutlich gehäufter Form auftreten, ein grö¬ ßeres Maß an Wahrscheinlichkeit herstellen können als die Prüfung inhaltlicher Stimmigkeit oder poetischer Schönheit. Eine Analyse literarischer Abhängigkei¬ ten, die solche Faktoren für die Argumentation fruchtbar macht, beruft sich in erster Linie auf den Willen des zitierenden Autors, die Zitation nicht zu ver¬ schleiern, sondern kenntlich zu machen.103 Das Kenntlich-Machen kann durch die

103 Insofern ist zu konzedieren, daß ein solcher methodischer Ansatz gegenüber dem geschickten Plagiator, dessen Werk im Extremfall nichts an individueller Kunstauffassung erkennen läßt, versagen muß.

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I. Die Technik der literarischen Zitation

Häufung von Similien erreicht werden - bis hin zum Cento. Der Zitatcharakter kann aber auch durch die noch in der Variation signifikante Beibehaltung stilisti¬ scher oder metrischer Eigenheiten des zitierten Versguts demonstriert weiden 104 Daß sich der zitierende Dichter aus dem zitierten aussucht, was dort selten be¬ gegnet, aber seinem eigenen Stilwillen entspricht, ist freilich nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen; es dürfte für ihn aber nicht ganz einfach sein. Versmaterial zu finden, das im jeweiligen Einzelfall seinem stilistisch anderen Ge¬ staltungswillen entgegenkommt und zugleich inhaltlich passend ist. Vor allem aber wäre in dieser Art von Zitation der Charakter der hommage verhüllt, da sie ja eben nicht das Wesen des fremden Werkes faßt und demonstriert. Insofern wird man prüfen müssen, für welchen Autor und Kontext ein Similienpassus stilistisch oder metrisch „typischer“ ist - und diesen mit einiger Sicherheit als den Ursprung bestimmen. Stehen Similien in dem einen ihrer Kontexte in einer herausgehobenen Stel¬ lung, in dem anderen aber an nicht signifikant pointierter Position, so gilt es zu¬ nächst zu differenzieren: Es ist ja offensichtlich, daß durch ihre Stellung hervor¬ gehobene Textstücke (beispielsweise am Gedichtanfang) besonders zur Über¬ nahme einladen, weil sie gewissermaßen das gesamte Gedicht repräsentieren.105 Andererseits kann sich der Imitator aber kaum ausschließlich bei solchen formal akzentuierten Textstellen „bedienen“; wenn er dagegen an beliebiger Stelle ge¬ fundenes passendes Versgut seinerseits an hervorgehobene Stellen des eigenen Werkes rückt, verstärkt er damit das Bekenntnis zu seinem Vorbild. So spricht bei der Mehrzahl der Similien die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die unsignifikant stehenden Textstücke jeweils die früheren sind. Insofern Zitation nicht mechanisch, sondern als Arbeit mit und an dem über¬ nommenen Gut erfolgt, neigt sie zur Umdeutung des Vorgegebenen, die den Charakter eines literarischen Spiels, einer Polemik oder Vertiefung haben und dabei auch den alten Kontext für den neuen mit fmchtbar machen kann. Freilich sind dies Kriterien, die das leidige Problem inhaltlicher Wertigkeit durch die Hintertür wieder einführen. Die Frage an die Similientexte darf deshalb in keinem Fall heißen „Wo ist der Vers, die Junktur oder das Motiv schöner, passender, sinnvoller?“ sondern sie muß lauten: „Welcher Text gibt sich als - im weitesten Sinne - Kommentierung des anderen zu erkennen?“

Die hier postulierte Methode ist natürlich nur bei Texten verwertbar, die in Sprache, Stil, Metrik etc. in deutlicher Weise voneinander abweichen. So erklärt sich z.B. die häufige Zitation des Tityrus-Motivs aus ecl. 1, 1 (bis hin zur Identifikation des Tityrus mit Vergil).

5.

Methodische Folgerungen

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Die Stichhaltigkeit der einzelnen Ergebnisse kann dabei nicht auf Einzelphäno¬ menen beruhen, die ebensogut durch Zufall wie durch weiter verschlungene Wege literarischer Abhängigkeit begründet sein mögen. Allein die signifikante Fülle solcher Fälle über den Einzelkontext hinaus vermag hier eine gewisse Sicherheit herzustellen. Das bedeutet vielfach die Notwendigkeit, reihend und vergleichend in wiederholten Anläufen auf dasselbe Erkenntnisziel hinzusteuern, ein Weg, der dem Leser einige Geduld abfordert. Außerdem verlangt das Phänomen der literarischen Zitation nach der detaillier¬ ten Auseinandersetzung mit dem Zitat-Umfeld, beim zitierten wie beim zitieren¬ den Autor. In solchen Betrachtungen kann der Blick nicht immer strikt zielgerich¬ tet sein; längere Untersuchungsgänge, deren thematische Relevanz erst später deutlich wird, sind also in der Folge nicht immer zu vermeiden.

II. DieCiris

1. Standorte der C/m-Forschung

Das im Corpus Vergilianum überlieferte Kleinepos Ciris erzählt das Schicksal Scyllas, die ihren Vater und die Heimatstadt dem Feind ausliefert.1 Der Vater ist Nisus, König von Megara, dessen Leben und Sicherheit - und zugleich auch die seiner Stadt - gemäß einem Parzenspruch solange garantiert sind, wie er auf dem Scheitel ein purpurfarbenes Haar trägt. Der Feind ist Minos, der kretische König; daß Scylla sich in ihn, den sie nur aus der Feme gesehen hat, verliebt, ist von Amor verursacht und Strafe für eine Verletzung des Iuno-Altars, derer sie sich in kindlichem Leichtsinn schuldig gemacht hat. Die mehrfach verstümmelte TextÜberlieferung 129-162 sowie die bewußt dunkel andeutende Erzähltechnik er¬ schweren es, die genaue Natur von Scyllas Verfehlung zu erkennen. Sie scheint in kindlicher Spontaneität während eines Kultfestes der Iuno die Würde des Altars verletzt zu haben; eine Entblößung des Körpers durch ein beim Ballspiel gelöstes Kleid sowie ein Meineid spielen eine Rolle. Vielleicht hat sie sich, dem Ball folgend, dem Iunoaltar in unzulänglicher Bekleidung genähert und dieses Sakrileg später durch einen Meineid abgeleugnet.2 Scylla schneidet das schicksalträchtige Haar des Vaters in der Nacht ab und übergibt es Minos, in der Hoffnung, so seine Liebe zu gewinnen. Der nimmt die Stadt ein, aber die verräterische Frau bestraft er, indem er sie von seinem Schiff durch die Fluten schleifen läßt. Amphitrite erbarmt sich schließlich des Mädchens und verwandeltes in einen Vogel, die ciris3 Der durch Iuppiters Gnade ebenfalls

1 Zu Alternativversionen des Scylla-Mythos und ihren literarischen Gestaltungen s. Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, hg. v. W. H. Roscher, Bd. 4, Sp. 1024 ff, Art. Skylla (O. Waser) und O. A. M. Lyne, Ciris. A Poem Attributed to Vergil, ed. with an Introduction and Commentary, Cambridge 1978., 6 f. Bei Roscher, Sp. 1069 f., ist aufDarstellungen des Scylla-Mythos in der bildenden Kunst Roms hinge¬ wiesen. 2 Vgl. Lyne ad 129 ff Diese Metamorphose ist dem Scylla-Mythos nicht selbstverständlich: Literarisch belegt ist sie zum erstenmal bei Parthenios, fr. 20 Martini. Zu Kallimachos, fr. 113 Pf., vermutet Pfeiffer eine analoge Version. In der römischen Literatur begegnet sie außer in

1. Standorte der Ciris-Forschung

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zum Vogel gewordene Nisus verfolgt die neue Gestalt der Tochter erbarmungslos und läßt ihre Rettung zugleich zur endlosen Strafe werden. Die literarische Quelle ist nicht auszumachen. Der Stoff selbst ist alt und hat im Lauf der Zeit einige Variationen erfahren. In hellenistischer Zeit ist er offensicht¬ lich recht beliebt gewesen: Kallimachos spielt in der Hekale (fr. 288 Pf.) auf Scylla an; Parthenios hat in den Metamorphosen den Stoff gestaltet, aber wahr¬ scheinlich doch in knappererForm.* * 4 Die Vermutung liegt nahe, daß Scyllas und Nisus' Metamorphosen auch in der Omithogonia von Ps.-Boios und folglich in der lateinischen Version dieses Werkes von Aemilius Macer erzählt wurden. Tibull 1, 4, 63 nennt ein allseits bekanntes Nisus-Gedicht: carmine purpurea est Nisi coma. Unklar bleibt, ob er sich auf ein griechisches oder römisches Werk bezieht. Für Euphorion ist der Scylla-Stoff nicht bezeugt; im 0pa£, ist aber Komaitho erwähnt, die unter dem Einfluß des Eros das goldene Haar ihres Vaters ab¬ schneidet und ihn so dem Feind Amphitryon ausliefert (fr. 24 c van Groningen). Im Vergleich zur Ciris schlichter und in Handlungsfuhrung und psychologi¬ scher Motivation weitaus klarer und einheitlicher ist die Gestaltung des Mythos bei Ovid, Met. 8, 6 ff Ovid weicht in vielen Details von der Ciris ab. Vor allem wird Scylla von Minos nicht eigentlich bestraft, sondern nur mit dem Fluch be¬ legt, daß weder Erde noch Land ihr Heimat gewähren sollen. Als Minos' Flotte nach der Einnahme der Stadt den Hafen verläßt, stürzt Scylla sich ins Meer und klammert sich an einem der Schiffe fest. Erst der Angriff des mittlerweile verwan¬ delten Vaters zwingt sie, den Schiffskiel loszulassen, ehe sie aber die Fluten er¬ neut berührt, wird sie zum Vogel - womit sich Minos' Fluch erfüllt. Die stoffli¬ chen Unterschiede zwischen der Ciris und Ovid sind aber natürlich kein sicherer Beleg für weitere griechische Bearbeitungen, sie könnten auch aufOvids Bearbei¬ tung zurückgehen. Im Wort- und Versmaterial enthält die Ciris eine Fülle deutlicher Parallelen zu Catull, Lucrez und Ovid; verschiedene Wortjunkturen, Verstehe, Verse und Versgruppen entsprechen deren Werken in einem Ausmaß, das Zufall oder bloße Teil¬ habe an einer allgemeinen Motivtradition ausschließt. Zu keinem Autor und

der Ciris bei Vergil, Georg. 1, 404 ff. (als Wetterzeichen', 406-9 sind identisch mit C. 538-541) und in der ovidischen Erzählung, Met. 8,6-151. 4 Das erhaltene Referat zu Parthenios (Schol. Dion. Perieg. 420, Suppl. Hell., ed. H. Lloyd-Jones u. P. Parsons, 304, no. 637) legt das Schwergewicht auf die Aitiologie für den Saronischen Meerbusen; das ist aber natürlich durch den Kontext bestimmt. Bei Parthenios war sicherlich die Metamorphose von zentraler Bedeutung. Nach W. Ehlers, Die Ciris und ihr Original, MH 11, 1954, 65-88, der die Unterschiede zwi¬ schen Parthenios und der Ciris hervorhebt, favorisiert Lyne, 6, aufs neue die Abhän¬ gigkeit der Ciris von Parthenios, geht aber von der Kontamination mehrerer Quellen aus.

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II. Die Ciris

Werk besteht aber eine solche Fülle von Similien wie zu Vergil, besonders zu den Eclogen: Verse und Versgruppen sind wörtlich gleich, einige Verse der Ciris bei Vergil als Einheit zu finden, größere Verskontexte der Ciris in den Bucolica gleichsam kontrahiert. Das Epyllion selbst gibt keinen eindeutigen Aufschluß über Abfassungszeit und Autor.5 Damit ist zugleich auch unwahrscheinlich, daß es sich um eine Fälschung handelt, die Vergil bewußt untergeschoben werden sollte. Stammt die Ciris von Vergil, so erachtete er offensichtlich eine über die Selbstzitation hinausgehende Sphragis für überflüssig. Angesichts der Tatsache, daß sich Vergil in Georg. 4, 565 f. als Autor der Bucolica zu erkennen gibt, mag man erwägen, ob er nicht hier auch sonstige umfänglichere Jugendwerke in die Sphragis miteinbezogen hätte. Doch solche Argumentationen gehen von einer Konstanz des dichterischen „Verhaltens“ aus, die unbeweisbar ist. Der einzige werkinteme historische Hinweis, den die Ciris bietet, die W idmung an Messalla (54), könnte die Frage ihrer Entstehungszeit nur dann klären, wenn dieser Messalla historisch zu bestimmen wäre. Skutsch identifiziert ihn mit dem „berühmtesten seines Namens“,6 M. Valerius Messalla Corvinus (ca. 64 v 13 n. Chr.). Damit könnte man, da er als iicvenum doctissime (36) apostrophiert ist, selbst bei Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit von Widmungen den terminuspost allenfalls im Jahr 50 ansetzen.7 Doch ist es nicht notwendig, eine so frühe Entstehungszeit für die Ciris anzunehmen, es sei denn, man hält sie für ein Jugendwerk Vergils und möchte zwischen ihr und den Bucolica einen gewis¬ sen Zeitraum ansetzen, der den stilistischen Wandel plausibel macht. Ist die Ciris nicht vergilisch, so kann sie ebensogut in der Mitte der 40er Jahre vollendet worden sein. Der nunmehr knapp 20jährige Messalla hätte dann mit vermutlich größerer Berechtigung in der genannten Weise gepriesen werden können.

5 M. L. Clarke, The Date ofthe Ciris, CPh 68, 1973, 119-121, setzt die Hinweise auf die Panathenäen, C. 21-6, in Beziehung zu dem Fest von 138/9 n. Chr., als Herodes Atticusdas FestschifT von einer verborgenen Maschine (statt von Ochsen, wie sonst üblich) bewegen ließ, so daß der veristische Eindruck einer Seefahrt entstand; auf diese Erfahrung führt Clarke den Hinweis C. 25 f. zurück, das FestschifT sei von W inden bewegt worden. So intelligent die Vermutung ist, ist sie doch nicht stichhaltig; wenn in der Kultprozession ein Schiff präsentiert wurde, so blieb es in der Vorstel¬ lung der dem kultischen Fest Beiwohnenden, und um vieles stärker noch in der Imagi¬ nation eines Dichters, immerein Schiff, das der Wind bewegte, ob nun die tatsächlich treibende Kraft in der Gestalt von Ochsen sichtbar war oder nicht. 6 Skutsch, Vergils Frühzeit, 85 f. Einen Zeitpunkt vor der Mitte der 40er Jahre hält A. B. Drachmann, Zur Cirisfrage, Hermes 43, 1908, 405-426, hier 406, für unmöglich.

1. Standorte der Ciris-Forschung

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Der Titel Ciris erscheint in den Listen vergilischer Frühschriften - deren Ur¬ sprung freilich fragwürdig ist8 - bei Donat und Servius vor den Bucolica, und zwar als unbestritten vergilisch, im Unterschied zu dem Werk Aetna, dessen Authentizität Donat für zweifelhaft erklärt.9 Im Anschluß an seine Jugendwerke hat Vergil nach Donat zunächst einen Versuch unternommen, römische Geschichte dichterisch zu gestalten, sich dann aber, offensus materia, der bukolischen Dich¬ tung zugewandt;10 auch Servius geht nach der Liste der Frühschriften zu den Ent¬ eignungen im Raum Cremona und der Entstehung der Bucolica über.11 Wenngleich Donat und Servius die Ciris für ein Jugendwerk Vergils halten, sind Zweifel mehr als angebracht. Beide scheinen das Kleinepos nicht gekannt zu haben. Während Donat den Inhalt des Culex knapp kennzeichnet, geht er auf die Ciris nicht näher ein und zitiert nicht aus ihr. Das könnte natürlich auch daran liegen, daß er das Werk bzw. den darin berichteten Mythos für hinlänglich be¬ kannt hielt (was ja schon durch Ovids Bearbeitung in Met. 8, 6 ff. garantiert war). Ein Inhaltsreferat, wie zum Culex, gibt Donat auch nicht zu Bucolica, Georgica und Aeneis, und zwar wohl deswegen, weil er zu Recht voraussetzen kann, daß diese Werke dem Leser vertraut sind. Erfuhrt aber einzelne Verse oder Versgruppen an und verbindet mit ihnen Hintergrundinformationen, die dem Leser unbekannt sein könn¬ ten. So berichtet er z.B. von der Reaktion der Octavia auf den Preis ihres Sohnes Mar¬ cellus und zitiert dazu den Einsatz von Aen. 6, 883 tu Marcellus eris (32 Hardie). Ebenso führt er Beispiele für Vergils Fähigkeit an, Halbverse ex tempore zu komplet¬ tieren (34 Hardie).

Für Donats Unkenntnis der Ciris spricht aber auch, wie Munari aufweist, daß er das Prooemium, das einige biographisch verwertbare Angaben des Autors enthält, für seine Fassung von Vergils Biographie nicht fruchtbar macht.12 g

Lyne, 49, hält die Liste der minora für nicht früher als Donat; vgl. auch ders., The Dating ofthe Ciris, CQ21,1971, 233-253. Den suetonischen Kern der Werkliste bei Donat vertritt wiederum A. Salvatore in der jüngsten Edition der Appendix Vergiliana (ree. A. Salvatore, A. De Vivo, L. Nicastri, I. Polara, Rom 1997, praef. 9). 9 Bei Donat folgt der Auflistung der minora - darunter die Ciris - in 18 Hardie der Satz (19): scripsit etiam de qua ambigitur Aetnam. Servius' Unsicherheit über die Zahl der vergilischen Frühschriften (14 f. Hardie: scripsit etiam septem sive octo libros hos: Cirin Aetnam Culicem Priapea Catalepton Epigrammata Copam Diras

geht hierauf oder vielleicht, wie Rostagni vermutet (Virgilio minore. Saggio sullo svolgimento della poesia virgiliana, Turin 1933, 1, 1, 338 ff ), darauf zurück, daß das Catalepton die Priapea und Epigrammata in einem Buch vereinigte. Ad Aen. 3, 571 spricht Servius allerdings von der Aetna Vergilii. 10 Donat, Vita Verg. 19 (Hardie). 11 Servius, Vita Verg., 16 ff. (Hardie) 12 F. Munari, Studi sulla 'Ciris', Atti della Accad. d'Italia, Mem. Class. Sc., Mor. e Stör., Ser. 7, Vol. 4, Fase. 9, 1944, 241-367, hier 258. Vgl. auch R. Sabbadini, Die Ciris

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II. Die Ciris

Auch Servius dürfte wenig mehr als den Titel des Werks gekannt haben. Al¬ lenfalls das knappe Mythenreferat zum Scylla-Motiv in ecl. 6, 74 {Scylla ... in avem conversa est, et N i sus ext in du s deorum miseratione in avis mutatus estformam13) deutet auf C. 523, wo Nisus im Zusammenhang seiner Verwand¬ lung durch Iuppiter als pater extinctus bezeichnet ist.14 Umso mehr verwundert aber, daß Servius an dieser Stelle eine vergilische Ciris nicht erwähnt. Man muß folgern, daß er selbst weder das Kleinepos noch dessen eigentliches Thema kann¬ te. Die verbale Analogie ist aber doch wohl kein Zufall; Servius muß sie also aus einer Quelle geschöpft haben, die ihrerseits weder den Werktitel Ciris noch Vergils Autorschaft erwähnte. Das ist wiederum kaum vorstellbar, wenn das Epyllion in den ersten Jahrhunderten nach Vergils Tod als eindeutig vergilisch gegolten hätte.15 Die Synopse von Servius-Vita und -kommentar fuhrt insofern zu der Ver¬ mutung, daß die Ciris erst später in die Liste der vergilischen Werke aufgenom¬ men wurde. Diese Hypothese gewinnt durch die hexametrische Vergil-Vita des Focas wei¬ tere Plausibilität: Focas nennt zwar den Culex, aber nicht einmal den Titel der Ciris, die er demnach entweder nicht kennt oder aber nicht als ein Werk Vergils ansieht. Angesichts seiner sonstigen Nähe zu Donat erweckt die Auslassung des Epyllions den Eindruck, als wolle Focas in dieser Hinsicht Donat bewußt korri¬ gieren. Die Autorität, die ihn zu dieser Abweichung ermächtigte, könnte Sueton selbst gewesen sein, der demnach die Ciris nicht in seiner Liste vergilischer Werke genannt hätte. Zu einem Werk Vergils wäre sie folglich erst nach Sueton „ernannt“ - und dann in die suetonische Liste der minora interpoliert worden. Daß (Ps.-)Probus überhaupt keine Frühwerke Vergils nennt - er fuhrt nur die drei großen Werke an und nennt das Alter des Dichters bei ihrer Abfassung und die Hauptquellen - könnte ein Indiz dafür sein, daß diese Jugendwerke insgesamt schon früh umstritten waren. Sollte die Vita Probiana in einigen Grundzügen

in den vergilischen Biographien, RhM 62, 1907, 316 ff. Der von A. Waltz, De carmine Ciris, Paris 1881, 4, eingebrachte Hinweis auf Ovid, Trist. 2, 533 ff. - wo Ovid seine Liebesdichtung unter Hinweis auf auch von Vergil geschilderte Leidenschaft jenseits ehelicher Bindung {non legitimo foedere iunctus amor, 536) verteidigt, verweist er nur auf Aen. 4 und die Bucolica, nennt aber die Ciris nicht - hat wenig Beweiskraft: Erstens mußte Ovid nicht Vollständigkeit anstreben, zweitens findet Scyllas Liebe keine Erfüllung und wird schwer bestraft. Servius referiert hier auch die unterschiedlichen Versionen des Scylla-Mythos und kommentiert die vergilische Kontamination der Scylla Nisi mit der Scylla der Odyssee. 15

Eine Zitation vermutet hier auch Lyne, 49, n. 2. Vgl. Lyne, TheDating, 236.

1. Standorte der Ciris-Forschung

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tatsächlich auf Probus zurückgehen, wäre damit ein frühes Testimonium gewon¬ nen; doch das ist nicht zu erweisen. Servius Dan. gibt zu ecl. 6, 3 ein Inhaltsreferat des angeblich vergilischen Wer¬ kes: alii Scyllam eum (seil. Vergilium) scribere coepisse dicunt, in quo libro Nisi et Minois, regis Cretensium, bellum describebat. So definiert er zwar die der Ci ns eigene Variante der Scylla Nisi, belegt das Werk aber mit dem Titel Scylla. Auch läßt die Art der Paraphrase, in der das in der Ciris so periphere Motiv des Krieges im Zentrum steht, vermuten, daß er die eigentliche Handlungsführung nicht kennt.10 Die Formel alii... dicunt zeigt zudem, daß er die Autorschaft Vergils für ungesichert hält, eine Skepsis, in der sich vorausgegangene Auseinander¬ setzungen der Vergil-Philologie spiegeln dürften. Unter der Prämisse, daß Servius Dan. auf Quellen zurückgreift, die früher sind als Servius, verstärkt sein Kommen¬ tar den Eindruck, daß die Ciris nicht von Anfang an als vergilisch galt. Auf der Basis der Viten und Kommentare kann also für die Autorschaft Vergils kein eindeutiger Nachweis gewonnen werden; trotz Servius und Donat ist sie eher zweifelhaft. Die Testimonien sind nicht nur hinsichtlich des Namens (Ciris oder Scylla) widersprüchlich, sondern schließen auch deutliche Kenntnis des Epyllions aus, ein Eindruck, der dadurch verstärkt wird, daß die Kommentatoren, ebenso wie Macrobius, die auffälligen Similien zwischen Vergils unumstrittenen Werken und der Ciris sämtlich unerwähnt lassen;17 was sie über das Kleinepos wissen, stammt vermutlich aus zweiter Hand. Das Werk scheint zunächst als nichtvergilisch gegolten zu haben; wenn es später Vergil zugeschrieben wurde, so wird diese Zuschreibung doch nie unumstritten gewesen sein. Auch metrische oder stilistische Erwägungen, die von jüngerer Forschung öfter beigezogen wurden, um Vergils Autorschaft zu widerlegen, führen für sich allein zu keinem klaren Ergebnis. Das Epyllion steht unzweifelbar neoterischem Sprachund Versgebrauch nahe; kleinere Abweichungen sind nicht signifikant.

18

16 Vgl. K. Büchner, P.Vergilius Maro. Der Dichter der Römer, RE 8, A 1 u. 2, Sp. 1021-1486, 1958; Sonderdruck Stuttgart 1961, Sp. 89. 17 In der weitaus größeren Zahl der Fälle weist zumindest Servius auf Selbstzitate hin; das Belegmaterial bietet E. Albrecht, Wiederholte Verse und Verstheile bei Ver¬ gil, 428 ff. 18 Vgl. L. Alfonsi, Poetae novi, Storia di un movimento poetico, Como 1945, 155 ff Stilistische Erwägungen führen Perutelli und Pinotti dazu, das Jahr 22 v. Chr. als terminus ante für die Abfassung der Ciris anzusetzen (A. Perutelli, La narrazione commentata, Pisa 1979; P. Pinotti, Sui rapporti tra epillio ed elegia narrativa nella letteratura latina del I secol. a. C.,GIF 1978, 1 ff.).Lyne konstatiert ein Abweichen der Ciris von neoterischem Versbau allein darin, daß der Trochäus im vierten Fuß nicht

gemieden ist, und folgert: „The dominant rapport that we have discovered in the poef s metrical style is obviously with Catullan hexameters - and this accords with most

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II. Die Ciris

Hardie untersucht den Gebrauch von Partizipien und Partizipialphrasen und kommt zu dem Ergebnis, die Ciris sei vorvergilisch und könne sehr gut in der Lebenszeit des Cornelius Gallus verfaßt sein.19 Sturtevant hält Vergil auf Grund metrischer Erwägun¬ gen als Autor für möglich.20 In ihren Studien zur Zäsurentechnik kommen Drachmann, Butcher und Büchner zwar in Einzelaspekten zu unterschiedlichen Ergebnissen und Bewertungen der Authentizität des Werkes; die Nähe zu den neoterischen Dichtern und besonders Catull 64 bestreiten sie aber nicht.21 Skutsch untersucht in Auseinan¬ dersetzung mit Ganzenmüller die Elisionen, Synalöphen und Versschlüsse bei Lucrez, Catull, Ciris, Vergil und Ovidund kommt zu dem Schluß, die Ciris bleibe „nach 19 v. Chr. ein ebenso großer metrischer wie sprachlicher Anachronismus, während sie sich bequem in den Entwicklungsgang der römischen Metrik zwischen Catull und Vergil einfügt.“22 Auch Kroll rückt die Ciris in die Nähe Catulls.23

Die Ciris kann demnach einem etwas älteren Autor als Vergil zugerechnet werden bzw. einem Zeitgenossen, der noch stärker dem neoterischen Stilempfinden an¬ hängt. Sie könnte aber auch, wie Rand und andere vertreten, eine frühe Stufe in Vergils Entwicklung zum Dichter darstellen.24 Daneben ist auch ein „verspäteter“ Neoteriker (bzw. ein später Nachahmer der Neoteriker) zunächst nicht auszuschlie¬ ßen. Daß Vergil der Autor der Ciris sei, wurde vor allem aus zwei Gründen bestrit¬ ten; einerseits wegen der im Vergleich zu dem ersten gesicherten vergilischen Werk, den Eclogen, allzu geringen künstlerischen Vollendung, andererseits auf Grund der Fülle und Worttreue der Similien. Fragwürdig ist eine solche Argu¬ mentation, wenn sie die Andersartigkeit der Ciris in einer Art Automatismus als people's impression ...But there is no reason why he should not be affecting this sty¬ le“ (25). 19 W. R. Hardie, A Note on the History ofthe Latin Hexameter, JPh 30, 1907, 266279. 20

E.H. Sturtevant, Harmony and Clash of Accent and Ictus in the Latin Hexameter, TAPhA 54, 1923, 51-73. 21

Drachmann, 412 f.; W. J. D. Butcher, TheCaesura in Vergil, and its Bearing on the Authenticity ofthe Pseudo-Vergiliana, CQ 8, 1914, 123-31; Büchner, P.Vergilius Maro, Sp. 98 ff. 22

Skutsch, Vergils Frühzeit, 68 ff.; 74. K. Ganzenmüller, Beiträge zur Ciris, Jb. f Phil. 20, 1894, 551-627. 23 Kroll, Studien, 11. 24 E. K. Rand, Young Vergil's Poetry, HSCP 30, 1919, 103-185; T. Frank, Vergil's Apprenticeship, CPh 15,1920,23-28, 103-119, 230-244; ders, Vergil. A Biography, Oxford 1922, 35 ff; N. de Witt, Vergil's Biographia litteraria, Toronto 1923; A. Rostagni, Virgilio minore, Torino 1933, 184 ff P. Jahn, Vergil und die Ciris, RhM 63, 1908, 79-106, schließt aus dem Verhältnis zu Ovid auf vergilische Autorschaft. In jüngerer Zeit plädiert A. Salvatore erneut dafür, die Ciris für ein authentisches vergilisches Werk anzusehen: A. S.,Aspetti e problemi dell' Appendix Vergiliana, Vichiana 10,1981,27-43.

1. Standorte der Ciris-Forschung

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„unvergilisch“ anführt oder schlichtweg pustuliert, Vergil könne nicht so ein¬ fallsarm gewesen sein, immer wieder das eigene Werk ausbeuten zu müssen.25 Dennoch sind Ausmaß und Charakter der Analogstellen für vergilische Selbstzi¬ tation (im Vergleich zu Vergils anerkannten Werken) höchst ungewöhnlich.20 Sie sind, von einer Ausnahme abgesehen (Georg. 1, 406-9 / C. 538-41) nicht for¬ melhaftverwandt; in der Mehrzahl der Fälle liegt bei gleichbleibendem oder nur geringfügig verändertem Wortlaut eine deutliche thematische Variation vor. Ver¬ gil hätte demnach sein Jugendwerk, ein Kleinepos, über dessen literarische Quali¬ tät, mag sie auch in der Forschung vielfach unterschätzt werden, er jedenfalls in all seinen folgenden Werken weit hinauswuchs, in einer Weise ausgebeutet, wie es sonst nirgends innerhalb seiner Werke faßbar ist.27 Unmöglich ist ein solcher Rückgriff auf ein eigenes Jugendwerk natürlich nicht, und man muß ihn nicht, wie Drachmann es tut, dadurch rechtfertigen, daß

die Ciris niemals veröffentlicht

werden sollte.28 Eine solche Möglichkeit kann zwar nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden; allerdings müßte die Ciris ja irgendwann (trotz des Ver¬ dikts an die „Testamentsvollstrecker“ Varius und Tucca, ne quid ederent, quod non a se e di tum esset29) aus Vergils Nachlaß ediert worden sein. Angesichts der antiken Vergil-Verehrung hätte aber ein neues Werk des Verfassers der Aeneis doch wohl ein gewaltiges Interesse erregt und wäre schwerlich in das Halbdunkel geraten, in dem die Ciris für längere Zeit verborgen war. Außerdem machen, wie noch im einzelnen zu zeigen sein wird, verschiedene Similien zwischen Properz und der Ciris sehr wahrscheinlich, daß auch hier eine direkte Beeinflussung vor¬ liegt. Wäre das Epyllion ein vergilisches Frühwerk, müßte Properz demnach aus ihr zitieren. Daß er aber Motive aus einem nicht-edierten vergilischen Gedicht übernommen haben sollte, ist rein technisch schwer zu erklären und in keiner

25 So Witte, 587: „Dennoch läßt sich schon jetzt mit Sicherheit behaupten, daß der Mann, der von Vergil so sklavisch abhängt, der bestimmte Vergilstellen immer von neuem nachahmt, der Reminiscenzen aus den Eklogen mit solchen aus den Georgica und der Aeneis verbindet, nicht Vergil sein kann.“ 26 Drachmanns Behauptung (404 f.), es sei „Tatsache, daß Virgil in späteren Gedich¬ ten seine eigenen früheren Gedichte genau in derselben Weise wie die Ciris ausgebeu¬ tet hat“, trifft allenfalls bei oberflächlichem Blick auf den Umfang, nicht aber auf die Technik der Zitation zu. 27 Vgl. D. Knecht, Virgile et ses modeles latins, 490, der zu dem Ergebnis kommt, die Präsenz von CzWs-Teilen entspreche weder der vergilischen Rezeption von Ennius, Lucrez und Catull noch seiner Selbstzitation. Allerdings warnt Knecht vor allzu weitreichenden Folgerungen, da weder Ausnahmen im Einzelfall noch eine besondere Berücksichtigung der Ciris (aus welchen Gründen auch immer)auszuschließen seien. 28 So Drachmann, 425. 29 Donat, Vita Verg. 40 (Hardie).

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II. Die Ciris

Weise zu motivieren.30 So bleibt zunächst nur festzuhalten, daß die Präsenz von Ciris-Similien v.a. in den Eclogen das Ausmaß vergilischer Selbstzitation inner¬ halb der unumstrittenen Werke weit übersteigt. Daß der Charakter der C/rä-Similien in den opera maiora auch in anderer Hin¬ sicht vergilische Selbstzitation unwahrscheinlich macht, wird im folgenden Kapi¬ tel im Zusammenhang einer detaillierten Similienprüfung zu erweisen sein. Die methodische Richtlinie ist dabei durch die Aspekte von hommage, Pointe und demonstrativ akzentuiertem Zitatcharakter der Similien vorgegeben, alles Merk¬ male, die bei der Selbstzitation aus einem nicht veröffentlichten eigenen Werk sinnlos wären. Geht man davon aus, daß die Ciris kein Werk Vergils ist, bleibt die Frage der Autorschaft und - damit verwoben - auch die literaturgeschichthch ebenso wich¬ tige Frage der Priorität: Ist die Ciris vor Vergils Bucolica verfaßt und von Vergil reichlich benutzt worden, oder wurde sie aus den Werken Vergils (und anderer) in nachklassischer Zeit „zusammengeschrieben“?31 Die erstgenannte Position ist vor allem mit dem Namen Franz Skutsch32 ver¬ knüpft, der auf der Basis metrischer Erwägungen und einer detaillierten Analyse der Similien nicht nur den zeitlichen Primat der Ciris vor Vergils Eclogen ver¬ trat, sondern in ihr auch ein Werk des Cornelius Gallus, eines Altersgenossen (70/69-26) Vergils, sah; beide Dichter hätten in freundschaftlichem Austausch miteinander gedichtet, wobei Vergil seine Hochschätzung des Freundes durch reichliche Zitationen dokumentiert habe. In Friedrich Leo33 fand Skutsch einen harten Widerpart. Die Similienprüfung in Auseinandersetzung mit Skutsch führte Leo an fast allen Stellen zu dem Resultat, das entsprechende Motiv müsse zwin¬ gend für den vergilischen Kontext geschrieben sein. Die Ciris könne demnach nicht vor 18 v. Chr. entstanden sein; sie sei das Werk eines „zurückgebliebenen Neoterikers“,34 der sich den Kunstprinzipien der augusteischen Klassik verweiger30 Jahns Untersuchung zum Verhältnis der Ciris zu Ovid und Properz, die ihn die These favorisieren läßt, die Ciris sei ein vergilisches Jugendwerk, setzt voraus, daß das Kleinepos ediert und von den Elegikern hochgeschätzt war; ein Indiz dafür sieht eru.a. in Tibull 1,4,63 carmine purpurea est Nisi coma: Aber wie und warum hätte ein kurz nach seiner Entstehungszeit von anerkannten Dichtern gewürdigtes Werk Vergils derart in Vergessenheit geraten können, daß nicht einmal alle Viten es mehr nennen und die Kommentare Analogien in den opera maiora nicht zu nennen wis¬ sen? Im Rahmen seiner Textanalyse gibt F. Deila Corte, Appendix Vergiliana, Vol. 2, Annalisi, Genf 1975, 119 ff. und besonders 133 ff., einen vielfältigen Überblick über Stellungnahmen der Forschung zu diesen Fragen. 32 F. Skutsch, Vergils Frühzeit. 33 F. Leo, Vergil und die Ciris, Hermes 37, 1902, 14 -55, 29 ff Leo, Vergil und die Ciris, 47 ff.

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1. Standorte der Ciris-Forschung

te - ein Ergebnis, das Skutsch seinerseits in einer zweiten Schrift zu widerlegen suchte.35 Büchner setzt wie Leo die Ciris nach der Aeneis an; den neoterischen Charakter führt er auf die konservative Tendenz im Hause des Messalla zurück; dort sei „das Hellenistische, Catullische ... noch länger weitergepflegt, die augu¬ steische Wandlung nicht in der gleichen Intensität wie im Maecenaskreise mit¬ gemacht und miterlebt“ worden.30 Werden nach dieser Datierung zumindest die Similien zwischen der Ciris und Ovid auf Rezeption des Kleinepos durch Ovid zurückgeführt, so gingen einzelne Philologen noch einen Schritt weiter und vertraten auf der Basis der Similienprüfung die Entstehung der Ciris nach Ovid.37 Deren neoterischer Charakter ist damit zur bloßen Manie eines archaisierenden Spätlings degradiert. Hier sind insbesondere die Studien von Lyne und Munari zu nennen. Munari vergleicht die Ciris mit Ovid. Daß es zwischen beiden einen Prozeß der Rezepti¬ on gegeben hat, ist unumstritten; die Richtung der Zitation wird aber durch Munaris Studien nicht klarer. Die Similien, auf die er seine These einer nachovidischen Entstehung der Ciris stützt, bewegen sich ausnahmslos im Rahmen von knappen Verstehen; meist handelt es sich um zwei oder drei Worte, zudem am Versende, wo für die gesamte römische Epik eine gewisse Formelhaftigkeit festzu¬ stellen ist. Analogien dieser Art finden sich bei entsprechend sorgfältiger Prüfung zwischen den meisten römischen Dichtem.

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Skutsch, Gallus und Vergil. 36 Büchner, P. Vergilius Maro, Sp. 107 f. Empfänger des Gedichts wäre dann ein Nachfahr des Messalla Corvinus, vielleicht Messalinus, Konsul 3 v. Chr. 37 R. Helm, Ein Epilog zur Cirisfrage, Hermes 72, 1937, 78-103, 102, hält eine Ab¬ hängigkeit der Ciris von Ovid zumindest für möglich. Munan sucht sie zu erweisen. G. Knaack, Nisos und Scylla in der hellenistischen Dichtung, RhM 57, 1902, 205-30, sieht umgekehrt bei Ovid den Einfluß der Ciris wirksam. Eine Tabelle der Ovid-CirisSimilien gibt P. Jahn, Vergil und die Ciris, 80 ff. Auch Jahn kommt zu dem Schluß, Ovid habe die Ciris benutzt (86). Büchners Zweifel, ob der CiWs-Dichter, wenn ihm die Metamorphosen bekannt gewesen wären, „sich etwa der psychologischen

Ent¬

wicklung der Liebe, wie sie Ovid gibt, oder der Klarheit seiner Motivierungen hätte entziehen können“ (Sp. 105), ist sicherlich nicht unproblematisch; auch D. Knecht, Ciris, authenticite, histoire du texte, edition et commentaire critiques, Brügge 1970, 15 (Einleitung), warnt aber vor einer Überschätzung des „climat ovidien Auseinandersetzung mit Munari kommt E. Bolisani, Dali

der Ciris. In

Appendix Vergiliana.

La

Ciris e il Virgilio Maggiore, Atti dell Istituto Veneto di Scienze, Lettere e Arti, Classe di Scienze moral, e lett., Venezia, 117, 1958-59, 1-48, wieder zu dem Resultat, die Ciris sei ein Werk Vergils. Vgl. d.w. den Forschungsüberblick bei F. Deila Corte, Appendix Vergiliana, Vol. 2,Annalisi, Genf 1975, 119 ff. u. 133 ff,und bei Büchner, P. Vergilius Maro, Sp. 102 ff. 38 Eine detaillierte Auseinandersetzung mit Munaris Untersuchungen hat A. Salvatore unternommen (A. S„ La „Ciris“ e Virgilio, FS De Falco, Neapel 1971, 353 ff); er

II. Die Ciris

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Auch Lynes Versuch, Wortjunkturen nachzuweisen, die im C/m-Kontext merkwürdig, im Culex oder bei Statius und Silius Italicus natürlich seien, und so die Ciris im 2. Jh. n. Chr. anzusiedeln, führt nicht zu überzeugenden Ergebnis¬ sen. Die untersuchten Motive lassen sich insgesamt darauf zurückfuhren, daß der Dichter durch Graezismen und klangvolle Namen ein besonderes Stilkolorit er¬ zeugen will; metrische Probleme und die enge Orientierung an Quellentexten dürften gleichfalls eine Rolle spielen. Auch auf interpretatorischem Weg lassen sich die „Problemfälle“ durchaus verteidigen.39 Das Haar des Nisus ist in der Ciris meist mit dem Attribut purpureus versehen; C. 122 ist es roseus. Culexr 44 (und nur dort in der römischen Literatur) ist ebenfalls von „rosenfarbenem Haar“ die Rede, nämlich dem der Aurora, eine Junktur, die Lyne für besser gerechtfertigt und also für die Quelle der Ciris hält.40 Allerdings ist, wie Lyne konzediert, auch das Culex-Motiv ziemlich ungewöhnlich. In der Ciris betont roseus zudem die blühende Jugend und hebt so, gerade im Kontrast zur im übrigen candida caesaries des Nisus (C. 121), das Phänomen des roten Haares noch deutlicher hervor. C. 496 ff. (Scyllas Metamorphose) heißt es: oris honos primum et multis optata labella / et patulae frontis species concrescere in ununt / coepere et gracili men tum producere rostro. Lyne vergleicht Culex 16, wo die Junktur passender für den Parnassus stehe: hinc atque hinc patula praepandit comua fronte. Der Hinweis auf die patula frons sei dagegen bei einem für seine Schönheit gerühmten Mädchen unge¬ wöhnlich.

Nun geht es aber dem Cir/s-Dichter bei der Metamorphose nicht in erster

Linie darum, die Schönheit Scyllas hervorzuheben, sondern das Ausmaß der Verwand¬ lung. Da ist es durchaus sinnvoll,

darauf hinzuweisen, daß die „ganze Breite der

Stirn“ nunmehr zusammengezogen wird. C.489 Ciris Amyclaeo formosior ansere Ledae ist sicherlich - insbesondere in der indirekten Bezeichnung Iuppiters als anser - merkwürdig; aber der an Namen reiche Vers scheint sich eng an eine griechische Vorlage zu halten, in die olor nicht inte¬ griert werden konnte. Lynes Kritik, das Epitheton Amyclaeus (Stat. Silv. 1, 2, 142 auf Schwäne gemünzt) sei im C/ris-Kontext eigentlich

unangebracht, weil es eher die

Geburt der Dioskuren in Amyklai als die an Schwänen reichen Gebiete am Eurotas

hält weiterhin eine nachovidische Entstehung der Ciris (die er für ein Frühwerk Vergils hält) für unmöglich. 39

Lyne, TheDating, 238 ff.Die folgenden Teilergebnisse hat Lyne selbst später im Kommentar relativiert: Zu C. 24 (die Panathenäen sind als „fünfjährig“ bezeichnet: tardaque confecto redeunt quinquennia lustro; analog Statius, Silv. 4, 2, 62 zu den Ludi Capitolini) konzediert er eine griechische Quelle mit 7tevTetr|p{