Simulation und virtuelle Welten: Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne 9783839445556

Which part do virtual worlds play in the perception of the medial turn? Rebecca Haar traces the history of interrelation

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Simulation und virtuelle Welten: Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne
 9783839445556

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
Gegenstandsbestimmung, Theoriebildung und methodisches Vorgehen
Ziel der Untersuchung
Historische Herleitung und Forschungsstand
Abriss des aktuellen Forschungsstands
Zwischenfazit & Ausblick: Die Entwicklung im 21. Jahrhundert
Begriffstheoretische Bestimmung und medientheoretische Betrachtung
Die besondere Rolle der Virtualität im Dekonstruktivismus
Zwischenfazit & Ausblick: Wo die Theorie zu Ende ist
Literatur, Film & Computerspiel: Künstlerische Verarbeitung und technologische Entwicklung
Die Darstellung der Virtualität in der Literatur
William Gibson: Neuromancer (1984) Die Entzauberung des Physischen
Neal Stephenson: Snow Crash (1992) Das Metaversum ist überall
Zwischenfazit & Ausblick: Die Simulation als Variante und Erweiterung der Realität
Die Simulation in der Simulation im Film
Lana und Lilly Wachowski: Matrix (1999) Die schlafende Menschheit
David Cronenberg: eXistenZ (1999) Kontingenzerfahrungen des Seins
Zwischenfazit & Ausblick: Wenn die Welt nicht mehr ist, was sie zu sein scheint
Computerspiele als reale Simulation virtueller Welten
Virtuelle Welten in Computerspielen
Second Life (2003): Virtueller Ersatz für das First Life?
World of Warcraft (2004): Gildentum und Rollenspiele
Simulation, quo vadis?
Reale Simulationen einer möglichen Wirklichkeit
Dank
Literaturverzeichnis

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Rebecca Haar Simulation und virtuelle Welten

Edition Kulturwissenschaft | Band 186

Alles für den Hund

Rebecca Haar studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Medienwissenschaft und Musikwissenschaft an der Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medien- und Filmtheorien, Mediengeschichte, Game Studies sowie Comicforschung.

Rebecca Haar

Simulation und virtuelle Welten Theorie, Technik und mediale Darstellung von Virtualität in der Postmoderne

Diese Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen im Sommersemester 2018 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jochen Volkmer, mediativo Umschlagabbildung: iStock.com/peshkov Korrektorat: Claudia Hahn Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4555-2 PDF-ISBN 978-3-8394-4555-6 https://doi.org/10.14361/9783839445556 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9

EINLEITUNG Gegenstandsbestimmung, Theoriebildung und methodisches Vorgehen | 13 Ziel der Untersuchung | 17

HISTORISCHE HERLEITUNG UND FORSCHUNGSSTAND Abriss des aktuellen Forschungsstands | 21

Aufbruch ins Internetzeitalter | 23 Die Entwicklung des literarischen Cyberpunks | 29 Film als Darstellungsform des Virtuellen | 42 Virtuelle Welten werden real: Computerspiele | 48 Zwischenfazit & Ausblick: Die Entwicklung im 21. Jahrhundert | 57 Begriffstheoretische Bestimmung und medientheoretische Betrachtung | 63

Simulation und Simulakrum | 67 Virtualität und das Reale | 74 Die besondere Rolle der Virtualität im Dekonstruktivismus | 85

Roland Barthes: Eskapismus und Dekonstruktion | 90 Jacques Derrida: Das Simulakrum als Merkmal der Spur | 96 Jean Baudrillard: Die Agonie des Realen | 102 Paul Virilio: Realität und Virtualität | 111 Zwischenfazit & Ausblick: Wo die Theorie zu Ende ist | 117

LITERATUR, FILM & COMPUTERSPIEL: KÜNSTLERISCHE VERARBEITUNG UND TECHNOLOGISCHE ENTWICKLUNG 1. Die Darstellung der Virtualität in der Literatur | 129 Neuromancer: Die Entzauberung des Physischen | 133

Neuromancer als Gesellschaft der Simulation | 137 Virtuelle Welten und reale orbitale Stationen als schwereloses Disneyland | 142 Künstliche Lebensformen als Simulation der Wirklichkeit | 146 Hologramme als Abbild und Aspekt der Kunst | 151 Neuromancers Erben: Biochips und Mona Lisa Overdrive | 157 Snow Crash: Das Metaversum ist überall | 161

Die Struktur des Metaversums | 164 Der gesellschaftliche Aufbau des Metaversums | 171 Wissensstrukturen digitaler Bibliotheken: Zeichen und Bezeichnetes | 176 Macht, Virulenz und Informatikkriegsführung: Das Böse ist viral geworden | 179 Zwischenfazit & Ausblick: Die Simulation als Variante und Erweiterung der Realität | 189

2. Die Simulation in der Simulation im Film | 195 Matrix: Die schlafende Menschheit | 199

Was ist die Matrix? | 203 Codes und Zeichen | 209 Realität und Simulation | 214 Dekonstruktion der Simulation | 224 Die Matrix: Spiel und Verführung? | 233 eXistenZ: Kontingenzerfahrung des Seins | 237 Die Verflüssigung der Räume in der Simulation | 240 Die entfesselte Virtualität | 242 Spiel ohne Ziel: Von der eXistenZ zur transCendenZ | 252 Vom Verlust der Schrift und der Macht der Bilder | 256

Zwischenfazit & Ausblick: Wenn die Welt nicht mehr ist, was sie zu sein scheint | 263

3.1 Computerspiele als reale Simulation virtueller Welten | 271 Theoriebildung im Zusammenhang mit der Entwicklung der Game Studies | 272

Statusbestimmung: Was sind Computerspiele? Was sind virtuelle Welten? | 275 Künstlerische Darstellung in virtuellen Welten und digitalen Spielen | 280 Bedeutungsdifferenzen: Wie real ist die Spielwelt? | 286 Immersion 2.0: Die hyperimmersive Wende? | 296

3.2 Virtuelle Welten in Computerspielen | 305 Second Life: Virtueller Ersatz für das First Life? | 307 Das Metaversum als reale virtuelle Umgebung | 308 Virtuelle Gesellschaften und Avatare: Anthropologische Blickwinkel? | 312 Das Spiel als Sandbox | 320 Ökonomie und Wirtschaft | 322 World of Warcraft: Gildentum und Rollenspiele | 327

Darstellung der Gesellschaft: Allianz oder Horde? | 331 Das Spiel als offene Welt | 333 Ökonomie und Wirtschaft | 335 Zwischenfazit & Ausblick: Ein zweites Leben für die Gilde? | 337

SIMULATION, QUO VADIS? Reale Simulationen einer möglichen Wirklichkeit | 345

Dank | 361 Literaturverzeichnis | 363

Vorwort Sie holten ihre Software heraus und rasten durch die schwarzen Wüsten der elektronischen Nacht. Neal Stephenson1

Im Film Blade Runner zweifelt der Protagonist Rick Deckard an seinen Erinnerungen und fragt sich, ob das, was er für die eigenen Erlebnisse hält, möglicherweise eingepflanzte Erinnerungen sind, die sein bisheriges Leben nur simulieren.2 Deckards Welt ist so durchdrungen von Simulation und Virtualität, dass er zuletzt selbst das Gefühl dafür zu verlieren scheint, was echt ist und was nicht. Auch ob er folglich selbst einer jener Androiden ist, die er jagt, bleibt offen. 1982 war diese filmische Umsetzung des Romans von Philip K. Dick beinahe exotisch, erst in den 1990er Jahren fand die Thematik verstärkt ihren Weg in die Popkultur, jedoch mit starkem Fokus auf virtuelle Umgebungen, die die reale Umwelt ausweiten, überlagern und neu kontextualisieren. Dieselbe Frage, die sich Deckard stellte, stellten sich nun Neo in Matrix und Ted Pikul in eXistenZ.3 Der Blickwinkel verlagerte sich allerdings: Der jeweilige Protagonist hinterfragt nicht mehr pauschal, ob er selbst ein menschliches Wesen ist, vielmehr stellt er nun die generelle Umgebung infrage. Zum Ende des vergangenen Jahrtausends wird die Suche nach der Antwort darauf immer drängender. Der Medienwandel im realen Leben lässt die Simulation im virtuellen Raum mit immer neuen Ideen aufleben und wird zu einer Zustandsbeschreibung, die als Kommentar der realen technischen und technologischen Entwicklungen dieser Zeit gelesen werden kann. Simulationen und virtuelle Welten beflügeln aber schon weitaus länger die menschliche Fantasie. Wirklichkeitskonstruktionen waren von Anfang an fester

1

Neal Stephenson: Snow Crash. München: Blanvalet 1994. S. 37.

2

Ridley Scott: Blade Runner. USA 1982.

3

Lana und Lilly Wachowski: Matrix. USA 1999. David Cronenberg: eXistenZ. USA 1999.

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Bestandteil der Science-Fiction, insbesondere im in den 1980er entstandenen Cyberpunk. Diese neue Gattung setzte sich recht früh mit diesem auf das Mediale rekurrierende Phänomen auf fiktionalisierter Ebene literarisch und filmisch auseinander und reflektiert auch gegenwärtig wieder verstärkt technologische Entwicklungen. Doch nicht nur in künstlerischen Verarbeitungen taucht dieses Thema immer wieder auf, auch auf wissenschaftlicher Ebene kommt es stetig zu Neuerungen, welche die zugehörige technische Entwicklung zusehends im Alltag verankern. Neue Medien verändern fortwährend die Wahrnehmung der postmodernen Gesellschaft und schaffen neue fluide Räume der Wirklichkeit, wobei Medien als solche von der Simulation virtueller Realitäten abzugrenzen sind. Gleichzeitig beschäftigten sich in diesem Zeitraum Film und Literatur als künstlerische Darstellungsformen mit den Möglichkeiten und Präsentationsformen dieser neuen Möglichkeiten: Digitaler wie virtueller Raum wurde neu erschlossen und diente als Erweiterung des Alltags. Simulationen und damit auch virtuelle Realitäten wurden am Ende des vergangenen Jahrtausends mit einer fast chaotischen Herangehensweise behandelt. Die schwarzen Wüsten der elektronischen Nacht, die virtuelle Welten als unentdecktes Land stilisieren, bilden das Substrat einer neuen literarischen Gattung, deren Funktion als Beobachter gegenwärtiger technologischer Entwicklungen neue Perspektiven auf den Medienwandel zulässt. Die politische Utopie der totalen Kontrolle wird dabei zur bürgerlichen Dystopie des Kontrollverlusts über den eigenen Alltag, was zumindest innerhalb der damals gegenwärtigen Theorien der Medienskeptiker häufig in Hysterie mündete. Diese Gleichzeitigkeit der technologischen Weiterentwicklung und ihrer fiktionalisierten Darstellung in der Popkultur ermöglicht eine detaillierte Betrachtung dieses Phänomens, das scheinbar auch unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung späterer Computerspiele nahm. Interessant ist hierbei, dass nicht, wie es vermutet werden könnte, Betrachtungen aus dem Dekonstruktivismus einer der Auslöser für diese Entwicklung sind, sondern zu diesem Zeitpunkt innerhalb dieser poststrukturalistischen Richtung ähnliche – häufig skeptische – Thesen formuliert wurden. Diese wurden unabhängig davon ebenfalls in Literatur und Film evident, während sich parallel dazu auch die zugehörige technische Entwicklung immer weiter in den Vordergrund drängte. Diese Arbeit ist folglich ein Versuch, dem hier beschriebenen Phänomen, das in den 1990er Jahren seinen vorläufigen Höhepunkt erlebte, auf die Spur zu kommen und es in den Kontext der Digitalisierung zu setzen.

Einleitung

Gegenstandsbestimmung, Theoriebildung und methodisches Vorgehen

Die Simulation ist in den 1990er Jahren omnipräsent. Sie wird Inhalt von Filmen, erfährt literarische Verarbeitungen, medientheoretische Beschreibungen und wird spätestens Ende des vergangenen Jahrtausends fester Teil der Science-FictionPopkultur. Ihre Betrachtung und Kommentierung weist auf eine Selbstreflexivität hin, deren Gleichzeitigkeit in dieser Form selten zu beobachten ist. Während sich Medientheorien mit ihren gesellschaftlichen Implikationen auseinandersetzten, griffen Literatur und Film die Simulation und damit verbunden virtuelle Realitäten als dystopische Zukunftsvisionen auf, die auf die tatsächlichen technologischen Entwicklungspotenziale nur bedingt Rücksicht nahmen, sondern virtuelle Realitäten als Ermöglichungsfantasie der Simulation einsetzten. Diese Gleichzeitigkeit der technologischen Weiterentwicklung und ihrer Darstellung in künstlerischen Verarbeitungen ermöglicht eine detaillierte Betrachtung dieses Phänomens, das scheinbar auch unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung späterer Computerspiele nahm. Die mediale Überlagerung der Wirklichkeit weist dabei palimpsestartige Strukturen auf, die in der Wahrnehmung der Simulation deutlich werden. Interessant ist hierbei, dass nicht, wie es vermutet werden könnte, Betrachtungen aus dem Poststrukturalismus beziehungsweise der Dekonstruktion einer der Auslöser für diese Entwicklung sind, sondern gleichzeitig innerhalb dieser poststrukturalistischen Richtung ähnliche Thesen aufkamen, die auch in der Popkultur immer sichtbarer wurden, während sich parallel dazu auch die zugehörige technische Entwicklung immer weiter in den Vordergrund drängte. Natürlich hat die Literatur und die Popkultur auch auf diese Inhalte zurückgegriffen, aber die eigentliche Entstehung fand parallel dazu statt und erst dann kam das gegenseitige Kommentieren dazu. In dieser Arbeit sollen die unterschiedlichen Ver- und Bearbeitungen der Simulation interdisziplinär dargestellt und miteinander verglichen werden. Die Simulation ist das verbindende Element in den ausgewählten Fallstudien, jedoch

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werden unterschiedliche phänomenologische Erscheinungsformen und Ausdeutungen diskutiert. Zur historischen Eingrenzung erfolgt im Vorfeld der Begriffsbestimmung ein kurzer Abriss über die Entwicklung von Technologie, Literatur, Film und Computerspielen unter dem Gesichtspunkt der Simulation und wie sie in diesen Themenfeldern in der Vergangenheit bereits verhandelt wurde. Es zeigt sich bereits hier, dass bei den Fallstudien eine Eingrenzung auf die 1990er Jahre sinnvoll ist. Die Thematik wird in dieser Zeit speziell in Romanen und Filmen des Cyberpunks aufgegriffen, dessen Merkmale in diesem Abschnitt ebenfalls definiert werden. Dieses Aufgreifen deutet darauf hin, dass eine Veränderung in der Wahrnehmung und Verarbeitung der Simulation im gleichen Zeitraum wie der medial turn stattfindet, der mit einem neuen Verhältnis zwischen Schrift und Bild sowie dem Aufkommen einer neuen Medialität unter anderem durch den internetfähigen Computer einhergeht.1 Die Frage, die mit dieser Untersuchung beantwortet werden soll, lautet folglich: Inwiefern ist der medial turn an diesen vielschichtigen Ver- und Bearbeitungen beteiligt und welche Konsequenzen hat dies auf die tatsächliche Entwicklung virtueller Welten und Simulationen? Unerlässlich ist hierbei ein Überblick über die relevanten Medientheorien, der durch eine Begriffsgeschichte der Simulation und Virtualität ergänzt wird. Da insbesondere der Begriff der Simulation ebenso wie der des Simulakrums als theoretisches Konzept in vielerlei Hinsicht verwendet wird, soll seine Entstehung nachgezeichnet und zeitgemäß erweitert werden. Um den Blickwinkel des Poststrukturalismus und des Dekonstruktivismus darzustellen, ohne die wohl eine gegenwärtige Medientheorie in Bezug auf Simulation nicht stattfinden könnte, sollen außerdem der Essay Die strukturalistische Tätigkeit des Philosophen Roland Barthes und das Wirken von Jacques Derrida, der als Begründer der Dekonstruktion gilt, genauer erläutert und in mediale Kontexte gesetzt werden. Es folgt eine Einzeldarstellung von Jean Baudrillards Betrachtungen der Simulation und Paul Virilios Wahrnehmung der Virtualität, die er als Theorie der Geschwindigkeit in Form der Dromologie beschreibt. Beide Medientheoretiker scheinen zwar ab etwa dem Jahr 2000 zunehmend an Bedeutung zu verlieren, doch schon vorher stellt sich die Frage, inwiefern sich ihre Theoriegebäude mit virtuellen Realitäten überhaupt vereinen lassen oder ob dieser scheinbare Zusammenhang nur zufällig entstanden ist. Auch hier dienen die vorgestellten poststrukturalistischen Theorien nicht als eigentliches Analysewerkzeug, sondern zeigen vielmehr auf, wie ähnliche Denkstrukturen und Motive in Erscheinung treten, die auch innerhalb der fiktionalen Verarbeitung medialer Umbrüche immer wieder thematisiert werden.

1

Vgl. Stefan Münker: Philosophie nach dem „Medial Turn“. Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft. Bielefeld: transcript 2009.

Gegenstandsbestimmung, Theoriebildung und methodisches Vorgehen | 15

Nach diesem an theoretischen Konzepten orientierten ersten Teil folgen im zweiten Teil Fallstudien aus Literatur und Film, die sich mit fiktionalisierten virtuellen Welten und Spielen beschäftigen, die zuletzt mit real existierenden Computerspielen kontextualisiert und verglichen werden, um zu überprüfen, inwiefern die theoretische Verarbeitung der Simulation in Form von virtuellen Welten in Theorie, Film und Literatur in der technologischen Umsetzung Spuren hinterlassen hat. In Literatur und Film manifestieren sich Darstellungen virtueller Realität als Ausdruck einer verunsicherten Wirklichkeit. Ausgewählt wurden die Quellentexte und -filme daher aufgrund ihrer Relevanz im zu betrachtenden Zeitraum der 1990er Jahre. Im historischen Abriss wird sichtbar, welche Rolle die technologische Entwicklung und die Verbreitung des Internets auf die Darstellung der Simulation ausgeübt hat. Literatur- und Filmgenres bedienen sich bewusst und unbewusst an den Ideen der Medientheoretiker und tragen sie bis in die Zeit des Postcyberpunks der späten 1990er Jahre. Um den wohl einflussreichsten Roman aus den Anfängen dieser literarischen Gattung als auch ein Werk nach dieser Hochphase zu betrachten, dienen der 1984 erschienene Neuromancer von William Gibson und Neal Stephensons Snow Crash von 1992 als Quellentexte innerhalb der Literaturbetrachtung in diesem Kapitel. Beide Werke nähern sich virtuellen Welten auf unterschiedliche Weise an, verarbeiten zeitgenössische mediale Entwicklungen und – zumeist eher indirekt – auch die zugehörigen Medientheorien, die im Verlauf der Erzählungen mehr und mehr dekonstruiert werden. Die hieraus gewonnenen Erkenntnisse sind wiederum die Grundlage für die Filmanalyse. Sie nimmt in diesem Kontext am meisten Raum ein, da beide zu betrachtenden Filme Ende der 1990er Jahre entstanden sind und eine Art doppelten Epochenwechsel darstellen: Der bevorstehende Jahrtausendwechsel ist auf inhaltlicher Ebene spürbar, gleichzeitig verschwindet das Genre beziehungsweise die Gattung bereits wieder langsam aus dem Mainstream, der medial turn ist zum alltäglichen Thema geworden. Diese Weiterentwicklung führt letztlich auch innerhalb der Thematisierung von als auch im Umgang mit der Simulation zu einer weitreichenden und deutlichen Veränderung, die sich bereits in den beiden Analysebeispielen abzuzeichnen beginnt: Mit Matrix (1999) von Lilly und Lana Wachowski und David Cronenbergs eXistenZ (1999) werden zwei gegensätzliche Ausarbeitungen, wie Simulation filmisch verhandelt wird, aufgezeigt. Während sich bei Matrix die virtuelle Welt eher in der Ruhigstellung des Menschen zu manifestieren scheint, nutzt eXistenZ einen spielerisch orientierten Zugang, bei dem die Simulation in einer scheinbar undurchdringbaren Struktur aus verschiedenen Spielebenen auftaucht, die von den Protagonisten ursprünglich freiwillig aufgesucht wurden. Dies unterscheidet sich signifikant von der Herangehensweise der beiden Romane Neuromancer und Snow Crash: Anders als in der

16 | Simulation und virtuelle Welten

Literatur werden in den Filmen virtuelle Welten vom alltäglichen Hilfsmittel zur allumfassenden Simulation, die keinen Blick nach außen mehr zulässt. Im Anschluss an die fiktionalen Bearbeitungen der Simulation in Form künstlerischer Ausarbeitungen erfolgt eine Gegenüberstellung mit Umsetzungen aus dem Bereich der Computerspiele. Im Vorfeld werden relevante Begriffe der Game Studies geklärt und auf das Konzept der Immersion eingegangen. Nicht inhaltlich wird die Simulation in diesem Abschnitt verhandelt, sondern die Computerspiele selbst sind die Simulation einer virtuellen Umgebung. Es liegt also nahe, sich im letzten Kapitel mit tatsächlich existierenden virtuellen Welten in Form von Computerspielen auseinanderzusetzen, um anhand dieser Beispiele den Stand der Technologieentwicklung in den 2000er Jahren zu beschreiben und in Relation mit der Vorstellung der 1990er Jahre zu setzen. Exemplarisch werden die beiden Computerspiele Second Life (2003) und World of Warcraft (2004) betrachtet, um zu überprüfen, inwiefern die Möglichkeitsvarianten, die in den 1990er Jahren extrapoliert wurden, realisiert werden konnten. Beide Spiele verfolgen verschiedene Regelsysteme und beinhalten in ihren virtuellen Welten ein mehr oder minder ausgeprägtes spielerisches Element. Second Life beruft sich hierbei in seiner Struktur explizit auf das in Stephensons Snow Crash vorgestellte Konzept des Metaversums, das eine erweiterte Form der dortigen Alltagsrealität darstellt. Nach einer kurzen Hochphase hat Second Life trotz seiner Vielseitigkeit inzwischen jedoch an Bedeutung verloren. Dem entgegen steht World of Warcraft, das sich keinem dieser Konzepte bewusst verschrieben hat. Das Spiel stellt zwar auf den ersten Blick nur eine virtuelle Welt ohne Bezug auf die hier bereits vorgestellten Fallbeispiele dar, aber im Gegensatz zu Second Life ist diese Fantasyumgebung heute seit über fünfzehn Jahren erfolgreich in der Popkultur verankert. Es folgt zuletzt ein Ausblick auf gegenwärtige Entwicklungen im Bereich virtueller Realität und deren künftige Möglichkeiten.

Ziel der Untersuchung

Anhand der Ergebnisse der vorausgegangenen Fallstudien soll überprüft werden, inwieweit die hier vorgestellten Konzepte mit dem tatsächlich erfolgten technischen Fortschritt Schritt halten konnten und ob diese inhaltlichen Schwerpunkte wirklich so verknüpft sind, wie es auf den ersten Blick den Anschein erweckt. So zeigt sich, dass in den vorgestellten Theorien Lücken existieren, die Fallstudien aber gleichzeitig neue Theoriebausteine liefern, welche die vorhandenen Konzepte aktualisieren. Es wird außerdem überprüft, ab wann die Historisierung dieses Themas einzusetzen beginnt. Ein Großteil der theoretischen Grundlagentexte ist in den 1960er bis 1980er Jahren entstanden. In dieser Zeit waren Medien zwar bereits einem stetigen Wandel unterworfen, doch der größte Umbruch fand erst in den 1990er Jahren durch die Kommerzialisierung des Internets und den damit verbundenen medial turn statt. Die hier betrachteten Texte haben folglich ihren Ursprung in einer Zeit, in der über die weltweite und für jeden nutzbare Vernetzung nur in theoretischen Konzepten nachgedacht werden konnte, da eine praktische Überprüfung oder gar Umsetzung aufgrund der zu diesem Zeitpunkt noch fehlenden technologischen Entwicklungen gar nicht möglich war. Als die Theorie über Simulation und Virtualität schließlich in der technischen Umsetzung beziehungsweise bei dem Versuch der realen Umsetzung angekommen war, kam es auch vermehrt zu künstlerischen Bearbeitungen der Thematik – dies jedoch in den meisten Fällen, ohne sich auf bereits bestehende Theorien explizit zu berufen. Stattdessen wurden eigene Thesen aufgestellt, die häufig jenen der Medientheorie nicht unähnlich sind. Das Genre des Cyberpunks entstand in den 1980er Jahren als Untergattung der klassischen Science-Fiction und neben diesen primär literarischen Betrachtungen erschienen bis Ende der 1990er Jahre auch immer mehr filmische Auseinandersetzungen. Doch erst in den 1990er Jahren zeigte sich, dass viele der zuvor prognostizierten Entwicklungen in der Wirklichkeit der damaligen Gegenwart einen anderen Verlauf nahmen als ursprünglich vermutet. Verbindungselement ist überall die Simulation, die speziell in den

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späten 1980er und den 1990er Jahren analog zur technischen Entwicklung in der Popkultur einen immer größeren Raum eingenommen hat. Als Vergleichssujets dienen in diesem Zusammenhang zeitgenössische Beispiele aus dem Bereich des literarischen wie filmischen Cyberpunks, die sich mit der Darstellung und Nutzung computergenerierter Welten kritisch auseinandersetzen und die Simulation genretypisch als handlungstragendes Element einsetzen. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse, bei denen zwischen tatsächlich existierender Technologie und reiner Technikfantasie differenziert werden muss, werden schließlich mit der realen Entwicklung virtueller Umgebungen verglichen. Ergänzt wird dies zuletzt mit einem Ausblick auf mögliche Weiterentwicklungen auf technischer Ebene, die mit den im Vorfeld erarbeiteten Konzepten aus den Game Studies verbunden und erweitert werden sollen. Es wird dabei der Frage nachgegangen, ob der Cyberpunk als literarische Gattung und zeitgenössischer Kommentar möglicherweise gar nicht so veraltet ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Zudem erfolgt eine Einordnung, welche Entwicklung der Cyberpunk in all seinen Formen als zeitgenössische beschreibende Science-Fiction erlebt hat. Dies wird zuletzt mit den bereits erarbeiteten Ergebnissen der vorherigen Kapitel zu einer präzisen Darstellung der Entwicklung der Simulation und deren Vorkommen in der postmodernen Gesellschaft zusammengeführt.

Historische Herleitung und Forschungsstand

Abriss des aktuellen Forschungsstands

Für eine zeitliche Einordnung der theoretischen Grundlagen ist eine historische Herleitung der zu betrachtenden Disziplinen vonnöten. Dies beinhaltet einen kurzen Überblick der technischen und technologischen Entwicklungen, an den eine kurze Darstellung anschließt, wie dieselbe Thematik in Literatur und Film behandelt wurde. Letztere verdeutlicht, weshalb speziell die 1990er Jahre im Rahmen dieser Untersuchung in den Vordergrund gerückt sind. Es zeigt sich, dass Filmwie Literaturschaffende nicht nur auf die tatsächlich existierende und zu erwartende technische Entwicklung Bezug nehmen, sondern ebenso häufig auf medientheoretische Diskurse, die sich mit gleichen oder ähnlichen Themen befasst haben. Aus diesem Grund werden nachfolgend die betreffenden Theoretiker als ergänzender Exkurs dargestellt und inhaltlich verortet. Hierbei werden Simulation und Dekonstruktion vergleichend nebeneinandergestellt, denn die Simulation dekonstruiert in Form des Simulakrums die Realität immer wieder und lässt dadurch einen anderen methodischen beziehungsweise auch systematischen Blickwinkel auf die Wirklichkeit zu.1 Es sei allerdings auch an dieser Stelle nochmals darauf verwiesen, dass diese Theorien nicht das Analysewerkzeug dieser Arbeit darstellen, sondern vielmehr aufzeigen sollen, wie eng verzahnt diese Denkmuster innerhalb der Theorie, medialen Darstellungen und den Versuchen technologischer Umsetzungen sind und zu welchen komplexen Bearbeitungen und Betrachtungen durch andere Medien dies insbesondere am Ende des vergangenen Jahrtausends führte. Ab etwa den 1960er Jahren wurde in Theorie, Literatur und Film zunehmend thematisiert, wie mit der weltweiten Vernetzung und damit einhergehend mit virtuellen Welten umgegangen werden sollte und wie diese erzeugt werden könnten.

1

Vgl. Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1996. S. 214-222.

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Deshalb ist die Entwicklung technischer Lösungen ab diesem Zeitpunkt zu betrachten. Etwa zur gleichen Zeit tauchten erste literarische Verarbeitungen von Simulation und Virtualität auf, die aus heutiger Sicht in manchen Aspekten einen beinahe naiven Charme ausstrahlen. Mehr Gewicht gewann die Literatur mit der Begründung des Science-Fiction-Genres des Cyberpunks, das sich ganz spezifisch mit den Phänomenen, die der Computer als Medium hervorbringt, auseinandersetzte und dystopische Zukunftsszenarien entwarf, die dem Menschen innerhalb der dargestellten virtuellen Welten nur noch wenig echte Freiheiten ermöglichten. Filmisch wurde dies ebenfalls ab etwa den 1980er Jahren verstärkt aufgegriffen und erlebte in den 1990er Jahren seinen vorläufigen Höhepunkt – ein Zeitpunkt, zu dem die ursprüngliche Cyberpunkliteratur ihren ersten Zenit bereits überschritten hatte. Eine Historisierung ist allerdings weniger klar zu verorten, da das beschriebene Phänomen noch relativ jung und in seiner Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ab wann Medientheorien im Kontext der Simulation auftauchen. Noch aktueller sind die Game Studies, die sich unter anderem mit der Entwicklung von Computerspielen im gesellschaftlichen Zusammenhang auseinandersetzen. Im Rahmen dieser wissenschaftlichen Disziplin wird die Simulation aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, was nach dem Medienwissenschaftler Gundolf Freyermuth ein ganzes Spektrum neuer Theorien eröffnet: »Einst beeinflusste der aufstrebende Film die anderen, älteren Künste: Theater und Roman, Malerei und Musik entwickelten ‚filmische‘ Qualitäten. Nicht anders prägen heute digitale Spiele – ihre ästhetischen Qualitäten wie die massenhafte Erfahrung ihrer interaktiven Rezeption – Medienproduktion und Medienkonsum, insbesondere im Bereich der audiovisuellen Konkurrenzmedien Film und Fernsehen.«2

Computerspiele erscheinen hierbei als ästhetische Konstruktionen, „deren Inhalte sozialem und deren Formen kulturellem Wandel unterliegen“, und gerade deswegen „scheinen alle Anstrengungen zu einer ahistorischen und systematisch-normativer Definition von vorneherein zum Scheitern verurteilt“ – einzig aus historischer Perspektive scheint die Phänomenologie auf einen theoretischen Begriff gebracht werden zu können.3 Der Simulation als solcher haftet immer eine zeitgenössische Wahrnehmung und Betrachtung an, deren Darstellung in Literatur und

2

Gundolf Freyermuth: Games. Game Design. Game Studies. Eine Einführung. Bielefeld:

3

Ebd., S. 40.

transcript 2015. S. 22.

Abriss des aktuellen Forschungsstandes | 23

Film sich in ihrer Bewertung stetig wandelt und sich zeitgenössischen Strömungen unterwirft. Computerspiele greifen dies ebenfalls auf, allerdings – wie sich zeigen wird – weniger offensichtlich. Aufbruch ins Internetzeitalter Schon zu Beginn der 1990er Jahre bahnte sich ein „Perspektivenwechsel in der Computerinterpretation an: Der Computer faszinierte nicht mehr so nachhaltig als Instrument der Intelligenzverstärkung, sondern beschäftigte eher als ein Medium der Kommunikation.“4 Innerhalb der Nutzung des Computers als Medium rückte die Hypertextualität in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Anders als ein gedrucktes Buch gibt sie keine eigentliche Lesestruktur vor, sondern erlaubt dem Rezipienten durch Verlinkungen innerhalb des Textes eine individuelle Leserichtung, bei der nicht zwangsweise der vollständige Text gelesen werden muss, sondern nur von ihm ausgewählte Passagen. Neben Wörtern können aber auch Bilder hypertextualisiert werden, denn „Bilder unterliegen dem gleichen Prozeß [sic!] der Dekonstruktion und Rekonstruktion, wie Elemente des verbalen Textes“, so der Medienwissenschaftler Jay Bolter unter Berücksichtigung von Jacques Derrida und dem Philosophen Nelson Goodman, laut derer „Bilder wie Wörter arbiträr […] und dadurch intertextuell“ sind.5 Hypertext bedeutet folglich die Dekonstruktion von Text im Medienzeitalter. Er ist Zeichen für das postmoderne Konzept der fragmentierten und zerstreuten Wahrnehmung. Stefan Münker und Alexander Roesler bezeichneten 1996 das Internet als digitale Revolution der gesellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse.6 Es realisiere „die telematische Basistechnologie der Informationsgesellschaft, die aus der Verschmelzung der digitalen Medien mit der Telekommunikationsinfrastruktur hervorgegangen ist“ und sei gleichzeitig das „wichtigste Symbol der telema-

4

Sybille Krämer: Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun? In: Sybille Krämer (Hg): Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. S. 9-26, hier S. 10.

5

Jay Bolter: Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens. In: Stefan Münker, Alexander Rösler (Hg.): Mythos Internet. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 37-55, hier S. 44. Vgl. außerdem: Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. Vgl. ebenso Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1973.

6

Vgl. Stefan Münker, Alexander Roesler: Vorwort. In: Stefan Münker, Alexander Rösler (Hg.): Mythos Internet. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997. S. 7-14, hier S. 7.

24 | Simulation und virtuelle Welten

tischen Entwicklung im ausgehenden 20. Jahrhundert.“7 Das damals noch neue Medium strahlte eine faszinierende Ambivalenz aus, was in den Beschreibungen der beiden Medienwissenschaftler einer Transgressionserfahrung gleicht, denn „in der Welt des Cyberspace sind Zeit und [i. O.] Raum aus den Fugen, ihre kategoriale Abgrenzung durcheinandergeraten.“8 Raum wird in dimensionslose Zeit aufgelöst, der Cyberspace ist ein ortloser Ort zeitloser Bewegung. 9 Obwohl viele der theoretischen Grundlagen immer noch ihre Richtigkeit haben, zeugen einige der Essays im von Münker und Roesler publizierten Sammelband Mythos Internet (1997) aus heutiger Sicht fast schon von einer gewissen Unbedarftheit gegenüber einer Ende des letzten Jahrhunderts noch weitgehend unbekannten Alltagstechnologie.10 Die weltweite Vernetzung wie auch der Computer stellten damals zuallererst eine Technologisierung des Schreibens dar.11 Für Bolter ist dabei die umfassendste Frage diejenige „nach dem Verhältnis aller Wissenschaften und Technologien zu Kultur.“12 Je nach Blickwinkel bestimmt Kultur die Technik oder die Computertechnologie die Kultur. Und natürlich lädt diese Technik dazu ein, sich Gedanken über Simulation zu machen, denn Multimediatechnologien und das Grundkonzept der Simulation sind eng miteinander verknüpft. Die Geschichte des Internets selbst beginnt bereits in den 1950er Jahren: Am 4. Oktober 1957 startete die Sowjetunion mit dem Satelliten Sputnik 1 den Wettlauf ins All. Als Antwort darauf gründete der damalige US-Präsident Dwight D. Eisenhower im Februar 1958 die dem US-Verteidigungsministerium unterstellte Gruppe ARPA (Advanced Research Projects Agency), um Universitäten, die für dieses Ministerium forschten, besser koordinieren und unterstützen zu können.13 Vier Jahre später hatte der Psychologieprofessor Joseph Licklider den Einfall, dass „Computer von menschlichen Benutzern interaktiv zur Unterstützung von Entscheidungsprozessen verwendet werden sollten.“14 Er prägte damit die Frühzeit

7

Ebd., S. 7.

8

Ebd., S. 9.

9

Vgl., ebd., S. 9.

10 Im Jahr 2013 bezeichnete Bundeskanzlerin Angela Merkel das Internet in Deutschland immer noch als Neuland. Vgl. Vera Kämper: Die Kanzlerin entdeckt #Neuland. Spiegel Online, 19. Juni 2013. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 11 Vgl. Bolter: Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens, S. 37. 12 Ebd., S. 39. 13 Vgl. Thorsten Braun: Entstehung und Funktionsweise des Internets. In: Thomas Myrach, Sara Margarita Zwahlen (Hg.): Virtuelle Welten? Die Realität des Internets. Bern: Peter Lang 2008. S. 15-29, hier S. 15. 14 Ebd., S. 15.

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der Informatik und wurde zu einer der Gründerfiguren des Internets. 15 Privatcomputer gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, nur Rechenzentren, in denen Computerterminals den Universitätsmitarbeitern und Studierenden zur Verfügung standen. Der Informatiker Robert William Taylor entwickelte 1966 die Idee, die Computer der beteiligten Universitäten zu einem Netzwerk zu verbinden, doch das gestaltete sich komplizierter, als ursprünglich von ihm angenommen. 1969 wurde schließlich eine weitere Arbeitsgruppe gegründet, an der wiederum die Universitäten beteiligt waren, die bereits am ARPAnet (Advanced Research Project Acency Network) partizipierten – dem Vorläufer des Internets auf Basis von TCP/IP (Transmission Control Protocol/Internet Protocol) – das durch Datenpakete Informationen verbreitete. 1971 wurde eine erste Software entwickelt, die E-Mails verschicken konnte. Zeitgleich experimentierte man mit dem Netzwerkprotokoll Telnet, indem Spezifikationen entwickelt wurden, die es ermöglichten, sich an fremden Rechnern einzuloggen. Zwei Jahre später erschien die Anwendung Talk, die es gleichzeitig eingeloggten Nutzern erlaubte, am Computer eine Art Unterhaltung per Chat zu führen.16 Bereits in den 1980er Jahren kristallisierte sich das World Wide Web als wichtigste Anwendung des Internets heraus, welche es bis heute geblieben ist. Das NSFnet (National Science Foundation Network) öffnete schließlich 1991 den Internetzugang für private und kommerzielle Nutzer. Der Informatiker Tim BernersLee, der ab 1989 das World Wide Web entwickelt hatte, passte das bereits in den 1930er Jahren bekannte Konzept des Hypertexts an das Internet an. Dabei sollte das System „die besonderen Gegebenheiten in einer Organisation mit hoher Fluktuation berücksichtigen.“17 Die sogenannte Killerapplikation – eine Anwendungssoftware, die bereits bestehender Technik zum Durchbruch verhilft – des Internets war der Browser, eine bis heute von verschiedenen Herstellern frei verfügbare Art von Programm, das die Darstellung von Websites am Computerbildschirm ermöglicht. Einer der ersten Browser war Mosaic. Aus diesem gingen 1994 der Netscape Navigator und die Firma Netscape hervor, die zu Beginn des Internetzeitalters eine zentrale Be-

15 Vgl. ebd., S. 15. 16 Vgl. ebd., S. 19. 17 Ebd., S. 24. Vgl. außerdem Tim Berners-Lees Originalproposal, in dem er das Konzept des Hypertexts vorschlug, um ein universales System zu entwickeln, das Informationen im World Wide Web, das er anfangs Mesh nennen wollte, leicht zugänglich macht. Vgl. Tim Berners-Lee: Information Management. W3C.org, Mai 1990. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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deutung hatten.18 Im selben Jahr wurde ebenfalls von Berners-Lee das World Wide Web Consortium gegründet, das bis heute in Zusammenarbeit mit CERN (Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire, zu Deutsch: Europäische Organisation für Kernforschung) ein Gremium darstellt, um Internetanwendungen zu standardisieren.19 Das Internet war schon in dieser kurzen Zeit tatsächlich schon zum universellen Kommunikationsmedium geworden, auch wenn dessen Möglichkeiten zu diesem Zeitpunkt noch kaum genutzt werden konnten. In diesem Aufbruch in das digitale Zeitalter war jedoch unter anderem noch nicht vorhersehbar, dass ein mobiles Internet (WIFI) entwickelt werden würde. Dieses ist drahtlos zu erreichen und ermöglicht jedem mobilen Endgerät, sich bei Bedarf jederzeit ins Netz einzuwählen. Anstatt dass die Verbreitung des Netzes seine Nutzer an bestimmten Orten festgesetzt hätte, wo sie nur noch virtuell kommunizieren würden, ist das Internet tatsächlich beweglich geworden und hat sich der gegenwärtigen Lebenswirklichkeit angepasst. Vom Massenmedium nach heutiger Vorstellung war das Internet in den 1990er Jahren allerdings noch weit entfernt. Zu Beginn des Jahrzehnts wurde es, wie bereits angedeutet, primär als Textmedium wahrgenommen, denn die „Rhetorik des Internet [war und ist] eine inklusive: das Netz will alle Texte digitalisiert sehen und sie miteinander verbinden.“20 Enzyklopädien sind hierbei von der Idee her grundsätzlich hypertextuell und rhizomatisch. Die heutige Form von Wikipedia kommt dieser Idee sehr nahe. Der Nutzer hingegen neigt zur postmodernen „Fragmentierung des aufgeklärten Selbst“, denn die „Kommunikation im Netzwerk definiert einen neuen sozialen Raum, in dem der Prozeß [sic!] der Fragmentierung manifest wird.“21 Das digitale Schreiben unterstützt diesen Vorgang, denn es wird immer nur ein Teil der Identität des Nutzers dargestellt. Während in dieser Zeit primär über Newsgroups, E-Mail, MUDs (Multi User Dungeons) und IRC (Internet Relay Chat) sowie Bulletin Boards kommuniziert wurde, nahmen Chats eine wachsende Rolle ein.22 Bald tauchten erste soziale Netzwerke auf, die mehr Funktionen als reine Chats anboten. Eines der ersten dieser Art war im Jahr 1995 Classmates.com in den USA, das alte Schulfreunde wieder zusammenbringen sollte und

18 Vgl. Braun: Entstehung und Funktionsweise des Internets, S. 24. 19 Vgl. Facts About W3C: www.w3.org/Consortium/facts.html (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 20 Bolter: Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens, S. 45. 21 Ebd., S. 50. 22 Vgl. hierzu Martin Hasse, Michael Huber, Alexander Krumeich, Georg Rehm: Internetkommunikation und Sprachwandel. In: Rüdiger Weingarten (Hg.): Sprachwandel durch Computer. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. S. 51-85.

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neben der Chatfunktion Nutzerprofile und Freundeslisten ermöglichte. 23 Weil zur Jahrtausendwende immer mehr Menschen das Internet nutzten, gewannen diese Netzwerke zunehmend an Bedeutung. Ursprünglich nur für Studenten von Harvard eingerichtet, hat sich das von Mark Zuckerberg 2004 gegründete Facebook zum wichtigsten sozialen Netzwerk entwickelt und prägt die Nutzung des Internets bis heute, was unter anderem die Verbreitung von Informationen und den virtuellen Kontakt betrifft.24 2005 folgte im deutschsprachigen Raum StudiVZ als soziales Netzwerk. Dieses verlor aber durch seine sprachliche Begrenzung schnell wieder an Bedeutung, nachdem Facebook weltweite Verbreitung fand, denn im Internet existieren keine nationalen Grenzen – Grenzen im Netz sind allenfalls künstlich an Landesgrenzen angepasst.25 Der Cyberspace ist heute aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken, doch genau diese ständige Anwesenheit des Virtuellen verändert die Gesellschaft und deren Blick auf Information grundlegend. Ende der 1990er Jahre schien das World Wide Web ein Ort der Zukunft zu sein. Firmen der New Economy konzentrierten sich auf webbasierte Dienste, bis im März 2000 schließlich die sogenannte Dotcom-Blase platzte.26 Ein Ort der Zukunft ist das Netz auch heute noch, aber um ihn mit all seinen neuen Gesetzmäßigkeiten erleben zu können, muss der Nutzer sich diesen Ort erst aneignen. Themen wie Netzneutralität, die eine Gleichbehandlung aller Daten im Internet unabhängig von Sender und Empfänger anstrebt, On-

23 Vgl. Classmates. www.classmates.com (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). Vgl. ebenso People connect. www.peopleconnect.us (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 24 Facebook nimmt mittlerweile eine solch große Rolle im Alltag ein, dass David Fincher die Entstehung sowie biografische Aspekte von Mark Zuckerberg 2010 unter dem Titel The Social Network verfilmt hat. Vgl. David Fincher: The Social Network. USA 2010. Außerdem wurde Mark Zuckerberg im Zuge der US-Präsidentschaftswahl im November 2016 vorgeworfen, durch seinen Facebook-Algorithmus sowie Falschmeldungen, die nicht schnell genug entfernt wurden, die Wahlergebnisse beeinflusst zu haben, und ein Problem mit der Datensicherheit zu haben. Vgl. Matthias Huber: Zuckerberg verspricht Maßnahmen gegen Fake News. Süddeutsche Online, 16. November 2016. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018.). Vgl. ebenso Thomas Kirchner, Alexander Mühlauer: „Aber, was ist mit meiner Frage?“. Süddeutsche Online, 22. Mai 2018. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). 25 StudiVZ hat im September 2017 Insolvenz angemeldet. Vgl. Volker Briegleb: StudiVZBetreiber Poolworks ist insolvent. Heise Online, 8. September 2017. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 26 Vgl. Johannes Kuhn: Neuer-Markt-Jubiläum: Zocker, Zirkus, Dreistigkeit. Spiegel Online, 10. März 2007. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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linejournalismus und Suchmaschinen, die theoretisch fast jede Quelle anzeigen können, sind allgegenwärtig. Die Glaubwürdigkeit dieser Informationen ist im Web 2.0 jedoch nicht mehr gewährleistet: Jeder kann publizieren, kaum jemand überprüft den Wahrheitsgehalt einer Meldung, kann dies vielleicht aus Sachzwängen auch gar nicht leisten. Dies spielt eine signifikante Rolle im Zusammenhang mit der sogenannten Gutenberg-Galaxis, deren Beginn Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan im Zeitraum der Erfindung des modernen Buchdrucks mit Metalllettern verortet. Inzwischen wird diese Ära sogar nur noch als GutenbergKlammer bezeichnet. Schon in den 1960er Jahren kündigte McLuhan in seinem Buch Die Gutenberg-Galaxis das Ende selbiger und das Verschwinden des Buches als Leitmedium an. 27 Der Medientheoretiker Norbert Bolz führt diesen Gedanken weiter und stellt die These auf, dass das neue Leitmedium der Gegenwart der Computer sei.28 Die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens verlieren damit aber keineswegs an Bedeutung, denn die neuen Kommunikationsverhältnisse basieren heute immer noch auf denselben Prinzipien. Die Unsicherheit der Quellen hinter bestimmten Informationen wird aber tatsächlich zu einem Problem der Wissenserhaltung. Der Publizist Jeff Jarvis ist der Ansicht, dass das Internet sich durch den Abbau der Hierarchien verändert, es aber nicht ausreicht, alte Gesellschaftsformen abzuschaffen, sondern hierfür auch eine neue notwendig wird. 29 Er bezieht sich auf die Kulturwissenschaftler Thomas Pettitt und Lars Ole Sauerberg, die den Begriff der Gutenberg-Klammer mitgeprägt haben, denn laut ihrer Aussage verändert sich die Weltanschauung nach Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks signifikant. Ob es hierfür tatsächlich eine Reformation im Stile Martin Luthers benötigt, wie Jarvis vorschlägt, ist fraglich, doch sei der Vergleich durchaus gestattet. Auch der Begriff der Gutenberg-Klammer ist kritisch zu betrachten, wirkt er doch willkürlich gesetzt innerhalb eines Prozesses, der noch nicht abgeschlossen ist.30 Dennoch nimmt diese Entwicklung auch Einfluss auf die weltweite Vernetzung

27 Vgl. Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters. Düsseldorf: Econ 1968. 28 Vgl. Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse. München: Wilhelm Fink 1993. 29 Vgl. Jeff Jarvis: Wir brauchen einen Martin Luther der Internetära. Welt Online, 6. Oktober 2016. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 30 Vgl. MIT Communications Forum: Gutenberg Parenthesis: Oral Tradition and Digital Technologies. MIT Comm Forum, 1. April 2010. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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und deren Wahrnehmung.31 Es zeigt sich, dass neuartige Medien auch neue Formen des Umgangs mit ihnen benötigen und Bestehendes und dessen Wahrnehmung hinterfragt werden muss. Die Gesellschaft muss lernen, mit diesen neuen technischen Möglichkeiten umzugehen, Daten einzuordnen und deren Informationen interpretieren zu können. Eine tatsächliche Netzkultur muss sich erst noch herausbilden. Im Moment wird noch zu stark zwischen realer Alltagswelt und virtuellem Umfeld differenziert, doch auch hier zeigt sich bereits, dass diese aus den Anfangsjahren des Internets bestehende Trennung kaum noch aufrechtzuerhalten ist. Die Entwicklung des literarischen Cyberpunks Die Science-Fiction ist mit all ihren Ausprägungen ein relativ junges Genre, zu dessen frühesten Vorläufern unter anderem der Schriftsteller H. G. Wells mit Werken wie Die Zeitmaschine (1895) oder Der Krieg der Welten (1898) zählt. Mit Beginn umfassender technischer und technologischer Entwicklung und der ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts in England beginnenden Industrialisierung veränderte sich auch die Literatur und es tauchten vermehrt literarische Betrachtungen dieser gesellschaftlichen Umwälzung auf.32 Aus wissenschaftlicher Phantastik wird dabei schließlich Science-Fiction. Einfach zu definieren ist diese Gattung jedoch nicht. Es besteht zwar eine gewisse inhaltliche Durchlässigkeit zur Dystopie, was allerdings im Umkehrschluss nicht automatisch bedeutet, dass bereits Thomas Morus’ philosophischer Dialog Utopia (1516) als früher Vertreter der Science-Fiction betrachtet werden kann.33 Es spricht allerdings einiges dafür, den Beginn im Zusammenhang mit der bereits genannten Industrialisierung und der damit verbundenen „soziale[n] wie psychische[n] Mobilität“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu verorten, da sich zu diesem Zeitpunkt diese neue Gattung „all-

31 Inwiefern Zugang zum World Wide Web möglich sein muss, ist in Deutschland sogar vom Bundesgerichtshof definiert worden. Allerdings behandelt dieses Papier nur technische Aspekte, nicht aber, wie inhaltlich damit verfahren werden soll. Vgl. Bundesgerichtshof Deutschland, Pressemitteilung Nr. 13/2013: Bundesgerichtshof erkennt Schadensersatz für den Ausfall eines Internetanschlusses zu, 23. Januar 2013. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 32 Vgl. Roland Innerhofer: Science-Fiction. In: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Hans Richard Brittnacher, Markus May. Stuttgart: Metzler 2013. S. 318328, hier S. 321. 33 Vgl. ebd., S. 319.

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mählich aus bestehenden Formen heraus[schält].“34 Die Science-Fiction operiert „mit dem Antagonismus von Wirklichem und Möglichem, also dem, was ist, und dem, was sein könnte oder sollte [i. O.]: also von Beschreibung und Wunsch.“35 Die damit verknüpfte rhetorische Stringenz wird zum Beglaubigungskriterium, das sich „als Effekt ästhetischer Verfahren“ aus der epistemologischen und der strukturellen Differenz „zwischen Realismus und Phantastik“ konstituiert. 36 Der Realitätseffekt wird dadurch erzeugt, dass die dargestellte Alternativwelt in der Science-Fiction von der eigentlichen inhaltlich nicht zu weit entfernt angesiedelt ist.37 Auch das Konzept der Simulation orientiert sich in seiner Darstellung zumeist an jeweils gegenwärtigen Entwicklungen und Strömungen, die dann medial verarbeitet beziehungsweise verfremdet werden. Doch hier soll nicht die gesamte Entwicklung dieser Gattung aufgearbeitet, sondern ein Blick auf die in Bezug auf diese Arbeit relevanten Topoi im Zusammenhang mit Simulation und virtuellen Welten geworfen werden. In den 1960er Jahren begann sich schließlich eine neue Art der phantastischen Literatur zu formieren, die sich mit der neu entstehenden Technik zunehmend kritisch auseinandersetzte und sich von der eigentlichen Science-Fiction mit ihrem oftmals deutlich positiveren Grundton unterschied. Die in diesem Zeitraum entstandenen Werke sind als Vorläufer des erst später entstehenden Cyberpunks zu betrachten. Der Ort der Handlung wurde in der neuen Science-Fiction vom Weltraum zurück auf die Erde in eine nicht allzu ferne Zukunft verlegt, mit technischen Entwicklungen, die überwiegend skeptisch betrachtet wurden. Gleichzeitig war dieses Jahrzehnt auch das sogenannte Goldene Zeitalter der klassischen ScienceFiction. Dies begründete sich auch in realen Entwicklungen: Die Raumfahrt gewann an Bedeutung, 1969 betrat der erste Mensch den Mond. Mit Star Trek erschien zusätzlich bereits 1966 eine TV-Serie auf der Bildfläche, die diese positive Aufbruchsstimmung einfing. Auch über fünfzig Jahre später findet sie noch mit ihrem primär an der Utopie ausgerichteten Grundton eine Zielgruppe: Genau hierdurch zeichnet sie sich aus und sticht deswegen aus der Masse vieler Genreproduktionen heraus, denn im Verlauf wurde auch die neue Science-Fiction-Literatur zunehmend düsterer und zukunftspessimistischer.38 In den 1980er Jahren kam die

34 Ebd., S. 321. 35 Ebd., S. 318. 36 Ebd., S. 319. 37 Vgl. ebd., S. 319. 38 Unabhängig von der zeitlichen Abfolge der einzelnen Serien auf inhaltlicher Ebene, die nicht der Reihenfolge ihrer Produktion beziehungsweise Ausstrahlung entspricht, wird Star Trek tatsächlich immer düsterer und passt sich damit dem gegenwärtigen Zeitgeist

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Nachfolgeserie Star Trek – Das nächste Jahrhundert ins Fernsehen und entwarf mit dem Holodeck eine Simulationskammer, die immer wieder durch Fehlfunktionen auffällt und genau deswegen vielschichtige Perspektiven auf den Umgang mit neuen Technologien ermöglicht. Später wird dies, besonders da die technische Umsetzung auch gegenwärtig nicht realisierbar scheint, als Holodeck-Mythos bezeichnet werden.39 Bereits in den 1950er Jahren hatte die klassische Science-Fiction zunehmend an Seriosität gewonnen. Dies lag unter anderem auch an der veränderten Veröffentlichungskultur, da viele Neuveröffentlichungen nicht mehr in Pulp-Magazinen publiziert, sondern in weniger vorbelasteten Formaten veröffentlicht wurden. Die New-Wave-Bewegung der Science-Fiction formierte sich in den 1960er Jahren und erreichte in den 1970er Jahren ihren Höhepunkt. Deren Autoren hatten „den Anspruch, die Science Fiction [sic!] zu revolutionieren und von ihren weitgehend trivialen Inhalten zu befreien.“40 Literaturwissenschaftler Marc Rose stellt in diesem Zusammenhang fest, dass sich die Gattungskonventionen zunehmend verschoben und sich immer noch verschieben, was besonders auf die jüngere ScienceFiction zutrifft.41 Diese Verschiebung setzte verstärkt dekonstruktive Momente in der Literatur frei und verwies auf poststrukturalistische Denkstrukturen. Beides kann als Avantgarde der damaligen Zeit betrachtet werden. Zu Beginn der 1980er

an. Während die Originalserie (1966-1969) noch sehr bunt war, rückten in den nachfolgenden Serien und Filmen andere Aspekte in den Vordergrund. Die gegenwärtig neueste Serie Star Trek – Discovery (seit 2017) spielt historisch betrachtet zwischen Star Trek – Enterprise (2001-2005) und der Originalserie und bricht mit einigen Regeln des Serienuniversums, was sie ungewohnt erwachsen wirken lässt. Der naive Blick auf die Zukunft, der in den 1960ern die erste Serie geprägt hat, ist einer nüchterneren Betrachtung gewichen, die dem aktuellen Zeitgeist entspricht. 39 Vgl. zum Holodeck-Mythos ebenfalls S. 49 und 291 dieser Arbeit. 40 Gözen betrachtet in ihrer Dissertation Cyberpunk als bis heute einflussreiche literarische Strömung, die sich in den 1980er Jahren konstituiert hat. Sie vergleicht Cyberpunk und konventionelle Science-Fiction in Hinblick auf die Verarbeitung von Medientheorien und als künstlerische Umsetzung postmoderner Konzepte von Ästhetik und der Darstellung von Wirklichkeit. Zu kritisieren ist allerdings, dass sie teilweise beides gegeneinander ausspielt und dem Cyberpunk sämtliche in ihren Augen positiven Eigenschaften zuschreibt, die ebenso in der Science-Fiction vorkommen können, wenn auch vielleicht unter anderen Gesichtspunkten. Jiré Emine Gözen: Cyberpunk Science Fiction. Literarische Fiktionen und Medientheorie. Bielefeld: transcript 2012. S. 27. 41 Vgl. Marc Rose: Alien Encounters: Anatomy of Science Fiction. Cambridge: Harvard University Press 1981. S. 23.

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Jahre wurde schließlich das scheinbar kurzlebige Genre des Cyberpunks postuliert, in dem häufig Simulationen und daran angeknüpft virtuelle Realitäten eine Rolle spielten. Doch auch schon zuvor setzten sich Schriftsteller mit der Frage nach der eigentlichen und echten Realität auseinander und ob diese innerhalb einer simulierten Welt immer eindeutig zu erkennen sei. Diese Art der literarischen Fiktion ist „als ein Kontrakt zwischen Autor und Leserschaft zu verstehen, in dem die wirkliche Welt in Klammern gesetzt wird, um zu verstehen zu geben, dass die dargestellte [i. O.] Welt so verstanden werden soll, als ob [i. O.] sie eine gegebene sei.“42 Literarische Fiktion ist damit als Form eines inszenierten Diskurses zu betrachten, der ideologisch der Simulation nahesteht.43 Cyberpunk ist der „avantgardistische[] Reflektor der Gegenwart“, in dem sich viele Aspekte des postmodernen Denkens wiederfinden.44 Die ersten für diese Untersuchung relevanten Romane erschienen folglich in den USA in den 1960er Jahren: 1964 verfasste Philip K. Dick Simulacra; der Text behandelt Medienrealität sowie deren absurde Auswüchse und verweist damit „wie mit einem Zerrspiegel immer wieder auf unsere eigene, wirkliche Welt.“ 45 Dick selbst wollte sich gerne „[a]ls Vorsteher einer Gemeinschaft [sehen], der seinen Wählern von der wahren Natur des politischen Systems berichtet, das sie unterdrückt.“46 So ist auch in Simulacra ein solches System dargestellt, das eine andere Form der Realität vorgibt – zumindest was die Dinge betrifft, die hinter verschlossenen Türen politischer Entscheidungsträger verhandelt werden. Der Roman beinhaltet jedoch keine Simulation im Sinne einer virtuellen Umgebung. Dick zeichnet hier eine technologisch fortgeschrittene Welt, die über Kolonien auf Mars und Mond verfügt und durch die mediale Beeinflussung der Massen ihren Status Quo zu erhalten versucht. Gleichzeitig stellt Simulacra eines von Dicks wenigen Werken dar, in denen die Wirklichkeit im Endeffekt tatsächlich das ist,

42 Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 15. 43 Vgl. Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 15. Vgl. ebenso Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 35ff. 44 Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 37. 45 Kim Stanley Robinson: Die Romane des Philip K. Dick. Berlin: Shayol 2005. S. 144. Ebenfalls interessant ist hier die Bedeutung des Narren, der der Welt einen Zerrspiegel vorhält und sich damit gleichzeitig innerhalb wie außerhalb des Systems befindet. Er genießt folglich die Freiheit, straffrei sagen zu können, was er denkt, auf Missstände aufmerksam zu machen, etc. Vgl. hierzu Sebastian Brant: Das Narrenschiff. Stuttgart: Reclam 2005. 46 Uwe Anton: Philip K. Dick: Entropie und Hoffnung. Bad Tölz: Tilsner 1993. S. 118.

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was sie zu sein scheint.47 Er verknüpft hierbei verschiedene Erzählebenen, die es dem Leser erschweren, die tatsächliche Realität innerhalb der Handlungsstruktur zu erkennen. Den Begriff des Simulakrums legt er allerdings ganz eigen aus, das Wesen selbiger wird im Vergleich zu Dicks sonstigen Kurzgeschichten und Romanen nochmals anders definiert als beispielsweise im vier Jahre später veröffentlichten Träumen Roboter von elektrischen Schafen? (1968), der heute unter dem Namen Blade Runner bekannt ist.48 Dort bezeichnet er Androiden nicht mehr wie in Simulacra als Simulakra, sondern als Replikanten, die durchaus zu selbständigem und selbstreflexivem Denken fähig sind. Die Androiden in Simulacra scheinen jedoch deutlich weniger Bewusstsein für ihr Selbst zu besitzen und agieren oft wie ferngesteuert. Dick setzt folglich Simulakra häufig mit Maschinen und maschinellen Wesen gleich, die vorgeben, etwas anderes zu sein, darunter ebenso Androiden als auch außerirdische Lebensformen wie Papoolas, die die Wünsche der Menschen beeinflussen können. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Wahrnehmung einer Wirklichkeit, die ohnehin medial überlagert wird. Am Ende von Simulacra bleibt offen, ob unter anderem durch die PapoolaTechnik auch die gesamte Menschheit beeinflusst wird, die vor dem Fernseher sitzt und die dort präsentierte scheinbare Realität in sich aufnimmt. Nicht jedes Simulakrum ist in Simulacra zwangsweise eine reine Maschine, obwohl auch menschenähnliche Simulakra als Androiden in Erscheinung treten. Stattdessen sind Nachbildungen einer möglicherweise früheren Realität gemeint, die vorgeben, etwas anderes zu sein, und deren Künstlichkeit nicht auffällt, wenn sie nicht unmittelbar ausgestellt ist und damit im Vordergrund steht. 49 Dies lässt Rückschlüsse oder vielmehr Vorannahmen auf spätere Texte von Jean Baudrillard zu. Vor Dick kam diese Anwendung des Simulakrums in der Literaturgeschichte in dieser expliziten Form wohl nicht vor.50 Gleichzeitig ist dieses spezielle Simula-

47 Vgl. ebd., S. 118. 48 Der Roman, der im Original ursprünglich Do Androids Dream of Electric Sheep? hieß, und in seiner ersten deutschsprachigen Ausgabe mit Träumen Roboter von elektrischen Schafen? übersetzt wurde, ist heute gemeinhin unter dem Titel Blade Runner bekannt, der dem gleichnamigen Film von Ridley Scott aus dem Jahr 1982 entspricht. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird mit der Bezeichnung Blade Runner, wenn nicht anders angeben, auch auf den Roman verwiesen. Vgl. als aktuelle Ausgabe Philip K. Dick: Blade Runner. München: Heyne 2002 sowie als deutsche Erstausgabe Philip K. Dick: Träumen Roboter von elektrischen Schafen? Hamburg: Marion von Schröder 1969. 49 Vgl. zu Jean Baudrillard und dessen Ordnung der Simulakra S. 102f dieser Arbeit. 50 Vgl. Norman Spinrad: Nachwort. In: Philip K. Dick: Simulacra. München: Heyne 2005. S. 257-268, hier S. 258.

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krum von Dick aber auch ein deutliches Beispiel für eine Form, die ihrer Funktion verschrieben ist: „Die Handlung verteilt sich auf mehrere Protagonisten, deren Bewusstseinsströme nicht nur unterschiedliche Sichtweisen der Wirklichkeit vermitteln, sondern auch unterschiedliche Wirklichkeiten.“51 Die Wahrnehmung der Protagonisten ist für den Leser die Realität der Geschichte – zumindest so lange, wie der aus dem Blickwinkel des jeweiligen Protagonisten erzählte Abschnitt andauert. Die Realität ist in Simulacra multipel – es gibt nicht die eine Realität oder vielmehr Wirklichkeit, welche die Wahrheit darstellt, sondern alle Wirklichkeiten stellen gemeinsam jeweils eine Version der scheinbaren Wahrheit dar. Dick spricht das zwar nicht konkret aus, aber es ist deutlich erkennbar. 52 Im Gesamtwerk Dicks, aber auch in Simulacra, geht es nicht primär darum, dass jede Figur durch den Filter ihres Bewusstseins ihre eigene Wirklichkeit wahrnimmt – welche eine Variante der tatsächlichen Realität und Wirklichkeit ist –, sondern dass „unser Bewußtsein [sic!] eine jeweils eigene Wirklichkeit erzeugt und daß [sic!] eine objektive Wirklichkeit nur das Mosaik aus all diesen individuellen Wirklichkeiten sein kann.“53 Ihm geht es um die „Fähigkeit, die Realität zu erkennen und nicht im Labyrinth pseudo-wirklicher Rituale verloren zu gehen.“54 Das Nachwort zur deutschen Ausgabe von Simulacra verfasste Science-Fiction-Autor Norman Spinrad, der darin eine weitere Definition von Medienrealität anführt: »Erschaffe eine virtuelle Realität für die Massen – via Fernsehen, via Geschichtsfälschung, via Propaganda, also via eines Simulakrums der Realität – und du beeinflußt [sic!] das Bewußtsein [sic!] der Massen. Beeinflusse das Bewußtsein [sic!] der Massen und du erzeugst ihre Realität... Wenn dir das gelingt, dann ist deine Macht nicht zu brechen – selbst dann nicht, wenn diese Realität auf einen Außenstehenden widersprüchlich wirkt.«55

Spinrad drückt damit aus, dass eine Medienrealität nur so lange fortbestehen kann, wie die Simulation der Wirklichkeit und damit auch die Manipulation der Massen

51 Ebd., S. 258. 52 Vgl. ebd., S. 259. 53 Ebd., S. 259. 54 Philip K. Dick: Simulacra. München: Heyne 2005. S. 53. Anmerkung: Pseudo-wirkliche Rituale gibt eigentlich nicht, vielmehr sind Rituale Abläufe von hohem Symbolgehalt, die eigene Wirklichkeiten erzeugen. Vgl. hierzu Dan Sperber: Rethinking Symbolism. Cambridge: Cambridge University Press 1975. 55 Spinrad: Nachwort, S. 265.

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aufrechterhalten wird. Wenn das Geheimnis, um das es geht, aber von innen her aufgelöst wird, werden Befehlsempfänger zu Geheimnisträgern und die vermeintliche Realität bricht in sich zusammen.56 Egal, welcher Art ein Simulakrum angehört, es ist gleichzeitig immer auch ein Konstrukt der Umgebung, das die Wirklichkeit simuliert, und Dick setzte dies weniger als technische Voraussage ein, sondern vielmehr als moralische Aufgabe, wie damit im Alltag umgegangen werden muss.57 Diese Multiplikation von Realitätsebenen durchzieht seine Texte wie ein Leitmotiv, „vor dessen Hintergrund Dick die Interdependenz von Mensch und Maschine reflektiert und die Demarkationslinien zwischen Realität und Phantasie [sic!], Leben und Tod sowie zwischen physischer Materialität und intramentaler Virtualität problematisiert.“58 Ebenfalls 1964 erschien von Daniel F. Galouye der Roman Simulacron Drei. Der Autor nutzte als einer der ersten das Konzept, ganze Welten im Inneren eines Rechners aufzubauen. Simulacron Drei beschreibt eine virtuelle Welt, die aus einer Großstadt samt ihrer künstlichen Bewohner besteht. Erdacht ist sie zu Studienzwecken, um das Konsumverhalten oder vielmehr die Reaktion von Menschen auf Werbung zu ergründen.59 Dabei besteht die Möglichkeit, mit einer Kontaktperson, das heißt mit einem Wesen innerhalb dieser Welt, zu sprechen. Mittels Austausch von Geistesinhalten „kann die Simulation auch persönlich erfahrbar werden, [bei der] der Mensch aus der ‚richtigen Welt‘ [...] sich in einer virtuellen Realität [be-

56 Vgl. ebd., S. 265. 57 Vgl. ebd., S. 265. 58 Martin Holz: Cyberpunk. In: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Hans Richard Brittnacher, Markus May. Stuttgart: Metzler 2013. S. 280-284, hier S. 281. 59 Die durch die Darstellung des Meinungsforschungsinstituts in Simulacron Drei thematisierte politische Involviertheit fällt bei The 13th Floor – Bist du was Du denkst?, neben Welt am Draht (1973) eine weitere Verfilmung, die sich nur grob an Galouyes Roman orientiert, komplett weg. Dort werden den Analogwelten reine Vergnügungszwecke zugeschrieben, die allerdings auch der Handlung an Antrieb nehmen, da diese dadurch nahezu ausschließlich auf Zwischenmenschliches fixiert ist, gesellschaftspolitische Implikationen dafür aber ausgrenzt. Der für Simulacron Drei essentielle Punkt, dass Halls Welt durch den Simulator überflüssig werden könnte, da sie ursprünglich als virtuelle Testumgebung für Meinungsforschung entwickelt wurde, entfällt. Vgl. Josef Rusnak: The 13th Floor. Bist du was du denkst? USA 1999. Rainer Werner Fassbinder: Welt am Draht. Deutschland 1973.

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findet].“60 Mit dem Fortschreiten des Projekts und verschiedenen Komplikationen am Simulator verändert sich auch die Sichtweise des Protagonisten Douglas Hall, dem technischen Direktor des zugehörigen Marktforschungsinstituts, für die eigene Realität. Zuletzt stellt sich wenig überraschend heraus, dass es sich bei dieser ebenfalls um eine Simulation handelt. Die daraus resultierende Kernfrage in Bezug auf virtuelle Realitäten taucht anschließend auch in vielen weiteren Romanen ähnlichen Inhalts auf: „Was ist die Realität und wie real bin ich selbst?“61 Die Hauptfigur Hall verliert zunehmend den Bezug zu ihrer Umwelt und versucht, diesem Verlust mit logischen Überlegungen zu begegnen, doch die Schachtelung der scheinbaren Realitäten erschwert eine Einschätzung der eigenen Umwelt. Als Hall schließlich bis in das, was er für die Wirklichkeit hält, vordringt, erscheint die eigentliche Welt um einiges trostloser als die Simulation: Über Erinnerung und Identität herrscht weiterhin Unsicherheit.62 Durch genau diese Schachtelung der möglichen Realitäten wirkt Simulacron Drei auch heute noch überraschend modern, wurden doch einige der Ideen und entworfenen Bilder in den Filmen Matrix und eXistenZ verwendet und verfremdet. Simulacra und Simulacron Drei gehen mit dem Sujet des Simulakrums grundverschieden um und zeigen, wie mit der Idee der Simulation in der Literatur der 1960er verfahren wurde. Daher sind beide Romane interessant und hervorzuheben, da sie in einer Zeit entstanden sind, in der noch keine digitalen Medien in der heutigen Form existierten. Es gab damals zwar erste Bestrebungen in Richtung neuer Medien; diese wurden aber zu jenem frühen Zeitpunkt noch nicht als solche bezeichnet. Als Vorreiter des Cyberpunks spielen sie aber genau aus diesem Grund eine wichtige Rolle, denn unter anderem waren sie es, die den Weg für die weitere Entwicklung dieser Gattung bereiteten. Ab den 1970er Jahren erschienen nun auch vermehrt Romane, die diesen neuen Umstand der Technologisierung aufgriffen, allen voran wiederum Philip K. Dick, der als Vielschreiber diese Thematik immer wieder gerne eingesetzt hat. Ebenso befassten sich Autoren auch auf theoretischer Ebene mit dem Sujet neuartiger Technologien, so beispielweise Stanislaw Lem, der bereits 1964 seine

60 Heiner Hink: Virtuelle Welten in Film und Literatur. In: Andreas Lober (Hg.): Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co: Faszination, Gefahren, Business. Hannover: Heise 2007. S. 63-68, hier S. 63. 61 Ebd., S. 63. 62 Ähnliches in anderem Kontext greift auch Dark City auf. Der Film behandelt die Frage, ob und wie sich der Mensch über seine Erinnerung konstituiert und inwiefern sich Erinnerung und Persönlichkeit unterscheiden beziehungsweise ob Persönlichkeit erst entsteht, wenn Erinnerungen bestehen. Vgl. Alex Proyas: Dark City. USA 1999.

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Summa technologiae veröffentlichte und schon dort mit der Phantomatik der Idee der virtuellen Realität vorausgegriffen hat. Sechs Jahre später wurde Lems Phantastik und Futurologie publiziert, in der er sich mit den theoretischen Grundlagen und dem Realismus der Phantastik auseinandersetzte und sich der Phänomenologie der Science-Fiction anzunähern versuchte. Für Lem war klar, „[w]enn die wissenschaftlichen Ergebnisse den Horizont des menschlichen intellektuellen Verständnisses überschreiten, [muss] die menschliche Philosophie zurückgelassen werden.“63 Lem ist heute vor allem durch sein literarisches Werk bekannt, doch sein Bewusstsein für die Komplexität der Welt führte dazu, dass er alleserklärenden philosophischen Systemen ablehnend gegenüberstand und Technologie stets kritisch hinterfragte.64 In seinem Werk transzendierte er häufig individuelle Probleme zugunsten allgemein ausgerichteter Gesetzmäßigkeiten, setzte Science-Fiction dabei allerdings auch systematischer Kritik aus: Sie „führt [...] zu einem Zusammenstoß zwischen dem begrenzten Wissen beziehungsweise dem gesunden Menschenverstand des Lesers und einem Wissen genau desselben Typs, aber einem breiteren und gerade deshalb schockierenderen.“65 Wissenschaftliche Phantastik ist laut Lem bestrebt, dass ihre Ontologie jener der natürlichen Welt entspricht, was dazu führt, dass die gewöhnliche Welt als Mimikry dargestellt wird, dabei aber dennoch verfremdet ist.66 Die Absicht der Science-Fiction ist es hier, einen gemeinsamen Nenner zwischen der fiktiven und der realen Welt zu erzeugen. Durch Science-Fiction wird Lem zufolge die bekannte Welt neu gegliedert und verändert, um am Ende eine andere Welt erschaffen zu haben. 67 Kritik übte Lem an den Wissenschaften. Während er die Science-Fiction als eine „Wandlerin in der Zukunft“ betrachtete, war seiner Ansicht nach eine solche Autoren- und Forschungstätigkeit wie seine „weder in den exakten noch in den Geisteswissenschaften [...] salonfähig, [weswegen] sich niemand der Mühe unterzogen [hatte], ihre Ansprüche genauer unter die Lupe zu nehmen.“ 68 Dies mag, als Lem diesen

63 Holger Arndt: Stanislaw Lems Prognose des Epochenendes. Die Bedrohung der menschlichen Kultur durch Wissenschaft, Technologie und Dogmatismus. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000. S. 43. 64 Vgl. ebd., S. 43. 65 Ebd., S. 90. 66 Vgl. ebd., S. 98. 67 Einen ähnlichen Gedankengang verfolgte auch Roland Barthes’ strukturalistische Tätigkeit, vgl. S. 90f dieser Arbeit. 68 Stanislaw Lem: Phantastik und Futurologie I. Frankfurt am Main: Insel 1977. S. 11.

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Text verfasste, in diesem speziellen Zusammenhang noch korrekt gewesen sein, mittlerweile steht aber auch die Phantastik im Interesse der Wissenschaften. 69 Die Science-Fiction setzte sich in der folgenden Zeit zunehmend kritischer mit Gegenwartsphänomenen auseinander. Das führte zu Beginn der 1980er Jahre zur Entwicklung einer neuen Untergattung, die sich immer stärker mit der sich stetig verändernden Medialität auseinandersetzte und ihre Erzählstruktur den neuen technologischen Entwicklungen anpasste: Als Antwort auf die technologische Entwicklung der 1980er Jahre gilt der bereits erwähnte Cyberpunk zunächst als eine Art literarischer film noir.70 Durch das verstärkte Aufkommen des Computers und das Herantasten an das Konzept des Internets in dieser Zeit veränderte sich auch die Literatur. Im frühen Cyberpunk – aufgetaucht ist der Begriff 1980 zum ersten Mal als Titel einer Kurzgeschichte von Bruce Bethke – wurden zumeist dystopische Zukunftsvisionen vorgestellt, die durch einen medien- und technikkritischen Pessimismus geprägt sind.71 Dieser Pessimismus wurde häufig in Kombination mit neuen Monopolen und überbevölkerten Metropolen dargestellt sowie mit Motiven des Transhumanismus im subkulturellen Umfeld und virtuellen Welten ausgekleidet, die stark an die in den Romanen imaginierte reale Welt gekoppelt waren. Kybernetische Implantate und künstliche Intelligenzen gehörten ganz selbstverständlich zum dort beschriebenen Alltag. Die Literatur verhandelte ver-

69 Der Vollständigkeit halber muss erwähnt werden, dass sich bereits seit der Antike – und damit lange vor Lem – das Epos und auch die Poesie mit phantastischen Stoffen beschäftigt haben; im 18. Jahrhundert integriert die romantische Literaturtheorie die Phantastik in den Erzählstoff. Rhetorik und Poetik sind damit seit jeher Wissenschaften, die sich auch mit dem Phantastischen auseinandergesetzt haben. Doch was heute als Phantastik betrachtet werden kann, gehörte in der Lebenswirklichkeit der Antike und des Mittelalters zum Weltbild und damit nicht ausschließlich in den Bereich des rein Fiktiven: „Dennoch und andererseits kann die Sprache der Poesie einer gewissen Bestimmtheit nicht entbehren. Da es ihr aufgegeben ist, nicht eine Scheinwelt außerhalb der Realität zu schaffen, sondern das in der Realität verborgene Weltgeheimnis an der Oberfläche der Realität aufscheinen zu lassen, muß [sic!] es ihr angelegen sein, die Realität zum Basisgegenstand der Darstellung zu machen und das Höhere auf das Niedere zurückzubeziehen.“ Vgl. Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche – Werk – Wirkung. München: Beck 1992. S. 219f. 70 Vgl. Douglas Kellner: Media Culture. Cultural Studies, Identity and Politics between the Modern and the Postmodern. London: Routledge 1995. S. 303. 71 Vgl. Holz: Cyberpunk, S. 281. Vgl. ebenso Bruce Bethke: Cyberpunk. In: Amazing Science Fiction Stories. Ausgabe 57, Nummer 4. November 1983. S. 94-105.

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stärkt medientheoretische Konzepte und erweiterte diese Gedankengänge, die vor allem in Hinblick auf Computer und deren Fortentwicklung ausgearbeitet wurden. Cyberpunk bezeichnet, so die Medienwissenschaftlerin Jiré Emine Gözen, als subversive Neuerungsbewegung innerhalb der Science-Fiction die „literarische Speerspitze der künstlerischen Auseinandersetzung mit Schlüsselphänomenen des Zeitalters der Postmoderne.“72 Er reflektiert zeitgenössisches und politisches Zeitgeschehen und stellt eine literarische Analyse der Gegenwart und deren Ängste und Prognosen dar, die sich in dieser Form auch bei Jean Baudrillard und anderen Medientheoretikern finden. Das erlaubt die Schlussfolgerung, dass die Cyberpunkautoren sich detailliert mit medialen Strömungen und möglicherweise auch den zugehörigen Theorien auseinandergesetzt haben müssen, um ihre Geschichten erzählen zu können. Denn Cyberpunkliteratur ist die „konstituierende Auseinandersetzung mit medientheoretischen Konzepten“, die bestehenden Theorien auch gerne weitere Handlungsbögen hinzufügt, die zuvor in der Form nicht ausgearbeitet worden waren.73 Generalisiert werden kann dies jedoch nicht. Interessant sind hierbei folglich besonders die zufälligen inhaltlichen Überschneidungen der dahinterstehenden Ideen und Konzepte, die sowohl in der Medientheorie als auch in der Literatur immer wieder auftauchen. Die scheinbare Kurzlebigkeit des Genres ist für den Autor Lance Olsen die „künstlerische Entsprechung der generellen Krise des postmodernen Zeitalters“, denn das „Ende der Cyberpunk-Ära [i. O.] markiert […] für ihn auch die Auflösung der Postmoderne.“74 Innerhalb des Cyberpunks tauchen immer wieder Ideen wie auch die kritische Weltsicht von Jean Baudrillard und Paul Virilio auf. Die Gattung spielt – vielleicht auch unbewusst – mit ihren Ideen und entwickelt sie in fiktionalisierten Zusammenhängen weiter: Sie zeigt grundsätzliche, wenn auch oftmals überspitzte gesellschaftliche und technologische Entwicklungsmöglichkeiten auf, häufig gekoppelt mit Motiven des Transhumanismus. In der Medientheorie ist das in dieser fast schon spielerischen Form nicht möglich, da sich die Cyberpunkautoren zwar auf ähnliche Konzepte berufen, diese aber nicht wissenschaftlich betrachten, sondern fiktional verfremden. Der Cyberpunk setzt deren gedankliche Konstrukte jedoch häufig in einen anderen Kontext, der andere Blickwinkel zulässt, die in reinen Theorietexten so nur schwerlich umsetzbar sind. Es sind Beobachtungen der realen Gegenwart der 1980er Jahre, die mögliche Zu-

72 Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 9. 73 Ebd., S. 10f. 74 Ebd., S. 38. Vgl. außerdem Lance Olsen: Cyberpunk and the Crisis of Postmodernity. In: Tom Shippey, George Slusser (Hg.): Fiction 2000. Cyberpunk and the Future of Narrative. Athens: University of Georgia 1992. S. 142-152, hier S. 146.

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kunftsszenarien – meist für die Jahrtausendwende – entwarfen, die später speziell gegen Ende der 1990er Jahre im Film wieder neu aufgegriffen wurden. Das Thema Simulation, Virtualität und vernetzte Welt wurde und wird in diesem Kontext immer wieder künstlerisch verarbeitet, dekonstruiert und gleichzeitig erweitert. Hervorzuheben sind für den Cyberpunk die Autoren Bruce Sterling, William Gibson und John Shirley, die unter anderem als Begründer dieser Strömung gelten.75 Gemeinsam gaben sie ab 1983 das Science-Fiction-Fanmagazin Cheap Truth heraus, das sich mit mehr als nur Literatur befasste. Dieses Magazin war das erste, das mittels Bulletin Board System (bbs), einem Rechnersystem zur Datenfernübertragung, verbreitet wurde.76 Dank dieser damals neuen Übertragungsmethode interessierte sich auch die Hacker- und Computerszene für das Magazin, was zeigt, dass die Autoren „bereits sehr früh mit der globalen Datenvernetzung, die später zum Internet [nach heutigem Verständnis] führen sollte, in Berührung“ gekommen sind.77 Begriffe, die durch sie geprägt wurden, fanden den Weg in den sprachlichen Alltag, darunter der des Cyberspace aus Gibsons 1984 erschienenem Roman Neuromancer, der als Begründungsmythos und Prototyp dieser Gattung gilt.78 Gibson etabliert in seinem Roman das Bild der Matrix beziehungsweise des Cyberspace, einer neonlastigen virtuellen Welt, welche die digitale Heimat des Hackers Case darstellt. Hier wie auch in anderen Romanen wird „das postmoderne Konzept des fragmentierten und zerstreuten Selbst aufgegriffen und durch die Schilderung der unmittelbaren Erfahrung eines durch neue Technologien ermöglichten Perspektivwechsels literarisch umgesetzt.“79 Im Gegensatz zur regulären Science-Fiction wurde hier nicht eine ferne Zukunft betrachtet, sondern die eigene Gegenwart hinterfragt. Bruce Sterling veröffentlichte ein Jahr nach seinem Roman Schismatrix (1985) die Kurzgeschichtensammlung Mirrorshades: The Cyberpunk Anthology (1986). Daraufhin „etabliert sich der Cyberpunk als literarisches Genre und wird in der Folge zum Gattungsbegriff“ für Literatur und Film, die eine Welt darstellen, „die auf allen Ebenen – anthropologisch, psychisch, physisch, sozial, politisch, ökonomisch – von der Omnipräsenz neuer Informations- und Kommunikationstechno-

75 Von Bruce Sterling stammt der 1985 erschienene Roman Schismatrix; John Shirley veröffentlichte 1979 Transmaniacon. 76 Vgl. Bruce Sterling: Cheap Truth Ausgabe 3. 1983. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 77 Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 79. 78 In Neuromancer hat Gibson den Begriff des Cyberspace klarer definiert, aufgetaucht ist er schon in seiner Kurzgeschichte Burning Chrome. Vgl. William Gibson: Burning Chrome. New York: Harper Collins 1995. 79 Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 326.

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logien bestimmt wird.“80 Literaturwissenschaftler Martin Holz zieht daraus die folgerichtige Konsequenz, „dass diese Welt zunehmend als virtuell und vermeintlich entmaterialisiert, deshalb jedoch keineswegs als weniger real erfahren wird.“81 Cyberpunk ist Holz’ Ansicht nach nicht mehr nur ein Genre, „sondern eine Subkultur von Künstlern, Hackern und auch Spielern […], die sich zunehmend in virtuellen Räumen bewegen.“82 Acht Jahre nach dem genreprägenden Werk Neuromancer erschien schließlich Snow Crash (1992) von Neal Stephenson. Der Roman greift Motive aus Neuromancer auf, erweitert sie aber in diesem Fall um eine religiös-sprachliche Komponente, indem er dem Protagonisten ein Computervirus entgegenstellt, das aus der digitalen Welt in die reale übertreten kann. Snow Crash ist dem Genre nach schon dem Postcyberpunk zuzurechnen. Anders als beim Cyberpunk ist hier ein anderer Umgang mit Technologien zu erkennen: Während bei Neuromancer die Technik noch elementar und zentral ist, bewegen sich die Akteure in Snow Crash wie selbstverständlich durch eine von Simulationen durchdrungene und erweiterte Welt. Deswegen ist die dargestellte Technologie hier nur noch als Hintergrundfolie zu deuten. Autoren, die sich ebenfalls dem Cyberpunk und ähnlichen Themenkomplexen verschrieben, sind außerdem Greg Bear (Blutmusik, 1985, Äon, 1985), Lewis Shriner (Frontera, 1984), John Shirley (Eclipse, 1985) und Tad Williams primär mit seiner Reihe Otherland (1996).83 Spätestens Mitte der 1990er Jahre ebbte die Bewegung ab, die Romane verloren ihr innovatives Element, neue Ideen waren selten geworden. Stattdessen wurden nun verstärkt Cyberpunkfilme produziert – die Gattung schien das Medium gewechselt zu haben. Viele der Themen, die im frühen Cyberpunk verortet waren, tauchten später noch unter anderen Gesichtspunkten bei Autoren wie Michael Crichton, Stephen King oder Frank Schätzing auf. Einige Cyberpunkautoren wechselten teilweise auch das Genre, darunter Sterling und Gibson, die mit Die Differenzmaschine (1990) ihr Sujet in den Steampunk

80 Holz: Cyberpunk, S. 281. 81 Ebd., S. 281. 82 Ebd., S. 281. 83 Otherland ist hier auf zweierlei Weise relevant: Zum einen spielt die Geschichte innerhalb einer virtuellen Realität, zum anderen wird nun ein Massively Multiplayer Online Role Playing Game veröffentlicht. Die von Williams bislang nur beschriebene Welt wird für den Leser, der nun zum Spieler wird, virtuell begehbar. Die literarische Fantasie wird de facto die Grundlage einer virtuellen Welt. Vgl. Tad Williams: Otherland: The Game. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). Vgl. ebenso Drago Entertainment: Otherland. Polen 2017.

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verlagerten. Gegenwärtig lässt sich allerdings ein neues Interesse am Cyberpunk feststellen, jedoch scheint die Gattung weiterhin eine Art Nischendasein zu fristen und im Mainstream bislang eher zurückhaltend rezipiert werden. Doch es bleibt abzuwarten, was sich hier in naher Zukunft entwickeln wird. Abschließend lässt sich feststellen, dass der Cyberpunk zwar auf der einen Seite „die Gefahren von Kommerzialisierung und Monopolisierung, Eskapismus bis hin zu Suchterkrankungen und Trivialitäten menschlicher Beziehungen reflektiert“, auf der anderen Seite aber ebenso „neue[…] Möglichkeiten einer als Labor verstandenen virtuellen Realität [aufzeigt], in der mit neuen Welten und alternativen Identitäten experimentiert werden kann.“84 Film als Darstellungsform des Virtuellen Während in den 1960er Jahren viele Science-Fiction-Filme produziert wurden, die sich mit der Eroberung oder zumindest Erkundung des Weltraums beschäftigten, kamen in den 1970er Jahren vermehrt Filme in die Kinos, die sich mit medienkritischen Diskursen auseinandersetzten. Darunter waren Welt am Draht (1973) – eine deutschsprachige Verfilmung des Romans Simulacron Drei (1964) – und Westworld (1973), die beide verschiedene Aspekte der neuen medial unterstützten Technologisierung beleuchteten. Während Welt am Draht mit virtuellen Welten spielte, griff Westworld den Gedankengang auf, was passieren könnte, wenn lebensechte Androiden ein Eigenleben entwickeln. Nach mehreren Spielfilmfortsetzungen wird Westworld seit 2016 in einer neuen Adaption auch als Fernsehserie fortgeführt, die jedoch nur noch lose auf der ursprünglichen Grundidee von Michael Crichton basiert. Begrifflich-inhaltlich ist die Darstellung der Androiden in den Filmen und der Serie ähnlich ausgedeutet wie in Philipp K. Dicks Roman Simulacra (1964). Ein ebenfalls an dieser Perspektive angelehntes Konzept taucht 2009 im Film Surrogates auf: Androiden werden als Spielfiguren in der Wirklichkeit gesteuert, während die Spieler in ihren Wohnungen sitzen und diese nicht mehr verlassen. Die reale Welt nehmen sie nur noch passiv als Beobachter wahr. Tatsächlicher filmischer Cyberpunk bildete sich dagegen erst vereinzelt ab den 1980er Jahren aus, wurde in den 1990er Jahren häufiger aufgegriffen und verschwand in den 2000er Jahren wieder nahezu vollständig von der Bildfläche. Stattdessen tauchten anschließend – wie bereits zuvor in der Literatur – die behandelten Themen verstärkt im popkulturellen Mainstream als Hintergrundrauschen auf. Einer der ersten Cyberpunkfilme im engeren Sinne war der 1982 durch Disney produzierte Film Tron, bei dem die durchaus abstrakte und neonfarbene 3D-Film-

84 Holz: Cyberpunk, S. 283f.

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technik tatsächlich als im weitesten Sinn handlungstragendes Element innerhalb der Computerwelt eingesetzt wurde. Der Protagonist und Programmierer Kevin Flynn dringt hier in eine Welt von Computerprogrammen vor, indem er durch einen Laser digitalisiert wird. Er findet sich in einer virtuellen Realität wieder, die von menschenähnlichen digitalen Wesen bevölkert ist, die ihren jeweiligen Programmierern optisch ähneln. Während der Film anfangs noch belächelt wurde, nimmt er rückblickend eine besondere Position innerhalb des Genres ein, da er trotz seiner relativ einfachen Geschichte ein in sich komplexes Thema aufgreift und künstlerisch darstellt. 2010 erschien mit Tron: Legacy eine Fortsetzung, die eine modernisierte Version der nun fast schon retrofuturistisch anmutenden Innenwelt von Computerprogrammen darzustellen versucht, und sich ähnlicher Kritik wie der am Vorgängerfilm stellen musste. Bereits 2003 kam zudem mit Tron 2.0 ein Computerspiel auf den Markt, das als offizielle Fortsetzung des Films von 1982 gilt und für das zusätzlich der Drehbuchautor des ersten Films, Stephen Lisberger, das Skript schrieb. Erwähnenswert ist dies aus dem Grund, dass die Geschichte von Tron um eine Metaebene erweitert wurde, indem sie dorthin verlagert wurde, wo sie ursprünglich stattfand – in das Innere eines Computers. Der wirkliche Nutzer konnte sich die Fortsetzung des Films am heimischen Rechner erspielen. Nicht unerwähnt bleiben darf zudem die Verfilmung von Philip K. Dicks Roman Blade Runner, die ebenfalls 1982 erschien. Im Kontext der vorliegenden Arbeit spielt dieser Film allerdings eine eher untergeordnete Rolle, da zumindest in der Verfilmung keine unmittelbaren virtuellen Welten etabliert werden.85 Die Darstellung möglicher Technologien im Stadtmoloch ist allerdings als eine der ideellen Vorlagen zu Matrix (1999) zu betrachten, wohingegen Blade Runner sich bei dem Element der Häuserschluchten zur Darstellung des Großstadtmolochs offenkundig auf den 1927 erschienenen Stummfilm Metropolis von Fritz Lang bezieht. Anders wird dies in der Fortsetzung Blade Runner 2049 aus dem Jahr 2017 ausgedeutet: Hier wird eine von Hologrammen durchdrungene Welt gezeigt. Einzelne entwickeln hierbei sogar ein eigenes Bewusstsein im Virtuellen. Zehn Jahre nach

85 Der im Roman beschriebene Mercerismus stellt eine Form der Religion dar. Mit der sogenannten Einswerdungsbox begibt sich der Gläubige in eine virtuelle Umgebung, in der er mit dem Religionsbegründer Mercer eins wird, der sisyphosgleich einen steinigen Hang emporsteigen muss. In der filmischen Fortsetzung wird dieses Konzept ebenfalls nicht aufgegriffen, dafür aber andere Strukturen etabliert, beispielsweise Hologramme, die aktiv auf Ansprache reagieren und ein eigenes Bewusstsein entwickeln können. Vgl. Philip K. Dick: Blade Runner. München: Heyne 2002. Vgl. ebenso Denis Villeneuve: Blade Runner 2049. USA 2017.

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dem ersten Teil von Blade Runner kam Brett Leonards Der Rasenmähermann (1992) in die Kinos. Hier dient eine virtuelle Welt als Simulationsumgebung für einen geistig zurückgebliebenen Probanden, dessen Leistungsfähigkeit mit psychotropen Substanzen und dem Besuch einer virtuellen Realität so weit gesteigert wird, bis es zum Kontrollverlust kommt und er sich vollständig in den Cyberspace einspeisen lassen möchte. 1996 wurde eine Fortsetzung mit dem Titel Der Rasenmähermann 2 – Beyond Cyberspace produziert, der die Handlungsstränge des ersten Teils nur rudimentär wieder aufnimmt: Ein globales Computernetzwerk soll darin entwickelt werden, um einem Unternehmer die Übernahme der Weltherrschaft zu ermöglichen. Aus einer anderen Perspektive nahm sich Virtuosity (1995) der Thematik an. Hier möchte niemand in den Cyberspace gelangen – stattdessen hat die künstliche Intelligenz aus einer Computersimulation ein eigenes Bewusstsein entwickelt und will ihn verlassen. Bei Strange Days (1995) wird wiederum eine Art persönliche virtuelle Realität etabliert: Erinnerungen anderer Menschen werden auf kleinen Datenträgern aufgezeichnet und sind dadurch auch für andere immersiv erfahrbar. Alles, was während dieser Aufnahmen passiert – darunter akustische und optische Reize sowie Emotionen – wird mitgeschnitten und kann durch ein spezielles Headset vom Nutzer immer wieder abgerufen werden. Der Nutzer nimmt im Folgenden alles, was ihm diese Aufnahme vorspielt, wie eine virtuelle Realität wahr – die Simulation wird ihm direkt in den Verstand eingespeist. Mit diesen Aufnahmeclips wird gehandelt wie mit Drogen, was eine starke Nähe zum literarischen Cyberpunk aufweist. 1995 wurden verhältnismäßig viele Filme dieser Art veröffentlicht. Nicht alle davon sind gut gealtert und einige von ihnen bieten heute kaum mehr als den Retrofuturismus längst widerlegter oder unrealistischer Zukunftsvorstellungen einer medial erweiterten Umwelt, in der die Simulation fester Bestandteil des Alltags ist. Dies geschah auch dem Film Vernetzt – Johnny Mnemonic (1995), der allein schon deswegen aufzuführen ist, da er auf einer Kurzgeschichte von William Gibson basiert, auf die wiederum – wenn auch nur am Rande und nicht handlungsrelevant – in Neuromancer Bezug genommen wird. Der Protagonist arbeitet in Vernetzt als mnemonischer Kurier, der sein Gehirn als Datenspeicher zur Verfügung stellt, um vertrauliche Informationen zu übermitteln. Dafür zahlt er einen hohen Preis, denn um die Datenmengen transportieren zu können, opfert er Teile seines eigenen Gedächtnisses. Bislang ist Vernetzt die einzige Filmadaption einer Erzählung von William Gibson.86

86 Interessant ist hierbei, dass nach wie vor keine Verfilmung von Neuromancer existiert, obwohl dieses medial-sprachliche Werk auf den ersten Blick direkt dazu einlädt.

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Bereits in den 1990er Jahren begann in Cyberpunkfilmen wie auch in der Cyberpunkliteratur eine Kommerzialisierung der Inhalte, die neben ikonischen Werken auch Filme auf den Markt brachte, die nur an der Oberfläche des eigentlichen Sujets kratzten. Andererseits führte dies auch zu Verfilmungen wie der von Enthüllung (1994) nach einem Roman von Michael Crichton, bei dem ein Hochtechnologieunternehmen im Zentrum steht und Recherchen im weltweiten Netz auch entsprechend mit 3D-Effekten bildlich dargestellt wurden. Das Netz (1995) führte diesen Gedankengang noch weiter aus und erzählt die Geschichte einer jungen Computerexpertin, deren Identität gelöscht und verändert wird. Was in diesen Filmen lange Zeit unrealistisch wirkte, gewinnt bei der gegenwärtigen Entwicklung der Technologien wieder an Brisanz – vor über 20 Jahren erschien es aber noch wie Science-Fiction. Generell lässt sich bei vielen dieser Filme rückblickend feststellen, dass manche zu ambitioniert in ihrer Vorstellung möglicher technologischer Entwicklungen waren, bestimmte Aspekte aber von der mittlerweile eingetretenen Realität nicht mehr so weit entfernt liegen. Virulent wurde das Simulationsthema Mitte der 1990er Jahre auch im japanischen Animationskino, dessen Einflüsse später vor allem in Matrix (1999) evident wurden. Akira erschien 1988: Im Jahr 2019 wird das durch eine atomare Explosion zerstörte Tokio als Neo-Tokyo wiederaufgebaut, die Stadt hat Probleme mit Terrorismus und Bandenkriminalität, es gibt Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten. Ähnlich und doch ganz anders ist Ghost in the Shell von 1995. Die Handlung beginnt 2029, die meisten Menschen sind zu dieser Zeit bereits kybernetisch erweitert. In manchen Fällen geht dies so weit, dass außer ein paar Gehirnzellen, dem sogenannten Ghost und damit sprichwörtlich dem Geist in der Maschine, im Cyborg nichts Menschliches mehr erhalten ist. Doch aus den verbundenen Netzwerken entsteht schließlich ein eigener Ghost ohne menschlichen Ursprung, der als reine künstliche Intelligenz agiert. Die Motive des Transhumanismus stehen hierbei deutlich im Vordergrund und dennoch dient auch dieser Film als einer der Ideengeber für Matrix. Dieser wiederum setzte als einer der ersten Filme die simulierte Umwelt fernab vom eigentlichen Transhumanismus als zentrales Element ein, ist jedoch nicht zwangsweise mit selbigem verbunden, da die Menschen mittels Stecker und anderen technischen Gerätschaften mit der Matrix verknüpft sind. Ähnliche Motive griff im gleichen Jahr eXistenZ (1999) auf, denn auch hier ist die Wirklichkeit für die Spieler nur eine Art sensorischer Reiz, der man durch die Simulation zu entkommen versucht. 2017 kam schließlich die Realverfilmung

Dennoch gibt es inzwischen wieder Gerüchte, dass eine Verfilmung geplant sei. Vgl. Markus Trutt: „Neuromancer“: „Deadpool“-Regisseur verfilmt wegweisenden Cyberpunk-Bestseller. Filmstarts.de, 10. August 2017. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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von Ghost in the Shell in die Kinos. Beraubt von der Kernfrage, was das Menschsein ausmacht und welchen Status zufällig erschaffene künstliche Intelligenzen haben, bleibt hier nur ein kaleidoskopartiger Bilderreigen. Obwohl der Film den Anime von 1995 beziehungsweise vielmehr die nachfolgende Serie Ghost in the Shell: Stand Alone Complex (2002) flüchtig aufgreift, wirkt er wie seine eigene Kopie – sozusagen eine Kopie ohne Original – die dennoch auf die Zukunftsästhetik und -vorstellungen der 1980er Jahre verweist. Die Ideen sowie der Bildaufbau des Animes haben bereits in den 1990er Jahren viele andere Filme beeinflusst, sodass der Realverfilmung trotz moderner 3D-Technik etwas Veraltetes anhaftet. Als Realfilm erschien 2001 die japanisch-polnische Koproduktion Avalon, bei der wie auch schon beim Anime Ghost in the Shell Mamoru Oshii Regie führte. Das titelgebende Spiel eröffnet eine virtuelle und gewalttätige Welt, in der sich Teams gegenseitig bekämpfen. Wer verliert, stirbt auch in der wirklichen Welt. Ein ähnliches Konzept bestimmt auch den Film Gamer (2009), in dem zum Tode verurteilte Häftlinge in einer virtuellen Welt gegeneinander antreten müssen. Wer dieses Spiel gewinnt, kommt frei. Im Spiel selbst werden die Häftlinge aber zu Marionetten der externen Spieler und geben gezwungenermaßen die Kontrolle über den eigenen Körper ab. An dieser Auswahl zeigen sich bereits die vielfältigen Bearbeitungen des Genres Cyberpunk. Während der literarische Cyberpunk seinen Höhepunkt in den 1980ern erlebte, fand die filmische Hochphase erst etwa ein Jahrzehnt später statt. Eine interessante Beobachtung ist, dass viele Filme, die heute zu diesem Kanon gezählt werden, auf literarischen Vorlagen beruhen, auch wenn die Endprodukte nicht immer offensichtlich auf ihre Vorbilder referenzieren. Einzig eXistenZ scheint relativ unabhängig von etwaigen Vorlagen zu sein, Matrix nur vordergründig, denn hier finden sich überproportional viele Anknüpfungspunkte zu literarischen wie medientheoretischen Vorlagen. Fast allen hier genannten Filmen ist gemein, dass sie eine künstlerische Bearbeitung simulierter Welten auf die eine oder andere Art und Weise darstellen. Doch zu Beginn der 2000er Jahre trat auch im Medium Film eine Stagnation ein, die Anzahl der Produktionen wurde rückläufig und das Thema virtuelle Welten verschwand nahezu vollständig aus dem Mainstreamkino. Auffällig ist der Wechsel im Umgang mit dem Sujet: Während in den 1990er Jahren die technologischen Errungenschaften und deren Konsequenzen im Fokus standen, veränderten neuere filmische Bearbeitungen ihre Geschichten dahingehend, dass die technischen Entwicklungen nicht mehr zentral waren, sondern nur noch als Hintergrundfolie dienen. Im Vordergrund wurden verstärkt andere Geschichten erzählt. Dennoch hat die Entwicklung des literarischen und filmischen Cyberpunks zeitversetzt parallel stattgefunden. Auch in der Literatur gehört der Postcyberpunk zu einem Genre, das nicht mehr die Technik

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in den Vordergrund stellt, sondern die Menschen. Diese müssen sich zwar auch mit neuartigen Technologien auseinandersetzen, haben aber insgeheim andere Probleme, bei deren Bewältigung die Technologie vorläufig kaum tragende Bedeutung hat. Als aktuelles Beispiel dafür dient die britische Anthologie-Serie Black Mirror (seit 2011), die zwar gegenwärtige technologische Errungenschaften aufgreift und sie in einem häufig dystopischen Was-wäre-wenn überspitzt, aber zumeist andere Handlungsstränge des menschlichen Erlebens erzählt. Der klassische Cyberpunk als Filmgenre ist in den 2010er Jahren inhaltlich überholt. Die Fragestellungen haben sich im Verhältnis zur Entstehungszeit des Genres verändert und erweitert. Dies zeigt sich auch an Blade Runner 2049 (2017), der eine Fortsetzung des Films von 1982 darstellt, sich aber nicht in dessen Handlungsbogen verfängt, sondern diesen behutsam neu interpretiert und erweitert. Dieser Film schafft es, das Genre zu aktualisieren und könnte den Beginn einer neuen Cyberpunkkultur andeuten. Zudem erschien 2017 eine Serie zu weiteren Kurzgeschichten von Philip K. Dick mit dem Titel Electric Dreams, 2018 folgte Altered Carbon, das auf dem 2002 erschienenen Roman Das Unsterblichkeitsprogramm von Richard Morgan basiert. Dort besteht die Möglichkeit, den eigenen Geist abzuspeichern und den Körper auszutauschen. Dieses Setting ist eindeutig im Cyberpunk zu verorten, die Welt durchdrungen von Hologrammen und Simulationen. Das Gamer-Sujet erlebt momentan ebenfalls eine kleine Renaissance, die mit dem Aufkommen neuer Technologien wie 3D-Datenbrillen und Augmented beziehungsweise Mixed Reality zusammenhängen dürfte. 2018 kam die Verfilmung des Romans Ready Player One (2011) von Ernest Cline durch Steven Spielberg in die Kinos. In einer retrofuturistischen, am Cyberpunk orientierten Ästhetik, die trotz allem an die 1980er erinnert, wird hier eine zweigeteilte Gesellschaft vorgestellt, die die Möglichkeiten und Chancen von Computerspielen auszuloten versucht. Der Vollständigkeit halber seien auch Filme wie Inception (2010), Dark City (1998), Truman Show (1998) sowie EDtv – Immer auf Sendung (1998) genannt. Sie alle spielen mit der menschlichen Wahrnehmung, indem die Protagonisten zwischen künstlicher und realer Welt nicht mehr unterscheiden können. Doch die künstlichen Welten, vor deren Hintergrund die Geschichten spielen, haben für die vorliegende Arbeit keine Relevanz: Inception greift begehbare Traumwelten auf, in Dark City sind die Erinnerungen manipuliert und bei der Truman Show wird die Welt des Protagonisten künstlich gesteuert, da er unwissentlich in einer realen Fernsehkulissenwelt lebt. Bei EDtv begibt sich der Protagonist sogar freiwillig in die medial übertragene Überwachung.

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Virtuelle Welten werden real: Computerspiele Simulationen sind in Computerspielen ein wichtiger Aspekt, denn die Wahrnehmung von beiden ist eng miteinander verbunden. In der heutigen Zeit simulieren (sich) Computerspiele noch immer, selbst wenn diese Form der Simulation häufig kein Abbild der realen Welt sein soll. Die Entwicklung von Computerspielen geht mit einem Wechsel der Ästhetik von Spielen und der damit verbundenen Paradigmen einher: Von der schlichten Pixelgrafik der ersten digitalen Spiele haben sich Computerspiele heute zu beinahe fotorealistisch simulierten Welten emanzipiert, die inzwischen Möglichkeiten bieten, die in der Frühzeit digitaler Spiele kaum vorstellbar waren. Dabei spielt nicht unbedingt die inhaltliche Ausrichtung der Simulation eine Rolle, sondern vielmehr das Spiel an sich, das sowohl aus dem Blickwinkel der Game Studies als auch aus kulturanthropologischen Texten wie Homo Ludens (1938) von Kulturhistoriker Johan Huizinga betrachtet werden kann, der hier nicht auf Computerspiele eingeht, sondern nur auf jene Spielformen, die zur Entstehungszeit des Textes bereits existierten.87 Analoges Spielen wird dort mit Handlungsfreiheit gleichgesetzt, das Spielen selbst als elementare Sinnfindung. Bereits hier deuten sich in Zusammenhang mit den Game Studies erste Probleme an: Da die wissenschaftliche Reflexion in Form der Game Studies noch so jung ist, hat die Historisierung dieses Diskurses zwar schon begonnen, ist aber noch nicht weit fortgeschritten.88 Das zeigt sich bereits daran, dass viele der Forschungsgrundlagen, auf denen die Game Studies aufbauen, häufig aus anderen Disziplinen kommen – darunter beispielsweise auch bereits bestehende Forschung über verschiedene Kulturtechniken. Wissenschaftlich betrachtet basieren die Game Studies unter anderem auf einer Mischung aus Literatur- und Medienwissenschaft, lassen sich aber ebenso in den Kulturwissenschaften verorten. Digitale Spiele können hierbei als erweiterte Kulturtechnik betrachtet werden, die sich von der Schriftlichkeit zur Bildlichkeit entwickelte. Zugleich wären Spiele in der heutigen Form ohne die Entwicklung des Internets und dem damit einhergehenden medial turn in den 1990er Jahren nicht möglich gewesen. Relativ früh in der Geschichte der Computerspiele tauchte die Streitfrage nach ihrem fundamentalsten Element auf, die zwei scheinbar gegensätzliche Betrach-

87 Johan Huizinga prägte den Begriff des homo ludens, des spielenden Menschen, und gilt als einer der geistigen Urväter der heutigen Game Studies. Vgl. Johan Huizinga: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Reinbek: Rowohlt 2004. 88 Je nach Quellenlage wird der Beginn der Game Studies zwischen 1999 und 2009 angesiedelt, genau festgelegt werden kann er jedoch nicht.

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tungsweisen hervorbrachte. Während der Ludologie zufolge ein Computerspiel ein Spiel mit vorgegebenem Regelsystem ist, erklärt die Narratologie die Erzählung zum zentralsten Element in einem Computerspiel. Die Ludologie befasst sich mit Regelwerken, die Narratologie beschäftigt sich dagegen mit erzählerischen Konzepten, die den Spielablauf bestimmen. Diese Grundsatzdebatte zwischen beiden hat wie im Weiteren skizziert die Wahrnehmung der Game Studies über Jahre bestimmt. Inzwischen wird dieser Diskurs gemäßigter weitergeführt. Ludologische Konzepte sind nach wie vor elementare Bestandteile der Spieleforschung. Die Narratologie spielt dennoch eine wichtige Rolle, denn neben dem Regelhaften ermöglicht sie eine andere Blickweise auf die Erzählstruktur des Spielinhalts. Beide Ansichten sind phänomenologisch zu betrachten, denn auch hier gilt: Erst im Anschluss an bereits bestehende Spiele hat sich eine Theoriestruktur herausgebildet. Der Spieleforscher Jesper Juul postuliert beispielsweise den ludologischen Ansatz, indem er die These vertritt, dass das Zusammenspiel von Regeln und der Fiktion eines Videospiels dazu führt, dass die Spiele half-real sind, das heißt aus wirklichen und realen Regeln sowie fiktionalen Welten bestehen. 89 Hervorzuheben ist besonders Spieleforscher Espen Aarseth, der Spiele in die Nähe der Simulation einordnet, die er als elementar in Bezug auf die Ausbildung einer konsistenten virtuellen Spielwelt beschreibt: »Simulation is the hermeneutic Other [i. O.] of narratives; the alternative mode of discourse, bottom up and emergent where stories are top-down and preplanned. In simulations, knowledge and experience is created by the player’s actions and strategies, rather than recreated by a writer or moviemaker.«90

Einen stark narratologischen Blickwinkel zeigt außerdem die Literaturwissenschaftlerin Janet Murray in Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace (1997). Sie erörtert hier, wie Simulationen am Beispiel der Holodecks aus Star Trek eine neue Form des viktorianischen Theaters darstellen könnten, in dem der Spieler selbst aktiver Teil des Geschehens wird.91 Sie betrachtet das Holodeck als virtuelle Spielumgebung für eine neue Form des Geschichtenerzählens, die technischen Hintergründe und Regelsysteme bleiben außen vor. Marie-Laure

89 Vgl. Jesper Juul: Half-real. Video Games between Real Rules and Fictional Worlds. Cambridge: MIT Press 2011. S. 196. 90 Espen Aarseth: Genre Trouble. Electronic Book Review, 21. Mai 2004. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 91 Vgl. Janet Murray: Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace. Cambridge: MIT Press 1997.

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Ryan vertritt ebenfalls narratologische Konzepte, bezeichnet Murrays Vorgehen allerdings als Holodeck-Mythos.92 Es sei unwahrscheinlich, dass diese Technik in näherer Zukunft tatsächlich entwickelt wird. Stattdessen vertritt sie die Ansicht, dass das Narrativ selbst eine virtuelle Realität darstellt. Der Medienwissenschaftler Claus Pias hingegen teilt Computerspiele in Spielprinzipien wie Action, Strategie und Adventure ein, welchen er die Merkmale zeitkritisch, konfigurationskritisch und entscheidungskritisch zuordnet. 93 Medienwissenschaftler Benjamin Beil entwirft eine Genretheorie, die die Hybridisierungstendenzen von Computerspielen aufzeigt, und postuliert, „dass eine [...] historische Verortung nicht nur innerhalb einer Genreanalyse herausgearbeitet werden kann, sondern dass sie zunehmend auch durch selbstreflexive Elemente in den Spielen selbst stattfindet.“94 Das Konzept der Immersion wird von Britta Neitzel um die Involvierung erweitert, Gundolf Freyermuth versucht eine Einteilung der Spielentwicklung in mehrere Phasen, denen er verschiedene historisch-technologische Wendepunkte zuordnet.95 Computerspiele werden erst seit relativ kurzer Zeit als eine eigene wissenschaftliche Forschungsgrundlage betrachtet. Sie haben sich schließlich erst in den 1960er Jahren zögerlich entwickelt. Ihr Anfang war kaum mehr als ein Nebenprodukt der Arbeit am Computer, als – zunächst und zumeist – Studierende an Universitäten in den Leerlaufzeiten der Computer einfache Spiele mit simpel gestalteten Logikverknüpfungen programmierten. Die ersten Computerspiele aus den 1960er Jahren waren nach heutigen Standards noch sehr rudimentär: Die grafische Oberfläche war zurückhaltend, das Spielerlebnis stärker als heute auf die Fantasie des Spielers angewiesen. In den 1980er Jahren nahm die Komplexität der Spiele immer mehr zu. In den 1990ern bildeten sich verschiedene inhaltliche wie spielmechanische Genretypen heraus, die in den 2000er Jahren eine weitere Ausdifferenzierung erfuhren und gleichzeitig verstärkt Mischtypen produzierten, wie bei-

92 Vgl. Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality 2. Revisiting Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore: John Hopkins University Press 2015. S. 235ff. 93 Vgl. Claus Pias: Computer Spiel Welten. Zürich: Diaphanes 2002. 94 Benjamin Beil: Game Studies und Genretheorie. In: Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon (Hg.): Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung. Köln: Herbert von Halem 2015. S. 29-79, S. 62. 95 Vgl. Britta Neitzel: Medienrezeption und Spiel. In: Jan Distelmeyer, Christine Hanke, Dieter Mersch (Hg.): Game over!? Perspektiven des Computerspiels. Bielefeld: transcript 2008. S. 95-114. Vgl. ebenso Gundolf Freyermuth: Games. Game Design. Game Studies. Bielefeld: transcript 2015.

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spielsweise Shooter mit Elementen aus Strategiespielen oder Adventures mit Rollenspielanteilen.96 Momentan liegt der technische Schwerpunkt in der Entwicklung neuer Spielumgebungen, die 3D, virtuelle Realitäten und Augmented Reality vermischen. Computerspiele sind folglich als neues digitales Medium auch immer wieder zu hinterfragen: Was genau sind sie und wie etablieren sie sich als neue mediale Erscheinung? Dieser Prozess geht oftmals mit dem Erwerb neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse einher, welche wiederum in der Industrie zur weiteren Entwicklung genutzt werden. Eine Historisierung findet nach und nach statt. Auch wenn in der vorliegenden Untersuchung virtuelle Welten als solche unabhängig von der Spielmechanik und der Gattung des Spiels betrachtet werden, sollen im Folgenden auch andere Spielkonzepte kurz vorgestellt werden, um den historischen Überblick zu vervollständigen. Das erste als solches bezeichnete interaktive Spiel tauchte 1962 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) auf: Spacewar! veranschaulichte zum ersten Mal die Möglichkeiten des damals noch sehr neuen Mediums des Computers: Zwei Spieler treten an verschiedenen Rechnern gegeneinander an und versuchen das Raumschiff des jeweiligen Gegners abzuschießen, ohne dabei mit der virtuellen Sonne zusammenzustoßen.97 Spacewar! erreichte jedoch keine große Verbreitung, da es zu seiner Zeit nur auf den Rechnern des MIT spielbar war. Die frühen Computerspiele waren häufig digitale Umarbeitungen analoger Spiele, viele ihrer Prinzipien ließen sich auch auf den Computer übertragen. Neben dieser Art des Umgangs mit spielerischen Prozessen trugen auch militärische Flugsimulatoren ihren Teil dazu bei. Für den Trainingseinsatz von Piloten entwickelt, begann hier die Technisierung der Übungsumgebung zum Ende des Zweiten Weltkrieges.98 Kommerzialisiert wurde dies jedoch erst in den 1970er Jahren, als der erste digitale Flugsimulator auf den Markt kam. Vor allem wenn es um die Darstellung virtueller Welten ging, war der Computer als Medium unabdingbar. Diese prozedurale Wende ist bereits in den 1950er Jahren zu verorten, unter

96 Da dies als Thema hier nur am Rande betrachtet werden soll, wird auf die Genrebildung nicht weiter eingegangen, denn sie ist komplexer, als es den Anschein hat: Die Genres von Computerspielen können sowohl auf inhaltlich-narrativer Ebene klassifiziert werden als auch über die Spielmechanik. Sprachlich wird in der vorliegenden Arbeit zwischen inhaltlichem Genre (Fantasy, Action, etc.) und Spielmechanik (Adventure, Rollenspiel, Shooter, etc.) differenziert. Vgl. Beil: Game Studies und Genretheorie, S. 2979. 97 Vgl. Simon Egenfeldt-Nielsen, Jonas Heide Smith, Susana Pajares Tosca (Hg.): Understanding Video Games. The Essential Introduction. New York 2016. S. 61. 98 Vgl. Freyermuth: Games, S. 65.

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anderem dadurch, dass „die neue Universalmaschine Computer spielerisch“ nutzbar gemacht wurde.99 Das wiederum bedeutet, „originäre Spielformen zu erschaffen, die in keinem der älteren analogen Medien möglich wären.“100 Joseph Licklider führte zudem schon 1960 den Begriff der Man-Computer Symbiosis ein, was einen interaktiven Umgang mit dem Computer beschreiben soll.101 Ein früher ideeller und technisch völlig anders umgesetzter Vorläufer von Spacewar! war Tennis for Two, das 1958 auf einem analogen Computer noch mithilfe eines Oszilloskops gespielt wurde. Ataris Pong (1972), das zum ersten weltweit populären Videospiel in Spielhallen avancierte, basiert ebenfalls auf diesem Spielprinzip. Etwa zur selben Zeit wie Pong entstanden die ersten Textadventures. Bei ihnen entscheidet der Spieler über den inhaltlichen Verlauf ähnlich wie bei interaktiven Romanen, bei denen die Geschichte vom Leser individuell gestaltet wird. Mit ihnen formte sich ein gänzlich eigener Narrationsmodus heraus, der bis heute durch die Textlichkeit von literarischer Welterzeugung geprägt ist. Das Spielgeschehen selbst fand bei Textadventures schriftlich statt, Anweisungen wurden über die Tastatur eingegeben, eine geografische Karte der bespielten Welt entstand erst im Kopf des Spielers.102 Das erste Spiel dieser Art war Adventure (1975), das zum Namensgeber für das gesamte Genre wurde. Der Schwerpunkt bei den frühen Spielvarianten lag auf dem Lösen von Rätseln. Die Entwicklung von Adventure begann 1972, drei Jahre später erfolgte die Veröffentlichung über

99 Ebd., S. 62. 100 Ebd., S. 62. Freyermuth beschreibt dort mehrere Phasen der Spielentwicklung, denen er vier Wendepunkte zuordnet. Auf diese wird im passenden Kapitel dieser Arbeit ab S. 297 detaillierter eingegangen. 101 Vgl. Joseph Licklider: Man-Computer Symbiosis. In: IRE Transactions on Human Factors in Electronics. HFE-1, Nummer 1. August 1960. S. 4-11. 102 Was mit der Karte gemeint ist, erklärt Stephan Günzel in diesem kurzen Abschnitt: „Was ein Egoshooter als interaktives Bild in sich vereinigt, sind nichts weniger als die drei Aspekte, die Henri Lefebvre zufolge an der Produktion von Raum maßgeblich und notwendig beteiligt sind. Aus diesem geht dialektisch der simulierte Raum in seiner Ganzheit hervor. Der erste Aspekt ist der primär wahrgenommene Raum oder das Perzept des Raums als räumliche Praxis. […] Dieser Zustand des Bildes entspricht dem von Lefebvre als Raumpräsentation ausgewiesenen Modus. […] Das Bild der Karte ist wesentlich kognitiver Art: Im Gegensatz zum Perzept des wahrgenommenen Raums ist es ein Konzept des Raums.“ Dieses interaktive Bild des Raums bildet im Kopf des Spielers eine virtuelle Karte, anhand derer er sich im Spiel orientieren kann. Vgl. Stephan Günzel: Egoshooter. Das Raumbild des Computerspiels. Frankfurt am Main: Campus 2012. S. 11.

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ARPAnet. Die ersten Spiele für den Heimcomputer folgten ab etwa 1978, darunter auch Zork (1980). Grafisch deutlich aufwendiger gestaltet war das 1993 erschienene Myst, das den Spielern „aus subjektiver Perspektive die recht eigenständige interaktive Erkundung einer multimedial gestalteten Inselwelt“ erlaubte. 103 Die grafischen Beschränkungen der Textadventures wurden durch mehr narrative Entfaltungsmöglichkeiten im Spielablauf überwunden. Ab hier scheint sich die Entwicklung durch die immer vielseitiger werdenden Möglichkeiten der grafischen Darstellung zu beschleunigen, 1996 wurde schließlich mit Tomb Raider ein Action-Adventure veröffentlicht, das in seiner linearen Spielstruktur stilbildend werden sollte. Ähnlich innovativ wirkt auch heute noch das 2007 erschienene Adventure Assassin’s Creed. Als Open World Game konzipiert, ist es dem Spieler anders als bei Tomb Raider aus den 1990er Jahren bei dieser Reihe direkt möglich, eine Welt selbständig zu erkunden und Aufgaben, sogenannte Quests, in beliebiger Reihenfolge zu lösen. Hervorzuheben ist außerdem das 2014 publizierte Adventure The Vanishing of Ethan Carter. Auch hier ist die Welt offen gestaltet, die Grafik basiert allerdings auf realen Orten, die zu einem virtuellen Ort vermengt wurden. Das verleiht dem Spiel eine unvermutet (foto)realistische Komponente innerhalb der fiktionalisierten Welt. Im selben Jahr erschien auch Watch Dogs, welches insofern im Rahmen dieser Arbeit interessant ist, da es in einer fiktiven nahen Zukunft spielt, in der ein alles übergreifendes Computernetzwerk aktiv ist.104 2016 erschien schließlich No Man’s Sky, ein weiteres Action-Adventure, das für seine scheinbar grenzenlose virtuelle Welt gelobt wurde. Gleichzeitig stand es genau dafür bei Spielern in der Kritik: Wählt der Spieler den falschen Planeten als Ziel seiner virtuellen Reise, findet er dort nichts als Langeweile vor. Dies markiert einen der großen Nachteile der hier beschriebenen Open World Games: Der Spieler landet von Zeit zu Zeit im sprichwörtlichen virtuellen Niemandsland und verliert dadurch möglicherweise dauerhaft das Interesse am Spiel. Wie bei den Adventures reicht auch die Geschichte der Rollenspiele bis in die 1970er Jahre zurück. Hier sei speziell auf die MUDs (Multi User Dungeons) der

103 Freyermuth: Games, S. 75. 104 Watch Dogs behandelt Themen des Cyberpunks, blendet die Simulation allerdings aus. Da es sich hierbei um keine virtuelle Welt handelt, die als Spielergemeinschaft erkundet wird, entfällt eine nähere Betrachtung. Die Hackergruppe, die das Netzwerk bekämpft und aus deren Blickwinkel der Handlungsbogen erzählt wird, ist gerüchteweise der real existierenden Gruppe Anonymus nachempfunden. Es mutet fast ironisch an, dass die ursprüngliche Quelle hierfür nicht mehr auffindbar ist. Vgl. Shirakawa: Watch Dogs. Die Inspiration Anonymous & Hacker-Experte bei Ubisoft TV. Watchdogs Game Online, 5. Mai 2015. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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frühen 1980er Jahre verwiesen. Die Spielumgebung wurde dabei auf einem Server in Textform zur Verfügung gestellt, die Spieler loggten sich über Telnet in der Umgebung ein und konnten so miteinander spielen. Das dadurch relativ starre Spielkonzept war lange nicht sehr abwechslungsreich, erst mit dem Erscheinen von Diablo (1996) und Baldur’s Gate (1998) wuchs das Interesse an dieser Art des Spielens wieder. Der Spielverlauf richtete sich nach den Entscheidungen des Spielers und am Ende blieb das Gefühl, sich eine eigene Geschichte erspielt zu haben. Bei Baldur’s Gate konnten bis zu sechs Spielcharaktere gleichzeitig eingesetzt werden, außerdem war ein Mehrspielermodus verfügbar. Ein ähnliches Prinzip verfolgte das 1999 auf den Markt gekommene Planescape: Torment. Um solche Spiele nutzen zu können, war anfangs noch nicht zwangsweise ein Internetzugang notwendig. Interessant ist ebenfalls das 2000 erschienene Deus Ex, das bisher vier Fortsetzungen nach sich zog. Es ist neben dem bereits erwähnten Action-Adventure Watch Dogs das einzige Rollenspiel in dieser Aufzählung, das tatsächlich Themen des Cyberpunks aufgreift. Klassenbasierte Rollenspiele wie Guild Wars (2005) verfügten zumeist über ein Fantasysetting als Grundlage. Erst Rollenspiele wie Mass Effect (2007) ersetzten später das bis dahin vorherrschende Setting durch Science-Fiction. 2017 erschien Horizon Zero Dawn, das im Verhältnis zu ähnlichen Spielen über eine herausragend realistisch umgesetzte Grafik verfügt. Rollenspiele wurden zunehmend vielseitiger, und statt schlichter Mehrspielermodi wurde die weltweite Vernetzung immer mehr genutzt – MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role Playing Games) nahmen ab Mitte der 1990er Jahre zu. Ihr Aufbau unterscheidet sich nicht von althergebrachten Singleplayer-Rollenspielen. Im Gegensatz zu den älteren Rollenspielen sind MMORPGs allerdings ausschließlich online als persistente virtuelle Welt bespielbar. Ultima Online (1997) wurde zu einem ersten kommerziellen Erfolg dieser Spielegattung. 1999 läutete EverQuest schließlich das Zeitalter der modernen MMORPGs ein. 3D-Grafik und soziale Interaktionen zwischen den Spielern waren stilbildend, dieses Grundkonzept findet sich bis heute in den meisten Genrevertretern wieder. Die eigentliche Hochphase der MMORPGs war in der ersten Hälfte der 2000er Jahre. Dies dürfte unter anderem auch damit zusammenhängen, dass ein Breitbandinternetanschluss zu dieser Zeit schließlich in nahezu jedem Spielerhaushalt vorhanden war, sodass eine der grundlegendsten Spielvoraussetzungen bereits erfüllt war. Das erste plattformunabhängige Spiel, Final Fantasy XI, wurde 2002 in Japan veröffentlicht. Es verzichtete auf regionale Server und sämtliche Spieler konnten gemeinsame Kampagnen (er)spielen. Diese Spiele – wie beispielsweise auch EverQuest – erhielten nach und nach immer mehr Erweiterungen und boten ein zu dieser Zeit neuartiges Spielerlebnis. Blizzard Entertainment entwickelte neben

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dem Rollenspiel Diablo (1996) schon früh Warcraft, dessen erster Teil bereits 1994 erschien und noch unter der Kategorie der Echtzeitstrategiespiele lief. Nach mehreren Fortsetzungen und Erweiterungen ging 2004 schließlich World of Warcraft in Form eines MMORPGs online und entwickelte sich zum gegenwärtig wohl umfassendsten und auch langlebigsten Massenphänomen innerhalb der Spielerszene. Über die Jahre folgten weitere MMORPGs, darunter 2011 Star Wars – The Old Republic, aber bislang konnte keines der neueren Spiele auf lange Sicht an den Erfolg von World of Warcraft anknüpfen. Die ersten Shooter wurden ab Beginn der 1980er Jahre entwickelt. Wolfenstein von 1981, dessen Ziel es ist, aus der gleichnamigen Burg zu entkommen, gilt als einer der frühesten Vertreter dieses Spieltyps. Mit der für Shooter typischen perspektivisch-immersiven Sicht wurde aber schon früher experimentiert, darunter in Arkaden- und Onlinespielen der 1970er Jahre wie Spasim (1974), Maze War (1974), Night Driver (1976) und Battlezone (1980).105 Einen Meilenstein stellt auch Doom (1993) dar, denn dort ist die Spielumgebung bereits in 3D gestaltet. Zudem entwickelte sich hier die Grundstruktur für die bis heute aktuelle Spielmechanik des Egoshooters. Interessanter ist jedoch, dass bei Doom erstmalig der Quellcode des Spiels von den Entwicklern offengelegt wurde. Spieler hatten dadurch die Möglichkeit, in die Programmierung selbst einzugreifen, indem sie den Code veränderten.106 1998 erschien Half-Life, das Elemente aus Shooter, Rollenspiel und Jump’n’Run verband. Dessen von Spielern entwickelte Modifikation Counter-Strike kam im Jahr 2000 sogar als eigenständiges Spiel auf den Markt. Spielstrukturen und Spielmechaniken begannen sich demnach schon relativ früh zu vermischen. So zeigt sich, dass sich Computerspiele auch für künstlerische Verfremdungen oder Erweiterungen eignen, wodurch immer wieder neue Spielsysteme aufgebaut werden können. Ende der 1980er bis etwa Mitte der 1990er Jahre waren Simulationsspiele am PC beliebt. Prämisse hierbei war, Vorgänge möglichst realistisch nachspielen zu können, was durch die aufkommende dreidimensionale Raumdarstellung vereinfacht wurde. Speziell die bereits erwähnten Flugsimulatoren waren hier Vorbild. Bald vermischten sich Simulationen mit Strategiespielen, wie etwa Die Sims (2000), Black & White (2001) und Spore (2008). Bei diesen findet jedoch keine oder kaum Interaktion mit anderen Spielern statt – stattdessen werden Prozesse simuliert, auf die der Nutzer einwirken kann.

105 Vgl. Freyermuth: Games, S. 92. 106 Vgl. Stephan Schwingeler: Kunstwerk Computerspiel. Digitale Spiele als künstlerisches Material. Eine bildwissenschaftliche und medientheoretische Analyse. Bielefeld: transcript 2014. S. 15.

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Strategiespiele und Simulationen liegen ideell oftmals nahe beieinander, daher sei in diesem Zusammenhang auch StarCraft (1998) erwähnt, das ebenfalls in diese Kategorie fällt. Inhaltlich sind Strategiespiele und Simulationen sehr weitläufig angelegt. Als ein Beispiel der etwas anderen Art ist an dieser Stelle noch Second Life (2003) zu nennen. Hier wird ein zweites, virtuelles Leben nachgespielt, allerdings ohne konkretes Spielziel. Rückblickend ist dieses Spielprinzip eher einer Onlinecommunity zuzurechnen, da sich die Spieler hier mehr oder minder selbst in einer verbesserten Version spielen können. Es wird eine 3D-OnlineInfrastruktur zur Verfügung gestellt, welche die Spieler nutzen können, um eine eigene virtuelle Wirtschaft aufzubauen, reales Geld zu verdienen oder dank des Sandboxprinzips durch Crafting virtuelle Gegenstände mit der eigens zur Verfügung gestellten Skriptsprache zu entwerfen. Während zu Beginn ein regelrechter Hype stattfand, existiert die Plattform zwar heute noch, ist aber zu weiten Teilen entvölkert, vielleicht auch gerade wegen des fehlenden erkennbaren Spielziels. 107 In eine ähnliche Kategorie der Spielmechanik lässt sich auch Minecraft (2009) einordnen. Es ist ebenfalls ein Open World Game mit Crafting-Elementen ohne festes Spielziel. Minecraft ist allerdings anders aufgebaut und bietet in seiner Spielmechanik mehr Möglichkeiten. Das Spielprinzip basiert darauf, aus würfelförmigen Blöcken eine 3D-Struktur zu generieren, die virtuelle Welt zu erkunden, Ressourcen zu sammeln und Monster zu bekämpfen. Interessant sind hierbei die verschiedenen Spielmodi, die einen Überlebensmodus und einen Kreativmodus beinhalten. Bei letzterem sucht sich der Spieler ein eigenes Spielziel, indem er aus den Würfeln etwas baut. Die Möglichkeiten hierzu sind nahezu unendlich. Die Grenzen von Spielmechanik und narrativer Entwicklung sind fließend geworden. Regelsysteme sind zunehmend offener gestaltet – es gibt Spiele, die spielbar sind, ohne dass der gewählte Spielverlauf der Haupthandlung folgen muss. Lineares Erzählen ist dem individuellen Erspielen von Raum gewichen, sogar MMORPGs können theoretisch ausschließlich für die soziale Interaktion genutzt werden. Das Spiel selbst steht zwar nach wie vor im Zentrum des Geschehens, aber im Verlauf sind neue Eigenschaften hinzugekommen, die dem Spieler eine freiere Gestaltung seines Spielerlebnisses ermöglichen. Mit diesen technischen Entwicklungen ist es zunehmend einfacher geworden, auch genreübergreifende Open World Games zu generieren und das Sandboxprinzip, durch das Crafting ermöglicht wird, auszuweiten. Die Spielumgebung erscheint dadurch tatsächlich grenzenlos, die jeweiligen Spielprinzipien sind aber dennoch dem jeweiligen Genre unterworfen.

107 Vgl. zu Second Life das zugehörige Kapitel dieser Arbeit ab S. 307.

Zwischenfazit & Ausblick: Die Entwicklung im 21. Jahrhundert

Nach dem spatial turn in den 1980er Jahren, bei dem der Raum wieder als kulturelle Größe wahrgenommen wurde, ist in den 1990er Jahren vom medial turn die Rede. Ausgelöst vom „medialen Umbruch der Digitalisierung [stieg der] Reflexionsbedarf in nahezu allen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen.“1 Von einer „Zäsur in der Entwicklung der Medien selbst“ spricht Medien- und Kulturwissenschaftler Georg Christoph Tholen in diesem Zusammenhang. 2 Dieser Zäsur liegt die Tatsache zugrunde, „dass mit dem digitalen Computer erstmals ein Medium zur Verfügung [stand], das alle anderen Medien emulieren und ihre Funktionen übernehmen kann.“3 Der Computer war zum Hybridmedium geworden. In den 1990er Jahren hatte er seinen Platz in der Mitte der Gesellschaft gefunden, verstärkt durch die Möglichkeit der privaten Internetnutzung. Die Theorie der Simulation erfuhr ein reales Element und war auf spielerischer Ebene spätestens ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur Experten und kleinen Personengruppen vorbehalten. Jeder Nutzer konnte sich jetzt detaillierter auch in der Praxis eingehend damit auseinandersetzen. Die Betrachtung von Literatur und Film in dieser historischen Herleitung hat gezeigt, dass das Genre des Cyberpunks als Reflexion des Umgangs mit der Simulation nach der Jahrtausendwende nahezu verschwand, wobei sich gegenwärtig

1

Stefan Münker: Einleitung. In: Stefan Münker (Hg.): Philosophie nach dem „Medial Turn“. Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft. Bielefeld: transcript 2009. S. 729, hier S. 13.

2

Georg Christoph Tholen: Medium/Medien. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn: Wilhelm Fink 2005. S. 150-172, hier S. 153.

3

Münker: Einleitung, S. 13.

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wieder eine entgegengesetzte Entwicklung abzeichnet. Computerspiele hingegen sind zu einem Teil des Alltags geworden. Virtuelle Welten als inhaltliches Element sind selten, häufiger sind Darstellungen jener Welten, in welchen das jeweilige Spiel als Handlung abläuft, die Welt selbst aber nicht infrage gestellt wird. Selbstreflexion im Rahmen des eigenen Mediums findet im Moment allerdings kaum statt, zumindest nicht im Mainstream. Denn solche Konzepte konnten sich bislang, wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung noch deutlicher zeigen wird, nur bedingt und vorzugsweise in Nischenregionen halten, häufig ohne inhaltlich auf die eigene Doppelbödigkeit einzugehen. Während sich im realen Leben momentan eine inhaltliche Wende diesbezüglich vollzieht, indem neue 3D-Technologien erarbeitet werden, ist die Simulation als Thema künstlerischer Darstellungen und Beschreibungen zwar nicht gänzlich verschwunden, steht aber aktuell dennoch nicht mehr in demselben Maße im Vordergrund wie bei ihren Bearbeitungen in den 1990er und frühen 2000er Jahren. Stattdessen sind technische Inhalte innerhalb der Popkultur häufig zur Hintergrundfolie anderer Geschichten mit anderen Schwerpunkten geworden. Der literarische Cyberpunk erweist sich in dieser Hinsicht als Gattung, die im Moment oftmals noch in den 1980er Jahren verhaftet ist, sich davon aber gegenwärtig zu lösen scheint. Computerspiele hingegen machen die Simulation als solche selten zum unmittelbaren inhaltlichen Thema und sind eher außerhalb des Cyberpunkgenres erfolgreich. Die Gattung wurde sowohl in Literatur, Film und technischer Umsetzung zu verschiedenen Zeiten aufgegriffen. Tatsächlich unterscheiden sich diese Darstellungen zwar, aber es wird deutlich, dass sie sich in vielerlei Hinsicht in den 1980er und 1990er Jahren einander angeglichen haben – einzig die technische und technologische Weiterentwicklung verlief in der Realität anders. Es zeigt sich aber, dass die Simulation im Zentrum der durch sie geprägten Literatur und Filme nicht wegzudenken ist, während Spiele per se immer simulieren. Dies lässt Spielen eine faszinierende Ambivalenz zukommen, besonders wenn, wie bereits angedeutet, die Simulation als solche auf inhaltlicher Ebene nicht integriert ist. Seit den 2000er Jahren wird ersichtlich, dass die reale technische Entwicklung wie sie in Film und Literatur zuvor noch prognostiziert wurde, nicht in dieser Form eingetreten ist. Gegenwärtige Technologien ermöglichen bislang nicht die Art der virtuellen Realität, die innerhalb des Cyberpunks immer wieder postuliert wurde. Vollständige Immersion liegt immer noch in der Zukunft, „überzeugende Effekte von Realität und Authentizität“ sind auf technischer Ebene momentan noch nicht umfassend möglich, doch die daraus entwickelten Szenarien „werden vom Cyberpunk mit ihren kulturellen, psychologischen und physischen Konsequenzen

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durchdekliniert.“4 Der Rückgang der Cyberpunkliteratur bedeutet also keinesfalls, dass die Gattung obsolet geworden ist. Vielmehr werden die dort behandelten Themen und Ideen in ihrer Aktualität verstärkt in anderen Diskursen aufgegriffen.5 Dies zeigt sich unter anderem auch daran, dass die Simulation als solche und daran gekoppelt virtuelle Welten speziell im Bereich der Computerspiele sogar noch an Bedeutung gewonnen haben. Ebenso sind Entwicklungen zu beobachten, die weder die Medientheoretiker noch die künstlerische Verarbeitung dieser Theorien im Cyberpunk vorausgesehen haben: Das Internet als globale Vernetzungsmaschinerie ist mobil geworden, der Cyberspace allgegenwärtig, und der Nutzer nicht mehr örtlich gebunden. Es besteht heute keine Notwendigkeit mehr, sich in den eigenen vier Wänden aufzuhalten, um online sein zu können. Stattdessen hat nun jeder Nutzer das Netz sprichwörtlich in der Hosentasche, indem Smartphones, Tablets oder beispielsweise auch Notebooks überall auf die Datenströme zugreifen können.6 Mit den Spracherkennungsprogrammen und Assistenzsystemen Siri (Apple), Cortana (Microsoft) und seit 2016 auch Alexa (Amazon) ist die Sprachsteuerung im Alltag angekommen. Das Internet kann durch Spracherkennung genutzt werden, eine schwache künstliche Intelligenz (KI) beantwortet als Sprachassistenzsystem Rechercheanfragen, verwaltet Termine und andere alltägliche Dinge.7 Bei Cortana ist die Verknüpfung zu Computerspielen sogar ganz offen erkennbar: Sie wurde nach der gleichnamigen KI aus der Spielereihe Halo benannt.8 Dass sich nun speziell Amazon am Beispiel von Alexa nach der Entwicklung des E-BookReaders Kindle inzwischen auch mit der Entwicklung neuer Technologien auseinandersetzt, wäre bis vor einigen Jahren kaum vorstellbar gewesen. Gleichzeitig werden medial immer wieder Fehlfunktionen dieser Assistenzsysteme thematisiert wie Alexas Lachen oder das nicht erwünschte Herausfiltern falscher Sprach-

4

Holz: Cyberpunk, S. 284.

5

Vgl. ebd., S. 282.

6

Sofern denn das Netz tatsächlich verfügbar ist, denn es gibt immer noch weiße Stellen auf der digitalen Landkarte, die eine Verbindung erschweren. Vgl. Jan Rähm: Der Kampf der Telekom um das Kupfernetz. Deutschlandfunk Online, 8. Juni 2016. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

7

Schwache KI können einfache logische Aufgaben lösen; selbstreflexives Denken ist ihnen fremd. Eine starke KI hingegen soll das menschliche Denken mechanisieren und verfügt in der Theorie über eine Art Bewusstsein.

8

Vgl. Anick Jesdanun: Apple has Siri, and Microsoft has ‚Halo‘-inspired Cortana. Los Angeles Daily News, 2. April 2014. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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befehle aus privaten Unterhaltungen der Nutzer.9 Auch Facebook hat bereits 2014 die Firma Oculus VR Inc. aufgekauft und entwickelt seither deren 3D-Datenbrille Oculus Rift weiter.10 Konzerne, die zuvor als Website begründet wurden – so war Amazon zu Beginn ein reiner Onlinebuchhandel, Facebook ein soziales Netzwerk – weiten sich derartig aus, dass sie technische Entwicklungen und teilweise sogar aktive Forschung auf diesen Gebieten in den Vordergrund stellen. Für Geräte, die in diesem Prozess entwickelt wurden, werden wiederum Spiele und andere Anwendungsmöglichkeiten gefunden. Das Internet ist somit überall, der menschliche Körper wird verdoppelt in den digitalen Daten- und den realen Fleischkörper. Digital und real wird immer noch getrennt, aber dafür ist der Mensch nicht mehr vom Internet zu trennen, da er seinen Alltag seit Aufkommen dieser Technologie grundlegend verändert hat. 11 Neben Smartphones, die innerhalb von nur knapp zehn Jahren die Internetnutzung grundlegend verändert haben, kommen immer mehr sogenannte Wearables auf den Markt, wie beispielsweise Smartwatches. Durch diese muss das Smartphone nicht einmal mehr unmittelbar in die Hand genommen werden, um seine Funktionen nutzen zu können. Der Mensch vermisst und protokolliert sich selbst digital und geht mit den dabei gewonnenen Daten häufig sorglos um. 12 Mobile Games gibt es inzwischen ebenfalls für Smartphones und die Verkaufszahlen von reinen Desktop-PCs sinken, da sich immer mehr Nutzer auf mobile Endgeräte wie Tablets beschränken. Zudem werden die Nutzeroberflächen von Smartphones und Tablets grafisch auf die Betriebssysteme des Computers als alternative Anwendungsmöglichkeit übertragen.13 Gleichzeitig entwickeln sich neue 3D-Techno-

9

Vgl. Marvin Strathmann: „Alexa, spionierst du mich aus?“ Süddeutsche Online, 28. Januar 2018. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

10 Vgl. Markus Böhm, Christian Stöcker: Facebook kauft Oculus VR. Die Zwei-Milliarden-Dollar-Wette. Spiegel Online, 26. März 2014. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 11 Darauf wird an anderer Stelle dieser Untersuchung detaillierter eingegangen. Vgl. Sybille Krämer: Medien als Kulturtechnik oder: Ist der Umgang mit dem Computer eine vierte Kulturtechnik? In: Günther Kruck, Veronika Schlör (Hg.): Medienphilosophie, Medienethik. Zwei Tagungen – eine Dokumentation. Frankfurt am Main: Peter Lang 2003. S. 47-62, hier S. 55. 12 Vgl. Barbara Schmickler: Das vermessene Ich. Tagesschau Online, 4. Oktober 2015. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 13 Die Nutzeroberfläche von Windows 10, die 2015 von Microsoft veröffentlicht wurde, basiert grafisch auf sogenannten Apps. Zudem gibt es Windows 10 ebenfalls seit 2015 auch als Betriebssystem für Smartphones, das nun wieder aufgegeben werden soll.

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logien. Während Kinofilme in den 1990er Jahren technisch bis auf wenige Ausnahmen nur in zweidimensionaler Optik verfügbar waren, sind heute die meisten Kinos mit 3D-Technik ausgestattet, die eine neue Bildtiefe und damit verbunden eine neue Art der Darstellung erlaubt und so neue Erzählperspektiven ermöglicht.14 3D-Technologien verändern wie zuvor schon das Internet im Zusammenhang mit dem medial turn zunehmend den Alltag und steuern damit einen neuen inhaltlichen Wendepunkt innerhalb deren Wahrnehmung an. Inzwischen sind diverse Datenbrillen und Head-Mounted-Displays auf dem Markt erhältlich, welche neben neuen Computerspielerfahrungen auch auf die Nutzung für den Hausgebrauch zugeschnitten sind. Die Datenbrille Microsoft Lens ist hierbei speziell auf Augmented Reality ausgerichtet. Sie stellt 3D-Objekte virtuell im realen Raum dar und erlaubt, dass diese von Nutzern an verschiedenen Orten gleichzeitig betrachtet und bearbeitet werden können. Ähnliches gilt für die HTC Vive, die primär auf VR-Anwendungen ausgerichtet ist. Neben diesen Modellen sowie Oculus Rift tauchen momentan immer mehr Datenbrillen auf, die sich auch für Endkunden in einem bezahlbaren Rahmen befinden. Immersion und Teilhabe an den virtuellen Umgebungen spielen also zunehmend eine Rolle. Diese wird neben weiteren Aspekten im Zusammenhang mit der Analyse zweier Fallstudien im Bereich Computerspiele dieser Untersuchung genauer betrachtet werden.

Vgl. Christof Kerkmann: Microsoft beerdigt Windows 10 für Smartphones. Handelsblatt Online, 9. Oktober 2017. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 14 Nicht unerwähnt darf hier bleiben, dass mit 3D-Technologie schon früher experimentiert wurde, aber erst in jüngerer Zeit erfolgreich. Mit James Camerons Avatar – Aufbruch nach Pandora (USA 2009), der direkt in 3D gedreht wurde, kam auch die zugehörige Technik wieder im Kino an. Inzwischen wird ein Großteil der Filme im Kino in 3D gezeigt. Vgl. Studie der Filmförderungsanstalt: Kinobesucher von 3D-Filmen 2015. Strukturen und Entwicklungen auf Basis des GfK-Panels. Filmförderungsanstalt Online. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

Begriffstheoretische Bestimmung und medientheoretische Betrachtung

Die Simulation steht im Betrachtungszeitraum dieser Untersuchung im Zentrum einer Entwicklung, die sich sowohl auf literarischer wie filmischer Ebene manifestiert und die Technikfantasien lebt, die dank der realen Technologieentwicklung künftig möglich zu sein scheinen. Das hier beschriebene Phänomen zeigte im historischen Abriss, dass diese Entwicklung auf mehreren Ebenen vonstattengeht, diese aber inhaltlich nicht zu trennen sind. Bis hierhin hat sich bereits gezeigt, dass sich die Thematik immer wieder selbst reflektiert. In den literarischen Bearbeitungen sind starke theoretische Bezüge erkennbar, die darauf hinweisen, dass sich die jeweiligen Autoren differenziert mit den von ihnen entwickelten Welten voller Virtualität auseinandergesetzt haben. Oft verweisen sie dabei direkt wie indirekt auf verschiedene medientheoretische Entwürfe. Hierzu sollen in diesem Abschnitt Konzepte von Jean Baudrillard und Paul Virilio vorgestellt werden. Der Gedanke, Simulation und Dekonstruktion zusammenzuführen, scheint nach der Lektüre von Roland Barthes’ Essay Die strukturalistische Tätigkeit (1964) naheliegend, weshalb eine kurze Darstellung der Dekonstruktion mit der Antwort auf die Frage anschließt, inwiefern diese auf struktureller Ebene mit der Wahrnehmung des Phänomens der Simulation verbunden ist. Ebenso soll Jacques Derridas Werk, das sich intensiv mit Barthes’ Theorien auseinandersetzt, erläutert werden. Auch bei Barthes spielt der Begriff des Simulakrums als theoretische Grundlage der Simulation eine zentrale Rolle, um den sich im Laufe der Zeit verschiedene thematische Konzepte entwickelt haben. Da sich ihre Bedeutungen immer wieder verschoben und verändert haben, ist zuerst eine Begriffsbestimmung notwendig. Mit der Entwicklung neuer Medien und Technologien beginnt auch das Nachdenken über die Simulation in diesem für sie neu zu ergründenden Feld. Diese Kontextualisierung geht auch an literarischen und filmischen Bearbeitungen nicht spurlos vorüber und erfährt dort eine künstlerische Überarbeitung und Überformung, die immer wieder die Wahrnehmung der Welt infrage stellt. Daher soll

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hier zuerst das Simulakrum und im Zuge dessen die Simulation genauer dargestellt und definiert werden. Selbiges gilt in diesem Zusammenhang auch für den Begriff der Virtualität, die dem Realen beziehungsweise dem Wirklichen gegenübergestellt wird. Die Beschreibung der Simulation reicht weit zurück und ihre Bedeutung ist selbst in der heutigen Zeit nicht eindeutig zu verorten. Aufgrund von stetigen inhaltlichen Verschiebungen muss der Begriff immer auch im Kontext gegenwärtiger Perspektiven betrachtet werden. So existiert auch in den Medientheorien nicht die eine zentrale Theorie, die alles beschreibt, stattdessen gibt es unterschiedliche Strömungen mit verschiedenen Blickweisen auf den Untersuchungsgegenstand beziehungsweise vielmehr die Untersuchungsgegenstände. In der „Rede von ‚den Medien‘ sind offenbar nahezu unlösbare Probleme inhärent, weil sich das Wesen ihrer ‚Medialität‘ nicht einfach definieren lässt.“1 Medien und in diesem Zusammenhang auch die Simulation sind folglich als Forschungsgegenstand nur interdisziplinär zu erfassen, weshalb in dieser Arbeit der Blickwinkel verstärkt auf den Bereich der Kommunikations- und Informationswissenschaften wie auch der künstlerischen Darstellung gerichtet wird. Eine etwas andere Betrachtungsweise ist bei dem Medienphilosophen Vilém Flusser zu beobachten, die allerdings im Rahmen dieser Untersuchung aufgrund ihrer deutlich anderen Annäherung an Simulation nicht vertiefend behandelt wird, aber dennoch eine Erwähnung finden soll. Für Flusser geht es nicht um die Integration, sondern um „eine Identität von Wissenschaft [Theorie], Kunst und Technologie.“2 In seinem Essay Digitaler Schein (1991) schreibt er davon, dass alternative Welten entweder „ebenso real sind wie die gegebene oder die gegebene ist ebenso gespenstisch wie die alternativen.“3 Alternative Welten sind laut Flusser künstlich Hergestelltes, das heißt Fakten im Gegensatz zu Daten, die keine Gegebenheiten sind. Diesen Welten wird ein Misstrauen entgegengebracht, weil „wir allem Künstlichen, aller Kunst mißtrauen [sic!][:] ‚Kunst‘ ist schön, aber Lüge,

1

Daniela Kloock, Angela Spahr: Einleitung zur vierten Auflage. In: Daniela Kloock, Angela Spahr: Medientheorien. Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink 2012. S. 7-13, hier S. 11.

2

Florian Rötzer: Mediales und Digitales: Zerstreute Bemerkungen und Hinweise eines irritierten informationsverarbeitenden Systems. In: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 980, hier S. 16.

3

Vilém Flusser: Digitaler Schein. In: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 147-159, hier S. 147.

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was ja mit dem Begriff ‚Schein‘ gemeint ist.“ 4 Der digitale Schein wie auch die alternativen Welten lösen seiner Ansicht nach in Kombination eine Beunruhigung aus, denn die Welt „ist zwar unvorstellbar und unbeschreiblich“, bleibt dafür aber kalkulierbar, und das „Ergebnis dieser Entdeckung stellt sich erst gegenwärtig, bei den alternativen Welten, heraus.“5 Flusser betrachtet die Kombination aus Theorie, Technik und künstlerischer Darstellung auf ähnliche Art und Weise, wie dies in dieser Untersuchung gezeigt wird, und legt auf andere Gesichtspunkte wert. Theorie ist bei ihm nicht passives Betrachten von Idealen, sondern progressives Ausarbeiten von Modellen, die sich wiederum der Praxis und somit der Realität aussetzen müssen.6 Als Folgerung lässt sich festhalten, dass durch diese Vorgehensweise „moderne Wissenschaft und Technik, die Industrierevolution und letztlich der digitale Schein ins Leben gerufen“ worden sind, was eine weitaus weniger pessimistische Blickrichtung zulässt, als dies bei Baudrillard und Virilio der Fall ist.7 Denken in Bildern wie auch magisches Denken sind für Flusser das Gegenstück zu den Zeichen, die Baudrillard definiert, da das Bilderdenken zwar das Denken in Zeichen ist, diese Zeichen sich aber nicht primär auf Schrift im linguistischen Sinn beziehen. Stattdessen wird die Welt anders wahrgenommen, von Buchstaben in Zahlen umcodiert, was die Frage in den Raum stellt, ob „es etwas gibt, das nicht trügt[, denn d]ie denkende Sache – res cogitans – hat arithmetisch zu sein, um die Welt zu erkennen.“8 Genau an diesem Punkt setzt die Technik an, die am Anfang nichts anderes als angewandte Wissenschaft gewesen zu sein scheint, doch das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Technik verändert sich. Flusser beschreibt dies so: „[U]nser Erkenntnisproblem und damit auch unser existentielles ist, ob nicht überhaupt alles, einschließlich uns selbst, als digitaler Schein verstanden werden müsste.“9 Mit diesen Überlegungen ist es Flusser möglich, den Begriff des Realen für sich festzulegen, der neben einer neuen Ontologie auch eine neue Anthropologie oktroyiert. Es ist nicht mehr ausreichend, „wenn wir einsehen, daß [sic!] unser ‚Selbst‘ ein Knotenpunkt einander kreuzender Virtualitäten ist, […] wir müssen danach auch handeln[, denn die] aus den Computern auftauchenden alternativen Welten sind eine Umsetzung des Eingesehenen in die Tat.“10

4

Ebd., S. 148.

5

Ebd., S. 148.

6

Vgl. ebd., S. 149.

7

Ebd., S. 149.

8

Ebd., S. 150.

9

Ebd., S. 155.

10 Ebd., S. 156.

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Mit Aufkommen der Computer, die wiederum „Apparate zum Verwirklichen von innermenschlichen, zwischenmenschlichen und außermenschlichen Möglichkeiten“ sind, steht für Flusser ebenso fest, dass wir »keine Subjekte mehr sein [können], weil es keine Objekte mehr gibt, deren Subjekte wir sein könnten, und keinen harten Kern, der Subjekt irgendeines Objekts sein könnte[, was sich wiederum] am deutlichsten [daran] zeigt, daß [sic!] wir keinen Unterschied mehr zwischen Wahrheit und Schein oder Wissenschaft und Schein machen können.«11

Flusser bezeichnet „die Wissenschaft als eine Art Kunst.“12 Sie muss anerkannt werden, „dann hat man sie damit nicht entwürdigt, denn sie ist dadurch ganz im Gegenteil zu einem Paradigma für alle übrigen Künste geworden[ und es w]ird deutlich, daß [sic!] alle Kunstformen wirklich werden, also Wirklichkeiten herstellen, wenn sie ihre Empirie abstreifen und die in der Wissenschaft erreichte theoretische Exaktheit erreichen.“13 Hier kommt eine Verschmelzung in Gang, die selbst der digitale Schein ist: „Alle Kunstformen werden durch die Digitalisation zu exakten wissenschaftlichen Disziplinen und können von der Wissenschaft nicht mehr unterschieden werden.“14 Während die Simulation den tatsächlichen Gegenstand dieser Untersuchung darstellt, ist das Simulakrum die in der Medientheorie verortete theoretische Betrachtung desselben. Auf die gleiche Weise kann zwischen Wirklichkeit und Realität unterschieden werden. In der einen Welt leben wir, die andere ist jene, die wir wahrnehmen. Generell setzt sich diese Untersuchung aber auch mit der Frage auseinander, wie Realität und Wirklichkeit in einer Welt voller künstlicher Scheinwelten noch wahrgenommen werden können und inwiefern sich dies mit der bereits beschriebenen Trias aus künstlerischer Darstellung und der zugehörigen Ästhetik, Medientheorie und der technischen Umsetzung dieser Gedankenkonstrukte analysieren lässt. Schon hier zeigt sich, dass Simulation – oder vielmehr Simulakrum – nicht gleich Simulakrum ist. Um dem eigentlichen Forschungsgegenstand gerecht werden zu können, müssen hier genutzte Begrifflichkeiten dargestellt, historisch eingeordnet und im Kontext der vorliegenden Untersuchung definiert werden. Hierbei zeigt sich, dass sich Simulation und Virtualität begriffsgeschichtlich teilweise ähnlich entwickelt haben und sich inhaltlich überschneiden. Innerhalb der Simulation findet in bestimmten Fällen die Virtualität

11 Ebd., S. 157. 12 Ebd., S. 158. 13 Ebd., S. 158. 14 Ebd., S. 158.

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statt, die Simulation ist aber nicht zwangsweise notwendig für Virtualität. Sie bedingen sich in diesem Zusammenhang nicht zwingend gegenseitig, werden aber in ähnlichen Kontexten verwendet, weshalb auch in dieser Arbeit beide Begriffe betrachtet werden sollen. Im weiteren Verlauf wird sich schließlich zeigen, dass Baudrillard bevorzugt von der Simulation in Form des Simulakrums spricht, während sich Virilio dem Phänomen über die Virtualität annähert. Simulation und Simulakrum Es begann mit kleinen Rissen, Unstimmigkeiten, einem mikroskopischen Abstand zwischen der Welt, von der man redete, und der Welt, die tatsächlich da war. Lars Gustafsson15

Der Terminus des Simulakrums ist schillernd und vielfarbig und ebenso schwer zu fassen. Wörtlich übersetzt ist er mit Bild, Abbild und Nachbildung, aber auch mit dem Trugbild gleichzusetzen.16 Definiert wird ein Simulakrum (Plural: Simulakra) als ein wirkliches oder fiktives Gebilde, das mit etwas oder jemandem verwandt ist beziehungsweise eine Ähnlichkeit mit ihm besitzt. Die Bedeutung des Simulakrums ist durch eine bedeutungsimmanente Dichotomie geprägt, die sowohl die Idee des trügerischen Vortäuschens als auch die der produktiven Fantasie als „Bestandteil des kreativen Denkens“ und schöpferisches Element beinhaltet.17 Diese Dichotomie ist insofern wichtig, als dass schon hier offenbar wird, wie vielseitig das Simulakrum und damit einhergehend die Simulation in ihrer Bedeutung ist. Diese Ambivalenz zeichnet sie bis heute aus, doch dahinter verbirgt sich weit mehr. In der antiken Philosophie unterschied bereits Platon zwischen der Theorie der Kunst und jener der Mimesis: das Ebenbild (eikon), das eine genaue Entsprechung des Urbilds darstellt, und das Trugbild (phantasma), das nur Ähnlichkeiten auf-

15 Falko Blask: Baudrillard zur Einführung. Hamburg: Junius 2013. S. 35. 16 Vgl. Bernd Stiegler: Simulakrum. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn: Wilhelm Fink 2005. S. 222-228, hier S. 222. 17 Vgl. Hans Dieter Huber: Phantasie als Schnittstelle zwischen Bild und Sprache. In: Michael Ganß, Peter Sinapius, Peer de Smith (Hg.): Ich seh dich so gern sprechen. Sprache im Bezugsfeld von Praxis und Dokumentation künstlerischer Therapien. Frankfurt am Main: Peter Lang 2008. S. 61-70, hier S. 65.

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weist.18 Nach der Ideenlehre ist folglich alles in dieser Welt virtuell.19 Seit Platon geht die Rezeptionsgeschichte des Simulakrums von der Mimesis aus und hat dabei insbesondere im Feld der ästhetischen Theorie einen großen Einfluss bis in das 20. Jahrhundert.20 Außer den Theorien der Wahrnehmung haben vor allem Gilles Deleuze und Jean Baudrillard seit Beginn der 1980er Jahre mit ihrer Verschiebung des Begriffs auf grundlegender und theoretischer Art zu eine Neuzusammenstellung verschiedener theoretischer Grundannahmen in verschiedenen Feldern geführt. Das fand vornehmlich in der Kunst-, Geschichts- und Subjektivitätstheorie sowie der Debatte um künstliche Intelligenz einen fruchtbaren Boden.21 Aber auch die Theorie der Posthistoire wurde von Baudrillard beeinflusst; in Sherry Turkles Leben im Netz (1995) hat sie ihre prägnanteste Aufnahme gefunden. Die Soziologin untersucht Wechselbeziehungen zwischen Computer und Internet auf der einen Seite und der Subjektivität auf der anderen Seite und verbindet dies gleichzeitig mit einer poststrukturalistischen Theorie.22 So lange etwas in einer Kultur der Simulation funktioniert, ist es laut Turkles Argumentation auch real. 23 Sie setzt dabei das Internet mit dem fragmentierten Subjekt gleich, für das „die Unterscheidung zwischen Realität und Simulation hinfällig geworden“ sei.24

18 Vgl. Stiegler: Simulakrum, S. 222. 19 Das Abbild ist hierbei als Wiedererinnerung an das Urbild zu sehen, was Platon im Wachsblockgleichnis im Dialog Theätet genauer darlegt. Dort wird aufgeteilt zwischen zwei Sichtweisen auf die Welt: Zum einen den „gespeicherten Abdruck [einer Erinnerung] im Wachsblock, zum anderen die aktuelle Wahrnehmung“, wobei es durchaus möglich ist, Dinge beider Blickwinkel auch fälschlich miteinander zu identifizieren. Alle Erfahrung prägt sich im Wachsblock ein, jedoch nicht jede Erfahrung in gleichem Maße. Der Grundsatz des Modells basiert jedoch auf der Gegenüberstellung von Kennen und Nicht-Kennen. Es folgt hieraus, dass in Platons Welt alles virtuell angelegt ist. Vgl. Platon: Theätet. Griechisch/Deutsch. Kommentar von Alexander Becker. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. S. 329f. Vgl. ebenso Jörg Hardy: Platons Theorie des Wissens im “Theaitet”. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2001. S. 176f. Vgl. ebenfalls Platons Höhlengleichnis, aufgearbeitet in Farsin Banki: Der Weg ins Denken. Platon, Martin Heidegger, Theodor Ballauff. Stuttgart: Peter Haupt 1986. S. 11f. 20 Vgl. Stiegler: Simulakrum, S. 225. 21 Vgl. ebd., S. 225. 22 Vgl. Sherry Turkle: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internets. Reinbek: Rowohlt 1998. 23 Vgl. ebd., S. 34. 24 Stiegler: Simulakrum, S. 225.

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In der Wahrnehmungstheorie der Physiologie gibt es, so Bernd Stiegler, die erste Umdeutung des Begriffs der Simulation im 19. Jahrhundert: Das Simulakrum wird dort mit der Theorie der Halluzination und Vorstellungskraft in Verbindung gebracht.25 Dabei ist die menschliche Wahrnehmung grundsätzlich immer eine hallucination vraie, eine wahre Halluzination, „die sich nicht kategorial von einer Halluzination ohne Bezug auf einen gegebenen Wahrnehmungsgegenstand unterscheidet, da es sich in beiden Zuständen um neuronale Phänomene handelt, die das Subjekt und das Objekt der Wahrnehmung erst hervorbringen.“ 26 Schon in engem Zusammenhang mit medientechnischen Entwicklungen steht in der damaligen Zeit die physiologische Wahrnehmungstheorie von Wissenschaftstheoretiker Ernst Mach und den Physiologen Hermann von Helmholtz und Johannes Müller.27 Eine semantische Neubestimmung gibt es unter anderem in Baudrillards Betrachtung Der symbolische Tausch und der Tod (1976).28 Das Simulakrum erscheint hier als zentraler Begriff in der Deutung der Gegenwart, die sich dadurch auszeichnet, dass nicht mehr in Kategorien wie Original und Kopie gedacht wird, sondern ihr Platz durch das Simulakrum eingenommen wird. Das Ergebnis von Gilles Deleuzes Lektüre platonischer Texte führt zur Erkenntnis, dass „[d]ie moderne Welt [...] die der Trugbilder [ist].“29 Wirklichkeit ist demnach immer ein Konstrukt, das auf konventionalisierter Wahrnehmung fußt. In der Philosophie hingegen ist der Begriff des Simulakrums bis weit in das 19. Jahrhundert als Gegenmodell zur Mimesis geprägt. Mit der Geschichte der Fotografie lässt sich auch die Geschichte des Simulakrums leicht aufzeigen: Bereits in der frühen Fotografietheorie werden technische Bilder als Simulakra bezeichnet, „die einer Nachahmung durch die Kunst gegenübergestellt werden.“ 30 Die Fotografie erfasst allerdings nur die Oberfläche eines Gegenstandes, nicht dessen Tiefe oder Leben. Auch über die Daguerreotypie wurde gesagt, sie sei „keine Nachahmung mehr, sondern die absolute und vollkommene Wahrheit“, bei der die Fotografie den Gegenstand ersetze und nicht nur dessen Abbild sei. 31 Der Betrachter einer Fotografie erwartet, dass das Foto die Realität abbildet. Auch

25 Vgl. ebd., S. 222. 26 Ebd., S. 222. 27 Vgl. hierzu weiterführend Bernd Stiegler: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink 2001. 28 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes & Seitz 2011. 29 Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung. München: Wilhelm Fink 1992. S. 11. 30 Stiegler: Simulakrum, S. 223. 31 Stiegler: Philologie des Auges, S. 37.

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Roland Barthes verarbeitet diese Theorie unter anderem in seinem Essay Die helle Kammer (1980), wo er sich intensiv mit dem Charakter der Abbildung sowie dessen theoretischen Implikationen auseinandersetzt. Fotografien haben einen starken Referenzcharakter zum Dokumentarischen, doch in der Fotografie wurde schon früh manipuliert, beispielsweise mit gemalten Hintergründen. Mithilfe von Illusionstechniken wurden bereits hier virtuelle Räume erschaffen, die real erschienen. Dennoch ist zwischen Simulakrum und Mimesis deutlich zu unterscheiden: »Durch die diversen Texte der Photographietheorie [sic!] des 19. Jahrhunderts zieht sich die Antinomie zwischen Mimesis und Simulakrum und bestimmt zugleich die Unterscheidung zwischen einer künstlerischen, der Mimesis verpflichteten Verwendung, für die die Photographie [sic!] eben nicht oder allenfalls im Sinne von Vorstudien und Skizzen in Frage [i. O.] komme, und einer wissenschaftlich-technischen Anwendung, bei der die Photographie [sic!] gerade ihre besonderen Qualitäten ausspielen könne und der menschlichen Wahrnehmung immer neue Bereiche erschließe.«32

Diese Zweigeteiltheit ist für die Fotografietheorie bis ins 20. Jahrhundert aktuell. In der Avantgarde zeigen Fotografien schließlich das „Optisch-Wahre.“33 Der Fotograf Laszlo Moholy-Nagy ist der Ansicht, dass genau dies die „objektive Sehform unserer Zeit“ sei.34 Mit dem Aufkommen der digitalen Fotografie verschob sich die Bedeutung erneut und näherte sich damit tatsächlich der Terminologie von Deleuze und Baudrillard an, laut derer Kopie und Original als Kategorie veraltet sind: „Die Photographie [sic!] bezieht sich nicht länger auf ein Urbild oder eine Wirklichkeit, die sie abzubilden hätte, sondern erzeugt eine Wirklichkeit als Simulakrum.“35 Dabei bezieht sich das Simulakrum nur auf das Medium, das es erzeugt hat, denn „Photographien [sic!] sind Simulakren [i. O.] im emphatischen Wortsinn“ und dadurch weder Wirklichkeit noch Mimesis verpflichtet.36 Tatsächlich sind sie „eine Wahrheit [...], die ihr Korrelat in Computerprogrammen hat, gleichwohl aber Bilder hervorbringt, die von traditionellen, dem Mimesisparadigma verpflichteten Bildern nicht zu unterscheiden sind.“ 37 Interessant ist hierbei, dass das Simulakrum nicht mehr nur als Imitation oder Nachahmung gesehen

32 Stiegler: Simulakrum, S. 223. 33 Ebd., S. 224. 34 Ebd., S. 224. 35 Ebd., S. 224 36 Ebd., S. 224. 37 Ebd., S. 224.

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werden kann, sondern seine eigene Wirklichkeit produziert und dies „mit einer Reihe von gesellschaftlichen, politischen, technischen, sozialen und theoretischen Implikationen“ koppelt.38 Als Konsequenz lässt sich daraus ableiten, dass die Wirklichkeit beziehungsweise Teile der Wahrnehmung der Wirklichkeit kulturelle Konstrukte sind.39 Baudrillard unterteilt Simulakra dabei in drei Ordnungen, die er historisch verortet.40 Am interessantesten ist hier die dritte Phase, in der das Simulakrum weder Imitation noch Nachahmung ist, und damit quasi eine Kopie ohne Original.41 Später ergänzt er eine vierte Ordnung, die auf keinerlei Referenz mehr verweist. In Bezug auf dieses Ordnungssystem stellt sich die Frage, ob Simulakra nach Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin überhaupt über eine Aura verfügen können, denn laut Benjamin verfügen Kopien von Kunstwerken beispielsweise nicht mehr über die Aura des einzigartigen Originals, das nur an einem bestimmten Ort betrachtet werden kann. Doch Simulakra können, wenn sie über kein Original verfügen, kaum eine Kopie der Art darstellen, wie sie von Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) beschrieben wird.42 In der Medientheorie existiert schon seit Claude Elwood Shannon, dem Begründer der Informationstheorie, eine anwendungsorientierte Theorie der Simulation, die sich im Speziellen die Computertechnik zu eigen gemacht hat, „um in der naturwissenschaftlichen, aber auch u. a. [i. O.] der demographischen, militärischen, psychologischen und technologischen Forschung Modelle zu entwickeln, die in der Lage sein sollen, Daten bereitzustellen, die Vorhersagen und Analysen

38 Ebd., S. 224. 39 Inwiefern Wirklichkeit ein kulturelles Konstrukt ist und welche Konsequenz dies für die Wirklichkeitswahrnehmung hat, zeigt sich in David Cronenbergs Film eXistenZ (USA 1999): Die Protagonisten verlieren nach und nach immer mehr den Zugang zur Realität, was ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit nachhaltig stört. Vgl. ebenso ab S. 237 dieser Arbeit. 40 Vgl. Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 10. 41 Zur Ordnung der Simulakra vgl. S. 102f dieser Arbeit. 42 Gerade Walter Benjamin legt mit seinem Essay nahe, dass Kunstwerke in gewisser Weise virtuell werden, indem sie mit einer Aura aufgeladen werden, wodurch sich die Theorie der Simulakra mit der der Virtualität verbindet. Vgl. dazu Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band. I/2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 471-508.

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ermöglichen.“43 Dabei soll die Wirklichkeit simuliert werden, notwendigerweise aber idealisierend, vereinfachend und selektiv. Um diese Modelle jedoch auswerten zu können, muss meist zusätzlich noch auf andere Daten zurückgegriffen werden können. Medien konstruieren unsere Wahrnehmung und reproduzieren sie zugleich. Damit haben sie direkten Einfluss auf unsere Wirklichkeit. Sie sind dabei als selbstorganisiertes System zu betrachten, bei dem Kommunikationsmöglichkeiten „durch neue Medientechniken exponentiell erweitert und immer stärker vom menschlichen Körper und Nahkontakten abgelöst“ werden.44 Medienwissenschaftler Rainer Leschke zufolge organisieren Medien ebenso die Selbstbeobachtung von Gesellschaften, was sich mit systemtheoretischen Überlegungen verknüpfen lässt, bei welchen „über weite Strecken [...] der Konstruktivismus eben auch auf der Systemtheorie“ fußt.45 Das bedeutet, dass Differenzen primär in der erkenntnistheoretischen Natur zu verorten sind. Leschke verwundert das nicht, denn der Konstruktivismus ist laut dem Kommunikationswissenschaftler Siegfried Schmidt als eine erkenntnis- und kognitionstheoretische Denkrichtung eingeführt.46 Dieses Interesse des Konstruktivismus „richtet sich dabei unter dem Aspekt der Wirklichkeitskonstruktion insbesondere auf das Verhältnis von Medien und Kognition bzw. Kommunikation, die Systemtheorie beschreibt demgegenüber eher die Funktion eines Mediensystems und seiner Programmbereiche.“ 47 In Bezug auf künstliche Intelligenzen gibt es eine Debatte, die sich mit den realen Anwendungsbereichen beschäftigt und zudem Konsequenzen daraus formuliert. Was wäre, wenn eine Maschine tatsächlich ein eigenes Bewusstsein entwickelt? Roboterforscher Hans Moravec fragt in Mind Children (1988) nach den daraus resultierenden Konsequenzen für den (menschlichen) Geist. 48 Viele Theorien behandeln hier konstruktivistische, antinaturalistische oder antirealistische Hypothesen, die „den Geist von einer Darstellung oder Repräsentation einer externen Wirklichkeit abkoppeln.“49 Medientheoretiker Friedrich Kittler vertritt je-

43 Stiegler: Simulakrum, S. 225. 44 Siegfried Schmid: Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist: Velbrück 2000. S. 26. 45 Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie. Paderborn: Wilhelm Fink 2003. S. 224. 46 Vgl. ebd., S. 224 sowie Schmidt: Kalte Faszination, S. 14. 47 Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 224. 48 Vgl. Hans Moravec: Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Hamburg: Hoffman und Campe 1990. 49 Stiegler: Simulakrum, S. 226.

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doch einen anderen Standpunkt: Er spricht sich in Fiktion und Simulation (1990) für einen Siegeszug der Simulation aus. Die Ursache sieht er dabei im Computer, der dazu fähig ist, „maschinell zu affirmieren, was nicht ist, [um daraus] Sachen zu generieren, die es schlechthin nicht gegeben hat.“50 Das Ergebnis ist das Hardwareparadigma der Medientheorie.51 In dieser Analyse soll es jedoch nicht um Hardware gehen, denn Computer stellen in diesem Zusammenhang eher das Mittel zum Zweck dar. Selbst in der Verabschiedung der Gutenberg-Galaxis wird der Computer als neues Leitmedium betrachtet, und zwar insofern, „dass mit der Durchsetzung des Computers als Medium sich das Medien- und letztlich eben auch das Sozialsystem konstituiv verwandelt haben.“52 Zu diesem Schluss kommen neben Kittler auch Vilém Flusser und Paul Virilio, und durch den Aufbau seines Simulationsbegriffes auch Jean Baudrillard. Gemein ist ihnen abgesehen von Kittler, dass sie die Mediengeschichte in verschiedene Abschnitte gegliedert und dadurch das System überblicksweise im Griff haben. Dennoch bleibt „die Reflexion des Computers als Medium [...] angesichts der größeren Aufgaben ziemlich vage, so dass von einer Theorie dieses neuen Mediums überhaupt allenfalls bedingt die Rede sein kann.“53 Marshall McLuhan hingegen stellt die These auf, dass Medien selbst die Botschaft bilden. Damit wird ein „Übergang des Erkenntnisinteresses auf die Form von Medien [evoziert, der] erst das Terrain für eine eigene Medienwissenschaft geschaffen“ hat. Inhalte sind dabei „stets motiviert und verweisen [...] in der Regel auf ein anderes als das Medium selbst.“54 Medien

50 Friedrich Kittler: Fiktion und Simulation. In: Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Berlin: Reclam 1990. S. 196213, hier S. 201. 51 Hardware bezeichnet physische, Software nichtphysische Bestandteile wie Programme und Dateien eines Computers. Für Kittler zeichnet sich darin eine strukturelle Dominanz der Hardware gegenüber der Software ab, weshalb seiner Ansicht nach im Zentrum der medientechnischen Untersuchungen die Hardware sowie Speichersysteme stehen sollen. Vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900. München: Wilhelm Fink 2003. Vgl. ebenso Friedrich Kittler: „Es gibt keine Software“. In: Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis. Leipzig: Reclam 1993. S. 225-242. Vgl. ebenso Bernd Stiegler: Hardware/Software. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn: Wilhelm Fink 2005. S. 82-85. 52 Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 146. 53 Ebd., S. 146. 54 Ebd., S. 245.

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werden als „Ausweitung unserer eigenen Person“ betrachtet. 55 Das reine Medium ist damit gemeint und erlaubt so erst die Erkenntnis eines ganzen Mediensystems, „während alle anderen Medien in eine Art alternierender Form-Inhalt-Funktion integriert sind.“56 Gleichzeitig ist diese Theorie eher trivial, denn ein Medium als Ausweitung des menschlichen Körpers kann prinzipiell fast alles sein. Die Simulation als solche benötigt hingegen für ihre Darstellung immer ein Medium. Bereits hier wird klar, dass sich der Begriff des Simulakrums beziehungsweise der Simulation in seiner Gänze weder einer klaren Systematik noch einer Methodik zuzuordnen lässt, sondern für jede Anordnung entsprechend definiert werden muss. Die Simulation wie auch das Simulakrum wurde in vielen, teilweise auch gegensätzlichen Denkschulen und -strömungen beansprucht, was die Begriffsgeschichte sehr vielschichtig, aber auch schwer fassbar macht. Dies zeigt sich insbesondere in den disparaten Theorietexten, die dekonstruktivistisch vorgehen oder gar eine eigene Systematik herausbilden. Virtualität und das Reale Die Realität ist unwahrscheinlich, und das ist das Problem. Elena Esposito57

Virtualität leitet sich ab vom mittellateinischen virtualis beziehungsweise virtualitas und wurde in der Scholastik mit „dem Vermögen oder der Möglichkeit nach vorhanden“ gleichgesetzt.58 Oftmals wird das Virtuelle dabei mit Termini „wie Schein oder Simulation assoziiert und hierbei dann dem Realen explizit kontrastiert.“59 Die Virtualität bedeutet aber nicht das Gegenteil von Realität, wie häufig angenommen wird; vielmehr ist die Virtualität als Gegenstück der Aktualität zu sehen: Virtuelle Welten sind Welten, die möglich sind, aber nicht aktuell. Gleich-

55 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf: Econ 1992, zitiert nach Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 246. Vgl. ebenso Turkle: Leben im Netz, ähnliche Schlussfolgerung in ihrem Kapitel Identität im Zeitalter des Internet, S. 7-40. 56 Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 246. 57 Elena Esposito: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. S. 50. 58 Stefan Münker: Virtualität. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn: Wilhelm Fink 2005. S. 244-250, hier S. 244. 59 Ebd., S. 244.

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zeitig wird das Adjektiv „virtuell“ synonym zu „implizit“ verwendet.60 Symbole eröffnen dabei Wege in imaginäre Welten, die dazu neigen, virtuell zu werden, indem sie Eigenschaften und Merkmale nutzen, die es ebenso in der realen Welt gibt: „[V]irtuality […] has followed human culture from its very beginning. Symbols open up imaginary worlds that tend to be virtual worlds by including traits that intimate real social worlds.”61 Wenn man so möchte, handelt es sich hierbei bereits um erste virtuelle Realitäten, die von prähistorischen Höhlenmalereien ausgingen.62 Auch Träume, Rituale, Vorstellungen und sogar die Sprache selbst können als virtuell betrachtet werden.63 Die Idee des memory place als eine mnemonische Einheit ist in diesem Zusammenhang ebenfalls relevant. Sie ist mit verschiedenen Kulturen verknüpft, die Schrift nicht kennen, und kann auch deswegen als eine der ersten virtuellen Welten betrachtet werden, welche sich in der Vorstellung einer Person individuell konstituiert. 64 Das Schreiben hingegen ermöglicht es, Ideen, Geschichten und vieles mehr fortdauernd und räumlich unabhängig sein zu lassen. Anders betrachtet sind auch Computerprogramme nur eine Form des Schreibens. Das Schreiben wurde in früheren Zeiten – so wie heutzutage auch die virtuellen Welten – als eine Form der techne wahrgenommen: »Es wird die meisten Menschen sehr verwundern, dass die gleichen Einwände, die heute gewöhnlich gegen Computer vorgebracht werden, von Plato [i. O.] [...] gegen das Schreiben

60 Vgl. Sven Knebel: Virtualität. In: Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 11. Basel: Schwabe 2001. S. 1062ff. 61 Johan Fornäs, Kasja Klein, Martina Ladendorf, Jenny Sundén, Malin Sveningsson: Into Digital Borderlands. In: Johan Fornäs, Kasja Klein, Martina Ladendorf, Jenny Sundén, Malin Sveningsson (Hg.): Digital Borderlands: Cultural Studies of Identity and Interactivity on the Internet. New York: Peter Lang 2002. S. 1-47, hier S. 30. 62 Vgl. Tom Boellstorff: Coming of Age in Second Life. An Anthropologist Explores the Virtually Human. Princeton: Princeton University Press 2008. S. 33. Vgl. Howard Rheingold: Virtual Reality. New York: Summit Books 1991. S. 379-380; Michael Heim: The Design of Virtual Reality. In: Mike Featherstone, Roger Burrows (Hg.): Cyberspace/Cyberbodies/Cyberpunk: Cultures of Embodiment. London: Sage Publications 1995. S. 65-78, hier S. 69. 63 Vgl. Mark Poster: Virtual Ethnicity: Tribal Identity in an Age of Global Communications. In: Steven G. Jones (Hg.): CyberSociety 2.0: Revisiting Computer-Mediated Communication and Community. Thousand Oaks: Sage Publications 1998. S. 184-211. 64 Vgl. Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 33.

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angeführt wurden. Schreiben, dies läßt [sic!] Plato [i. O.] Sokrates […] sagen, ist unmenschlich, weil es so tut, als könne man außerhalb des Denkens etablieren, was in Wahrheit nur innerhalb der Denkprozesse stattfinden kann. Es ist ein Ding, ein hergestelltes Etwas.«65

Vergleichbar ist dies auch mit Thesen Roland Barthes’, der die Ansicht vertritt, dass Geschriebenes nicht genau das wiedergeben kann, was in jemandes Kopf vorgeht.66 Ob dies mit Computerprogrammen besser möglich ist, sei dahingestellt. Zumindest optisch kommen die Anwendungen so den Vorstellungen des Programmierers sicherlich näher, als wenn nur eine Bildbeschreibung vorgenommen werden würde. Bei einer Bildbeschreibung sind die geistige Vorstellungskraft und das Vorwissen unmittelbarer Bestandteil davon, wie sich etwas vorgestellt wird. Was, um auf die frühe Höhlenmalerei zurückzukommen, dabei virtuell existiert, ist im Prinzip schon immer vorhanden, aber noch nicht im Sein. Das lässt sich sowohl auf die aristotelische Ontologie des Seins wie auch auf Konzepte der Scholastik zurückführen.67 Auch Gilles Deleuze, der bereits im Zusammenhang mit Simulakra und Baudrillard erwähnt wurde, greift diese Auffassung auf. Für ihn ist das Virtuelle ein realitätsimmanentes Potential, das auf der einen Seite „nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen gegenüber[steht]“, weshalb die Virtualität nicht mit der Möglichkeit verwechselt werden sollte, denn diese wiederum steht

65 Walter Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. In: Claus Pias, Lorenz Engell (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard. Stuttgart: DVA 1999. S. 95-104, hier S. 95. 66 Dies ist allerdings in Bezug auf Novalis’ Monolog kritisch zu bewerten, da dieser dort die Behauptung aufstellt, poetische Sprache könne die Wirklichkeit zuverlässig darstellen. Novalis’ Strukturdeterminiertheit ist damit das Gegenteil von Barthes’ Argumentation, denn bei Novalis bestimmt damit auch die Sprache, was im Kopf geschieht. Gleichzeitig ist aber auch diese Theorie kritisch zu sehen, da Novalis sich in gewisser Weise selbst widerspricht, wenn er über Poesie spricht, ohne poetische Worte zu gebrauchen, und sich damit indirekt selbst verneint, was sogar ein dekonstruktives Textverständnis nahelegt. Vgl. Internationales Jahrbuch der Hermeneutik, Band 1. Hg. v. Günter Figal. Tübingen: Mohr Siebeck 2002. S. 100ff. Vgl. ebenso Novalis: Monolog. In: Hans-Joachim Mähl, Richard Samuel (Hg): Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Band 2: Das philosophisch-theoretische Werk. München: Carl Hanser 1978. S. 438-439. 67 Vgl. unter anderem Philotheus Boehner: Ockham: Philosophical Writings. A Selection. Hackett: Indianapolis 1990.

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dem Wirklichen gegenüber.68 Davon nicht betroffen ist der Gebrauch der Bedeutung des Virtuellen im angloamerikanischen Sprachraum, wo von virtuellem Speicher oder virtuellen Maschinen die Rede ist. Allgemein gesprochen bedeutet Virtualisierung in diesem Zusammenhang „die (digital realisierte) Fähigkeit, etwas als etwas zu gebrauchen, was es (eigentlich) nicht ist.“ 69 Ein Beispiel ist der Arbeitsspeicher des Computers, der einen Teil der Festplatte einnimmt und virtual memory genannt wird, da dort die aktuell zu verarbeitenden Daten und auszuführenden Programme eines Computers verwaltet werden. Generell tauchten in der medientheoretischen Diskussion in den letzten 20 Jahren die Begrifflichkeiten Virtualität und virtuell „dann in unterschiedlichen und mehrdeutigen Verwendungen auf, um spezifische Auswirkungen der zunehmenden Verbreitung digitaler Medien zu beschreiben.“70 Das Virtuelle wird dabei oftmals mit Schein oder Simulation beziehungsweise im weiteren Sinne ebenfalls mit Simulakra verknüpft und tritt damit dem, was als real bezeichnet wird, entgegen. Je nach Zusammenhang werden diese Begriffe allerdings verschiedenartig definiert, weshalb es zu einer vielfachen Bedeutungsbelegung kommt, die eine genaue und vor allem eindeutige Definition erschwert. Die Theoriegeschichte der Virtualität ist indessen noch recht jung. Die Untersuchung und gleichzeitig auch medientheoretische Reflexion teilt sich dabei in zwei Gebiete, die sich in vielerlei Weisen überschneiden und gegenseitig vorantreiben: »Während unter dem Titel der Virtualisierung grundsätzliche Konsequenzen der Digitalisierung auf die unterschiedlichsten Formen individueller und kollektiver Wahrnehmungsweisen und Handlungsformen thematisch werden, konzentriert sich die Diskussion der sogenannten ‚virtuellen Realität‘ auf die theoretischen Implikationen der technischen Möglichkeiten zur digitalen Generierung (zumeist: multi)medialer Welten – eine Diskussion, der sich zweifellos die Popularität der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Virtualität vor allem verdankt.«71

68 Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 264. Vgl. außerdem Münker: Virtualität, S. 244. 69 Münker: Virtualität, S. 244. Vgl. ebenso Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 18001900. München: Wilhelm Fink 2003. Vgl. außerdem Vílém Flusser: Digitaler Schein. In: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 147-159. 70 Ebd., S. 244. 71 Ebd., S. 245.

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Der Begriff der Virtual Reality wurde 1989 vom Künstler Jaron Lanier geprägt, der auch das System Reality built for two vorstellte, bei dem zwei Teilnehmer in einer computergenerierten und damit künstlichen Umgebung gleichzeitig miteinander interagieren konnten.72 Hier wurden bereits zwei wichtige Punkte der virtuellen Realität angedeutet, nämlich »[d]ie zumindest partielle sinnliche Immersion des handelnden Akteurs in eine digitale Umgebung einerseits und die Möglichkeit der Interaktion mit dieser Umgebung ebenso wie mit potentiellen anderen Akteuren andererseits. Virtuelle Realitäten können zudem Formen der Telepräsenz generieren – d. h. [i. O.] sie können, insofern der Zugang in die digitale Umgebung über telematische Netze erfolgt, es den Akteuren erlauben, auf beliebige Entfernungen so miteinander zu interagieren, als ob sie sich an ein und demselben physikalischen Ort aufhalten würden.«73

Es existiert noch bei Weitem nicht jedes Element dieses Raums, dennoch sind die wichtigsten Punkte erreicht – nämlich Immersion, Interaktion und Telepräsenz.74 Im Prinzip lässt sich dies nach dem bereits erwähnten Roman von William Gibson, Neuromancer, auch Cyberspace nennen.75 Dort ist der Cyberspace als eine Art interaktiver Datenstrom definiert, in den sich der Nutzer einloggen kann und durch den er sich mittels virtueller Räume navigiert. Er befindet sich dabei in einer computergenerierten Umwelt, die an das erinnert, was heute als virtuelle Realität bezeichnet wird. Bei dieser tritt der Nutzer mithilfe von Datenhandschuhen und einer Datenbrille ebenfalls in künstliche Welten ein. Dabei findet Immersion statt – ein komplettes geistiges Eintauchen in eine simulierte Welt.76 Solche virtuellen Räume wurden ab den 1960er Jahren unter anderem von Computerkünstler Myron Krueger entwickelt, der erstmals Computerumgebungen entwarf, „die es den Benutzern erlaubten, mit graphischen [sic!] Elementen auf einem Bildschirm zu interagieren.“ 77 Die Möglichkeiten sind weitreichend:

72 Vgl. Howard Rheingold: Virtuelle Welten. Reisen im Cyberspace. Reinbek: Rowohlt 1992. S. 230ff. 73 Münker: Virtualität, S. 245. 74 Vgl. Derek Stanovsky: Virtual Reality. In: The Blackwell Guide to the Philosophy of Computing and Information. Hg. v. Luciano Floridi. Oxford: John Wiley and Sons 2004. S. 167-177, hier S. 168f. 75 Vgl. William Gibson: Neuromancer. München: Heyne 1991. 76 Vgl. Alexander Roesler: Cyberspace. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn: Wilhelm Fink 2005. S. 59-65, hier S. 59. 77 Münker: Virtualität, S. 245.

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Von textbasierten Kommunikationsgemeinschaften, sogenannten Multi User Dungeons (MUD), und realitätsnahen Simulationsmodellen der militärischen oder zivilen Forschungslaboratorien über multimediale Spielwelten im Internet bis hin zu utopischen Szenerien „vollständiger geistiger und sinnlicher Immersion in einer von der Realität ununterscheidbaren Welt, mit denen die literarische oder filmische Science-Fiction uns konfrontiert.“78 Oft ist es so, dass Science-FictionAutoren der Realität vorgreifen, und dadurch Begriffe so stark prägen, dass diese dann in der Wirklichkeit tatsächlich genutzt werden, allerdings nur dann, wenn diese sich an den Alltag angleichen und damit auf gewisse Weise real werden. Auch was den Entwurf von Theorien angeht, sind diese Autoren den tatsächlichen Medientheoretikern oftmals voraus, da sie ihre Ideen freier gestalten können, ehe diese in vielen Fällen von der Theorie oder auch durch versuchte technische Umsetzung aufgegriffen werden. In den 1990er Jahren bildeten sich in Bezug auf Virtualität zwei Positionen heraus. Zum einen eine prophetische Sichtweise, wie sie zum Beispiel Marvin Minsky, der sich intensiv mit der Erforschung künstlicher Intelligenzen auseinandersetzte, und Hans Moravec vertreten. Beide sehen in der Technik der virtuellen Realität die „Entstehung einer Sphäre reinen Geistes“, bei der in einer digitalen Wirklichkeit „die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht der Dinge gewinnen werden.“79 Demgegenüber stehen unter anderem die Skeptiker Jean Baudrillard und Paul Virilio, die eine düstere Welt skizzieren, „die dank virtueller Techniken im digitalen Schein [des Simulakrums] zu verschwinden droht.“ 80 Virilio unterstellt dabei, dass durch die Verbreitung elektronischer Medien der Mensch „immer weiter des Gebrauchs [der] natürlichen Sinnesorgane und [des] Empfindungsvermögen beraubt“ wird.81 Baudrillard hingegen behauptet, das Original würde durch seine Doublette vernichtet: das heißt, das Simulakrum ist eine Kopie ohne zugehöriges Original.82 Maßgebend für das Gros der Auseinandersetzungen mit diesen Medientheorien ist hierbei das Auftreten der virtuellen Realität und deren Form der Virtualität. Sie wird als „Teil eines allgemeinen Prozesses der Virtualisierung“ verstanden, wobei diese Entwicklung gleichzeitig als Immateria-

78 Vgl. ebd., S. 245. 79 Esther Dyson, George Gilder, George Keyworth, Alvin Toffler: Cyberspace und der amerikanische Traum. Eine Magna Charta für das Zeitalter des Wissens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. August 1995. S. 30. 80 Münker: Virtualität, S. 246. 81 Paul Virilio: Information und Apokalypse. München: Carl Hanser 2000. S. 41. 82 Vgl. Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen. München: Matthes & Seitz 1996. S. 47.

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lisierungsprozess gedeutet wird, der die „bekannte Wirklichkeit als ganze verändert.“83 Virtualität ist in diesem Kontext als eine fundamentale Signatur eines Zeitalters zu betrachten, das als die Konsequenz der Digitalisierung „durch die Abwanderung entscheidender Elemente der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Aktivitäten in die elektronischen Datenräume geprägt ist.“84 Die Folgen davon sind mittlerweile Schwerpunkt in vielen Forschungen zu Themenfeldern wie virtueller Arbeit und ähnlichem, wobei der Begriff „virtuell“ teilweise sehr ausufernd gebraucht wird und Dinge bezeichnet, die ursprünglich anders genannt wurden. Dies führt dazu, dass der Begriff selbst ungenau wird und im Endeffekt in seiner Bedeutung beliebig. Nachdem der Philosoph Michael Heim postulierte, „die virtuelle Realität [impliziere] in Konsequenz einen fundamentalen ontologischen Paradigmenwechsel“, versuchten auch andere Medientheoretiker diesen ontologischen Zustand genauer zu beschreiben.85 So macht die Soziologin Elena Esposito darauf aufmerksam, „dass in der verbreiteten Gleichsetzung von Virtualität und Simulation, wie sie nicht nur Baudrillard vertritt, die Spezifität der Virtualität zu verschwinden droht.“86 Zusammengefasst lässt sich dies so formulieren: »Eine Simulation bezeichnet eine realitätsnahe Modellierung eines Objekts oder einer Umgebung, die so tut, als ob sie etwas anderes (nämlich das modellierte Objekt) wäre; Virtualität hingegen bezeichnet eine Situation, in der etwas für nichts anderes als für sich selbst steht.«87

Laut Esposito wollen virtuelle Realitäten im Gegensatz zu Simulationen „keine falschen realen Objekte, sondern wahre virtuelle Objekte [schaffen], für welche die Frage der realen Realität ganz und gar gleichgültig ist.“88 Durch diesen Ansatz wird aber gleichzeitig auch die Gegensätzlichkeit von Wirklichkeit und Virtualität infrage gestellt. Bereits der Philosoph Pierre Lévy bestand in Bezug auf Deleuze

83 Münker: Virtualität, S. 246. 84 Ebd., S. 247. 85 Ebd., S. 246f. 86 Ebd., S. 246f, Vgl. ebenso Elena Esposito: Fiktion und Virtualität. In: Sybille Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. S. 269296. 87 Münker: Virtualität, S. 247. 88 Esposito: Fiktion und Virtualität, S. 270.

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darauf, dass mit dem Virtuellen nicht der Opponent zum Realen gemeint sei.89 Er betont die Dynamik des Virtuellen und verbindet diese ebenfalls mit dem Aktuellen, wobei das Wirkliche und das Virtuelle nur zwei verschiedene Existenzformen sind, die wiederum nicht dem Realen, sondern dem Aktuellen gegenübergestellt werden. Folglich ist die Virtualisierung ein Umkehrprozess der Aktualisierung. 90 Ohne das Aktuelle ist also weder die Simulation noch die Virtualität umfassend betrachtbar. Diese Gegenüberstellung ist laut Medienwissenschaftler Stefan Münker zweifelhaft im philosophischen Sinne, denn der „kritische[n] Auszeichnung der digitalen Wirklichkeit als bloß virtuelle[n] Realität [geht] die Opposition von medial konstruierter vs. unvermittelter Wirklichkeit [voraus].“91 Genau diese Konstruktion, wie sie von Münker verstanden wird, ist aber in einer unvermittelten Wirklichkeit theoretisch unhaltbar. Stattdessen ist der Philosoph Wolfgang Welsch der Ansicht, dass gerade mittels dieser Konfrontation mit einer virtuellen Welt „die Wirklichkeit immer schon [...] eine Konstruktion war.“92 Die digitale Virtualität wird dabei als ein eigener Modus von Realitätskonstruktion anerkannt. Als Folge davon wird die These einer prinzipiellen Immaterialisierungstendenz zurückgewiesen, denn die „Dichotomisierung von Geist und elektronischer Kommunikation einerseits versus Körper und natürlicher Erfahrung andererseits“ ist nach Ansicht von Welsch falsch.93 Die Medienphilosophin Sybille Krämer hingegen vermutet, „dass im Zusammenhang mit virtuellen Realitäten der Körper keineswegs zum Verschwinden kommt, vielmehr […] verdoppelt [er sich] in einen ‚Fleischkörper‘ und einen ‚Datenkörper‘.“94 Während der Datenkörper frei ist, sich in virtuellen Realitäten unabhängig von Raum und Zeit zu bewegen, harrt der Fleisch-

89 Vgl. Pierre Lévy: Welcome to Virtuality. In: Karl Gerbel, Peter Weibel (Hg.): Mythos Information. Welcome to the Wired World: Ars Electronica 1995. Wien: Springer 1995. S. 91-98, hier S. 92. 90 Vgl. Soo Im Choi: Hypertextualität im zeitgenössischen Film: Erzählen und Virtualität in Tom Tykwers „Lola rennt“. Hamburg: Diplomica Verlag 2009. S. 27f. 91 Münker: Virtualität, S. 247. 92 Wolfgang Welsch: Eine Doppelfigur der Gegenwart. Virtualisierung und Revalidierung. In: Gianni Vattimo, Wolfgang Welsch (Hg.): Medien-Welten. Wirklichkeiten. München: Wilhelm Fink 1997. S. 229-248, hier S. 246. 93 Ebd., S. 246. 94 Sybille Krämer: Medien als Kulturtechnik oder: Ist der Umgang mit dem Computer eine vierte Kulturtechnik? In: Günther Kruck, Veronika Schlör (Hg.): Medienphilosophie, Medienethik. Zwei Tagungen – eine Dokumentation. Frankfurt am Main: Peter Lang 2003. S. 47-62, hier S. 55.

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körper in dem, was als Realität bezeichnet wird, aus, und hat weiterhin seine Bedürfnisse.95 Münker formuliert dies um zu einem „immaterialistischen Fehlschluss“, denn dieser ignoriert die Tatsache, „dass einerseits in den Operationen der Computer materielle Prozesse digitale Virtualität erst generieren – und andererseits auch das mediale Handeln und Kommunizieren in virtuellen Welten ohne die materielle Existenz von Benutzern schlechthin nicht denkbar ist.“ 96 Ohne den Fleischkörper und dessen Geist ist ein Datenkörper nicht möglich, denn bislang ist es nicht umsetzbar, einen Datenkörper mit Geist zu erschaffen und damit quasi innerhalb eines Computersystems künstlichen menschlichen Intellekt zu erzeugen. Reine künstliche Intelligenz wurde zu diesem Zeitpunkt noch anders verstanden als heute und basierte schlicht auf logischen Operationen, nicht aber auf Emotionen. Im medientheoretischen Diskurs wurde die Virtualität bislang zumeist unter dem Punkt der Digitalisierung betrachtet, wobei zwischenzeitlich auch kulturwissenschaftliche Untersuchungen versucht haben, die Vorgeschichte der Virtualität aufzuzeigen. Auch Kunsthistoriker und Medientheoretiker Oliver Graus These, der zufolge sich die Virtualität „als Geschichte der visuellen Strategie der Immersion [auszeichnet], die sich bis in die antike Wandmalerei zurückverfolgen lässt“, fällt darunter.97 Anders formulierte es der Philosoph Lambert Wiesing, der sich dafür aussprach, dass „gerade angesichts der Tatsache, dass Immersion keine genuine Spezifität der digitalen Bildräume ist, den Begriff der Immersion zur Charakterisierung virtueller Realitäten zugunsten des Begriffs der Imagination fallen zu lassen“, und damit wiederum Vergleiche mit dem Cyberspace nahelegt. 98 Umfassender ist, was Medien- und Kulturtheoretiker Stefan Rieger in seinem Entwurf einer kybernetischen Anthropologie vorgelegt hat. 99 Er versucht dort, die Definition der Virtualität als historische Herleitung über den Horizont digitaler Medien hinaus in Form einer anthropologischen Konstante zu rekonstruieren. Virtuelle Welten unterscheiden sich allerdings von all den bisher existierenden Formen der Virtualität in einem Punkt: „Techne can take place inside them, rather

95 Vgl. ebd., S. 55. 96 Münker: Virtualität, S. 248. 97 Ebd., S. 248. Vgl. hierzu Oliver Grau: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Virtuelle Strategien. Berlin: Dietrich Reimer 2001. 98 Lambert Wiesing: Virtuelle Realität: Die Angleichung des Bildes an die Imagination. In: Lambert Wiesing (Hg.): Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004. S. 107-124, hier S. 107ff. 99 Vgl. Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003.

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than solely in the actual world to produce them – Where most tools produce effects on a wider world of which they are only a part, the computer contains its own [virtual] worlds in miniature.“100 Diese techne ermöglicht es, aus Holz Papier zu machen, aber gleichzeitig entstehen durch sie nicht nur Ideen in einer virtuellen Welt, sondern die techne kann auch in der kreierten Welt selbst stattfinden. In diesen virtuellen Welten produziert die techne eine Lücke zwischen „actual and virtual in the realm of the virtual.“101 Virtuelle Welten erlauben es der techne also zum ersten Mal, rekursiv zu werden, denn sie ermöglichen es, völlig neue Wege des Verständnisses zu gehen.

100 Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 35. Vgl. ebenso Paul Edwards: The Army and the Microworld: Computers and the Politics of Gender Identity. In: Signs. Ausgabe 16, Nummer 1. Herbst 1990. S. 102-127, hier S. 109. 101 Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 58. Vgl. ebenso Pierre Lévy: Becoming Virtual. Reality in the Digital Age. New York: Basic Books 1998.

Die besondere Rolle der Virtualität im Dekonstruktivismus

In der Begriffsbestimmung hat sich bei der Darstellung des Simulakrums als Gegenstand bereits eine gewisse Nähe zur Methodik der Dekonstruktion gezeigt, die nun weiter ausgearbeitet werden soll, um deren strukturelle Ähnlichkeiten detaillierter zeigen zu können. Im literaturwissenschaftlichen Diskurs wurde die Dekonstruktion besonders von Jacques Derrida geprägt und legt vorzugsweise bei der Textinterpretation einen anderen Weg und Blickwinkel offen. Es handelt sich hierbei um ein Kalkül, bei dem Geltungsansprüche einer auf die Ermittlung von Sinn ausgerichteten Interpretation unterlaufen werden. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, eine Schicht innerhalb des Textes zu erreichen, die auch dem Autor selbst möglicherweise unbekannt ist, wie beispielsweise eine unbewusste Selbstreferenzialität des Textes, die „damit eine Auffassung in Frage [i. O.] stellt, für die ein Text nur eine ‚transparente Folie‘ über Bedeutung und Sinn ist.“1 Dafür muss ein Text von innen heraus nachvollzogen und von seinen eigenen Voraussetzungen her betrachtet werden. Durch dieses Vorgehen wird deutlich, dass Vorannahmen des Inhalts oder der Bedeutung eben genau das sind: Vorannahmen, mit denen ein Text gelesen wird, und durch die andere Möglichkeiten der Interpretation ignoriert werden. Diese Prämissen bleiben als Enthymeme bestehen, wirken im Text fort und beginnen, ihn zu zerrütten. Das hat zur Folge, dass dem Text das sinngebende Zentrum genommen werden kann und gleichzeitig Interpretationsspielräume beziehungsweise im erweiterten Zusammenhang auch virtuelle Räume eröffnet werden, die der Autor selbst nicht vorhergesehen hatte.2

1

Nikolaus Wegmann: Dekonstruktion. In: Reallexikon der Deutschen Literaturwissen-

2

Vgl. ebd. S. 334.

schaft. Band I. Hg. v. Klaus Weimar. Berlin: De Gruyter 1997. S. 334-337, hier. S. 334.

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Die Dekonstruktion logozentrischer Theorien führt aber dennoch nicht zu einer neuen These, „die alles in Ordnung bringt“, sondern sie „erhellt Texte [und im Zusammenhang dieser Arbeit ebenso Weltsichten] nicht im traditionellen Sinn, daß [sic!] man versucht, einen Einheit stiftenden Inhalt oder Gegenstand zu erfassen; sie untersucht vielmehr, wie in den Argumentationen der Texte metaphysische Gegensätze wirken und wie […] Beziehungen […] zu einer doppelten aporetischen Logik führen.“3 Laut Literaturwissenschaftler Jonathan Culler besteht die Wirkung der Dekonstruktion ebenso darin, „die hierarchische Beziehung, die vorher den Begriff der Literatur bestimmt, zu zerreißen, indem sie die Unterscheidung literarischer und nicht nichtliterarischer Werke in eine allgemeine Literarität oder Textualität einschreibt.“4 Diese ermöglicht die Kommunikation der verschiedenen Diskurse aus der literarischen Lektüre philosophischer Texte und der philosophischen Lektüre literarischer Texte heraus. 5 Dadurch ergeben sich andere Textauffassungen, die neue Einblicke erlauben, die sonst möglicherweise verborgen geblieben wären. All das lässt sich auch auf den Begriff des Simulakrums übertragen, besonders in der Lesart von Roland Barthes, der diesen Begriff in seinem Essay Die strukturalistische Tätigkeit (1964) genauso prägt, wie das Konzept der Dekonstruktion zu verstehen ist. Für ein Simulakrum wird dort bereits Bestehendes neu angeordnet, um Dinge sichtbar zu machen, die in der gewöhnlichen Anordnung nicht zu sehen sind. Durch diese Neuzusammensetzung können Lücken im vormals Existierenden offenbar werden. Diese Lücken wiederum wendet Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser an, um Leerstellen in einem Text zu finden, die dem Leser eigene Vorstellungsmöglichkeiten erlauben.6 Aus diesen Lücken und Leerstellen können sich durch die Vorstellungskraft des Lesers (textuell-inhaltliche) Widersprüche bilden, müssen es aber nicht. Jene Schnittstellen sind es aber auch, die eine Simulation beziehungsweise ein Simulakrum als solches erkennbar machen können. Wahrnehmung spielt in diesem Zusammenhang eine Rolle: Diese Leerstellen und Lücken müssen dem Betrachter grundsätzlich bekannt sein, damit er sie erkennen kann. Durch einen dekonstruktiven Blick auf die Welt kann das erleichtert werden, denn wie bei der dekonstruktiven Textlektüre führt diese Vor-

3

Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheo-

4

Ebd., S. 205.

5

Vgl. ebd., S. 205.

6

Vgl. Wolfgang Iser: Das Zusammenspiel des Fiktiven und des Imaginären. In: Dorothee

rie. Hamburg: Rowohlt 1988. S. 122.

Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1996. S. 287-300.

Die besondere Rolle der Virtualität im Dekonstruktivismus | 87

gehensweise dazu, Dinge mit anderen Augen zu sehen und verborgene Tiefenebenen erkennen und möglicherweise auch verstehen zu können. Die Dekonstruktion bestehender Formationen ist an diesem Punkt folglich auch notwendig, um Simulakra enttarnen zu können. Die Hauptfrage aber, woran dies von Fall zu Fall ersichtlich ist, muss unbeantwortet bleiben.7 Woran ist es aber erkennbar, wenn ein Simulakrum enttarnt wurde? Ist das, was folglich für die Realität dahinter gehalten werden muss, auch tatsächlich die Realität? Oder handelt es sich nur um ein verzerrtes Abbild, durch das die wirkliche Realität immer weiter verschleiert wird? Selbst wenn sie eigentlich entdeckt wird, ist sie dadurch dennoch nur schwer wirklich erkennbar. Für Stefan Münker ist eine virtuelle Realität in diesem Zusammenhang niemals die vollständige Realität, denn „[u]m eine Realität im Sinne des skizzierten Konkurrenzverhältnisses als eine bloß [i. O.] virtuelle zu bestimmen, muss man offensichtlich davon ausgehen, dass es eine ursprünglichere [i. O.] Wirklichkeit gibt, zu der jene erst hinzutritt – um ihr dann möglicherweise die Vorherrschaft streitig zu machen.“ 8 Es muss zwischen den Begriffen differenziert werden; denn wer von der virtuellen Realität spricht, impliziert damit gleichzeitig und möglicherweise unbewusst, dass es nur eine „einzige eigentliche [i. O.] und wahre [i. O.] Wirklichkeit“ gibt.9 Die virtuelle Realität ist immer eine Erweiterung der Wirklichkeit, wobei beide nicht zueinander in Konkurrenz stehen. Für Münker beantwortet sich diese Frage nach „der ontologischen Würde der virtuellen Realität“ mithilfe eines Hinweises auf „ihren ästhetischen Status“, und löst so den Cyberspace wie auch die virtuelle Realität aus dem jeweiligen „Konkurrenzverhältnis zur Wirklichkeit.“10 Dadurch kann dessen „Stellung innerhalb der Wirklichkeit“ neu bestimmt werden. 11 Dennoch: Ontologisch ist der Status eines Subjekts beziehungsweise in diesem Fall einer ganzen Wirklichkeit folglich ebenso wenig greifbar wie mit anderen theoretischen Grundlagen. Die daraus entstehenden Ambivalenzen und Polysemien geben die Möglichkeit, Inhalte in neuen Kontexten zu interpretieren. Jacques Derrida erklärt dies wie folgt: „Es kommt hinzu, dass die Wirkung oder die Struktur eines Textes [beziehungsweise einer Welt] nicht auf dessen [beziehungsweise ihrer] ‚Wahrheit‘ auf die beabsichtigte Aussage des vermeintlichen Autors oder

7

Vgl. Heinz Gumin, Armin Mohler (Hg.): Einführung in den Konstruktivismus. Mün-

8

Stefan Münker: Philosophie nach dem „Medial Turn“. Beiträge zur Theorie der Medi-

9

Ebd., S. 119.

chen: Piper 1985. engesellschaft. Bielefeld: transcript 2009. S. 119. 10 Ebd., S. 123. 11 Ebd., S. 123.

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eines scheinbar einzigen und identifizierbaren Signatars zu reduzieren ist.“ 12 In seiner Aussage wird klar, dass „der Zweifel an der Einheit und Eindeutigkeit [...] zum komplementären Zweifel am Subjektbegriff führt, den Derrida als metamophorischen Begriff dekonstruiert.“13 Während sich Sprachtheoretiker wie Derrida und Barthes der Umgebungswahrnehmung durch die Dekonstruktion annähern, haben sich auch Medientheoretiker wie Jean Baudrillard und Paul Virilio mit ähnlichen Fragestellungen und der Suche nach neuen Realitätsbegriffen auseinandergesetzt. Sprachliche Betrachtungen beziehungsweise Betrachtungen der Sprache im Verhältnis zur Wirklichkeit dürfen vor dem Hintergrund der Frage, ob eine Sprache Wirklichkeit beschreibt oder sie durch ihre Existenz und ihren Gebrauch gar produziert, nicht außer Acht gelassen werden. Inwiefern lässt sich folglich die poststrukturalistische Dekonstruktion mit Baudrillard und Virilio engführen und im Rahmen dieser Arbeit vergleichen? Was sind Zeichen in diesem Zusammenhang und inwiefern können Zeichen als Kunst betrachtet werden oder wie kann die Wirklichkeit mittels der Sprache künstlich verändert werden? Die Idee von „einer sauberen Trennung von Illusion und Wirklichkeit ist [mit Nietzsche] verabschiedet“, und Barthes erkennt „in der Anfertigung von Simulakren, das heißt von Modellen, sogar die zentrale Erkenntnismethode der ‚strukturalistische[n] Tätigkeit‘.“14 Kulturwissenschaftler Samuel Strehle folgert hieraus, dass die beiden Begriffe von Simulakrum und Simulation in ihrer ursprünglichen Lesart „immer stärker den Bezug zur antiken Tradition“ verlieren und sich stattdessen „als diametraler Gegensatz zur überkommenen Semantik der Mimesistheorie“ etablieren.15 Barthes und Derrida, der sich eingehend mit dem Werk Barthes’ befasst hat, betrachten Simulakra mit einem jeweils etwas anderen Blickwinkel. Während Barthes eine antilogozentrische Sicht vertritt, richtet Derrida sein Augenmerk auf die philosophische Betrachtung der Dekonstruktion. Bei beiden erfolgt die Argumentation aus der Linguistik heraus. Baudrillard und Virilio haben vor einer an-

12 Jacques Derrida, zitiert nach Peter Zima: Die Dekonstruktion. Einführung und Kritik. Tübingen: Francke 1994. S. 48. 13 Ebd., S. 48. 14 Samuel Strehle: Zur Aktualität von Jean Baudrillard. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer 2012. S. 99. 15 Ebd., S. 99. Vgl. außerdem Bernhard Dotzler: Simulation. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 5. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart: Metzler 2003. S. 509-534, hier S. 510.

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deren Folie über den Hintergrund der Simulakra, die in anderem Zusammenhang ebenfalls bei Barthes und Derrida auftauchen, nachgedacht. Speziell Baudrillards Simulationsprozess verweist „auf Bilder und Zeichen, die gerade nicht mehr auf der Nachahmung eines Originals beruhen, sondern das Prinzip der mimetischen Referenz unterlaufen.“16 Bilder bilden nichts mehr ab, sie verweisen auf keine Realität mehr und werden zu ihrem eigenen Simulakrum. 17 Der Strukturalismus, neben der Dekonstruktion ein weiterer methodischer Ansatz der Literaturwissenschaft, betrachtet eine bestimmte Form der Welt, „die sich mit der Welt ändern wird.“18 Seine Gültigkeit, aber nicht seine Wahrheit, liegt in der Fähigkeit, „in allen Sprachen der Welt auf neue Weise zu sprechen“, denn der Strukturalismus weiß, „daß [sic!] sobald aus der Geschichte eine neue Sprache auftauchen wird, die nun ihrerseits ihn [i. O.] spricht, seine Aufgabe beendet ist.“19 Medientheorie wird hier mit (post)strukturalistischen Aspekten der Sprachtheorie (und Ontologie) verknüpft. In den folgenden Abschnitten soll eine Vorbereitung auf die Fallstudien der nachfolgenden Kapitel stattfinden und erörtert werden, inwiefern die hier erarbeiteten Theorien noch zeitgemäß sind und an welchem Punkt die tatsächliche Entwicklung im Zusammenhang mit künstlerischer Darstellung und Medien eine möglicherweise andere oder differenziertere Richtung eingeschlagen hat. Sowohl Film, Literatur als auch Computerspiele haben letztlich in einigen Aspekten eine andere Wendung genommen als von Baudrillard und Virilio mit düsterem Blick prognostiziert: Kunst beflügelt die Theorie und vermittelt somit auch für technische Umsetzungen neue Ideen. Sie wirkt damit als eine Art Enabler für technische wie technologische Innovationen.

16 Strehle: Zur Aktualität von Jean Baudrillard, S. 99. 17 Vgl. Jean Baudrillard: Die Präzession der Simulakra. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Merve: Berlin 1978. S. 7-71, hier S. 15. 18 Bernd Stiegler: Simulakrum. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.): Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn: Wilhelm Fink 2005. S. 222-228, hier S. 222. 19 Ebd., S. 222.

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Roland Barthes: Eskapismus und Dekonstruktion Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer „Abdruck“ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will. Roland Barthes20

Ist Roland Barthes Strukturalist oder Poststrukturalist, fragt Jonathan Culler und stellt fest, dass dies nicht leicht zu beantworten ist: „Ist er ein Strukturalist, der widerrief und Poststrukturalist wurde?“21 Speziell Barthes’ kritisches Werk S/Z (1970) ist schwer einzuordnen, „nicht etwa, weil es den Themen, auf die die Unterscheidung zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus gewöhnlich aufbaut, aus dem Weg geht, sondern weil es sich beide Vorgehensweisen mit einem Eifer aneignet, als wüßte [sic!] es nicht, daß [sic!] diese angeblich radikal verschiedene Bewegungen sind.“22 Nicht als Produkt oder „Manifestation eines zugrundeliegenden Systems“ will Barthes den Text behandeln, sondern untersuchen, „wie der Text von sich selbst differiert, die Weise, wie er die Codes, auf die er sich scheinbar verläßt [sic!], gegeneinander ausspielt.“ 23 Laut Culler „scheint Barthes’ Strukturalismus [von Anfang an] von poststrukturalistischen Interessen durchwoben zu sein.“24 Barthes argumentiert antilogozentrisch und ist in diesem Fall wohl primär dem Poststrukturalismus zuzurechnen, auch wenn er ebenso über den Strukturalismus schreibt. In seinem Werk wird das Simulakrum von ihm folglich aus strukturalistischer Sicht betrachtet und definiert. Im Aufsatz Die strukturalistische Tätigkeit definiert er bereits 1964 das Simulakrum als einen Begriff, durch den ein Gegenstand mittels Selektion und Neukombination neu konstruiert wird. Genauer: Ziel einer solchen strukturalistischen Tätigkeit ist es, ein Objekt „derart zu rekonsti-

20 Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2008. S. 214-222. Vgl. ebenso Platon: Theätet. Griechisch/Deutsch. Kommentar von Alexander Becker. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. S. 329f. 21 Culler: Dekonstruktion, S. 25. 22 Ebd., S. 25. 23 Ebd., S. 26. 24 Ebd., S. 26.

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tuieren, dass in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert.“25 Dabei wird die neue Struktur als Simulakrum des Objekts bezeichnet, bei dem etwas an die Oberfläche kommt, was beim ursprünglichen Objekt nicht sichtbar oder unverständlich ist: »[D]as Simulacrum [i. O.], das ist der dem Objekt hinzugefügte Intellekt, und dieser Zusatz hat insofern einen anthropologischen Wert, als er der Mensch selbst ist, seine Geschichte, seine Situation, seine Freiheit und der Widerstand, den die Natur seinem Geist entgegensetzt.«26

Dabei ist folglich diese Neuschöpfung keine Kopie der originalen Welt, sondern eine neu erzeugte Welt, die der ersten ähnlich ist und sie verständlich machen will.27 Es gibt für Barthes keinen Grund, den Strukturalismus nur auf wissenschaftliches Denken zu beschränken, lieber solle man versuchen, „ihn auf einem anderen Niveau als auf dem der reflektierenden Sprache so umfassend wie möglich zu beschreiben (wo nicht zu definieren).“28 So definiert sich auch der strukturale Mensch nicht durch seine Ideen oder Sprache, sondern vielmehr durch seine Imagination oder sein Imaginäres, folglich „durch die Art, wie er die Struktur geistig lebt.“29 Durch die strukturalistische Tätigkeit wird ein Objekt neu aufgebaut, dessen Rekonstitution zeigt, mit welchem Regelwerk es ausgestattet ist, denn: »[D]ie Struktur ist in Wahrheit also nur ein simulacrum [i. O.] eines Objekts, aber ein gezieltes, ‚interessiertes‘ Simulacrum [i. O.], da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, das im natürlichen Objekt unsichtbar oder […] unverständlich bleibt […] denn zwischen den beiden Objekten, oder zwischen den beiden Momenten strukturalistischer Tätigkeit, bildet sich etwas Neues [i. O.], und dieses Neue ist nichts Geringeres als das allgemein Intelligible: […] Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer ‚Abdruck‘ der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will.«30

25 Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, S. 216. 26 Ebd., S. 216. 27 Dies lässt sich mit Walter Benjamins Aura-Begriff verrechnen, denn bei ihm ist eine Kopie ebenfalls nicht als selbstständiges Werk zu betrachten, während bei Barthes das Simulakrum eine neu gegliederte Welt mit Aspekten der alten ist, die aber nicht schlicht kopiert, sondern nur neu geordnet wurden. 28 Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, S. 215. 29 Ebd., S. 215. 30 Ebd., S. 216.

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Demzufolge gibt es keinen technischen Unterschied zwischen Kunst und Strukturalismus und somit auch nicht zum Simulakrum, denn sowohl die Kunst als auch der Strukturalismus „unterstehen einer Mimesis [i. O.], die nicht auf der Analogie der Substanzen gründet […], sondern auf Funktionen.“ 31 In Die strukturalistische Tätigkeit verklausuliert Barthes, was er unter selbiger versteht und inwiefern diese mit der Bildung verschiedener Simulakra verknüpft ist. Das so behandelte Objekt kann hierbei sowohl der sozialen wie auch der imaginären Wirklichkeit entnommen werden, denn „nicht durch die Natur des kopierten Objekts wird eine Kunst definiert (ein hartnäckiges Vorurteil des Realismus), sondern durch das, was der Mensch, indem er es rekonstituiert, hinzufügt: Die Technik ist das Wesen jeder Schöpfung.“32 Technik kann in diesem Zusammenhang nicht isoliert betrachtet werden und auch hier wird klar, dass Technik, künstlerische Bearbeitungen und Theorie als Triade in diesem Zusammenhang kaum trennbar sind. Mit der Technik der strukturalistischen Tätigkeit werden Simulakra erschaffen, die Kunst werden und einen neuen Blick in Theoriegebäude eröffnen. Kunst oder ein Kunstwerk ist folglich das, was dem Zufall entrissen wird.33 Dieser Zufall ist als Simulakrum deutbar, er „gibt die Welt nicht so wieder“, wie sie aufgegriffen worden ist, und genau hier ist für Barthes die Bedeutung des Strukturalismus begründet: „Zunächst offenbart er eine neue Kategorie des Objekts, die weder das Reale noch das Rationelle ist, sondern das Funktionelle [i. O.]; er trifft hierin mit einem ganzen Wissenschaftskomplex zusammen, der sich im Augenblick im Umkreis der Informationstheorie entwickelt.“ 34 Hier bezieht Barthes sich möglicherweise auf Claude Shannon, der die Informationstheorie begründet und unter anderem das Kanalmodell entwickelt hat.35 Durch die Operation des Zerlegens wird das Simulakrum zum zersplitterten Zustand, wobei, so Barthes, die Einheiten der Struktur hier durchaus nicht anarchistisch seien: „[B]evor sie verteilt und in die Komposition eingeschlossen werden, bildet jede von ihnen zusammen mit dem ihr zugehörigen möglichen Vorrat einen intelligenten Organismus, der einem obersten bewegenden Prinzip unter-

31 Ebd., S. 216f. 32 Ebd., S. 217. 33 Vgl. ebd., S. 220. 34 Ebd., S. 220. 35 Zum Kanaltheorem vgl. Claude E. Shannon, Friedrich Kittler: Ein/Aus. Schriften zur Kommunikations- und Nachrichtentheorie. Berlin: Brinkmann & Bose 2000. S. 9-100. Vgl. außerdem Friedrich Bauer: Historische Notizen zur Informatik. Heidelberg: Springer 2009. S. 195ff.

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worfen ist: dem des kleinsten Unterschiedes.“36 Mit der Zerlegung des Objekts werden in ihm lose Fragmente sichtbar, „deren winzige Differenzen untereinander eine bestimmte Bedeutung hervorbringen.“37 Das Fragment selbst hat jedoch keine Bedeutung, auch wenn es so beschaffen ist, „daß [sic!] die geringste Veränderung, die man an seiner Lage und Gestalt vornimmt, eine Änderung des Ganzen bewirkt.“38 Neben dem Zerlegen ist im zweiten Stadium der strukturalistischen Tätigkeit auch das Arrangieren des Objekts möglich, „eine Art Kampf gegen den Zerfall; deshalb haben die Rekurrenszwänge der Einheiten einen fast demiurgischen Wert.“39 Dieser Wert bedeutet gemäß Barthes eine „regelmäßige Wiederkehr der Einheiten und Assoziationen von Einheiten“, wodurch „das Werk als ein konstruiertes zum Vorschein [kommt], das heißt mit Bedeutung versehen“ worden ist.40 Das Herstellen der Bedeutung ist dabei wichtiger als die Bedeutung selbst, denn die Funktion reicht weiter als die Werke; aus diesem Grund „macht sich der Strukturalismus zur Tätigkeit und stellt die Erschaffung des Werks und das Werk selbst in ein und dieselbe Identität.“41 Barthes möchte den Strukturalismus aber nicht als etwas verstanden wissen, das der Welt die Geschichte entzieht. Vielmehr versucht der Strukturalismus, „die Geschichte nicht nur an Inhalte zu binden“, sondern auch an Formen, das Materielle, das Intelligible, das Ideologische ebenso wie das Ästhetische.42 Barthes’ Simulationsbegriff lässt sich außerdem mit der Tätigkeit und dem Sein eines Schriftstellers vergleichen. Wo befindet sich der Autor in einem Text und welche Identität stellt er dar? Die durchgängig gestaltete Person ist hier nur ein Phantasma und an den Ort der „aprioristischen Einheit von Autor und dargestelltem Ich [tritt] in der traditionellen Biographie [i. O.][...] der Schreibende und sein Imaginäres.“43 Dieses Imaginäre ist dabei „die Versuchung, von sich zu sprechen“ und ist erkennbar durch „alles, was ich gerne über mich schreiben möchte und das zu schreiben ich mich schließlich schäme.“44 Damit wird das schreibende

36 Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, S. 219. 37 Ebd., S. 218. 38 Ebd., S. 218. 39 Ebd., S. 219. 40 Ebd., S. 219. 41 Ebd., S. 221. 42 Ebd., S. 222. 43 Peter Bürger: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. S. 204f. 44 Ebd., S. 207.

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Ich neu organisiert und zu einem Simulakrum des Seins des Autors. Denn dadurch, dass er diese Dinge aufschreibt, werden sie aus der Erinnerung heraus reorganisiert und neu geordnet, was zu einem gewissen Schamgefühl führen kann, wenn die Worte niedergeschrieben und damit in eine neue Ebene aufgestiegen sind: Das Subjekt des Autors wird infolgedessen zum Objekt, da der Text in diesem Fall „zum Ort der Auseinandersetzung des Ich mit sich selbst wird.“45 Die Geburt des Lesers bedingt damit den Tod des Autors.46 In Bezug auf Jacques Derrida, der sich eingehend mit Barthes’ Schriften beschäftigt hat, ist Barthes’ Blickwinkel auf die Spur interessant, denn ihr Merkmal ist das Simulakrum und diese Spur geht auf das eigentliche Objekt zurück, während Walter Benjamins Begriff der Aura in diesem Zusammenhang das genaue Gegenteil bedeutet. Dieser stellt im Passagen-Werk (1940) der Aura die Spur als Antonym gegenüber. Dabei ist „die Spur die Erscheinung einer Nähe, sofern das sein mag, was sie uns hinterließ. In der Spur werden wir der Sache habhaft; in der Aura bemächtigt sie sich unser.“47 Die Aura wird dabei passiv erlebt, während der Spur etwas Aktives anhaftet, denn sie kann im Gegensatz zur Aura zurückverfolgt werden. Barthes behandelt in Die helle Kammer (1980) das Zusammenspiel von Aura und Spur, die sich „in das Licht resp. [i. O.] Bild und Schrift übersetzen lässt.“48 Barthes argumentiert ausgehend von einer Fotografie, die seine Mutter zeigt. In diesem Bild liegt die Spur, die eine „konkrete Erscheinung in der Gegenwart [ist], die selbst aber hervorgerufen wurde durch etwas, das dieser Gegenwart fernbleibt.“49 Vergleichbar ist dies mit Platons Theätet, wenn dort das Wachsblockgleichnis entworfen wird.50 Anders als bei der Aura wird die Spur, die hier erkannt wird, aktiv zurückverfolgt, und sei es durch Erinnerungsarbeit. Das Bild der Mutter ist zwar auratisch, denn Benjamin selbst sagt, dass in solchen Fotografien die Aura zum letzten Mal aufblitzen würde, aber gleichzeitig ist „die Aura der Mutter im Moment ihres Erscheinens bereits im Modus ihrer eigenen Auslöschung präsentiert und darin [liegt] das punctum [i. O.], [wodurch] ihre Ausstrahlung zu dem [wird], was aus einer unerreichbaren Ferne die Gegenwart des Schreibens einerseits durchzieht und zugleich dynamisiert, andererseits in ihm aber auch

45 Ebd., S. 207. 46 Vgl. Culler: Dekonstruktion, S. 33. 47 Walter Benjamin: Passagen-Werk. Band 1. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983. S. 560. 48 Carlo Brune: Roland Barthes: Literatursemiologie und literarisches Schreiben. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003. S. 289. 49 Ebd., S. 289. 50 Vgl. Fußnote 19 auf S. 68. Vgl. ebenso Platon: Theätet, S. 329f.

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nie als solche präsent wird.“51 Die Mutter wird dabei zum Anderen des Schreibens und verwandelt sich dadurch zu einer Spur, denn Barthes schreibt über diese Fotografie und in ihr ist der Ausgangspunkt von Die helle Kammer zu sehen. Folgerichtig ist das Foto dem Leser auch nicht bekannt, denn aus seiner Veröffentlichung hat Barthes es vollständig herausgehalten. Der Literaturwissenschaftler Carlo Brune bewertet dies wie folgt: »Dies deutet darauf, dass die Aura in der Gegenwart des Schreibens nur noch als bereits verloschene, und zwar von Beginn an auf ihr Verlöschen hin angelegte Aura erscheinen kann. Sie wird einzig als spurhafter Schatten in dem Schwarz der Buchstaben dieses Schreibens greifbar und ungreifbar zugleich.«52

Derridas Spurbegriff ähnelt dem von Benjamin, denn er basiert ebenfalls auf der „Gegenwärtigkeit der Abwesenheit“, die gleichzeitig aber auch „die Opposition von Anwesenheit/Abwesenheit als solche“ überschreitet.53 Er nennt die Spur „Urphänomen des Gedächtnisses“ und stellt sie Benjamins Begriff der Aura gegenüber.54 Für Barthes ist die Spur ein „sich im nicht codierten Erfahrungsmodus punctum [i. O.] vollziehendes Gedenken an die in der [Fotografie] aufscheinende ‚Wahrheit‘ des [Abbildes der Realität].“55 Dies kann sich nur als die Spur und in der Spur erkennbar machen. Gleichzeitig ist es mit einem „sprachlichen Aufschub [...], der selbst begrifflich nicht zu fixieren ist“, verbunden – der différance.56 Von Derrida wird dieser Aufschub als „Bewegung der Differenz selbst [bezeichnet], die [er] aus strategischen Gründen als Spur (trace), Aufschub (réverse) oder différance“ benannt hat.57 Barthes ist im Kontext dieses Kapitels insofern von Bedeutung, da er sich mit seinem Aufsatz über die strukturalistische Tätigkeit des Simulakrums als Theoriegebäude angenommen und die Dekonstruktion als methodisch orientiertes Konzept mit der Simulation enggeführt hat. Unverzichtbar ist im Anschluss ein Blick auf Jacques Derrida, dessen Forschungstätigkeit auf einer intensiven Auseinandersetzung mit Barthes’ Werk basiert.

51 Brune: Roland Barthes, S. 289. 52 Ebd., S. 289. 53 Geoffrey Bennington: Derridabase. In: Geoffrey Bennington, Jacques Derrida (Hg.): Jacques Derrida. Ein Portrait. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. S. 11-323, hier S. 84. 54 Jacques Derrida: Grammatologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. S. 123. 55 Brune: Roland Barthes, S. 290. 56 Ebd., S. 290. 57 Derrida: Grammatologie, S. 169.

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Jacques Derrida: Das Simulakrum als Merkmal der Spur Jede Deutung ist auch Verdeckung. Heinz Kimmerle58

In Die Tode von Roland Barthes (1987) verarbeitet Jacques Derrida seine Lektüre von Die helle Kammer und setzt sich dabei sprachlich mit dem Medium der Fotografie auseinander, bei der Metonymisierungsprozesse nicht vermeidbar sind. 59 In diesen Prozessen wird das punctum, dieses „konservierende ‚Es-ist-so-gewesen‘ wieder verflüssigt und so zugleich der Tod, das Ende wieder in einen Plural überführt.“60 Bei Derrida selbst hingegen sind „destruktive und konstruktive Aspekte [...] gleichzeitig wirksam.“ 61 Dies lässt sich insofern auf Simulation und Realität übertragen, als dass die Wahrnehmung der Realität durch die Dekonstruktion auseinandergenommen und gleichzeitig neu beziehungsweise anders aufgebaut wird. Ähnlich ist dies auch bei Roland Barthes der Fall. Derrida hält zur dekonstruktiven Lektüre von Texten an, aber dieses Vorgehen kann und soll auch auf andere Bereiche angewendet werden. Er ordnet hierfür den Subjektzentrismus in einen größeren Zusammenhang ein und versucht dabei eine semiotisch vermittelte Kritik der Metaphysik: „‚Dekonstruktionen‘ stellen in Derridas Augen ‚seit jeher die zumindest notwendige Bedingung dar, um die totalitäre Gefahr in all den bereits erwähnten Formen zu identifizieren und zu bekämpfen.‘“62 Durch Wiederholungen, Abweichungen und Entstellungen kommt die Dekonstruktion zustande. Sie „besteht nicht in einem Ensemble eindeutiger Regeln, sondern in einer Serie von Differenzen, die man auf verschiedene Achsen eintragen kann“, darunter beispielsweise, inwieweit das analysierte Werk als eine eigene Einheit betrachtet

58 Heinz Kimmerle: Derrida zur Einführung. Hamburg: Junius 1988. S. 29. 59 Vgl. Carlo Brune: Roland Barthes: Literatursemiologie und literarisches Schreiben. Würzburg: Königshausen und Neumann 2003. S. 290. Vgl. ebenso Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989. 60 Brune: Roland Barthes, S. 290. 61 Kimmerle: Derrida zur Einführung, S. 50. 62 Peter Engelmann: Einführung. Postmoderne und Dekonstruktion. Zwei Stichwörter zur zeitgenössischen Philosophie. In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2015. S. 5-32, hier S. 18, zitiert nach: Jacques Derrida: Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel … Paul de Mans Krieg. Mémoires 2. Hg. v. Peter Engelmann. Wien: Edition Passagen 1988. S. 108.

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wird oder welche Rolle vorherige Beschäftigungen mit dem Text spielen und „welches Interesse den Beziehungen von Signifikanten gilt und woher die in der Analyse angewandten metalinguistischen Kategorien stammen.“63 Doch seine Definition der Dekonstruktion geht über das reine Abarbeiten eines Textes weit hinaus, denn Derrida ermöglicht es, auch außerhalb der Texte zu dekonstruieren. Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielt der im vorherigen Kapitel eingeführte Begriff der différance, „der [es] ermöglichen soll, die Arbeit für die Vielzahl offenzuhalten, die Derrida in Texten (und damit den Bereichen, die er als Text begreift) sieht.“64 Philosophische Kategorien können und sollen mit ihr verschoben und neu ausgedeutet werden, darunter Bedeutungsräume wie Wahrheit, Bewusstsein und Gegenwärtigkeit, „indem sie ausgehend von einer bewußtseinsfremden [sic!] Instanz gedacht werden.“65 Diese Räume werden durch Codes, die für den Sinn selbiger produziert werden, zu beschreiben versucht, was „die Aufmerksamkeit auf den Lesevorgang und dessen Möglichkeitsbestimmungen [lenkt].“66 Für Derrida selbst ist an diesem Punkt wichtig, dass die Dekonstruktion nicht als allgemeine Methode missverstanden werden soll, denn trotz allem soll sie auf die Dekonstruktion von Texten und anderen Gebieten anwendbar sein. Diese anderen Gebiete begreift er ebenfalls im weiteren Sinne als Text, denn sie ist „vielmehr ein bewegliches, sich jeweiligen Kontexten anpassendes Lesen (Handeln), das auf diese Art eine Alternative zum totalisierenden Zugriff allgemeiner Methoden entwickeln soll.67 Als Text bezeichnet Derrida quasi alles: Für ihn existiert ein Text, „sobald es eine Spur gibt, eine differentielle Verweisung von einer Spur auf die andere. […] Die Rede ist ein Text, die Geste ist ein Text, die Realität ist ein Text in diesem Sinne. […] Der Text ist kein Zentrum. Der Text ist diese Offenheit ohne Grenzen der differentiellen Verweisung.“68 Die Dekonstruktion ordnet neu an und ermöglicht einen anderen Blick auf das, was auf diese Weise zerlegt wurde. Durch dieses neue Anordnen gewinnt auch die Realität eine andere Bedeutung. Leerstellen, die zuvor Lücken in der geschlossenen Oberfläche waren, sind dadurch möglicherweise versiegelt, was aber nicht

63 Culler: Dekonstruktion, S. 258. 64 Vgl. ebd., S. 23. 65 Klaus Englert: Jacques Derrida. Paderborn: Wilhelm Fink 2009. S. 73. 66 Culler: Dekonstruktion, S. 34. 67 Englert: Jacques Derrida, S. 27. 68 Peter Engelmann: Jacques Derridas Randgänge der Philosophie. In: Jeff Bernard (Hg.): Semiotica Austriaca. Wien: Österreichische Gesellschaft für Semiotik 1987. S. 96-110, hier S. 107f.

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bedeutet, dass dadurch nicht andere Leerstellen auftreten, die wiederum andere Interpretationsmöglichkeiten als zuvor zulassen.69 Durch diese Veränderung wird der gesamte Text anders wahrgenommen. So wie ein Text von unterschiedlichen Lesern verschieden interpretiert werden kann, lebt auch jeder in seiner eigenen Wirklichkeit beziehungsweise einer spezifischen Form der Realitätswahrnehmung. Die eigene Ansicht ist dabei nur ein Ausschnitt der allgemeinen Realität beziehungsweise der allgemeinen Inhalte eines Textes. Auf diese Weise wird auch Medienrealität erzeugt. Damit stellt sich allerdings die Frage, wie wirklich die eigene Realität auch für andere ist. Nicht unerheblich ist dabei, dass es der Perspektivismus des Denkens vermeidet, „erneut eine Perspektive zu verabsolutieren, dass für das eigene Denken die Begrenztheit seiner Perspektive und ihrer Verschiebbarkeit mit in Ansatz gebracht werden.“70 Es kommt zur Transgressionserfahrung: An die Stelle Gottes tritt das Subjekt als Rechtfertigungsinstanz und letzte Referenz diskursiver Ableitungen.71 Diese Erfahrung erzeugt eine Art göttliche Leerstelle: »Wenn nicht mehr Gott diese Aufgabe erfüllen soll, muß [sic!] der Mensch an die Stelle Gottes treten und dessen Aufgabe für den Bereich des Erkennens übernehmen. Der Mensch wird erkennendes Subjekt, das sich die zu erkennende Welt als Objekt gegenübersetzt. Die Subjekt-Objekt-Relation wird das Paradigma der neuzeitlichen Wissenschaft und von dort aus des neuzeitlichen Weltbildes überhaupt. […] Der auf das Subjekt als Denken reduzierte Mensch nimmt die Phänomene als gedachte auf. […] Das Subjekt als Denkendes und das Objekt als Gedachtes bezeichnen die -pole der neuzeitlichen Rationalität, die von der Wissenschaft aus alle Bereiche der modernen Gesellschaft als Norm durchdringt und sie formiert.«72

Mit der Dekonstruktion tauchen immer wieder neue Perspektiven auf, die sich „stets auf andere Perspektiven der Metaphysik und ihrer Geschichte richten.“73 Grob lässt sich sagen, dass die Dekonstruktion im Allgemeinen jedoch nicht beschreibbar ist. Ihre Wirkungsweise lässt sich auch nicht an einem einzigen Beispiel darlegen, da der Begriff hierfür zu komplex angelegt ist. Das bedeutet, dass

69 Vgl. Wolfgang Iser: Das Zusammenspiel des Fiktiven und des Imaginären. In: Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 1996. S. 287-300. 70 Kimmerle: Derrida zur Einführung, S. 50. 71 Vgl. Engelmann: Einführung, S. 13. 72 Ebd., S. 14. 73 Kimmerle: Derrida zur Einführung, S. 50.

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Texte – und im speziellen Fall auch die verschiedenen Realitäten – nicht nur verschieden ausgelegt werden können, sondern dass sie durch diese unterschiedlichen Auslegungen dazu gebracht werden, „ihre verborgenen und verdeckten Gehalte und Intentionen preiszugeben.“74 Wenn sie die Wahrheit repräsentieren, wird hier deutlich, dass sie gerade diese Vielheit von „gleichzeitigem An- und Abwesendsein von Wahrheit, des etwas Erblickens und anderes Aus-dem-Blickfeld-Ausschließens nicht zur Geltung bringen.“75 Die Wahrheit lässt sich im Sinne von Realität umdeuten und was aus dem unmittelbaren Blickfeld und der Erkenntnis ausgeschlossen ist, liegt nicht innerhalb dieser Realität, die man sieht. 76 „Man kann immer nur das exponieren, was in einem bestimmten Augenblick anwesend [i. O.], offenbar werden kann, was sich zeigen kann, sich als ein Gegenwärtiges präsentieren kann, ein in seiner Wahrheit gegenwärtiges Seiendes, in der Wahrheit eines Anwesenden oder des Anwesens der Anwesenheit“, so Derrida in seinen Erklärungen zum Begriff der différance. Sie gibt sich dem Gegenwärtigen hin, denn indem „sie sich zurückhält und nie exponiert, übersteigt sie genau in diesem Punkt und geregelterweise die Ebene der Wahrheit.“77 Sie verbirgt sich dabei nicht „wie ein mysteriöses Seiendes, im Dunkel eines Nicht-Wissens oder in einem Loch, dessen Ränder unbestimmbar wären“ und gehört in diesem Zusammenhang „in keine Kategorie des Seienden, sei es abwesend oder anwesend.“78 Genau diese différance bewirkt eine Bewegung des Bedeutens, die nur dann ermöglicht wird, »wenn jedes sogenannte ‚gegenwärtige‘ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal (marque) des vergangenen Elements auf sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen lässt, wobei die Spur sich weniger auf die sogenannte Gegenwart bezieht, als auf die sogenannte Vergangenheit, und durch diese

74 Ebd., S. 51. 75 Ebd., S. 51. 76 Man kann folglich in einer Simulation der Wahrnehmung der Realität leben, die dem eigenen Blick auf die Welt entspricht und dennoch nicht mit der Realität anderer Menschen übereinstimmt. 77 Jacques Derrida: Die différance. In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2015. S. 76-113, hier S. 80. 78 Ebd., S. 80.

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Beziehung zu dem, was es nicht ist, die sogenannte Gegenwart konstituiert: es selbst ist absolut keine Vergangenheit oder Zukunft als modifizierte Gegenwart.«79

Die hier beschriebene Spur, die in engem Zusammenhang mit der différance steht, ist laut Derrida kein Anwesen, sondern das Simulakrum eines Anwesens, das wiederum die Spur selbst auflöst und zum Erlöschen ihrer Struktur führt.80 Nicht aber das Erlöschen, dem die Spur immer unterliegen können muss, „sonst wäre sie nicht Spur“, sondern die „unzerstörbare und monumentale Substanz“ ist es, die diese „von Anfang an als Spur konstituiert“, sie als „Ortsveränderung einführt und in ihrem Erscheinen verschwinden, in ihrer Position aus sich hinausgehen lässt.“81 Erlischt also die frühere Spur des Unterschiedes, so ist dies „‚dasselbe‘ wie das Zeichen ihrer Spur im metaphysischen Text[, indem] das Anwesende […] zum Zeichen des Zeichens, zur Spur der Spur [wird].“82 Die différance ist somit „vielmehr der nicht-seiende Ermöglichungsgrund von Etwas […] Sie ist die die Differenz hervorbringende reine Bewegung, die (reine) Spur.“83 Ein Text ist nach dieser Erklärung folglich nicht von seiner Grenze umgeben, sondern die Grenze durchdringt ihn: Er „stellt das Monument und das Trugbild der Spur zugleich vor, die zugleich gezeichnete und ausgelöschte, zugleich lebendige und tote Spur, wie immer schon davon lebend, daß [sic!] sie auch in ihrer bewahrten Inschrift das Leben vortäuscht.“84 Wahrnehmbares und Nichtwahrnehmbares der Spur wird in diesem Sinn ohne Widerspruch gedacht, gleichzeitig verliert sich die „frühe Spur der Differenz […] unwiederbringlich in der Unsichtbarkeit, und dennoch wird ihr Verlust selbst verborgen, bewahrt, gewahrt, verzögert.“85 Die Dekonstruktion arbeitet von innen heraus, denn nur aus dem Inneren kann sie sich konstituieren, „um schließlich den nicht strukturell zu erfassenden Geschehenscharakter der Wahrheit freizulegen.“ 86 Die Wahrheit muss als Realität betrachtet werden und nicht als Simulation oder Simulakrum derselben. Die Wahrheit ist echt und kann nicht verschleiert werden, denn sie wird die Wahrheit bleiben. Eine Verhüllung der Wahrheit wäre damit höchstens eine Modifikation und somit eine Simulation der eigentlichen Wahrheit in Form von etwas, das auf

79 Ebd., S. 91. 80 Vgl. ebd., S. 107. 81 Ebd., S. 107. 82 Ebd., S. 107. 83 Englert: Jacques Derrida, S.75. 84 Derrida: Die différance, S. 107. 85 Ebd., S. 107f. 86 Derrida: Grammatologie, S. 274.

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ideeller Ebene wiederum der Medienrealität sehr nahekommt. Durch Dekonstruktion wird die Simulation, wenn sie denn Lücken aufweist, sichtbar gemacht und kann möglicherweise erkannt werden. Aber es scheint ein Bruch, eine Leerstelle in der Simulation notwendig zu sein, um dieses dekonstruktive Denken erst wirklich in Gang setzen zu können. Dabei ist allerdings ein anderes Denken gemeint als das, was im Jugendalter bei vielen Heranwachsenden ausgeprägt wird, bei dem die Welt an sich als solche hinterfragt wird. Für Derrida ist es jedoch nicht das Ziel, dass Dekonstruktion dazu führt, dass „Verstehen im Sinne einer Verschmelzung der Horizonte [geschieht], sondern [durch] das Herausarbeiten der Unterschiede, die nicht erneut zu einer Einheit zusammengenommen werden.“87 Diese Unterschiede lassen sich so interpretieren, dass das Erkennen und damit Enttarnen der Simulation und das Wissen um selbige nicht dem entspricht, was man für real eingestuft hat: Das, was bisher für kohärent und konsistent gehalten wurde, ist nicht so, wie es zunächst wahrgenommen wurde. Damit kann in letzter Konsequenz nichts mehr als Realität betrachtet werden – die Wirklichkeit ist immer von den eigenen Sichtweisen maßgeblich mitgeprägt. Wird das Simulakrum erkannt, fällt es schwer, es als Teil des eigenen Alltags zu akzeptieren, es bleibt fremd und das Leben in ihm auf gewisse Weise ebenfalls unecht und irreal. Im Hinterkopf bleibt das Wissen um die dekonstruierte Welt, die anders ist als das, wofür man sie gehalten hatte. Folglich besteht auch die closeness destruktiver Lektüren „nicht in einem Wort-für-Wort- oder Zeilefür-Zeile-Kommentar, sondern in ihrer Aufmerksamkeit auf das, was [sich] anderen Versehensmodi […] widersetzt.“88 Diese gleichzeitige Präsenz und Absenz wird in der „supplementären Logik anders gedacht, nämlich als offene Möglichkeit, die unter keinem bestimmten Prinzip steht und die sozusagen die verschiedensten Mischungsverhältnisse zulässt.“89 Diese Mischungsverhältnisse lassen sich hier möglicherweise so übertragen, dass sie das Zusammenspiel von Simulakrum beziehungsweise Simulation und Realität meinen. Für Derrida sind Realität und Simulation in Kombination die Wahrheit.90

87 Kimmerle: Derrida zur Einführung, S. 52. 88 Culler: Dekonstruktion, S. 289. 89 Ebd., S. 52. 90 Vgl. ebd., S. 51.

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Jean Baudrillard: Die Agonie des Realen Nicht die Karte, sondern Spuren des Realen leben hier und da in den Wüsten weiter, nicht in den Wüsten des Reiches, sondern in unserer Wüste, in der Wüste des Realen selbst. Jean Baudrillard91

Als vieles wurde Jean Baudrillard schon bezeichnet: Die einen sehen in ihm einen Modephilosophen der achtziger Jahre des letzten Jahrtausends, die anderen einen polemisierenden Diagnostiker eines bestimmten Zeitgeistes, und wieder andere betrachten den Franzosen als theoretischen Anarchisten.92 „Man muß [sic!] Baudrillard wie Science-fiction [i. O.] lesen“, ist der deutschen Ausgabe des Essays Agonie des Realen (1978) vorangestellt.93 Für die Rezeption von Baudrillard ist das programmatisch, seine Thesen lesen sich oftmals abwegig, sind verknüpft mit Ideen und Bildern aus verschiedenen Kontexten, die auf den ersten Blick kaum Gemeinsamkeiten aufweisen und auch nur mittels starker Abstraktion erschlossen werden können. Am stärksten wird Baudrillard mit der Simulationstheorie in Verbindung gebracht, in der er verschiedene Arten von Simulakra entwirft und kategorisiert. So führt er beispielsweise in seinem Werk Der symbolische Tausch und der Tod (1976) die systematische Ordnung der Simulakra ein und weist diese verschiedenen historischen Epochen zu, obwohl er ansonsten eher ahistorisch arbeitet. In seinen Zeichentheorien verweist er unter anderem auf Genetik und genetische Codes, Linguistik und animalische Kommunikation.94 Baudrillard zieht Verbindungen und Vergleiche zwischen Konstrukten, die in dieser Form kaum haltbar sind, weswegen er eher in den Randbereichen der Medientheorien zu verorten ist, auch wenn er sich in seinen Texten auf Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) oder Marshall McLuhans magische Kanäle beruft. Baudrillard muss auf gewisse Weise also tatsächlich wie Science-Fiction gelesen werden, was sich auch daran spiegelt, wie viele seiner Ideen speziell in den Filmen der späten 1990er Jahre verarbeitet oder zumindest

91 Jean Baudrillard: Die Präzession der Simulakra. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978. S. 7-70, hier S. 8. 92 Vgl. Falko Blask: Baudrillard zur Einführung. Hamburg: Junius 2013. S. 7. 93 Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve 1978. S. 0. 94 Vgl. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes & Seitz 2011. S. 108.

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lose aufgegriffen, wenn auch teilweise falsch interpretiert wurden.95 Gleichzeitig lässt aber genau diese filmische und literarische Umsetzung auch andere Interpretationsmöglichkeiten zu, ebenso wie durch genau jene diese Brüche und Lücken im Theoriegebäude immanent offenbar werden, die so auf andere Weise mit neuen Ideen angereichert werden können. Baudrillard vertritt in seinen Hypothesen insgesamt eine eher poststrukturalistische Tradition von Zeichentheorien. Aus seiner Perspektive hat jedes Phänomen das Potenzial, simuliert zu werden. Im Endeffekt ist es jedoch gleichgültig, ob es simuliert ist oder nicht, und kann dadurch zur Realität werden. Dabei lebt der Mensch in einer Art Postmoderne, ohne sich dessen bewusst zu sein, denn diese wird noch nicht erkannt. Stattdessen wird das Hyperreale als Realität betrachtet. Im Mittelpunkt dieses Entwurfs steht die Diagnose des Verschwindens des Realen, wodurch die Simulation und die Hyperrealität an Bedeutung gewinnen. Die Simulation ist dabei nicht als Spiegel der Realität oder gar als Modell selbiger zu sehen; die simulierte Hyperrealität erschafft sich selbst ohne Referenz, das heißt, es existieren keine Referenten auf das Reale mehr: Zeichen verweisen auf keinen Ursprung, die Realität scheint nicht mehr zu existieren. Gibt es in diesem Kontext die Realität als solche für Baudrillard überhaupt? Seiner Ansicht nach verschwindet genau genommen nicht die Realität selbst, sondern vielmehr die „Formen bekannter und vertrauter Realität.“96 Ebenso stellt Baudrillard in seinem Werk Das perfekte Verbrechen (1995) die These auf, dass die Illusion getötet werden müsse zugunsten einer absolut realen Welt – genau das ist die Simulation.97 Ihr steht damit aber nicht das Reale gegenüber, das er als Sonderfall der Simulation deklariert, sondern die Illusion. In diesem Bezug sieht er jedoch keine „Krise der Realität“, vielmehr „wird es immer noch mehr Reales geben, denn das wird von der Simulation produziert und reproduziert und ist selbst nur ein Modell der Simulation.“98 Die Simulation betrachtet er dabei als einen „gigantischen Apparat an Sinn, Berechnung und Effizienz, der all unsere technischen Artefakte bis hin zur aktuellen virtuellen Realität umfasst.“99 Sie führt zu einer Art Ununterscheidbarkeit zwischen wahr und falsch und wird damit selbst zu einem Simulakrum, das wiederum genau diese Ununterscheidbarkeit bestätigt. Unsere Kultur versucht aber weiterhin, einen Sinn zu produzieren, obwohl sie, so

95 Vgl. die Wüste der Wirklichkeit aus Matrix auf S. 230 dieser Arbeit. 96 Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 36. 97 Vgl. Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen. München: Matthes & Seitz 1996. S. 33f. 98 Ebd., S. 33. 99 Ebd., S. 34.

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Baudrillard, längst weiß, dass es keinen gibt: „[I]st die Illusion des Sinns eine vitale Illusion, oder aber eine, die die Welt und das Subjekt selbst zerstört?“100 Die Illusion selbst hält er dabei für unzerstörbar, gibt jedoch zu bedenken, dass nur das, „was die Realität übersteigt, [...] die Illusion der Realität überwinden“ kann.101 Baudrillard versucht, den idealistischen Ursprung gedanklich aufzugeben, wobei er wie der Soziologe Niklas Luhmann vorgeht und zur Erkenntnis kommt, dass jetzt etwas in Erscheinung getreten ist, dessen Ursprünge unbekannt sind, und dies als Phänomen zu beschreiben versucht. Im Unterschied zu Platon hat die Welt in Baudrillards Sichtweise folglich keinen Abbildcharakter (mimesis) mehr, denn die Simulation beziehungsweise das Simulakrum manifestiert sich durch das Auslöschen jeglicher Referenz.102 In Der symbolische Tausch und der Tod geht er dezidierter darauf ein, was er als Simulakrum und dessen Ordnungssystem versteht. Dabei teilt er die Simulakra zunächst in die von ihm zeitlich verorteten Kategorien Imitation, Produktion und Simulation ein. So ist die Imitation „das bestimmte Schema des ‚klassischen‘ Zeitalters von der Renaissance bis zur Revolution“, während er die Produktion dem industriellen Zeitalter zuschreibt, und schließlich die Simulation als bestimmendes Schema „der gegenwärtigen Phase, die durch den Code beherrscht wird“ wahrnimmt.103 Ein Simulakrum erster Ordnung zeigt damit noch deutlich einen Unterschied zwischen Original und Kopie. Das Simulakrum zweiter Ordnung erzeugt die Realität neu, wodurch gleichzeitig auch die Differenz zwischen Imaginärem und Realem zerfressen wird. Bei einem Simulakrum der dritten Ordnung besteht schließlich keine Referenz mehr zur Realität und das virtuelle Leben verselbstständigt sich völlig.104 Im Essay Die Transparenz des Bösen etabliert Baudrillard 1991 sogar eine vierte Ordnung der Simulakra, die auf keinerlei Form von Referenz mehr zurückgreifen kann: Es handelt sich um ein „fraktale[s] Stadium des Werts“, das nun jenseits des Codes verortet ist. 105

100 Ebd., S. 34. 101 Ebd., S. 37. 102 Baudrillard stand der Matrix-Trilogie kritisch gegenüber, da er seine Theorien dort falsch aufgegriffen sah und seiner Ansicht nach eher eine Version von Platons Höhlengleichnis erzählt werde. Vgl. Aude Lancelin: Baudrillard entschlüsselt die „Matrix“. Zkm.de (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 103 Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982. S. 79. 104 Vgl. ebd., S. 79f. 105 Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen: Ein Essay über extreme Phänomene. Berlin: Merve 1992. S. 11.

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Viele der Begriffe, die Baudrillard verwendet und für seine Theorien einsetzt, hat er aus der Naturwissenschaft entlehnt. Diese erörtert er bereits in Agonie des Realen und definiert ein Simulakrum als Trugbild, aber auch als Fassade und Schein, und leitet dies vom lateinischen simulacrum her, das für „die Nachbildung der Gebilde“ steht.106 Damit ist sein Begriff von Simulakrum bereits relativ weit gefasst – doch er führt ihn näher aus, unterscheidet auch Simulieren und Dissimulieren deutlich voneinander. Während das eine die Vortäuschung ist, ist das andere das Unkenntlichmachen eines Gegenstandes.107 Beides sind verschiedene Arten des Fingierens, wobei bei der Dissimulation fingiert wird, „etwas, das man hat, nicht zu haben“, während bei der Simulation fingiert wird, „etwas zu haben, was man nicht hat.“108 Was also ist real? Nach Baudrillard wird beim Dissimulieren „das Realitätsprinzip nicht angetastet“, man täuscht nur vor, während bei der Simulation immer wieder die Differenz infrage gestellt wird von Wahrem, Falschem, Realem und Imaginären.109 Als Beispiel hat er bereits im Vorfeld ein Reich und seine kartografische Darstellung gewählt, was er inhaltlich an der Fabel von Borges orientiert, die er mit der Vorstellung eines großen, in sich geschlossenen, nach außen völlig homogen wirkenden Reiches verbindet.110 Ein Simulakrum bezieht sich folglich nicht mehr auf etwas Bestimmtes, sondern erschafft durch genau diese Bezugslosigkeit erst das Hyperreale. Beides muss sich nicht decken, denn die Karte kann größer als das Reich sein oder das Reich größer als die Karte, und dennoch ist es „ein bisschen [so,] wie sich ein Duplikat in zunehmendem Alter schließlich mit dem Realen vermischt.“111 Er bezeichnet das allerdings auch als überholt und ein Simulakrum zweiter Ordnung.112 Baudrillard bedient sich mit diesem Beispiel starker Abstraktion, die sich auf verschiedene „Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d. h. [i. O.] eines Hyperrealen“ beruft.113 Damit verweist das Hyperreale nicht auf die Realität und ist ursprungslos; häufig nimmt dabei das Hyperreale den Platz der Realität ein. Alles wird zur Wüste des Realen: „Nicht die Karte, sondern Spuren des Realen leben hier und da in den Wüsten weiter, nicht in den Wüsten des

106 Baudrillard: Die Präzession der Simulakra, S. 6. 107 Vgl. ebd., S. 6. 108 Ebd., S. 10. 109 Vgl. ebd., S. 10. 110 Vgl. ebd., S. 7. 111 Baudrillard: Die Präzession der Simulakra, S. 7. 112 Vgl. ebd., S. 7. 113 Ebd., S. 7.

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Reiches, sondern in unserer Wüste, in der Wüste des Realen selbst.“ 114 Die anfängliche Vorstellung eines geschlossenen, homogenen Reiches zerfällt: Es ist kaum möglich, das Reale mit Simulationsmodellen zur Deckung zu bringen, „die Magie des Begriffs geht vom Charme des Realen aus.“115 Dabei wird das Imaginäre der Repräsentation als „ein ideales Nebeneinander von Karte und Territorium“ definiert, erlebt seinen Höhepunkt und geht gleichzeitig zugrunde, „verschwindet in der Simulation.“116 Doch mit der Simulation kann auch die Metaphysik nicht weiterexistieren, kein „Spiegel des Seins und des Erscheinenden, des Realen und seines Begriffes“ besteht mehr. Das Reale lässt sich also produzieren und diese Produktion „basiert auf verkleinerten Zellen, Matrizen und Erinnerung, auf Befehlsmodellen – und ausgehend davon lässt es sich unzählige Male reproduzieren.“ 117 Damit ist es eigentlich nicht mehr „von der Ordnung des Realen, da es von keinem Imaginären eingehüllt wird.“118 Das Hyperreale ist folglich das „Produkt einer sich ausbreitenden Synthese von kombinatorischen Modellen in einem Hyperraum ohne Atmosphäre“ und begründet die Ära der Simulation.119 Das Reale wird ersetzt durch Zeichen des Realen, also mit einer „dissuasive[n] Operation“ und der „Dissuasion realer Prozesse durch ihre operative Verdopplung, eine programmatische, fehlerlose Signalmaschinerie, die sämtliche Zeichen des Realen und der Peripetien (durch Kurzschließen) erzeugt.“120 Anders formuliert: Dem Realen wird jede Möglichkeit genommen, sich selbst zu reproduzieren, was Baudrillard als „lebendige Funktion des Modells in einem System des Todes“ bezeichnet, bei dem das Hyperreale vor dem Imaginären steht und damit untrennbar ist vom Realen und dem Imaginären selbst.121 Hier greift erneut der symbolische Tausch mit dem Tod in einem System des Todes. Baudrillard führt diesen Tausch als Konzept ein, das er auf einer höheren Ebene der Hyperrealität ansiedelt, in welchem der Schritt von der Simulation in die Destruktion dargestellt wird.122 Die Simulation scheint fast schon eine Strategie des Realen zu sein, „des Neo-Realen und des Hyper-Realen,

114 Ebd., S .8. 115 Ebd., S. 8. 116 Ebd., S. 9. 117 Ebd., S. 9. 118 Ebd., S. 9. 119 Ebd., S. 9. 120 Ebd., S. 9. 121 Ebd., S. 9f. 122 Vgl. Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 50. Vgl. ebenso Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 92f.

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also eine Strategie, die die Strategie der Dissuasion überall verdoppelt.“123 Das Realitätsprinzip deckt sich hierbei mit einem bestimmten Stadium des Wertgesetzes: Das ganze System kippt „in die Unbestimmtheit, jegliche Realität wird von der Hyperrealität des Codes und der Simulation aufgezogen[, a]nstelle des alten Realitätsprinzips beherrscht uns von nun an ein Simulationsprinzip.“124 Baudrillard folgert hieraus, dass es keine Ideologie mehr geben kann, sondern nur noch Simulakra.125 Das Hyperreale ist für Baudrillard im Folgenden „vor dem Imaginären, vor jeder Trennung von Realem und Imaginärem sicher“ und rekurriert hierbei auf die göttliche Referenzlosigkeit der Bilder.126 Religion selbst ist für ihn das Simulakrum des Göttlichen: Laut biblischem Gebot ist es verboten, Ebenbilder Gottes zu erschaffen, denn das Göttliche, das der Natur innewohnt, ist unvorstellbar.127 Baudrillard widerspricht und stellt die Frage, was passiert, „wenn es durch die Ikonen bekannt wird und sich in den Simulakra vervielfältigt?“128 Was ist die Gottesidee, wenn an ihre Stelle sichtbare Ikonenmaschinerie tritt? Hier muss wiederum auf Jacques Derrida und die göttliche Leerstelle verwiesen werden, denn Gott war schon immer nur ein Simulakrum beziehungsweise (s)ein eigenes Simulakrum. Wenn jedoch Gott in der Epiphanie der Macht verblasst, folgt diesem ein „Ende der Transzendenz, die [fortan] nur noch ein Alibi für eine von Einflüssen und Zeichen völlig befreite Strategie dient“, weswegen aus der Sicht Baudrillards der Tod des göttlichen Referentials gebannt werden muss.129 „Kein Zeitalter hat je so viele Zeichen und Bilder produziert wie das unsere“, analysiert Samuel Strehle in Zur Aktualität von Jean Baudrillard (2012), und attestiert Baudrillard eine Mischung „aus objektiver Gegenwartsanalyse und fiktionaler Überspitzung“ in deren Beschreibung des Zeitalters der Simulation „die Welt in einem derart fortgeschrittenen Zustand der Verbildlichung [ist], dass es zunehmend unmöglich wird, den Unterschied zwischen Bild und Wirklichkeit überhaupt noch zu bestimmen.“130 Um virtuelle Realitäten geht es hier noch gar

123 Baudrillard: Die Präzession der Simulakra, S. 16. 124 Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes & Seitz 2011. S. 10. 125 Vgl. ebd., S. 10. 126 Baudrillard: Die Präzession der Simulakra, S. 10. 127 Vgl. ebd., S. 12. 128 Ebd., S. 12. 129 Ebd., S. 14. 130 Samuel Strehle: Zur Aktualität von Jean Baudrillard. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer 2012. S. 95.

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nicht explizit, aber genau durch diese Blickweise wurden Baudrillards Thesen einer Simulationstheorie möglicherweise von Science-Fiction- und Cyberpunkautoren sehr früh aufgenommen, fälschlicherweise mit virtueller Realität verknüpft und von vielen wohl auch die Hyperrealität fehlgedeutet. Sein Simulationsbegriff unterläuft nämlich die „klare Unterscheidung zwischen Fiktion und Simulation.“131 Für Baudrillard besteht die Simulation „gerade im Einswerden von Realität und Fiktion.“132 Dies ist nicht als Vortäuschung zu interpretieren, „sondern [ist] eine Verwandlung des Wirklichen durch das Fiktive“, wodurch Fiktion und Simulation auf ununterscheidbare Weise „ineinander übergehen und miteinander verschmelzen.“133 In diesem Zusammenhang stellt sich aber auch die Frage, wie Baudrillard virtuelle Realitäten wahrgenommen hat, denn ist das Vorangegangene nicht auch eine mögliche Beschreibung selbiger? In der 2004 erschienenen Monografie Die Intelligenz des Bösen beschreibt er schließlich, dass die Produktion der Simulakra in der virtuellen Realität der Mediengesellschaft ihren Höhepunkt findet. Hier tritt jedoch einer natürlichen Welt eine künstliche entgegen; die virtuelle Realität selbst betrachtet Baudrillard als „höchstes Stadium der Simulation.“134 Im Prinzip verarbeitet er hier jedoch bereits Beobachtungen aus den späten 1990er Jahren – für die vorliegende Arbeit liegt das Augenmerk aber auf seinen früheren Werken.135 Im Essay Simulacra and Science-Fiction (1991) rückt Baudrillard sich sogar schon selbst in die Nähe von Science-Fiction. Im Cyberpunk war er allerdings schon vorher verortet und möglicherweise ist der Text als Reaktion darauf zu werten.136 Die Theorie der Medien wie auch die Science-Fiction haben für ihn nämlich dasselbe Problem: Sie werden von der Realität überholt und sind in ihren Spekulationen im Zweifelsfall nur wenig präzise. Die Science-Fiction als Genre verknüpft er innerhalb der Ordnung der Simulakra mit der zweiten Ordnung, das die Realität neu erzeugt. Ein Simulakrum der dritten Ordnung verweist auf nichts mehr und kann folglich auch nicht auf fiktive Welten verweisen, und dennoch ist

131 Ebd., S. 97. 132 Ebd., S. 97. 133 Ebd., S. 97. 134 Jean Baudrillard: Die Intelligenz des Bösen. Wien: Passagen 2004. S. 37. 135 Während Baudrillard in seinen frühen Werken wie Agonie des Realen Szenarien entwirft, wie sich Medien weiterentwickeln könnten und welchen Einfluss das auf die Gesellschaft hat, reflektiert er in seinem Spätwerk eher die zeitgenössische Technologie. 136 Vgl. Jean Baudrillard: Simulacra and Science Fiction. In: Science Fiction Studies. Ausgabe 18, Nummer 3. November 1991. S. 309-313.

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genau das eine der Stärken: „[Science-Fiction] adds [i. O.] by multiplying the world’s own possibilities.“137 Trotzdem lassen diese Modelle genau genommen keinen Raum zur fiktionalen Extrapolation und erlauben keinen Raum für jedwede Art von Transzendenz, denn das Stadium der Simulation verbietet dies. Dabei übertrifft in Baudrillards Denken die Realität die Simulation. Das wertet er als sicherstes Zeichen dafür, dass das Imaginäre möglicherweise überholt wurde, obwohl das Imaginäre Vorwand des Realen in einer vom Realitätsprinzip dominierten Welt ist. Und erst mit dem Ende der Science-Fiction beginnt die Zeit der Hyperrealität: „In point of fact, [Science-Fiction] of this sort is no longer an elsewhere, it is an everywhere; in the circulation of models here and now, in the very axiomatic nature of our simulated environment.“138 Insgesamt ist Baudrillards Simulationstheorie aber keineswegs nur als Trauer über den Wirklichkeitsverlust zu sehen, sondern „vielmehr als Diagnose des Übergangs eines als ‚modern‘ beschriebene[n] soziale[n] Phänomen[s] in einer postindustriellen Gesellschaft.“139 Es handelt sich bei dieser Perspektive auf die Simulation und die Agonie des Realen aber um keine verneinende Kritik. Sie ist vielmehr als eine ethnologische Diagnose zu sehen, „die alternierende Positionen einnimmt und dabei herkömmliche Konzepte der Negativität verabschiedet.“ 140 Das Reale selbst gehört aber genau genommen nicht ganz zu Baudrillards eigentlichem Untersuchungsgebiet. Er selbst sah sich als jemand, der sich auf das Virtuelle spezialisiert hat, denn mit der Realität, sagte Baudrillard einmal, könne er nichts mehr anfangen.141 Trotzdem lässt sich ihm eine metaphysische Komponente unterstellen, indem er der Welt immer wieder die imaginäre Konstruktion von binären Gegensätzen vorsetzt: So steht die politische Ökonomie gegen den symbolischen Tausch, die Realität gegen die Simulation und so weiter. Baudrillards Theorien wurden im Lauf der Zeit häufig kritisiert: Die gesamte Theorie sei konservativ und am Ende gar fatalistisch und wenig wissenschaftlich, während am Begriff des Simulakrums und der Simulation mangelnde begriffliche und theoretische Differenzierung beanstandet wurde.142 Schon der Linguist Ferdinand de Saussure, der sowohl den Strukturalismus als auch die Semiotik prägte, ordnete Zeichen (signifié) und Bezeichnendes (signifiant) an. Für ihn vereinigt sich ein sprachliches Zeichen „in sich nicht mit einem Namen und einer Sprache,

137 Ebd., S. 310. 138 Ebd., S. 312. 139 Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 43. 140 Ebd., S. 47. 141 Vgl. ebd., S. 48. 142 Vgl. Stiegler: Simulakrum, hier S. 226.

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sondern [in] eine Vorstellung und ein Lautbild“, wobei die Vorstellung für das Bezeichnete steht und das Lautbild für das Bezeichnende.143 Auch Roland Barthes unterscheidet bei Zeichen zwischen dem Bezeichnendem und dem Bezeichnetem, bei dem ein Begriff auf einen Gegenstand referiert, einen materiellen Bedeutungsträger, der für ihn das eigentliche Zeichen darstellt, nämlich das, das dem Bedeutenden seinen eigentlichen Sinn verleiht. 144 Aber was ist nun bei Baudrillard noch zeichenhaft an einem bedeutungslosen Zeichen, dessen Vorstellung, das Bezeichnete, unklar geworden ist? Braucht es nicht immer auch eine Realität, die damit bezeichnet wird? Denn die Hyperrealität verweist auf keine Originale mehr, sie ist eine subjektlose Produktion und Zirkulation. Eine weitere Frage ist, ob Rezipienten mit einer gewissen Medienkompetenz nicht auch zunehmend Illusionismuskritik lernen, da der Umgang mit Medien auch die Augen für das Medium selbst öffnen kann und ein Bewusstsein dafür generiert. Dennoch unterstellt Baudrillard, dass der Mensch sich nicht an veränderte Umgebungen anpassen kann: Denn das Hyperreale ist nicht unbedingt weniger real, als es anders ist. Es kommt allein auf das Empfinden dessen an, was als real wahrgenommen wird. Ob diese spezifische Realität nun innerhalb eines von Baudrillard definierten Simulakrums liegt oder nicht, ist wiederum eine andere Frage. In den 1970er Jahren zählte Baudrillard noch zur Avantgarde, heute verlieren seine Theorien zunehmend an Bedeutung und Aussagekraft. Durch die Entwicklung des Cyberpunks verlagern sich die Inhalte; sowohl der Cyberpunk als auch Baudrillard selbst sind Phänomene der Medienkultur. Aus diesem Grund werden wohl beide auch häufig zusammen benannt und Baudrillard in der popkulturellen Ausdeutung virtueller Realitäten so oft zitiert.145 Es ist dennoch festzustellen, dass nur wenig von Baudrillards Befürchtungen bislang tatsächlich eingetroffen ist, seine Überlegungen aber ein fruchtbares Substrat für weitere Gedankengänge der Medientheorien sind.

143 Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin: De Gruyter 2001. S. 76ff. 144 Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1964. S. 8896. 145 Vgl. Kellner: Media Culture, S. 298f.

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Paul Virilio: Realität und Virtualität Man darf seinen Augen nicht mehr trauen. Paul Virilio146

Paul Virilio unterscheidet sich von Jean Baudrillard vor allem in einem entscheidenden Detail: Ab einem bestimmten Punkt kann laut seiner Betrachtungen nicht mehr unterschieden werden, ob etwas simuliert oder real ist. Virilio erarbeitet sich seine Theorien über historische Querverweise und argumentiert über Kunstgeschichte im Zusammenhang mit der Entwicklung von der Malerei hin zu Fotografie und Film, bis schließlich Maschinen das Sehen für den Menschen übernehmen. Heute existiert die Sehmaschine, aber wohl anders, als Virilio es vermutet hatte. Aus seinem Blickwinkel wird die Wahrnehmung automatisiert, das heißt, in ihrem Zentrum steht die Industrialisierung des Sehens.147 Dies führt an die Grenzen der menschlichen körperlichen Wahrnehmung, bei der Automaten das Sehen übernommen haben. Es werden hierbei nur noch instrumentelle Bilder erzeugt, die keiner menschlichen Beobachtung mehr zugänglich sind – es sind lediglich Informationen, die „von der Maschine für die Maschine hergestellt werden.“ 148 Das Sehen selbst betrachtet Virilio als einen Industrialisierungsprozess, bei dem die Augen gezähmt werden. Somit sind für ihn „Wahrnehmen und Sehen [...] Ergebnisse eines Lernprozesses; sie sind eine Art Sprache, die eine Gesellschaft hervorbringt, die sich aber auch ändert.“149 Der Blick auf die Welt verändert sich in einer Gesellschaft dadurch ebenfalls, besonders wenn die technischen Mittel noch fehlen. Mit zunehmender Technisierung des Sehens verliert das unmittelbare Umfeld mehr und mehr seinen Einfluss auf den menschlichen Erfahrungsbereich,

146 Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 30. 147 Vgl. Paul Virilio: Die Sehmaschine. In: Paul Virilio: Die Sehmaschine. Berlin: Merve 1989. S. 133-172, hier S. 163. 148 Ebd., S. 137. Die Beseitigung der Entfernung bringt jedoch noch keine wirkliche Nähe, sondern nur eine scheinbare. Heidegger schrieb in Holzwege, dass beispielsweise auch die Fernsehberichterstattung nur eine scheinbare Nähe schafft. Caldwell hingegen sagt, Nähe sei ein Kommunikationsverhältnis und habe mit (räumlicher) Distanz nichts zu tun. Vgl. Martin Heidegger: Holzwege. Frankfurt am Main: Klostermann 1963. Vgl. John Thornton Caldwell: Televisuality. Style, Crisis, and Authority in American Television. New Brunswick: Rutgers University Press 1995. 149 Daniela Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur. Analyse aktueller Medientheorien. Berlin: Volker Spiess 2003. S. 64.

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„und es wird das in Gang gebracht, was [Virilio] ‚Delokalisation‘ nennt, nämlich die Zerstörung des Bewusstseins für Entfernungen, Räume und Dimensionen.“150 Die Wahrnehmung wird dahingehend verschoben, dass sie immer mehr auf dem Visuellen basiert: „Alles wird zunehmend medial, d. h. [i. O.] über Bilder erfasst und interpretiert.“151 Virilio zieht hieraus den Schluss, dass eine neue Realität entworfen wird, die auf den elektronischen Medien aufbaut.152 Ziel ist hierbei die professionelle Simulation als Systematik, die die Erfindung von Sehmaschinen mit einschließt, inklusive der Entwicklung von Maschinen „zur synthetischen Wahrnehmung, die fähig sein sollen, uns in bestimmten Bereichen zu ersetzen, […] und zwar nicht wegen einer begrenzten Tiefenschärfe unserer Sehorgane […], sondern wegen einer zu geringen Zeitschärfe [i. O.] unserer physiologischen Bildaufnahme.“153 Gleichzeitig zieht Virilio Verbindungen zwischen optischer Wahrnehmung und Licht, denn ohne Licht kann kein Sehen erfolgen. Erst das Licht erlaubt es, „das Reale zu erfassen, unsere gegenwärtige Umwelt zu sehen, zu begreifen“, was wiederum mit einem „fernliegenden visuellen Gedächtnis, ohne das es keinen Akt des Blickes gäbe“, verknüpft wird.154 Immer wieder beruft sich Virilio auf Geschwindigkeit, aber auch die Geschichte der Optimierung von Kriegstechniken betrachtet er vor der Folie des Fortschritts von Kommunikations- und Speichermedien, was bis zur kompletten Industrialisierung von menschlicher Wahrnehmung geht.155 Am Ende dieser Entwicklung steht die Visionik, bei der der Mensch aus dem Kreislauf von Mensch und Maschine vollständig ausgeschlossen sein wird. Die Informationen, die immer mehr über und mit Bildern vermittelt werden, werden „nur noch von Maschinen für Maschinen produziert, weil der Mensch zu langsam für die Technik geworden ist.“156 Es ist die Ästhetik des Verschwindens, die Visionik ermöglicht ein „Sehen ohne Blick“, bei dem „das Interface zwischen Mensch und Maschine auf die noch im Tastendruck vorhandene körperliche Steuerung verzichten“ kann. 157

150 Ebd., S. 65, zitiert nach Paul Virilio: Die Endlichkeit der Welt bricht an. In: Peter Weibel (Hg.): Von der Bürokratie zur Telekratie. Rumänien im Fernsehen. Berlin: Merve 1990. S. 43. 151 Daniela Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 65. 152 Vgl. ebd., S. 66. 153 Virilio: Die Sehmaschine, S. 140. 154 Ebd., S. 141. 155 Vgl. Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 121. 156 Ebd., S. 121. Vgl. ebenfalls die Schriftlosigkeit in eXistenZ ab S. 256 dieser Arbeit. 157 Virilio: Die Sehmaschine, S. 136. Vgl. außerdem: Florian Rötzer: Mediales und Digitales: Zerstreute Bemerkungen und Hinweise eines irritierten informationsverar-

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Der Nichtblick wird industrialisiert, „da die Zeitfrequenz des Lichtes zum bestimmenden Faktor der relativistischen Apperzeption der Phänomene und damit des Realitätsprinzips [i. O.] geworden ist.“158 Die Sehmaschine ist genau genommen eine „Maschine mit absoluter Geschwindigkeit“ und stellt traditionelle Begriffe infrage, die das Beobachtbare wie auch das Nicht-Beobachtbare betreffen.159 Licht und Geschwindigkeit erfahren eine Engführung – Licht ist für Virilio Geschwindigkeit. Das Sichtbare stellt seiner Ansicht nach nur das „Resultat der Schnelligkeit einer Lichtemission“ dar.160 Diese wird mit den Sehmaschinen gekoppelt, da durch die Sehmaschinen den Menschen zwei Arten von Lichtern zur Verfügung stehen: Zum einen das traditionelle Licht, also das künstliche und natürliche, und zum anderen noch das indirekte Licht, das von elektromagnetischen Aufzeichnungssystemen ausgeht.161 Hieraus folgert Virilio, „dass durch diese Entwicklung eine Verdopplung der Realität stattgefunden hat.“162 Diese verdoppelte Realität ermöglicht gleichzeitig sowohl die traditionelle Darstellung, die raumbezogen ist, als auch die zeitbezogene Darstellung der Direktübertragung. 163 Offen lässt er jedoch, ob sich die Realität einfach verdoppelt oder ob eine dieser Realitäten die Rolle der Simulation einnimmt, die die andere Realität spiegelt oder gar simuliert, dass es dieselbe Realität ist. Als Abschluss dieser Entwicklung sieht Virilio, dass beide Realitäten verschmelzen. Da die elektromagnetischen Strahlen sich in Lichtgeschwindigkeit fortbewegen und für den menschlichen Betrachter ohne Hilfsmittel nicht mehr erkennbar sind, wird auch das Verhältnis zur tatsächlichen Realität verändert: Der Mensch kann an Orten gegenwärtig sein, die sich außerhalb des Ortes der Gegenwart befinden.164 Dadurch besteht die Möglichkeit, an einem Ort anwesend sein zu können, ohne dies auch körperlich zu tun. Der tatsächliche und der reale Raum verlieren so an Bedeutung, wohingegen die Zeit eine starke Rolle einnimmt. Der

beitenden Systems. In: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 9-80, hier S. 35. 158 Virilio: Die Sehmaschine, S. 164. 159 Ebd., S. 164. 160 Paul Virilio: Das öffentliche Bild. In: Paul Virilio: Die Sehmaschine. Berlin: Merve 1989. S. 81-108, hier S. 83. 161 Vgl. Paul Virilio: Vom Sehen, Wahrnehmen, Tasten, Fühlen, Erkennen. Was wirklich ist – Im Zeitalter des Audiovisuellen. In: FilmFaust „Internationale Filmzeitschrift“ 89/90. S. 22-29, hier S. 27. 162 Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 65. 163 Vgl. ebd., S. 65. 164 Vgl. Virilio: Vom Sehen, Wahrnehmen, Tasten, Fühlen, Erkennen, S. 54.

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Mensch wird zu einer Art virtuellen Existenz, einer Teleexistenz.165 Diese Veränderungen der Wahrnehmung hinterfragen die Realität als solche – es entsteht eine neue Realität beziehungsweise Wahrnehmung derselben durch die elektronischen Medien. Für Virilio lebt der Mensch zunehmend so, als würde er „unter Drogen stehen[ und glauben,] frei zu sein, stattdessen ist er Opfer einer total gewordenen Kontrolle“, da die Medien immer mehr Raum einnehmen und immer weniger eigene Freiheiten lassen.166 Virilio ist der Ansicht, dass der unter anderem auch dadurch verursachte Verlust von Entfernungen und Distanzen zu einer Hyperkommunikabilität führt, die eine „Kommunikabilität der totalen Beobachtung und Kontrolle ist.“167 Das Bewusstsein wird also verändert, revolutioniert: „Der Mensch, der bisher mit seiner Existenz an die Erde gebunden war, ist schwerelos geworden.“168 Damit ist er örtlich nicht mehr gebunden, kann auf Distanz hören und sehen, bald wahrscheinlich auch fühlen. Nur noch die Intensität des Augenblicks bei gleichlaufender Geschichtsauslöschung ist der Preis für diese dromokratische und damit geschwindigkeitsbezogene Revolution.169 Dabei gehen natürlich kinetische und taktile Eindrücke verloren, auch Geruchseindrücke fehlen, wie sie zuvor noch von der eigenen Fortbewegung geliefert wurden. Dies alles lässt sich nicht durch eine Medienperzeption ersetzen.170 Menschliche Erfahrung wird immer mehr durch technische Medien und Bildschirme übermittelt.171 Durch dieses Vorgehen wird sie immer geringer, ist schließlich „nur noch ein quadratischer Horizont“: Der mentale Zustand hat sich insofern verändert, dass kein Ortsgedächtnis mehr existiert, der Unterschied zwi-

165 Vgl. Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 65f. 166 Ebd., S. 76. 167 Ebd., S. 76. 168 Ebd., S. 77. 169 Vgl. Paul Virilio: Der reine Krieg. Berlin: Merve 1984. S. 157. Die Dromologie Virilios ist abgeleitet von dromos, also der Logik des Laufes. Je höher die Geschwindigkeit des Laufes wird, desto mehr sinkt die eigentliche Freiheit des Menschen. Die Dromokratie tritt in Erscheinung, wenn sich die Macht der Geschwindigkeit durchgesetzt hat. Der Mensch ist davon ausgeschlossen, der Austausch von Daten findet nur noch zwischen Maschinen statt. Vgl. ebenso Paul Virilio: Der reine Krieg, S. 45. 170 Vgl. Paul Virilio: Fahren, Fahren, Fahren... Berlin: Merve 1978. S. 39. 171 Menschliche Erfahrung in Kombination mit dem Internet der Dinge sowie der Möglichkeit, auch mobil online zu sein, hat als Konsequenz, dass viele Menschen nicht mehr im Jetzt agieren, sondern immer abgelenkt sind – sei es durch Nachrichten, Kommunikation und Benachrichtigungen, die beantwortet werden wollen.

Die besondere Rolle der Virtualität im Dekonstruktivismus | 115

schen drinnen und draußen verschwindet.172 Virilio nennt dies eine Zivilisation des Vergessens, bei der am Ende der Entwicklung nur noch eine Art Sofortgedächtnis steht, das allein in der Funktion der Allmacht der Bilder steht.173 Gerade hier zeigt sich aber, dass sich Virilios Theorie teilweise selbst überlebt hat. Zwar mag die Zivilisation des Vergessens existieren, da viele Informationen jederzeit aus dem Internet abgerufen werden können und es deswegen nicht mehr notwendig erscheint, selbst über eigenes enzyklopädisches Wissen zu verfügen, aber die Dualität zwischen drinnen und draußen verschwimmt nicht, sondern wird in anderer Form – durch die Dichotomie aus online und offline – beibehalten. Das Ortsgedächtnis wird durch Navigationssysteme aufrechterhalten. Der Mensch wird hierbei aber nicht in der Form immobil, wie von Virilio befürchtet: Sein Horizont ist kein quadratischer, sondern ein bereits bekannter, der jedoch häufig durch ein Rechteck überblendet wird. Es sind die Displays von Smartphones, Tablets und anderen mobilen Endgeräten, die in den hier behandelten Szenarien in dieser Form nicht auftauchen, aber die Wahrnehmung der Wirklichkeit gleichzeitig überlagern und mit den künstlichen Mitteln der Virtualität erweitern. Zu kritisieren ist hier aber, dass Virilio offenbar nicht das mobile Internet als Entwicklungsmöglichkeit bedacht hat, durch das der Nutzer nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden ist, um virtuell mit anderen in Kontakt zu treten – stattdessen ist es möglich geworden, von beinahe jedem beliebigen Ort online gehen zu können. Durch die Sehmaschinen, die Wahrnehmungsmaschinen, die Raum und Zeit verflüssigen, wird die Menschheit zu einer körperlichen Bewegungslosigkeit gezwungen. Diese pathologische Starrheit prognostiziert Virilio dabei als ein Ergebnis „technische[r] Zivilisation, eine Mutation im Sinne einer negativen Verhaltensrückbildung“, bei der die Menschheit zu „schlafend gelegten Menschen“ wird, die bewegungslos träumend verharren.174 Die körperliche Bewegungslosigkeit, die Virilio hier beschreibt, kann für bestimmte Personengruppen sicherlich zutreffend sein, scheint aber für den Entwicklungsstand nicht generalisierbar zu sein, und für ein Gros der Onlinemenschen, den Digital Natives, ist zudem Mobilität neben der Geschwindigkeit ein wichtiger Aspekt der Mediennutzung.

172 Vgl. Paul Virilio: Echtzeitperspektiven. In: Metropolis. Ausstellungskatalog der internationalen Kunstausstellung. Hg. v. Christos Joachimides. Stuttgart: Edition Cantz 1991. S. 59-64, hier S. 60. 173 Vgl. Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 92. Vgl. ebenso Paul Virilio: Echtzeitperspektiven, S. 60. 174 Paul Virilio: Das letzte Vehikel. In: Florian Rötzer (Hg.): Cyberspace. Zum medialen Gesamtkunstwerk. Himberg bei Wien: Boer 1993. S. 267-274, hier S. 273.

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Der Boden der Erfahrungen muss sich laut Virilio dennoch irgendwann durch diese Geschwindigkeit auflösen und Vermittlung läuft nur noch über technische Medien.175 Er drückt dies allerdings etwas anders aus: „Die Energie ist zugleich die absolute Waffe, das Mittel zum Zweck geworden.“ 176 Und je mehr diese Energie der Geschwindigkeit zunimmt, umso mehr verkümmert auch die menschliche Freiheit. Zur Hyperzeit hat der Mensch keinen Zugang mehr, dies „ist nur noch über Skalen, Bildschirme und Zeittafeln möglich.“ 177 Die menschliche Existenz wird für Virilio medientechnisch überholt. Des Weiteren kritisiert er den Wunderglauben an Wissenschaft und Technik, welcher den Platz der untergehenden Religion einnimmt. 178 Er bietet jedoch keine Ansätze, um aus diesem Kreislauf auszubrechen. Kunst stellt seiner Ansicht nach hierbei das Rätsel des Körpers und ebenso „stellt das Rätsel der Technik das Rätsel der Kunst[, denn i]m Abendland sind der Tod Gottes und der Tod der Kunst unlösbar miteinander verbunden.“179 Technik, Kunst und Religion sind in den Augen von Virilio untrennbar verknüpft und erschweren somit eine losgelöste Sicht auf die Einzeldisziplinen.180 Eine Differenzierung von Medien nimmt Virilio nicht vor, stattdessen scheint er alles, was mit Geschwindigkeit zu tun hat, als ein Medium zu betrachten, was die Begrifflichkeit gleichzeitig zu einem in diesem Zusammenhang polyvalenten Begriff macht. Medien stellen für ihn im Gegensatz zu Vilém Flusser auch keine Heilsbringer dar: „Die Erlösung von der physischen Realität ist nicht Rettung im Sinne einer positiv gewandten Metaphysik, sondern die perfekt gewordene Kontrolle und Überwachung der menschlichen Bewegung und der inneren, mentalen Bilder.“181

175 Vgl. Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 92. 176 Virilio: Fahren, Fahren, Fahren..., S. 26. 177 Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 93. 178 Vgl. Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. München/Wien: Hanser 1986. S. 51. 179 Paul Virilio: Eine topographische Amnesie. In: Paul Virilio: Die Sehmaschine. Berlin: Merve 1989. S. 11-50, hier S. 48f. 180 Der Grundsatz der Religion lässt sich dennoch auf Matrix beziehen, wo durch das Erscheinen Neos ein Erlösermythos etabliert wird, der vorgibt, Technik und Codes durchschaut zu haben. Ähnliches gilt für den Roman Snow Crash, bei dem indirekt eine zentrale Religion geschaffen werden soll, die durch die (virtuelle) Infektion des menschlichen Geistes durch Computerviren ihren Anfang findet. Vgl. die späteren Kapitel zu Snow Crash und Matrix ab S. 161 bzw. 199. 181 Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 124.

Zwischenfazit & Ausblick: Wo die Theorie zu Ende ist

Ein Großteil der hier vorgestellten Medientheorien, die sich mit Simulation, Simulakra und virtueller Realität beschäftigen, sind in den 1980er Jahren entstanden, und damit in einer Zeit, in der sich neue Technologien zunehmend in den Alltag gedrängt haben, auch wenn zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig ersichtlich war, wie sich diese im Alltäglichen und dauerhaft einsetzen lassen – der tatsächliche medial turn fand erst Mitte der 1990er Jahre durch die Verbreitung des Computers als Hybridmedium statt. Die zugrundeliegenden Theorien sind gedanklich allesamt mit der Dekonstruktion verbunden, denn auch die Poststrukturalisten haben sich bereits mit der Wahrnehmung der Welt und damit einhergehend auch der möglichen Simuliertheit der Welt beschäftigt, die wiederum mit dem Aufkommen der Computertechnologie einen neuen Aufschwung innerhalb der Medientheorien erfuhr. Gerade die Dekonstruktion ist besonders kritisch gegenüber kulturellen Artefakten und thematisiert damit eine Spannung, die vergleichbar ist mit jener zwischen Realität, Virtualität und Simulation. Nach gedanklichen Vorarbeiten im Poststrukturalismus und damit verknüpft auch in der Dekonstruktion, wenden sich später speziell Jean Baudrillard und Paul Virilio diesem Thema zu und erweitern es um eine technologische Betrachtung, durch die die Systematik der Simulation beziehungsweise des Simulakrums zunehmend auch als Methode wahrgenommen werden kann. Dies wirkt sich, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, auch außerhalb der Medientheorie aus, denn ähnliche Strukturen tauchen auch in Literatur und Film auf, indem dort aus einer anderen Perspektive ähnliche Themenkomplexe verhandelt werden. Diese immer wiederkehrende mediale Überlagerung weist zunehmend palimpsestartige Strukturen auf, die sich in der Wahrnehmung der Simulation als Darstellung des technologisch veränderten Zeitgeistes widerspiegeln – die Hyperrealität überschreibt die Wirklichkeit mit neuen Zeichen, die auf nichts mehr verweisen.

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Wie gezeigt wurde, nähern sich die hier behandelten Theorietexte der Simulation über zwei Ebenen an: Die Dekonstruktion ist hierbei als eine Methodik zu verstehen, die Thesen von Baudrillard und Virilio sind hierbei als systematische Annäherung an den Forschungsgegenstand zu interpretieren. In der Theorie ist der Begriff des Simulakrums historisch verortet, bleibt aber, wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt wurde, kaum greifbar, was eine Systematisierung erschwert. Diese verschiedenen Herangehensweisen zeigen, wie disparat die Texte über Simulation und Simulakrum sind und wie schwierig es zudem ist, diese vergleichend zu betrachten beziehungsweise wie vielseitig das Konzept von und hinter der Simulation in Theorietexten angewendet wurde und immer noch wird. Jacques Derrida beispielsweise will die Dekonstruktion primär auf Texte angewandt sehen, hat aber eine große Bandbreite an Möglichkeiten, die er als Text definiert, darunter auch die Realität. Für ihn existiert nichts außerhalb des Textes, gleichzeitig kann ein Text nach Derridas Lesart alles und damit die ganze Welt sein. Das macht seine Theorie der différance, der Spur und der Dekonstruktion auch im Umfeld der Medientheorien fruchtbar, zumal er in seiner Ausdeutung der Spur explizit auf das Simulakrum hinweist, das diese beinhaltet. Denn ohne Dekonstruktion ist kein Simulakrum möglich; gleichzeitig funktioniert ein Simulakrum – oder auch eine Simulation – nicht ohne das Betrachten der Kunst, denn gerade das Künstlerische gibt die partielle Illusion, eine Art Karikatur des Lebens, wieder. Auch Film dient als reflektierende Kunst, wohingegen Platon in Politeia die Kunst „als Simulakrum, jene höchste Gefahr, jenes Gift [betrachtet], das durch die Vermischung aller Gattungen alle Wesen, die nicht zumindest als Gegengift die Vernunft und das Wissen besitzen […], all jene also, die ‚von ferne‘ schauen, den Philosophen für den Sophisten, den Schein für die Wahrheit halten lässt.“1 Kunst und daran gebunden künstlerische Darstellungen sind das Verschieben des Wirklichen, das in einen Schwebezustand versetzt wird.2 Doch wie lässt sich genau dieser Blickwinkel in Korrelation mit künstlerischer Darstellung, Theorie und Technologie engführen? Für Jonathan Culler wird hier noch die Frage nach der Mimesis evident, deren Begriff „von der dekonstruktiven Theorie affiziert wird“ und der „einen hierarchischen Gegensatz von Objekt zu Repräsentation, von Original und Nachahmung

1

Sarah Kofman: Die Melancholie der Kunst. In: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2015. S. 224-243, hier S. 236.

2

Vgl. ebd., S. 228.

Wo die Theorie zu Ende ist | 119

impliziert.“3 Die Mimesis kann hierbei Verdopplung sein, die „das Original durch eine Kopie ersetzt“, das Original direkt wiedergeben oder als neutral betrachtet werden kann, aber „der Wert der Repräsentation [hängt] von dem Wert des Originals ab.“4 Vor allem in den 1990er Jahren werden multiple Realität(en) erdacht und mit Konzepten der Semiotik verbunden. Zudem treten multiplizierbare Begriffe und Sichtweisen in Erscheinung, die – bezogen auf die Begriffe Signifikant und Signifikat – stets mit dem Umgang von Sprache in Bedingung stehen. Ohne die Betrachtung der Sprache und der Verschriftlichung lässt sich diese Thematik nicht in ihrer Gesamtheit erfassen. In Zeiten der praktizierten Simulation scheinen Zeichen auf nichts mehr zu verweisen als auf sich selbst, die Realität wird zur Hyperrealität.5 Schrift dient hierbei als Aneignungsprozess, es kommt zu einer „strukturale[n] Verdopplung jedes Signifikats in einem interpretierbaren Signifikanten“, was jedoch nicht bedeutet, „daß [sic!] Signifikanten keine Signifikate hätten, sondern nur, daß [sic!] die Signifikate keine Geschlossenheit erzeugen können.“6 Offen bleibt also die Frage, was passiert, wenn dieser Aneignungsprozess nicht mehr stattfinden kann, weil die Schrift verschwindet. Der Schriftlichkeit haftet immer das Zeichen an: Mit Baudrillards These, dass die Zeichen jedoch auf nichts mehr verweisen, müsste theoretisch auch die Schriftlichkeit an Bedeutung verlieren. Die „‚gegenstandslose Welt‘ des Suprematismus“, aber auch „die reduzierte Formensprache des Konstruktivismus und der Universalien der ‚neuen Gestaltung‘“ können zwar als „Vorläufer der Digitalisierung der Bildwelten“ betrachtet werden, ihre metaphysische Ideologie jedoch „ist von der Computertechnik längst überholt.“7 Die Metaphysik, die in diesem Zusammenhang Baudrillard und Virilio ansprechen, geht mit der Weiterentwicklung der Technik schlichtweg verloren. Digitaler Code ist gegenüber Bedeutung indifferent und „aus der gestaltneutralen Schwundmentalität des Chips folgt jenes postmoderne Phänomen, dass Baudrillard bereits an den Massenmedien als ‚Implosion des

3

Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Hamburg: Rowohlt 1988. S. 206.

4

Ebd., S. 206.

5

Vgl. Jean Baudrillard: Die Präzession der Simulakra. In: Jean Baudrillard: Agonie des

6

Culler: Dekonstruktion, S. 210.

Realen. Berlin: Merve 1978. S. 7-70, hier S. 7. 7

Florian Rötzer: Mediales und Digitales: Zerstreute Bemerkungen und Hinweise eines irritierten informationsverarbeitenden Systems. In: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 980, hier S. 36.

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Sinns‘ bezeichnet, weil keine spezifischen Darstellungsformen, die einem Material gemäß waren, mehr existieren.“8 Was wahr und was real ist, ist hierbei nicht mehr eindeutig zu beantworten, besonders im Zusammenhang mit der Frage, wie sich dies mit Kunstbegriffen verrechnen lässt, was sowohl Culler als auch Derrida, auf den Culler sich hier bezieht, schwerfällt: »Die Nachahmung spaltet sich auf in eine wesentliche Mimesis, die von der Produktion der Wahrheit nicht zu trennen ist, und in eine unwesentliche Nachahmung; und diese letztere Form der Mimesis, wie sie sich zum Beispiel in den Künsten findet, spaltet sich wiederum in akzeptable Formen und deren Nachahmungen. Dies führt zu einer Verdoppelung von Nachahmungen, ‚ad infinitum‘, schließt Derrida, ‚denn diese Bewegung nährt ihre eigene Wucherung.« 9

Virilio argumentiert zwar historisch über die Kunst, verliert dabei aber aus den Augen, dass die reale Entwicklung eine völlig andere Richtung einschlagen kann, als von ihm vermutet. Anstatt der von ihm beschriebenen Teleexistenz scheint es im Moment eher so, als ob das mobile Internet mit all seinen gegenwärtigen Spielarten einen Rückzug in die eigenen vier Wände unnötig macht, um am virtuellen Leben teilhaben zu können. Stattdessen sind virtuelle Welten auch überall erreichbar, wo sich ein Internetzugang befindet. Beiden, Baudrillard und Virilio, ist gemein, dass sie innerhalb ihrer Theorien versuchen, den Medien und deren Entwicklung auf die Spur zu kommen. Mit ihren skeptischen Betrachtungen greifen sie aber die hysterische, fast chaotische Herangehensweise der damaligen Zeit auf. Das beantwortet vermutlich auch die Frage, warum speziell sie in diesem Zusammenhang so häufig zitiert, insgesamt aber eher als medientheoretische Randerscheinung abgetan werden.10 Den Medientheorien wohnt eine Heterogenität inne, die gleichzeitig ihr Hauptcharakteristikum ist, wobei Medien zum einen als „Vermittler von Kommunikation [wie auch der] Speicherung als auch [der] Übertragung von Informationen“ dienen, was mit Vilém Flusser, Neil Postman, Friedrich Kittler und anderen

8

Vgl. ebd., S. 36.

9

Culler: Dekonstruktion, S. 208.

10 Vgl. Alexander Roesler, Bernd Stiegler: Vorbemerkung. In: Alexander Roesler, Bernd Stiegler (Hg.): Philosophie in der Medientheorie. Von Adorno bis Žižek. München: Wilhelm Fink 2008. S. 7-10, hier S. 8.

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Schrifttheoretikern konform geht.11 Auf der anderen Seite gibt es eine verstärkt anthropologische Auffassung, die unter anderem Virilio und Marshall McLuhan vertreten, denn hier werden „Medien als Erweiterung oder Ersatz von Körperteilen und -funktionen [begriffen], die ihrerseits auf den Körper zurückwirken.“ 12 Gemeinsam ist aber beiden Richtungen, dass sie „in Medien technische Artefakte […] sehen, die ‚Wirklichkeit‘ auf eine bestimmte Weise erfahrbar machen“, und genau dieser Ansatz wiederum „leitet auch die historischen Analysen, etwa mit der Frage, inwieweit das Buch oder der Computer bestimmte Interpretationen der ‚Wirklichkeit‘ begünstigen oder im Gegenteil verhindern.“13 Für McLuhan organisieren Medien die menschliche Wahrnehmung und geben gleichzeitig die Sicht auf die Welt vor. Er stellt die Gutenberg-Galaxis dem Zeitalter der Elektrizität gegenüber. Flusser hingegen vertritt eine Sichtweise der Kybernetik, die Natur- und Geisteswissenschaften verbindet, was sich bei ihm durch eine Analyse von Informations- und Kommunikationsstrukturen äußert. Ein medienökologischer Ansatz zeigt sich bei Postman, denn bei ihm dient die Kultur als Umwelt von Medien(konstellationen), die jeweils eigene Denkmuster und Wirklichkeitsbegriffe erzeugen. Virilio hat sich der Dromologie verschrieben, in der technische Medien unterschiedliche Geschwindigkeitsordnungen produzieren, die die „menschliche Wahrnehmungsfähigkeit erst veränder[n], dann verhinder[n] und in letzter Konsequenz ersetz[en].“14 Baudrillard betrachtet die Medien und den Simulationsbegriff auf poststrukturalistischer Ebene als Agonie des Realen. Kittlers Aufschreibesysteme sind „netzwerkartige Verknüpfungen von Medien und gesellschaftlichen Institutionen, welche die Produktion und Zirkulation von Diskursen regeln.“15 Der Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker Walter Ong differenziert zwischen Oralität und Literalität und leitet hieraus ab, dass die Schriftlichkeit dem Menschen mehr als nur ein technisches Hilfsmittel geliefert hat, denn die Schrift ermöglicht seiner Ansicht nach neue Denkweisen, die kulturelle Muster umstrukturiert haben. Einen anderen Blickwinkel ermöglicht Walter Benjamin mit seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936), der vordergründig einer kunsttheoretischen Debatte zugehörig ist. In seinem Nachdenken über Kunst und das Aufbrechen ihrer Einzig-

11 Daniela Kloock, Angela Spahr: Einleitung zur vierten Auflage. In: Daniela Kloock, Angela Spahr: Medientheorien. Eine Einführung. Paderborn: Wilhelm Fink 2012. S. 7-13, hier S. 10. 12 Vgl. ebd., S. 11. 13 Ebd., S. 11. 14 Ebd., S. 8f. 15 Ebd., S. 9.

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artigkeit durch die Erstellung von Kopien, die vom Original kaum noch unterscheidbar sind, wodurch jenes seine Aura verliert, ist dieser Essay dennoch im Zusammenhang von simulierten Welten zu betrachten. Die Simulation steht im Kern dieser Untersuchung – als Technologie, aber auch als Gegenstand, der sowohl als künstlerische Bearbeitung in Literatur und Film behandelt und in Computerspielen als virtuelle Welt umgesetzt wird. Sie wird stets verknüpft mit Theorien, die anhand des Simulakrums speziell von Baudrillard und Virilio genutzt wurden und die allesamt einen differenzierten Blick auf das Phänomen der Simulation zulassen. Dennoch: Warum ist gerade die Simulation in diesem Themenkomplex so zentral geworden? Die hier vorgestellten Theoretiker lassen sich allesamt in unterschiedliche Bereiche von Medienontologie, -mythologie und -technomythologie einordnen. Ebenso spielen (post)strukturalistische Strömungen und die Dekonstruktion eine Rolle, wie sich anhand der Darstellung von Roland Barthes und Jacques Derrida in ihrer kritischen und durchaus dystopischen Betrachtung der damals gegenwärtigen Sichtweisen auf die Entwicklung der Medien und deren Aktualitätsterror gezeigt hat. Ironischerweise hat sich aber gerade dieser Aktualitätsterror inzwischen selbst überholt und die Theorien verdeutlichen genau durch diesen Aspekt, dass sie zwar als historische Artefakte immer noch ihre Daseinsberechtigung innerhalb der Entwicklung der Medientheorien haben, aber gleichzeitig an Aktualität verloren haben, da die reale Entwicklung bislang andere Wege eingeschlagen hat. Es wird deutlich, dass die hier behandelten Thesen immer nur Momentaufnahmen der zum Entstehungszeitpunkt vorherrschenden Strömungen sein können. Wie jedoch Flusser nahelegt, können diese Strömungen tatsächlich nicht (mehr nur) als einzelnes Ding isoliert betrachtet werden, sondern nur in Verbindung mit Wissenschaft und Kunst. Allein durch das gemeinschaftliche ökonomische Geflecht ergeben sich hier Schwierigkeiten, denn alle drei Richtungen nähern sich immer weiter an und eine Einzelbetrachtung muss folglich immer auch in den passenden Kontext gestellt werden.16 Wechselseitige Beziehungen verändern sich, wenn der „Bezug zum Realen […] zum Objekt der Konstruktion wird, in der das Natürliche und der Bezug auf [selbiges] wiederum nur in Form eines Simulakrums aufscheint.“17 Medientheoretiker Florian Rötzer vertritt die Ansicht, dass „[d]ie neuen Realitäten, die sich im Zusammenhang unserer Technokultur aufdrängen, […] das Interface Mensch/Natur durch das von Mensch und Technik“ ersetzen.18

16 Vgl. Rötzer: Mediales und Digitales, S. 38. 17 Ebd., S. 38. 18 Ebd., S. 38f.

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Für Kunst- und Medientheoretiker Peter Weibel ist hier vor allem wichtig, dass „die Bezugnahme auf die Objektivität und Wahrheit in eine Semiotik transformiert [wird], die von der (technischen) Produktion der Wirklichkeit ausgeht, wodurch sich die fundamentalen Begriffsnetze mit ihren Diskriminierungen etwa zwischen Realität, Fiktion und Simulation verschieben.“19 Räumliche wie zeitliche Konstanten implodieren, führt Rötzer Weibels Gedanken weiter aus, und dies ist in diesem Kontext charakteristisch für die digitale Ästhetik, deren Derealisierung des visuellen Wahrnehmungsraums mit einer Psychose verglichen wird. 20 Der digitale Raum zersplittert, er „besteht aus Raumschichten, die [man] nicht mehr zusammenbringen kann, weil die dislozierte Produktionsweise […] nicht mehr das holistische Gefühl“ verursacht.21 Die ontologische Verankerung der herkömmlichen Kunst wird „über die mediale oder apparative Reproduktion der ästhetischen Effekte [zerstört] und schließlich ein Eintauchen in die Welt veränderbarer Zeichen, gleich ob es sich um Bilder oder Dinge handelt.“22 Der Computer wird zum Hypermedium, wobei hier nicht nur der Computer als Desktop-PC gemeint ist, sondern sämtliche Endgeräte, die die Funktionen eines Computers haben – vom Smartphone über die Smartwatch bis hin zum Internet der Dinge.23 Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass sich Medien in einem steten Wandel befinden, gegenwärtige Strömungen aufgreifen und sich weiterentwickeln: »Technik scheint nicht nur ein Instrument zur Erzeugung des Imaginären zu sein, indem sie das bislang Fiktive oder Phantastische realisiert, sondern sie ist mit ihren Wunschmaschinen offenbar auch ein Projektionsmedium, an dem sich das Imaginäre konkretisiert, insofern es den Raum des Möglichen erweitert und das Reale zu einer veränderbaren Größe macht.«24

So, wie Baudrillard über Science-Fiction nachdenkt, überlegt auch Rötzer, ob für neue Technologien nicht auch Projektionen unabdingbar sind, denn sie „sind eine Art Science-Fiction, die zur Simulation des Zukünftigen als […] Raum des Mög-

19 Ebd., S. 13. 20 Vgl. ebd., S. 34. 21 Aus einem Gespräch mit Sara Rogenhofer und Florian Rötzer mit Peter Weibel. In: Sara Rogenhofer, Florian Rötzer (Hg.): Kunst machen? Gespräche und Essays. München: Boer 1990, zitiert nach Florian Rötzer: Mediales und Digitales, S. 34. 22 Rötzer: Mediales und Digitales, S. 14. 23 Vgl. ebd., S. 14f. 24 Ebd., S. 39.

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lichen hinzugehört.“25 Theoretiker und Künstler sind keine Experten der Technik und beherrschen häufig die Technik der Experten nicht, auch wenn zu Beginn einer Entwicklung oder Revolution noch längst nicht klar ist, in welche Richtung sich etwas tatsächlich bewegen wird und in welchem Bereich – ob Kunst oder Wissenschaft oder ein völlig anderes Gebiet – sich diese letztlich durchsetzen wird.26 Technik und Wissenschaft, so Rötzer, sind nicht nur „Instrumente zur Wirklichkeitsbewältigung, sondern sie erweitern faktisch und theoretisch den Bereich des Möglichen und geben die Mittel in die Hand, Simulationen zu erzeugen.“27 Die Verknüpfung aller drei Bereiche, die sich hier um die Simulation entspinnen, ist also nicht von der Hand zu weisen. Dennoch gibt es den Abstand vom Realen, der „durch die Möglichkeit von computergenerierten Hologrammen noch vertieft [wird], die keinen real vorhandenen Gegenstand mehr abbilden, sondern ihn ausgehend von gespeicherten Daten erzeugen“, wobei die Kunst als „Zuträger der Mediatisierung“ zu betrachten ist.28 Um technische Errungenschaften weiterentwickeln zu können, wird die Vorstellungskraft aus der Kunst benötigt. Diese beeinflusst wiederum neue Theorien, die ihrerseits Auswirkungen auf deren künstlerische Darstellung haben. So können Kunst und künstlerische Darstellung erneut als Ideengeber für Entwicklungen fungieren. Dennoch wird aus heutigen Gesichtspunkten recht schnell klar, dass viele der Theorien mit ihrem Entstehungszeitraum in den 1980er Jahren verhaftet sind. Neuere oder auch nur an die neuen Gegebenheiten angepasste Theorien gibt es kaum. Stattdessen wurde in den 1990er Jahren die Entwicklung des Cyberspace betrachtet, aber gleichzeitig mit den bereits bestehenden Theorien verwoben. Andere Konzepte wiederum lesen sich zunehmend wie Science-Fiction und werden durch deren thematische Nähe auch literarisch-künstlerisch im Cyberpunk verarbeitet und mit weiteren fiktiven Elementen aufgeladen, die Lücken in den Theorien aufzufüllen versuchen. Baudrillard und Virilio haben hier mit ihren Thesen einen passenden Grundstein gelegt, der nun anhand der Fallbeispiele aus künstlerischer Darstellung, technologischen Entwicklungen und Computerspielen erweitert wird, um darstellen zu können, dass diese Triade für weitere Entwicklungen des Konzepts der Simulation in den 1990er Jahren notwendig ist. Bereits in dieser medientheoretischen Einordnung zeigt sich, wie schwierig es ist, die Begrifflichkeiten um Simulation, Simulakrum, Virtualität und Realität exakt zu beschreiben, da die ihnen zugrundeliegenden Denkfiguren auch im Post-

25 Ebd., S. 40. 26 Vgl. ebd., S. 40. 27 Ebd., S. 41. 28 Ebd., S. 44 und S. 29.

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strukturalismus und somit auch innerhalb der Dekonstruktion vereinnahmt wurden und auch jeder Theoretiker, insbesondere Baudrillard und Virilio, diese Begrifflichkeiten individuell ausgedeutet haben. Der Gegenstand wird durch die Dekonstruktion methodisch aufgeladen, taucht jedoch auch in der Cyberpunkliteratur und deren Vorläufer verstärkt auf, ehe es in den 1980er Jahren zu einem ersten Höhepunkt dieser literarischen Gattung kommt. In den nachfolgenden Kapiteln wird sich detaillierter darstellen, wie in der Literatur ähnlich verfahren wurde. Dort tauchen diese Betrachtungsweisen ebenfalls auf, jedoch in anderem Kontext und anderer Ausprägung. Ob und wie dies unmittelbar auf den hier vorgestellten Theorien basiert, ist offen, jedoch zeigt sich, dass sich der Cyberpunk trotz allem als die selbstreflexive und medientheoretisch relevante Gattung etablieren konnte. Diese Ansätze sind gewissermaßen (denk)stilprägend, sowohl für die neu entstehende Medientheorie als auch für deren ästhetische Reflexion. Der Dekonstruktivismus und die Simulation weisen dabei grundsätzliche Ähnlichkeiten auf: Das Konzept der Simulation ist als Kritik mimetischer Wirklichkeitskonzepte unverzichtbar, die Zusammenhänge aus Dekonstruktion und Medienreflexion sind für die Verflechtungsgeschichte der Simulation bis heute relevant.

Literatur, Film & Computerspiel: Künstlerische Verarbeitung und technologische Entwicklung

Die Darstellung der Virtualität in der Literatur

Das Genre des Cyberpunks, das die Frage nach virtuellen Welten und dem virtuellen Menschsein stellt, existiert etwa seit den 1980er Jahren. Wie bisher gezeigt wurde, zeichnet diese Gattung oftmals das pessimistische Bild einer möglichen Gegenwart oder nahen Zukunft und nutzt dafür zumeist bestimmte narrative Formen, die einen an Technik erinnernden Sprachduktus etablieren. Die dargestellte Welt wird häufig von hochentwickelten Technologien beherrscht, verbunden mit urbanem Zerfall und Überpopulation, die sich teilweise bis zu Mary Shelleys Roman Frankenstein oder Der moderne Prometheus (1818) zurückverfolgen lassen.1 Der bekannteste Cyberpunkvertreter und gleichzeitig auch (Mit-)Begründer dieser Strömung ist William Gibson, in dessen Roman Neuromancer (1984) der Begriff des Cyberspace eine erste detaillierter ausformulierte Erwähnung findet.2 Neal Stephensons Roman Snow Crash (1991) hingegen prägte den Begriff des Metaversums, der mittlerweile ebenso wie Cyberspace zum Synonym für virtuelle Welten geworden ist.3 In der historischen Herleitung wurde bereits gezeigt, wie der Cyberpunk mit den Medientheorien verbunden ist und diese teilweise auch als Ideengeber für eigene Erzählungen verwendet. Aber auch lange bevor der Cyberpunk zu einem eigenen literarischen Feld wurde, gab es bereits Autoren, die sich mit ähnlichen Fragestellungen rund um Simulation und technische Entwicklungen befassten. Darunter ist auch Philip K. Dick, der sich in verschiedenen Kurzgeschichten und Ro-

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Vgl. Tom Boellstorff: Coming of Age in Second Life. An Anthropologist Explores the Virtually Human. Princeton: Princeton University Press. S. 38. Vgl. ebenso Jacques Ellul: The Technological Society. New York: Knopf 1964.

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Vorgestellt hatte William Gibson das Konzept bereits in Burning Chrome, ehe er es in Neuromancer detaillierter ausgearbeitet hat. Vgl. William Gibson: Burning Chrome. New York: Harper Collins 1995.

3

Vgl. Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 38.

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manen immer wieder mit der Frage nach der Realität auseinandersetzte. Stellvertretend sei hier sein Roman Simulacra (1964) genannt, der bereits im historischen Abriss kurz vorgestellt wurde. Doch Dick hinterfragte darin nicht nur die Realität, sondern übte auch starke Medienkritik aus und stellte Überlegungen darüber an, wie viel Einfluss eine konstruierte Medienrealität auf den Alltag hat – und das lange vor dem Zweiten Golfkrieg. 4 Mit einem anderen Fokus wagte sich Daniel F. Galouye mit Simulacron Drei (1964) an diese Thematik, behandelte dort aber vielmehr die Frage nach der Existenz des Menschen in einer digitalen Welt. Dazu zieht er Descartes’ Satz „Cogito ergo sum“ heran, der seine Brisanz in diesem Zusammenhang erst offenbart, wenn er vollständig zitiert wird: „Dubito, ergo sum, vel, quod idem est, cogito, ergo sum“ – „Ich zweifle, also bin ich, oder, was dasselbe ist, ich denke, also bin ich.“5 Nicht nur das Denken ist ein Zeichen des Bewusstseins, sondern auch der Zweifel. Nach diesem Muster wird in den meisten bereits erwähnten literarischen und filmischen Darstellungen die Realität der Protagonisten infrage gestellt: Es werden Zweifel an dem, was für die Wirklichkeit gehalten wird, gesät, und in jedem dieser Fälle wird mit etwaigen Erkenntnissen unterschiedlich umgegangen. Sowohl bei Simulacra als auch Simulacron Drei wird dabei relativ schnell ersichtlich, dass beide Romane mit ihrer Perspektive wie die Medientheorien in ihrer Entstehungszeit verhaftet sind. Motive, die in den späteren Cyberpunkromanen virulent werden, klingen hier nur sanft an – einzig der durchaus als skeptisch zu bezeichnende Blick auf technische Entwicklungen ist auch hier schon vorherrschend. In den 1960er Jahren erscheint die Computertechnologie noch zu abstrakt, um in literarischen Verarbeitungen realistisch abgebildet zu werden, ohne dass es zu starken Überzeichnungen kommt. Der Grundtenor des Präcyberpunks ist jedoch ähnlich: Statt der Utopie ist auch hier der Blickwinkel bereits dystopisch eingefärbt. Theoretiker wie Jean Baudrillard betrachten die Science-Fiction als kulturelle Inkraftsetzung postmoderner Bedingungen. Der Cyberpunk gilt hierbei als eine

4

Seit dem Zweiten Golfkrieg haben sich Kriegsberichterstatter etabliert, die kämpfenden Militäreinheiten zugewiesen wurden. Durch diesen eingebetteten Journalismus sollte eine unmittelbare Berichterstattung aus Krisengebieten gewährleistet sein. Stattdessen ließen sich die Journalisten teilweise zum Sprachrohr der Regierung machen, neutrale Berichterstattung wurde oftmals durch (teilweise unbewusste) Medienmanipulation abgelöst, die die nötige journalistische Distanz zum Kriegsgeschehen vermissen ließ. Die mediale Darstellung eines Krieges prägt seine Wahrnehmung außerhalb des Kriegsgebiets, was sich besonders beim Afghanistankrieg ab etwa 2001 gezeigt hat. Vgl. Jörg Becker: Medien im Krieg. Krieg in den Medien. Wiesbaden: Springer 2016.

5

René Descartes: Die Prinzipien der Philosophie. Hamburg: Meiner 2005.

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der wichtigsten Entwicklungen der Science-Fiction der 1980er Jahre.6 Diese Subgattung ist Resultat des Spannungsfeldes aus historischen, politischen, aber auch literaturimmanenter Veränderungen, die von den Autoren häufig aufgegriffen wurden und zu einer künstlerischen Fiktionalisierung dieser Konzepte der postmodernen Theoriebildung führten.7 So kurz die erste Blütezeit des Cyberpunks auch gewesen sein mag, bildeten sich trotzdem verschiedene Darstellungsformen und Weiterentwicklungen der Gattung heraus, die in den 1990er Jahren schließlich zum Postcyberpunk führten. Für die Literaturwissenschaftlerin Ruth Mayer ist das eindeutige Anzeichen für Cyberpunk der Computer und daran angebunden der Cyberspace in all seinen Variationen.8 Technologien sind folglich zumindest zu Beginn des Cyberpunks nicht einfach nur Hintergrundstaffage, sondern handlungstragendes Element. Sie zeigen die dort dargestellte Wirklichkeit wie auch die menschliche Gesellschaft in einer solchen medial erweiterten Welt: Medien und virtuelle Welten sind hier zentral und verweisen häufig auf die Wahrnehmung der Protagonisten und dekonstruieren sich damit in ihrer literarischen Entwicklung selbst – daher im Vorfeld auch das Kapitel, das sowohl die Betrachtung der Methodik der Dekonstruktion als auch der Systematisierung des Begriffs durch Baudrillard und Virilio zeigt, die umso deutlicher machen, wie ähnlich die Strukturen hier tatsächlich angelegt sind. Eines der Merkmale des Cyberpunks ist „der Ausdruck [der] Symbiose von Mensch und Technik“, der in vielen Romanen in Form einer virtuellen Welt dargestellt wird, „in der sich der Mensch über eine Direktschaltung zwischen Gehirn und Computer einzuklinken vermag.“9 Wie diese Direktverschaltung aussieht, beschreibt nahezu jeder Autor anders, bleibt dabei aber meist recht diffus: Mal sind es Elektroden an der Stirn, mal eine Datenbrille, mal ist es ein körperlicher Eingriff, der die Verschmelzung von Mensch und Technik erst ermöglicht. Die kritische Reflexion technischer Entwicklungen und der zunehmenden Technisierung der Gesellschaft sind die zentralen Elemente des Cyberpunks, deren Beschreibung hingegen bleibt abstrakt. Anders als in der generellen Science-Fiction „spekulier-

6

Vgl. Claire Sponsler: Cyberpunk and the Dilemmas of Postmodern Narrative: The Example of William Gibson. In: Contemporary Literature. Ausgabe 33, Nummer 4. Winter 1992. S. 625-644, hier S. 625.

7

Vgl. Jiré Emine Gözen: Cyberpunk Science Fiction. Literarische Fiktionen und Medientheorie. Bielefeld: transcript 2012. S. 85 und S. 137.

8

Vgl. Ruth Mayer: Cyberpunk: Eine Begriffserklärung. In: Martin Klepper, Ruth Mayer, Ernst-Peter Schneck (Hg.): Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters. Berlin: De Gruyter 1996. S. 163-173, hier S. 166.

9

Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 10.

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ten die Cyberpunk-Literaten [i. O.] in ihren Werken nicht über die ferne Zukunft, sondern reflektierten [in der Regel] das zeitgenössische und gesellschaftliche Geschehen.“10 Alltagsbeobachtungen treffen auf Gedankenspiele darüber, wie Technik im meist urbanen Alltag eingesetzt werden könnte, und zeigen Trends und Entwicklungen möglicher Zukunftsszenarien. Gleichzeitig findet eine Auseinandersetzung mit bereits bestehenden Medientheorien statt, die einen erweiterten Blickwinkel auf diese Thematik zu etablieren versuchen und den Diskurs aus dem wissenschaftlichen Bereich in den der künstlerischen Bearbeitung bringen. Da virtuelle Welten speziell im Cyberpunk eine tragende Rolle spielen, ist es naheliegend, für die Fallbeispiele zwei Werke dieser literarischen Gattung primär im Hinblick darauf zu analysieren, auf welche Weise Simulationen und neue Technologien dort verhandelt werden. Im Folgenden sollen die Romane Neuromancer und Snow Crash hinsichtlich ihres Umgangs mit dem Sujet der Simulation und daran angebunden der Darstellung von virtuellen Realitäten analysiert werden. Wie zuvor im Kapitel über die Medientheorien angedeutet, wird hier erkennbar, wie stark sich die Autoren des Cyberpunks tatsächlich von bereits bestehenden Konzepten haben beeinflussen lassen und durch ihre Werke diese Konzepte in manchen Punkten sogar noch erweitert haben. Hervorzuheben ist hierbei nochmals, dass die Cyberpunkautoren zwar gleich oder ähnliche Motive wie jene, die auch in den Medientheorien immer wieder betrachtet werden, aufgreifen, sich hierbei aber nicht zwangsweise auch auf bereits bestehende Medientheorien berufen, sondern häufig eigene Vorstellungen und Konzepte entwickeln, die den genannten Medientheorien jedoch nicht zwangsweise widersprechen, sondern literarisch-künstlerisch beschrieben werden. Neuromancer steht hierbei für den Anfang der Entwicklung des Cyberpunks, auf die er stilbildend wirkte, wohingegen Snow Crash bereits zum Postcyberpunk zählt und sein Augenmerk zwar auf dieselbe Thematik richtet, diese aber aus einem anderen, vielleicht sogar aus heutiger Perspektive realistischeren Blickwinkel betrachtet.

10 Ebd., S. 10.

William Gibson: Neuromancer (1984) Die Entzauberung des Physischen Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war. William Gibson1

William Gibson stellt in seinem Debütroman Neuromancer (1984) eine Welt vor, die sich grundlegend von der wirklichen Welt der frühen 1980er Jahre unterscheidet: Von Medien, Computern und neuen Technologien durchdrungen ist der dortige Alltag der Menschen ein völlig anderer geworden. Neuromancer trifft in seiner hochtechnologisierten Cyberpunkversion der damaligen Gegenwart den Zeitgeist und greift Strömungen aus Technologie und Kultur sowie sozialökonomische Entwicklungen auf. In seinen Erzählungen versucht Gibson das zu transportieren, was er als unabwendbare Konsequenzen dieser Entwicklungen betrachtet. Die Technologie formt einen neuen von Simulation und Virtualität geprägten Raum als eine Permutation des zur Entstehungszeit aktuellen Alltags.2 Erzählt wird Neuromancer aus dem Blickwinkel von Case, einem Konsolencowboy, Hacker und Kleinkriminellen. Nach einem missglückten Coup wurden seine Synapsen verstümmelt und er hat den Zugang zur Matrix des Cyberspace verloren, was ihn in eine tiefe Krise gestürzt hat. Der Barkeeper Ratz nennt ihn halbironisch Künstler, obwohl Case anfänglich eher als technisch sehr versiert denn künstlerisch begabt beschrieben wird, nämlich als „a whiz at learning codes

1

William Gibson: Neuromancer. München: Heyne 1991. S. 10.

2

Vgl. Claire Sponsler: Cyberpunk and the Dilemmas of Postmodern Narrative: The Example of William Gibson. In: Contemporary Literature. Ausgabe 33, Nummer 4. Winter 1992. S. 625-644, hier S. 626.

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of operating systems.“3 Doch genau dieser Umgang mit dem Code stellt eine eigene Kunstform dar, die in dieser Ausprägung nur Case beherrscht. Trotzdem wird er nur als einer jener „operational simulators“ bezeichnet, die für ihre Arbeit keinerlei Imagination benötigen.4 Die Matrix ist Cases Welt, die Realität etwas, dem er nicht ausweichen kann. Und so nimmt er nach langer Pause einen neuen Auftrag nur zu gerne an, denn dieser enthält gleichzeitig das Heilsversprechen, wieder in die digitale Welt der Matrix zurückkehren zu können. Case zur Seite steht fortan Molly, eine Söldnerin, deren Körper kybernetisch aufgerüstet ist. So kann sie sprichwörtlich ihre Krallen ausfahren und hat die Gläser ihrer Sonnenbrille fest im Gesicht verankert, sieht dadurch aber auch wesentlich mehr als andere. Mithilfe der Jugendbewegung der Panther Moderns gelingt es Molly außerdem, den ehemaligen Mentor von Case, McCoy Pauley, ins Team zu holen. Im weiteren Verlauf schließt sich ihnen überdies der zwielichtige Hologrammkünstler Peter Riviera an. Auftraggeber ist der geheimnisvolle Armitage, der sich zuletzt als Marionette der künstlichen Intelligenz Wintermute herausstellt. Deren Ziel ist es wiederum, sich mit einer weiteren künstlichen Intelligenz, dem titelgebenden Neuromancer, zu verschmelzen, um eine neue Art von Bewusstsein zu entwickeln. Gibson zeigt, wie die bekannte Realität durchdrungen von Simulation, Cyberspace und Technik aussehen könnte, und geht dabei ähnlich strukturalistisch vor wie Roland Barthes dies in seinem Essay Die strukturalistische Tätigkeit (1964) beschreibt. Er nutzt Fragmente der realen Gegenwart der 1980er Jahre, die er neu zusammenstellt und mit technischen Erweiterungen als eine andere technokratische Welt darzustellen versucht. Das Paradigma dieser so vermittelten Realität ist eine refigurierte Version der realen Welt auf technischer, kybernetischer und maschineller Ebene, die einzig durch Sprache und technologische Bilder beschrieben wird. Die Technologie ist hier so allumfassend geworden, dass die Welt nur noch durch sie und ihre Sprache wahrgenommen werden kann. Sie ist in Zusammenhang mit der Simulation sogar selbst zum Rahmen der Wahrnehmung geworden. Gibson beschreibt in Neuromancer eine Art zweidimensionaler Wirklichkeit, in der es zu Verschiebungen von Realität und Virtualität, von Realem und Virtuellem kommt, was zu einer zunehmenden Ununterscheidbarkeit von beidem führt. 5 Besonders hervorzuheben ist die Idee des Cyberspace, ein weltumspannendes Netz, das an das heutige Internet erinnert, dessen Konzept Gibson im Verlauf des

3

Cynthia Davidson: Riviera’s Golem, Haraway’s Cyborg: Reading Neuromancer as Baudrillard’s Simulation of Crisis. In: Science Fiction Studies. Ausgabe 23, Nummer 2. Juli 1996. S. 188-198, hier S. 189.

4

Ebd., S. 189.

5

Vgl. Sponsler: Cyberpunk and the Dilemmas of Postmodern Narrative, S. 628.

Neuromancer: Die Entzauberung des Physischen | 135

Romans immer mehr ausarbeitet, nachdem er es bereits in Grundzügen in seiner Kurzgeschichte Burning Chrome (1982) angedeutet hatte.6 Über eine Schnittstelle ist es möglich, sich von überall auf der Welt in den Cyberspace einzuklinken und die Matrix zu betreten. Es ist eine interaktiv vernetzte Welt, in der Menschen „sowohl in der Realität als auch zum Teil in der VR [Virtual Reality] leben“ und zwischen beiden Welten wählen können.7 Die Nutzer sehen die virtuelle Welt, die ihnen mittels E-Troden eingespeist wird – reale Distanzen werden aber, während sie sich im Cyberspace befinden, im Normalfall nicht zurückgelegt. Die Augen sehen nur, was ihnen die Matrix des Cyberspace zeigt.8 Trotzdem besteht die Möglichkeit der doppelten Bewegung, durch die der Nutzer theoretisch reale Distanzen zurücklegen kann, während er sich gleichzeitig online bewegt. Allerdings muss die mögliche reale Entfernung nicht jener entsprechen, die gleichzeitig virtuell potenziell zurückgelegt wird. Virtuelle Orte repräsentieren in Neuromancer zwar die realen, aber im eigentlichen Sinn aneinandergekoppelt sind sie nicht. Die Ziele werden von außerhalb des Cyberspace angewählt, das virtuelle Umfeld passt sich als Ort daran an. Der Rezipient wird mit der Nebeneinanderstellung und Interaktion von zwei Universen konfrontiert, die ihn dazu zwingt, sich einen mehr oder weniger kohärenten Cyberspace vorzustellen, indem semantic clashes, semantische Widersprüche, mit Weltwissen verhandelt werden.9 Ob und inwiefern dieser Cyberspace aber tatsächlich allumfassend ist, wird von Gibson nicht aufgelöst. Ohne die optischen Prothesen in Form der E-Troden kann die Matrix nicht betreten und folglich auch nicht wahrgenommen werden. Dennoch ist es möglich, mit dem gesamten Bewusstsein in diese virtuelle Welt einzutauchen. Besser gesagt: Der Cyberspace gehört für bestimmte Gesellschaftsschichten zum Alltag. Ebenso scheinen Körperimplantate und Schönheitsoperationen zum allgemeinen Usus geworden zu sein. Von Gibson ist dies mit sozialkritischen Untertönen versehen. Während des gesamten Romans ist beispielsweise nie klar, ob die Protagonisten „in ‚real‘ space, in computer space, in implanted memory, in Simstim space (a computer simulation of reality), or in other realms of cyberspace“ sind. 10 Das

6

Vgl. William Gibson: Burning Chrome. New York: Harper Collins 1995.

7

Heiner Hink: Virtuelle Welten in Film und Literatur. In: Andreas Lober (Hg.): Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co: Faszination, Gefahren, Business. Hannover: Heise 2007. S. 63-68, hier S. 64.

8

Die Matrix verhält sich zum Cyberspace wie das World Wide Web zum realen Internet.

9

Vgl. Sabine Heuser: Virtual Geographies: Cyberpunk at the Intersection of the Postmodern and Science Fiction. Amsterdam: Rodopi 2003. S. 103.

10 Douglas Kellner: Media Culture. Cultural Studies, Identity and Politics between the Modern and the Postmodern. London: Routledge 1995. S. 310.

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Konzept von Realität und Cyberspace und dessen Matrix ist durchlässig, die eigentliche Wirklichkeit scheint zu verschwinden und „other dimensions of experience create a new multi-dimensional and disorienting realm of experience.“ 11 Der Cyberspace wird als simulierter Raum etabliert, der neue Formen der Kommunikation ermöglicht. Das Informationsnetzwerk definiert das menschliche Dasein und grenzt es gleichzeitig ab. Der Schreibstil Gibsons selbst ist ein Netz von Anspielungen, die indirekt und beiläufig miteinander verknüpft sind und die von ihm durchdesignte Welt zwischen Realität und Matrix bestimmen. Auf sozialer Ebene ist diese Welt vom Verfall geprägt, die Protagonisten sind abseitige Figuren, die eine düstere Neonwelt bevölkern. Künstliche Intelligenzen treten als handelnde Charaktere auf, aber auch Persönlichkeitsstrukturen von Menschen können in sogenannten ROM-Konstruktionen dauerhaft gespeichert werden und fristen als Simulation ihrer alten Persönlichkeit ein unwirkliches Dasein zwischen Realität und Virtualität. Der Alltag ist geprägt von Hochtechnologien, deren Auswirkungen auf die Gesellschaft sich „in einem Stadium der fortgeschrittenen Fragmentisierung und Auflösung befinde[n]“, was zu einem „grundlegenden Paradigmenwechsel“ geführt hat.12 Die Technologien sind dem Menschen so nahegerückt, dass sie mit dem Körper längst verschmolzen sind, was unter anderem an den Beschreibungen verschiedenster Prothesen zu erkennen ist. Innerhalb des Cyberpunks ist eine Trennung zwischen Körper und Technologie kaum noch möglich, Raum wird zu Geschwindigkeit – und das lange bevor Virilio seine Theorie der Dromologie ausgearbeitet hatte.13 Anders als bei vielen Cyberpunkautoren ist Gibsons Schreiben von Kunst und Künstlichkeit durchdrungen. Seine Geschichte kann als Versuch interpretiert werden, wie er als Autor sich als kritischer Beobachter seines eigenen Universums inszeniert und diesen Diskurs im Text immer wieder dar- und herstellt. Das Narrativ wird hierbei selbst zur Simulation, die die Kunst auf ihre tradierten Muster hin hinterfragt. Affirmation und Kritik lassen sich nur noch schwer unterscheiden, denn der Cyberspace wird quasi sofort in einen dystopischen fiktionalen Chronotopos umgewandelt, dessen Wunsch nach der virtuellen Realität zur Implosion

11 Ebd., S. 310. 12 Vgl. Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 157. 13 Paul Virilio erarbeitet seine Theorie der Sehmaschine und der Dromologie, zu welcher der Mensch nur noch mithilfe optischer Prothesen Zugang erhält, allerdings erst nach der Veröffentlichung von Neuromancer. Vgl. S. 111 dieser Arbeit.

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selbiger führt.14 Gibson versucht im Umfeld experimenteller Kunst die Realitätserfahrung als hyperreale Simulation zu etablieren und verweist damit auf eine Avantgarde, deren Ziel es ist, die Lücke zwischen Kunst und Leben zu schließen.15 Seine Version des Cyberspace verspricht die künstlich erzeugte Transzendenz, die Cybersphäre hat das reale Leben bereits absorbiert, weswegen den Protagonisten nichts anderes mehr bleibt, als genau diese künstliche Form der Transzendenz zu suchen.16 Cyberpunk funktioniert für Gibson als subtil eingesetztes Medium für Kunst, welches sich mit der Frage auseinandersetzt, wie in diesem Fall auch Künstler die conditio humana in einer Welt voller kybernetischer Technologien darstellen. Dies zeigt sich allein schon an der gedoppelten Struktur: William Gibson tritt selbst ebenfalls als Künstler auf, indem er als Autor von Neuromancer fungiert. Ersichtlich wird dies durch die Art und Weise, wie er Case als seinen Protagonisten darstellt und beschreibt. Wenn der Barkeeper Ratz Case folglich Künstler nennt, obwohl er in seinem Habitus eher wie ein Techniker wirkt, so ist diese Aussage aus dieser Perspektive tatsächlich weniger ironisch intendiert als angedeutet. Nahezu jede Figur – besonders hervorzuheben ist der Hologrammkünstler Peter Riviera – wird als eine Art Künstler etabliert: Jedes Objekt wird zum technologischen Artefakt und damit ebenfalls zu einem Kunstprodukt, das mit Bedeutung aufgeladen werden kann – die Welt von Neuromancer ist folglich eine ebenso künstliche Welt wie eine Welt der Kunst.17 Neuromancer als Gesellschaft der Simulation Auf erzähltechnischer Ebene weist Neuromancer eine starke Nähe zu anderen Medienformaten wie Filmen, Computerspielen oder Musikvideos auf, indem der Roman intertextuelle Verweise nutzt und eine sehr bildhafte, aber auch unmittelbare Sprache einsetzt, die Gibson mit Sprüngen kombiniert, die an Filmschnitte erinnern.18 So verfügt Tokio in der anfänglichen Beschreibung der realen Stadt über einen Fernsehhimmel, der so hell leuchtet, dass er „das himmelhohe Hologramm-

14 Vgl. Istvan Csicsery-Ronay, Jr.: The Sentimental Futurist. Cybernetics and Art in William Gibson’s Neuromancer. In: Critique. Ausgabe 33, Nummer 3. Frühling 1992. S. 221-240, hier S. 225. 15 Vgl. ebd., S. 225. 16 Vgl. ebd., S. 226f. 17 Vgl. ebd., S. 222. 18 Vgl. Thomas Tabbert: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons. Hamburg: artislife 2008. S. 15.

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Logo der Fuji Electric Company“ überstrahlt und die Bucht vor der Stadt zur „schwarze[n] Wüste“ wird.19 Doch nicht nur deswegen stellt Neuromancer ein erstes und charakteristisches Beispiel des Cyberpunks dar, sondern auch „weil der Text zu einer Zeit [entstand], in der neue technologische Entwicklungen kulturelle Veränderungen [auslösen], die eine grundlegende Neufassung des Begriffs ‚Realität‘ [herausfordern].“20 Mit dieser herausgeforderten Realität taucht auch die Simulation als solche auf. In Neuromancer wird sie als mehrschichtiges Phänomen betrachtet, das nicht nur eine Umwelt simulieren kann, sondern auch Personen. Sowohl das framing universe als auch das framed universe sind auf der Handlungsebene angesiedelt, wobei der framed space, der Cyberspace, die dynamischere Sphäre darstellt, während die framing environment von zunehmendem Verfall dominiert ist.21 Die Realität wird diesem Verfall überlassen, wohingegen das Leben im Cyberspace als neue, erweiterte Daseinsform beschrieben wird. Die Erzählperspektive ist besonders dann, wenn Case innerhalb der Matrix agiert, die eines losgelösten Betrachters, ähnlich einem passiven Zuschauer, der eine Computersimulation beobachtet.22 Gibson entwirft eine fiktive Welt, durch die Vorstellungen von „time, reality, materiality, community and space“ grundlegend hinterfragt werden.23 Der virtuelle Raum tritt völlig gleichberechtigt neben den realen Raum, die Dichotomie zwischen Realem und Virtuellem ist auf ideeller Ebene nahezu vollständig aufgehoben. Das wird durch sprachliche Überschreibungen unterstützt, wenn beispielsweise ein Hackerangriff in London geplant wird, sich diese geografische Angabe aber auf einen virtuellen Ort innerhalb der Matrix des Cyberspace bezieht. Einzig der zugehörige Server, auf den online zugegriffen werden soll, steht vermutlich tatsächlich in London. Der Standpunkt innerhalb der Matrix ist für den Nutzer nicht immer derselbe, sondern abhängig davon, welches Ziel angesteuert werden soll: „[Case] wählte den Schweizer Bankensektor an […] Die Eastern Seabord Fission Authority war weg, ersetzt vom kühlen, geometrischen Geflecht des Zürcher Bankenwesens.“24 Dies zeigt, wie durch Sprache und die Sprachlichkeit von Begriffen und Metaphern Weltanschauungen beeinflusst werden können, denn „das Erzeugen von ‚Welten‘ und ‚Weltanschauungen‘ [stellt] letztlich nur einen

19 Gibson: Neuromancer, S. 16. 20 Tabbert: Künstliche Menschen in den Romanen William Gibsons, S. 16. 21 Vgl. Heuser: Virtual Geographies, S. 103. 22 Vgl. ebd., S. 106. Vgl. ebenso zu Immersion und Involvierung ab S. 286ff dieser Arbeit. 23 Dani Cavallaro: Cyberpunk and Cyberculture. Science Fiction and the Work of William Gibson. New Brunswick: Bloomsbury 2000. S. xif. 24 Gibson: Neuromancer, S. 154.

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willkürlichen Akt des Erschaffens einer solchen ‚Welt‘ beziehungsweise einer solchen ‚Weltanschauung‘ [dar].“25 Auf der Grundlage, dass wissenschaftliche und narrative Strukturen analog betrachtet werden, schafft der Text es, „neue Metaphern und einen veränderten ‚virtuellen‘ Begriff von ‚Realität‘ einzuführen, der versuchsweise die Konsequenzen einer kybernetischen Weltanschauung zu Ende denkt, insbesondere hinsichtlich der umfassenden Folgen einer solchen ‚virtualisierten Welt‘ für den Menschen und sein Selbstverständnis.“26 Innerhalb der Matrix beziehungsweise des Cyberspace werden abstrakte Daten nicht nur virtualisiert, sondern für den Nutzer selbiger auch körperlich erfahrbar gemacht. Er wird als „kybernetisches Modell der Gesellschaft“ dargestellt und „zeigt deren Funktionen in abstracto anhand des komplexen Systems der Datenströme, die das gesellschaftliche Geschehen bestimmen.“27 Das wiederum legt nahe, dass auch die gesamte Gesellschaft außerhalb der Matrix in einer Art simulierten Welt lebt, die vom Cyberspace bestimmt wird.28 Dies lässt erneut Verknüpfungen mit Roland Barthes zu, denn hier wird die scheinbar reale Welt durch den Cyberspace in abstrahierter Form dargestellt und zeigt damit ihre Stärken und Schwächen deutlicher als in der Realität, denn dieses neue Universum ist nichts anderes als ein Simulakrum des vorherigen.29 Für den Menschen bedeutet dies, dass er sich an diese Situation anpassen muss, um mit diesem Umfeld umgehen zu können. Wie genau diese Welt mit der realen verknüpft ist, muss sich der Rezipient jedoch selbst erarbeiten und dabei diese Widersprüchlichkeiten hinnehmen. Durch die Akzeptanz der Gegensätze und die daraus resultierende Plausibilisierung dieser Zusammenstöße entsteht ein neues Universum, in dem beides ohne Widerspruch gemeinsam existieren kann.30 Simulationen überlagern die Realität als virtuelle Erweiterung selbiger. Der Körper und der menschliche Subjektivismus haben sich durch die neuen Technologien drastisch verändert. Baudrillard bleibt in seiner Vorstellung der Hyperrealität ebenfalls abstrakt, während Gibson eine Welt entwirft, in der Simulationen und Hyperrealität omnipräsent sind, computergenerierte Identitäten scheinbar

25 Tabbert: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons, S. 15f. 26 Ebd., S. 15f. Vgl. zudem den Aspekt der Metapher in Zusammenhang mit Snow Crash ab S. 173 dieser Arbeit. 27 Vgl. ebd., S. 41. 28 Vgl. Markus Säbel: Cyberspace – Cyborg – AI. Technologie in Williams Gibsons ‚Neuromancer‘. In: Inklings. Jahrbuch für Literatur und Ästhetik. Band 18. Hg. v. Dieter Petzold. Moers: Peter Lang 2000. S. 250-271, hier S. 256. 29 Vgl. S. 90 dieser Arbeit zu Barthes und dessen strukturalistischer Tätigkeit. 30 Vgl. Heuser: Virtual Geographies, S. 103.

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autark und eigenständig agieren und das Individuum technologisch aufgerüstet wird. Der schmale Grat zwischen wirklicher und virtueller Realität verwischt, der ontologische Status wird zusehends unklar. 31 Auf den ersten Blick liegt es nahe, Gibsons Idee des Cyberspace mit Baudrillards Hyperrealität zu vergleichen, doch genau das ist falsch. Es existieren wirkliche Simulakra in dieser Gesellschaft, sie sind allerdings nicht zwangsweise direkt mit dem Cyberspace verknüpft: „Cyberspace, while invading meatspace is a transgressive, sometimes assimilating manner, is still part of a binary opposition: both worlds are still separated, if by an ever-so slightly barrier which Gibson’s characters try to tear down or forget by means of technology or drugs.“ 32 Die Hyperrealität ist kein tatsächlicher Ort, der bewusst besucht werden kann, sondern ein theoretisches Konzept, das hier nicht zutrifft. Der Cyberspace hingegen existiert als Erweiterung der Realität und als Informationsnetzwerk, das primär von Hackern genutzt wird. Gibson greift die Themen von Baudrillard zwar inhaltlich auf, setzt sie aber auf eigene Weise um. Inwiefern er sich tatsächlich auf Baudrillards Thesen bezieht, ist jedoch offen. Beide erscheinen auf ihrem jeweiligen Gebiet als Visionäre, auch wenn Gibson hier eine sehr eigene Perspektive auf die Medienkultur und damit verbunden auch auf virtuelle Realitäten etabliert. So wie Baudrillard als Science-Fiction interpretiert werden kann, kann auch Gibson medientheoretisch erfasst werden, indem seine Texte dekonstruktivistisch gelesen werden und einen Blick auf die verborgene Tiefenstruktur freilegen. Während Gibson hier also neue Ideen beschreibt, steckt Baudrillards Theorie sprichwörtlich in der Hyperrealität fest, Transzendenz sucht man hier vergeblich.33 Parallel zu Gibsons allumfassender Mediengesellschaft existiert in der Welt von Neuromancer mit den Panther Moderns eine Art der Jugendkultur, die in der Nähe von Terrorismus verortet wird. Die Panther Moderns neigen zu „Willkürakten surrealer Gewalt“, distanzieren sich selbst aber davon, als Phänomen und Form des Terrorismus beschrieben zu werden.34 Durch ihr Auftreten inszenieren sie sich selbst und etablieren ein Terrortheater, dass die Surrealität des Alltags in Gewalt transformiert.35 Alles ist Inszenierung und damit im Gesamtgefüge nur eine zusätzliche Art der Ausdeutung der Realität und im weiteren Sinne simuliert.

31 Vgl. Kellner: Media Culture, S. 305. 32 Oliver Plaschka: Cyberspace as Final Frontier: Artificial and Virtual Space in William Gibson’s Neuromancer. Komparatistik Online, Ausgabe 2015-1. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 33 Vgl. Kellner: Media Culture, S. 316 und 319. 34 Gibson: Neuromancer, S. 83. 35 Vgl. Csicsery-Ronay, Jr.: The Sentimental Futurist, S. 227.

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Während Molly mit den Panther Moderns über deren Anführer Lupus Yonderboy direkten Kontakt aufnimmt, nutzt Gibson auf narratologischer Ebene eine Fernsehsendung mit einem Interview über diese Gruppierung, um dem Rezipienten deren vorgebliches Ziel zu beschreiben. Auch hier wird Terrorismus mit Medialität enggeführt: „Es ist stets der Punkt zu beobachten, wo der Terrorist aufhört, die Medien-Gestalt [i. O.] zu manipulieren. Ein Punkt, an dem die Gewalt zwar eskalieren mag, aber nach dem der Terrorist symptomatisch für die Medien-Gestalt [i. O.] selbst geworden ist.“36 Terrorismus gilt hier als von Natur aus medienbezogen, die Panther Moderns als nihilistische Technofetischisten differenzieren sich von anderen Terroristen jedoch durch „ihr Ausmaß an Selbstbewußtsein [sic!], ihr Wissen darum, wie stark die Medien den Terrorakt von der ursprünglichen sozialpolitischen Absicht trennen.“37 So unpolitisch Neuromancer über weite Teile wirkt, so stark politisiert sind die Panther Moderns.38 Sie sprechen nicht selbst über sich und ihre Ziele, stattdessen wird über sie in einer Fernsehsendung gesprochen – als Versuch, ihre anarchistische Vorgehensweise innerhalb der Medienrealität einordnen zu können. Die Panther Moderns kommentieren jedoch ausschließlich durch ihre Existenz die Zersplitterung der realen Welt ins Virtuelle, indem sie sich selbst als das Chaos inszenieren, das medial aufgegriffen und verstärkt wird. Sie dienen als äußeres Ablenkungsmanöver beziehungsweise simuliertes Attentat, während Molly im Inneren einen anderen Plan verfolgt, der die Rekrutierung eines weiteren Mitglieds für die Gruppe um Armitage als Ziel hat. Die Panther Moderns werden von ihr für ihre eigenen Zwecke bewusst eingesetzt und lassen es gleichzeitig zu, von Molly benutzt zu werden. Sie sollen durch das inszenierte Attentat medial vom eigentlichen Ziel des Coups als Täuschungsmanöver ablenken, denn das von ihnen verursachte Chaos zieht alle Aufmerksamkeit auf sich.39 In der Zwischenzeit ist es der Gruppe um Molly möglich, die ROMKonstruktion, die die digital gespeicherte Persönlichkeit des im realen Leben

36 Gibson: Neuromancer, S. 83. 37 Ebd., S. 83f. 38 Vgl. Kellner: Media Culture, S. 315. 39 Vgl. das Konzept des Täuschungsmanövers bei Paul Virilio. Wie dort nutzen die Panther Moderns Gewalt, um von etwas abzulenken und die Aufmerksamkeit der Menschen auf das von ihnen verursachte Chaos zu projizieren. Dieser Aspekt steht dadurch mehr im Vordergrund, während anderes verdeckt wird. Sie drohen mit Gewalt, liefern Terror und haben insgeheim andere Pläne, wie man an ihrer Unterstützung für Molly sieht. Vgl. Paul Virilio: Die Sehmaschine. In: Paul Virilio: Die Sehmaschine. Berlin: Merve 1989. S. 133-172, hier S. 150f.

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längst verstorbenen Hackers McCoy Pauley enthält, zu beschaffen, denn dieser spielt für Wintermutes Plan eine wichtige Rolle. Virtuelle Welten und reale orbitale Stationen als schwereloses Disneyland Innerhalb des Cyberspace befindet sich die Matrix, die Case sieht, wenn er sich im virtuellen Raum aufhält. Die Beschreibung der Matrix verharrt im Abstrakten, wenn sie sich „wie ein Origami-Trick aus flüssigem Neon entfaltet“, zu Cases „distanzlose[r] Heimat“ wird, die Matrix„sein Land [ist] ein transparentes Schachbrett in 3-D [i. O.], unendlich ausgedehnt.“40 Es handelt sich um keine real anmutende Landschaft; stattdessen gleicht die Beschreibung eher dem, was der Film Tron bereits 1982 sichtbar gemacht hat: eine computergenerierte Welt voller geometrischer Figuren und künstlich leuchtender Neonfarben.41 Laut Gibson basiert die Matrix auf primitiven Videospielen, aber ebenso auf „frühen Computergrafikprogrammen und militärischen Experimenten mit Schädelelektroden.“42 Der Cyberspace wird mit einer „unwillkürlichen Halluzination“ gleichgesetzt, mit „Lichtzeilen in den Nicht-Raum des Verstandes gepackt.“43 Die distanzlose Heimat von Case lässt sich auf die bereits erwähnte Trennung zwischen Körper und Geist zurückführen. Der Datenkörper ist distanzlos, kann innerhalb von Sekundenbruchteilen überall innerhalb des Cyberspace sein. Die zitierte Wahrnehmung Cases, als er zum ersten Mal nach seiner kognitiven Wiederherstellung in die Matrix eintauchen kann, ist eine der Schlüsselstellen im Roman, denn hier „wird die starke Affinität deutlich, die Case zur virtuellen Realität des Cyberspace besitzt.“44 Sie ist seine eigentliche Heimat, während sein Körper vielmehr ein Hindernis seiner geistigen Existenz darstellt, denn lieber hängt er „an einem handelsüblichen Kyberspace-Deck [i. O.], das sein entkörpertes Bewußtsein [sic!] in die reflektorische Halluzination der Matrix“ projiziert.45 Besonders für Case ist die Matrix damit eine Art privates Utopia, in das er sich geistig zurück-

40 Gibson: Neuromancer, S. 77. 41 Vgl. Steven Lisberger: Tron. USA 1982. 42 Gibson: Neuromancer, S. 76. 43 Ebd., S. 76. 44 Frank Wittig: Maschinenmenschen. Zur Geschichte eines literarischen Motivs im Kontext von Philosophie, Naturwissenschaft und Technik. Würzburg: Königshausen und Neumann 1997. S. 124. 45 Gibson: Neuromancer, S. 14.

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ziehen kann und das für ihn eine Form der Transzendenz darstellt. 46 Zutritt zur Matrix verschafft Case ein sogenanntes Deck: Wenn er sich die E-Troden an der Stirn anbringt, nimmt er die Matrix völlig immersiv wahr. Weitere Hilfsmittel wie eine Datenbrille benötigen er und andere Nutzer in Gibsons Welt dafür nicht; stattdessen müssen konkrete Schaltungen betätigt werden, um die Matrix wieder zu verlassen. Technologie ist hier wie Sprache Konvergenz und Verschmelzung zugleich. Eine weitere Form der in Neuromancer vorgestellten virtuellen Realitäten im weiteren Sinne ist Simstim. Hierfür benötigt der Nutzer neben den E-Troden einen kleinen Plastikstirnreif, der zu einem Simstim-Deck gehört. Wer diese Technologie benutzt, wird zum stillen Beobachter einer anderen Person aus deren Innenleben heraus. Für den Nutzer beziehungsweise Beobachter wirkt diese Welt virtuell, obwohl sie für den Benutzten beziehungsweise Beobachteten die reale Umwelt darstellt. Konsolencowboys wie Case verzichten in der Regel auf Simstim, „weil es im Grunde ein Fleischspiel ist.“47 Es ist „im Prinzip ein und dasselbe wie die Kyberspace-Matrix [i. O.]“ und „eigentlich eine starke Vereinfachung des menschlichen Sensoriums zumindest in Hinblick auf die Darstellung.“ 48 Case nutzt Simstim bei Molly während des inszenierten Attentats der Panther Moderns und nimmt die Welt durch ihre Augen wahr. Dass er keinerlei Kontrolle über ihre Bewegungen hat, empfindet er als Einschränkung, er wird „zum blinden Passagier hinter ihren Augen.“49 Molly wird durch diese Applikation für Case quasi zum Realavatar, der über keinen Rückkanal verfügt. Er erlebt die Welt so, wie sie sie empfindet, und spürt sich selbst in ihrem Körper. 50 Die Immersion ist hierbei wie in der Matrix selbst sehr hoch, obwohl keine Möglichkeit der unmittelbaren Interaktion besteht.51 Diese Passivität des reinen Beobachtens fällt Case schwer, denn er ist auf Mollys Kooperation angewiesen, ohne dass er unmittelbar in das Geschehen eingreifen kann. Molly ist sich Cases Anwesenheit stets bewusst, er hingegen kann nicht direkt mit ihr interagieren. Als sie verletzt wird, während Case mit ihr per Simstim verbunden ist, erlebt er ihre Schmerzen. Sein Blick durch ihre

46 Vgl. Säbel: Cyberspace – Cyborg – AI., S. 260. Vgl. ebenso Wittig: Maschinenmenschen, S. 123. 47 Gibson: Neuromancer, S. 79. 48 Ebd., S. 79. Eine ähnliche Idee greift auch der Film Strange Days auf. Vgl. S. 44 dieser Arbeit. 49 Gibson: Neuromancer, S. 80. 50 Vgl. Wittig: Maschinenmenschen, S. 121f. 51 Vgl. ebenso Britta Neitzels Konzept, die der Immersion auch Passivität zuschreibt ab S. 295 dieser Arbeit.

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Augen ist zwar ein simulierter, die körperlichen Empfindungen Mollys nimmt er aber als überaus realistisch wahr. Der Mensch wird in zwei Arten der Existenz aufgelöst, was durch Cases Aussage, Reisen sei etwas für das Fleisch, zusätzlich verdeutlicht wird.52 Gleichzeitig findet aber auch eine Annäherung von künstlichen und realen Menschen statt, die „die Reproduzierbarkeit des Menschen, des Menschlichen in technischen Systemen“ hinterfragt.53 Die Folge ist eine Verflüssigung des Körpers ebenso wie eine Verflüssigung des Raums als Anschluss an das kybernetische Erklärungsmodell, bei dem der Körper immer mehr die Aufgabe verliert, der Kern der eigenen Identität zu sein.54 Aber auch in seiner Erzählstruktur mischt Gibson Mensch und Maschine, Realität und Virtualität. Beides verschmilzt tatsächlich, wenn von Molly die Rede ist, die ihren Körper kybernetisch erweitern lassen hat. Case hingegen ist technisch nicht aufgerüstet und dennoch „erhellt“ eine Pille seine Schaltkreise.55 Während also der Mensch mit dieser Dichotomie noch auskommen muss, verschwimmt die tatsächliche Welt mit dem Cyberspace: „Der Himmel über dem Hafen hatte die Farbe eines Fernsehers, der auf einen toten Kanal geschaltet war.“56 Dieser erste Satz in Neuromancer beschreibt die literarische Ästhetik des Cyberpunks und stellt die medienphilosophische Implikation des gesamten Phänomens dar, denn „das Eröffnungsbild von Neuromancer, dessen Grundlage die Nutzung eines technischen Zustands als Metapher für die Natur bildet“, zeigt dem Rezipienten eine Welt, „die eine totale Implosion von Natur und Technologie erfahren hat.“57 Der Himmel wird als Ort der Transzendenz gedanklich zum Informationskanal in einer von Simulationen durchsetzten Welt erweitert.58 Der digitale Code ist überall. Auch später wird der Himmel als „rauschende[...] Statik zur Nichtfarbe der Matrix“ beschrieben und wirkt damit merkwürdig irreal. 59 Auf der Orbitalstation Freeside, auf die gleich noch genauer eingegangen wird, ist das Morgengrauen nur noch als Video verfügbar, wohingegen die Villa Straylight auf der Spindel der Orbitalstation keinen Himmel kennt, „ob aufgezeichnet oder anders geartet.“60 Dieses Bild ruft wiederum semantische Überschreibungen der Systeme

52 Vgl. Gibson: Neuromancer, S. 109. 53 Wittig: Maschinenmenschen, S. 141. 54 Vgl. Tabbert: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons, S. 33. 55 Vgl. Gibson: Neuromancer, S. 34. 56 Ebd., S. 10. 57 Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 14. 58 Vgl. ebd., S. 15. 59 Gibson: Neuromancer, S. 51. 60 Vgl. ebd., S. 168 und S. 227.

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hervor. Der Fernsehbildschirm wird wie eine Bildstörung über den unbegrenzten Himmel gelegt, kreuzt das Konzept der Natur mit jenem von Medientechnologien, Stadtbild und der Darstellung von Daten. Das wiederum lässt Rückschlüsse auf den ursprünglichen Begriff der cybernetics zu und verdichtet sich thematisch immer mehr: Realität und Simulation sind in dieser Welt kaum noch zu unterscheiden.61 Reales Leben und das virtuelle Dasein durchdringen sich so stark, dass eine Abgrenzung schwerfällt. Die Natur in Form des Himmels wird mit einer Bildstörung gleichgesetzt, das Künstliche überwiegt, gleicht diese Dichotomie aber nicht aus: „The very first sentence of ‚Neuromancer‘ establishes the impossibility of a ‚real‘ space existing apart from its electronic analogy.“62 Das orbitale Vergnügungszentrum Freeside stellt ein Simulakrum nach Baudrillards Konzept von Disneyland dar.63 Orbitalstationen wie Freeside dienen wohlhabenden Touristen zur Erholung. Hier taucht eine Trennung zwischen den Wortpaaren wirklich/simuliert und natürlich/künstlich auf. So träumt der Hologrammkünstler Peter Riviera in einem der Theater auf Freeside real und alle können es in Form sichtbar gewordener Hologramme miterleben. 64 Gleichzeitig ist die Orbitalstation selbst eine Art analog-künstliches Paradies, an dem nichts authentisch ist, nicht einmal die bereits genannten Sonnenaufgänge. Dies ist ein weiteres Zeichen dafür, dass bei Gibson die Künstlichkeit sowohl innerhalb der Matrix als auch in der realen Welt deutlich überwiegt. Den handelnden Charakteren ist dies vollkommen bewusst und ebenso gehen sie mit dieser Umgebung um. Das Leben dehnt sich von der alltäglichen Realität in die Matrix aus, ermöglicht damit einen anderen Alltag, während die Matrix ebenso wie Freeside als Erweiterung der Realität anhand von Simulation betrachtet werden kann. Das Leben innerhalb der Matrix erscheint vor allem Case viel realer als jenes außerhalb, wodurch besonders deutlich wird, wie Grenzerfahrungen der Realität das Weltbild der Betroffenen und damit den ontologischen Status des Selbst verändern können. In diesem Bereich ist die Simulation jedoch nicht allumfassend und hat sich im Alltag für die meisten Menschen als eine Art Nebenwelt etabliert, deren geometrische Künstlichkeit ebenso wie die von Freeside deutlich erkennbar ist. Außerhalb von Freeside dominieren in der realen Welt enge Straßenschluchten, Smog, Neon und Industrie samt deren Abfällen die postindustrielle Umwelt. Der Weltraum ist letzter

61 Vgl. Heuser: Virtual Geographies, S. 104. 62 Scott Bukatman: Terminal Identity. The Virtual Subject in Postmodern Science Fiction. Durham-London: Duke University Press 1998. S. 148. 63 Vgl. Jean Baudrillard: Die Präzession der Simulakra. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Merve: Berlin 1978. S. 7-71, hier S. 24ff. 64 Vgl. Gibson: Neuromancer, S. 185.

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Zufluchtsort des scheinbar Natürlichen. Eben jene Künstlichkeit ist es aber auch, die die Irrealität der Welt außerhalb der Orbitalstation unterstreicht und hervorhebt, denn genau dort ist die virtuelle Realität der Matrix verortet. Das Zentrum des Künstlichen ist die Villa Straylight in der Spindel der Orbitalstation. Frei von Gravitation ist sie eine „groteske Spielerei“, deren Semiotik ein „Insichgekehrtsein, eine Abwendung von der schillernden Leere jenseits der Hülle“ bezeugt. 65 Das Konzept der Leerstelle scheint hier im ersten Moment umgekehrt, die gesamte Realität außerhalb der Villa scheint „leer“ zu sein, obwohl genau diese Villa das leere und aufgrund ihrer Lage gravitationslose Zentrum der Orbitalstation ist. Genauso wie die Krümmung von Freeside endlos wirkt, ist auch der Cyberspace der Matrix endlos. Künstliche Lebensformen als Simulation der Wirklichkeit Die Welt von Neuromancer ist eine stark medialisierte Welt, in der nicht mehr bestimmt werden kann, ob die Realität, die erlebt wird, auch wirklich ist. Selbst der Tod stellt kein Ende der (menschlichen) Realität mehr dar. Dieser kann durch die Simulation der menschlichen Persönlichkeit als ROM-Konstruktion unendlich hinausgezögert und durch eine maschinell-virtuell erzeugte Ewigkeit ersetzt werden, wie an McCoy Pauley ersichtlich wird. In der Vergangenheit fungierte er als Mentor von Case, seinen Spitznamen als Dixie Flatline erhielt er, da er in seiner Hackerkarriere mehrere Hirntode überlebte.66 Nach seinem wirklichen Tod wurde seine digitale Persönlichkeitsstruktur in einer ROM-Konstruktion abgespeichert und in einem Gebäude des Medienkonglomerats Sense/Net aufbewahrt. 67 Er wird

65 Ebd., S. 226. 66 Vgl. ebd, S. 74. 67 Eine Frage, die gegenwärtig immer häufiger gestellt und immer drängender wird, ist auch jene nach den Rechten künstlicher Intelligenzen in jedweder Form. Gibson thematisiert dies in Neuromancer ebenso wenig wie die anderen Texte, die hier als Grundlage dienen. Dies ist als Hinweis darauf zu werten, dass sich die Wahrnehmung künstlicher Intelligenzen in den vergangenen Jahren signifikant geändert hat. McCoy Pauley hingegen wird keine Wahl gelassen: Als ROM-Konstruktion bleibt ihm im Fall von Neuromancer nur übrig, sich dem Team anzuschließen. Erst der erweiterte Speicher ermöglicht es ihm, in beschränktem Umfang individueller auftreten zu können und sich mit der Form seiner Existenz auseinanderzusetzen. Wahlmöglichkeiten werden ihm nur insofern gestattet, als dass es ihm möglich ist, Case mitzuteilen, dass er diese Daseinsform ablehnt und nicht länger als notwendig in diesem Status verweilen möchte.

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während des Ablenkungsmanövers der Panther Moderns in Cases Team geholt, um den Auftrag von Armitage ausführen zu können. Mit der Figur des Pauley werden die reality of the mind ebenso wie die daraus entstehenden Zweifel der ontologischen Epistemologie infrage gestellt und damit verbunden auch die scheinbare concrete reality.68 Genau genommen ist Pauley nur mehr die Simulation der Persönlichkeit, die er als Lebender war. Erst durch einen von Case angebrachten Speicher ist die ROM-Konstruktion von Pauley fähig, ein folgerichtiges und echtes Zeitgedächtnis zu entwickeln, denn dadurch wird der Read-Only-Memory (ROM) zum Random-Access-Memory (RAM), der ihm ein Zeitgedächtnis ermöglicht, auch wenn er im weiteren Verlauf des Romans weiterhin ausschließlich als ROM-Konstruktion bezeichnet wird. Mit dieser Speichererweiterung erhält Pauley eine neue Art von Bewusstsein, das mit seinen Erinnerungen verknüpft ist („Bin sowieso nur ‘ne Leiche.“).69 Durch diese Simulation seines alten Selbst und zusätzlichen Speicher ist dieser Version von Pauley wieder in einem begrenzten Rahmen Selbstreflexion möglich. Er kommt zum Schluss, dass sein Leben zwischen den Welten innerhalb der Simulation nicht lebenswert sei und wünscht sich am Ende des Auftrags gelöscht zu werden, um auch innerhalb der Matrix zu verschwinden. Pauley symbolisiert das Individuum, das im digitalen Code der Matrix „unendlich reproduzierbar und damit ununterscheidbar im Sinne Baudrillards geworden ist.“70 Theoretisch könnte Pauley oder vielmehr sein abgespeichertes digitales Alter Ego Dixie Flatline unendlich oft kopiert werden. Auf ein Original verweist er aber nur noch im abstrakteren Sinn, denn der Hacker, dessen Geist die ROM-Konstruktion repräsentiert, ist außerhalb der Cybersphäre längst tot. Dennoch besitzt das Konstrukt Eigenschaften des realen Pauley, darunter auch seine Erinnerungen und sein Wissen. Der Unterschied zwischen Pauley und den beiden künstlichen Intelligenzen Wintermute und Neuromancer liegt darin, dass zumindest Neuromancer statt einer ROM-Konstruktion zur Persönlichkeitsspeicherung auf RAM zurückgreifen können, weswegen diese KI glauben, sie existierten wirklich.71 Pauley hingegen ist sich seiner Simuliertheit beständig bewusst. Die Frage, die durch ihn wiederholt gestellt wird, ist, ob ein Leben ohne Körper als gespeicherter Datensatz einer ehemals menschliche Persönlichkeit noch real ist oder ob es sich

68 Vgl. Bernulf Kanitscheider: Humans and Future Communication Systems. In: Hans Lenk, Maring, Matthias (Hg.): Advances and Problems in the Philosophy of Technology. Münster: Lit Verlag 2001. S. 249-60, hier S. 250. 69 Gibson: Neuromancer, S. 283. 70 Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 283. 71 Vgl. ebd., S. 325.

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hierbei nicht vielmehr um die Simulation einer Existenz handelt, quasi eine maschinelle Wiedergeburt als virtuelles Wesen, die zu einer eigenen Art von künstlicher Intelligenz geworden ist. Pauley ist immerhin „von seiner körperlichen Hülle und damit von seinen menschlichen Sinnesorganen ‚befreit‘“ und sichert sich eine gewisse Art von Unsterblichkeit.72 Doch von einem „Nachweis der fortgesetzten Identität durch die Anfertigung einer Kopie [kann] nicht die Rede sein“, denn die „Unterbrechung des Zeitfadens“ und damit Pauleys Leben ist das „irreparable[] Ende einer Person“ und führt zu einer Art „groteske[r] Unsterblichkeit“ des virtuellen Menschen.73 Die eigene Simuliertheit belastet Pauley ab dem Zeitpunkt, als er sich dessen bewusst wird, was auch immer wieder thematisiert wird. Dies wirft wiederum die Frage auf, wie echt seine Befindlichkeiten in dieser Situation noch sind oder ob diese ebenfalls nur simuliert sind. Auch an seinen „Tod“ oder vielmehr an den Tod des echten Pauley kann sich die ROM-Konstruktion nicht erinnern. Nach Stanislaw Lem besteht so aber keine Kontinuität zwischen dem Menschen Pauley und der gespeicherten Persönlichkeit im Sinne einer einzigartigen Identität. Auch wenn Pauley selbstreflexiv zu sein scheint, heißt dies nicht gezwungenermaßen, dass er als Simulation menschlich authentisch ist, „zumal Selbstreflexivität im Roman kein ausschließliches Merkmal der Menschen mehr darstellt.“74 Anders tritt die Figur Armitage auf. Als vorgeblicher Auftraggeber von Case und Molly bleibt er in seiner Darstellung erstaunlich blass, was von Gibson durchaus absichtlich als Darstellungsmittel eingesetzt worden sein dürfte, denn Armitage trägt bei genauerer Betrachtung ebenfalls Züge einer Art künstlicher Intelligenz. Obwohl er vordergründig menschlich agiert, ist er letztlich nur ein Persönlichkeitsmuster, das über die eigentliche Persönlichkeitsstruktur des Körpers, in dem es sich befindet, gelegt wurde. Die eigentliche Person Corto, ein ehemaliger Soldat, wurde „einem Experiment unterzogen, das [seine/Cortos] Schizophrenie unter Anwendung kybernetischer Modelle aufzuheben versuchte.“75 Armitage/Corto ist der einzige Proband, bei dem diese Vorgehensweise scheinbar erfolgreich war: Armitage funktioniert über einen gewissen Zeitraum tatsächlich als Simulation, die über den Geist des Soldaten Corto gelegt wurde. Als Nichtperson,

72 Tabbert: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons, S. 74. Vgl. ebenso Joachim Bühl: Die virtuelle Gesellschaft. Ökonomie, Politik und Kultur im Zeichen des Cyberspace. Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften 1997. S. 345. 73 Bernd Gräfrath: Ketzer, Dilettanten und Genies. Grenzgänger der Philosophie. Hamburg: Junius 1993. S. 254. 74 Tabbert: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons, S. 79. 75 Gibson: Neuromancer, S. 116.

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die eigentlich nicht existiert, bevorzugt er dementsprechend Nichtorte wie Hotels und Flughäfen zum Verweilen.76 Er zeigt eine Maske oder vielmehr das Bild einer Maske, die aus widersprüchlichen Teilen einer zersplitterten Persönlichkeit zusammengefügt ist. Cortos Schizophrenie und seine Traumata haben die originale Persönlichkeit zerstört, Armitage selbst ist zur Leerstelle geworden.77 Die hinter Armitage stehende künstliche Intelligenz Wintermute hat ein neues Bild, eine neue virtuelle Persönlichkeit generiert, die es ihm ermöglicht, Armitage als Marionette für seine eigenen Zwecke einzusetzen. Es ist das simulierte Sein, das Armitages Existenz erst ermöglicht und Corto in seine eigene Vergangenheit verdrängt. Aber anders als die zweite KI Neuromancer unternimmt Wintermute nichts, um die Grundbedürfnisse von Corto zu befriedigen, was am Ende zu seiner vollkommenen Zerstörung führt – das originale Selbst Cortos bricht durch, mit seinem Körper stirbt schließlich auch das Simulakrum Armitage.78 Corto dient als eine Art Hülle verschiedener Entitäten, die erst zusammengefügt werden müssen, aber in ihrer Darstellung ambivalent und unvollkommen bleiben. Er symbolisiert in Form von Armitage die Realität beziehungsweise Wirklichkeit im Zusammenhang mit dem Cyberspace. Die hieraus erwachsende Ambivalenz, die sich in der generellen Undurchschaubarkeit der Figuren spiegelt, legt sich über das virtuelle Nichts. Weder die Figuren noch die Umwelt sind vollständig real, sie sind vielmehr Simulationen ihrer selbst.79 Wie real Armitages Persönlichkeit ist, bleibt folglich ungeklärt. Als Case seinen Kollegen Peter Riviera mit Armitages Tod konfrontiert, kontert dieser nur mit der Aussage: „Armitage hat’s nie gegeben, das wäre treffender.“80 Der Begriff der rein technischen Simulation als virtuelle Umgebung muss hier folglich erweitert werden, denn während Pauley eine vollständige Simulation einer einst realen Person ist, ist Armitage selbst die Simulation in Cortos Körper. Beiden gemein ist, dass sie simulierte Wesen sind, wobei Armitage über keinen eigenen Verstand mehr verfügt. Das Auftreten von Armitage/Corto ist mit der dritten Ordnung der Simulakra verrechenbar, denn diese Ordnung täuscht darüber hinweg, dass keine Realität mehr existiert, in diesem Fall ist es die unterdrückte

76 Vgl. ebd., S. 69. 77 Vgl. ebd., S. 133: „Die Leere, die Armitage an den Tag legte, war ein ganz anderer Fall.“ 78 Vgl. Davidson: Riviera’s Golem, Haraway’s Cyborg, S. 193. 79 Vgl. Daniel Punday: The Narrative Construction of Cyberspace. Reading Neuromancer, Reading Cyberspace Debates. In: College English. Ausgabe 63, Nummer 2. November 2000. S. 194-213, hier S. 203f. 80 Gibson: Neuromancer, S. 332.

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Person Corto. Hier lässt sich wiederum Barthes’ Begriff des Simulakrums als Methode hinter dieser Systematik verorten. Besonders in Bezug auf die concrete reality trifft dies zu, die in diesem Fall zu einer concrete personality erweitert wird – einer Art von Persönlichkeit, die ebenso konkret ist wie die wahrgenommene Umwelt, denn genau dies stellt Armitage dar, die sich aber schließlich in Nichts auflöst.81 Mit der Frage nach dem Cyberspace muss hier also auch die Frage nach der Realität gestellt werden: »[I]nwiefern [können] vor dem Hintergrund eines ‚virtualisierten‘ Begriffs von Realität virtuelle künstliche Menschen [...] als ‚lebendig‘ im hergebrachten Sinn gelten [...] und inwiefern [können] sie als ‚digitale Doppelgänger‘ des Menschen mit solchen Menschen austauschbar sein […], deren Leben sich entweder überwiegend in einem lebensecht wahrnehmbaren, interaktiv erfahrbaren Informationsmuster-Raum [i. O.] abspielt oder aber deren Leben durch diesen ‚cyberspace‘ nahezu vollkommen ‚geregelt‘ (organisiert) wird.«82

Wie viel ist echt und somit real an solchen Persönlichkeiten? Neuromancer beschreibt die Entwicklung künstlicher Intelligenzen, die als geistiges Duplikat eines Menschen existieren und die im Cyberspace eine unwirkliche Unsterblichkeit erleben.83 Ist in dieser Hinsicht Pauley nicht ebenfalls menschlich beziehungsweise weitaus menschlicher, als Armitage es je gewesen ist? Als digitaler Doppelgänger eines Toten erlebt er die eigene Simuliertheit innerhalb der Simulation der Matrix als einschränkend. Das körperlose Sein, durch das er auf technische Hilfsmittel angewiesen ist, erscheint unvollkommen und ungenügend, trotz der scheinbaren Möglichkeiten, die Pauley jedoch ungenutzt lässt. Anders als Neuromancer und Wintermute geht er zuletzt nicht in der Matrix auf, sondern bevorzugt es, sein Dasein in dieser Form zu beenden. Obwohl für Case der Fleischkörper eher ein Hindernis innerhalb der Matrix darstellt, zeigt Pauley, dass für ihn die Existenz als reiner Datenkörper und damit ausschließlich als Simulation seines alten Selbst nicht erstrebenswert ist.

81 Der Rückgriff auf die Theorien Erving Goffmans, der die These aufstellt, dass überall von Personen Dinge vorgegeben werden, um einem allgemeingültigen Klischee zu gehorchen, zeigt, dass das Vorgegebene der tatsächlichen Persönlichkeit möglicherweise nicht entspricht. Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. München: Piper 2008. 82 Tabbert: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons, S. 23. 83 Vgl. Kellner: Media Culture, S. 314.

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Hologramme als Abbild und Aspekt der Kunst Neuromancer postuliert eine Art der Medienwirklichkeit, die aus verschiedenen Formen von Realitäten zusammengesetzt ist. Neben der Matrix, die für Case so zentral ist, ist die Welt und der Alltag durchsetzt von Hologrammen. Während die Matrix eher als Logikgitter beschrieben wird, deren Ästhetik in ihren klaren Strukturen liegt, tauchen die Hologramme als beständige und überlebensgroße Werbemittel auf und werden zur eigenen Kunstform. Statt Neonreklame in Leuchtstoffröhren ist hier die Werbung körperloses Licht. Es gibt „himmelhohe Hologrammlogo[s] der Fuji Electric Company“, Hologramme von Zauberschlössern oder als „simulierte Luftexplosion“, die eine Spielhalle mit hellem Tosen überflutet, während ein „düsterrotes Feuerball-Hologramm [i. O.] pilzförmig“ aufleuchtet.84 Die Umwelt wirkt surreal, die Hologramme bewirken eine Verschiebung der Wahrnehmung und machen die Wirklichkeit zur scheinbaren Augmented Reality. Der Performer Peter Riviera hat sich die Hologramme zu eigen gemacht und nutzt sie zu künstlerischen Zwecken, die er holografisches Cabaret nennt.85 Wie genau er seine Kunstwerke kreiert, bleibt im Dunkeln. Seine Bühnenshow Die Puppe demonstriert, wie er diese Bilder projiziert, die ihn in eine holografische Aura hüllen. Der Vorstellung wohnt eine eigene Logik inne, sie durchbricht auch auf der Bühne den Raum, löst die vierte Wand zum Zuschauer hin auf. 86 In seiner Show greift Riviera auf das zurück, was er sich vorstellt, und zeigt dies den Zuschauern im Theater als eine Variante des Realtraums: Molly wird von ihm in seiner Show holografisch zusammengesetzt und zwar auf eine Art und Weise, wie er Molly wahrnimmt, die aber hierbei nicht zwangsweise der Realität entspricht. Für ihn ist Molly ein Simulakrum, das für ihn unerreichbar ist.87 Die so erzeugten Bilder kann er überall einfügen und damit sogar neue Versionen der Realität erzeugen. Für Case ist dieses „Medium-Phänomen [i. O.]“ kein neues, den „Realtraum“ kennt er bereits aus seiner Teenagerzeit, als sich „Traummädchen drehten und […] zur Musik […] schüttelten.“88 Doch die scheinbare Leichtigkeit der unsichtbaren Technik war nur vorgetäuscht; verborgen in einem unauffälligen Lastwagen in der Nähe lagerte die zugehörige Ausrüstung samt Elektrodenhelm. Später nutzt Riviera seine Hologramme zur Täuschung und Selbstverteidigung, dennoch bestehen sie unmittelbar nur aus Licht und sind nicht mehr als ein

84 Gibson: Neuromancer, S. 16, 18 und 31. 85 Vgl. ebd., S. 181. 86 Vgl. ebd., S. 183. 87 Vgl. Punday: The Narrative Construction of Cyberspace, S. 209. 88 Gibson: Neuromancer, S. 185.

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dreidimensionales Bild im Raum. Dargestellt werden sie durch einen Projektor, in den er sich einstöpseln und sie so direkt programmieren kann.89 Neben den Hologrammen, die Riviera für seine Performances nutzt, ist es ihm auch möglich, Hologramme seiner selbst zu kreieren, die vom Original aus der Ferne ununterscheidbar zu sein scheinen. Dadurch kann er an mehreren Orten gleichzeitig auftauchen, auch wenn er nur an einem davon physisch anwesend ist – die Hologramme simulieren ihn nur, können aber nicht selbstständig aktiv werden. Während Case nur oberflächlich als Künstler bezeichnet wird, tritt Riviera als Kunstschaffender auf, der als „discursive map-maker […] possessed of an extraordinary visualizing memory [with] the ability to turn it into an effective, if lurid, representation of reality“ Baudrillard nahesteht.90 Natürlich nutzt auch er für seine virtuellen Zaubereien Implantate als Hilfsmittel für seine Tricks, aber ohne ein gewisses künstlerisches Talent würde Riviera die Anwendung weitaus schwerer fallen. Von Hologrammen ist der Weg nicht weit zum holografischen Gehirn und dessen Wahrnehmung von Wirklichkeit und Simulation. Die KI Wintermute taucht in Cases Gedankenwelt in der Gestalt des Finnen, eines weiteren Teammitglieds, auf. Case ist verwirrt, dass seiner Ansicht nach alles tatsächlich aussieht wie im Büro des Finnen, aber Wintermute erklärt: „Wenn du diese Konstruktion [das Bild, das er für Case entworfen hat] über die Wirklichkeit legen könntest, über den Laden des Finnen in unserem Manhattan, dann würdest du einen Unterschied sehen, wenn auch vielleicht keinen so großen, wie du annimmst.“ 91 Wintermute agiert völlig autonom und greift auf Cases Erinnerung zurück, denn aus seiner Sicht ist das Gedächtnis des Menschen holografisch und das „holographische [i. O.] Muster ist die engste Annäherung an das menschliche Gedächtnis, das ihr entwickelt habt.“92 Alles wird gespeichert, es ist nur eine Frage des Zugriffs, wobei der Mensch dennoch „die Muster des gedruckten Wortes“ in sich trägt. 93 Wintermute ist damit dem Menschen auch dadurch überlegen, weil er ihm „im Verständnis der menschlichen Kognition weit voraus ist.“ 94 Hier zeigt sich, dass Gedächtnis und Kognition auch innerhalb von Simulationen eine große Rolle spielen: Im Allgemeinen erlauben sie aus der Erfahrung und Erinnerung heraus, die

89 Vgl. ebd., S. 274. 90 Davidson: Riviera’s Golem, Haraway’s Cyborg, S. 193. 91 Gibson: Neuromancer, S. 222. 92 Ebd., S. 222. 93 Ebd., S. 233. Vgl. ebenfalls in Bezug auf das Wachsblockgleichnis mit Platon: Theätet. Griechisch/Deutsch. Kommentar von Alexander Becker. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007. S. 329f. 94 Tabbert: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons, S. 86.

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Umwelt zu erkennen und gegebenenfalls auch als Simulation enttarnen zu können, wenn dort Brüche der Logik vorkommen. Interessant ist hierbei, dass Wintermute immer dann auftaucht, wenn Case aufgrund eines kurzzeitigen Hirntods theoretisch nicht mehr in der Matrix sein kann. Diese Begegnungen finden folglich in einer völlig eigenen Version einer virtuellen Realität statt, die in diesem Fall hauptsächlich aus der Imagination von Case gewonnen wird, was sich wiederum darauf beziehen lässt, dass Virtualität aus Imagination entsteht. Doch auch die KI Neuromancer greift auf diese Taktik zurück und holt sich Cases Bewusstsein und dessen virtuellen Körper an einen silbergrauen Strand „irgendwo in der Hyperrealität der Matrix.“95 Genau dieser Strand erinnert aber auch an Baudrillards Wüste des Realen, das gleichzeitig Abstraktum wie auch konkrete Erscheinung ist.96 Cases Spuren werden vom Wind beinahe sofort wieder ausgelöscht, als wäre er nie dort gewesen, sein „Aufenthalt in der von Neuromancer generierten Realität [hinterlässt] keine Spuren oder Zeichen.“97 Gleiches gilt für die Zeit, denn während es in der Wahrnehmung von Case mehrere Tage sind, die er dort verbringt, ist er in der Realität nur wenige Minuten hirntot. Aber genau hier liegt die Krux, wenn „selbst dem Ereignis des Todes keine Möglichkeit mehr bleibt“ und es damit keine „bedeutenden Auswirkungen auf die physische und virtuelle Existenz einer Person“ hat.98 Gibson betont immer wieder die Individualität der handelnden Charaktere, doch die physische Präsenz hat in seiner Welt zunehmend an Relevanz verloren. Die Matrix wird als neues Reich des Hyperrealen etabliert, „dessen virtueller Raum dem Menschen eine neue Heimat bietet.“99 Gerade für Case wirkt sie weitaus realer als das wirkliche Leben. Diese „Entzauberung des Physischen“ kommt in Neuromancer insofern zum Tragen, als dass sich die Manipulationsrichtung zwischen Mensch und Maschine an der Schnittstelle umkehrt. 100 Nicht mehr der Mensch tritt als aktiver Nutzer einer Technologie auf, sondern die künstlichen Intelligenzen „hacken sich [...] ins Gehirn eines Vertreters der physischen Welt und benutzen ihn, um Manipulationen in der physischen Welt vorzunehmen.“ 101 Als Case Neuromancer begegnet, erscheint dieser als brasilianischer Junge und erklärt

95 Gözen: Science Fiction Cyberpunk, S. 287. 96 Vgl. ebd., S. 287. 97 Ebd., S. 287. 98 Baudrillard: Die Präzession der Simulakra, S. 10 und Gözen: Science Fiction Cyberpunk, S. 287. 99 Gözen: Cyberpunk Science Fiction, S. 286. 100 Vgl. Wittig: Maschinenmenschen, S. 131. 101 Ebd., S. 131.

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ihm die Bedeutung seines Namens: „Neuro von den Nerven [...]. Romancer. Romantiker. Nekromant. [...] ich bin die Toten und ihr Reich.“102 Anders als Wintermute benötigt er kein Erscheinungsbild aus Cases Gedächtnis, sondern generiert eine individuelle Darstellung seiner selbst, die nicht auf fremden Erinnerungen beruht. Durch den Cyberspace entdeckt Case sich selbst in der Simulation, die Neuromancer ihm vorspielt, und hat damit selbst eine ähnliche Art der Unsterblichkeit erreicht wie die ROM-Konstruktion McCoy Pauley. Neuromancer erschafft sich eine eigene Persönlichkeit, um mit Case sprechen zu können, denn sie ist innerhalb der virtuellen Welt sein Medium. „Bleib!“, ruft er Case zu, „[w]enn dein Mädchen [Linda, eine frühere Geliebte von Case, die ermordet wurde, und nun in Neuromancers Welt wieder auftaucht] ein Spuk ist, so weiß sie’s nicht. Wenn du’s nicht wissen wirst.“ 103 Damit gesteht er Case als eine Art Cyborg die gleiche Lebendigkeit in dieser Welt zu wie einem Menschen des real life, denn „[w]er hier lebt, der lebt. Da gibt’s keinen Unterschied.“104 Case existiert nun auch als virtuelle Person. Das lässt sich insofern erweitern, dass jemand, der denkt, er sei real und sich nicht bewusst ist, dass es sich dabei um keine körperliche Realität handelt, dennoch auf eine gewisse Weise echt ist, auch wenn er für Außenstehende zu einer Simulation wird: »[...mit der] ‚Erfahrung‘ des ‚cyberspace‘ [wird der] Reiz, den für gewöhnlich die Außenwelt in der menschlichen Wahrnehmung auslöst, nun selbst an die Stelle der Außenwelt [gesetzt und] somit funktional gewissermaßen selbst zur Außenwelt [...].«105

Linda ist es in dieser Welt nicht bewusst, dass sie sich als Simulation in einer künstlichen Realität aufhält. Sie agiert scheinbar eigenständig und unabhängig, Neuromancer kann ihre Gedanken weder lesen noch beeinflussen, gesteht ihr in ihrer Darstellung aber mehr Persönlichkeit zu, als dies Wintermute in seinen früheren Kontaktversuchen mit Case getan hat. Auch wenn Linda damit nur indirekt eine Maschine oder vielmehr eine virtuelle Maschine verkörpert, so ist „die Verwandlung des Menschen [...] in eine Maschine, die Vernichtung der ontologischen Differenz zwischen ihm und seinem künstlichen Doppelgänger, [...] der charakteristische Beitrag, den das Science-Fiction-Sub-Genre [i. O.] des Cyberpunk“ und damit Gibsons Neuromancer in der Motivgeschichte des künstlichen Men-

102 Gibson: Neuromancer, S. 317. 103 Ebd., S. 317. 104 Vgl. Tabbert: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons, S. 89 und Gibson: Neuromancer, S. 333. 105 Tabbert: Künstliche Menschen in Romanen William Gibsons, S. 58.

Neuromancer: Die Entzauberung des Physischen | 155

schen darstellt.106 Offen bleibt hier die Frage, ob der künstliche Mensch am Ende eine Kopie ohne Ursprung ist oder ob das Eigenleben, das eine Speicherung der Persönlichkeit zulässt, noch als ursprungshaft bezeichnet werden kann. Ein weiterer wichtiger Punkt in Bezug auf künstliche Intelligenz sind neben McCoy Pauley die beiden maschinellen Intelligenzen Wintermute und Neuromancer. Wie bereits gezeigt, tritt vor allem Wintermute häufig auf und erscheint dabei wie reale Personen aus dem Umfeld Cases als hochauflösende SimstimKonstruktion.107 Wie Pauley verfügt er über einen hohen Grad an Selbstreflexivität. Doch die Ursprünge sämtlicher KI sind verschieden. Während Pauley auf der Persönlichkeitsstruktur eines wirklichen Menschen aufgebaut ist, sind Wintermute und Neuromancer vollständig künstlich und verweisen auf keinen bekannten Ursprung. Das macht sie unberechenbar: „[Ei]ne AI [= engl. artificial intelligence (künstliche Intelligenz)] ist kein Mensch. Und du kriegst sie nicht richtig in den Griff. Ich bin auch kein Mensch, aber reagiere zumindest wie einer“, erklärt Pauley Case den Unterschied.108 Wie unkontrollierbar Wintermute tatsächlich ist, zeigt sich nicht nur dann, wenn er mit Case kommuniziert und ihm Bilder aus seiner Vergangenheit zeigt, sondern auch, wenn er am Ende, wenn er mit Neuromancer verschmolzen ist, sich selbst als Matrix, als „[d]ie Summe des Systems, die ganze Show“ bezeichnet.109 Die Möglichkeit zur Verschmelzung erhalten die KI durch den von Case gesteuerten Computervirus Kuang, mit dessen Hilfe er in der Villa Straylight das Eis, eine Art Firewall, die Neuromancer umgibt, durchbricht. Dieses Programm sucht „a myth of transcendence into which it can appear, and yet [is] never really away of the stakes of the game.“110 Kuang ist das Mittel zur Transzendenz, da er den direkten Zugang zu Neuromancer erlaubt.111 Ermöglicht hat das alles der Plan der bereits verstorbenen Marie-France Tessier-Ashpool, deren Familie in der Villa Straylight residiert. Sie tritt hier als ultimative kybernetische Künstlerin in absentia auf, denn erst durch ihr Kalkül ist es möglich geworden, beide KI zusammen-

106 Wittig: Maschinenmenschen, S. 134. 107 Vgl. Gibson: Neuromancer, S. 159 und S. 246. 108 Ebd., S. 175. 109 Ebd., S. 345. 110 Csicsery-Ronay, Jr.: The Sentimental Futurist, S. 231. 111 Viren haben in Neuromancer eine andere Bedeutung als später in Snow Crash, Matrix und eXistenZ. Während sie in letzterem tatsächlich als teilweise bösartiges Virus betrachtet werden können, werden sie in Neuromancer zum Hacken genutzt und erleben damit eine andere Konnotation. Der Roman erweckt den Eindruck, als ob die Viren von ihren Nutzern innerhalb des Cyberspace kontrolliert werden könnten.

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zufügen.112 Ziel ist jedoch nicht primär, eine neue Art der künstlichen Superintelligenz zu erschaffen, sondern eine transformierte Version der Realität, die durch ein eigenes Bewusstsein des Cyberspace begründet wird: „The united Wintermute-Neuromancer uses all of the reality as its raw material and, as a result, makes all of reality its transformed ‚work‘.“113 Mit den KI treffen zwei gegensätzliche Wertevorstellungen aufeinander: Wintermute verkörpert den Technokapitalismus der ursprünglich patriarchalen Familienstruktur der Tessier-Ashpools, dem MarieFrance Tessier-Ashpool mit der Entwicklung von Neuromancer widerspricht. Vollständig ist das System also erst, wenn Wintermute als Read-Only-Memory (ROM), Kollektivhirn und Entscheidungsfäller mit Neuromancer, der als Random-Access-Memory (RAM) Persönlichkeit und Unsterblichkeit verkörpert, zu einer neuen Superintelligenz verschmilzt, die zum Bewusstsein des Cyberspace wird.114 Der Sprachduktus von William Gibson macht klar, dass die künstlichen Intelligenzen auch im Vorfeld dieser Entwicklung bereits weit entfernt davon sind, rein maschinell zu sein, sondern eigenständige Persönlichkeitsstrukturen simulieren. 115 Laut Kulturwissenschaftlerin Claire Sponsler ist es diese Umkehrung zwischen Mensch und Maschine, die so zwingend erscheint im Genre des Cyberpunks. Das Subjekt wird nicht mehr ins Zentrum der Betrachtung gestellt, sondern mit der persistenten Transgression zwischen Realität und Virtualität sowie der Akzentuierung auf die pulsierende Welt der Signifikanten ausgerichtet, die den Cyberpunk als populäre Version postmoderner Fiktion definieren.116 So vielseitig die nur auf den ersten Blick oberflächliche Welt von Gibson ausgestaltet ist, so eindimensional wirken laut Sponsler die Charaktere, die sich in ihr bewegen, und die erzählten Handlungsstränge. Einzig die technologische Ausgestaltung lohne in diesem Zusammenhang einen tieferen Blick in den Cyberspace von Neuromancer. Dem muss widersprochen werden, denn wie sich zeigt, offenbart sich erst durch diesen Blick die dekonstruktivistische Tiefenstruktur. Gibsons Betrachtungen im Cyberpunk und speziell auf Neuromancer bezogen sind paradigmatisch für das Problem des Cyberpunks, wo alte Handlungsmuster mit augenscheinlich wenig innovativen Figuren in einer Szenerie dargestellt werden, die mit unserer Realität auf technologischer Ebene nur marginal Gemeinsamkeiten aufweist. Innerhalb dieser Erzählstruktur werden allerdings Phänomene der Technokultur simuliert und die

112 Vgl. Csicsery-Ronay, Jr.: The Sentimental Futurist, S. 231. 113 Vgl. ebd., S. 227f. 114 Vgl. ebd., S. 344. Vgl. ebenso Kellner: Media Culture, S. 308. 115 Vgl. Sponsler: Cyberpunk and the Dilemmas of Postmodern Narrative, S. 635. 116 Vgl. ebd., S. 635.

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daraus resultierenden Probleme in postmoderner Repräsentationsform beschrieben. Das Sprachverständnis der Postmoderne zeigt hier, wie Realität, bildliche Darstellungen, Metaphern und Symbole wahrgenommen werden und demonstriert gleichzeitig die Schwierigkeiten der Herangehensweise, wenn nicht auf bestimmte Paradigmen zurückgegriffen werden soll.117 Neuromancers Erben: Biochips und Mona Lisa Overdrive Als narrative Form stellt Neuromancer den Diskurs selbst dar zwischen Virtualität und Realität, denn genau diese Spannung zwischen Einheit und gleichzeitiger Zusammenhangslosigkeit zeigt William Gibsons damaliger Blick auf den Cyberspace.118 Doch dahinter verbirgt sich mehr als nur eine intertextuelle Zusammenstellung von Klischees der Massenmedien. Der Cyberspace bildet neue Formen sozialer Interaktion und fordert die konventionelle Wahrnehmung der Identität heraus. Die reale Welt beeinflusst die virtuelle Identität, denn diese Verknüpfung zwischen beidem kann nicht aufgelöst werden – außer durch den Tod, der es in bestimmten Fällen ermöglicht, rein virtuell weiterzuleben.119 Streng genommen repräsentiert der Cyberspace als simulierte Welt also keinen Ort andersartiger Identitäten, sondern vielmehr der Textmanipulation; durch Hypertext wird der Text quasi grenzenlos gemacht. 120 Genau diesen Punkt griff Gibson mit den beiden Fortsetzungen von Neuromancer auf: Die Technologie ist im Alltag inzwischen viel stärker verankert und wird dadurch auf literarischer Ebene beiläufiger beschrieben und wahrgenommen. Mit dem Ende von Neuromancer war für Gibson die Geschichte des Cyberspace noch nicht auserzählt, sondern stellte nur den Auftakt der Sprawl-Trilogie dar. Der zweite Band erschien 1986 unter dem Titel Biochips. Die Ereignisse bauen auf Neuromancer auf, die Handlung setzt etwa sieben Jahre später ein. 1988 folgte Mona Lisa Overdrive, dessen Handlung wiederum sieben Jahre nach Biochips beginnt. Beide Romane stehen nur in losem Zusammenhang zum ersten Teil, das Figureninventar ist bis auf wenige Ausnahmen ausgetauscht worden, einzig der Cyberspace taucht als wiederkehrendes und verbindendes Element auf. Was Gibson in Neuromancer zusammengefügt hat, fragmentarisiert er in den Fortsetzungen wieder. Das zeigt sich neben der Darstellung des Cyberspace auch am narratologischen Konzept: Während es in Neuromancer darum geht, aus den fragmentarisierten künstlichen Intel-

117 Vgl. ebd., S. 642. 118 Vgl. Punday: The Narrative Construction of Cyberspace, S. 211. 119 Vgl. ebd., S. 207. 120 Vgl. ebd., S. 208.

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ligenzen eine Superintelligenz zu schaffen, die zum Bewusstsein des Cyberspace wird, zerfällt diese in den Nachfolgebänden scheinbar wieder in Einzelteile. Das Verschwinden von Wintermute/Neuromancer erzeugt eine Leerstelle, nachdem die Superintelligenz „in der Matrix insgesamt aufgegangen“ und dadurch quasi „nicht mehr im Cyberspace, sondern der Cyberspace selbst“ ist, der nun jegliche Deutungshoheit für sich selbst beansprucht.121 Das dahinterstehende Ereignis wird von den Protagonisten als die Wende bezeichnet, die die virtuelle Realität des Cyberspace vollkommen verändert hat. Kernpunkt ist hier das Erlangen eines Empfindungsvermögens, mit dem sich die Matrix im selben Moment auch „einer anderen Matrix, einer anderen empfindungsfähigen Entität bewußt [sic!]“ wird, wodurch sie sich in Hoodoos – magische Rituale ohne religiösen Hintergrund – aufspaltet.122 Diese Hoodoos werden als Voodoozauber wahrgenommen, die die von Wintermute/Neuromancer erzeugte Leerstelle mit den Loa, einer Art virtueller Voodoogeister, neu ausfüllen. Laut dem von Gibson etablierten Mythos wird „die Cyberspace-Matrix […] von Wesen bevölkert […], deren Charakteristika mit dem alten Mythos vom ‚unsichtbaren Volk‘ übereinstimmen“ und der Matrix auch im weiteren Verlauf gottähnliche Züge zusprechen.123 Die Loa erscheinen hierbei als virtuelle Entitäten innerhalb des Cyberspace, die über implantierte Biochips Kontakt mit der Protagonistin Angie, deren Vater an diesen Biochips geforscht hat, aufnehmen. Durch die Biochips benötigt Angie anders als Case in Neuromancer hierfür nicht einmal mehr eine Verbindung in den Cyberspace über ein Deck. Gibson entwirft in Biochips wider Erwarten keine Matrix, die ohne jegliche metaphysisch gefärbte Bedeutung auskommt: „If transcendence is available at all, it should be accessible without recourse to the matrix.“124 Die Matrix ist unvorhersagbar geworden, das System selbst zersplittert, indem sich andere Entitäten in ihr manifestiert haben: »[I]n the post-[Neuromancer] world, however, that very alienation and fragmentation is the insurance that the characters will continue to search beyond the illusion of wholeness—a

121 William Gibson: Mona Lisa Overdrive. In: William Gibson: Die Neuromancer-Trilogie. München: Heyne 2002. S. 663-1005, hier S. 850. 122 Ebd., S. 1000. 123 Ebd., S. 811. 124 Istvan Csicsery-Ronay, Jr.: Antimancer. Cybernetics and Art in Gibson’s Count Zero. In: Science Fiction Studies. Ausgabe 22, Nummer 1. Juli 1995. S. 63-86, hier S. 66.

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wholeness that was, in any case, not for them in [Neuromancer], but for the AIs. And by the time of [Biochips], it is no longer even for the AIs.«125

Der Cyberspace selbst bleibt dabei ein zutiefst menschliches Konstrukt, das ohne das Zutun des Menschen in dieser Ausgestaltung nicht existieren würde. Gleichzeitig scheinen die Loa weitaus weniger autark agieren zu können als zuvor Wintermute/Neuromancer. Während sich in Biochips die Matrix primär über die Loa offenbart, nimmt sie im Verlauf der Handlung von Mona Lisa Overdrive die Form eines riesigen Datenkonstrukts an, hinter dem eine virtualisierte Version der Tochter von Marie-France Tessier-Ashpool steht.126 Diese sogenannte Makroform, die ebenfalls aus Biochips besteht, ist eine Art Spielzeugwelt innerhalb der Matrix, die im weiteren Verlauf jedoch nicht mehr näher beschrieben wird. In Neuromancer zeigt Gibson eine Welt, in der jeder ein Künstler oder zumindest eine Art Kunstwerk ist, was zur metaphysischen Fortentwicklung künstlerischer Erschaffung wird: Die verschmolzene künstliche Superintelligenz, die zum Bewusstsein des Cyberspace wird, macht den Roman, so der Literaturwissenschaftler Istvan Csicsery-Ronay Jr., zu sentimentalem Futurismus.127 In Biochips kommt es zur generellen Fragmentierung und zu privaten Erscheinungen. Neuromancer beschreibt ekstatische Verbindungen in dem zeitlosen, dimensionslosen Gebiet des Cyberspace, wohingegen in Biochips Zeit und Distanzen im Vordergrund stehen. Beide Aspekte von Neuromancer betonen die futuristische Interpenetration und Synthese. Im Gegensatz dazu betrachtet Biochips die surrealistische Trennung und Nebeneinanderstellung desselben.128 Erfahrungswerte und das Wahrnehmen der Realität werden wie die Erzählung aufgesplittert. Gibson versucht hier, einen Ort wiederherzustellen, der ethische wie künstlichere Freiheiten erlaubt, indem er die eingegangene Verbindung von Wintermute und Neuromancer wieder zerrüttet.129 Mona Lisa Overdrive führt dies weiter fort, denn speziell hier lässt sich ein veränderter Zugang zum Cyberspace und zum Umgang mit Simulationen und Hologrammen bemerken. Die chaotische Synthese der beiden Vorgängerromane erlaubt eine Koexistenz und Koevolution als eine Art mythologische Allegorie, die im Aleph und in der naiven künstlichen Intelligenz Continuity vollzogen wird. 130

125 Ebd., S. 69. 126 Gibson: Mona Lisa Overdrive, S. 935 und 958. 127 Vgl. Csicsery-Ronay, Jr.: Antimancer, S. 63. 128 Vgl. ebd., S. 64. 129 Vgl. Csicsery-Ronay, Jr.: The Sentimental Futurist, S. 222. 130 Vgl. ebd., S. 222.

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Das Aleph wiederum besteht aus einem „einzigen kompakten Biochip“, der eine „annähernde Entsprechung der Matrix [ist,] quasi ein Modell des Cyberspace“, das das „Konzentrat [i. O.] der Gesamtsumme aller Daten [darstellt], die den Cyberspace ausmachen.“131 Innerhalb dieses Konstrukts hält sich der Datenkörper des Hackers Count auf, während sein Flesichkörper außerhalb durch Maschinen künstlich am Leben erhalten wird. Als er in der Wirklichkeit stirbt, folgt ihm schließlich Angie in die virtuelle Realität von Aleph, wo beide unendlich existieren können, so lange die Konstruktion mit Strom versorgt wird. Eine Rückkehr in die reale Welt ist als körperloser Geist jedoch nicht mehr möglich. Alles innerhalb des Aleph ist zur Hyperrealität geworden, weil nichts mehr auf die Realität verweist. Die Simulation verselbstständigt sich vollständig. Laut Gibson handeln seine Romane nicht automatisch von Computern, vielmehr wird Technologie und deren Entwicklung in einem breiteren Spektrum als eine Art industrial culture verhandelt: „[A]bout what we do with machines, what machines do with us, and how whole unconscious (and usually unlegislated) this process has been, is, and will be.“132 Neuromancer und seine Fortsetzungen stellen philosophische Fragen über die Natur virtueller Realitäten im Cyberspace und damit verbunden auch über die Subjektivität und wie der Mensch in dieser hochtechnologisierten Welt noch agieren und reagieren kann. Was bleibt übrig, wenn sich die Grenze zwischen Mensch und Technologie immer weiter auflöst, und welche Rolle spielt die Wirklichkeit in dieser Form der Simulation noch? 133 Gibson stellt die Frage danach, wie Realität und Wirklichkeit in einer Welt wie der beschriebenen wahrgenommen werden. Er kreiert eine vom Virtuellen durchdrungene Welt, die sich primär durch ihre Ambivalenz auszeichnet: Die Darstellung des Cyberspace und die damit verknüpften virtuellen Realitäten nehmen in dieser Trilogie viel Raum ein, einen Lösungsansatz bieten sie jedoch nicht. Stattdessen nähern sie sich phänomenologisch der Vorstellung virtueller Welten der 1980er Jahre an und greifen hierbei auf bereits etablierte Bilder zurück, die mit neuen Ideen verknüpft werden und Cyberterrorismus mit der Anfälligkeit der Matrix durch Computerviren verbinden.

131 Gibson: Mona Lisa Overdrive, S. 835, 898 und 999. 132 Vgl. Kellner: Media Culture, S. 307. 133 Vgl. ebd., S. 315.

Neal Stephenson: Snow Crash (1992) Das Metaversum ist überall Und selbst das Wort ‚Bibliothek‘ wurde immer verschwommener. Das war ein Haus voller Bücher, überwiegend alter Bücher. [...] Dann wurden sämtliche Informationen übertragen, was heißen soll, Einser und Nullen. Neal Stephenson1

Mit dem Metaversum erschuf Neal Stephenson 1992 in seinem Roman Snow Crash eine weitaus differenziertere virtuelle Realität als William Gibson dies in Neuromancer tat. Der gesamte Alltag ist von Virtualität durchdrungen und bündelt sich im Metaversum, der Simulation einer virtuellen Welt, die die reale Welt nur noch zur Metapher ihrer selbst macht: Das Medium wird zu seiner eigenen Fiktion. Die virtuelle Umgebung des Metaversums wie auch die Darstellung des Avatars hat sich der Autor nach eigener Aussage aus bestehenden Begriffen angeeignet und umgedeutet. Stephenson bezeichnet in seiner Danksagung am Ende des Romans „[d]ie Worte ‚Avatar‘ (in dem Sinne, wie es hier gebraucht wird) und ‚Metaversum‘ als [s]eine Erfindungen, die [er sich] ausgedacht ha[t]“, da „existierende Worte (zum Beispiel ‚virtuelle Realität‘) einfach zu unhandlich sind“ und „[d]ie Vorstellung einer ‚virtuellen Realität‘ wie das Metaversum […] inzwischen in der Computergraphikgemeinde [sic!] weit verbreitet [ist]“ und vielfältige Anwendung erfährt.2 Dieses hier zitierte Nachwort stammt aus dem Jahr 1994; seitdem hat der Begriff des Avatars eine weitaus größere Verbreitung gefunden als der des Metaversums, auch wenn letzteres als Ideengeber für reale Projekte mit

1

Neal Stephenson: Snow Crash. München: Blanvalet 1994. S. 31.

2

Neal Stephenson: Dank. In: Neal Stephenson: Snow Crash. München: Blanvalet 1994. S. 532-534, hier S. 533.

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virtuellen Testumgebungen nicht mehr wegzudenken ist.3 Im Roman selbst hat das Metaversum den Umgang der Menschen miteinander bereits nachhaltig verändert. Es dient der Kommunikation, ermöglicht virtuelle Reisen und tritt als Parallelversion des Realen in Erscheinung. Stephenson überzeichnet kulturelle Paradigmen, die er mit der Darstellung der virtuellen Welt des Metaversums satirisch überspitzt. Obwohl nicht sämtliche Werke von ihm unmittelbar dem Genre des Cyberpunks zuzurechnen sind, zeichnen sie sich dennoch immer wieder durch eine Technikfaszination aus, die vor wissenschaftlichem Hintergrund erörtert wird: Logikrätsel, Kryptografie und die Entschlüsselung von Informationen sind bei Stephenson gekoppelt mit vielschichtigen Bezügen aus Geschichte, Anthropologie, (Computer-)Linguistik, Politik, Philosophie und selbstverständlich auch aus dem Bereich der Informatik.4 Snow Crash etwa handelt von einem gleichnamigen Computervirus, das die Grenzen der digitalen Welt überschreitet, indem es jeden Nutzer – bevorzugt Hacker – des Metaversums infiziert und das Gehirn in Mitleidenschaft zieht. Die Hauptfigur Hiro Protagonist, letzter freiberuflicher Hacker, erkennt die Gefahr, die von diesem Programm ausgeht, als sein Freund Da5id Meier, ebenfalls Hacker, angesteckt wird. Mithilfe der fünfzehnjährigen Kurierfahrerin Yours Truly, die im weiteren Verlauf nur noch als Y.T. bezeichnet wird, versucht Hiro die Pandemie, die das Virus zu verursachen droht, zu verhindern. Nach einigen Recherchen entpuppt sich eben jenes Virus als Verschwörung einer christlich-fundamentalistischen Sekte um den Medienmogul L. Bob Rife.5 Die Geschichte von Snow Crash wird hierbei mit sumerischer Mythologie um die Gottheit Enki erweitert, die Hiro durch ihre Überlieferung einen entscheidenden Hinweis gibt, welche Funktionen das Virus beinhaltet und wie gegen diese neurolinguistische Infektion vorgegangen werden kann. Neben Y.T. steht Hiro außerdem ein virtueller Bibliothekar zur

3

Vgl. hierzu verschiedene Aspekte von Second Life ab S. 307 dieser Arbeit.

4

Vgl. Jiré Emine Gözen: Cyberpunk Science Fiction. Literarische Fiktionen und Me-

5

L. Bob Rife erinnert in seinem Habitus an eine Mischung aus dem Scientology-Gründer

dientheorie. Bielefeld: transcript 2012. S. 201. L. Ron Hubbard und dem Medienmogul der 1980er Jahre, Rupert Murdoch. Während Hubbard als Religionsstifter und Science-Fiction-Autor auftrat, dessen Lehren durch Scientology immer noch verbreitet werden, ist Murdoch Begründer und Vorsitzender einer News Corporation, der aufgrund seines Monopols durchaus die Möglichkeiten besäße, Meinungen zu beeinflussen. Zudem wurde ihm im Zusammenhang mit dem Irakkrieg unsachlicher Journalismus vorgeworfen. Ähnliche Kritik taucht immer wieder auf. Vgl. unter anderem Gerti Schön: Fox News sendet Murdoch-Propaganda. Deutschlandfunk Online, 12. Januar 2008. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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Seite, der ihm die notwendigen Informationen zur Verfügung stellt. Programmiert wurde dieser von einer Freundin Hiros, die sich mit der gedoppelten Struktur von Snow Crash und neurolinguistischem Hacking schon länger auseinandersetzt und ihm durch das Bibliothekarprogramm Hinweise zur Entschlüsselung des Virus zukommen lässt. Die hier skizzierte Zukunft spielt in einem Amerika, dessen Nationalstaaten in unzählige Franchises und Burbklaven6 zersplittert sind, die eigenen Gesetzmäßigkeiten – häufig in Form von sogenannten Ringbüchern, die wie Bedienungsanleitungen aufgebaut sind – folgen. Ein Präsidialsystem scheint es nicht mehr zu geben, stattdessen haben die Franchises, in denen häufig mafiöse Strukturen vorherrschen, die Macht übernommen. Selbst die Polizei ist als eine Art Sicherheitsdienst privatisiert worden und entsprechend rau ist das zwischenmenschliche Klima. Diese gesellschaftlichen Umbrüche gehen einher mit einer technologischen Entwicklung, darunter das bereits erwähnte globale Datennetz des Metaversums. Zutritt verschafft sich der Anwender durch eine Datenbrille, Hacker wie Hiro können die dem Netzwerk zugrunde liegende Softwarearchitektur beliebig umprogrammieren. Ein kohärentes Universum baut Stephenson hier nicht auf, stattdessen demonstriert er die Prinzipien der Konstruktion jener dahinterliegenden Art der virtuellen Welt und zeigt ihre Begrenzungen auf. Diese postmoderne Geste führt zu einer Art von Rückkopplung, die sich am framing narrative beziehungsweise der primary fictional world zeigt.7 Folglich sind sowohl Metaversum als auch Realität „equally untrustworthy sites of reference, throwing into radical question the cyberpunk/science fiction reliance on realism.“8 Besonders in den ersten Kapiteln wird dies dadurch unterstrichen, dass diese aus der Sicht der Protagonisten multiperspektivisch erzählt werden. Es ist über einen langen Zeitraum unklar, was gleichzeitig stattfindet und was nur kurze Episoden sind, die zwar Informationen über den Verlauf der Handlung liefern, aber innerhalb der Erzählung historisch nicht eingeordnet werden.

6

Burbklave ist ein Kofferwort aus den Begriffen suburb, englisch für Außenbezirk beziehungsweise Vorstadt, und Enklave. Die Burbklaven bilden eigene Stadtstaaten mit einer eigenen Gesetzgebung, die rigoros durchgesetzt wird. Während das Metaversum als beinahe rechtsfreie Zone fungiert, werden die individuellen Gesetze der einzelnen Burbklaven von den jeweiligen Sicherheitsdiensten streng überwacht. Vgl. Stephenson: Snow Crash, S. 61.

7

Vgl. Sabine Heuser: Virtual Geographies: Cyberpunk at the Intersection of the Postmodern and Science Fiction. Amsterdam: Rodopi 2003. S. 185.

8

Ebd., S. 185.

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Im sprachlichen Duktus zeigt sich bei Stephenson noch viel mehr als bei Gibson, wie sich Virtuelles und Reales vermischt und sich dadurch die bei Gibson noch viel stärker hervorgehobene Dichotomie in der Wahrnehmung der Wirklichkeit zunehmend auflöst. Dies liegt unter anderem daran, dass die Geschichte vor allem in den ersten Kapiteln augenscheinlich nicht linear erzählt wird. Es wird nicht eindeutig formuliert, ob Handlungen parallel stattfinden und die Hauptfigur Hiro innerhalb des Metaversums wie auch in der Realität agiert oder ob bestimmte Passagen nacheinander ablaufen. Stephenson stellt diese nicht im Zusammenspiel dar, um bewusst ein Gefühl der Irrealität zu erzeugen: Befindet sich die Figur im Metaversum, bewegt sie sich momentan in der Wirklichkeit oder agiert sie in beiden Umgebungen gleichzeitig? Auch zwischen Schauplätzen wird gesprungen, sodass es zunehmend schwieriger zu bestimmen wird, wo sich Hiro tatsächlich aufhält. Im weiteren Verlauf löst sich diese Diskrepanz in der sprachlichen Beschreibung aber immer mehr auf und der Rezipient lernt zu unterscheiden. Die Struktur des Metaversums Während die Wirklichkeit der Realität undurchschaubar fragmentarisch erscheint, was sich auch im Schreibstil Stephensons manifestiert, präsentiert sich das Metaversum als oberflächlich einheitliche Struktur. Vieles aus der dargestellten Realität wird auch innerhalb der virtuellen Welt aufgegriffen, darunter unzählige Werbeflächen, die das Straßenbild innerhalb und außerhalb des Metaversums prägen. Die Bewegungsmöglichkeiten der Nutzer sind reglementiert, ein Eintritt in das System an beliebiger Stelle ist nicht gewünscht, stattdessen muss der Nutzer sich über festgeschriebene Ports einloggen. Wer über ein eigenes Haus im Metaversum verfügt und damit über einen höheren Status, kann sich auch in den eigenen Räumen materialisieren. Um das Metaversum betreten zu können, ist eine Datenbrille vonnöten, die bei Benutzung „einen schwachen, rauchigen Dunst über [die] Augen [legt] und […] eine verzerrte Weitwinkelansicht auf einen strahlend hell erleuchteten Boulevard [spiegelt, der] sich in eine unendliche Schwärze erstreckt.“ 9 Wie genau und mit welchen Funktionalitäten der Avatar jedoch gesteuert wird, wird von Stephenson nicht näher beschrieben. Das Metaversum als virtuelles Duplikat einer simulierten Stadt wird dabei als Boulevard dargestellt, eine unendlich lange Straße, die „nicht in der Wirklichkeit [existiert und das] computergenerierte Bild eines imaginären Ortes“ ist.10 Das Straßenmotiv, das bereits in Neuromancer anklingt, wird von

9

Stephenson: Snow Crash, S. 29.

10 Ebd., S. 29.

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Stephenson in der Simulation des Metaversums weiter ausgebaut, wenngleich auch nicht mehr in der anfänglich propagierten Gitterstruktur. Himmel und Boden sind schwarz, „im Metaversum ist es immer Nacht“; abseits des Zentrums, das der durch eine Einschienenspur verbundene Boulevard darstellt, herrscht die Dunkelheit der „schwarzen Wüsten der elektronischen Nacht.“11 Das verleiht dieser Welt einen stark surrealen Charakter und macht es im selben Moment fast unmöglich, das Gefühl für die wirkliche Welt zu verlieren, obwohl das Metaversum durch diese Beschreibung gleichzeitig einen hyperrealen Repräsentationscharakter aufweist.12 Im Gegensatz dazu wird das Zentrum des Metaversums extrem grell dargestellt und wirkt wie „ein von den Grenzen und Finanzen befreites Las Vegas.“13 Die Nähe zu einem Freizeitpark ist unverkennbar und dennoch wird es für die Nutzer zu einer erweiterten Form des gewöhnlichen Alltags. Innerhalb dieses Systems gibt es tatsächlich eigene Freizeitparks, die jedoch damit abgetan werden, dass sie letztlich nichts anderes seien als Videospiele.14 Die Simulation simuliert sich selbst und zeigt an dieser Stelle ebenfalls Elemente der Satire auf die Mimesis auf, wodurch die Mimesis des Metaversums gleichermaßen viral wird. Aber wird in einer solchen Umgebung tatsächlich noch ein weiterer Freizeitpark benötigt, um auf die eigene Metaebene und die eigene Simuliertheit hinzuweisen? Während diese Parks in der Realität die Wirklichkeit im Kleinen nachspielen, sind innerhalb virtueller Welten, die bereits selbst eine Alternative zur Realität darstellen, keine weiteren Vergnügungsparks mehr notwendig, da bereits die gesamte Welt simuliert ist.

11 Ebd., S. 37. Vgl. ebenso Gibson: Neuromancer, S. 16. Beide Romane referenzieren auf schwarze Wüsten in dem Zusammenhang, dass es sich entweder um unerschlossenes Gebiet innerhalb des Metaversums handelt oder aber wie bei Neuromancer um ein Gebiet in der Bucht von Tokio, das aufgrund seiner Abgeschiedenheit nicht zur von Virtualität und Simulation durchdrungenen Stadt von Tokio zu passen scheint. In beiden Fällen sind es jedoch Gebiete in Bezirken, die ohne Simulation und Virtualität in dieser Form nicht existieren könnten und denen dadurch etwas ebenso Künstliches anhaftet wie der Simulation selbst. 12 Stephan Schwingeler beschreibt den hyperrealistischen Repräsentationscharakter bei Computerspielbildern im Zusammenhang mit der Darstellung von Computerspielen. Vgl. Stephan Schwingeler: Kunstwerk Computerspiel. Digitale Spiele als künstlerisches Material. Eine bildwissenschaftliche und medientheoretische Analyse. Bielefeld: transcript 2014. S. 179. 13 Stephenson: Snow Crash, S. 35. 14 Vgl. ebd., S. 50.

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Wie sehr hier Realität und virtuelle Welt miteinander wechselwirken, wird klar, als schließlich mit dem Alaska Highway eine reale Straße außerhalb des Metaversums angesprochen wird. Es kommt speziell bei diesen Straßendarstellungen zu einer sprachlichen Verschmelzung der Orte, die mit denselben Worten und Attributen beschrieben werden, wodurch der Alaska Highway streckenweise mit dem Boulevard des Metaversums auf dieser Ebene gleichgesetzt wird.15 Verstärkt wird diese Verschränkung oder vielmehr die inhaltliche Überschreibung durch die Aussage, dass an dieser virtuellen Straße „[w]ie an jedem Ort in der Realität [...] gebaut“ werde.16 Beide Orte sind künstlich angelegt, die reale Straße ebenso wie der virtuelle Boulevard.17 Dennoch gelten im Metaversum andere Regeln: Das dreidimensionale Raum-Zeit-Gefüge kann – soweit es denn die systemimmanenten Regeln zulassen – ignoriert werden, es gibt gesetzlose Freikampfzonen und andere Dinge, „die in der Wirklichkeit nicht existieren.“ 18 Gebäuden und Gegenständen sind in ihrem Aussehen und ihrer Programmierung nahezu keine Grenzen gesetzt, die beschriebene virtuelle Welt besteht aus „einer Myriade verschiedener Softwareteile, die von großen Firmen entwickelt wurden.“ 19 Durch das Metaversum ist theoretisch die gesamte Welt verbunden und erinnert damit teilweise auch an die heutige Nutzung des Internets. Grundsätzlich wird das Metaversum und mit ihm der auf mathematischen Gleichungen basierende Boulevard als tendenziell harmloser Ort wahrgenommen, der primär zur Freizeitgestaltung verwendet wird und in dessen virtueller Umgebung keine Gefahr für Leib und Leben droht. Mit Aufkommen des Virus Snow Crash verändert sich das grundlegend: Die Simulation verliert in diesem Moment ihre Unschuld, der reale Tod ist zu einem Teil des Systems geworden. Mit dem Metaversum werden keine unmittelbar ontologischen Fragen zur Wirklichkeit gestellt, es ergänzt jedoch die tatsächliche Welt um Aspekte des Virtuellen: Beides wird als verschiedene Spielarten der Realität betrachtet, weswegen das Metaversum nicht weniger wirklich ist als Hiros Schwerter, die er sowohl dort als auch in seinem realen Alltag immer bei sich trägt. 20 In Snow Crash wird eine

15 Vgl. ebd., S. 335. 16 Ebd., S. 34. 17 Natur spielt in diesem Konzept nur dann eine Rolle, wenn sich die mit Snow Crash infizierten Menschen zu pseudoreligiösen Gruppen zusammenschließen, denn diese ziehen sich häufig aus den Stadtgebieten zurück und treffen sich in Lagern außerhalb. Vgl. ebd., S. 297ff. 18 Ebd., S. 34. 19 Ebd., S. 34. 20 Vgl. ebd., S. 103.

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Szenerie dargestellt, in der reales und virtuelles Leben zwar noch immer als Dichotomie wahrgenommen wird, aber nebeneinander – zumindest für bestimmte Eliten – gleichwertig existiert. Es ist folglich als Phänomen einfach da, die reale Welt als Simulation ersetzt es nicht, sondern erweitert diese. Menschen wie Hiro erleben dort einen Teil ihres Alltags, der in seiner Verbindlichkeit der Welt außerhalb in nichts nachsteht. So nennt er auf seiner Visitenkarte, die er zu Beginn der Kurierfahrerin Y.T. überreicht, neben den üblichen Kontaktdaten, auch „[s]eine Adresse in einem halben Dutzend elektronischer Kommunikationsnetze [u]nd eine Adresse im Metaversum.“21 Diese sind für ihn ebenso real wie die anderen Kontaktmöglichkeiten und der Text deutet an, wie integriert diese simulierte Parallelwelt im Alltag ist: Man kann sich ebenso gut im Metaversum wie in der nächsten Bar treffen. Unkritisch wird dieser Umstand dennoch nicht betrachtet. Es wird darauf hingewiesen, dass diese Art der Kommunikation und des Kontakts Beziehungen verfälschen kann, da die körperliche Gegenwart fehlt, denn „[w]ie gut es auch immer sein mag, [es] verzerrt den Umgang der Menschen miteinander, und so eine Verzerrung [wollen viele] in ihren Beziehungen nicht.“22 Dieser Kommunikationsform wird unterstellt, dass der Nutzer sich – absichtlich oder nicht – anders mitteilt und darstellt, als er dies in der Realität tun würde. Die Person hinter dem Avatar kann je nach ihrem Auftreten selbst zum Simulakrum ihrer selbst werden.23 Wie bewusst sich die Menschen innerhalb des Metaversums über die Wirklichkeit sind oder ob sie nach einem Aufenthalt im Metaversum möglicherweise an einem komplett anderen Ort wieder zu sich kommen, weil sie sich in der Realität bewegt haben, wird von Stephenson nicht eindeutig herausgearbeitet. Wenn Hiro seine Datenbrille abnimmt und feststellt, „dass er auf dem Parkplatz des UStor-It [in dem sich Hiros Wohnung befindet] steht und eine nackte Katana in der Hand hält“, scheint der geografische Ortswechsel zumindest für Hacker möglich zu sein.24 Dies weist wiederum auf eine stets vorhandene, aber hier selten so direkt thematisierte Dualität zwischen Virtualität und Realität hin. Hiro wird diese Zweiheit erneut bewusst, als er in einen Kampf verwickelt wird und nebenbei über seine

21 Ebd., S. 26. 22 Ebd., S. 80. 23 Goffman stellt die These auf, dass sich Personen je nach Umfeld verschiedenartig verhalten. Es bleibt die Frage, wie viel Selbst jemand in welchem Zusammenhang darstellt beziehungsweise wann jemand seinem eigentlichen Selbst am nächsten kommt und wann nur etwas vorgespielt wird, meist auch der betreffenden Person unbewusst. Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. München: Piper 2008. 24 Stephenson: Snow Crash, S. 124.

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Datenbrille Statistiken über seinen berechneten Tod liest und „ihn selbst [fast] erlebt“, was er als „[a]usgesprochen postmodern“ empfindet: „Es wird Zeit, sich mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, wie alle anderen Leute um ihn herum auch.“25 Geht es also um totale Körperlichkeit, so ist das Metaversum der falsche Ort dafür. Anders als Hiro steht die deutlich jüngere Y.T. dem Metaversum kritisch gegenüber und verfügt über keinen eigenen individuellen Avatar, sondern greift bei Bedarf auf die Schwarzweißavatare zurück, die über öffentliche Terminals bei der Einwahl in die virtuelle Welt automatisch erstellt werden. Unklar ist, ob dieses Vorgehen bei ihr nicht auch an pekuniären Grenzen liegen könnte, denn sie „würde gern in die Stadt gehen, aber dies ist ein teurer Abschnitt der Straße, und sie müßte [sic!] etwa alle Zehntelmillisekunde eine Münze nachwerfen.“26 So gering der Abstand zwischen realer und virtueller Welt geworden zu sein scheint, so deutlich wird ihre Zwiespältigkeit in diesen Momenten. Auch wenn beides nahezu gleichwertig in der Wahrnehmung des eigenen Erlebens empfunden wird, trennt doch genau dieses subjektive Empfinden die beiden Ebenen. Eine Ausnahme scheinen Programmierer wie Hiro zu bilden, die eine gänzlich andere Verbindung zum Metaversum haben, und es durch die Fähigkeit, Codes zu lesen und zu schreiben, nahezu beliebig anpassen und umformen können, was dem regulären Nutzer in dieser Form nicht möglich ist. Hiro verfügt im wahren Leben nur über ein winziges Apartment, das mehr Lagerraum als Wohnraum ist. Im Metaversum hingegen besitzt er ein virtuelles Büro und hat gemeinsam mit anderen Hackern, darunter Da5id, einen eigenen Nachtclub programmiert, der das dortige Zentrum des Nachtlebens darstellt. Sein virtueller Ruhm ist für sein wirkliches Leben allerdings eher unbedeutend und bringt ihm dort kaum Vorteile, was die Dualität der Wahrnehmung und nur partielle Eingliederung der Welten in den normalen Alltag deutlich hervorhebt. Y.T. fordert Hiro häufiger auf, er solle es mal mit der Realität versuchen, er verbringe „zu viel Zeit unter der Brille.“27 Sie betrachtet das Metaversum als einen inexistenten Ort, der ihrer Ansicht nach nur virtuelle Spielerei ist und jeglicher Wirklichkeit sowie deren Implikationen entbehrt. In ihren Augen stellt sie nur einen Ersatz für selbige dar, wohingegen für Hiro beides einen ähnlichen Realitätsanspruch besitzt.28 Auf kognitiver Ebene kann ein Nutzer jedoch nicht in beiden Ebenen gleichzeitig verweilen, denn solange Hiro im Metaversum nicht aktiv,

25 Ebd., S. 349. 26 Ebd., S. 255. 27 Ebd., S. 142. 28 Vgl. ebd., S. 254.

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aber auch nicht abgemeldet ist, „wird sein Avatar irgendwie schlaff.“29 Dies wird deutlich, als Y.T.s Schwarzweißavatar Hiros passiven Avatar in dessen virtuelles Büro bringen muss, während Hiro sich zeitgleich in der Realität mit anderen Problemen auseinanderzusetzen hat. Sein Avatar muss sich, um auf die sich dort befindlichen Daten zugreifen zu können, aber im Büro und damit am selben virtuellen Ort wie die Daten befinden. Der Datenzugriff innerhalb des Metaversums ist folglich nicht von jedem beliebigen virtuellen Ort möglich, sondern klar strukturiert. Dennoch überlagern sich die Bilder, werden, wenn sich Hiro parallel dazu in der wirklichen Welt bewegt, zu einem geisterhaften Phantombild auf der Datenbrille. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es eine separate virtuelle Realität für Tiere oder vielmehr halbautonome Wacheinheiten zu geben scheint, die aus tierischen Komponenten und technologischen Erweiterungen aufgebaut sind. Diese Art des Metaversums ist aber als vollständige Simulation ausgelegt, in der die Realität komplett ausgeblendet wird: »Die halbautonome Wacheinheit #A-367 von Ng Security Industries lebt in einem angenehmen schwarzweißen Metaversum, wo Porterhousesteaks auf Bäumen wachsen und in Kopfhöhe von niedrigen Zweigen baumeln, und blutgetränkte Frisbees grundlos durch die Luft fliegen, bis man sie fängt.«30

Hier hat das Metaversum eine andere Bedeutung: Es soll den Wacheinheiten eine angenehmere Umgebung und geistige Beschäftigung bieten, als sie in Wirklichkeit in ihren dunklen Hundehütten haben, in denen sie nahezu bewegungslos und ohne Ansprache ausharren. Diese Variante des Metaversums erschafft dort ein virtuelles Paradies, wo die Realität keines bieten kann. Dieses Tiermetaversum dient vielmehr der Beruhigung des ethisch-moralischen Widerspruchs, dass diesen Tieren – im Fall der halbautonomen Wacheinheit sind es Hunde – eine künstliche Welt vorgegaukelt wird, in der sie über alles verfügen, was sie aus menschlicher Sicht benötigen. Gleichzeitig entsteht der Eindruck, als ob diese virtuelle Welt auch deswegen vorgespielt wird, um diese Mischwesen bei ihren Einsätzen besser kontrollieren zu können. Dies führt zu einer starken Diskrepanz zwischen dem, was ihnen vorgegaukelt wird, und dem, wofür sie erschaffen worden sind, denn der Arbeitseinsatz als Wacheinheit ist potenziell tödlich.

29 Ebd., S. 478. Man könnte diese These auch umdenken: Schlafwandelt man in der Realität, während man sich aktiv im Metaversum aufhält? 30 Ebd., S. 108.

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Die Wacheinheiten sind keine künstlichen Intelligenzen, auch wenn dies im ersten Moment den Anschein hat. Stattdessen sind sie aufgrund ihres Daseins als Cyberwesen tierischen Ursprungs instinktgetrieben. Diese kybernetisch erweiterten Lebensformen sind sich durch ihre animalische Existenz und ihrer daraus folgenden begrenzten Selbstreflexion dessen vermutlich nicht einmal bewusst. Sie funktionieren anders als die ROM-Konstruktionen in Neuromancer, dennoch ist der Grundgedanke vergleichbar: Die Wacheinheiten leben in ihrer virtuellen Welt ihr virtuelles Leben, eine Verknüpfung mit dem eigentlichen Metaversum scheint es jedoch nicht zu geben. Das Tier als Konzept dient als Entwurf des Transhumanismus, als transgressive Dynamik, in der der Tierkörper die „Spannung zwischen kulturelle[r] Konstruktion und performativer Präsenz“ ist und dadurch zur Projektionsfläche menschlicher Vorstellung und damit automatisch zum Simulakrum wird.31 Doch genau diese Vorstellung beinhaltet einen Zwiespalt: Tiere werden technologisch aufgerüstet und aufgrund dessen, wie mit ihnen im Anschluss umgegangen wird, wird entlarvt, wie fragwürdig dieses Vorgehen ist. Der tierische Körper ist künstlich erweitert, aber ist die Wirklichkeit ebenso erweitert? Als Hybrid beider Welten – als künstliche Lebensform – benötigen die Wacheinheiten die künstliche Realität, um existieren zu können, der outer space wird in diesem Fall zum inner space dieser Kreaturen. Stephenson baut diese Figuren aus dem genetischen Material von Hunden auf, denn Hunde sind „für die moderne Zoologie […] ein wirkliches, natürliches Tier.“ 32 Doch ohne den menschlichen Eingriff des Domestizierens, der sie zu „kulturell gestalteten Lebewesen“, zu etwas Gemachten macht, würden sie nicht existieren. 33 Dabei wird „der Hund zu einem Grenzphänomen zwischen natürlicher Gegebenheit und menschlicher Erfindung“, was in seiner Aussage durch die Entwicklung der kybernetischen Wacheinheiten noch weiter zugespitzt wird.34 Wie also der Hund als kultureller Hybrid definiert wird, sind auch die Wacheinheiten hybride Lebensformen, die künstlich erschaffen worden sind und die Dualität zwischen Realität und Virtualität noch unterstreichen, denn ob ihnen eine Existenz in dieser Form ohne Tiermetaversum möglich wäre, ist unklar. Ob ihr Dasein mit dieser virtuellen Umgebung tatsächlich lebenswerter ausgestaltet ist, muss offen bleiben, denn das Tiermetaversum stellt selbstverständlich trotz allem eine sehr menschliche Perspektive möglicher tierischer Wahrnehmung dar und ist damit wie auch die Wach-

31 Roland Borgards: Tier. In: Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Hans Richard Brittnacher und Markus May. Stuttgart: Metzler 2013. S. 482-487, hier S. 483. 32 Ebd., S. 486. 33 Ebd., S. 486. 34 Ebd., S. 486.

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einheit als solche etwas künstlich Erzeugtes. Es ist folglich im Metaversum möglich, eine Variante zu programmieren, die theoretisch vollständige Immersion zulässt und – zumindest aus Sicht der Wacheinheit – kein Außen mehr erkennen lässt, denn Reize der wirklichen Welt werden als Signale innerhalb des Tiermetaversums verarbeitet. Die autonome Wacheinheit reagiert darauf, erkennt allerdings nicht, zu welchen Konsequenzen dies führt. Ein Bewusstsein für die Realität scheint sie nicht mehr zu besitzen, ihre Wahrnehmung ist auf das beschränkt, was das Metaversum aus den realen Umweltreizen herausfiltert und innerhalb der Programmierung grafisch darstellt. Der gesellschaftliche Aufbau des Metaversums

Beide Ebenen – Wirklichkeit und virtuelle Welt – werden nahezu gleichberechtigt genutzt, wobei das Metaversum eine Zweiklassengesellschaft innerhalb wie außerhalb dieser Welt etabliert. Stephenson wird in diesen Beschreibungen der von ihm vorgestellten Gesellschaftsstrukturen in Snow Crash im Gegensatz zu seinen technischen Ausführungen überraschend konkret: Von sechs bis zehn Milliarden Menschen haben etwa sechzig Millionen Menschen durch einen eigenen Computer mit ausreichend starker Technik Zugang zum Metaversum. Hinzu kommen etwa weitere sechzig Millionen Menschen, die über Arbeitsrechner oder öffentliche Maschinen diese virtuelle Welt betreten können.35 Die gesellschaftlichen Schichten haben sich durch diesen Kulturwandel verschoben, vermutlich auch aufgrund der Zersplitterung in kleinste Nationalstaaten – darunter sogar die Mafia mit eigener Cosa-Nostra-Pizza-Universität. Es existiert zwar ein „riesiges Arbeiterheer“, das aber „unbelesen oder analphabetisch ist und sich auf das Fernsehen verläßt [sic!] – was eine Art mündliche Tradition darstellt.“36 Bildungsferne Schichten gibt es bevorzugt außerhalb des Metaversums, die den Blick für Nachrichten und deren Wahrheitsgehalt beziehungsweise dem eigenständigen Hinterfragen der kontextlosen Quellen verloren haben und in einer einzigen Medienrealität leben: Literalität ist einer neuen Form der Oralität gewichen. Ihnen gegenüber steht eine „kleine, gebildete Machtelite – überwiegend die Leute, die ins Metaversum gehen –, die begreifen, daß [sic!] Information Macht bedeutet, und die Gesellschaft kontrollieren, weil sie diese semimythische Fähigkeit besitzen, magische Computersprachen zu sprechen.“37 Wissen und der Zugang zu selbigem bedeutet Macht, doch durch die vielen Daten, hauptsächlich in Form von Videos,

35 Vgl. Stephenson: Snow Crash, S. 36. 36 Ebd., S. 463. 37 Ebd., S. 463.

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tragen diese aufgrund ihrer schieren Masse zur gleichzeitigen Verschleierung des Wissens bei, was Snow Crash in Zeiten von Donald Trumps Präsidentschaft in den USA eine zeitlose Aktualität verleiht. Informationen werden nicht mehr in einen Kontext eingeordnet und verweisen auf keine konkrete Sache mehr, da die Zeichen, die sie darstellen, nicht mehr eindeutig sind und dies tatsächlich auch so gewünscht ist – die Zersplitterung der Gesellschaft wird aufgrund der nicht möglichen Zuordnung von Informationen und durch den Verlust der Fähigkeit, Informationen zu hinterfragen und Fake News zu erkennen, vom medialen Wandel unterstützt und vorangetrieben. Wissen ist einer Elite, den Programmierern, vorbehalten, deren Sprache wie mythische Zaubersprüche wirkt. Diese Klassengesellschaft spiegelt sich auch innerhalb des Metaversums wider. Während die Hacker quasi überall Zugang haben und speziell Hiro sämtliche geheime Verzweigungen des Metaversums kennt und umprogrammieren kann, können viele andere diese Welt zwar rudimentär nutzen, nicht aber aktiv gestalten. Hiro kann das Metaversum nicht nur umschreiben, sondern baut sich dort gleichzeitig eine minimal veränderte Persönlichkeit auf, die sich von der außerhalb jedoch kaum unterscheidet. Sein Avatar simuliert sein gewünschtes Ich, das er so im Alltag zwar ebenso verkörpert, aber weniger apodiktisch darstellen kann. Grundsätzlich ist Hiro eine der wenigen Figuren innerhalb wie außerhalb des Metaversums, die eine eigene Authentizität besitzen und sich in beiden Welten gleichermaßen zurechtfinden. Das Metaversum ist nicht nur Welt für ihn, sondern auch Entwicklungsumgebung und Medium für soziale Interaktion. Die damit verknüpften Standesunterschiede sind tatsächlich auch optisch an den Avataren wahrnehmbar: Wer es sich nicht leisten kann, tritt wie Y.T. als grobkörniger Avatar in Schwarzweiß auf, eingespeist von einem öffentlichen Terminal ohne große Auswahlmöglichkeiten des virtuellen Erscheinungsbildes. Die Avatare der besser betuchten Nutzer sind detaillierter ausgestaltet. Ein Avatar kann aussehen, „wie man es selber haben will, bis an die Grenzen der eigenen Ausrüstung“, wohingegen die Schwarzweißavatare die Menschen so zeigen, wie sie sind, das heißt, „wenn [jemand] ein Münzterminal benutzt [...] kann er sein[en] Avatar nicht aufmotzen.“38 Avatare sind hierbei bewegliche Grafiken und damit Softwareteile, die audiovisuell agieren und dazu genutzt werden, um im Metaversum zu kommunizieren. 39 Doch erst, als die Avatare so programmiert worden sind, dass sie über detailliert ausgearbeitete Gesichter und damit Mimik verfügen, die die Gefühlsregungen der Nutzer transportieren, sind sie als Konzept innerhalb des

38 Ebd., S. 47 und S. 53. 39 Vgl. ebd., S. 47.

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Metaversums erfolgreich geworden.40 Die Darstellung von Emotionen und daran gekoppelt auch das Aussehen des Avatars nehmen damit eine zentrale Rolle innerhalb der Wahrnehmung im Virtuellen ein. Während Case in Neuromancer völlig in den Cyberspace eintaucht und mental den Kontakt zur Außenwelt komplett verliert, ist hier der Avatar als Persona – und gleichzeitig auch als Metapher – ein Mittler zwischen realem und virtuellem Körper. 41 Als Metapher wird von Stephenson auch das Metaversum beschrieben, und genau diese und damit einhergehend die Simulation gilt es zu erhalten. Diese Metaphern, die auch Gibson bereits in Neuromancer einsetzte, „stellen einen […] wichtigen Aspekt bei der Gestaltung von Mensch-Maschine-Schnittstellen dar“ und werden so eingesetzt, dass sie „dem Nutzer Aspekte des Computersystems durch Analogien mit Konzepten der Alltagswelt“ näherbringen. 42 Die VRMetapher ermöglicht es dem Nutzer, dass er die simulierte Welt „‚von innen‘ erfährt, anstatt wie bei [heute] konventionellen PCs [diese] von ‚außen‘ durch ein Fenster zu betrachten.“43 Während „der Interaktion […] nimmt der Nutzer sowohl die reale wie auch die [simulierte] Umgebung wahr.“44 Erst wenn die Welt vollständig immersiv ist, existiert auch die Wahrnehmung von innen, der Nutzer ist dann „von der realen Außenwelt […] vollständig abgeschnitten.“45 Die Metapher des Metaversums versucht, die Immersion möglichst umfassend zu gestalten. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich, an beliebiger Stelle im Metaversum zu materialisieren, denn dies wird als private und damit intime Funktion erachtet, „die man am besten in der Abgeschiedenheit des eigenen Hauses erledigt.“ 46 Trotz der Option, einen Avatar sogar schwer verletzen zu können, wird kein Blut sicht-

40 Vgl. ebd., S. 78. 41 Der Abstand zwischen virtueller und realer Welt ist deutlich größer als in Neuromancer gezeigt, wobei in Snow Crash der Übergang zwischen den Welten einfacher und nicht nur den Hackern vorbehalten ist. Vgl. Sabine Heuser: Virtual Geographies: Cyberpunk at the Intersection of the Postmodern and Science Fiction. Amsterdam: Rodopi 2003. S. 188. 42 Ralf Dörner, Bernhard Jung, Paul Grimm, Wolfgang Broll, Martin Göbel: Einleitung. In: Ralf Dörner, Wolfgang Broll, Paul Grimm, Bernhard Jung (Hg.): Virtual und Augmented Reality (VR/AR). Grundlagen und Methoden der Virtuellen und Augmentierten Realität. Heidelberg: Springer: 2013. S. 1-31, hier S. 16. 43 Ebd., S. 17. 44 Ebd., S. 17. 45 Ebd., S. 17. 46 Stephenson: Snow Crash, S. 48.

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bar, denn der „Avatar verhält sich nicht wie ein lebender Organismus.“ 47 Würden Wunden evident werden, wäre auch hier die Metapher zerstört und den Nutzern bewusst, „daß [sic!] sie in einer Phantasiewelt [sic!] leben“, woran „die Leute nicht gerne erinnert“ werden.48 Im Dialog Hiros mit einem japanischen Geschäftsmann glaubt letzterer nicht, dass Hiro seine Schwerter in beiden Welten trägt und nutzen kann, denn „[e]s gehört eine Menge Übung dazu, sein[en] Avatar wie einen richtigen Menschen durch das Metaversum zu bewegen.“ 49 Selbstverständlich verliert der Geschäftsmann den angedrohten Schwertkampf, sein Avatar stirbt und sein Computer wird anschließend vom globalen Netzwerk abgekoppelt und der Nutzer aus dem System hinausgeworfen. Diese Art der Simulation des Todes ist die bestmögliche, die das Metaversum zu bieten hat. Für den Anwender ist dieser Vorgang aber durchaus unangenehm, denn verbunden mit diesem virtuellen Tod ist eine kurzzeitige Sperre, in denen er das Metaversum nicht mehr betreten kann, da erst sein zurückgebliebener Avatar entsorgt werden muss.50 Auch Jean Baudrillard betrachtet den Tod als ein Zeichen, das sich nicht mehr tauschen lässt: Das Simulationsprinzip ersetzt das Realitätsprinzip, Ideologie wird durch Simulakra ersetzt.51 Der Tod selbst ist von höherer Ordnung als der Code und stellt eine Grenze des Systems dar, eine „symbolische Vernichtung, die dem System selbst auflauert.“52 Auf der einen Seite ist jedem Nutzer bewusst, dass es sich um eine virtuelle und damit simulierte Welt handelt, aber das Wissen darum wird im Alltag häufig verdrängt. Bei oben erwähnter Metapher, die im Metaversum nicht zerstört werden soll, stellt sich am Ende also die Frage, ob sie eine Metapher für das echte Leben ist oder doch vielmehr für die Simulation innerhalb des Metaversums steht. Trotz allem überschneiden sich Realität und Virtualität hier immer mehr, auch wenn es immer wieder zu Situationen kommt, in denen die Simulation explizit herausgestellt und als Gegenpol der Realität beschrieben wird. Eine entseelte Unterart der gewöhnlichen Avatare sind die Daemonen. Diese Wesen sind die dienstbaren Geister des Metaversums und mit heutigen Bots und Non Playing Characters vergleichbar, die innerhalb von Spielwelten auftauchen und gemäß ihrer Programmierung, die ihr Verhalten vollständig bestimmt, agie-

47 Ebd., S. 122. 48 Ebd., S. 122. 49 Ebd., S. 106. 50 Vgl. ebd., S. 123. 51 Vgl. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin: Matthes & Seitz 2011. S. 9. 52 Ebd., S. 12 und S. 14.

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ren.53 Sie sind als schwache künstliche Intelligenzen simuliert und sollen nicht menschlich im weiteren Sinn wirken, sondern schlicht ihre Funktionalität erfüllen, für die sie erschaffen worden sind. Ihnen fehlt ein eigenes Bewusstsein, denn dieses ist für ihre Aufgaben und ihren Daseinszweck nicht notwendig – die eigene Künstlichkeit spielt weder für sie noch für ihre Umgebung eine Rolle. Das Programm des Bibliothekars lässt sich ebenfalls zu den Daemonen zählen, erfüllt allerdings andere Aufgaben. Statt Serviceangelegenheiten in virtuellen Clubs zu erledigen, ist er als Rechercheprogramm ein Informationsträger. Gekoppelt mit einer digitalen Bibliothek erscheint der Bibliothekar in Hiros virtuellem Büro und liefert auf Anfrage Informationen. Eigene logische Schlüsse daraus ziehen kann er jedoch nicht, hierfür benötigt er Hiros Hilfe und konkrete, nicht zu abstrakte Rückfragen, die die jeweilige Rechercheaufgabe genauer spezifizieren.54 Er ist das einzige in Snow Crash beschriebene Programm, das zumindest über eine limitierte Form der Selbstreflexivität verfügt, da ihm die Fähigkeit eingeschrieben wurde, aus seinen Erfahrungen zu lernen und sich bei Bedarf selbst weiterprogrammieren zu können: Er täuscht vor, sich in einem sehr beschränkten Umfang seiner selbst bewusst zu sein und weist Hiro wiederholt auf diesen Umstand hin. Über ein eigenes und individuelles Gedächtnis im engeren Sinn verfügt er nicht, die Bibliothek dient ihm als solches; fehlen ihr Teile, kann er darauf nicht zugreifen. Sein Wissen umfasst nur das, was an abgespeicherten Inhalten als Rhizom in der Bibliothek enthalten ist. Als digital-mechanische Einheit verfügt er weder über Kreativität noch Urteilskraft und ist folglich trotz seiner erweiterbaren Fähigkeiten nur den schwachen künstlichen Intelligenzen zuzurechnen.55 Inwiefern er aber tatsächlich als solche Einheit zu beschreiben ist, ist fraglich. Er beruht auf der Simulation eines Bibliothekars – eine Mechanik im weiteren Sinn liegt ihm nur bedingt zugrunde, stattdessen basiert sein gesamtes Verhalten auf seiner Programmierung. Starke künstliche Intelligenzen existieren in der Welt des Metaversums augenscheinlich nicht.

53 Bots und Non Playing Characters sind Spielfiguren, die rein nach Programmierung innerhalb vorgegebener Parameter agieren. In Second Life gibt es solche Figuren offiziell nicht, in World Of Warcraft hingegen schon. Vgl. S. ab S. 307 dieser Arbeit. 54 Vgl. Stephenson: Snow Crash, S. 128. 55 Vgl. ebd., S. 248.

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Die Wissensstrukturen digitaler Bibliotheken: Zeichen und Bezeichnetes

Der Bibliothekar ist die virtuelle Sichtbarmachung des digitalen Bibliotheksbestands. Er ist die Schnittstelle, über die Hiro Daten abfragt und kontextualisiert. Optisch tritt der Daemon als älterer Herr mit Lesebrille und schütterem Haar in Erscheinung und entspricht damit der klischeehaften Darstellung eines Bibliotheksmitarbeiters. In seinem Auftreten simuliert er ein veraltetes Konzept, auf das in der neuen Form des Codes in Snow Crash nicht mehr verwiesen wird: Bibliotheken als solche scheinen kaum noch zu existieren, gedruckte Bücher werden stattdessen digitalisiert und gespeichert. Durch diese Digitalisierung werden sie in maschinenlesbaren Code umgewandelt. Was mit den Büchern im Anschluss geschieht, wird nicht erwähnt, aber vermutlich werden sie nicht weiter archiviert. Folglich verweist dieser digitale Code auf kein Original mehr, sondern ist nur noch eine Kopie ohne rückverfolgbaren Ursprung, der Teil eines rhizomatischen Gebildes wird – ähnlich der Struktur heutiger Online-Enzyklopädien. Informationen werden willkürlich hinzugefügt, aus Büchern werden Zahlen als Zeichen für codierte Information. Der Bibliothekar wird damit auch selbst zum Zeichen einer veralteten Bücherkultur, die bereits auf digitale Strukturen verweist. 56 Klassische Bibliotheken als Hort des Wissens und der gedruckten Bücher existieren nicht mehr. Durch diesen von Stephenson beschriebenen medialen Wandel ist auch das verlässliche Quellenwissen verschwunden – alles wird digitalisiert, neue Quellen tauchen vermehrt in Form unkommentierter und willkürlich festgehaltener Videos denn als nachrecherchierte Druckerzeugnisse oder andere überprüfbare Belege auf. Stephenson deutet hier auf das Ende der Gutenberg-Galaxis hin.57 Bücher werden durch den reinen Code ersetzt und existieren nur noch virtuell. „[D]as Wort ‚Bibliothek‘ [wird] immer verschwommener“, denn während dieser Ort früher „ein Haus voller [...] überwiegend alter Bücher war“, sind dort nun auch „Videobänder, Schallplatten und Zeitschriften“ zu finden, bei denen „sämtliche Informationen übertragen“ wurden. 58 Durch die Öffnung für andere Medienformate ist die Datenbank nicht mehr nur auf digitalisierte Bücher beschränkt. Ob diese der Allgemeinheit ebenso zugänglich sind wie die ehemaligen öffentlichen Bibliotheken, lässt Stephenson in seiner Darstellung weitgehend offen. Statt in der ehemaligen Kongressbibliothek werden die Daten in der sogenannten CIC-Datenbank gespeichert, die als Central Intelligence Corporation eine

56 E-Books im heutigen Sinn samt zugehörigen Readern gab es 1992 noch nicht. 57 Zur Gutenberg-Galaxis und Gutenberg-Klammer vgl. S. 28f dieser Arbeit. 58 Stephenson: Snow Crash, S. 31.

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kommerziell agierende Nachfolgeorganisation der CIA darstellt. Hiro arbeitet als sogenannter CIC-Stringer: Er sammelt Informationen für die CIC-Datenbank, teilweise auch willkürlich, da im Moment der Aufzeichnung nicht immer direkt ersichtlich ist, ob das von ihm Aufgezeichnete auch nutzbar ist, zumal „Videoband […] billig [ist,] daher dreht man am besten immer mit.“ 59 Dieses Vorgehen impliziert eine gewisse Wahllosigkeit und Willkürlichkeit der gesammelten Daten und das bereits zu einer Epoche, in der digitale Aufnahmen, für die folglich außer Speicher nicht einmal mehr ein Videoband notwendig ist, häufig nicht einmal gedacht wurden. Die Bibliothek zu durchsuchen wird durch dieses Vorgehen erschwert, das Material wird immer aktueller, denn unzählige „Millionen anderer CIC[-]Stringer übermitteln gleichzeitig Millionen anderer Informationen“, von denen „neunundneunzig Prozent […] überhaupt nie benutzt werden.“60 Aufgrund der Masse an unstrukturierter Information ist es nahezu unmöglich, diese Daten zu überblicken oder gezielt einzusetzen. Sie üben einen Aktualitätsterror aus, dem dadurch begegnet wird, dass zwar weiter Daten gesammelt werden, diese aber nicht mehr katalogisiert, sondern unmittelbar archiviert werden. Durch die schiere Menge an ungefilterten Informationen sind diese Daten dennoch häufig unbrauchbar. Gleichzeitig gehören dieser Bibliothek oder vielmehr dieser Datenbank die Videoarchive der Fernsehsender an, die jedoch noch nicht alle digital erfasst worden sind. Um zu diesen Zugang zu erhalten, gibt es wiederum spezielle Mitarbeiter, die das gewünschte Band auf Nachfrage besorgen und digitalisieren. Eine andere Darstellungsweise für Informationen ist das Programm Erde, ein „Anwenderinterface, das CIC benutzt, um den Überblick über jede noch so winzige Information zu erhalten, die es besitzt – nämlich sämtliche Karten, Wetterwerte, Baupläne und Daten von Überwachungssatelliten.“61 Als Globus erscheint Erde im virtuellen Büro von Hiro, die Einzelheiten sind in der größtmöglichen Auflösung vorhanden und natürlich immer in der aktuellsten Version. Dabei taucht das Problem auf, dass auch diese Informationen als unkommentierte Echtzeitdarstellung ungeprüft eingespeist und übertragen werden, was vom Nutzer einen kritischen Geist verlangt, um die Informationen richtig einordnen zu können. Das Programm scheint zudem ein ideelles Vorbild für Google Earth zu sein, das in der Realität zwar nicht tagesaktuell als simulierter Globus im Raum erscheint, aber es dennoch ermöglicht, bereits für die allgemeine Nutzung freigegebene

59 Ebd., S. 46. Dies erinnert auch an die Diskussion über Vorratsdatenspeicherung, die im Prinzip nichts anderes ist, als die willkürliche Sammlung aller zugänglichen Daten, beispielsweise über Cookies, die das Surfverhalten eines Nutzers aufzeichnen. 60 Vgl. ebd., S. 31. 61 Ebd., S. 127.

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Satellitenaufnahmen, die mit Kartenmaterial verknüpft worden sind, am Computermonitor zu betrachten.62 Sowohl Erde als auch die Bibliothek und die Datenbank des CIC stellen partiell unzuverlässige Informationsträger dar und sind damit mit der gegenwärtigen Funktion von Wikipedia vergleichbar. Diese fungiert ebenfalls als eine Art Online-Enzyklopädie, in der alles und nichts verzeichnet ist und jeder Nutzer unmittelbaren Zugriff auf die dort hinterlegten Daten hat, um sie zu erweitern. Indirekt wird damit auch das papierlose Büro propagiert und gleichzeitig Büchern die Aura genommen, indem ihre Daten und ihr Inhalt digital sofort virtuell verfügbar gemacht werden, das eigentliche (analoge) Leseerlebnis aber entfällt, ebenso die Verlässlichkeit des Inhalts, da dieser nicht mehr in Bezug zu anderen Quellen gesetzt und eingeordnet wird.63 Informationen werden von überall zugänglich und können von überall her ohne Überprüfung eingespeist werden, was die Überprüfung ihrer Verlässlichkeit in Bezug auf ihre Informationsqualität zusätzlich erschwert. Mittels Digitalisierung entsteht bei der weiteren Verarbeitung der Daten durch das Binäralphabet ein Schrifttypus, der nicht mehr nur gesprochene Sprache verschriftlicht, sondern diese umrechnet in ein System, bestehend aus Kombinationen der Ziffern 0 und 1. Der Binärcode ist zur „semiotischen ‚Universalmünze‘ geworden, in deren ‚Werte‘ beliebige andere Zeichensysteme übertragen werden können.“64 Mit der Digitalisierung von analogen Medien tritt folglich ein neues „Wechselverhältnis von Bild und Schrift“ in Kraft.65 Der digitale Code, in den die Bilder transformiert wurden, ist nur noch maschinenlesbar und somit ohne Zuhilfenahme von Lesegeräten für den Menschen nicht mehr nutzbar. Bilder vermitteln andere Inhalte als Schrift, sind in ihrer Bedeutung weniger eindeutig. Die Zeichen werden arbiträr und verweisen zuletzt auf nichts mehr. Die Schriftkultur wird zur Bildkultur und erzeugt eine neue Art der Medienrealität. Durch Virtualität und unbeschränkte Zugriffsrechte wird Information folglich in-

62 Google Earth ist auch für mobile Endgeräte verfügbar und kann damit herkömmliche Navigationsgeräte ersetzen. 63 Das papierlose Büro stellt Stephenson am Beispiel der FBI-Mitarbeiter dar, welchen hierdurch jegliche Art von Privatsphäre und Rückzugsmöglichkeit genommen wird. Durch das digitale Arbeiten ist die Kontrolle der Mitarbeiter einfacher, was diese zusätzlich unter Druck setzt. Vgl. Stephenson: Snow Crash, S. 323. Vgl. ebenso die Theorie der Heterotopie des Raumes nach Michel Foucault, deren Vorstellung im Zusammenhang dieser Arbeit jedoch zu weit führen würde, aber sicher eine Betrachtung wert ist. Michel Foucault: Die Heterotopien. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. S. 9-20. 64 Ebd., S. 12. 65 Ebd., S. 12.

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sofern korrumpiert, als dass keine eindeutigen Quellennachweise und Recherchemöglichkeiten mehr zur Verfügung stehen, über die mit Sicherheit gesagt werden kann, dass sie korrekt sind. Information wird selbst zur Simulation, die nicht auf tatsächliche Begebenheiten und Wissensstrukturen hinweist, sondern ins Leere deutet und damit durchaus auch eine Art von Hyperrealität erzeugen kann. Die Hyperrealität dekonstruiert sich in diesem Fall selbst. Macht, Virulenz und Informatikkriegsführung: Das Böse ist viral geworden

Dem Roman vorangestellt sind die Definitionen von Snow beziehungsweise Schnee, der als „weiße Flecken auf einem Fernsehbildschirm, die auf einen schlechten Empfang zurückzuführen sind“, verweist.66 Außerdem wird auf die offensichtliche Bedeutung von Crash und bei der Funktion des Virus im übertragenen Sinn auf ein „moralisches oder intellektuelles Gift, ein[en] schlechten Einfluß [sic!]“ hingedeutet.67 Bereits hier wird deutlich, wie Stephenson Snow Crash als Metavirus strukturiert, denn dem titelgebenden Begriff wohnt eine Doppeldeutigkeit inne, die sowohl als Droge als auch als Virus funktioniert. Neu an diesem Konzept ist jedoch, dass Computerviren nun auch Menschen befallen und bei Infektion deren Gehirnstruktur verändern können.68 In der Computerlingua – neben der Taxilingua eine weitere fachspezifische Sprache innerhalb der Welt von Stephenson, die für die Zersplitterung der Realität steht und eine eigene Art von Code darstellt – steht der Begriff für einen Systemabsturz. Dieser geschieht „auf einer so grundlegenden Ebene, daß [sic!] der Teil des Computers vernichtet wird, der den Elektronenstrahl in den Monitor kontrolliert, so daß [sic!] dieser ziellos über den Bildschirm schießt und das perfekte Gitter der Pixel in ein wirbelndes Schneegestöber verwandelt.“69 Der Name Snow Crash fängt dabei den Effekt des Virus ein und evoziert ein Bild, das dem des toten Kanals aus Gibsons Neuromancer entspricht.70 Nicht der Himmel beziehungsweise die Natur werden hier mit einer Bildstörung verknüpft, sondern der Befall des Virus wird zur Störung selbst. Beide Romane thematisieren die Hypothese, dass ein der virtuellen Welt zugehöriges Virus ebenso in der realen Welt töten kann, denn Mensch und Computer sind

66 Stephenson: Snow Crash, S. 5. 67 Ebd., S. 5. 68 Vgl. ebd., S. 89 69 Ebd., S. 54f. 70 Vgl. Gibson: Neuromancer, S. 10. Vgl. ebenso S. 144 dieser Arbeit.

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direkt verbunden, auch wenn diese Verknüpfung in Neuromancer nicht in dieser Form ausgespielt wird.71 Seit die Droge Snow Crash das Metaversum infiltriert hat, ist dieser ursprünglich eher harmlose Ort zu einem potenziell letalen Raum geworden. Davor wurde der Tod nur durch Unterbrechung der Verbindung zum Cyberspace simuliert. 72 Diese Simulation wird bei Infektion real und verweist auch hier auf Baudrillards These des symbolischen Tausches mit dem Tod. Blickt ein Hacker innerhalb des Metaversums auf eine infizierte Bitmapdatei, so kommt es auch in dessen Gehirn zu einem sogenannten Snow Crash. Dieses Konglomerat aus Virus und Droge kann innerhalb der Simulation mittels einer sogenannten Hypercard von Nutzer zu Nutzer übertragen werden. Die darin enthaltene Bitmap, ein Binärbild, wird in Form einer antiken Schriftrolle dargestellt und zeigt ein „festgelegtes Muster schwarzweißer Pixel“, die als Information nur „Rauschen [sind], wenn man den Code nicht knackt.“73 Normalerweise ist dieser Code nur maschinenlesbar, Hacker sind wegen ihres Wissens um Programmiersprachen dafür dennoch empfänglich. Nicht nur die technische Hardware ist davon betroffen, sondern auch der Endnutzer selbst. Maschinenlesbarer Code wird plötzlich für den Menschen, der in diesem Code sonst nur scheinbar zusammenhangslose Zeichenkolonnen sieht, zur direkten Gefahr. Damit hat das, was im Metaversum vorfällt, unmittelbare gesundheitliche Auswirkungen auf das Leben außerhalb des Systems, und das Simulakrum verändert aktiv Aspekte dessen, was als Realität betrachtet wird. Da5id Meier, ein Freund Hiros aus dessen Hackerzeiten, wird mit der Droge von einem anderen Avatar bewusst infiziert. Die Konsequenzen dieser Infektion werden mit dem Systemabsturz eines Computers gleichgesetzt, was wiederum ein fluides Verhältnis zwischen Mensch, Maschine und Simulation offenlegt. 74 Gleichzeitig impliziert dies eine radikale Veränderung im Wesen des Metaversums: „Waffen wurden ins Paradies eingeschmuggelt.“75 Dies löst die Dichotomie zwischen den Welten auf, Realität und Virtualität sind ab sofort neu miteinander verschaltet. Information und Desinformation erreichen die Nutzer im Metaversum über dasselbe Medium: Hypercards sind sowohl Informationsträger als auch Überträger des

71 Vgl. Heuser: Virtual Geographies, S. 175. 72 Vgl. ebd., S. 187. 73 Stephenson: Snow Crash, S. 90. 74 Vgl. ebd., S. 231. Dies wiederum lässt Querverbindungen zum Film eXistenZ herstellen, da dort ebenfalls die Spielkonsolen von einem Virus befallen werden können und Viren somit auf andere Realitätsebenen übertragen werden können. In der Matrix betrachtet Agent Smith die Menschheit als Virus. 75 Ebd., S. 401.

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Metavirus, wodurch die Hypercard die Bedeutung eines ambivalenten Zeichens einnimmt, dem mehrere Bedeutungen innewohnen und das dadurch selbst zum binären Code wird. Das Snow-Crash-Virus wird als „Atombombe der Informatikkriegsführung“ bezeichnet, „ein Virus, das jedes System veranlaßt [sic!], sich mit neuen Viren zu infizieren“ und dabei „durch die Wände von Gehirnzellen [einsickert] und [...] in den Zellkern vor[dringt], wo die DNS ist.“76 Dort zerstört es „den Verstand des Hackers“, der „das Verständnis für Binärkode [i. O.] in den Tiefenstrukturen seines Gehirns verankert hat.“77 Die vom Virus überschriebene DNS stellt eine Analogie zur Programmierung dar. Betroffene verlieren in diesem Fall ihr erlerntes Sprachverständnis, verfallen der Glossolalie, der Zungenrede. In der Folge nehmen sie ihr Umfeld völlig anders wahr und werden so zu ihrem eigenen Simulakrum. Gleichzeitig werden damit auch die „Massenmedien des zwanzigsten Jahrhunderts“ kritisiert, denn „Bildung und schnelle Transportmittel waren allesamt ausgezeichnete Vektoren für die Infektion“, die zuletzt sogar mit sumerischer Mythologie und dem Turmbau zu Babel in Verbindung gebracht wird. 78 Die Glossolalie stellt die hörbare Infektion des Menschen durch das Virus dar und weist durch den Babylon-Charakter starke religiöse Bezüge auf. Mythen werden in dieser Interpretation als mögliche historische Ereignisse gewertet, der Turmbau zu Babel löst mit der Sprachverwirrung die erste sogenannte Infokalypse aus, eine Form der Apokalypse durch unverständlich werdende Informationen, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit erodiert. Laut der Ausdeutung, die Stephenson seine Protagonisten vornehmen lässt, begann das Informatikzeitalter bereits in der Epoche der Sumerer, deren Sprache zu diesem Zeitpunkt noch für jeden verständlich gewesen sein soll. In dieser Ursprache erhielten die Menschen von den Göttern, darunter Aschera, unter anderem Gesetze und Anweisungen in Form der sogenannte Me, die mit Prozeduren aus Programmiersprachen verglichen werden und unter anderem Anleitungen enthielten, wie beispielsweise Brot gebacken wird.79 Diese Me werden zugleich als Manifestation eines

76 Ebd., S. 232 und 276. 77 Ebd., S. 462. 78 Ebd., S. 459 und 462. Snow Crash muss sich in diesem Zusammenhang allerdings auch die Frage stellen lassen, ob durch die fehlende Bildung anderer Gruppierungen nicht viel schwierigere Informationsstrukturen etabliert werden, die eine Verbreitung des Virus zumindest außerhalb der Programmiererszene einschränken. Beantwortet wird dies im Verlauf des Romans jedoch nicht. 79 Vgl. ebd., S. 451f.

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Metavirus beschrieben.80 Der sumerische Gott der Weisheit, Enki, entwickelte daraufhin die Nam-shub, die sich einem Antivirus gleich „über dieselben Kanäle verbreitete wie die Me [i. O.] und der Metavirus.“81 Die Nam-shub machten die Anwendung der Me unmöglich, indem sie das Verständnis für die sumerische Sprache nahmen, um den Menschen wieder eigenständiges Denken und Handeln und eigene Sprachen fernab und unabhängig der Anweisungen durch die Me zu ermöglichen.82 Enki wird mit diesem Vorgehen die Rolle als erstem neurolinguistischem Hacker zugeschrieben.83 Vor diesem Ereignis hatten Sprachen in der erzählten Wirklichkeit von Snow Crash die Eigenschaft, „miteinander zu verschmelzen“, nach Babel „hatten die Sprachen stets eine innewohnende Tendenz, zu divergieren und gegenseitig unverständlich zu werden.“84 Enkis Ziel hierbei war jedoch nicht primär die Unverständlichkeit der Sprache, sondern das Mündigmachen des Menschen, der nun eigene Sprachen und Methoden entwickeln musste, um unabhängig von den Göttern zu existieren.85 Sprachliche Zeichen verwiesen nach der Sprachverwirrung auf nichts mehr, die sumerische Sprache verschwand. Ähnliches geschieht nun durch Snow Crash erneut, das als Virus auf ähnliche Weise wie die babylonische Sprachverwirrung wirkt, allerdings in diesem Fall erst die Glossolalie verursacht, die an die an Aschera orientierte sumerische Zungenrede angelehnt ist und im Roman einen neuen Kult bildet.86 Auch hier verweisen sprachliche Zeichen nicht mehr auf etwas konkretes Bezeichnetes, Sprache außerhalb der Glossolalie ist nicht mehr möglich für die Betroffenen. Stephenson setzt dieses Vorgehen mit einer viralen Infektion gleich, denn beides ist vergleichbar mit einem Virus, das sich von Computer zu Computer überträgt und als Schadprogramm jedes Gerät in Mitleidenschaft zieht. Die zweite Infokalypse soll durch Snow Crash selbst als binäres Metavirus erfolgen. Die Fähigkeit, Zeichen der virtuellen Welt zu lesen und mit diesen Zeichen jene auch verändern zu können, hat zur Konsequenz, dass in diesem Fall eine Infektion leichter stattfinden kann und den Verstand der Infizierten verändert, indem Teile mit neuen Informationen überschrieben werden. Ideologie wird ebenso mit Viren gleichgesetzt, sie ist „die konkrete, sozusagen betonierte

80 Vgl. ebd., S. 452. 81 Ebd., S. 453. 82 Vgl. ebd., S. 454. 83 Vgl. ebd., S. 449. 84 Ebd., S. 252. 85 Vgl. ebd., S. 453 und 456. 86 Vgl. ebd., S. 238.

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Manifestation eines abstrakten politischen Ziels.“87 Um gegen die Glossolalie als Struktur vorzugehen, sind erneut Enkis Nam-shub notwendig. Historisches Wissen wird mit sumerischer Mythologie verknüpft. Diese Geschichtsklitterung leitet Hiro dazu an, eine eigene Theorie der Infektion herzuleiten, die es ihm wiederum ermöglicht, das Virus und dessen Wirkmechanismus besser zu verstehen. Wer mit Snow Crash infiziert ist, ist im Folgenden nicht mehr fähig, sich verständlich auszudrücken, eindeutige Zuordnungen von Dingen und Namen sind nicht mehr möglich, viele Infizierte wenden sich im Anschluss häufig vom Programmieren ab. Das Bezeichnete bleibt folglich erhalten, kann aber durch die von der Infektion verursachte Glossolalie der Betroffenen nicht mehr eindeutig benannt werden, weshalb das sprachliche Referenzsystem verloren geht. Wie auch die Programmiersprachen als eine Art von Zauberspruch interpretiert werden, die die Wirklichkeit beeinflussen, so wird auch der Sprache selbst magische Kraft zugeschrieben. Im Metaversum ist Magie möglich, denn es „ist eine fiktive Struktur, die aus einem Code besteht“, der wiederum auf einer Form von Sprache aufgebaut ist, nämlich jener, die Maschinen verstehen.88 Die nächste Ebene nach den Maschinensprachen stellen die Programmiersprachen dar, die aus mehr als Einsen und Nullen bestehen. Dies kann inhaltlich tatsächlich wie von Stephenson impliziert mit der babylonischen Sprachverwirrung enggeführt werden, aber anders als dort verweisen Programmiersprachen immer noch auf eine Funktionalität, die jedoch nicht in jeder Programmiersprache dieselbe ist. Sie deuten also sehr wohl auf etwas anderes, „man redet mit dem Computer in diesen Sprachen, und eine Software namens Compiler konvertiert sie in Maschinensprache.“89 Auf der Ebene des Kompilierens kann es jedoch zu Fehlern kommen. Das Gehirn wird in der medialen Überschreibung Mensch/Maschine dem Computer gleichgesetzt, in der Pupille ist das Terminal des Gehirns erkennbar, was am Beispiel von Snow Crash sogar neurolinguistisches Hacking ermöglicht – eine Lücke, die das Virus in Form der bereits erwähnten Bitmap auszunutzen versucht.90 Diese Lücke wiederum wird zur Leerstelle, die mit dreierlei ergänzt werden kann und eine andere Blickweise auf die Simulation und die Rolle des Nutzers ermöglicht: Auf die Frage, ob Snow Crash ein Virus, eine Droge oder eine Religion sei, erhält Hiro nur die vage Gegenfrage, was jeweils der Unterschied sei, was auf eine gedanklich-inhaltliche Verschränktheit von allen dreien hinweist.91

87 Ebd., S. 399. 88 Ebd., S. 245. 89 Ebd., S. 320. 90 Vgl. ebd., S. 231. 91 Vgl. ebd., S. 233.

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Stephenson stellt in seinem Roman die These auf, dass die genannten drei Elemente strukturidentisch funktionieren und agieren, indem sie parasitäre Informationen selbst reproduzieren und verbreiten. Kommunikation und Virenbefall wird inhaltlich gekoppelt und auf die Ebene der Sprache und der Codes gehoben und infolgedessen mit der Wahrnehmung der Welt enggeführt. Die Krise des Glaubens wird zur Krise der Wahrnehmung, denn „[d]ie numerische Optik [i. O.] ist kaum mehr als eine statische Optik, die in der Lage ist, eine Reihe von visuellen Illusionen zu schaffen, ‚rationale Illusionen‘, die allerdings nicht nur die Beweisführung, sondern auch die Erkenntnis betreffen.“92 Als göttliche Leerstelle betrachtet, zeigt diese Beschreibung die geänderte Bedeutung der Religiosität im digitalen Zeitalter: Sie wird ersetzt durch etwas anderes Unbestimmtes, in diesem Fall sogar ganz direkt durch ein Virus, das die Lücke in der Simulation noch viel sichtbarer macht. Diese Lücke erodiert von innen nach außen, und genau das macht wiederum Viren aus: Sie wirken von innen und entfalten ihr gefährliches Potenzial erst, wenn sie losgelassen werden. Für Baudrillard sind Viren, die auf Objektebene überall anzutreffen sind, „eine weitere Komponente von Destabilisierung der herrschenden Systeme.“ 93 Sie stellen eine Form der Angreifbarkeit der hyperrealen Welt dar, sowohl in der Ökonomie, der Politik oder ganz profan als Computerviren und reale Viren in der Biologie. Sie „attackieren den Code und die Formel, sei es auf dem Level der Codestruktur, der Information oder auf dem des genetischen Codes.“ 94 Als Anomalie innerhalb des Systems sind sie hyperfunktional und erzeugen perverse Effekte.95 Produziert wird die Viralität „von der beschleunigten Zirkulation der Systeme“ und der Zeichen, was wiederum „virtuelle Katastrophen“ zur Folge hat. 96 Laut Falko Blask ist diese Einschätzung „die logische Konsequenz aus Baudrillards früheren Überlegungen[, d]enn wenn von der Realität keine Gefahr mehr droht, dann kann die Subversion nur noch im Virtuellen stattfinden.“97 Für

92 Paul Virilio: Die Sehmaschine. In: Paul Virilio: Die Sehmaschine. Berlin: Merve 1989. S. 133-172, hier S. 170. 93 Falko Blask: Baudrillard zur Einführung. Hamburg: Junius 2013. S. 116. 94 Ebd., S. 116. 95 Vgl. Jean Baudrillard: Videowelt und fraktales Subjekt. In: Karlheinz Barck, Peter Gente, Heidi Paris, Stefan Richter (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig: Reclam 1990. S. 252-264, hier S. 264. 96 Jean Baudrillard: Viralität und Virulenz. Ein Gespräch. In: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt: Suhrkamp 1991. S. 81-92, hier S. 83. 97 Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 117.

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Baudrillard ist der Code in diesem Stadium fraktalisiert, „dass er sich in einer Art ‚Epidemie‘ der zufälligen Ausbreitung verflüchtigt.“98 Doch genau dies trifft im Fall von Snow Crash nicht zu, die virale Infektion betrifft sowohl Realität als auch Virtualität, eine Prophylaxe wird erst möglich, als Hiro einen Virenscanner namens SnowScan programmiert, um die bereits wuchernde Infektion einzudämmen.99 Auffällig ist in diesem Zusammenhang die klare Assoziation des Virus mit dem Bösen, während Viren in der Natur moralisch neutral sind und nur aus der Perspektive des Menschen destruktive Züge annehmen. In einer Simulation jedoch stellen Viren eine chaotische Kraft dar, der beinahe etwas Diabolisches innewohnt. Die Analogie zur Simulation liegt darin, dass sowohl sie als auch ein Virus ein Medium benötigen, um aktiv werden zu können. Genau dies macht Snow Crash als Virus so fatal und ermöglicht die Nutzung als Waffe in der Informatikkriegsführung. Als Gegenmittel soll die Waffe Reason, die Stimme der Vernunft, eingesetzt werden. Aufgedruckt auf ihr steht der lateinische Satz „ultima ratio regum“, das der Bibliothekar mit dem „letzte[n] Argument der Könige“ übersetzt.100 Sie stammt wie zuvor schon die autonomen Wacheinheiten von der Firma Ng Securities. Hiro gelangt an ein Vorführmodell, das noch nicht über die Betatestphase hinaus und daher „nicht für den Fronteinsatz vorgesehen“ ist und „nicht in dichtbesiedelten Gebieten [ge]teste[t]“ werden soll.101 Reason ist nahezu unsichtbar und „feuert winzig-kleine [i. O.] Metallsplitter“ aus „angereicherte[m] Uran“ ab.102 Hiros Helfer schießen mit ihr auf die von der Glossolalie betroffenen Menschen. Im entscheidenden Moment stürzt das Programm, mit dem Reason bedient wird jedoch ab, und erleidet ironischerweise selbst einen Snow Crash – allerdings keinen vom Virus induzierten, sondern Folge eines schwerwiegenden tatsächlichen Systemfehlers, der aus einer Fehlbedienung resultiert.103 Die Waffe „büßt […] die Fähigkeit ein, sich selbst zu reaktivieren, daher sind primitivere Methoden erforderlich.“104 Über das Metaversum beschafft Hiro sich schließlich die notwendigen Informationen für einen Neustart der Waffe. Die Szenerie ist unwirklich: Während sich Hiro im Metaversum mit dem Geschäftsführer von Ng Securities über seine Theorie des neurolinguistischen Hackens austauscht, fährt er in der Realität mit Rea-

98 Gözen: Science Fiction Cyberpunk, S. 273. 99 Vgl. Stephenson: Snow Crash, S. 518. 100 Ebd., S. 445. 101 Ebd., S. 412 und 447. 102 Ebd., S. 412. 103 Vgl. Stephenson: Snow Crash, S. 428. 104 Ebd., S. 440.

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son auf ein riesiges Floß zu, das einer gigantischen schwimmenden Stadt gleicht und bereits selbst medial überformt ist, indem ein eigenes Filmgenre der sogenannten Floßfilme das Leben auf dem Ozean darstellt. Das Floß als Fünfte Welt – die Dritte Welt als Beschreibung für Armutsverhältnisse hat längst ausgedient – trägt die Infektion in sich, alle Infizierten versuchen, es zu erreichen. Über die Medien wird ein Bild des Floßes vermittelt, das tatsächlich an den Turmbau zu Babel erinnert, es ist, „als würde dort das völlige Chaos herrschen, als würden Tausende verschiedene Sprachen gesprochen werden und als würde es keine zentrale Aufsicht geben.“105 Hinter allem steht jedoch der Medienmogul L. Bob Rife, der die Glossolalie für seine Zwecke einsetzen will. Der „Glossolalie-Kult ist [seiner Ansicht nach] die erfolgreichste Religion seit der Gründung des Islam“ und ermöglicht ihm neue Machtstrukturen.106 Religion impliziert immer auch ein eigenes Weltbild, dem mit vernunftgetriebenen Argumenten nicht mehr entsprochen werden kann: Sie bildet in diesem Kontext durch ihre Sichtweise auf die Welt und den Verlust der eigenen Sprache durch die Glossolalie den Widerspruch zur Vernunft. Folgerichtig kann Hiro mit dieser Waffe das Floß nicht versenken, sondern nur ein Loch in einen Flugzeugträger, der sich am Floß befindet, schießen, um so an die eigentlichen Nam-shub zu gelangen, die die Betroffenen allein durch ihr Vorlesen heilen und aus ihrer religiösen Verblendung befreien sollen. Reason als Waffe ist folglich in ihrem Zweck durchaus real, hat aber weniger Effekt auf die Glossolalie als ursprünglich angenommen. Im übertragenen Sinn – wie schon an der Namensgebung zu erkennen ist – ist dies als die Waffe der Vernunft gegen religiös motivierte Voreingenommenheit zu sehen, deren Wirkungsweise aber als fragwürdig zu betrachten ist. Als Täuschungsmanöver im Sinn von Paul Virilio erfüllt sie ihren Zweck zumindest dann, als Hiro sie zuletzt nutzlos im Meer versenkt, um von seinem wahren Aufenthaltsort abzulenken. Das Metaversum ist mit Virilios Industrialisierung des Sehens vergleichbar. Die Wahrnehmung selbst ist automatisiert, was den Zugang für Viren so einfach macht. Die technologisch herbeigeführte Beschleunigung der Geschwindigkeit macht die Technik gleichzeitig anfällig für unvorhergesehene Einflüsse. Alles wird zunehmend medialer und daher verstärkt über Bilder statt über Schrift erfasst. Durch das Sehen – im vorliegenden Fall ist es das Betrachten der infizierten Bitmapdatei – findet die Übertragung erst statt. Virilio sagt selbst, dass der Mensch zunehmend so leben würde, als stünde er unter Drogen. In diesem Fall ist es Snow Crash gekoppelt mit dem Glauben an die eigene Freiheit, was in Kombination

105 Ebd., S. 461. 106 Ebd., S. 460.

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stattdessen die Betroffenen vielmehr zu einem Opfer einer total gewordenen Kontrolle macht. Medien nehmen immer mehr Raum ein, die eigenen Freiheiten werden proportional dazu eingeschränkt.107 Diese neue Medialität nimmt immer mehr Raum im Alltag ein und verändert dadurch auch die Wahrnehmung der Umgebung. Der Verlust von Entfernungen und Distanzen mündet in einer „Hyperkommunikabilität“, die wiederum eine „Kommunikabilität der totalen Beobachtung und Kontrolle ist.“108 Diese Art der scheinbaren Optimierung durch Geschwindigkeit wird bei Virilio automatisch zur Kriegsmaschinerie, denn das Zivile wird militärisch und führt schließlich zu einem militärisch-industriellen Komplex. 109 Neal Stephenson zeigt in Snow Crash eine postmoderne Welt und bezeichnet diese auch selbst als solche, denn die Postmoderne als Empfindung gehört ebenso zur Gefühlswelt von Hiro wie das beständige Wechseln zwischen Realität und Virtualität.110 Neotribalistische Zusammenschlüsse verfolgen verschiedene Interessen und Machtfantasien, während die Medienwelt global betrachtet die Menschen zwar verbindet, aber auch ein Gefahrenpotenzial in Form von Gleichschaltung und Propaganda in sich birgt.111 Gleichzeitig funktioniert Snow Crash auch als „Wunschtraum einer faszinierenden Hightech-Welt […], die von intellektuellen Herausforderungen, technischen Spielereien und beeindruckenden Waffen geprägt ist.“112 Das Metaversum und dessen Ausläufer sind überall. Es ist durch wirkliche Menschen und virtuelle Entitäten besiedelt, die sich ihrer Simulation aufgrund der eigenen Programmierung zumeist nicht bewusst sind. Eine Ausnahme stellt der Bibliothekar dar, dem das Wissen um die eigene Beschränktheit keine Probleme zu bereiten scheint. Trotz aller technischen Weiterentwicklungen verzichtet Stephenson in seinem Roman auf die Beschreibung starker künstlicher Intelligenzen, was das Augenmerk noch stärker auf das Vorhandensein der virtuellen Welt des Metaversums richtet und dessen gleichzeitige Verwundbarkeit durch Viren zeigt. Die Simuliertheit der Umgebung verhindert nicht den Einbruch des Realen in Form von Infektionen. Digitale Bibliotheken ersetzen reale und Videomitschnitte gewinnen immer mehr an Bedeutung. Die Schrift- wird zur Bildkultur. Diese Bildkultur ist in Snow

107 Vgl. Daniela Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur. Analyse aktueller Medientheorien. Berlin: Volker Spiess 2003. S. 76. 108 Ebd., S. 76. 109 Vgl. ebd., S. 76. 110 Hiro fühlt sich postmodern, als er sich selbst digital beobachtet. Vgl. Stephenson: Snow Crash, S. 349. 111 Vgl. Gözen: Science Fiction Cyberpunk, S. 204. 112 Ebd., S. 204.

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Crash bereits zur Bildschirmkultur geworden, die ihre individuelle und ungefilterte Medienrealität etabliert. Sie zeigt dabei nur eine Möglichkeit von vielen auf, unter anderem wie die zunehmende Medialisierung und Digitalisierung und damit auch Virtualisierung eine Gesellschaft verändert und eine mögliche Variante des Endes der Gutenberg-Galaxis einläutet. Durch den Rückgang der Schriftlichkeit werden die Zeichen innerhalb wie außerhalb des Metaversums ambivalent und begründen eine neue Form der Wissenskultur. Bilder und Videos als Versuch einer medialen Darstellung der Wirklichkeit können immer nur einen Bruchteil selbiger zeigen, der eine gewisse Polyvalenz der Bedeutung dieser Medienrealität zulässt, jedoch keine allgemeingültige Deutung der Realität mehr. Die Zeichen verweisen nicht länger auf konkrete Sachverhalte, sondern nur noch auf Ausschnitte der Wirklichkeit, die innerhalb ihrer Hyperrealität eigene Simulakra bilden.

Zwischenfazit & Ausblick: Die Simulation als Variante und Erweiterung der Realität

In beiden hier behandelten Romanen wird die Realität unter jeweils verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet und die Simulation dabei als eine Variante und Erweiterung der Realität dargestellt. Beide greifen auf Motive zurück, die zeitgleich auch prägnant in den Medientheorien dieser Epoche verhandelt worden sind, was nichts zwangsweise bedeutet, dass sich die popkulturellen Bearbeitungen auch explizit auf diese berufen. Vielmehr lässt sich die ursprünglich rein literarische Gattung des Cyberpunks von technologischen Fortschritten und deren Möglichkeiten beeinflussen und spielt mit medientheoretischen Vermutungen, die die Autoren als eigene Theorien innerhalb ihrer Erzählungen erproben. Virtuelle Realitäten und Simulationen werden hierfür von den Autoren auf ihre Schwachstellen überprüft und dekonstruiert, wodurch die Utopie der künstlichen Realität zur Dystopie des Cyberpunks mutiert. In beiden Fallstudien ist die Wahrnehmung und Ausdeutung der Simulation gekoppelt an gesellschaftliche Umbrüche, die Grundlage sind für die Fiktionalisierung von Medientheorien mit künstlerischen Freiheiten, welche es wiederum ermöglichen, diese Theorien zu ergänzen und weiterzuentwickeln. So wie sich die Literatur allerdings – sei es bewusst oder unbewusst – bei den Medientheorien bedient hat, bedient sich auch die Alltagssprache am Gedankeninventar selbiger und Neologismen sind heute ganz selbstverständlich in der Sprache verankert. Ein Beispiel ist die Beschreibung des Surfens im Internet, das die Bewegung im virtuellen Raum beschreibt und als sprachliches Bild „Spuren im kulturellen Gedächtnis hinterlassen“ hat.1

1

Jiré Emine Gözen: Cyberpunk Science Fiction. Literarische Fiktionen und Medientheorie. Bielefeld: transcript 2012. S. 323.

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Was bei William Gibsons Neuromancer mit der Matrix des Cyberspace beschrieben wird, ist in Neal Stephensons Snow Crash das Metaversum. Beide Formen digitaler Alltagserweiterungen stellen verschiedene Arten virtueller Welten dar, die verschiedene Auswirkungen auf die jeweiligen Nutzer haben. In Neuromancer lebt ein Teil der Menschen nicht mehr nur in der eigentlichen Realität, sondern hat den Alltag in den Cyberspace ausgeweitet. Mensch und Maschine treten als verschiedene Arten von Simulakra auf, die mit der Medienrealität gekoppelt eine um sich greifende Unsicherheit der Protagonisten verursachen. Das führt bei einigen dazu, ihre Umgebung mit am Dekonstruktivismus orientierten Methoden zu hinterfragen, auch wenn sie sich ohne ihre Technologien unvollständig fühlen. Anders formuliert dies Stephenson in Snow Crash: Hier ist die Virtualität auf andere Art und Weise allgegenwärtig und durchdringt den Alltag der Protagonisten nachhaltig. Obwohl auch hier im Sprachgebrauch noch deutlich zwischen Metaversum und Realität differenziert wird, überschneiden sich die Ebenen zunehmend. Das zeigt sich auch an Stephensons Schreibstil, der dem Leser anfänglich das Unterscheiden zwischen den Ebenen sehr erschwert. Körperlichkeit und Teleexistenz in Verbindung mit der Simuliertheit virtueller Welten sind in beiden Romanen mit unterschiedlichen Gewichtungen dargestellt. In Neuromancer ist der Cyberspace als gesetzloser Ort der Hacker beschrieben, Avatare existieren dort nicht, dafür aber Hologramme in der realen Welt. Speziell an der Figur von Case ist dies gut erkennbar, wenn beschrieben wird, dass er mit der realen Welt außerhalb des Cyberspace nicht zurechtkommt, da er seine geistige Heimat im Virtuellen verortet. Das Netz ist trotz allem ein gefährlicher Platz, weniger aus Gründen der Infektion mit Viren wie dies bei Neal Stephensons Snow Crash dargestellt wurde, sondern vielmehr durch die Gefahr eines Hirntods, wenn zu tief in die Virtualität eingedrungen wird. Die Unterscheidung zwischen Datenkörper und Fleischkörper nach Sybille Krämer ist bei Gibson deutlicher herausgearbeitet, was wiederum an Virilios Teleexistenz mit gleichzeitiger Delokalisation erinnert. Interessant ist hier, wie die gesamte Welt von Künstlichkeit durchdrungen ist, was sich sowohl an der Matrix als auch an der Orbitalstation Freeside zeigt. Für die meisten Menschen außerhalb der Hackerszene hat die Virtualität die Realität jedoch noch nicht so weit zurückgedrängt, dass in ihr keine Vergnügungszentren und Freizeitparks wie Freeside mehr möglich wären, die ganz bewusst auf Körperlichkeit setzen. Die Wahrnehmung der Virtualität zeigt sich in beiden Romanen auch subtil am Vorhandensein beziehungsweise Nichtvorhandensein von Freizeitparks. Denn während in Neuromancer mit Freeside sogar eine Orbitalstation nur zu diesem Zweck errichtet wurde, scheinen Freizeitparks in der wirklichen Welt von Snow Crash nicht mehr zu existieren, ebenso wenig gibt es sie innerhalb des Metaver-

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sums, da das Metaversum selbst bereits als solcher wahrgenommen wird und sie folglich nichts anderes wären als Videospiele.2 Die Freizeit findet im Virtuellen statt, Hacker wie Hiro sind die neuen Stars, das Metaversum ermöglicht – wenn auch mit gewissen Einschränkungen – den Zugang auch breiteren Bevölkerungsgruppen. Zudem verzichtet Stephenson anders als Gibson auf den Einsatz starker künstlicher Intelligenzen, die Virtualität der Simulation ist viel stärker im Alltag verankert, während die virtuelle Umgebung in Neuromancer deutlich elitärer anmutet. Die Übergänge zwischen Realem und Virtuellen sind bei Stephenson viel subtiler und fließender dargestellt. Zum einen wird dort eine virtuelle Droge entwickelt, die unmittelbare Auswirkungen auf die Realität außerhalb des Metaversums hat, zum anderen wird Schrift als Speichersystem immer unzuverlässiger, da dort nur noch auf Systeme, die Informationen kontextlos und willkürlich abspeichern, zugegriffen werden kann. Gleichzeitig bildet sich mit dem Verlust der Schrift und dem Aufkommen der Droge eine neue Art von Religion heraus, die sich mithilfe der Droge selbst viral verbreitet. Diese Droge wird als Virus aber auch immer wieder mit Sprache und damit Zeichenhaftigkeit in Verbindung gebracht. Gleichzeitig beschreibt Stephenson durch sie metaphorisch den Verlust von sprachlicher Eindeutigkeit und die Hinwendung von der Schriftlichkeit zur unkommentierten Bildlichkeit des Digitalen. Jacques Derrida dokumentiert in seiner Grammatologie eine „Abwertung der Schrift in philosophischen Schriften.“3 Auch in den hier behandelten Fallbeispielen erfährt die Schrift eine Wandlung in der Wahrnehmung und scheint mehr und mehr zu verschwinden und durch andere Speichermedien in Form von Bildern ersetzt zu werden. Bildliche Inhalte sind jedoch nicht eindeutig auslesbar, weswegen durch sie eine Ambiguität entsteht, die zwar in der Schrift auch enthalten ist – je nachdem, welcher Leser der Rezipierende ist in Bezug auf die Dekonstruktion als Prinzip des Lesens. Bilder beziehungsweise bewegte Bilder in Videos haben hingegen keine konkrete und eindeutige Aussage, wenn sie nicht kontextualisiert werden. Besonders auffällig ist dies bei Snow Crash herausgearbeitet, wo das Verschwinden der Schrift im Sinne von Büchern und Bibliotheken, die von wikipediaartigen Onlinestrukturen verdrängt werden, auch einen Verlust des Wissens bedeutet. Paul Virilios Idee der Dromologie findet sich hier ebenso wie Baudrillards Ordnung der Simulakra, seine Theorie von Disneyland und häufig auch der symbolische Tausch mit dem Tod. Außerdem scheint eine Art von neuer Religiosität

2

Vgl. Neal Stephenson: Snow Crash. München: Heyne 1994. S. 50.

3

Jonathan Culler: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie. Hamburg: Rowohlt 1988. S. 99.

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aufzukommen, die sich reziprok zum Verlust der Sicherheit des schriftlichen Wissens in einer von Simulation und Simulakra durchsetzten Welt ausbreitet. Dies wird besonders in Snow Crash deutlich gemacht, wenn Religion und die auf sie Bezug nehmende Sprache indirekt mit einem Virus gleichgesetzt werden. Sprache und sprachliche Zeichen werden nicht mehr eindeutig genutzt, teilweise wird in den vorgestellten Fallstudien auch auf lineares Erzählen verzichtet. Bei der vorliegenden Analyse wurde bewusst auf ältere Übersetzungen der Romane aus den 1990er Jahren zurückgegriffen, da hier Begriffe verwendet werden, die in dieser zeitlichen Epoche noch nicht in demselben Maße wie heute im alltäglichen Sprachgebrauch verankert waren und daher in Neuübersetzungen teilweise anders umschrieben und im Text definiert werden. In Neuromancer wird speziell in älteren Ausgaben beispielsweise wiederholt in Fußnoten erklärt, was etwa ein Cursor ist.4 Snow Crash wird in einem teilweise fast schon humorvollen Ton erzählt und demonstriert gleichzeitig, wie anders Sprache in einem Umfeld genutzt wird, das sich mit virtuellen Realitäten auseinandersetzt. Die Sprache ist partiell so rudimentär wie die Ränder der Matrix und der schwarzen Wüste des Metaversums. Die hieraus entstehenden Leerstellen bieten Raum für religiöse Implikationen, die durch die Simulation allein nicht aufgefüllt werden können. Stattdessen reflektiert die virtuelle Realität das erträumte Leben der Protagonisten, das sie in der Wirklichkeit in dieser Form nicht ausleben können. Wirklichkeit ist demnach trotz allem immer noch ein Konstrukt, das auf konventionalisierter Wahrnehmung basiert, auch wenn sich Wissensstrukturen in einer zunehmend virtuellen und digitalisierten Welt verändern. Snow Crash weist durch die Aufarbeitung der Glossolalie zudem starke Bezüge zur Linguistik beziehungsweise Computerlinguistik auf und verknüpft Zeichen und Bezeichnetes mit religiösen Aspekten, die Viren mit Glauben engführen, indem ein Computervirus die Realität zerstört und eine eigene Hyperrealität erzeugt. Das virulente Zeitalter von Baudrillard wird in den behandelten Texten wörtlich ausgelegt: Religion wird durch Technologie und Simulation ersetzt, indem die göttliche Leerstelle zu einer technischen Simulation umgedeutet wird. Medien übernehmen die Aufgabe, die Realität der Menschen zu formen. Die Wahrnehmung der Realität wird überlagert von der Simulation, was der postmodernen Gesellschaft von Baudrillard entspricht: „Das organisierende Prinzip dieser fortgeschrittenen Informationsgesellschaft“ stellen neue Kommunikations- und Medientechnologien dar, „welche die Ära der Simulation und das Zeitalter der Postmoderne hervorgebracht haben.“5 Doch während Baudrillards Theorie der Simulation

4

Vgl. William Gibson: Neuromancer. München: Heyne 1991. S. 18.

5

Gözen: Science Fiction Cyberpunk, S. 272.

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abstrakt gehalten ist, schafft es der Cyberpunk, Welten zu entwickeln, in denen seine Beschreibungen in virtuellen Räumen und künstlichen Persönlichkeiten erfahrbar werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich auch in diesen beiden Fallstudien die Darstellung der Simulation schon verändert hat und differenzierte Betrachtungen zulässt: Während der Cyberspace in Neuromancer nur bestimmten Personen vorbehalten ist und weniger dem Vergnügen dient, ist in Snow Crash die virtuelle Welt zwar auch nur für bestimmte Personengruppen zugänglich, jedoch dient sie hier dem Gros der Besucher als Erlebniswelt, in der man sich mit anderen Menschen in Form von Avataren trifft. Es werden dort zwar auch Geschäfte abgewickelt, aber dies steht nicht so offensichtlich im Vordergrund wie in Neuromancer, wo der Cyberspace primär von Hackern bevölkert wird. Das Metaversum ist tiefer im Alltag verankert, eine Involvierung der Nutzer nimmt zu. Diese Beobachtung setzt sich, wie im nachfolgenden Kapitel anhand der Analyse der beiden Filme Matrix und eXistenZ dargelegt wird, weiter fort. Die Simulationen bestimmen den in der Literatur dargestellten Alltag immer mehr, ein bewusster Wechsel zwischen Virtualität und Realität wird dort aber zunehmend erschwert. Doch so allumfassend die Simulation auf den ersten Blick erscheint, ist es den Nutzern immer noch eindeutig möglich, zwischen Virtualität und Realität zu unterscheiden. Das ändert sich in den filmischen Darstellungen der 1990er Jahre signifikant. Bei den beiden ausgewählten Fallstudien nehmen sich die Protagonisten über die Simulation, die sie betrifft, ebenfalls kaum noch als solche wahr. Dies verändert gleichzeitig die Sinneseindrücke ihrer Umwelt.

Die Simulation in der Simulation im Film

Speziell in den 1990er Jahren befassten sich verschiedene Filme, die unter anderem auf der Basis des Cyberpunkgenres und dessen literarischen Ausarbeitungen entstanden, mit virtuellen Welten und den Fragen, die deren Existenz aufwirft. Zum Ende des 20. Jahrhunderts war eine deutlich medienkritische Haltung spürbar und so schien die Zeit passend für Filme, in denen ein futuristisches Setting diese Thematik aufgreift, künstlerisch verarbeitet und damit in ein neues Licht setzt. Unzählige Darstellungen virtueller Welten kamen in die Kinos, die jeweils einen anderen Aspekt ins Zentrum stellten, teilweise mit tatsächlichen virtuellen Welten, aber auch mit scheinbar realen Umgebungen, die sich am Ende dennoch als vollkommen künstlich entpuppen. Dabei werden viele Motive, die auch in der Literatur verhandelt wurden, wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Interessant ist hierbei, dass durch den Wechsel des darstellenden Mediums von Buch zu Film auch die Schriftlichkeit in die Bildlichkeit überführt wird. Die meisten dieser Filme behandeln virtuelle künstliche Welten, die zwar oftmals auf ähnlichen Vorbildern beruhen, jedoch auf verschiedene Weise und unter teilweise sehr differenzierten Blickwinkeln dargestellt werden. Am prägendsten war hierbei wohl Matrix im Jahr 1999. Mit den beiden Sequels von 2003 präsentiert die Reihe vordergründig eine Fiktion, in der die Menschheit in Stasis gehalten wird, komplett losgelöst von der tatsächlichen Welt ihrer Gegenwart. Es ist einer der ersten Filme des damaligen Mainstreamkinos, bei dem die virtuelle Realität nicht mehr nur als ein Mittel zum Zweck eingesetzt wurde, sondern gleichzeitig zum handlungstragenden Element ausgearbeitet war, denn real ist hier vermutlich nicht mehr viel, wenn überhaupt, denn die dargestellte Simulation scheint letztlich allumfassend zu sein und damit auch die Menschen als solche zu betreffen. Einen anderen Blickwinkel auf eine nicht näher definierte Zukunft entwirft David Cronenbergs eXistenZ (1999). Die Protagonisten verlieren hier nach und nach den Bezug zu ihrer Umgebung, die sich immer wieder als erneute Schachtelung virtueller Welten zeigt. Anders als bei Matrix steht hier der Spielcharakter im Vorder-

196 | Simulation und virtuelle Welten

grund, doch am Ende ist kein nachvollziehbares Spielprinzip hinter der Simulation eXistenZ erkennbar. Vielmehr treibt das Spiel in dieser Version die Nutzer dazu, bestimmte Dinge zu tun, ohne dass sofort ersichtlich wird, was das eigentliche Ziel des Spiels ist. Aufgrund dieser Gegensätzlichkeit soll neben Matrix auch eXistenZ im Zuge dieser Arbeit genauer untersucht und analysiert werden. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf der künstlerischen Be- und Verarbeitung der Simulation als virtueller Welt. In den folgenden Kapiteln soll dies anhand der beiden Filmbeispiele dargestellt werden, die diese Themenkomplexe auf unterschiedliche Art behandeln und damit neue Blickweisen auf die Ideen der Medientheorien Ende der 1990er Jahre ermöglichen, was gerade in Bezug auf Theorie und Technik verschiedene Interpretationen zulässt. Außerdem wird der Frage nachgegangen, ob diese künstlerische Darstellung sich selbst als solche reflektiert. Denn was 1999 noch wie eine Ermöglichungsfantasie zur Jahrtausendwende wirkte, erweist sich in der Rückschau als geradezu naive Sichtweise, mit der viele Zukunftsvorstellungen konfrontiert sind, die vom technischen Fortschritt der Gegenwart überholt wurden. Beide Filme sind dabei stellvertretend für das medial erweiterte Zeitalter der 1990er Jahre, dienen als Erweiterung und Ergänzung der bereits behandelten Literatur und sind damit im erweiterten Sinne ebenfalls dem Genre des Cyberpunks zuzuordnen. Es wird ersichtlich, wie doppeldeutig speziell filmische Umsetzungen der Ideen dieses ursprünglich literarischen Genres sind. Einerseits sind sie zum Zeitpunkt des Erscheinens oftmals eine hochaktuelle Momentaufnahme, da Film wie auch Literatur die Möglichkeit haben, eigene Theorien innerhalb ihres jeweiligen Mediums auszuloten. Gleichzeitig überholt auch hier die reale technologische Entwicklung die der fiktiven Welten häufig sehr zeitnah. Ausgewählt wurden die beiden behandelten Filme wegen der verschiedenen Herangehensweisen der Darstellung der Simulation in virtuellen Welten. Simulationen und Simulakra werden hier aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Ebenso stellt sich bei ihnen immer wieder die Frage nach der Kunst und inwiefern diese künstlichen Welten durch die Deformierung der Realität dazu beitragen, wie die Umwelt wahrgenommen wird: Führen sie zur Verblendung oder erweitern sie die Wahrnehmung und lassen einen umfassenderen Blick zu? Ein gewisser Kulturpessimismus lässt sich in diesem Zusammenhang nicht leugnen, denn den meisten hier behandelten Themenkomplexen liegt eine pessimistische Stimmung zugrunde, die sich ähnlich strukturiert bei Jean Baudrillard und Paul Virilio wiederfindet. Aus der Utopie leitet sich in diesem Fall fast immer eine Dystopie ab, ein Was-wäre-wenn dessen, was passieren könnte, wenn Simulationen und Simulakra unkontrolliert Einzug in den gelebten Alltag halten.

Die Simulation in der Simulation im Film | 197

Doch gerade aus diesem Grund bietet Film als Medium fruchtbare Ansätze, um aufzuzeigen, wie die damalige Vorstellung von Simulakra und virtuellen Welten neu etabliert und schließlich verändert wurde. Filme als Kunst können nur eine Variante einer möglichen Form künftiger Realität(en) abbilden, was Technologie und den Blick auf selbige betrifft. Es ist ein Spiel der Möglichkeiten, das Ideen liefert, die zu genauerer Betrachtung einladen.1 Filme dieser Art sind trotz aller fiktiven Elemente Zeitdokumente der zum Entstehungszeitpunkt jeweils aktuellen Strömungen, sowohl philosophischer als auch technisch-technologischer und gesellschaftsrelevanter Natur. Dies spiegelt sich in ihrem Inhalt als auch in ihrer Machart wider: Die Filme werden zum Alternativszenario und zeigen gleichzeitig, wie sich die technologische Entwicklung in ihrer Wahrnehmung wandelt. Rückblickend demonstrieren sie außerdem, wie schwer vorhersehbar eben jene Wandlung tatsächlich ist, denn bisher ist keine dieser prognostizierten Zukunftsversionen auch nur in ähnlicher Form eingetroffen.

1

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass nicht wenige der hier behandelten Theoretiker prognostizierten, dass sich Menschen in der nahen Zukunft nur noch im virtuellen Raum begegnen werden und der reale Raum auf die unmittelbare Umgebung des Computers zusammenschrumpft, während gegenwärtig ein anderes Phänomen eingetreten ist: Mithilfe von mobilem Internet, Smartphones, Tablets und anderen Gerätschaften ist es nun möglich, von nahezu jedem Ort zu fast jedem anderen Ort eine Verbindung aufzunehmen. Auffällig ist allerdings, dass die unmittelbare Kommunikation dennoch eingeschränkter zu sein scheint: Man schweigt das reale Gegenüber an, während man über das Gerät mit anderen, abwesenden Personen kommuniziert.

Lana und Lilly Wachowski: Matrix (1999) Die schlafende Menschheit Unwissenheit ist ein Segen. Cypher1

Mit Matrix von Lana und Lilly Wachowski kam Ende der 1990er Jahre der erste Teil der gleichnamigen Trilogie in die Kinos, der zu dieser Zeit beim Publikum aufgrund seiner inhaltlichen Ambivalenz und der Darstellung virtueller Welten einen Nerv traf: Der Plot des ersten Films, der hier primär betrachtet werden soll, baut sich um den Erkenntnisweg des Protagonisten Neo auf. Dieser Computerhacker arbeitet im normalen Leben als Programmierer Thomas Anderson in einer gesichtslosen IT-Firma. In seiner Freizeit sitzt er vor seinem Computer und verschafft sich Zugang in fremde Netzwerke, bis ihn Trinity schließlich aufspürt. Sie gehört ebenso wie ihr Kollege Cypher zu Morpheus’ Gefolgsleuten, die herausgefunden haben, dass die Menschheit von Maschinen in einer Art Dämmerschlaf gehalten und ihnen ein Leben innerhalb der Matrix nur vorgegaukelt wird. Das Ziel der Rebellen um Morpheus ist es, die Menschen aus der Matrix zu befreien und ihnen ihre Mündigkeit zurückzugeben. Dabei müssen sie sich mit Gegnern wie Agent Smith, einer Art Schutzprogramm des Systems, auseinandersetzen, der die Zerstörung der Matrix zu verhindern sucht. Auch filmtechnisch setzte Matrix 1999 Maßstäbe, was sowohl Ästhetik als auch Tricktechnik der folgenden Jahre stark beeinflusste und 2003 schließlich zwei Fortsetzungen nach sich zog.2 In Matrix Reloaded und Matrix Revolutions

1

Lana und Lilly Wachowski: Matrix. USA 1999.

2

Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz des Bullet-Time-Effekts, für den eine Szene gleichzeitig mit 122 Kameras gefilmt wurde und der eine bis dahin unbekannte Zeitlupenauflösung ermöglicht hat, die zu völlig neuartig inszenierten Bildaufbauten und damit in eine neue Ära der filmischen Gestaltung geführt hat. Vgl. Lily Gramatikov, Thomas

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wird der Kampf gegen die Maschinen fortgeführt und viele neue Figuren innerhalb der Matrix – bevorzugt künstlich-digitaler Natur wie der Merowinger und dessen Gattin Persephone – werden eingeführt.3 Zum Ende des dritten Teils wird das System der Matrix rebootet, da Neo angeblich als gewollte Anomalie programmiert war, die das störende Element innerhalb der Matrix verkörpert. Sein Handeln basiert in dieser Betrachtungsweise auf verschiedenen Algorithmen und greift die Frage auf, ob Neo nicht selbst zur Simulation wird, die vorgibt, etwas anderes zu sein, und sich dessen selbst nicht mehr bewusst ist, da ihre Programmierung diese Art der Selbsterkenntnis ausschließt. Gleiches gilt für die Rebellen um Morpheus. Im ersten Teil der Trilogie spielt dieser Aspekt allerdings noch keine Rolle und war handlungsimmanent vermutlich nicht unbedingt vorgesehen, denn das Figureninventar, das diese Interpretation erst ermöglicht, taucht in Matrix zunächst nicht auf. Erst in Matrix Reloaded erklärt der Architekt, selbst ernannter Vater der Matrix und virtuelles Wesen, einen Neustart der Matrix als Grundvoraussetzung für einen vollständigen Systemneustart, da diese nach einer gewissen Laufzeit immer wieder fehleranfällig wird und das gesamte System instabil macht. Doch auch der Reboot am Ende von Matrix Revolutions ändert scheinbar nichts, das unmittelbar erkenn- und wahrnehmbar wäre, denn es herrschen am Ende wieder dieselben Voraussetzungen wie zu Beginn: Die Menschen (oder was auch immer die dargestellten Figuren nun wirklich sind) befinden sich erneut beziehungsweise immer noch im Dämmerschlaf, allerdings in einer neuen Version der Matrix, ein Teil desselben im Anderen und doch nicht identisch. Die beiden Fortsetzungen deuten den ersten Teil damit grundlegend um, was dessen Umgang mit der Simuliertheit betrifft Phantasmagorische Bilderwelten verweisen in der Trilogie auf „philosophische, religiöse, mythologische Traditionen, die weltweit Assoziationen wecken und verstanden werden[:] Buddhismus, christlich-jüdische Traditionen, asiatische Kampfkunst [und] sinnstiftende Schöpfungsmythen […] verdichten sich zu einem filmischen Rausch“ und fungieren als eine Art filmischer Rorschachtest, in dem jeder Zuschauer sein eigenes Simulakrum des Films sehen kann.4 Unterschiedlichste Medientheorien wie Baudrillards Agonie des Realen werden vor allem im

Zimmermann: „Die Matrix“ und die Frage: Kann es doch ein richtiges Leben im Falschen geben? In: Parfen Laszig (Hg.): Blade Runner, Matrix und Avatare. Psychoanalytische Betrachtungen virtueller Wesen und Welten im Film. Berlin: Springer 2013. S. 285-302, hier S. 290. 3

Vgl. Lana und Lilly Wachowski: Matrix Reloaded. USA 2003. Vgl. ebenso Lana und Lilly Wachowski: Matrix Revolutions. USA 2003.

4

Gramatikov, Zimmermann: „Die Matrix“ und die Frage, S. 291.

Matrix: Die schlafende Menschheit | 201

ersten Teil mit Platons Höhlengleichnis und fernöstlicher Kampfkunstästhetik verbunden. Am Ende ist der Held aber doch nur wieder auf der Suche nach sich selbst und spiegelt damit die klassische Heldenreise.5 Das Jahr 1999 wird im Erscheinungsjahr des ersten Films der späteren Matrix-Trilogie dennoch verfremdet dargestellt. Das lässt diesen Film als Chimäre erscheinen, die die damalige Gegenwart in einer abstrahierten Version nachbaut, die wiederum außerhalb der Matrixsimulation vorgibt, das Jahr 2199 zu sein. Die Fortsetzungen spielen im selben Setting und berufen sich in vielen Details auf den ersten Teil. Die Filme wurden als Multimediaspektakel inszeniert, das unter anderem auch die animierte Kurzfilmreihe AniMatrix (2003) enthält. Diese versucht, die handlungsimmanenten Lücken in den Filmen zu füllen, indem sie die Vorgeschichte der Unterdrückung der Maschinen erzählt und Systemfehler sowie verschiedene Aspekte der Matrix erörtert, die einen anderen Blick auf den Mythos dieses speziellen Simulakrums erlauben. Einer dieser Kurzfilme, Final Flight of the Osiris (2003), schaffte hierbei sogar als Vorfilm bei thematisch ähnlich gelagerten Filmen den Weg ins Kino. Über fünfzehn Jahre nach seinem Erscheinen ist das Alter dieses Kurzfilms inzwischen deutlich erkennbar, dabei waren die Trickeffekte der Animation auf dem Stand der damals aktuellen Technik. Dadurch wirkte der Film 2003 noch ebenso fortschrittlich wie realistisch, wohingegen die Optik nun dem entspricht, was gegenwärtige reguläre Computerspiele als Ingame-Grafik aufweisen. Gleichzeitig mit der AniMatrix und den beiden Fortsetzungsfilmen Matrix Reloaded und Matrix Revolutions kamen PC-Spiele auf den Markt, durch welche die Matrix plötzlich für alle digital begehbar wurde. Die Rezeption war nun auf vielerlei Kanälen möglich: Die Filmtrailer konnten im Internet begutachtet und ständig angesehen werden. Vergleichbar ist dies mit dem „Schauer des Wiedererkennens“, der aufkommt, wenn beispielsweise im Museum ein bekanntes Gemälde endlich im Original betrachtet werden kann.6 Seltsamerweise hat die ständige Verfügbarkeit des Trailers also nicht zu einem Verlust der Aura geführt, sondern die Wirkungsweise des Films noch verstärkt.7 Matrix tritt hierbei sowohl als Kunst-

5

Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt am Main: Insel 1999.

6

Veit Etzold: Matrix. Die Ambivalenz des Realen. Die Inszenierung von Wirklichkeit und

S. 13f. Illusion im erkenntnistheoretischen und kunsthistorischen Kontext. Dissertation Universität Oldenburg 2005. Online einsehbar unter http://oops.uni-oldenburg.de/68/ (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). S. 38. 7

Vgl. Michael Althen: Neo Christ Superstar. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Mai 2003, S. 30. Vgl. zum Schauer des Wiedererkennens: Aristoteles: Poetik. Hg. v.

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(werk) wie auch als Experiment in Erscheinung, was das Wesen der Simulation unter einem ganz bestimmten Blickwinkel zu beleuchten versuchten. Indem nicht nur ein Film die Idee aufgreift, sondern eine ganze Maschinerie an Erweiterungen in Gang gesetzt wurde, die über nahezu alle Medien erfahrbar geworden sind, ist Matrix folglich ein Gesamtkonzept der Kunst, das sich über Filme, Spiele, Literatur und Comics darstellt und das in seiner Ästhetik und Weltanschauung auch selbst in künstlerischen Verarbeitungen immer wieder aufgegriffen wurde. Laut Arthur Schopenhauer ist die „erste, einfachste, stets vorhandene Äußerung des Verstandes […] die Anschauung der wirklichen Welt“, denn genau das ist die Erkenntnis „der Ursache aus der Wirkung: daher ist alle Anschauung intellektual.“8 Wirklichkeit ist somit gleichzeitig die Wirkung, die Realität auf die Wahrnehmung ausübt, denn Wirklichkeit ist „der Inbegriff alles Materiellen“ und das »worauf sie wirkt, ist allemal wieder Materie: ihr ganzes Sein und Wesen besteht nur in der gesetzmäßigen Veränderung, die ein Teil derselben im Anderen hervorbringt, ist folglich gänzlich relativ, nach einer nur innerhalb ihrer Grenzen geltenden Relation, also eben wie die Zeit, eben wie der Raum.«9

Schopenhauer stellt in diesem Zusammenhang quasi einen Zirkelschluss dar, denn genauso, wie diese Aussage das Ende der Matrix beschreibt, spiegeln jene Aspekte auch die Blickweise von Cypher wider, auf den später in anderem Zusammenhang detaillierter eingegangen werden soll, mit Reactio als Reactio. Der Architekt hingegen sagt von sich selbst, er habe die Matrix bewusst so programmiert, wie sie Neo dargestellt wird, denn Neo als gewollte Anomalie bestehe nur aus dem Sein und Wesen der gesetzmäßigen Veränderung. Das führt zu einem halbdurchlässigen Wechselbild des Simulakrums: Wo keine perfekte Simulation möglich ist, muss eine Art Ausweg konzipiert und integriert werden für die, die nicht darin existieren können, um sie für die anderen weiter bestehen zu lassen. Doch das Rätsel, ob und wie viele Matrizen (ineinander verschachtelt) möglicherweise

Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1996. S. 85f. Vgl. ebenso Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. I/2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 471-508. 8

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Band 1. Hg. v. Wolfgang

9

Ebd., S. 38.

von Löhneysen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. S. 41.

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neben der einen und bekannten Matrix existieren, wird nicht eindeutig beantwortet.10 Ebenso bleibt am Ende von Matrix Revolutions offen, ob der abschließende Systemneustart der Matrix das bereits etablierte Figureninventar des Architekten und des Orakels, das Neo auf seinen Weg führt und dem Architekten als Mutter der Matrix ebenbürtig ist, wieder in Erscheinung tritt. Auch Agent Smith, der ursprünglich als immanentes Schutzprogramm der Matrix vorgestellt wurde, erfährt innerhalb der Trilogie eine Bedeutungsverschiebung, durch die er vom Beschützer der Matrix zu ihrem Zerstörungsmechanismus wird. Von Beginn an als Antagonist Neos charakterisiert, mutiert er im weiteren Verlauf zu einer Art Virus, das das System aus dem Inneren heraus zerfrisst, indem er sich unzählige Male kopiert und schließlich die gesamte Matrix bevölkert. Diese kann er schließlich sogar verlassen, was als weiterer Hinweis dafür zu deuten ist, dass auch die Welt außerhalb der Matrix nur eine weitere Simulation innerhalb des Systems darstellt. Erst durch den Systemneustart, den Neo in seiner Rolle als geplante Anomalie der Matrix in Gang setzen kann, wird auch er wieder in seine Schranken verwiesen. Was ist die Matrix?

Der Film ist eine popkulturelle Auseinandersetzung, die philosophische Gedankenspiele von Schopenhauer über René Descartes mit Paul Virilio, Jean Baudrillard und Immanuel Kant zu verweben versucht. Zusätzlich werden Mittel der Antiaufklärung eingesetzt, in denen wiederum die Liebe den Tod besiegt und der Protagonist Neo durch seinen Erkenntnisgewinn zum Erlöser stilisiert wird. 11 Auch hier wird mit Dichotomien zwischen außen/innen, unbekannt/bekannt, aber auch Realität/Virtualität gearbeitet, die sich nicht mehr sauber voneinander trennen lassen.12 Erschafft die Wirklichkeit das Virtuelle oder beeinflusst die Virtuali-

10 Da die Fortsetzungen im Rahmen dieser Arbeit nur eine geringfügige Rolle spielen, wird primär der erste Teil der Filmtrilogie behandelt, jedoch mit kurzen Exkursen zu den Fortsetzungen, sofern eine Relevanz zur behandelten Thematik besteht. 11 Vgl. Etzold: Matrix, S. 12. 12 Ein signifikantes Beispiel aus der Matrix-Trilogie ist Agent Smith, der erst als reines Computerprogramm auftritt, zunehmend emotionaler agiert und sich seiner eigenen Künstlichkeit bewusst wird, aber dennoch – zumindest anfangs – die Matrix zu schützen versucht, am Ende aber seinen eigenen Zielen, die dennoch in seiner Programmierung zu liegen scheint, nachgeht – auch außerhalb der Matrix, indem er seinen Geist in den Körper einer der Rebellen überträgt. Auch das ist als einer der vielen Hinweise darauf zu werten, dass die Matrix nicht real, sondern alles virtuell ist. Vgl. insbesondere Lana

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tät die Realität? Laut Baudrillard und dem Situationisten Guy Debord „führt das virtuelle Spektakel dem Zuschauer den Teil seines Lebens vor, den es ihm zuvor geraubt hat.“13 In Matrix wird das bis zum Extrem ausgespielt, denn hier ist „keine Steigerung mehr möglich: das System hat dem Menschen sein gesamtes reales Leben geraubt und führt es ihm ständig als Simulationsspektakel vor.“14 Die Ideen und Gedanken innerhalb dieser Filmwelt sind keinesfalls neu, doch der Film wurde in einer Zeit produziert, in der er durch den Jahrtausendwechsel, der Unsicherheit in Bezug auf Technik und deren Weiterentwicklung sowie der Etablierung des Internets und damit gekoppelte virtuelle Realitäten viele Zuschauer angesprochen hat. Die Geschichte um Neo verknüpft eklektisch Medientheorien, popkulturelle Anspielungen und Mythen, geschwängert mit religiösen Bezügen und dem Fragenkomplex, wie echt ein Leben innerhalb einer Simulation sein kann. Oder anders formuliert: Muss wirklich auf die Künstlichkeit der Simulation hingewiesen werden, wenn ein Großteil sie als Wirklichkeit kennt? Verarbeitet werden hierbei Anspielungen und Interpretationen aus verschiedenen kulturellen wie literarisch-filmischen Bezugssystemen, die in den kulturellen Kanon eingeflossen sind, der die Matrix begründet. Aufzuzählen sind hier vor allem der japanische Anime Ghost in a Shell (1995), nicht weniger prominent werden auch Ideen aus William Gibsons Neuromancer sowie Neal Stephensons Snow Crash verhandelt.15 Die menschliche Angst des Kontrollverlusts wird mit Ermöglichungsfantasien eines Was-wäre-wenn und theoretischen Überlegungen verknüpft. Die daraus resultierende Zusammenstellung verbinden die Wachowski-Geschwister mit dem Transhumanismus, der den Gedanken der Überwindung des Menschseins hin zum Maschinensein postuliert. Laut der Naturwissenschaftshistorikerin und Frauenforscherin Donna Haraway haben Maschinen im späten 20. Jahrhundert die „Differenz von natürlich und künstlich, Körper und Geist, selbstgelenkter und außengesteuerter Entwicklung sowie viele andere Unterscheidungen, die Organismen von Maschinen zu trennen vermochten, höchst zweideutig werden lassen.“16 Sie

und Lilly Wachowski: Matrix Reloaded. USA 2003. Vgl. außerdem Lana und Lilly Wachowski: Matrix Revolutions. USA 2003. 13 Etzold: Matrix, S. 14. Vgl. ebenso Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Tiamat 1996. 14 Ebd., S. 14. 15 Vgl. Gramatikov, Zimmermann: „Die Matrix“ und die Frage, S. 290. 16 Donna Haraway: Ein Manifest für Cyborgs. Feminismus im Streit mit den Technowissenschaften. In: Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt: Campus 1995. S. 33-72, hier S. 37.

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schlussfolgert daraus, dass die „Maschinen […] auf verwirrende Art quicklebendig [erscheinen und der Mensch] selbst dagegen beängstigend träge.“ 17 Genau dies wird in Matrix thematisiert: Um mithalten zu können, muss der Mensch prothetisiert werden, da er sonst keinen Zutritt zum System erhält und diesen auch nicht anders einfordern kann.18 Gleichzeitig wird durch dieses Vorgehen der Maschinen in den Zuchtfarmen die conditio humana „programmtechnisch auf ein Minimum reduziert – und der Rest negiert.“19 Inwiefern sind folglich Simulakra an Maschinen gekoppelt und wie verändern sie in diesem Fall den Blickwinkel auf die Umgebung und die Alltagswirklichkeit? Die Realität in der hier dargestellten posthumanen Gesellschaft wird durch eine ebenso künstliche wie virtuelle Welt von Maschinen vorgegeben. Dadurch wird alles zum Spektakel und die Matrix selbst ist die weitergedachte Version dieses Systems.20 Gleichzeitig stellen die Programme innerhalb der Matrix und damit der Simulation die Frage nach der Natur des Menschen und dessen Urzustand. Die Normrealität der Matrix hingegen ist sehr konformistisch ausgerichtet. Möglicherweise gehört eine gewisse Form des Hedonismus dazu, um die Welt zu hinterfragen. Auf der anderen Seite kann genau dieser Hedonismus jene Gedankengänge verhindern. Die beschriebene Art der Wahrnehmung scheint zur Ambivalenz zu gehören, die die Matrix als Simulakrum und als Simulation darstellt. Der Realität jedenfalls ist die Körperlichkeit exklusiv, da in der Virtualität alle wirklichen Berührungen nur simuliert werden können. Dieser Zusammenhang lässt sich zudem mit Gewalt engführen. Jegliche Gewalt innerhalb der Matrix findet nur virtuell statt und dennoch hat sie Einfluss auf die angebliche Realität – wenn der menschliche Geist innerhalb der Matrix vernichtet wird, stirbt auch außerhalb das, was für die fleischliche Hülle gehalten wird. Baudrillard äußert sich in diesem Kontext zu Terrorismus, denn für ihn ist ein Terrorist in diesem Fall jemand, der Signifikanten wieder auf Signifikate zurückführen will, was wiederum bedeutet, dass innerhalb des symbolischen Tausches mit dem Tod das Zeichen auf ein Original abgeleitet werden soll, das im Original nicht mehr vorhanden ist. Stirbt der Mensch also in der Matrix, kann der Geist (das Bezeichnende) nicht mehr auf den Körper (das Bezeichnete) zurückgeführt werden und verschwindet innerhalb des

17 Ebd., S. 37. 18 Ohne Prothesen wäre die Matrix für die Menschen nicht sichtbar und begehbar, dann würden sie nur schlafend in ihren Behältnissen liegen. Vgl. Paul Virilio: Die Sehmaschine. In: Paul Virilio: Die Sehmaschine. Berlin: Merve 1989. S. 133-172. 19 Vgl. Gramatikov, Zimmermann: „Die Matrix“ und die Frage, S. 292. 20 Zur Beschreibung des Spektakels vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Tiamat 1996.

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virtuellen Systems: Das Zeichen verweist auf nichts mehr und löst sich auf. Terroristen und Rebellen sind in diesem Zusammenhang gleichzustellen, denn die Rebellen in der Matrix haben dasselbe Ziel: Sie wollen die Matrix zerstören, um wieder komplett in die Realität zurückkehren zu können, womit die Zeichen der scheinbaren Realität wieder auf etwas verweisen würden. Das System, die Matrix selbst, ist in den Augen der Rebellen der Gegner. Das aber kann innerhalb der Matrix als gewöhnlicher Bewohner mangels Erkenntnisfähigkeit nicht wahrgenommen werden. Die Matrix stellt ein Kontrollorgan dar, eine computergenerierte Traumwelt, die vorgibt, den Menschen als lebende Batterie zu nutzen: „Die Matrix ist ein System [und d]ieses System ist unser Feind. Was aber siehst du, wenn du dich innerhalb des Systems bewegst?“, fragt der Rebellenführer Morpheus und bringt damit die Krux des Simulakrums auf den Punkt, denn innerhalb des Systems ist zu diesem Zeitpunkt keine Außenansicht möglich.21 Die Rebellen wollen Menschen befreien, die von ihrer Gefangenschaft nicht einmal ahnen, denn „die meisten [sind] noch nicht so weit, abgekoppelt zu werden. Viele dieser Menschen sind so angepasst und vom System abhängig, dass sie alles dafür tun, um es zu schützen.“22 Dass er selbst ein Teil dieses Systems ist, erkennt Morpheus nicht. Doch was will der Mensch in der Matrix innerhalb der Filmrealität sehen? Laut des Architekten hält er nur für wahr, was er als negativ wahrnimmt, denn eine deutlich positivere Version der Matrixrealität wurde von ihm angeblich nicht angenommen.23 Subjektive Wahrnehmung nach Schopenhauer wird in der Matrix durch die „perfide Illusionsmaschinerie der Maschinen, die [dem Menschen] den Subjektstatus nicht gönnt“, externalisiert.24 Die Filmhandlung wird zur unterhaltenden Illusion, die aufgrund ihrer inhaltlichen Ambivalenz negativ konnotiert ist. Dies offenbart die Doppeldeutigkeit des Mediums, denn zum einen zeigt die Matrix Simulakra, während gleichzeitig davor gewarnt wird, und der Film als solcher wiederum stellt ein Simulakrum dar, das sich weiterer Simulakra bedient: »[Der Film] arbeitet selbst als baudrillardsches Simulakrum [… als] bewusste [und tricktechnisch neuartige] Inszenierung der Illusion (Matrix) innerhalb der Illusion (Film), in seiner Vermarktung als Simulakrum und zudem als Massenmedium […] als medialer Vorbote politischer Ereignisse in der Realität.«25

21 Matrix, Minute 40ff. 22 Ebd., Minute 53. 23 Vgl. unter anderem Matrix, Minute 88 und Matrix Reloaded, Minute 108f. 24 Etzold: Matrix, S. 98. 25 Ebd., S. 13.

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Matrix ist eine „radikale Erweiterung der baudrillardschen Zeichentheorie, [ein] multimediale[s] Produkt, das philosophische Debatten auslöst“ und gleichzeitig ein Medium, das vor sich selbst zu warnen versucht.26 Der Film als Medium ist folglich tatsächlich (s)eine eigene Illusion, die wiederum eine Illusion verhandelt und damit zum Simulakrum wird.27 Die Menschen innerhalb der Matrixwelt agieren scheinbar frei, haben einen eigenen Willen und sind vermeintlich in ihrem Verhalten nicht vollständig fremdgesteuert. Außerdem wäre es selbst in dem hier behandelten Bereich unwahrscheinlich, dass es Maschinen möglich wäre, eine tatsächliche Vergangenheit in dieser Form geistig zu reanimieren, da dies den eigenen Willen der Menschen innerhalb der Matrix unterbinden würde. Aus diesem Grund handelt es sich bei der dargestellten Version der dortigen virtuellen Wirklichkeit nur um eine Variante des realen Zeitalters. Fallen künstliche Welten also zeitlich aus der Gegenwart und zerstören damit gleichzeitig die Geschichte beziehungsweise historische Hintergründe? Nicht die Zeit innerhalb der Matrix ist gemeint, sondern die reale Zeit in der Welt außerhalb, die vergangen ist, in der Matrix aber weder dargestellt noch berücksichtigt wird. Das führt zu einer möglichen Diskrepanz zwischen historischer Zeit innerhalb und außerhalb der Matrix. Im Prinzip ist sie nur eine Geschichte, die dem Betrachter vorgegaukelt wird, denn es wird nie ausgeführt, ob sich alles innerhalb der dargestellten Filmrealität tatsächlich in dieser Form zugetragen hat und ob die simulierte Vergangenheit der möglicherweise nur vorgetäuschten echten Vergangenheit entspricht. Eine künstliche Vergangenheit führt zu einer von Künstlichkeit und Simulakra durchsetzten Gegenwart, die in gewisser Weise sogar die Kunst ersetzt oder sie zumindest in anderer Form darstellen kann. Reale Zeit hat in der Simulation in diesem Zusammenhang kaum noch Bedeutung, denn sie kann nicht gemessen werden, ohne einen Bezug zur jeweils dargestellten

26 Ebd., S. 220. 27 Baudrillard selbst stand Matrix allerdings kritisch gegenüber und sah sich im ersten Film falsch verstanden. Er lehnte eine Mitarbeit an den beiden Fortsetzungen ab. Zu viel Augenmerk werde auf Platons Höhlengleichnis gelegt. Zudem hielt er vieles für ein Missverständnis seiner Betrachtung der Realität: „Im Grunde handelt es sich um das gleiche Mißverständnis [sic!] wie bei den Simulationskünstlern in New York in den 80er Jahren. Diese Leute halten die Hypothese des Virtuellen für einen tatsächlichen Zustand und verwandeln sie in ein sichtbares Phantasma. Aber die Besonderheit dieses Universums besteht gerade darin, daß [sic!] man die Kategorien des Realen nicht mehr benutzen kann, wenn man darüber sprechen will.“ Vgl. Aude Lancelin: Baudrillard entschlüsselt die „Matrix“. Zkm.de (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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Wirklichkeit herzustellen oder vielmehr zu verlieren. 28 Die Darstellung der Zeit und der Vergänglichkeit ist ebenso in der Simulation verhaftet und bestimmt, wie sie an die Simulation gebunden ist und dadurch auch nach ihren Regeln abläuft und wahrgenommen wird – vergleichbar mit der Empfindung von Zeit im Traum.29 Die Zeit als Zeichen für Vergänglichkeit verweist auf kein Bezeichnetes mehr. Die Gegenwart der Welt außerhalb der Matrix ist um etwa 2199 angesiedelt, während die erlebte Zeit innerhalb der Matrix um etwa 1999 dargestellt wird. Die Menschheit wird auf dem (fiktiven) geistigen Stand dieses Zeitraums gehalten, während in der vorgeblich echten Welt durch die Dromologie Virilios die Revolution bereits stattgefunden hat und gescheitert ist. Der Mensch ist nicht Herrscher über die Maschinen, sondern dient – glaubt man der dargestellten Außenansicht – nur noch als ihr Energiespeicher. Das Menschlich-Fleischliche ist zweitrangig geworden, was jedoch zu Schwierigkeiten führt, denn ohne das Fleischliche ist aus dieser Perspektive auch in der Matrix nach dieser Lesart kein Existieren möglich und die Maschinen verlieren die Grundlage ihres Daseins und Fortbestehens.30 Der menschliche Erfahrungsraum wird immer geringer und schränkt sich auf die geistige Ebene in einer virtuellen Welt ein.31 Passend hierzu ist auch die Schiffsmetapher, die Virilio in Die Sehmaschine wählt und in Matrix ebenfalls auftaucht: Die Rebellen um Morpheus leben auf einem Hovercraftschiff tief unter der Erdoberfläche und befinden sich auf ständiger Flucht vor den roboterhaften Wächtern der Matrix. Das Schiff stellt „im Verhältnis zu dem, was geschieht, eine andere Kraft dar, nämlich das unerforschte Versagen des technischen Wissens, eine Poetik des

28 Wie jedoch erlebte Zeit innerhalb der Simulation im Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit eine Rolle spielt, wird nicht erörtert. 29 D’Arcy Nader stellt im Film eXistenZ die Frage, ob man in einer Simulation unendlich alt werden könne. Erwähnenswert ist im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Zeitlichkeit auch der Film Inception, denn hier vergeht die Zeit im Traum schneller als im realen Leben, weswegen sich gefühlt stundenlanges Träumen als nur minutenlanges Dösen entpuppen kann. Vgl. eXistenZ, Minute 95. Vgl. ebenso Christopher Nolan: Inception. USA 2010. 30 In der narratologischen Struktur des ersten Films dient der Mensch innerhalb der Matrix als eine Art Batterie, die das System der Maschinen am Leben erhält. Es ist widersprüchlich, dass die Maschinen als künstliche Intelligenzen immer noch auf den Menschen als Energielieferanten angewiesen sind, der ihr System erst möglich macht. 31 Vgl. Paul Virilio: Echtzeitperspektiven. In: Metropolis. Ausstellungskatalog der internationalen Kunstausstellung. Hg. v. Christos Joachimides. Stuttgart: Edition Cantz 1991. S. 59-64, hier S. 60.

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Irrlaufs, des Unerwarteten und des Schiffbruchs [...] und dicht daneben, als blinden Passagier den Wahnsinn – den inneren Schiffbruch der Vernunft, dessen utopische Symbole über Jahrhunderte hinweg das Wasser und das Fließende blieben.“32 Mittels des Schiffs ist den Rebellen die Flucht möglich, dennoch ist die Angst vor einem Schiffbruch und damit einhergehenden Versagens ihrer Mission, die Menschheit von der Unterjochung durch die Maschinen zu befreien, ihr ständiger Begleiter. Wie sich dadurch die menschliche Erfahrung innerhalb dieser Welt verändert, so verändert sich auch die Wissensvermittlung für die Eingeweihten, die zwischen den Welten leben. Statt jahrelang eine Kampfsportart zu trainieren, wird Neo an die Matrix angekoppelt und lernt dort binnen Sekunden sämtliche Bewegungsabläufe, die sich für ihn allerdings nur in der virtuellen Welt fehlerlos umsetzen lassen.33 Das Zeichen in der virtuellen Realität verfügt also über mehr Eigenschaften als das Bezeichnete, der menschliche Körper, in der Wirklichkeit. Da allerdings nicht klar ist, wie viele dieser virtuellen Realitäten innerhalb und außerhalb der Matrix vorkommen, ist nicht eindeutig feststellbar, inwiefern hier Zeichen auf etwas verweisen. Die Hyperrealität hat auch diesen Platz längst eingenommen. Codes und Zeichen

Der Matrixcode ist bereits in der ersten Einstellung des Filmes zu sehen. Die Kamera durchdringt den Code, der als Zahlen- und Zeichenkolonnen vertikal durch das Bild läuft. Sie lässt den Code hinter sich, die Perspektive wandelt sich und zeigt dem Zuschauer schließlich, wie die Matrix für die Menschen aussieht: wie die Alltagswelt Ende der späten 1990er Jahre, die nur auf den zweiten Blick von der wirklichen zu unterscheiden ist. Außerhalb der Matrix liegt die Welt nach dem Krieg der Maschinen in Schutt und Asche, die Erdoberfläche ist unbewohnbar geworden. Ein Großteil der Menschen ruht in einer Art von den Maschinen induziertem Koma ohne Bewusstsein für die Wirklichkeit. Die Erkenntnis, was die tatsächliche Realität ist, bleibt ihnen verwehrt. Nur Wenige, wenn überhaupt, erhalten die Möglichkeit, zu erwachen und damit auch zur eigenen Art der Erkenntnis zu gelangen: Die Matrix ist der sprichwörtliche Code von Baudrillard und das körperlose Sein von Virilio.34 Gleichzeitig sind starke Bezüge zu Platons Höhlen-

32 Virilio: Die Sehmaschine, S. 73. 33 Vgl. Matrix, Minute 44. 34 Diese Aussage bezieht sich primär auf den Standpunkt des ersten Films. Mit der Erweiterung um Teil 2 und Teil 3 ist es längst nicht mehr so eindeutig zuordenbar, was Simulation und was, wenn überhaupt noch vorhanden, die Realität darstellt. Inzwischen

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gleichnis zu erkennen, denn der Aufwachprozess in der Matrix und der Befreiungsprozess der Menschen in Platons Höhle vollzieht sich auf fast identische Weise. Noch schläft die Menschheit, was für Virilio eine „pathologische Starrheit als Ergebnis dieser technischen Zivilisation, eine Mutation im Sinne einer negativen Verhaltensrückbildung“ darstellt. Man wird zum „schlafend gelegten Menschen.“35 Zeugt eine Sonnenbrille sonst möglicherweise von einem verschleierten Blick, tragen sowohl ein Großteil der Rebellen als auch die Agenten innerhalb der Matrix eine Sonnenbrille und nutzen sie damit indirekt als Symbol dafür, dass sie hinter den Vorhang der Simulation geschaut und das, was sie für die Wirklichkeit halten, glauben, erkannt zu haben oder schon immer davon wussten. Sie sind aus Platons Höhle in das gleißende Sonnenlicht gestiegen, nutzen die Sonnenbrillen aber auch als Schutz ihrer Augen, um nicht von der Helligkeit geblendet zu werden. Gleichzeitig impliziert dies, dass sie nicht die vollständige Wahrheit hinter der eigentlichen Matrix erkannt haben können, denn sonst wären diese Brillen nicht mehr notwendig. Doch das Erwachen hat seinen Preis: Der sinnbildliche Aufstieg ins Licht als Erkenntnisinstrument ist hierbei mit Schmerzen verbunden, was sich später auch an Neos „Wiedergeburt“ außerhalb der Matrix zeigt. 36 Aber auch das Licht der sinnbildlichen Sonne, die bei Platon als Herrscherin über Wahrheit und Vernunft betrachtet wird, blendet, wenn man es zum ersten Mal mit eigenen Augen sieht. Neo und seine Begleiter haben dieses Licht, die scheinbare Wahrheit, gesehen. Doch wenn sie das metaphorische Sonnenlicht nicht mit bloßem Auge sehen können, wer bestimmt, dass sie zur vollkommenen Erkenntnis gelangen können? Die Frage, ob die Matrix eine Welt innerhalb einer größeren Simulation ist, wird zunächst nicht konkret beantwortet, jedoch lässt insbesondere Matrix Revolutions die Vermutung zu, dass alles, was in dieser Trilogie erzählt wird, möglicherweise nur eine mehrschichtige Simulation innerhalb eines undurchdringbaren Systems ist, dessen wirkliches Außen tatsächlich nicht mehr gezeigt wird. Es bleibt zuletzt auch offen, ob die Menschheit als Wesen aus Fleisch und Blut innerhalb dieser Erzählung überhaupt existiert oder ob es sich bei sämtlichen Figuren, die in Erscheinung treten, nicht einfach nur um Simulationen handelt, die nicht mehr unbedingt auch auf reale Personen außerhalb des eigentlichen Systems verweisen müssen. Dennoch muss bei der Einzelbetrachtung des ersten Teils davon ausgegangen werden, dass die Welt so ist, wie dort dargestellt und beschrieben: Die Matrix ist eine Simulation, die die Menschheit geistig am Leben

mehren sich die Gerüchte, dass es einen weiteren Teil geben soll – über den Inhalt und eine etwaige weitere Schachtelung der Simulation ist allerdings bislang nichts bekannt. 35 Paul Virilio: Krieg und Fernsehen. München/Wien: Fischer 1993. S. 273. 36 Vgl. Fußnote 90 auf S. 225 dieser Arbeit.

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erhält und den Körper in Stasis versetzt und die Maschinen nutzen die Menschen als Energielieferanten für ihr eigenes System des Todes. Wie die gesamte Filmreihe ist auch der Matrixcode eine eklektische Mischung vieler verschiedener Ideen: Er besteht aus vielerlei Zeichen japanischen, indischen und arabischen Ursprungs, bei denen Bekanntes mit Unbekanntem verwoben und damit stellenweise unlesbar wird, gleichzeitig wird innerhalb der Simulation kaum auf Schriftlichkeit als Zeichen verwiesen. Der Code hingegen spielt nur im Digitalen eine Rolle: Handschriftliches existiert nicht, wohl aber werden Tastaturen für Befehlseingaben genutzt, um die Matrix zu beeinflussen, Codes zu erweitern und umzuformen, um Dinge innerhalb kürzester Zeit verändern zu können. Zwar tauchen in der Matrix vereinzelt Plakate an Häuserwänden auf, aber dennoch findet Schriftlichkeit durch den Code nur außerhalb statt. Die Schrift aber „macht das Gesagte vom Geist des Autors und vom Atem des Adressaten ebenso wie von der Präsenz der besprochenen Gegenstände unabhängig.“ 37 Doch was ist ein Buch, in dem mangels Kenntnis der darin enthaltenen Zeichen nicht gelesen werden kann und dessen enthaltene Informationen nicht entschlüsselt werden können? Die Bedeutung der Zeichen und deren Sinnhaftigkeit ist unklar in einer Welt, in der Zeichen zu keinem Referenzsystem mehr gehören. Nach Hans Blumenberg ist „[z]wischen den Büchern und der Wirklichkeit [...] eine alte Feindschaft gesetzt[, bei der sich d]as Geschriebene […] an die Stelle der Wirklichkeit [schiebt], in der Funktion, sie als das endgültig […] Gesicherte überflüssig zu machen.“38 Die scheinbare Überlegenheit der Maschinen zeigt sich hier allerdings auch im Schriftlichen, was besonders in einem weiteren Kurzfilm der AniMatrix, The Second Renaissance II, Part II (2003), deutlich wird, wenn Maschine und Mensch gemeinsam einen Vertrag zur Koexistenz unterzeichnen.39 Während der Mensch zum Stift greift, erzeugt die Maschine einen unlesbaren Barcode, aus dessen Verständnis der Mensch ohne Lesegerät ausgeschlossen ist. Schriftlichkeit in der Welt der Maschinen hat eine andere Bedeutung, folgt anderen Lesegewohnheiten, die auf dem sprichwörtlichen Code basieren. Dominanz beinhaltet in diesem Fall die Exklusion jener, die diesen Code nicht entschlüsseln können. Gleichzeitig nutzt später auch das virtuelle Wesen Persephone Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) als Türöffner, um geheime Gänge innerhalb der Matrix nutzbar zu

37 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 196. 38 Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. S. 53. 39 Vgl. Mahiro Maeda: The Second Renaissance, Part II. In: AniMatrix. USA 2003. Minute 6.

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machen und damit Neo zu helfen.40 Das Buch wird hierbei zum symbolischen Schlüssel innerhalb des Simulakrums – ob es für die Menschen in der Matrix auch tatsächlich auf inhaltlicher Ebene lesbar ist, bleibt offen. Wie lesbar ist diese Welt folglich, wenn auch Zeichen, Bezeichnetes und dessen Bedeutung damit eine Verschiebung erfahren? Gegenstände verweisen hier auf zweierlei: das Offensichtliche und den übertragenen Sinn. So hat der Schlüsselmeister später Zugriff auf die Matrix, indem er verschiedene Schlüssel, Keys, herstellt, mit denen er den Code verändern, Türen entstehen und verschwinden lassen kann – sogenannte Backdoors, die es auch in realen Computerprogrammen gibt. 41 Durch diese Tricks sind in der virtuellen Welt Programme beispielsweise direkt in die Hirnstruktur ladbar. Doch wie zuverlässig ist dieses Wissen und welche Quellen nutzt es? Indirekt wird hier wieder auf die Kontrollprogramme der Matrix verwiesen, die notwendig sind, um Neo seine vorgefertigte Aufgabe erfüllen zu lassen. Dennoch können genau diese Lücken im System genutzt werden, um Kunst zu erschaffen, die Welt umzuformen und neu zu gestalten. Die Matrix selbst tritt hier ebenso als Kunst auf wie Kunst als Zeichen fortwirkt. Ein Kontrollverlust scheint dennoch unvermeidbar, denn trotz allem lassen sich die Zeichen nicht mehr klar zuordnen. Der Mensch bleibt in diesem Zusammenhang immer nur Schnittstelle zwischen den Maschinen und deren Energieerzeugung, denn „die Biomasse Mensch in den Farmen [muss] am Leben […] erhalten werden, weil sie ohne geistigen Input nicht überleben kann [und f]ür diejenigen, die den Farmen entkommen sind, wird das Interface zum geöffneten Tor, mit der die Matrix, ihre Urheber und ihre Kontrollprogramme gezielt angegriffen werden können.“42 Sie können die Simulation bewusst verwenden und für ihre eigenen Zwecke passend umformen: Der menschliche Geist fungiert hier als Mischwesen zwischen Matrix und Wirklichkeit, wenn das Wesen der Matrix erkannt wird.43 Trotzdem bleibt die Ambivalenz erhalten, die es erschwert, in der virtuellen Realität einen Bezug zur Wirklichkeit herstellen zu können. In der

40 Vgl. Matrix Reloaded, Minute 94. 41 Sogenannte Backdoors existieren bei vielen Computerprogrammen. Hintergrund der „Methodik im Zusammenhang mit Computerprogrammen war die Absicht vieler Entwickler und Systemadministratoren, im Notfall einen stets verfügbaren Zugriff zu einem System zu haben.“ Vgl. hierzu Thomas Lenhard: Datensicherheit. Technische und organisatorische Schutzmaßnahmen gegen Datenverlust und Computerkriminalität. Wiesbaden: Springer Vieweg 2017. S. 43. 42 Gramatikov, Zimmermann: „Die Matrix“ und die Frage, S. 288. 43 Vgl. ebd., S. 288.

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Theorie kann der Nutzer hier alles sein: Neo wird vom biederen Angestellten eines gesichtslosen Konzerns zu einem Superhelden mit übermenschlichen Fähigkeiten. Neos Alltag vor seiner „Erweckung“ wird als Kontrast gezeigt: Alles ist in flaschengrüngrauen Farbtönen gehalten, bieder und trist, während er als Thomas Anderson im Büro seines Chefs sitzt und sich für sein wiederholtes Zuspätkommen rechtfertigen muss. Gleichzeitig verrichten Fensterputzer ihre Arbeit, beobachten das, was im Büro stattfindet, von außen, während der Zuschauer des Films Matrix die Fensterputzer innerhalb der dargestellten Szenen beobachtet. Szenen wie diese, bei denen der Status, wer wen beobachtet, unklar ist, gibt es in Matrix zuhauf. Das Verhältnis von Beobachtern zu Beobachteten ist hierbei nicht vollständig aufgeschlüsselt, denn es finden keine Zuteilungen der Rollen statt; ebenso undurchschaubar bleibt, welche Rolle die Funktion des Beobachters innerhalb eines Simulakrums spielt und inwieweit sich diese Betrachtung mit Signifikant und Signifikat verrechnen lässt.44 Diese Beobachtungssequenzen werden fortgeführt, als Neo schließlich im Verhörraum der Agenten sitzt und zum ersten Mal dem Agentenprogramm Smith begegnet. Auch hier findet eine bildliche Schichtung statt. Erst wird Neo vom Nebenraum aus gezeigt, dargestellt über Monitore, die ihn beobachten und alles aufzeichnen, möglicherweise sogar dieselben Monitore, die in den Fortsetzungen beim scheinbar alles überblickenden Architekten ebenfalls auftauchen. Hier wird Umwelt gezeigt beziehungsweise das, was innerhalb der Simulation als Umwelt wahrgenommen und dargestellt werden soll. Gleichzeitig wird sie hier erstmals als das gezeigt, was die Matrix eigentlich ist, nämlich ein rein digitales Gebilde.45 Neo agiert allerdings noch als unwissender Thomas Anderson, der die Matrix noch nicht vollständig erfasst hat, und dennoch duplizieren ihn bereits hier die Bildschirme, denn innerhalb der Matrix ist kein Original möglich, sondern nur ein unendlich vervielfältigbares digitales Restselbstbild.

44 Vgl. zur Kybernetik zweiter Ordnung und der Rolle des Beobachters: Heinz von Foerster: Cybernetics of Cybernetics, The Control of Control and the Communication of Communication – Original edition prepared by the students enrolled in the ‚Cybernetics of Cybernetics‘, a course during the Fall Semester 1973 through the Spring Semester of 1974 at the University of Illinois, Urbana, Illinois. Minneapolis: Carl Auer 1995. 45 Vgl. Matrix, Minute 16. Vgl. außerdem sämtliche Gesprächsszenen zwischen dem Architekten und Neo in Matrix Reloaded.

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Realität und Simulation in der Matrix

Ein zentrales Thema des ersten Films ist die Frage, was Realität ausmacht. Immer wieder tauchen Anspielungen auf, die auf verschiedene Theorien hinweisen. Ein direkter Bezug zu Baudrillards Realitätsbegriff wird hergestellt, als Neo in der Matrix-Wirklichkeit zu Beginn einem Kleinkriminellen Datensätze verkauft. Versteckt in einem Regal in seiner Wohnung liegt eine Ausgabe von Baudrillards Simulacra and Simulation (1981), eine englischsprachige Übersetzung, die mit Agonie des Realen (1978) in großen Teilen identisch ist, in der er die Datenträger aufbewahrt. „Du bist mein Erlöser“, sagt der Besucher Choi, als ihm die Ware aushändigt wird. „Du existierst gar nicht“, ergänzt er, als Anderson ihn darauf aufmerksam macht, dass er nicht in Verbindung mit ihm gebracht werden möchte. 46 Dass Anderson (als Figur beziehungsweise Neos Avatar innerhalb der Matrix) nicht existiert, stimmt in diesem Kontext sogar, denn er ist, wie alle anderen in der Matrix, nur ein körperloser Geist. Anderson zögert dennoch und fragt zurück: „Kennst du das Gefühl, wenn du nicht weißt, ob du wach bist oder noch träumst?“47 Schon in dieser Szene offenbart sich die wenig überraschende Kernfrage der Geschichte: Was ist real und woran kann die Realität in all dieser Künstlichkeit überhaupt erkannt werden? Gleichzeitig wird dieser Kontrollverlust über die Realität wie auch bei Stephensons Snow Crash und Gibsons Neuromancer mit Drogenmissbrauch assoziiert. Matrix verweist immer wieder auf die Ambivalenz des Realen, was zu einer Polarität der Erscheinung führt: Existiert, was gesehen wird, und wie verhandelt die Matrix das Gesehene als Simulation? So tritt sie als Kunstform des Virtuellen auf, die die Wirklichkeit nachzuahmen versucht, denn Kunst stellt immer auch Varianten der Realität dar: Kopie gegen Wirklichkeit gegen Sehgewohnheiten gegen Kunst.48 Es mutet fast ironisch an, dass Cypher, ein Mitglied der Rebellen-

46 Matrix, Minute 7. 47 Ebd., Minute 7. 48 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage danach, ob maschinelle Kunst überhaupt möglich ist und wenn ja, mit welcher Konsequenz. Wenn Maschinen (als Simulakrum) emotionalisiert werden, müsste es dann nicht auch maschinelle Kunst als virtuellen Gefühlsausdruck geben? Eine Möglichkeit des Vorgehens wäre die Dichotomisierung von Wachheit für Theorie und Technik – im Gegensatz zum Traum für Kunst und mögliche Kunst. Das schließt die Frage an, ob Maschinen, wenn sie nicht träumen, überhaupt zu Kunst fähig sein können. Zwischen Traum und Simulation sowie Realität fällt es Neo immer schwerer zu unterscheiden: Wann ist der Geist wirklich wach und was unterscheidet ein Simulakrum von einem Traum: Ist der Traum ein positives Gespinst und

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gruppe um Morpheus, als er aus der Realität auszubrechen sucht, in der Matrix ausgerechnet Künstler sein möchte und das auch Smith als Bedingung für seine Desertation nennt, als er ihm geheime Informationen überlässt. Vielleicht ist es unbewusst doch wieder der Wille, die Menschen mittels seiner Kunst „erwecken“ zu können, auch wenn Cypher selbst davor die Augen verschließen möchte. Als weitere Lesart bietet sich an, diesen Wunsch so zu interpretieren, dass er die Matrix selbst als Kunstwerk betrachtet. Es ist daher nur die logische Konsequenz, als Künstler neu eingespeist zu werden, um wiederum etwas Neues erschaffen zu können: Es ist für Cypher die Gelegenheit, sein in der Wirklichkeit scheinbar unbrauchbares oder vielmehr kaum einsetzbares Potenzial zu nutzen, um Kunst zu kreieren, denn Kunst ist für ihn das Mitwirken an der Matrix, auch wenn er an das, was er inzwischen als Realität kennengelernt hat, am Ende keine Erinnerung mehr besitzen möchte. Kunst und deren Darstellung ist folglich die künstliche Realität für Cypher. Ob er im klassischen Sinn auch künstlerisch begabt ist und wie er selbst zu Kunst steht oder ob er nur Künstler des Images wegen sein möchte und damit selbst zur Kunstfigur werden würde, zeigt der Film nicht, denn Cypher überlebt tatsächlich nicht lange genug, um seinen Wunsch auch ausleben zu können. Gibt es aber dementsprechend eine objektive Erkenntnis der Realität? Kunst ist, ebenso wie die künstliche Realität der Simulation, immer auch Verfremdung. Baudrillards Werk, das im Film auftaucht, ist Verfremdung, denn ausgerechnet dieses Buch lässt in der hier dargestellten Form zweierlei Rückschlüsse zu: Zum einen eine ironisch konnotierte Lesart, in der angedeutet wird, dass hinter Baudrillards Aussagen nur wenig steht oder aber als „a deeper layer of subtlety that the real ‚Simulacra and Simulation‘ is a simulation, in reality only containing brainnumbing escapism.“49 Ein Rückzug in die Künstlichkeit findet statt, doch wenn sich die Wirklichkeit als künstlich entpuppt, hat dies unweigerlich Konsequenzen für die Theoriebildung – vor allem dann, wenn Künstlichkeit und Wirklichkeit als Dichotomie begriffen werden.

was ist in diesem Verhältnis ein Simulakrum: ebenfalls positiv oder die Dystopie des Traums? 49 Richard Hanley: Simulacra and Simulation: Baudrillard and the Matrix. Whatisthematrix.com. (letzter Zugriff: 10. Januar 2010) (Anekdote: Die Originalwebsite zur Matrix-Trilogie ist seit einiger Zeit offline, auf scribd.com lassen sich jedoch einige der ursprünglich dort veröffentlichten Essays noch archiviert auffinden lassen: www.scribd.com/doc/262574151/Baudrillard-and-theMatrix#scribd (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). Hierbei handelt es sich um eine Website, auf die Nutzer verschiedenste Dokumente laden können, ähnlich dem Konzept, das auch die Bibliotheken bei Snow Crash verfolgen. Vgl. S. 176ff dieser Arbeit.)

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Für Cypher ist letztlich die vorgebliche Wirklichkeit außerhalb der Matrix unerträglich geworden. Er verfügt durch sie über ein Wissen, mit dem er nicht mehr umgehen kann. „Was das Auge, das Ohr, die Hand empfindet, ist nicht die Anschauung; es ist bloß Data“, und genauso wenig empfindet er das Leben außerhalb der Matrix noch als lebenswert, seit er um die Struktur selbiger weiß. 50 Erst „indem der Verstand von der Wirkung auf die Ursache übergeht, steht die Welt da, als Anschauung im Raume ausgebreitet, der Gestalt nach wechselnd, der Materie nach durch alle Zeit beharrend: denn er vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung M a t e r i e [i. O.], d.i. Wirksamkeit“, denn die Welt ist als Vorstellung „wie nur durch den Verstand, auch nur für den Verstand da“, sozusagen rein virtuell ohne Körperlichkeit, denn er wird bewusst erschaffen und akzeptiert und rechtfertigt die Künstlichkeit der virtuellen Welten. 51 Cypher jedoch zieht das Nichtwissen vor, denn es stellt für ihn eine plausiblere und angenehmere Welt dar: Unwissenheit wird von ihm als Segen empfunden und die damit verbundene und ihm versprochene Befreiung aus dem System der Matrix nimmt er als tiefgreifenden Einschnitt wahr.52 Trinity:

[Morpheus] hat uns befreit.

Cypher:

[...] Das verstehst du unter Freiheit? […] Wenn ich die Wahl habe zwischen der Matrix und hier, dann entscheide ich mich für die Matrix.

Trinity:

Die Matrix ist nicht real.

Cypher:

[…] Die Matrix ist weitaus realer als diese Welt. Hier ziehe ich nur den Stecker, aber in der Matrix musst du mit ansehen, wie Apoc stirbt.53

Cypher verkraftet das Wissen um die Matrix zunehmend schlechter und verliert den Bezug zwischen Matrix und der eigentlichen Realität. Eine Rückkehr in die Illusion der Matrix wird für ihn immer verlockender, denn eine Illusion wird „als wahr [i. O.] interpretiert, wenn es dem Betrachter möglich ist, ein Teil der Illusion zu sein.“54 Künstlichkeit wird zur bevorzugten Form einer irrealen Wirklichkeit. Eine Illusion wiederum, die „nicht den Eindruck erweckt, sie brauche einen Zuschauer“, erscheint ebenfalls als wahr, denn „die Wirklichkeit [ist] ebenfalls nicht als ein Spektakel für den Zuschauer konzipiert.“55 Gleichsam wird eine Illusion,

50 Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 42. 51 Ebd., S. 42. 52 Matrix, Minute 60f. 53 Ebd., Minute 83f. 54 Etzold: Matrix, S. 131. 55 Ebd., S. 131.

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die „nicht den Erschaffer der Illusion zeigt“, ebenfalls für wahr angesehen, da auch „in der Wirklichkeit de[r] Hersteller unserer Realität, sollte es ihn geben, nicht [sichtbar]“ ist.56 Die Matrix ist die perfekte Illusion für denjenigen, der sich ihr hingibt. Für ihn wird die Illusion wahr und zur Wirklichkeit, denn der Erschaffer der Matrix, der eingangs erwähnte Architekt, ist in diesem Fall innerhalb des Simulationssystems ebenso wenig sichtbar wie ein Gott für den Menschen in der Realität. Kehrt folglich Cypher in die Matrix zurück und erinnert sich nicht mehr an das Außerhalb selbiger, würde er auch nicht wissen, dass die Matrix nur simuliert ist.57 Es bleibt beim Zuschauer ein fader Nachgeschmack, ob diese Entscheidung ethisch überhaupt tragbar ist. 58 Cypher und Neo bilden mit ihrer Perspektive auf die Umwelt gegensätzliche Pole, wie die Matrix und deren Virtualität wahrgenommen werden kann, denn anders als Cypher flüchtet Neo in der Matrix vor der scheinbaren Realität, lebt ein Doppelleben als Hacker Neo und Programmierer Thomas Anderson bei der Firma Metacortex. Generell scheint innerhalb der Matrix sprechenden Namen als Bezeichnungen eine Bedeutung zuzukommen: Metacortex lässt sich als Begriff dergestalt interpretieren, dass die Grenzen des Verstandes transzendiert werden, was genau dem entspricht, was Anderson als Neo im Verlauf des Filmes erlebt. Trinity tritt als Bindeglied zwischen Morpheus und Neo, zwischen angeblicher Realität und scheinbarer Virtualität auf, aber auch als Verknüpfung der Aspekte Kunst, Theorie und Technik im Verhältnis von Realität und Virtualität. Sie findet Neo im Netz, was wiederum eine weitere Schichtung der Matrix darstellt, und begegnet ihm schließlich innerhalb der Matrix in einem Nachtclub. Bereits hier wird im ersten Teil der Trilogie klar, welche Macht diejenigen auf die Matrix ausüben, die glauben, die Simulation durchschaut zu haben. Neos erste Begegnung mit Mor-

56 Ebd., S. 131. 57 Ob es zu dieser Einspeisung in die Matrix aber tatsächlich kommen würde, ist unklar, da Cypher bei seinem Putschversuch ums Leben kommt. Hierbei stellt sich die Frage: Wäre dies nur ein Trick der Maschinen gewesen, um ihn zu beeinflussen, oder wären sie seiner Bitte nachgekommen? Dies hat in Bezug auf die Frage, ob die(se) Maschinen und Programme zu ihrem eigenen Vorteil lügen können, philosophische Implikationen, die im Rahmen dieser Analyse nicht beantwortet werden können. 58 Gleichzeitig lässt sich neben der ethischen Komponente auch die Frage stellen, ob dieser Punkt überhaupt wichtig ist, wenn die betreffende Person nicht (mehr) weiß, dass ihr Umfeld nicht real ist, denn als Nichtwissender würde Cypher glauben, einen Körper zu haben und könnte damit alle sinnlichen Erfahrungen machen; in diesem Zusammenhang erscheint die Matrix für den Nichtwissenden als eine vollkommen gleichwertige Realität, dennoch bleibt das Unbehagen des Wissenden außerhalb der Simulation.

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pheus außerhalb der von den Maschinen bestimmten Matrix wird hingegen von anderen Rollenbildern getragen: Morpheus:

Willkommen, Neo. […] Ich kann es in deinen Augen lesen: Du siehst aus wie ein Mensch, der das, was er sieht, hinnimmt, weil er damit rechnet, dass er wieder aufwacht. Ironischerweise ist das nah an der Wahrheit. Glaubst du an das Schicksal, Neo?

Neo:

Nein. […] Mir missfällt der Gedanke, mein Leben nicht unter Kontrolle zu haben.

Morpheus:

[...] Du fühlst es schon dein ganzes Leben lang, dass mit der Welt etwas nicht stimmt. Du weißt nicht was, aber es ist da. Wie ein Splitter in deinem Kopf, der dich verrückt macht. Dieses Gefühl hat dich zu mir geführt. Weißt du, wovon ich spreche?

Neo:

Von der Matrix?

Morpheus:

Möchtest du wissen, was genau sie ist? Die Matrix ist allgegenwärtig. Sie umgibt uns. Selbst hier ist sie, in diesem Zimmer. [...] Es ist eine Scheinwelt, die man dir vorgaukelt, um dich von der Wahrheit abzulenken.

Neo: Morpheus:

Welche Wahrheit? Dass du ein Sklave bist, Neo. Du wurdest wie alle in die Sklaverei geboren und lebst in einem Gefängnis, das du weder anfassen noch riechen kannst. Ein Gefängnis für deinen Verstand.59

Um dies alles hinter sich lassen zu können, bietet Morpheus Neo mithilfe zweier Kapseln die Wahl: Nimmt er die blaue Kapsel, wird er sich nicht an diese Begegnung erinnern; wählt er die rote, so wird er hinter die Matrix blicken können.60

59 Matrix, Minute 25ff. 60 Hier ist einer der vielen Vergleiche mit Wizard of Oz gestreut, der in diesem Fall an die roten Schuhe Dorothys erinnert, die sie in der Verfilmung mit Judy Garland von 1939 innerhalb von Oz schützen sollen. Später wird auch Neo von Cypher als Dorothy bezeichnet und verweist damit erneut auf dieses Buch. Vgl. Frank L. Baum: The Wonderful Wizard of Oz. London: Penguin 2011. Vgl. Victor Fleming: Das zauberhafte Land. USA 1939. Die von Morpheus dargebotene rote oder blaue Kapsel ändert gleichzeitig die Programmierung der Matrix, wirkt dabei ähnlich wie Cookies (vgl. hierzu die Szene mit Neo und dem Orakel, die ihm einen Keks anbietet, damit er sich besser fühlt, Matrix, Minute 69), nur dass die rote Kapsel in diesem Fall ein Tracing startet, das die Rebellen zu Neos Körper außerhalb der Matrix führt.

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Morpheus verführt Neo zu mehr Wissensdrang, um den Blick hinter die Fassade zu wagen. Ganz im Sinne Baudrillards ist die Verführung dabei nicht nur „Trägerin des Geheimnisvollen“, sondern auch „Metapher für eine besondere Art von gegenseitigem Austausch.“61 Dabei muss sich Neo auf die Spielregeln einlassen, „die der Sphäre des Imaginären angehören und auf die man sich freiwillig einlassen kann oder eben auch nicht.“62 Auch innerhalb der Matrix gibt es rein virtuelle Wesen, die selbige nur als Spiel betrachten. Der Merowinger klammert sich hierbei an den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, ist sich dessen wie auch der eigenen Künstlichkeit aber durchaus bewusst: „Natürlich sind solche Dinge künstlich wie so vieles.“ 63 Als einzige Konstante gilt für ihn nur seine „einzige echte Wahrheit: Kausalität, Aktion, Reaktion, Ursache und Wirkung.“64 Scheinbar beginnt alles mit einer Entscheidung, doch selbige entlarvt der Merowinger als „eine Illusion, entstanden zwischen denen mit Macht und denen ohne.“65 Seine Gattin Persephone wiederum, bei der niemals ganz klar wird, welche Rolle sie innerhalb der Matrix einnimmt, ist davon gelangweilt. Sie wünscht sich später von Neo einen Kuss, der zwar vorgetäuscht sein darf, sich aber wie ein echter anfühlen soll, denn ansonsten wird sie ihm die Flucht aus ihrem Verlies vereiteln: „Ich will, dass Sie mich küssen, wie Sie [Trinity] küssen. […] In einer längst vergangenen Zeit wusste ich, was das für ein Gefühl war.“66 Persephone als Simulakrum stellt eine doppelte Figur dar, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Matrix agiert, indem sie geheime Abkürzungen innerhalb des Systems kennt und dieses Wissen um das virtuelle Totenreich zu ihrem eigenen Vorteil einsetzt. Als der Merowinger, selbst Affären pflegend, von dem von ihr gewünschten Kuss erfährt, ist er außer sich und offenbart die eigene Widersprüchlichkeit: „Dafür gibt es keine Ursache! […] Es ist [nur] ein Spiel.“67 Aus seiner Sicht ist das Konzept eines Spiels immer auch eine Variante aus Ursache und Wirkung. Spiel und Verführung stellen hierbei die Entscheidungsfähigkeit oder vielmehr die Möglichkeit als solche innerhalb des Simulakrums dar: Sind sie beide innerhalb des simulierten Systems überhaupt umsetzbar oder werden sie ebenfalls simuliert? Das wiederum lässt die Schlussfolge-

61 Falko Blask: Baudrillard zur Einführung. Hamburg: Junius 2013. S. 66. 62 Ebd., S. 66. 63 Matrix Reloaded, Minute 61ff. 64 Ebd., Minute 63. 65 Ebd., Minute 64ff. 66 Ebd., Minute 67f. Anmerkung: Neo und Trinity werden bereits am Ende des ersten Teils ein Paar. 67 Ebd., Minute 72.

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rung zu, dass Entscheidungen innerhalb eines Simulakrums ebenfalls Auswirkungen auf die Wirklichkeit haben. Doch es macht einen Unterschied, ob man sich während der Entscheidungsfindung des Simulakrums bewusst oder nicht bewusst ist. Wenn Neo sich auf dieses Spiel mit Persephone einlässt, tritt er einerseits aus einem Teil des Systems aus, kann es aber andererseits doch nicht zur Gänze verlassen, obwohl es in einer perfekten Simulation kein Außen mehr geben sollte. Zugleich wendet Falko Blask bezüglich Baudrillard ein, dass, wenn es „eine Subversion, einen Aufstand neuer Zeichen gegen die herrschenden [Zeichen] geben kann“, dies nur „außerhalb des bestehenden Massenkommunikationssystems“ passiert.68 Die Rebellen sind aus der Matrix, dem Massenkommunikationssystem im erweiterten Sinne, ausgestiegen und haben durch dieses Vorgehen gezeigt, dass es sich bei ihr nicht um eine perfekte Simulation handelt, und nutzen dieses Wissen für sich auch ganz bewusst. Genau diese Entscheidungsfindung und speziell das Erscheinen Neos ist laut Aussage des Architekten aber exakt so geplant, um die Probleme in der Programmierung der Vorgängerversion zu beheben.69 Die meisten Menschen innerhalb der Matrix würden diese akzeptieren, wenn sie denn Entscheidungsmöglichkeiten hätten, selbst „wenn bei ihnen diese Möglichkeit nur ganz tief im Unterbewusstsein schlummerte. […] Ergo würden diejenigen, die das Programm ablehnen, auch wenn sie eine Minderheit sind, die zunehmende Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe bedeuten, sofern man sie nicht kontrollierte.“ 70 Der Rebellenstützpunkt Zion ist in diesem Kontext die gewollte und akzeptierte Lücke innerhalb des Simulakrums, die den Eskapismus jener zulässt, die die Wirklichkeit der Matrix nicht als ihre Realität annehmen können. Diese Beobachtung ist ein Beleg dafür, dass eine perfekte Simulation zumindest in diesem Zusammenhang nicht global möglich ist, denn die „Maschinen erhalten Zion, weil sie den Menschen eine Möglichkeit zur Flucht aus der Matrix und aus der Gefangenschaft ermöglichen müssen.“71 Hintergrund ist die Hoffnung. Laut des Architekten ist sie „die wesentlichste menschliche Illusion, die zugleich beides ist: sowohl Quelle [der] größten Stärken als auch [der] größten Schwächen.“72 Letztlich ist wohl der Systemneustart das Ziel und die gewünschte Befreiung der Menschen nur Teil der Simulation, um diesen ausführen zu können. Dies lädt den gesamten Mythos der Matrix mit neuen Inhalten auf, die Simulation selbst agiert, reagiert

68 Blask: Baudrillard zur Einführung, S. 31. 69 Vgl. Matrix, Minute 106ff. 70 Ebd., Minute 107. 71 Gramatikov, Zimmermann: „Die Matrix“ und die Frage, S. 289. 72 Matrix Reloaded, Minute 112.

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und nutzt die eigene Simuliertheit als Mittel zum Zweck. Wirklichkeit wird in diesem Kontext zur Willkür der Maschinen. Selbst Zion, mystifizierter Ort scheinbarer Realität außerhalb der Matrix, müsste bei dieser Interpretation zum simulierten Ort außerhalb der Realität werden, da auch er innerhalb dieser spezifischen Interpretation nur eine weitere Ebene innerhalb einer sehr viel größeren Simulation darstellt.73 Die Matrix agiert, alles andere reagiert gemäß der jeweiligen Programmierung. Eine wirkliche Befreiung aus der Matrix scheint unter diesen Gesichtspunkten nicht umsetzbar, da dies in diesem Fall vermutlich die eigene Auslöschung bedeuten würde. Die Matrix selbst ist als unendliche Schleife an Reboots und Neustarts zu betrachten. Ob überhaupt agierende und damit auch reale Menschen innerhalb der Filmtrilogie vorkommen, muss aus diesem Grund offenbleiben, denn genauso gut könnte es sich bei sämtlichen menschlichen Protagonisten auch um reine Programmstrukturen innerhalb des Systems handeln, die sich dessen allerdings nicht bewusst sind. Ebenso liegt der eigentliche Hintergrund der Simulation im Verborgenen: Sie wird zum Zirkelschluss, der sich selbst unendlich oft reproduziert. Genau dieser scheinbare Ausgang als halbdurchlässiges Wechselbild einer Exitstrategie ermöglicht diesen Vorgang erst. Der erlaubte und geplante Bruch im System, der letztlich keinen Blick hinaus zulässt, lässt dieses geschlossene System aber erst zu, indem das Außen selbst zur Simulation wird. Der Mensch als scheinbare Batterie wird zum integralen Teil dieser Umgebung. Dies zeigt wiederum, dass die perfekte Simulation (und damit das ideale Simulakrum) für den Menschen nicht möglich zu sein scheint, da sie zumindest laut Matrix intuitiv nicht angenommen wird. Die Menschheit definiert sich „in Wirklichkeit durch Kummer und Leid“, so Agent Smith, der im ersten Film die späteren Aussagen des Architekten bereits vorwegnimmt.74 Erst als „perfekte Welt geplant [...], in der kein Mensch hätte leiden müssen“, wurde die Matrix als Programm nicht akzeptiert, „es fielen ganze Ernten aus“, bedauert Smith, denn der vorgeblich menschliche Geist, der Ghost in a Shell, muss Nahrung bekommen, sonst verkümmert er und kann den Maschinen keine Energie mehr liefern.75 Nachdem der erste Versuch der Matrix fehlgeschlagen war, wurde sie neu konzipiert, „und zu dem, was sie heute ist: Der Höhepunkt [menschlicher] Zivilisation.“76 Smiths Ansicht nach ist die Zeit der Menschheit abgelaufen, „die Zukunft gehört den Maschi-

73 Unterstützt wird diese Annahme von der Tatsache, dass Agent Smith in den Fortsetzungen die Matrix verlassen kann. Vgl. Matrix Revolutions, Minute 51. 74 Matrix, Minute 88. 75 Vgl. Matrix, Minute 85. Vgl. außerdem Gramatikov, Zimmermann: „Die Matrix“ und die Frage, S. 288. 76 Matrix, Minute 99.

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nen.“77 Ob die Erzählung über die Menschheit als Energiespeicher für die Maschinen wahr ist, darf inmitten der Simulation trotz allem angezweifelt werden. Sie ist jedoch integraler Bestandteil des Mythos, der von Morpheus ebenso wie von Smith weitergetragen wird. Das wird zumindest in den Folgefilmen impliziert, auch wenn nie ganz geklärt wird, ob Zion nicht eine weitere Stufe der Simulation darstellen könnte, um die Frage nach der Entscheidung nur scheinbar doch zuzulassen.78 Das Programm der Matrix und insbesondere Zion sind der simulierte Traum der sich im Leerlauf befindlichen Maschinen. Vielleicht war die Matrix anfänglich sogar tatsächlich dergestalt aufgebaut, wie Agent Smith und der Architekt sie beschreiben. Inzwischen existieren die zugrunde liegenden menschlichen Körper als Bezeichnetes allerdings nicht mehr und die Maschinen haben einen alternativen Weg der Energiegewinnung innerhalb der Simulation entwickelt, die den übrig gebliebenen menschlichen Geist im Virtuellen beschäftigen müssen, um das etablierte System beibehalten zu können. Hierfür greifen sie möglicherweise auf neurolinguistische Programmierung zurück, um den Geist innerhalb der Simulation gefügig zu halten. In der eigenen Wahrnehmung scheint hingegen etwas erkennbar zu sein, das gleichzeitig unabhängig von dieser Wahrnehmung existiert, bei dem sich jedoch die Frage stellt, ob dieses Etwas kollektives oder individuelles Sehen ist, subjektives gegen objektives Erkennen: „Diesen Bann über das Subjekt durch das Objekt erleben wir schließlich in der Matrix, wo die doppelte Falle der Illusion zuschnappt: Wir wissen als Subjekt zwar, daß [sic!] wir nicht das Ding an sich erkennen, sondern nur die Wirklichkeit, aber wir erkennen nicht, daß [sic!] uns die Wirklichkeit als Illusion der Wirklichkeit von einem fremden Objekt (den Maschinen) vorgesetzt wird.“79 Ist das der Riss, der das dekonstruktive Denken im Umgang mit Simulationen anleitet? Auch Morpheus wird wiederholt eine gewisse Affinität zum Ungehorsam unterstellt, ein wacher und kritischer Geist ist folglich nötig, um die Matrix zu durchbrechen, ohne diesen kann eine Simulation nicht als solche erkannt werden.

77 Ebd., Minute 86f. 78 Der Architekt und Agent Smith nehmen im Kosmos der Matrix eine gesonderte Rolle ein. Es wird innerhalb der Filme nicht herausgearbeitet, wie diese ambivalenten Programme mit dem Konzept der Wahrheit umgehen und inwiefern, wenn überhaupt, festgelegt ist, dass Maschinen und Programme (nicht) lügen können. Welche Dialektik und welcher Diskurs hierfür im Hintergrund verhandelt werden, bleibt offen. Vgl. hierzu das Element des Zweifels als möglicherweise bewusste Irreführung der Nutzer in eXistenZ auf S. 241f dieser Arbeit. 79 Etzold: Matrix, S. 78

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Durch Morpheus wiederum wird auch Neo ein Blick aus zwei Perspektiven ermöglicht, wodurch er die Matrix zu seinen Zwecken nutzen und dort auch weiterhin existieren kann. Morpheus selbst bietet Neo Erkenntnis: „Hattest du schon einmal einen Traum, der dir völlig real schien? Was wäre, wenn du aus diesem Traum nicht mehr aufwachst? Woher würdest du wissen, was Traum ist und was Realität?“80 Noch träumt Neo. Er befindet sich ausschließlich innerhalb der Matrix und spiegelt sich in glänzenden Oberflächen: erst im Rückspiegel eines Autos, als er von den Smith zugehörigen Agenten abgeführt wird, aber auch später sehr auffällig in der Sonnenbrille Morpheus’ oder in einem Löffel. Als Neo sich schließlich für die Rebellion entscheidet, sitzt er vor einem zerbrochenen Spiegel. Sein Gesicht wird im Spiegelbild durch die vielen Sprünge erst sichtbar, als er seine eigene Position im Verhältnis zum Spiegel verändert.81 Baudrillard postuliert in Agonie des Realen, dass mit der Simulation auch die Metaphysik verschwindet: „Es gibt keinen Spiegel des Seins und der Erscheinungen des Realen und seines Begriffs mehr.“82 Neo wird durch diese sich immer wiederholenden Spiegelungen folglich als das Gegenteil charakterisiert, als jemand, der sich im Spiegel reflektiert und dadurch schließlich sich selbst erkennen kann, es aber erst dennoch nicht tut. Durch den zersprungenen Spiegel wird ein Tracing in Gang gesetzt, um Neos Körper außerhalb der Matrix aufzuspüren. Zum Bezeichneten wird das Bezeichnende gesucht. Es verweist aber auf nichts mehr, da es kein Außerhalb der Simulation, deren Virtualität zur individuellen Wirklichkeit geworden ist, mehr gibt. Je weiter das Tracing fortschreitet, desto mehr verschwinden die Sprünge, bis sich Neo schließlich selbst im Spiegel erkennt. Was aber spiegelt ein Spiegel in einer virtuellen Welt und was sagt dies über den Status der Simulation aus? „Ähnlich einem Simulacrum [i. O.] Baudrillards wird das Subjekt des Zuschauers zweimal verdoppelt“, und der Spiegel erschafft virtuellen Raum, wo vorher keiner war.83 Für Neo öffnet der (verflüssigte) Spiegel ein Tor zu einer anderen Welt oder vielmehr zu einer neuen Erkenntnisebene in der bestehenden Schichtung der abstrakten Welt innerhalb des Simulakrums.84

80 Matrix, Minute 30. 81 Vgl. ebd., Minute 15, 24 und 67. 82 Baudrillard: Die Präzession der Simulakra, S. 8. 83 Etzold: Matrix, S. 126. 84 Die spiegelnden Brillen werden nur in geschützten Räumen und zu bestimmten Gelegenheiten innerhalb der Matrix freiwillig abgenommen. Neo trägt seine Sonnenbrille zum ersten Mal nach seinem Besuch beim Orakel, denn er ist jetzt „sehend“. In Matrix Revolutions erblindet Neo schließlich und wird zum blinden Seher. Vgl. außerdem Etzold: Matrix, S. 126.

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Durch die Entgrenzung des Raums wird die Gegenwart innerhalb der Matrix als ein noch künstlicheres Konstrukt enttarnt. Die Sonnenbrillen, die die Rebellen tragen, haben einen ähnlichen Effekt: Auch sie spiegeln alles und erlauben es gleichzeitig nicht, den Trägern direkt in die Augen zu schauen. Innerhalb der Matrix sind diese „leer“ wie die Agentenprogramme; ebenso wie später Neo zu Agent Smith sagen wird, er sei so leer wie das Magazin seiner Waffe.85 Durch die Brillen wiederum wird das Auge selbst zu einer Art spiegelnden Fläche und damit zum Bildschirm, in dem sich wiederum Neo spiegelt. Die Spiegelung in der Brille wird zur Kopie der virtuellen Realität, was zwar Rückschlüsse auf Walter Benjamins Begriff der Aura ermöglicht, aber speziell in diesem Zusammenhang das Erkennen als Konstruktion der Umwelt interpretiert und starke Bezüge zu Platons Höhlengleichnis herstellt: Die Schatten an der Wand sind eine Art frühe Leinwand, so wie Film heute als Medium dient. Und um nicht geblendet zu werden von der Realität, tragen jene in der Matrix eine Sonnenbrille, die glauben, diese Umwelt durchschaut zu haben: Die Vorstellungskraft wird zur Entwicklungskammer der Sinne.86 Speziell bei Matrix ist der Zuschauer als Beobachter bereits ein Einbruch des Realen in das Virtuelle der Filmwelt. Doch was stimuliert die Einbildungskraft und was ist Einbildungskraft überhaupt, wenn nicht die Wahrnehmung der Umgebung auf höchst individuelle Art? Dekonstruktion der Simulation

Für Jean Baudrillard war einer der Aspekte, weswegen er Matrix ablehnte, derjenige, dass sich in seinen Augen zu sehr auf Platons Höhlengleichnis und zu wenig auf seine Simulakra-Theorie bezogen wird.87 Morpheus, der denkt, er kenne die Welt außerhalb der Matrix, möchte alle aus dieser Simulation befreien, wohin-

85 Die Doppeldeutigkeit des Dialoges lässt sich in der englischsprachigen Filmversion besser erkennen: Wenn Neo gegen Smith im U-Bahntunnel kämpft, sitzen zuletzt beide auf dem Boden und halten sich gegenseitig ihre Waffen an den Kopf. Smith sagt „You’re empty“, woraufhin Neo mit „So are you.“ kontert. Mit dieser Leere ist jedoch nicht nur das leere Magazin der Waffe gemeint, sondern auch, dass hier das Zeichen nicht mehr auf das Bezeichnete verweist, denn Smith ist innerhalb der Simulation der Matrix nur ein simuliertes Wesen, das kein menschliches Ebenbild außerhalb hat und somit nur in der Matrix existieren kann. Der Weg in die scheinbare Wirklichkeit ist für ihn nur mit Hilfsmitteln möglich, wie sich später herausstellen wird. Vgl. Matrix, Minute 110. 86 Vgl. Etzold: Matrix, S. 269. 87 Vgl. Fußnote 27 auf S. 203 dieser Arbeit.

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gegen in Platons Höhlengleichnis nur diejenigen angesprochen sind, die auch die intellektuelle und geistige Voraussetzung dafür erfüllen, die Höhle und damit die Illusion verlassen zu können, das Leben im Draußen wird als Idee betrachtet.88 Die Sonnenbrillenträger innerhalb der Matrix sind folglich diejenigen, die daran glauben, nicht mehr von der Sonne und Helligkeit der Illusion geblendet zu werden, sondern Platons Höhle bereits verlassen zu haben. Auch aus diesem Grund schmerzen Neos Augen bei seiner „zweiten“ Geburt, sozusagen seiner Wiedergeburt außerhalb der Matrix. Genau diese Welt ist für ihn mit der schmerzhaften Erkenntnis gekoppelt, bislang eine ihm unbekannte Existenz gefristet zu haben. Als er „erwacht“, sind ihm sein Körper und dessen Empfindungen zunächst unbekannt – er sieht zum ersten Mal mit seinen eigenen Augen, spürt zum ersten Mal seine Physis, die sich für ihn fremdartig und neu anfühlt.89 Was er empfindet, lässt sich mit einem ontologischen Schock beschreiben, denn für ihn ist der ontologische Status der Matrix bis zu diesem Moment völlig unklar.90 Auch mit seinem vorgeblichen Erwachen ändert sich dieses Wissen genau genommen nicht. Neo findet auch im weiteren Verlauf keine befriedigende Antwort darauf, denn ob die Welt außerhalb der Matrix realer ist als innerhalb, wird im Film nicht abschließend diskutiert. Sein Datenkörper wird scheinbar zum fühlbaren Fleischkörper und erinnert an den Weg in die Freiheit, den Platons Protagonisten im Gleichnis gewagt haben. Auf Morpheus wirkt Neo zu diesem Zeitpunkt „wie ein Mensch, der das, was er sieht, hinnimmt, weil er damit rechnet, dass er aufwacht.“ 91 Das, was in Morpheus’ Blickwinkel die Realität darstellt, ist für Neo so vollkommen neu und traumatisch, dass er zu Beginn kaum angemessen reagieren kann. Ob das, was er ab sofort erlebt, wirklicher ist als das Leben innerhalb der Matrix, das er bisher kannte, erfährt keine tiefere Betrachtung. Stattdessen wird impliziert, dass es sich bei der dargestellten Realität außerhalb nun tatsächlich um die echte Wirklichkeit handeln könnte. Die Möglichkeit einer weiteren Schachtelung der Realitätsebenen wird nicht weiter thematisiert, würde der Trilogie aber auch ihre Ambivalenz

88 Vgl. Platons Höhlengleichnis, aufgearbeitet in Farsin Banki: Der Weg ins Denken. Platon, Martin Heidegger, Theodor Ballauff. Stuttgart: Peter Haupt 1986. S. 11f. 89 Vgl. Matrix, Minute 31ff. 90 Eines der verbindenden Elemente der beiden Filmanalysen ist, dass sowohl in Matrix als auch in eXistenZ die verschiedenen Aspekte von Realität und Wirklichkeit handlungsimmanente Konzepte sind, die jedoch den ontologischen Status der vorgestellten Welten weitestgehend im Unklaren lassen. Die Unklarheit dieses Status drückt sich auch musikalisch aus. Vgl. Ontological Shock. Don Davis. In: The Matrix. Warner 1999. 91 Matrix, Minute 25.

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nehmen, denn diese lebt von ihrer Unentscheidbarkeit, was die Simulation betrifft. Dieser Gedankengang wird allein dem Zuschauer überlassen, der sich aus diesen Puzzlestücken eine individuelle inhaltliche Bedeutung des Dargestellten als eigenes Simulakrum zusammensetzt. Nicht der Verlust taktiler und kinetischer Eindrücke überwältigt und verstört Neo nach seinem Erwachen, sondern vielmehr die Tatsache, dass diese Eindrücke nun zum ersten Mal auf das, was sich als sein Körper herausstellt, einströmen. Alles Wissen, das er sich scheinbar über Jahrzehnte in der Matrix angeeignet hat, nützt ihm wenig in diesem Moment, in dem er mit seinem Körper, dessen Muskeln atrophiert sind, nicht wie gewohnt umgehen kann und stattdessen vorläufig nahezu bewegungsunfähig ist. Die Erschütterung seines Weltbilds wird für Neo zur verwirrenden Transgressionserfahrung. Alles bisher Erlebte wird von ihm als Traum negiert, da es aus seinem neuen Blickwinkel nie in der ihm nun bekannten neuen Realität stattgefunden hat.92 Außerhalb der Matrix verfügt Neo nur über sein theoretisches Wissen. Er ist aus der „Industrialisierung des Sehens“ und der „Automatisierung der Wahrnehmung“ ausgetreten.93 Dies bedeutet wiederum zweierlei: Die Grenzen menschlicher Wahrnehmung sind in der realen Welt gleichzeitig die Grenzen der sinnlichen Erfahrung. Laut Virilio haben Automaten das Sehen übernommen. Dies trifft abgewandelt auch auf die Menschen innerhalb der Matrix zu. Was sie sehen, ist nicht das, was sie mit ihren eigenen Augen wahrnehmen, sondern technische Bilder, die ihnen gezeigt werden. Würden diese Bilder dem Menschen nicht eingespeist, wären sie der „menschlichen Beobachtung nicht [...] zugänglich“, denn auch so sind sie nur insofern sichtbar, als dass sie durch Schnittstellen umgewandelt direkt zum Menschen übertragen werden.94 Der Code hinter der Matrix ist für die Menschen innerhalb der Matrix aber nicht erkennbar. Fehler in der Simulation sind allenfalls durch das Gefühl eines Déjà-vus wahrnehmbar, das durch sich ungeplant wiederholende Sequenzen deut-

92 Dabei ist hier eine Umkehr der mythologischen Figur von Morpheus, dem Gott der Träume der frühen Griechen, zu beobachten: Statt Träume zu ermöglichen, weckt er Neo aus seinem Traum und enttarnt die ihm bisher bekannte Welt als „eine Scheinwelt, die man [den Menschen] vorgaukelt, um [sie] von der Wahrheit abzulenken.“ Letztlich ist aber auch Morpheus möglicherweise nur eine simulierte Figur und damit selbst der Traum einer Maschine und weiß selbst nichts von einer übergeordneten Simulation und kann Neo in diesem Zusammenhang auch nicht endgültig aufwecken. Vgl. ebd., Minute 26. 93 Paul Virilio: Die Sehmaschine, S. 136. Menschliche Erfahrungen werden nach Ansicht Virilios auch heute schon zunehmend über technische Medien übermittelt. 94 Ebd., S. 64.

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lich wird.95 Das, was der Mensch hier sieht, ist auf gewisse Weise immer noch medial, auch wenn ihm dies nicht bewusst ist, und dennoch hat „der menschliche Erfahrungsbereich [...] nichts mehr mit einem unmittelbaren Umfeld zu tun, und es wird Virilios ‚Delokalisation‘ in Gang gebracht.“96 Direkt übertragen lässt sich dies auf die Matrix jedoch nur bedingt. Dem dortigen Menschen beziehungsweise dessen Simulation ist nicht bewusst, dass Distanzen und körperliche Empfindungen nicht stattfinden, da er das, was er in der Matrix erlebt, als (körperlich erlebte) Realität einstuft. Die Augen sehen also nicht und Distanzen werden nicht zurückgelegt. Die Welt wird lediglich durch optische Prothesen vermittelt, der Mensch treibt in einer Nährflüssigkeit blind durch die Zeit: Er befindet sich mit seiner Matrixexistenz „außerhalb des Ortes der Gegenwart“ und ist dort physisch nicht mehr anwesend.97 Besonders dann, wenn die Matrix erkannt wird, ihre Gesetze durchschaut und diese damit teilweise gebrochen werden können, spielen der dort bislang für scheinbar real eingestufte Raum und dessen Naturgesetze innerhalb der Matrix kaum noch eine Rolle – der Mensch führt eine reine Teleexistenz und wird damit selbst zum entkörperlichten Wesen.98 Nach Virilio entsteht durch die elektronischen Medien, die hier von den Maschinen verwaltet werden, eine neue Realität.99 Je näher die Illusion einer Simulation an dem ist, was für die Realität gehalten wird, desto erfolgreicher ist sie in der subjektiven Wahrnehmung des Betrachters. Erkenntnis lässt sich in Matrix als Erfahrungswert verrechnen, denn das Konstrukt, das Ladeprogramm der Matrix, stellt das Nicht-Urteilen der Sinne dar. Es handelt sich hierbei um einen scheinbar unendlichen weißen Raum, der mit Erfahrung gefüllt werden kann. Erst wenn Erscheinungen in Wirklichkeit und Simulation als identisch wahrgenommen werden, funktioniert die Illusion als eine Form der Hyperrealität, die nicht mehr zwangsweise auf etwas anderes verweisen muss. Die Leere des Konstrukts kann, wenn dort nicht bewusst Gegenstände implemen-

95 Ein Déjà-vu als sogenannter Fehler in der Matrix ist nur für Wissende als solcher erkennbar. Vgl. Matrix, Minute 75f. Vgl. außerdem Baudrillard: „Man kennt die spontane Selbstregulierung der Systeme, die, um zu überleben, ihre eigenen Unfälle, ihre eigenen Bremswirkungen erzeugen.“ In: Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen: Ein Essay über extreme Phänomene. Berlin: Merve 1992. S. 76. 96 Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 64. 97 Paul Virilio: Vom Sehen, Wahrnehmen, Tasten, Fühlen, Erkennen. Was wirklich ist – Im Zeitalter des Audiovisuellen. In: FilmFaust „Internationale Filmzeitschrift“ 89/90. S. 22-29, hier S. 35. 98 Vgl. Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 64. 99 Vgl. ebd., S. 66.

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tiert werden, folglich als Zeichen dafür gewertet werden, dass alles nur im Kopf stattfindet und nichts in Matrix real ist.100 „Willkommen in der wirklichen Welt“, lautet folglich auch die vielsagende Begrüßung, als Neo außerhalb der Matrix zu Bewusstsein kommt.101 Im Konstrukt führt Morpheus Neo schließlich in die Geheimnisse der Matrix ein: »Deine momentane Erscheinung nennen wir das Restselbstbild. Die mentale Projektion deines digitalen Selbst. [...] Wenn du [unter Realität] verstehst, was du fühlst, was du riechen, schmecken oder sehen kannst, ist die Wirklichkeit nichts weiter als elektrische Signale, interpretiert von deinem Verstand.«102

Morpheus’ Aussagen ähneln Virilios Gedanken der Dromologie, nur dass hier die Signale noch vom Menschen selbst lesbar sind. Sie sind für den Menschen gemacht, um die Maschinen funktionsfähig zu halten. Mit Virilio lässt sich verrechnen, dass Morpheus die Matrix als eine „computergenerierte Traumwelt [betrachtet, die] geschaffen wurde, um [die Menschen] unter Kontrolle zu halten.“ 103 Die reale Signalübertragung ist so schnell geworden, dass sie für die Rezeption durch den Menschen nicht mehr geeignet ist, sondern ohne weitere Hilfsmittel nur noch zwischen den Maschinen funktioniert. Die Matrix hingegen wurde als Trugbild für den menschlichen Geist entworfen, um den Menschen als „Energiequelle für die Maschinen“ erhalten zu können.104 Die Zeit, die nach Virilios Definition zu einer Hyperzeit geworden ist, ist eine Lichtgeschwindigkeit, zu der der Mensch keinen Zugang mehr hat, die persönliche Freiheit nimmt immer mehr ab.105 Er ist von der direkten Partizipation ausgeschlossen und kann nur noch passiv teilnehmen.106 In der Dromokratie wird die Geschwindigkeit nicht mehr vom Menschen bestimmt, sondern von „Datenverarbeitungsanlagen, von automatischen Antwortsystemen.“107 Der Mensch trägt keine Verantwortung mehr und besitzt keine eigentliche Freiheit, sondern wird von Maschinen in einer virtuellen Daseinsform

100 Vgl. Etzold: Matrix, S. 53. 101 Matrix, Minute 30f. 102 Ebd., Minute 36. 103 Ebd., Minute 40. 104 Ebd., Minute 39. 105 Vgl. Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 93. 106 Vgl. Virilio: Die Sehmaschine, S. 137. 107 Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 93.

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am Leben erhalten, die nicht in der Realität lokalisiert ist.108 Solange also die Matrix erhalten bleibt, ist – natürlich vorausgesetzt, die Matrix wäre die einzige Simulation in diesem Kontext – echte Freiheit für die Menschheit nicht möglich.109 Die Version der realen Welt, wie Morpheus sie Neo zeigt, ist verödet und verdunkelt. Neo betastet seine Umgebung, die sich für ihn so real und echt anfühlt, dass er kaum glauben kann, dass er sich erneut innerhalb einer Simulation befinden soll.110 Das kann als weiterer Hinweis dafür betrachtet werden, dass nichts in Matrix real ist. Die Simulationen können nicht mehr unterschieden werden, weswegen die Simulation als solche auf inhaltlicher Ebene ihre Bedeutung als virtuelle Welt zunehmend verliert. Morpheus nutzt einen scheinbar aus der Zeit gefallenen Röhrenfernseher im Design der 1950er Jahre, um Neo die angeblich wirkliche Welt zu demonstrieren. Das dargestellte Bild flackert, die Welt ist medial überlagert und lässt so einen Querverweis auf die Medienrealität im New York der 1990er Jahre zu. Doch diese Welt „existiert nur noch als Teil einer neurointeraktiven Simulation, die [Morpheus] als Matrix bezeichne[t].“111 Es folgt ein Bruch und die Ruinen derselben Stadt werden in der nächsten Einstellung sichtbar: Neo und Morpheus befinden sich plötzlich inmitten des Schutts zerfallener Hochhäuser. Es liegen etwa 200 Jahre zwischen den beiden vorgestellten Welten. Dargestellt wird in der Matrix folglich keine technisch tatsächlich existierende Realität

108 Ob in einer solchen Umgebung überhaupt noch Verantwortung übernommen werden kann und nicht eher Moral, Ethik und Verantwortung voneinander entkoppelt werden, ist in diesem Zusammenhang eine weitere Fragestellung, die jedoch den Umfang dieser Arbeit überschreiten würde. Dennoch spielt Verantwortung und Moral eine Rolle in der Beziehung von Cypher und Neo, die als diametral entgegengesetzte Figuren dargestellt werden: Während der eine sich zurück in die Unwissenheit wünscht, beginnt der andere die Welt hinter dem unsichtbaren Vorhang zu sehen und wird erkenntnishungrig. 109 Vgl. hierzu sämtlich Gespräche zwischen Agent Smith und Neo sowie dem Architekten und Neo: Kann ein Simulakrum überhaupt Freiheit erlauben? Was ist diese scheinbare Freiheit innerhalb eines Simulakrums wert und wie echt beziehungsweise wirklich ist diese Freiheit? Ist das Simulakrum an sich nicht die größtmögliche Freiheit? Wobei sich hier gleichzeitig die Frage stellt, aus welchem oder vielmehr wessen Blickwinkel es in diesem Fall betrachtet werden muss. So unterscheiden sich die Bedrohungsfragen inner- und außerhalb der Matrix deutlich: Die Sorgen außerhalb (Leben oder Tod, Befreiung der Menschen) sind viel existentieller als die innerhalb (Job, Miete, Geld). 110 Vgl. Tastempfindungen in eXistenZ, in dieser Arbeit auf S. 241. 111 Matrix, Minute 39.

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von 1999 und der Fernseher dient als Symbol der medial unterstützten Manipulation in der Wahrnehmung. Die Wirklichkeit von 2199 sieht befremdlicher aus als die Welt innerhalb der Matrix mit ihrer flaschengrünen Variante von 1999. Der Mensch, so der Subtext der Filmtrilogie, lebt in einer postapokalyptischen Moderne, die ihm jedoch nicht bewusst ist. Es ist eine abstrahierte und medial überlagerte Welt, die an die realen 1990er Jahre erinnert, jedoch mit Adaptionen, die den Ausstieg aus der Matrix erschweren. Selbst wenn dieser Ausstieg zu gelingen scheint, bleibt dennoch unklar, ob das, was nun als Realität wahrgenommen wird, nicht eine weitere Stufe innerhalb einer vielschichtigen Simulation ist, deren Zweck im Dunkeln bleibt. Das Hyperreale wird als Wirklichkeit betrachtet, die Realität selbst hat aber keinen eigenen Ursprung, sondern ist trotz aller Details künstlich. Scheinbar Reales soll produziert werden und kann dadurch auch reproduziert werden. Aber „im Grunde ist es nicht mehr von der Ordnung des Realen, da es von keinem Imaginären eingehüllt wird.“ 112 Auch scheint hier durch Morpheus der Begriff der Wüste des Realen als Wüste der Wirklichkeit irreführend verwendet zu werden.113 Baudrillard sieht die Wüste des Realen in Bezug eines Reiches und seiner Landkarte, die nach außen hin im Idealfall homogen sind. Man lebt aber nicht in der Karte, sondern in den Spuren des Realen. 114 In der Darstellung von Matrix wirkt es, als ob die Matrix selbst die Karte wäre, die versucht, sich mit dem Reich in Deckungsgleichheit zu bringen. Das ist in dieser Form aber nicht korrekt, da genau genommen keine Bestrebungen der Maschinen in diese Richtung bestehen – weder in die Richtung, die Matrixwelt der Realität noch die Realität der Welt, wie die Matrix sie vorgaukelt, anzupassen. Anders wäre es möglicherweise, wenn die Maschinen tatsächlich versuchen würden, nach der „Karte“ der Matrix die vorgeblich echte Realität neu zu erschaffen und die Menschheit nicht weiterhin schlafend für sich selbst zu nutzen. Doch auch an anderer Stelle wird die Wahrnehmung der Umgebung undeutlich. Neo stellt, nachdem er sich auf dem Rebellenschiff eingelebt und mit seiner Ausbildung begonnen hat, fest, dass er nach einem Trainingsprogramm innerhalb dieser virtuellen Welt auch in seiner Wirklichkeit Verletzungen davongetragen hat. Wer in der Matrix stirbt, stirbt in der Neo erzählten Mythologie auch außerhalb, wird von den Maschinen abgekoppelt und zu einer Nährflüssigkeit weiterverarbeitet. Wenn somit das Bezeichnende, das Zeichen innerhalb der Matrix, vernichtet wird, verschwindet auch das Bezeichnete außerhalb der Matrix. Nur der Tod ist somit in beiden bekannten Welten real und hat unmittelbaren Einfluss auf

112 Baudrillard: Die Präzession der Simulakra, S. 9. 113 Vgl. Matrix, Minute 38. 114 Vgl. Baudrillard: Die Präzession der Simulakra, S. 8.

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die jeweils andere Wirklichkeit, denn auch dem Tod kann man mithilfe der Kunst nicht entkommen. Es gibt also eine bewusstseinsabhängige Realität, allerdings keine bewusstseinsunabhängige mittels eigener Wahrnehmung, denn was subjektiv betrachtet wird, kann niemals objektiv bewertet werden. Der Tod ist in diesem Fall ein Zeichen, für das kein symbolischer Tausch mehr möglich ist.115 In der Wohnung des Orakels – einem weiteren Programm der Matrix, das mit Cookies arbeitet116 – begegnet Neo infolgedessen einem kleinen Jungen in buddhistischer Mönchskutte. Dieser verbiegt telekinetisch Löffel, in denen sich Neo erneut auffällig spiegelt. Wie zuvor beim Tracing-Vorgang erscheint der Spiegel hier als Zerrbild, das keinen klaren Blick zulässt. Als der Junge bemerkt, dass er beobachtet wird, spricht er Neo an: Junge:

Versuch nicht, den Löffel zu verbiegen. Das ist nämlich nicht möglich. Versuch dir stattdessen einfach die Wahrheit vorzustellen.

Neo:

Welche Wahrheit?

Junge:

Den Löffel gibt es nicht. [...] Dann wirst du sehen, dass nicht der Löffel sich biegt, sondern du selbst.117

Der Junge leitet Neo dazu an, seine Umgebung weiter zu hinterfragen. Es ist eine Sache des Blickwinkels, wie die Welt wahrgenommen und was als Realität angenommen wird. Später wird Neo diese Fähigkeit nutzen können, wenn er den Code der Matrix durchschaut und sich aus den ihm bekannten Einzelteilen ein neues Simulakrum aufbaut, das in seiner Gestaltung an Roland Barthes’ strukturalistische Tätigkeit angelehnt ist. Filmtechnisch wird dies dargestellt, indem Neo den Code innerhalb der Matrix tatsächlich sehen kann und die Realität sich um ihn zu

115 Vgl. Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod, S. 9, 12 und 14 sowie S. 140 dieser Arbeit. 116 Cookies werden im Regelfall zwischen Internetbrowser und Webserver mit Daten hin- und hergeschickt. Sie werden temporär oder dauerhaft beim Nutzer gespeichert und sammeln Informationen, die bei Serveranfragen unaufgefordert mitgeschickt werden. Das Orakel nutzt Cookies bei Neo, um an Informationen zu gelangen, aber möglicherweise auch, um ihm bestimmte Informationen zukommen zu lassen, die seinen Blick auf die Matrix verändern, was im weiteren Verlauf ebenfalls dafür spricht, dass Neo selbst nur ein Programm unter vielen ist. Zu Cookies vgl. Kai Bruns, Paul Klimsa: Informatik für Ingenieure kompakt. Wiesbaden: Springer Vieweg 2001. S. 257f. Vgl. ebenso Fußnote 60 auf S. 218 dieser Arbeit. 117 Matrix, Minute 67.

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biegen scheint.118 Er lernt schließlich, die Simulation für sich selbst auszunutzen, ihre Regeln zu umgehen und zu brechen, weicht mühelos Kugeln aus und besiegt zuletzt scheinbar Agent Smith.119 Nachdem Neo am Ende des ersten Matrix-Films seine Bestimmung als Auserwählter gefunden hat und die Matrix tatsächlich überwunden zu haben glaubt, kündigt er den Maschinen an, was nun auf sie zukommen wird: „Ich werde […] den Menschen das zeigen, was sie nicht sehen sollen. Ich zeige ihnen eine Welt ohne euch, eine Welt ohne Gesetze, ohne Kontrollen und Grenzen. Eine Welt, in der alles möglich ist.“120 Doch genau dieser Aussage widerspricht die dargestellte Filmwirklichkeit mit ihrem Kulturpessimismus: Ein Simulakrum ist hier nur als Dystopie möglich, was wiederum eine Welt impliziert, in der eben nicht alles möglich sein kann. Diese Tatsache verweist auf Lücken im dargestellten System, die der Matrix andere Dimensionen von Möglichkeiten eröffnen und Hinweise auf die Simulation als künstlerisches Element zulassen. Die im Film auf den ersten Blick nur lose Zusammensetzung bekannter Ideen eröffnet einen neuen Blickwinkel auf die Thematik des Simulakrums und dessen medialer Betrachtung Ende der 1990er Jahre. Lücken in den behandelten Theorien werden als Leerstellen geschickt umspielt und der Zuschauer muss sich eine mögliche Antwort selbst erarbeiten. Die vielen Versatzstücke sind allesamt aus anderen Zusammenhängen bekannt, aber dennoch schafft es Matrix als Trilogie, sie in einen anderen Kontext zu setzen, der in der damaligen Zeit neuartig war: Während die umgebende Simulation bis dato im Film meist nur als ein Hintergrundrauschen erschien, wird sie hier zum handlungstragenden Element aufgebaut. Vordergründig beschränkt sie sich auf das, was der Mensch unmittelbar wahrnimmt, doch bei genauerer Betrachtung erweist sich dies als widersprüchlich. Vielmehr wirkt die dargestellte Umwelt in Matrix vollständig simuliert, inklusive derer, die als menschliche Wesen eingeführt werden. Stattdessen scheint es sich um eine derart umfassende Simulation einer geschachtelten virtuellen Welt zu handeln, die einen Blick aus dem Außen nicht mehr zulässt. Der Zweck dieser Simulation lässt sich nur vermuten, aufgelöst und erklärt wird dieser in letzter Konsequenz nicht. Neo wird in seiner Funktion als Anomalie der Matrix zum Erlöser, indem er immer wieder gegen Agent Smith antreten muss und diesen im abschließenden Teil der Filmtrilogie tatsächlich überwältigt. Dieser hatte sich zuletzt beständig selbst repliziert und die Matrix so übernommen. Mit dem Reboot wird auch er in seinen Ursprungszustand zurückgesetzt und seine unzähligen Kopien gelöscht.

118 Vgl. ebd., Minute 120. 119 Vgl. ebd., Minute 47 und 102. 120 Ebd., Minute 122.

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Die Anomalie Neo wird also nicht, wie im ersten Teil impliziert, zum Retter der Menschheit, sondern vielmehr zum Erlöser der Maschinen, da nur er einen Neustart der Matrix und damit eine Überarbeitung und Verbesserung der bereits bestehenden Simulation ermöglicht. Doch nur die scheinbar Wissenden, die sich innerhalb dieses Systems, aber außerhalb der Matrix befinden und sich letztlich als ebenso unwissend entpuppen wie jene, die nicht aus dem System befreit wurden, erkennen in einem scheinbaren Déjà-vu ein Zeichen der Virtualität, das auf die Konstruiertheit der künstlichen Umgebung hinweist. Die Matrix: Spiel und Verführung?

Als multimediales Großereignis ist das Matrix-Franchise eines der ersten, das in dieser umfassenden Struktur über begleitende Computerspiele verfügt, durch die die Geschichte teilweise erweitert wird oder sich zumindest nachspielen lässt. Während der erste Film durch die digitale Veröffentlichung des Trailers zum frühen Internetphänomen wurde, erschienen passend zu den Fortsetzungen die zugehörigen Computerspiele, die Matrix zu einem Massenphänomen samt spielerischer Erweiterungen werden ließen. Enter the Matrix war 2003 das erste offizielle Spiel zum Film, das inhaltlich die Brücke zwischen Matrix Reloaded und Matrix Revolutions schlägt.121 Es ermöglicht den Spielern, in die Matrix einzudringen und den Filmen ähnliche Sequenzen nachzuspielen, allerdings nicht in der Rolle Neos, sondern aus dem Blickwinkel von Nebencharakteren, die in den beiden Fortsetzungen auftreten. Gleichzeitig fließen Hintergrundinformationen zur Matrix mit ein, die in den Kinofassungen nicht vorkommen. Anders ist dies in The Matrix: Path of Neo (2005) gelöst, das sowohl Referenzen zum ersten Teil als auch zu den Nachfolgern aufbaut und den Spieler Neos Perspektive einnehmen lässt.122 Hunderttausendfach hat sich das Spiel verbreitet, schließlich ermöglichte es den Nutzern, sich scheinbar selbst Zutritt zur Matrix zu verschaffen.123 Um die Bandbreite noch zu erweitern, wurde im selben Jahr außerdem The Matrix Online (2005) publiziert, das einem anderen Spielprinzip folgte: Statt der vorgegebenen linearen Handlung der anderen beiden Spiele war dieses als MMORPG (Massively Multiplayer Online Role Playing Game) angelegt, denn hier ging es nicht darum, Filmsequenzen mit vorgegebenen Charakteren nachzuspielen, sondern sich einen eigenen Charakter zu kreieren, während die Spielhandlung nach dem Ende von Matrix Revolutions einsetzt. Folglich ist es hier möglich, sich die Matrix als Zu-

121 Warner Brothers Interactive: Enter the Matrix. USA 2003. 122 Warner Brothers Interactive: The Matrix: Path of Neo. USA 2005. 123 Vgl. Gramatikov, Zimmermann: „Die Matrix“ und die Frage, S. 290.

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schauer und Beobachter tatsächlich zu eigen zu machen und einem eigenen narratologischen Konzept innerhalb dieses dennoch vorgegebenen Universums folgen zu können. Das lässt eine Art der Immersion zu, die in den Filmen aufgrund des rein passiven Beobachtens nicht möglich war. Trotzdem ist es keine Option, ein wirklicher Teil der Matrix zu werden, denn bei aller Künstlichkeit innerhalb dieses Konstrukts sind auch die Spiele nur weitere Simulationen einer virtuellen Welt, die in der Gegenwart nie existiert hat. Die Matrix bleibt ein fiktives Gebilde, das zwar spielenderweise betreten werden kann, dem Nutzer aber trotz allem nur eine passive Teilhabe innerhalb eines vorgegebenen Bereichs ermöglicht, auch wenn durch die virtuellen Mitspieler ein menschlicher Faktor hinzukommt, der den anderen Spielen fehlt. Dennoch ist es nur ein Spiel, bei dem es Quests zu erfüllen gibt, nicht aber aus einer Simulation ausgebrochen werden kann. Das Spiel will für den Nutzer die Illusion der Matrix aufbauen, nicht aber die eigentliche Simulation durchbrechen, sondern vielmehr eine weitere Variante der Simulation als virtuelle Realität aufbauen, die mit jener der Trilogie jedoch schon aufgrund ihrer Struktur und technischen Umsetzung nur die Grundidee als narratologisches Konzept teilt. Im Verhältnis zu der Aussage der Filme ist dies natürlich widersprüchlich und dennoch liegt genau darin der Reiz der Spiele. Denn um diese Aufgaben meistern zu können, muss die Simulation bewusst aufgesucht werden, und der Nutzer schlüpft in die Rolle seines individuellen Charakters, der diese Aufgaben für ihn zu erfüllen hat. Selbstreflexivität innerhalb der Spiele sucht man allerdings vergebens, sie sind nur reflexiv in Bezug auf die Matrix selbst, nicht aber im Kontext von Computerspielen als Darstellungsform. Mit diesen Spielen kommt der Nutzer der Matrix scheinbar näher, als es 1999 noch vorstellbar war. Trotzdem bleiben sie bemerkenswert steril und können die eigentliche Idee der Matrix nur bruchstückhaft wiedergeben. So vielseitig diese Darstellungen auch sind, den Rezipienten bleibt dennoch nur die passive Rolle des Beobachters. Die Matrix tritt dabei als Schichtung von Simulationen auf: Sie selbst ist die Simulation einer Wirklichkeit innerhalb der Wirklichkeit. Der Film funktioniert dagegen nur als Abbild einer dargestellten Wirklichkeit und damit als Simulakrum. Gleiches gilt für die Spiele, die sich wiederum um die Filme ansiedeln und dieses Simulakrum erweitern und somit eine zusätzliche Schicht bilden. The Matrix Online war bis 2009 verfügbar, danach wurden mangels Interesse und aufgrund sinkender Zugriffszahlen die Server abgestellt.124 Sämtliche der Onlinespiele konnten sich nicht dauerhaft halten – zum einen, weil sie nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik entsprachen, zum anderen wohl auch deswegen, weil

124 Vgl. Martin Le: Matrix Online. Abschaltung der MxO-Server Ende Juli. Gamestar Online, 25. Mai 2009. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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Matrix als Gesamtkonzept seine Faszination über die Zeit verloren hat und von der Realität und anderen Gedankenspielen über simulierte Wirklichkeiten überholt wurde. Das Konstrukt Matrix hat sich selbst abgeschafft und an Reiz verloren in einer Gegenwart, die sich anders und bislang deutlich weniger negativ entwickelt hat, als der erste Film das zu suggerieren versuchte. Was als ein einzelner Film begonnen hat, ist über die Jahre zu einem widersprüchlichen Universum aufgebaut worden, ein Umstand, der der Reihe auch einen Teil ihrer Magie nimmt. Was in Matrix nur angedeutet war, wird in den beiden Fortsetzungen viel plakativer und gleichzeitig inhaltsleerer umgesetzt. Die Figur des Architekten ermöglicht dennoch eine andere Perspektive und lässt weitere Interpretationsvarianten zu, die sich aus den inhaltlichen Lücken des ersten Films ergeben, dadurch den Bedeutungsspielraum aber erheblich erweitern. Matrix Reloaded und Matrix Revolutions existieren im übertragenen Sinn in den Ruinen des ersten Teils, denn ohne das geistige Simulakrum dieses Films wären die Fortsetzungen tatsächlich nur leere Hüllen, die keine tiefer gehenden inhaltlichen Bezüge zueinander aufbauen können.125

125 Interessant ist an diesen Fortsetzungen, wie bereits angedeutet, einzig die Figur des Architekten im Zusammenhang mit der Rolle Neos und dessen Selbstbild innerhalb der Virtualität wie auch der Menschheit innerhalb der Matrix: Das MenschlichFleischliche wird zweitrangig innerhalb einer Simulation. Ein Fakt, der dennoch schwierig ist, denn ohne das Fleischliche ist, beruft man sich ausschließlich auf den ersten Film, der die Struktur hinter der eigentlichen Simulation als Realität bezeichnet, auch in der Matrix kein Existieren möglich und die Maschinen verlieren die Grundlage ihres Daseins und Fortbestehens. In diesen Sequenzen wird offensichtlich, dass das Konzept der Matrix entweder nicht ausgereift ist und in der Realität in dieser Form nicht bestehen könnte oder aber die Simulation viel umfassender ist, als ursprünglich angenommen, und das Außen tatsächlich keine Rolle mehr spielt und aus diesem Grund auch nicht mehr hinterfragt wird.

David Cronenberg: eXistenZ (1999) Kontingenzerfahrungen des Seins Ich warne Sie, es wird ein ganz wilder Trip! Allegra Geller1

Der kanadische Regisseur David Cronenberg näherte sich der Frage nach der Realität in seinem 1999 erschienenen Film eXistenZ auf eine andere Art und Weise an, als die Wachowski-Geschwister dies bei Matrix getan haben. Während dort die Simulation alle unsichtbar und unbewusst umhüllt, wird genau diese Künstlichkeit bei eXistenZ bewusst gesucht, indem Spielwelten als Simulakra generiert werden. Die Protagonistin Allegra Geller tritt hierbei als Spieldesignerin auf, die gemeinsam mit einigen Auserwählten ihr neues Werk eXistenZ in einem ehemaligen Kirchengebäude zum ersten Mal einem kleinen Teil der Öffentlichkeit zugänglich macht. Doch weit kommen die Spieletester nicht: Ein Attentäter, Noel Dichter, dringt in das Gebäude ein und bedroht Allegra mit einer speziellen Knorpelwaffe, die er aufgrund ihrer organischen Struktur unbemerkt am Sicherheitspersonal vorbei in die Kirche schmuggeln konnte. Er wird von Leibwächtern niedergestreckt, die allerdings so rigoros und wiederholt auf ihn schießen, dass schon zu diesem Zeitpunkt beim Zuschauer zu Recht das Gefühl aufkommt, dass sich die Akteure bereits hier außerhalb der vordergründig dargestellten Filmwirklichkeit befinden und innerhalb eines Spiels agieren müssen.2 Gemeinsam mit Ted Pikul, einem Mitarbeiter von Allegra, gelingt der verletzten Designerin die Flucht. Beide verstricken sich hierbei immer tiefer in undurchschaubare künstliche Realitäten, auch wenn Ted sich erst weigert, Allegra in ihre düsteren und unergründlichen Spielwelten zu folgen. Bei beiden – wie auch beim Zuschauer als Rezipienten – wächst im Fortgang der Handlung das Gefühl, die Wahrnehmung für die

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David Cronenberg: eXistenZ. USA 1999. Minute 7.

2

Ebd., Minute 9.

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Wirklichkeit beziehungsweise dessen, was anfangs als Wirklichkeit etabliert wird, zu verlieren. Nichts ist wie es scheint, einzig das Spiel steht im Mittelpunkt – sowohl im Film als auch in Allegras Denken. Der Film spielt mit der Idee, dass die Spielkonsole – der Gamepod – dort kein eigentliches elektronisches Gerät ist, sondern eine Apparatur, die aus organischen Substanzen hergestellt wurde und über das zentrale Nervensystem direkt in das Bewusstsein des Nutzers eingreift. Diese Gerätschaften bestehen aus mutierten Amphibieneiern, die mit synthetischer DNS angereichert wurden und sich ebenso mit Krankheiten infizieren können wie andere Organismen.3 Angeschlossen werden sie mittels eines Bioports, der im Rückenmark des Nutzers implantiert ist, was nicht weniger archaisch vonstattengeht als in Matrix, wo die Verbindung ebenfalls über Körperimplantate ausgeführt wird. In beiden Fällen wird das Nervensystem angezapft, um virtuelle Welten direkt im Verstand des Nutzers zu erzeugen. Doch so, wie die Konsolen durch einen Umbrychord, eine Art Nabelschnur, mit dem Körper verschmelzen, ist auch der ontologische Status der von Cronenberg dargestellten Welten unklar. So korrespondiert mit „[d]er Entgrenzung des Raumes […] folglich eine Begrenzung des Subjekts und seines Körpers, die ästhetische Vereinheitlichung und Teleskopierung von Raum [ist] […] an die […] Theorie seiner Unüberschaubarkeit und Endlosigkeit [gekoppelt].“4 Scheinbare Wirklichkeiten verschwimmen und verflüssigen sich. Unterstützt wird dieses Bild durch das Auftauchen eines Virus, das als weiteres Symbol der Verschmelzung der digitalen Räume betrachtet werden kann. Weil alles innerhalb derselben virtuellen Welt, die wiederum weitere virtuelle Welten enthält, stattfindet, kann auch das Virus all diese Welten durchdringen. Den Weg in die Realität findet es augenscheinlich jedoch nicht – einzig als gedankliche Struktur, die erhalten bleibt und zum Zeichen für das Virus wird, kann es diese Grenze überschreiten. Sowohl für den Zuschauer als auch für die Protagonisten entsteht ein nahezu undurchdringliches Geflecht von künstlichen Realitäten und simulierten Welten, die sich nicht mehr klar voneinander differenzieren lassen. Gleichzeitig greift eXistenZ nachfolgenden realen Spielen in bestimmten Aspekten vor, gerade auch in Bezug auf die reine Spielidee: Es handelt sich um eine Variante eines Open World Games, bei dem bestimmte Handlungsaspekte vorgegeben sind, um die Geschichte vorantreiben zu können. Darüber hinaus scheint es den Spielern weitest-

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Vgl. ebd., Minute 36.

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Linda Hentschel: Körpergrenzen – Raumöffnungen: Der Wille zu reinem Sex und der Penetrationskonflikt der Zentralperspektive. In: Linda Hentschel (Hg.): Pornotropische Techniken des Betrachtens. Raumwahrnehmung und Geschlechterordnung in visuellen Apparaten der Moderne. Marburg: Jonas 2001. S. 18-48, hier S. 24.

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gehend freizustehen, was genau sie zu welchem Zeitpunkt unternehmen. Das Spiel selbst greift allerdings bei Schlüsselszenen ein, in denen bestimmte Sätze gesagt oder Dinge getan werden müssen, um die vorgegebene Handlung erfüllen zu können. Die Spielwelt scheint dabei in eXistenZ nicht vorgegeben zu sein, sondern entsteht spontan aus dem Unbewussten der Nutzer, die sich dort einloggen, weswegen sie auch auf einer ganz eigenen und individuellen Regelhaftigkeit beruht, die nur schwer zu durchschauen ist. Der Zuschauer wird also zum passiven und beobachtenden Mitspieler dieser Ebene und weiß ebenso wenig wie die Protagonisten um den Status der dargestellten Welten. Die zu Beginn des Films gezeigte Kirche stellt sich am Ende als vermutlich erste simulierte Umgebung heraus, als eine der Spielwelten von transCendenZ, innerhalb derer das Spiel eXistenZ eine zentrale Rolle einnimmt. In der Kirche selbst gibt es „keine Ikonen oder andere religiöse Symbole mehr zu sehen, [was] in ihrer Kargheit auf eine Abwesenheit verweist, die es [hier] mit neuen (Bild-)Inhalten zu füllen gilt.“5 Diese Bildinhalte werden in diesem Fall durch die verschiedenen Spielwelten erschaffen, die verschiedene Wirklichkeiten abseits der Realität darstellen. Allein durch die unterschiedlich gestalteten Gamepods sind mindestens drei Schichtungen der Realität vorhanden: In der äußersten Ebene sind es blaue Kunststoffgerätschaften, die von den Spielern getragen werden; in transCendenz wiederum die bekannten Gamepods des Filmbeginns, die durch Nabelschnüre verbunden werden; wohingegen es in eXistenZ sogenannte Micropods gibt, ebenfalls auf organischer Basis, die gänzlich im Bioport verschwinden. Die Entwicklung innerhalb des Films verschleiert, dass die Technik, die verwendet wird, um die Spiele erleben zu können, längst nicht so weit ist, um wirklich den menschlichen Körper mit der Spielkonsole verschmelzen zu lassen. Folglich setzt die Handlung des Filmes in der zweiten Ebene, das heißt innerhalb von transCendenZ, ein, in der Allegra Geller in ihrer Rolle als Gamedesignerin ihr neues Spiel eXistenZ vorstellt, für das sie zwölf Testpersonen sucht, die gemeinsam mit ihr diese Welt zum ersten Mal betreten sollen.6

5

Simon Pühler: Metaflesh. Cronenberg mit Lacan. Körpertechnologien in SHIVERS und

6

Hier sind deutliche religiöse Bezüge eingearbeitet, die auszuarbeiten aber den Rahmen

eXistenZ. Berlin: Avinus Academia 2006. S. 103. dieser Arbeit überschreiten würden: Allegra wird in einer Kirche, in der keine Gottesdienste mehr gefeiert werden, als eine Art weiblicher Messias inszeniert, umgeben von zwölf Betatestern ähnlich den zwölf Jüngern. Gleichzeitig ist sie für Noel Dichter eine Dämonin, der das Handwerk gelegt werden muss. Diese Doppeldeutung aus Religion und Weltlichkeit durchzieht den gesamten Film, speziell innerhalb der Ebene von transCenzenZ, aber auch in der scheinbaren Realität.

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Die Verflüssigung der Räume in der Simulation Auf ähnliche Weise, wie der Körper mit den organischen Gamepods verschmilzt, verbinden sich auch die vom Rezipienten wahrgenommenen Wirklichkeiten, die von der eigentlichen Realität im weiteren Handlungsverlauf schließlich nicht mehr unterschieden werden können. Dies kann schon als erstes Zeichen der Bezugslosigkeit zur eigentlichen Realität gewertet werden, da übertriebene Gewalt wie die gegenüber dem Attentäter Noel scheinbar emotionslos gebilligt wird. Allegra überlebt den Anschlag und will, kaum in Sicherheit und trotz ihrer Verletzung, schließlich eXistenZ spielen, um zu überprüfen, ob das Spiel nicht möglicherweise doch beschädigt wurde. Der Angriff scheint Allegra zwar zu verstören, aber dennoch wirkt ihre Reaktion darauf kühl und distanziert, als ob auch dies Teil eines Spiels oder vielmehr eines Rätsels innerhalb eines Spiels wäre, das es zu lösen gilt. Für den Rezipienten ist in diesem Moment jedoch noch nicht klar, dass diese Episode wie auch schon der gesamte Beginn des Filmes bereits innerhalb einer mehrstufigen Spielwelt verortet ist. Ebenso bleibt auch am Schluss offen, ob die letzte Sequenz wirklich innerhalb der Realität spielt oder ob dies nur eine weitere virtuelle Welt innerhalb eines (weiteren unbekannten) Spiels darstellt. Der Film spielt bewusst mit dieser Ambivalenz, die für den Zuschauer eine verwirrende Vieldeutigkeit zur Folge hat. Betrachtet man die Handlung mit dem Wissen um das Ende des Films, wird in diesem Moment klar, welches Prinzip innerhalb dieser simulierten Welten vorherrscht: Eine offene Welt liegt vor den Spielern, keine Bots tauchen als Stichwortgeber auf, sondern reale Personen, die eine Rolle innerhalb des Spiels übernommen haben, die ihnen vorgibt, wie sie in bestimmten Momenten zu agieren haben, um die Spielhandlung voranzutreiben. Das Spiel selbst entsteht erst durch die Spieler und deren Erwartungen an das Narrativ, eine vorgegebene Struktur als erkennbarer und vor allem wiederholbarer Regelsatz scheint nicht zu existieren. Vermutlich ist aus diesem Grund ein Spiel auch nicht zwei Mal auf die identische Weise spielbar, da beim zweiten Durchlauf allein schon durch das nun vorhandene Vorwissen des Spielers andere Prämissen gelten würden. Für Ted ist die Welt, in der sich Allegra so selbstverständlich bewegt, zunächst fremd, da er beziehungsweise der Charakter, den er in transCendenZ und damit auch eXistenZ darstellt, sich dieser Art des Spielens bislang verweigert hatte. Dennoch überredet ihn Allegra dazu, gemeinsam mit ihr vollimmersiv in ihre ihm vollständig unbekannte Spielwelt einzutauchen. Ohne Partner oder Mitspieler ist die Welt leer; sie benötigt ihn, um zu überprüfen, ob dem Spiel während des Anschlags etwas zugestoßen

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ist.7 Auf Allegras Drängen hin lässt sich Ted schließlich widerwillig darauf ein. Er selbst besitzt zu Beginn keinen Bioport, lässt sich diesen aber in einer heruntergekommenen Tankstelle von deren Inhaber Gas legen. In der Zwischenzeit unternimmt Allegra einen Spaziergang im Freien an den Zapfsäulen vorbei. Sie berührt sie, streicht vorsichtig mit ihren Fingern über den Rost, der sich dort gebildet hat, als ob es ein völlig neues und fremdartiges Gefühl für sie wäre. Unbewusst scheint sie überprüfen zu wollen, ob sie noch über reale taktile Fähigkeiten verfügt – ein weiterer Hinweis darauf, dass sie sich bereits in einer virtuellen Welt befindet und eine Rolle spielt, obwohl diese Ebene der Handlung anfänglich als Realität eingeführt wurde.8 Dieser immanente Zwang des Berührens von Gegenständen und der damit verbundenen sinnlichen Erfahrung scheint eine der letzten Möglichkeiten zu sein, um sich der Realitätsebene bewusst zu werden, und zu überprüfen, wie der Status der Umgebung einzustufen ist. Doch auch dies stellt sich als trügerisch heraus und scheint vielmehr die Faszination zu unterstreichen, wie umfassend die Simulation geworden ist. Im Verlauf der weiteren Handlung werden diese Unterscheidungen zwischen Virtuellem und Realem unmöglich, auch zu diesem frühen Zeitpunkt sind sie trügerisch und täuschen die Protagonisten. Zuverlässige Mittel, um die Wirklichkeit und damit eine mögliche Realität zu enttarnen, bleiben den Protagonisten, deren Perspektive der Zuschauer über weite Strecken teilt, verwehrt. Ted wird erst nach seinem Besuch in eXistenZ feststellen, dass er nach einem Aufenthalt dort sein eigenes Realitätsempfinden anzweifelt und dieses auch bewusst anzweifeln muss. Von Allegra wie auch von Gas hingegen wird die Realität als ein Käfig empfunden.9 Beide Aussagen fallen allerdings innerhalb der transCendenZ-Realitätsebene, die für den Zuschauer in diesem Moment der Filmwirklichkeit entspricht. Es scheint, als würde der Zweifel an der Umwelt von den Spielentwicklern – zumindest aber von Cronenberg – bewusst als Spielelement inszeniert werden. Mit einer offen gehaltenen Schlusssequenz wird am Ende des Films nochmals der gesamte Handlungs- oder vielmehr der vollständige Spielverlauf infrage gestellt, denn es „gibt keinen eindeutigen Be-

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Allegra personifiziert ihr Spiel eXistenZ und spricht von ihm, als ob es ein lebender und einzigartiger Organismus wäre. Über weitere Kopien verfügt sie nicht. Einzig das Original, das sich in ihrem Gamepod befindet, existiert zu diesem Zeitpunkt.

8

Vgl. eXistenZ, Minute 23. Cronenberg zeigt dies auch beim Bildaufbau der Tankstelle von außen. Es gibt einen Moment, in dem die Tankstelle wie in sich selbst gespiegelt wirkt mit der rostigen Zapfsäule in der Mitte, an der die zweiköpfige Echse zum ersten Mal erscheint. Der Regisseur streut Spuren, um den Zuschauer zu verwirren und ihm den eigentlichen Bezug zur Filmrealität zu verbauen. Vgl. Pühler: Metaflesh, S. 133.

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Vgl. eXistenZ, Minute 25.

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zugspunkt, kein Anfang und kein Ende und damit keine symbolische Realität in eXistenZ.“10 Es bleibt auch unklar, ob überhaupt eine Form von Realität innerhalb der erzählten Handlung zugänglich ist, denn durch die vielschichtige Erzählstruktur, die mit Ebenenwechseln innerhalb der Spielrealitäten gekoppelt ist, wird dem Zuschauer die Möglichkeit einer Einordnung dieser simulierten Welt nicht gestattet. Der genaue Blick auf die Realität innerhalb des Filmes bleibt verstellt, dezidierte (Auf-)Lösungsmöglichkeiten werden bis zuletzt nicht angeboten. Dennoch liegt die Vermutung nahe – ausgehend davon, dass das Spiel transCendenZ die emotionalen Zustände, Weltsichten und das Wissen der jeweiligen Spieler in eine Art individuell erschaffenes Spielsystem überträgt – dass die letzte Sequenz tatsächlich die im Film vorgestellte wirkliche Realität sein könnte und wirklich nur alles, was vorher stattgefunden hat, in verschachtelten Spielwelten simuliert worden ist. Die entfesselte Virtualität Der ontologische Status von eXistenZ muss immer wieder infrage gestellt werden, wie auch der ontologische Status einer Simulation selbst, denn immer wieder „stellt sich […] die Frage, ob diese Intervention, der Zweifel […] womöglich nur eine simulierte Funktion innerhalb des grotesken Spiels ist.“11 Denn genau dieser methodische Zweifel ist „Ereignis und Operation im Diskurs technischer Naturbeherrschung[, e]s prozessiert als Effekt der Nicht-Integrierbarkeit des Realen auf diesem Feld.“12 Was genau hier gespielt wird, bleibt aber im Unklaren, denn die „Realität scheint in vielen Bereichen in ähnlicher Weise cronenbergesque zu sein.“13 Immer wieder taucht eine mutierte Echse mit zwei Köpfen auf, zum ersten Mal entdeckt Allegra sie bereits an Gas’ Tankstelle. Für Ted ist die Echse neu, während Allegra sie später lapidar als ein Zeichen der Zeit betrachtet und ihr vorerst keine weitere Beachtung schenkt.14 Im erweiterten Sinn kann diese Echse ebenso als Zeichen der Realitäten gedeutet werden, denn so, wie diese Echse mehrere Köpfe hat, ist auch die scheinbare Realität multipel. Passend hierzu erscheint die Echse immer dann, wenn der Status der Welt(en) unklar ist und zur janusköpfigen Zweideutigkeit wird. Die Echse ist mutiert und somit ebenso künstlich wie die vorgebliche Realität, die immer wieder um- und überformt wird. Zum zweiten

10 Pühler: Metaflesh, S. 153. 11 Ebd., S. 157. 12 Ebd., S. 167. 13 Ebd., S. 164. 14 Vgl. eXistenZ, Minute 33.

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Mal ist die Echse zu sehen, als Allegra und Ted auf dem Weg zu Kiri Vinokur, einem Freund von Allegra, sind. Ein drittes Mal taucht sie schließlich im chinesischen Restaurant innerhalb von Allegras Spiel auf, zu dem die beiden gelotst werden, um dort ein bestimmtes vorgegebenes Gericht zu bestellen, denn eben jenes entpuppt sich ebenfalls als die doppelköpfige Echsenart, die nun als Spezialität des Hauses kredenzt wird.15 Sie bildet später die Grundlage der Knorpelwaffe und wird damit zum Tötungswerkzeug. Die Realität stirbt wie auch die Echse, die Ted unter dem Zwang des Spiels mit sichtbarem Ekel verspeist. Allegra und Ted erleben in jedweder Form von Gegenwart, in der sie sich befinden, nur eine Art der Hyperrealität, die den Bezugspunkt zur eigentlichen Welt längst verloren hat und damit wiederum nur noch eine Kopie ohne Original darstellt, das Double der Wirklichkeit.16 Verweisen hier die Zeichen noch auf etwas oder sind die Körper innerhalb der Filmwelt nur noch Signifikant für das Signifikat des menschlichen Geistes? Im Gegensatz zu den offensichtlichen und multiplen Realitäten existiert Allegras Spiel laut ihrer eigenen Aussage jedoch nur ein einziges Mal. Daher lässt sie ihren Gamepod nicht aus den Augen und ist umso empörter, als dieser beschädigt wird, nachdem Ted sich gemäß ihrer Anweisung zum ersten Mal in eXistenZ einloggen sollte. Daraufhin suchen sie den bereits erwähnten Kiri auf, der den Gamepod wiederherstellen soll. Auch Teds von Gas absichtlich unsauber implantierter Bioport wird ersetzt und so gelangt er schließlich gemeinsam mit Allegra zum ersten Mal innerhalb der vorgestellten Realität in die scheinbar eigentliche Spielwelt. Der Übergang ist fließend und kaum zu bemerken: Ein Schritt, und sie befinden sich in einem Computerspieleladen, tragen andere, elegantere Kleidung. Für Ted ist diese Erfahrung neu und ebenso, wie zuvor schon Allegra, sucht nun er taktile Reize, indem er Dinge gezielt berührt und Gegenstände abtastet. Er fühlt sich fremdartig und fremdgesteuert, als ob er die Kontrolle über seinen Körper verlieren würde, so lange er sich in dem Spiel befindet. Dabei spricht er in diesem Fall nur von seiner Wahrnehmung von eXistenZ. transCendenZ wurde zu diesem Zeitpunkt im Film auf inhaltlicher Ebene noch nicht thematisiert. Im Laden entdecken sie schließlich eine andere Variante der Gamepods, sogenannte Micropods der Firma Cortical Systems. Sie verweisen auf ein Spiel innerhalb des Spiels, das innerhalb eines anderen Spiels stattfindet. Zu Beginn des Films ist von Antenna Research als Entwicklerfirma hinter eXistenZ die Rede, am Ende in der äußersten Schichtung schließlich von PilgrImage, die das Spiel trans-

15 Vgl. ebd., Minute 59. 16 Vgl. Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen. München: Matthes & Seitz 1996. S. 47.

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CendenZ vermarkten. transCendenZ ist somit die Umgebung, in der eXistenZ als Spiel handlungsimmanent ist. Anhand der genannten Firmennamen und dargestellten Spielgeräte können mindestens drei Ebenen unterschieden werden, und in jeder tauchen bestimmte Figuren auf, die jedoch je nach Spielumgebung verschiedene Rollen innehaben. Das Spiel innerhalb von eXistenZ, das mit den Micropods gespielt werden kann, hat keinen bekannten Titel. Es bleibt unklar, ob dies ein weiterer Aspekt von transCendenZ in Form des nächsten Levels ist oder ob dies schlicht nicht thematisiert wurde, um die Ambiguität der verschiedenen Spielebenen noch zu unterstreichen. Deutlich sind im Film Bezüge zu Computerspielen der späten 1990er Jahre zu erkennen, gerade weil sich Videospiele seither konsequent weiterentwickelt haben und realistischer geworden sind. Betrachtet man Computerspiele als Kunst, so befindet sich diese zu jener Zeit noch in einem Anfangsstadium, das unendlich viele Möglichkeiten der Weiterentwicklung bietet. In eXistenZ tritt D’Arcy Nader beispielsweise als programmierte Spielfigur auf, die Allegra und Ted die Micropods verkauft. Eine Figur wie er gibt das Spielprinzip der damaligen Zeit mit einem Non Playing Character sehr punktgenau wieder, denn um ihm eine Reaktion entlocken zu können, muss er mit bestimmten Sätzen konkret angesprochen werden.17 Er reagiert folglich nicht autark, sondern benötigt bestimmte Reize, um seiner Rolle entsprechen zu können, wirkt dabei jedoch hölzern und schlecht programmiert. Ted als Spielcharakter fühlt sich indessen gezwungen, bestimmte Dinge auszusprechen. Um die Handlung voranzutreiben, sei dies notwendig, erklärt ihm daraufhin Allegra, die sich immer mehr zur Regisseurin ihres Spiels erhebt und trotzdem die Kontrolle über selbiges zu verlieren droht.18 Durch die Micropods betreten beide wiederum die bereits erwähnte, dieses Mal namenlose weitere Realitätsebene, die in der Simulation einer schmutzigen Forellenfabrik spielt. Jean Baudrillard hat sich in seinem Essay Simulacra and Science Fiction (1991) ebenfalls mit Fabriken beschäftigt, wenn auch in einem etwas anderen Zusammenhang. Die von ihm beschriebenen Fabriken sind „fake, but they are real – or hyperreal – and that by being so, they send all ‚real‘ production, that of ‚serious‘ factories, into the same hyperreality.“19 Die Forellenfabrik in eXistenZ nimmt eine ähnliche Rolle ein, im Prinzip produziert sie nichts außer den gentechnisch ver-

17 Vgl. Computerspiele wie Monkey Island oder Gothic, in denen die Nebenfiguren nur auf bestimmte Sätze, die vom Spieler aus einer Auswahl heraus angeklickt werden müssen, bestimmte Antworten geben. 18 Vgl. eXistenZ, Minute 42. 19 Jean Baudrillard: Simulacra and Science Fiction In: Science Fiction Studies. Ausgabe 18, Nummer 3. November 1991. S. 309-313, hier S. 312.

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änderten Bauteilen auf organischer Basis, die die Grundlage der Gamepods bilden. Gleichzeitig wird aus diesen Bauteilen im Verborgenen Material für Waffen, die mit üblichen Metalldetektoren nicht entdeckt werden können, hergestellt. Doch das übt nicht die eigentliche Faszination dieser Fabrik aus, sondern vielmehr eine hyperrealistische Indifferenz: „[T]he fact that all the rest of production has no more referentiality or profound finality than this ‚business simulacrum‘.“ 20 Was oder vielmehr wie genau in der Forellenfabrik Dinge hergestellt werden, bleibt trotz aller Erklärungsversuche im Dunkeln und spielt im Gesamtkontext keine Rolle.21 Erst im bereits erwähnten chinesischen Restaurant derselben Spielebene finden die zwischenzeitlich getrennten Allegra und Ted wieder zusammen. Mit dem Wechsel zwischen den Ebenen kommt Ted jedoch nicht zurecht. Innerhalb von eXistenZ fühlt sich das Leben wie luzides Träumen an, er macht sich Sorgen um seinen Körper, der während dieses virtuellen Gesprächs in der Spielwirklichkeit schlafend im Haus Kiris liegt: Ted:

Ich fühle mich so verwundbar, so entkörperlicht.

Allegra:

[...] Alle deine Sinne funktionieren wie sonst auch. Sobald ein Problem auftaucht, wird das Spiel sofort unterbrochen. 22

Durch das entkörperlichte Gefühl büßt Ted seine Wahrnehmungsfähigkeit für die Wirklichkeit zunehmend ein. Er empfindet sein gesamtes Umfeld als irreal und versucht kurz darauf, das Spiel zu verlassen, um außerhalb festzustellen, dass er sich immer noch „losgelöst [fühlt] von [s]einem richtigen Leben [und] das Gefühl für [s]einen Körper“ verliert. 23 Durch das scheinbar lückenlose Durchschreiten verschiedener Spielwelten befinden sich sowohl er als auch Allegra in einer Art Hyperrealität, die für Ted vordergründig zu einem Wirklichkeitsverlust führt.24

20 Ebd., S. 312. 21 Interessant ist hierbei, was inzwischen im Computerspiel Minecraft möglich ist. Dort können halbautomatische virtuelle Maschinen gebaut werden, die weiterhin Gegenstände herstellen, die eine ähnliche Funktion wie die der Forellenfabrik in eXistenZ einnehmen. Vgl. Microsoft Interactive: Minecraft. USA 2014. 22 eXistenZ, Minute 48. 23 Ebd., Minute 56. 24 Vgl. Hegel zu Entfremdung: „Dies Beisichsein des Geistes, dies Zusichselbstkommen desselben kann als sein höchstes, absolutes Ziel ausgesprochen werden. Nur dies will er, und nichts anderes. […] Der Geist, indem er zu sich selbst kommt, erreicht dies, freier zu sein. Nur hier tritt wahrhaftes Eigentum, nur hier wahrhafte eigene Über-

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Dass dieses Gefühl außerhalb von eXistenZ bestehen bleibt, wundert nicht in Anbetracht dessen, dass Ted sich immer noch in einem Spiel – in diesem Fall transCendenZ – befindet, das ihm erst am Ende wieder bewusst wird. Je nachdem, wie die Ebenen innerhalb des Filmes gelagert sind, befinden sich er und Allegra, als er das Spiel unterbricht, entweder in der fünften Realitätsebene oder wieder in der ersten, in welcher der Film begonnen hat.25 Zeichen sind folglich auch hier nicht mehr eindeutig zuordenbar. Was ist Zeichen, was ist Bezeichnetes, und welche Konsequenzen hat diese Verunsicherung? Selbst in der vorgeblichen Realität fühlt sich Ted in seinen Grundfesten verunsichert: Allegra:

Wie ist jetzt dein Gefühl? [...] Dein echtes Leben?

Ted:

Es kommt mir so unecht vor.

Allegra:

Jetzt steckst du in der Sackgasse und möchtest zurück […], denn hier passiert nichts. Wie langweilig.

Ted:

Es ist noch schlimmer als das. [...] Ich weiß nicht mehr, ob das hier die Wirklichkeit ist. Vielleicht ist das hier das Spiel? Und du bist eine der Figuren, die ihre Rolle spielt.26

Für Ted bleibt in diesen Sequenzen ein unangenehmes Gefühl zurück, das ihn in dieser Stufe der Simulation nachhaltig verstört, was von Allegra jedoch nicht ernst genommen wird. In ihrer Rolle als Entwicklerin ist sie zu keiner Kritik an ihrem eigenen Spiel bereit.27 Nachvollziehbare Regelsysteme scheint es innerhalb der

zeugung ein. In allem als im Denken kommt der Geist nicht zu dieser Freiheit.“ Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, Werke 18. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. S. 41f. 25 Je nachdem, wie die dargestellten Realitätsebenen beziehungsweise Schichtungen betrachtet werden, könnten es mindestens fünf unterschiedliche Schichtungen sein oder aber, geht man davon aus, dass die Spielekonsolen alleinige Indikatoren für die Realitätsebene sind, nur drei. Dennoch besteht die Möglichkeit, dass sich jeder Szenenwechsel in eine andere Ebene begibt – mit minimal veränderten Varianten der vorherigen Welt. Der Film lässt gedanklich beide Möglichkeiten zu, da er keinerlei Bezugssystem zu einer tatsächlichen Wirklichkeit innerhalb der Filmrealität darzustellen versucht. 26 eXistenZ, Minute 58. 27 Am Ende stellt sich heraus, dass sowohl Allegra als auch Ted zu den Freunden der Realität gehören, die sich gegen diese Art der Spiele aussprechen. Das macht im Rückblick oben zitierte Szenen umso interessanter, denn mit dem Wissen um das Ende des Films stellt sich die Frage, inwiefern diese Sequenzen gespielt, emotional wirklich so erlebt oder vom Spiel erzwungen sind.

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Spiele ohnehin nicht zu geben, was sich zunehmend auf die dargestellte Ich-Integrität von Ted auswirkt: Sein Zweifel an der Umgebung wächst, alles muss erfühlt und ertastet werden, denn dieses Tasten täuscht ihm vor, sich in einer realen Welt zu befinden, im Virtuellen ehemals unterdrückte Sinne stellen sich hierbei wieder mehr in den Vordergrund. Allegra erlebt diese Zweifel nicht beziehungsweise unterdrückt diese – vielleicht auch unbewusst oder durch das Spiel selbst initiiert – in ihrer Rolle als Spielentwicklerin. Ted hat innerhalb des Spiels jeglichen Bezug zur Wirklichkeit verloren, wodurch auch seine Kontrollversuche zum Scheitern verurteilt sind, denn er muss die ihm zugeteilte Rolle in eXistenZ weiterspielen. Die virtuelle Grenze des Imaginären zwischen seinem Ich und der Umwelt verschiebt sich immer mehr und wird zur „fantasmatische[n] Subversion dieser Grenze, sodass [das Imaginäre] dann kaum mehr räumlich wie auch zeitlich zu bestimmen ist.“28 Es geht um unbeschränkte Mach- und Manipulierbarkeit der digitalen Gegenwart, die eine „dritte Natur virtuell […] erschaffen bzw. […] simulieren“ soll, bei der „der reale Körper […] während seiner digitalen Ausweitung überflüssig zu werden“ scheint.29 eXistenZ als ein Film ist die „Programmiersprache, das Programm oder die Speichereinheit als sie selbst“, weswegen „die Rezeption mithilfe narrativen Allgemeinguts des Kinozuschauers […] gestört [ist], weil er [in diesem Narrativ] nicht nur eine (Film-)Geschichte erzählt bekommt.“30 Die Leinwand wird zum Bildschirm, das narrative Konzept wird zum virtuellen Rollenspiel, das den Zuschauer dennoch nur passiv teilnehmen lässt und ihn zum heimlichen Beobachter macht. Auf Allegras erneutes Drängen hin kehren sie und Ted wieder in das Spiel zurück und finden sich erneut im chinesischen Restaurant wieder, in dem sie sich vor dem Spielabbruch aufgehalten haben. Auch das Wiedereintauchen bereitet Ted Unbehagen. Er zeigt sich wenig begeistert, als er vom Spiel zu ihm unliebsamen Handlungen genötigt wird. Für Allegra fühlt sich das, wie sie selbst sagt, wie im richtigen Leben an, da Ted in ihren Augen „gerade noch so viel Freiheit [besitzt], dass es interessant ist.“31 Das Spiel übt einen Zwang auf den Körper aus, der Spieler muss sich unterwerfen, was Ted zum einen mit Ekel erfüllt, zum anderen aber fasziniert und verstört. Unfähig zur Gegenwehr verzehrt er mit der als so bezeichneten „chinesischen Spezialität“ Dinge, die ihn eigentlich zutiefst ab-

28 Pühler: Metaflesh, S. 41. 29 Ebd., S. 34. 30 Marek Bringezu: Verlorene Identitäten. Die drei jüngsten Filme von D. Cronenberg. In: filmforum „Zeitschrift für Film und andere Künste“ 20/1999. S. 36-37, hier S. 37. 31 eXistenZ, Minute 64.

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stoßen: „[...] in diesem Spiel wirkt alles so realistisch. […] In Wirklichkeit könnte ich das nicht. […] Der freie Wille zählt offensichtlich nicht besonders viel in dieser kleinen Welt hier.“32 Stattdessen setzt sich das Spiel durch, denn „[e]ntscheidend ist, dass dem mutierenden Subjekt letztendlich keine Wahl, keine Möglichkeit bleibt, sich aus dem Experiment zu verabschieden und der biotechnologischen Fatalität zu entkommen.“33 Perfide ist hierbei, „dass [das Spiel] den SpielerInnen vorgaukelt, noch eine gewisse Entscheidungsfreiheit zu haben, was hier die Funktion des Virtuellen wiedergibt.“34 Folglich ist eXistenZ „nur eine Simulation einer solchen Freiheit“, die durch das Spiel selbst immer wieder ad absurdum geführt wird.35 Auf die Nutzer übt das einen gewissen Reiz aus, vielleicht sogar gerade weil Spiele dieser Art den freien Willen unterdrücken oder zumindest stark einschränken, da hiermit auch die Entscheidungsmacht abgegeben wird. Da die Spiele nutzerabhängig entstehen, dürfte neben dem Handlungsverlauf im Vorfeld auch nicht unbedingt bekannt sein, wie sich das Spiel entwickelt und wie viel Eigeninitiative des Spielers überhaupt möglich ist, was den Nervenkitzel des Spiels bereits im Vorfeld verstärken dürfte. Gleichzeitig lässt der Film offen, ob im Fall von transCendenZ und eXistenZ diese Rollen der Nutzer bewusst (aus)wählbar sind oder ob sie vom Spiel (generisch) zugewiesen werden. Ebenso ungeklärt ist, ob dieses narratologische Mittel nicht durch die spielfeindliche Grundstimmung erst verursacht wurde und diese Art von Spiel normalerweise anders ablaufen müsste. Aus den Überresten der chinesischen Spezialität, die aus der schon bekannten zweiköpfigen Echse besteht, baut Ted währenddessen wie ferngesteuert eine Knorpelwaffe, die jener gleicht, mit der Allegra zu Beginn des Filmes angeschossen wurde, und tötet damit aus einem Impuls des Spiels heraus den Kellner. Yevgeny Nourish, den Ted bereits in der Forellenfabrik kennengelernt hatte, hilft ihm und Allegra bei der Flucht. Er erklärt schließlich, dass für diese Waffen offensichtlich Knochen als organische Bausteine genutzt werden, die „mit Suchgeräten nicht auffindbar sind.“36 Diese organischen Waffen lassen Rückschlüsse auf Paul Virilio zu, allerdings sind hier im Gegensatz zu Virilios These die Waffen tatsächlich vorhanden und lassen sich nicht auf ein Täuschungsmanöver reduzieren. In Die Sehmaschine (1989) entwirft Virilio das Bild von Waffen, deren Existenz gleichgültig ist, da es einzig um die Drohkulisse geht, die allein der Gedanke

32 Ebd., Minute 63. 33 Pühler: Metaflesh, S. 114. 34 Ebd., S. 114. 35 Ebd., S. 114. 36 Ebd., Minute 68.

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an die mögliche Existenz aufbauen kann, während die Wirksamkeit von Gegenmaßnahmen im Wesentlichen „auf ihrer scheinbaren Nicht-Existenz“ beruht.37 Hier wird die Existenz der Waffen aufgrund ihrer organischen Beschaffenheit verborgen, die Drohkulisse stellt die Ununterscheidbarkeit der Realitätsebenen inklusive ihrer Für- und Gegensprecher dar. Die verwundete Realität außerhalb der Simulation scheint im Verborgenen zu existieren, versteckt in der Hyperrealität der Spielwelten. Allerdings befinden sich diese Waffen innerhalb der Simulation von eXistenZ und transCendenz, weswegen sie in der Welt außerhalb in dieser Form vermutlich nicht existieren, denn dort tauchen zuletzt nur metallene Schusswaffen auf.38 Wer hier schlussendlich wen mit welchen Mitteln bekämpft, ist kaum benennbar, die Spielebenen verdichten sich und lassen gleichzeitig keine klare Trennung mehr zu. Auch die eigentlich spielfeindliche Haltung von Allegra und Ted bleibt lange Zeit im Dunkeln, da sie in jeder dargestellten Wirklichkeitsvariante minimal anders reagieren. Auffällig ist jedoch der Unterschied zur äußersten Wirklichkeitsebene und außerhalb von transCendenZ, wenn die beiden Yevgeny, der sich dort als eigentlicher Spieldesigner herausstellt, erschießen, allerdings dieses Mal mit echten Waffen: Wer bekämpft nun welche Art der Realität und die Wahrnehmung selbiger? Die Handlung selbst wird im Verlauf immer verworrener. Es tauchen sogenannte Feinde und Freunde der Realität auf und es kommt zu einem Konflikt zwischen diesen beiden Gruppierungen: Die Freunde der Realität kämpfen für die Eroberung des Realen, während sich die Feinde der Realität für den Erhalt des Symbolischen einsetzen.39 Innerhalb der Spielwelt von eXistenZ erscheint schließlich Yevgeny als Doppelspieler, der zunächst vorgibt, Freund der Realität zu sein. In jeder dargestellten Variante der Wirklichkeit spielt er eine zentrale, wenn auch schwer eingrenzbare Rolle, die bereits erahnen lässt, dass er über die Simuliertheit der dargestellten Welten mehr weiß als die anderen Protagonisten. Im Spiel eXistenZ entpuppt er sich dann aber als Feind der Realität, der für den Entwickler Cortical Systems, dem Konkurrenten von Antenna Research, arbeitet. Vordergründig gibt er sich vor Allegra und Ted als Untergrundkämpfer aus, was später in D’Arcy Naders Spieleladen von Hugo Carlaw, dem dortigen Kassierer, widerlegt wird: Nicht Yevgeny, sondern D’Arcy sei ein Doppelagent von Cortical Systems, der wiederum Yevgeny Informationen zugespielt haben soll. Hugo hingegen inszeniert sich als echten Freund der Realität. Die Grenzen zwischen den einzelnen

37 Paul Virilio: Die Sehmaschine. In: Die Sehmaschine. Berlin: Merve 1989. S. 133-172, hier S. 150. 38 Vgl. eXistenZ, Minute 99. 39 Vgl. Pühler: Metaflesh, S. 130.

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Spielwelten sind fließend und undurchsichtig. Wer sich zu welcher Gruppierung bekennt, ändert sich je nach Spielebene. Gleichzeitig wechseln die Schauplätze immer wieder zwischen Kiris Chalet, dem Computerspieleladen und der Forellenfabrik, die hierbei als Signifikat im Herz der Maschine von eXistenZ inszeniert wird.40 Wie in Snow Crash erscheint es zuletzt auch hier möglich, ein (digitales) Virus in eine andere Welt einzuschleusen, doch da sich letztlich alle der Welten innerhalb von transCendenZ als virtuell entpuppen, gelangt das Virus hier nicht in die vorgebliche Wirklichkeit, infiziert die Spieler aber dennoch mit dem ihm innewohnenden Gedankengut: Die virtuelle Welt zersplittert mit der Infektion des Gamepods in der Forellenfabrik, als aus Allegras Gamepod überall Sporen austreten. Dem folgt ein Zusammenbruch der Welt der Bilder. Ihr Gamepod wird virulent, wie auch die Frage nach der Realität immer drängender wird. In eXistenZ hat sich Allegra bewusst mit dem Virus infiziert, der auch fatale Auswirkungen auf die nächste Ebene der Simulation hat. Es scheint, als würde hier die „Subversion, die Destabilisierung […] vom Inneren der Systeme [ausgehen], weil sie erschöpft sind[, obwohl es das] Schicksal der herkömmlichen ökonomischen und politischen Systeme [war], von außen kritisiert und untergraben zu werden.“41 Hier wird das System aber aus dem Inneren heraus zerrüttet, was durch die Sporen versinnbildlicht wird. Simulation und Kunst, beides baut hier aufeinander auf und verbreitet sich wie eine Infektion. Beides zu trennen ist mit Schmerzen verbunden, denn Allegra droht zu verbluten, nachdem Ted, um die Infektion einzudämmen, die nabelschnurartige Verbindung zu ihrem Gamepod durchtrennt hat. Yevgeny taucht mit einem Flammenwerfer in seiner tatsächlichen Funktion als Feind der Realität auf und verbrennt Allegras infizierten Gamepod. „Tod dem Realismus“, brüllt er, doch die Virtualität, die Simulation, die Kunst sind nicht zu töten, sondern verbreiten sich mit den schwarzen Sporen, die nun aus dem Gamepod entweichen.42 Diese Sporen sind Zeichen dafür, wie virulent dieser Gedankengang der virtuellen Welt ist und wie sehr alles miteinander verwoben ist. Dann erwachen Allegra und Ted in Kiris Chalet. Das Virus, das die Sporen verursacht hat, haben sie mit in diese andere Spielebene gebracht. Es dringt in das bis dato scheinbar reale Leben ein, was wiederum auf eine weitere Verflüssigung der Welten hindeutet: Sie infizieren sich gegenseitig und verweisen damit gleichzeitig auf ihre

40 Vgl. ebd., S. 144. 41 Jean Baudrillard: Viralität und Virulenz. Ein Gespräch. In: Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien. Frankfurt: Suhrkamp 1991. S. 81-92, hier S. 81. 42 Vgl. eXistenZ, Minute 73.

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gegenseitige Abhängigkeit. Allegra nennt es einen „Fall von völlig verrückter Osmose.“43 Die virtuellen Welten oszillieren so sehr, dass der Zuschauer – genau genommen schon von Beginn an – nicht (mehr) wahrnehmen kann, innerhalb welcher Ebene sich die Protagonisten befinden. Der Einbruch des Realen ist unvermeidbar: Hugo Carlaw als Freund der Realität taucht ebenfalls im Chalet auf und tötet schließlich Allegras organischen Gamepod aus der dortigen Wirklichkeit. Durch die Zerstörung der Spielgeräte löst sich die dargestellte Wirklichkeit von innen heraus auf, was die Zersplitterung des Virtuellen immer weiter nach außen trägt. „Hier sehen wir den Sieg der Realität“, ruft Hugo, ehe er zu erkennen gibt, dass er genau weiß, wer Allegra ist, denn sie könne sich „nicht ewig in einem Spiel verstecken.“44 Sie flieht mit Ted. Im Freien treffen sie erneut auf Kiri, der wiederum Hugo mit der bereits bekannten Knorpelwaffe erschießt. Wie die Echse für multiple Realitäten steht, so steht die Knorpelwaffe immer mehr für den Versuch der Vernichtung der Wirklichkeit(en). Virtualität hingegen wird zunehmend als organisches Konzept verstanden, was sich in den verschiedenen Ebenen der Spiele unendlich widerspiegelt und durch die Darstellung der Sporen noch verstärkt wird. So, wie diese Art der Waffen nicht geortet werden kann, ist auch die eigentliche Wirklichkeit innerhalb der Virtualität längst nicht mehr erkennbar. Zumal nun eben doch eine Kopie von eXistenZ auftaucht, die von Kiri, der sich als Überläufer zu Cortical Systems entpuppt, heimlich angefertigt wurde Dieser Wirklichkeitsverlust könnte sowohl am Spiel selbst liegen als auch eine Nebenwirkung des Spielens an sich sein, ebenso erwünscht wie unerwünscht, denn Ted ist sich im Gegensatz zu Allegra in diesem Moment sicher, dass sich beide noch im Spiel befinden. Allegra tötet in ihrer verqueren Spielelogik schließlich sogar Ted, der sie kurz zuvor noch vor Kiri gerettet hatte. Dennoch stellt Ted sich in dieser Ebene der Simulation als ihr Feind und Gegner heraus. Hier schließt sich der Kreis: Seine Funktion als Gegner begründet, weshalb er anfangs keinen Bioport hatte, denn er gehört in dieser Spielebene zu den Freunden der Realität, die den Spielwelten nichts abgewinnen können. „Habe ich gewonnen?“, fragt Allegra schließlich ins Leere, erhält darauf aber keine Antwort, ebenso wie das Spiel kein konkretes Ziel oder eine Auflösung zu haben scheint. 45 Ihre Umgebung beginnt sich jedoch zu verändern. Plötzlich trägt sie einen anderen Gamepod aus Kunststoff, der ihren Kopf wie einen Kranz – fast könnte man ihn als künstliche Dornenkrone bezeichnen – umhüllt, und erwacht schließlich in einer anderen und

43 Ebd., Minute 76. 44 Ebd., Minute 81. 45 Ebd., Minute 85.

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völlig neuen Ebene, die der zu Beginn des Films äußerlich nur scheinbar gleicht. In dieser wird all das, was bisher passiert ist, wiederum als Spiel deklariert – nicht Allegra ist die Designerin, sondern Yevgeny. Sie und Ted sind in dieser Ebene lediglich zwei der Spieletester, die sich in diesen erlesenen Kreis geschmuggelt haben, um Yevgeny zu töten, und sich damit selbst als Spielgegner offenbaren. „Fürchten Sie nicht, dass Sie für das Elend büßen müssen, dass Sie der Menschheit antun und noch antun werden?“, fragt Allegra, ehe sie und Ted ihre Waffen auf ihn richten. Für die anderen Tester ist die Situation undurchschaubar, auch sie haben die Fähigkeit zur Unterscheidung von Realität und Simulation verloren. „Sagt mir die Wahrheit: Sind wir immer noch im Spiel?“, fragt der Spieler, der zuvor noch als Kellner in eXistenZ zu sehen war, als das Paar auch auf ihn die nun reale und metallene Waffe richtet.46 Dass diese Frage nicht beantwortet wird, ist nur konsequent und verfestigt die Rolle der Simulation im Film: Wo die Wirklichkeit nicht definiert ist, wird die Simulation allmächtig. Spiel ohne Ziel: Von der eXistenZ zur transCendenZ Im Verlauf des Spiels verlieren die Protagonisten mehr und mehr die Fähigkeit, unterscheiden zu können, „was technologische Simulation (auf dem Niveau von implantierter Biotechnologie) und was imaginäre Funktion des Bewusstseins (im Sinne von herkömmlichen, äußeren Sehprothesen) ist.“ 47 Die Wahrnehmung ändert sich insofern, dass sie nur noch „einen absoluten Anderen haben, der den Namen transCendenz trägt.“48 Dadurch wird ihr Vorgehen für den Zuschauer immer weniger nachvollziehbar. Eine Distanz zum Spiel gibt es nicht mehr, dafür sind die Simulationen zu umfassend und in sich verwoben, um noch die Möglichkeit einer Distanzierung zu geben, denn selbst der Filmzuschauer hat diese Fähigkeit längst verloren und im Nachhinein niemals besessen. Der Film endet außerhalb des Spiels eXistenZ, genau genommen sogar außerhalb des darübergestülpten Spiels transCendenZ. Interessant ist hierbei, wie das Spiel zuletzt eine Namensänderung erfährt. Wird über den gesamten Filmverlauf nur von eXistenZ gesprochen, so handelt es sich in der letzten dargestellten Ebene um jene, in der transCendenZ gespielt wird, die wiederum eXistenZ beinhaltet. Yevgeny als eigentlicher Spielentwickler von transCendenZ nimmt hierbei eine bemerkenswerte Funktion ein. Der Dialog mit Merle, einer Mitarbeiterin von PilgrImage, zeigt, welcher Spielmechanik transCendenZ tatsächlich folgt:

46 Ebd., Minute 99. 47 Pühler: Metaflesh, S. 156f. 48 Ebd., S. 156f.

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Yevgeny:

Ich bin ziemlich irritiert von dem Verlauf, den das Spiel genommen hat. […] Es hat sich darin eine starke und ziemlich realistische Antispielhaltung breitgemacht. Schließlich begann alles mit dem Mordanschlag auf die Spieldesignerin.

Merle:

[…] Das wäre doch sehr kreativ. Ich verstehe, was du meinst, und es macht mich nervös. Du denkst, dass es von einem unserer Spieler stammen muss?

Yevgeny:

Jedenfalls ist es sicher nicht von mir. Das ist ein Thema für die Analysegruppe.49

Das Spiel greift – wie an anderer Stelle schon dargestellt wurde – wirklich auf den Geist der Spieler zurück, der damit je nach tatsächlicher Spielmechanik bewusst oder unbewusst seine eigenen Erfahrungen und Emotionen in den Spielverlauf mit einbringt, woraus ein für die Gruppe individualisiertes Spiel entsteht. Dies zeigt sich auch daran, dass Teds Hund, der während der Testrunde ebenfalls in der Kirche war, auch innerhalb des Spiels mehrfach in verschiedenen Rollen auftaucht.50 Dieser Hund ist nicht wie die anderen Spieler mit einem Gamepod ausgestattet, was dafür spricht, dass er nicht selbst Teil des Spiels ist, sondern durch die Erinnerung der Spieler – insbesondere der von Ted und Allegra – zum Non Playing Character wird. Der Konflikt zwischen Spiel und Virtualität scheint also tatsächlich von Allegra und Ted mit in das Spiel gebracht worden zu sein, denn ihre Gedankenwelt erzeugt die virtuelle Realität von transCendenZ. Der Spieldesigner verliert in diesem Moment die Kontrolle über sein Spiel, denn er gibt in diesem Fall nur die Struktur, nicht aber den Inhalt vor. Dadurch verselbstständigt es sich, da es – auch weil niemals Code gezeigt oder über den konkreten Vorgang des Programmierens gesprochen wird – aus den Gedankenströmen der Mitspieler selbst entsteht. Dies ist wohl am ehesten mit einer Art von kollektivem Träumen zu vergleichen, das auf der Zusammensetzung der Gruppe basiert und die bereits genannten Konflikte entstehen lässt – inklusive der Frage nach der Existenz und der Beschaffenheit beziehungsweise Basis der Realität. transCendenZ ist in diesem Fall eine wirkliche Form der Transzendenz der Gedankenwelten der Mitspieler. Das zeigt sich allerdings erst in der letzten Szene außerhalb des Spiels. Auf-

49 eXistenZ, Minute 97. 50 Vgl. eXistenZ, Minute 80, als Kiri den Hund als seinen eigenen bezeichnet, der ihm die Knorpelwaffe bringt, sowie Minute 98f, als sich das Fell des Hundes als Versteck für Allegras und Teds Metallwaffen herausstellt. In Minute 64 nimmt sich der Hund außerdem die Knorpelwaffe und versucht sie zu fressen.

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grund der vorherigen Ereignisse bleibt dennoch bis zuletzt unklar, ob nicht dieser Aspekt ebenfalls zu einem übergeordneten Spiel gehören könnte. Zumindest die Schreibweise von eXistenZ ist kein Zufall, wie die ungarischen Produzenten des Films, Robert Lantos und Andras Hamori, zugeben.51 Ist zwischen den Großbuchstaben X und Z „isten“, das ungarische Wort für „Gott“, enthalten, so findet sich in transCendenZ das Wortbruchstück „enden“, was wiederum im Englischen wie im Deutschen auf das Wort „Ende“ schließen lässt. Durch das Erkennen der (eigenen) Existenz kommt der Spieler folglich zur Transzendenz und damit zum Ende der Realität oder vielmehr zum Ende der Erkennbarkeit der Realität und tritt in die Hyperrealität ein. Für den Spieler bedeutet dies wiederum eine Form des Realitätsverlusts und gleichzeitig das Gefühl, innerhalb der Spielwelt als eine Art Gott aufzutreten, der keinerlei Konsequenzen für sein Tun zu befürchten hat. Ähnlich verhält es sich auch mit Allegras Spiel SeiGott, von dem Gas in transCendenZ spricht, als er ihr zum ersten Mal in seiner Tankstelle begegnet.52 Hier spielt der Nutzer eine Art göttliches Wesen, das ganze Welten erschaffen und ebenso willkürlich wieder zerstören kann. 53 Der englische Originaltitel des Spiels, ArtGod, lässt weitere Deutungsmöglichkeiten zu: Sein und Kunst treten hier in einer Doppelbedeutung auf, einer Art göttlicher Leerstelle, die wiederum mit dem Sein der Kunst und Kunstfertigkeit gefüllt wird. Es existiert aber kein Erlösermotiv: Der Spieler wird stattdessen direkt mit Gott gleichgesetzt, der hier als Künstler wie auch Mechaniker fungiert.54 In der eigentlichen und säkularisierten Welt hat Gott eine Leerstelle hinterlassen, die von anderen, fremden Mächten eingenommen wurde, was – wie bereits im Kapitel zu Matrix angedeutet – einen stark aufklärungskritischen Tonfall in sich birgt, aber trotz allem auch auf die Dialektik der Aufklärung verweist. Das alles führt den Menschen im Kampf mit einer selbst er- und geschaffenen Technik vor. Die Aufklärung über eine falsch verstandene Realität findet hier jedoch nicht statt, stattdessen tauchen die Figuren in immer andere Simulationen innerhalb der Simulation ein. Kunst reflektiert sich hier nicht nur in Theorie und Technologie, sondern auch in sich selbst, teilweise auch in anderen Darstellungsmedien. Gleichzeitig stellt Kunst den Gegensatz zur Natur dar. Die Dichotomie zwischen natürlich und

51 Vgl. Internet Movie Database (IMDb): eXistenZ (1999) Trivia. IMDb online, 12. September 2007. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 52 Vgl. eXistenZ, Minute 21. 53 Das Spiel Black & White verfolgt als Göttersimulation genau dieses Prinzip. Der Spieler selbst wird zum Gott über die Welt, die er aufbaut und ebenso gut wieder zerstören kann. Vgl. Electronic Arts: Black & White. USA 2001. 54 Vgl. eXistenZ, Minute 21f.

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künstlich löst sich in der Mimesis auf. Kunst tritt hierbei als Nachahmung auf, die in perfekter Kopie nicht mehr vom wie auch immer gearteten Original (der Wirklichkeit) zu unterscheiden ist. Doch auch Kunstbegriffe verändern sich: Während bis zum beginnenden 20. Jahrhundert die Malerei noch eher als Handwerk beziehungsweise Gebrauchskunst betrachtet wurde, wird sie später zur Kunst oder vielmehr zur Kunst um der Kunst willen. Gleiches lässt sich über das Programmieren und den Umgang mit Code sagen: Das Schreiben des Codes ist das Handwerk, die daraus entstehende Simulation ist möglicherweise Kunst. Über das Programmieren (und somit die Technik) wird folglich die Simulation zur eigenen Kunstform, sowohl um ihrer selbst willen als auch wegen ihrer Funktion, die beide untrennbar miteinander verbunden hält: Die Technik verschleiert mit der Kunst die mögliche Realität. Spieldesigner Yevgeny stellt sich mit transCendenZ indes in den Augen von Ted und Allegra als vollkommener Künstler dar: „Wir kennen Ihr Spiel jetzt und seitdem sind wir davon überzeugt, dass Sie auf diesem Gebiet der größte Künstler der Welt sind.“55 Für beide ist die Kunst der Simulation in diesem Fall mit Gewalt engzuführen, die an jenen verübt wird, die diese Spiele spielen. 56 Mit ihrer Anwendung verbinden beide den Wirklichkeitsverlust und daraus folgend Elend aufgrund der „überaus wirksame[n] Deformierung der Realität.“57 Der Film lässt allerdings offen, ob genau diese Deformierung die eigentliche Kunst darstellt oder vielmehr ihr exaktes Gegenteil. Trotz allem stellt sich hier auch die Frage, ob jemand, der diese Art der Transzendenz außerhalb des Bereichs der normalen Sinneserfahrung wahrgenommen hat, in der eigentlichen Realität überhaupt noch zurechtkommen kann. Bei Allegra und Gas führt dies zu einer Verzerrung der Wahrnehmung, denn innerhalb des Spiels eXistenZ sagen beide, sie würden sich ohne solcherlei Spiele innerhalb dessen, was sie für die Realität halten, eingesperrt fühlen. Kunst erweitert in diesem Moment die Realität durch Simulation, der Verzicht auf einen Bioport wird von Allegra als „selbstgeschaffener Käfig [wahrgenommen], in dem [man] gefangen [ist], und in dem [man] bis in alle Ewigkeit auf engstem Raum hin- und herlaufen

55 eXistenZ, Minute 98. 56 In diesem Kontext müsste überdies betrachtet werden, ob es eine Rolle spielt, dass die Nutzer sich theoretisch freiwillig in diese Spielwelten einloggen und inwiefern diese Wahlfreiheit in Bezug auf die Kritik der Deformierung der Realität zu bewerten ist, wenn über die sonstige Umwelt und die dort etablierte Gesellschaftsform nichts weiter bekannt ist, da diese im Film nicht thematisiert wird. 57 eXistenZ, Minute 98.

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[muss].“58 Doch genau dieser Blickwinkel ändert sich bei Ted und besonders bei Allegra in Korrespondenz zur Spielebene. Ihre Perspektive muss im Prinzip genau dem widersprechen, was die Protagonisten in der letzten Ebene mit Yevgeny als Spielentwickler empfinden, denn hier gibt sich Allegra als Gegnerin der Spiele zu erkennen, die die Probleme, die jene mit sich bringen, thematisiert. Das Spiel ist Flucht vor der Wirklichkeit und im Folgenden die Flucht vor dem eigentlichen Spiel samt der zugehörigen Implikationen, die das beschriebene Oszillieren der Wirklichkeiten mit sich bringt, was auch in Verbindung mit Kunst und deren Darstellung nicht mehr eindeutig aufgelöst werden kann. Hier bleibt eXistenZ widersprüchlich: Ist die Realität nun ein Käfig oder ist genau dieser Gedanke ein Teil des Spiels, der von den Nutzern genau so wahrgenommen werden soll? Es bleibt offen, ob die Wirklichkeit auch als beengt empfunden wird, wenn die Spielwelt nicht bewusst erlebt wird beziehungsweise ob sich dieses Gefühl der Enge wieder auflöst, sobald das Spiel verlassen wird. Vom Verlust der Schrift und der Macht der Bilder Ein weiterer Aspekt, der nicht ungenannt bleiben darf, ist die Tatsache, dass innerhalb der Spielwelten nahezu keine erkennbare Schrift vorkommt, es sei denn als Namensschild oder auf Werbebannern sowie Verpackungen. Als Informationsträger scheint sie obsolet geworden zu sein – die Schriftlichkeit ist verschwunden und als Wissensspeicher in keiner der dargestellten Realitäten mehr nutzbar. Das gesamte Leben scheint über Spiele und undurchschaubare virtuelle Welten gesteuert zu sein. Was ist in dieser Welt ohne Schrift noch als verbindlich zu verorten? Neben dem Fehlen der Darstellung von Büchern fällt auch ein eklatanter Mangel an Bildschirmen und ähnlichen Wiedergabegeräten auf. Fast sämtliche Technik hingegen ist – zumindest in eXistenZ wie auch in transCendenZ – organisch aufgebaut, was sowohl auf eine Verschmelzung von Realität und Simulation hinweist als auch auf eine Ausweitung des Körpers, der sich mit diesen Geräten zu einer Art Cyborg verwandelt.59 Auf symbolischer Ebene ist dies folglich das

58 Ebd., Minute 25. 59 Die organischen Gamepods können in der Lesart, dass transCendenZ inhaltlich auf Gedanken und Emotionen der Spieler zurückgreift und sich als Spiel daraus erst entwickelt, natürlich auch als Aspekt von Allegras und Teds Spiele- und damit auch Technikfeindlichkeit interpretiert werden. Genmanipuliertes organisches Material wird quasi in Form gepresst und behält dabei seine abstoßende Komponente, was durch das Unterbewusstsein von Allegra und Ted zur erlebten Realität des Spiels wird.

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Gegenstück zur Medialität innerhalb des Films Matrix, wo alles über Monitore dargestellt, aufgezeichnet und überwacht wird. Wissensstrukturen werden innerhalb der Spielwelten nur noch durch Bilder wiedergegeben. Ungeklärt bleibt, wie diese in eXistenZ gelesen werden können oder sollen. Worte schaffen nach Neil Postman Regelmäßigkeiten und damit hinterfragbare, aber auch widerlegbare Kategoriesysteme, die in diesem Fall jedoch entfallen.60 Im Kontrast hierzu ist ein Bild nicht widerlegbar, „man kann niemals sagen, ob es wahr oder falsch ist, ob es logisch oder unlogisch ist.“61 Ein Bild stellt somit „keine Behauptung auf, es verweist nicht auf ein Gegenteil oder die Negation seiner selbst, es muss keinerlei Plausibilitätsregeln und keiner Logik genügen.“62 Trotzdem stellt sich die Frage, ob ein Bild nicht immer eine Aussage hat beziehungsweise ob es lügt oder lügen kann, wenn bewusst keine Realität abgebildet wird. Gleichzeitig kann ein Bild keine allgemeine Botschaft haben, denn die Aussage ist gekoppelt an den subjektiven, kulturellen und soziopolitischen Kontext des Betrachters und lässt somit verschiedene wie auch gleichzeitig keine Interpretationsmöglichkeiten zu. So ist auch innerhalb von eXistenZ und transCendenZ keine konkrete Wirklichkeit mehr nachvollziehbar, da sie allein durch Bilder und optische Eindrücke vermittelt wird, wohingegen „ein Wort immer eine Abstraktion von der konkreten Dingwelt ist und damit ihr gegenüber Distanz verschafft.“63 Das wiederum bedeutet, dass eine Welt, die mit Worten beschrieben werden kann, völlig anders (er)fass- und beurteilbar ist als eine, die nur aus Bildern besteht.64 Bilder fordern nicht primär dazu auf, zu denken, sondern zu empfinden. Sie schläfern die Menschen ein und sind aus Postmans Blickwinkel „der destruktivste Einzelfaktor bei der Aushöhlung der Schriftkultur und ihrer Grundlagen.“65 Das reflektierende Lesen wird damit durch spontanes Sehen er-

60 Vgl. Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie. Frankfurt am Main: Fischer 1992. S. 93. 61 Kloock: Von der Schrift zur Bild(schirm)kultur, S. 126. 62 Neil Postman: Das Verschwinden der Kindheit. Frankfurt am Main: Fischer 1983. S. 87. 63 Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode, S. 93. 64 Vgl. ebd., S. 93. Erwähnenswert ist hier der Universalienstreit der Frühen Neuzeit, bei dem – stark vereinfacht – die Frage danach gestellt wurde, ob Worte nur ein Konstrukt sind oder Realien: Sind Universalien Dinge, Begriffe oder Wörter? Bilder sind einerseits komplexer als Worte, lassen aber durch ihre fehlende Kohärenz weniger eindeutige Aussagen zu als beispielsweise ein Text. Vgl. Alain de Libra: Der Universalienstreit. Von Platon bis zum Ende des Mittelalters. München: Wilhelm Fink 2005. 65 Postman: Das Verschwinden der Kindheit, S. 87f.

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setzt und bildet die neue Grundlage menschlicher Überzeugungen. 66 Reflexion als Erkenntnisinstrument entfällt damit. Die „Welt des gedruckten Wortes mit ihrer Betonung von Logik, Folgerichtigkeit, Historie, gegliederter Darstellung, Objektivität, Distanz und Disziplin“ existiert nicht mehr. Stattdessen ist auf der anderen Seite der Fernseher beziehungsweise im Fall von eXistenZ der Gamepod, in den sich der Zuschauer beziehungsweise Spieler geistig zurückzieht, was eine „Betonung der Bildlichkeit und des Anekdotischen sowie von Augenblicklichkeit, Gleichzeitigkeit, Intimität, unmittelbarer Befriedigung und schneller emotionaler Reaktion“ zur Folge hat.67 Das Bild als solches ist hierbei die „symbolische Objektivierung der imaginären Funktion, die jedoch visuell vermittelt werden muss.“68 Damit wird es zur „Triebfeder des Tauschhandels beim ewigen Feilschen des Sehenden mit dem Nicht-Gesehenem“ gemacht.69 Bild- und Schriftsprache unterscheiden sich laut Vilém Flusser hierbei fundamental: »Die Welt der Texte ist für unsere kodifizierte Welt nicht mehr länger charakteristisch, obwohl sie weit dichter ist als zuvor. Dagegen fasziniert die Welt der ‚Technobilder‘ immer stärker, denn sie trägt eine neue Botschaft. Fast niemand hat jedoch bisher gelernt, diese neuen Codes zu manipulieren, um die wesentliche Botschaft zu artikulieren. Die Bewusstseinsebene, der diese Codes entsprechen, ist noch nicht erreicht worden. Daher sind sie so außerordentlich gefährlich: Sie programmieren uns, ohne in ihrem Wesen durchblickt worden zu sein, und bedrohen uns so als undurchsichtige Wände, anstatt uns als sichtbare Brücken mit der Wirklichkeit zu verbinden. Das ist unsere Krise.«70

Codes, Schriftlichkeit, Lesbarkeit und Zeichen sind in einer Welt, in der unklar ist, was real und was virtuell ist, kaum noch korrekt zu deuten. Daher bleibt nur noch die Bildsprache, denn nur das, „von dem es ein Bild gibt, hat Realität.“71 Zugleich wird aber alles „Andere, alles Lebendige: das Hörbare, Riechbare,

66 Vgl. Postman: Wir amüsieren uns zu Tode, S. 96. 67 Neil Postman: Das Technopol. Die Macht der Technologien und die Entmündigung der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Fischer 1992. S. 24. Vgl. ebenfalls Virilio: Die Sehmaschine, S. 29. 68 Pühler: Metaflesh, S. 44. 69 Vgl. ebd., S. 44. 70 Vilém Flusser: Kommunikologie. Frankfurt am Main: Fischer 1998. S. 139. 71 Dietmar Kamper: Der Körper, das Wissen, die Stimme und die Spur. In: Hans Belting, Dietmar Kamper, Martin Schulz (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation. München: Wilhelm Fink 2002. S. 167-174, hier S. 173.

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Schmeckbare […] an den Rand und darüber hinaus gedrängt.“72 Gerade diese optischen Medien überblenden „den Riss, den sie ins Bewusstsein einführen, sodass das Reale verkannt und geleugnet wird.“73 Für Flussers Medientheorie ist diesbezüglich zentral, „dass er einer Phase der Menschheitsgeschichte, in der die Schrift das entscheidende Medium zur Informationserzeugung, -speicherung und -verteilung war, eine Zeit gegenübersetzt, in der die Bilder für eine Kultur dominant sind/waren.“74 Er kommt allerdings zu einer anderen Bewertung als Postman, da er „es als Chance [versteht], dass die Bilder heute die Schrift verdrängen.“ 75 Dabei ist in diesem Zusammenhang relevant, „dass Flusser grundsätzlich von zwei verschiedenen Formen von Bildern ausgeht, den sogenannten traditionellen und den technischen Bildern“, die beispielsweise eXistenZ und transCendenZ ihren Nutzern liefern.76 Durch den Verlust der Schrift werden auch Texte nicht mehr inhaltlich vorstellbar. Sie benötigen Bilder, „um wieder konkret zu werden.“ 77 Schrift hingegen richtet sich seiner Ansicht nach gegen das Magische und das Rituelle der Bilder, ihre Hauptfunktion ist es, „klare und kritisierbare Begriffe und Aussagen zu liefern, die Bilder (weg)erklären.“78 In einer fließenden Welt von sich gegenseitig durchdringenden Realitätsebenen hat die Schrift als Medium, das Dinge historisiert und archiviert, keinen Platz mehr. Durch diesen Verflüssigungseffekt ist es nicht mehr möglich, zwischen den verschiedenen angebotenen Realitätsebenen zu unterscheiden. Auch im Entwicklungsstadium eines neuen Spiels scheint in eXistenZ Schrift in Form von Programmiercode keine Rolle zu spielen, zumindest erweckt Allegra in ihrer Rolle als Spieldesignerin nicht den Eindruck, als würde sie ihre Welten mittels seitenweiser Codefragmente aufbauen. Auch bei Yevgeny verhält es sich ähnlich. Die Schrift als Speichersystem verflüchtigt sich und macht einem anderen Medium Platz, das andere Eigenschaften besitzt. Die Informationen werden in Form von Bildern übertragen, aber keine beständigen Bilder, sondern bewegte Varianten einer irrealen Welt. Glaubt man Postman und Flusser, so ist das Ende der Gutenberg-Galaxis nah und eXistenZ demonstriert eine der Möglichkeiten, wie dieses Ende beschaffen sein könnte. Flusser prognostiziert dabei das „Universum der technischen Bilder“, während Postman die Befürchtung

72 Ebd., S. 173. 73 Pühler: Metaflesh, S. 168. 74 Kloock: Von der Sprach- zur Bild(schirm)kultur, S. 128. 75 Ebd., S. 129. 76 Ebd., S. 129. 77 Ebd., S. 131. 78 Ebd., S. 129f.

260 | Simulation und virtuelle Welten

hegt, dass die Menschheit sich „mit Fernsehbildern zu Tode amüsier[t].“ 79 Virilio wiederum sieht in der „Lichtgeschwindigkeit der elektronischen Bilder die eigentliche Gefahr für die Gesellschaft.“80 Vergleicht man die Spielwelten hier mit einem Film, so zeigen sie Virilio zufolge „eine weitere Realität des noch nie Gesehenen, eine weitere intensive Visualisierung, die die Berührung, den Kontakt mit dem Material ersetzt.“81 Doch das wiederum funktioniert nicht, sonst müssten sich Allegra und Ted nicht ständig durch Berührungen von Gegenständen davon überzeugen, dass sie tatsächlich fühlen. Die Visualisierung einer Realität ersetzt keine Berührung, stattdessen werden Berührungen angezweifelt, wenn die Realität angezweifelt wird. Das Bild beginnt hier, Dinge zu ersetzen, und zwar in Echtzeit, was bedeutet, dass anstelle der tatsächlichen Realität eine Art Bewusstlosigkeit eingetreten ist.82 Gerade im Vergleich mit Neal Stephensons Snow Crash ist der Umgang mit Schriftlichkeit ein völlig anderer. Auch dort ist bereits eine Veränderung der Schrift als Speicher von historischen Daten zu bemerken: Öffentliche virtuelle Bibliotheken werden in Snow Crash nicht von ausgebildetem Personal verwaltet, sondern jeder kann darauf zugreifen, Daten verändern und damit eine Art WebEnzyklopädie aufbauen, deren verschriftlichte Zuverlässigkeit nur noch bedingt gegeben ist.83 Die Verbindlichkeit und Nachprüfbarkeit von Informationen sowie deren Quellen geht durch die Willkürlichkeit der Daten verloren. Als Referenz an Snow Crash könnte zudem die ID-Card des Attentäters Noel gewertet werden, denn auf ihr sind babylonische Schriftzeichen zu erkennen, die jedoch für den Durchschnittsmenschen auch in dieser Welt kaum entzifferbar sein dürften und damit ebenso wenig als Speichermedium dienen wie sonstige Schrift in eXistenZ und stattdessen eher zur Sprach- beziehungsweise in diesem Fall Schriftverwirrung beitragen.84 Durch diese Verwirrung kommt es beinahe zwangsweise zu einer Dekonstruktion der Umgebung mit gleichzeitigem Schwinden des Ichs, die „sich dann auch als Destruktion des numerischen Denkens, des cartesianischen Dualismus oder der Binarität erweist.“85 So lässt auch das Ende von eXistenZ viele Interpretationsmöglichkeiten zu und beantwortet die Frage, die eine vollständige

79 Ebd., S. 125. 80 Ebd., S. 125. 81 Ebd., S. 134. 82 Vgl. ebd., S. 135. 83 Vgl. S. 176f dieser Arbeit in Bezug auf Snow Crash und die dortigen Onlinebibliotheken. 84 Vgl. eXistenZ, Minute 5. 85 Pühler: Metaflesh, S. 155.

eXistenZ: Kontingenzerfahrungen des Seins | 261

Auflösung des Realen mit sich bringen würde, wenig überraschend ebenso wenig wie die anderen Fallstudien innerhalb dieser Untersuchung. Der Status des Cyberspace, der Realitäten und Virtualitäten muss für den Zuschauer auch zwingend offen bleiben, denn „Cronenbergs fantastische Medien verweisen auf Grund [sic!] ihrer imaginären Konstitution in eine mögliche Zukunft, mit der die Gegenwart und deren Leerstellen schon jetzt kommunizierbar werden.“86 Raumgrenzen lösen sich nach und nach auf, der Signifikant dringt in den Körper ein, wenn ein Bioport implantiert wird, die Welten verflüssigen sich und zersplittern, Zeichen verlieren ihre Bedeutung, Leerstellen treten an ihren Platz. Laut Cronenberg ist eXistenZ „tatsächlich ein Versuch, die Grenzen zwischen Realität und Fantasie zu verwischen und die Fantasie in eine wirkliche, körperliche und lebendige Form zu bringen[, denn es] ist das fleischgewordene Spiel.“87

86 Ebd., S. 182. 87 Ebd., S. 109, zitiert nach Steffen Greschonig, Vitezslav Horák: Sagt mir die Wahrheit! Sind wir noch im Spiel? Zur Anthropologie, Ökonomie und Ontologie in David Cronenbergs eXistenZ. In: Kerstin Kratochwill, Almut Steinlein (Hg.): Kino der Lüge. Bielefeld: transcript 2004. S. 135-152, hier S. 138.

Zwischenfazit & Ausblick: Wenn die Welt nicht mehr ist, was sie zu sein scheint

Sowohl eXistenZ als auch Matrix weisen eine große Gemeinsamkeit auf: Die Protagonisten leben allesamt in einer Wirklichkeit, der sie nicht trauen können. Ihre Welt scheint für sie zunächst real, doch aufgrund verschiedener Kontingenzerfahrungen beginnen sie, ihre Lebenswirklichkeit zu hinterfragen. Bei Matrix führt dies dazu, dass vordergründig ein Ausstieg aus der Simulation gesucht wird, obwohl bis zum Ende der Trilogie nicht klar wird, ob es ein reales Außen der Simulation überhaupt gibt oder ob es sich bei sämtlichen Protagonisten nicht selbst nur um die Simulation künstlicher Intelligenzen oder des digitalen Restselbstbildes des ursprünglich menschlichen Geistes handelt, die mit ihrem Vorgehen die Matrix bei jedem Neustart auf Programmebene verändern. eXistenZ hingegen bietet den Protagonisten eine Spielstruktur, innerhalb derer es ermöglicht wird, die Realität – oder das, was dafür gehalten wird – hinter sich zu lassen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, den Bezug zu selbiger aufgrund der vielschichtigen Spielerlebnisse innerhalb der virtuellen Welt zu verlieren. Der hier genannte Aspekt unterscheidet beide Filme signifikant von den Darstellungen in den Romanen Neuromancer und Snow Crash, denn in den beiden Romanen ist den Protagonisten von Beginn an bewusst, dass sie sich im Cyberspace und anderen virtuellen Welten befinden. Dieser Umstand wird von ihnen als Hacker vorsätzlich eingesetzt. Auffällig ist bei den bisher behandelten literarischen wie filmischen Verarbeitungen, dass in sämtlichen Erzählungen die Ästhetik des Zerfalls der Realität im Vordergrund steht und die dystopischen Elemente überwiegen. So beispielsweise bei Matrix, wenn abgeplatzte Farbe von den Wänden fällt und besonders die Welt außerhalb der Matrix verfallen und roh wirkt. Aber auch bei eXistenZ scheint außer Spielen zur scheinbaren Realitätsflucht kaum noch etwas anderes zu existieren. Der Grundton ist überwiegend negativ

264 | Simulation und virtuelle Welten

gehalten, die einzige Möglichkeit einer Weitererzählung der Simulation stellt in beiden Filmen die Dystopie dar. Ein anderes Bild zeigen hierbei reale Computerspiele, die meist einen optimistischeren Grundton besitzen oder bei welchen die Dystopie zwar thematisiert wird, jedoch nur als erzählendes Moment, das den Spieler unterhalten und enger an das Spiel binden soll. Nach dem Spielerlebnis kehrt er einfach in das reale Leben zurück und das Spiel hat – zumindest im weiteren Sinne – keine direkten Auswirkungen auf seinen Alltag.1 Die virtuellen Welten in Snow Crash und Neuromancer dienen jedoch nur bedingt der Unterhaltung, sondern sind im jeweils vorgestellten Alltag der Romane fest verflochten und erweitern diesen. Teilweise ermöglichen sie zwar die Realitätsflucht, primär dienen sie aber der Informationsbeschaffung. Die zentrale Thematik der Filme ist der Konflikt zwischen Sein und Schein: Was ist eigentlich Realität? Wie wird sie erfahrbar? Ist es überhaupt möglich, Sein von Schein klar zu differenzieren? Oder gibt es am Ende gar nur konstruierte und somit künstliche Welten, und wie steht dies im Zusammenhang mit schöpferischer Kunst? Und welche Konsequenzen hat das Verschwinden der Wirklichkeit? Während Matrix in einer virtuellen Welt spielt, in die Menschen vorgeblich unbewusst bereits hineingeboren werden, ist es bei eXistenZ die Flucht vor der Realität, die Spieler an diesen Welten fasziniert. Beide Formen der Simulation dienen aus ihrer Intention heraus zumindest vordergründig der Unterhaltung, bergen aber die Gefahr der Verflüssigung der Welten, die nicht mehr voneinander unterschieden werden können, was manche Nutzer als gefährliche Deformation der Realität und damit als Bezugslosigkeit zur Realität wahrnehmen. Auch wenn sich die Filme in ihrer inhaltlichen Darstellung narratologisch unterscheiden, transportieren beide skeptisches und gleichzeitig konstruktivistisches Gedankengut, das mit der Dialektik der Aufklärung verbunden ist. Konzepte werden zwar hinterfragt, aber nicht aufgelöst, denn dafür müsste die subjektive Wirklichkeit objektiviert werden, um diese Welt aus einer Außenperspektive betrachten zu können. Das ist aber nicht möglich, eine solche Welterfahrung gibt es nicht. Dass es keine objektive Sicht auf die Welt gibt, stellte schon René Descartes fest, der auf der Suche nach der Wahrheit und der Realität nach und nach seine gesamte Umwelt infrage stellte. Das Zweifeln an der Realität, an der Wirklichkeit ihrer Welt, durchleben auch die Filmfiguren, wobei speziell bei eXistenZ der begründete Verdacht besteht, dass das Element des Zweifelns innerhalb der Spiel-

1

Natürlich ausgehend davon, dass es sich um einen realen Spieler handelt, der im wirklichen Leben einem gewöhnlichen Beruf nachgeht und bei dem die Spielwelt nicht seiner tatsächlichen Arbeit gleicht, wobei speziell bei Second Life die Möglichkeit besteht, dass sich beides vermischt.

Wenn die Welt nicht mehr ist, was sie zu sein scheint | 265

welten als bewusstes Mittel des Spielentwicklers eingesetzt wurde und somit eine ganz andere Bedeutung erfährt als von Descartes intendiert, denn in diesem Fall wäre der Zweifel nicht mehr echt, sondern künstlich gesteuert. 2 Dennoch ist das dubitare ein zentrales Moment: Erst als beispielsweise Neo im Film Matrix die Wirklichkeit seines bisherigen Lebens und seiner bisherigen Umwelt anzweifelt, ist er bereit für die nächste Ebene, der Erfahrbarkeit der Welt außerhalb der ihm bekannten Matrix-Realität. Die ihr zugrundeliegende Scheinwelt wurde konstruiert. Um sie zu enttarnen, muss diese Scheinwelt, die bis zu diesem Zeitpunkt für wirklich gehalten wurde, bis ins Detail hinterfragt werden. Dieses Vorgehen ist dem der Dekonstruktivisten sehr ähnlich. Eine Anleitung für eine solche Dekonstruktion findet sich beispielsweise neben Roland Barthes auch bei Jacques Derrida, wenn er feststellt, dass an Dinge nicht objektiv herangetreten wird, sondern bereits im Vorfeld Prämissen folgen, die als Enthymeme wirken. Diese verschleiern die Sinnhaftigkeit eines Zeichengefüges und machen es schwierig, Reales und Virtuelles zu trennen. Durch die Dekonstruktion werden diese Enthymeme als Lücken aufgedeckt, die Scheinwelt ist nicht mehr in sich konsistent und offenbart einen Blick auf die Realität oder zumindest auf das, was dafür gehalten wird. Die Konzepte von Konstruktivismus und Dekonstruktion gehen dabei eine enge Bindung ein: Die virtuelle Welt wird konstruiert und durchdringt die Realität immer stärker, eine Unterscheidung wird schwierig. Die Dekonstruktion stellt in diesem Moment die einzige Möglichkeit dar, die Realität – oder was auch immer sie ist – wieder aufzudecken, was durch die Art der Regieführung immer wieder hervorgehoben wird. Film als Medium tritt selbst als Simulation auf, denn Film muss per se immer simulieren, um darstellen und zeigen zu können. So wirkt er als eine Art Chimäre: Er ist gleichzeitig Kunst und verhandelt selbige ebenso, wie er sie im gleichen Moment darstellt und reflektiert. Film stellt in diesem Kontext die ästhetische Frage nach sich selbst als Simulakrum, das Dinge zeigt und sich damit wiederum gleichzeitig selbst reflektiert und reflektieren muss. Er ist in diesem Sinne immer auch Kommentar, der sich selbst kommentiert und so zu seiner eigenen Dystopie wird, denn als immersives Medium kritisiert der Film sich gleichzeitig auch selbst, indem er die dargestellten Simulationen in den hier verhandelten Beispielen als fragwürdig einstuft. Die Kopie der Realität, die dargestellte Welt, wird zur Kunst, wie auch die Simulation hier als Kunstform fungiert. Doch was passiert in diesem

2

Simon Pühler: Metaflesh. Cronenberg mit Lacan. Körpertechnologien in SHIVERS und eXistenZ. Berlin: Avinus Academia 2006. S. 157.

266 | Simulation und virtuelle Welten

Zusammenhang mit Walter Benjamins Aura und der Originalität?3 Speziell in den hier behandelten Filmen sind die wirklichen Welten nur schwer auszudifferenzieren, was den Rückgriff auf das Original oder die dort vermutete Wirklichkeit beziehungsweise Realität erschwert. Gerade bei eXistenZ ist am Ende völlig unklar, ob die Erzählebene, die das Spiel transCendenZ beinhaltet, die Wirklichkeit darstellt oder ob dies nur ein weiteres Level eines übergeordneten Spiels ist. Offen bleibt auch, ob die Rollen in den Spielwelten von den Nutzern frei und bewusst (aus)wählbar sind oder ob sie möglicherweise vom Spiel (generisch) vorgegeben werden und der Nutzer bereits hier keine Wahl mehr hat, in welcher Rolle und wie er das Spiel spielt. Auch wie er selbst die Grundstruktur des Spiels transCendenZ bestimmt, liegt möglicherweise außerhalb seines Einflussbereiches. Die darin enthaltene virtuelle Welt konstruiert sich immer wieder neu – je nachdem, welche Spieler mit welchen Konstitutionen und Weltsichten daran teilnehmen. Darin äußert sich auch der spielfeindliche Grundton, der durch die Anwesenheit von Allegra und Ted verursacht wird. Das stützt die Vermutung, dass ein Cyberdrama möglicherweise gar keine Utopie darstellen möchte. Die Eingrenzung in ein narratives Format ist insofern genug, als dass für die Nutzer „Spielregeln“ geschaffen werden, die wiederum um ihrer selbst willen zufriedenstellend für alle sind, die sich innerhalb dieser Grenzen bewegen, weil sie die Sicherheit des Bekannten bieten.4 In diesem Fall lässt sich allerdings gerade diese Art der Sicherheit nur noch bedingt anwenden. Film ist immer als Fiktion existent, selbst wenn er versucht, die Wirklichkeit oder zumindest eine Version selbiger darzustellen. Der gegenwärtige 3D-Film ist in diesem Fall sogar eine Weiterführung zur Immersion, da der Zuschauer dem Film selbst noch näherkommt, obwohl nur passives Konsumieren möglich ist – die Illusion ist allerdings nicht perfekt. Ein Kulturpessimismus ist hier deutlich spürbar, denn das Simulakrum scheint nur als Dystopie umsetzbar zu sein – aus der ideellen Utopie wird beim Versuch der Umsetzung die Dystopie: „Jeder Versuch, das Utopische als seiend zu gestalten, endet nur formzerstörend.“ 5 Der Zusammenhang zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem wird unklar, denn in diesem Fall rekurriert nichts mehr aufeinander und Bezeichnendes verweist nur noch auf Bezeichnendes, aber nicht mehr auf Bezeichnetes, und die Illusion auf

3

Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. I/2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. S. 471-508.

4

Zu Cyberdrama vgl. Janet Murray: Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative

5

Georg Lukács: Theorie des Romans. Darmstadt: dtv 1981. S. 137.

in Cyberspace. Cambridge: MIT Press 1997.

Wenn die Welt nicht mehr ist, was sie zu sein scheint | 267

die Illusion ohne realen Bezug. Die Doppeldeutigkeit von Film als Darstellungsform einer Handlung, die Simulationen als Inhalt verarbeitet, zeigt, dass die Filmhandlung wirklich eine Illusion ist, dass diese Illusion aber gleichzeitig – egal, wie perfekt sie dargestellt ist – negativ konnotiert ist. Während der Zuschauer sich also für eine gewisse Zeit von einer Illusion unterhalten lässt, wird selbige gleichzeitig auf inhaltlicher Ebene infrage gestellt. Speziell beim Film, aber auch bei den in eXistenZ dargestellten Spielen, existiert Immersion somit in zwei Richtungen: die dramaturgische Dimension der dargestellten Erzählung und die „tatsächliche Absorption von Lebenszeit durch Mediendispositive, die den Zuschauer unentrinnbar umschließen und sich von seiner Aufmerksamkeit nähren.“ 6 Durch die Umsetzung als Film werden Illusion und Simulation zur Kunst, die für die Erschaffung künstlicher Elemente und Welten verantwortlich ist. Gleichzeitig setzt sich das Medium Film (wie zuvor schon die Literatur) künstlerisch mit der Thematik auseinander, teilweise sogar mutiger als Theorietexte, da speziell Film neben literarischen Betrachtungen als popkulturelles Ausdrucksmittel auf mögliche Entwicklungen und Theoriebildungen viel schneller reagieren und mit diesen Inhalten experimentieren kann. Dies treibt die Theoriebildung voran, und der Blick wird auf die mögliche technische Umsetzung gelenkt.7 Viele Filme, die sich mit der Thematik der Simulation beschäftigen, sind jedoch in ihrer jeweiligen Entstehungszeit verhaftet und oftmals an die jeweils aktuellen Strömungen gekoppelt – sie können als Zeitdokument betrachtet werden. Mit all seinen Metaphern und organischen Maschinen wird in eXistenZ die Illusion erzeugt, „im Fleisch oder Signifikat drin [i. O.] zu sein, aber tatsächlich ist seine Ästhetik nur ein imaginärer Signifikant im Außen [i. O.].“8 Die Raumgrenzen verlieren ihre Eindeutigkeit, die Simulation und mit ihr die Virtualität breiten sich aus und zerstören die Realität, der Systemraum wird erweitert und umgestaltet und lässt dadurch neue Kunstbezüge zu. eXistenZ „hat das Fantastische, d. h. [i. O.] die Strukturprinzipien des Optisch-Unbewussten objektiviert und

6

Thomas Weber: Medialität als Grenzerfahrung. Futuristische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre. Bielefeld: transcript 2008. S. 9.

7

„Die Idee vom Tablet-PC und Hypertext stammt aus den 1970er Jahren, die Verwendung der Gamepods als Verbindungsstationen eines imaginären Spiels ähnelt der ‚consensual hallucination‘, als welche William Gibson den Cyberspace in den 1980er Jahren entworfen hat.“ Vgl. Steffen Handtke: Autorenkino und Verschwörungstopos. Selbstreflexion in Videodrome und eXistenZ. In: Marcus Stiglegger (Hg.): David Cronenberg. Berlin: Bertz & Fischer 2011. S. 45-56, hier S. 51.

8

Simon Pühler: Metaflesh. Cronenberg mit Lacan. Körpertechnologien in SHIVERS und eXistenZ. Berlin: Avinus Academia 2006. S. 160.

268 | Simulation und virtuelle Welten

nach Außen auf die Leinwand gebracht.“9 Laut Simon Pühler lässt dies die These zu, »dass zukünftige Biotechnologie das Kino oder die Sehprothese organisch werden lässt und diese an ihren Ursprungsort, den Körper zurückführt, um sie dort dem Realen zu restituieren. […] eXistenZ handelt von diesem riskanten Unternehmen, der Implementierung von künstlichem Bewusstsein auf rein fleischlichem Niveau.«10

Ähnlich lässt sich dies auch auf Matrix übertragen, wenn auch die Voraussetzung eine andere ist. Die künstliche Wirklichkeit, die dort erzeugt wird, dient nicht der eigentlichen Unterhaltung der Menschen, sondern vielmehr deren Ruhigstellung, die wiederum als Unterhaltung getarnt ist. Die Spiele aus eXistenZ werden hingegen primär zur Ablenkung vor einer wie auch immer gearteten Wirklichkeit eingesetzt. Für beide Varianten gilt aber, dass „Reales und Symbolisches […] die stetige Transformation des Seins“ bewirken, verbunden mit dem „Gleiten der Signifikanten (0 und 1) im Unbewussten, deren optische Effekte sich auf dem Schirm des Imaginären realisieren.“11 Um aber das Medium selbst betrachten zu können, müsste eine Position außerhalb desselben eingenommen werden. Ist die Simulation innerhalb des Mediums allerdings perfekt, ist diese Außenansicht nur schwer zu verwirklichen. In der Matrix wird der Realitätscharakter jedoch wiederholt mit Dysfunktionen hinterfragt, die auf die Medialität des Mediums verweisen, darunter körperliche und räumliche Verformungen, die in der Realität nicht möglich sind.12 Innerhalb dieser Welt bleibt vom Menschen als Subjekt nur das von Morpheus aus Matrix beschriebene digitale Restselbstbild übrig.13 Gleichzeitig dient aber genau dieses Restselbstbild ihm und den Rebellen als Repräsentation eines Selbst, wie sie sich innerhalb der Matrix wahrnehmen, während sie sich durch die verschiedenen Medien transportieren.14 Es ist trotz allem keine verlässliche Außensicht auf die dargestellten Medien möglich, was die Beobachtung und tatsächliche Beurteilung selbiger auch dem Filmzuschauer erschwert. Er teilt hier denselben Blickwinkel wie die Protagonisten, deren Einsichten und Erkenntnisse in-

9

Ebd., S. 169.

10 Ebd., S. 160. 11 Ebd., S. 37. 12 Vgl. Weber: Medialität als Grenzerfahrung, S. 298. 13 Vgl. ebd., S. 298. Vgl. ebenso Lana und Lilly Wachowski: Matrix. USA 1999. Minute 36. 14 Vgl. Weber: Medialität als Grenzerfahrung, S. 298f.

Wenn die Welt nicht mehr ist, was sie zu sein scheint | 269

nerhalb der dargestellten Wirklichkeiten beschränkt sind und zur Isolation des modernen Subjekts führen, denn die Kategorie des Realen erlaubt keine Differenz. Matrix koppelt Simulation an Erlösermythos, eXistenZ zeigt eine Welt, die sich in der Simulation verliert. Dies unterscheidet sie sehr von der zuvor behandelten Cyberpunkliteratur, die mit der Simulation deutlich sachlicher und damit auch realistischer umgegangen ist, indem sie die Simulation als Teil des erweiterten Alltags integriert hat. Nicht die Flucht aus der Simulation wird dort thematisiert, sondern wie die Simulation den Alltag verändert. Matrix und eXistenZ hingegen zeigen weniger hochtechnologisierte Simulationen, sondern vielmehr Eskapismus, der sich in virtuellen Welten verliert. Eine deutlich realistischere Perspektive entwirft also die Literatur, während die Filme abseits des Cyberpunks völlig andere Geschichten erzählen. Hier wird der Holodeck-Mythos als dystopische Betrachtung der Simulation ausgespielt, die darzustellen versucht, wie die Menschen innerhalb der Simulation die Kontrolle über ihre Wahrnehmung verlieren. Gerade gegen Ende der 1990er Jahre ist der Blickwinkel deutlich düsterer als noch in den 1980er Jahren. Zwar werden in allen Fallstudien Dystopien verhandelt, aber während sich die Romane Neuromancer und Snow Crash um ein realistisches Alltagsbild und den möglichen Einsatz neuer medialer Technologien in Form der weltweiten Vernetzung und Simulation bemühen, überzeichnen Matrix und eXistenZ den menschlichen Alltag vollkommen.

Computerspiele als reale Simulation virtueller Welten

Die vorherigen Fallstudien haben sich mit theoretischen Gedankenspielen aus Literatur und Film befasst. Die Vorstellung, wie sich digitale Welten, Simulakra und Simulationen entwickeln könnten, hat sich als überaus skeptischer Blick in die Zukunft erwiesen. Literatur und Film experimentierten in der Theorie und damit gleichzeitig auch in der künstlerischen Verarbeitung des Themas mit einer Form von Immersion, die im realen Leben der 1990er Jahre technisch nicht möglich war. Dennoch wurde auch in der Realität mit virtuellen Welten experimentiert und diese wurden sukzessive weiterentwickelt, was im nun folgenden Abschnitt detaillierter betrachtet werden soll. Während in den vorherigen Kapiteln bereits untersucht worden ist, wie die Simulation in den 1990er Jahren als theoretisches Konzept und in der Popkultur verhandelt und imaginiert wurde, sind manche der späteren realen Computerspiele – und die zugehörigen virtuellen Plattformen – sicherlich auch als indirekter Versuch der Umsetzung dieser Ideen zu betrachten.1 Doch diese Aufbruchsstimmung ist zu Beginn der 2000er Jahre deutlich zurückhaltender – vieles, was damals eine denkbare Entwicklung zu sein schien, hat sich vorläufig noch als Wunschdenken herausgestellt. Virtuelle Welten haben sich inzwischen dennoch in Form von Computerspielen und Simulationen etabliert, die in diesem Zusammenhang näher betrachtet werden sollen – als Realitätscheck und Überprüfung, ob und inwiefern die frühen Vorstellungen auch als wirkliche Umsetzung innerhalb eines realen Spiels Einzug gehalten haben. Erst in den vergangenen Jahren haben sie sich durch technologische Weiterentwicklungen als hyperrealistische Darstellungsform ihren festen Platz gefunden: „[K]ein anderes Medium seit der Wende zum 21. Jahrhundert [kann] sowohl in ökonomischer wie in

1

Das wird bei Second Life besonders deutlich, denn der Entwickler nennt Neal Stephensons Metaversum explizit als Vorbild seiner Onlineplattform. Vgl. S. 307 dieser Arbeit.

272 | Simulation und virtuelle Welten

technisch-ästhetischer Hinsicht“ auf eine derart schnelle Evolution in einem so kurzen Zeitraum zurückblicken.2 Ohne die Verbreitung von Breitbandanschlüssen und der globalen Vernetzung wären Spiele in der heutigen Form kaum möglich gewesen und sind in diesem Kontext wohl als ein Gedanke des frühen Cyberpunks zu verstehen. Ausgewählt worden sind im Rahmen dieser Untersuchung Second Life (2003) und World of Warcraft (2004). Ersteres, da sich Spielentwickler Philip Rosedale explizit auf Snow Crash als geistige Vorlage seiner virtuellen Welt bezieht, und Letzteres, um zu demonstrieren, dass ein Spiel sich nicht zwangsläufig an diesen Vorgaben orientieren muss. Interessanterweise hat sich letztlich World of Warcraft als die erfolgreichere Darstellung einer virtuellen Realität erwiesen, denn das Spielprinzip von Second Life – sofern es denn als solches überhaupt bezeichnet werden kann – erschwert es, den Nutzer über einen längeren Zeitraum zu binden. Beide Fallbeispiele sollen einzeln untersucht und anschließend einem Vergleich unterzogen werden, um sie zueinander in Relation setzen zu können. Das Kapitel nähert sich nach der Analyse von Theorie sowie literarischen und filmischen Bearbeitungen dem Thema mit einer anderen Schwerpunktsetzung, die neben den bereits genannten Fallstudien eine vorherige Aufarbeitung bestimmter Begrifflichkeiten und den Versuch einer Definition beinhaltet. Da dieser Aspekt der Untersuchung auf einer anderen Betrachtungsebene ausgeführt wird, muss im Vorfeld eine Statusbestimmung darüber vorgenommen werden, was Computerspiele beziehungsweise virtuelle Welten in diesem Zusammenhang sind, um auch der Theoriebildung innerhalb der Game Studies gerecht zu werden. Außerdem wird näher auf Konzepte wie das der Immersion und die von Gundolf Freyermuth proklamierte hyperimmersive Wende eingegangen und im Kontext dieser Untersuchung verortet, ehe die Fallbeispiele genauer betrachtet werden.

THEORIEBILDUNG IM ZUSAMMENHANG MIT DER ENTWICKLUNG DER GAME STUDIES In diesem Abschnitt soll unter anderem der Frage nachgegangen werden, ob und falls ja, wie sich die Theorien der Gegenwart der 1990er Jahre in der Zwischenzeit den veränderten Gegebenheiten angepasst haben. Dies lässt sich jedoch nur unter dem erweiterten Blickwinkel der Entwicklung der Game Studies beantworten, die sich wiederum verstärkt mit den Problemstellungen digitaler Medien befassen und sich Computerspielen unter anderem auch als Phänomen der Massenkultur an2

Gundolf Freyermuth: Games. Game Design. Game Studies. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2015. S. 17.

Computerspiele als reale Simulation virtueller Welten | 273

nähern. Audiovisuell und auf narrativer Ebene waren Computerspiele besonders zu ihrer Entstehungszeit noch sehr eingeschränkt, haben sich aber inzwischen als eigene mediale Form herausgebildet. Sie zeigen, wie sich ein neues Medium entwickelte und parallel dazu eine Reflexion in der sich neu etablierenden Theorie stattfand und noch immer stattfindet: Die „ästhetische Ausbildung und de[r] kulturelle[] Aufstieg digitaler Spiele“ prägten den Beginn des 21. Jahrhunderts „als audiovisuelle Ausdrucks- und Erzählform digitaler Kultur unsere Welt- und Selbstwahrnehmung.“3 Im gleichen Zeitraum gewinnen auch die Game Studies immer mehr an Bedeutung und erweitern die bestehenden Medientheorien. Noch 2009 beispielsweise werden virtuelle Realitäten von Bernhard Irrgang als für den Massenmarkt uninteressant beschrieben, da sie zwar eine Weiterentwicklung von Multimedia darstellten, aber „nicht dieselbe Beachtung gefunden haben wie Cyberspace.“4 Die letzten Jahre zeigen jedoch eindrucksvoll, dass virtuelle Welten – auch in Form von Augmented und Mixed Reality – im Alltag immer stärker verankert werden, Datenbrillen auch für Endkunden zu immer bezahlbareren Preisen erhältlich sind und es so dem Nutzer mit immer geringerem Aufwand möglich ist, im eigenen Wohnzimmer dreidimensionale Welten zu betreten.5 Laut Kunst- und Medientheoretiker Peter Weibel gab es bereits ab 1999 erste Bestrebungen, die „Computerspiele als vielschichtige und ausdrucksstarke Artefakte wahr[nehmen].“6 Für den Medienwissenschaftler und Kunsthistoriker Stephan Schwingeler beginnen sich die Game Studies ab etwa 2001 „vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Wirkmacht des Computerspiels“ zu etablieren.7 Den Beginn der historischen Selbstbetrachtung dieser neuen wissenschaftlichen Disziplin verortet er im Jahr 2009.8 Der Medienwissenschaftler Jan-Noël Thon

3

Ebd., S. 11.

4

Bernhard Irrgang: Postmedialität als Weg zum posthumanen Menschsein? In: Postmediale Wirklichkeiten. Wie Zukunftsmedien die Gesellschaft verändern. Hannover: Telepolis 2009. S. 47-66, hier S. 53.

5

Als Beispiel sei eine noch nicht abgeschlossene Studie genannt, in der durch den Einsatz virtueller Realität posttraumatische Belastungsstörungen behandelt werden sollen. Vgl. Simon Hattenstone: ‚After, I Feel Ecstatic and Emotional“: Could Virtual Reality Replace Therapy? The Guardian Online, 7. Oktober 2017. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

6

Peter Weibel: Vorwort. In: Stephan Schwingeler: Kunstwerk Computerspiel. Digitale Spiele als künstlerisches Material. Eine bildwissenschaftliche und medientheoretische Analyse. Bielefeld: transcript 2014. S. 9-10, hier S. 9.

7

Schwingeler: Kunstwerk Computerspiel, S. 41.

8

Vgl. ebd., S. 179.

274 | Simulation und virtuelle Welten

weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Theorie dem Gegenstand angepasst werden müsse und nicht der Gegenstand der Theorie, was für ihn eine grundlegende Schwierigkeit darstellt, „[a]uch und gerade, da die wenigen literatur-, kultur- und medienwissenschaftlich orientierten Arbeiten, die sich während der 1990er Jahre mit Computerspielen befassten, gelegentlich gewisse Defizite mit Blick auf die medienspezifische Präzision ihrer Analysen aufweisen.“9 Er und der Medienwissenschaftler Klaus Sachs-Hombach ergänzen diese Entwicklungsgeschichte um eine Phase der Ausdifferenzierung innerhalb der Game Studies, die bis etwa 2005 andauerte sowie um eine sich „daran anschließende Phase der zunehmenden Konsolidierung, Kodifizierung und Institutionalisierung der Computerspielforschung“, die selbige als interdisziplinäres Feld etablierte. 10 Gerade während der Phase der Ausdifferenzierung gewann auch die Ludologie an Bedeutung, die die Simulation als Kernkonzept von Computerspielen sieht, denn die Forschung der 1980er und 1990er Jahre war „vor allem psychologisch und pädagogisch geprägt“, was im Bereich der Jahrtausendwende „zu nachdrücklich vorgebrachten Forderungen“ führte, laut derer „die Game Studies […] als in erster Linie der Untersuchung von Computerspielen als Spiele [i. O.] gewidmete ‚independent academic structure‘“ sein sollten.11 Inzwischen hat sich eine Vielzahl von Forschungszweigen über die Theorie digitaler Spiele, Wirkungsforschung, Rezeptionsästhetik, Gegenwartskultur und interdisziplinären Betrachtungen über die Massenkultur herausgebildet, die eine Kanonbildung vorantreiben und über eine hohe Entwicklungsdynamik verfügen. Dem geschuldet ist eine Vielzahl an Methoden und Perspektiven innerhalb der Forschung, die sich vor allem zu Beginn scheinbar konträr zueinander entwickelt haben, um letztlich aber doch in einem Theoriekomplex zusammenzufinden: „Das Fehlen disziplinärer Kohärenz, das sich aus der interdisziplinären Natur des Forschungsfeldes ergibt, lässt sich aber durchaus als Chance zur transdisziplinären Zusammenarbeit statt als Desiderat begreifen.“12 Computerspiele sind vielfältig

9

Jan-Noël Thon: Game Studies und Narratologie. In: Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon (Hg.): Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung. Köln: Herbert von Halem 2015. S. 104-164, hier S. 106f.

10 Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon: Einleitung. Game Studies und Medienwissenschaft. In: Klaus Sachs-Hombach, Jan-Noël Thon (Hg.): Game Studies. Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung. Köln: Herbert von Halem 2015. S. 9-28, hier S. 11. 11 Thon: Game Studies und Narratologie, S. 107. Vgl. außerdem Espen Aarseth: Computer Game Studies, Year One. In: Game Studies. The International Journal of Computer Game Research. Ausgabe 1, Nummer 1. Juli 2001. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 12 Sachs-Hombach, Thon: Einleitung, S. 14.

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und entwickeln immer wieder neue und „zunehmend spezifischer ausgestaltete[] Genres mit jeweils eigenen ästhetischen, ludischen, narrativen und sozialen Konventionen“, was viele weitere Entwicklungsmöglichkeiten ergibt.13 Statusbestimmung: Was sind Computerspiele? Was sind virtuelle Welten? Während die ersten Computerspiele sehr schlicht gestaltet waren und teilweise wie im Fall von Tennis for Two (1958), das im weiteren Sinne einen Vorläufer der frühen Computerspiele darstellt, nur unter Zuhilfenahme eines Oszilloskops spielbar waren, haben sie sich seitdem aus dem akademischen Umfeld entfernt und sind zu einem eigenen Wirtschaftsfaktor geworden, der im Alltag immer mehr Raum beansprucht. Für den Computerspielforscher Richard Bartle sind virtuelle Welten Orte, an denen das Imaginäre auf das Reale trifft.14 2003 erschien seine Monographie Designing Virtual Worlds, in der er versucht, sich an eine Definition virtueller Welten in Abgrenzung von Computerspielen heranzutasten. Heute haben virtuelle Welten viele Einsatzgebiete, begonnen haben sie aber tatsächlich als ursprünglich sehr rudimentär ausgestaltete Computerspiele. Daher ist auch die Terminologie, die sie beschreibt, jener sehr ähnlich. Ursprünglich waren virtuelle Welten textbasierte MUDs, benannt nach der ersten virtuellen Welt, dem Multi User Dungeon. Grafische Benutzeroberflächen kamen erst später hinzu.15 Vom Konzept her als persistente Welt im virtuellen Raum angelegt, waren sie in der Theorie zwar beständig verfügbar, aber je größer und umfassender sie wurden, desto unpassender erschien der Begriff MUD, sodass eine Neudefinition vorgenommen wurde, an deren Ende die heutigen MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role Playing Games) stehen. Virtuelle Welten unterscheiden sich dabei von virtuellen Realitäten: „Virtual Reality is primarily concerned with the mechanics by which human beings can interact with computer simulations; it is not especially bothered by the nature of the simulations themselves.“16 Als Bartle Designing Virtual Worlds verfasste, existierten in der öffentlichen Wahrnehmung noch verhältnismäßig wenig MMORPGs. Viele seiner Vorstellungen über die Entwicklung virtueller Welten waren folglich nur Prognosen. Er merkt jedoch an, dass Spieler häufig nach einer Weile das Interesse verlieren, wenn die dargestellte Welt allzu bekannt

13 Ebd., S. 10. 14 Vgl. Richard Bartle: Designing Virtual Worlds. Berkeley: New Riders 2003. S. 1. 15 Vgl. ebd., S. 2. 16 Ebd., S. 3.

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ist oder sich die Grafik nicht weiterentwickelt. Es hat sich aber inzwischen gezeigt, dass gerade MMORPGs deutlich länger bestehen bleiben als ursprünglich vermutet. Hierfür ist es jedoch wichtig, dass die Entwickler in regelmäßigen Abständen Aktualisierungen, Erweiterungen oder ähnliches anbieten.17 Dem Cyberpunk der 1980er Jahre misst Bartle in seiner Studie große Bedeutung bei, denn diese Gattung legte seiner Ansicht nach fest, wie der Cyberspace und virtuelle Welten aussehen: „Virtual worlds were merely a manifestation of virtual reality; the interface not only brought the message, it determined it. The syntax shaped the semantics.“18 Vergessen wurde dabei allerdings oft, dass die im Cyberpunk vorgestellten Szenarien mit der Realität nicht zwangsweise viel gemein haben müssen, sie zeigen nur eine mögliche Variante technischer Entwicklungen, aber keine, die tatsächlich eintreffen muss. Wie aber die vorherigen Kapitel dieser Arbeit gezeigt haben, ist eine saubere Trennung zwischen beidem ohnehin nicht möglich, da hier Vorstellungen und reale technologische Entwicklungen eng miteinander verwoben werden: Cyberpunkmodelle veranschaulichen, dass virtuelle Welten nicht getrennt von der realen betrachtet werden können. Ihr Einfluss ragt weit in die Wirklichkeit hinein, obwohl es am Ende dennoch eine einseitige Beziehung ist, bei der die Realität immer gewinnt.19 Digitale Spiele und virtuelle Welten dienen als erweiterte Kulturtechnik und unterliegen einem kulturellen und sozialen Wandel. Wie schon angedeutet, haben virtuelle Welten als Spiele (games) begonnen. Diese Tatsache erschwerte es anfänglich, dass sie als eigenständiger Forschungsgegenstand ernst genommen wurden. Auch wenn diese Spiele in akademischen Kreisen entstanden sind, um Leerlaufzeiten an Computern kreativ zu nutzen, waren sie über einen langen Zeitraum nicht das Objekt wissenschaftlicher Betrachtung. Aus diesem Grund wurden sie, so Bartle, relativ bald als Simulation bezeichnet, was den spielerischen Aspekt aus dem Zentrum der Betrachtung schob. Erst als sie sich tatsächlich kommerzialisiert hatten, kam die Bezeichnung Spiel für diese Art von Computerprogramm zurück.20 Eine tatsächliche Unterscheidung fällt somit schwer, denn als Spiel betrachtet Bartle virtuelle Welten trotz allem nicht: »Most certainty of all, virtual worlds are not games. Even the ones written to be [i. O.] games aren’t games. People can play games in [i. O.] them, sure, and they can be set up to

17 Vgl. ebd., S. 49. 18 Ebd., S. 64. 19 Vgl. ebd., S. 65. 20 Vgl. ebd., S. 473.

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that end, but this merely makes them venues. […] Virtual worlds are places [i. O.]. They may simulate abstractions of reality; they may be operated as a service; creating them may be an art; people may visit them to play games. Ultimately, though, they’re just a set of locations.«21

Diese Definition ermöglicht es Bartle, virtuelle Welten als Erweiterung der wirklichen Welt wahrzunehmen. Die Interaktion aus Spielern und der Moral der wirklichen Welt machen aus ihnen mehr als nur Spiele, denn „it’s because we’re [i. O.] real that virtual worlds must be treated in moral terms as if they were equally real.“22 Auf deren Hardwarevoraussetzungen geht er allerdings kaum ein, vielmehr stellt er eine Art Baukasten vor, welche generellen Voraussetzungen für erfolgreich erzählte virtuelle Welten im Regelfall erfüllt sein sollten. Obwohl Bartle virtuellen Welten den Status eines Mediums abspricht, schlägt die Medienwissenschaftlerin Christine Hanke vor, zumindest Computerspiele „in Beziehung zu anderen Medien zu stellen und sie als neues Medium zu kategorisieren.23 Nur so „wird das neue Medium schon als etwas Vertrautes ‚eingemeindet‘ und unter seine Vorläufer subsummiert.“24 Dennoch bringt es eigene Strukturen, Effekte und Logiken hervor.25 Hanke stellt schließlich die Frage, ob das Computerspiel „auf diese Weise nicht als das schon Bekannte begriffen [wird], statt es (durchaus verwundert) als Neues, in seiner Andersartigkeit erst noch zu Erfassendes zu behandeln.“26 Diese Beschreibung erinnert an Roland Barthes’ Essay über die strukturalistische Tätigkeit und rückt das Computerspiel in die inhaltliche Nähe des Simulakrums. Das wiederum bringt bereits Bestehendes – in diesem Fall Film und Literatur als Elemente, aus denen es seine mögliche Struktur bezieht – in eine neue Form und lässt andere Perspektiven zu. Geschichten beispielsweise werden auf eine bestimmte Art und Weise erzählt, Regeln bestimmen den zugehörigen Spielablauf. Je nach Gattung und Inhalt des Spiels entwickelt es sich bei jedem Durchspielen neu und individuell. Von einer additiven Zusammenstellung

21 Ebd., S. 475. 22 Ebd., S. 589. 23 Christine Hanke: >Next Level. Das Computerspiel als Medium. Eine Einleitung. In: Jan Distelmeyer, Christine Hanke, Dieter Mersch (Hg.): Game Over?! Perspektiven des Computerspiels. Bielefeld: transcript 2008. S. 7-18, hier S. 10. 24 Ebd., S. 10. 25 In diesem Fall bezieht sich die Aussage grundsätzlich auf alle Arten von Computerspiel, während Bartle explizit virtuelle Welten betrachtet und diese von anderen Spielen abgegrenzt hat. 26 Hanke: >Next Level, S. 8.

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wie Text, Bewegtbild und Interaktivität rät Hanke allerdings ab, da so „die Spezifität des Mediums Computerspiel […] potentiell nur als additives Surplus […] erschein[t].“27 Eine selbstreflexive Haltung nehmen Computerspiele allerdings erst seit Ende der 1990er Jahre ein, wobei ihnen dies häufig aus anderen Medien heraus auferlegt wird. Diese Haltung findet sich auch in der Computerspielästhetik wieder – das Medium strebt zunehmend nach größtmöglicher Unmittelbarkeit. 28 Genauer: In dieser Zeit entstehen auch die zuvor analysierten Filme Matrix und eXistenZ, wobei besonders letztgenannter eine hohe Selbstreflexivität in Bezug auf Spiele und die eigene Simuliertheit innerhalb des Mediums aufweist. Die Illusionstechniken des Computerspiels und damit auch das Computerspiel selbst als Simulation verweisen auf die Interaktivität als illusorische Technik. Die Interaktivität lässt sich dabei „am ehesten als ein kybernetischer Regelkreis […] beschreiben, der stets zwischen der Aktion des Users und der Reaktion des Computers und seiner Programme hin- und herschaltet“ und eine audiovisuelle Raumzeitlichkeit prägt. 29 Der eigene Status wird hierbei immer wieder hinterfragt und neu definiert, erste Theorien bilden sich heraus, die sich an einer neuen Definition von Computerspielen versuchen. Relativ früh entwickeln sich zwei Denkstrukturen – zum einen die Ludologie, die Spiele als Regelwerke und die Simulation als ihr Paradigma betrachtet, und zum anderen die Narratologie, die sich verstärkt mit den Erzählstrukturen innerhalb der Spiele auseinandersetzt. Dieses Trennungskonzept ist allerdings als Scheindebatte längst überholt, beide Betrachtungsweisen sind verschiedene Seiten desselben Objekts. Inzwischen hat sich hier die Sichtweise durchgesetzt, beide Aspekte gemeinsam zu betrachten.30 Durch die Neuartigkeit des Mediums entwickelt sich die zugehörige Theorie parallel zum Beobachtungsgegenstand und nimmt – auch durch die zunehmende Selbstreflexivität – wiederum Einfluss auf den Untersuchungsgegenstand selbst.31 Die Informatiker Bernhard Jung und Arnd Vitzthum bezeichnen virtuelle Welten als „Inhalte von VR-Systemen[, die] aus 3D-Objekten [bestehen,] die dyna-

27 Ebd., S. 10. 28 Vgl. Schwingeler: Kunstwerk Computerspiel, S. 16 und S. 21. 29 Ebd., S. 22. 30 Vgl. S. 48f dieser Arbeit. 31 Die Gleichzeitigkeit, die hier stattfindet, auch in Bezug darauf, wie Simulation in Literatur und Film in diesem Zusammenhang verarbeitet und selbstreflexiv dargestellt wird, ist selten in dieser Form beobachtbar. Meistens findet eine solche Auseinandersetzung zeitlich deutlich verschoben statt und weniger in dieser konstanten Selbstbetrachtung, wie sie hier zu sehen ist.

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misches Verhalten aufweisen und auf Nutzereingaben reagieren können.“32 Sie unterscheiden explizit zwischen der Hardware und der Software, VR-Welten beinhalten ihrer Ansicht nach virtuelle Welten, sind selbst jedoch keine. Wichtig ist hierbei die Echtzeitfähigkeit, durch die eine virtuelle Welt „möglichst verzögerungsfrei und aktualisiert dargestellt wird.“33 Ebenso wichtig ist die Interaktivität, durch die sich der Nutzer „in der [v]irtuellen Welt bewegen und das Verhalten der [dortigen] 3D-Objekte […] beeinflussen kann.“34 Festzuhalten bleibt schließlich, dass das Computerspiel als eigenes Medium durchaus eine Daseinsberechtigung hat, die Definition selbst jedoch sehr vielschichtig ausfällt – je nachdem, ob es durch die ludologische Perspektive des regelgeleiteten Spiels oder über das Narrativitätsparadigma betrachtet wird oder ob der Programmcharakter im Mittelpunkt steht, der als Rückkopplungssystem fungiert.35 Der hyperrealistische Repräsentationscharakter ist vor allem bei neueren Spielen zu erkennen, die ein hohes Maß an Immersion aufweisen. Es wird ersichtlich, dass zwischen einem einzelnen Individuum „kein einfacher Zusammenhang zwischen Realität und visueller Wahrnehmung der Realität“ besteht.36 Der Zusammenhang zwischen „Realität mit der von ihr auf einen Menschen wirkenden Lichtreizen einerseits und der visuellen Wahrnehmung andererseits“ ist nicht objektivierbar, verschafft aber einen Spielraum, um „die visuelle Wahrnehmung des Menschen über die Realität zu manipulieren.“37 Virtuelle Welten sind auch heute nicht zwangsweise Computerspiele, sondern stellen nur eine Umgebung dar, die für Spiele genutzt werden kann. Es gibt inzwischen unzählige Variationen virtueller Welten, die zum einen für bestimmte Subkulturen entwickelt wurden beziehungsweise aus ihnen heraus entstanden sind. Gleichzeitig zeigen sie aus anthropologischen Gesichtspunkten eine verhältnis-

32 Bernhard Jung, Arnd Vitzthum: Virtuelle Welten. In: Ralf Dörner, Wolfgang Broll, Paul Grimm, Bernhard Jung (Hg.): Virtual und Augmented Reality (VR/AR). Grundlagen und Methoden der Virtuellen und Augmentierten Realität. Heidelberg: Springer 2013. S. 6696, hier S. 66. 33 Ebd., S. 66. 34 Ebd., S. 66. 35 Vgl. Claus Pias: Computer Spiel Welten. Zürich: Diaphanes 2002. Vgl. außerdem Hanke: >Next Level, S. 11. 36 Ralf Dörner, Bernhard Jung, Paul Grimm, Wolfgang Broll, Martin Göbel: Einleitung. In: Ralf Dörner, Wolfgang Broll, Paul Grimm, Bernhard Jung (Hg.): Virtual und Augmented Reality (VR/AR). Grundlagen und Methoden der Virtuellen und Augmentierten Realität. Heidelberg: Springer 2013. S. 1-31, hier S. 2. 37 Ebd., S. 3.

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mäßig neue Einschätzung, wie Kultur in verschiedenen räumlichen Größenordnungen funktioniert.38 Eine weitere Annahme ist, dass die Aufteilung zwischen virtuell (virtual) und real (actual) nicht tragbar ist, da vieles, was in virtuellen Welten geschieht, direkte Konsequenzen auf die reale Alltagswelt haben kann. Es ist folglich schwierig geworden, bei diesen inhaltlichen Wechselwirkungen eine Grenzlinie zwischen dem Virtuellen und dem Realen ziehen zu wollen oder diese Grenze wieder verschwinden zu lassen. Stattdessen konstituiert sich daraus eine Form von sozialer Interaktion, die gerade durch diese fluide Grenze aufrechterhalten wird. Künstlerische Darstellung in virtuellen Welten und digitalen Spielen Ein weiterer Aspekt dieser Untersuchung ist die Auseinandersetzung mit der Simulation in ihrer künstlerischen Darstellung. „Medien und Künste gewinnen“ laut Gundolf Freyermuth „ihr Gewicht in den Diskursen zeitgenössischer Kultur nur mit starker Verzögerung“, was sich an der Entwicklung der Game Studies parallel zur Entwicklung der Computerspiele sehr gut darstellen lässt.39 Für Stephan Schwingeler sind Computerspiele nicht per definitionem eine eigene Kunstform, sondern nur in bestimmten Zusammenhängen und unter bestimmten Voraussetzungen als solche zu betrachten.40 Doch ab welchem Punkt sind sie der künstlerischen Darstellung zuzurechnen? Werden sie – wie in den Augen von Schwingeler – nur dann zur Kunst, wenn die eigentlichen Regeln ausgehebelt werden? Computerspiele sind zu einem allgemeinen Kulturgut geworden, das neben klaren Regeln oftmals auch offene Welten bietet, innerhalb jener Crafting – das eigenständige Generieren von virtuellen Gegenständen – unterstützt oder gar zum eigentlichen Spielprinzip wird. Diese 3D-Objekte beziehungsweise das Material, das hierfür den Spielern zur Verfügung steht, ist „der vielleicht wichtigste Bestandteil [v]irtueller Welten.“41 Das Spiel selbst stellt hier aber keine Kunstform dar, sondern nur den Rahmen, um künstlerisch aktiv und kreativ zu werden, indem die in diesem Fall implementierte Skriptsprache angewendet wird. Das führt zur weiteren Frage, ob hier eine Art Zweckentfremdung der eigentlichen Technik durch

38 Vgl. Neil Brenner: The Limits to Scale? Methodological Reflections on Scalar Structuration. In: Progress in Human Geography. Ausgabe 25, Nummer 4. Dezember 2001. S. 591-614. 39 Freyermuth: Games, S. 239. 40 Vgl. Schwingeler: Kunstwerk Computerspiel, S. 102. Fußnote 188. 41 Jung, Vitzthum: Virtuelle Welten, S. 71.

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Computerspiele vorliegt, als nächster Schritt von reinen Spielen hin zur Kunst.42 Sie sind folglich automatisch immer auch hybride Medien oder laut dem Medienwissenschaftler Klaus Sachs-Hombach „(audio)-visuelle Veranschaulichung fiktiver Sachverhalte.“43 Computerspiele entgrenzen den Spielzeitraum und üben eine kompensatorische Funktion aus; auch Bartle bezeichnete zumindest virtuelle Welten eher als Ort denn als wirkliches Spiel. Trotzdem ziehen sie die Rezipienten und Spieler in ihren Bann, so die Kulturwissenschaftler Alfred Schäfer und Christine Thompson, und verfügen „bei aller Freiheit von den Imperativen gesellschaftlicher Wirklichkeit – über Regeln, die einen autonomen und intakten Wirklichkeitsraum verbürgen.“44 Spiele stellen immer die Realität infrage, werden dafür zu Wirklichkeiten, bei denen es um die „Wirklichkeit der Wirklichkeiten“ geht, die zu einer Kontingenzkultur und damit gekoppelten Wirklichkeitsvorstellungen führt.45 Einerseits hat das Spiel „eine eigene Wirklichkeit, die gleichsam mitlaufend von ihrer Unwirklichkeit heimgesucht wird [und auf] der anderen Seite stellt sich die Spielwirklichkeit (mit Blick auf ihr Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit) als Unwirklichkeit dar, die für die Spielenden wirklich ist und bleibt.“46 Sie ist als Schwebezustand zwischen Wirklichem und Unwirklichem zu betrachten, während das Spiel eine ästhetische Erfahrung beziehungsweise eine ästhetische Inszenierung und Aneignung ermöglicht, auf die im Zusammenhang dieser Untersuchung speziell in Hinblick auf Immersion ein besonderes Augenmerk gerichtet wird. Gleichzeitig ist das Spiel durch seine Nähe zur Ästhetik für Gabriele Weiß nicht nur wegen seiner „instrumentellen oder funktionalen Bedeutung für das praktische Leben zu denken“, denn unter dieser „Ästhetik wird dabei im weitesten Sinne Künstlerisches verstanden.“47 Weiß stellt hierbei die Nähe zu Wolfgang Isers Das Fiktive und das Imaginäre (1991) her, da das Spiel „durch Unterlaufen und Über-

42 Vgl. Schwingeler: Kunstwerk Computerspiel, S. 113. 43 Klaus Sachs-Hombach: Konzeptionelle Rahmenüberlegungen zur interdisziplinären Bildwissenschaft. In: Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft: Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. S. 11-20, hier S. 12. 44 Alfred Schäfer, Christine Thompson: Spiel. Eine Einleitung. In: Alfred Schäfer, Christine Thompson (Hg.): Spiel. Paderborn: Schöningh 2014. S. 7-34, hier S. 8. 45 Ebd., S. 8. 46 Ebd., S. 16. 47 Gabriele Weiß: Sich verausgabende Spieler und andere vereinnahmende Falschspieler. Das Spiel zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit in ästhetischen Lebensformen. In: Alfred Schäfer, Christine Thompson (Hg.): Spiel. Paderborn: Schöningh 2014. S. 35-62, hier S. 36.

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spielen an das zurückgebunden [bleibt], wovon es sich abstößt.“ 48 Ohne ist das Spiel als solches nicht mehr erkennbar, und das, obwohl der Spieler gleichzeitig auch sein eigener Zuschauer ist. Dies lässt sich beim Computerspiel noch weiter ausdifferenzieren, denn dort wird dieser Effekt inzwischen durch die Einbindung von VR-Technologie weiter verstärkt, wie sich in den nachfolgenden Kapiteln noch zeigen wird. Oft wird eine Simulation als eine Art Spiel, aber auch Verführung empfunden, die nach einem bestimmten Regelsystem betrieben wird, und nicht selten den „eigenen Realitätsprinzipien völlig widerspr[icht].“49 Auch wenn Jean Baudrillard nie dezidiert über Computerspiele geschrieben hat, lassen sich hier Gemeinsamkeiten herausstellen. Mit seiner Simulationstheorie sowie der dritten und vierten Ordnung der Simulakra geht er sogar so weit, dass die Simulation alles für sich vereinnahmt und keine Realität mehr existiert – die Wüste des Realen ist das einzige Element, das erhalten bleibt.50 Der Film- und Kulturwissenschaftler Marcus Stiglegger ergänzt die Theorie Baudrillards um die Idee des promethischen Triumphs, indem er ausführt, dass eine Gesellschaft wie die von Baudrillard beschriebene der Idee folgt, „Welten selbst zu erschaffen und lenken zu können, auch wenn es sich um reine Simulationen handelt.“51 Das Simulakrum legt er als die „Ambivalenz des trughaften Scheins und der kreativen Reproduktion von Imaginationen“ aus und weist darauf hin, dass sich, wie in der historischen Herleitung beschrieben, das Modell des Simulakrums „in der Beschreibung virtueller Welten etabliert […] hat und […] von besonderem Wert [ist] für die Analyse audiovisueller und zudem interaktiver Medien.“52 Spiel und Verführung als auch deren spezifische Regeln interpretiert Stiglegger als „fast archaische Strategie, die sich dem Virtuellen widersetzt.“53 Und trotzdem kann sie sich nicht lossagen von den neuen

48 Ebd., S. 38 und Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991. S. 452. 49 Falko Blask: Baudrillard zur Einführung. Hamburg: Junius 2013. S. 69. 50 Vgl. S. 105 dieser Arbeit. 51 Marcus Stiglegger: Der promethische Impuls im interaktiven Film. In: Film und Games. Ein Wechselspiel. Hg. v. Deutsches Filminstitut – DIF e.V. und Deutsches Filmmuseum, Frankfurt am Main. Berlin: Bertz + Fischer 2015. S. 28-37, hier S. 30. 52 Ebd., S. 30. Laut Stiglegger kennzeichnet Baudrillard mit dem Simulakrum „die zunehmend visualisierte Welt der Mediengesellschaft, in der an die Stelle des Realen ein (Trug)Bild des Realen ist. In dieser Welt ist die Unterscheidung zwischen Original und Kopie unmöglich geworden. Die interaktive Teilhabe am Spiel der medialen Simulakren wäre ein Endpunkt in diesem Denken.“ Vgl. ebd., S. 30. 53 Ebd., S. 31.

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Medien, wird sogar zu ihrem Mechanismus, „indem [sie] deren phantomhafte Flüchtigkeit und Interaktivität in den Fokus des Erlebens stellt.“54 Baudrillard selbst rückt die Verführung aber auch in die Nähe der Manipulation, denn „[b]ei der Verführung ist es so, als ob das Falsche in der ganzen Kraft des Wahren erstrahlt.“55 Die (künstlerische) Manipulation ist das wesentliche verführerische Moment innerhalb des Computerspiels, denn es ermöglicht dem Rezipienten, „die eigene Alltagswelt zu verlassen und virtuell die neue Welt zu betreten (Immersion), diese nach eigenen Entscheidungen zu beeinflussen und in einem radikalen Schritt nach eigenen Vorstellungen zu modifizieren (Modding).“56 Digitalen wie analogen Spielen wohnt immer auch die Präsenz des Imaginären inne, Möglichkeitsräume werden entworfen, die Spielwirklichkeit stellt jedoch keine eigentliche Wirklichkeit dar, sondern bildet eine Form heterogener Wirklichkeitsstrukturen aus. Für Freyermuth spielen hier die Spieldesigner eine wichtige Rolle, denn sie wirken mit dem Prozess der Spielentwicklung „nach innen als Wahrer der künstlerischen Vision des jeweiligen Spiels“ und „nach außen als Vertreter der Spieler.“57 Dem Kunstgedanken von Schwingeler widerspricht das nicht unbedingt, denn „[d]ie Kunstgeschichte hat immer wieder unter Beweis gestellt, dass nicht das Material oder die Medialität den Kunststatus bestimmen.“58 Und weiter: „[H]eute gibt es Computerspiele, die sowohl dem Kontext der interaktiven Medienkunst als auch dem Kontext des Computerspiels zuzuordnen sind.“59 Die Trennung zwischen Computerspielen und Medienkunst wird für ihn dadurch obsolet, denn „[e]in Computerspiel kann demnach zu einem Werk interaktiver Medienkunst werden, und interaktive Medienkunst kann sich in der Form eines Computerspiels manifestieren.“60 Die Virtualität des Spiels bricht immer mehr in den scheinbar analogen Alltag ein; sie war schon immer eine erprobte Erweiterung der Realität. Kunst eröffnet hingegen einen neuen Blick auf die Welt und schafft dadurch ein neues Bild der Welt. Denn diese welterzeugende „Kraft der Kunst erschöpft sich nicht im Er-

54 Ebd., S. 31. Vgl. ebenso Jean Baudrillard: Von der Verführung. München: Matthes & Seitz 1992. S. 7-9. 55 Jean Baudrillard: Die fatalen Strategien. München: Matthes & Seitz 1991. S. 62. 56 Stiglegger: Der promethische Impuls, S. 34. 57 Freyermuth: Games, S. 174. 58 Stephan Schwingeler: Das Computerspiel im Kunstdiskurs. In: Film und Games. Ein Wechselspiel. Hg. v. Deutsches Filminstitut – DIF e.V. und Deutsches Filmmuseum, Frankfurt am Main. Berlin: Bertz + Fischer 2015. S. 213-220, hier S. 216. 59 Ebd., S. 218. 60 Ebd., S. 218.

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öffnen eines neues Blicks auf die Wirklichkeit“, sondern erschafft selbige ebenso wie eine „ästhetische Wirkung des Bildes, welches die Welt neu deutet, sie ‚mit anderen Augen‘ sehen lässt, mithin unser Weltbild neu prägt und damit die Welt erneuert.“61 Kunst wird als ontologisches Ereignis betrachtet, das Spiel als „Selbst- und Weltbezüglichkeit.“62 Der Raum der Möglichkeit wird dekonstruktiv erkundet, das dortige Material neu zusammengesetzt, doch der Künstler kann in diesem Moment nicht willentlich vorgehen. Das Kunstwerk entwickelt in diesem Geschehen eine eigene Logik, der der Künstler folgen muss, will er das Kunstwerk nicht vernichten.63 Dies weckt Assoziationen zu Walter Benjamin, der in seinem Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1936) den Vergleich zwischen Bühnen- und Filmschauspieler gezogen hat, der in diesem Fall um den Computerspieler erweitert werden soll. Mit dem Aufkommen von Computerspielen „tauchte […] das Versprechen auf, Spuren der Aura des Kinobesuchs in einem anderen Medium durch Nachspielen einfangen zu können.“64 Die Leistung des Filmschauspielers wird dem Publikum mittels einer Apparatur gezeigt. Er kann aber im Gegensatz zu einem Bühnenschauspieler keine zusammenhängende Leistung bieten, da die Filmszenen selten chronologisch oder am Stück abgedreht werden. Der Filmschauspieler nimmt beständig Stellung, die schließlich von einem Cutter zu einem Gesamtwerk geschnitten wird. Dabei hat das Publikum „den Status des gestörten Beobachters“, denn es kann sich nur einfühlen, wenn es sich in die Apparatur einfühlt und die Haltung des gestörten Beobachters, nämlich das Testen, übernimmt.65 Ähnlich ist es bei einem Spieler in einer virtuellen Welt: Er spielt das Spiel zwar chronologisch, aber nicht am Stück, denn das wirkliche Leben und seine Bedürfnisse wie Schlaf oder Nahrungsaufnahme verhindern, dass durchgehend gespielt werden kann. Erst in der Erinnerung, die hier mit der Apparatur gleichzusetzen wäre, ergibt sich in der Spielwelt eine beinahe lückenlose Struktur, die geistig als inhaltliches Narrativ zusammengefügt wird. Die Leistung

61 Carl-Peter Buschkühle: Kunst und Spiel. Der Übermensch und das spielende Kind. In: Alfred Schäfer, Christine Thompson (Hg.): Spiel. Paderborn: Schöningh 2014. S. 6398, hier S. 75. 62 Ebd., S. 77. 63 Vgl. ebd., S. 81. 64 Andreas Rauscher: Lost in Adaption. Oder: Der Film im Zeitalter seiner ludischen Reproduzierbarkeit. In: Film und Games. Ein Wechselspiel. Hg. v. Deutsches Filminstitut – DIF e.V. und Deutsches Filmmuseum, Frankfurt am Main. Berlin: Bertz + Fischer 2015. S. 52-65, hier S. 54. 65 Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 497f.

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ist folglich beim Filmschauspieler wie auch beim Videospieler „nicht einheitlich, sondern in eine Reihe von montierbaren Episoden zerfallen,“ die entweder mittels Cutter oder mittels Erinnerung in eine geordnete Reihenfolge gebracht werden.66 Wie auch im Film ist die Darstellung in einem Computerspiel nicht vollständig und wird von Pausen und neuen Leveln unterbrochen, die an anderer Stelle der Handlung wieder anknüpfen. Es handelt sich um verschiedene Episoden, die nach Spielgenuss abgespeichert werden, um dann möglicherweise erst an einem anderen Tag wieder weitergespielt zu werden. Die Erinnerung fungiert dabei kaum als zuverlässiges Archiv, sondern verändert sich mit verschiedenen Erfahrungen und Erkenntnissen und wertet Ereignisse im Nachhinein anders als zum Zeitpunkt des Geschehens. Bei Spielen ist die „Logik einer stringenten Abfolge […] außer Kraft gesetzt. […] Es sind die Regeln, die den Raum des Spiels von anderen Wirklichkeiten abgrenzen.“67 Dieser Gedankengang kann in Bezug auf Immersion weiter verfolgt werden und gelangt so zu Paul Virilio, für den sich bereits mit dem Aufkommen der Fotografie die Materialität der Bilder auflöst: Die „Ästhetik des Verschwindens“ beginnt, die für alle technisch erzeugten Bilder paradigmatisch ist, bei der „mit der Photographie [sic!] der Übergang vom Sehen zum Visualisieren markiert wird“, die eine „Fusion von Auge und Objektiv [ist], die [später] mit [dem] Aufkommen der Kino- und Fernsehbilder weiter vorangetrieben wurde.“68 Eine weitere Version von Realität zeigt der Film, eine „Realität des noch nie Gesehenen“, was eine „weitere intensive Visualisierung [darstellt], die die Berührung, den Kontakt mit dem Material ersetzt.“69 Bilder referieren damit nicht mehr unbedingt auf etwas Materielles. Dennoch ist für den Rezipienten eine Art von Immersion vorhanden, mit der er sich in diese Bilderwelt hineinträumt, mitfühlt, mitleidet. Kaum ein modernes Medium verbindet die Begriffe Handwerk und Kunst in einer Form wie gegenwärtige Computerspiele. Sie basieren auf einem Handwerk, sofern die programmierten Grundlagen des Spiels als Technik begriffen werden, und die Ausführung desselben beziehungsweise das Spielen des Spiels als erlebte Kunst. Das äußert sich unter anderem im Modding, einer Erweiterung des Spiels durch den Nutzer, der hier eigene Gegenstände, Skins, Level und anderes erschaffen kann, indem er kreativ in die Nutzeroberfläche und den Programmcode eingreift. Der programmierte Code ist normalerweise unsichtbar im Spiel verborgen, von einer hermetischen Hülle überdeckt, die keinen Blick in das Herz des Pro-

66 Ebd., S. 498. 67 Vgl. Schäfer, Thompson: Das Spiel. Eine Einleitung, S. 13. 68 Kloock: Von der Schrift- zur Bild(schirm)kultur, S. 132f. 69 Ebd., S. 134.

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gramms zulässt.70 Eine Ausnahme ist, wenn dies explizit vom Entwickler gestattet oder sogar gewünscht ist. Mit der Veröffentlichung des Quellcodes des Shooters Doom (1995) war Modding zum ersten Mal offiziell möglich.71 Der Spieler ist in diesem Fall immer auch gleichzeitig Künstler, wenn er das Wissen um den Code kreativ einsetzt. Es ist der „Geist des Künstlers, der seine Bewegungen zum Schaffen aus sich heraus gewinnt und der seine Welt schaffen will.“72 Computerspiel und Kunst trennen zu wollen, ist folglich überholt, der Widerspruch zwischen beidem längst aufgelöst. Bedeutungsdifferenzen: Wie real ist die Spielwelt? Mit der Entstehung der Game Studies haben sich verschiedene Konzepte der Teilhabe an Computerspielen herausgebildet, die entscheidend sind in der Art und Weise, wie diese virtuellen Welten wahrgenommen werden und erfahrbar sind. Diese Theorien leiten sich häufig von Strukturen der Film-, Medien- und Kulturtheorien ab, weswegen als Vergleich auch die verschiedenen Grade der Teilhabe in Literatur und Film betrachtet und unterschieden werden sollen. In Spiele kann – anders als bei den genannten anderen Medien – aktiv eingegriffen werden. Je nach Spieltypus gibt es entweder eine vorgegebene Abfolge der Handlungsstränge oder es handelt sich um eine völlig offene Welt. In beiden Varianten gibt es für den Spieler Aufgaben in Form von Quests, die als Handlungselemente ausgeführt werden können oder müssen. Vorgaben, in welcher Reihenfolge dies erfolgen muss, gibt es häufig nicht. Oftmals ist es einzig das Level des Spielcharakters, das festlegt, ob er schon die nötige Stärke besitzt, um eine bestimmte Quest bereits erfüllen zu können. Hier wird der Unterschied zwischen offenen und geschlossenen Spielwelten und deren unterschiedlichen Möglichkeiten deutlich, weswegen neben dem theoretischen Fundament, das in Literatur und Film erprobt wird, nun auch die praktische Umsetzung gegenwärtiger Spielstrukturen im Zusammenhang mit virtuellen Realitäten, Simulation und Simulakrum genauer betrachtet werden soll. Ebenso werden die Grenzen des Spielsimulakrums und die Grenzen der virtuellen Welt aufgezeigt, die den Spieler nach gegenwärtigem Stand der Technik immer noch nicht vollständig umschließen können. Brüche in der Umgebungsstruktur werden in der Realität immer sichtbar und spürbar bleiben. Im Film existieren zumeist eine oder mehrere Identifikationsfiguren für den Zuschauer, deren Vorgehen innerhalb der Handlung er jedoch nicht steuern kann. Stattdessen erlebt

70 Bei eXistenZ ist der Code nie zu sehen, bei Matrix elementares Gestaltungsmittel. 71 Vgl. S. 55 dieser Arbeit. 72 Buschkühle: Kunst und Spiel, S. 65.

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der Rezipient mit der Hauptfigur die Abläufe passiv – sozusagen als stiller Begleiter, der die Welt durch die Augen des erzählenden Protagonisten wahrnimmt, ähnlich der imaginierten Technologie des Simstims in William Gibsons Neuromancer. Bei einem Computerspiel hängt es von der Art des Spiels ab, wie die Handlung wahrgenommen wird. Ist es ein Spiel mit vorgegebenem Verlauf, so steuert der Spieler die Figur durch ein Labyrinth an Möglichkeiten, die genau strukturiert sind und dabei wenig Gestaltungsfreiraum lassen, wie die Quests gelöst werden können.73 Die prinzipielle Unterscheidung zwischen Film und Spiel liegt aber in der Hauptsache darin, wie aktiv ein Zuschauer oder Spieler selbst werden kann und inwiefern er am Dargestellten unmittelbar partizipiert. Selbiges gilt im Vergleich zwischen geschriebenem Wort und bewegtem Bild. Innerhalb eines literarischen Texts ist die Vorstellungswelt freier gestaltbar als in einem Film, der Handlungsverlauf ist jedoch in beiden Fällen für gewöhnlich vorgegeben. Dabei gibt es durchaus Filmprojekte, bei welchen der Zuschauer aktiv in die Handlung eingreifen und diese sogar bis zu einem gewissen Grad steuern kann.74 Ebenso existieren Romane, die es dem Leser überlassen, welches Kapitel er als nächstes liest, wodurch er das Narrativ der gelesenen Geschichte selbst steuern kann. Während Literatur und Film also zumeist passiv antizipiert werden, wird im Computerspiel aktiv eingegriffen. Gleichzeitig übernimmt der Spieler die ihm zugewiesene Rolle.75 Durch dieses scheinbar aktive Teilnehmen an der Spielhandlung kommt schließlich ein performativer Aspekt zum Tragen, der nur durch eine Figur – den Avatar – vonstattengeht, die den Spieler virtuell darstellt und mit der er sich bis zu einem bestimmten Grad identifiziert. Er übernimmt bis zu einem gewissen Maß die Regie, hat jedoch häufig – je nach Spielaufbau und Spielmechanik – nicht die

73 Auch eXistenZ ist grob nach diesem Muster aufgebaut. Ein Beispiel aus der Gegenwart der 1990er Jahre wäre die Tomb Raider-Reihe und ähnliche Adventure-Games. Eine andere Art des Spielaufbaus verfolgt World of Warcraft, was in den folgenden Kapiteln im Vergleich mit Second Life als virtueller sozialer Welt noch genauer erläutert werden soll. 74 Vgl. Suzuki International Europe GmbH: Weltweit erster interaktiver Film, den die Zuschauer zu Ende spielen. Medium Film macht den Sprung in die Wirklichkeit. Presseportal.de, 18. März 2005. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). Vgl. ebenso den Roman The Unfortunates, der keine feste Lesereihenfolge vorgibt: B. S. Johnson: The Unfortunates. London: Picador 1999. 75 Vgl. Peter Mahr: Existenz in der Konsole. Zu David Cronenbergs Fernsehkinotheater eXistenZ. In: Maske und Kothum. Internationale Beiträge zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Ausgabe 52, Nummer 3. Juli 2007. S. 79-89, hier S. 82.

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alleinige Entscheidungshoheit.76 Die dargestellte Figur ist dabei gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Spielwelt, muss agieren, reagieren und dem Drehbuch des Spiels folgen. Dennoch sind Computerspiele nicht unmittelbar mit Film als Medium vergleichbar, denn statt des „natürlichen“ Schnitts, der Beginn und Schluss einer Einstellung markiert, „gibt es hier den Schnitt, der mit der Spielzugentscheidung innerhalb des vorgegebenen Gamedesigns zusammenfällt.“77 Nicht ein Schauspieler agiert als Protagonist und treibt die Handlung voran, sondern eine „künstliche[...] Figur und ihre[...] Perspektive in verschiedenen Geschwindigkeiten.“78 Es gibt keine festgelegte Kameraausrichtung und der Spieler kann sich im Raum relativ frei bewegen und orientieren. Die Immersion kann für einen Spieler viel intensiver wahrnehmbar sein als für einen Buch- oder Filmrezipienten. Grundsätzlich ist Immersion in Filmen und Büchern ebenso möglich wie in Computerspielen, wird aber jeweils verschieden definiert und eingegrenzt. Auch wenn der Spieler vor sich Eingabegeräte wie Tastatur oder einen Controller sieht, ist das, was sich auf dem Monitor abspielt, für einige Zeit die für ihn aktuelle Wirklichkeit, von der er aber im Regelfall durchaus weiß, dass sie nicht der realen Umgebung entspricht. Bereits hier zeigt sich, dass der Begriff der Immersion schwer zu fassen ist. Im Zusammenhang dieser Untersuchung steht allerdings die Art der Immersion im Vordergrund, die mit technischen Hilfsmitteln erreicht wird, um virtuelle Welten betreten zu können. Mit Fernsehen lässt sich das Computerspiel ebenso nur bedingt vergleichen. An die Stelle von Variationen fester Bestandteile einer Serie oder ähnlichem und der Kombination aus Bildtext, Zapping und TV-Voting, „die alle die Modulierbarkeit der audiovisuellen Elemente des Fernsehens bestätigen, tritt das einzelne Spiel eines Spiels, das vom User gespielt wird und eine vollständige individuelle oder auch kollektive Variation eines Games ist.“79 Medienphilosoph Peter Mahr folgert hieraus weiter, dass es anstelle des „Kurzschlusses von privatem und öffentlichem Raum […] nun die künstlichen Welten von Massenkampfspielen oder auch Strategiespielen wie SimCity oder Second Life gibt, bei denen die Unterschiede von privatem Dokument, Veröffentlichung und Sendeformat in einer virtuellen Telepräsenz zusammengeschmolzen sind.“80 Auf diese Telepräsenz oder

76 Vgl. ebd., S. 82. Das wiederum beinhaltet trotz allem eine gewisse Passivität, da er nur höchst selten als Spieler selbst eingreifen kann, sondern sich der Spielstruktur beziehungsweise der Spielmechanik unterwerfen muss. 77 Ebd., S. 83. 78 Ebd., S. 83. 79 Ebd., S. 84. 80 Ebd., S. 84.

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vielmehr Teleexistenz weist bereits Virilio hin.81 Das Erscheinen des Gameboys und erste realistische Gehversuche mit virtuellen Realitäten zu Beginn der 1990er Jahre deuten wiederum auf „eine Verschmelzung von Technik und Körper“ hin, die „allmählich massentauglich von jenen Blue-Tooth-(Head)Sets [i. O.] eingeholt werden dürfte, deren miniaturgroße Kameras und Screens vor den Augen in naher Zukunft ein mixed/augmented/hybrid reality gaming [i. O.] erlauben werden.“82 Nach dem Fernsehen wird schließlich bei Spielen die „Telität distanzlos überholt, und zwar durch zunehmende Tiefensuggestion und immer höher auflösende Bilder.“83 Die virtuelle Realität ist bei einer Weltsimulation am Computer „die Schnittstelle zwischen Computersystem und Mensch.“84 Die Spieler blenden dabei „komplett aus, dass sie überhaupt mit einem Computerprogramm interagieren“, denn sie „können einfach so handeln, wie sie es in der Welt gewohnt sind.“ 85 Die Perfektion dieser Mensch-Maschine-Schnittstelle wird vielleicht nie erreicht, aber „auf dem Weg dahin [können] wertvolle neue Ideen aufkommen und innovative Benutzungsschnittstellen konzipiert werden, die Menschen den Umgang mit Computersystem erleichtern.“86 Dadurch bieten virtuelle Realitäten aber auch die Möglichkeit, mehr über die menschliche Wahrnehmung herauszufinden – auch dann, wenn nicht versucht wird, „den Menschen von der Realität […] komplett abzuschotten.“87 In virtuellen Welten soll es dem Nutzer oder Spieler möglich sein, dort auch zu agieren, was wiederum „Auswirkungen auf die Erzeugung [von] Reize[n]“ hat, die auf den Menschen einwirken.88 Wie die virtuelle Welt funktioniert und reagiert, wird durch das Simulationsmodell festgelegt. Es gibt verschiedene Abstufungen virtueller Realitäten. Ihnen zugrunde liegt ein VR-System genanntes Computersystem, das diverse Modelle und Objekte enthält, „deren Verhaltensbeschreibung [bestimmend] sind für das

81 Vgl. S. 113f dieser Arbeit. 82 Mahr: Existenz in der Konsole, S. 84. Mittlerweile ist das Realität geworden, wie man an Beispielen von Pokémon Go oder Google Glass sieht. Letzteres war wenig erfolgreich, dafür drängen nun Oculus Rift, Samsung Gear, HTC Vive oder Microsoft Lens auf den Markt, um VR-Umgebungen im Alltag integrieren zu können. 83 Ebd., S. 84. 84 Dörner, Jung et al.: Einleitung, S. 8. 85 Ebd., S. 9. 86 Ebd., S. 9. 87 Ebd., S. 10. 88 Ebd., S. 6.

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Simulationsmodell und deren Anordnung im Raum.“89 Augmented Reality unterscheidet sich hiervon insofern, als dass bei ihr die realen Anteile überwiegen. 90 Der Begriff stammt aus dem Jahr 1995 und damit aus einem ähnlichen Zeitraum wie der medial turn.91 Ihr Merkmal ist die Kombination aus „des mit der Kamera aufgenommen Realen mit dem von Rechnern generierten Virtuellen“ und lässt den Spieler weiterhin in der Realität präsent sein, die um „Teile aus einer [v]irtuellen Welt […] erweiter[t]“ wird.92 Elementar ist auch die sogenannte Suspension of Disbelief, die Aussetzung der Ungläubigkeit. Hierbei werden augenscheinliche Widersprüche zwischen einer virtuellen beziehungsweise fiktiven Welt im Verhältnis zur realen Welt ausgeblendet und das teilweise auch völlig bewusst. 93 Sie ermöglicht es, dass virtuelle Realitäten „in verschiedenen Ausbaustufen erzeug[t]“ und teilweise „mit relativ geringem Aufwand glaubwürdige [v]irtuelle Umgebungen realisier[t]“ werden können.94 Während in den 1990er Jahren Onlinespiele zwar schon existierten, sind sie erst in den 2000er Jahren zu einem Massenphänomen avanciert. Parallel zu diesem Aufstieg „popularisierte sich – in Abkehr von der anti-immersiven Haltung postmoderner Kunst und Literatur und auch poststrukturalistischer Theorie 95 – erneut das Ideal des Eintauchens in Fiktionen.“96 Das Holodeck – ein aus Star Trek bekannter Raum zur Darstellung virtueller Welten – wurde 1997 noch von Literaturwissenschaftlerin Janet Murray in ihrer Untersuchung Hamlet on the Holodeck als „enchantment of immersion“97, die Idealvorstellung von Immersion, bezeichnet, als eine, so Gundolf Freyermuth, „einzigartige ästhetische Qualität des Transmediums.“98 Er verweist außerdem auf Murrays Aussage, in der sie gemeinsam mit dem Medienwissenschaftler Henry Jenkins Immersion als eine der beiden wichtigsten „aesthetic pleasures that emerge most immediately from the intrinsic

89 Ebd., S.7 90 Vgl. ebd., S. 11. 91 Vgl. ebd., S. 20. 92 Ebd., S. 20. 93 Vgl. ebd., S. 8. 94 Ebd., S. 8. 95 Vgl. Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality 2: Revisiting Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore: John Hopkins University Press 2015. S. 2. 96 Freyermuth: Games, S. 106. 97 Janet Murray: Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyberspace. Cambridge: MIT Press 1997. S. 125. 98 Freyermuth: Games, S. 110.

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properties of the computer medium“ beschreibt.99 Die Narratologin Marie-Laure Ryan bezeichnet diese positive Sichtweise der 1990er Jahre auf virtuelle Umgebungen passend zur anschließenden Ernüchterung innerhalb dieser Debatte als Holodeck-Mythos.100 Sie beschreibt die virtuelle Realität zwar als etwas, das sie ob des narratologischen Ansatzes als zu kurz gegriffen betrachtet, verortet diese aber wie das Holodeck im postmodernen Mythos. 101 Murray hingegen argumentiert in Hamlet on the Holodeck vordergründig narratologisch, indem sie das Holodeck als Äquivalenzmoment des virtuellen Theaters in Form eines Cyberdramas dem viktorianischen Drama als Nachfolger einordnet. Ihr geht es folglich weniger um die technische Umsetzung virtueller Welten, sondern darum, welche Möglichkeiten eine solche Konstruktion auf erzähltheoretischer Ebene bieten könnte. Theorien müssen, wie sich hier zeigt, dergestalt aufgebaut sein, dass sie auch künftige Entwicklungen nicht ausschließen. Das Holodeck mag zwar gegenwärtig unrealistisch erscheinen, sollte aber als mögliche zukünftige Darstellung von VRUmgebungen trotzdem kritisch hinterfragt werden: „‚Zukunftssichere‘ Definitionen der VR sollten auch mit visionären Vorstellungen […] kompatibel sein.“ 102 Die Grenze zwischen Rezipient und Medium bleibt dennoch weiterhin bestehen, denn „[d]as ist per se das letzte Geheimnis im Computerspiel: So sehr man sich auch involviert, man wird nie gänzlich (also physisch) darin vordringen können.“103 Laut Stiglegger suggeriert die „Interaktion mit der virtuellen Welt […] eine Nähe, die zugleich immer Ferne ist, eine Souveränität des Spielers, die verschleiert, dass der Spieler den Regeln dieser Welt immer unterworfen bleiben wird, selbst wenn er Teile davon zu gestalten glaubt.“104 Was aber die Entwicklung immer wieder vorangetrieben hat, ist eine der Sehnsüchte, von denen Künste

99 Zitiert nach ebd., S. 110. Die andere Vergnügung ist die Interaktivität. Vgl. ebenso Janet Murray, Henry Jenkins: Before the Holodeck: Translating Star Trek into Digital Media. In: Greg Smith (Hg.): On a Silver Platter: CD-ROMs and the Promises of a New Technology. New York: New York University Press 1999. S. 35-37. 100 Vgl. Marie-Laure Ryan: Beyond Myth and Metaphor – The Case of Narrative in Digital Media. In: Game Studies. The International Journal of Computer Game Research. Ausgabe 1, Nummer 1. Juli 2001. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). 101 Vgl. Ryan: Narrative as Virtual Reality 2, S. 37. 102 Ralf Dörner, Bernhard Jung, Paul Grimm, Wolfgang Broll, Martin Göbel: Einleitung. In: Ralf Dörner, Wolfgang Broll, Paul Grimm, Bernhard Jung (Hg.): Virtual und Augmented Reality (VR/AR). Grundlagen und Methoden der Virtuellen und Augmentierten Realität. Heidelberg: Springer: 2013. S. 1-31, hier S. 13. 103 Stiglegger: Der promethische Impuls, S. 32. 104 Ebd., S. 32.

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ebenso wie Medien oft getrieben werden: der Wunsch nach Immersion. 105 Dabei weist der Begriff der Immersion so viele Bedeutungsebenen auf, dass es beinahe unmöglich ist, ihn klar zu definieren und einzugrenzen. Bereits hier zeigt sich, dass es neben der eher passiven literarischen und filmischen Immersion eine weitere Variante gibt, die sich primär auf Spiele und damit verbunden virtuelle Welten bezieht. In der Literatur wird sie „oft als zentrales Merkmal zur Unterscheidung von VR und anderen Mensch-Maschine-Schnittstellen herausgestellt“, aber auch Ralf Dörner, Bernhard Jung et al. weisen darauf hin, dass der Begriff der Immersion uneinheitlich genutzt wird und setzen ihn in ihrer Definition in einen technischen Zusammenhang.106 Primär orientieren sie sich an Mel Slater und Sylvia Wilbur, laut deren Beschreibung „Immersion auf vier technischen Eigenschaften von Ausgabegeräten“ beruht.107 Der Nutzer soll hierbei möglichst nur Reize über den Computer erfahren und von seiner realen Umgebung isoliert sein, während möglichst viele Sinne angesprochen werden. Die „Ausgabegeräte sollen den Nutzer vollständig umgeben“ und eine lebendige Darstellung mit hoher Auflösung ermöglichen.108 In dieser Verwendung ist die Immersion als technische Eigenschaft von VR-Systemen zu betrachten. Weitere Unterscheidungsmöglichkeiten sind zudem noch die physikalische und mentale Immersion, die von Alain Craig und William Sherman propagiert wird.109 Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass Immersion nahezu immer in zwei Varianten aufgeteilt werden kann, die zum einen ein eher physisches und zum anderen ein eher geistiges Eintauchen beschreibt. Erstere ist gegenwärtig aufgrund der fehlenden Technik anders als in den bislang bearbeiteten Fallbeispielen kaum umzusetzen. Für die mentale Immersion gelten aber dennoch einige Voraussetzungen, die notwendig sind, um diese beschreiben zu können. Slater präzisiert hier, indem er die Präsenz, die dem Nutzer das Gefühl geben kann, er halte sich wirklich innerhalb einer virtuellen Umgebung auf, als „zentrale[s] Konzept zur Beschreibung der mentalen Aspekte der VR-Erfahrung“ beschreibt und mit drei Teilaspekten kategorisiert.110 Er benennt die Ortsillusion

105 Vgl. Freyermuth: Games, S. 106. 106 Dörner, Jung et al.: Einleitung, S. 13f. 107 Ebd., S. 14. Vgl. ebenso Mel Slater, Sylvia Wilbur: A Framework for Immersive Virtual Environments (FIVE). Speculations on the Role of Presence in Virtual Environments. In: Presence: Teleoperators and Virtual Environments. Ausgabe 6, Nummer 6. Dezember 1997. S. 603-616. 108 Ebd., S. 14. 109 Vgl. Alain Craig, William Sherman: Understanding Virtual Reality. Interface, Application, and Design. Burlington: Morgan Kaufman 2000. 110 Dörner, Jung et al.: Einleitung, S. 18.

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(Place Illusion), Plausibilitätsillusion (Plausibility Illusion) und zuletzt die Involviertheit (Involvement).111 Die Ortsillusion erlaubt es, dass der Nutzer die virtuelle Umgebung in seiner eigenen Perspektive wahrnehmen kann. Die Plausibilitätsillusion beruht „stark auf den Inhalten [und der Glaubwürdigkeit] der simulierten Welt.“112 Die Involviertheit beinhaltet das Interesse und den Grad der Aufmerksamkeit des Nutzers an der simulierten Welt, wobei hier ähnlich wie bei der Plausibilitätsillusion gilt, dass sie hauptsächlich auf den dargestellten Inhalten der virtuellen Welt basiert.113 Dennoch ist es möglich, dass eine simulierte Welt als Ortsillusion überzeugt, die Involvierung aber eher gering ausfällt, da die Welt als solche langweilt.114 Immersion beschreibt „den Grad des Eintauchens […] durch objektive, quantifizierbare Stimuli, d. h. [i. O.] multimodale Simulationen der menschlichen Wahrnehmung.“115 Das Gefühl der Präsenz ist hierbei an den Grad der Immersion gekoppelt, auch dann, „wenn [sich] der Nutzer […] bewusst in der VR befindet und sich wie in der realen Welt verhält.“116 Lambert Wiesing spricht sich auf der nicht-technischen Ebene sogar dafür aus, dass „gerade angesichts der Tatsache, dass Immersion keine genuine Spezifität der digitalen Bildräume ist, den Begriff der Immersion zur Charakterisierung virtueller Räume zugunsten des Begriffs der Imagination fallen zu lassen.“117 Der Computerspieleforscher Ernest Adams unterscheidet zwischen taktiler und strategischer Immersion. Erstere basiert auf Bedienungsabläufen, letztere bezieht mentale Involvierung und narrative Immersion mit ein.118 Sie wird zur implikationsreichen Vorstellung über das „‚Eintauchen‘ in die virtuelle Realität, in der die Grenzen zwischen ‚virtueller‘ und ‚realer‘ Realität verschwimmen.“ 119 Möglich gemacht wird dies unter anderem durch das „immer realistischer werdende Design der

111 Vgl. Mel Slater: Place Illusion and Plausability can lead to Realistic Behaviour in Immersive Virtual Environments. In: Philosophical Transactions. Ausgabe 364, Nummer 1535. Dezember 2009. S. 3549-3557. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 112 Dörner, Jung et al.: Einleitung, S. 18. 113 Vgl. ebd., S. 18. 114 Dieser scheinbare Widerspruch innerhalb der Präsenz scheint auch eines der Probleme zu sein, die dazu geführt haben, dass Second Life seine Nutzer in vielen Fällen nicht dauerhaft halten konnte. Vgl. S. 309ff dieser Arbeit. 115 Dörner, Jung et al.: Einleitung, S. 46. 116 Ebd., S. 46. 117 Wiesing: Virtuelle Realität, S. 107ff. 118 Vgl. Ernest Adams: Postmodernism and the Three Types of Immersion. Gamasutra Online, 9. Juli 2004. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 119 Hanke: >Next Level, S. 12.

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Spiele“, so Christine Hanke.120 Der Zusammenhang zwischen Immersion und einem hyperrealistischen Design wird jedoch kaum systematisch aufgegriffen, was eine genaue Eingrenzung zusätzlich erschwert. Die Medienwissenschaftlerin Britta Neitzel interpretiert Immersion schließlich so, dass durch die „[h]och entwickelten Techniken der multi-medialen [i. O.] Simulation, die zu einer besonders starken Immersion führen, […] die Konsumenten in eine virtuelle Welt gezogen [werden] und den Bezug zur Wirklichkeit verlieren.“121 Außerdem weist auch sie darauf hin, dass der Begriff der Immersion durch seine Divergenz zeigt, „dass die digitalen Technologien einen grundlegenden Wandel im Umgang mit kulturellen Artefakten hervorbringen, der bisher – immer noch – nur unzureichend eingeordnet werden kann.“122 Immersion und Interaktivität bilden eine Einheit, denn „[k]aum ein Medium passiviert den Nutzer vollkommen, ist also nur immersiv.“123 Sie erweitert das Vokabular um den bereits genannten Begriff der Involvierung aus der mentalen Erfahrung bei virtuellen Realitäten, denn dieser „beinhaltet sowohl die Konnotation der Aktivität als auch der Passivität.“ 124 Murrays Hamlet on the Holodeck lässt sie zwar gelten, kritisiert aber, dass hier nur visuelle Strategien behandelt werden. Involvierung nach Neitzel bedeutet nicht die totale Immersion, sondern stellt ein Gleichgewicht aus Distanz und Nähe her und beinhaltet eine „aktive Komponente der Beteiligung, die mit dem Spielen korrespondiert.“ 125 Ein Computerspiel müsse nach dieser Definition fesselnd sein, was die Gefahr beinhaltet, den Bezug zur Realität durch das Gefühl der Präsenz innerhalb der virtuellen Realität zumindest kurzzeitig zu verlieren. Aber das Computerspielen selbst kann auch „als Selbstbeobachtung unter ständiger Rückkopplung bezeichnet werden“, denn um spielen zu können, muss der Spieler sich dessen bewusst sein, dass er spielt, „was bedeutet, dass [er] gleichzeitig innerhalb als auch außerhalb des Spiels ist.“126 Dies weist starke Bezüge zu Theorien des Konstruktivismus auf, besonders zu Heinz von Foersters Kybernetik zweiter Ordnung, die so viel bedeutet, wie dass eine

120 Ebd., S. 12. 121 Britta Neitzel: Medienrezeption und Spiel. In: Jan Distelmeyer, Christine Hanke, Dieter Mersch (Hg.): Game over!? Perspektiven des Computerspiels. Bielefeld: transcript 2008. S. 95-114, hier S. 95. 122 Ebd., S. 95. 123 Ebd., S. 96. 124 Ebd., S. 96. 125 Ebd., S. 102. 126 Ebd., S. 102.

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Beobachtung beobachtet wird: Der Spieler hier beobachtet sich in diesem Moment selbst, während er das Spiel beobachtet beziehungsweise spielt.127 Unterschieden wird weiter zwischen verschiedenen Techniken der Involvierung, darunter sensomotorische, visuelle, räumliche, temporale und emotionale Involvierung, die jeweils verschiedene Sinne und Wahrnehmungen ansprechen.128 Sie ist die Schnittstelle zwischen Immersion und Interaktivität und ermöglicht es dem Spieler so, deutlich intensiver am Erlebten teilzunehmen, was erst durch die Verknüpfung aus passiven und aktiven Anteilen des Spielens ermöglicht wird. Viele Versuche einer Deutung der Immersion setzen bestimmte Begebenheiten als bekannt voraus und gehen auf diese bei ihrer Definition der Immersion nicht weiter ein. Neitzel versucht sich zwar an einer Erweiterung des Begriffs durch die Involvierung, berücksichtigt dabei aber nicht konkret, auf welchem Medium die Immersion sich abspielt, sondern geht in ihrer Argumentation von Computerspielen aus. Der Gedanke der Passivität scheint grundsätzlich nicht verkehrt zu sein, ist jedoch unklar umrissen. Stattdessen müsste klarer unterschieden werden zwischen perzeptueller und kognitiver Immersion, vielleicht sogar dem Flow. Dieser beinhaltet „an exhilarating sense of control and mastery that can pursuing a focused, goal-driven acitivity; it’s a deep involvement that transcends distractions and sense of time.”129 Dieser Flow taucht bevorzugt in virtuellen Welten auf, lässt sich aber nicht losgelöst betrachten von Involvierung und oben beschriebener Präsenz.130 Immersion scheint aus einem unbewussten Moment zu entstehen und nicht planbar zu sein. Möglicherweise bezeichnet aber genau dies die Art der Passivität, die Neitzel beschreibt. Immersion kann ebenfalls als eine Art Wert betrachtet werden, der technisch definiert wird durch die sensorische Abdeckung, die ein Einfühlen in virtuelle Welten ermöglicht. Unklar ist hier allerdings, wie diese Variante der Beschreibung der Immersion beispielsweise mit Augmented oder Mixed Reality aufzulösen ist, denn hier findet keine sensorische Abdeckung im Sinne eines Datenhelms statt, sondern eine Erweiterung der alltäglichen Umwelt ins Virtuelle. Häufig wird Immersion zudem nicht medienspezifisch behandelt, sondern dient als Fokusmeta-

127 Vgl. Heinz von Foerster: Cybernetics of Cybernetics, The Control of Control and the Communication of Communication – Original edition prepared by the students enrolled in the ‚Cybernetics of Cybernetics‘, a course during the Fall Semester 1973 through the Spring Semester of 1974 at the University of Illinois, Urbana, Illinois. Minneapolis: Carl Auer 1995. 128 Vgl. Neitzel: Medienrezeption und Spiel, S. 103-107. 129 Bartle: Designing Virtual Worlds, S. 157. 130 Vgl. ebd., S. 157.

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pher der Aufmerksamkeit im Handlungszusammenhang. Es handelt sich hierbei um eine Empfindung von Anwesenheit in raumzeitlichem Zusammenhang. Gundolf Freyermuth greift ein ähnliches Konzept auf, wie im folgenden Kapitel detaillierter ausgeführt wird. Doch auch er scheint die Immersion als Bedeutungsspektrum vorauszusetzen und verzichtet auf eine detaillierte Ausarbeitung des Begriffs. Er betrachtet Menschen und deren Mediennutzung, neurophysiologische Perspektiven spart er aus. Dennoch soll die Theorie Freyermuths im Rahmen dieser Analyse weiter ausgearbeitet werden, denn die hyperimmersive Wende, die er als Ausblick darstellt, weist Aspekte auf, die einen detaillierteren Blick rechtfertigen. Interessant im Kontext dieser Untersuchung ist diese hyperimmersive Wende aus dem Grund, dass bereits in Theorie, Literatur und Film verschiedene Konzepte der Teilhabe vorgestellt wurden. Sie stammen jedoch aus einer Zeit, in der eine praktische Umsetzung virtueller Welten in der heutigen Form noch nicht existiert hat und der medial turn als solcher noch nicht in den Fokus medientheoretischer Forschung gerückt war. Es lässt sich feststellen, dass literarische und filmische Immersion passiv ist, während Immersion im Spiel in Neitzels Auslegung durch Involvierung auch aktiv erfolgen kann. Das wird heute durch verschiedene Perspektiven und Blickwinkel innerhalb der Spielmechanik unterstrichen, wie beispielsweise die First-Person-Perspektive bei Egoshootern. Es wird sich in Zukunft zeigen, wie realistisch solche Spiele werden können und ob durch sie tatsächlich die Realität zu einem Konstrukt verkommt, der man ein virtuelles Dasein vorzieht.131 Die gegenwärtigen Theorien sind parallel zur Entwicklung realer virtueller Welten und Computerspiele entstanden und gelten gleichzeitig als Kommentar zum Umgang mit der Simulation. Zudem zeigt sich, wie unterschiedlich Konzepte der Immersion verhandelt werden und wie sich deren Darstellung über die Zeit verändert. Immersion 2.0: Die hyperimmersive Wende? Mit der Involvierung wird auf anderer Ebene auf etwas hingearbeitet, was Gundolf Freyermuth als hyperimmersive Wende bezeichnet. Er betrachtet hierbei nicht primär die aktive Beteiligung des Spielers, sondern beschreibt in seinem 2015 erschienenen Band Games. Game Design. Game Studies mehrere Wendepunkte innerhalb der Entwicklung von Computerspielen, simulierten und virtuellen Wel-

131 Hier sei nochmals auf die Idee des Cyberdramas verwiesen. Vgl. Janet Murray: Hamlet on a Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. Cambridge: MIT Press 1997.

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ten.132 Er teilt dies historisch nach ihren Entwicklungsstufen und den Formen ihrer möglichen Involvierung beziehungsweise Immersion auf. Er versucht, dies auf Systemebene ontologisch und medienspezifisch zu differenzieren, indem er die verschiedenen Medialitäten audiovisueller Medien genauer aufschlüsselt und dies mit von ihm historisch verorteten Wendepunkten verknüpft. Anders als Britta Neitzel weist Freyermuth der Immersion keine Passivität zu, setzt den Begriff allerdings als bekannt voraus. Hauptunterscheidungsmerkmal bildet seiner Ansicht nach die Medialität, die er in mehrere Grade aufteilt.133 Die erste Wende verortet Freyermuth in den 1950er Jahren, zu deren Erscheinungen er unter anderem Flugsimulatoren zählt. Diese Art der spielbaren Simulatoren ordnet er realweltlichen Prozessen und Prozeduren zu, die virtualisieren und auf algorithmischer Ebene automatisieren, weshalb er diese Wende folgerichtig als die prozedurale bezeichnet.134 Für diese ersten digitalen Spiele ist ihre Prozeduralität ihr zentraler Modus der Repräsentation, denn sie verfügten „im Gegensatz sowohl zu ihren analogen Vorläufern als auch zu den linearen audiovisuellen Medien über einen neuen, weil systematischen Modus der Repräsentation.“135 Anders als Literatur beschreiben sie nicht nur auf visueller oder audiovisueller Ebene, sondern simulieren virtuell und machen ihr Funktionieren damit erfahrbar, was ihre Automatisierung in das Telos prozedurale Narrativität rückt.136 Etwa zwanzig

132 Gundolf Freyermuth: Games. Game Design. Game Studies. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2015. 133 Basieren Spiele primärer Medialität auf realen Simulationen des Realen, Spiele sekundärer Medialität auf symbolischen Repräsentationen des Realen und Spiele tertiärer Medialität auf tele-auditiven oder tele-audiovisuellen Teilhaben an realen Simulationen des Realen, so ermöglichen digitale Spiele erstmals eine interaktive Teilhabe nicht nur an virtuell-echtzeitigen Simulationen symbolischer Repräsentationen des Realen, sondern vor allem auch an virtuell-echtzeitigen und hyperrealistischen Simulationen des Imaginären. Vgl. ebd., S. 59. 134 Vgl. ebd., S. 66. Als Beispiel hebt Freyermuth besonders Spacewar! in seiner rudimentären narrativen Ausrichtung hervor, das gleichzeitig „auf die hyperepische Zukunft in seiner graphischen Gestalt auf die hyperrealistische Zukunft des neuen Mediums“ vorausweist: „Der avancierte Vektorgraphik-Monitor zeigte vor dem Hintergrund eines astronomisch recht exakten Sternenhimmels zwei Raumschiffe, die sich mit Torpedos beschossen, einander per Hyperspace-Sprung [i. O.] auswichen, sich aber gleichzeitig hüten mussten, nicht in tödliche Schwerkraftfelder zu geraten.“ Vgl. hierzu ebd., S. 68. 135 Ebd., S. 67. 136 Vgl. ebd., S. 67.

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Jahre später in den 1970er Jahren setzt Freyermuth die hyperepische Wende an, die er mit dem Aufkommen der Adventure-Spiele verbindet. Diese Art von Spielen zeigte einen neuen und literarischeren Modus, der es durch seine verzweigte Erzählstruktur ermöglicht, dass der Inhalt des Adventures bei jedem Spiel neu und individuell umgesetzt wird.137 Mit ihnen tauchten auch die ersten Vorläufer heutiger Onlinespiele – genauer der MMORPGs – auf, die damals allerdings nur in einem sehr beschränkten Umfeld, zumeist an Mainframe-Rechnern von Universitäten, gespielt werden konnten.138 Film löste Literatur als Inspiration schließlich ab und führte zur „Ausbildung einer neuen […] hyperepischen [und] hyperrealistischen Ästhetik.“139 Die damit verbundenen Audiovisionen, beispielsweise von Bühne, Film und Fernsehen „unterliegen […] starken Restriktionen, die folgerichtig jeweils die Spezifik der jeweiligen audiovisuellen Medien ausmachen.“140 Eine medientechnologisch kategoriale Unterscheidung sieht Freyermuth in der hyperepischen Narration und linearen Spielarten, denn „[i]m Gegensatz zu diesen linearen Vorbildern […] die von realisierten Handlungen in fiktiven Welten erzählen, bieten Spiele […] fiktive regelbestimmte Welten für mögliches Handeln.“141 Durch die Handlungsräume der Hyperepen wird der Spieler zu einem autonomeren Akteur, auch wenn dies gegenwärtig im Verhältnis zur weiteren Entwicklung noch sehr eingeschränkt ist.142 Auf diese hyperepische Wende folgt in den 1990er Jahren die hyperrealistische Wende, die sich von narratologischen und ludologischen Aspekten zunehmend löst und den Blickwinkel mehr auf die technologischen Fortentwicklungen verschiebt. Der Roman war damit nicht mehr Vorbild für die Erzählstruktur, sondern filmisches Erzählen und dessen virtuelle Darstellung. Spiele als genuin audiovisuelles Medium lassen sich ästhetisch von anderen audiovisuellen Medien zunehmend beeinflussen. Dies ist unter anderem auch am medial turn festzumachen, der Multimedia und weltweite Vernetzung in jedem Haushalt mit Computer ermöglicht hatte: „Den ersten Anstoß zur multimedialen Aufrüstung der PCs mit schnelleren Prozessoren, stärkeren Grafikkarten

137 Diese textbasierten Adventures verfügen maximal über eine sehr rudimentäre Grafik, das Spiel selbst wird über die Auswahl verschiedener Textbausteine gesteuert, die „die spezifische Befähigung digitaler Schriftlichkeit zur Multilinearität“ nutzen. Vgl. Freyermuth: Games, S. 74. 138 Vgl. ebd., S. 74. 139 Ebd., S. 77. 140 Ebd., S. 77. 141 Ebd., S. 79. 142 Vgl. ebd., S. 81.

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und größeren Datenspeichern aber gaben digitale Spiele.“143 Mit Aufkommen der CD-ROM als Speichermedium, das viel mehr Daten erfasste als eine Diskette, waren ab „1991 aufwändigeres [i. O.] Grafik- und realistisches Sounddesign sowie die Integration von Animationen und Realfilmaufnahmen“ möglich, die eine ästhetische Personalisierung der Spiele erlaubten.144 Computergenerierte Bilder werden zu einer Hyperrealität, die Bildlichkeit fast schon fotografisch. Ihre Inhalte verweisen auf keine Realität mehr, sondern werden zu virtuellen Welten, deren Virtualität „wirklicher als die Wirklichkeit wirk[t]“, und finden in der Software, auf der ein Spiel basiert, „ihre medientechnische Realisierung.“145 Dieser Schritt vollzog sich zunächst langsam. In dieser Entwicklungsphase wurde der Unterschied zwischen der Spielwelt und den Zwischensequenzen durch das Vorrendern dieser Zwischensequenzen, die nicht in Echtzeit generiert werden konnten, sehr deutlich. Dadurch wirkten diese Sequenzen im Gegensatz zum restlichen Spiel sehr filmisch und detailreicher ausgearbeitet. Die Weiterentwicklung hyperrealistischer Bilder und Audiovisionen setzte sich aber fort und war schließlich in der Lage, nahezu alles, was gewünscht war, auch virtuell darzustellen: „[H]yperrealistische Bilder dokumentieren selbst dort nicht, wo sie Reales zeigen.“146 Die Authentizität der Bilder wurde infrage gestellt, was im Zusammenhang mit Spielwelten jedoch nicht weiter ins Gewicht fiel, da hier ohnehin meistens vollkommen künstliche Welten realisiert wurden, „[d]enn als Gebrauch ist hyperrealistischen Spielwelten nicht länger – wie im Falle von Malerei und Fotografie, Film und Fernsehen – passive Betrachtung, sondern aktive Nutzung einbeschrieben.“147 Digitale Spiele erweiterten mit der hyperrealistischen Wende ihr technisches wie ästhetisches Potenzial, die Grafik wurde zunehmend fotorealistisch und die

143 Ebd., S. 84. Zu medial turn vgl. außerdem Stefan Münker: Philosophie nach dem „Medial Turn“. Beiträge zur Theorie der Mediengesellschaft. Bielefeld: transcript 2009. 144 Freyermuth: Games, S. 84. Dies wird unter anderem mit Zwischensequenzen, sogenannten Cutscenes umgesetzt, obwohl diese das Erlebnis der Immersion genau genommen stören, da sie den Spieler zu einer Pause zwingen, aber vielmehr aus dem Grund, „weil die augenfällige Differenz zwischen ihrer fotorealistischen Qualität und den in Vergleich abfallenden animierten Spielszenen die ästhetische Einheit des Spiels“ verletzt haben. Vgl. ebd., S. 88. 145 Ebd., S. 88. 146 Ebd., S. 89. 147 Ebd., S. 90.

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Bilderwelten ließen sich bereits „arbiträr und in Echtzeit […] generieren.“148 Freyermuth vergleicht im Folgenden die Entwicklung vom Stumm- zum Tonfilm mit der Entwicklung vom analogen zum digitalen Spiel und benennt „digitale Spiele als neues Medium, weil es gänzlich neue Ausdrucksformen und Erfahrungen ermöglicht.“149 Dieser Vergleich macht den derzeitigen Stand digitaler Spiele deutlich und zeigt, welche bislang ungenutzten Möglichkeiten in ihnen stecken. Diese Wende ist aber sicherlich auch durch die Weiterentwicklung der Technik unterstützt worden. Zwischensequenzen, die dem Fortführen der Handlung dienen, stechen im Verhältnis zur eigentlichen Spielegrafik mittlerweile weniger auffällig heraus. Das Gefühl der Immersion durchbricht dies deutlich weniger als zu Zeiten, in welchen diese grafischen Unterschiede viel signifikanter wahrnehmbar waren. Dennoch hat die dahinterstehende Technologie ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht. Die hyperimmersive Wende, die sich für diese Untersuchung als am relevantesten erweist, stellt Freyermuth als Ausblick dar. Er sieht in ihr eine Demokratisierung des Spielens, die er in „ökonomischer Ermöglichung und praktischer Vereinfachung“ verortet, denn dies ermöglicht die „Ausbreitung in soziale Schichten und Altersgruppen[,] die zuvor dem neuen Medium digitaler Spiele eher fern standen.“150 Wie in der historischen Herleitung bereits gezeigt, hat kaum ein Medientheoretiker die Entortung der Technologie in ihren Prognosen vorausgesehen. Stattdessen sind sie von einem zunehmenden Rückzug in private Räume ausgegangen, um von dort in virtuelle Welten einzutauchen. Durch die Mobilwerdung des Internets und den damit verbundenen technischen Entwicklungen in Gestalt von portablen Multimediageräten ist dies in dieser Form jedoch bislang ausgeblieben. Stattdessen hat die drahtlose Breitbandvernetzung sie dem öffentlichen Raum zugänglich gemacht.151 Dadurch finden auch Technologien der Mixed und Augmented Reality in den Alltag. Zeitlich findet dies zwar nach dem medial turn der 1990er Jahre statt, ist aber dennoch in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen. 152

148 Ebd., S. 96. 149 Ebd., S. 96. 150 Ebd., S. 102. 151 Vgl. ebd., S. 102. 152 Eine endgültige Einordnung dieser Entwicklung ist allerdings erst in einigen Jahren möglich, denn im Moment steht alles noch an seinem Anfang: „Spiele [haben] bislang erst einen medialen Stand erreicht, der [mit] dem des Films in den 1920er vergleichbar [ist]: Beeindruckende medienästhetische Leistungen [stehen] einer medientechnischen Unterentwicklung gegenüber, die eine nachhaltige künstlerische Entwicklung behinder[t.].“ Freyermuth zitiert hier Jesse Schell auf der Game Developer Con-

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»Was sich über die Jahrzehnte als prozedurales, potentiell hyperepisches und potentiell hyperrealistisches Spielerlebnis entwickelt hat, wandelt sich seit ein paar Jahren erneut auf eine Art und Weise, die sowohl die ästhetische Gestalt digitaler Spiele wie auch ihre interaktive Nutzung betrifft. Dabei scheint sich eine komplementäre Doppeltendenz abzuzeichnen: das Streben zum einen nach alltagsähnlichen, also ‚natürlich‘ erscheinenden Handlungsmöglichkeiten in Games, zum anderen nach spielähnlichen, also ‚gamish‘ erscheinenden Handlungsmöglichkeiten im Alltag.«153

Speziell die Entwicklung von Touchscreens und der damit verbundenen intuitiven Steuerung trugen zur Popularisierung von Smartphones und Tablets bei, denn sie haben den Umgang mit diesen Geräten im Alltag nachhaltig verändert. 154 Sie erleichtern den Zugang ins Internet von verschiedenen Orten aus und erlauben es, Spiele zu spielen, die in der Zwischenzeit sogar real existierende geografische Wegmarken in den Spielverlauf integrieren und so die Mobilität des Spielers nicht nur ermöglichen, sondern sogar einfordern: „Denn im Zuge ihrer digitalen Augmentierung und in Verbindung mit mobiler Hardware sowie Natural User Interfaces verwandelt sich die Realität sukzessive […] zu einem operativen Abbild ihrer selbst, aus dessen Elementen wir in Echtzeit Informationen gewinnen und mit dem wir in Spiel und Ernst interagieren und verschmelzen können.“155 Anhand dieser aufgestellten Wendepunkte erarbeitet Freyermuth sich ein eigenes Verständnis von Immersion, die als Abstufungen explizit Augmented und Mixed Reality enthält und die er anhand der bereits zu Beginn erwähnten vier Medialitäten genauer differenziert. Auf diese Medialitäten soll auch im Folgenden eingegangen werden, um Freyermuths Immersionsbegriff nachvollziehen zu können:

ference 2013 in San Francisco, der sich wiederum auf Chris Swain bezieht. Vgl. ebd., S. 103. 153 Ebd., S. 103. 154 Vgl. ebd., S. 105. 155 Ebd., S. 110. Hier lohnt sich ein Vergleich mit Baudrillards These von Karte und Reich. Bei Augmented und Mixed Reality ist der Immersionsgrad allerdings deutlich geringer als bei Anwendungen, die nicht auf verschiedene Realitätsausprägungen zugreifen, bei Augmented Reality ist sich der Nutzer immer seiner Umgebung bewusst, in einer rein virtuellen Welt nicht unbedingt, je nachdem, wie diese umgesetzt ist und in welchem Umfeld diese genutzt wird. Vgl. Jean Baudrillard: Die Präzession der Simulakra. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Merve: Berlin 1978. S. 7-71, hier S. 7.

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• Primäre Audiovisualität ermöglicht eine Immersion in Reales, der Rezipient

kann „sich in Echtzeit in gegenwärtigen Ereignissen verlieren, die einfach geschehen oder inszeniert werden.“156 Das spielt sich in Zeiten und an Orten ab, an die die Beteiligten versetzt werden, in und an denen sie jedoch „nicht leben (was sie aber vermutlich gerne täten), und die es ihnen erlauben, sich zu verhalten wie Wesen, die sie sein können (und gerne wären).“157 • Bei der sekundären Audiovisualität kommt es zur Immersion in Realistisches. Der Rezipient verliert sich in seiner Eigenzeit in Artefakten wie Dramen oder Gemälden. Er wird „in Zeiten und an Orte versetzt, in und an denen [er] nicht leb[t] (was [er] aber vielleicht gerne tät[e]) und in und an denen [er] sich mit Wesen identifizieren [kann], die [er] aber nicht [ist]“, möglicherweise aber gerne wäre.158 • Die tertiäre Audiovisualität erweitert dieses Konzept der Immersion schließlich in das Fotorealistische. Diese ermöglicht es dem Zuschauer, „sich in Fremdzeit in Artefakte zu verlieren“, als Beispiel seien hier Filme oder Fernsehserien genannt.159 Er wird dabei wie schon in den beiden anderen Audiovisualitäten in Zeiten und an Orte versetzt, in denen er nicht lebt, sich in diesen Zeiten und an diesen Orten aber mit Wesen identifizieren kann oder dieses zumindest gern tun würde.160 • Bei der quartären Audiovisualität spricht Freyermuth nicht mehr vom Zuschauer, sondern vom Nutzer. Ihm erlaubt sie die Immersion in das Hyperrealistische. Der Unterschied ist hier, das Echt-, Eigen- und Fremdzeit zusammenfallen und sich der Nutzer in diesen Zeitstrukturen „in Artefakte[n] oder programmierte[n] Prozeduren […] verlieren [kann] – digitale Spiele oder andere nonlineare Audiovisionen.“161 Der Nutzer – in diesem Fall sogar der Spieler – kann nun Zeiten und Orte ebenso erkunden wie erfahren, in und an denen er jedoch nicht lebt, obwohl er das vielleicht gerne täte. Wie schon in der tertiären Audiovisualität kann er sich an diesen Orten wie Wesen verhalten, die er nicht ist, aber dennoch gerne wäre.162

156 Freyermuth: Games, S. 112. 157 Ebd., S. 112. 158 Ebd., S. 112. 159 Ebd., S. 112. 160 Ebd., S. 112. 161 Ebd., S. 112. 162 Vgl ebd., S. 112.

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Das Besondere an der quartären Audiovisualität ist, dass sie die Qualitäten von primärer bis tertiärer Audiovisualität „virtualisiert und damit über die Kombination [dieser Qualitäten] hinaus steigert“ und dadurch „ein Eintauchen in ihre virtuelle Welten [ermöglicht], wie es die älteren audiovisuellen Medien nicht erlauben.“163 Hervorgehoben wird hier analog zu Hyperepik und Hyperrealismus die „neue Erfahrung einer Verschmelzung mit Datenwelten“, die als Hyperimmersion bezeichnet wird, „da sie wesentlich aus der interaktiven Navigation verlinkter hyperepisch-hyperrealistischer Prozeduren resultiert.“164 Freyermuth verknüpft in seiner Theorie sowohl ludologische als auch narrative Aspekte, ordnet diese historisch ein und entwickelt aus diesem Grundgerüst seine Theorie über die Wendepunkte des Computerspiels. Neben den bereits erwähnten Aspekten ergänzt er die Theorie jedoch mit technologisch theoretisch möglichen Weiterentwicklungen, die er mit der Vorschau auf eine potenzielle hyperimmersive Wende abschließt, die momentan aber noch primär auf Freyermuths Hypothesen basiert. Seine Herleitung berücksichtigt sowohl die spielhistorische Evolution als auch den technologischen Fortschritt und ermöglicht aus diesem Grund einen Ausblick auf etwaige zukünftige Perspektiven, die sich an bereits behandelten literarischen und filmischen Verarbeitungen virtueller Welten orientieren und das Konzept um gegenwärtige Ansätze wie VR-Technologien sowie Konzepte von Mixed und Augmented Reality enthalten. Auf technologische Fortschritte selbst und in welcher Form diese stattfinden könnten, geht Freyermuth hierbei nicht näher ein, formuliert seine Theorie aber offen genug, um sie verhältnismäßig zeitlos zu halten, indem er bestimmte Bereiche bewusst nicht zu beschreiben versucht. Zwar achtet er auf die Zukunfsfähigkeit seiner Theorien, geht hierbei auf die technologische Umsetzung und deren Voraussetzungen aber ähnlich wie Janet Murray in Hamlet on the Holodeck nicht weiter ein. Vielmehr strukturiert er die vergangene Entwicklung bei Computerspielen und virtuellen Welten anhand der Möglichkeiten der Teilhabe durch Nutzer und Spieler. Zudem lässt die hyperimmersive Wende in ihrer gegenwärtigen Beschreibung offen, in welche Richtung die weitere Entwicklung gehen muss, um beispielsweise einen fünften Wendepunkt zu erreichen ist, was ihr eine interessante Ambivalenz verleiht. Auch eine mögliche Definition liefert Freyermuth hierbei nicht. Die Tendenzen digitaler Spiele sind allerdings eindeutig auf Hyperimmersion ausgerichtet, die die von Britta Neitzel vorgestellte Variante der Immersion, die ihre Passivität nur durch das Integrieren der Involviertheit überwinden kann, außer Acht lässt und stattdessen auf eine erweiterte Ästhetisierung virtueller Welten als künstlicher Umgebung

163 Ebd., S. 112. 164 Ebd., S. 113.

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hinarbeitet. Gleichzeitig offenbart auch diese Darstellung, dass auch die Immersion noch keine abschließende Definition erfahren hat und sich dieses Konzept mit der Verbesserung verschiedener Technologien stetig verändert und sich den neuen Gegebenheiten anpasst und bleibt damit ein integraler Bestandteil der Computerspieleforschung.

Virtuelle Welten in Computerspielen

Im Jahr 2002 prophezeite Spieldesigner Brad McQuaid, dass virtuelle Welten innerhalb von fünf bis zehn Jahren die Filmindustrie kannibalisieren würden. 1 Gerade Computerspiele haben in diesem Zeitraum tatsächlich an Bedeutung gewonnen, von einer direkten Konkurrenz zu Filmen kann heute aber nicht die Rede sein. Stattdessen finden immer mehr Spieleverfilmungen ihren Weg ins Kino, darunter Warcraft: The Beginning (2016) oder Assassin’s Creed (2016). Dennoch ist die Rolle virtueller Welten sowie deren künftige Entwicklung nicht zu unterschätzen. Momentan zeichnet sich das von McQuaid vorgestellte Szenario noch nicht ab, da sich Film und Computerspiel so grundlegend unterscheiden, dass beides völlig eigenständig existiert. Dennoch kommt es immer wieder zu inhaltlichen Überschneidungen, speziell bei expliziten Verfilmungen von Computerspielen oder aber von Computerspielen zu Filmen im Allgemeinen. 2 Gerade die Adaption von Filmen als Spiel scheint aber in den letzten zehn Jahren deutlich abgenommen zu haben und nur noch zu bestimmten Lizenzthemen stattzufinden. Ein multimediales Großereignis wie bei Matrix ist inzwischen selten geworden. Das gleichzeitige Eintauchen in Film- und Spielwelt scheint ein Phänomen zu sein, das in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren seinen Höhepunkt hatte. Heute erzählen Computerspiele eigene Geschichten, die durch den Spieler erst in Gang gebracht werden. Gleichzeitig werden sie immer filmischer und auch realistischer animiert. Spielverfilmungen nehmen hier eine völlig andere Rolle ein,

1

Vgl. Tim Guest: Second Lives. A Journey through Virtual Worlds. London: Ar-

2

Manche Filmsequenzen fühlen sich beim Betrachten an wie innerhalb eines Spiels, ein-

row 2007. S. 24. zig der Controller fehlt, um in das Geschehen eingreifen zu können. Hervorzuheben ist hierbei auch die Verfilmung von Doom, in der es eine Sequenz gibt, die die Perspektive eines Egoshooters samt eingeblendeter Waffe am unteren rechten Bildschirmrand einnimmt. Vgl. Andrzej Bartkowiak: Doom. USA 2005.

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erweitern den eigentlichen Handlungsbogen um Hintergrundwissen oder erzählen die zugrunde liegende Geschichte mit neuem Ursprung, der mit dem eigentlichen Spiel kaum noch etwas zu tun hat. Aber schon vor dieser Entwicklung haben sich Computerspiele zu Beginn der 2000er Jahre stark verändert, was mit den verbesserten Technologien und Darstellungsmöglichkeiten sowie dem Verlassen ihres Daseins als Randerscheinung der Computerkultur zu tun hatte. In diesem Zeitraum entstanden durch die veränderten technischen Bedingungen des medial turn zudem vermehrt Spiele, die auf globalen Netzwerken aufbauen und eine Breitbandinternetverbindung erfordern, um gespielt werden zu können. Die beiden folgenden als Fallstudien betrachteten Computerspiele wurden kurz nach der Jahrtausendwende entwickelt und publiziert. Sie gehören bereits zu jenen Spielen, die auf oben genannte Breitbandverbindung angewiesen sind. Beide wurden ausgewählt, da sie aus historischer Perspektive noch relativ nah an den zuvor analysierten Fallstudien aus Literatur und Film sind. Es handelt sich jedoch bei beiden nicht um Spiele im klassischen Sinn: Second Life (2003) ist eine virtuelle Welt, in der das eigene Leben in einer verbesserten Form nachgespielt werden soll, während World of Warcraft (2004) ein Onlinerollenspiel ist, das sich auch durch seine regelmäßigen Erweiterungen zu einem Langzeiterfolg entwickelt hat. Aus diesem Grund wird bei ersterem konsequent von Nutzern oder Residents gesprochen, bei letzterem aber von Spielern. Second Life hat jedoch inzwischen massiv an Bedeutung verloren, während World of Warcraft immer noch über verhältnismäßig stabile Nutzerzahlen zu verfügen scheint. Die möglichen Ursachen hierfür werden im Folgenden erörtert.

Second Life (2003): Virtueller Ersatz für das First Life? Who will you be? What will you discover? Anything is possible in Second Life. Linden Lab1

Als das Spiel Second Life 2003 online ging, war es eine der ersten großen OnlineInfrastrukturen in 3D, die es den Nutzern erlaubte, gestalterisch in die Spieleumgebung einzugreifen, mit Avataren zu interagieren und – im wahrsten Sinne – ein zweites Leben virtueller Natur auszuspielen.2 Second Life folgte von Anfang an keiner vorherbestimmten Spielstruktur. Stattdessen handelte es sich tatsächlich um eine soziale virtuelle Welt, deren einziges Ziel es immer noch ist, in ihr einen Teil des Alltags zu verbringen. Second Life lädt zum Spielen ein, allerdings ohne dabei die Eigenschaften eines Computerspiels vorzuweisen. Das mag zu Beginn sogar den besonderen Reiz als virtuelle Welt ausgemacht haben, hat aber sicherlich auch einen nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen, dass es selbigen auch schnell wieder verloren hat. Internetunternehmer Philip Rosedale ließ sich bei der Entwicklung von Second Life von Neal Stephensons virtueller Parallelwelt des Metaversums inspirieren und versuchte, diese in die Realität umzusetzen und so ein virtuelles zweites Leben anzubieten. Second Life verfügt über eigene ökonomische Strukturen und sollte nicht nur eine Simulation darstellen, sondern tatsächlich einen virtuellen Teil des alltäglichen Lebens, das aus der realen Welt ins Virtuelle ausgelagert wird und dieses sogar übertreffen sollte.3 Rosedales Firma Linden Lab, die sich mit der Entwicklung virtueller Welten befasst und damit kein

1

Linden Lab: Second Life. www.secondlife.com (letzter Zugriff: 20. Juli 2010)

2

Linden Lab: Second Life. USA 2003.

3

Vgl. Philip Rosedale: Glimpse inside Metaverse. The Virtual Second Life. Google Tech Talk, 1. März 2006. Readable Online. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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klassischer Spielentwickler ist, warb für Second Life noch 2010 mit dem Slogan „Where Worlds are born“ und fasste damit das ganze Konzept zusammen. Inzwischen wurde dieser Slogan allerdings geändert: 2018 steht an selber Stelle „Create Virtual Experiences“, während Second Life selbst schlicht mit „Your Life. Your Imagination. The largest-ever 3D virtual world created entirely by its users.“ angepriesen wird.4 Besonders in den ersten Jahren seines Bestehens hat Second Life viel Sekundärliteratur produziert, darunter Fachbücher über die integrierte Skriptsprache, die das Crafting erlaubt, virtuelle Reiseberichte und anthropologische Studien. Die Rezeption der virtuellen Welt wurde in ein anderes Medium übertragen und in der Realität ausgewertet. In gedruckter Form ist diese Literatur inzwischen zum Großteil nur noch antiquarisch verfügbar. Wie die zugehörige Literatur scheint auch Second Life selbst überaltert zu sein: Updates mit wirklichen Neuerungen gab es über all die Jahre kaum, stets waren die Nutzer an den Desktopcomputer gebunden, während sich mobile Endgeräte immer mehr verbreitet haben. Second Life wohnt eine erstaunliche Konstanz inne, die es über all die Jahre bis heute beibehielt. Gerade in der heutigen Zeit erweist sich diese Strategie aber häufig als wenig zielführend. So zeigt sich auch hier, dass diese virtuelle Welt in ihrer Konstruktion längst überholt ist. Von dem, was Richard Bartle als Voraussetzung für eine erfolgreiche virtuelle Welt bestimmt hatte, ist bei Second Life wenig vorhanden.5 Technische Updates gab es für Second Life zwar, aber keine Spielerweiterungen oder sonstigen Überarbeitungen. Dennoch lohnt sich eine genauere Betrachtung, da kaum eine andere Plattform dieser Art in den späten 2000er Jahren dermaßen präsent war, und es besonders anfangs so schien, als ob mit Second Life durch seine Struktur auch eine neue Form der Kommunikation etabliert werden könnte. Das Metaversum als reale virtuelle Umgebung Wer sich den im Internet frei verfügbaren Client zu Second Life auf dem heimischen Computer oder Notebook installiert, sieht als erstes ein Icon, das eine stilisierte Hand zeigt, auf deren Handfläche ein Auge dargestellt ist. So wird auf der Bildebene das scheinbar Greifbare mit dem Sichtbaren verknüpft. Second Life ist jedoch eine reine PC-Anwendung, der aufgrund ihrer Struktur das Haptische völlig entgeht.6 In diese Welt kann der Nutzer nur durch Tastatur und Maus ein-

4

Linden Lab: Second Life. www.secondlife.com (letzter Zugriff: 31. Dezember 2018)

5

Vgl. Richard Bartle: Designing Virtual Worlds. Berkeley: New Riders 2003. S. 49.

6

Das ist aus heutiger Sicht beinahe ironisch, das Greifbare wird zwar auch dem Nachfolger Sansar fehlen, allerdings wird diese neue Plattform über Datenbrillen und zuge-

Second Life: Virtueller Ersatz für das First Life? | 309

tauchen, die Betrachtung der dortigen Umgebung über eine Datenbrille ist nicht möglich. Auf diese Weise ist Second Life tatsächlich nahezu körperlos. Folglich wird nicht wie durch das Logo impliziert die taktile Wahrnehmung in der Spielwelt angesprochen, sondern ausschließlich Auditives und Visuelles. Die Welt ist nur mit den Augen „begehbar“, aber nicht mit den Händen fühlbar – dennoch wird sie auch sinnlich-emotional wahrgenommen. Alles, was ein Nutzer benötigt, um die Welt nach der Installation der Clientsoftware schließlich betreten zu können, sind eine Internetverbindung und selbsterstellte Login-Daten. „Geboren“ wird der Nutzer in Second Life als erwachsener Mensch in Form eines Avatars, der seine äußere Erscheinung vollkommen selbst bestimmen kann. Anders als bei Snow Crash ist hier die Optik auch in der kostenfreien Variante völlig frei wählbar und entspricht nicht automatisch dem Aussehen des Nutzers: „People living new kinds of lives outside their bodies, in entirely re-imagined selves.“7 Geschlechtergrenzen scheinen überwunden, der Resident, wie die Spieler innerhalb dieser virtuellen Welt genannt werden, kann sich ein zweites Leben aufbauen, das zu seiner eigentlichen Wirklichkeit im realen Alltag keinen Bezug haben muss. Es ist möglich, zu Beginn Nutzerprofile für beide Leben auszufüllen und Inhalte dort später zu ergänzen. Wenig überraschend sind viele Profile, die das erste und damit wirkliche Leben betreffen, leer, denn dies würde den Verlust der oftmals gewünschten Anonymität bedeuten. Jene für das namensgebende zweite Leben, bei welchem der Nutzer sich beliebige Eigenschaften, Fähigkeiten und Kenntnisse zuschreiben kann, sind häufig sehr detailliert ausgearbeitet. In Second Life soll ein digitales zweites Leben gelebt werden, quasi ein Leben 2.0 im Web 2.0 und das in einer virtualisierten und scheinbar perfektionierten Form des realen Alltags. Doch genau diesen echten Alltag sowie die wahre Identität scheint der Nutzer auf dieser Plattform gern verheimlichen zu wollen, um die Illusion eines anderen Wesens, das er darzustellen versucht, nicht zu zerstören.8 Nach

hörige Controller anders bedient werden als Second Life, das nur eine Steuerung über die Tastatur zulässt, während der Nutzer vor dem Computerbildschirm Platz nimmt. Vgl. S. 337 dieser Arbeit. 7

Tim Guest: Second Lives. A Journey through Virtual Worlds. London: Arrow 2007. S. 22.

8

Vgl. in diesem Zusammenhang erneut Erving Goffman, dessen These besagt, dass sich Personen in einem bestimmten Umfeld auf eine bestimmte Art und Weise verhalten, was im Umkehrschluss bedeutet, dass andere Persönlichkeitsmerkmale verborgen werden. Dies passiert folglich auch bei Second Life, indem das Profil für die wirkliche Person hinter dem Avatar nicht ausgefüllt wird. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. München: Piper 2008.

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Freyermuth handelt es sich hierbei um die quartäre Audiovisualität, die eine Immersion in das Hyperrealistische zulässt. Der Nutzer kann sich an diesem virtuellen Ort wie Wesenheiten verhalten, die er gerne wäre, aber in Wirklichkeit nicht ist.9 Es gibt hierbei tatsächlich kaum Beschränkungen, denn er kann als menschlicher Avatar oder als etwas völlig anderes auftreten. Diese Dichotomie zwischen der realen Person und ihrem Avatar ist in Snow Crash weniger deutlich ausgearbeitet, dort stellt das Metaversum eine Plattform dar, die das reale Leben ebenfalls in das Digitale erweitert. Die Identität der Nutzer ist speziell bei den dortigen Münzterminals eindeutig zuordenbar, denn per default sieht der Avatar dort wie der sich einloggende Nutzer aus, allerdings in grobem Schwarzweiß. Eigens kreierte Avatare bilden dennoch keine Ausnahme, sie werden von Nutzern gewählt, die regelmäßig das Metaversum besuchen und über die nötigen Finanzen verfügen, die ihnen mehr Individualität gestatten. Die virtuelle Welt wird ein Teil des gewöhnlichen Alltags. Virtuelles und Reales sind insbesondere bei Second Life nicht als sich gegenseitig ausschließende Elemente definiert, sondern erlauben verschiedene Blickwinkel auf dieselbe Welt. Die Differenz zwischen beidem wird verringert, da der Widerspruch minimiert wird, indem beides als verschiedene Sichtweisen beschrieben wird: „Virtual worlds aren’t just a window into another world; they become an instinctive extension of the self.“ 10 In der Anfangszeit von Second Life, in der es zudem noch keine der heute verbreiteten sozialen Netzwerke gab, war es nicht ungewöhnlich, sich an den Computer zu setzen und sich in diese virtuellen Welten einzuloggen, um mit räumlich teilweise weit entfernten Personen direkten Kontakt aufnehmen zu können. Kommunikation über das Internet findet in den frühen 2000er Jahren primär über Chats oder Foren statt, deren Rolle inzwischen größtenteils von sozialen Netzwerken übernommen wurde. Second Life ist gemäß dieser Definition eine Zwischenform aus Spiel und Chat und changiert zwischen virtueller Spielwiese und damals neuartiger Kommunikationsplattform. Dabei ist auch – besonders bei langen Onlinezeiten – die Identifikation mit dem Avatar nicht selten. Nicht der Avatar sitzt auf einem Stuhl, sondern der Nutzer selbst, wenn er beschreibt, was er in dieser virtuellen Welt tut. Er beobachtet die Umgebung und wird damit selbst zu seinem Avatar, der die virtuelle Welt um sich herum sinnlich erfährt.11 Der Avatar wird zum Zeichen, der Nutzer fällt in die Rolle des Bezeichneten, der die Kontrolle über das Bezeichnete ausübt.

9

Vgl. Gundolf Freyermuth: Games. Game Design. Game Studies. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2015. S. 112. Vgl. ebenso S. 298 dieser Arbeit.

10 Guest: Second Lives, S. 68. 11 Vgl. ebd., S. 68.

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Entfernungen spielen im digitalen Raum spätestens zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr: Mittels Transportstationen, den Telehubs, ist es möglich, den Avatar innerhalb von Sekundenbruchteilen große Distanzen überwinden zu lassen, wodurch räumliche Begrenzungen sogar innerhalb dieser Welt irrelevant sind. Zudem verfügen die Avatare über Fähigkeiten, die in der Realität für einen Menschen unmöglich sind, darunter das Fliegen oder die Möglichkeit des Atmens unter Wasser. Es existieren Bewegungen, die per Shortcut aktiviert werden können, wie Winken und Lachen, die teilweise auch an die geschriebene Sprache gekoppelt sind: Wird eine Direktnachricht verschickt, die ein bestimmtes Wort enthält, wird automatisch die dazu passende Geste ausgeführt. Erwartungsgemäß bleibt auch Second Life vor aggressiver Virulenz nicht verschont. Die Gruppe des Hackerkollektivs der W-Hats arbeitete beispielsweise mit DOS-Attacken, die die Server an ihre Kapazitätsgrenzen bringen sollen, indem sie unzählige Anfragen zur selben Zeit schicken.12 Tim Guest, der sich mit Second Life über einen langen Zeitraum intensiv auseinandergesetzt hat, bezeichnet diese Attacken als virtuelle Bomben.13 Dargestellt wurden sie von einem virtuellen Objekt in Form eines Orbs beziehungsweise einer Kugel, die sich im digitalen Raum selbst reproduziert. Deren Kopien reproduzieren sich ebenfalls selbst, die sich wiederum unendlich duplizieren. Die Welt ist schließlich überfüllt mit unzähligen Kopien von Kopien dieser Orbs, deren Original nicht mehr zu erkennen ist. Die Server brechen aufgrund der Überlastung zusammen, anwesende Residents werden automatisch ausgeloggt. Wie bei einem terroristischen Anschlag wird die Welt nach dem Zünden der Bombe dunkel. Das zeigt die Grenzen dieser Welt auf: Die Hyperrealität verweist auf nichts mehr, daher verschwinden Teile dieser virtuellen Welt bei einem Serverabsturz kurzzeitig, um nach einem Reboot wieder an einem vorherigen Speicherzeitpunkt neu gestartet zu werden. Virtueller Terrorismus ist also längst im Spiel angekommen. Auch wenn die Waffen der Hacker nur aus Code bestehen, hat deren Einsatz durchaus Konsequenzen in der realen Welt, das Hyperreale hält Einzug in die Wirklichkeit. Das Ziel der W-Hats war es jedoch nicht, möglichst schnell gesperrt zu werden, sondern die eingeschriebenen Regeln des Codes hinter Second Life auszutesten. Nichts anderes macht auch Hiro im Metaversum von Snow Crash, wenn auch unter anderen Voraussetzungen. Zu der Waffe Reason lassen sich jedoch nur bedingt Bezüge herstellen, außer dass diese Waffe im entscheidenden Moment abstürzt. Die W-Hats lassen sich entfernt sogar mit den Panther Moderns aus Williams Gibsons Roman Neuromancer ver-

12 Zur Funktionsweise von DOS-Attacken vgl. Martin Kappes: Netzwerk und Datensicherheit. Eine praktische Einführung. Wiesbaden: Springer 2013. S. 249ff. 13 Vgl. Guest: Second Lives, S. 134.

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gleichen, deren Ziel ebenfalls das Chaos war.14 Die Welt wird zur virtuellen Scheinwelt – als Abbildung und fließender Übergang zwischen Realität und Virtualität. Wie sehr sich Second Life am Metaversum orientiert, ist kaum zu übersehen, doch die Umsetzung ist nicht ganz gelungen. Das Metaversum wird in Snow Crash völlig anders an- und wahrgenommen, ist im Alltag der Menschen anders verankert. Vieles, was Neal Stephenson seiner Version des Metaversums zugeschrieben hat, spiegelt sich trotzdem in der Wirklichkeit von Second Life. Die eben beschriebene Gruppierung der W-Hats beispielsweise, die dort noch bis 2011 aktiv war, veröffentlicht auf ihrer Website immer noch unregelmäßig Skripte und Programmieranleitungen.15 Generell lässt sich hier feststellen, dass virtuelle Welten neben den gewöhnlichen Nutzern immer auch diejenigen anlocken, die über Programmiererfahrung verfügen, in die Struktur des Programmes einzudringen versuchen und vorgegebene Grenzen aufzeigen und austesten wollen. Virtuelle Gesellschaften und Avatare: Anthropologische Blickwinkel? Tim Guest verfasste die Studie Second Lives – A Journey Through Virtual Worlds zwischen 2004 und 2006 und verbrachte während seiner Recherchen viel Zeit in Second Life.16 Teilweise liest sich seine Analyse daher wie ein Reisebericht und klingt, als wäre er an all diesen Orten innerhalb der Spielwelt tatsächlich körperlich anwesend gewesen. „Just like the cinema screen, virtual worlds like Second Life have the capacity to entrance us, to make us forget ourselves“, berichtet er.17 Publiziert wurde diese Untersuchung, als auch in Deutschland immer mehr über Second Life berichtet und sogar Interviews mit Avataren geführt wurden sowie Spiegel Online mit dem Verlagsavatar Sponto eine regelmäßige tagebuchartige Kolumne über das Leben im virtuellen Raum veröffentlichte.18 Ab etwa 2006 tauchte Second Life vermehrt in der internationalen Presse auf, ab 2007 auch verstärkt im deutschsprachigen Raum.

14 Vgl. S. 140f dieser Arbeit in Bezug auf die Panther Moderns. 15 W-Hat. http://w-hat.com (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 16 Tim Guest: Second Lives. A Journey through Virtual Worlds. London: Arrow 2007. 17 Ebd., S. 7. 18 Vgl. Thorsten Riedl: Goldrausch im zweiten Leben. Süddeutsche Online, 19. Mai 2010. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). Vgl. ebenso die Kolumne „Second Life“-Tagebuch auf Spiegel Online: Christian Stöcker: Wie Sponto im Sexshop landet. Spiegel Online, 25. Januar 2007. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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Tom Boellstorff betrachtet in seinem 2007 publizierten Buch Coming of Age in Second Life – An Anthropologist Explores the Virtually Human neben Second Life auch andere Plattformen dieser Natur verstärkt aus anthropologischer Warte, die sich auch ontologischen Fragestellungen nicht verschließt. Die Idee des virtuellen Menschseins, die er bereits im Untertitel seiner Arbeit benennt, kann dabei auf zweierlei Weise aufgefasst werden. Einerseits als eine Recherche innerhalb der Spielwelt, deren Ergebnis die Erkenntnis ist, dass die Onlinekultur nur „the arrival of the ‚posthuman‘“ ankündigt.19 Zum anderen weist der Autor nach, dass das kulturelle Dasein innerhalb von Second Life trotz allem „profoundly human“ ist.20 Analog zu Richard Bartle stellt Boellstorff zudem fest, dass es sich bei virtuellen Welten nicht automatisch um Spiele handelt, der Nutzer sie aber sehr wohl als Plattform für seine eigenen Spiele nutzen kann. Second Life ist folglich kein Spiel, sondern nur eine Umgebung für selbige. 21 Auch auf den Begriff des Metaversums verzichtet Boellstorff bewusst und das, obwohl eben jenes das Vorbild für Second Life darstellt. Virtuelle Welten sind für ihn Orte, die von wirklichen Personen bevölkert werden, was erst durch Netzwerktechnologien ermöglicht wird. Second Life nennt sich seiner Ansicht nach bewusst nicht Second World, denn der Nutzer geht nicht online, um eine Alternativwelt zu erleben, sondern um ein zweites Leben auszutesten.22 Diese Dualität zwischen realem und virtuellem Leben bleibt auch auf sprachlicher Ebene erhalten: Begriffe wie real life, first life oder physical world werden im Zusammenhang mit Virtualität als wenig präzise Antonyme zu Second Life in der wörtlichen Bedeutung eines zweiten Lebens genutzt. 23 Sie implizieren, dass das auf Technik basierte Leben damit weniger real sei, obwohl auch dort tagtägliches Leben stattfindet, wenn auch ohne physische Anwesenheit. Umgedeutet besagt dieser Gegensatz auch, dass die tatsächliche Realität frei von Computern sein müsste.24 Real erscheint dann als Synonym für offline, was aber keinen onto-

19 Tom Boellstorff: Coming of Age in Second Life. An Anthropologist Explores the Virtually Human. Princeton: Princeton University Press 2008. S. 5. 20 Ebd., S. 5. 21 Vgl. ebd., S. 22. 22 Vgl. ebd., S. 17. 23 Vgl. ebd., S. 20. 24 Vgl. Johan Fornäs, Kasja Klein, Martina Ladendorf, Jenny Sundén, Malin Sveningsson: Into Digital Borderlands. In: Johan Fornäs, Kasja Klein, Martina Ladendorf, Jenny Sundén, Malin Sveningsson (Hg.): Digital Borderlands: Cultural Studies of Identity and Interactivity on the Internet. New York: Peter Lang 2002. S. 1-47, hier S. 30. Vgl.

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logisch hervorgehobenen Status bezeichnet: „[O]nline worlds are [not] spaces in which we simply work out offline issues and once sorted, happily leave [...]. What happens in virtual worlds often is just as real, just as meaningful, to participants.“25 Und so konstatiert auch ein von Boellstorff zitierter Resident, dass diese virtuellen Beziehungen für ihn ebenso wirklich seien wie die des realen Lebens.26 Solche Begebenheiten sind durch die Lücke zwischen realem und virtuellem Leben, offline und online, erst möglich. Sie schließen diese Lücke allerdings nicht, sondern diese Begebenheiten ent- und bestehen erst aufgrund dieser Lücke, losgelöst vom geografischen Ort.27 Die Kultur innerhalb von Second Life ist dabei aber nicht auf ein Cybervakuum begrenzt, sondern verdeutlicht in ihrer Andersartigkeit den Wert menschlicher Erfahrung. Wie bereits angedeutet ist dies aber nicht die einzige virtuelle Welt, die sich Annahmen aus der wirklichen Welt entlehnt. Virtuelle Welten zeigen, wie das reale Leben auf gewisse Weise schon immer virtuell war. Denn durch die Virtualität zeigt sich auch das Menschliche: „Since it is human ‚nature‘ to experience life through the prism of culture, human being has always been virtual being.“28 Die Kultur, so Boellstorff, prägt den Menschen und damit auch das Spiel: Sie wird zu einer Killerapplikation der virtuellen Welten und des virtuellen Menschseins: So wie der Browser es ermöglicht, sich im Internet zu bewegen und Informationen aufzurufen, dient Kultur als Katalysator des menschlichen Erlebens.29 Virtualität und Realität können also schon hier nicht mehr getrennt wahrgenommen werden, sondern bilden ein Geflecht, das aufeinander aufbaut. Mit der Art von Simulation, die hinter Second Life steht, wird eine Form der Realität neu erschaffen und ihre Funktionsprinzipien werden durch dieses Neuzusammensetzen sichtbar. Dies entspricht auch der Vorgehensweise, die Roland Barthes als strukturalistische Tätigkeit beschreibt: Durch die Umstrukturierung des Bestehenden wird erkennbar, wie die Welt aufgebaut ist, wie sie funktioniert,

ebenso Michael Heim: The Metaphysics of Virtual Reality. New York: Oxford University Press 1993. S. 60. 25 T. L. Taylor: Play Between Worlds: Exploring Online Game Culture. Cambridge: MIT Press 2006. S. 19. 26 Vgl. Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 21. 27 Vgl. ebd., S. 20. 28 Ebd., S. 5. 29 Vgl. ebd., S. 5. Zur Killerapplikation vgl. außerdem S. 25 dieser Arbeit.

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und dadurch ist die Simulation auf eine Art wiederum fast wahrer als die Realität.30 Menschen treffen sich in Second Life, um virtuell das zu tun, was sie im First Life – ihrem eigentlichen und realen Leben – tun. Nur erscheint der Alltag im simulierten Leben angenehmer, denn er ist selbst gewählt und basiert nicht auf Kompromissen, die im realen Leben so häufig notwendig werden. Ob der Nutzer damit eine Form der Realitätsflucht begeht, lässt sich nicht so einfach beantworten, da er besonders im Zusammenhang mit Second Life sein erstes Leben in einer perfektionierenden Weise nachempfinden kann, die im Alltag des First Life so niemals existiert.31 Dennoch befindet er sich in Second Life in einer Welt, in der – je nach Fähigkeiten des Nutzers – auch der Aufbau einer fantastischen Welt voller Einhörner und anderer Fabelwesen möglich ist, die mit der Realität des Nutzers aber keine Berührungspunkte mehr hat. Interagiert wird durch Avatare, die die Residents in ihrer selbstgewählten Erscheinung darstellen. Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Avatar kommt aus dem Sanskrit und bedeutet Reinkarnation, normalerweise ist damit die Wiedergeburt eines Gottes in die sterbliche Welt gemeint. 32 Wie auch Götter allmächtig sind, wird hier dem Nutzer Allmacht innerhalb seiner Welt und auch über seine Spielfigur gegeben.33 Der Avatar in Second Life kann dabei nach eigenen Wünschen innerhalb der technischen Möglichkeiten gestaltet werden und es gibt nahezu keine Grenzen, um sich ein dreidimensionales Ebenbild aus Pixeln zu schaffen.34 Den ersten Kontakt mit anderen Avataren hat der Nutzer auf dem Orien-

30 Vgl. ebenso Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit. In: Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart: Reclam 2008. S. 214-222. 31 Der Unterschied zu eXistenZ ist der, dass dort kein besseres Leben geführt, aber dennoch Realitätsflucht begangen wird und zwar bis hin zum vollständigen Realitätsverlust der Spieler. Vgl. S. 255f dieser Arbeit. 32 Vgl. Guest: Second Lives, S. 32. Vgl. für weitere Details des Avatars im Zusammenhang mit Vishnu als Manifestation des Höchsten und Mächtigsten wie auch seine Rolle als Bewahrer einer Welt im Trimurti in C. Sadanandam: The Doctrine of Avatara. Delhi: New Bharatiya Book Corporation 2002. 33 Dabei haben durchschnittliche Spieler keine Allmacht, wer wie viel Macht hat, wird vom Spielentwickler festgelegt. Hacker sind explizit ausgeschlossen in dieser Definition. 34 Bei den meisten anderen Spielen wie World Of Warcraft kann zwar auch eine Figur nach eigenen Vorlieben gewählt werden, aber selten, wenn überhaupt, so differenziert ausgestaltet. Dort wird zu Beginn ein Charakter festgelegt, der den Nutzer durch das

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tation Island, wo er in die grundlegenden Anwendungen eingeführt wird. Anschließend geht es in die Welcome Area auf dem „Festland“ von Second Life. Ab diesem Zeitpunkt ist es den Nutzern möglich, sich vollkommen frei zu bewegen – mit Ausnahme der Gebiete, deren Besitzer keinen Besuch wünschen.35 Neue Nutzer, auch als Newbies bezeichnet, sind im Verhältnis zu den älteren Residents in den meisten Fällen an ihrem weniger individualisierten Aussehen erkennbar beziehungsweise an ihrem Auftreten und Verhalten, da sie sich häufig erst in die Steuerung ihres Avatars einarbeiten müssen.36 Diese dienen als perspektiver Anker der Residents, durch den die virtual selfhood erlebt wird, Avatare machen die virtuelle Welt real, aber nicht aktual: „[T]hey are a position from which the self encounters the virtual.“37 Auch bei bestehenden Avataren kann im weiteren Verlauf alles verändert werden. Einzig der Benutzername und das Eintrittsdatum können auf diese Weise nicht manipuliert werden, um die eigene Identität zu verdecken, denn schließlich soll ein zweites Leben vorgetäuscht werden. Der Vorname des Avatars kann völlig frei gewählt werden, beim Nachnamen musste bis Mitte 2010 auf eine vorgegebene Auswahl zurückgegriffen werden, inzwischen wurde dies jedoch abgeschafft.38 Verlässt der Nutzer Second Life, verschwindet sein Avatar, ist er nur nicht am Computer aktiv, hat sich aber nicht ausgeloggt, sieht der Avatar nach einer gewissen Zeit abwesend aus und erschlafft.39 Analog zu Baudrillard scheint hier dadurch, dass Second Life jeglicher tatsächlichen Realität entbehrt, das Hyperreale Einzug gefunden zu haben. Eine wirkliche Realität kann dort nicht mehr verortet werden.

gesamte Spiel begleitet, während bei Second Life immer wieder Modifikationen möglich sind. 35 Vgl. Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 123. 36 Vgl. ebd., S. 124. 37 Ebd., S. 129. 38 Second Life unterscheidet zwischen Benutzer- und Anzeigennamen. Während ersterer ein unveränderbares Kennzeichen ist, kann der Anzeigennamen in bestimmten Zeitabständen geändert werden. Wer auf den Anzeigennamen verzichtet, wird in Second Life mit seinem Benutzernamen angezeigt. Die Trennung zwischen Vor- und Nachname ist seit Mitte 2010 aufgehoben. Vgl. Linden Lab: Format des Benutzernamens hängt vom Zeitpunkt der Kontoregistrierung ab. Second Life Community Online. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 39 Vgl. Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 107. Vgl. ebenso Neal Stephenson: Snow Crash. München: Blanvalet 1994. S. 478.

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Manche Nutzer treten innerhalb von Second Life deutlich extrovertierter auf, als sie im wirklichen Leben sind: „Second Life is a world which is perhaps in many ways identical to the world we live in, but, in a number of significant ways, better.“40 Es besteht die Möglichkeit, sich in einer scheinbar perfekten Welt ein perfektes Leben zu generieren und dieses gleichzeitig zu durchschauen – der Unterschied liegt allerdings im Bewusstsein des Nutzers: Er hat diese Welt und ihre Strukturen selbst und aus freien Stücken gewählt. Bedingt durch die scheinbare Anonymität der virtuellen Umgebung fällt es vielen leichter, so zu sein, wie sie gerne wären oder denken, dass sie es sind, was wiederum gleichzeitig der quartären Audiovisualität von Freyermuth entspricht.41 Ebenfalls sind Bezüge zu dem Soziologen Erving Goffman zu erkennen, der in Wir alle spielen Theater (1959) die Theorie aufgestellt hat, dass jeder Mensch auf gewisse Weise Theater spiele, indem er in bestimmten Situationen bestimmten Konventionen gehorche.42 Mit diesem Vorgehen rekonstituiert er bereits seine Persönlichkeit. Dies trifft im Besonderen auf die Residents in Second Life zu, denn sie nutzen diese Art der Gestaltung der Persönlichkeit für ihren Avatar ganz bewusst. Diese Variante der Strukturdeterminiertheit lässt sich wiederum auf alle gegenwärtigen sozialen virtuellen Welten übertragen, denn dort wird eine Onlinepersönlichkeit dargestellt, die zur realen Persönlichkeit ebenso stehen kann wie der Autor zum schreibenden Ich des Autors in Verbindung gebracht wird.43 Die Onlinepersönlichkeit wird vom Subjekt des Spielers zum Objekt der Mitspieler. Dennoch ist der Grad des Schämens, der beim Verfassen eines Textes auftreten kann, bei diesem Vorgehen ein anderer, da hier vermutlich keine reale Person mit all ihren Facetten dargestellt und biografisch wiedergegeben werden soll. Hier wird allerdings oft bewusst eine Persönlichkeit aufgebaut, die mit der eigentlichen Person nur noch wenig gemein hat. Vielmehr handelt es sich eine semifiktive Person, die zusätzliche Eigenschaften aufweist, die im realen Leben von anderen Personen im Umfeld des Nutzers in der Form möglicherweise nicht wahrgenommen werden oder erst gar nicht vorhanden sind. Es besteht in diesen Fällen häufig ein Isomorphismus zwischen Avatar und dem dahinterstehenden Nutzer, der die Frage beinhaltet, wie viele Nutzer einen Avatar kontrollieren: Spielen mehrere Personen einen Avatar oder spielt eine Person mehrere Avatare? Viele Nutzer beschränken sich nicht auf einen einzigen Avatar, sondern richten sich zusätzlich

40 Guest: Second Lives, S. 77. 41 Vgl. S. 298 dieser Arbeit. 42 Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. München: Piper 2008. 43 Vgl. Peter Bürger: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998. S. 204f.

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Zweitaccounts ein, mit denen sie andere oder normalerweise widersprüchliche Aspekte ihrer echten oder virtuellen Persönlichkeit als ein weiteres Simulakrum ihrer selbst ausleben können. In der Wirklichkeit leben sie hingegen oftmals in festen Alltagsstrukturen, die für sie nicht einfach zu durchbrechen sind. Die bestehende Persönlichkeit wird für den Avatar neu zusammengesetzt. Schwächen, die im realen Leben bestehen, werden überspielt, das heißt, die „Lücken“ an Charaktereigenschaften, die der Nutzer möglicherweise gerne hätte oder ausleben würde, werden in der virtuellen Welt geschlossen. Die menschliche Stimme stellt hierbei eine häufig unerwünschte Transgression zwischen virtueller Welt und realer Arbeitswelt dar. Es fällt beispielsweise schwer, ein anderes Geschlecht im Voicechat vorzugeben; auch bei Zweitavataren wäre es aufwendiger, diese komplett anders zu gestalten, da es weitaus mehr Schwierigkeiten macht, die Stimme ebenfalls zu verfremden.44 Die Nutzer wissen, dass sie sich in einer simulierten Welt aufhalten, und spielen mit diesen Eigenheiten ganz bewusst.45 Der Einzugsbereich des Realen auf das Virtuelle soll dementsprechend nur minimal sein und die Stimme wäre ein Bruch in der virtuellen Persona, die das simulierte Ich stört.46 In diesem Zusammenhang tritt auch das alte philosophische Problem mit der Frage nach der Realität deutlich zutage.47 Für Entwickler Philip Rosedale erscheint dies aber deutlich profaner: „We’re not building a game, we’re building a

44 Im Film Ready Player One trifft sich für die Figur Aech, die mit verfremdeter Stimme spricht, um ihr Geschlecht innerhalb der virtuellen Welt der Oasis zu verbergen, weshalb der Hauptprotagonist Wade und mit ihm auch der Zuschauer annimmt, der Spieler sei wie der Avatar männlich. Vgl. Stephen Spielberg: Ready Player One. USA 2018. 45 Vgl. Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 114. 46 Diese Vermeidungsstrategie ist bereits am Ausfüllen des persönlichen Profils erkennbar, denn jenes für das reale Leben bleibt in den meisten Fällen nur rudimentär ausgearbeitet. Vgl. ebd., S. 114. 47 Erwähnenswert ist hier, dass sich die Darstellung der Persönlichkeit von der in Chats und Foren insofern unterscheidet, als nach den Regeln von Second Life ein zweites virtuelles Leben gespielt wird mit erdachten Fähigkeiten, Interessen, die das eigene Leben in Form einer Update-Version darstellen. Hier geht es folglich um eine Art privates Utopia, während es in Foren und Chats in den meisten Fällen primär darum geht, Kontakte zu knüpfen beziehungsweise zu diskutieren. Natürlich ist es auch dort möglich, sich als eine andere Person auszugeben und sich eine künstliche Persona aufzubauen, aber das ist ähnlich wie bei heutigen sozialen Netzwerken nicht das primäre Ziel dieser Angebote. Vgl. Guest: Second Lives, S. 88.

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new world.“48 Dennoch kann diese Welt ohne die Realität nicht existieren, die Server stehen in der realen Welt, der Programmcode wurde in der realen Welt geschrieben und auch Gefühle, die die virtuellen Grenzen überschreiten, werden real, ebenso wie die Leute, die sich in diese Welten einklinken, am heimischen Computer reale Menschen sind.49 Es wird durch dieses Vorgehen ein eigenes Simulakrum kreiert. Die bereits erwähnte Dichotomie zwischen Realem und Virtuellem löst sich bereits an diesem Punkt auf, da das eine ohne das andere nicht fortbestehen kann: Die Server benötigen die virtuelle Welt für ihr Bestehen nicht, die virtuelle Welt benötigt aber die Server, um existieren zu können. Diese materielle Abhängigkeit bindet „jede computergenerierte virtuelle Konstruktion an eine technische Infrastruktur im Sinne einer Materialursache […], die schon allein zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionalität auf elektrische Energie angewiesen ist.“50 Reale Referenzsysteme sind maximal in Analogien und Metaphern enthalten, wie die Second Life-Währung Linden Dollar, die wie andere Kryptowährungen über einen eigenen Wechselkurs verfügt. Dennoch spielen diese Metaphern eine wichtige Rolle, da sie Second Life erst eine gewisse Authentizität verleihen, die jedoch nicht bis in die letzte Konsequenz ausgespielt wird. Vor diesem Hintergrund wird auch innerhalb des Metaversums viel Wert auf den Erhalt der Metapher gesetzt.51 Aber auch der Umgang zwischen den Menschen wird vom realen Leben in Second Life übertragen – Werte und Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens existieren auch im Virtuellen. Ebenso äußert sich Linden Lab über Second Life nur in der Weise, als handele es sich tatsächlich um einen realen Ort. Gleichzeitig können diese virtuellen Welten aber auch eine Lösung sein, um Distanzen auf geistiger Ebene zu überwinden: „They were a way to be together, but also to keep others at a safe distance.“52 Körperlich muss also auch hier der Nutzer seinen Platz nicht verlassen und wahrt die Sicherheit des eigenen Raums. Er nähert sich anderen Menschen nur virtuell an und ist gleichzeitig bei ihnen sehr präsent.

48 Ebd., S. 92. 49 Vgl. ebd., S. 110. 50 Tobias Holischka: CyberPlaces: Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort. Bielefeld: transcript 2016. S. 167. 51 Vgl. S. 169 dieser Arbeit über den Einsatz von Metaphern in Snow Crash. 52 Guest: Second Lives, S. 164.

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Das Spiel als Sandbox Ein weiterer Aspekt von Computerspielen und virtuellen Welten ist die Möglichkeit des Worldings beziehungsweise des Craftings. Die Plattform, das heißt das Spiel oder die virtuelle Welt, ist hierbei nur ein Mittel zum Zweck, das unter bestimmten Voraussetzungen nach Belieben verändert werden kann. Der Vorgang des Moddings fällt in eine ähnliche Kategorie, soll aber hier nicht weiter behandelt werden, da er nicht zum unmittelbaren Spielprinzip selbst gehört, sondern einen Eingriff in das Herz des Spiels selbst – den Programmcode – darstellt. Crafting hingegen ist in der Spielmechanik als Funktion bereits häufig integriert und bietet nahezu unendliche Darstellungsmöglichkeiten. Das kann über das sogenannte Sandboxprinzip erfolgen. Diese Spielmechanik zeigt als Echtbilddarstellung, welche Eingriffe innerhalb der Welt vorgenommen werden. Es handelt sich hierbei um ein kreatives Konzept, das speziell bei Second Life im Bereich des Orientation Island vergängliche Objekte ermöglicht, die an diesem Ort aufgrund ihres Übungscharakters vom System regelmäßig zurückgesetzt werden. In diesem Fall sieht die Sandbox sogar tatsächlich wie ein Sandkasten aus. Doch das Crafting ist selbstverständlich nicht auf diesen Sandkasten beschränkt, sondern ist unter bestimmten Voraussetzungen überall in Second Life möglich. Die andere Variante des Craftings wird ebenfalls vom Spielentwickler zur Verfügung gestellt. Meist wird diese in Form eher schlichter Skriptsprachen oder sogar Editoren umgesetzt, die What you see is what you get als Darstellungsprinzip beherrschen und so auch weniger im Programmieren erfahrenen Nutzern einen verhältnismäßig leichten Zugang ermöglichen.53 Was Second Life von vielen anderen Spielen dieser Zeit unterscheidet, ist folglich, dass die Entwickler sich darauf beschränkt haben, nur eine Landschaft zu simulieren, während fast alle anderen Inhalte von den Residents individuell geschaffen werden. Nutzergenerierte Elemente werden zum zentralen Element, verlangen vom Nutzer im Gegenzug allerdings auch, dass er sich aktiv einbringt.54

53 Vgl. Tobias Schmitz: „Soziale“ Welten. In: Andreas Lober (Hg.): Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co.: Faszination, Gefahren, Business. Hannover: Heise 2007. S. 51-62, hier S. 54. 54 Linden Lab speichert sämtliche Daten auf ihren Servern, stellt den Nutzern aber gleichzeitig eine offene Welt zur Verfügung, deren grobe Infrastruktur sie zwar vorgibt, die es aber den Residents erlaubt, ihre virtuelle Umwelt individuell zu gestalten. Vgl. Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 98. Vgl. ebenso Guest: Second Lives, S. 71.

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Objekte können auf neue Art und Weise „inhabited and embodied“ werden.55 Das Erbauen von virtuellen Gegenständen bezeichnet Boellstorff als eine Art modernes Handwerk, durch das das Virtuelle wirklich wird.56 Möchte ein Nutzer kreativ werden, benötigt er jedoch zuerst virtuelles Land. Das eigene Haus baut er aus Primitives, wie die Baumaterialien innerhalb der Spielwelt genannt werden. Über wie viele dieser Bausteine ein Resident verfügt, hängt von der Größe des Landes ab, das er besitzt. Wie diese eingesetzt werden, kann in der bereits erwähnten Sandbox in der Orientierungsphase ausprobiert und erlernt werden. Mit dem Kommando „create“ können beliebige Gegenstände erzeugt werden.57 Häufig bauen die Nutzer zuerst Gegenstände, die sie aus dem eigenen Alltag kennen; erst im nächsten Schritt beginnen sie im Normalfall zu experimentieren und kreativ zu werden.58 Für Guest stellt dies eine neue Ausdrucksweise dar, die er mit frühen Höhlenmalereien und den damit verbundenen Ritualen vergleicht: Eine Kunstform, die versucht, das Virtuelle real zu machen, denn virtuelle Welten sind Teil eines technologischen Fortschritts, der ein hohes Maß an eigener Beteiligung zulässt.59 Abseits des unmittelbaren Craftings existieren in Second Life zusätzlich fiktive Fernsehsender, die innerhalb der virtuellen Welt eine weitere simulierte Medialität ermöglichen. Deren Programm besteht zumeist aus Machinimas, deren Inhalte aus anderen Spielen oder virtuellen Welten als Film übernommen und integriert worden sind.60 So ist es beispielsweise möglich, in Second Life eine SoapVersion von World of Warcraft in den simulierten Medien anzuschauen. Fernsehen wird hier zum intertextuellen und transmedialen Element, das auf künstlerische Weise Verknüpfungen zwischen verschiedenen virtuellen Plattformen her-

55 Boellstorff: Coming of Age in Second Life, S. 100. 56 Vgl. ebd., S. 101. 57 Ein Haus und damit Land benötigt ein Resident jedoch nicht zwangsweise, virtuelle Obdachlosigkeit scheint in der Welt von Second Life kein Problem darzustellen. 58 Vgl. Guest: Second Lives, S. 76. 59 Vgl. ebd., S. 276f. 60 Machinimas sind animierte Filme, die über die Engines der jeweiligen Spiele inszeniert werden. Ein bekanntes Beispiel ist eine Episode der US-Animationsserie South Park mit dem Titel Make Love, Not Warcraft aus dem Jahr 2006, in der die Protagonisten der Serie in World of Warcraft einem Griefer begegnen, der ihnen den Spaß am Spiel zu nehmen versucht. Die Animationsszenen innerhalb des Spiels sind folglich Machinimas aus dem realen World of Warcraft, in denen die Avatare der Protagonisten auftauchen. Vgl. Make Love, Not Warcraft. South Park. Comedy Central. USA 2007.

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stellt.61 Hier lassen sich erneut Bezüge zu Baudrillards Disneyland-Beispiel und Themenparks herleiten: Sie gestalten diese Art der Fiktion, „in die sich eintreten lässt“, während „beim virtuellen Weltenbau die digitalen Bilder von gerahmten Fenstern, durch die sich wie in Theater und Kino oder beim Fernsehen auf andere Wirklichkeiten schauen lässt, zu interaktiven Portalen“ werden.62 Systemische Simulationen sind dabei grundsätzlich und unabhängig davon, wie hoch der Grad ihres Realismus ist, „vervielfachende Abstraktionen der realweltlichen Vorbilder“, sofern es diese realweltlichen Vorbilder überhaupt gibt.63 Denn genau das erlaubt Computergrafik: Einen Weltentwurf, der keinen Bezug mehr zur eigentlichen Realität haben muss. Die Verwendung von Machinimas unterstützt und erweitert die dargestellte Welt, indem sie eine eigene Variante der simulierten Medialität innerhalb des Virtuellen etablieren. Ökonomie und Wirtschaft Von Anfang an war Second Life bewusst mit ökonomischen Strukturen angelegt. Dies äußert sich bereits während des Anmeldevorgangs darin, dass zweierlei Arten von Accounts angeboten werden – den frei zugänglichen und jenen, die nur gegen eine monatliche Gebühr zu benutzen sind. Mit jedem neu angemeldeten Nutzer wächst Second Life und neues Land wird hinzugefügt. Doch erst mit einem bezahlten Zugang erhält der Nutzer automatisch ein regelmäßiges Taschengeld und kann eigenes virtuelles Land bebauen und halten. Je nachdem, welches Ziel verfolgt und wie viel Geld hierfür benötigt wird, kann der Nutzer anschließend reales Geld in die virtuelle Währung der Linden Dollar zu einem festen Wechselkurs transferieren lassen oder innerhalb von Second Life eine virtuelle Arbeit aufnehmen.64 Die virtuelle Welt überschreitet ihre eigentlichen Grenzen und reicht auch hier weit in die wirkliche Welt hinein. Wie stark diese Verknüpfung zwischen Realem und Virtuellen tatsächlich ausfällt, zeigen Webseiten wie beispielsweise Second Life Marketplace, die damit wirbt, dass das käufliche Paradies nur ein paar Klicks entfernt sei. Die Währung wird auch dort in Linden Dollar angegeben, obwohl die

61 Vgl. Guest: Second Lives, S. 278. 62 Freyermuth: Games, S. 183. 63 Ebd., S. 183. 64 Der bezahlte Account stellt zwar ein monatliches Taschengeld zur Verfügung, aber je nach Spielziel reicht dies möglicherweise nicht aus. Vgl. Guest: Second Lives, S. 14.

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Seite auch von außerhalb besucht werden kann.65 Es gibt offizielle Blogs, darunter unter anderem auch ein Reisemagazin, in die sich existierende Nutzer als Teilnehmer von Second Life direkt einloggen und an denen sie partizipieren können.66 Während des Hypes in den Anfangsjahren von Second Life erschien diese daraus resultierende Verknüpfung beider Welten als Vision, als ob sich hiermit tatsächlich die Wahrnehmung von Virtuellem und Realem verändern und die Grenzen zwischen Simulation und Wirklichkeit durchlässiger machen könnte. Bis heute haben sich weltweit über 55 Millionen Nutzer registriert, davon waren im Sommer 2018 je nach Tageszeit nur noch zwischen knapp über 30.000 und 50.000 Accounts gleichzeitig aktiv.67 Manche Universitäten und andere Einrichtungen gründeten in der Hochphase ab etwa 2006 digitale Zweigstellen unter anderem für virtuelle Vorlesungen.68 Dies hat natürlich mit dem Aufbau eines zweiten virtuellen Lebens nur noch wenig zu tun, sondern stellt eher die Frage danach, wie in Zukunft tatsächlich kommuniziert werden kann und wie viel Alltag tatsächlich ins Virtuelle ausgelagert werden kann. Die virtuelle Welt vermischt sich mit der tatsächlichen Realität, eine Unterscheidung ist teilweise nur schwer möglich und generiert damit eine eigene Art von Hyperrealität zwischen beiden Welten, die nun auch über ökonomische Strukturen miteinander verbunden sind. Dabei ist „[d]er Schein des [...] Online-Paradieses [aber] nichts als pure Fassade, [und] dahinter stecken durchaus ernstzunehmende [sic!] Probleme“, die noch genauer erörtert

65 Linden Lab: Second Life Marketplace. https://marketplace.secondlife.com (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 66 Linden Lab: Second Life Community Blogs. https://community.secondlife.com/blogs/ (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). Vgl. ebenso Linden Lab: Second Life Destination Guide. http://secondlife.com/destinations (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 67 Second Life Grid: Survey Region Database. www.gridsurvey.com (letzter Zugriff: 19. August 2018) 68 Heute gibt es andere Möglichkeiten für virtuelle Vorlesungen, die nicht an virtuelle Welten angegliedert sind, beispielsweise MOOCs, sogenannte Massively Open Online Courses, die häufig auf universitärem Niveau abgehalten werden und kostenfrei online besucht werden können. Ursprünglich wollten in Second Life reale Institutionen digitale Niederlassungen als virtuelle Zweigstellen etablieren, um unter anderem Kundennähe zu zeigen. Da aber Second Life selbst unter einer relativ geringen Nachfrage litt, sind diese Dependancen inzwischen zu einem großen Teil wieder verschwunden, darunter diverse Niederlassungen der Volkshochschule, Parteien und anderen Institutionen. Das meiste davon sind und waren spielerische Darstellungen, wozu die Entwicklungsumgebung eingesetzt werden kann. Vgl. Guest: Second Lives, S. 329.

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werden müssten, wie etwa politische Präsenzen oder Pornografie.69 Wie genau hiermit in Zukunft umgegangen werden soll und kann, zeichnet sich erst langsam ab. Es gibt viele Nutzer, die sich in Second Life hauptsächlich zu ihrem Vergnügen und für soziale Interaktion aufhalten. Gleichzeitig gibt es auch Menschen, die gerade in den Anfangszeiten mit virtuellen Dienstleistungen ein echtes Einkommen generiert haben und davon angeblich ihren realen Alltag finanzieren konnten. Doch selbst in dieser Phase war dies nur einer Minderheit der Nutzer möglich. 70 Die vorgegebenen ökonomischen Strukturen haben das in gewissem Umfang auch unterstützt: Residents investierten und investieren teilweise heute noch reales Geld in Second Life, können es aber auch wieder in die jeweils eigene Währung zurücktauschen lassen.71 Tobias Schmitz zufolge hatte Second Life im September 2006 angeblich sogar ein Bruttoinlandsprodukt von 64 Millionen US-Dollar.72 Second Life ist auch heute eine Ökonomie en miniature und zeigt, dass eine virtuelle Welt Potenzial für beides hat, dieses aber noch nicht annähernd vollständig ausgeschöpft wurde: Unterhaltung und Wirtschaft. Doch wo Finanzen eine Rolle spielen, siedelt sich häufig auch Kriminalität an, und dies hat durchaus Konsequenzen für die reale Welt der Residents.73 Durch diese Gegebenheiten und die Grenzenlosigkeit der Spielwelt kann folglich eine Parallelgesellschaft entstehen, deren klare inhaltliche Abgrenzung von der realen Welt immer schwieriger wird.74 Die Grundidee von Second Life als Versuch einer realen Umsetzung des Metaversums von Neal Stephenson war in ihren Anfangsjahren innovativ und neuartig, scheiterte aber zuletzt auch an den eigenen Ansprüchen der Entwickler. Viele Möglichkeiten, die Second Life bietet, wurden zudem von den Nutzern nicht in vollem Umfang in Anspruch genommen. Stattdessen hat sich innerhalb dieser Plattform eine eigene digitale Kultur herausgebildet, aus der sich jedoch abstrahieren lässt, wie Digitalkultur in der Zeit der Digitalisierung bei einer passenden neuen und auf aktuelle Bedürfnisse ausgerichteten virtuellen Plattform funktionieren kann. Se-

69 Schmitz: „Soziale“ Welten, S. 55. 70 Vgl. Hannes Schubert: Echtes Geld für virtuelle Ware. In: Andreas Lober (Hg.): Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co: Faszination, Gefahren, Business. Hannover: Heise 2007. S. 133-136, hier S. 133. 71 Vgl. Schmitz: „Soziale“ Welten, S. 53. 72 Vgl. ebd., S. 53. Aktuellere Zahlen liegen nicht mehr vor, es ist aber anzunehmen, dass das Bruttoinlandsprodukt deutlich gesunken ist. Selbst die von Schmitz angegebenen 64 Millionen sind in diesem Fall zu hinterfragen. 73 Vgl. Schubert: Echtes Geld für virtuelle Ware, hier S. 133. 74 Vgl. Schmitz: „Soziale“ Welten, S. 54.

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cond Life ist in diesem Zusammenhang als eine Art Experiment, vielleicht auch Entwicklungskammer der Möglichkeiten zu betrachten, welche Chancen sich aus virtuellen Umgebungen sowohl im spielerischen Bereich als auch auf geschäftlicher Ebene ergeben und wie mit diesen Entwicklungen in Zukunft umgegangen werden sollte. Für das, was Second Life auf inhaltlicher Ebene und an Interaktion der Nutzer bietet, kam es möglicherweise zu früh auf den Markt, um sein tatsächliches Potenzial als Kommunikationsplattform und Erweiterung des Alltags – auch aufgrund der vielen technischen Einschränkungen und der späteren fehlenden Portierbarkeit auf mobile Endgeräte – vollständig entfalten zu können. Trotz der eigentlich interessanten Grundidee bleibt Second Life aber letztlich eine gescheiterte virtuelle Welt, die viele Möglichkeiten ungenutzt gelassen hat, was sowohl an inhaltlichen Komponenten als auch an der technischen Umsetzung liegen dürfte. Die zugrundeliegende Struktur wurde nicht konsequent genug und möglicherweise auch zu einem falschen Zeitpunkt umgesetzt und ist aufgrund fehlender Updates und inhaltlicher Neuerungen inzwischen veraltet.

World of Warcraft (2004): Gildentum und Rollenspiele Was spielst Du? World of Warcraft1

Ein Jahr nach der Veröffentlichung von Second Life erschien 2004 das FantasyComputerrollenspiel World of Warcraft. Es ist nicht das erste Spiel dieser Gattung, aber das erste des Entwicklers Blizzard Entertainment, dessen Spielmechanik als Massively Multiplayer Online Role Playing Game (MMORPG) konsequent umgesetzt wurde. Die inhaltlichen Vorgänger Warcraft: Orcs & Humans (1994), Warcraft II: Tides of Darkness (1995) und seine Erweiterung Beyond the Dark Portal (1996) sowie Warcraft III: Reign of Destruction (2002) samt Erweiterung The Frozen Throne (2003) firmierten noch unter der Kategorie des Echtzeitstrategiespiels.2 Ein nicht unerheblicher Teil der Reihe behandelt die Hintergrundgeschichte der virtuellen Welt Azeroth und thematisiert den Konflikt zwischen Allianz und Horde, zwei verfeindeten Fraktionen, welchen die verschiedenen Völker angehören. Der im Titel enthaltene Begriff „Warcraft“ spielt unmittelbar auf Kriegskunst an, „it conjures the idea of warfare as an artform, a ‚craft‘.“3 Crafting im engeren Sinne, wie dies bei Second Life als stilbildendes Element eingesetzt wird, ermöglicht World of Warcraft allerdings nicht.

1

Blizzard Entertainment: World of Warcraft. www.warcraft.de (letzter Zugriff: 20. Juli 2010)

2

Diablo zählt zu den Fantasy-Rollenspielen, StarCraft ebenfalls zu Echtzeitstrategiespielen. Vgl. S. 49 und 51 dieser Arbeit.

3

Esther MacCallum-Stewart: “Never such innocence again”: War and histories in World of Warcraft. In: Hilde G. Corneliussen und Jill Walker Rettberg (Hg.): Digital Culture, Play, and Identity. A World of Warcraft Reader. Cambridge: MIT Press 2011. S. 39-63, hier S. 39.

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Um Azeroth betreten zu können, wählt der Spieler zu Beginn einen Avatar aus, durch den mit der Welt interagiert werden kann. Hierfür stehen ihm mehrere Möglichkeiten offen, die verschiedene Stärken und Schwächen des Spielcharakters darstellen. Zuerst wird ein Volk – zum Beispiel Orks oder Dunkelelfen – ausgewählt, anschließend spezialisiert sich der Spieler auf die Klasse seines Charakters, was weitere Fähigkeiten festlegt, die auch auf den Spielverlauf inhaltlichen Einfluss nehmen. Eine Individualisierung des Charakters, der durch den Avatar grafisch dargestellt wird, ist nur in geringfügigem Umfang möglich. Der vom Spieler vergebene Name des Charakters ist sein unveränderbares Merkmal, spätere Angleichungen sind nicht mehr vorgesehen, gegen Bezahlung allerdings möglich. Das Spielen einer Rolle durch einen Avatar beziehungsweise den durch den Avatar dargestellten Charakter ist „paradoxically a kind of escapism into a second professional life, a world of work.“4 Die virtuelle Welt und die Entscheidungen bei der Erstellung des Avatars bestimmen letztlich in Kombination, welche Fähigkeiten er in welcher Form erwerben kann und wie die Umwelt auf ihn reagiert: „They are tangible entities within the virtual world as real (to it) as any other object.“5 Während Second Life also ein relativ frei gestaltbares zweites virtuelles Leben anbietet, legt World of Warcraft seinen Schwerpunkt auf vorgegebene Strukturen, die dennoch inhaltliche Freiheiten lassen, beispielsweise, welche Tätigkeiten der Spieler im Verlauf ausführt, die ihm wiederum ein Fortkommen innerhalb der Handlung ermöglichen. Für Einsteiger bietet Blizzard verschiedene Websites und Leitfäden an, die es neuen Spielern ermöglichen sollen, sich leicht in die Welt von World of Warcraft einzufinden zu können.6 Die eigentliche Spielentscheidung fällt bereits mit der Wahl der Realms. Diese Domänen stehen für die länderspezifischen Server, die sich wiederum unterteilen in PvP, PvE und RP-PvP. Ersteres steht für das Konzept Player vs. Player, der Spieler kann jederzeit von gegnerischen Spielern angegriffen werden, häufig im Umfeld von Schlachtfeldern. Bei der zweiten Variante wird Player vs. Environment gespielt, hauptsächlich in Dungeons beziehungsweise Instanzen mit computergesteuerten Gegnern. Bei der RP-Version stehen dann vor

4

Scott Rettberg: Corporate Ideology in World of Warcraft. In: Hilde G. Corneliussen, Jill Walker Rettberg (Hg.): Digital Culture, Play, and Identity. A World of Warcraft Reader. Cambridge: MIT Press 2011. S. 19-38, hier S. 26.

5

Richard Bartle: Designing Virtual Worlds. Berkeley: New Riders 2003. S. 384.

6

Blizzard Entertainment: Einsteigerleitfaden. World of Warcraft Online. https://world ofwarcraft.com/de-de/game/new-players-guide (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

World of Warcraft: Gildentum und Rollenspiel | 329

allem Rollenspielelemente im Vordergrund.7 Es besteht außerdem die Möglichkeit, im geschützten Raum zu spielen. Dort kann ein Spieler nur angegriffen werden, wenn er diesem im Vorfeld explizit zugestimmt hat. Nachdem alle Merkmale des Spielcharakters festgelegt sind und die Realm ausgewählt ist, betritt der Spieler zum ersten Mal Azeroth. Aufgaben in Form von Quests erhält er von Non Playing Characters, die an gelben Ausrufezeichen über ihren Köpfen erkennbar sind, und sich beständig an bestimmten Orten innerhalb der Spielwelt aufhalten. Wird einer dieser Charaktere angeklickt, trägt er die Quest vor. Es obliegt dem Spieler, ob er sie annimmt oder ablehnt. Durch das Erfüllen der Quest gewinnt er Erfahrungspunkte, kann neue Fähigkeiten erlernen und verdient Gold, das ihm wiederum unter anderem den Erwerb besserer Ausrüstungsgegenstände erlaubt. Diese Aufgaben strukturieren das Spiel bis zu einem gewissen Grad. Die Reihenfolge ist je nach Level des gespielten Charakters nahezu beliebig, ihre Lösungen hingegen folgen festen und vorgegebenen Mustern. 8 Trotz der vorgegebenen Geschichte spielt jeder Spieler sein eigenes Spiel, erlebt sein eigenes Abenteuer. Durch die willkürlich wählbare Abfolge der Quests wird auch der „Prozess hervorgebrachte[r] Bilder theoretisch zu einer Menge potenziert, die nahezu unmöglich zu erfassen ist.“9 Der Spieler muss keiner bestimmten Abfolge in den Abläufen folgen, er muss sich keiner Gilde anschließen und kann die dargebotene Welt sogar ähnlich nutzen wie Second Life: als Kommunikationsplattform, die durch eine virtuelle Welt realisiert wird. Dies ermöglicht neben dem eigentlichen Spiel einen sehr freien Umgang mit dieser virtuellen Welt. Obwohl das eigentliche Spielziel von World of Warcraft klar formuliert ist, indem jeder Spieler seinen Charakter möglichst vorteilhaft entwickelt, findet das Spiel aufgrund seiner offenen Struktur kein abschließendes Ende: „Computerspiele wie […] World of Warcraft haben grundsätzlich kein Ende in dem Sinne, dass eine aufgerufene Narration vollständig erzählt würde und schließlich ein Abspann und eine Saalbeleuchtung die Spieler wie im Kino aus der medialen Er-

7

Vgl. Hilde Corneliussen, Jill Walker Rettberg: “Orc Professor LFG”, or Researching in Azeroth. In: Hilde G. Corneliussen und Jill Walker Rettberg (Hg.): Digital Culture, Play, and Identity. A World of Warcraft Reader. Cambridge: MIT Press 2011. S. 1-18, hier S. 5.

8

Vgl. Jill Walker Rettberg: Quests in World of Warcraft: Deferral and Repetition. In: Hilde G. Corneliussen, Jill Walker Rettberg (Hg.): Digital Culture, Play, and Identity. A World of Warcraft Reader. Cambridge: MIT Press 2011. S. 167-186, hier S. 167.

9

Stephan Schwingeler: Kunstwerk Computerspiel. Digitale Spiele als künstlerisches Material. Eine bildwissenschaftliche und medientheoretische Analyse. Bielefeld: transcript 2014. S. 146.

330 | Simulation und virtuelle Welten

fahrung entließen.“10 Fast ironisch erscheint es, dass 2016 tatsächlich der Film Warcraft: The Beginning in die Kinos kam und die Geschichte der Eltern des Hordenführers Thrall erzählt, die schon in Warcraft: Orcs & Humans sowie im Roman World of Warcraft: Aufstieg der Horde (2007) in groben Zügen beschrieben wurde. Dort wird vornehmlich der Verfall der Orks zur Horde behandelt sowie die Etablierung Thralls als Häuptling.11 Spielbar sind diese Charaktere zwar nicht, sie sind aber zum elementaren Bestandteil der spielimmanenten Mythenbildung geworden, die wiederum durch ihre inhaltliche Verdichtung zur Atmosphäre des Spiels beitragen. Außerdem erscheinen diese Figuren immer wieder in den Zwischensequenzen, die die Handlung weiter vorantreiben, während der Spieler in diesem Moment zum passiven Beobachter des Geschehens wird, da er in den vorgerenderten Sequenzen auf Spielebene nicht eingreifen kann.12 Diese Zwischensequenzen unterscheiden sich stilistisch enorm von der Grafik innerhalb des Spiels, ein immersiver Bruch ist hierbei nicht vermeidbar, scheint aber im erweiterten Kontext kaum eine Rolle zu spielen. Der Mythos um Azeroth wird systematisch ausgebaut und erweitert, die dargestellte Welt als grenzen-, aber nicht aufgabenlos etabliert. Das erfolgt über den bereits erwähnten Film, unzählige weitere Romane, Comics und Enzyklopädien, die das Hintergrundwissen des interessierten Spielers beständig erweitern. Dennoch ist es möglich, auch ohne diese Zusatzinformationen zu partizipieren. Die Unendlichkeit des Spielerlebnisses hängt mit der Tatsache zusammen, dass das Entwicklerstudio wie auch schon bei den Vorgängerspielen regelmäßig Erweiterungen publiziert und die Geschichte um Azeroth mithilfe neuer Quests, Berufe, Dungeons, Regionen, Schlachtzüge und Charakterklassen stetig wächst. World of Warcraft behält aufgrund seiner Persistenz auch „die Auswirkungen des Handelns der Spieler in sich“, denn Welten wie diese „werden nur selten zurückgesetzt“ und behalten ihre Veränderungen im Verhältnis zur Ursprungsversion bei.13 Speziell diese Persistenz, die bedeutet, dass die Welt immer zur Verfügung steht, und die Interaktivität lassen diese Umgebung zur Erweiterung der Wirklichkeit werden, „die zwar fiktive Elemente beinhaltet, aber reale Situationen schafft, die als Spiel zu verstehen sind.“14 Trotz vieler Neuerungen ist die Grafik von World of Warcraft auch gegenwärtig noch verhältnismäßig schlicht gehalten,

10 Ebd., S. 146. 11 Vgl. Christie Golden: World of Warcraft. Aufstieg der Horde. Stuttgart: Panini 2007. 12 Vgl. S. 292f dieser Arbeit. 13 Tobias Holischka: CyberPlaces: Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort. Bielefeld: transcript 2016. S. 174. 14 Ebd., S. 175.

World of Warcraft: Gildentum und Rollenspiel | 331

verbraucht so aber weniger Ressourcen und erlaubt dem Spieler ein in sich geschlossenes Spielerlebnis, da so die Gefahr von Lags – unerwünschten technisch induzierten Zeitverzögerungen im Ablauf – minimiert wird. Gespielt wird über Battle.net, der von Blizzard bereitgestellten Onlineplattform, die jeder betreten kann, der den entsprechenden Aktivierungscode zum jeweils passenden Spiel besitzt. Neben World of Warcraft wird über Battle.net unter anderem auch der Zugang zu den anderen Blizzard-Spielen Diablo, Starcraft und Overwatch samt etwaigen Fortsetzungen und sämtlichen Erweiterungen zugänglich gemacht.15 Darstellung der Gesellschaft: Allianz oder Horde? Über die Jahre hat sich bei World of Warcraft eine eigene (Spiel-)Kultur und Sprache herausgebildet, die von Blizzard Entertainment als Mythos unterstützt und geprägt wird. Wie die frühen Multi User Dungeons zählt auch World of Warcraft zu den Rollenspielen, wobei hier auf eine wesentlich kohärentere Ausgestaltung der Hintergrundgeschichte geachtet wurde. Das beeinflusst den Spielablauf bis heute ebenso wie die Kontaktmöglichkeiten zwischen den Spielern. Je nachdem, welches Volk zu Beginn für den Charakter gewählt wird, ist es möglich, sich später der Fraktion der Allianz oder der Horde anzuschließen. Die Entscheidung, welcher Fraktion dieser kampforientierten Welt sich der Spieler anschließt, beeinflusst das nachfolgende Spielerlebnis dahin gehend, welche Regionen besucht werden können, aber ebenso, wie der Charakter dargestellt wird.16 Auch wenn die Welt grundsätzlich alleine bespielt werden kann, existieren dennoch Quests, deren Lösung mehrere Spieler oder Gruppen, die zusammenarbeiten, voraussetzt. Das Gildensystem, das wichtigste Werkzeug, um diese Gruppen zusammenzuhalten, unterstützt den sozialen Aspekt von World of Warcraft.17 Das Spiel selbst geriert sich hierbei als „social framework for communication.“18 Während zu Beginn das Spiel mit seinen Zielen und Regeln im Vordergrund steht, können diese nach einer

15 Momentan gibt es verschiedene Angebote zwischen 12,99 Euro pro Monat, drei Monate für ca. 36 Euro, sechs für etwa 65 Euro. Seit 2017 firmiert die Plattform unter dem Namen Blizzard-App mit gleichem Inhalt. Die App selbst ist kostenlos, das Spielen kostet jedoch nach vier Wochen eine monatliche Gebühr. Bei Diablo III oder StarCraft II ist das nicht so, hier muss nur das Spiel beziehungsweise der Code erworben werden und das Spiel ist über Battle.net unbegrenzt nutzbar. Blizzard Entertainment: World of Warcraft Subscriptions. Battle.net (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018). 16 Vgl. Corneliussen, Rettberg: “Orc Professor LFG”, or Researching in Azeroth, S. 6. 17 Ebd., S. 6. 18 Ebd., S. 9.

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gewissen Spielzeit in den Hintergrund rücken – zumeist dann, wenn die Gildenbildung eintritt und die Kommunikation zwischen den Spielern an Wichtigkeit gewinnt, um als Gruppe gemeinsame Aktionen zu planen. Die Entwickler haben darauf inhaltlich keinen Einfluss. In dem Moment, in dem die soziale Komponente bei World of Warcraft immer wichtiger wird, etabliert sich auch ein gewisser Zwang, regelmäßig zu partizipieren. Etwa hier ist der Zeitpunkt anzusiedeln, bei dem sich die Gelegenheitsspieler von den exzessiveren Spielern trennen. Gleichzeitig nimmt das Spiel nun die Grundzüge einer virtuellen Welt im Sinn von Second Life an. Bezüge zu Baudrillard sind auch hier insofern erkennbar, dass die virtuelle Welt zu einer Art Hyperrealität wird, die tatsächlich kaum noch Anknüpfungspunkte an die tatsächliche Realität auf Spielebene bietet.19 Andere Welten ermöglichen es ihren Spielern, grafisch in die Umgebung einzugreifen, „in Azeroth the player is a ghost-like guest on an uncaring, slick surface, a stranger in a strange land.“20 World of Warcraft nimmt hier die Funktion eines virtuellen Themenparks ein, der verschiedene Attraktionen enthält und auf unterschiedliche Weise durchquert werden kann. Die Spieler hingegen suchen Unterhaltung, wollen gemeinsam die Welt erkunden, sich sozialisieren und teilweise sicherlich auch der Langeweile des Alltags entkommen.21 Spieleforscher Espen Aarseth tut sich in diesem Fall mit der Beschreibung als gameworld schwer, „since it implies that what we are looking at is actually a world.“22 Speziell Azeroth bescheinigt er eine ausgestaltete Plattform, die für das Spielerlebnis eine unendliche Landschaft erzeugt, obwohl es keine „proper world, or even a fictional one“ darstellt.23 Bei manchen Spielern führt gerade diese vielseitige Ausgestaltung der virtuellen Welt zu exzessiver Nutzung und lässt in Einzelfällen eine gewisse Suchtproblematik entstehen.24 Die virtuelle Welt nimmt dann zunehmend Raum im

19 Vgl. Jean Baudrillard: Die Präzession der Simulakra. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Merve: Berlin 1978. S. 7-71, hier S. 10. 20 Espen Aarseth: A Hollow World. World of Warcraft as Spatial Practice. In: Hilde G. Corneliussen, Jill Walker Rettberg (Hg.): Digital Culture, Play, and Identity. A World of Warcraft Reader. Cambridge: MIT Press 2011. S. 111-122, hier S. 114. 21 Vgl. ebd., S. 119f. 22 Ebd., S. 121. 23 Ebd., S. 121. 24 Hierzu müsste man generell die Frage nach einer etwaigen Suchtproblematik stellen und, teilweise unabhängig davon, ebenfalls nach der Zeit, die innerhalb virtueller Welten verbracht wird. Denn wenn das Virtuelle als Erweiterung des Alltags betrachtet wird, kann es dann wirklich ein „Zuviel“ geben oder hängt dies allein vom Blickwinkel

World of Warcraft: Gildentum und Rollenspiel | 333

realen Leben ein und füllt das Denken des Spielers auch dann aus, wenn er sich nicht im Spiel befindet. Es kommt vor, dass Spieler viel Zeit in der virtuellen Welt verbringen, sich zurückziehen und ihr reales Leben vernachlässigen, „doch nicht jeder ist bereit, so viele Opfer im realen Leben für eine virtuelle Karriere zu bringen.“25 Eine mögliche Ursache für dieses Verhalten ist, dass der virtuellen Welt, die als Simulakrum die reale Welt und damit den gewöhnlichen Alltag zu verdrängen sucht, zu viel Bedeutung beigemessen wird. Das Wertesystem des Spielers verschiebt sich, Verabredungen innerhalb der Spielwelt werden ebenso wichtig oder sogar wichtiger als Termine in der Realität, wodurch sich hier – wie auch in Snow Crash und Neuromancer – die Wahrnehmung der virtuellen und der realen Welt zunehmend überschneidet. Für den Spieler ist es eine Art virtuelle Heldenreise: Sein Charakter durchquert die Welt von Azeroth, wird stärker, lernt neue Fertigkeiten, schließt sich Gilden an und so weiter. In seine ursprüngliche virtuelle Heimat im eigentlichen Sinne kehrt der Held nach vollendetem Abenteuer jedoch nicht zurück, da mit jeder Erweiterung neue Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten angeboten werden. Stattdessen verschiebt sich für viele Spieler der Schwerpunkt vom Spielen des Spiels auf die im Hintergrund vorhandene virtuelle Welt, die an eine andere Wahrnehmung gekoppelt ist als der reine Vorgang des Spielens. Persönliche Kontakte zwischen den Spielern gewinnen immer mehr an Bedeutung und geben der virtuellen Welt eine weitere inhaltliche Tiefendimension, die mit dem eigentlichen Spielkonzept zwar vereinbar ist, aber in der Form nicht geplant werden kann. Das Spiel als offene Welt Mit World of Warcraft steht dem Spieler das Konzept einer nahezu unendlichen Welt zur Verfügung, die immer wieder neue Details hinzugewinnt. Nach der Veröffentlichung von World of Warcraft im Jahr 2004 folgte 2007 die erste Erweiterung: The Burning Crusade führte die zusätzlichen Völker der Draenei und Blutelfen ein sowie eine neue Welt namens Scherbenwelt. Außerdem erhöhte sich die

des Betrachters ab und wie die Wahrnehmung des Virtuellen systemisch eingeordnet wird? Vgl. Tobias Schmitz: MMORPGs heute und morgen. World of Warcraft forever? In: Andreas Lober (Hg.): Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co.: Faszination, Gefahren, Business. Hannover: Heise 2007. S. 21-32, hier S. 23. 25 Andreas Lober: Das Zeitbudget als Flaschenhals. In: Andreas Lober (Hg.): Virtuelle Welten werden real. Second Life, World of Warcraft & Co.: Faszination, Gefahren, Business. Hannover: Heise 2007. S. 37-39, hier S. 37.

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Beschränkung der Charakterentwicklung von Level 60 auf Level 70. Wrath of the Lich King (2008) brachte wiederum den neuen Kontinent Nordend mit sich und Cataclysm (2010) strukturierte mit dem Weltenbeben Azeroth vollständig um, was sich auch in einer deutlichen optischen Überarbeitung der Kontinente zeigte. Mists of Pandaria (2012) erweiterte die Welt um das Volk der Pandaren, Warlords of Draenor (2014) setzte fort, was Cataclysm begonnen hatte, überarbeitete die spielbaren Völker vollständig und glich ihren Stil den bereits modernisierten Kontinenten an. Legion (2016) brachte erneut die Brennende Legion, eine Dämonenarmee, zurück und integrierte die Charakterklasse der Dämonenjäger und den neuen Kontinent der Verheerten Inseln. Die maximale Stufe der spielbaren Charaktere hat sich damit auf 110 erhöht. 2018 erschien die Erweiterung Battle for Azeroth, die weitere Neuerungen mit sich gebracht hat.26 Die Spielstufe hat sich mit 120 seit 2004 tatsächlich verdoppelt, sowohl bei der Horde als auch bei der Allianz wurden neue Völker, darunter nun auch die Hochbergtauren und Lichtgeschmiedeten, ergänzt, als neue Kontinente kamen Kul Tiras und Zandalar hinzu, zudem eine Vielzahl an neuen Schlachtfeldern, Arenen und Dungeons. Die Spielstruktur wird durch dieses Vorgehen zunehmend komplexer, verschiedene Aspekte orientieren sich verstärkt an Sozialisierung und dem Aufbau von virtuellen Gemeinschaften, was für eine sehr dichte Spielatmosphäre sorgt. Außer einer bunten Hülle und einer unveränderbaren Nutzeroberfläche gibt es laut Spieleforscher Espen Aarseth kaum Elemente, die die Welt von World of Warcraft von anderen Plattformen ähnlicher Bauart positiv unterscheidet.27 Einzig der dargestellten Landschaftssimulation gesteht er einen Wandel zu. 28 Dies dürfte mit der bereits erwähnten Erweiterung The Burning Crusade zusammenhängen. Als Aarseth A Hollow World. World of Warcraft as Spacial Practice (2008) publizierte, war die Erweiterung Cataclysm (2010) noch nicht veröffentlicht – als diese jedoch erschien, bestätigte sie Aarseth ein weiteres Mal. World of Warcraft bezeichnet er als „in fact no fictional world, but rather a functional and playable gameworld, built for ease of navigation.“29 Entsprechend kurz sind die Wege innerhalb der dargestellten Welt, denn „Azeroth is all about playability.“ 30 Die Raumzeit ist folglich nicht flexibel, sondern schreitet kontinuierlich für alle gleichzeitig voran. Obwohl sich viele Spieler an unterschiedlichen Punkten ihrer

26 Vgl. Matthias Huber: Was “World of Warcraft” unsterblich macht. Süddeutsche Online, 7. November 2017. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 27 Vgl. Aarseth: A Hollow World, S. 111f. 28 Vgl. ebd., S. 112. 29 Ebd., S. 118. 30 Ebd., S. 118.

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Charakterentwicklung befinden, ist dies kein Widerspruch, sondern unterstreicht die Gleichzeitigkeit der nutzerbezogenen Spielentwicklung innerhalb von World of Warcraft. Die Spieler bilden eine „in-game community of social, localized agents“, die nicht von temporären Unterbrechungen oder Sprüngen in der Raumzeit getragen werden.31 Stattdessen müssen die Spieldesigner, so Aarseth, ein Gleichgewicht zwischen dem individuellen Spieler und der Gruppe finden, im Vordergrund des Spiels steht dabei die Unterhaltung, nicht geopolitischer oder materieller Realismus.32 Durch die Struktur der offenen Welt, die stetig erweitert wird, ist es dem Spieler möglich, seine Umgebung individuell zu erkunden. Während eine Gruppe von Spielern primär schnell ein hohes Level erreichen möchte, um ihren Charakter detaillierter ausarbeiten zu können, nutzen andere die virtuelle Spielumgebung, um die Welt zu entdecken und Erfahrungspunkte zu sammeln. Je nach Profession des Charakters können schließlich sogar Gegenstände hergestellt werden, allerdings nur solche, die im Spiel unmittelbar vorgesehen sind. Der Spieler benötigt hierfür die vorgegebenen Komponenten und kann beispielsweise seine Rüstungsstärke verbessern. Aarseth nimmt World of Warcraft als in seinen Funktionen limitiert wahr, gerade wegen der fehlenden Möglichkeit des Craftings in seiner eigentlichen Bedeutung. Auch hier zeigt sich die rigide Struktur, die hinter dieser vordergründig offenen Welt liegt – eigene Kreativität auszuleben, eigene Lösungsansätze für eine Quest zu entwickeln, ist nicht vorgesehen und zeigt damit die Grenzen dieser virtuellen Welt auf, die damit auch stets als solche erkennbar bleibt. Ökonomie und Wirtschaft Wie sich aus den bisherigen Beschreibungen entnehmen lässt, verfügt World of Warcraft über eine eigene ökonomische Struktur. Es müssen Quests erfüllt werden, um die Goldvorräte aufzustocken. Ebenso gilt es, verschiedenste Kreaturen zu bekämpfen, die nach ihrem Ableben ebenfalls Gold und teilweise seltene Gegenstände zurücklassen. Letztere können an Händler veräußert werden. Zusätzlich stehen Auktionssysteme zur Verfügung, auf die jeweils Allianz, Horde oder ausschließlich neutrale Städte Zugriff haben.33 World of Warcraft ist jedoch nicht als

31 Ebd., S. 118f. 32 Vgl. ebd., S. 119. 33 Vgl. Scott Rettberg: Corporate Ideology in World of Warcraft. In: Hilde G. Corneliussen, Jill Walker Rettberg (Hg.): Digital Culture, Play, and Identity. A World of Warcraft Reader. Cambridge: MIT Press 2011. S. 19-38, hier S. 28.

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Wirtschaftssimulation per se zu betrachten, sondern als Fantasy-Rollenspiel mit ökonomischen Aspekten, die weniger stark ausgeprägt sind als bei Second Life. Jeder Spieler hat zusätzlich die Option, Berufe zu erlernen, die in primäre und sekundäre Fähigkeiten aufgeteilt werden. Die Kombinationen hieraus sind nahezu beliebig, aber es bietet sich an, den Sekundärberuf am Primärberuf zu orientieren, um erfolgreicher wirtschaften zu können. Diese Auswahl bestimmt zudem, ob und inwiefern eine Art sehr rudimentäres Crafting für den jeweiligen Spieler möglich ist.34 Das sogenannte Goldfarmen, das heißt, das Erwirtschaften der Spielewährung oder organisierte Suchen seltener Gegenstände, um sie außerhalb des Spiels zu veräußern, ist neben anderen Aktivitäten wie beispielsweise Hacking oder das Benutzen computergesteuerter Charaktere oder Bots , hingegen verboten, findet im Verborgenen aber dennoch statt. Das dort erarbeitete Gold kann im Spiel illegal transferiert werden. Je nach Ziel und Kodex des Spielers ist dies allerdings keine Option, denn oftmals ist das Sammeln von Gold eher Nebenprodukt einer anderen Aufgabe, die zusätzlich noch Erfahrungspunkte bringt, welche den gespielten Charakter dem nächsten Level annähert. Der Besitz von Gold allein ist hierfür nicht ausreichend. Dahinter verbirgt sich ein komplexes (soziales) System, das dem Spieler ein immersives Erlebnis anbietet, ihm aber gleichzeitig verwehrt, auf legalem Weg auch außerhalb von World of Warcraft von den im Spiel erwirtschafteten Gütern leben zu können. Interessant bleiben diese Güter aber speziell dann, wenn der Spieler alle erreichbaren Level sämtlicher Erweiterungen erreicht hat. Der Charakter kann an diesem Punkt nicht mehr verbessert werden, einzig seine Ausrüstung ist nun noch optimierbar. World of Warcraft grenzt sich nach außen deutlich strikter ab, als dies andere virtuelle Welten tun, und nutzt seine ökonomischen Strukturen als erweitertes Spielprinzip, nicht aber zur persönlichen Bereicherung der Spieler außerhalb des Spiels. Was im Spiel passiert, bleibt in der Regel auch im Spiel. Durch die Abgeschlossenheit der Welt tritt hier die Differenz zwischen virtuellem und realem Leben, zwischen online und offline noch sehr deutlich zutage. Gleichzeitig verstärkt genau diese Tatsache den Effekt der Immersion und Involvierung, der es dem Spieler so ermöglicht, in eine virtuelle Welt abzutauchen und sich an fiktiven Orten aufzuhalten. Durch die quartäre Audiovisualität wird dem Spieler auch hier eine Immersion in das Hyperrealistische ermöglicht, die eine individualisierte Spielerfahrung zulässt.35

34 Vgl. ebd., S. 26. 35 Vgl. S. 302 dieser Arbeit.

Zwischenfazit & Ausblick: Ein zweites Leben für die Gilde?

Mit der Emergenz realer virtueller Welten, die nicht in Literatur und Film erdacht wurden, offenbaren sich deutliche konzeptuelle Unterschiede. Während das Computerspiel Second Life als virtuelle Welt agiert, setzt World of Warcraft auf Rollenspielelemente, die dem Spiel im Vergleich mehr inhaltliche Tiefe ermöglichen. Second Life beförderte allerdings besonders in seiner Anfangszeit viel Sekundärliteratur in Form von Reiseberichten und anthropologischen Betrachtungen, da hier explizit ein zweites virtuelles Leben aufgebaut werden sollte und die virtuelle Plattform den eigentlichen Alltag ergänzen und erweitern sollte. In World of Warcraft liegt der Fokus hingegen auf der ausgeprägten Transmedialität, die dem Spiel als solchem innewohnt: Sie dient hier der „Herstellung eines fiktionalen […] Containers, der mehrere Medien enthält, also in seinem Inneren die tradierten Mediengrenzen transzendiert.“1 Was ursprünglich als Spiel begonnen hat, gibt es nun auch in anderen medialen Darstellungen zu erleben und zu erforschen.2 Doch genau dieser spielerische Zugang zur virtuellen Welt rückte World of Warcraft zu Beginn aus dem Blickfeld der Forschung. Ohne den medial turn Mitte der 1990er Jahre wäre dieses Spielprinzip in der Form und Umsetzung aber wohl kaum möglich gewesen, denn erst dieser ließ bewirken, dass Endverbraucher über eine Breitbandverbindung online in Echtzeit miteinander spielen können und dies nicht

1

Gundolf Freyermuth: Games. Game Design. Game Studies. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2015. S. 226.

2

Es handelt sich hierbei um eine Reversion der Situation bei Matrix: Dort wurden erst ein Film, dann Begleitbücher, Sekundärliteratur und Computerspiele sowie die filmischen Fortsetzungen und Erweiterungen veröffentlicht. World of Warcraft startete als Spiel, das erst nach Jahren einen Film nach sich zog, welcher die Vorgeschichte aus dem Blickwinkel der Horde erzählt.

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mehr nur bestimmten Personengruppen vorbehalten ist. Der Spieler betritt „eine virtuelle Welt, in der er nicht mehr er selbst ist, sondern eine Rolle spielt, die selbst Teil dieser virtuellen Welt ist.“3 Das Spiel verarbeitet hier „nicht reale Orte in virtuelle[] Umgebungen“, stattdessen „überträgt [es] das Konzept des Spiels in eine virtuelle und fiktionale Welt, die [die] materielle Wirklichkeit nicht im Sinne eines Blicks durch ein Fenster erweitert, sondern ohne direkte Verbindung dazu eine eigene Wirklichkeit als Neuverortung etabliert.“4 Second Life mag im Jahr 2003 seiner Zeit zwar vorausgewesen sein, wurde aber über die Jahre hinweg kaum sichtbar modernisiert. Darüber hinaus hat diese Plattform – gerade auch aufgrund der Anwendung am Computer und mangelnder Umsetzung für mobile Endgeräte – an Faszination für die Nutzer verloren.5 Von anderen Onlinewelten unterscheidet sich Second Life primär dadurch, dass es sich keinem Spielprinzip richtig zuordnen lässt und die Kommunikation im Vordergrund steht. Das Genre der Simulation ist unzutreffend, da es sich im engeren Sinne nicht um eine solche handelt.6 Es gibt zwar Aspekte, die auf dem Prinzip von Simulationscomputerspielen aufbauen, jedoch ist das nicht die inhaltliche Grundlage dieser virtuellen Welt. Die dargestellte Unentschiedenheit macht es den Nutzern folglich schwer, dauerhaftes Interesse zu entwickeln: Wie viele Nutzer sich dort wirklich regelmäßig und zu welchem Zweck aufhalten, ist kaum verlässlich messbar. Die Anzahl der Accounts spiegelt folglich nur bedingt wieder, wer sich in dieser Welt tatsächlich dauerhaft niedergelassen hat. Viele Nutzer sind wahrscheinlich nur nach dem Medienecho, das diese simulierte Welt besonders zwischen 2006 und 2007 erfahren hat, auf Second Life gestoßen, und haben sich einen Account angelegt, um sich ein eigenes Bild davon machen zu können.7 Lange blieben sie jedoch nicht. Dennoch funktioniert die Plattform auch als Derrida-Zitat: Die Aura des Erscheinens dieser Welt als Echo des Metaversums blitzt

3

Tobias Holischka: CyberPlaces: Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort.

4

Ebd., S. 38.

5

Minecraft greift ein ähnliches Konzept wie Second Life auf, setzt dies aber anders um.

Bielefeld: transcript 2016. S. 38.

Durch die beiden verschiedenen Spielmodi ist es hier möglich, sowohl einen kreativen Schwerpunkt zu setzen als auch dem eigentlichen Spielprinzip zu folgen. Vgl. Microsoft Studios: Minecraft. USA 2014. 6

Spiele und virtuelle Welten simulieren grundsätzlich, hier muss zwischen der Spielgat-

7

Vgl. Tobias Schmitz: „Soziale“ Welten. In: Andreas Lober (Hg.): Virtuelle Welten wer-

tung der Simulation und der Simulation als solcher differenziert werden. den real. Second Life, World of Warcraft & Co.: Faszination, Gefahren, Business. Hannover: Heise 2007. S. 51-62, hier S. 51.

Ein zweites Leben für die Gilde? | 339

nur kurzzeitig auf, das Metaversum selbst ist nur die Spur.8 Second Life ist die Dekonstruktion des Metaversums, indem versucht wird, Neal Stephensons Idee in die Wirklichkeit zu ziehen. Dieser Versuch kann nur scheitern, die Neuanordnung im Realen offenbart die Lücken des fiktiven Konzepts und zeigt, wie unrealistisch der Versuch einer tatsächlichen Umsetzung in einer Zeit ist, in der die technologischen Voraussetzungen für ein solches Unterfangen noch nicht ausreichend realisierbar sind. Die großen Erwartungen, die an Second Life gestellt wurden, konnte die virtuelle Welt in mehrfacher Hinsicht nicht erfüllen. Zudem gibt es keine Erweiterungen wie bei anderen Spielen und die Welt entvölkert sich zunehmend. Nur mit sozialem Anschluss ist eine solche Plattform für die Nutzer dauerhaft reizvoll.9 Zusätzlich sorgte wohl auch die Namensgebung des Spiels bei manchen Nutzern für Unbehagen: „Sollte man es nicht lieber erst mal mit First Life probieren, bevor man seine Zeit für ein virtuelles Leben hergibt?“10 Doch diese Skepsis begleitet viele neuartige Kommunikationstechnologien. Im Moment schöpft Second Life noch viele Möglichkeiten in dieser Richtung aus und bietet eine dreidimensionale Umgebung für die Interaktion und Kommunikation mit anderen Nutzern an, weshalb andere Spiele ihren Fokus auf andere Gesichtspunkte verlagern mussten.11 Es ist der ambitionierte Versuch, Ideen aus der Literatur in der Realität umzusetzen, doch rückblickend muss dieser zumindest in dieser Form und Umsetzung als gescheitert betrachtet werden – zumal gerade Umgebungen, die einen starken Fokus auf Kommunikation legen, auch auf mobilen Endgeräten nutzbar sein sollten. World of Warcraft hingegen ist insbesondere in der gegenwärtigen Popkultur völlig anders verankert als Second Life. Vor allem die abwechslungsreich gestaltete virtuelle Welt bietet dem Spieler mehr Ansätze, über einen längeren Zeitraum in Azeroth zu verweilen, zumal explizit kein zweites Leben nach scheinbar realem Vorbild nachgespielt wird, sondern eine fantastische Umgebung erkundet und angeeignet wird. Der bereits bestehende Mythos erlaubt trotz allem ausreichend Freiheiten für ein individuelles Spielerlebnis am Desktopcomputer. Die Anzahl

8

Vgl. S. 96f dieser Arbeit.

9

Hier ist ein Vergleich mit Habbo Hotel interessant, das auf ähnlichen Prinzipien wie Second Life fußt, jedoch eine schlichtere Grafik aufweist und sich als das größte virtuelle Hotel bezeichnet. Vgl. Sulake: Habbo Hotel. Finnland 2000.

10 Schmitz: „Soziale“ Welten, S. 56. 11 Im Vergleich mit sozialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ und Goffmans Wir alle spielen Theater wäre hier eine Analyse sicherlich ebenfalls interessant, würde aber den Rahmen dieser Arbeit überschreiten. Vgl. außerdem Schmitz: „Soziale Welten“, S. 61.

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aktiver Spieler variiert auch hier, und das bei höherer Spielbeteiligung als bei Second Life. Während World of Warcraft kurz vor der Veröffentlichung der Erweiterung Cataclysm zwölf Millionen aktive Spieler verzeichnete, sind diese Zahlen später auf knapp fünf Millionen gesunken.12 Seither hält sich Blizzard mit weiteren Angaben bedeckt. Der Erfolg von World of Warcraft liegt vermutlich auch in der Tatsache begründet, dass es – je nach Interessenlage der Spieler – einen höheren Grad der Immersion und Involvierung zulässt. Second Life fordert vor allem zu Beginn eine deutlich höhere Eigeninitiative und bietet aufgrund des fehlenden Mythos weniger Identifikationspotenzial mit der virtuellen Umgebung, das sich der Spieler zu eigen machen kann. Stattdessen ist er aufgefordert, sich ein eigenes Spielziel zu suchen. Die Gefahr, sich in einer der beiden Welten zu verlieren, besteht sicherlich dennoch, jedoch nicht aus technischen Gründen, die eine totale Immersion forcieren könnten. Vielmehr spielt hierbei die kognitive Immersion eine tragende Rolle. Wie an beiden Fallstudien deutlich erkennbar ist, vermischen sich in der heutigen Zeit Virtualität, Fiktion, Realität und Wirklichkeit immer mehr, was besonders an Onlinerollenspielen mit sozialer Komponente festzustellen ist. Beide Welten funktionieren sowohl als eine Form von Simulation als auch als Simulakrum, jedoch mit verschiedenen Voraussetzungen und Zielen. Gleichzeitig bieten diese Plattformen eine Kommunikationsmöglichkeit, die anonym bleiben kann und es zulässt, ein Wunschbild des eigenen Selbst zu generieren und zu präsentieren – vergleichbar mit dem Subjekt des Autors in all seiner Künstlichkeit. 13 Die Analyse der beiden Fallbeispiele hat gemeinsam mit der kurzen Darstellung, wie es um den Begriff der Immersion bestellt ist, gezeigt, dass in diesem Bereich seit der Jahrtausendwende viele Entwicklungsschritte parallel stattgefunden haben und diese Entwicklung auch gegenwärtig noch nicht abgeschlossen ist. Auch hier findet ein gegenseitiger Kommentar statt, wie es bereits in den vorherigen Kapiteln bei der Untersuchung von literarischen und filmischen Bearbeitungen gezeigt wurde. Die realen Spielwelten haben sich bisher allerdings anders entwickelt als noch in den späten 1990er Jahren prognostiziert. Eine eigene Theorie hat sich erst mit der Weiterentwicklung von Computerspielen etabliert, ihre wissenschaftliche Rezeption fällt mit dem Beginn der Theoriebildung durch die Game Studies zusammen. Es zeigt sich, dass viele der Ideen aus den 1980er und 1990er Jahren in der Science-Fiction, im Cyberpunk, aber auch in der Medientheorie postuliert wurden, in letzter Konsequenz (zumindest noch) nicht verwirklicht werden

12 Vgl. Philip Kollar: Did Legion boost World of Warcraft’s subscriber numbers over 10 million? Polygon Online, 4. Oktober 2016. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 13 Zum Autor als Subjekt vgl. S. 93 dieser Arbeit.

Ein zweites Leben für die Gilde? | 341

konnten. Allerdings ist der Spielemarkt in stetiger Bewegung, was sich auch in Gundolf Freyermuths vorgestellter Theorie der hyperimmersiven Wende herauskristallisiert. Ihr zu eigen ist, dass sie sich zwar auf technische Entwicklungen beruft, ihre zentrale Aussage aber unabhängig der gegenwärtig absehbaren weiteren Fortschritten eine immanente Richtigkeit besitzt. Da die hier behandelten Spielwelten jedoch relativ alten Strukturen folgen, kann die Entwicklung bis zum Beginn dieser Wende zwar verfolgt werden, umgesetzt wird sie an diesen Beispielen jedoch noch nicht. Immersion und Involvierung sind hier folglich möglich, Varianten mit Augmented oder Mixed Reality werden im Gegensatz zu neueren Spielen und virtuellen Plattformen bei Second Life und World of Warcraft im Moment noch nicht angeboten. Grundsätzlich steht die reale Umsetzung des Konzepts der Simulation als virtuelle Realität auf technologischer Basis noch sehr am Anfang. Dies zeigt auch die Schwierigkeiten, die der Versuch einer Definition des Begriffs der Immersion mit sich bringt. Ähnliche Entwicklungen mit ungewisser Zukunft spiegeln sich in Linden Labs angekündigtem Projekt Sansar, eine Fortschreibung des inzwischen überalterten Konzepts von Second Life.14 Ursprünglich bereits für 2017 angekündigt, ist Sansar, bei dem komplett auf VR-Technologien inklusive Datenbrille gesetzt wird, bislang nur ausgewählten Betatestern zugänglich, wobei diese Phase inzwischen abgeschlossen zu sein scheint.15 Anders als bei Second Life soll hier die Engine, die hinter dem Programm steht, moderner und variantenreicher angelegt sein und Neuerungen im System leichter umsetzbar machen. Tatsächlich ist Sansar als unendliches System geplant. Sollte sich diese Plattform als Erfolg erweisen, soll sie laut Entwickler beständig aktualisiert werden. Statt einer Welt als vorgegebenes Gesamtkonzept können dort unzählige individuelle Welten erschaffen werden, was dem Nutzer deutlich mehr Spielraum zugesteht. Die VR-Technologien stehen jedoch selbst im Moment noch am Beginn eines Transformationsprozesses, bei dem sich erst in Zukunft zeigen wird, welche Möglichkeiten hier auch im Rahmen von Digitalisierungsstrategien noch ausgeschöpft werden können. Auch hier ist eine eigene Ökonomie geplant, die durch die Einführung des Sansar Dollar realisiert wird.16 Bislang wirkt das, was von Sansar bereits bekannt ist, tatsächlich wie eine modernere und aktualisierte Version von Second Life, die noch mehr auf das Crafting ausgerichtet ist und damit auch für 3D-Grafik interessant sein könnte.

14 Linden Lab: Sansar. USA 2017. 15 Vgl. Julius Beineke: Social-VR-Plattform Sansar ist in der Open-Beta-Phase. Heise Online, 1. August 2017. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 16 Vgl. Linden Lab: Sansar Dollar Exchange: https://help.sansar.com/hc/en-us/articles/115000175188-Sansar-Dollar-Exchange (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

342 | Simulation und virtuelle Welten

Insbesondere in Zusammenhang mit Digitalisierungsbestrebungen im Arbeitsalltag, aber auch im Privaten, könnte Sansar tatsächlich eine Lücke füllen. Ob sich diese neue virtuelle Plattform jedoch durchsetzen wird, muss sich erst noch zeigen.

Simulation, quo vadis?

Reale Simulationen einer möglichen Wirklichkeit Ist der [Hund] echt? – Keine Ahnung. Frag ihn selbst. Blade Runner 20491

Als in Blade Runner 2049, der Fortsetzung von Ridley Scotts Verfilmung von Philip K. Dicks Roman Blade Runner, der Replikant K den früheren Blade Runner Rick Deckard fragt, ob der Hund, der ihm in einem heruntergekommenen Las Vegas durch ein verwittertes Casino folgt, echt sei, antwortet Deckard lapidar, dass er das nicht wisse. Es scheint ihn nicht weiter zu kümmern, ob er seine einsamen Tage mit einem realen Hund oder einer Maschine verbringt, die nur vorgibt, ein Hund zu sein. Doch dieser Hund sieht so echt aus, bewegt sich so natürlich, dass tatsächlich nicht mehr ohne Weiteres erkennbar ist, ob es sich hierbei um ein wirkliches Lebewesen handelt. Nicht einmal der Filmzuschauer ist in der Lage, zu erkennen, ob der Hund möglicherweise digital animiert wurde und damit eine Simulation darstellt beziehungsweise ein Simulakurm als Zeichen, das auf einen realen Hund verweisen soll. Ebenso wie weiterhin die Frage nach der Identität Deckards unbeantwortet bleibt. Ob er menschlich oder selbst ein Replikant ist, spielt längst keine Rolle mehr. Die Frage nach der Wirklichkeit und deren Wahrnehmung wird in Blade Runner – sowohl im Roman als auch in den beiden Filmen – immer wieder gestellt und letztlich nie beantwortet. Herauszufinden, welche Konsequenzen das impliziert, wird bei vielen Geschichten dieser Art am Ende dem Zuschauer als Aufgabe überlassen. Ob eine Wirklichkeit real ist oder nicht, scheint in dieser Geschichte ebenfalls weniger ein Problem darzustellen. Vielmehr ist es der Mensch, der sie nicht mehr als wirklich wahrnehmen kann, sobald er von ihrer Künstlichkeit erfährt. Die Beschäftigung mit der Frage, wie real die eigene Um-

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Denis Villeneuve: Blade Runner 2049. USA 2017. Minute 112.

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welt ist, scheint universell. Spätestens mit dem Aufkommen des Cyberpunks verlagerte sie sich ins Virtuelle und produzierte vor allem in den 1990er Jahren Unmengen an künstlerischen Verarbeitungen, die sich verstärkt mit der Simuliertheit computergenerierter Welten und transhumanistischen Betrachtungen auseinandersetzten. Diese Simuliertheit fällt – wie sich in dieser Untersuchung gezeigt hat – in eine ähnliche Kategorie wie die oben zitierte Frage nach der Echtheit des Hundes: Sie spielt in der Wahrnehmung der Umwelt eine signifikante Rolle, wird aber erst evident, wenn Lücken in ihrer Darstellung auftauchen. Wie die Zwischenfazits, die jeweils mit einem kurzen Ausblick die vorherigen Kapitel abgeschlossen haben, bereits ausführlich dargelegt haben, wie die einzelnen in dieser Untersuchung betrachteten medientheoretischen Beschreibungen und medialen Darstellungen aus Literatur, Film und Computerspiel gezeigt haben, befindet sich der Umgang mit der Simulation in einem steten Wandel, der sich an den jeweils gegenwärtigen Entwicklungen orientiert und diese phänomenologisch verarbeitet, sich dabei aber auch gleichzeitig in ihrer Künstlichkeit selbst kommentiert. Mit der Simulation, die hierbei als eine moderne Form einer Kulturtechnik zu betrachten ist, entstehen aber auch immer wieder neue Informationsordnungen, Wissensdatenbanken und Algorithmen, die diese Datenbanken strukturieren, die gleichzeitig auch das kulturelle Wissen beeinflussen. Simulation und Virtualität wurden bereits früh auch wissenschaftlich betrachtet und beschäftigten Medientheoretiker wie Jean Baudrillard und Paul Virilio über lange Jahre. Während Baudrillard mit der Ordnung der Simulakra im übertragenen Sinn auch über die Virtualität der Welt schrieb, hinterfragte Virilio direkt die Virtualität und welche Auswirkungen dies in Form von Sehmaschinen für den Menschen haben könnte. Mit der Dromologie entwickelte er eine Theorie der Geschwindigkeit, zu der der Mensch letztlich ohne maschinelle Unterstützung keinen Zugang mehr hat. Beiden gemeinsam ist, dass sie die Zukunft dystopisch betrachteten und dem Menschen zunehmend den Zugang zur Realität absprachen und damit auch die Fähigkeit zur Erkenntnis einschränkten. Bei Baudrillard geschieht dies durch das Herausstellen der Hyperrealität, die auf nichts mehr in der Wirklichkeit verweist; bei Virilio hingegen übernehmen die Sehmaschinen das Sehen für den Menschen, der deren Codes nicht mehr ohne Hilfsmittel entziffern kann. Die Digitalisierung findet in diesen Theorien ohne den Menschen statt, er wird vom Agierenden zum Reagierenden zwischen Maschinen und virtuellen Welten. Baudrillard geht in seiner Theorie davon aus, dass der Mensch mit der Veränderung von Medien und medialen Zusammenhängen auch neue Kompetenzen hinzulernt, die ihn befähigen, mit seiner veränderten Umwelt umzugehen. Es besteht seiner Ansicht nach also die Möglichkeit, dass die heutige Gesellschaft vielleicht unbewusst bereits in einer Hyperrealität lebt und diesen Zustand nicht bemerkt.

Reale Simulationen einer möglichen Wirklichkeit | 347

Das aber ändert nichts an der Realität des Alltags, die ohne diese Erkenntnis weiterhin als wirklich durchlebt wird. Neue Medien durchdringen das Leben; dabei muss auch der Blick für das Wesentliche geschärft und eine neue Medienkompetenz – auch in Bezug auf gegenwärtige Digitalisierungsbestrebungen – erlernt werden. Für die Hyperrealität gilt diese Lernfähigkeit aufgrund ihrer Nichterkennbarkeit wohl kaum. Allein dadurch, dass nur die Möglichkeit besteht, bereits jetzt in einer Hyperrealität zu leben, macht diese undurchschaubar. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob es überhaupt wichtig ist, zu wissen, ob die eigentliche Umgebung real oder gar hyperreal ist, da sie für den Menschen ununterscheidbar ist und es somit keine nennenswerte Rolle im Alltag spielen dürfte, ob die Hyperrealität bereits alles für sich beansprucht. Auf philosophischer Ebene ist dies jedoch anders zu bewerten und kritisch zu hinterfragen: Während also Baudrillard die Welt zu düster betrachtet, sieht sie Virilio zu unbeweglich. Beide zeichnen ein apokalyptisches Szenario einer Welt, die im digitalen Schein eines Simulakrums unbemerkt verschwinden wird. Virilio behauptet, dass diese Medien – durch die Ausbreitung elektronischer Medien und der damit für ihn verbundenen Geschwindigkeitszunahme – den Menschen „immer weiter des Gebrauchs [seiner] natürlichen Sinnesorgane und [seines] Empfindungsvermögens“ berauben.2 Baudrillard hingegen sieht in den Techniken, die virtuelle Realitäten erzeugen, eher eine „Vernichtung des Realen durch sein Double.“3 Besonders virulent war die Thematik in der Zeit zwischen den 1980er Jahren bis etwa 2005, denn in diesem Zeitraum entstanden neuartige Visionen über multiplizierbare Realitäten, die sowohl Begrifflichkeiten als auch Sprache neu formten. Die Entwicklung des literarischen Cyberpunks trieb ebenso die technische wie theoretische Entwicklung in Zusammenhang mit Medialität und Simulation voran, sowohl bei der expliziten wie der impliziten Simulation. Film, Kino und Literatur dienten hierbei als ästhetische Reflexion der Simulationstheorie, wohingegen die Theorie historisch parallel zur Literatur entstanden ist. Cyberpunk greift – bewusst oder unbewusst – sowohl auf medientheoretische Konzepte als auch Systematiken in Form von dekonstruktivistischen Darstellungen zurück und überführt die daraus gewonnenen Erkenntnisse in fiktionalisierte Zustandsbeschreibungen einer technologisierten alternativen Gegenwart. Und da es sich dabei um popkulturelle Betrachtungen handelt, erhebt auch keine davon den Anspruch auf wissenschaftliche Akkuratesse, sondern ordnet diese dem Universum, das jeweils erzählt wird, unter, was wiederum einen freieren und kreativeren Umgang mit diesem Themenkomplex zur Folge hat.

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Paul Virilio: Information und Apokalypse. München: Carl Hanser 2000. S. 41.

3

Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen. München: Matthes & Seitz 1996. S. 47.

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In den 1980er Jahren erschien die Digitalisierung noch als Verheißung und beherrschbar, obwohl genau zu dieser Zeit der erste Höhepunkt des Cyberpunks stattfand, der die Digitalisierung mit dystopischem Potenzial versah: Die Simulation stellt in der Popkultur häufig Fragen nach Identität, Wissen und Machtstrukturen. Bei der Betrachtung der Fallstudien wird allerdings sichtbar, dass Simulationen mehr sind, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Es geht um das Zusammenspiel technischer wie ästhetischer Entwicklungen mit ihrer Bewältigung in der Theorie: Interdependenz, Intertextualität, Intermedialität bestehen zwischen nahezu jedem der Entwicklungsschritte, die im Rahmen dieser Untersuchung behandelt wurden. Es wird ersichtlich, dass diese Theorien und daran gekoppelte Fantasien gegen Ende des letzten Jahrtausends kaum Schritt halten konnten mit der tatsächlichen technischen Entwicklung und häufig schon bei Veröffentlichung von der Realität überholt worden waren. Auch die gegenwärtige Entwicklung ist so schnell geworden, dass die Theoriebildung der Postmoderne kaum noch zeitnah darauf reagieren kann, sondern nur noch bereits bestehende Zustände beschreibt. Während in den 1990er Jahren der Holodeck-Mythos in Cyberpunk und Science-Fiction als Idee der Zukunft galt, wurde im Versuch der technologischen Realisierung zu Beginn der 2000er Jahre schnell klar, dass dies, wie Marie-Laure Ryan sagt, nur ein Mythos ist, der in der Realität in dieser Form (zumindest) noch nicht umgesetzt werden kann. Theorien sollten jedoch so formuliert sein, dass sie keine etwaigen Entwicklungen konkret ausschließen und so bleibt auch das Holodeck als Idee weiterhin aktuell, denn in Janet Murrays Studie Hamlet on the Holodeck geht es explizit nicht um technologische Umsetzbarkeit, sondern die Narrationsmöglichkeiten in einer simulierten vollimmersiven Umgebung. Die Medientheorien von Baudrillard und Virilio setzen sich hingegen mit der zunehmenden Technisierung und dem Verhältnis des Menschen zu selbiger in dieser veränderten Umwelt auseinander. Obwohl die Konsequenzen und teilweise auch die Technikvorstellungen detailliert beschrieben sind, blenden die hier behandelten Fallbeispiele ebenso wie die Theorien von Baudrillard und Virilio die konkreten Beschreibungen dessen aus, wie die Entstehung und technische Etablierung der virtuellen Welten vonstattengehen soll. Das erinnert teilweise an Science-Fiction, speziell wenn Baudrillard von der Ordnung der Simulakra spricht oder Virilio die Funktion der Sehmaschinen beschreibt. Zwar inspirierte das Literaten wie Regisseure zu Romanen wie Neuromancer und Snow Crash oder Filmen wie Matrix und eXistenZ, aber letztlich handelt es sich hier um die künstlerische Darstellung möglicher Entwicklungen einer weltumspannenden Vernetzungstechnologie. Dennoch ist hier auch viel eigenes künstlerisches Potenzial vorhanden. Autoren wie Regisseure greifen partiell Medientheorien für ihre Werke auf, beziehen sich aber nicht unbedingt konkret auf bestimmte Aspekte, sondern beleuchten eigene

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Interpretationen zeitgenössischer Entwicklungen in diesem Bereich. Die literarische Fiktion orientierte sich an realistischeren Szenarien, während die filmische Darstellung den Anschluss an die Realität aus gegenwärtiger Sicht verpasst hatte. Alle Fallstudien aus Film und Literatur beinhalten direkt oder indirekt die Angst vor dem Kontrollverlust durch die Technologisierung des Alltags und damit verbunden auch vor der Simulation. Zudem lässt sich feststellen, dass sich auch Computerspiele vergleichbar entwickelt haben, sie jedoch durchschnittlich weniger selbstreflexiv in Erscheinung treten als Literatur und Film. Die Simulation und die virtuelle Welt sind Teil des Spielvorgangs, werden aber inhaltlich im Regelfall nicht hinterfragt oder thematisiert.4 Die Gleichzeitigkeit dieses medial übergreifenden Phänomens ab Mitte der 1990er Jahre ist auffällig, denn diese Parallelität bewegte sich sowohl auf inhaltlicher wie ästhetischer Ebene. Es zeigt sich rückblickend aber, dass die reale Entwicklung den Ansprüchen, die in Literatur und Film dargestellt werden, nicht genügt. Technologisch gab es zwar deutliche Fortschritte, jedoch nicht wie prognostiziert. Während die Literatur, wie anhand der Beispiele Snow Crash und Neuromancer zu erkennen ist, zumindest eine in Teilen realistische Variante des World Wide Web und dessen globale Verknüpfungen zeigt, bewegen sich Filme wie Matrix und eXistenZ inhaltlich vermehrt im Genre reiner Science-Fiction. In Matrix ist die Simulation an einen Erlösermythos gekoppelt. Es wird nie aufgelöst, wer sich tatsächlich innerhalb dieses Systems befindet oder welchem Zweck die Matrix als Programm wirklich folgt beziehungsweise was überhaupt real ist und ob nicht letztlich doch alles nur simuliert ist, eine wie auch immer geartete Wirklichkeit in der Trilogie gar nicht dargestellt wird und sich die eigentliche Realität in der Simulation längst aufgelöst hat. eXistenZ zeigt im Gegenzug eine Welt, die sich tatsächlich in der Simulation in Form von Spielen zu verlieren scheint. Dies ruft Freunde und Feinde der Realität auf den Plan, die verschiedene Positionen zum kritisch dargestellten Eskapismus aus dem Alltag einnehmen. Dabei rückt auch die Frage nach der Mimesis in den Vordergrund, gerade bei Matrix: Erreicht die Matrix als Konzept das Ende der Mimesis und implodiert sie, wenn sie ins Extrem getrieben wird? Der Kulturwissenschaftler Samuel Strehle folgert etwa, dass die beiden Begriffe von Simulakrum und Simulation „immer stärker den Be-

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Im Bereich Computerspiele ist Cyberpunk 2077 angekündigt, jedoch bislang noch ohne konkreten Erscheinungstermin. Das Setting ist eine Cyberpunkzukunft; mehr Details, die darauf schließen lassen, ob und inwiefern das Spiel als Simulation selbstreflexiv ist, sind nicht bekannt.

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zug zur antiken Tradition“ verlieren und sich stattdessen „als diametraler Gegensatz zur überkommenen Semantik der Mimesistheorie“ etablieren.5 Die Simulation der 1990er Jahre und mit ihr die Virtualität können als eine Art Palimpsest betrachtet werden. Besonders die Simulation verfremdete damals aktuelle und reale Strömungen und Bewegungen, dekonstruierte sie und setzte sie so zusammen, dass damit Neues kreiert wurde. Es entstanden virtuelle Welten, die in Theorie und Literatur beschrieben und in Filmen dargestellt wurden. In Spielen wird seither versucht, diese virtuellen Welten umzusetzen, soweit es die technischen Möglichkeiten erlauben. Der Gedanke orientiert sich an der strukturalistischen Tätigkeit Roland Barthes’, greift aber ebenso Konzepte von Baudrillard auf. Die hier behandelte Literatur greift diese Entwicklungen der Simulation auf und verweist ebenso auf palimpsestartige Strukturen. Selbiges gilt für die analysierten Filme, die wiederum auf Ideen, die in der Literatur verhandelt wurden, zurückgreifen und diese über Bestehendes neu arrangieren. So zentral die Simulation in dieser Entwicklung ist, so deutlich wird am Ende dieser Untersuchung, dass sie selbst immer wieder zu einem Palimpsest verschiedener Entwicklungen und Strömungen wird. Diese Strukturen tauchen teilweise auch in den hier vorgestellten virtuellen Welten von Computerspielen auf. Es zeigt sich aber, dass der Palimpsest in dieser Form nur bedingt anzuwenden ist: Es werden vor allem Ideen verarbeitet, die zuvor in der Literatur behandelt wurden – speziell die Entwickler von Second Life gehen sehr offen damit um, ihre Ideen aus Neal Stephensons Roman Snow Crash entlehnt zu haben, und entwerfen hiermit eine Metaebene hinter dem eigentlichen Spiel. Anders ist es bei World of Warcraft, das sich auf keine dieser Vorlagen beruft, sondern eine eigene fiktionale Welt ausgestaltet. Zu Beginn der 2000er Jahre fand wirkliche virtuelle Realität kaum statt – zumindest nicht so, wie ursprünglich imaginiert. Stattdessen entwickelten sich andere Strukturen virtueller Welten, wie sich an den Beispielen von Second Life als Umsetzung der Idee des Metaversums von Neal Stephenson und World of Warcraft als Fantasy-Rollenspiel gezeigt hat. Aber es wird auch ersichtlich, dass sich die Game Studies in diesem Zeitraum formierten und einen differenzierteren Blick auf diese Thematik ermöglichten. Mittlerweile werden vermehrt VR-Umgebungen samt zugehöriger Technologie entwickelt. Die Alltagswelt ist durchsetzt von Augmented Reality-Anwendungen. Durch die Mobilwerdung des Inter-

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Samuel Strehle: Zur Aktualität von Jean Baudrillard. Einleitung in sein Werk. Wiesbaden: Springer 2012. S. 99. Vgl. ebenso Bernhard Dotzler: Simulation. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Band 5. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhart Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart: Metzler 2003. S. 509-534, hier S. 510.

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nets, die noch in den 1990er Jahren in dieser Form kaum vorhergesehen wurde, wurde dies als Alltagstechnologie erst möglich. Dennoch bleibt dieses Jahrzehnt in diesem Zusammenhang ein Wendepunkt durch den medial turn, auf den der digital turn folgt: Der digitale Wandel beziehungsweise die digitale Transformation ist der stetige Veränderungsprozess, der gleichzeitig einen kulturellen Wandel bedingt, indem neue Technologien ihren Platz im Alltag finden, und der in wirtschaftlicher Hinsicht durch die Digitalisierung auch die Industrie und Wirtschaft betrifft. Die Digitalisierung ist hierbei weniger als Ziel, sondern als Werkzeug zu begreifen, das neue Arbeitsformen ermöglicht und durch neue Informationstechniken die Kommunikation verändert. Dies zeigt sich sowohl im Bereich der Softals auch der Hardware von Computern, dem Umgang mit Daten und dem Aufbau von Netzwerken. Das Internet der Dinge, das reale und virtuelle Gegenstände miteinander vernetzt, gewinnt immer mehr an Bedeutung, Big Data spielt eine immer wichtigere Rolle, indem diese zumeist eher unstrukturierten Daten statistisch ausgewertet und analysiert werden. Das kann – je nachdem, aus welchem Kontext heraus Daten gesammelt und verwendet werden – auch im werblichen Umfeld eingesetzt werden, was wiederum die Frage aufwirft, wie Datenschutz mit dieser Art der Datenstrukturierung zu vereinbaren ist. Dies führt folgerichtig zu Diskussionen über Datensicherheit und neuen Gesetzen, die sich diesem stetigen Prozess der Veränderung anzupassen versuchen.6 Auch die Robotik wird in Bezug auf die Digitalisierung immer präsenter. Diese Entwicklungen führen zu strukturellen Veränderungen, die auch den Arbeitsalltag betreffen, wo durch die Digitalisierung andere Blickwinkel eröffnet werden, beispielsweise durch digitale Zwillinge, die als Simulation ein virtuelles Abbild realer Maschinen darstellen.7 Dies kann wiederum im Bereich der Industrie 4.0 zur Digitalisierung der industriellen Produktion eingesetzt werden. Der nächste Wendepunkt innerhalb der Digitalisierung steht mit dem erweiterten Einsatz von VR-Technologien bevor: Die von Gundolf Freyermuth beschriebene hyperimmersive Wende befindet sich am Anfang einer weiteren Ent-

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Am Prominentesten hat sich dieser Versuch einer Regulierung an der sogenannten Datenschutzgrundverordnung niedergeschlagen, die im Frühling 2018 im Rahmen der Reform der EU-Datenschutzvorschriften in Kraft getreten ist. Auf Landesebene führt dies aber gegenwärtig zu vielen Unklarheiten. Wo eigentlich der Endnutzer geschützt werden sollte, sind es nun die Unternehmen, die davon profitieren. Vgl. hierzu Europäische Kommission: Reform der Datenschutzvorschriften 2018. Europäische Kommission Online. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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Vgl. Siemens: Zwillinge mit Potenzial. Digitalisierung in der Industrie. Das Magazin Siemens Online, 3. August 2018. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018)

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wicklung, die sich mit der Immersion als Konzept neu beschäftigen muss. In der gegenwärtigen VR-Technologie sind Simulation und Wirklichkeit klar unterscheidbar. Die Tendenzen zu Augmented oder Mixed Reality zeichnen sich aber bereits ab; etwa dadurch, dass inzwischen vermehrt Datenbrillen vermarktet werden, die auch für den Durchschnittsnutzer in erreichbaren finanziellen Dimensionen liegen. Dennoch zeigt sich auch hier eindeutig, dass die Visionen der 1990er Jahre, wie sich die Simulation und die zugehörige Virtualität entwickeln könnte, nicht in der konkret dargestellten Form eingetroffen sind, auch wenn sie momentan medial wieder präsenter werden. Immerhin wachsen heute Generationen „selbstverständlich mit Technologien auf, die 10 Jahre zuvor nicht für möglich gehalten und bestenfalls von der Science-Fiction schemenhaft erahnt wurden.“8 Eine „derartige Durchdringung der Gesellschaft“ mit diesen Technologien ist jedoch nur dann möglich, wenn diese „auch ohne Spezialkenntnisse benutzbar“ sind.9 Durch den digitalen Wandel gewinnt auch die Simulation und mit ihr die Virtualität wieder an Aktualität, wenn auch anders, als noch in den späten 1990er Jahren prognostiziert. Das bedingt natürlich auch einen neuen medientheoretischen Umgang, allerdings ist der digitale Wandel bislang in seiner Konsequenz ebenso schwer fassbar wie die hyperimmersive Wende, denn im Moment passiert erneut alles in hoher Geschwindigkeit gleichzeitig, dass eine Theoretisierung zwangsweise – wie so oft – trotz dieser parallelen Entwicklung nur langsam gleichziehen kann. Der Neocyberpunk als logische Weiterentwicklung des Cyberpunks greift diese Entwicklungen aber bereits auf und verarbeitet sie auf anderer Ebene als ästhetische Reflexion auf die Gegenwart und deren Technologisierung. Der homo digitalis, der digitale Mensch, ist längst da: Die postmoderne Gesellschaft kann auf ihre digitalen und medialen Alltagsbegleiter nicht mehr verzichten. Im Moment ist vieles an gegenwärtiger Entwicklung nur schwer greifbar: Was ist reale Digitalisierung, was ist Science-Fiction im Futurismuskleid? Zudem spielen hier selbstverständlich auch immer wieder politische und ökonomische Absichten eine Rolle, die für ein genaueres Verständnis der Digitalisierung hilfreich sind: Sollen Prozesse nur digitalisiert werden, um auf technischer Ebene wettbewerbsfähig zu bleiben oder sollte Digitalisierung nicht vielmehr als eine Art Werkzeug betrachtet werden? Auch hier zeigt sich, wie eng die Simulation und

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Tobias Holischka: CyberPlaces: Philosophische Annäherungen an den virtuellen Ort.

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Ebd., S. 32.

Bielefeld: transcript 2016. S. 32.

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deren Wahrnehmung immer auch mit dem jeweils aktuellen Zeitgeist verzahnt ist, was die palimpsestartige Struktur ihrer Darstellung noch verstärkt. Dies sorgt auch in Bezug auf die weitere Entwicklung der Simulation für inhaltliche Rückkopplungen theoretischer Art: Die Simulation dient als Folie, um den Phänomenbereich besser eingrenzen zu können und die Verbindung zur virtuellen Realität herzustellen. Das In-einer-anderen-Welt-Sein wird thematisch jeweils mit den zur Verfügung stehenden Techniken der jeweiligen Zeit beschrieben. Das geschieht sowohl real in Form von Medientheorien als auch auf fiktiver Ebene in Literatur und Film, bei welchen fast schon beiläufig mögliche gesellschaftliche Auswirkungen angedeutet werden. Die hier vorliegende Untersuchung hat anhand verschiedener Beispiele aus Literatur und Film gezeigt, dass es noch immer einer klar definierten Abgrenzung bedarf, um deutlich zu machen, wo die Wirklichkeit aufhört und eine Simulation beginnt. Diese Ausdifferenzierung muss für jede Anwendung neu verhandelt werden. Selbst in Computerspielen sind diese Grenzen fließend: In der Ausarbeitung zu Second Life wurde gezeigt, dass ein Nutzer sich in einer simulierten Wirklichkeit bewegen kann und bestimmte Aspekte dieser Simulation als real erlebt – besonders in Bezug auf Emotionen. Was in Zukunft eines genaueren Blicks bedarf, ist die Tatsache, dass viele dieser virtuellen Welten voraussichtlich nicht ewig bestehen werden. Viele wurden bereits abgeschaltet, weitere werden folgen, neue werden entwickelt werden. „[A]n expired video game world is gone for ever [sic!], and certainly in the form in which it was first experienced by its inhabitants”, erklärt Simon Parkin.10 Er bescheinigt virtuellen Welten zwar eine Art mündliche Tradition, “that preserved the tales of antiquity has re-emerged, capturing fragments of evidence and experience in blog posts, radio programmes and YouTube clips.”11 Diese befinden sich allerdings selbst häufig nur digital im Internet und können manipuliert oder gelöscht werden; die Quellen für eine wissenschaftliche Recherche sind schwer greifbar. Anders als ein alter Film, der immer wieder betrachtet werden kann, sind diese abgeschalteten virtuellen Welten, sofern es kein zugängliches Back-up gibt, für immer ausgelöscht. Auch Serverabstürze bedeuten ohne beständige Sicherung der Daten unter Umständen den Verlust einer virtuellen Welt. Und selbst ein Back-up hilft nichts, wenn keine Abspielgeräte oder Programme mehr zur Verfügung stehen, welche die darin abgespeicherten Daten korrekt darstellen können. Bereits in Snow Crash spielt der Verlust der verlässlichen Schriftlichkeit eine wichtige Rolle, indem versucht wird, alles zu digitalisieren. eXistenZ geht sogar

10 Simon Parkin: Where do Online Worlds go to die? The Guardian, 3. Dezember 2017. (letzter Zugriff: 31. Oktober 2018) 11 Ebd.

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noch einen Schritt weiter, denn hier sind zumindest innerhalb der Spielwelten sämtliche schriftliche Speichermedien verschwunden. Nur das Bild dient noch als Wissensträger. Das Grundprinzip, wie Literaturwissenschaftler und Medientheoretiker Walter Ong den Weg der Oralität zur Literalität beschrieben hat, scheint sich nun – zumindest in den hier behandelten Beispielen – zu verkehren: Von der Literalität führt der Weg hin zur Bilderkultur, die wiederum verstärkt mit Oralität gekoppelt ist. Da diese Wissenssysteme nun aber nicht mehr eindeutig sind, wird die Welt immer stärker fiktionalisiert, bis schließlich die Realität von der Simulation nicht mehr zu unterscheiden ist. Die Simulation wird damit zur Realität und zur Welterfahrung, da die Vergleichsmöglichkeiten innerhalb der Hyperrealität zunehmend schwinden. Dennoch nimmt jeder die Realität anders wahr: Jedes Medium – ob Buch, Film oder Computerspiel – konstruiert diesen Begriff auf eigene Weise, wodurch die Realität gewissermaßen multipel wird. Zeichen verweisen auf nichts mehr, ihre ursprüngliche Bedeutung wird obsolet. Das Internet ist dagegen ein Medium, das zwar aktueller und umfassender ist, gleichzeitig aber auch unverbindlicher: Es haben so viele Menschen gleichzeitig Zugriff darauf, die die Realität aus ihrem Erfahrungshorizont beschreiben, dass eine allgemeingültige Wahrnehmung der Realität gar nicht existieren kann. Daraus ergeben sich fatale Folgen für das Verhältnis von Zeichen (signifiant) und Bezeichnetem (signifié), denn je virtueller eine Welt wird, desto unsicherer werden ihre Zeichensysteme. Dieser Betrachtung folgend sind vor allem die religiösen Bezüge innerhalb der Texte von Bedeutung. Der Glaube an die Wirklichkeit scheint zum Anker zu werden, ohne feststellen zu können, ob die Realität noch existiert oder ob sich diese bereits in das referenzlose System der Hyperrealität verflüchtigt hat. Das Chaos wird damit scheinbar einer eigenen Ordnung unterworfen. Bezeichnend ist, dass sich die Technik in den dargestellten Fallstudien eigendynamisch entwickelt, dass sich eigene Welten bilden, die teilweise zur Handlungsohnmacht des Menschen führen: Was kann also in einer konstruierten Welt überhaupt noch als verbindlich angenommen werden, wenn nicht einmal, wie in Matrix und eXistenZ dargestellt, die Mitmenschen selbst handlungsfähig sind, sondern ebenfalls – möglicherweise sogar freiwillig – gelenkt werden? Der Frage nach der Simulation folgen auf der theoretischen Ebene immer auch Fragen nach der eigenen Identität, Macht, Wissen und welchen ontologischen Status die Welt hat, in der man sich bewegt. In der Realität kommen verstärkt auch die Fragen danach auf, wie die damit zusammenhängenden Technologien weiterentwickelt werden können. Bei der Untersuchung von virtuellen Welten in Literatur, Film und Computerspiel hat sich folglich herauskristallisiert: Die Konstruktion der Welten unterliegt einem technischen und kulturellen Wandel. Digitale beziehungsweise digitalisierte Gesellschaften bringen neben technologischen Inno-

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vationen, die sich bereits jetzt abzeichnen, auch strukturelle Umwälzungen mit sich, deren reale Konsequenzen bisher nur schwer absehbar sind. Die Wirklichkeit wird zunehmend vom Virtuellen überlagert und erweitert. Das visionäre Ende der Simulationsdarstellung, beispielsweise die hier vorgestellten Fallstudien aus dem Bereich Science-Fiction, Cyberpunk und Popkultur, imaginiert die perfekte virtuelle Realität als umfassende Simulation, „welche für den Menschen nicht mehr von der echten Realität zu unterscheiden ist.“12 In der Praxis ist die Nutzung virtueller Realitäten „seit längerem als Werkzeug für die Produktentwicklung in vielen Industriebranchen fest etabliert.“13 Durch diese Diskrepanz aus der Vorstellung bereits realisierter virtueller Welten, Realitäten und Simulationen hat das „Wissenschaftsgebiet der VR bisher noch keine einheitliche Definition von ‚[v]irtueller Realität‘ hervorgebracht.“14 Mit dem Aufkommen dieser neuen Technologien scheint auch der Cyberpunk in den Medien wieder präsenter zu werden: Nachdem der Realfilm Ghost in the Shell (2017) noch wie seine eigene Kopie wirkte, schafft es Blade Runner 2049 (2017), eine aktualisierte Betrachtung der Thematik darzustellen. Ready Player One (2018) greift ähnliche Motive auf. Die nun in mehrfacher Hinsicht wieder neu aufkommende Bearbeitung virtueller Welten und technologisch erweiterter Wahrnehmung ist die Fortführung des Postcyberpunks der späten 1990er Jahre. Sie wird nun popkulturell neu und anders verhandelt als während des medial turn. Die Gattung hat sich seither weiterentwickelt, der Postcyberpunk wurde mit Matrix und eXistenZ in das neue Jahrtausend getragen, ehe er nahezu vollständig verschwunden ist. Es zeichnet sich – wie bei der Hinleitung und Analyse der Computerspiele gezeigt – gegenwärtig eine neue technologische Wende ab, die die Gattung als Neocyberpunk wiederbelebt und die palimpsestartige Struktur der Simulation wieder neu betrachtet. Cyberpunk ist – wie auch die Science-Fiction – mit seinen Vorstellungen immer auch in seiner Entstehungszeit verhaftet, was immer die Gefahr birgt, dass die dargestellten Blickweisen schnell veralten, gleichzeitig aber auch eine differenzierte Diagnose und Analyse der Wahrnehmung von Technik, Simulation und virtuellen Welten zur Zeit der jeweiligen Entstehung erlauben. Die hier behandelten Filme Matrix und eXistenZ wirken aus heutiger Sicht veraltet, zeigen aber beide

12 Ralf Dörner, Bernhard Jung, Paul Grimm, Wolfgang Broll, Martin Göbel: Einleitung. In: Ralf Dörner, Wolfgang Broll, Paul Grimm, Bernhard Jung (Hg.): Virtual und Augmented Reality (VR/AR). Grundlagen und Methoden der Virtuellen und Augmentierten Realität. Heidelberg: Springer: 2013. S. 1-31, hier S. 12. 13 Ebd., S. 12. 14 Ebd., S. 12.

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deutlich, wie das Thema in den 1990er Jahren wahrgenommen wurde. eXistenZ wirkt rückblickend wie eine Art ideelle Vorwegnahme von Freyermuths These der hyperimmersiven Wende, denn dort sind bereits sämtliche Voraussetzungen der quartären Audiovisualität dargestellt, und der Film zeigt in seiner medialen Überformung unabhängig vom tatsächlichen dystopischen Potenzial auf, wohin sich virtuelle Welten in ihrer Wahrnehmung noch entwickeln könnten. Gleichzeitig wird hier – anders als bei Matrix – eine Art virtuelles Theaterspielen etabliert, das wiederum Verweise auf Murrays Hamlet on the Holodeck erlaubt. Interessant ist rückblickend aber auch, dass die beiden Romane Neuromancer und Snow Crash trotz ihrer früheren Entstehungszeit aus heutiger Perspektive besonders in Bezug auf digitale Vernetzungstendenzen realistischer und zeitgemäßer wirken als die beiden analysierten Filme. Die Gattung des Cyberpunks agiert in der Folge als zeitlich verortetes Phänomen, das als Antwort auf technologische Entwicklungen dient, teilweise aber – wie man am Beispiel der hyperimmersiven Wende erkennen kann – der Theorie vorausgreift. Simulation und virtuelle Welten spielen weiterhin eine Rolle und sind handlungsimmanent, wenn auch nicht mehr in der Weise im Vordergrund wie bei früheren Genrevertretern. Die Anthologie-Serie Black Mirror (seit 2011) fällt beispielsweise in diese Konvention, denn sie verhandelt genau diese Themen, allerdings anders, als dies in den 1990er Jahren noch der Fall war. Eine Verbindung zum Cyberpunk der 1980er Jahre stellt der bereits erwähnte Film Blade Runner 2049 dar, da er die Handlung des ersten Filmes von 1982 aufgreift, diese aber modernisiert und erweitert, indem dort auch aktuelle medientheoretische Strömungen verhandelt werden. Auch die Bearbeitung von Neil Gaimans Roman American Gods (2001) als Fernsehserie (seit 2017) greift Motive des modernen Cyberpunks auf, indem sie – wie bereits der Roman – Mythologie mit Folklore verbindet und um die neuen Gottheiten wie den technischen Jungen, der Computer und Internet beherrscht, und Media, die Göttin des Fernsehens, erweitert. Zudem sind mehrere Serien und Filme angekündigt oder bereits produziert, die diese Inhalte ebenfalls neu aufgreifen, darunter Westworld (seit 2016), Philip K. Dicks Electric Dreams (seit 2017) nach Kurzgeschichten von Philip K. Dick und Altered Carbon (seit 2018), das auf dem Roman Das Unsterblichkeitsprogramm (2002) von Richard Morgan basiert. Der Blick ist nicht mehr nur auf eine postindustrielle Zukunft gerichtet, wie man sie sich in den 1980er Jahren vorgestellt hat, sondern zeigt nun häufig ein differenzierteres Bild, das gegenwärtige Entwicklungen aufgreift und fiktional überformt. Heute steht die VR-Technologie auch im realen Leben immer mehr im Vordergrund, was neue wissenschaftliche und popkulturelle Betrachtungen einfordert und dadurch auch ein Wiederaufleben des Cyberpunks als Neocyberpunk begünstigt. Auch musikalisch wird dies aufgegriffen und

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als stilistisches Element eingesetzt, wie beispielsweise die britische Band Muse mit ihrem 2018 erschienen Album Simulation Theory zeigt. Sowohl die Musikvideos als auch die Texte orientieren sich an einer modernisierten Version des Cyberpunks der 1980er Jahre. Die Fragen sind allerdings dieselben geblieben: Was ist real? Oder spielt das in der heutigen medialisierten Welt letztlich wirklich keine Rolle mehr? Die Geschichten sind anders, die dort gestellten Fragen bleiben aber auch vor dem Hintergrund der Digitalisierung dieselben. Die Wissenskultur und damit verbunden auch die Wahrnehmungsstruktur verändert sich in dieser stark medialisierten Umwelt, was sich in neuartigen Wahrnehmungsmustern und Wirklichkeitsentwürfen manifestiert und letztlich aus der Medien- und Simulationskultur heraus zu einer Art Konvergenzkultur führt, da insbesondere Simulation und Virtualität nicht auf ein bestimmtes Medium begrenzt sind. Diese Konvergenz verändert als Prozess und Vorgang die Art und Weise, wie Medien Inhalte darstellen und wie Medien als solche genutzt und konsumiert werden, wodurch sich auch die Wahrnehmung des physischen Raums subjektiv verändert. Bei dieser von Algorithmen durchzogenen Gegenwart stellt sich folglich auch die Frage: „Wie wird Realität in Form von Daten in eine berechenbare Repräsentation übersetzt, und welche Ausschnitte von Realität werden vernachlässigt?“15 Diese Arbeit hat gezeigt, auf welche Aspekte in der Vergangenheit mehr Gewicht gelegt wurde und inwiefern sich diese Einschätzung im Verlauf der Zeit teilweise marginal, teilweise aber auch enorm verschoben hat. Die Simulation als solche ist – auch in Zusammenhang mit Algorithmen – ein dynamischer Prozess. Dies alles führt letztlich zu einer Art Partizipationskultur, die neben der medialen Konvergenz auch eine Divergenz in Form der digitalen Kluft zur Folge hat, indem Medien als kulturelles System betrachtet werden, zu dem nicht alle Bevölkerungsschichten dieselben Zugangschancen haben, was Stephenson in Snow Crash unter anderem mit den verschiedenen Avatardarstellungen innerhalb des Metaversums herausgearbeitet hat. Matrix hingegen stellt die gelebte Konvergenz dar, die durch transmediales Storytelling innerhalb und außerhalb der dargestellten Simulation erzählt wird. Generell zeigen die hier betrachteten Computerspiele Second Life und World of Warcraft auf, welches Potenzial wirkliche virtuelle Welten in sich tragen. Beide demonstrieren auf unterschiedliche Art und Weise, wie Onlineplattformen mit den heutigen Mitteln realisiert werden und welche Voraussetzungen erfüllt sein sollten, um das Interesse der Spieler langfristig halten zu können, wobei auch dies – wie man an Second Life erkennen kann – nicht zwangsweise zum Erfolg führt. World of Warcraft hingegen entwickelt sich seit Jahren

15 Thomas Christian Bächle: Digitales Wissen, Daten und Überwachung. Hamburg: Junius 2016. S. 16.

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beständig weiter und baut die eigene virtuelle Umgebung beständig aus. Gleichzeitig demonstrieren aber beide hier durchgeführte Fallstudien, dass Kommunikation auch im (Spiel-)Verlauf immer mehr in den Vordergrund tritt, und dies den virtuellen Alltag bestimmt. Auf moderne Mixed-Media-Formen wird verzichtet, jedoch zeigt Second Life, obwohl die Plattform als gescheitert gilt, wohin Digitalisierung möglicherweise führen könnte, falls sich ähnliche Konzepte wie beispielsweise Sansar in Zukunft durchsetzen, die verstärkt 3D-Technologie integrieren, und der wirtschaftliche Faktor nicht vernachlässigt wird. Die Simulation heute ist trotz all ihrer technischen Beschränkungen deutlich umfassender, akzeptierter und damit auch alltäglicher, als sie es in den späten 1990er Jahren war. In ihren eher theoretisch-literarisch-theoretisierenden Darstellungen und Betrachtungen der 1980er bis in die frühen 2000er Jahre wandeln sich die Simulation und damit verbunden auch virtuelle Realitäten momentan erneut. Felix Stalder beschreibt diese Vervielfältigung der kulturellen Möglichkeiten als neue Kultur der Digitalität.16 Christoph Kucklich bezeichnet dies auch als granulare Gesellschaft, in der das Digitale die Wirklichkeit abzulösen beginnt. Er versteht unter der Granularität, „das Maß der Auflösung, die Präzision von Daten“, denn „[d]urch die Digitalisierung ziehen wir alle Schritt für Schritt in die feinauflösende Gesellschaft um.“17 Mit ihr wird „alles […] feinteiliger, höher auflösend, durchdringlicher erfasst, analysiert und bewertet denn je.“18 Auch mit den mobilen Endgeräten wird die Virtualität in Form von virtuellen, augmentierten und gemischten Realitäten ein immer wichtigerer Bestandteil des Alltags, denn die Vernetzung hat längst begonnen: Die postmoderne Gesellschaft ist auch eine digitale Gesellschaft, die bewusst im Virtuellen agiert, wodurch die Lücke zwischen onund offline, virtuell und real immer kleiner wird. Der digitale Wandel macht sich die Simulation und sämtliche zugehörigen Phänomene erneut zu eigen und verankert sie im Alltag. Dies bringt eine semantische Neubestimmung des Begriffes mit sich, denn die dystopischer orientierte Bedeutungsebene, die bis zu Beginn der 2000er Jahre noch im Vordergrund stand, ist – zumindest in gewissen Bereichen – inzwischen deutlich positiver konnotiert. Auch innerhalb des modernen Neocyberpunk ist diese Veränderung zu spüren, indem dort diese Themen zwar weiter verhandelt werden, dies aber nun auf einer anderen inhaltlich-/medientheoretischen Ebene stattfindet. Die bisherigen Fallstudien zeigen, wie in den 1990er Jahren bis hin zu den frühen 2000er Jahren mit

16 Vgl. Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2016. 17 Christoph Kucklick: Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst. Ullstein: Berlin 2016. S. 10. 18 Ebd., S. 10.

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Virtualität in abstrakt-literarisch-filmisch-theoretischer Form umgegangen wurde und wie sich tatsächliche virtuelle Welten ab etwa Mitte der 2000er Jahre immer mehr etabliert haben, wenn auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen, die vielleicht nicht alle umgesetzt werden konnten, dafür aber andere Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Technologie aufgezeigt haben. Das Phänomen hinter der Digitalisierung ist gegenwärtig nur schwer greifbar, manchmal ist es selbst nur die Simulation einer Veränderung, eine Art Mimikry, um sich dem Zeitgeist anzupassen, ohne wirklich etwas zu verändern.19 Wissen wird digitalisiert, „Medien sind [in ihrer Masse] nicht neutral[, aber sie haben] immer Anteil daran, Objekte des Wissens herauszustellen.“20 Medientechnologien führen „zwangsläufig auch zu neuen Möglichkeiten des Wissens und der Erkenntnis“; wobei gegenwärtig auch die „digitale[n] Prozesse der Herstellung und Repräsentation von Wissen in enger Verbindung mit tradierten Darstellungsformen“ stehen.21 Das zeigt sich, wie auch diese Arbeit bereits ausführlich demonstriert hat, an Umgang, Wahrnehmung und Darstellung der Simulation, die hier gleichzeitig die Position eines Zeitgeistphänomens zwischen dekonstruierter Wirklichkeit und sich stetig verändernder Weltwahrnehmung einnimmt und damit elementarer Bestandteil der postmodernen Gesellschaft geworden ist. Mit dem Aufkommen neuer VR-Technologien im Alltag, aber auch schwachen künstlichen Intelligenzen und maschinellem Lernen, bei dem ein künstliches System anhand von Beispielen lernt, Wissen aus dieser Lernerfahrung schöpft und so eine neue Dynamik durch Mustererkennung schafft, findet der Cyberpunk als Neocyberpunk wieder einen neuen Nährboden. Aber auch die Simulation steht wieder mehr im Mittelpunkt – sowohl in Form von Alltagstechnologien als auch als Element fantastischer (multimedialer) Erzählungen. Die technologisierte Welt verändert sich weiter, die virtuelle Realität ist, so Baudrillard, das „nächste[] Stadium der Simulation.“22 Das Digitale wird immer mehr zu einem wichtigen Teil des Alltags und beeinflusst damit die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Der nun aufkommende Neocyberpunk reflektiert diese neuen Entwicklungen des homo digitalis bereits in ihren Anfängen: Die Wüsten der elektronischen Nacht können nun neu entdeckt werden.

19 Grundsätzlich kann Digitalisierung im ersten Moment jedoch alles beinhalten. Dies reicht von der interaktiven Website bis zu komplett neu strukturierten Produktionsprozessen in Fabriken, die erst simuliert werden, ehe sie tatsächlich umgesetzt werden können. 20 Bächle: Digitales Wissen, Daten und Überwachung, S. 49. 21 Ebd., S. 49. 22 Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen: Ein Essay über extreme Phänomene. Berlin: Merve 1992. S. 37.

Dank We are caged in simulations. Muse1

Bedanken möchte ich mich besonders bei meinen beiden Gutachtern Prof. Dr. Dorothee Kimmich und Prof. Dr. Klaus Sachs-Hombach sowie den beiden Kolloquien und deren Teilnehmern für spannende Diskussionen, die immer wieder einen neuen und unverstellten Blick auf mein Forschungsthema zugelassen haben. Hanna Müller und Rahel Zurfluh danke ich für all die Gespräche und Denkanstöße, die mich das Geschriebene immer wieder hinterfragen lassen haben, was mir neue gedankliche Zusammenhänge eröffnet hat. Caroline Ring, Dr. Anika Reichwald, Carsten Girke, Danielle von der Brelie, Jörg Goldmann, Christof Häberle, Sylvie Frei, Dr. Raphael Zähringer, Julia Becker, Neele Thäsler, Waltraud Volkmer, Oliver Graute und Solveig Tenckhoff danke ich für ihre Anmerkungen und Ratschläge, die mich auf neue Ideen gebracht oder mir zusätzliche Betrachtungsweisen des Themas ermöglicht haben. Außerdem möchte ich Claudia Hahn für ihr Korrektorat danken und Jochen Volkmer für die schöne Covergestaltung dieses Buches sowie Gero Wierichs von transcript. Mein größter Dank gilt aber meiner Familie: Steffen Volkmer verdanke ich unzählbare Anregungen, Inspiration, Mut, Geduld und den größten Rückhalt, den man sich wünschen kann. Gleiches gilt für meine Eltern Christine und Helmut Haar, meinen Bruder Benjamin und seine Frau Melanie, die mich in allem immer unterstützt haben. Hervorzuheben ist selbstverständlich auch der Herr Hund, der mir immer mal wieder gezeigt hat, dass ein Spaziergang an der frischen Luft den Kopf freimacht und zu neuen Gedanken führt, indem er sich einfach auf meine Notizen gesetzt und mich auffordernd angeschaut hat, wenn es ihm nicht schnell genug gegangen ist. Eine Angewohnheit, die das Hundekind inzwischen übrigens anstandslos übernommen hat.

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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke

Wolfsmänner Zur Geschichte einer schwierigen Figur März 2018, 120 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4271-1 E-Book PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4271-5 EPUB: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4271-1

Götz Großklaus

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Elisabeth Bronfen

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Literaturwissenschaft Yves Bizeul, Stephanie Wodianka (Hg.)

Mythos und Tabula rasa Narrationen und Denkformen der totalen Auslöschung und des absoluten Neuanfangs März 2018, 178 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3984-1 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3984-5

Michael Gamper, Ruth Mayer (Hg.)

Kurz & Knapp Zur Mediengeschichte kleiner Formen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2017, 398 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3556-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3556-4

Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 8. Jahrgang, 2017, Heft 2: Vielfältige Konzepte – Konzepte der Vielfalt. Zur Theorie von Interkulturalität 2017, 204 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-3818-9 E-Book: 12,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3818-3

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