Topographien der Adoleszenz: Die Bonner Republik als Erinnerungsraum in der Gegenwartsliteratur 9783839461327

Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wächst das allgemeine und popkulturelle Interesse an der vergangenen

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Topographien der Adoleszenz: Die Bonner Republik als Erinnerungsraum in der Gegenwartsliteratur
 9783839461327

Table of contents :
Cover
Inhalt
Dank
Einleitung
1. Theorie
1.1 Adoleszenz
1.2 Raumtheorie als literaturwissenschaftliches Analyseinstrument
1.3 Der Erinnerungsraum – zwischen Wahrheit und Fiktion
2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz
2.1 Körper und Adoleszenz
2.2 Lösung von den Wurzeln
2.2.1 »Ich will nicht werden, was mein Alter ist«
2.2.2 »Meine Jugend, jetzt wirklich, war bloß ein Verhör«
2.3 On the Road – Reisen durch die Bonner Republik und Europa
2.4 Transit Westberlin
2.5 Der Wehrdienst – Rudiment der Krisenheterotopie
2.6 Zwischenfazit
3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt
3.1 »Berlin, alte Hure mit Herz«
3.2 Gefangen im Alltag
3.3 Home is where your heart is
3.4 Die Metropole als Verführerin
3.5 Zwischenfazit
4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited
4.1 Heimat, das ist die Provinz
4.2 Sehnsuchtsorte der Kindheit
4.3 Rückkehr zu den Eltern
4.4 Zwischenfazit
5. Autokommunikation und Bonner Republik
Siglenverzeichnis
Bibliographie
Weitere Primärliteratur
Forschungsliteratur

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Lydia Heuser Topographien der Adoleszenz

Gegenwartsliteratur  | Band 13

Lydia Heuser, geb. 1986, arbeitet als Journalistin.

Lydia Heuser

Topographien der Adoleszenz Die Bonner Republik als Erinnerungsraum in der Gegenwartsliteratur

Die Publikation wurde als Dissertation unter dem Titel »Topographie der Adoleszenz ‒ der Erinnerungsraum Bonner Republik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf eingereicht.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6132-3 PDF-ISBN 978-3-8394-6132-7 https://doi.org/10.14361/9783839461327 Buchreihen-ISSN: 2701-9470 Buchreihen-eISSN: 2703-0474 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Dank ..................................................................................... 7 Einleitung ................................................................................ 9 1. 1.1 1.2 1.3

Theorie ............................................................................ 23 Adoleszenz ......................................................................... 23 Raumtheorie als literaturwissenschaftliches Analyseinstrument ..................... 33 Der Erinnerungsraum – zwischen Wahrheit und Fiktion .............................. 47

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz ........................................ 69 2.1 Körper und Adoleszenz ............................................................. 69 2.2 Lösung von den Wurzeln ........................................................... 105 2.2.1 »Ich will nicht werden, was mein Alter ist« .................................. 106 2.2.2 »Meine Jugend, jetzt wirklich, war bloß ein Verhör« .......................... 118 2.3 On the Road – Reisen durch die Bonner Republik und Europa........................ 125 2.4 Transit Westberlin ................................................................. 138 2.5 Der Wehrdienst – Rudiment der Krisenheterotopie .................................. 143 2.6 Zwischenfazit ..................................................................... 163 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt ................ 169 »Berlin, alte Hure mit Herz«.........................................................170 Gefangen im Alltag ................................................................ 178 Home is where your heart is ....................................................... 205 Die Metropole als Verführerin ...................................................... 227 Zwischenfazit ..................................................................... 234

4. 4.1 4.2 4.3 4.4

Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited ........................................... 239 Heimat, das ist die Provinz......................................................... 239 Sehnsuchtsorte der Kindheit ....................................................... 244 Rückkehr zu den Eltern ............................................................ 257 Zwischenfazit ..................................................................... 272

5.

Autokommunikation und Bonner Republik ........................................ 275

Siglenverzeichnis ...................................................................... 283 Bibliographie ........................................................................... 285 Weitere Primärliteratur .................................................................. 285 Forschungsliteratur ..................................................................... 287

Dank

Grundlage dieses Buches ist meine Dissertation, die im August 2019 an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf angenommen wurde. Stellenweise wurde sie gekürzt und überarbeitet. Mein Dank gilt vor allem Professor Volker C. Dörr, der maßgeblich zum Gelingen meines Promotionsvorhabens beigetragen hat. Als mein Doktorvater hat er mir gerade zu Beginn meiner Promotion geholfen, aus den vielen Ideenschnipsel ein sinnvolles Ganzes zu bilden, das schließlich in den Arbeitstitel »Topographie der Adoleszenz – der Erinnerungsraum Bonner Republik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« mündete. Volker C. Dörr hat mir die Martin-Schlosser-Chronik empfohlen und angeregt, diese Texte von Gerhard Henschel in mein Textkorpus aufzunehmen. Dass es schließlich acht Bände werden würden, war damals noch nicht abzusehen. Ihre Empfehlung jedenfalls hat nicht nur meine Dissertation bereichert, sondern auch für die eine oder andere heitere Lektürestunde gesorgt. Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung, dafür, dass Sie mir freie Hand gelassen haben, und dass sie sich immer die Zeit genommen haben, wenn ich Gesprächsbedarf hatte. Ohne den Vorschlag meines Doktorvaters wäre ich wohl nie zu einer Lesung von Gerhard Henschel ins Literaturhaus Dortmund gegangen. Dort lernte ich den Autor persönlich kennen. Ab diesem Zeitpunkt – im November 2015 – tauschte ich mich in losen Abständen mit dem Autor der Martin-Schlosser-Chronik aus. Dass Sie immer ein offenes Ohr hatten, alle meine Fragen beantwortet haben, dafür danke ich Ihnen vielmals, Gerhard Henschel. Neben Professor Volker C. Dörr hat vor allem meine Zweitgutachterin, Professorin Sibylle Schönborn, meine Forschungsinteressen beeinflusst und so wichtige Impulse für meine Studie zum Erinnerungsraum Bonner Republik gegeben. Meine gesamte Studienzeit hindurch besuchte ich bei ihr spannende Seminare und Vorlesungen, zum Beispiel zum Georgien-Bild in der deutschsprachigen Literatur. Dank Sibylle Schönborn erfuhr ich erst rein literarisch von diesem Land zwischen Kleinem und Großen Kaukasus. Als Promovierende ermöglichte sie mir dann, als Tutorin an der Staatlichen Iwane-Dschawachischwili-Universität Tbilissi zu unterrichten und erste Untersuchungsergebnisse einem internationalen Doktoranden-

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Topographien der Adoleszenz

kolloquium vorzustellen. Herzlichen Dank, Sibylle Schönborn. Ohne Sie hätte ich diese wertvollen Erfahrungen in Tbilissi nicht sammeln können. In Georgien lernte ich auch Annika Gilgen kennen. Ihr gilt ebenfalls mein Dank für ihre Unterstützung, wenn auch aus weiter Ferne. Nino Ivanishvili, dir danke ich ebenfalls. Gemeinsam haben wir die wöchentlichen Kolloquiumssitzungen besucht. Ich werde die gemeinsame Zeit, unsere Diskussionen und Abende in guter Erinnerung behalten. Den letzten Schliff meiner Dissertation habe ich Carolin Tönnis zu verdanken. Sie hat mit ihrem Sprachgefühl und ihrer Expertise für Grammatik, Semantik und Rechtschreibung die Rohfassung meiner Dissertation deutlich verbessert. Lieben Dank, Caro! Ich kann nicht alle Menschen erwähnen, die mich auf diesem jahrelangen Weg begleitet und unterstützt haben, aber meinen Eltern will ich an dieser Stelle noch einen besonderen Dank aussprechen. Evelyn und Peter haben beide auf ihre eigene Weise den Grundstein dafür gelegt, dass ich Germanistik studiert habe. Sie haben meine Neugier für Sprache und meine Liebe zum geschriebenen Wort, zu Geschichten geweckt. Ihre Geschichten und ihre Geschichte haben dazu beigetragen, dass ich mich letztlich mit dem Erinnerungsraum Bonner Republik wissenschaftlich auseinandersetzen wollte. Danke für alles!

Einleitung

Ich wurde hier geboren, zwischen Torf und Grog Zwischen Eigenheim und Minirock Zwischen Schweinedisco, über Dörfer Fahrrad fahren Mit dem ständigen Wind, der von vorne kam. Ich habe mit Freunden gegen Zäune gepisst. Ich schwöre ein Gefühl, das du niemals vergisst. Wir standen auf dem Deich, wenn der Herbststurm kam 100 Kilometer bis zur nächsten Autobahn. Hier komm’ ich her Hier bin ich geboren. In diesem Ausschnitt des Songtexts »Lat:53.7 Lon:9.11667«1 von Thees Uhlmann versinnbildlicht sich das Erkenntnisinteresse dieser Studie. Das Lied erzählt von der Rückkehr in die Heimat, den Erinnerungen an die Jugend und den Eigenheiten des Dorflebens. Das lyrische Ich beschreibt seinen Herkunftsort. Weit entfernt von der Autobahn, in der norddeutschen Provinz liegt dieses Dorf. Geprägt ist es von meteorologischen Einflüssen, wie dem Wind und dem Herbststurm, aber auch von persönlichen Erfahrungen. Erlebnisse der Kindheit und Jugend haben sich als Erinnerungen an diesen Ort gebunden. Wer die titelgebenden Koordinaten auf einer Karte sucht, findet das Dorf Hemmoor in Niedersachsen, den Geburtsort Thees Uhlmanns. 1974 – das Geburtsjahr des Sängers – hatte das Dorf etwa 7700 Einwohner. So nüchtern sich die Koordinaten lesen lassen, so emotional belastet ist der Ort, für den sie stehen, aus der Perspektive des lyrischen Ichs. In dieser Studie werden Romane in den Blick genommen, die – wie das Lied »Lat:53.7 Lon:9.11667« – den Erinnerungsraum Bonner Republik aus der Perspektive von Heranwachsenden beschreiben. Wenngleich es zahlreiche Romane gibt, die die Bonner Republik als erzählte Welt für heranwachsende Protagonisten wählen, schenkt die Forschung diesem literarischen Themenkomplex bisher nur wenig Aufmerksamkeit. Der Erinnerungsraum DDR hingegen ist als literarisch inszenierter

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Aus dem Album »Thees Uhlmann« (Grand Hotel van Cleef 2011).

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Topographien der Adoleszenz

Raum Analyseobjekt der Literaturwissenschaft.2 Unabhängig davon in welcher Region der ehemaligen DDR die Romane spielen, werden sie in der Regel der Wendeliteratur bzw. DDR-Literatur zugeordnet, vorausgesetzt sie thematisieren das Leben in der DDR auf die ein oder andere Weise.3 Elke Brüns konstatiert in ihrer Habilitationsschrift, in der sie sich mit der Narrativierung der »Wende« befasst, dass seit der Wiedervereinigung im öffentlichen Diskurs bis auf vereinzelte Stimmen nur über den Untergang der DDR gesprochen worden sei. In dieser [der Wunderwelt des Kapitalismus] scheint sich nicht viel verändert zu haben und so wird auch das Pendant zur inkriminierten Ostalgie – die Westalgie – erst allmählich wahrgenommen. Tatsächlich ist aber nicht nur die DDR untergegangen, sondern auch die alte BRD […].4 Die »alte BRD«, die Bonner Republik ist Schauplatz und Erinnerungsraum der Romane des Textkorpus. Die Autoren dieser Texte sind alle in den 1960er-Jahren geboren und schreiben über das Aufwachsen in Westdeutschland und Westberlin erst nach der Wiedervereinigung. Sven Regeners (*1961) Debütroman und dessen Verfilmung »Herr Lehmann« waren kommerziell überaus erfolgreich und die Kritiker lobten seine Geschichte über den 29-jährigen Frank Lehmann, der im Kreuzberger Kneipenmilieu beinahe den Fall der Mauer verpasst. »Kein Zweifel, daß hier ein glänzender Wenderoman aus westlicher Sicht vorliegt«5 , so Tilman Spreckelsen in 2

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Jüngst untersuchte Katharina Grabbe in ihrer Dissertation »Deutschland – Image und Imaginäres« die sogenannte »Ostalgie-Welle«, die die Populärkultur in den 2000er-Jahren erfasste, und spürte deren Bedeutung für das Bild des gegenwärtigen Images der BRD nach. Vgl. Grabbe, Katharina (2014): Deutschland – Image und Imaginäres, S. 127-153. Mit dem Deutschen Buchpreis 2011 ausgezeichnet wurde zum Beispiel Eugen Runges »In Zeiten des abnehmenden Lichts«. Die Begründung der Jury lautet: »Eugen Runge spiegelt ostdeutsche Geschichte in einem Familienroman. Es gelingt ihm, die Erfahrungen von vier Generationen über fünfzig Jahre hinweg in einer dramaturgisch raffinierten Komposition zu bändigen. Sein Buch erzählt von der Utopie des Sozialismus, dem Preis, den sie dem Einzelnen abverlangt, und ihrem allmählichen Verlöschen.« [online: https://www.deutscher-buchpr eis.de/archiv/jahr/2011/]. Weitere Romane, die sich mit der sozialistischen Vergangenheit befassen, sind: Michael Kumpfmüller: »Hampels Fluchten« (2000), Uwe Tellkamp: »Der Turm« (Deutscher Buchpreis 2008), Ingo Schulze: »Adam und Evelyn« (Shortlist 2008), Marcel Beyer: »Kaltenburg« (Longlist 2008), Kathrin Schmidt: »Du stirbst nicht« (Deutscher Buchpreis 2009), Peter Wawerzinek: »Rabenliebe« (Shortlist 2010), Judith Zander: »Dinge, die wir heute sagten« (Shortlist 2010), Angelika Klüssendorf: »Das Mädchen« (Shortlist 2011) und »April« (Shortlist 2013), Marion Poschmann: »Die Sonnenposition« (Shortlist 2013), Lutz Seiler: »Kruso« (Deutscher Buchpreis 2014), Peter Richter: »89/90« (Longlist 2015). Brüns, Elke (2006): Nach dem Mauerfall, S. 240. Spreckelsen, Tilman: Verwirrt, träge und verliebt, Frankfurter Allgemeine Zeitung am 11.08.2001, online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/r ezension-belletristik-verwirrt-traege-und-verliebt-133082.html [Stand: 17.04.2018].

Einleitung

der »FAZ«. Diesem Roman wurde ebenso das Etikett »Berlinroman« zuteil.6 Dass der Rezensent hier ausdrücklich von einem westdeutschen Wenderoman spricht, betont die in der Semantik des Begriffs liegende ostdeutsche Perspektive. So definiert der Schriftsteller Ingo Schulze, wenngleich er das Wort »Wende […] blöd« finde, die Gattung »Wenderoman« wie folgt: »Das ist ein Roman, der den Wechsel von Abhängigkeiten, von Freiheiten zu beschreiben versucht, der um 89/90 stattfand, wo sich alles geändert hat im Osten.«7 Der Dresdner Schriftsteller weist also nur solche Romane die Bezeichnung »Wendeliteratur« zu, die aus der Perspektive von DDR-Bürgern über die Zeit vor und nach der »Wende« erzählen. Mit dieser Begriffsbestimmung ist er nicht allein. »Wendeliteratur« ist unweigerlich verbunden mit dem Erinnerungsraum DDR.8 Die DDR gilt als das Vergangene, deren Bürger als Suchende und Orientierungslose in der neuen, unbekannten, kapitalistischen Bundesrepublik ein neues Leben beginnen müssen. Dem Leser wird die DDR mal als Sehnsuchtsort, mal als Imagination oder als Überwachungsstaat verkauft. Der »Wenderoman« ist eng verknüpft mit dem Begriff der »Wendeliteratur« und ebenso problematisch in seiner Verwendung. Die Zuschreibung »Berlinroman« trifft hingegen auf ost-, west- und gesamtdeutsche Erzählungen zu. Die Romangattung hat seit der Wiedervereinigung neuen Aufschwung erfahren und schließt an die literarische Moderne und ihre Metropolenliteratur an. Frank Schirrmachers einen Monat vor dem Fall der Mauer geäußerte Behauptung, es habe seit Döblins »Berlin Alexanderplatz« keinen großen Berlinroman mehr gegeben9 , geistert als Hypothese auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach der »Wende« noch durch das Feuilleton. Der »FAZ«-Feuilletonchef warf dem Literaturbetrieb der 1980er-Jahre vor, Menschen zum Schreiben und Veröffentlichen zu drängen. Die vielen Debütromane würden sich gleichen wie ein Ei dem anderen. »Es« schreibe, fasste Schirrmacher das Problem prägnant zusammen.10 »Niemand vermag zu sagen, wieso aus unseren Städten keine Geschich-

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Vgl. Baumann, Marc: Herr Lehmann, SZ Magazin, Heft 37/2008, 12.09.2008, online: https://s z-magazin.sueddeutsche.de/literatur/herr-lehmann-75708 [Stand: 17.04.2018]. Schulze, Ingo zitiert nach Wagner, Sabrina: Der Wenderoman im Wandel der Zeiten, im Tagesspiegel, 17.10.2015, online: https://www.tagesspiegel.de/politik/25-jahre-deutscheeinheit-auch-in-der-literatur-der-wenderoman-im-wandel-der-zeiten/12461422.html [Stand: 28.02.2019]. So wird Schulzes Roman »Neue Leben« 2006 für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Er spiele im Januar 1990 in der ostdeutschen Provinz und sei der »bisher einzige[] gelungene[] Wenderoman«, so die Fachjury. Online: https://www.deutscher-buchpreis.de/ar chiv/jahr/2006/ [Stand: 01.03.2019]. Schirrmacher, Frank: Idyllen in der Wüste oder das Versagen vor der Metropole, Überlebenstechniken der jungen deutschen Literatur am Ende der achtziger Jahre, in der FAZ am 10.10.1989. Wiederabdruck in: Maulhelden und Königskinder, S. 24. Ebenda, S. 18.

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Topographien der Adoleszenz

ten mehr kommen. […] Einsiedler, die in einem kargen und unfruchtbaren Idyll leben – das ist das Bild unserer Gegenwartsliteratur.«11 Heute verspricht das Label »Berlinroman« Verlagen hohe Verkaufszahlen, denn: »Das Gütezeichen bürgt für Aufbruch, große Welt und Hipness.«12 Dass es sich hierbei also in erster Linie um einen Marketing-Coup handelt, liegt auf der Hand. Die Stadt Berlin als ehemals geteilte Stadt, die als literarische Kulisse der DDR und der alten BRD fungieren kann, ist in der Gegenwartsliteratur seit der Wiedervereinigung ein beliebter Handlungsraum. Susanne Ledanff versuchte sich Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts an einem »Standardwerk zur neueren Geschichte der Berlinliteratur« und wertete dafür ein umfangreiches Textkorpus von »[u]ngefähr 140 Romane[n] oder längere[n] Erzählungen« sowie »40 Kurzgeschichten bzw. Erzählbände oder literarische[n] Anthologien« aus, die nach dem Mauerfall veröffentlicht wurden. Im Ergebnis kommt sie schließlich zu einer Fülle neuer Subkategorien, die die Metropolenliteratur Berlins klassifizieren sollen, sich letztlich jedoch nicht als wissenschaftliche Analysekategorien durchsetzen konnten.13 Die Zuschreibungen »Wende- und Berlinroman« schüren konkrete Erwartungen. Die Wende muss thematisiert und der Handlungsraum Berlin ein zwingender Faktor der Diegese sein. Der Protagonist Frank Lehmann lebt und arbeitet in Kreuzberg, und zwar im Teil SO36. Seinen Bewegungsradius weitet er nur äußerst ungern über die (imaginären) Grenzen dieses enggefassten Territoriums aus. Die Geschichte Frank Lehmanns baute Regener zu einer Trilogie aus, die dem Lesepublikum Aufschluss über Franks Herkunft (»Neue Vahr Süd«) und seinen Weg nach Kreuzberg (»Der kleine Bruder«) gibt. Bremen mit seiner Planstadt, der Neuen Vahr Süd, und dem von Studenten und Subkulturen beliebten Ostertorviertel sowie die Fahrt über die Transitstrecke nach Westberlin bilden in Regeners Romanen einen Erinnerungsraum, der die temporalen Raumsemantiken der erzählten Zeit (1980 bis 1989) offenbart. Zu untersuchen, wie die heranwachsenden und erinnernden Protagonisten die Bonner Republik wahrnehmen, stellt ein Forschungsdesiderat dar. Denn der Handlungsraum in den Texten ist kein mimetisches Abbild der historischen Bonner Republik. Literarische Texte repräsentieren nicht allein, sie können vielmehr Brüche

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Ebenda, S. 25. Rüdenauer, Ulrich: Der »Berlinroman« – Forderung, Fluch und Versprechen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.07.2001, online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/literatur-derberlinroman-forderung-fluch-und-versprechen-129544.html [Stand: 16.02.2017]. So unterscheidet sie zwischen »Ostberliner Wenderoman«, »Berliner Wenderoman«, »Berliner Gesellschaftsroman«, »Berliner Surreapolis« und »Atlantis Ost-Westberlin« (S. 17), deren westlicher Teil eine »durchgehende Verfügbarkeit des Westberliner Inselmythos als nostalgisches Erinnerungsobjekt« (S. 617) kennzeichne. Vgl. Ledanff, Susanne (2009): Hauptstadtphantasien, S. 9 und 22.

Einleitung

im herrschenden Diskurs aufzeigen und hegemoniale Ordnungsstrukturen unterlaufen. Das Textkorpus dieser Studie konturiert das Bild der Bonner Republik mit und gestaltet die Vorstellung dieses Erinnerungsraums. Die Leitfrage der vorliegenden Untersuchung lautet folglich: Wie wird der Erinnerungsraum Bonner Republik in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus der Perspektive der adoleszenten Protagonisten dargestellt? Die vorliegende Studie zieht für eine entsprechende Analyse Jurij Lotmans semiotisches Konzept der Semiosphäre heran, mit dem die Struktur der Texte analysiert wird und so Rückschlüsse auf die Kultur, in welcher die Texte produziert und rezipiert werden, gezogen werden. Im Code der Autokommunikation gelesen, sind Texte und kulturelle Produkte – nach Lotmans Verständnis – der Spiegel eines Kollektivs. In literarischen Texten, die selbst Produkt der Semiosphäre sind, wird eine Semiosphäre produziert, die, je nachdem, ob der Text in Zentrum oder Peripherie entstanden ist, die herrschende Ordnung bestätigt oder subversiv unterläuft. Das Textkorpus verhandelt die Zeit der Zweistaatlichkeit Deutschlands aus der Perspektive eines erinnerten oder erlebenden heranwachsenden Protagonisten aus der Bonner Republik. Die Romane sind jedoch nach der Wiedervereinigung verfasst und veröffentlicht worden, weshalb die »nachträgliche[] Bedeutungszuweisung und rückwärtsgewandte[] Projektion«14 im Subtext mitschwingt. Die Protagonisten sind in den 1960er-Jahren geboren und wachsen somit in der Zeit des Kalten Krieges auf, ohne je selbst (konkrete) Kriegserfahrungen gemacht zu haben. Die erzählte Zeit ist folglich noch in den ideologischen Oppositionen des Kalten Krieges verhaftet. Das Textkorpus dieser Studie besteht nicht allein aus der Romantrilogie: »Herr Lehmann« (2001), »Neue Vahr Süd« (2004), »Der kleine Bruder« (2008). Weitere Autoren haben seit der Jahrtausendwende ihr eigenes Aufwachsen in der Bonner Republik als Inspiration für ihre Texte herangezogen. So erschreibt Gerhard Henschel (*1962) in autofiktionaler Manier sein eigenes Leben. Seine Martin-Schlosser-Chronik umfasst zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Studie acht Bände. Rocko Schamonis (*1966) Roman »Dorfpunks« (2004) operiert ebenfalls mit einer autofiktionalen Schreibweise. Der älteste Text des Samples stammt von Ralf Bönt (*1963). »Icks« (1999)15 handelt von einem Besuch der Eltern im heimatlichen Bielefeld. Der titelgebende Protagonist erinnert sich während eines Flugs über den Atlantik an die wenigen Stunden dort. 14 15

Brüns, Elke (2006): Nach dem Mauerfall, S. 22. Folgende Siglen werden für die Romane bei der Zitierung im Text verwendet: »HL« für »Herr Lehmann«, »NVS« für »Neue Vahr Süd«, »DkB« für »Der kleine Bruder«, »Dp« für »Dorfpunks«, »Is« für »Icks«, »Kir« für »Kindheitsroman«, »Jr« für »Jugendroman«, »Lir« für »Liebesroman«, »Abr« für »Abenteuerroman«, »Br« für »Bildungsroman«, »Kür« für »Künstlerroman«, »Arr« für »Arbeiterroman«, »Er« für »Erfolgsroman«. Der zuletzt aufgeführte Roman ist jedoch nicht Teil der Gesamtanalyse und wird in Einzelfällen zur Erläuterung des Fortgangs der Geschichte um Martin Schlosser herangezogen.

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Topographien der Adoleszenz

Wenngleich die Literaturkritik den Texten dieser Studie den einen oder anderen Stempel aufgedrückt hat, zeigt der kurze Blick auf die Inhalte der Texte, dass weder die Gattung »Berlin-« noch »Wenderoman« für alle Romane zutrifft. Die Gattungen sind topographisch geprägt. Im Zusammenhang mit dem »Wenderoman« kann man sogar von einer chronotopischen Ausrichtung sprechen, hier werden temporale und topographische Aspekte miteinander verquickt.16 Ein westdeutsches Pendant würde eventuell passend sein, um die Romane des Textkorpus zu klassifizieren, jedoch wirkt der Begriff »Bonner-Republik-Roman« zu sperrig. Zudem suggeriert er eher eine literarische Beschäftigung mit dem dortigen Politikbetrieb als mit dem Aufwachsen in der Bonner Republik und der Erinnerung daran. Die Romane des vorliegenden Textkorpus haben den Erinnerungsraum gemein, den sie allerdings unterschiedlich konturieren. Obwohl ich Hartmut Böhmes Vorschlag folge, der von »temporalen Ordnungsmodellen«, wie »Epochen, Stilen oder Gattungen«, Abstand nimmt und stattdessen eine Kategorisierung nach topographischem Muster vorschlägt17 , fordert die Zielrichtung der Studie, auf die thematische und strukturelle Gemeinsamkeit aller Texte jenseits des Erinnerungsraums Bonner Republik einzugehen. Am Ende der Untersuchung soll eine Topographie der Adoleszenz stehen, welche für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur kennzeichnend ist. Der leitenden Idee der Analyse ist schon ein chronotopisches Element eingeschrieben. Hinzu kommt die thematische Gemeinsamkeit der Adoleszenz. Wenngleich das Textkorpus nicht der Gattung Adoleszenzliteratur zuzuordnen ist, spielt dieser Lebensabschnitt doch eine zentrale Rolle für die Entwicklung der Protagonisten. Die Bezeichnung »Kollektive Biographien« von Carsten Gansel fasst das Textkorpus insofern wohl am treffendsten zusammen.18 Neben dem Alter der Protagonisten und der erzählten Zeit lassen sich weitere Gemeinsamkeiten zwischen den Texten konstatieren. Der Herkunftsort wird als provinziell markiert, und die heranwachsenden Protagonisten sehnen sich nach

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Der Begriff des Chronotopos geht auf den russischen Strukturalisten Michail Bachtin zurück. Er selbst erklärt ihn so: »In einem künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.« [Bachtin, Michail (2008): Chronotopos, S. 7]. Böhme, Hartmut (2005): Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie, in: Topographien der Literatur, S. IX. Gansel, Carsten (2011): Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur, S. 43.

Einleitung

Metropolen, die aufregende Begegnungen und unvergessliche Erlebnisse versprechen. Wenngleich die Orte des Aufwachsen an sich sehr unterschiedlich sind – so spielt »Dorfpunks« in einem Dorf in Schleswig-Holstein, das dem Herkunftsort des Autors nachempfunden sein soll, während sich Henschels Alter Ego Martin Schlosser in der niedersächsischen Kreisstadt Meppen langweilt –, ähneln sich die Gefühle und Wahrnehmungen der Adoleszenten. Neben Gerhard Henschel gibt es weitere Autoren, die eine autofiktionale Chronik verfassen. Zu nennen sind hier Joachim Meyerhoff mit seiner Chronik »Alle Toten fliegen hoch« oder Andreas Meier mit seiner mehrbändigen »Ortsumgehung«. Auch diese Texte würden den Kriterien, die die Fragestellung dem Untersuchungsgegenstand abfordert, hinreichend genügen. Die Zusammenstellung des Textkorpus beruht indes auf einer breiter angelegten Untersuchungsfläche, sind die Erzählverfahren sowie das Oeuvre der Autoren doch heterogener. Der Blick auf diverse literarische Herangehensweisen wird in den Ergebnissen die Erinnerungsstrategie der Protagonisten sowie die Darstellung des Erinnerungsraums Bonner Republik in vielen Facetten offenbaren. Nur so lässt sich ein großformatiges Bild der Darstellung des Erinnerungsraums Bonner Republik konturieren. Eine Studie, die ähnliche autofiktionale Chroniken miteinander vergleichen würde, würde, einer Sonde gleich, eine Darstellungsform der literarischen Verarbeitung des Aufwachsens im westlichen Teil Deutschlands untersuchen. So wäre es, würden Henschels, Meyerhoffs und Meiers Chroniken als Untersuchungsgegenstand herangezogen werden. Die Adoleszenz wird in allen Texten zur entscheidenden Lebensphase der Identitätsbildung erhoben. Die Protagonisten fühlen sich förmlich zerrieben zwischen den neuen unbekannten Gefühlen der aufblühenden Sexualität und den strengen Strukturen der Eltern. »In uns klafften wachsende Löcher« (Dp, 34), erinnert sich der autodiegetische Erzähler in »Dorfpunks«. »Ich wollte nicht werden, was mein Alter war« (Lir, 273), konstatiert Martin Schlosser angesichts der Misanthropie seines Vaters. Die Beschreibung der Orientierungslosigkeit der jugendlichen Protagonisten, die sich in der liminalen Zone zwischen Nicht-mehr-Kindsein und Noch-nicht-Erwachsensein befinden, birgt ein großes Identifikationspotenzial für die Leserschaft. So wird dem »Jugendroman« Henschels in einer Kritik attestiert: »Mehr als einmal schlägt man sich beim Lesen die Hände vors Gesicht und denkt sich: Oh Gott, genau so schrecklich war das.«19 Erinnerungsliteratur hat Konjunktur. Texte, die die Adoleszenz erinnern, seien beliebt, vermutet Stefan Born, weil sie als »Orientierungsangebote historischer und moralischer Natur«20 funktionier-

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Wulff, Matthias: Kinderzeit und Jugendglück, in: Welt am Sonntag, 11.10.2009, online: https ://www.welt.de/4805081 [Stand: 01.05.2018]. Born, Stefan (2011): Sven Regeners »Herr Lehmann« (2001) als Adoleszenzroman, S. 529. Er subsumiert hier ganz unterschiedliche Texte verschiedener Autorenjahrgänge, unterschiedlicher Herkunft und diverser Erzählzeiten. So werden u.a. die Romane von Thomas Brussig

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Topographien der Adoleszenz

ten. Carsten Gansel hebt mit der Bezeichnung »Kollektive Biographien«21 auf eben diesen Erinnerungstrend ab, welchen er als die aktuellste Entwicklung der Thematisierung von Adoleszenz in der Literatur ausmacht. Im Gegensatz zu Born vertritt er die Meinung, dass es sich bei diesen Texten nicht um Adoleszenzliteratur handele. Gemein sei diesen Texten die Erinnerung an Kindheit und Jugend in der alten Bundesrepublik respektive der DDR, die den Ort des Aufwachsens – meist die Provinz – als paradiesisch beschreibe. Gansel vermutet dahinter die Verunsicherung der Gegenwart, die durch sentimentale Rückblicke abgemildert werden soll22 , eine These, die dem Begriff der »Ostalgie« sowie dem von Elke Brüns benannten Desiderat korrespondiert. Auch Holger Bösmann konstatiert für die Erinnerungsliteratur der 1990er- und 2000er-Jahre, dass das Erinnern an das Aufwachsen in der Provinz vor allem der Selbstvergewisserung diene. »Der momentanen Unsicherheit wird die Sicherheit der Vergangenheit entgegengesetzt«, fasst Bösmann die erinnerte Zeit der 1980er-Jahre vor dem Hintergrund der provinziellen Bonner Republik zusammen.23 Im Textkorpus verbindet sich die Zeit der Zweistaatlichkeit Deutschlands mit der Sichtweise eines adoleszenten Protagonisten. Der Analyse wird ein entsprechender Theorieteil vorangestellt. Hier wird zunächst auf den interdisziplinären Umgang mit den Begriffen Adoleszenz, Pubertät bzw. Jugend eingegangen (1.1), um im Anschluss ein raumtheoretisches Repertoire zu erarbeiten, welches am besten geeignet ist, um das Textkorpus hinsichtlich der Fragestellung zu untersuchen (1.2). Der abschließende Fokus richtet sich auf den

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»Am kürzeren Ende der Sonnenallee« (1999) sowie Clemens Meyer »Als wir träumten« (2007), die beide das Aufwachsen in der DDR bzw. die (Nach-)Wendezeit aus DDR-Perspektive thematisieren, im gleichen Atemzug wie die Ruhrgebietsromane Ralf Rothmanns genannt. Zudem schließt er auch Christian Krachts »Faserland« (1995) und Sven Regeners »Herr Lehmann« (2001) mit ein. Neben männlichen Autoren sieht er auch Alexa Hennig von Langes »Relax« (1997), Juli Zehs »Spieltrieb« (2004) und Zoe Jennys »Das Blütenstaubzimmer« (1997) in diesem neuen literarischen Themenkomplex eingereiht. Vgl. Born (2011): S. 530f. Gansel, Carsten (2011): Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur, S. 43. Ebenda. Bösmann, Holger (2006): Nach dem Ende der Geschichte? Die Provinz der Bonner Republik als erinnerter Geschichtsraum, S. 206. Die Bonner Republik als Erinnerungsraum zu untersuchen, der sich allmählich ins Zentrum der Schaffensarbeit deutschsprachiger Gegenwartsautoren schiebt und damit auch in das der Rezipienten und Forschung, schaffte explizit bisher nur Holger Bösmann mit einem kurzen Aufsatz in einem Sammelband, welcher den veränderten Geschichtsbildern seit der Wende 1989/90 in der deutschen Literatur nachgeht. Bösmann führt teilweise ähnliche Romane wie Born an, fasst den Rahmen, um seine These zu untermauern – vor allem das Erzählen von Kindheit und Jugend in den 1980er-Jahren habe Konjunktur – aber enger. So nennt er auch Sven Regener und darüber hinaus u.a. Florian Illies mit »Generation Golf« (2000) und Kolja Mensing mit »Wie komme ich hier raus? Aufwachsen in der Provinz« (2000). [Vgl. Bösmann, Holger (2006): Nach dem Ende der Geschichte? Die Provinz der Bonner Republik als erinnerter Geschichtsraum, S. 193-207].

Einleitung

Aspekt des Erinnerungsraums und auf die vermeintliche Faktizität, auf welcher die untersuchten Texte basieren (1.3). Die Bonner Republik soll in der Studie nicht in vergleichender Opposition zur DDR untersucht werden, das wäre das Reproduzieren nationaler und ideologischer Binarismen. Stattdessen folge ich dem Vorschlag des Literaturwissenschaftlers Thomas Ernst, der vor eben dieser Falle (dem Denken in Binarismen) warnt. Er fordert eine Abkehr vom statischen Terminus »Heimat«, der nationalen Strukturen verhaftet sei, hin zu einer Analyse, die nach dem »Konzept der Hybridität« arbeite, »das sich auf kulturelle, mediale und politische Globalisierung ausrichtet, sich für rhizomatische Strukturen und liminale Räume interessiert sowie in literarischen Texten intertextuelle Bezüge, Aporien und ihren Konstruktions- und Collagecharakter herauszuarbeiten versucht«.24 Dem starren Denken will diese Studie entgehen, indem sie den Erinnerungsraum Bonner Republik als eine literarische Inszenierung und nicht als ein Abbild realhistorischer Vergangenheit auffasst. Dass eine Diskrepanz zwischen dem erzählten, vorgestellten Raum und dem realen Raum besteht, darauf hob schon Edward W. Soja mit seinem Begriff der »real-and-imagined-places«25 ab. Wenn der Historiker Hans-Ulrich Wehler davon spricht, dass sich 1990 »keine Wiedervereinigung«, sondern »ein neuer Staatsbildungsprozeß« bzw. »eine neue Nationsbildung«26 vollzogen habe, dann impliziert diese These, dass durch die Wiedervereinigung nicht nur die DDR Vergangenheit wurde, sondern auch die Bonner Republik. Spätestens mit dem teilweisen Umzug im Sommer 1999 in die neue, alte Hauptstadt Berlin wurde der Formierungsprozess eines neuen Staates auch topographisch sichtbar. Dass Berlin wieder Haupt-

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Ernst, Thomas (2009): Von der »Heimat« zur Hybridität. Die Entdeckung des Ruhrgebiets in der Literaturwissenschaft, S. 26f. Dem Geographen Edward Soja ist es zu verdanken, dass der Begriff des Spatial Turn in den 1990er-Jahren tatsächlich zu einer gedanklichen Wende in den Wissenschaften führte. Die Verwendung des Wortes geht auf ihn zurück. Als er sich mit Michel Foucaults verstärkter Hinwendung zum Raum auseinandersetzte, verwendete er den Begriff 1989 in seinen Hauptwerk »Postmodern Geographies«. In »Thirdspace« bezeichnet er den Spatial Turn als »eine der wichtigsten intellektuellen wie politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts« [Soja, Edward (1996): Thirdspace, S. 340], wenngleich die Resonanz seiner Studien noch nicht groß war und der Turn noch gar nicht als solcher in Erscheinung trat. Das Handbuch Raum bescheinigt Soja deshalb ein »geschicktes Begriffsmarketing«, da das Label der eigentlichen Wende vorausgegangen sei und diese vermutlich sogar verstärkte [vgl. Döring, Jörg: Raumkehren, Spatial Turn, in: Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 90]. Die begriffliche Trias, aus der Soja den Mechanismus des Thirding-as-Othering entwickelte, geht auf den Neo-Marxisten Henri Lefebvre zurück, der den gesellschaftlichen Raum in einen vorgestellten, gelebten und wahrgenommenen teilt. Diese drei Aspekte des Raums seien gleichwertig zu betrachten. Wehler, Hans-Ulrich: Interview mit Ingeborg Villinger, in: Die Intellektuellen und die deutsche Einheit, Freiburg i.Br. 1997, S. 374-389, hier: S. 376.

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Topographien der Adoleszenz

stadt würde, wurde 1990 im Einigungsvertrag der DDR und BRD schriftlich fixiert. Die Aussage des Historikers ist eine zeitgeschichtliche Diagnose und keine Analyse der literarischen Inszenierung des Erinnerungsraums Bonner Republik. Seine Auffassung strahlt jedoch auf das Textverständnis ab: Wer die Romane liest, weiß, dass die »alte« Republik Vergangenheit ist. Jenseits der politischen Eckdaten zwischen Mauerfall, Wiedervereinigung und Bonner Republik werden erst allmählich die kulturellen Transformationen wahrgenommen, die unterschiedlichen Zeitregimen unterliegen. So ist die Untersuchung dieses Topos bisher in den Literaturwissenschaften nur rudimentär erfolgt; andere Geisteswissenschaften haben sich hingegen der Transformationsprozesse, die die Wiedervereinigung flankieren, stärker angenommen.27 Dass Sprache nur beschreiben, aber nicht fassen kann, ist längst ein Gemeinplatz der kulturwissenschaftlichen Forschung. Auch die erzählte Bonner Republik ist eine Konstruktion. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass sich einige Romane als autofiktional klassifizieren lassen oder zumindest Parallelen zwischen der Biographie des Autors und des Protagonisten erkennbar sind. Die Autoren greifen auf ihre eigenen Erfahrungen und Erinnerungen zurück, die sie narrativieren. Im Moment der Veröffentlichung und des Öffnens der Lektüre für ein breites Publikum wird die private, individuelle Erinnerung einem neuen Kontext zugeführt und Teil des kommunikativen Gedächtnisses. Rezipienten der gleichen Generation werden sagen: »Ja, so war es, das habe ich auch erlebt«, und sich in den Geschichten wiederentdecken. Sie lesen in diesen Büchern ihre eigene Geschichte wie in einem Spiegel, der ihnen die eigene Vergangenheit vor Augen führt. Leser, die die erzählte Zeit nicht selbst erlebt haben, weil sie entweder nicht der Alterskohorte angehören oder ihre Jugend in einem anderen Land verbracht haben, blicken gleichermaßen in diesen Spiegel. Das Bild, das sie sehen, erscheint ihnen als real und sie werden sagen: »Ja, so muss es gewesen sein.« Die Texte werden so zu einem Teil des kulturellen Gedächtnisses der Bonner Republik. Die Romane und deren Verfasser erheben selbst einen unterschiedlich hohen Grad an Authentizität. Sie stellen das Geschilderte mal als autobiographisch, mal als frei erfunden dar. Auch in der Rezeption haben sich unterschiedliche Lesarten etabliert. Die Texte werden, obwohl es sich um die gleiche erzählte Zeit handelt, unterschiedlich rezipiert und vermarktet. Der dargestellte Raum, in diesem Fall der Erinnerungsraum Bonner Republik, wird somit von Text zu Text unterschiedlich erzeugt. Die heranwachsenden Protagonisten befinden sich in einer Zwischenphase ihrer Entwicklung, und auch die Bonner Republik durchlebt – betrachtet man

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Die Transformationsprozesse wurden alsbald ein lukratives Forschungsthema. Elke Brüns verweist in ihrer Habilitationsschrift darauf, dass schon 1996 allein 3000 Titel zum Thema existierten, die Literaturwissenschaft jedoch nicht vertreten war. [Vgl. Brüns, Elke (2006): S. 12].

Einleitung

die Entwicklung aus historischer Perspektive – eine Phase des Übergangs. »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört«, erklärte der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt angesichts des Falls der Mauer und implizierte damit, die Zeit der Zweistaatlichkeit Deutschlands sei eine Zwischenlösung gewesen.28 Sowohl die erzählte Welt als auch die Protagonisten befinden sich in einem transitorischen Zustand. Und: Sowohl die Figuren als auch die erzählte Welt werden im Moment des Erschreibens der Biographie zu Spiegelbildern, die auf die Gegenwart zurückblicken. Konstruiert wird hier in zweifacher Hinsicht: das Bild der Bonner Republik und die Identität der Protagonisten. Eine Topographie der Adoleszenz aus der gegenwärtigen Literatur herauszuarbeiten, bedeutet, die aus der adoleszenten Perspektive vorgestellte respektive erlebte Welt zu konturieren. Dafür wird die Studie das Textkorpus anhand von drei thematischen Untersuchungsfeldern analysieren. Die Untersuchung richtet sich in ihrem Aufbau nach der Thematik der Analysekategorien, anstatt die Kategorien separat und nacheinander auf die Texte anzuwenden. Von dieser Vorgehensweise verspreche ich mir eine direkte Gegenüberstellung und einen Vergleich der Ergebnisse der unterschiedlichen Texte und ihrer Raumdarstellung, Raumdynamiken und Erinnerungsstrategien. Das erste Feld (2.) legt den Schwerpunkt auf die Raumdarstellung und die Ausbildung des sozialen Geschlechts der Protagonisten. Dabei werden Räume des Transitorischen, Orte der Liminalität sowie Krisenheterotopien analysiert, zudem wird auf die Figurenentwicklung im Hinblick auf die Identitätsausbildung durch Abgrenzung eingegangen. Ein weiterer wichtiger, konkreter Raum – die Institution Bundeswehr – wird an dieser Stelle ebenfalls beleuchtet. Der zweite Analyseabschnitt untersucht die Aneignung von Raum und die Wahrnehmung von Metropolen (3.). Der dritte Abschnitt betrachtet die Momente, in denen die Protagonisten Orte ihrer Kindheit wieder aufsuchen oder sich an sie erinnern (4.). Jeder Analyseteil wird durch ein Zwischenfazit ergänzt, in welchem die Ergebnisse zusammengeführt werden. Der Titel der Studie »Topographie der Adoleszenz« verweist auf die raum-zeitliche Interdependenz. Adoleszenz wird als ein zeitlich bestimmtes Entwicklungsstadium in den Romanen spatialisiert. Topographien sind im kulturwissenschaft-

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Entgegen der landläufigen Meinung, Willy Brandt habe diese Worte am 10. November 1989 vor den Stufen des Schöneberger Rathauses im Rahmen einer Rede geäußert, verwandte er diesen rhetorischen Kniff bereits in den 1950er-Jahren. Damals noch als Bürgermeister in Berlin, als er ein U-Bahn-Teilstück einweihte und sagte, »dass eines Tages zusammengefügt sein wird, was zusammen gehört«. Dass er die Worte schon zu Zeiten wählte, als die Zeichen auf eine Zementierung der bestehenden Verhältnisse standen, sei ein historisch wichtiges Faktum, relativiere es doch die Annahme und zeitgenössische Kritik, die SPD hätte die Zweistaatlichkeit damals akzeptiert. [Vgl. Wagener, Volker: Willy Brandt: »Es wächst zusammen, was zusammen gehört.« in: Deutsche Welle, 13.12.2012, online: http://p.dw.com/p/16wTr].

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Topographien der Adoleszenz

lichen Verständnis die Voraussetzung von Kultur.29 Böhme rekurriert dabei auf Michel de Certeau, für den erst durch Tätigkeit die Dynamik eines Raums entstehe: Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. Ebenso ist die Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes – bildet.30 Graphien des Raums werden innerhalb der Diegese der untersuchten Texte etwa dann produziert, wenn die Protagonisten ein neues Stadtviertel erlaufen. Die erzählte Welt entsteht in dem Moment, wenn sie aus der Perspektive einer Figur oder durch die Dynamik einer Figur »begangen« wird. Dies könne, nach de Certeau, auf zweierlei Weise geschehen. Bevorzugt werde die Beschreibung in Form einer Wegstrecke [»tour«] gegenüber der einer Karte [»map«]. Die »tour« wird in Handlungsanweisungen geäußert: »Dann gehst du durch eine kleine Tür«31 , der Raum wird begangen. Raumbeschreibungen in Form der Karte erläutern die Lagebeziehungen der Rauminhalte zueinander und werden mit der Aktivität des Sehens verbunden.32 Sie sind statisch und tragen im Gegensatz zur »tour« keine Dynamik in sich. Der Wahrnehmende bezieht sich allein auf die Gegenstände und Inhalte, die den Raum bestimmen. Anschlussfähig daran ist die Unterscheidung des Anthropologen, Timothy Ingold, von »wayfaring« und »transport«. Die ursprüngliche Art der Bewegung, des Reisens – das Wandern [»wayfaring«] – sei in der westlichen Welt durch einen »destination-oriented transport« abgelöst worden.33 Das

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30 31 32 33

Sigrid Weigel und Hartmut Böhme prägten den Begriff des »Topographical Turn« maßgeblich. Der Begriff wird vor allem für literaturwissenschaftliche Studien mit kulturwissenschaftlichem Hintergrund verwendet und geht zurück auf Sigrid Weigels viel rezipierten Aufsatz »Zum ›topographical turn‹ – Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften« sowie auf das Symposium »Topographien der Literatur«, welches 2004 unter der Federführung Hartmut Böhmes abgehalten und ein Jahr später in Form eines Tagungsbandes dem breiten Fachpublikum zur Verfügung gestellt wurde. Doris Bachmann-Medick versteht den Topographical Turn als eine »Unterströmung« des Spatial Turn [Bachmann-Medick, Doris (2006): Cultural Turns, S. 299]. Die Aufspaltung des Spatial Turn in diverse Subkategorien, die auch immer von speziellen Wissenschaftsdisziplinen in Anspruch genommen werden, sei letztlich auch ein Kampf um »disziplinäre Hoheitsansprüche und Definitionsmächte« [Wagner, Kirsten (2010): Raumkehren. Topographical Turn, S. 100f.]. De Certeau, Michel (2006): Praktiken im Raum (1980), S. 345. Ebenda, S. 347. Vgl. ebenda, S. 348. Ingold, Timothy (2007): Lines: A brief history, S. 75.

Einleitung

Wayfaring macht den Wanderer selbst zur Bewegung (»he is his movement«)34 und zum Weg bzw. zur Linie. Die Überschneidungen mit de Certeaus Raumtheorie sind offensichtlich: Das, was der Franzose als Raumbeschreibung in Form einer Map bezeichnet, ist im Vokabular des Briten das zielorientierte Reisen. Die Dynamik der Raumerschließung sehen beide Wissenschaftler im Erlaufen respektive Wayfaring. Durch das Wandern entlang von Pfaden entstehe ein »meshwork« von verwickelten Linien. Der Transport über den Globus, das Navigieren verbindet Ingold mit dem »network«, welches Mess- bzw. Haltepunkte mittels gerader Linien miteinander verbindet.35 Die Abkehr von der Containertheorie, die Raum als etwas begreift, in dem Dinge, Körper lagern und eingefasst sind, markiert eine Grundvoraussetzung für das Konstruktionsverständnis von Räumen. Der Begriff der Topographie meint in den Kulturwissenschaften nicht allein die Referenz auf geographisch konkrete Räume, sondern vor allem die Untersuchung der Produktion von Räumen.36 Unterschiedlichste Medien – wie Karten oder Texte – werden auf ihre Darstellungs- und Kommunikationsfunktion sozialer Räume hin untersucht. Der Fokus liegt auf der »graphie«, auf »der medial geprägten Tätigkeit«.37 Das »selbstgesponnene Bedeutungsgewebe«38 Kultur besteht aus Praktiken, Ritualen, Institutionen, Ideologien, Gesetzen und allgemein dem Common Sense. Der Ethnologe Geertz versteht Kultur nicht als Instanz, der Prozesse oder Verhaltensweisen zugeordnet werden können, sondern als Rahmen, in dem all dies kontextualisiert werde.39 Auch der eingangs zitierte Songtext ist »eine Graphie[] des Raums«.40 Längenund Breitengrad, die im Titel des Songtextes angegeben sind, kennzeichnen in ih-

34 35 36 37 38 39

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Ebenda. Vgl. ebenda, S. 81ff. Vgl. Dünne, Jörg (2009): Geschichten im Raum und Raumgeschichte, Topologie und Topographie, S. 6. Ebenda, S. 18. Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung, S. 9. Vgl. Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung, S. 10, 15, 21, 43. Auch Jurij Lotman spricht explizit von Kultur verstanden als Text: »Da das Wort ›Text‹ selbst bereits die Etymologie der Verflechtung in sich birgt, können wir sagen, dass wir mit dieser Interpretation dem Begriff ›Text‹ seine Ausgangsbedeutung zurückgeben.« In: Lotman, Jurij (2010): Kultur und Explosion, S. 101. Hartmut Böhme gibt folgende Beispiele: »Auch der Pfad, das Haus, die Route und Routine von Bewegungen, die Lage, der Speicher, der Acker, die Weide, der Platz etc. … als dies sind Graphien des Raumes.« Er spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Kultur zuerst die Entwicklung von Topographien sei. »Graphie« meint er nicht allein im Sinne von Schrift. Er fasst den Begriff weiter und meint damit »Einritzung[en] und Kerbung[en]« des Raumes. Und diese Einritzungen, die zugleich ein dynamisches Element in sich tragen, erzeugen einen Raum und geben dem Raum gleichzeitig Bedeutung. [Böhme, Hartmut (2005): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, S. XVIII].

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Topographien der Adoleszenz

rem Schnittpunkt den Ort, der im Lied besungen wird. Der Titel nutzt die Technik der geographischen Ortsbestimmung durch Koordinaten, denen das euklidische Raumanschauungsmodell zu Grunde liegt. Die Längen- und Breitengrade ermöglichen exakte Ortsbestimmungen. Die »techné« der Erdvermessung, die im Titel des Liedes zum Ausdruck kommt, verweist – um mit Sigrid Weigel zu sprechen – auf die Möglichkeit, eine Landkarte bzw. jegliche topographische Darstellung einerseits »als Repräsentation […] und als technisches Verfahren in der Geschichte des Wissens andererseits«41 zu lesen. In Narrativen offenbart sich Kultur – nicht nur in Texten fremder Kulturen, sondern auch in denen der Kultur, der der Wissenschaftler selbst angehört. Auf das Lied von Thees Uhlmann bezogen, kann man auch aus diesem Text kulturelle Eigenarten erschließen. Die im Titel stehenden Koordinaten helfen bei der Identifikation des Ortes, dem Ort des Aufwachsens. Besungen wird ein Erinnerungsraum, der durch Eigenheime, die norddeutsche Landschaft (Wind, Deich, elektrische Zäune, Torf) und seine raumzeitlichen Besonderheiten geprägt ist. In der ersten Strophe werden die Miniröcke erwähnt, die in den 1970er-Jahren vom rebellischen Modestatement der Jugendlichen zum kommensurablen Massenartikel geworden sind. Obwohl der Erinnerungsraum auf der individuellen Erinnerung des Verfassers beruht, wird er im Moment der schriftlichen Fixierung zum Bestandteil des kommunikativen Gedächtnisses. Diese Gedächtnisinhalte können im Laufe mehrerer Generationen auch zu Inhalten des kulturellen Gedächtnisses werden.42

41 42

Weigel, Sigrid (2002): Zum »topographical turn« – Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, S. 153. Vgl. Assmann, Jan (2007): Das kulturelle Gedächtnis, S. 51f.

1. Theorie

1.1

Adoleszenz

Die Kategorie der Adoleszenz ist zentral für die Untersuchung, befinden sich die Protagonisten der Romane doch alle mehr oder weniger in dieser den »Übergang« von Kindheit zum Erwachsenenalter kennzeichnenden Lebensphase. Ein Lebensabschnitt, der landläufig als anthropologische Grundkonstante erscheint und als ein Zwischenstadium im dreigliedrigen Leben eines Menschen – Kindheit, Erwachsenenalter, Seniorenalter – zu verstehen ist. Der Begriff »Jugend« wird dabei als eine Phase des Übergangs verstanden und oft synonym zum Begriff der Adoleszenz verwendet. Dass gerade diese Phase jedoch als Erfindung respektive als ein Konstrukt gelten kann und vormals nur jungen Männern vorbehalten war und mittlerweile zu einem Attribut avanciert ist, das selbst Menschen jenseits der 60 für sich reklamieren können, zeigt, wie schwer das Konzept Jugend zu fassen ist. Lebensläufe, verstanden als »objektive Bewegung eines Menschen durch gesellschaftliche Institutionen im Laufe seiner Lebenszeit«1 , sind diskursiv geprägt und werden bestimmt durch die politischen und gesellschaftlichen Regeln und Praktiken der jeweiligen Zeit. Sie variieren aus diesem Grund stark in Abhängigkeit von Kultur und Zeitalter. Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf westeuropäische Kulturen, welche durch die dort verbreiteten Riten und Praktiken sowie deren Abgrenzung zu anderen Kulturen definiert werden.2 Timothy Ingold erklärt, dass das Leben entlang von Wegen geschrieben wird und nicht auf punktuelle Orte fixiert ist: »To be a place, every somewhere must lie on one or several paths of movement to and from places elsewhere. Life is lived, I reasoned, along paths, not just in places, and paths are lines of a sort.«3 Im deutschen Wort »Lebenslauf« ist diese These m.E. schon enthalten. Jugend ist 1

2 3

Müller, Klaus-Peter (2013): Werte, Milieus und Lebensstile, hier: S. 200, online: https://www. bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/138613/wandel-der-leb enslaeufe-und-biografien [Stand: 16.02.2017]. Falls nicht von westeuropäischen Lebensstilen, Praktiken und Riten die Rede ist, wird darauf hingewiesen. Ingold, Timothy (2007): Lines: A brief history, S. 2.

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Topographien der Adoleszenz

somit ein Bruchstück der Linie des (Lebens-)Weges. Blickt man auf die Genealogie der Lebensphase Jugend4 , stellt man fest, dass diese sich – wie auch die Phase des Seniorenalters – immer weiter ausdehnt, wohingegen sich die Lebensphasen Kindheit und Erwachsenenalter immer weiter verkürzen.5

Ausweitung der Lebensphase Jugend Dass die Jugend eine Übergangsphase zum Erwachsenenalter markiert, stellt in allen Wissenschaftsdisziplinen, die sich mit dieser Thematik auseinandersetzen, einen Gemeinplatz dar. Jedoch konstatieren zum Beispiel die Soziologen Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel eine Ausweitung der Lebensphase Jugend. Sie begründen dies u.a. damit, dass seit der Industrialisierung, dem Ausbau des Sozialstaatssystems und der Einführung von Kontrazeptiva in den 1960er-Jahren die Entscheidung, Kinder zu bekommen, eine individuellere geworden sei, die abhängig von der persönlichen Lebenslage, finanziellen Mitteln und beruflichen Kriterien getroffen werde.6 Diese Entscheidungsbefähigung führt zu einer Veränderung des demografischen Querschnitts in den westlichen Industrienationen. Verbunden mit der erhöhten Lebenserwartung aufgrund medizinischer Errungenschaften hat sich die »Bevölkerungs-›Pyramide‹« wie sie um 1900 – »mit sehr starken jungen und sehr schwachen alten Jahrgängen« – charakteristisch war, »zu Beginn des 21. Jahrhunderts«7 umgekehrt. Diese demografischen Entwicklungen – gepaart mit Umbrüchen im Sozialstaatssystem – führen zu »erhebliche[n] Auswirkungen auf die Gestaltung und Strukturierung von Lebensphasen«8 im Allgemeinen. Die Einführung der Schulpflicht und die sich sukzessive steigernde Technisierung und gleichzeitige Verlängerung der Ausbildungsphase trug zur Etablierung der zu Beginn der Industrialisierung noch neuen Lebensphase bei, die sich seither 4

5 6 7 8

Der Begriff Jugend weist unterschiedliche Bedeutungen auf und ist abhängig vom Diskurs und der jeweiligen Wissenschaftsdisziplin, in welchem er Verwendung findet. In der Rechtswissenschaft fällt unter »jugendlich« und damit im zivil- und strafrechtlichen Sinne unter das Jugendstrafrecht, wer zwischen 15 und 18 Jahren alt ist. Aus biologischer Perspektive dient der Begriff der »Bezeichnung der Entwicklungsstrecke zwischen dem so genannten pubertalen Wachstumsschub und dem Abklingen des zweiten Gestaltwandels«. In der Psychologie werden die »kognitive und emotionale Entwicklungsdynamik« als Anzeichen der einsetzenden Pubertät und damit dem Eintritt in die Lebenssphase Jugend verstanden. In der Soziologie wird Jugend als ein »soziales Phänomen« verstanden, »das durch eigenständige Inhalte und Lebensvollzugsformen seine Konturen gewinnt.« Jugendliche sind »nicht mehr […] stark in familiäre Zusammenhänge« eingegliedert, nehmen umgekehrt aber auch noch nicht die gesellschaftliche Rolle eines Erwachsenen an. [Vgl. Ecarius, Jutta/Eulenbach, Marcel/Fuchs, Thorsten und Walgenbach, Katharina (2011): Jugend und Sozialisation, S. 13ff]. Vgl. Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun (2016): Lebensphase Jugend, S. 15ff. Vgl. ebenda, S. 10. Ebenda, S. 14. Ebenda, S. 15.

1. Theorie

immer weiter ausgedehnt hat.9 Carsten Gansel spricht von einem »psychosoziale[n] Moratorium«, das den Aufschub des Schritts ins Erwachsenendasein markiere und primär für die »moderne« Jugend gelte. Er betont, dass der Adoleszenzbegriff in der Regel nur in dieser Bedeutung verwendet werde.10 Angesichts der sich immer weiter ausdehnenden Lebensphase, die der einzelnen Person immer mehr Autonomie und Individualisierungstendenzen abverlangt, hat sich die Soziologie von der Vorstellung einer Übergangsphase verabschiedet und versteht Jugend als eine disparate Lebensphase, die auch weit über die biologisch körperlichen Veränderungsprozesse zum Erwachsenen hin hinausreichen kann. Der Begriff Postadoleszenz trägt dieser Ausweitung der Lebensphase Jugend Rechnung. Der späte Eintritt in die Erwerbstätigkeit und die damit verbundene finanzielle Unabhängigkeit führe in (post-)modernen Gesellschaften zu einer Verlängerung der Jugend bis hinein in das vierte Lebensjahrzehnt.11 Der Begriff der Postadoleszenz wird im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand nicht ausschließlich als ein zeitliches »Danach« verstanden und angewendet. Ähnlich wie beim kulturwissenschaftlichen Begriff des Postkolonialismus, könne das Präfix »Post« auf zweifache Weise gedeutet werden, wie Madlen Kazmierczak in ihrer Studie zur Darstellung von Frauenfiguren aus postsozialistischen Ländern anmerkt. Sie bezieht sich auf Stuart Halls Ausführungen zum Begriff des Poststrukturalismus sowie Postkolonialismus. Der Begriff »Post« weise sowohl auf ein Danach hin – verbunden mit der Vorstellung eines Phasenmodells – als auch auf ein Darüberhinaus, das auf ein Nachwirken und ein unabgeschlossenes Stadium hinweise.12 Zwar ist das Präfix »Post« im Begriff »Postadoleszenz« auch chronologisch zu verstehen. Die Entwicklungsphase nach Kindheit und Adoleszenz gilt jedoch nicht als die Phase, die dem Abschluss der vorherigen Phase folgt. Vielmehr handelt es sich um fließende Übergänge, da das Individuum in seiner Entwicklung sowohl physisch als auch psychisch je Phase verschiedene Entwicklungsaufgaben bewältigen muss, die freilich nicht alle zeitgleich abgeschlossen werden.

9 10 11 12

Ebenda, S. 19ff. Vgl. Gansel, Carsten (2011): Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur, S. 27. Vgl. Gansel, Carsten (2011): Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur, S. 27. Hall erklärt in seinem viel zitierten Aufsatz »Wann gab es ›das Postkoloniale‹?« anhand des Begriffs »Poststrukturalismus«, dass »der Poststrukturalismus sowohl chronologisch auf den Strukturalismus folgt als auch seine theoretischen Erfolge ›auf dessen Schultern‹ feiert.« [Vgl. Hall, Stuart (2013): Wann gab es »das Postkoloniale«? Denken an der Grenze, S. 213]. Madlen Kazmierczak argumentiert in ihrer Studie »Fremde Frauen« ebenfalls mit Halls Verständnis des Poststrukturalismus, wenn sie den Terminus Postsozialismus erläutert. [Vgl. Kazmierczak, Madlen (2016): Fremde Frauen, S. 12-14].

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Topographien der Adoleszenz

In der Soziologie gilt ein Individuum als erwachsen, wenn es die »vier Entwicklungsaufgaben des Jugendalters bewältigt« hat. Dazu zählen die abgeschlossene »Entwicklung der intellektuellen und sozialen Fähigkeiten«, die »weitgehende Ablösung von der emotionalen Abhängigkeit von den Eltern« und damit verbunden »die Fähigkeit zum Aufbau tiefer emotionaler Bindungen zu anderen Menschen«, ein »hoher Grad an Selbstständigkeit der eigenen Verhaltenssteuerung im Kontakt- und Freizeitsektor« sowie die Entfaltung und Festigung eines »Werteund Normsystem[s]«, das ein »individuell und sozial verantwortliches Handeln« ermöglicht.13 Ein vollwertiges Gesellschaftsmitglied ist ein Individuum demzufolge dann, wenn es analog zu den vier Entwicklungsanforderungen folgende sozialen Rollen erfüllt: die »Berufsrolle«, »die Partner- und Elternrolle«, »die Rolle als Wirtschaftsbürger« sowie die »Rolle als politischer Bürger«.14 Diese weichen Faktoren und Sozialkompetenzen sind nicht eindeutig bestimmbar und so sei es schwer auszumachen, wann ein Mensch die vier Entwicklungskriterien erfolgreich bewältigt habe, wie Quenzel und Hurrelmann kritisieren. »Jugend ist demnach als ein Übergang, also eine Statuspassage, definiert, die von der unselbstständigen Kindheit in das selbstständige Erwachsenenalter führt.«15 Hurrelmann vertritt die These, dass das dreigliedrige Lebensphasenmodell, das noch in den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik üblich war, durch eine Entstrukturierung gekennzeichnet sei und sich die für das Jugendalter typischen Entwicklungsaufgaben als Paradigma mittlerweile auf das gesamte Leben ausgedehnt hätten.16 Es sei dennoch festzustellen, dass der klassische Lebenslauf – Kindheit, Erwerbstätigkeit, Seniorenalter – durch institutionelle und gesellschaftliche Strukturen gefördert werde und »als Orientierungsmuster der Gesellschaftspolitik« diene. Die Politik schaffe beispielsweise finanzielle Anreize, damit das Rollenbild der Hausfrau, die sich um die Erziehung der Kinder und den Haushalt kümmert, weiterhin als attraktives Familienmodell gewählt wird.17 Die Entscheidung für Kinder, ein zweites Einkommen und die Arbeitsaufteilung im Haushalt ist immer in Abhängigkeit der monetären, familiären und räumlichen Voraussetzung zu betrachten. So haben Familien mit zwei Einkommen nicht zwangsläufig die finanziellen Mittel, um eine persönliche Betreuung für ihre Kinder zu gewährleisten. Lebt die Familie in einer ländlichen Gegend, in der Betreuungsplätze in Kitas nicht ausreichend vorhanden sind und die Betreuung durch Familienmitglieder, die das Erwerbsleben abgeschlossen haben, ebensowenig garantiert ist, dann ist die Ent-

13 14 15 16 17

Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun (2016): Lebensphase Jugend, S. 33f. Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun (2016): Lebensphase Jugend, S. 38. Ebenda, S. 39. [Hervorhebung im Original]. Vgl. Hurrelmann, Klaus (2003): Der entstrukturierte Lebenslauf. Die Auswirkungen der Expansion der Jugendphase, S. 115. Vgl. ebenda, S. 117.

1. Theorie

scheidung zwischen Kindern und Erwerbstätigkeit keine individuell freiwillige, sondern eine, die aufgrund der sozialstaatlicher Rahmenbedingungen getroffen wird. Hurrelmann kritisiert die »Abschottung der sozialen Systeme«, die »das Individuum immer nur in einzelnen Rollen« anspreche, z.B. als Auszubildender, Konsument oder Versicherter. Die Folgen seien, dass »die Möglichkeit geschmälert« werde, »biografische Erwartungen und individuelle Lebenskonzepte mit den gesellschaftlichen Vorgaben abzustimmen«.18 Gleichzeitig wurde seit den 1960erJahren das Bildungssystem erheblich ausgebaut. Gründe waren vor allem der Fachkräftemangel und auch die hohe Jugendarbeitslosigkeit. In Deutschland wurde nach 1980 das Bildungssystem als ein »Übergangssystem« genutzt, »um Jugendlichen einen sozialen Status zu geben, den sie im Berufssektor wegen der zu geringen Zahl der Ausbildungs- und Arbeitsplätze nicht einnehmen konnten«. Quenzel und Hurrelmann bezeichnen das Bildungssystem in diesem Sinne als einen »biografischen Warteraum auf dem Wege zum Erwachsenenalter«.19 Die Ausführungen weisen auf die diskursive Prägung hin, nach denen Lebensläufe in unterschiedliche Abschnitte respektive Lebensphasen unterteilt werden. Die soziologische Perspektive hat gezeigt, dass sich seit den 1960er-Jahren in der BRD die gesellschaftspolitischen Weichenstellungen zwischen Kindheit – Jugend – Erwerbsleben – Seniorenalter weiter verhärtet haben, wobei parallel ein Ausbau des Jugendalters in Form eines Bildungsmoratoriums stattgefunden hat. Als Folge etablierte sich der Begriff der Postadoleszenz. Die neu beschriebene Lebensphase ist nicht nur Ausdruck einer sich immer stärker individualisierenden Gesellschaft, sondern auch ein Aufbrechen des Paradigmas der Vorstellung von in sich abgeschlossenen Lebensphasen. Auch die Kognitionsforschung trägt dieser Sichtweise Rechnung, indem sie die Entwicklung des Selbst, mithin die Phase der Identitätsentwicklung, neu bewertet. Identifizierte Erikson die Krise der Adoleszenz – die Phase der Identitätsausbildung – noch zwischen dem zehnten bis 13. (frühe Adoleszenz) bzw. zwischen dem 14. und 17. Lebensjahr (mittlere Adoleszenz), erachtet man heute das 19. bis 22. Lebensjahr als den entscheidenden Abschnitt.20 Aus psychoanalytischer Perspektive ähnelt die Ausbildung eines Identitätskonzepts »einem nicht abschließbaren Projekt«21 , das weit über die Phase der Spätadoleszenz hinausreicht. Der Bildung eines Identitätskonzeptes ist demnach kein qualitatives Prinzip inhärent, sondern es sei vielmehr, so Bohleber, eine »nie abgeschlossene psychische

18 19 20 21

Ebenda, S. 119. Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun (2016): Lebensphase Jugend, S. 22. [Hervorhebung im Original]. Vgl. Knopf, Monika/Mack, Wolfgang (2011): Entwicklung kognitiver Funktionen, S. 58. Bohleber, Werner (2011): Grundzüge adoleszenter Entwicklung: Psychoanalytische Perspektiven, S. 69.

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Topographien der Adoleszenz

Konstruktion, die aus reflexiven Vergleichsprozessen« bestehe. Identitätsbildung wird so als nachträglicher Akt definiert, der das Individuum auffordert, zentrale »Selbst-Repräsentanzen« mit den Rollenerwartungen, Handlungen, Gefühlen und Träumen abzugleichen. Es handelt sich also um einen stetigen Dialog zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Im Laufe der Entwicklung des Selbst wandelt sich die Gewichtung der zwei Pole jedoch und das Identitätsgefühl in der Spätadoleszenz fungiert mehr als Regulationsprinzip.22 Die Forschung macht die Phase der Adoleszenz nicht mehr allein als die Lebensphase aus, in welcher die Bildung des Selbstkonzepts abgeschlossen wird. Vor allem in der Mitte des Lebens gebe es eine erneute Übergangsphase, »in der die Individuation des Selbst einen Entwicklungsschub zu größerer Entfaltung und Komplexität durchmacht«.23 Die Schlaglichter auf die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zeigen, dass sich die Forschung vom Phasenmodell nicht komplett verabschiedet, das teleologische Prinzip zugunsten neuer Strukturen jedoch zunehmend aufweicht.

Jugend in der Literatur In den Literaturwissenschaften wird das Schreiben über Jugend als vornehmlich männlich konnotiertes Sujet verhandelt. Silke Kirch beispielsweise stellt in ihrer Studie über Autorschaft und Jugend eine gegenderte Entwicklung des Schreibens über Jugend fest. Sie konstatiert, dass für Mädchen bzw. jungen Frauen die Möglichkeit einer Probephase der Integration in die Gesellschaft nicht vorgegeben und nur jungen Männern ab Beginn des 18. Jahrhunderts die Chance auf selbstbestimmtes Handeln und Erproben in einer Zwischenzeit vorbehalten war. Für Frauen seien die sozialen Orte somit auf das Haus und die Familie beschränkt gewesen, wohingegen sich junge Männer auf den Weg machen konnten, um ihren Horizont zu erweitern.24 Diese divergenten Entwicklungsmöglichkeiten spiegeln sich auch in der Thematik autobiographischer Literatur wider. Ulrike Prokop weist die Sattelzeit des Sturm und Drang als Phase »der Konstituierung von Jugend als sozialer Gruppe« aus. Dem »explosiven Selbstbewußtsein der jungen Männer […] [standen] Passivität und Depression der gleichaltrigen jungen Frauen« gegenüber.25 Dass ausgerechnet ein von einem der Autoren des Sturm und Drang sowie der 22 23 24 25

Vgl. ebenda,S. 69f. Bohleber, Werner (2011): Grundzüge adoleszenter Entwicklung: Psychoanalytische Perspektiven, S. 73. Vgl. Kirch, Silke (2010): Über Jugend schreiben, S. 41f. Prokop, Ulrike: Die Illusion vom großen Paar, Band 1: Weibliche Lebensentwürfe im deutschen Bildungsbürgertum 1750-1770, Frankfurt a.M. 1991, S. 78. Prokop zeigt hier anhand von schriftlichen Zeugnissen u.a. von Cornelia, Catharina Elisabeth und Johann Wolfgang Goethe die gesellschaftlich determinierten Geschlechterrollen auf, um deren Fortbestehen in unserer Gegenwart zu erklären. Das Bild vom bürgerlichen Liebespaar interpretiert sie als männliche Machtphantasie, die die Frau zum Spiegel des männlichen Egos degradiere und

1. Theorie

deutschen Klassik verfasster Briefroman als Paradebeispiel für die Darstellung von Adoleszenz in der Literatur gelten kann, nimmt daher kaum wunder und reiht sich in die Forschungsergebnisse der bisher zitierten Studien ein. So konstatiert Gansel, dass allen voran Goethes »Die Leiden des jungen Werther« im Zuge der neue Pop-Literatur-Welle der 1990er-Jahre zum »Urbild des Popromans« erhoben worden sei.26 Eine intertextuelle Verarbeitung des Stoffs avancierte schließlich sogar zu einem deutsch-deutschen Erfolg; die Rede ist von Ulrich Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.« von 1973.27 Sigrid Weigel geht noch einen Schritt weiter, indem sie schreibt: »Der Autor als Instanz ist männlich. […] Diese Instanz darf nicht weiblich sein, da ja die geistige bzw. künstlerische Schöpfung als Ersatz und Überwindung der natürlichen und biologischen Schöpfung verstanden wird.«28 Autorschaft sei per se männlich, und der Schöpfungsakt des Schreibens sei eine Kompensation des Gebärneids. Selbst dort, wo Frauen als Autorinnen in Erscheinung treten – so ließe sich die These Weigels weiterführen –, ist das schreibende Subjekt im Moment des Schreibens männlich. Eine kulturelle Leistung zu erbringen, steht in Opposition zum natürlichen Vorgang der Geburt, der Frauen vorbehalten ist. Der Beobachtung Weigels liegt eine dichotome Denkstruktur zugrunde, die sich – das belegen die vorangegangenen Ausführungen – mindestens seit der Phase des Sturm und Drang im literarischen Diskurs manifestiert hat. Über Jugend schreiben heißt aus männlicher Perspektive erzählen.29 So ist auch die vorliegende Studie eine, die die Konstitu-

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zum Objekt mache, sodass der männliche Geniekult hier seinen Ursprung finde. Zitiert nach: Kirch, Silke (2010): Schreiben über Jugend, S. 42. Vgl. Gansel, Carsten (2003): Adoleszenz, Ritual und Inszenierung in der Pop-Literatur, S. 252. Die Geschichte handelt von Edgar Wibeau, der aus dem Jenseits seine Jugend sowie seinen Tod erinnert. Er hat seine Heimatstadt verlassen und lebt in einer alten Gartenlaube in Ostberlin, dort findet er Goethes »Die Leiden des jungen Werther«. Je stärker sich der Protagonist mit Goethes Werther identifiziert, desto mehr verweben sich die Texte ineinander und die intertextuellen Bezüge treten hervor. Letztlich stirbt Wibeau bei einem Unfall, und nicht, wie noch bei den traditionellen Adoleszenzromanen durch Suizid. Als er versucht, eine Spritzpistole zu basteln, erliegt er den Folgen eines Stromschlags. Weigel, Sigrid (1990): Topographien der Geschlechter, S. 236. Texte aus weiblicher Perspektive, die für das Textkorpus in Frage kommen, finden sich nicht. Als Vorläufer in Hinblick auf die erzählte Zeit können die Romane Ulla Hahns (*1945) angesehen werden; »Ein Mann ein Haus« (1991), »Das verborgene Wort« (2001), »Aufbruch« (2009). Neuere Veröffentlichungen und (teilweise) literarische Debüts erwecken den Eindruck, dass junge Frauen nun auch ihre Kindheit und Jugend als erinnerungswürdig und identitätsbildend erachten. Charlotte Roches (*1978) »Feuchtgebiete« (2008) oder Sarah Kuttners (*1979 in Ostberlin) »Mängelexemplar« (2009), »Wachstumsschmerz« (2011) sind die wohl bekanntesten Beispiele. Es nimmt nicht wunder, dass beide Frauen als Moderatorinnen der Musikspartensender VIVA und VIVA II in den 1990er-Jahren bekannt wurden und so als Insider der Populärkultur vermarktet werden können. Als weiteres Beispiel kann Helene Hegemanns (*1992) »Axolotl Roadkill« (2010) gesehen werden.

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Topographien der Adoleszenz

ierung des Erinnerungsraums aus männlicher Perspektive untersucht. Sowohl die Autoren als auch die Protagonisten der Romane sind männlichen Geschlechts. Gansel wiederum schlägt eine Entwicklungsgeschichte des Schreibens über Adoleszenz vor, die stark am sozialhistorischen Wandel des Jugendbegriffs orientiert ist.30 So macht er die Darstellung des Scheiterns der Phase der Adoleszenz als »Reflex auf [die] Modernisierungsprozesse um 1900«31 aus. Der klassische bzw. traditionelle Adoleszenzroman sei unter medientheoretischen Gesichtspunkten als Verstärker zu lesen. Denn die Darstellung des Scheiterns, die oft den Selbstmord des Protagonisten beinhaltet, habe dazu geführt, dass das Thema Suizidalität von Jugendlichen auch im öffentlichen Diskurs virulent wurde.32 Gansel grenzt den traditionellen Adoleszenzroman von der Gattung des Bildungsromans dadurch ab, dass er den Text hinsichtlich der Überwindung bzw. des Scheiterns an der Krise des Potagonisten befragt. »Steht im Bildungsroman mit dem Ende der ›Wanderjahre‹ die Einheit von Individuum und Gesellschaft in Aussicht, mündet in den traditionellen Adoleszenzromanen die entstehende Krise im tragischen Ende.«33 Die zweite Phase der Gattungsgeschichte des Adoleszenzromans sei geprägt durch den Einfluss US-amerikanischer Initiationsgeschichten. Als Beispiel nennt er Heinrich Bölls Übersetzung von Jerome D. Salingers »The Catcher in the Rye«, die ab 1956 in beiden Teilen Deutschlands stark rezipiert wurde. Außerdem habe die Wiederentdeckung der traditionellen Adoleszenzliteratur und deren Aufnahme in den Literaturkanon der gymnasialen Oberstufe eine gewichtige Rolle gespielt. Entscheidend sei aber die 68er-Bewegung gewesen, die Gansel als »eine Rebellion der jungen Generation, eine Revolte der Adoleszenten und Postadoleszenten« auffasst.34 Die Auflehnung gegen die starren Normen und Werte der noch jungen Bundesrepublik, das Hinterfragen der familiären Beteiligung am NS-Regime, das Ablehnen der klassischen Konventionen und Rollenbilder sind Themen, die charakteristisch für die Studentenbewegung sind. 30

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Wie Born in seiner Studie anmerkt, wird der Adoleszenzroman häufig als Gattung der Kinder- und Jugendliteratur untersucht. Er schlägt deshalb die zusätzliche Bezeichnung allgemeinliterarischer Adoleszenzroman vor. [Vgl. Born (2011), S. 11]. Gansel, Carsten (2011): Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur, S. 30. 1904 habe sich der Reichstag mit dem Thema beschäftigt und 1908 auch das preußische Abgeordnetenhaus. [Vgl. Gansel, Carsten (2011): Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur, S. 30.] Als kanonisierte Literaturbeispiele nennt Gansel u.a. Hermann Hesses »Unterm Rad« (1906), Rainer Maria Rilkes »Turnstunde« (1904), Robert Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß« (1906), Frank Wedekinds »Frühlingserwachen« (1891) oder auch Hans Falladas »Godeschal« (1920). Vgl. Gansel, Carsten (2011): Adoleszenzkrisen und Aspekte von Störung in der deutschen Literatur um 1900 und um 2000, S. 266. Gansel, Carsten (2011): Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur, S. 35.

1. Theorie

Ab den 1980er-Jahren – konkret, seit dem Ende des Zusammenbruchs der UdSSR und der Wiedervereinigung Deutschlands – habe sich das gesellschaftliche Bild von Jugendlichkeit gewandelt. Wie schon im oberen Abschnitt erläutert, gilt Jugendlichkeit über Altersgrenzen hinweg als die »Persönlichkeitseigenschaft schlechthin«35 . Der (post)moderne Adoleszenzroman sei auf den Ebenen der Oberflächen- und Tiefenstruktur des Textes weitaus variabler als seine Vorgänger. Adoleszenzliteratur thematisiert deshalb auch keine Generationenkonflikte mehr. Gattungsprägend ist stattdessen der Hedonismus, dem die Helden frönen, aber auch ihre Identitätsentwicklung. Diese Feststellung Gansels steht in Verbindung mit dem Begriff der Postadoleszenz, der schließlich auch für die Beschreibung von Romanfiguren genutzt wird, die sich schon Mitte bis Ende der Zwanziger befinden, jedoch das Leben eines Jugendlichen führen.36

Rites de Passage Jugend als Übergangsphase und deren teleologisches Prinzip spiegelt sich im Konzept der Rites de Passage wider. Victor Turner entwickelte, inspiriert durch die Ausführungen des Ethnologen Arnold van Gennep zu Initiationsprozessen indigener Gesellschaften37 , ein dreiphasiges Modell. In der ersten Phase der Krise komme es zur Ablösung von bestehenden Strukturen, in der zweiten, der liminalen Phase löse sich das Individuum von den Strukturen und finde Halt in der Communitas. Damit ist eine Gruppe Gleichgesinnter, eine Peer-Group im soziologischen Sinne gemeint. In der postliminalen Phase schließlich könne sich das Individuum den neuen Rollenanforderungen, die durch die Gesellschaft entstehen, stellen und sich so wieder eingliedern.38 Parr sieht »[d]as symbolische Potenzial des Turner’schen Liminalitätskonzepts […] vor allem in seiner triadischen Raumkonstellation, bei der eine mittlere Zone zu beiden Seiten hin durch Grenzen eingerahmt wird, die in Richtung des zeitlichen Verlaufs […] durchlässig sind, umgekehrt aber nicht.«39 Im Bezug auf den Initiationsprozess, den Heranwachsende durchlaufen, bedeutet das, dass sie, wenn sie in der Liminalitätsphase sind, nicht wieder in die präliminale Phase zurückfallen 35 36 37

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Ebenda, S. 37. Gansel, Carsten (2011): Zwischen existenzieller Krise und zweiter Chance – Adoleszenz in der Literatur, S. 39. Van Gennep, Arnold (2005): Übergangsriten. Van Gennep untersuchte in seinem Buch »Übergangsriten« verschiedene Rituale und Praktiken indigener Gesellschaften, die ein Individuum im Laufe seines Lebens durchläuft, um seinen sozialen Status zu ändern. Seinen Ausführungen über Initiationsriten stellt er die Feststellung voran, dass »physiologische Pubertät und ›soziale Pubertät‹ nicht miteinander gleichzusetzen sind und nur selten zeitlich zusammenfallen« (ebenda, S. 71). Vgl. Parr, Rolf (2008): Liminale und andere Übergänge, S. 20f. Parr, Rolf (2008): Liminale und andere Übergänge, S. 22.

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Topographien der Adoleszenz

können. Das Modell spiegelt den teleologischen Charakter von Initiationsprozessen wider, die jedoch unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen können. Das Konzept schließt ein Verharren in der liminalen Phase aus und ist folglich nicht mit der gegenwärtigen Tendenz zur Ausweitung der Lebensphase Jugend und dem Konzept der Postadoleszenz vereinbar. Die Schilderungen der Soziologen Hurrelmann und Quenzel geben Anlass zur Vermutung, dass Individuen in der Postadoleszenz stehen bleiben könnten, wenn sie nicht alle Entwicklungsanforderungen, die die soziale Umgebung verlangt, erfüllen können bzw. wollen. Das Stillstehen auf der Schwelle ist im Liminalitätsmodell ausgeschlossen, in der gesellschaftlichen Realität jedoch denkbar und wird auch in der Literatur, allen voran in der großen Pop-Literatur-Welle des ausgehenden vergangenen Jahrtausends, thematisiert. Romane, die die Postadoleszenz behandeln, erzielen große Erfolge beim Publikum. Nick Hornbys »Fever Pitch« (1992), »About a Boy« (1998) oder »High Fidelity« (1995) sowie Frank Goosens »Liegen lernen« (2000) thematisieren die anhaltende Identitätssuche ihrer Protagonisten, die mit um die 30 Jahre längst in die Phase des Erwachsenenalters eingetreten sein müssten, in bis dahin ungewohnter Weise und treffen offenbar den Nerv der Zeit. Michael Althen fasst das Dilemma, in dem sich der Protagonist von »High Fidelity« befindet, in einer Rezension so zusammen: Hornby beginnt seinen Roman denn auch mit einer Top Five der unvergesslichsten Trennungen, und damit steckt man bereits mittendrin, in den Mysterien der Pubertät und des Erwachsenseins – was nach Lage der Dinge auch nur eine Fortführung der Pubertät mit anderen Mitteln ist. Hornbys Held Rob Fleming ist 36 und also erwachsen. Nur weigert er sich, das zuzugeben oder die Konsequenzen zu ziehen oder was auch immer. Dies ist schließlich das Alter, in dem so manches unklar ist, obwohl es das eigentlich nicht mehr sein sollte.40 Es geht nicht mehr um das Scheitern und den erfolgreichen Übergang von einer Phase in die nächste, stattdessen werden neue Formen der Lebensführung thematisiert. Der Umgang mit alltäglichen Problemen wie Beziehungskonflikten, Geldsorgen, Fragen nach dem Lebensinhalt werden auf amüsante Weise und mit Verweisen auf zeitgenössische Elemente wie Werbung, Musik oder Bücher dargestellt. Die Hauptfiguren entwickeln eine starke identifikatorische Sogwirkung, da sie mit den Lesern Musikgeschmack und Beziehungsprobleme verbindet. Freilich sucht die Thematik eines Buches sich seine Leser und vice versa. Dennoch macht die Gattung Pop-Roman, da sie Mittel des zeitgenössischen Alltags beschreibt und zur 40

Althen, Michael: Mysterien der ewigen Pubertät. Nick Hornby hat kein Erbarmen mit den Männern, in: Süddeutsche Zeitung am 28.03.1996. Online: http://michaelalthen.de/texte/the menfelder/literatur/high-fidelity/ [Stand: 24.11.2016].

1. Theorie

Entwicklung des Narrativs nutzt, die Identifikation mit den Protagonisten leicht und die Versuchung, die erzählte Welt als mimetisch zu deuten, groß. Das von Leslie Fiedler für die Pop-Literatur der 1970er-Jahre ausgegebene »Cross the Border, close the Gap«-Postulat wird in dieser zweiten Welle der Pop-Literatur, die abermals Adoleszenz beschreibt, endgültig umgesetzt. E- und U-Literatur werden seither gleichermaßen zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen erhoben.

1.2

Raumtheorie als literaturwissenschaftliches Analyseinstrument

Die Bonner Republik als Kulisse der (Post-)Adoleszenz ist der raumzeitliche Untersuchungsgegenstand dieser Studie, dem zur Analyse ein raumtheoretisches Begriffsinstrumentarium bereitgestellt wird. Wissenschaftliche Raumanalysen werden vor allem im Umfeld des Postkolonialismus anhand inter- bzw. transkultureller Lektüren durchgeführt, da besonders in diesen Fällen die durch die hegemoniale Macht des Westens räumlich-kulturellen Unterschiede zwischen Eigenem und Fremden zu Tage treten und untersucht werden können. So zeigte der Literaturwissenschaftler Edward W. Said in seinem 1978 erschienenen, viel rezipierten Werk »Orientalism«41 , dass das Bild des Orients und die Abgrenzung zum Okzident eine sich stetig reproduzierende und fortschreibende Praxis der hegemonialen Weltordnung darstellt, die stets aus der Perspektive des Westens gesteuert und bestimmt wird. Said dekonstruierte das Bild des Orients als Prozess des Othering, dem Image über das fremde Andere aus der Sicht des Eigenen (in diesem Fall des Westens). Der Mechanismus, sich von fremden Kulturen, Gruppen, Codes abzusondern, um die eigene Identität nach Innen zu festigen und das Fremde als Bedrohung oder unkultiviert darzustellen, ist auch in anderen geound sozialpolitischen Zusammenhängen nachweisbar. Das Klischee vom Balkan etwa bezeichnete Maria Todorova 20 Jahre nach Said als »Balkanismus«42 . Beide Konzepte – der Orientalismus wie der Balkanismus – beruhen auf einem starken Dualismus. Die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden scheint in diesen Fällen absolut und ist Ausdruck der Herrschaftsbeziehungen. Literaturen, die das Leben zwischen zwei Kulturen thematisieren, eröffnen einen neuen Umgang mit Identität in Zeiten von Migration und Diaspora-Erfahrung. Das Konzept des Dritten Raums von Homi K. Bhabha lenkt den Blick auf das Dazwischen und ermöglicht das Denken hybrider Identitäten und Sichtweisen von der Schwelle aus. »Damit löst er sich von einer traditionellen und kritischen Perspektive der InterKulturalität und lässt die Grenze oder Schwelle zu dem Ort werden, von woher die 41 42

Said, Edward W. (2014): Orientalismus. Todorova, Marija Nikolaeva (1999): Die Erfindung des Balkans.

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Topographien der Adoleszenz

Kultur gedacht werden kann.« Das transitorische Moment eröffnet neue Perspektiven und bietet sowohl für die literaturwissenschaftliche Analysepraxis als auch für das sozial-politische Handeln einen heuristischen Mehrwert.43 Die transitorische Schwelle ist als Metapher auch in anderen raumtheoretischen Überlegungen anzutreffen. Neben dem teleologischen Konzept der Rites de Passage, das auch – so steht zu erwarten – in poetischer Form in den Romantexten eine Rolle spielen wird, ist das Konzept der Semiosphäre zu benennen.

Das Konzept der Semiosphäre Literatur prägt und offenbart das Raumwissen der ihr zugehörigen Kultur und ist deshalb als Beitrag zum kulturellen Gedächtnis zu verstehen. Ausgangspunkt dieser These ist die bereits eingeführte Grundannahme der Kultur als Text, welche ein nicht-hierarchisches Literaturverständnis einfordert und eine Unterscheidung zwischen Höhenkamm- und Unterhaltungsliteratur für die Kulturwissenschaften obsolet macht. Jedwede Form zeichenhafter Äußerung – seien es ein Roman, ein Gesetzestext, Filme, Fotografien, politische Reden – ist Ausdruck und Erzeugnis des Kulturraums, in dem sie stattfindet. Der Literaturwissenschaftler Jurij Lotman prägte dazu passend den Neologismus der »Semiosphäre«, den er vom Begriff der Biosphäre44 abgeleitet hat. Die Biosphäre ist Voraussetzung allen Lebens auf der Erde, ohne sie wären Organismen undenkbar. Sie schafft Leben und ist zugleich Leben. Äquivalent dazu führt Lotman den Begriff der Semiosphäre ein, die, so Lotman, »zugleich Ergebnis und Voraussetzung der Entwicklung der Kultur« ist.45 Und an anderer Stelle: Man kann das semiotische Universum als Gesamtheit einzelner Texte und in Beziehung zueinander abgeschlossener Sprachen sehen. […] Fruchtbarer scheint jedoch das entgegengesetzte Vorgehen: Der gesamte semiotische Raum kann als ein einheitlicher Mechanismus (oder sogar Organismus) betrachtet werden.46 Lotman plädiert für ein universalistisches Verständnis des semiotischen Raums, welches Subsemiosphären und durchlässige Grenzen kennt, jedoch keine in sich

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45 46

Vgl. do Mar Castro Varela, María/Randeria, Shalini (2010): Postkolonialer Raum: Randständigkeit und Thirdspace, Zitat: S. 184. Den Begriff entwickelte der russische Geologe Wladimir Iwanowitsch Wernadski. Lotman inspirierte seine These zur Biosphäre, die besagt, dass Leben aus Leben entsteht und nicht aus inaktiver Materie [inert matter], wie Lotman in einem Brief aus dem Jahr 1982 erläuterte. [Vgl. Pis’ma: 1940-1993. Edited by B. F. Egorov. Moscow: Iazyki slavianskoi kul’tury, hier nach: Semenenko, Aleksei (2012): The Texture of Culture, An Introduction to Yuri Lotman’s Semiotic Theory, S. 112]. Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 165. Lotman, Jurij M. (1990): Über die Semiosphäre, S. 289.

1. Theorie

abgeschlossenen Kulturräume. Seine Ausführungen und das Bild eines Organismus lassen mithin an rhizomatische Strukturen denken, die das gesamte Zeichensystem der Semiosphäre ausmachen. Ohne Semiosphäre kein Zeichensystem, keine Zeichennutzer, keine Kultur. Die Schriften zur Semiosphäre werden seit den 1990er-Jahren und verstärkt seit Mitte der Nuller-Jahre47 rezipiert. Schon weit vor der Ausrufung des Spatial Turn machte Lotman als bis dahin erster ausgewiesener Literaturwissenschaftler auf die Analysekategorie Raum aufmerksam. Ihm zufolge lassen sich topographische Räume in literarischen Texten als solche klassifizieren, wenn topologische Konstanten wie oben und unten, rechts oder links semantisch aufgeladen werden. Sie erhalten eine Wertung wie gut und schlecht oder richtig und falsch. Sobald diese Kategorien im Text räumlich dargestellt werden, etwa durch Himmel und Hölle, handelt es sich um topographische Räume. Der Held der Erzählung muss diese eigentlich unüberwindbare, klassifikatorische Grenze der beiden dichotomen Teilräume überwinden. Sobald er die Grenze passiert, entsteht ein Ereignis: Der Text erhält ein Narrativ und ist nach Lotmans Klassifikation sujethaft. Findet keine Grenzüberschreitung statt, ist er sujetlos. Sujethafte Texte können mit dem Scheitern der Grenzüberschreitung enden. Lotman nennt sie dementsprechend restitutiv. Entweder misslingt der Versuch des Helden, die Grenze zu passieren, oder er kehrt zurück in die bekannte Ordnung. Eine erfolgreiche, dauerhafte Überwindung der Grenze kennzeichnet einen sujehaften Text als revolutionär.48 »Revolutionäre Texte durchbrechen die klassifikatorische Ordnung der erzählten Welt, restitutive übernehmen sie«49 , fasst Lotman zusammen. In Bezug auf die Unterscheidung zwischen tragischem Ende des traditionellen Adoleszenzromans und der Einordnung des Helden in die Struktur der erzählten Welt im Bildungsroman sind erstere revolutionäre Texte und Bildungsromane restitutiv. Denn restitutive Texte, welche die Adoleszenz thematisieren, sind dadurch gekennzeichnet, dass der Held im Sinne der Rites de Passage sich wieder in die bestehende gesellschaftliche Ordnung eingliedert und die Grenze eben nicht erfolgreich passiert. Den dreigliedrigen Übergangsriten ist zwar ein teleologisches Prinzip inhärent, welches keine Rückschritte zulässt, es kennzeichnet die zweite Grenzüberschreitung aber ausdrücklich als Wiedereingliederung in die Ordnungsstruktur und eben nicht als Entwicklung einer neuen Struktur, in welche sich der nun Erwachsene einfügt. 47

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Es ist vor allem das Verdienst der Literaturwissenschaftlerinnen Susi K. Frank und Cornelia Ruhe, die Lotmans Spätwerk »Die Innenwelt des Denkens« (2010) und »Kultur und Explosion« (2010) erstmals den deutschsprachigen Lesern zugänglich machten. Vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael (2012): Einführung in die Erzähltheorie, S. 151-160. Martínez, Matías/Scheffel, Michael (2012): Einführung in die Erzähltheorie, S. 157ff. Wie weitreichend der Einfluss des Spatial Turn auf die Literaturwissenschaften ist, beweist auch die Überarbeitung und Ergänzung des Standardwerks zur Erzähltheorie um das entscheidende Kapitel Raum im Jahr 2012 (vgl. S. 151-161).

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Topographien der Adoleszenz

Die Grenze, die der Held der Diegese durchbrechen soll, denkt Lotman in seinem Konzept der Semiosphäre weiter und macht sie damit fruchtbar für seine Kulturtheorie. Kulturräume sind nach Lotman nicht zwingend abhängig von Nationalgrenzen, sind diese doch wandelbare Konstrukte. Auch nationale Grenzen überspannende Semiosphären seien – etwa mit Blick auf die literaturhistorische Epoche des europäischen Realismus – denkbar.50 Lotman bezeichnet sowohl das die Welt umspannende Zeichensystem als Semiosphäre wie auch einzelne Kulturräume, die wiederum von Subsemiosphären – etwa Jugendkulturen – durchzogen sind. Er zieht die Grenzen der Semiosphären nicht allein dort, wo Sprachgrenzen oder Nationalgrenzen verlaufen. Vielmehr sei, »der gesamte Raum der Semiosphäre von Grenzen unterschiedlicher Niveaus durchzogen, den Grenzen einzelner Sprachen und sogar Texte, und der Innenraum jeder dieser Sub-Semiosphären hat sein eigenes semiotisches ›Ich‹, das sich als Verhältnis einer Sprache, einer Gruppe von Texten oder eines einzelnen Texts […] zu einem sie beschreibenden metastrukturellen Raum realisiert«.51 Der Ort, an dem der Theoretiker seine Werke verfasste, nimmt im Vergleich zu dem anderer Kulturtheoretiker, wie Said oder Bhabha, eine Sonderstellung ein. Lehrten und verfassten die zwei Letztgenannten ihre Werke an Universitäten der westlichen Hemisphäre, also der machtausübenden Seite, gegen die sich letztlich deren Konzepte wenden, schrieb Lotman von der Peripherie her; er arbeitete in Estland, fernab der Machthaber Moskaus, am Rande der Sowjetunion. Hier liegt zugleich aber auch der Unterschied zu den anderen Kulturtheorien, wie die Herausgeber im Nachwort zur »Innenwelt des Denkens« argumentieren. Lotmans Ausführungen entziehen sich, laut ihnen, normativen Wertung von Krieg und Auseinandersetzungen, die an den Kulturgrenzen entstehen.52 Er nimmt sie aus analytischer Perspektive wahr, nicht mehr und nicht weniger. Wie stark Lotmans Theorie von seiner eigenen Biographie und der Zeit des Kalten Krieges und der dualistischen Aufteilung der Welt geprägt ist, machen die Herausgeber der deutschen Übersetzung der »Innenwelt des Denkens« deutlich: Das Figurenkabinett aus Randgestalten, Vermittlern, Zwischenfiguren und Grenzverletzern, die in seinen Analysen prominenten Status erhalten, betrifft auch den Theoretiker selbst, der als Jude Zugang zu akademischen Positionen nur

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51 52

Diese »vermeintliche[] Unschärfe Lotmans« wird im Nachwort zur »Innenwelt des Denkens« als Gewinn für die Kulturwissenschaften gewertet. [Vgl. Frank, Susi K./Ruhe, Cornelia/ Schmitz, Alexander: Jurij Lotmans Semiotik der Übersetzung, in: Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 383-416, hier: S. 391]. Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 184. Vgl. Frank, Susi K./Ruhe, Cornelia/Schmitz, Alexander: Jurij Lotmans Semiotik der Übersetzung, S. 395f.

1. Theorie

an einem Ort erhielt, der denkbar weit weg vom politischen und wirtschaftlichen Zentrum der Sowjetunion entfernt lag.53 Die Peripherie einer Semiosphäre ist für Lotman der Ausgangspunkt für die lebenserhaltende Dynamik von Kultur. Der russische Intellektuelle denkt die Semiosphäre räumlich, aber keineswegs statisch, bestehend aus Zentrum und Peripherie. Die Brennpunkte der semiotisierenden […] Prozesse befinden sich aber an den Grenzen der Semiosphäre. Der Begriff der Grenze ist ambivalent: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache »unserer eigenen« Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das ›Äußere‹ zum ›Inneren‹ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren.54 Als Semiotiker schließt er, wenn er von Mehrsprachigkeit spricht, nicht allein die Bedeutung von »langue« und »parole« mit ein, die er mit Code und Text gleichsetzt. Wenn von Übersetzungsprozessen an der Grenze der Semiosphäre die Rede ist, bezieht er auch Adaptionen von künstlerischen Texten in Filme oder Textinterpretationen, Übersetzungen verbaler Texte in ikonische, mithin aber auch Übersetzungen von einer Sprache in eine andere, mit ein.55 In Phasen hoher semiotischer Aktivität versucht sich das Zentrum der Semiosphäre zu schützen, indem es durch die Festlegung von Sitten und Gebräuchen sowie juristischen Normen eine »Grammatik« schafft; Lotman nennt dies die »Phase der Selbstbeschreibung«56 . Die gedankliche Nähe zu Foucault und seinen Ausschließungssystemen ist hier offenkundig. Wie Foucault charakterisiert auch Lotman Orte wie Friedhöfe oder Außenseiter, die außerhalb der Stadt leben mussten, als Randerscheinungen, die die Peripherie verkörpern. Verwaltungsgebäude und Sakralbauten hingegen, die als Orte der geltenden Machtstrukturen fungieren, stehen im Zentrum der Semiosphäre. Soziale Gruppen mit niedrigem Status siedeln an den Rändern, der Peripherie. Dringt etwas Neues in die Semiosphäre ein, wird es zunächst durch die Bewohner der Grenze adaptiert. Lotman führt als Beispiel die Verbreitung der Jeans an, die vormals als reine Arbeiterhose genutzt von Subkulturen adaptiert wurde und mittlerweile zum gängigen Alltagskleidungsstück avanciert ist. Sie ist »normal« geworden, blass und »einfach nur 53 54 55 56

Ebenda, 386f. Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 182. Vgl. Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 22ff. Vgl. ebenda, S. 170.

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da«57 ; sie steht jetzt im Zentrum der Semiosphäre. Ähnlich verhält es sich mit dem einleitend erwähnten Minirock im Songtext. »Zwischen Eigenheim und Minirock« heißt es dort. An den Grenzen Deutschlands, an der Küste, inmitten der Peripherie der 1970er-Jahre wird ein Spannungsfeld besungen, das zwischen »normalen« Lebensentwürfen und dem obligatorischen Eigenheim – in welchem das lyrische Ich aufwuchs – changiert. Der Einbruch des Neuen in diese heile Welt wird hier dargestellt durch den Minirock, der neben der Popkultur auch die erwachende Sexualität des Heranwachsenden symbolisiert. Die Verschiebung von Normen ist in Lotmans Konzept ein Indikator für die Dynamik der Semiosphären und die Entwicklung von semiotischen Kulturräumen. Als »wichtiges Merkmal semiotischer Kernstrukturen« versteht Lotman die Verbreitung von Normen von der kulturellen Peripherie über den gesamten kulturellen Raum aus hin zu dessen Zentrum. »[D]er Sieg eines bestimmten semiotischen Systems [ist] gleichbedeutend mit dessen Verschiebung ins Zentrum und seinem unausweichlichen ›Verblassen‹.«58 Das Zentrum braucht immer wieder neue Impulse von außen, ansonsten würde es erstarren und schließlich absterben, was den Untergang der Kultur bedeutet. Die zwei entscheidenden Kräfte, die in einer Semiosphäre wirken, sind mithin die Abgrenzung nach innen, die vom Zentrum ausgeht, indem sie Selbstbeschreibungen generiert, sowie die Übersetzungsmechanismen, die am Rand der Semiosphäre stattfinden und neue Impulse setzen.

Der Grenzraum In gewisser Hinsicht liegt Lotmans Konzept eine transkulturelle Idee zugrunde. Der Grenzraum als Vermittler und Gesprächsraum zwischen verschiedenen Semiosphären und Kulturen wird als Grundvoraussetzung jeglicher Kultur verstanden. Wolfgang Welsch veröffentlichte seine Ausführungen zur Transkulturalität 1997 und stellte sie dem Interkulturalitäts- und Multikulturalitätsmodell59 entge57 58 59

Ebenda, S. 189. Ebenda. Wenngleich Welsch das hybride Kulturverständnis allein dem Modell der Transkulturalität zuschreibt, ist diese Inanspruchnahme irreführend, geht doch auch das Konzept der Interkulturalität häufig von einer wechselseitigen Durchdringung von Kulturen aus. Mit der Verwendung des Begriff der Transkulturalität werde, so Dörr, »ein Bezug auf postkoloniale Theoriebildungen« signalisiert, was aber im Umkehrschluss nicht bedeute, dass interkulturell angelegte Studien ausschließlich mit hermeneutischen Interpretationen operieren müssten. Dörr identifiziert den Unterschied der beiden Kulturverständnisse in der räumlichen Beschaffenheit. Das Dazwischen im Sinne des Interkulturalitätsmodells sei als eindimensionale Linie und damit als zu überschreitende Grenze zu verstehen (vgl. Dörr, S. 74f.). Das transkulturelle Denkmodell hingegen gehe davon aus, dass »Kulturen qua Kulturalität transkulturell« seien (ebenda, S. 75). Zitate: Dörr, Volker C. (2010): Multi-, Inter-, Trans- und Hyper-. Kulturalität und (deutsch-türkische) ›Migrantenliteratur‹, in: Zwischen Provokation und Usurpation, S. 71-86.

1. Theorie

gen, die, so definiert es Welsch, beide von in sich abgeschlossenen und gegeneinander stehenden Kulturen ausgingen. Er rekurriert damit auf den geistigen Urvater des Kulturmodells, Johann Gottfried Herder; dessen Verwendung des Kulturbegriffs attestiert Welsch einen separatistischen und stark vereinheitlichenden Zug. Wenngleich Welschs Herder-Lektüre heute als mindestens einseitig zurückgewiesen wird60 , so sind seine Ausführungen von der Hybridität der Kultur(en) doch anschlussfähig an die Ausführungen Lotmans. Welsch betont, dass moderne Gesellschaften immer hybride Gebilde seien. Sie umfassen eine Vielzahl unterschiedlicher Lebensweisen und Lebensformen. Sie sind vertikal differenziert: die Kultur eines Arbeitermilieus, eines Villenviertels und der Alternativszene weisen kaum noch einen gemeinsamen kulturellen Nenner auf. Und die sind horizontal differenziert: Unterschiede von weiblicher und männlicher, heterosexueller oder homosexueller Orientierung können einschneidende Unterschiede in den kulturellen Mustern und Lebensformen begründen.61 Welsch begreift das Transkulturalitätsmodell auch als »Wirkfaktor« für die Realität von Kultur, weil das Kulturverständnis maßgeblich unseren Umgang mit Neuem und die Akzeptanz von Heterogenität in der Gesellschaft präge.62 Er veranschaulicht sein Konzept auf der Makro- und der Mikroebene. Jedes Individuum ist letztlich Träger einer kulturellen Identität, die sich aus den verschiedenen Einflüssen – nach Lotman, der Semiosphäre – speist. Wenn Lotman seine Metatexte, die die Semiosphäre beschreiben, selbst als Teil dieser Semiosphäre versteht, gesteht er zugleich seinen wissenschaftlichen Texten solch einen »Wirkfaktor« auf die Realität zu. Gleichzeitig warnt er vor der Möglichkeit, das historische Bild einer Semiosphäre anhand zeitgenössischer Texte nachzuzeichnen. Es würde ein idealisiertes Bild entstehen, das allein das Zentrum der Semiosphäre, mithin die Selbstbeschreibung, widerspiegele. Die Randtexte bzw. die Codes an der Peripherie sind marginalisiert, verschwunden oder verschüttet und gehören doch eigentlich zum Gesamtbild, zur Realität der Semiosphäre.63

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Jochen Johannsen weist nach, dass Welsch Herders Zitate durch Weglassungen entstellt und dessen Gedankenwelt verzerrt abbildet. Welsch habe dieses Vorgehen offenbar wohl nicht sonderlich gestört, stellt Johannes lakonisch fest, »solange Herders vermeintliches Kugelaxiom geeignet scheint, als paradigmatische[s] Gegenmodell zu Welschs Transkulturalitätskonzept zu dienen« (Johannsen, Jochen (2017): Völker als Gedanken Gottes? Zur politischen Herder-Rezeption, S. 9). Weitere dezidierte Auseinandersetzungen mit Welschs Herder-Lektüre vgl. Anne Löchte (2005): Johann Gottfried Herder, Kulturtheorie und Humanitätsidee der Ideen, Humanitätsbriefe und Adrastea, insbesondere: S. 23 und 128ff. Welsch, Wolfgang (1997): Transkulturalität, S. 68. Vgl. Welsch, Wolfgang (1997): Transkulturalität, S. 75. Vgl. Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 172.

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Der Erinnerungsboom der Gegenwartsliteratur nach dem Ende des Kalten Krieges, der in der Forschung als Selbstvergewisserungsreflex bewertet wird, ist anschlussfähig an die Überlegung Lotmans, nach der das Zentrum versuche, in Phasen hoher semiotischer Aktivität durch Selbstbeschreibungen seine Existenz zu schützen. Der Dualismus des Kalten Krieges war plötzlich Vergangenheit und ein machtpolitischer Antagonist fehlte. Erst der Anschlag auf die Twintowers und das Pentagon am 11. September 2001 beendete diese Ruhephase. Die westliche Hemisphäre hatten fortan mit dem Terrorismus wieder einen offiziellen Gegenpol; das »Böse«, wie sich der damalige US-Präsident George W. Bush in diversen Reden zu seinem »War on Terror« ausdrückte. Und er schaffte es, gleich die ganze westliche Welt als Opfer des Anschlags einzubeziehen, indem er von einem Kampf der gesamten Welt gegen den Terror sprach und die Welt in solche Länder einteilte, die den Terrorismus unterstützen, und solche, die die Freiheit verteidigen.64 Die Erinnerungsliteratur kann entsprechend als Ausdruck der bisher verdrängten und am Rand der Semiosphäre abgelegten Themen interpretiert werden. Erzählungen zu Fluchterfahrung und NS-Vergangenheit in der eigenen Familie etwa waren in der jungen Bundesrepublik stark marginalisiert. Das Aufarbeiten der eigenen Familiengeschichte hängt zum einen mit dem Wunsch nach dem Aufspüren der eigenen Wurzeln zusammen und zum anderen mit dem allmählichen Übergang der NS-Vergangenheit vom kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis. Die einstigen Zeitzeugen leben zum größten Teil nicht mehr, und die Erinnerungen werden nun schriftlich fixiert und konserviert. Etwas anders verhält es sich mit den Texten dieser Studie. Die Autoren binden ihre eigenen Erinnerungen an die Zeit des Heranwachsens in ihre Texte ein – dies in unterschiedlich starken Ausprägungen. Sie sind meist um die 40 Jahre alt, wenn sie beginnen, ihre Lebenserfahrungen zu narrativieren. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive wird dieses Lebensjahrzehnt neben der Adoleszenz als eine weitere wichtige Phase der Individuation gewertet.65 In diesem Fall werden die Erlebnisse erstmals als Selbstbeschreibungssystem in das Zentrum der Semiosphäre gespeist. Es ist sowohl auf die individuellen Gründe der Autoren als auch auf die historischen Entwicklungen zurückzuführen, dass das Erzählen über die Adoleszenz in der alten Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre gerade dann einsetzt, als die Zeit der Zweistaatlichkeit überwunden ist. Welsch wie Lotman entwickeln ein Kulturmodell, setzen aber unterschiedliche Schwerpunkte, deren Ausführungen sich gegenseitig ergänzen. Freilich liegt Welschs Modell kein semiotisches Konzept zu Grunde, dennoch verstehen beide

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Vgl. Die Rede von George W. Bush gehalten am 20. September 2001 vor dem Kongress und dem amerikanischen Volk. Online: https://www.theguardian.com/world/2001/sep/21/septem ber11.usa13 [Stand: 05.07.2018]. Vgl. Bohleber, Werner (2011): Grundzüge adoleszenter Entwicklung, S. 61-74.

1. Theorie

Kultur als etwas Globales, das unterschiedlich zum Ausdruck kommen kann. Lotman nutzt dafür die topologischen Koordinaten von Zentrum und Peripherie und versucht so zu beschreiben, wie die Dynamik einer Kultur entsteht. Welsch versteht Transkulturalität als »eine Folge der inneren Differenzierung und Komplexität der modernen Kulturen. […] Heutige Kulturen sind aufs stärkste miteinander verbunden und verflochten«. Wer heute noch von der deutschen, japanischen oder französischen Kultur spreche, der habe in Wahrheit Staatsgebilde oder Sprachgemeinschaften im Bewusstsein.66 Zwar sind die Handlungen der untersuchten Texte in der Bonner Republik angesiedelt und keiner der Autoren und Protagonisten hat einen – wie man heute sagen würde – »Migrationshintergrund«, dennoch erachte ich die oben angerissenen Ausführungen zu Welschs Kulturkonzept als gewinnbringend für die Analyse. Zum einen veranschaulichen sie den Kulturbegriff nach Lotman als eben nicht inselartig abgegrenzte Räume, sondern als oszillierende, dynamische und lose Verbindungen, die auch immer abhängig von der Wahrnehmungsperspektive sind. Lotman denkt die Semiosphäre nicht in geopolitischen oder ethnologischen Grenzen, sondern als Kollektiv gemeinsamer Zeichennutzer. Das Semiosphärekonzept sei deshalb fruchtbar, so Cornelia Ruhe, weil es sich selbst nicht in den Dichotomien Macht und Ohnmacht, Kolonisator und Kolonisiertem verliere, »sondern allein auf die kulturelle Dynamik der analysierten Prozesse und ihrer historischen Wandelbarkeit abhebt«.67 Zum anderen liegt beiden Konzepten ein Kulturbegriff zu Grunde, der auch das realpolitische Verständnis von Kultur und Identität positiv beeinflussen kann. Die Romane gelten allein aufgrund ihrer Thematik als sujethaft. Die Protagonisten lassen sich durch den Lebensabschnitt, in dem sie sich befinden, als Ausgegrenzte charakterisieren. Wie dieses Leben im Grenzraum dargestellt wird, ist jedoch unterschiedlich. Und auch die Figurenentwicklung nimmt unterschiedliche Wege und macht den einen Roman zu einem revolutionären, den anderen zu einem restitutiven.

Autokommunikation, Imaginäres und Heterotopien Ausgangsbasis von Lotmans Kulturtheorie ist die Übertragung des auf Roman Jakobson zurückgehenden Sender-Empfänger-Modells auf Kollektive. Jakobson beschreibt den Kommunikationsakt zwischen Subjekt und Objekt als die Übermittlung einer Mitteilung. Neben diesem Modell, dem keine neuen Informationen zugefügt werden, gibt es das der Autokommunikation. Das Ich teilt sich selbst mittels eines neuen Codes Bekanntes mit. Obwohl dies im ersten Moment paradox klingen mag, konstatiert Lotman gerade für dieses Modell einen Informationszuwachs. Als 66 67

Welsch, Wolfgang (1997): Transkulturalität, S. 71 sowie Endnote 17. Ruhe, Cornelia (2015): Semiosphäre und Sujet, S. 171.

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Topographien der Adoleszenz

Beispiel führt er Tagebuchaufzeichnungen an, die zur »Klärung der inneren Verfassung des Schreibenden« dienen. Autokommunikation begreift Lotman als »ein wesentliches Faktum nicht nur der Psychologie, sondern auch der Kulturgeschichte«68 . Das System der menschlichen Kommunikation sei auf zweierlei Weise aufgebaut: Im einen Fall haben wir es mit einer vorgegebenen Information zu tun, die ein Mensch an einen anderen weitergibt, und mit einem für die Dauer des gesamten Kommunikationsaktes konstanten Code. Im anderen Fall geht es um einen Zuwachs an Information, um ihre Transformation und Umformulierung, wobei nicht neue Mitteilungen eingeführt werden, sondern neue Codes, und Empfänger und Sender in einer Person vereint sind. Im Prozess einer solchen Autokommunikation wird die Persönlichkeit selbst umgebildet […].69 Ebenso verhalte es sich mit poetischen Texten, die zwischen den Bedeutungen, »die im Kanal ICH-ER übertragen werden, und den im Prozess der Autokommunikation gebildeten«70 changieren. Ein Text werde aus funktionaler Sicht dann nicht mehr als Mitteilung, sondern als Code (Autokommunikation) genutzt, »wenn er dem uns Bekannten nichts Neues hinzufügt, sondern das Selbstbild der Person transformiert, die die Texte produziert«. Lotman schließt hier sowohl den Textproduzenten als auch den Leser mit ein.71 Nicht allein Individuen kommunizieren dem Modell nach miteinander, sondern auch Kulturen. So sei auch der Blickwinkel, dass »das kollektive MenschheitsIch« Mitteilungen an sich selbst sende, möglich. Die »gesamte Menschheitskultur« wäre dann »ein kolossales Beispiel für Autokommunikation«. Lotman meint, man könne die Kultur selbst als die Summe aller Mitteilungen sehen, die die unterschiedlichen Sender, die man als eins betrachten könne, untereinander austauschten.72 Literarische Texte zeichnen sich durch eine autokommunikative Struktur aus, welche »neue Informationen generieren und so besonders auf ›fremden‹ Zustrom reagieren«73 könne. Um diese neuen Informationen zuzulassen und in die eigene Kultur zu übersetzen, muss die Kultur auf »Empfang eingestellt sein«. Lotman meint damit den Willen zum Dialog, den er als »elementaren Akt des Übersetzens« beschreibt.74

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Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 33. Ebenda, S. 44. Ebenda, S. 43. Vgl. Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 45. Vgl. ebenda, S. 48f. Ezli, Özkan (2012): »Auf Empfang eingestellt…«, S. 249. Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 191 und 198.

1. Theorie

Diese Gedanken Lotmans lassen sich mit dem Begriff des Imaginären zusammendenken. Ist eine Semiosphäre »auf Empfang eingestellt«, kann demnach jeder Text, jegliches zeichenhafte Produkt als Medium im ursprünglichen Sinne verstanden werden. Durch sie spricht das Subjekt zu sich selbst in einem anderen Code und kann sich selbst verstehen lernen. Das Medium erlaubt einen fremden Blick auf das Eigene und wird zum Spiegel im Lacan’schen Verständnis. Das Imaginäre ist es, was der Text zum Vorschein bringt.75 Der räumliche Aspekt, der sich in Lacans Spiegelstadium verbirgt, tritt in der englischen Übersetzung mirror stage und im französischen Original stade de miroir deutlicher hervor, wie Katharina Grabbe in ihrer Studie »Deutschland – Image und Imaginäres« anmerkt. Lacan nutzt das Bild dieses entwicklungsbiologischen Experiments, in welchem Kinder ihr Spiegelbild als ein Abbild ihrer selbst erkennen und so eine Identifikation entsteht, um die Struktur der Subjektwerdung zu veranschaulichen. »Mit dem Stadium ist zugleich das Stadion angesprochen – als Austragungsort oder Bühnenraum eines sich beständig wiederholenden und unabschließbaren Akts der Identifikation […].«76 Der Austragungsort ist ein Raum, der durch die Dynamik des Imaginären entsteht. Grabbe fasst Lacans Verständnis des Imaginären wie folgt auf: Das Imaginäre beschreibt nicht einfach die Nicht-Identität oder Gespaltenheit des Subjekts, sondern darüber hinaus gerade die Dynamik, die durch die Gespaltenheit angestoßen wird und ermöglicht, zu untersuchen, über welche Bildentwürfe oder Images sich das imaginäre »Wir« aktualisiert.77 Andreas Mahler verbindet das Konzept des Imaginären mit dem der Semiosphäre. Das »imaginäre Wir« Grabbes kann in diesem Sinne als autokommunikativer Code verstanden werden. Entsprechend begreift Mahler das Spiegelstadium als ein Entwicklungskonzept, das mit dem Eintritt des Individuums in die Semiosphäre zusammenfalle. Erst wenn sich ein Individuum als sich selbst erkennt bzw. ein Konstrukt von sich bilden kann, ist es Teil der Semiosphäre. Der Spiegel wird als »die erste[] mediale[] Projektionsfläche für die Auskristallisierung des Imaginären«78

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Lacan hebt in seiner Trias vom Realen – Symbolischen – und Imaginären letzteres hervor und spricht ihm eine dynamische Struktur zu, die eine Identifikation des Eigenen ermöglicht. [Vgl. Lacan, Jacques (1986): Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion]. Grabbe, Katharina (2014): Deutschland – Image und Imaginäres, S. 24. Ebenda, S. 19. Vgl. Mahler, Andreas (2004): Semiosphäre und kognitive Matrix. Anthropologische Thesen, hier: S. 60. Wenngleich ich in diesem Punkt mit Mahler übereinstimme, teile ich seine Grundannahme, allein Menschen seien Teil einer Semiosphäre, nicht. Schließlich bestehen auch Primaten den Spiegeltest, erkennen das Bild im Spiegel als sich selbst. Auch sie leben somit in zwei Räumen: Der Bios- und der Semiosphäre. Nur weil wir Menschen nicht dieselben Zeichen nutzen wie sie, bedeutet das nicht, dass allein wir Menschen fähig sind, semiotische und mediale Praktiken auszuüben.

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Topographien der Adoleszenz

bezeichnet. Er produziert das Imaginäre und dient als Identifikationsraum. Foucault erklärt, dass sich das Subjekt erst als solches erkennen könne, wenn es sich als Objekt identifiziere. Erst im Spiegel ende die »utopische Raserei des Körpers«79 . Das Präfix hebt auf das Fluide und Nichtfassbare und -verortbare des Subjekts ab, das sich selbst erst als Einheit erkennen kann, wenn es sich als Objekt im imaginären Raum identifiziert. Der Körper ist Voraussetzung für die Konstituierung von Räumen, und gleichzeitig sind Körper nicht außerhalb von Räumen denkbar. Foucault prägte in zwei Radiovorträgen, die er 1966 hielt – »Les hétérotopies« und »Le corps utopique« –, die drei zentralen Begriffe, um welche sein Werk kreist: Macht, Wissen und Raum. In »Der utopische Körper« beschreibt der Philosoph den Körper zunächst als ein Konstrukt, in dem er gefangen ist. Mein Körper ist das genaue Gegenteil einer Utopie, er ist niemals unter einem anderen Himmel, er ist der absolute Ort, das kleine Stück Raum, mit dem ich buchstäblich eins bin. Mein Körper ist eine gnadenlose Topie.80 Kurz darauf erklärt er seinen Körper als »Nullpunkt der Welt« und somit zum genauen Gegenteil, nämlich zum utopischen Körper. Wie kommt es zu der Verschiebung der Sichtweise? Es sind drei Situationen, die Foucault ausmacht, die einen gewahr werden lassen, dass der Körper eine Utopie (Nicht-Ort) ist. Und das geschieht in den Momenten, wenn er als realer Körper sichtbar wird: im Spiegelbild, beim Anblick einer Leiche, bei der körperlichen Liebe. In der Antike habe es kein Wort für lebende Körper gegeben, betont Foucault, nur einzelne Körperelemente kämen in antiken Texten vor. Erst wenn der Mensch tot und zur Leiche geworden ist, werden die einzelnen Glieder des Menschen zu einer Einheit – eben der Leiche. Spiegel und Leiche weisen der zutiefst und ursprünglich utopischen Erfahrung des Körpers einen Raum zu. Spiegel und Leiche bringen diese große utopische Raserei zum Verstummen, die dazu führt, dass unser Körper ständig zerfällt und sich verflüchtigt. […] Spiegel und Leiche sorgen dafür, dass unser Körper keine bloße Utopie ist.81 Spiegelbild und Leiche werden nie im gleichen Raum sein, wie auch der reale Körper nie dort sein wird, wo sich Spiegelbild oder Leiche befinden. Die dritte Mög-

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Foucault, Michel: Der utopische Körper, France Culture, 21. Dezember 1966, in: derselbe (2005): Die Heterotopien, Der utopische Körper, zwei Radiovorträge, hier: S. 35, Hervorhebung: L. H. Foucault, Michel: Der utopische Körper, France Culture, 21. Dezember 1966, in: derselbe (2005): Die Heterotopien, Der utopische Körper, zwei Radiovorträge, S. 25. Ebenda, S. 35.

1. Theorie

lichkeit, um die »utopische Raserei« zu stoppen, ist die körperliche Liebe. Denn durch die Berührungen des anderen Körpers, existiere der Körper endlich jenseits aller Utopie.82 Foucault gelangt so zu der Annahme, dass nur Utopien selbst, indem sie den utopischen Körper in sich aufnehmen, die Utopie des Körpers verbergen können. Es ist letztlich die Erfahrung von Alterität, die dem Menschen die eigene Körperlichkeit erfahrbar werden lässt. Identität, und damit verbindet Mahler Foucaults, Lacans und Lotmans Thesen miteinander, entstehe erst durch Differenz. Im Moment des Eintritts in die Semiosphäre, die Mahler mit der Metapher des Erkennens im Spiegel erläutert, sehe das Kind von sich ab »und findet sich; es etabliert keine Relation in linearer Verlängerung von sich, sondern relationiert sich von einem Anderen, in dem es plötzlich und unvermutet das Eigene findet«.83 Die Welt kultureller Zeichen (Semiosphäre), die erst Identität ermöglicht, wird »invers«84 und eben nicht linear erschlossen. Raumproduktion und Subjektkonstitution gehorchen nach Mahler in Bio- und Semiosphäre je unterschiedlichen Bewegungsdynamiken. »Der Eintritt in die Semiosphäre macht also aus dem Spiegelbild ein Zeichen, dessen Bezeichnetes in einem sprunghaften Akt fröhlicher Erkenntnis, als ›Aha-Erlebnis‹, nicht mehr bloß als reales oder fiktives Anderes wahrgenommen wird, sondern als Teil des Ich, als ein fiktives Selbst.«85 Dieser Prozess ist niemals abgeschlossen, ist die Identitätsausbildung doch ein beständiger Dialog zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung, der aus psychoanalytischer Perspektive nicht allein auf die Phase der Adoleszenz zutrifft.

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Vgl. ebenda. Mahler, Andreas (2004): Semiosphäre und kognitive Matrix, S. 59. Ebenda, S. 59. Mahler führt diesen Begriff ein, um die Bewegungsfigur der semiosphärischen Expansion gegenüber der biosphärischen Grenzübertretung zu verdeutlichen. Während die Überschreitung einer realen Grenze linear verlaufe, sei die mediale bzw. semiosphärische Grenzübertretung als eine »inverse Erweiterung« auf eine neue Ebene zu verstehen. Die Medien der semiosphärischen Expansion »ermöglichen einen Außenblick und überschreiten damit einen Horizont« (S. 58f.). Ebenda, S. 60. Den im französischen Original ebenfalls auf deutsch genutzten Begriff des »Aha-Erlebnisses« übernimmt Mahler von Lacan und koppelt ihn an das SemiosphäreModell. Der Psychoanalytiker beschreibt mit dem Begriff die Mimik des Kindes, der »eine Reihe von Gesten« folgen, im Moment des Erkennens im Spiegel. Vgl. Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: Derselbe: Schriften I, ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas und Hans-Joachim Metzger, Weinheim/Berlin 1986, S. 61-70, hier: S. 63.

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Topographien der Adoleszenz

Real existierende Utopien, die als Gegenort der herrschenden Ordnung fungieren, nennt Foucault Heterotopien. In seinem Beitrag »Von anderen Räumen«86 erläutert er seine Gedanken zum Thema Raum und Identität wie folgt: Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich unserer Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächliche verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentieren, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde ich sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopie bezeichnen. Und ich glaube, dass es zwischen den Utopien und diesen völlig anderen Orten, den Heterotopien, eine gemeinsame, gemeinschaftliche Erfahrung gibt, für die der Spiegel steht. Denn der Spiegel ist eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. […] Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann.87 Michel Foucault nimmt implizit Bezug auf die Rites de Passage, wenn er das Konzept der Krisenheterotopie anhand der »so genannten ›primitiven‹ Gesellschaften«88 erläutert. Gemeint sind damit spezielle Räume, deren Betreten nur bestimmten Personen erlaubt ist. Diese Personen müssen sich in einer liminalen bzw. einer Zwischenphase befinden. Foucault zählt dazu ausdrücklich auch 86

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Einen vielzitierten Beitrag zum Thema Raum leistete Michel Foucault im Dezember 1966, als France-Culture seinen Radiobeitrag sendete, in welchem er von einer neuen Wissenschaft, der Heterotopologie sprach. Der Architekt Ionel Schein lauschte dem Radiovortrag mit großem Interesse und gewann den Philosophen – der zu dieser Zeit gerade »Les mots et les choses« veröffentlicht hatte – als Vortragenden für den Architektenzirkel Cercle d’études architecturales im Jahr 1967. Es war im Rahmen der Veranstaltung üblich, dass die Reden »mitstenografiert, getippt und den Mitgliedern des Kreises zur Verfügung gestellt« wurden, was nicht mit einer Veröffentlichung gleichzusetzen ist. Die erste Verschriftlichung entstand somit im Jahr 1967, doch erst 1984 – kurz vor seinem Tod – gab Foucault den Text in stark abgewandelter Form zur Veröffentlichung frei. Foucaults Gedanken zum Raum konnten beinahe 30 Jahre reifen, sich entwickeln und waren trotzdem vom Tag des Radiobeitrags an Teil eines Expertendiskurses unter Architekten und Stadtplanern. [Vgl. Defert, Daniel: Raum zum Hören, in: Foucault, Michel (2005): Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, S. 77]. Foucault, Michel (2005): Von anderen Räumen, in: Dits et Ecrits, Schriften in vier Bänden, Band IV, 1980-88, S. 935f. Foucault, Michel (2005): Von anderen Räumen, in: Dits et Ecrits, Schriften in vier Bänden, Band IV, 1980-88, S. 936.

1. Theorie

Heranwachsende. Er glaubt jedoch, dass diese Krisenheterotopien in unserem Zeitalter durch Abweichungsheterotopien ersetzt worden seien. Damit bezeichnet er Einrichtungen bzw. Anstaltskomplexe, in »denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht«.89 Mit dieser Erläuterung bezieht er sich auf die Funktionen von Psychiatrien oder Gefängnissen. Diese Abweichungsheterotopien werden somit zu materialisierten, verräumlichten Ausschlussmechanismen. Dass Krisenheterotopien in der industrialisierten Gesellschaft nicht mehr existieren und durch Abweichungsheterotopien ersetzt sind, korrespondiert den skizzierten Annahmen zur Ausweitung der Lebensphase Jugend. Der temporale Aspekt bzw. das Alter der Menschen, die in einer liminalen Phase sind, ist in modernen Gesellschaften nicht mehr relevant. Entscheidend ist stattdessen der liminale und abweichende Zustand des Individuums, das sich in einem heterotopen Raum befindet. Literarische Texte fungieren mithin als Spiegel, ermöglichen im Modus der Autokommunikation gelesen ein Verorten und Erkennen im Raum. Das beständige Senden und Empfangen der Semiosphäre, die Übersetzungen fremder Texte in die eigene Sprache und das Mitteilen bekannter Inhalte in neuem Gewand sind die konstituierenden Mechanismen des Kulturraums. Autokommunikation ist dabei der strukturelle Akt, der als Selbstvergewisserung, Stärkung und Transformation des Zentrums fungiert. Das Imaginäre verstehe ich hierbei als das dynamische Element, welches kodiert im Text als das Spiegelbild eines Teils der Semiosphäre gelesen werden kann. Die autokommunikativen Texte offenbaren, verändern und bestätigen das Imaginäre ihrer Semiosphäre, das »kulturelle Wir«. Diese These verstärkt die kulturelle Bedeutung von Texten, sowohl die von Außen als auch die eigens produzierten. Texte sind das Mittel zur Dynamisierung von Kultur. Durch sie kommt es zu Selbstbeschreibungen und zu Veränderung.

1.3

Der Erinnerungsraum – zwischen Wahrheit und Fiktion

Literarische Texte, die immer Produkt der Semiosphäre sind – ob nun entstanden in ihrer Peripherie oder ihrem Zentrum –, sind Reflexe auf die Dynamik der Semiosphäre und bedingen diese zugleich. Sie sind der Spiegel, welcher der Semiosphäre das Erkennen im imaginären Raum ermöglicht. Mit diesem autokommunikativen Mechanismus der Semiosphäre lässt sich der Begriff der Autofiktion verbinden. Als Verstehensfigur aufgefasst, spiegeln autofiktionale Texte in besonderem Maße die Semiosphäre, in der sie produziert und rezipiert werden, wider. Doch zunächst wird das Konzept des Erinnerungsraums erläutert, welches schließlich im Zusam-

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Ebenda, S. 937.

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menhang mit den im Textkorpus virulent werdenden autofiktionalen Strategien diskutiert wird. Der im Titel dieser Studie als zu untersuchendes Objekt vorgestellte Erinnerungsraum ist ein Kompositum, das verschiedene – auf den ersten Blick – gegensätzliche Konzepte verbindet. So ist die Erinnerung primär eine Gedächtnisleistung, die vergangene Erlebnisse oder Ereignisse historisch einordnet. Man könnte also annehmen, dass Erinnern eine rein zeitlich zu betrachtende Fähigkeit darstellt. Erinnerungen sind jedoch immer auch in eine räumliche Ordnung eingebunden. Neben der Loci-Methode, die in der Antike als Mnemotechnik entwickelt wurde und Gedächtnisinhalte mit Plätzen verbindet, ist es die Relativitätstheorie, die Raum und Zeit als zwei voneinander abhängige Vorstellungen denkt. Erinnerungen sind sowohl zeitlich als auch räumlich geprägt. Aber nicht allein in dem Sinne, dass in einem Raum Ereignisse stattfinden – das wäre eine Raum-Vorstellung, die die Containertheorie zur Grundlage hätte –, sondern erst durch die Ereignisse entsteht der Raum, der aus der Retrospektive betrachtet zum Erinnerungsraum wird. Durchgesetzt hat sich in den Kulturwissenschaften längst die Annahme, das Raum und Zeit nur als ineinanderverschränkte Kategorien funktionieren. Die vom Historiker Karl Schlögel geprägte Sentenz »im Raume lesen wir die Zeit«90 , macht die Interdependenz deutlich. Ebenso zeigt der Geschwindigkeitsmesswert »Kilometer pro Stunde« ebendiese Verknüpfung von Raum und Zeit an. Hallet und Neumann fassen dies so zusammen: »Raum und Zeit lassen sich nur als interdependente Kategorien denken, denn ebenso wie zeitliche Verläufe einer räumlichen Vermittlung bedürfen, gewinnt auch der Raum nur durch seine konkrete Zeitlichkeit an Bedeutung.«91 Der Begriff »Erinnerungsraum« ist primär durch die gleichnamige Habilitationsschrift92 von Aleida Assmann geprägt worden. Ziel ihrer Arbeit ist es, »möglichst viele Ansichten auf das komplexe Erinnerungsphänomen zu ermöglichen und dabei längere Entwicklungslinien und Problemkontinuitäten aufzuzeigen«.93 Eine einheitliche Theorie sucht man vergebens, vielmehr springt Assmann zwischen den Gedächtnisperspektiven, den Diskursen, in denen sie verhandelt werden, sowie den Medien, in denen die Diskurse virulent werden, hin und her.94 Erinnerungsräume sind nach Assmann nicht als klar geographisch bestimmbare Räume fassbar, sondern Gedächtniskonstruktionen, die in Form verschiedenster

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Vgl. Schlögel, Karl (2003): Im Raume lesen wir die Zeit. Hallet, Wolfgang/Neumann, Birgit (2009): Raum und Bewegung in der Literatur: Zur Einführung, S. 21. In dem Aufsatz »Erinnerungsräume in der Erzählliteratur« von Jan Rupp aus demselben Band wird auch auf die zuvor beschriebene Loci-Methode Bezug genommen. Vgl. Assmann, Aleida (2009): Erinnerungsräume. Ebenda, S. 16. Vgl. Assmann, Aleida (2009), S. 16.

1. Theorie

Medien repräsentiert werden, beispielsweise durch Schrift, Bilder bzw. Stereotype, Körper und Orte.95 Literatur kann ebenfalls solch ein Erinnerungsraum sein, in dem – darauf weist Jan Rupp in einem Aufsatz hin – immer die »Doppelperspektive auf Literatur als Erinnerungsraum einerseits und auf die literarische Inszenierung von Gedächtnisorten andererseits« als intertextuelles Gewebe erscheint.96 Erinnerungsräume können von Individuen oder Gruppen gebildet werden, sie entstehen »durch jene partielle Ausleuchtung von Vergangenheit […], [die] zur Fundierung ihrer Identität, zur Orientierung ihres Lebens, zur Motivierung ihres Handelns«97 dient. Die Kulturwissenschaftlerin bindet die Vorstellung eines Erinnerungsraums an das Speichermedium respektive den Bedeutungsträger. Im Falle dieser Untersuchung ist es die Gegenwartsliteratur, in welcher ein Erinnerungsraum der Bonner Republik erzeugt wird. Ein Blick auf die Rahmenbedingungen des Textkorpus, die Vermarktungsstrategien und paratextuellen Beschreibungen zu den einzelnen Texten trägt dazu bei, den erzeugten Erinnerungsraum im Kontext seiner Entstehung einzuordnen. Der Erinnerungsraum Bonner Republik ist in dieser Studie durch die erzählte Zeit des Textkorpus bestimmt, durch den Zeitrahmen der Veröffentlichung sowie die Erstellung des Manuskripts, die zeitlich immer nach der Wiedervereinigung liegt. Produziert wird der Erinnerungsraum durch Inhalte. Diese Inhalte werden narrativiert, aufgeschrieben und in Buchform veröffentlicht. Die Frage ist, ob es sich bei den Inhalten, die die Ausgangsbasis des Erinnerungsraums bilden, um Gedächtnisinhalte eines Individuums – beispielsweise des Autors – handelt oder um fiktive, erfundene Geschichten. Und: Wenn der im Textkorpus vorgestellte Erinnerungsraum auf fiktiven Inhalten basiert, ist der Erinnerungsraum dann weniger authentisch als ein Narrativ, das auf erlebten Gedächtnisinhalten aufbaut? Umgekehrt kann man fragen, ob Narrative, die in der historischen Bonner Republik angesiedelt sind, je ohne erlebte Gedächtnisinhalte erzeugt, gedacht und geschrieben werden könnten. Ist der in der Gegenwartsliteratur dargestellte Erinnerungsraum Bonner Republik nicht vielmehr immer ein Sammelsurium aus erlebten, vorgestellten, erinnerten und erzählten Inhalten? Den Ausführungen des vorangegangenen Abschnitts folgend kann konstatiert werden, dass mediale Produkte immer fiktiv sind und als Ausdruck des Imaginären gelesen werden können. Mit dem Begriff der Autofiktion hat sich ein neues Autoren-, Text- und Leseverständnis im literarischen Diskurs etabliert, dessen Tragweite im Rahmen dieser Studie nicht unterschätzt werden sollte und das deshalb im Anschluss diskutiert wird. Eine weitere Frage bezüglich des Konzeptes der Autokommunikation ist außerdem: Erhält der Erinnerungsraum im Moment des Lesens noch mal eine andere Qualität? Wird 95 96 97

Vgl. ebenda, S. 8f. Rupp, Jan (2009): Erinnerungsräume in der Erzählliteratur, S. 182. Assmann, Aleida (2009), S. 408.

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durch den unweigerlichen Abgleich des Lesers zwischen seinen Gedächtnisinhalten und Vorstellungen der erzählten Zeit respektive dem im Buch erzeugten Erinnerungsraum Bonner Republik eine Synthese dieser Vorstellungen gebildet – ein Imaginäres, das im Modus der Autokommunikation entstanden ist?

Autobiographie und Autofiktion Der Autor einer Autobiographie ist, laut Martina Wagner-Egelhaaf, zugleich Subjekt und Objekt seines Textes und berührt damit »den Kernbereich allgemeinliteraturwissenschaftlichen Fragens und Erkennens«. Denn eine Autobiographie bewege sich sowohl im Bereich der Literatur als auch der Geschichte.98 Ein Autobiograph schreibt seine eigene Lebensgeschichte nieder und konstruiert zeitgleich sein Selbstverständnis im Moment des Schreibens. Die gängige Definition von Georg Misch, eine Autobiographie sei »die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)«, ist hieran anschlussfähig.99 Wilhelm Dilthey erklärt, »[d]ie Selbstbiographie ist nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf. Solche Selbstbesinnung aber erneuert sich in irgendeinem Grade in jedem Individuum. Sie ist immer da, sie äußert sich in immer neuen Formen. […] Nur sie macht geschichtliches Sehen möglich«.100 Ein Autobiograph schreibt also nicht bloß sein Leben nieder, sondern er schreibt auch an der historischen Auffassung seiner Zeit mit. Schon 1903 verwies Hans Glagau in diesem Zusammenhang auf die Problematik der historischen Faktizität, die in Autobiographien nur vermeintlich dargestellt werde. Der Geisteswissenschaftler äußerte sich kritisch: »Es handelt sich für uns nicht nur darum, ob der Selbstbiograph die Wahrheit sagen will, sondern ob er sie uns überhaupt zu sagen vermag.«101 Dass es keine historische Faktizität gibt und es sich auch bei der Geschichtsschreibung um ein narratives Konstrukt handelt, muss nicht zwangsläufig mit Hyden Whites »Metahistory« belegt werden. Der Verweis auf den Linguistic Turn und die daraus resultierende Sprachkritik könne als Ausgangspunkt der Anerkennung des Konstruktionscharakters jeglicher kultureller, sprachlicher und medialer Äußerungen angebracht werden.102 Wenn der Autor 98 99 100 101

Wagner-Egelhaaf, Martina (2000): Autobiographie, S. 1. Misch, Georg (1998): Begriff und Ursprung der Autobiographie, S. 38. Dilthey, Wilhelm (1998): Das Erleben und die Selbstbiographie, S. 29f. Glagau, Hans (1903): Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle. Eine Untersuchung, S. 3. 102 Martina Wagner-Egelhaaf zeichnet in ihrem Aufsatz dezidiert den Weg des veränderten Verständnisses einer Autobiographie nach, welches sich vom Schreiben einer Autobiographie als historisches Zeugnis hin zum konstruierten Text im Zuge des Linguistic Turn wandelt. [Vgl. Wagner-Egelhaaf, Martina (2006): Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie, S. 353-368].

1. Theorie

einer Autobiographie einen Wahrheitsgehalt beanspruchen will, dann kann nicht von historischer Faktizität gesprochen werden, lediglich von einer inneren Wahrhaftigkeit. Der Autobiograph schreibt seine Erinnerungen nieder oder – handelt es sich um sehr frühe Kindheitserinnerungen – sogar nur Erinnerungen zweiter Ordnung; solche, die er oder sie erzählt bekommen hat. Der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnde Trend, Biographien als wissenschaftliche Darstellungsform zu akzeptieren, kehrte sich zu Beginn der 1920er- und 30er-Jahre um.103 Erklärte Goethe in »Dichtung und Wahrheit« noch das Begreifen des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt als Ziel einer Biographie104 , ging es unter dem Einfluss der Psychoanalyse um die Psychologisierung der Figuren und eine Selektion der Ereignisse. Die Fixierung auf männliche Lebensentwürfe findet in der Schaffensperiode Goethes ihren historischen Ursprung, in der Fokussierung auf die Entwicklungsgeschichte männlicher Personen des öffentlichen Lebens.105 Der in den 1970er-Jahren en vogue gewordene biographische Roman kann als logische Konsequenz der Künstlerbiographien verstanden werden. Der Konstruktionscharakter und die Literarizität sind dem Autor – im Gegensatz zum Biographen – jederzeit bewusst. Picard spricht von einer Abwendung der »finiten Beschreibung« hin zu einer »Perspektive des Werdens«. »Es wird nun werkimmanent offenbar, was schon immer ein Wesenszug der Autobiographie war, daß nämlich das autobiographische Schreiben selbst ein Ereignis im Leben ist und als solches auf das Leben wieder zurückwirkt«.106 Dieser Wesenszug der Autobiographie – der das Leben des Autors beeinflusst – spielt auch in der Verstehensfigur der Autofiktion eine entscheidende Rolle.

103 So gab es synchron verlaufende Entwicklungen der Biographie, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzten: Erstens die historisch-politische Biographie, die eine sozial-politische Perspektive einnehme und das biographische Objekt in den Hintergrund treten lasse und zweitens die geistes- und kulturwissenschaftliche Biographie, die vor allem Wissenschaftler- und Künstler-Leben darstelle. [Vgl. Werner, Lukas (2009): Deutschsprachige Biographik, S. 263-267]. 104 »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen und zu zeigen, inwiefern ihm das Ganze widerstrebt, inwiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hierzu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, inwiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den Willigen als Unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.« Goethe, Johann Wolfgang von (1998): Dichtung und Wahrheit, S. 11. 105 Vgl. hierzu auch: Wagner-Egelhaaf, Martina (2006): Autobiografie und Geschlecht, S. 49-64. 106 Picard, Hans Rudolf (1998): Der existentiell reflektierende Autobiograph im zeitgenössischen Frankreich, S. 534.

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Topographien der Adoleszenz

Die postmoderne Ausrufung des Autorentodes bereitete den Boden für Reflexionen über den Konstruktionscharakter von (Auto-)biographien. Mit dem Begriff der Autofiktion, der das erste Mal 1977 von Serge Doubrovsky zur Beschreibung seines Romans »Fils«107 verwendet wurde, verstärkte sich die Diskussion um Fiktion und Faktizität. Roland Barthes befand, dass die Darstellung eines Lebens in Gänze nicht möglich sei und ein Leben immer nur exemplarisch für die Epoche seiner Zeit stehen könne. Deshalb entwickelte er das Schreiben in Sequenzen, sogenannte »Biographeme«, die in der homodiegetischen Erzählinstanz der dritten Person verfasst sind. In »Roland Barthes par Roland Barthes« setzte er diese Erzähltechnik um; nachträglich wurde das Werk als autofiktional klassifiziert.108 Die Erzählperspektive ist eine ungewöhnliche, wird eine solcherart verfasste Erzählung doch in der Regel aus der Ich-Perspektive erzählt. Der Begriff des homodiegetischen Erzählers weist den Erzähler einer Geschichte als Figur der eignen Geschichte aus. Barthes bricht diese Erwartungshaltung auf, indem er seine eigenen Erlebnisse in der dritten Person erzählt und dadurch sein Leben mit dem größtmöglichen Abstand schildert. Der Text gewinnt durch diese Erzählperspektive eine neue Dimension. Barthes thematisiert auf diese Weise den romanesken Pakt, den er als Autor offenbar ebenso eingeht wie der Leser. Auch Doubrovsky wählte die Autofiktion ausgehend von seinem Status als historisch unbedeutende Figur. Er war es, der den Begriff folgendermaßen in den literaturwissenschaftlichen Diskurs einführte: Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten; wenn man so will, ist Autofiktion: die Sprache über das Abenteuer zu einem Abenteuer der Sprache zu machen, jenseits von Konventionen und Syntax des Romans, sei er neu oder traditionell. Versucht man, den Roman loszuwerden, kehrt er im Handumdrehen zurück – seine Natur lässt sich nicht leugnen – in Form des Untertitels auf dem Buch. Das ist normal, denn er bildet einen der Pole des Schreibens im Spannungsfeld von romanesker und autobiografischer Erzählung.109 Für ihn ist der Begriff der Autobiographie nur denen vorbehalten, die in der Öffentlichkeit stehen und deren Leben historische Relevanz hat: 107 Der Begriff findet sich erstmals im Klappentext des Romans »Fils« (1977) und wurde vom Literaten und Literaturwissenschaftler Doubrovsky sowohl praktisch als auch theoretisch behandelt. Vgl. Näheres zu Doubrovsky in dem Essay von Ivan Farron »Die Fallen der Vorstellungskraft. Autofiktion – ein Begriff und seine Zweideutigkeit(en)«, Neue Züricher Zeitung, 31.05.2003, Aus dem Französischen von Barbara Villiger Heilig, online: https://www.nzz.ch/ aktuell/startseite/article8VLW2-1.259501. Der homonyme Romantitel bezeichnet sowohl den Sohn, der als Erzähler mit Mitteln der Psychoanalyse das Verhältnis zu seiner Mutter verstehen will, als auch die Fäden, die als Erzählstränge die Erzählstrategie des Romans beschreiben. 108 Vgl. Jurt, Joseph (2009): Französische Biographik, S. 284f. 109 Doubrovsky, Serge (2008): Nah am Text, S. 123.

1. Theorie

Autobiographie, vraiment, c’est la chasse gardée, un club exclusif pour gens célèbres. Pour y avoir droit, il faut être quelqu’un. Une vedette de cinéma, un homme politique, Jean-Jacques Rousseau. Moi, je ne suis, dans mon petit deux-pièces d’emprunt, personne.110 Aus diesem Grund, so erklärt er, tarne er seine Autobiographie als Roman, um das Interesse des Publikums trotz der Bedeutungslosigkeit seines Lebens zu wecken: Ich habe mein Rezept. Ich beginne die Kunst des Kochens zu verstehen. […] EIN ROMAN, DER WAHR IST. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Man schmeichelt der Imagination. Man bestätigt, dass das Imaginäre wahrhaftig ist. Doppeltes Vergnügen: Traum und Realität. […] Danach kommt die Belohnung der Arbeit. Man erntet, wenn man sich mag. Wenn sich der Leser mit der Figur identifiziert. Sie mit dem Autor identifiziert. Da meine Frau das Romaneske liebt, ist es normal, dass mich meine Romane für sie interessant gemacht haben.111 Das Schreiben einer Autofiktion habe etwas Homoerotisches, man werde sich selbst interessant, beginne seine Figur, die man selbst ist, zu lieben und werde selbst als das Imaginäre sichtbar. Jedoch ist es ein ambivalenter Akt, der zwischen Liebe und Tod schwankt, spricht Doubrovsky doch auch von »Autofriktion (Selbstzerreibung)«.112 Doubrovskys Deutung von Autofiktion wird vor allem durch paratextuelle Bezüge bestimmt, wenn er zum Beispiel seine Autobiographie als Roman kennzeichnet. Diese List intendiere zweierlei, so Frank Zipfel: Zum einen entgehe Doubrovsky so der inneren und äußeren Zensur, wenn er behauptet, es handele sich um Fiktion. Zum anderen spreche er seinem Text Literarität qua der Bezeichnung Roman zu.113 Die begriffliche Bedeutung von Autofiktion sprengt mittlerweile den Rahmen, den Doubrovsky dem Terminus einst zugeschrieben hat.114 Ansgar Nünning hebt

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Doubrovsky, Serge: Un amour de soi, Paris 1982, S. 74. Zitiert nach: Lohöfer, Astrid (2013): Autofiktion als Ikonotext: Intermediale Selbst(er)findung in Victor-Lévy Beaulieus Monsieur Melvill, S. 21. Doubrovsky, Serge: Le livre brisé, 1989, S. 65f., zitiert nach: Doubrovsky, Serge (2008): Nah am Text, S. 128, 130. Doubrovsky, Serge (2008): Nah am Text, S. 124. Sowie: »Durch das Wühlen in meinen Wunden bin ich, gegen Ein Uhr, mit Verletzungen übersät. Alle meine aufgebrochenen Narben bluten aufeinmal. Schreiben mit dem Skalpell erschöpft mich.« [Auszug aus »Fils« zitiert im Aufsatz »Nah am Text«, S. 124]. Vgl. Zipfel, Frank (2009): Autofiktion, Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?, S. 300f. So macht vor allem die von Ansgar Nünning betriebene Auffächerung der Autofiktion in diverse Unterkategorien die Wirkmächtigkeit der postmodernen Schreib- und Verstehensweise deutlich. Wenngleich seine Thesen ein breites Spektrum an Forschungsdesiderata offenbaren, verliert sich Nünning in seinen Genrebezeichnungen an den Polen zwischen »fik-

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Topographien der Adoleszenz

hervor, dass Autofiktionen – er spricht von »fiktionalen Metaautobiographien« – primär um die Zuverlässigkeit von Erinnerungen kreisen, dies problematisieren und reflektieren würden.115 Das Kompositum Autofiktion verdeutlicht das Spannungsfeld zwischen Wahrheit, die eine (Auto-)Biographie verspricht, und der Dichtung, die im Moment des (Er-)Schreibens des (eigenen) Lebens zwingend präsent ist. So erklären auch Pellin und Weber, dass »ein sich seiner Problematik bewusstes autobiographisches Schreiben […] heute kaum ohne autofiktionale Elemente auszukommen« vermag.116 In Frankreich verbinde man mit dem Begriff eine neue Textgattung, in Deutschland werde Autofiktion eher als Diskursmodell verstanden, welches »neue Formen der Subjektkonstitution ermöglicht«.117 Dem schließt sich auch Claudia Gronemann an, wenn sie erklärt: Autofiktionen füllen keine ungenutzten Leerstellen zwischen Roman und Autobiographie, sie erneuern oder komplettieren den Kanon nicht, sondern setzen sich von der Gattungslogik gezielt ab. Die Autofiktion als Diskursmodell konzipiert die Beziehung zwischen Subjekt, Text und Medialität in kritischer Absetzung von repräsentationslogischen Traditionen neu.118 Daniel Weidner versteht den Begriff Autofiktion ebenfalls nicht als neue Textgattung, sondern als »eine bestimmte Figur des Verstehens«119 , die nicht allein auf die Frage der Authentizität des Textes abziele. Wagner-Egelhaafs Aussage verweist indirekt ebenfalls auf eine Verstehensfigur, wenn sie sagt, dass die autofiktionale Schreibweise ihren progressiven Charakter bereits verloren und Einzug in die Autobiographie gehalten habe. Sie erklärt: Der autobiographische Text muss nicht mehr ständig betonen: ›Lieber Leser/Liebe Leserin, Vorsicht, die autobiographische Rede ist problematisch und ich als Text konstruiere nur.‹ Die Differenz läuft sozusagen selbstverständlich mit, gibt sich dann und wann zu erkennen, aber nicht mehr mit jenem Pathos der 70er Jahre,

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tionaler Autobiographie« und »fiktionaler Metaautobiographie« in Einzelheiten, die keinen Erkenntnisgewinn versprechen. Näheres in Nünning, Ansgar (2007): Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen, S. 269-292, vor allem S. 278f. Vgl. Nünning, Ansgar (2007): Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen, S. 283. Pellin, Elio/Weber, Ulrich (2012): Einführung, S. 7. Weisser, Jutta/Ott, Christine (2013): Einleitung, S. 9. Gronemann, Claudia (2013): »lui dire que j’étais […] un homme comme lui«: Autofi(c)ktionales intermediales Schreiben bei Abdellah Taïa, S. 94. Weidner, Daniel (2013): Bildnis machen, S. 164.

1. Theorie

das gegen das Pathos des entwicklungsgeschichtlich gedachten Individuums anzuschreiben hatte.120 Der Rezipient erwarte von als autobiographisch ausgewiesenen Texten heute gar nicht mehr eine Identifikation zwischen Figur und Autor; diese voraussetzungsvolle Annahme halte ich für zu weitreichend und die Folgen des Konstruktivismus über die Grenzen der Kulturwissenschaften hinaus für zu gering, als dass heutzutage jeder Leser und jede Leserin den konstruktiven Charakter von autobiographischen Texten mitdenken würde. Selbst bei Romanen, die – wie im Falle dieser Untersuchung – als Abbild oder Historisierung der Vergangenheit gelesen werden, sind einige Rezipienten versucht, einen autobiographischen Pakt121 einzugehen und das Beschriebene als historisch real zu lesen. Der autobiographische Pakt ist für Leser/-innen, denen die Entzauberung durch den Konstruktivismus bewusst ist, ein Angebot und nicht mehr. Befand Lejeune noch in den 1970er-Jahren den »Kunstgriff« einer erklärten Autobiographie ohne Namensidentität von Autor und Figur als »ein Pirandellosches Spiel der Zweideutigkeit«122 , das aus gutem Grund nie gespielt werde, finden sich heute durchaus Texte, die diese Zwischenstellung bewusst einnehmen. Frank Zipfel klassifiziert Autofiktion in drei Kategorien: 1. Eine als Fiktion auftretende (Auto-)biographie, die z.B. durch Paratexte als Roman gekennzeichnet ist.123 2. Eine Fiktion mit Elementen biographischer Art. So kann beispielsweise der Name des Autors in der Diegese vorkommen.124

Diese ersten zwei Kategorien schließen an das Begriffsverständnis von Doubrovsky an. Und schließlich als dritte und entscheidende Kategorie, die den engeren Sinn von Autofiktion beschreibe.

120 Wagner-Egelhaaf, Martina (2006): Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie, S. 361. 121 Dieser Kontrakt zwischen Autor und Leser versichere, laut Lejeune, die »Identität des Namens (Autor – Erzähler – Figur)«. Lejeune, Philippe (1998): Der autobiographische Pakt, S. 257. 122 Lejeune, Philippe (1998): Der autobiographische Pakt, S. 238f. 123 Vgl. Zipfel, Frank (2009): Autofiktion, Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?, S. 298. So mache es Doubrovsky mit seinem als »Roman« gekennzeichneten Text »Fils«. 124 Vgl. Zipfel, Frank (2009): Autofiktion, Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?, S. 302ff. Als Beispiel verweist Zipfel auf die ins Fantastische gleitenden Erzählungen »Der Zahir« und »Das Aleph« von Borges.

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Topographien der Adoleszenz 3. Dem Leser werden sowohl der autobiographische als auch der romaneske Pakt angeboten. Zipfel bezieht sich hier auf Darrieussecqs Definition, »dass der autofiktionale Text sich sowohl als referentiell wie auch als fiktional zu erkennen gibt […], ohne dass er [der Leser] die Möglichkeit an die Hand bekommt, den Text ganz oder teilweise nach einem der beiden Pakte aufzulösen«.125

Die Frage der Autorschaft hat sich seit der »Renaissance« des Autors gewandelt. Wagner-Egelhaaf erklärt, dass »[d]em wiederauferstandenen Autor die Gründe und Umstände seines erklärten Todes selbstredend eingeschrieben« seien. Und zwar sei der Autor im Verständnis Roland Barthes’ als Text wiedergekehrt, durch Foucaults Arbeiten als Funktion sowie nach Paul de Man als Lese- und Verstehensfigur zu interpretieren.126 Bei all diesen Ansichten gehe es immer auch um die Autorwerdung, konstatiert Wagner-Egelhaaf. Sie spricht in diesem Zusammenhang von Rückwirkungen, die das Bild und die Selbstwahrnehmung des Autors beeinflussen.127 Ähnliche Mechanismen, wie sie schon Picard bei einer Autobiographie identifizierte und so die Rückkopplungen der Autobiographie auf den Autor hervorhob, lassen sich auch bei autofiktionalen Texten ausfindig machen. In diesem Zusammenhang kann von Wechselwirkungen gesprochen werden. Heutzutage nehmen das Verhalten, die Vermarktung des Autors und der Blick auf seine autobiographischen bzw. autofiktionalen Texte für die Leserschaft einen wichtigen Stellenwert bei der Beurteilung von Romanen ein. Kurzum: Der Text beeinflusst das Rezipientenverhalten und die Wahrnehmung des Autors, und zugleich spiegelt sich das Außen- und Selbstbild des Autors im Text wider. Es kommt somit zwischen Autor, Rezipient, Erzähler und Text zu wechselseitigen Beeinflussungen. Weidner erkennt in autofiktionalen Schreibweisen die Reaktion auf das – wie er es nennt – »Autor-Paradox«. Damit bezieht er sich auf die Tatsache, »dass Autorschaft trotz ihrer theoretischen Verabschiedung für das literarische Leben wichtiger denn je ist«.128

Wessen Leben wird erzählt? Die zu untersuchenden Texte des Korpus spielen mehr oder weniger mit autofiktionalen Elementen. Hinweise über die Biographie liefert Rocko Schamoni in der Regel selbst: sowohl in Form von Interviews als auch durch seine (angeblich) biographischen Texte. Er gilt als eine Szenegröße in Hamburg und fällt durch zahlreiche popkulturelle Demontagen auf, auf die schon seine verschiedenen Künstlerna125 126 127 128

Ebenda, S. 304. Wagner-Egelhaaf, Martina (2013): Einleitung: Was ist Auto(r)fiktion?, S. 13. Vgl. ebenda, S. 14. Weidner, Daniel (2013): Bildnis machen, S. 181.

1. Theorie

men129 hindeuten. So vermutet Dirk Frank hinter dem Namen eine Vermischung »aus Komponenten der Trashkultur (Pornodarsteller Rocco Siffredi) und der Hochkultur (evt. ein Verweis auf die Hamburger Filmemacher Peter und Ulrich Schamoni)«.130 Sein Schaffen umfasst Musik, Kunst, Literatur und Comedy. Außerdem ist er als Clubbesitzer des Hamburger Szeneladens Pudel’s Club bekannt. Biographische Hinweise zur bürgerlichen Herkunft Rocko Schamonis wurden erst mit Erscheinen des vermeintlich autobiographischen Romans »Dorfpunks« in den Medien verbreitet. Daher ist zu vermuten, dass in die Vita von Tobias Albrecht fiktionale Elemente Rocko Schamonis eingeschrieben wurden, sodass es keine klare Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion sowie zwischen bürgerlicher und künstlerischer Existenz mehr gibt. Wenn im Literaturlexikon die Autorschaft Schamonis als »Entwicklung […] vom schreibenden Entertainer zum ›ernsthaften‹, autobiographisch arbeitenden Chronisten der Pop- u Gegenkultur«131 verstanden wird, schwingt in dieser Diagnose das Momentum des autobiographischen Pakts mit. Dass Schamoni indes ein bewusstes Spiel mit Fakten und Halbwahrheiten inszeniert, darüber informiert er selbst auf seiner Homepage: Hintergrundinformationen über mich glaube ich auf dieser Plattform nicht präsentieren zu müssen. Davon fliegt genug im Netz herum, ergoogelbar, vieles falsch, manches wahr, genau diese Mischung gefällt mir, ich möchte als virtuelles Wesen im Datennebel nur erahnbar sein. Und was kann man auch schon über einen Menschen erlesen und begreifen, wenn man ihn nicht wirklich und leibhaftig getroffen hat?132 »Dorfpunks« lässt sich als autofiktionaler Text der dritten Kategorie nach Zipfel klassifizieren und bietet dem Leser gleich zu Beginn den autobiographischen Pakt an: »Ich war Roddy Dangerblood. Bis ich 19 war. Dann wurde ich zu Rocko Schamoni« (Dp, 7). Beide Namen sind Pseudonyme, sein bürgerlicher Name sei ihm »fast entfallen«. Der »Roman« – so steht es auf dem Buchdeckel unter dem Titel – zeichnet als Autoren nicht Tobias Albrecht aus, so Schamonis bürgerlicher Name, sondern Rocko Schamoni, sein Künstler-Ich. Schon die paratextuellen Hinweise lassen in Verbindung mit den ersten zwei Sätzen des Buches auf einen autofiktionalen Text schließen. Die Momente, in denen er an seinen bürgerlichen Namen erinnert wird, beschränken sich auf solche, die ihn als Staatsbürger betreffen:

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So gibt er sich auch die Namen King Rocko Schamoni oder Bims Brohm, IBM Citystar, Mike Strecker, Silvio Strecker. Vgl. Derlin, Katharina (2012): »Es muss eine Ambivalenz und ein Bruch her«. Formen und Funktionen der Selbstinszenierung bei Rocko Schamoni, S. 27. 130 Frank, Dirk (2008): Verschwende deine Jugend?, S. 72. 131 Frank, Dirk (2011): Schamoni, Rocko, in: Killy Literaturlexikon, S. 251. 132 Online: https://www.rockoschamoni.de/infos/ [Stand: 26.04.2018].

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Wenn der Staat mich in Form irgendeiner Behörde herbeizitiert […], muss ich mir diese abgestoßene Haut wieder überziehen. […] Ich bin dann jedes Mal um mein Erwachsensein beraubt, um einen Großteil meiner Geschichte, sitze auf dem Amt als alter Jugendlicher. Das sind Wurmlöcher durch die Zeit. Gegraben von nichts ahnenden Beamten. Aber ich verrate ihnen nichts davon, sie sollen keine Macht über mich haben (Dp, 7). Sein bürgerlicher Name ist für den Erzähler – der Roman ist aus der IchPerspektive verfasst, was den Anschein einer Autobiographie noch verstärkt – ein Rudiment seiner Vergangenheit, seiner Kindheit vor der Punkwerdung. Für den Ich-Erzähler ist die Mannwerdung mit der Punkwerdung respektive mit seinem Künstlerpseudonym untrennbar verbunden. Er sitze dann auf dem Amt als »alter Jugendlicher«, ein Oxymoron, dessen Attribute sich gegenseitig ausschließen, ein Individuum, das nicht existiert. Ein Jugendlicher kann nicht alt sein, ebensowenig kann ein alter Mensch ein Jugendlicher sein, sondern lediglich das Attribut jugendlich erhalten. Eine Metadiegese, die Nünning bei autofiktionalen Texten ausmacht, besteht bei »Dorfpunks« indes nicht. Lediglich kurze reflektierende Einschübe des erinnernden Ichs verweisen auf eine Erzählinstanz, die in einem nicht näher bestimmten Außerhalb der Diegese zu verorten ist. Der Autor gibt sich als vermeintlicher Erzähler seiner eigenen Jugend zu erkennen, indem der Name des Autors auf dem Buchdeckel und mit dem des Protagonisten identisch ist (»dann wurde ich Rocko Schamoni«). Der Autor spielt mit den autofiktionalen Elementen. Der Text spielt »das Abenteuer der Sprache«133 . Die Lehmann-Trilogie ist ein fiktionaler, epischer Text, dessen Initiationsmoment die Idee zu einer Kurzgeschichte war134 . »Herr Lehmann« beginnt mit der Hunde-Szene, die auch der Regisseur Leander Haußmann in der Filmadaption als Einstieg übernommen hat. Die Lehmann-Trilogie lädt den Leser an keiner Stelle ein, den autobiographischen Pakt einzugehen. Allein die Erzählperspektive – Mitsicht der Figur Frank Lehmann aus der dritten Person Singular und der Verwendung des epischen Präteritums – und die Klassifikation der Texte als Roman zeichnen die Trilogie als Fiktion aus. Die Gemeinsamkeiten zwischen Regener und Lehmann nähren offenbar den Wunsch nach Authentizität bei der Leserschaft. Obgleich Kritiker gerne Parallelen zwischen der Romanfigur und dessen Erfinder ziehen – so stammen beide aus Bremen und gehen in den 1980er-Jahren nach Westberlin –, sperrt sich der Autor gegen solche Lesarten. In einem Interview zu seinem Bestseller-Erfolg »Herr Lehmann« äußerte sich Regener zu der Frage der Authentizität der Schilderungen 2008 so:

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Doubrovsky, Serge (2008): Nah am Text, S. 123. Born, Stefan (2011): Sven Regeners »Herr Lehmann« (2001) als Adoleszenzroman, S. 537.

1. Theorie

›Jeder kann machen, was er will, und natürlich auch seine Autobiographie schreiben. Warum nicht. Ich will das nicht. Für mich wäre es ein Albtraum, eine öffentliche Figur zu sein.‹ […] ›Es spielt für das Buch keine Rolle, ob meine Schilderungen authentisch sind oder nicht. Was bringt das?‹ […] ›Das Maß an Unsinn, das in den Büchern geredet wird, ist schon realistisch. Wie man seine Zeit vertrödeln kann ebenfalls. Und natürlich, wie hart man arbeiten kann. Das ist allerdings das, was Frank Lehmann von mir unterscheidet. Das harte Arbeiten.‹135 Es ist vor allem der zweite Roman »Neue Vahr Süd«, der Parallelen zum Leben des Autors aufweist. So heißt es im Internationalen Biographischen Archiv: Trotzdem investierte R. erkennbar viel Insider-Wissen in diese Jugend- und Selbstfindungsstory, in der der Titelheld aus seiner kleinbürgerlichen Herkunft ausbricht, aus Trägheit bei der Bundeswehr landet und später in eine linke WG wechselt. Dabei griff er auch auf seine Erfahrungen aus seinem jugendlichen Engagement bei linksradikalen K-Gruppen während seiner Bremer Schulzeit zurück, bekannte er doch u.a. in einem Interview mit dem Musikexpress (Okt. 2004): ›Ich war jahrelang K-Gruppen-Mann, ich war fast bis zum bitteren Ende beim KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) – so ähnlich wie etwa dieser Achim in meinem Roman‹.136 Roger Fornoff begreift Frank Lehmann als »eine Art identifikatorische Projektionsfigur«, die einen »generationellen Typus« der »Post-68er« verkörpere. Diese Generation sei geprägt durch das Fehlen eines verbindenden »Kollektivereignis[ses]« und wolle die »Erwachsenenexistenz« immer weiter hinauszögern.137 Regener greift auf seine eigenen Erlebnisse zurück, um diese literarisch zu verarbeiten. Das Ergebnis sind fiktionale Texte mit einer hohen identifikatorischen Kraft, die aus dem Authentizitätscharakter resultiert. So attestiert auch Ledanff den Dialogkünsten in »Herr Lehmann«: »Regener weiß genau, wie die damals 30-Jährigen sprachen.«138 Sie ist außerdem der Ansicht, dass Regener erstmals eine »Abarbeitung an der Westberliner linken und alternativen Stadtgeschich-

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Hannemann, Matthias: Im Gespräch: Sven Regener. Wieso kann man Romane nicht singen, FAZ 23.08.2008, online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletris tik/im-gespraech-sven-regener-wieso-kann-man-romane-nicht-singen-1682536.html [Stand: 26.04.2018]. Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, Art.: »Regener, Sven«, online: https://www.munzinger.de/document/00000025014 [Stand: 18.3.2019]. Fornoff, Roger: »Jede Fusion hat ihre Verlierer«. Über Popliteratur, Mauerfall und die politische Lethargie der Generation Golf, in: Glossen 24, Jahr 2006, online http://www2.dickinson. edu/glossen/heft24/fusion.html [Stand: 02.10.2014]. Ledanff, Susanne (2009): Hauptstadtphantasien, S. 632f.

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Topographien der Adoleszenz

te« gelungen sei, die »die Entdeckung der Subkultur für die Möglichkeit eines ironisch-spielerischen Ergründens von Atlantis Westberlin« beinhalte.139 Zwischen der Romanfigur Icks und dem Autor Ralf Bönt lassen sich ebenfalls Parallelen feststellen. Beide stammen aus Bielefeld und haben ein naturwissenschaftliches Studium absolviert. Während im Roman die konkrete Fachrichtung nicht genannt wird, ist bekannt, dass Bönt promovierter Physiker ist. Bevor er sich zu einer künstlerisch publizistischen Tätigkeit entschloss, arbeitete er in seinem Fachgebiet und absolvierte Forschungsaufenthalte in New York, Genf und Moskau. Sein Debütroman »Icks« stieß auf positive Resonanz bei den Kritikern. In »Icks« wird die Rückkehr des gleichnamigen Protagonisten zu den Stätten seiner Kindheit in Bielefeld beschrieben. Die Stadt des Aufwachsens ist bei Figur und Autor identisch, die beruflichen Biographien weisen Überschneidungen auf. So entscheidet sich Icks ebenfalls, den akademischen Beruf ad acta zu legen und im künstlerischen Bereich – als Theaterregisseur – zu arbeiten.140 Im »Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur« heißt es, dass abgesehen von »Die Entdeckung des Lichts« alle literarischen Arbeiten Bönts um das Thema Flucht aus der Provinz und die Konflikte mit der Elterngeneration kreisten. Diese Themen können leicht mit der Person des Autors in Verbindung gebracht werden, und die Rezeption tat dies üblicherweise auch. Bönt hingegen betont den Anteil des Fiktionalen an seinem Schaffen. Gleichwohl ist eine durch die genannten Aspekte gekennzeichnete Familienähnlichkeit der Figuren seiner Werke auszumachen.141 Die Synergieeffekte, die zwischen der Selbst- und Fremdwahrnehmung des Autors, den Rezipienten und dem Text entstehen, sind im Falle der Martin-SchlosserChronik indes andere als bei den zuvor genannten Romanen. Sind Regeners Texte eindeutig fiktional, spielt Schamoni mit der Autofiktion und klärt die Rezipienten offensiv über sein Verständnis von Autorschaft auf. Gewinnt Bönt den Stoff für seine Texte offenbar aus seiner eigenen Biographie, erklärt Gerhard Henschel Martin Schlosser zu seinem Alter Ego. Der Autor beteuert, mit der Chronik sein Leben zu beschreiben, und versucht dies auch zu beweisen, sei es durch biographische Gemeinsamkeiten zwischen Autor und der Figur oder durch Archivalien, die das Leben von Martin Schlosser respektive des Autors bezeugen sollen. So ist man geneigt, den autobiographischen

139 Ebenda, S. 631. 140 s. Infos unter: Munzinger Online/Personen – Internationales Biographisches Archiv, Art.: »Bönt, Ralf«, online: https://www.munzinger.de/document/00000030765 [Stand: 28.2.2019]. 141 Vedder, Björn: Artikel: »Ralf Bönt«, in: Munzinger Online/KLG – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, online: https://www.munzinger.de/document/1600 0005009 [Stand: 28.2.2019].

1. Theorie

Pakt für evident zu befinden und von einem Pseudonym auszugehen. Der Paratext benennt Henschels Chronik aber als Roman, und auch in Rezensionen wird von Romanen gesprochen. Die Martin-Schlosser-Bände können als Autofiktion gewertet werden, die weder zur romanesken noch zur autobiographischen Seite aufgelöst werden kann. Doubrovsky als Autofiktiograph (so ließe sich ein Autor autofiktionaler Texte bezeichnen) beschreibt sein Selbstverständnis so: »›Ich bin ein fiktives Wesen‹ ist keine literarische Formulierung, sondern eine existenzielle Wahrheit.«142 Es ist dieses Verständnis, das sich auch in Gerhard Henschels Aussagen und den versteckten, reflexiven Hinweisen zum Thema Autorschaft in den Texten widerspiegelt. Zugleich ist dieses Diktum an das Semiosphäre-Konzept und Lacans Äußerungen zum Spiegelstadium anschlussfähig, werden doch der Autor und sein Text ein autokommunikatives Medium, welches den Erinnerungsraum konstruiert und mitgestaltet. Zugleich ist auch der umgekehrte Effekt zu erwarten, der eine Veränderung des Selbstverständnisses des Autors im Moment des Schreibens der eigenen Lebensgeschichte bewirkt. Ich interpretiere die Martin-Schlosser-Chronik als die Geschichte einer Autorwerdung. Vieles spricht für diese Lesart, betrachtet man die Parallelen zwischen Autor und Figur sowie die intratextuellen Bezüge in Henschels Gesamtwerk. Obwohl sich Gerhard Henschel im Schreiben seiner Chronik bisher noch nicht eingeholt hat, veranschaulicht vor allem der »Arbeiterroman«, wie die ersten Gehversuche des jungen Schriftstellers in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre aussahen. Die Chronik ist ganz aus der autodiegetischen Perspektive Martin Schlossers geschrieben und wird ergänzt durch Briefzitate, zeitgenössische Zeitungsartikel sowie Verweise auf Filme und Musik. Es gibt keine Metadiegese, in der ein erinnerndes Ich die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses thematisiert. Umso interessanter wird der Moment der Martin-Schlosser-Chronik sein, in dem sich der Autor zeitlich einholt und folglich der Erlebende und der Autor zu einer Figur werden. Ob dieser literarische Kunstgriff eingeplant ist, weiß wohl nur der Autor selbst. Erst ab diesem literarisch inszenierten Moment könnten »›metanarrative Funktionen‹, […] die [die] Bedeutung des Erzählens und des Erzählvorgangs explizit thematisieren«, Teil der Diegese werden.143 Vorausgegangen ist der Martin-Schlosser-Chronik der Briefroman »Die Liebenden«. Schon hier entwickelt der Autor die Pseudoidentitäten und -stammbäume parallel zu denen seiner Vorfahren mütterlicher- wie väterlicherseits. »Die Liebenden« – und damit sind die Eltern Martin Schlossers gemeint – wird passend

142 Doubrovsky, Serge (2008): Nah am Text, S. 126. Das Zitat im Zitat stammt aus seinem Text »Le Livre brisé« von 1989, S. 213. 143 Nünning, Ansgar (2007): Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen, S. 287.

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Topographien der Adoleszenz

mit folgendem Zitat Jean Pauls eingeleitet: »Briefe verbrennen. Nie thät ichs. Alles untergehende Leben kommt wieder; diese Geschöpfe dieses Herzens und Kopfes nie. Durchstreicht die Namen, verwechselt die Handschrift; aber lasset die Seele leben, die gerade in Briefen am innigsten lebt.«144 Die Montage des Briefwechsels zwischen den verschiedenen Familienangehörigen der Familien Schlosser und Lüttjens zu einem Briefroman erlaubt einen Einblick in die Familiengeschichte und die Herkunft von Martin Schlosser und, so erklärt schon das Zitat Jean Pauls zu Beginn der Lektüre, von Gerhard Henschel. Einen dokumentarischen Stil kann man den Martin-Schlosser-Romanen nicht absprechen, wird im Hinblick auf die Verfasstheit der Romane doch auch immer wieder auf Walter Kempowskis sogenannte Deutsche Chronik verwiesen.145 Hen-

144 Paul, Jean (1996): Ideen-Gewimmel. Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachlaß, S. 170. 145 Kempowskis Chronik besteht aus neun Bänden, die zwischen 1971 und 1984 veröffentlicht wurden und die Zeit zwischen 1880 und 1960 aus der Perspektive einer bürgerlichen Familie beschreiben. Neben der Deutschen Chronik verfasste Kempowski weitere Romane mit autofiktionalem Charakter und veröffentlichte schon zeitlebens seine Tagebücher. Sein Oeuvre ist gespickt mit intertextuellen Verweisen und Widersprüchen. Einen Eindruck von der Vielfältigkeit der Verzweigungen bekommt man dank der akribischen Arbeit von Gerhard Henschel, der in »Da mal nachhaken: Näheres über Walter Kempowski« einige Parallelen zwischen Kempowski und den Protagonisten seiner Romane ausfindig macht. Kempowski beginnt mit der Aufarbeitung seiner Familiengeschichte nach seiner Haftentlassung aus dem Zuchthaus Bautzen 1956. Seine Recherchearbeiten, die Befragungen seiner Verwandten und ehemaliger Weggefährten der Familie münden in einer Sammlung von »45 gebundenen A4Heften, den sogenannten ›roten Bänden‹, auf fast 3000 Seiten« [Alles frei erfunden. S. 7]. Das Erinnern an Kindheits- und Jugenderlebnisse war für Kempowski während seiner achtjährigen Haftzeit Mittel zum Überleben, nach seiner Entlassung eine Form der Wiedergutmachung gegenüber seiner ebenfalls inhaftierten Mutter und seines Bruders, später wurde es zu seiner Lebensaufgabe, die ihn schließlich zu einem Chronisten der Deutschen werden ließ. Obwohl der biographische Rahmen für die »Chronik« allgemein bekannt sei, hält Niemann fest: »Für das Werk ist es nicht entscheidend, ob die erzählten Geschichten ›wahr‹ sind oder nicht. Es bleibt ein meisterhaftes Unterfangen, wie es Walter Kempowski gelingt, aus der eigenen Familiengeschichte ein Gesamtbild der Zeit zwischen 1880 und 1960 zu destillieren. Und obwohl der Ich-Erzähler den Namen des Autors trägt, vergisst der Leser, daß hier wirkliche Lebensgeschichten erzählt werden« [Alles frei erfunden, S. 6]. Umgekehrt strahlt die Faktualität der »roten Bände« auf die romaneske Form der »Chronik« zurück: »Fast will man nach der Lektüre der ›roten Bände‹ sagen, alles ist wahr, alles ist geschehen, was in der ›Chronik‹ steht – auch die erfundenen Teile« [Alles frei erfunden, S. 14]. Durch diese zwei auf den ersten Blick divergierenden Lektüreerfahrungen lässt sich die deutsche Chronik Kempowskis als autofiktional klassifizieren. Der Leser kann, wie Frank Zipfel die dritte und entscheidende Form der Autofiktion definiert, den Text weder nach dem autobiographischen noch nach dem romanesken Pakt auflösen [Vgl. Zipfel, Frank: Autofiktion, S. 304]. Umgekehrt, so merkt Weidner an, rückt das Echolot-Projekt mit seiner Montage aus verschiedenen historischen Quellen in die Gattung der Literatur [Vgl. Weidner, Daniel: Bildnis machen, in: Auto(r)fikti-

1. Theorie

schel, der Kempowski als junger Germanistik-Student im Rahmen eines Literaturseminars im Haus Kreienhoop im Oktober 1984 kennenlernte, erzählte dem Literaten von seinen Plänen, eine Chronik für seine Generation zu schreiben. Kempowski äußerte sich in einem Brief an Henschel wohlwollend und freute sich über die Ergänzung seines Werks: »Wo hat es das schon mal gegeben!«146 Gerhard Henschel hat sich eingehend mit dem Werk und der Arbeitsweise Walter Kempowskis beschäftigt und erklärte mir: [D]ie Idee, den ›Kindheitsroman‹ zu schreiben, geht unmittelbar auf Kempowski zurück. Als ich 1996 zum x-ten Male ›Tadellöser & Wolff‹ las, war ich etwas betrübt darüber, daß noch niemand aus meiner Generation etwas Vergleichbares geschaffen hatte. Und dann kam ich auf den kühnen Gedanken, es selbst zu versuchen.147 Die geschilderten Erlebnisse Martin Schlossers werden vom Feuilleton ebenso wie Kempowskis Deutsche Chronik als Beschreibung einer Kollektiverfahrung gewertet, wenngleich er lediglich auf Archivalien seiner Familienmitglieder und Wegbegleiter zurückgreift. So schreibt Matthias Wulff in der »Welt« über seine Lektüreerfahrung von »Jugendroman«: »Mehr als einmal schlägt man sich beim Lesen die Hände vors Gesicht und denkt sich: Oh Gott, genau so schrecklich war das«.148 Über »Kindheitsroman« hieß es in der »Frankfurter Rundschau«: Leser, die die 1960er-Jahre selbst als Kind oder Jugendlicher miterlebt haben, werden sich »ein ums andere Mal erinnert fühlen«.149 Die Einschränkung im Bezug auf das Alter

on, Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld 2013, S. 174]. Dadurch, dass die Feldpostbriefe, Tagebuchnotizen, Zeitungsartikel u. ä. durch ihre collageartige Darstellung ihre Historizität zugunsten eines neuen Narrativs einbüßen, schafft Kempowski ein Pendant zu seiner deutschen Chronik, die eine Familiengeschichte erzählt, welche auf die kollektive Erinnerung zurückstrahlt. Umgekehrt besteht das Echolot-Projekt aus Quellen, die Teil des kollektiven Gedächtnisses sind und dem Rezipienten neue Sichtweisen auf seine persönliche Familiengeschichte ermöglichen. Kempowski schilderte das Potenzial des Echolot-Projekts so: »Die Romane schrieb ich aus subjektiver Sicht. Später schien mir dieses Erlebnis vor allem ein kollektives zu sein. Dafür eine Form zu finden, war zunächst schwierig. Ich habe sehr viele Tagebücher aus der Kriegszeit gesammelt, auch Briefkonvolute archiviert und immer wieder durchgesehen. So kam ich darauf, daß man doch eigentlich das Kollektive dieser Ereignisse zeigen müßte« [Zitiert nach Volker Hage: Zeugen der Zerstörung, S. 198]. 146 Walter Kempowski in einem Brief an Gerhard Henschel vom 24.4.2003, zitiert nach: Henschel, Gerhard (2009): Da mal nachhaken: Näheres über Walter Kempowski, S. 11. 147 Gerhard Henschel in einer E-Mail an die Verfasserin der vorliegenden Studie vom 15.11.2015. 148 Wulff, Matthias: Kinderzeit und Jugendglück, in: Welt am Sonntag, 11.10.2009, online: https ://www.welt.de/4805081 [Stand: 01.05.2018]. 149 Vgl. Laux, Thomas: In Romika-Schuhen zur Ponderosa, in: Frankfurter Rundschau, 24.03.2004, online: https://www.fr.de/kultur/literatur/thomas-laux-in-romika-schuhen-zur-p onderosa-a-1199807 [Stand: 01.05.2018].

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Topographien der Adoleszenz

der Leser unterstreicht die Signifikanz der Erzählperspektive und deren Auswirkung auf das Leseerlebnis. Man kann den Gedanken des Rezensenten weiterentwickeln und schlussfolgern, dass Leser ebendieser Alterskohorte die beschriebene Welt wiedererkennen und Leser, deren Erinnerung nicht bis in die 1960er-Jahre zurückreicht, die Darstellung eher als Fakt interpretieren. Durch die Äußerungen des Autors und die Mithilfe der Kritiker wird der Eindruck eines mimetischen Abbilds noch weiter geschürt. Durch Henschels Bereitschaft auch der medialen Öffentlichkeit Tür und Tor zu seinem Archiv zu öffnen und so einen Blick hinter die Kulissen der schreibenden Zunft zu ermöglichen, wird der Eindruck sauber recherchierter und historisch korrekter Texte genährt. Vor der eigentlichen Schreibphase jeden Bandes beginnt Henschel, sich ein »Datengerüst« mit »politischen, kulturellen und sportlichen Ereignissen« zu erstellen, dabei berücksichtige er auch, welche Filme und Fernsehsendungen er gesehen und welche Bücher er gelesen habe. Neben seinem Gedächtnis verlasse er sich für private und familiäre Ereignisse auf sein Archiv: In der Reinschrift scheidet manches wieder aus, doch es kommt so gut wie nichts Erfundenes hinzu. Natürlich kann ich mich nicht mehr an jedes Gespräch erinnern, das ich geführt habe. Wenn meine Romanfiguren reden, dann tun sie das sozusagen idealtypisch. ›Die Lücken‹, hat Walter Kempowski einmal gesagt, ›füllt man durch Kontemplation.‹150 Der Unzuverlässigkeit seines Gedächtnisses ist sich Henschel durchaus bewusst, und die Auskunft über die Verfahrensweise seiner Arbeit ist als Indiz für den Konstruktionscharakter der Romane zu deuten. Die Montagetechnik in Form von Snapshots, welche Nünning anführt, um die metaautobiographische Darstellung von fiktionalen Metaautobiographien als Subversion und Gattungskritik an Autobiographien zu klassifizieren151 , wendet auch Henschel an. Nach eigener Auskunft ließ sich Henschel zu der Darstellungsform, welche eine Montage einzelner in sich abgeschlossener Alltagserfahrungen meint, von Walter Kempowski inspirieren. Der wiederum hatte die Idee von Arno Schmidt adaptiert.152 Schmidt entwickelte zu seiner Brand’s-Haide-Trilogie eine Erzähltechnik, die aus der Ich-Perspektive in je einem Absatz erzählenswerte Erlebnisse eines Tages zusammenfasst. Was zwischen den separaten Fragmenten passiert, bleibt der Text dem Leser schuldig

150 Persönliche Mitteilung Gerhard Henschels an die Verfasserin am 13.11.2015. 151 Vgl. Nünning, Ansgar (2007): Metaautobiographien: Gattungsgedächtnis, Gattungskritik und Funktionen selbstreflexiver fiktionaler Autofiktionen, hier: S. 286. 152 »Inspirierend fand ich auch das Erzählen in mehr oder weniger unverbundenen Blöcken, das Kempowski seinerseits von anderen Autoren übernommen hat – vor allem wohl von Arno Schmidt, der seine Textblöcke ›snapshots‹ genannt hat.« Persönliche Mitteilung Gerhard Henschels an die Verfasserin dieser Studie am 15.11.2015.

1. Theorie

und muss vom Rezipienten selbst erschlossen werden. Diese Technik stellte für Arno Schmidt eine Möglichkeit dar, die menschliche Gedächtnisleistung schriftlich zu fassen, wie er im folgenden Abschnitt erläutert: […] man rufe sich am Abend den vergangenen Tag zurück, also die ›jüngste Vergangenheit‹ (die auch getrost noch als ›älteste Gegenwart‹ definiert werden könnte): hat man das Gefühl eines ›epischen Flusses‹ der Ereignisse? Eines Kontinuums überhaupt? Es gibt diesen epischen Fluß, auch der Gegenwart, gar nicht; Jeder vergleiche sein eigenes beschädigtes Tagesmosaik! Die Ereignisse unseres Lebens springen vielmehr. Auf dem Bindfaden der Bedeutungslosigkeit, der allgegenwärtigen langen Weile, ist die Perlenkette kleiner Erlebniseinheiten, innerer und äußerer, aufgereiht. Von Mitternacht zu Mitternacht ist gar nicht ›1 Tag‹, sondern ›1440 Minuten‹ (und von diesen wiederum sind höchstens 50 belangvoll!). Aus dieser porösen Struktur auch unserer Gegenwartsempfindung ergibt sich ein löcheriges Dasein […]. Der Sinn dieser ›zweiten‹ Form ist also, an die Stelle der früher beliebten Fiktion der ›fortlaufenden Handlung‹, ein der menschlichen Erlebnisweise gerechter werdendes, zwar magereres aber trainierteres, Prosagefüge zu setzen. […] Eben dafür, daß unser Gedächtnis, ein mitleidiges Sieb, so Vieles durchfallen läßt, ist meine Prosa der sparsam=reinliche Ausdruck.)153 Die Verbindung zu Barthes’ Technik der Biographeme ist eindeutig. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von »Kindheitsroman« mutet die Erzähltechnik Henschels in den Augen des Rezensenten Timm Menke »wie eine unbewusste kindliche Variante von Arno Schmidts Diskontinuitätentechnik an«.154 Wer die nachfolgenden Romane kennt, weiß, welch hohes literarisches Können sich in dieser »kindliche[n] Variante« offenbart, reift die Sprache und Stilistik der Romane doch mit der intellektuellen Entwicklung ihres autodiegetischen Erzählers Martin Schlosser mit. So entsteht der Eindruck, man erhalte die ungefilterten Bewusstseinseindrücke des Kindes Martin im ersten Band, die von jugendlicher Schwermut und erster Verliebtheit geprägten Gedanken im »Liebesroman« und so fort. Indirekt gibt Henschels Alter Ego Martin Schlosser auch über die Romane Auskunft über die Erinnerungsarbeit und deren Grundlagen. Zum Beispiel als er in »Bildungsroman« das erste Mal ein Literaturseminar bei Walter Kempowski in

153 154

Schmidt, Arno (1995): Bargfelder Ausgabe, Werkgruppe III, Essays und Biografisches, Band 3, S. 167f. Menke, Timm: Westdeutsche Familiengeschichte als Literatur: Gerhard Henschels Die Liebenden und Kindheitsroman. Literaturkritische Annäherungen, in: Glossen, Heft 25, Jahr 2007, online http://www2.dickinson.edu/glossen/heft25/Menke.html [Stand: 13.02.2019].

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Topographien der Adoleszenz

Nartum besucht und dieser dort erzählt, dass er in seinen Tagebuchnotizen notiert, welche Musik er an diesem Tag gehört und welche Gespräche er geführt habe (Br, 395). Einen Einblick in die Tagebuchaufzeichnungen Martin Schlossers erhalten Leser etwa in »Arbeiterroman«: Seit ein paar Wochen führte ich Tagebuch. Fr, 9.12.88: Sechs Uhr auf. Roman: Korrekturlesen bis halb eins. Klarer blaßblauer Himmel, nichts als Sonne. Mittags Milchreis mit Bananen und Mandeln. 16.30 Uhr bis 21.15 Uhr Rhenus. Nachrichten. Erdbeben in Armenien. Fünfzigtausend Tote. Warum mußte es immer die Ärmsten erwischen? (Arr, 123) Auch die Überlegungen Martin Schlossers zu Bob Dylans Äußerung zum Film »Renaldo und Clara«, Dylan trete dort nicht auf, geben Hinweise auf sein eigenes Verständnis von Künstler-Ich und Privatperson. Seine Stimme ist da, seine Lieder werden verwendet, aber Bob ist nicht im Film. Es wäre blöde. Hast du jemals ein Picasso-Gemälde mit Picasso im Bild gesehen? Du siehst nur seine Arbeit. Das gleiche galt wohl für Horst Janssens Selbstporträts und Walter Kempowskis autobiographische Romane. […] (Arr, 31). Der Hinweis auf Bob Dylans Verständnis von Künstler-Alter-Egos und deren Verhältnis zum eigenen Schaffen ist komplexer als auf den ersten Blick erkennbar. Dylan selbst ist schon eine Künstlerfigur und anerkennt damit sein Sein als fiktives Wesen im Sinne Doubrovskys. Blickt man auf das Gesamtwerk des US-amerikanischen Musikers, wird einem bewusst, dass die Künstlerfigur Bob Dylan sich stetig neu erfindet. Eindrücklich vor Augen geführt wurden diese vielen Leben des Bob Dylan den Zuschauern im Film »I’m not there« (2007). Dort wird der Musiker von so unterschiedlichen Schauspielern wie Heath Ledger, Kate Blanchett, Richard Gere, Christian Bale, Ben Wishaw und dem Afroamerikaner Marcus Carl Franklin verkörpert. Auch in dieser Filmografie ist es so, dass die Musik Dylans auftaucht, aber nie er selbst geschweige denn sein Name; er ist nicht da, wie im Filmtitel bereits angekündigt. Im Film werden die unterschiedlichen Schaffensperioden Dylans gezeigt. Die Person Bob Dylan, die eigentlich Robert Allen Zimmerman heißt, spielt im Film nicht mit. Lediglich seine Stimme taucht am Ende des Films auf, wenn im Abspann das Filmtitel gebende Lied von 1967 eingespielt wird. Und trotzdem handelt der Film einzig von ebendiesem Künstler-Ich. In »Renaldo and Clara« ist es umgekehrt: Hier spielen Bob Dylan, seine Ehefrau Sara, Joan Baez und der Rest der gesamten Crew der Rolling-Thunder-Review Rollen.

1. Theorie

Ein Snapshot in »Arbeiterroman« geht auf Kempowskis Umsetzung »[d]ichterische[r] Freiheit« ein. Martin hatte ihm zwei Bücher einer sechzehn Bände umfassenden Reihe mit dem Titel »Die Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens« mit dem Kommentar zugeschickt, dass er vermutlich mehr damit anfangen könne (vgl. Arr, 82). Kempowski verwandelt den Absender in seinem neuen Roman »Hundstage« in einen Senioren, der die gesamte Reihe auf seinem Dachboden gefunden hat. Martin freut sich über die Textstelle: »Ohne mein Zutun wäre dieser Absatz nicht geschrieben worden, und das hatte etwas Erhebendes« (Arr, 82). Ähnlich verfährt auch Gerhard Henschel, wenn er Martin einen Brief von Oma Schlosser an Tante Hanna vom November 1987 in den Schränken ebendieser entdecken lässt. Den zitierten Brief (Arr, 220) bekam Gerhard Henschel erst 2015, während eines Pressetermins anlässlich der Präsentation von »Künstlerroman« durch seinen Onkel, ausgehändigt.155 An seinem »Erfolgsroman«, der im Herbst 2018 erschienen ist, schrieb auf gewisse Weise auch Kathrin Passig mit. Die entsprechenden Textpassagen schickte er ihr zum Gegenlesen, und sie ergänzte oder korrigierte seine Schilderungen. »Mitarbeitende Romanfiguren: Hat es so etwas jemals zuvor gegeben? Mir ist kein anderer Fall bekannt«, so Henschel in einer persönlichen E-Mail.156 Die Beispiele zeigen, dass die historischen Begebenheiten zugunsten des Narrativs verändert werden – ebenfalls ein typisches Verfahren autofiktionaler Texte. Gerhard Henschels Chronik kann als autofiktional nach der dritten Kategorie von Frank Zipfel klassifiziert werden. Der Text lässt sich nach keiner der beiden Gattungen auflösen. Alle Autoren des Textkorpus vermitteln unterschiedliche Auffassungen von Autorinszenierung, und die Romane spielen in unterschiedlicher Gewichtung mit der Verstehensfigur der Autofiktion. Zwar obliegt es den Rezipienten, den Kontrakt zwischen Text, Leser und Autor einzugehen, doch es sind para- und intertextuelle Verfahren, die den Rezipienten davon abhalten, sich ganz der romanesken oder der autobiographischen Lesart zu verschreiben. Stattdessen wird der literarisch inszenierte Erinnerungsraum Bonner Republik als Imaginäres sichtbar, das Neues offenbart, obwohl es Bekanntes erzählt.

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156

Vgl. Hilde Weeg: Wenn Onkel und Tanten zu Romanfiguren werden. Deutschlandfunk Kultur, Beitrag vom 17.08.2015, online: https://www.deutschlandfunkkultur.de/gerhard-hens chels-autobiografischer-kuenstlerroman-wenn.1270.de.html?dram:article_id=328487 [Stand: 28.02.2019]. Persönliche Mitteilung Gerhard Henschels an die Verfasserin der vorliegenden Studie am 28.03.2018.

67

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

Das Aufwachsen der Protagonisten wird stets aus männlicher Perspektive beschrieben. Damit stehen die Romane des Textkorpus in der Tradition des klassischen Bildungsromans, welcher den Auszug aus der mütterlichen Heimat in die männlich konnotierte Fremde thematisiert. Erst durch die Abnabelung und das Losziehen ins unbekannte Abenteuer können die Heranwachsenden zu Männern werden, so der gängige Topos. Dieser Analyseabschnitt, in dem Praktiken der Raumaneignung und Identitätsentwicklung untersucht werden, ist thematisch weit gefasst. Der Fokus liegt auf der Analyse der Konstruktion des sozialen Geschlechts. Wie stellen die Texte die Adoleszenz dar? Welche Rituale und Praktiken der Initiation haben zur erzählten Zeit noch Relevanz? Und: Wie wird die Ablösungsphase sowie das Verhältnis zu den Eltern dargestellt? Aus historischer Perspektive gehört neben dem Auszug in die Fremde zur Sozialisation des Mannes auch der Wehrdienst. Der zur erzählten Zeit der Romane noch eine qua Geschlecht und Alter verpflichtende Aufgabe jedes männlichen deutschen Staatsangehörigen war es, den Wehrdienst abzuleisten. Eine Verweigerung war zu dieser Zeit nur in Ausnahmefällen und unter speziellen Bedingungen möglich. Die Praxis der Verweigerungsanhörung spielt in zwei Romanen des Textkorpus eine wichtige Rolle.

2.1

Körper und Adoleszenz

In diesem Abschnitt werden die Strategien der Selbstverortung, die in den Texten verhandelt werden, untersucht. Die jugendlichen Protagonisten befinden sich in einem Krisenzustand, der ihnen, um in soziologischen Termini zu sprechen, Rollenanforderungen abverlangt. Diese spezifischen Rollenanforderungen gehen mit der Frage nach den eigenen Zielen, Wünschen und Werten einher. Diese Kategorien bilden so den Charakter eines Menschen. Das Selbstbild entsteht durch den ständigen Abgleich zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung. In den Romanen werden verschiedene Praktiken vorgestellt, die die Protagonisten als Mittel der

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Topographien der Adoleszenz

Selbstverortung heranziehen. Diese Praktiken werden am Körper beziehungsweise mit dem Körper ausgeübt.

»die nicht enden wollenden Initiationsriten« In »Dorfpunks« wird die Punkwerdung des Protagonisten als psychisch und physisch verschränkte Veränderung beschrieben. Die individuelle Genese des Protagonisten zum Punk Roddy Dangerblood wird durch verschiedene Faktoren geprägt, die ineinandergreifen, parallel stattfinden oder konträr verlaufen. Der Erzähler erinnert sich an die Zeit, als er sich mit dreizehn Jahren veränderte: In uns klafften wachsende Löcher, eine bodenlose Leere breitete sich aus, das Fehlen der kindlichen Geborgenheit, aufkeimende Sexualität und die absolute Ahnungslosigkeit über die eigene Identität erzeugten eine schmerzhafte Säure aus Langeweile, Angst und Ablehnung, die durch unsere Adern floss (Dp, 34). Es ist die Gefühlswelt eines Pubertierenden, dessen Identität sich auszuprägen beginnt. Neue, bisher unbekannte Emotionen bestimmen die Eigenwahrnehmung des Protagonisten und seiner gleichaltrigen Freunde. Ihre Handlungen dienen als Markierung, die die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden offenbart. Mit den Klingen aus Anspitzern ritzen sich die pubertierenden Jungen die Arme auf, zum einen, um den Mädchen zu imponieren, und zum anderen, um sich in der Welt verorten zu können. »Hier, wo der Schmerz ist und das Blut fließt, höre ich auf und fängt die Welt an. Das war Selbsterkenntnis. Und das waren Initiationsriten […]. Das Wort Initiation war uns unbekannt« (Dp, 35). Den Körper spüren und mit der Vergänglichkeit spielen, das sind Motive, die auch Foucault beschreibt. Das Ritzen mit Rasierklingen als Reminiszenz an den Suizid, den Tod, der die rasende Utopie des Körpers verstummen lässt, das ist es, was die Figur mit ihrem Handeln bezweckt. Als intuitive Tat wird dieses Verhalten dargestellt. Dass es sich dabei um Rituale handelt, die über die Szene des Punk hinaus existieren und zur Mannwerdung1 gehören, ist dem Protagonisten nicht bekannt. Erst aus der Retrospektive kann der erinnernde Erzähler die Tat erklären und als Initiationsritus begreifen. Später – als Punk – gehören Verletzungen zum Szenecode sowie neue Namen, die der autodiegetische Erzähler als »Unabhängigkeitserklärung« (Dp, 128) begreift. Schon aus dem Dorf sei ihm diese Praktik [»diese Methode der Identitätsformung« (Dp, 128)] bekannt. Auch hier gehöre man erst dazu, »wenn man

1

Die Fragen, inwiefern das Erwachsenwerden unabhängig vom Geschlecht durch ebensolche Initiationsrituale geprägt ist, liegt außerhalb des Erkenntnisinteresses dieser Studie. Da im Textkorpus nur die Adoleszenz männlicher Protagonisten thematisiert wird, könnten im Rahmen dieser Untersuchung nur Vermutungen in Bezug auf explizit weibliche Praktiken angestellt werden. In den Texten werden weibliche Formen – so es denn explizit weibliche Formen gibt – von Initiation nicht beschrieben.

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

einen eigenen Namen hatte« (ebd.). »Unsere früheren Namen warfen wir ab wie alte Häute, sie waren Bezeichnungen, die uns von unseren Eltern und einer starren Maschine hinter ihnen übergestreift worden waren, um uns zu identifizieren. Wir wollten aber nicht mehr zu identifizieren sein« (Dp, 128). Die Umbenennung wird als subversiver Akt beschrieben, und die performative Praktik der Namensgebung durch die Eltern als Ausprägung des diskursiven Machtapparats aufgefasst, gegen den es zu opponieren gilt. Der emanzipatorische Akt der Namensgebung ist ein Initiationsritus, der die Aufnahme in die Punkcommunitas feiert. Im Roman wird der Protagonist nicht allein qua Alter zu einem Jugendlichen, der sich in der liminalen Phase befindet, sondern er wird qua seiner Handlungen und Gefühle zu einem Individuum, das die Rites de Passage durchlebt. »Wir waren auf dem Weg zur anderen Seite« (Dp, S. 34), erläutert der Erzähler das plötzlich aufkommende Gefühl der Aufstörung2 . Der Weg zur anderen Seite ist ein Bild, dass das teleologische Konzept der Rites de Passage bedient und gleichzeitig den Text als sujethaft charakterisiert. Im Sommer 1978, so erinnert sich der Erzähler aus der Retrospektive, »lag in alldem bereits ein stärker werdender selbstzerstörerischer Zug« (Dp, 25). So werden »Rotzen« und »Rauchen« als Demonstration von Härte und folglich als »Türen in die Erwachsenenwelt« (Dp, 25) interpretiert. Die Dorfjugend denkt sich eigene Initiationsriten aus: So schlagen sie Hühner bis zur Bewusstlosigkeit oder ärgern die angeketteten Zuchtbullen des Bauern. »Wer so was nicht brachte, war nicht cool in der Dorfjungsszene.« Im Nachhinein ist dem erinnernden Ich bewusst, warum er und seine Freunde sich solche »Lebenstests« ausdachten. Uns fehlte die Initiation, die Knaben in Naturvölkern durch die Gemeinschaft der erwachsenen Männer erfahren. Kontrollierte rituelle Verletzungen, Drogen oder Beschneidungen. All das gab es bei uns nicht, und keinen Mann, keinen Vater, der gemeinsam mit uns durch die Tür ins Mannsein gegangen wäre, geahnt hätte, was uns fehlt und wie er uns das hätte geben können. Nur die bescheuerte Bundeswehr, deren Mannwerdungsriten für mich ganz klar das Letzte waren. Also mussten wir uns diese Rituale selbst ausdenken, unbewusst, aber zielstrebig. Blutige, kriegerische Rituale. Nicht enden wollende Rituale des Übergangs (Dp, 26).3

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Der Begriff stammt von Carsten Gansel, der drei Formen benennt, die sich durch den Intensitätsgrad räumlich und zeitlich unterscheiden. Im Rahmen dieser Studie werden diese Differenzierungen jedoch nicht angewandt. Vgl. Gansel, Carsten (2011): Adoleszenzkrisen und Aspekte von Störung in der deutschen Literatur um 1900 und um 2000, S. 261-287, insbesondere S. 265. An anderer Stelle spricht der Erzähler von den »nicht enden wollenden Initiationsriten« (Dp, 128).

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Auf fehlende Riten in modernen Gesellschaften verweist auch Foucault, wenn er Krisenheterotopien durch Abweichungsheterotopien ersetzt sieht. Die institutionalisierten »Mannwerdungsriten« der Bundeswehr befinden sich zur erzählten Zeit der Romane bereits in Auflösung, erhöhte sich die Chance der Verweigerungsanerkennung in dieser Dekade doch sukzessive. Diese letzte (post-)moderne Krisenheterotopie befindet sich im Auflösungsprozess und verliert ihre Bedeutung. Der Vater des erinnerten Ichs ist tolerant gegenüber dem adoleszenten Verhalten. So nehmen seine Eltern die drogenabhängige Tochter eines befreundeten Ehepaares auf, damit sie sich abseits der Großstädte erholen kann (vgl. Dp, 20ff). Elterliche Strenge erfährt Roddy nur durch andere Männer. Beispielsweise durch den Vater von Bauer Nold, der wie »ein alter, dicker Napoleon stolzierte« und Befehle gab. Die Jugendlichen haben Respekt vor ihm, zwingt er sie doch zu harter Feldarbeit – »Er schliff uns, bis uns die Zunge aus dem Hals hing« (Dp, 24) –, sobald sie auf dem Bauernhof herumlungern. Das Verb »schleifen« und der Napoleon-Vergleich erwecken den Eindruck, der Mann stamme aus einer längst vergangenen Epoche. Der Bauer wird als Figur markiert, an der sich die männlichen Jugendlichen abreagieren können. Er und sein Hof stehen für eine vergangene Gesellschaftsordnung, die zwischen Herr und Knecht unterscheidet. Dass die Jugendlichen, die sich unbewusst nach rituellen Praktiken sehnen, immer wieder diesen Ort aufsuchen, ist mitnichten Zufall. Sie finden hier nicht nur Raum für ihre Streiche und Mutproben, sondern auch Menschen, die ihnen entgegenstehen und ihr Verhalten nicht tolerieren. Denn wo aufgrund von Gleichgültigkeit und verständnisvoller Toleranz keine Grenzen gezogen werden, gibt es für die Jugendlichen keine »Türen«, die aufgestoßen, und keine Regeln, die gebrochen werden können. Der psychische Wunsch nach Grenzüberschreitung kann aufgrund fehlender elterlicher Regeln nicht erfüllt werden. Deshalb sucht der Protagonist unbewusst nach anderen Räumen und neuen Praktiken, um die Rites de Passage zu durchlaufen. So entscheidet er sich, Punk zu werden, nicht weil er die Musik schätzt, sondern weil ihm die Berichterstattung der Medien über Punks imponiert. Kurz vor meiner Konfirmation schnitt ich mir die Haare mit einer Nagelschere ab. Mein Entschluss war klar: Ich musste Punk werden. Ohne eigentlich etwas darüber zu wissen – es gab da zwei Bravo-Artikel und die vage Ahnung, wie cool man als Punk sein würde –, fällte ich diese Lebensentscheidung. Ich war vierzehn (Dp, 48). Der Ich-Erzähler wird so Teil einer »Bewegung« (Dp, 192), findet eine Communitas von Gleichgesinnten, die im »Sommer 1983« ihren Höhepunkt mit »etwa vierzig Leuten« in Schmalenstedt erreicht (Dp, 100). Sexualität spielt anfangs keine Rolle in der »gemischte[n] Gruppe« (Dp, 78). Der autodiegetische Erzähler beschreibt sich und die anderen männlichen Punks als »asexuell«. Der Grund: »Wir wollten ja definitiv das Gegenteil von sentimentalen, weichen Hippies sein« (Dp, 79). Und das hatte zur Folge, dass Sexualität, »wenn

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überhaupt, nur ohne Gefühle, ohne Zärtlichkeit« möglich war (Dp, 79). Viel wichtiger war »die Gruppe«. »Alle, die Beziehungen anfingen, sah ich als verloren an. Verloren an die Liebe, die Langeweile […], das Erwachsensein, die Spießigkeit und den Tod« (ebd.). Die Adoleszenten grenzen sich mit ihrem Verhalten sowohl von der vorhergehenden Subkultur der Hippies ab als auch vom »Erwachsensein«. Sie versuchen sich in Opposition zu setzen. Körperhygiene ist den Punks unwichtig – auch das ein Ausdruck ihres subversiven Verhaltens. Gleichzeitig fühlen sie sich aber von der »Vorstellung gepflegter Sauberkeit« (Dp, 78) angezogen, die durch die »Poppermädchen« (ebd.) symbolisiert wird. »Wir wollten am liebsten zu den reichen Schnöseln in ihre sauberen Wohnungen und ihnen ihre duftenden Töchter wegnehmen« (ebd.). Popper und Punks waren zur erzählten Zeit die zwei dominierenden Jugendkulturen, die in ihren dichotomen Ausformungen – wie schon die Beschreibung des Textes offenbart – nicht unterschiedlicher hätten sein können. Die Vorstellung der Eroberung und des Raubs der Töchter ist ein Topos, der sich aus hegemonialen Machtphantasien speist und die Geschlechterrollenklischees von der passiven Jungfrau und dem sie rettenden Mann reproduziert. Aus der Retrospektive ist dies dem Erzähler durchaus bewusst: Sie seien »geprägt von dem Idealbild« (Dp, 78). […] heimlich standen wir auf Poppermädchen mit langen Haaren, fessellangen Leinenhosen und beigen Pullis mit V-Ausschnitt. Obwohl wir selber dreckige, verstunkene, wilde Typen waren, reizte uns die Vorstellung gepflegter Sauberkeit. […] Wir waren in unseren Geschlechterrollen nicht halb so frei, wie wir dachten (Dp, 78). Das Weibliche wird nicht allein qua Geschlecht zur Verkörperung der Alterität erhoben, sondern durch die Attribute wie Sauberkeit, Reinheit und Schönheit. Diese feminisierten Ideale sprechen sich die männlichen Punks selbst ab, leben sie doch an den »Ufern der Härte« (Dp, 37), einem durch und durch männlich gegenderten liminalen Raum. Obwohl es auch weibliche Punks in der Gruppe gibt, werden die nicht als Lustobjekte wahrgenommen. Sie gehören zur »Gruppe«, sind Bewohner des »Ufers« und so ebenfalls »asexuell« bzw. männlich gegendert. Dass der Protagonist offenbar in einer Identitätskrise steckt, zeigt der Bewusstseinsstrom im Kapitel »Weiß« (Dp, 57f.). Dort heißt es: Ich kann mich nicht ein- und unterordnen. Ich habe in der menschlichen Gesellschaft keinen Platz. Die menschliche Gesellschaft ist mir zuwider. Ich hasse die Natur. Die Natur ist kalt. Ich bin glücklich in der Natur. Ich will Sex. Ich will Frauen. Ich bin stumpf. Ich hasse diesen Drang, ich will selber über mich bestimmen. Ich verachte Männer. Ich verachte das, was mir als Männlichkeit präsentiert wird. Was soll ich sonst sein? Kann man als Punk geschlechtslos sein und trotzdem Sex haben? (Dp, 57).

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Der Ausschnitt offenbart die Gedankenwelt des Jugendlichen, der die Gesellschaftsnormen in Opposition zur Natur sieht. Der naturgegebene Geschlechtstrieb und das von der Gesellschaft geformte Männerbild schrecken ihn ab. Er kann sich weder auf der Natur- noch auf der Kulturseite verorten. Er befindet sich in einem Schwellenzustand: Auf der einen Seite fühlt er sich getrieben durch seinen Wunsch nach Sexualität und Körperlichkeit, auf der anderen Seite will er sich von dem ihm bekannten Männerbild abgrenzen. Eine eigene Ich-Identität auszuformen, die Sexualität einschließt, ist eine Entwicklungsaufgabe, die der Protagonist sukzessive bewältigt. Die Dichotomie zwischen Kultur und Natur, die an dem Jugendlichen zerrt, beginnt sich zum Ende der erzählten Zeit hin aufzulösen. Mit 18 Jahren geht der Erzähler eine feste Beziehung ein und leidet an seinen Gewissensbissen gegenüber der »Bewegung« (Dp, 193). »In Wahrheit hatte ich Angst« (ebd.), gesteht sich der Erzähler ein. Denn der Schritt in Richtung einer ernsthaften Beziehung bedeutet einen Schritt in Richtung »Ernsthaftigkeit« (ebd.), Erwachsensein und gesellschaftlicher Integration. Punksein steht dem entgegen. Als er sich dann doch für die Beziehung entscheidet, fühlt er sich das erste Mal zu Hause (Dp, 193). In der Bildsprache des Textes gesprochen, verlässt er das »Ufer der Härte«. In »Neue Vahr Süd« wird die Phase der Liminalität durch das Durchgangszimmer, welches Frank während seiner Wochenenden bewohnt, topographisch markiert. Dass er dieses Zimmer anmietet, beruht nicht auf einem freiwillig gefassten Entschluss, sondern ist Auswirkung der Tatsache, dass Franks Eltern sein ehemaliges Zimmer für andere Zwecke verwenden, seit er bei der Bundeswehr ist. So wie er die Verweigerung vergessen und sich den Mechanismen des Rechtsstaates ausgeliefert sieht, so lässt er auch seine Eltern über seine Wohnsituation bestimmen. Frank ist kein aktiv Handelnder und wird in die Liminalität getrieben. Wie ein lebloser Körper lässt er sein Leben durch die Umstände und Sachzwänge bestimmen. Selbst das angemietete WG-Zimmer lässt er sich durch die anderen Bewohner erst konstruieren. Als separates Zimmer kann der Raum auch erst bezeichnet werden, als die WG-Bewohner eine Wand einreißen, um einen Eingang für das dahinterliegende Zimmer seines Freundes Martin Klapp zu schaffen. Das Zimmer wird vorerst provisorisch durch eine Wolldecke abgetrennt, die Frank an die Erzählungen seiner Mutter von der Zeit im Flüchtlingslager erinnert (NVS, 115), was abermals unterstreicht, dass Franks Situation den Umständen geschuldet ist und nicht auf aktiven Entscheidungen beruht. Frank erkennt nur nicht den entscheidenden Unterschied zwischen der Situation von geflüchteten Menschen und seiner eigenen; er könnte, würde er sich aktiv bemühen, seine Lebenssituation verändern. Er befindet sich somit in der selbstgewählten Passivität. Der Raum ist nicht einmal groß genug, um ein Bett unterzubringen. Das Zimmer, das höher als breit ist, wird für Frank zum Raum, in dem seine erste sexuelle Begegnung mit Birgit stattfindet. Sie lernt er während der Ein-

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weihungsfeier kennen und zunächst gesteht er sich nicht zu, ihre Annäherungen offensiv zu beantworten. »[…] ihm war das alles nicht geheuer, am Ende versteht man wieder alles falsch, dachte er, und dann steht man wieder da wie ein Trottel, dachte er, denn er wußte, daß er garantiert etwas Unüberlegtes tun würde, wenn das hier noch lange so weiterging mit Birgit […]« (NVS, 194). Erst als die beiden durch das Trinkspiel »Leichenzug« stark alkoholisiert sind, ist Frank gleichgültig gegenüber den Avancen und strauchelt mit Birgit in sein Zimmer. »Sein Zimmer lag leer in der Dämmerung, mein Zimmer ist der tote Winkel, dachte er […]« (NVS, 199). Es wird in Opposition zu den anderen Räumen dargestellt, die alle durch die Partygäste gefüllt sind. Sein Zimmer ist »raffiniert getarnt« (NVS, 199), wie Birgit bemerkt, es liegt im Dunkeln, versteckt hinter Wolldecken. Wenngleich sich Frank und Birgit zurückziehen, um ungestört sein zu können, kommen sie über Küssen und Fummeln nicht hinaus.4 Stattdessen »verbindet« sie schließlich das gemeinsame Erlebnis, sich in Franks Kleiderkiste übergeben zu haben (NVS, 201). Dieses Kippmoment verleiht der Szene Ironie und nimmt vorweg, dass sich Frank im Durchgangszimmer nie heimisch fühlen und sich die WG in Chaos und Streit auflösen wird. Die alkoholisierte Birgit nennt Frank mehrmals »Kosak« (NVS, 199f.). Eine Bezeichnung, die sie unbewusst wählt und auch nicht begründen kann, jedoch der Tatsache entspringt, dass Frank der Einzige auf der Party ist, der die Wehrpflicht ableistet. Die Bezeichnung trennt Frank von den restlichen männlichen Partygästen, die alle mehr oder weniger in linkspolitischen K-Gruppen aktiv sind bzw. waren, denen sich Frank nie angeschlossen hat. Der Begriff »Kosake« wird sowohl als Fremd- wie auch als Selbstzuschreibung verwendet. Etymologisch bedeutet der Begriff »freie Krieger« und ist »turksprachigen Ursprungs«5 , was Franks Zwang, zur Bundeswehr zu gehen, aus einer neuen Perspektive begreifbar werden lässt. Er widersetzt sich den Lebenswegen seiner männlichen Altersgenossen und den zur erzählten Zeit gängigen Habitus der Jugendkulturen. Die Teilnahme am Wehrdienst erscheint so als eine Gegenhandlung zu der seiner WG-Mitbewohner. Martin Schlosser fühlt sich ebenfalls keiner Jugendbewegung zugehörig. Er selbst bezeichnet sich als Nonkonformist (Lir, 262), trägt schulterlange Haare (Lir, 145) – »Mehr erlaubte Papa aber nicht« – und im Grunde ähnliche Kleidung wie viele seiner Mitschüler. Er sieht das allerdings anders. An seinem Parka sei beispielsweise kein aufgenähtes Deutschlandfähnchen (Lir, 205). Und seine blaue Jeanshose

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»›Das ist also dein Zimmer‹, sagte sie wieder und küßte ihn. Sie schob ihre Zunge in seinen Mund, und wälzten sich ein wenig hin und her und befummelten sich hektisch […]« (NVS, 199). Zitate (S. 12, 13) und weitere Informationen zu einem transnationalen historiographischen Blick auf das Bild der Kosaken bietet das Buch »Die Kosaken« von Andreas Kappeler.

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tausche er auch manchmal gegen eine schwarze Cordhose ein. Dass er mit diesem Kleidungsstil dennoch die Mode der politisch interessierten Jugendlichen der 1980er-Jahre aufgreift, will er nicht sehen. Die Szene zeugt von der Ironie, die der Autor Gerhard Henschel seinem jugendlichen Alter Ego Martin Schlosser gegenüber pflegt. Auch Frank Lehmann wird in der Verfilmung von »Neue Vahr Süd« mit Bundeswehrparka und blauer Jeanshose dargestellt. Mit ihrem ähnlichen Kleidungsstil, der den Zweck hat, den nonkonformistischen Lebensstil zum Ausdruck zu bringen, sind die Jugendlichen das genaue Gegenteil von dem, was sie aussagen wollen. Seine erste Zigarette raucht Martin mit neun Jahren zusammen mit seinem drei Jahre älteren Bruder Volker (Kir, 240). Als Initiationsritual und Ausdruck seines Wunsches nach Rausch kann man diese Szene aber nicht interpretieren. Martin folgt hier seinem adoleszenten Bruder, der bewusst eine Grenze in die Erwachsenenwelt übertreten will. Mit vierzehn Jahren bekommt Martin von der Klassensprecherin seiner neuen Klasse in Meppen eine Zigarette angeboten, die er ablehnt. »Du spielst wohl lieber mit Puppen oder was?« (Jr, 45), lautet die Reaktion der Mitschülerin. Martin hat deshalb Sorge um seine Wahrnehmung seitens der neuen Mitschüler. Dieses Szenario würde Martin diskreditieren. Schließlich spielen nur kleine Mädchen mit Puppen und nicht heranwachsende Männer. Rauchen kann somit eindeutig als Initiationsritual interpretiert werden, das von Mädchen wie von Jungen als Praktik der Erwachsenen wahrgenommen und entsprechend nachgeahmt wird. Statt Zigaretten zu rauchen, übernimmt Martin als Fünfzehnjähriger zunächst das Kaffeetrinken aus der Erwachsenenwelt. »Morgens trank ich jetzt keinen Kaba mehr, sondern Kaffee, mit schön viel Büchsenmilch und mit fünf Löffeln Zucker pro Tasse, weil er mir sonst zu bitter schmeckte« (Jr, 452). Er handelt hier entgegen seinem Geschmack und ahmt die Trinkgewohnheiten der Erwachsenen nach, um als ebensolcher wahrgenommen und akzeptiert zu werden. Da ihn das Trinken des bitteren Kaffees Überwindung kostet, ist die neue Angewohnheit als Initiationsritual zu werten, welche einer Prüfung gleich bestanden werden muss. Martin erleichtert sich diese Prüfung durch Zutaten wie Zucker und Büchsenmilch – und zwar in so großen Mengen, dass der Kaffee selbst gar nicht mehr zu schmecken ist. Mit sechzehn kauft er sich während der Rückfahrt aus dem Allgäu, wo seine Tante Hanna wohnt, eine Schachtel Zigaretten: »In einem Raucherabteil zu sitzen und eine HB zu schmöken, wie ein Erwachsener, das fühlte sich gut an. Auch dreckig und blödsinnig, aber eben auch gut. Wie das Leerfressen eines Adventskalenders am ersten Dezember« (Lir, 231). Der Vergleich versinnbildlicht das Verständnis des Rauchens aus der Perspektive von Jugendlichen. Zwei Praktiken aus der Erwachsenen-Welt und der von Kindern werden miteinander verglichen. Dass Martin ebendiese Handlungen anführt, um sein heimliches Rauchen zu erläutern,

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macht seine liminale Situation sichtbar: Er befindet sich zwischen diesen zwei klar definierten Lebensabschnitten. Er raucht heimlich, in Abwesenheit seiner Eltern und weiß doch, dass ihm das Rauchen von Zigaretten per Gesetz und durch die Eltern verboten ist – ein Initiationsritus, der durch den Kontext eine tiefere Bedeutung erhält. Im Moment des Betretens des Raucherabteils und des Entschlusses, dort zu rauchen, betritt Martin einen nur Erwachsenen vorbehaltenen Raum. Dass sich Martin ausgerechnet zu dem Zeitpunkt entscheidet zu rauchen, als er in die tabuisierten Kindheits- und Kriegstraumata seines Vaters eingeweiht wird, ist ein deutlicher Hinweis auf die Bedeutung des Rauchens als Initiationsritual. Im fahrenden Zug, in aller Öffentlichkeit zu rauchen, hebt Martin auf die Stufe eines Erwachsenen. Er beginnt sich aus den familiären Strukturen zu lösen, die ihn als Kind sehen und seinen Vater als Patriarchen, dem die restlichen Mitglieder Folge zu leisten haben. Nun bedient er sich hin und wieder heimlich an Volkers Zigaretten. Genauso heimlich besorgt er sich Bierflaschen aus dem Keller (Lir, 245) oder schöpft ein paar Kellen vom Rumtopf ab (Lir, 386, 410, 435). Zusätzlich nimmt er sich Weinflaschen aus dem Keller mit in sein Zimmer. »Mit 0,7 Litern Wein in der Krone konnte man’s in Meppen schon etwas besser aushalten« (Lir, 427). Der Wunsch nach Rausch ist offenkundig. Auf der Hochzeitsfeier von Renate und Olaf konsumiert Martin das erste Mal größere Mengen Alkohol im Beisein seiner Familie. Er übergibt sich im Foyer des Veranstaltungsortes, was ihm sehr peinlich ist, und versucht, das Malheur im wahrsten Sinne des Wortes unter den Teppich zu kehren. Sein herbeigerufener Vater und Onkel Dietrich fahren den völlig betrunkenen Martin nach Hause. Martin hat große Sorge, dass insbesondere sein Vater sauer sein wird und er sich vor der gesamten Verwandtschaft lächerlich gemacht hat. Doch wider Erwarten beruhigt sein Onkel ihn: »Mach dir nichts draus! Da müssen wir alle durch, wir Männer. Sowas gehört zum Leben dazu! Das ist doch keine Katastrophe. Im Gegenteil, das ist ’ne Tradition, die ist in unserer Sippe schon Asbach Uralt! Und nicht nur in unserer!« (Lir, 376, Hervorhebung L.H.). Martin gehört laut dieser Aussage nun also zu den »Männern«. Der erste Vollrausch wird als Initiationsritual von der Familie toleriert. Den traditionellen Charakter des Vollrausches mit Hilfe des hochprozentigen Alkohols Asbach Uralt zu attribuieren, ergibt ein humoreskes Bild. Der Konsum legaler Drogen gehört, folgt man den Ausführungen Dietrichs, somit zum Erwachsenwerden dazu. Anders verhält es sich mit illegalen Drogen, für deren Konsum die Jugendlichen ins Nachbarland reisen. Mit seiner Freundin Heike sowie Henrik fährt Martin im August 1980 nach Ameland und konsumiert dort Cannabis (Abr, 31). Die eigene Demotivation der Urlauber steht im Kontrast zu den Ausführungen über das Jungsein von Kurt Tucholsky, die Martin während seines Urlaubs liest:

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Jung sein, voller Kraft sein, eine Reihe leuchtender Tage – das kommt nie wieder! Heiter Glück verbreiten! – Wir wollen uns Erinnerungen machen, die Funken sprühen! Wir haben allen voraus – heute! Mögen die in den Gräbern die Fäuste schütteln, mögen die Ungeborenen lächeln – wir sind! (Abr, 31). Der exzessive Cannabiskonsum führt zwar auf der einen Seite dazu, dass die Spannungen zwischen Heike und Martin nicht zu offensichtlich werden, schließlich soll Henrik nichts von der Beziehung zwischen den Zweien mitbekommen, was Martin gar nicht gefällt. Auf der anderen Seite unternehmen sie so gut wie nichts. »Eigenartig, wie sich die Prioritäten änderten, wenn man stoned war. Hatte man gerade noch vor Tatendurst gebrannt, so fand man sich auf einmal in demütiger Betrachtung einer Wolke wieder […]« (Abr, 39). Und: »Was uns dann wieder zusammenschweißte, war das Kiffen« (Abr, 35). Martin brennt nicht auf eine Wiederholung solch eines Urlaubs: »Wozu machte man das? Urlaub an der Nordsee, heißa! Katzenjammer, Kopfweh und ’ne steife Hüfte!« (Abr, 36). Nach dem Abitur zieht es Martin mit Freunden und Heike dennoch erneut auf eine niederländische Insel. Heiner, ein mitreisender Freund, bezeichnet diese Reise als »die letzte Station vor dem Ernst des Lebens« (Abr, 153). Die Abiturienten fangen danach mit dem Studium, dem Zivil- oder Wehrdienst an. Sie wählen deshalb ein Land als Reiseziel, das den Konsum von Cannabis erlaubt und nah genug ist, um von ihnen in kurzer Zeit erreicht zu werden. Die Zeit auf Texel ist für Martin wie schon die auf Ameland nicht positiv besetzt. »Das ganze Urlaubmachen brachte es irgendwie nicht. Was hätte man auch veranstalten sollen? Meistens war auf Texel tote Hose« (Abr, 197). Die meiste Zeit verbringen die Freunde mit Rauchen, Trinken und Kiffen. Auf dem Rückweg machen sie noch einen Abstecher in Amsterdam zum größten »Kiffertummelplatz der westlichen Hemisphäre« (Abr, 198f.), wie Martin meint. Marihuana konsumiert Martin aber nicht nur auf legale Weise in den Niederlanden, sondern auch in Meppen. So gehen Heike, Henrik und Martin bekifft in den Kinofilm »Watership down«. Martin bekommt von der Handlung aufgrund seines Bewusstseinszustands nicht viel mit. »Kein Zweifel: Das war der idiotischste Kinobesuch aller Zeiten« (Abr, 176). Und auch der Konsum von Hasch-Keksen bedeutet für Martin keine positive Erfahrung. Henrik bringt die Kekse zu einem Open-Air-Konzert mit, und weil die Wirkung ausbleibt, isst er kurze Zeit später einen zweiten. Als die Wirkung dann einsetzt, ist Martin für zwei Stunden weggetreten und nicht ansprechbar. Sein vorläufiges Fazit: »[…] von bewußtseinserweiternden Drogen hatte ich genug. Wenn die Bewußtseinserweiterung darin zum Ausdruck kam, daß man besinnungslos in sich zusammensank, dann wollte ich jetzt lieber was Bewußtseinsverengendes schlucken« (Abr, 185). Es sind Orte außerhalb des elterlichen Einflussbereichs, die für Martin mit Rauscherfahrungen verknüpft werden. In der Communitas mit Heike und Henrik

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konsumiert er illegale Drogen. Das Initiationsritual findet in einem Raum außerhalb der Ländergrenzen statt, die zugleich auch die juristische Grenze zwischen Illegalität und Legalität markieren. Konsumieren sie Marihuana in Meppen, sind es Orte außerhalb des Einflussbereichs der elterlichen Ordnung, die sie dafür aufsuchen. Die Jugendlichen erschaffen im Moment des Rauschzustands und mit dem Konsum dieser Rauschmittel einen heterotopen Raum. Der Campingplatz in Amsterdam kann als Manifestation solcher Orte gelesen werden. Hier treffen Jugendliche aus vielen verschiedenen Ländern zusammen, um legal Cannabis konsumieren zu können. Die Niederlande sind aus der Perspektive der jugendlichen Protagonisten der Martin-Schlosser-Chronik am Rand der Semiosphäre angesiedelt, in deren Peripherie. Hier sind Drogenexperimente möglich, und auch der Gang durch das Rotlichtviertel von Amsterdam zeugt von einem abweichenden Sexualdiskurs, der mit für die Jugendlichen Bekanntem nichts gemein hat. Martin raucht und trinkt heimlich in seinem Jugendzimmer beziehungsweise auf dem Balkon, bis er 18 ist. Als er die erste offizielle Zigarette von seinem Bruder schnorrt, steht er rauchend am offenen Fenster, »und ich fühlte mich dabei so einsam wie Jean Gabin in dem Spielfilm »›Hafen im Nebel‹« (Lir, 538). Dass sich Martin mit einem Deserteur vergleicht, der in der Stadt Le Havre auf seine Weiterfahrt nach Venezuela wartend in einen für ihn tödlichen Kriminalfall verstrickt wird, offenbart Martins Wahrnehmung seiner eigenen Situation. Er fühlt sich im Warteraum namens Meppen gefangen, dem er bis zum Abitur nur in Form temporärer Ausbruchsversuche und Grenzüberschreitungen entkommen kann. Durch das Liebesgeständnis von Heike zum Ende des »Liebesroman« wird Meppen für ihn erträglicher. Das sexuelle Moratorium ist ausgestanden, er sammelt erste sexuelle Erfahrungen. In Heikes Jugendzimmer – abermals als heterotoper Ort markiert – kommt sich das Paar körperlich näher. Der autodiegetische Erzähler beschreibt die Szene so: So wird das nix? Ja, wie denn sonst? In den einschlägigen Filmszenen hatte sich ab dem Stadium der Paarung alles weitere von selbst ergeben. […] die hatten’s mir doch vorgemacht – die Geliebte in die Arme schließen, ihr einen Kuß auf den Mund drücken, voller Leidenschaft und dann … Jedenfalls war noch von keiner einzigen der Filmpartnerinnen der Drehbuchsatz überliefert worden: ›So wird das nix.‹ (Abr, 7). Zwar sind die Rahmenbedingungen für das erste Mal perfekt – Heikes Eltern sind nicht Zuhause, sodass das Paar das Haus in einen Initiationsort verwandelt –, aber Heike ist gedanklich zu sehr mit ihrem Ex-Freund beschäftigt. Martin ist mit der Situation überfordert. Ohne selbst bisher Erfahrungen gemacht zu haben, versucht er das in Filmen Gesehene zu imitieren. Wie lang ihm die Zeit des Wartens vorgekommen ist und wie quälend sie war, offenbart sein Gedankenzitat: »Und wie

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lange hatte ich mich auf diese Nacht gespitzt! Jahre und Jahre des Rumhängens zwischen Plattenspieler und Bettgestell!« (Abr, 7). Dass sich seine sexuellen Erfahrungen alsbald von der Theorie auf die Praxis ausweiten, zeigt seine Meinung über Wiebkes Urlaub am Laggo Maggiore und Renates und Olafs Reise nach Paris. »Ich brauchte außerhalb von Heikes Matratze keinen Eiffelturm und keinen Ozean« (Abr, 29). Das Zitat nutzt die Reiseziele der Geschwister als Metapher für die sexuellen Erlebnisse, die Martin während der Sommerferien sammelt. Diese auf den ersten Blick plumpe Metaphorik ist im Text durchaus bewusst eingesetzt. Sie kann als Spitze gegen Freud gelesen werden, dessen Traumdeutung der Protagonist während seiner Italienreise gelesen hatte. Die darin vertretene These, jeder Traum sei eine Wunscherfüllung, findet Martin so aberwitzig, dass er Freud Ahnungslosigkeit attestiert (Lir, 520, 530).

»Meppen – die kleine Stadt mit den langen Wartezeiten« In »Kindheitsroman« ist der Bewegungsradius des autodiegetischen Erzählers Martin Schlosser noch sehr begrenzt. Bewegung im Raum funktioniert für das Kleinkind nur im Form von Suggestion: Licht ausmachen, Handflächen neben die Augen legen und durchs Fenster schräg nach oben kucken, in den fallenden Schnee: Dann hatte man das Gefühl, man würde fliegen, zwischen den Schneeflocken durch. Das hatte Renate mir beigebracht (Kir, 7). Mit der Zeit und dem Älterwerden wird der Bewegungsradius von Martin größer. Ohne näher auf die Raumerschließung des Kindes Martin Schlosser eingehen zu wollen, möchte ich kurz die Interessen des Kindes aufführen, die als Ausgangsbasis zur Erschließung neuer Wissensgebiete gelten können.6 Martin wird Fußball-Fan, als er 1974 die Weltmeisterschaft und die Titeljagd der deutschen Nationalelf am Fernseher verfolgt. Danach spielt er zunächst mit anderen Kindern auf der Straße Fußball, bevor er seine Mutter überzeugen kann, ihn im Verein Grün-Weiß Vallendar anzumelden (vgl. Kir, 420ff). Sein Ziel: Fußballprofi. Mit dem neuen Hobby, das er in einem institutionalisierten Raum praktiziert, entwickelt sich auch das Interesse für die Fußballkultur, und er beschließt, sich wie sein Vetter Gustav eine »Kicker«-Sammlung zuzulegen. Der sei schließlich der »größte[] Fußballfachmann unserer Sippe« (Kir, 422). Und um ein ebensolcher Experte auf dem Gebiet zu werden, macht es für Martin Sinn, dessen Lesegewohnheiten nachzueifern. Martin wird Fan des Bundesligisten Borussia Mönchengladbach (Kir, 424) und der deutschen Nationalmannschaft, verfolgt alle Spiele gebannt am Radio und die Zusammenfassungen im Fernsehen. Als Fünfzehnjähriger denkt 6

Dies würde den Rahmen der Studie sprengen. Außerdem werden Topographien der Kindheit teilweise in den Abschnitten 4.2 sowie 4.3 thematisiert.

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Martin über seine Zukunft als Fußball-Profi nach: »Die Daumen gedrückt hatte ich den Fohlen seit der Saison 1974/75, und seither waren sie jedesmal Meister geworden. […] In der Saison 1981/82, meiner ersten in der Bundesliga, würden die übelsten alten DFB-Säcke hoffentlich pensioniert sein« (Jr, 418f.). Mit dem Umzug nach Meppen verändern sich auch die Interessen des Heranwachsenden. Zwar besucht er auch hier zunächst das Fußballtraining des dortigen Vereins SV Meppen, aber sein Enthusiasmus für den aktiven Sport schwindet. »Meppen war die Endstation« (Jr, 12), stellt der dreizehnjährige Neu-Emsländer angesichts der häufigen Umzüge seiner Familie fest. Allein seit seiner Geburt sei die Familie Schlosser vier Mal umgezogen. In der Aussage steckt eine große Portion Ironie, die der Jugendliche am ersten Tag in der neuen Stadt vermutlich noch nicht einmal erahnt, die ihm der Autor aber rückblickend in den Mund legt. Die neue Wahlheimat der Familie Schlosser wird für die Elterngeneration tatsächlich der letzte Wohnort sein, der zugleich auch das tragische Ende einer zerrütteten Ehe markiert. In den Augen des Jugendlichen ist die Aussage indes Ausdruck für die quälend lange Zeit, die er selbst bis zum Abitur in Meppen verbringen muss. Meppen wird für ihn zum Inbegriff von Langeweile. Der Grund: Keine Freunde, keine Freundin und keine besonderen Vorkommnisse. Der Beginn der Adoleszenz respektive der Eintritt in die soziale Pubertät fällt bei Martin mit dem Umzug nach Meppen zusammen oder – so steht zu vermuten – wird durch ebendiesen Umzug ausgelöst. Es sind nicht mehr seine Geschwister, allen voran sein drei Jahre älterer Bruder Volker, mit denen er seine Freizeit verbringt. Allerdings sind es die äußeren Umstände, die Martin neue Rollenanforderungen abverlangen. »Ich war auf mich allein gestellt« (Jr, 35), konstatiert der Dreizehnjährige. Sein Bruder ist mit neuen Freunden unterwegs, seine ältere Schwester geht auf eine Hauswirtschaftsschule und seine kleine Schwester »schied als Spielkameradin sowieso aus« (Jr, 35). Das Familiengefüge allein ist für Martin nicht mehr das zentrale soziale Bezugsfeld. Die neue Umgebung, eine neue Schulklasse, der Konfirmandenunterricht und die Mitgliedschaft beim SV Meppen sind Indikatoren für den Eintritt in die liminale Phase und die Loslösung von bestehenden Strukturen. Da Martin aber zwangsweise umgetopft7 wurde, fällt es ihm schwer, eine Communitas zu finden. Der Konfirmandenunterricht, den er in der noch fremden Stadt besucht, missfällt ihm neben dem »Mittelstufenschülerdasein in Meppen« am meisten. »Da kannten sich natürlich schon alle, und bloß ich kannte keine Sau« (Jr, 33). Martins Konfirmation feiert seine Familie im großen Kreis. Und Richard Schlosser hält eine Rede, in der er erklärt, die Konfirmation »sei ein Schritt zum Erwachsenwerden« und ausdrücklich nicht zum Erwachsensein (Jr, 218). Was Martin freilich 7

Vgl. über Vallendar: »Hier war ich irgendwann mal eingetopft und dann wieder ausgetopft worden« (Lir, 232).

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bewusst ist, er ist erst 14 Jahre alt. Aus religionskultureller Perspektive betrachtet wird der Konfirmand in den Kreis der erwachsenen Christen aufgenommen. Der Initiationsritus wird vom autodiegetischen Erzähler stattdessen als notwendiges Ritual aufgefasst, durch welches er durchmüsse (Jr, 217). Weniger interessieren ihn die Fürbitten der Kirchenmitglieder und die Predigt des Pfarrers als die Geschenke der Familienangehörigen.8 Martin versucht sich abzulenken, indem er sich lange Briefe mit Michael Gerlach in Koblenz schreibt. Doch entgegen seinem Glauben, in seinem ehemaligen Wohnort wäre die Pubertät besser zu ertragen, wird auch sein Freund, den er seit Kindheitstagen kennt, von gähnender Langeweile gequält. »Wochenlang NICHT DAS GERINGSTE LOS. Fürchterlich. Scheußlich. Erbärmlich«, schreibt Michael. »Als ob ich nicht gewußt hätte, wie sich das anfühlte«, denkt sich Martin beim Lesen der Zeilen (Jr, 360). Oder in einem weiteren Brief: Und du Dussel sehnst Dich nach hier zurück! Du weißt überhaupt nicht, was für ein Glück du hast. Oder es ist so, daß Old Valla im Vergleich mit Meppen wie das reinste Paradies abschneidet. Dann hast du aber wahrlich nichts zu lachen! Wenn ich mir das vorstelle … Vallendar ein Paradies … nee, das geht nicht. Dann wäre Meppen längst entvölkert (durch Selbstmord). Also, sei froh, daß du in Meppen wohnst (Jr, 498f.). Es handelt sich hierbei offenbar um die Antwort auf einen Brief Martins, der eine Leerstelle im Text bildet.9 Aus dem Brief lässt sich schließen, dass Martin Sehnsucht nach Vallendar hat und glaubt, dass seine Langeweile dem neuen Wohnort geschuldet ist. Er kontrastiert die zwei Städte, wobei seine alte Heimatstadt positiv konnotiert ist. Michael nimmt diesen Gedanken auf, pervertiert ihn, treibt ihn geradezu auf die Spitze. Wenn Vallendar tatsächlich so viel besser sei als Meppen, dann müsse Meppen – nach seiner Logik – alle Einwohner in den Selbstmord treiben. Aus Michaels Perspektive ist schon Vallendar auf einer Skala der Langeweile so weit unten angesiedelt, dass Meppen nur durch den Freitod zu entkommen wäre. Michael revidiert seine Meinung, als er während der Osterferien zu Besuch bei den Schlossers ist. Sein Fazit: »Verglichen damit ist das Rheinland ja tatsächlich paradiesisch!« (Lir, 58). Auch er vergleicht die Landschaft des Emslands mit der des bekannten Rheinlands und bemerkt, dass der Fluss nur ein »mieses Rinnsal« sei, 8

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Roddy Dangerblood offenbart seine Motive sich konfirmieren zu lassen, indem er erklärt, dass er sich extra habe umtaufen lassen, weil es bei der Konfirmation mehr Geschenke gebe als bei der katholischen Firmung. Seine Eltern bitten jedoch die Verwandtschaft keine Geldgeschenke zu machen und so werden die Hoffnungen des Konfirmanden im Keim erstickt. Bei traditionellen Rundgang durch die Nachbarschaft bekommt er insgesamt 500 Mark geschenkt (vgl. Dp, 48f.). Es werden ausschließlich Briefe des Freundes aus Koblenz zitiert, was den Authentizitätsanspruch der Gesamtchronik abermals erhöht. Schließlich kann der Autor nur in Besitz der Briefe sein, die ihm im Laufe seines Lebens zugeschickt wurden.

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es keine Kletterbäume gebe, und die Wälder Meppens nimmt er als »Struppzeug« wahr. Als die Planungen für ein Treffen in Meppen laufen, überlegt Martin schon, wie sich die Zeit ereignisreich gestalten lassen könnte. »Prima«, denkt sich Martin zunächst. Doch was sollte ich ihm hier bieten? Die Karnickel konnte ich ihm zeigen, die sich abends auf den Grünflächen vor der Einfahrt zur E-Stelle versammelten, okay, und wir könnten einmal an der Hase entlang bis nach Bokeloh stiebeln und zurück, aber sonst? Na, egal. Da würde uns schon was einfallen, und ich war gespannt darauf, was Michael von meinen Platten hielt. Er selbst besaß ja keine, weil seine Eltern zu arm dafür waren, sich einen Plattenspieler zuzulegen (Lir, 33). Die gemeinsamen Osterferien sind für beide sehr ernüchternd. Die Hoffnung, die Langeweile zu zweit vertreiben zu können, schwindet alsbald, nicht zuletzt, weil sich die Interessen unterschiedlich entwickeln. Über das Werk Heinrich von Kleists kommt beispielsweise kein rechtes Gespräch zustande, weil Michael die Sprache des Dichters als »zu geschwollen« empfindet und Martin dieses Urteil überhaupt nicht nachvollziehen kann (Lir, 58). Und auch beim Scrabble-Spielen bekommen sich die zwei Freunde in die Haare, sodass die Stimmung auf dem Tiefpunkt ist. Die Bundesliga-Fußballspiele verfolgt Martin ohne Michael am Fernsehgerät, und auch für die Lektüre von politischen Nachrichtenmagazinen kann sich Michael nicht begeistern, sodass Martin erst nach der Abfahrt seines Freundes wieder »Konkret« und »Stern« lesen kann. Er konstatiert schon nach wenigen Tagen verwundert: »Michael fiel mir auf den Wecker. Mein bester Freund!« (Lir, 59). Die Episode um Martin und Michael offenbart, dass das Gefühl der Langeweile in der eigenen Heimatstadt – sei es nun Meppen oder Vallendar – nicht an den Wohnort geknüpft ist, sondern als Symptom der Lebensphase Jugend dargestellt wird. Martins Interessenverschiebung von Fußball zu Musik, Literatur und Film vollzieht sich zwischen seinem 14. und 15. Lebensjahr. Als Neu-Meppener geht er anfangs noch gerne in den Fußballverein, doch nach den Sommerferien 1978 vergisst er, sein Hobby wieder aufzunehmen (Jr, 447). Das nächste Training lässt er dann bewusst ausfallen (Jr, 448). Mit 15 Jahren beschließt er, sich von seinem Traum, Profi zu werden, zu verabschieden: »Als Leistungssportler hätte ich ja außerdem nicht mehr die Zeit gefunden, die ich brauchte, um mein Interesse an der Weltpolitik zu befriedigen« (Jr, 450). Auch seine Begeisterung für die Fohlen-Elf versiegt mit der Zeit. »Es machte keinen Spaß mehr, Gladbach-Fan zu sein, wenn man den Verein so schwunglos herumeiern sah, ohne Fortune und Siegeswille« (Jr, 460). Auch die Nationalmannschaft interessiert ihn kaum noch. So konstatiert er Anfang 1978: »Zwischen mir und der deutschen Nationalmannschaft war irgendwie die Luft raus« (Lir, 29). Nach der WM 1978 in Argentinien beschließt er, auch die passiv beobach-

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tende Variante der Fußballleidenschaft aufzugeben: »Es fiel mir nicht leicht, mich dazu durchzuringen, aber alles andere wäre reine Zeitverschwendung gewesen, also sagte ich mir: Adieu, König Fußball! Wir hatten eine schöne Zeit miteinander, doch ab jetzt wirst du ohne mich auskommen müssen« (Lir, 139). Die erwachende Sexualität des Jugendlichen wird deutlich, als er in einem ihm zur Konfirmation geschenkten Fremdwörterlexikon zuerst Begriffe aus dem Sexualdiskurs nachschlägt (Jr, 219). Das kann er freilich erst machen, nachdem seine Verwandtschaft »abgedackelt« ist. Die Tabuisierung von Sexualität innerhalb der Familie und das Schamgefühl tragen dazu bei, dass Martin nur heimlich solche Begriffe nachschlägt. Größtenteils handelt es sich dabei um Geschlechtskrankheiten oder Sexualstörungen10 , was der Szene eine gewisse Komik verleiht. Als Oberstufenschüler sind es andere »Reizwörter« aus dem Sexualdiskurs, nach denen Martin Texte absucht. Als der Lehrer im Deutsch-Leistungskurs seinen Schülern empfiehlt, »diagonal zu lesen« und einen Text auf »Reizwörter« zu scannen, denkt sich Martin, dass er dies schon längst könne (vgl. Lir, 383). Nur dass er als Jugendlicher dabei auf ganz andere Wörter achtet, als der Lehrer es erwartet: »Sex, Fleisch, Brüste, Penis, Vagina, Schamdreieck, Geschlechtsverkehr, Geschlechtsleben, Geschlechtsteil und so weiter« (Lir, 383). Das Fremdwörterlexikon nutzt Martin aber auch, um seinen Wortschatz zu erweitern. Immer wenn er Begriffe hört, die er noch nicht kennt, schlägt er diese nach.11 Es sind Einflüsse des Lebensgefährten seiner älteren Schwester Renate – der Politik in Bonn studiert – sowie Gespräche mit Hermann, die Martin mehr und mehr für Politik und Zeitgeschehen begeistern. So zeigt Olaf ihm die Bundeszentrale für Politische Bildung, wo Martin viele Zeitschriften mitnimmt (Jr, 436), und diskutiert mit ihm über die Umsetzung der Idee des Sozialismus in verschiedenen Ländern der Welt (Jr, 437ff). Es nimmt nicht wunder, dass sich Martins Vorstellung der eigenen beruflichen Zukunft zu wandeln beginnt: Über die Frage, was aus mir mal werden sollte, hatte ich selber schon nachgedacht. Fußballprofi? Das war nicht so einfach, wie ich mir das mal vorgestellt hatte. Und um als Politiker zu reüssieren, hätte ich jeden Tag über ›Eckwerte‹ und ›Steuerpakete‹ quatschen müssen (Jr, 397). Neben »Spiegel« und »Stern« liest er auch die linke Zeitschrift »Konkret«, um sich über Politik zu informieren. »Wie links willst du eigentlich noch werden?«, wundert sich Martins Mutter angesichts seiner Lektüre (Lir, 114). Schon vorher, mit

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So schlägt er beispielsweise die Begriffe »Syphilis«, »Vaginitis«, »Analfistel, Gonokokken« oder »Nymphomanie« nach (Jr, 219). Beispielsweise schlägt er die Begriffe »insinuieren« (Jr, 280) und »äquivalent« (Lir, 175) nach. Oder das Wort »pueril«, das sein Vetter Gustav für einen Film benutzt, den Martin im Fernsehen sieht (Lir, 165).

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vierzehn Jahren, bestellt er regelmäßig kostenlose Bücher der BPB und abonniert auch gleich die Heftreihe »Informationen zur politischen Bildung« mit (Jr, 310). Von seiner Tante Dagmar bekommt er den Hinweis, dass er als Schülerzeitungsredakteur doch mal Verlage nach kostenlosen Rezensionsexemplaren fragen könne (Lir, 360). Er wünscht sich vor allem Bücher über Schauspieler und Regisseure, die er primär aus Eigeninteresse bestellt. Schließlich schreibt er auch noch die »Deutsche Grammophongesellschaft« an und bittet um Rezensionsmusik (Lir, 421). Zwar ist sein Interesse an den neuen Themen intrinsisch motiviert, aber sein familiäres Umfeld unterstützt dies. Martin profitiert von den Wissenshorizonten seiner Tante Dagmar, die als NDR-Redakteurin im kulturellen Bereich arbeitet, ebenso von seinem Vetter Gustav, der neben seinem großen Fußballwissen auch über eine umfangreiche »Spiegel«-Sammlung verfügt. Es sind nicht zuletzt auch die Besuche bei seiner Schwester Renate und ihrem Lebensgefährten Olaf, die beide in Bonn studieren und leben, die ihn in gewisser Hinsicht bei seiner kulturellen Bildung unterstützen. So kann er mit Olaf über Politik reden, bekommt von ihm eine Führung durch die Hauptstadt, schaut mit den beiden ein Konzert von Bob Dylan und geht mit ihnen in Programmkinos. Die gesehenen Filme teilt er in solche, deren Regisseure man sich merke müsse, und in solche, die man getrost vergessen könne. Den Kinofilm, den Martin, Olaf und Renate gemeinsam schauen, findet Martin »erstklassig[]«. »Regie: Erwin Keusch. Das war ein Name, den man sich merken mußte« (Jr, 436). In Meppen gestaltet sich die Filmauswahl schwieriger. Gerne würde Martin die Gemeinschaftsproduktion »Deutschland im Herbst« sehen, stattdessen wird aber im Kino »Krieg der Sterne« gezeigt (Lir, 147). Da es in seinem näheren Umfeld niemanden gibt, der sein Interesse für Kinobesuche teilt, geht er, sofern das Geld reicht, alleine ins Kino (Lir, 201). Aber auch im Spätprogramm sieht er im Fernsehen den einen oder anderen Film, der ihn begeistert. »Den Namen des Regisseurs John Carpenter merkte ich mir, nachdem ein Science-Fiction-Film von dem im Spätprogramm gelaufen war« (Lir, 117). Den Film »Kleiner Laden voller Schrecken« begeistert Martin ebenfalls. »Regie: Roger Corman. Auch wieder so ein Name, den man sich merken mußte« (Lir, 494). Als Jugendlicher ist es freilich nicht allein das künstlerische Interesse, welches Martin ins Kino treibt, sondern auch der Wunsch, nackte Frauenkörper zu sehen. Anhand kurzer in Fernsehzeitschriften abgedruckter Inhaltsangaben und der Filmtitel sucht er sich seinen nächsten Fernsehfilm aus. Der Titel »Die süße Haut« klingt vielversprechend, weshalb Martin den Film »unbehelligt« sehen möchte. Er wird enttäuscht und stellt die Vermutung an, dass »sich die Frauenwelt erst seit ungefähr 1969 vor den Kameras obenherum zu entblättern begonnen« habe (Jr, 282). Und dieser Film ist von 1963. Ähnlich enttäuschend – »ohne nackte Frauen« (Jr, 460) – verhält es sich mit dem »Bordellfilm« von 1967. Oder mit einem Science-FictionFilm aus demselben Jahr, »in dem es die ganze Zeit um Sex ging, ohne daß man

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jemals auch nur eine vollständige entblößte Brust zu sehen bekam« (Lir, 141). Überrascht wird Martin hingegen von Francois Truffauts Spielfilm »Schießen Sie auf den Pianisten« aus dem Jahr 1960. »[A]lso praktisch aus der mittleren Jungsteinzeit, in der noch niemand vor der Kamera die Hüllen fallen gelassen hatte, doch olàlà, auf einmal waren die nackten Brüste der Geliebten des Pianisten im Bild« (Lir, 183). Dass der Umgang mit Nacktheit in Filmen nicht allein Zeitregimen unterliegt, sondern auch den kulturellen Unterschieden zwischen US-amerikanischer und europäischer Filmindustrie geschuldet ist, scheint dem Heranwachsenden nicht in den Sinn zu kommen. Er orientiert sich fortan allein an dem Produktionsdatum der Filme. Dass er meistens allein ins Kino geht, stört ihn nicht. Im Gegenteil: Es wäre ihm unangenehm, würde er von Mitschülern beim Schauen bestimmter Filme beobachtet – etwa bei dem Film, in dem ein junges Mädchen zur Entjungferung versteigert wird. Die Sorge, von anderen quer über den Schulhof gefragt zu werden, ob er gestern in einem Pornofilm gewesen sei, beschleicht ihn, als er sich noch während des Abspanns den Weg aus dem Kinosaal bahnt (vgl. Lir, 202). Solange das Licht im Saal aus ist, kann er unbemerkt und anonym verschwinden. Seine Scham, solch einen Film alleine gesehen zu haben, ist als Symptom der Lebensphase Jugend zu interpretieren. Sexualität als neues, unbekanntes Gefühl wird nur indirekt und abseits von fremden Blicken ausgelebt. Der abgedunkelte Kinosaal wird zu einem liminalen Raum, indem die auf die Leinwand projizierte fiktive Welt des Films auf die Zuschauer, die anonym im abgedunkelten Raum sitzen, strahlt. Die Kinobesucher befinden sich zwischen Projektor und Leinwand. Hinter ihren Köpfen läuft das Filmmaterial, das als buntes Licht, gebündelt zu Bildern, auf der weißen Leinwand vor ihnen erscheint. Was die Zuschauer sehen, sind Wünsche, Sehnsüchte, Ängste aus den Tiefen der menschlichen Vorstellungskraft. Obwohl mehrere Dutzend Menschen gleichzeitig im Raum sitzend einen Film sehen, sieht ihn doch jeder für sich allein, wozu die Dunkelheit sowie das unausgesprochene Tabu, während des Films nicht mit den Sitznachbarn zu reden, beitragen. Den Blick des Voyeurs befriedigt Martin nicht allein durch das Schauen von Filmen, sondern auch, indem er »Quelle«-Kataloge oder »Spiegel«-Reportagen durchstöbert. Beim Versandhauskatalog hofft er, Frauen in Unterwäsche zu sehen (Jr, 390): »Der neue Quellekatalog gab nicht viel her außer ein paar halbwegs nackten Frauen in der Duschkabine, in der Sauna, im Moorbad und in Miederhöschen oder Slips.« Er stellt schnell fest, dass der »Stern« besser dafür geeignet sei (Jr, 393): »Fotos barbusiger Frauen gab’s in jedem stern en masse.« Diese indirekte Gegenüberstellung lässt sich als gezielte Spitze des Erzählers gegen das Nachrichtenmagazin interpretieren. Der »Spiegel« befriedigt die sexuellen Fantasien des Pubertierenden ebenfalls. »Wozu brauchte man den Playboy, wenn man den Spiegel hatte?« (Lir, 34), denkt Martin beim Anschauen von Fotos aus japanischen Pornofilmen. Zuvorderst ist es aber die Berichterstattung über neue Formen der Sexualität und

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Partnerschaft aus der ganzen Welt, die Martins Fantasie beflügelt. Eine Reportage über den Vormarsch der weiblichen Sexualität in den USA veranlasst Martin zu einem Abgleich des Beschriebenen mit seiner eigenen Lebenswelt: »Soweit ich das beurteilen konnte, war der Vormarsch in die totale Sex-Freiheit am Emsland spurlos vorübergegangen« (Jr, 392). Aus Martins Sicht liegt sein Wohnort außerhalb des Zentrums von sexueller Emanzipation und wird so zu einem noch unerträglicheren Warteraum für den Jugendlichen. Besonders fasziniert ihn eine Reportage über den Aschram des indischen Gurus Bhagwan. »Donner und Doria. Was es alles gab auf der Welt! In diesem Aschram wollten die Leute durch Meditation und Gruppensex zur Erleuchtung finden« (Lir, 420). Den »Stern« studiert er am liebsten ungestört in der Badewanne. Das Problem ist nur, dass es keinen Schlüssel für die Tür gibt und deshalb jederzeit jemand aus der Familie plötzlich im Bad stehen könnte. Seine ausgedehnten Badewannenlektüren werden für Martin zu einem persönlichen Ritual, das sich im Laufe der Adoleszenz allein durch die Art der Lektüre wandelt. Ist es zu Beginn seiner Pubertät die Suche nach nackten Frauen, werden es später Lesemarathons über mehrere Stunden inklusive Bier. Baden unter Ausschluss der Öffentlichkeit wird im Text zu einer sich wiederholenden Praktik des Protagonisten. Hier findet er Ruhe und Muße, seinen Interessen nachzugehen. Er zieht sich raus, wie man umgangssprachlich sagt. Diesen sprichwörtlichen Akt vollzieht Martin aber auch räumlich und elementar. Er geht ins Badezimmer, »wenn der Rest der Sippe unten vor der Glotze hockte« (Jr, 393), und er tauscht das Element, in dem er handlungsfähig ist und lebt, gegen das Wasser ein. Einzig die Möglichkeit, dass jemand ins Badezimmer kommen könnte, lässt Martin nicht völlig in die Lektürewelt eintauchen. Ein Hauch des Verbotenen schwingt in den Badewannenszenen mit, ist die eigene Sexualität den anderen Familienmitgliedern gegenüber doch tabuisiert. Das Interesse am anderen Geschlecht kann der Mittelstufenschüler allein durch seine Fantasie und unter Zurhilfenahme von Fotos aus Printmedien befriedigen. Es ist eine Zeit des Wartens, die der Langeweile in Meppen korrespondiert. Die Zeit bis zur ersten sexuellen Beziehung zieht sich für Martin ins Unerträgliche. Neben dem Badezimmer ist es sein eigenes Zimmer, das im Leben des adoleszenten Martin eine wichtige Rolle spielt. Hier hört er Musik und analysiert die Texte seiner Lieblingssänger und Bands. Mit siebzehn Jahren kauft er sich das Beatles-Album »Abbey Road« von seinem Geburtstagsgeld. Im Zimmer sitzend lauscht er der Musik12 : And in the end The love you take Is equal to the love you make …

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Mc Cartney, Paul: The End, auf dem Album: Abbey Road von den Beatles, Apple Records 1969.

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Das hörte sich gut an. Aber wieviel Liebe hatte ich denn schon gegeben? Und wer hätte sie haben wollen? (Lir, 316). Es sind viele Mädchen, in die er sich allein wegen eines Blicks verliebt, aber die längste unerwiderte Verliebtheit hegt er für seine Mitschülerin Michaela Vogt. Er verliebt sich im neunten Schuljahr in sie (vgl. Jr, 268). Über schmachtende Blicke quer durch das Klassenzimmer kommt Martin nie hinaus (vgl. Jr, 348), und als er mitbekommt, dass Michaela mit Niebold zusammen ist, zieht er einen Schlussstrich. »Wenn der an Michaela Vogt rumschlabberte, wollte ich dieses blöde Persönchen bis an mein Lebensende nicht wiedersehen« (Lir, 194). Seine unerwiderten Gefühle findet Martin in Goethes Briefroman widergespiegelt. Er leiht sich »Die Leiden des jungen Werther« in der Stadtbibliothek aus »und damit hatte ich in eine Goldgrube gelangt« (Lir, 205). Er zieht Parallelen zu seiner Verliebtheit zu Michaela Vogt. »Das konnte ich verstehen. Das konnte ich sogar sehr, sehr gut verstehen« (Lir, 205). Das Lesen bekommt für ihn einen identifikatorischen Stellenwert ebenso wie die Musik. Im Radio hört er zufällig den Song »Suzanne« von Leonard Cohen, der ihm, wie er meint, unter die Haut gehe (Lir, 38). Er leiht sich von einem Mitschüler Schallplatten des Songwriters aus und hört sie sich in seinem Zimmer an. Die dort vermittelten Werte über sexuelle Freiheit in einer Beziehung findet er gut und »weitaus vernünftiger als die Einstellung der Beatles« (Lir, 96). Der sechzehnjährige Martin beschließt aufgrund der Songtexte, sich im »Liebesleben später so wie Cohen zu verhalten. Keine Eifersucht – keine Probleme« (Lir, 96), im Unterschied zu seinen realen Vorbildern, seinen Eltern und seiner erwachsenen Schwester, die immerhin mit Olaf eine Zeitlang in »wilder Ehe« lebt. Mit seiner Freundin Andrea geht er als Erwachsener das Wagnis ein und führt mit ihr eine offene Beziehung. Beide merken aber alsbald, dass dieses Beziehungsmodell auf Dauer doch nicht das Richtige für sie sei und sie Exklusivität bevorzugten (vgl. »Künstlerroman«). Schließlich singt Cohen in »Paper-Thin Hotel« »In fact a burden lifted from my soul/I learned that love was out of my control«13 , während die Freundin des lyrischen Ichs im Nebenzimmer mit einem anderen Mann schläft. Martin fühlt sich in die Songs ein. »Und ich fragte mich natürlich, mit Leonard Cohen, tausendmal: And where, where is my Gipsy wife tonight?«14 (Lir, 395). Gleichzeitig bewundert er den Musiker für die vielen Frauen, die er laut seinen Songtexten schon hatte. »Leonard Cohen hatte schon eine Menge Frauen verschlissen: Suzanne und Marianne und all die anderen namentlich nicht genannten Freundinnen, die ihm so zugelaufen waren« (Lir, 39). Die in den Texten beschriebenen Situationen sind dem Texter so

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Cohen, Leonard: Paper-Thin Hotel, auf dem Album: Death of a Ladies’ Man, Warner Communications/Columbia Records 1977. Cohen, Leonard: The Gypsy’s Wife, auf dem Album: Recent Songs, Columbia Records 1979.

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widerfahren, glaubt Martin; was seine Bewunderung für Cohen noch steigert und ihn auch neidisch macht. »Es war sagenhaft, was dieser Cohen für ein Glück mit den Frauen hatte« (Lir, 274). Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass der jugendliche Martin das in den Songs besungene Liebesleben des Künstlers Cohen für bare Münze nimmt. Auch wenn ihm bewusst ist, dass man einige Stellen auch interpretieren muss (Lir, 274), um deren Inhalt zu verstehen, geht er davon aus, dass lyrisches Ich und Künstler ein und dieselbe Person mit identischen Erlebnissen sind. Ein paar Monate später lernt Martin die Musik Bob Dylans schätzen. Bei einer Mitschülerin, Angela, hört er eine Live-Version des Songs »I want you«. Er spürt die Sehnsucht, die in Dylans Art zu singen, zum Ausdruck kommt, und ist begeistert. Er leiht sich die Platte aus und hört sie sich in seinem Zimmer erneut an: »Zuhause saß ich dann wie betrunken vorm Plattenteller. […] Diesen Song hörte ich mir wieder und wieder und wieder an. […] An Michaela Vogt dachte ich dabei, aber auch an alle möglichen anderen Mädchen […]« (Lir, 477). Der Song beschreibt das Warten des lyrischen Ichs auf seine Angebetete, in die er unglücklich verliebt ist. Martin kann sich gut in diese Situation hineinversetzen und fühlt sich verstanden. Wie bei der Lektüre von Goethes Werther findet er in dem Text seine eigene Situation widergespiegelt und weiß dadurch, dass er mit seinen Gefühlen nicht alleine ist. Diesen Moment, den Martin »wie betrunken« erlebt, weil diese musikalische Entdeckung ihn offenbar in andere Bewusstseinssphären katapultiert, wird jäh durch seinen Vater unterbrochen: »Martin! Bring das Fahrrad in den Keller!« (Lir, 477). Martins Vater steht für Disziplin und Arbeitseifer, was er auch von den anderen Familienmitgliedern einfordert (siehe Abschnitt 2.2.1). Selbst in seinem eigenen Zimmer ist er nicht gefeit vor den Anordnungen seines Vaters, und er findet keine Ruhe und keinen Ort, um unabhängig von seiner Familie seinen Interessen nachzugehen. Es sind immer nur kurze Momente – im Badezimmer oder Jugendzimmer –, die Martin nutzen kann, um seine Musik zu hören oder seine Texte zu lesen. Solange er in Meppen lebt und nicht volljährig ist, ist er abhängig von seinen Eltern und deren Vorstellungen vom Tagesablauf. Dazu gehört auch, jeden Abend das Fahrrad in den Keller zu stellen. Vor der Entdeckung der Musik Cohens und Dylans kommt ihm sein Zimmer wie eine Gefängniszelle vor. In »Jugendroman« zeugt der Intertext »Von Wand zu Wand sind es vier Schritte, von Tür zu Fenster sechseinhalb …«15 (Jr, 284) davon. Das Lied stammt von Reinhard Mey und beschreibt die Zelle eines Häftlings. Martin empfindet die Sonntage in Meppen so langweilig, dass selbst »ein Montagmorgen in Toms Heimatstadt am Mississippi« (Jr, 283) nicht mithalten könne. Während der fünf Jahre, die Martin in Meppen lebt, entwickelt er ein klares, stereotypes Bild der Bewohner Meppens, das auf seinen negativen Erfahrungen 15

Mey, Reinhard: In Tyrannis, auf dem Album: Mein Achtel Lorbeerblatt, Intercord 1972.

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beruht. Geprägt ist sein Bild durch die Langeweile und die sexuelle Wartezeit, die er in Ermangelung einer Freundin und erster sexueller Kontakte den Großteil seiner Pubertät ertragen muss. So denkt er sich unglücklich verliebt in seinem Zimmer sitzend und Musik hörend: Oh the sisters of mercy they are not departed or gone …16 Wenn ich doch nur einmal solchen Frauen begegnet wäre! In Meppen schienen die nicht hergestellt zu werden. In Meppen schienen nicht einmal die Voraussetzungen dafür zu existieren, daß überhaupt irgendwelche Menschen auf die Welt kamen. Wenn man sich die Leute hier auf der Straße so ansah, konnte man sich jedenfalls nicht vorstellen, daß von denen welche miteinander ins Bett gingen. Im Vorgarten die Fuchsien wässern, vor der Hubbrücke im Stau stehen, CDU wählen oder Wildschweine und Hirsche jagen, das konnten sie, die Meppener, aber für die Liebe waren sie nicht geschaffen (Lir, 294). Martin befindet sich in der liminalen Phase, transzendiert sich mithilfe von Musik, Literatur und Film in andere Vorstellungswelten. Er identifiziert sich mit den Protagonisten der Bücher und Filme und den lyrischen Ichs der Lieder, nimmt ihre Vorstellungen von Liebe und Partnerschaft zum Vorbild. Sein Jugendzimmer, das Badezimmer und der Kinosaal werden zu den zentralen Orten, die ihm den Blick ins Imaginäre ermöglichen und ihm eine erste Vorstellung der Ich-Identität vermitteln. Doch seine Vorstellungen entsprechen nicht der Realität, wie die ersten sexuellen Erfahrungen mit seiner Freundin Heike beweisen. Auch sein Vorhaben, nicht eifersüchtig zu sein, wie Leonard Cohen es in seinen Songs besingt, gelingt Martin nicht. Als Heike mit einem anderen Mann nackt im Meer badet, hat Martin »eine Stinkwut im Bauch« (Abr, 225). Die sexuelle Wartezeit, die Martin sich mit Filmen und Zeitschriftenlektüre vertreibt, wird erst durch Heike beendet. Richtet sich der voyeuristische Blick des Jugendlichen bei Filmen und Fotos auf die einzelnen Körperteile der Frau, werden diese beim sexuellen Akt zwischen Heike und Martin nicht erwähnt. Anschließend an Foucaults These, die utopische Raserei des Körpers könne nur im Moment des Erkennens im Spiegel, der Leiche sowie beim Akt der körperlichen Liebe verstummen, wird anhand der Adoleszenz Martins eine qualitative Klassifikation erkennbar. Die Identifikation mit künstlichen Figuren aus anderen Medien, wie Film, Musik und Literatur, haben nur vorbereitenden Charakter und machen Martin zu einem Beobachter. Die Identifikation mit medialen Bildern kann als Akt des Erkennens im Spiegel, als Blick ins Imaginäre gedeutet werden. Dass nur weibliche Körperteile wahrgenommen werden, zeigt, dass die utopische Raserei auf diese Weise nicht gestoppt werden kann. Erst in dem Moment, als Martin zur handelnden Person wird und nicht bloß Beobachter 16

Cohen, Leonard: Sisters of Mercy, auf dem Album: Songs of Leonard Cohen, Columbia Records 1967.

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ist, diagnostiziert er, dass er nun nicht mehr als »Unberührter durchs Leben« gehen müsse (Abr, 11). Die Erfahrung der körperlichen Liebe hat eine höhere Qualität und einen größeren Einfluss auf die Identitätsbildung des Protagonisten als die Erfahrungen, die er nur als Beobachter macht. Die liminale Phase wird durch den Bahnübergang, den er jeden Morgen auf seinem Schulweg überqueren muss, topographisch dargestellt. Auf seiner ersten Erkundungstour mit dem Rad durch Meppen lernt er diesen Bahnübergang kennen, an dem sich ein Verkehrsstau bildet, weil die Schranken manuell rauf und runter gekurbelt werden und jedes Mal ein langer Güterzug und anschließend ein Personenzug den Weg passieren (vgl. Jr, 10f.). Die Wartezeit am Bahnübergang steht metaphorisch für die Zeit, die Martin in Meppen ausharren muss. Das Warten vertreibt er sich einige Monate später und mit dem erwachenden politischen Interesse mit dem Lesen der Schlagzeilen, die am nahegelegenen Kiosk ausgehängt sind. Er ist in der neunten Klasse und ärgert sich über die rechtsideologischen Zeitungen, die der Kiosk-Besitzer dort vertreibt. Die Schlagzeile »6 Millionen vergaste Juden – die Lüge des Jahrhunderts« – schockiert ihn, und er fragt sich, ob man »diesem Macker« nicht die Lizenz entziehen könne (Jr, 376). Als er das erste Mal mit dreizehn dort entlang radelt, nimmt er den Kiosk und die Schlagzeilen zwar wahr, aber er mokiert sich nicht über den Unsinn, der dort verbreitet wird. Das politische Verständnis bildet sich erst im Laufe der Jahre aus und wird anhand von Martins Reaktionen auf diese Schlagzeilen verdeutlicht. Gemeinsam mit Hermann stellt Martin den Kiosk-Besitzer aufgrund des Verkaufs der »National-Zeitung« zur Rede, die beiden sind 15 Jahre alt (Jr, 452). Die sich verändernden Reaktionen von Martin auf die Schlagzeilen stehen in Analogie zu seinem politischen Interesse. In Hermann findet er einen Gleichgesinnten, der ihn in seiner Einschätzung, den Kiosk-Besitzer zur Rede stellen zu müssen, unterstützt. Mit Hermann kann er über das politische Weltgeschehen fachsimpeln.17 Er wohnt im nahegelegenen Rütenbrock. Besuche bei ihm werden als das Betreten eines noch provinzielleren Ortes beschrieben. Es ist vor allem der olfaktorische Vergleich der beiden Orte, der im Text eine Dichotomie zwischen Meppen und Rütenbrock herstellt. So ist es der »Güllegestank von den Ackerschollen«, den Martin wahrnimmt. »Da hatten die Landwirte weder Kosten noch Mühen gescheut« (Lir, 489). Die Dialoge zwischen den zwei Freunden sind gespickt mit Ironie und Wortwitz. Als dem volljährigen Martin von seinem Vater untersagt wird, im eigenen Zimmer eine Zigarre zu paffen, ist Hermann der Ansicht, dass Martin als Erwachsener in seinem Zimmer doch tun und lassen dürfe, was er wolle. Doch Martin

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»Hermann war der einzige Mensch, mit dem ich über solche Dinge [Politik] diskutieren konnte« (Jr, 413).

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weiß genau, dass auch Hermann, wäre er an seiner Stelle gewesen, klein beigegeben hätte. »Da [in Rütenbrock] gehen die Uhren immer noch anders als in großen abendländischen Metropolen wie Meppen« (Abr, 82), antwortet Hermann auf den Einwand. Die zwei Freunde spielen mit der vermeintlichen Abgeschiedenheit ihrer Wohnorte, stufen selbst sie noch voneinander ab. Betrunken denken sie sich Slogans für die Stadt Meppen aus: Meppen – die kleine Stadt mit den langen Wartezeiten. Großstadthektik? Nervosität? Überreizte Nerven? In Meppen kommst du zur Ruhe. Zur letzten. Such nicht im Himalaya nach dem Nirwana – komm einfach nach Meppen! Zugegeben: Meppen ist kein Paradies. Doch es ähnelt immerhin einem Friedhof. Zieh nach Meppen, laß dich neppen und nach Rütenbrock verschleppen … (Lir, 500). Das letztgenannte Beispiel unterstreicht die Abstufung der Provinzialität von Meppen bis Rütenbrock. Der autodiegetische Erzähler offenbart seine Wahrnehmung, die bereits in dem letzten Slogan mitschwingt, durch folgenden Kommentar: »Nach jedem Aufenthalt in Rütenbrock kam Meppen mir wie eine Großstadt vor, doch das war eine Illusion« (Lir, 286). Topographisch unterscheiden sich die beiden Orte durch ihre Bebauungsdichte und Einwohnerzahl sowie durch die landwirtschaftliche Prägung Rütenbrocks. Dass es sich dabei um einen Ort handelt, der unmittelbar an die Niederlande grenzt, wird in der Chronik nicht erwähnt, schwingt aber im Subtext mit. Schließlich gilt Rütenbrock als noch provinzieller als Meppen und wird somit am Rand verortet, was in diesem Fall auch geographisch aus deutscher Perspektive stimmt. Ein gemeinsamer Klassenkamerad wohnt in Rütenbrock in der Straße »Hinterm Busch« – ein Name, der abermals auf die Randlage des Ortes hinweist. Als er per Anhalter zurück will und eine Autofahrerin ihn nach dem Ziel fragt, habe er geantwortet: »Hinterm Busch« (Lir, 285), erzählt Hermann. Er meint, dass der Straßenname ein echtes Problem sei, schließlich sei die Frau mit quietschenden Reifen davongefahren. Der Straßenname verhindert in diesem Fall die Rückkehr nach Hause. Schließlich ist Trampen unter den Jugendlichen zu der Zeit die Fortbewegungsmethode schlechthin und ohne einen wohlwollenden Autofahrer nicht umsetzbar.

Liminalität in Neue Vahr Süd und Herr Lehmann Der Protagonist der Lehmann-Trilogie, Frank, unterliegt als Wehrdienstleistender der Kurzhaarpflicht. Die neue Frisur lässt er sich am Tag vor der Einberufung schneiden. Harry, dem er zuerst mit der ungewohnten Frisur begegnet, ist verwundert und der Meinung, dass die kurzen Haare nicht zu Franks Charakter und Einstellung passen: »Du bist doch eigentlich mehr so der Hippietyp« (NVS, 15). Die Fremdzuschreibung Harrys verdeutlicht das Dilemma, in dem sich Frank Lehmann befindet und welches das zentrale Thema des ersten Bandes ist. Zwischen

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verschiedenen Welten wechselnd – Kaserne, Studentenleben, WG-Alltag und Herkunftsfamilie – versucht der Protagonist sein Ich zu definieren und sich selbst zu finden. Da er sich in der Ablösungsphase von seinem gewohnten Umfeld, primär seinen Eltern, befindet, ist er – folgt man den Rites de Passage – auf der Suche nach einer Communitas. Aufgrund seiner äußerlichen Merkmale ist es für Frank schwer, sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen. Wie Harry schon konstatiert: Charakter und Aussehen stehen sich bei Frank diametral gegenüber. Ein Problem, das gerade in der Phase der Identitätsausbildung nicht zu unterschätzen ist, bestimmen Jugendliche ihr Selbstbild doch vor allem durch Äußerlichkeiten und Codes. Dass Frank nicht aufgrund äußerlicher Merkmale einer Communitas zuzuordnen ist, wird deutlich, als er über seine neue Kurzhaarfrisur nachdenkt. »Sie halten mich für einen Studenten, dachte er, aber für einen komischen, wegen meiner Haare, so einen Scheißhaarschnitt hat man als Student eigentlich nicht« (NVS, 18). Er gehört weder zu den Studenten, wie seine Freunde und WG-Mitbewohner, die sich in verschiedenen linkspolitischen Splittergruppen organisieren, noch zu den Rockern, die sich durch delinquentes Verhalten abgrenzen, noch zu den Punks, deren provokatives Aussehen er nicht teilt. Als er am Wochenende Soldaten in Zivil im »Why Not« sieht, wird ihm bewusst, dass er außerhalb der Kaserne durch sein Äußeres aus der Masse hervorstechen könnte. Die Männer fungieren als Spiegelbild für Frank, und er fragt sich, »ob er hier, unter all den Langhaarigen und Superlanghaarigen, genauso fremd wirkte wie sie« (NVS, 260). Er erblickt ihre Frisur, die am Nacken und über den Ohren ausrasiert und am Rest des Kopfes so langes Haar wie möglich zuließ, »was nicht viel war, aber genug, um die Proportionen durcheinanderzubringen« (NVS, 260). »Typische Bundeswehrhaare« meint Frank und fasst sich instinktiv an Nacken und die Partie über den Ohren, um seine Frisur mit der der fremden Soldaten abzugleichen. Eine Handlung, die mit den Bewegungen beim Erblicken des eigenen Spiegelbildes identisch ist. Der Anblick der Soldaten in der Diskothek offenbart Frank, dass auch er womöglich als fremd wahrgenommen wird. Obwohl weder er noch die anderen Soldaten die charakteristische Uniform tragen, sondern in Zivilkleidung unterwegs sind, befürchtet Frank, er könne in der Masse genauso auffallen, wie ihm die fremden Soldaten aufgefallen sind. Die personale Erzählperspektive aus der Sicht Franks gibt keine Indizien dafür, dass auch anderen Menschen im »Why Not« die Soldaten als solche auffallen. Einzig Frank scheint sie als Eindringlinge identifizieren zu können, was daran liegt, dass er sie als sein Spiegelbild begreift. Die Gruppe und er gehören unfreiwillig einer Communitas an, geht Frank doch davon aus, dass auch sie Wehrpflichtige sind. Erst die Teilhabe an der Institution Bundeswehr ermöglicht den Einblick in die Innenwelt, die Praktiken und Hierarchien; dazu zählen auch die äußerlichen Codes, die Kleidung, der Haarschnitt und das Aussehen. Frank kennt die Bundeswehr von innen und kann deshalb auch außerhalb des institutionalisierten Raums

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Angehörige der Bundeswehr anhand des Verhaltens und der Äußerlichkeit identifizieren. Körperlichkeit wird so zu einem Raum produzierenden Element, das die institutionelle Struktur eines Raums auch außerhalb der Institution repräsentiert. Der Raum haftet den Körpern an und wird durch Syntheseleistungen des Protagonisten wahrgenommen. Es gehöre mittlerweile zum Basiswissen, dass Raum in Handlungsvollzügen, und zwar ganz wesentlich über Wahrnehmungsprozesse entstehe, so die Raumsoziologin Martina Löw. »Um die Ansammlung beliebiger Objekte als Raum zu akzeptieren, bedarf es einer Syntheseleistung, das heißt, über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst.«18 Im Text wird diese Syntheseleistung durch Frank auch außerhalb der Institution Bundeswehr geleistet. Der Bundeswehr-Raum breitet sich in diesem Sinne über das institutionalisierte und hegemoniale Gelände der Kaserne hinaus aus. Frank besitzt Insider-Wissen, das durch seine Sozialisation in der Bundeswehr geprägt ist. Deshalb kann er Akteure des institutionalisierten Raums auch außerhalb dessen wahrnehmen. Der architektonische Raum ist in diesem Moment nicht relevant, Frank befindet sich an einem Ort, der weder zu seinem privaten noch zu seinem militärischen Leben zählt. Ins »Why Not« geht er nur ausnahmsweise, um heimlich Birgit zu treffen. Möglicherweise ist diese Ausgangslage der Grund, weshalb Frank die fremden Männer als Soldaten identifizieren kann. Frank ist auf der Suche nach einer Communitas und beschließt, um aus der Zwangsbeschäftigung »Wehrpflicht« ausbrechen zu können, seinen Selbstmord zu fingieren. Der Grenzübertritt vom Leben in den Tod ist abermals als Schwelle markiert, da Frank die Menge der Tabletten so dosieren will, dass es nach einem Suizidversuch aussieht, er aber nicht ernsthaft in Gefahr schwebt (NVS, 612f.). Er tritt durch die narkotisierende Wirkung der Tabletten in einen Zustand zwischen nicht mehr wach, aber noch nicht tot ein. Hier entscheidet er das erste Mal aktiv, in einen liminalen Zustand einzutreten, mit dem Ziel, der auferlegten Übergangssituation zu entkommen. Franks Plan geht auf, und er wird wegen »Dienstuntauglichkeit« (NVS, 616) entlassen. Im Roman »Herr Lehmann« ist es die leitmotivisch eingesetzte Figur des Hundes, die die von Frank begangenen Räume semantisiert und zu Topographien des Übergangs werden lässt. Zuerst begegnet Frank dem herrenlosen Hund am frühen Morgen auf dem Lausitzer Platz auf dem Weg nach Hause. Der Hund versperrt ihm den Weg, knurrt Frank an. Mittels Alkohol versucht Frank, den Hund in einen Zustand zu versetzen, der ihm das gefahrlose Passieren ermöglicht. Wie Stefan Born anmerkt, sei die Szene in einer Stilistik verfasst, in der Gegenstände des Alltags – welke Salatblätter, Bleistifte und »Whisky-Ablagestelle« – als Beschreibung eines als gefährlich und bedrohlich wirkenden Tieres eingesetzt worden seien. Diese 18

Löw, Martina (2007): Die Kontextabhängigkeit der Raumwahrnehmung, S. 94.

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Divergenz zwischen Alltag und Bedrohung erzeuge beim Leser eine Unsicherheit, ob der Hund tatsächlich einem »Killerhund« (HL, 8) gleiche oder ob Frank sich die Gefahr nur einbilde und übertreibe.19 Ein weiteres Mal begegnet Frank dem Hund gemeinsam mit Karl, als der schon völlig übernächtigt und aufgeputscht durch Drogen entlang der Grenze des abendlichen Kreuzberg SO 36 und Kreuzberg 61 streift. Der Hund begrüßt Karl schwanzwedelnd, leckt ihm die Hand ab und wälzt sich gemeinsam mit Karl im Dreck (vgl. HL, 248f.). Die Reaktion des Hundes auf Karl ist eine deutlich andere als die gegenüber Frank am Lausitzer Platz. Der Hund gilt in der Literatur als »Symbol des Wächters und der Treue sowie der Differenz zwischen Natur und Kultur«. Zurück geht die Symbolik des Wächters auf Platons Ausführungen über den idealen Wächter eines Gemeinwesens; er geht davon aus, dass die Eigenschaften eines Jagdhundes, der »gegen Vertraute und Bekannte so sanft als möglich« ist und »gegen Unbekannte aber das Gegenteil«, am besten geeignet sei. Im »Lexikon der literarischen Symbole« heißt es dazu: »Der H. reagiert aufgrund der philosoph. Opposition von Wissen und Nicht-Wissen und übersetzt diese in die polit. Opposition von Eigenem und Fremdem, von Freund und Feind.«20 Karl wird als Freund begrüßt und darüber hinaus wie ein tierischer Spielkamerad behandelt. Ein paar Sätze zuvor denkt Frank zu seinem eigenen Missfallen über Karl als Hund: »Wenn der sich mal losreißen will, dachte der, dann ist der nicht zu halten, und dann fiel ihm auf, daß er über seinen besten Freund schon dachte wie über einen Hund, und das gefiel ihm nicht« (HL, 247). Hier zeigt sich bereits, dass Karl an seiner Identitätskrise scheitert. In Karls Atelier entdeckt Frank, dass sein Freund alle Kunstobjekte zerstört und damit »den unfreiwilligen und katastrophischen Abschluss eines Lebensabschnitts«21 besiegelt hat. Der Hund symbolisiert – betrachtet man seine Reaktionen auf Frank und Karl – die Wächterfigur der Subsemiosphäre Westberlins und prägt die Opposition zwischen erfolgreicher und gescheiterter Individuation. Wie der in der altägyptischen Mythologie als Hundefigur dargestellte Gott Anubis, der im antiken Griechenland mit dem Götterboten Hermes gleichgesetzt wurde22 , begleitet der Hund Karl auf die andere Seite, in diesem Fall in den katastrophalen Nervenzusammenbruch, welcher Karls Zeit in Westberlin beendet. Frank wird hingegen die Überfahrt verwehrt, der Hund knurrt ihn an. Frank bleibt in der Subsemiosphäre Westberlins, in der Welt der Postadoleszenten. Firaza interpretiert die erste Hunde-Szene als eine »travestierte Hadesfahrt«, die »mit dem Verlust und

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Vgl. Born, Stefan (2011): Sven Regeners »Herr Lehmann« (2001) als Adoleszenzroman, S. 538. Borgards, Roland (2012): Artikel: »Hund«, in: Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 192f. Online als Ebook: https://ebookcentral.proquest.com/lib/ulbd/reader.action?docID=1003398 &ppg=197 [Stand: 28.02.2019], auch Platon Zitat nach Lexikoneintrag. Born, Stefan (2011): Sven Regeners »Herr Lehmann« (2001) als Adoleszenzroman, S. 549. Vgl. Burkart, Walter (2002): Mysterien der Ägypter in griechischer Sicht, S. 17.

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der Neukonstituierung der Ich-Identität der Figur« zusammenhänge.23 Vollendet wird diese Fahrt jedoch nur von Karl.

»mit 40 ist man nun todsicher ein Mann« Der Protagonist Icks, dessen Monolog in Form erlebter Rede durch dessen Sitznachbarn im Flug von Frankfurt a.M. in Richtung New York City wiedergegeben wird, bezeichnet sich selbst als »Doktor rer. nat.«. »[D]as bin ich, das sollte ich wenigstens sein« (Is, 8). Sein Problem sei, so gesteht er seinem Sitznachbarn, »einen klaren Gedanken zu fassen« (Is, 8). Und so berichtet er von seiner Rückkehr in die Heimatstadt zu seinen Eltern, die er knapp zehn Jahre nicht mehr besucht hatte. Der Monolog ähnelt einem Bewusstseinsbericht: Die Themen wechseln willkürlich, und es sind Erinnerungssplitter und Gedankenfetzen, die der Leser, will er den Text durchdringen, zu einem Gesamtbild zusammenfügen muss. Ein Topos des Textes ist das Männerbild, welches der nur »Icks« genannte Protagonist gegenüber seinem Sitznachbarn kundtut. So heißt es gleich mehrfach, wenn auch in abgewandelter Form, geradezu leitmotivisch: »mit 40 ist man nun todsicher ein Mann« (Is, 9). Dass er sich Gedanken darüber macht, wie ein Mann mit vierzig Jahren zu sein habe, was ihn ausmache – laut ihm gibt es nämlich nur zwei Optionen: entweder ein geschlagener Mann oder »ein halbwegs aufrecht gehender, halbwegs melierter, einigermaßen tragbarer Mann«, – hänge mit der »dusseligen 33« zusammen. Seitdem er dieses Alter erreicht habe, ist er der Ansicht, auf die Vierzig zuzugehen. Die »dusselige« Zahl ist gerundet tatsächlich jedoch näher an der Dreißig und so ist seine übertriebene Panik ein erster Hinweis auf das – wie er es selbst nennt – »leere Dickicht« (Is, 62) in seinem Kopf, das ursächlich für sein Problem ist, keinen klaren Gedanken fassen zu können. Dass sich der Protagonist überhaupt Gedanken über ein Männlichkeitsideal machen muss, eröffnet einen weitreichenden Themenkomplex über die Interdependenz von sozialem Geschlecht und Identität. Während »Frau« als das Defizitäre und Andere seit jeher Objekt zahlreicher Forschungen war und ist24 , rückt das so-

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Firaza, Joanna (2011): Grenzgängertum eines (Post)Adoleszenten in Sven Regeners »Herr Lehmann« (2001) und »Der kleine Bruder [sic!] (2008), S. 565. Sichtweisen Sigmund Freuds oder Jacques Lacans, die Frau als Mangelwesen analysierten und respektive den Mann als die Norm ansahen, manifestierten sich als gesellschaftliche Normalität [Dazu: Lacan, Jacques: LA femme n’existe pas, aus dem Französischen von Horst Brühmann, in: alternative, 19. Jahrgang (1976), Heft 108/109, S. 160-163]. Freilich sind die psychoanalytischen Studien gleichzeitig als Ausdruck der als Norm verstandenen Struktur zu lesen; Wissenschaft und »Realität« durchdringen sich gegenseitig. Durch Arbeiten von Kulturwissenschaftlerinnen wie Judith Butler wurden Kategorien wie biologisches und soziales Geschlecht als Konstrukte enttarnt und der Weg geebnet, um auch das vormals als gegeben verstandene Männerbild zu untersuchen [vgl. Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht, insbesondere S. 22-29]. In der Soziologie ist der Weg zur Männerforschung eng verknüpft

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ziale Konstrukt »Mann« erst seit gut zwei Dekaden in den Fokus der Betrachtung. Die Auflösung hegemonialer Machtverhältnisse und manifest wahrgenommener Geschlechterrollen fällt in die erzählte Zeit der Romane des Textkorpus. Die Deindustrialisierung geht in der Lebenswirklichkeit mit veränderten Lebensentwürfen und der Flexibilisierung von Rollenzuschreibungen einher. Es ist nicht mehr die Vollerwerbstätigkeit, die die männliche Biographie bestimmt. Abgelöst wird sie von einer Vielzahl von Möglichkeiten, mit denen sich auch Icks konfrontiert sieht. Erst als er mit dem Studium fertig ist und kurz davor steht, eine wissenschaftliche Karriere einzuschlagen, verlässt er seine Heimatstadt. Von diesem Moment an, so sieht es Icks aus der Retrospektive betrachtet, »reproduzierte« sich das Bild des erfolgreichen jungen Mannes, »mit wehenden Haaren sozusagen« (Is, 10), nicht mehr selbst. In der Zeit, als er sich als Student nur als »erfolgreichen Mann handhabte« (Is, 54), sei er im Streit gewesen mit seiner Heimatstadt, was darauf hindeutet, dass er gegen den konformistischen Lebensweg, den er eingeschlagen hat, unterbewusst aufbegehrt. Im Text wird an keiner Stelle der Name der Stadt genannt. Stattdessen werden der Stadt Attribute zugeschrieben, die größtenteils auf der persönlichen Empfindung von Icks beruhen, wie »diese gehaßte Stadt« (Is 58), »vollkommen zusammenhanglose und beliebige Stadt« (Is, 60) oder der Stadtname sei »bundesweit als Synonym für Provinzialität und Tristesse« (Is, 55) bekannt. Bekannte Synonyme nennt er freilich auch: »Leineweberstadt«, Ostwestfalenmetropole« (Is, 13). Dass es sich hierbei um Bielefeld handelt, wird den Lesern spätestens durch die Nennung der bekannten Synonyme bewusst. Icks will den Stadtnamen nicht verraten, weil er zum einem nicht wichtig sei, sich alles so auch in einer anderen Stadt zugetragen haben könnte (Is, 15) und zum anderen, weil er nicht will, dass sich sein Sitznachbar durch die Nennung der Stadt gelangweilt abwendet (Is, 13). Dass der Text mit dieser Nichtnennung operiert, der Schauplatz im Dunkeln bleibt, ihm quasi das Existenzrecht abgesprochen wird, lässt sich mit der bekannten Bielefeld-Verschwörungstheorie verbinden, der zufolge die Stadt nicht existiere. Achim Held stellte diese Behauptung am 16. Mai 1994 in der Newsgroup »Talk Bizarre« online, um Verschwörungstheoretiker zu persiflieren. »[E]s war ursprüng-

mit der Auflösung industriell geprägter Gesellschaften und der damit einhergehenden Aufweichung des statischen Männerbildes vom vollerwerbstätigen Ernährer der Familie [vgl. Baur, Nina und Luedtke, Jens (2008): Konstruktionsbereiche von Männlichkeit. Zum Stand der Männerforschung, S. 7-30]. Die Männlichkeitsforschung anerkennt ebenfalls eine Pluralisierung diverser Männerideale. Es sei nicht mehr von einem Männerideal zu träumen, sondern vielmehr sei von »der Realität multipler Männlichkeitskonstruktionen, von postfordistischen Mannsbildern auszugehen« [Kreisky, Eva (2006): Fußball als männliche Weltsicht, S. 21f.].

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lich ein interner Scherz in Kieler Studentenkreisen, der sich verselbständigt hat«25 , erklärt Held in einem Interview. Mittlerweile hat Bielefelds Stadtmarketing die Verschwörungstheorie aufgegriffen. Dieser »Scherz« ist inzwischen populär, selbst die Bundeskanzlerin nahm in einer Rede Bezug darauf.26 Held bezeichnet Bielefeld als eine »farblose Stadt«27 . Das sei auch der Grund, weshalb ausgerechnet sie zum Gegenstand der Satire wurde. Mit Hamburg hätte, so vermutet der Informatiker und Initiator der Verschwörung, die Idee nicht funktioniert. Der Roman thematisiert die Verschwörung nicht, macht aber die Stadt, indem der Name zur Leerstelle wird, zu einem imaginären Raum, der allein durch Vorstellungsbilder real erscheint. Laut der Verschwörungstheorie sind Bilder, die vorgeblich Bielefeld zeigen, in anderen Städten aufgenommen worden. Die Persiflage setzt eine Leerstelle dorthin, wo die ›reale‹ Stadt Bielefeld liegt, soweit ähneln sich die Vorgehensweisen von Roman und Persiflage. Während die vermeintlichen Verschwörungstheoretiker ernsthaft propagierte Verschwörungen persiflieren wollen, ist die Leerstelle im Roman ein Darstellungsmoment der Erzählung. Die Romanfigur Icks versucht durch die absichtliche Nichtbenennung seiner Herkunftsstadt die Imaginationen, die mit dem Stadtnamen verbunden sind, zu unterbinden. Icks kreiert durch seine Erzählung ein individuelles Bild seiner Heimatstadt, die nur durch diese bewusste Leerstelle exemplarisch für eine mittelgroße westdeutsche Stadt stehen kann. So ist er der Ansicht, dass nicht allein seine Heimatstadt als Synonym für »Provinzialität und Tristesse« stehen solle, sondern das ganze Land (Is, 55). Bielefeld ist somit nur ein Soziotop en miniature, und die Erinnerungen und Erlebnisse des monologisierenden Bielefelders stehen exemplarisch für alle anderen westdeutschen Männer seiner Generation. Der Raum steht für die bereits überkommenen Rollenklischees und Männlichkeitsideale, die Icks an einer selbstbewussten Konstruktion der Identität hindern. So ist auch sein Name ein Verweis auf das Buch »Generation X«, auch wenn Ralf Bönt selbst diese Verbindung bestreitet. Laut ihm steht Icks für die lautsprachliche Umsetzung der

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Backes, Volker: »Es musste schon eine farblose Stadt sein«, Achim Held im Interview, Spiegel online, 4.6.2010, online: https://www.spiegel.de/lebenundlernen/uni/bielefake-schoepfer-esmusste-schon-eine-farblose-stadt-sein-a-698657.html [Stand: 4.12.2018]. So erinnerte sie sich 2013 im Rahmen der Verleihung des Deutschen Sozialpreises an einen Besuch in Bielefeld und schloss mit dem Satz: » … so es denn existiert.« Und fügte hinzu: »Ich hatte den Eindruck, ich war da.« (Vgl. Welt Newscheck: Auch Merkel zweifelt an der Existenz Bielefelds, online: https://www.welt.de/newsticker/news3/article111575893/Auch-Merkel-zwei felt-an-Existenz-Bielefelds.html) [Stand: 4.12.2018]. Backes, Volker: »Es musste schon eine farblose Stadt sein«, online: https://www.spiegel.de/l ebenundlernen/uni/bielefake-schoepfer-es-musste-schon-eine-farblose-stadt-sein-a-698657. html [Stand: 04.12.2018].

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mathematischen Variablen x.28 Beide Referenzen in Einklang gebracht, ermöglichen die dichte Beschreibung des Textes zu dekonstruieren. Douglas Couplands Roman »Generation X« gilt als Portrait der »späten BabyBoomer«, die in den 1960er- und 1970er-Jahren geboren wurden. Wenngleich der kanadische Autor und Künstler den Namen »Generation X« nicht erfunden hat, war er es mit seinem gleichnamigen Buch, der einen Namen für die Generation etablierte.29 Als Äquivalent zur nordamerikanischen Generation X wird in Deutschland die von Florian Illies geprägte Alterskohorte der 1965 bis 1975 Geborenen unter dem Label »Generation Golf« subsumiert.30 Der Protagonist Icks ist wie der Autor Ralf Bönt 1963 geboren, gehört qua Geburtsjahr der Baby-Boomer-Generation an. Sowohl im Fall von »Icks« als auch in Couplands Roman steht das X für die Perspektiv- und Bedeutungslosigkeit des eigenen Ichs. Coupland erklärte in einem Interview das Grundgefühl seiner Generation: ›I remember the way I felt about the world‹ […]. ›That incredible sense of isolation. It was ludicrous –

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Ralf Bönt in einem Interview: »Ich habe Coupland damals gelesen, fand das aber nicht besonders toll, wobei ich immer zuerst auf Sprache achte. Hinzu kam, dass mir die Situation des Aussteigers nicht besonders nah war. Ich persönlich fühle mich überhaupt nicht dieser Generation X zugehörig. Mein Held Icks ist es vielleicht ein bisschen. Meine Assoziation beim Schreiben war aber wirklich die Variable x.« In: Schöll, Julia: Nichts ist frustrierender als Pornographie. Ralf Bönt über seine Romane »Icks« und »Gold« und sein Verhältnis zu Metropolen auf literaturkritik.de, Nr. 12, Dezember 2000, online: https://literaturkritik.de/id/3161 [Stand: 04.12.2018]. Vgl. Löschnigg, Martin: Coupland, Douglas. Generation X, in: Kindlers Literaturlexikon Online [Stand: 07.06.2019]. Die Charakterisierung von Alterskohorten und die damit einhergehende Homogenisierung von Werten und Lebensführung allein aufgrund des gleichen Alters wird in der Soziologie stellenweise kritisch eingeschätzt. So argumentiert Martin Schröder anhand empirischer Untersuchungen dass »deutsche Nachkriegskohorten sich kaum in ihren Einstellungen unterscheiden, weder in Bezug auf Lebensziele noch in Bezug auf Sorgen oder gesellschaftliches und politisches Engagement« [Schröder, Martin (2018): Der Generationenmythos, S. 469]. Anhand einer ausführlichen Quellenstudie zu wissenschaftlichen Beiträgen über die Darstellung von Generation X, Y und den Baby-Boomern belegt er, dass sich die Soziologie in der Beschreibung von Generationen widerspricht. So zitiert er Hurrelmann und Albrecht, die die Generation X als hedonistisch beschreiben und ihr »null Bock auf Arbeit« attestieren. Oertel hingegen stellt fest, dass Arbeit ihr zentraler Lebensinhalt sei und Freizeit eher »weniger wichtig« [ebd. S. 473]. Die unkritische Übernahme solcher Generationenbilder reproduziert die Konstruktion und das Narrativ, welches hinter den Labels »Generation X, Y, Z« steht. Es ist nicht das Ziel dieser Arbeit, ein Generationenportrait anhand des Textkorpus nachzuzeichnen. Der Verweis auf die genannten Generationen dient lediglich als intertextuelle Referenz auf die Figur Icks.

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there was an entire sensibility that was not being recognized, because the people were being told they didn’t exist.‹31 Als die vergessene, nicht existente Generation wird die Generation X hier beschrieben. In Bönts Text wird der Protagonist und seine Heimatstadt mit denselben Attributen ausgestattet, so nennt Icks seine Gedanken auch »mein einsames Dickicht im Kopf«32 . Das X steht in allen drei Fällen für einen Platzhalter, für eine Variable, die (noch) nicht gefüllt ist, weil die Gleichung noch nicht aufgeschlüsselt ist. Das leere Dickicht in Icks’ Kopf spiegelt sich auch im Modus der Darstellung wider. X kann jeder sein, wie auch die Stadt jede x-beliebige in Westdeutschland sein kann. Auf der anderen Seite sind Protagonist und Herkunftsort einer Vorstellung von sich beraubt, gerade weil der Text vordergründig dort eine Leerstelle schafft. Die Toponyme reichen aber dennoch aus, um Rückschlüsse auf den »realen« Ort Bielefeld zu ziehen. Der erzählte Raum der Diegese ist ein vorgestellter, der zugleich auf den realen Raum, unsere Welt und das Denken, Wissen und Verstehen über ihn ausstrahlt. Reales und Imaginäres fallen zusammen, gerade weil die Leerstellen um die Identität des Protagonisten und des Ortes geschaffen wird. In Edward Sojas Termini gesprochen, sind Stadt und Protagonist das Aleph, das Dritte, repräsentiert als Raum und als Individuum. Soja bezeichnet dem Raum der Repräsentation, der von Künstlern beschrieben wird und in dem Gegenräume zur hegemonialen Ordnungsstruktur geschaffen werden können, als Dritt-Raum, welchen er zum grenzenlosen Aleph33 weiterdenkt.34 Icks hat das gesamte Wissen um seine Identität schon in sich, er ist das Aleph, das A, der erste Buchstabe im Alphabet, der im Hebräischen als dargestellt wird, in das alles eingeschrieben ist: Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Das hebräische Schriftzeichen hat Ähnlichkeit mit dem lateinischen Buchstaben x; die Signi-

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Dafoe, Chris: Carving a profile from a forgotten generation. In: The Globe and Mail. 9. November 1991. Is, 120. Hervorhebung: L. H. Die räumliche Metapher des Aleph rekurriert in Sojas Verständnis des Dritt-Raums auf Jorge Luis Borges literarische Beschreibung eines Punktes im Raum, von dem aus die ganze Welt und jede Zeit sichtbar sei. »Was meine Augen sahen, war simultan: was ich beschreiben werde, ist sukzessiv, weil die Sprache es ist. […] Im Durchmesser mochte das Aleph zwei oder drei Zentimeter groß sein, aber der kosmische Raum war darin, ohne Minderung seines Umfangs. Jedes Ding (etwa die Scheibe eines Spiegels) war eine Unendlichkeit von Dingen, weil ich sie aus allen Ecken des Universums deutlich sah. […] sah das Aleph aus allen Richtungen zugleich, sah im Aleph die Erde und in der Erde abermals das Aleph und im Aleph die Erde, sah mein Gesicht und meine Eingeweide, sah dein Gesicht und fühlte Schwindel und weinte, weil meine Augen diesen geheimen und gemutmaßten Gegenstand erschaut hatten, dessen Namen die Menschen in Beschlag nehmen, den aber kein Mensch je erblickt hat: das umfaßliche Universum.« Borges, Jorge Luis (1995): Das Aleph, S. 143-145. Vgl. Soja, Edward W. (2005): Trialektik der Räumlichkeit, S. 96ff.

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fikanten haben dennoch vordergründig die gegenteilige Bedeutung. Während das Aleph als Sinnbild eines alles umfassenden Punktes im Raum gilt, steht das x metaphorisch für die Leere und Perspektivlosigkeit der gleichnamigen Generation. Es sind die Konventionen, die die Signifikanten mit Bedeutung aufladen und so ist es letztlich auch mit der Stadt und Icks. Die Vorstellung des Herkunftsortes wird im Text durch die Beschreibung des Protagonisten geprägt. Durch seine Darstellung will er die gängigen Klischees, die der Stadt zugeschrieben werden, unterbinden. Der erzählte Raum wird so zu einem Platzhalter, einer prototypischen westdeutschen Nachkriegsstadt. Das Nicht-Bezeichnete x wird zum . Ebenso lässt sich die Identität von Icks analysieren. Der Name Icks ist das Lautbild, welchem die Vorstellung einer Variablen entspricht. Icks ist das personifizierte beliebige Zeichen, das im Zeichensystem als willkürliches Zeichen umhertreibt – ein Zeichen, das es qua Konstruktion eines Zeichensystems nicht gibt. Denn das Beziehungsgefüge zwischen Signifikat (Vorstellung) und Signifikant (Lautbild) ist arbiträr und beruht auf Konventionen. Und ebendiese Vorstellung, ein Selbstbild von sich, versucht Icks zu konstruieren. Um sich selbst als Mann zu akzeptieren – das x in das mit Bedeutung gefüllte Aleph umzuwandeln –, braucht Icks dreierlei: die Rückkehr nach Hause, den Blick in die Augen seines Kindes und dessen widerspiegelnden Blick in seine Augen. Diese drei Momente symbolisieren die drei Zeitebenen, die zugleich drei Konzepte seines Selbst verkörpern und im Zeichen des Aleph symbolisiert sind. Bringt er diese drei Bilder in ein harmonisches Gleichgewicht, wird er mit spätestens vierzig Jahren ein Selbstbild von sich konstruiert haben, mit dem er zufrieden ist, und somit auch die Postadoleszenz (die im Falle von Icks im Alter von dreißig Jahren, als er seine Jugendträume begräbt, einsetzt) beendet haben. Die Simultanität von Raum, die im Bild des Aleph veranschaulicht wird, ist für die Beschreibungssprache und Linearität der Schrift ein Problem, wird doch niemals ein exaktes Abbild dieser Gleichzeitigkeiten möglich sein. So verhält es sich auch mit dem Romantext, der ohne chronologische Ordnung von einem Gedanken zum nächsten springt. Dass dieser Bewusstseinsbericht ausgerechnet während eines Flugs über den Atlantik stattfindet, der quasi als Inbegriff der Loslösung von Zeit und Raum, den Grundkonstanten menschlicher Existenz, gelten kann, ist kein Zufall. Erst abseits dieser Fesseln, die den Protagonisten zu linearer, chronologischer Erzählung drängen würden, kann Icks seine Gedanken quasi-simultan (freilich schränkt die Linearität der Zeichen dennoch ein) erzählen. Die Erzählsituation selbst ist ebenfalls als intertextuelle Referenz auf Couplands »Generation X« zu lesen. Im ersten Kapitel unterstreicht eine Werbegrafik mit der Aufschrift »USE JETS WHILE YOU STILL CAN« die dystopische Weltsicht der Protagonisten.35 Auch Icks

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Coupland, Douglas (1991): Generation X: Tales for an accelerated Culture, S. 4.

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handelt nach der appellativen Werbebotschaft und fliegt über den Atlantik trotz seiner prekären Situation. Erinnerungen an Icks’ Kindheit dienen der Identitätsfindung des Protagonisten, der durch das Monologisieren versucht, Ordnung und Klarheit herzustellen. Es sind unter anderem diese Erinnerungen, die Icks eine Vorstellung seines Selbst geben. Durch den Besuch des Erinnerungsraums Bielefeld entwirft er ein Selbstbild. So gibt es eine beinahe traumatische Erinnerung in Icks’ Leben, die zu schweren Ängsten schon im frühen Kindesalter geführt hat und eng mit seiner Beziehung zum Vater und seiner eigenen Männlichkeit verflochten ist. Seine Eltern leben am Stadtrand Bielefelds in einem vom Vater eigenhändig erbauten Einfamilienhaus. Dieses Haus ist ein Mahnmal für Icks, das ihm selbst einen Hausbau oktroyiert. Noch mit acht Jahren ist er Bettnässer, muss nachts eine Windel tragen. Er durchlebt existenzielle Ängste, während er träumt, er läge unter einem Haus. Dazu befiehlt »eine verlangsamte Pastorenstimme«: »DU MUSST EIN HAUS BAUEN« (Is, 132). Bis er sechzehn Jahre alt ist, kehren diese Alpträume regelmäßig zurück. Schon im Grundschulalter hat Icks die stereotypen Rollenerwartungen an einen Mann internalisiert und ist heillos überfordert. Der Zwang, ein Haus bauen zu müssen, wird zur Last: »Das Gewicht des Hauses kann ich jederzeit auf meinem Brustkorb fühlen, wenn ich will« (Is, 132). Es ist die pastorale Stimme des Vaters, die Icks während Kindheit und Jugend meinte zu hören. Er vernimmt die reale Stimme, als er zurückkehrt und seine Mutter den Vater fragt, ob er in dem Alter auch damals schon so wenige Haare gehabt habe. »Mitte 30? Das Haus habe ich da gebaut!« (Is, 165). Die Antwort steht wie ein Vorwurf an Icks im Raum, ist durch seine Typographie auch für die Rezipienten eine hervorstechende Aussage. Das Wort des Vaters gleitet durch die gesamte Gedankenspirale, aus welcher der Text besteht, hindurch. Statt den Zukunftserwartungen seiner Eltern zu entsprechen, eine Banklehre zu absolvieren, in einer Bank zu arbeiten und einen Mittelklassewagen zu fahren (Is, 33), entscheidet sich Icks für die Ortsflucht und kann erst so das normative, sozial geprägte Bild von Männlichkeit aufgeben; er schafft es jedoch zunächst nicht, ein neues Bild an dessen Stelle zu setzen. Stehenbleiben kommt für Icks nicht in Frage. »Das hätte ja das Gemälde vom Gewinner empfindlich gestört« bzw. »mein Eigenabbild« (Is, 58). Der Bewegungsdrang, den Icks verspürt, verweist auf das Spiel der Signifikanten, die laut Derrida immer in Bewegung sind, eine endgültige Bedeutung bzw. Identität verhindern.36 Die Graphie der Signifikanten erzeugt

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So fallen nach Jacques Derrida das Lautbild (Signifikant) und Vorstellung (Signifikat) zusammen. Er redet so dem Phonozentrismus, der etwa durch Ferdinand de Saussure etabliert wurde, das Wort. Im Gegensatz zu dem Schweizer Sprachwissenschaftler vertritt Derrida die Auffassung, dass ohne die Möglichkeit der Graphie die Fähigkeiten von Sprache nicht gegeben sei, Schrift somit die Voraussetzung von Sprache ist. Der Neologismus »différance« drückt

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

auf der Ebene der Diegese den dynamischen Erkenntnisraum, den es zur Selbsterkenntnis braucht. Er bezeichnet sich selbst bloß als Abbild, versucht einer Vorstellung von sich zu entsprechen. Die Abkehr von dieser Vorstellung wird als ein langsamer und schmerzvoller Prozess beschrieben, der mit der Flucht aus Bielefeld beginnt. Mit dreißig Jahren, so bemerkt Icks an einer Stelle, habe er seine Träume abgehakt, die er als Jugendlicher gehabt habe (Is, 83). Nach seinem Besuch in Bielefeld, als er für zwei Tage in Frankfurt übernachtet und auf seinen Flug nach New York wartet, wird ihm bewusst, »[d]aß man Mitte 30 erst erwachsen wird ein wenig, mein Gott« (Is, 150). Die Loslösung von seinen Eltern, die die Vorstellung von Icks »Eigenabbild« nähren, gelingt Icks erst, als er das zweite Mal aus Bielefeld flieht. Für ihn steht fest, dass er für seine Eltern »auf ewig Kind bleiben sollte«, »bloß froh und sonst nichts« (Is, 152). Doch Icks ist nun selbst Vater eines Kindes, das das Laufen lernt just in dem Moment, als Icks nicht zu Hause ist, sondern bei seinen eigenen Eltern. Vater und Sohn emanzipieren sich gewissermaßen zur gleichen Zeit. »Nur die Kurven schafft er noch nicht so gut. Kleine Absätze aber schon, die Schwellen sind ja wie Stufen für ihn«, wird Icks von der Mutter seines Sohnes am Telefon über dessen Lauffortschritte informiert. Die Schwellen, die dem kleinen Juri wie Stufen vorkommen, sind auch für dessen Vater Icks schwierig zu überwindende Entwicklungsschritte. Die Kurven symbolisieren im Falle von Icks und seiner persönlichen Entwicklung die Gedankengänge und Selbstreflexionen. Auch er – das zeigt die Form des Bewusstseinsberichts – »schafft« es »noch nicht so gut«, den einzelnen Zusammenhängen zu folgen und sie in eine Argumentationsstruktur bzw. in ein Narrativ zu überführen; erst die Entwicklung der Lebensgeschichte kann Icks zu einem authentischen Selbstbild verhelfen. »Das leere Dickicht«, welches ihn daran hindert, wird das erste Mal gestört, als Barbara ihm eröffnet: »Ich habe jedenfalls einen Körper, und der will ein Kind,[…] und das kriegt er auch!« (Is, 97). Zu dem Zeitpunkt kennen sich die beiden noch nicht besonders gut und gehen durch das nächtliche Berlin, von einem Kneipenbesuch kommend, zur Bushaltestelle. Icks trifft diese Bestimmtheit wie ein Schlag, »so brachial warf sich dieser Satz ohne jede Übertreibung in mein armseliges, sozusagen trunkenes Dickicht, um eine erste Lichtung zu schaffen« (Is, 97). Icks’ Körper

nach Derrida das »Gewebe von Differenzen« (S. 90) aus, welche das Sprachsystem ausmache. Es sei »weder Wort noch Begriff« und sei polysemisch im Sinne von Gleiten als auch Unterscheiden zu verstehen (S. 82 und 84). »Die Ordnung, die dieser Opposition [zwischen Sensiblen und Intelligiblen] widersteht, und ihr widersteht, weil sie sie trägt, kündigt sich in der Bewegung der différance (mit a) zwischen zwei différences oder zwischen zwei Buchstaben an, einer différance, die weder der Stimme noch der Schrift im gewöhnlichen Sinne angehört und sich als seltsamer Raum […] zwischen Sprechakt und Schrift ansiedelt […].« [Derrida, Jacques (2004): Die différance, S. 79f.].

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Topographien der Adoleszenz

reagiert auf Barbaras unabhängigen Willen weitaus schneller, als Icks diese Aussage gedanklich verarbeiten kann. Noch während sie zu diesem lebensbejahenden und selbstbewussten Credo ausholt, bekommt Icks starkes Nasenbluten, sodass er sich auf Barbaras Monolog inhaltlich gar nicht einlassen kann. Doch sein Körper nimmt die Worte auf, das Dickicht in seinem Kopf, dort wo das Gehörte verarbeitet wird, reagiert. Die Kerbe, die geschlagen ist, bricht sich durch Icks blutende Nase ihre Bahn. Im Nachtbus sitzend denkt Icks über den Moment nach: »und ich wußte jetzt endlich, daß ich noch lebe« und »da habe ich wohl nur den Satz gedacht: Kannst du haben« (Is, 97). Dass dieser lebensverändernde Moment nachts stattfindet, nimmt nicht wunder. Ist es doch die Nacht, die gegenüber dem Tag für unbewusste Wünsche und Träume im psychologischen Sinne steht. Nur der nächtliche Raum, der losgelöst von den Tagespflichten und Alltagsroutinen besondere Ereignisse kreiert, kann den Moment erzeugen, der Icks einen neuen selbstbestimmten Weg einschlagen lässt. Nach seiner zweiten Flucht aus Bielefeld erblickt er – im Frankfurter Hotelzimmer sitzend – sein Spiegelbild und nimmt dies zum Anlass, um über die Konstruktion des eigenen Selbstbildes nachzudenken: Ich bin ja glücklicherweise kein Philosoph und muß eine Theorie aufstellen, die hinterher recht haben will und so fort, aber es gibt auch dazu was, habe ich gehört, daß das Kind ein Bild seiner selbst aus dem seiner Eltern konstruiert. Er wird diesem Bild zwar zunächst nicht gerecht, und es ist sogar so, daß es sich am Ende bloß deshalb entwickeln kann, weil es diesem Bild, dem es nicht gerecht wird, halt gerecht werden will. Motorisch zum Beispiel. Aber, was man nämlich vergißt, auch umgekehrt eben, da kenne ich mich mittlerweile ja aus, konstruierst du dein eigenes Bild erst – oder spätestens –, wenn du dein Kind ansiehst, und kuckst, wie es dich ansieht (Is, 164f.). Dass ein Kind die Eltern zum Vorbild nimmt und das nicht allein, um den Erwachsenen in motorischer Hinsicht nachzueifern, durchlebt auch Icks. Nicht umsonst spricht er über sein Selbstbild, welches er noch als adoleszenter Student hat, als »Eigenabbild«. Es handelt sich hierbei noch um ein Abziehbild des Ideals seiner Eltern und nicht um einen eigenen Identitätsentwurf. Der Blick auf sein Kind ist, wie der Blick in Richtung seiner Eltern, ein spiegelnder. Der Unterschied ist jedoch, dass das Kind die Zukunft verkörpert und die Eltern immer ein Fenster in die Welt der Vergangenheit sind, die es zu verlassen gilt. Der Blick in die Augen des eigenen Kindes ist auch einer der zurückstrahlt; Icks betont, dass es sich um einen wechselseitigen Blick handelt, der das Selbstbild konstruiert. Aus der Elternperspektive ist dieser Blick elementar, weil die eigene Schaffenskraft im Kind verkörpert wird. Um mit Lacan zu argumentieren, bildet Icks, als er zum Vater wird, eine Identität aus. Das große Andere, der Name des Vaters, macht das vormals bedeutungsarme Si-

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

gnifikat Icks zum Subjekt. Das im Französischen homophone Non/Nom-du-père37 wird auch im Text genannt, und zwar in Icks’ leitmotivischer Erklärung, wie ein Mann mit 40 zu sein hat. »[W]enn man Glück hat, sage ich, ist man ein lustiger Mann, mit 40, ein nicht allzu unlustiger Mann wenigsten, ab und zu mit so einem Nein auf den Lippen, weil es normal ist und weil die Welt es verdient – nicht?« (Is, 166). Das »Nein« macht den Mann und Vater zu einem Subjekt, gibt ihm einen Namen und so eine Identität. Im Sinne Lacans kann von einer metonymischen Verschiebung der pastoralen Stimme, die Icks als Kind ängstigte, hin zur Möglichkeit, selbst das Wort des Vaters (eben das »Nein«) in den Mund zu nehmen, gesprochen werden. Die Verschiebung gelingt, sobald Icks erwachsen und selbst Vater ist.

2.2

Lösung von den Wurzeln

Ein wichtiger Schritt der Rites de Passage ist die Loslösung aus den vertrauten Strukturen und die Abgrenzung vom Elternhaus. Es ist nicht allein der Weggang aus der Provinz in die Ferne, sondern auch die Absage von den Werten und Normen, die dem Heranwachsenden durch das Elternhaus vermittelt wurden, die als wichtige Faktoren der Übergangsriten gelten. Initiationsriten, wie sie im vorangegangenen Abschnitt behandelt wurden, sind ein Beispiel der Ablösungsphase. Das Ausprobieren und die Orientierungssuche sind Ausdruck der liminalen Phase, in der der Heranwachsende seine eigenen Normen, Werte und Lebensvorstellungen entwickelt und in Abgrenzung zu denen der Eltern stellt. In der Martin-Schlosser-Chronik werden diese Abgrenzungsmomente besonders deutlich, als sich Martin auch räumlich von seinem Elternhaus lösen und ausziehen kann. Innere Konflikte entstehen, weil sich Martin für eine Lebensführung entscheiden will, die im Gegensatz zu der seiner Eltern steht. Um ebendiese Konflikte nachvollziehen zu können, lohnt ein Blick auf Martins Wahrnehmung seiner Eltern und das Verhältnis zwischen ihnen. Auch im Roman »Icks« werden erste Momente der Ablösung thematisiert, die bereits im Kindesalter ihren Ursprung haben. Der Protagonist denkt über das Verhältnis zu seinen Eltern und seiner Heimatstadt nach, die beide einen großen Einfluss auf seine Identitätsentwicklung haben. Gründe für seine existenzielle Lebenskrise sieht er in den Verdrängungsstrategien seiner Elterngeneration.

37

Vgl. Lacan, Jacques (2013): Namen-des-Vaters, S. 63-102. »Das Objekt a ist das, was aus dem Subjekt in der Angst herausgefallen ist« (S. 68). Das Objekt a ist der Motor, der die drei psychischen Register – das Imaginäre, Symbolische und Reale – bedingt und das Begehren erklärt. Mit Namen des Vaters meint Lacan sowohl den »Père« als auch die Kirchenväter »Pères de l’Église« (S. 73), der als Objekt A klassifiziert wird.

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2.2.1

»Ich will nicht werden, was mein Alter ist«

Vater-Sohn-Verhältnis Schon als Zehnjähriger malt sich Martin Schlosser aus, was er anders als sein Vater machen würde, sobald er erwachsen sei. Er denkt darüber nach, als Richard Schlosser die Einfahrt vor der Garage mit einem Presslufthammer bearbeitet. Der autodiegetische Erzähler berichtet davon aus der Kinderperspektive, was die Beweggründe des Vaters absurd und Martins Sichtweise kindlich pragmatisch erscheinen lässt. »Ich wollte später lieber ein fertiges Haus kaufen als eines bauen. Es standen ja überall welche rum, und ich fand’s schon mürselig genug, immer die Carrerabahn aufzubauen und wieder ab« (Kir, 307). Auch für den Ernstfall, falls etwas am Haus kaputtginge, hat Martin eine Lösung parat: »[…] wenn an dem Haus was zu reparieren wäre, würde ich das Knechte machen lassen und selbst solange Federball spielen« (Kir, 308). Nach einigen Monaten im neuen Heim stellt Martin fest, dass er als Erwachsener gar kein Haus besitzen, sondern lieber in einer Wohnung leben wolle. Seine Eltern seien ständig mit der Arbeit am Haus oder im Garten beschäftigt, und das Leben seiner Tante Dagmar in Hannover scheint ihm erstrebenswerter zu sein (vgl. Kir, 406). Martin hinterfragt das Handeln seiner Eltern schon als Kind. Vor allem das Handeln seines Vaters, mit dem er sich als Junge freilich stärker identifizieren müsste, ist für ihn nicht nachvollziehbar. Das Vater-Sohn-Verhältnis wird als angespannt beschrieben. Martin kann sich seinen Vater nicht zum Vorbild für seinen eigenen Lebensentwurf nehmen. Als Kind beschreibt Martin seinen Vater als »normale[n] Erwachsene[n]« (Kir, 308), der abends die Tagesschau schaue und in jeder freien Minuten im Hobbykeller oder am Haus bastele. »Erwachsen war man, wenn man bei der Tagesschau Bier trank« (Kir, 451), so beginnt ein Absatz, der die Erinnerung an den ersten Schluck Bier beschreibt. Seine Mutter erlaubt Martin einen kleinen Schluck während der Nachrichten zu probieren. Sein Vater unterbindet dies: »Das sei ja wohl nicht erforderlich, daß hier schon die Säuglinge mit dem Biersaufen anfingen!« (Kir, 451). Martin ist beleidigt, weil ihn die Fremdzuschreibung trifft. Die Hyperbel »Säugling« nutzt der Vater, um darauf aufmerksam zu machen, dass Martin noch zu jung sei, um Alkohol zu trinken. Die Szene zeigt, dass Richard Schlosser die Entscheidungsgewalt in der Ehe innehat. Dass Martins Vater wenig Feingefühl und kein pädagogischen Geschick hat, wird an folgender Szene deutlich. Martin ist neun Jahre alt und hat bei einer Fahrradtour einen Reifen platt gefahren. Unter Aufsicht seines Vaters muss er selbstständig den Reifen flicken. Richard Schlosser beschimpft seinen Sohn dabei mit Zuschreibungen wie »Trampeltier«, »Tränentier«, »Pfeife«, »Kamel« oder »Armleuchter« (Kir, 242). Auch im Jugendalter wird Martin von seinem Vater beleidigt. So wird er als Sechzehnjähriger Weihnachten von seinem Vater angebrüllt, als eine

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der Tannenbaumkerzen beim Anzünden aus der Halterung fällt. »Paß doch auf, du dämlicher Hund!« (Lir, 253). Sind es nicht Beleidigungen seitens des Vaters, die unmittelbar auf Handlungen des Sohnes folgen, werden selbst Momente, in denen Martin den Vorstellungen und Wünschen seines Vaters entspricht, mit negativen Bemerkungen kleingeredet. Als sich Martin etwa auf Vorschlag seines Vaters bereiterklärt, seine Großtante Hanna zu besuchen, um ihre Lebensgeschichte auf Tonband aufzunehmen, entgegnet dieser nur: »Dann müßtest du erstmal lernen, wodurch sich bei deinem Rekorder die Aufnahmetaste von der Löschtaste unterscheidet!« (Lir, 204). Wie wichtig dem Vater die Speicherung seiner Familiengeschichten ist, wird ein paar Seiten später deutlich, als er Martin trotz Schule erlaubt, ins Allgäu zu Tante Hanna zu reisen. »Papa sagte, auf die eine Woche komme es nicht an« (Lir, 207). Von Tante Hanna, der Schwester von Martins Oma väterlicherseits, erfährt Martin dann, nachdem die offizielle Familiengeschichte auf Band aufgenommen ist, die »übelste der alten Familiengeschichten«. Richard habe als kleiner Junge irgendetwas ausgefressen, und sein Vater lief wütend hinter ihm her und rief, dass er ihn dieses Mal totschlagen werde. Richards hochschwangere Mutter warf sich schützend vor ihn und erlitt in diesem Moment eine Fehlgeburt. ›Dein Vater hat es nicht leicht gehabt‹, sagte Tante Hanna […]. ›Weder als Kind noch als Jüngling und schon gar nicht als Gefangener in Rußland. Und ich frage mich ja bisweilen, was er euch Kindern von dieser Zeit überhaupt erzählt hat …‹ […] ›das trägt dein Vater so mit sich herum, und er kann darüber nicht gut sprechen, aber ich glaube, daß er euch alle ganz fürchterlich liebhat. Nur, er kann es nicht so offen zeigen wie unsereiner […]‹ (Lir, 228). Auch wenn Martin die Geschichte nahe geht, denkt er sich: »Tante Hanna mochte ihn gut leiden, aber die war ja auch nicht sein Sohn« (Lir, 228). Diese Geschichte ist offenbar eine, die tabuisiert gehört und nicht in das Familiengedächtnis einfließen soll. So entscheidet es Großtante Hanna, weil sie über die Erlebnisse des Kindes Richard erst erzählt, als das Tonband schon nicht mehr aufnimmt. Einerseits möchte sie zwar, dass Martin die Geschichte kennt, in der Hoffnung er möge gegenüber seinem Vater nachsichtiger und verständnisvoller sein, andererseits will sie Richard, der sich die Aufnahmen sicherlich anhören wird, nicht mit der Erinnerung belasten. Die Szene zeigt, wie entscheidend das Familiengefüge und mit ihr die Sagbarkeitsregeln für die Konstituierung des Familiengedächtnisses sind. Es ist nicht allein das Verhältnis zu seinem Vater, das Martin davon abhält, eine enge Bindung zu seinem Vater aufzubauen, sondern auch die Art, wie er sich als Ehemann verhält. So geht er Auseinandersetzungen aus dem Weg, bleibt stundenlang im Keller. Als Renate und Olaf beschließen zu heiraten, überlegt Martin, ob es eine gute Idee seiner Schwester sei, einen Mann zu ehelichen. »An Renates Stelle wäre ich vorsichtiger gewesen. Aber andererseits … mit ihrem Olaf war Renate gut

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bedient, und der würde nicht auf die Idee kommen, sich nach dem ersten Ehekrach für immer in ein Kellerzimmer zurückzuziehen« (Lir, 241). Gründe, um sich in den Keller zurückzuziehen, gibt es in den Augen von Richard Schlosser viele. Beispielsweise als er die Telefonrechnung mit den Telefonaten nach Afrika zugestellt bekommt. Die Gespräche seien viel zu teuer gewesen, und er werde »diese Sabbelkiste abschaffen und verschrotten« (Jr, 197). Nach einem Streit mit seiner Frau, der so heftig ist, dass Ingeborg für ein paar Tage nach Jever zieht, verkriecht sich Richard gleich mehrere Tage in seine Kellerwerkstatt (Lir, 436). Wie man an den Textbeispielen erkennen kann, sind es vor allem Martins Jugendjahre, in denen ihn das Verhältnis zu seinem Vater umtreibt. Ursächlich dafür ist zum einen die Ablösungsphase, in der er sich befindet, zum anderen die Tatsache, dass er noch in Meppen bei seinen Eltern wohnt. Martin versucht durch ausgewählte Geschenke das Verhältnis zu seinem Vater zu kitten, so schenkt er ihm etwa Kafkas »Brief an den Vater«. »Vielleicht nützte das ja was« (Abr, 108), denkt er sich. Als sie sich gemeinschaftlich um ein Dohlenküken kümmern, das Richard auf den Namen Jacko tauft, ist die Vater-Sohn-Beziehung nicht mehr allein durch Zurechtweisungen und Befehle geprägt. Der Vater baut dem Vogel einen Käfig, in den er nachts kommt, und montiert kleine Schaukeln unterhalb des Terrassendachs, damit Jacko das Fliegen lernen kann. Es ist das erste Mal, dass Martin seinen Vater als fürsorglichen Menschen beschreibt. Martin kümmert sich um den Vogel, baut eine Bindung zu ihm auf und bringt ihm das Fliegen bei. »Es war schade, daß Papa das nicht sehen konnte, weil er dienstlich in Koblenz zu tun hatte« (Lir, 132), denkt sich Martin. Dass Martin sich wünscht, etwas gemeinsam mit seinem Vater zu erleben, ist eine Ausnahme. Als Jacko schließlich wegfliegt (Lir, 134), kehrt auch die Beziehung zwischen Vater und Sohn zur Ausgangsbasis zurück. Befehle wie »bring dein scheißverdammtes Fahrrad in den Keller!« (Lir, 199) spät am Abend werden wieder zur Routine. »Aber natürlich. Gern geschehen. Eine meiner leichtesten Übungen« (Lir, 199). Das Fahrrad, das Martin über Nacht im Keller lagern soll, damit es nicht gestohlen wird, war ein Geburtstagsgeschenk. Es steht für den Wohlstand, den das Ehepaar über die Jahre hart erarbeitet hat. Solche teuren Anschaffungen waren für die Familie lange Zeit undenkbar. Umso wichtiger ist es Richard, der auf eine entbehrungsreiche Karriere bei der Bundeswehr zurückblicken kann, dass seine Kinder diesen Wohlstand zu schätzen wissen. Martin nimmt diese Konflikte, die sein Vater in sich trägt, wahr. Zwar hat er erreicht, was er wollte – mit seinem Beruf eine sechsköpfige Familie ernähren zu können –, aber dennoch ist er unzufrieden mit seinem Leben und zieht sich mit den Jahren immer mehr zurück. Der Vater repräsentiert die Rolle des Patriarchen einer westdeutschen Mittelschichtfamilie in den Wirtschaftswunderjahren, dessen Leben durch Erwerbstätigkeit bei dem immer gleichen Arbeitgeber geprägt ist und der sich selbst als Ernährer der Familie begreift. Für Martin steht fest: »[…] ich wollte nicht werden, was

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mein Alter war: verbeamteter Ingenieur auf einer E-Stelle in Meppen, Heimwerker und Ehegatte einer kinderreichen Hausfrau« (Lir, 278). Zu dieser Überzeugung kommt er, als Hermann ihm den Song »Ich will nicht werden, was mein Alter ist« von der Band »Ton Steine Scherben« vorspielt. Doch auch sechs Jahre später, mit 23 Jahren, als er längst nicht mehr in Meppen bei seinen Eltern wohnt und studiert, beschäftigt ihn sein Vater. Dass er an seiner Sicht auf den Vater etwas ändern will, wird ihm während seiner Teilnahme an Bioenergetikseminaren bewusst. Zunächst nimmt er nur seiner Freundin Andrea zuliebe daran teil. In der Vorstellungsrunde sagt er: »Mein Name ist Martin, ich studiere Germanistik, und meine Absicht ist, hier heil wieder rauszukommen« (Kür, 24). In einem zweiten Seminar, das er wenige Monate später ohne Andrea besucht, fragt der Seminarleiter Martin, wer für ihn Moral personifiziere. Diese Antwort liegt für Martin auf der Hand: »Mein Vater« (Kür, 79). Der Leiter diagnostiziert, dass Martin zu »neunzig Prozent aus Moral« bestehe, also die Werte seines Vaters internalisiert hat. »Du willst immer anständig sein«, vermutet der Leiter. In einer Übung soll er sich dann auf den Boden legen und rufen: »Papa … warum hast du mich nicht lieb?« (Kür, 79). Obwohl er die Idee »beknackt« findet, zeigt sie ihre Wirkung: »Ich wurde förmlich weggeschwemmt von der Tränenflut.« Im nächsten Seminar ist Martin bewusst, was er sich von den Übungen erhofft, und stellt sich folglich mit seinem Namen und dem Zusatz »… und ich bin gekommen, weil ich nicht so werden will wie mein Vater«, vor (Kür, 83). Wie sein Vater denn sei, wollen die anderen Teilnehmer wissen. »Der ist ein Menschenfeind« (Kür, 83), entgegnet Martin. Er versucht nun bewusst eine Lebensführung zu wählen, die nicht der seines Vaters entspricht.

Loslösung vom Über-Ich Die Entscheidung, das Studium abzubrechen, fällt Martin nicht leichtfertig. Intertexte verdeutlichen das Dilemma, in dem er steckt. Auf der einen Seite will er seine Eltern – besonders seinen Vater – nicht enttäuschen, auf der anderen Seite will er sich selbst verwirklichen und seinen eigenen Lebensvorstellungen folgen. War es nicht würdelos, auf den Tod der eigenen Eltern zu warten, bevor man das tat, was man wollte? Als erwachsener Mann? Señor, señor, let’s disconnect these cables Overturn these tables This place don’t make sense to me no more … (Kür, 268). Das lyrische Ich des Intertextes »Señor (Tales of Yankee Power)«38 macht auf die Sinnlosigkeit des aktuellen Aufenthaltsortes aufmerksam und strebt deshalb eine

38

Dylan, Bob (1978): Señor (Tales of Yankee Power), in: Bob Dylan Lyrics 1962-2012, sämtliche Songtexte, Deutsch von Gisbert Haefs, Hamburg 2014, S. 744.

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Veränderung an. Auch Martin braucht eine räumliche Veränderung, um seine Ziele in die Tat umzusetzen. Die Institution Universität und das damit verbundene Studieren passen für Martin nicht mehr, ergo braucht er einen Ortswechsel. Auch bei Hölderlin wird Martin fündig und sieht sich in seiner Entscheidung bestärkt, als er folgende Verse aus der vierstrophigen Fassung des Gedichts »Lebenslauf«39 liest: Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, Daß er, kräftig genährt, danken für Alles lern, Und verstehe die Freiheit, Aufzubrechen, wohin er will (Kür, 268). Beide Intertexte sprechen von einer metaphysischen Macht, gegen welche das lyrische Ich in Dylans Liedtext aufbegehrt und die das Menschheits-Ich im HölderlinGedicht lernen muss zu verstehen. Der angesprochene »Señor« kann als ÜberIch interpretiert werden, welches die Werte und den Lebensentwurf von Richard Schlosser symbolisiert. Martin versucht, diese ihm oktroyierten Vorstellungen abzustreifen, die Fäden zu kappen und diesen vorgeformten Lebensweg über Bord zu werfen. Den entscheidenden Impuls findet er bei Hölderlin, denn hier holt er sich Kraft von einer transzendenten Instanz (»die Himmlischen«). Lebenswege sind nicht – so lässt sich die Quintessenz des Gedichts, angewandt auf Martins Situation, verstehen – geradlinig und vorgegeben. Die »Himmlischen« haben ihm stattdessen die Freiheit geschenkt, zu tun, was er will. Diese Freiheit steht im Gegensatz zur Situation in Dylans Lied, hier muss sich das lyrische Ich durchsetzen und behaupten, um seine Freiheit kämpfen. Beide Intertexte korrespondieren miteinander und symbolisieren den Entscheidungsprozess, den Martin durchläuft. Seine Gewissensbisse den Eltern gegenüber, wenn er nach acht Semestern das Studium abbricht, um einen unsicheren Berufsweg einzuschlagen, werden im ersten Intertext verdeutlicht. In einer Art Zwiegespräch zwischen Über-Ich und Ich appelliert der Wille zur eigenen Entscheidung an das den Normen verhaftete Über-Ich (Señor). Die Bestätigung findet Martin schließlich in den Versen Hölderlins, die die Freiheit des Menschen als Geschenk begreifen. Dass sein Elternhaus die Grundlage für seine Chance auf ein freies Schriftstellerleben ist, erkennt Martin an und ist dankbar dafür, wie die ersten zwei Verse der Strophe zeigen. Martin wünscht auch seinem Vater, dass er sich von seinen eigens angelegten Fesseln befreit. Der Intertext von »Break on Through« von »The Doors«40 macht dies deutlich.

39 40

Hölderlin, Friedrich (1992): Gedichte, S. 247. The Doors (1967): Break on Through (to the other Side), geschrieben und komponiert von John Densmore, Robby Krieger, Ray Manzerek und Jim Morrison.

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Papa war sein Leben lang vernünftig gewesen, und er hatte es auch weit damit gebracht, ganz unbestreitbar, aber wenn ich vor der Wahl gestanden hätte, als Richard Schlosser und als Jim Morrison wiedergeboren zu werden, hätte ich mich nicht für den in Meppen endenden Lebenslauf entschieden (Kür, 296). Abgesehen davon, dass es sich hier um eine Prolepse handelt, die dem Leser zu verstehen gibt, dass Richard Schlosser in Meppen sterben wird, zeigt das Zitat, verbunden mit dem Intertext »You know the day destroys the night/Night devides the day/ Break on through to the other side« (vgl. Kür, 296), dass Martin seine eigene Vorstellung vom Leben der seines Vaters gegenüberstellt. Die Dichotomie Tag und Nacht hat etwas Destruktives, gleichzeitig – so der Liedtext – würde der Tag ohne die Nacht nicht existieren. Ausbrüche aus Routinen und übernommenen Werten und Normen sind wichtig, um das Leben zu strukturieren, sonst wäre der Tag endlos und voller Pflichten. Der Tag steht für Pflichterfüllung, Angepasstheit, ein reguläres Leben, wie es Martins Vater führt. Die Nacht birgt das Geheimnisvolle, Mystische und Kreative – es ist kein Zufall, dass Martin den Hölderlin-Vers nachts liest und den weitreichenden Entschluss fasst, Schriftsteller zu werden. Der Intertext ist außerdem ein Hinweis auf die ersten Schriftstellerjahre des Protagonisten. Da sein Plan – zwei Monate Vollzeit zu arbeiten, um den Rest des Jahres schreiben zu können – nicht aufgeht, arbeitet er tagsüber und steht schon nachts um halb vier auf, um vor der Schicht zu schreiben. Mit der Pflichterfüllung am Tag und die Verwirklichung des Traums in der Nacht entgeht Martin den Vorverurteilungen seines Vaters, der Martins Vorhaben als »bodenloser Leichtsinn« (Kür, 289) abtut. Martin entscheidet sich auch deshalb für ein Schriftstellerleben in der Nacht und das eines Arbeiters am Tag, weil er endlich unabhängig von seinen Eltern sein will. Als Student ist er zwar räumlich von seinen Eltern getrennt, aber durch deren finanzielle Unterstützung ist er weiterhin an sie gebunden. Er befindet sich in einem Bildungsmoratorium, das ihn daran hindert, erwachsen zu werden. Die finanzielle Abhängigkeit von seinen Eltern zögert die Phase des Übergangs hinaus. Solange er kein eigenes Geld verdient, kann er die Rollenanforderungen eines Erwachsenen nicht erfüllen. Dass Martin die fehlende Unabhängigkeit stört, wird deutlich, als seine Mutter ihm neue Unterhosen kauft und er dieses Geschenk als Bevormundung auffasst: »Ich bin doch kein Mamasöhnchen, das sich noch im Erwachsenenalter die Unterwäsche hinterhertragen lassen muß!« (Br, 333). Aus Ingeborgs Perspektive hat das Geschenk freilich einen ganz anderen Hintergrund: Sie wollte ihm neue Unterhosen mitbringen, weil sie den Eindruck hatte, er bräuchte neue und er sei schließlich ihr Sohn und als Mutter würde man seine Kinder immer umsorgen. Auch als er um einen finanziellen Vorschuss bittet, und es darüber zum Streit kommt, weil seine Mutter ihn fragt, warum er sich das Geld nicht besser einteilen könne, stellt Martin fest, wie sehr ihn diese Abhängigkeit stört. »Finanzielle

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Unabhängigkeit: ein hehres Ziel. Solange ich von Mama und Papa subventioniert wurde, konnte ich mir noch nicht mal das Beleidigtsein leisten« (Br, 320).

Ausbruchsversuche der Mutter Es ist nicht allein Martin, der sich in Meppen nie heimisch fühlen wird, sondern auch seine Mutter Ingeborg. Und so sucht sie die gesamte erzählte Zeit hinweg nach Möglichkeiten, um dem Emsland zu entfliehen. Es sind Reisen, Besuche bei Verwandten und die Überlegung, nach Jever zu ziehen, die Ingeborg Schlosser eine Auszeit von Meppen versprechen. Ihrem Ehemann missfällt die Reiseleidenschaft, und es kommt zu Auseinandersetzungen zwischen dem Ehepaar. Für Richard steht fest: »Ich hab in ’ne Zigeunersippe reingeheiratet« (Jr, 162). Diese Aussage macht er, als seine Frau beschließt, auf dem Rückweg von einer Afrikareise noch eine Schulfreundin in Jever zu besuchen. Als sie ihre jüngste Tochter Wiebke nach Hannover zu Verwandten fährt, um anschließend ihre Schwester in Hildesheim zu besuchen, meint Richard zu seinem Sohn bloß lakonisch: »Im Grunde ihres Herzens ist Mama ’ne Zigeunerin« (Lir, 179). Damit bedient er das Stereotyp, Sinti und Roma seien qua ihrer Identität zu einem ortsungebundenen Leben gezwungen. Er glaubt, dass auch seine Frau nicht anders könne, ihr die Rastlosigkeit angeboren sei. In »Die Liebenden« erfahren die Rezipienten, dass die junge Abiturientin Ingeborg Lüttjens in den 1950er-Jahren als Au-pair in England und später in Paris gelebt hat. Fremde Länder und andere Kulturen interessierten sie immer schon. Später arbeitete sie als Fremdsprachensekretärin im NDR-Funkhaus Hannover, gab ihren Beruf aber auf, als Richard eine Festanstellung als Ingenieur bei der Bundeswehr in Koblenz bekam. Das Hausfrauendasein macht der vierfachen Mutter zu schaffen, und der Umzug ins nördlich gelegene Emsland stimmt sie zunächst hoffnungsvoll. Zu ihrer jüngsten Tochter sagt sie einmal, als das Haus in Vallendar endgültig verkauft ist: »Aber ich hab mich in Vallendar und Koblenz immer fremd gefühlt. Als Moorwarfener Mädel im Rheinland wohnen zu müssen, das ist schon ’ne Qual, kann ich euch sagen! […]« (Lir, 345). Der Grund ist primär die katholische Prägung dieses Teils Deutschlands. In Meppen sieht es allerdings nicht anders aus, wie sie alsbald feststellt.41 In der Darstellung der Mutter werden die patriarchal geprägten Machtstrukturen, die sich in der Stadtgeographie der fordistisch geprägten Vorortsiedlungen

41

So schreibt sie im September 1975 an ihre Schwester Therese: »Ich für meinen Teil bin froh, daß ich aus dem Rheinland raus bin. Es ist ja doch ein Aberglaube, daß die Leute da alle lebenslustig und nett sein sollen. […] Nun ist zwar Meppen auch ganz hübsch, aber genau so katholisch wie Vallendar […]« (Die Liebenden, S. 597).

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und Eigenheime widerspiegeln und verfestigen, als »Emanzipationshindernis«42 erkennbar. Als junge Frau lebte Ingeborg ein zur erzählten Zeit geradezu modernes Leben. Sie war berufstätig und lebte in einer Stadtwohnung in Hannover. Durch die Festanstellung ihres Ehemannes wurde Ingeborg letztlich in die traditionelle Rolle als Mutter und Hausfrau gedrängt, was den Umzug in die Peripherie und die damit einhergehenden normierten Praktiken zur Folge hat. Sie vereinsamt dort, hat keinerlei soziale Kontakte mehr. Dass sie sich in Meppen nicht heimisch fühlt, ist den Familienmitgliedern bewusst. Als »Opa Jever« stirbt, bleibt Martins Tante Dagmar noch einige Tage bei der Witwe, damit sich Oma nicht so »isoliert« fühle, so erklärt es Inge ihren Kindern: Danach sagte erst einmal keiner mehr was im Auto, und es war peinlich, daran zu denken, daß womöglich alle anderen daran dachten, wie winzig Mamas eigener Bekanntenkreis in Meppen war und daß Mama sich da viel isolierter vorkommen mußte als Oma in Jever. Isoliert, isolierter, am isoliertesten: Konnte man das überhaupt steigern? (Lir, 450f.). Einzig ihr weißer VW Polo verspricht kurzzeitige Ausbrüche aus der räumlichen und sozialen Enge. Als der verkauft wird, ist der Wagen in fünf Jahren 68492 Kilometer kreuz und quer durch die Republik gefahren. »Ungewöhnlich für ’ne Hausfrau« (Abr, 188), findet Martin. Aber im Grunde kann er es verstehen. Der Einzige, der kein Verständnis aufbringen kann, ist Richard. »Lange halte er diese ewige Unruhe nicht mehr aus, sagte Papa. Irgendwann müsse mal Schluß sein« (Lir, 209). In den Reaktionen von Vater und Sohn werden deren divergierende Rollenauffassungen erkennbar. Während Richard in den patriarchal geprägten Rollenvorstellungen – die Ehefrau kümmert sich um Heim und Kind, während der Ehemann das Geld verdient – verhaftet ist, registriert Martin das Verhalten seiner Mutter als subversiven Akt. Als Ingeborg von einer Reise zu einer ehemaligen Klassenkameradin, die nun in Venezuela lebt, zurück ist und ihrer Familie Bilder zeigt, fragt Richard sie, was sie dort in diesem »grauenhaften Ungezieferparadies« denn gewollt habe. Die Periphrase, die Richard für das südamerikanische Land verwendet, drückt sein tiefes

42

Susanne Frank zitiert diesen Ausdruck im Zusammenhang mit der feministischen Forschung der 1980er- und 1990er-Jahre. Deren Kritik an »monofunktionalen Großsiedlungen«, die Frauen an »den Rand der Stadt« verdränge, baute beispielsweise auf Untersuchungen auf, nach denen Frauen ein Drittel ihres Lebens in der »Arbeitsküche« verbrächten. Die zeitgenössische Forschung sprach von der peripheren Großraumsiedlung als einem Ort der »dreifachen Verbannung der Hausfrau.« Die »Einengung des Alltagslebens von Frauen« führe »zur Verfestigung geschlechtsspezifischer Rollenzuweisungen.« [Frank, Susanne (2010): Gentrifizierung und Suburbanisierung im Fokus der Urban Gender Studies, S. 30].

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Unverständnis gegenüber seiner Frau aus. Das Kompositum der zwei Substantive lässt sich als ein Oxymoron lesen, das aus dem Dysphemismus »Ungeziefer« und dem positiv besetzten Begriff »Paradies« gebildet ist. Für Menschen ist solch ein »Paradies« ein unbeliebter Ort, was Richard durch das Adjektiv »grauenhaft« betont. Die Verwendung des Begriffs »Paradies« bringt als Euphemismus zum Ausdruck, dass Venezuela schließlich keine Reise wert sei. Die Reaktionen der einzelnen Familienmitglieder sind unterschiedlich: »Volker und Renate kreischten darüber vor Lachen, und Mama verdrehte die Augen, so als ob es gar nicht nötig wäre, diese Frage zu beantworten. Denn was hatte Mama schon groß gewollt? Weggewollt, das hatte sie, aus Meppen, und nun saß sie wieder da« (Jr, 444). Den autodiegetischen Erzähler stimmt die Situation seiner Mutter traurig, schließlich führt es sie doch immer wieder zurück ins ungeliebte Meppen. Eine zweite Fluchtmöglichkeit besteht für Ingeborg darin, ihren Beruf wieder aufzunehmen. Im August 1978 arbeitet sie als Urlaubsvertretung in ihrem ehemaligen Beruf. Durch Kontakte ist sie an die Stelle als Chefsekretärin der Sendung »Kulturelles Wort« im NDR-Funkhaus gekommen. Für den neuen Job kauft sie neue Kleidung: »Im Kleiderschrank einer Nur-Hausfrau fehle eben so manches, was bei einer Sekretärin einfach dazugehöre« (Lir, 154). Martin besucht seine Mutter an ihrem temporären Arbeitsplatz. Der autodiegetische Erzähler gibt die erlebte Rede wieder: Ist doch drollig […], daß ich auf meine alten Tage nochmal einen interessanten Arbeitsplatz mit Aussicht auf den Maschsee hab, statt immer nur dreckige Wäsche zu waschen und Kartoffeln zu kochen! Und du glaubst ja gar nicht, wie viele Bekannte mir schon über den Weg gelaufen sind in der kurzen Zeit! Und wie die alle aussehen inzwischen! Rein zum Piepen! (Lir, 166). Die Hausfrau und Mutter scheint wie ausgewechselt. Die Rollenanforderungen kann sie endlich ablegen und sie fühlt sich unabhängig, kann ihr eigenes Geld verdienen, was sie letztlich mit der Umschreibung »ein eigenes Bein an den Grund kriegen« (Jr, 222) zum Ausdruck bringt. Die alte Rolle legt sie ab, so wie sie die alte Kleidung ablegt und gegen neue austauscht; damit einher geht auch der Ortswechsel von Meppen nach Hannover, der zugleich den zwischen der fordistisch geprägten Suburbia und der gentrifizierten, postfordistischen Stadtgestaltung darstellt.43 Ortsflucht und Rollenwechsel bedingen sich gegenseitig: Die Hausfrau der 43

Susanne Frank stellt die Suburbanisierung der der Gentrifizierung gegenüber. Beide Ausprägungen von Stadtentwicklung und Architekturplanung (re)produzieren und gestalten unterschiedliche Geschlechterrollenstereotype mit. Die Begriffe »Fordismus« und »Postfordismus« führt Frank als zwei Entwicklungsphasen des Kapitalismus ein. »Als ›fordistisch‹ gilt die Verknüpfung von standardisierter, normierter Massenproduktion und massenhaftem Konsum« sowie die Flankierung dessen durch den »Ausbau sozialer Sicherungssysteme« (Frank, S. 27). Kennzeichnend für diese Phase des Kapitalismus ist die »klassische Wohnsuburba-

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

Suburbia wird zur arbeitenden, temporär emanzipierten Frau in der Großstadt. Raum und Stadtarchitektur werden hier als entscheidende Prinzipien der Normierung und Diskursivierung von Geschlechterrollen sichtbar. Der Wunsch, Meppen zu entfliehen44 , wird umso größer, je aussichtsloser der Kampf gegen den Lymphdrüsenkrebs wird, der bei Martins Mutter 1983 diagnostiziert wird. Sie begibt sich regelmäßig zur Behandlung nach Köln, wo sie schließlich 1989 auch verstirbt. »In Köln will ich nicht sterben. Ich kann diese Stadt nicht ausstehen« (Arr, 387), sagt Ingeborg, als sie schon viel zu geschwächt für einen Krankentransport in der Kölner Universitätsklinik liegt. Die Stadt am Rhein mit dem katholischen Wahrzeichen schlechthin wird für die Protestantin zum Sterbeort. Es ist bittere Ironie, dass sie ausgerechnet in der Domstadt stirbt. Der letzte Besuch eines Geistlichen, der am Sterbebett stehend sagt, »[s]ie wird ein schöner Engel« (Arr, 392), wirkt auf Martin absolut deplatziert und passt nicht zum Glaubensverständnis der Sterbenden. »Hoffentlich hatte Mama das nicht gehört!«, kommentiert dies der autodiegetische Erzähler. Der Glaube an Engel ist besonders in der katholischen Lehre verbreitet und betont, wie unpassend der Sterbeort für Ingeborg Lüttjens doch ist. Auch Martin, der sich gemeinsam mit seinem Vater am Sterbebett abwechselt, kann die Stadt nicht leiden. »Guten Morgen in Köln«, an dieses Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann mußte ich denken. Taubenkot auf dem Balkon, Benzingeruch auf der Straße, die nächsten Abflüge sind verschoben worden … Die Kölner Taxifahrer waren für Brinkmann ein »schleimiges Pack« gewesen, »das mit kehligen Lauten am Hauptbahnhof rumlungert«, aber unser Fahrer gehörte nicht zu der Sorte. Bei dem lief eine Kassette der Comedian Harmonists, und er summte leise mit.

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nisierung«, welche »auf der Durchsetzung des typischen Lebensmodells der bürgerlichen Kleinfamilie mit vollerwerbstätigem männlichen Haushaltsvorstand einerseits und VollzeitHausfrau und Mutter andererseits« beruht (Frank, S. 29). Den »Postfordismus« begreift Frank als eine Weiterentwicklung, welche durch eine Auflösung der bestehenden Strukturen charakterisiert sei, »ohne dass eine stabile neue Vergesellschaftungsform bereits erkennbar wäre« (Frank, S. 31). Die Pluralität von Lebensweisen bezogen auf unterschiedliche Bereiche wie Arbeit und Privatleben, seien kennzeichnend für postfordistische Gesellschaften, welche sich im »stadträumliche[n] Entwicklungsprozess« der »Gentrifizierung« verräumlicht (Frank, S. 31 und 38ff). [Vgl. Frank, Susanne (2010): Gentrifizierung und Suburbanisierung im Fokus der Urban Gender Studies]. So reicht sie unaufgefordert Gedichte bei Verlagen ein, versucht eine Festanstellung zu bekommen und eine Wohnung in Hannover. Auch eine gemeinsame Weltreise unternimmt sie mit Richard.

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Ich mußt’ auch heute wandern Vorbei in tiefer Nacht … Als hätte er das eigens für uns ausgesucht (Arr, 394f.). Die Zeit in der Universitätsklinik und der langsame körperliche Zerfall der Mutter fallen mit dem Zusammenbruch der UdSSR zusammen. Doch weder Wiebke (Arr, 389) noch Richard (Arr, 390) interessiert die aktuelle politische Weltlage. Ein Arzt fragt Martin in der Raucherecke, ob die DDR noch existiere, durch den Beruf bekomme er soetwas nicht mit (Arr, 393). Die Reaktionen der verschiedenen Personengruppen, die im Krankenhaus verkehren, zeigen, wie dieser Ort Informationen über Tagespolitik filtert. Die Nachrichten kommen von außen, die SchlosserKinder erfahren Neuigkeiten über das Radio im Taxi auf ihren Fahrten zur Klinik. Martin informiert sich über die Zeitung. Die Ärzte, die im Krankenhaus beschäftigt sind und seltener das Gebäude verlassen, erlangen Information von außen offenbar vor allem über die Besucher, die so zu Vermittlern zwischen Außen- und Innenwelt werden. Martin sinniert mit Blick auf das nächtliche Köln über das Leben seiner Mutter. Ihm ist zu dieser Zeit schon bewusst, dass sie im Sterben liegt: »Von Jever über Hannover und Koblenz und Meppen nach Köln. Das Ende einer kummervollen, viel zu kurzen Lebensreise. Mit ein paar Trips nach London, Paris, Almería, Windhuk, Bangkog, Washington und San Francisco, aber die Musik hatte immer woanders gespielt« (Arr, 391). Er fragt sich, wie ihr Leben hätte verlaufen können, wenn sie nicht Richard geheiratet und stattdessen Karriere beim NDR gemacht hätte oder in Jever, in der Nähe der Familie und Freunde, wohnen geblieben wäre. »Und was hätte sie unter günstigeren biographischen Bedingungen alles miterleben können! Die Beatles im Hamburger Star-Club, das dritte Tor im Wembley-Stadion, Janis Joplins Auftritt beim Popfestival in Monterey, […]« (Arr, 391). Der Lebensweg seiner Mutter sparte diese Orte und Ereignisse aus; die Zitate lesen sich als eine oppositionelle Gegenüberstellung von der realen Biographie der Mutter und der Wunschbiographie, die sich ihr Sohn für sie ausmalt. Als er nach dem Tod seiner Mutter mit dem Zug aus Köln abreist, will sich Martin noch das »Neue Deutschland« kaufen. Doch die ostdeutsche Zeitung findet er nirgendwo. Für den allmählichen Zusammenbruch der DDR »schien sich in Köln niemand zu interessieren« (Arr, 400), konstatiert Martin. Genausowenig wie sich irgendwer für den Tod seiner Mutter und seine aktuelle Verfassung interessiere. »I’m out here a thousand miles from my home…«45 (Arr, 400), heißt es im passenden Intertext dazu. Er befindet sich außerhalb seines Zuhauses, das im Norden Deutschlands liegt. Für seine Mutter gilt das Gleiche; sie ist »a thousand miles from home«

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Dylan, Bob (1962): Song to Woody, in: Bob Dylan Lyrics 1962-2012, sämtliche Songtexte, Deutsch von Gisbert Haefs, Hamburg 2014, S. 16.

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gestorben, in einer Stadt, die qua ihrer katholisch geprägten Konfession und den Beschreibungen im Text zu einem Ort außerhalb der alltäglichen Welt der Protagonisten bzw. der Familie Schlosser wird. Die Szenen spielen im Krankenhaus und/oder des Nachts im Straßengewirr der Stadt. Mehr nimmt Martin während der Sterbezeit seiner Mutter nicht von der Stadt wahr. Es ist eine Ausnahmesituation, die in der Peripherie stattfindet. Im Zug trinkt er Korn aus der Flasche und wird von einem Pärchen wie ein Asozialer gemustert, wie er feststellt. »Doch was wußten sie schon. My mummy’s dead/I can’t explain/So much pain …« (Arr, 400).46 Zurück in Norddeutschland, im Kreise seiner Familie, suchen die Verwandten Erinnerungsorte auf, die mit dem Leben Ingeborgs verknüpft sind. So holt Martin seine Tante Dagmar vom Bahnhof ab, in dem Ingeborg auf die Welt gekommen ist (vgl. Arr, 403), und er besucht mit seinen Nichten und Neffen das Holzkarussell im Schlossgarten, auf dem nicht nur er, sondern schon seine Mutter als Kind gefahren ist (vgl. Arr, 417). Die privaten Erinnerungsorte werden nicht gezielt aufgesucht, um Ingeborgs zu gedenken. Stattdessen erhalten die Orte aufgrund des Todes von Ingeborg eine neue Qualität, die im Text immer wieder durchscheint, wenn Martin die Erlebnisse seiner Mutter mit dem jeweiligen Ort in Beziehung setzt. Den Orten ist diese Erinnerung eingeschrieben und im Familiengedächtnis der Familie Lüttjens/Schlosser gespeichert. Zwei Tage vor der Beerdigung fällt die Mauer: Ein Ereignis, das die zusammengekommene Familie vor dem Fernseher verfolgt. Einfluss hat das geschichtsträchtige Ereignis zunächst nicht, obwohl Niedersachsen unmittelbar an Ostdeutschland angrenzt. Lediglich die »sonderbaren Formfleischfrisuren« und »Oberlippenbärte« fallen Martin negativ auf und werden als fremdartig wahrgenommen, »als ob sie [die DDR-Bürger] sich um eine Nebenrolle in einer Parodie auf die TV-Serie Miami Vice bewerben wollten« (Arr, 410). Erst später bemerkt Martin, dass seit dem Fall der Mauer immer häufiger ostdeutsche Neonazis in Jever, vor allem im »Na Nu«, auftauchten (vgl. Arr, 427, 448). Für ihn ist das der »Abschaum« (Arr, 427) der DDR, der sich im »Na Nu« naturgemäß ablagere. Es fallen mit dem Tod der Mutter und dem Zusammenbruch der DDR zwei Ereignisse zusammen, die auf unterschiedlichen Ebenen das Leben des autodiegetischen Erzählers verändern. Der private Schicksalsschlag wirkt sich auf das familiäre Gefüge aus; sein Vater ist nun Witwer und verfällt in tiefe Depressionen und seine Alkoholsucht. Seine Kinder beschimpft er als Versager und er kapselt sich mehr denn je von seiner Familie ab. Das historische Ereignis betrachtet Martin zunächst allein aus der Beobachterperspektive, indem er Nachrichten zum Thema studiert. Erst als er 1991 wieder nach Berlin zieht, werden auch für ihn die Veränderungen, die die Wiedervereinigung mit sich bringt, deutlich. Die Wohnungs46

Lennon, John (1970): My Mummy’s dead, auf dem Album John Lennon/Plastic Ono Band, Apple Records 1970.

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knappheit (vgl. Er, 465) und der sich anbahnende Bauboom in Berlin zeichnen sich schon zu jener Zeit ab. War es zu Studienzeiten für Martin noch ein Leichtes, eine Unterkunft in der geteilten Stadt zu finden, ist es in der zukünftigen Hauptstadt beinahe aussichtslos, ein bezahlbares Zimmer, geschweige denn eine Wohnung zu finden. Kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag kann er – nach einigen Fehlgriffen – endlich ein Zimmer in einer Großraum-WG beziehen, deren »Gewerbemietvertrag« aber in drei Jahren auslaufe (Er, 472). Der alltägliche Baulärm, den Martin bis in seine eigenen vier Wände vernehmen kann, zeugt von den baulichen Veränderungen, die in Berlin vor sich gehen. Ereignisse, die sich ins individuelle Gedächtnis einschreiben, und solche, die das nationale Gedächtnis prägen, werden in der Martin-Schlosser-Chronik verflochten. Am Beispiel vom Tod der Mutter und dem Fall der Mauer zeigen sich die Auswirkungen, die die Ereignisse auf die Protagonisten haben. Für Oma Jever beispielsweise wiegt der persönliche Verlust ihrer Tochter schwerer als das historische Ereignis. »In Omas friedlichem und stillem Leben hatte sich durch die Implosion der DDR nichts geändert« (Arr, 434). Und auch die Masse an Freunden, Bekannten und Familienmitgliedern, die zur Beerdigung kommt, ist ein Indiz für die Relevanz des persönlichen Verlusts. »Verrückt! So oft hatte Mama einsam vor der Glotze gesessen, und hier waren so viele Menschen zusammengekommen, die um sie trauerten!« (Arr, 413).

2.2.2

»Meine Jugend, jetzt wirklich, war bloß ein Verhör«

Kindheit und Jugend sind für Icks keineswegs durch positive Erinnerungen geprägt. Das Grundgefühl, das »störte, brutal störte, das heißt zerstörte« (Is, 13), hängt mit Icks’ Verhältnis zu seinen Eltern zusammen. Das Gefühl nimmt Icks auch dann an ihnen wahr, wenn sie ihn in Berlin besuchen, sie also unabhängig von der Stadt Bielefeld in Kontakt zu ihrem Sohn treten (Is, 30f.). Schon als Kind wurde Icks sein Gerechtigkeitsempfinden zum Vorwurf gemacht – von seinem Lehrer sowie von seiner Mutter. Wenn Icks Situationen als ungerecht erschienen, wie etwa ein Foul beim Fußballspiel, habe er emotional reagiert, abwechselnd mit Wutausbrüchen, einem ganzen Wortschwall an Argumenten oder mit Tränen, so erinnert er sich. Zuhause manifestierte sich in der Pubertät schnell folgendes Handlungsmuster: Wenn Icks mit einer Entscheidung nicht einverstanden war, haute er auf den Tisch und rief dabei: »es kotzt mich an« (Is, 16). Sein Vater entwickelte eine Gegenstrategie, damit es gar nicht erst zum finalen Ritual kam. Es sei pubertär, wie Icks sich verhalte, und jetzt schlage er bestimmt gleich wieder auf den Tisch, sind Sätze, die sein Vater nutzte, um die Reaktion seines Sohnes im Keim zu ersticken. Icks interpretiert die Strategie seines Vater als Ausdruck seiner Angst, Gefühle zuzulassen, was seine eigenen Emotionen weiter aufwertet (Is, 18). Die Unfähigkeit seiner

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Eltern, zu trauern (Is, 151), ja der gesamten Elterngeneration, die den »Gefühlsmüll« nicht zugelassen hätten (Is, 34), so stellt Icks im Laufe seines Monologs fest, sei einer der Gründe, warum ihm das Gerechtigkeitsempfinden zum Vorwurf gemacht worden sei und er immer schon an der Wahrheit »litt« (Is, 20). Die attestierte »Unfähigkeit zur Trauer« (Is, 151) rekurriert auf das bekannte psychoanalytische Essay von Margarete und Alexander Mitscherlich, welches von der Verdrängung der Zeit des Nationalsozialismus seitens der deutschen Bevölkerung handelt. Die Autoren stellen zu Beginn ihres Essays folgende These auf: Es wird der psychologische Nachweis versucht, warum bis heute die Epoche des Dritten Reiches – und schon zuvor der Zusammenbruch der Weimarer Republik durch demokratiefeindliches Verhalten ihrer Bürger – nur unzulänglich kritisch durchdrungen wurde. Das trifft natürlich nicht auf das Wissen einiger Fachleute zu, sondern auf die mangelhafte Verbreitung dieses Wissens im politischen Bewußtsein unserer Öffentlichkeit. Wir – als ein Kollektiv – verstehen uns in diesem Abschnitt unserer Geschichte nicht. So wir überhaupt darauf zurückkommen, verlieren wir uns vornehmlich in Ausflüchten und zeigen eine trügerische Naivität; de facto ist unser Verhalten von unbewußt wirksam gewordenen Verleugnungen bestimmt. Infolgedessen ist unser Selbstvertrauen unsicherer, als es sein könnte.47 Diesen Mangel an Selbstvertrauen nimmt auch Icks an seinen Eltern wahr, und deren Ausflüchte und Verleugnungen bezeichnet er als einen Wald voller Kreuze, den seine Familie ausmache (Is, 106). So wird nicht nur seine Arbeitslosigkeit gegenüber den Nachbarn verheimlicht, da sie als Niederlage und Schwäche gewertet werden kann, sondern auch die Familiengeschichte wird selektiv tradiert. Diese Verweigerung der Eltern, die Icks als bewusstes Lügen wahrnimmt, hat weitreichende Auswirkungen auf seine individuelle Erinnerung. So wie seine Mutter immer nur ein und dieselbe Geschichte vom weggebombten Elternhaus erzählt (Is, 103) und damit alle anderen Erlebnisse und Verstrickungen der Familie während der NS-Zeit ausspart und verdrängt, selektiert auch Icks Inhalte des kollektiven Gedächtnisses über die NS-Zeit, die er im Geschichtsunterricht freilich erlernt hat (Is, 61). Er kennt weder Details zur Stadtgeschichte Bielefelds, noch weiß er auf Anhieb, wo Auschwitz liegt. »Ich habe letztens im Lexikon nachgekuckt, wo Auschwitz liegt! Ja. Nachkucken mußte ich. […] jedenfalls habe ich […] nicht mal gewußt, daß es in Polen ist« (Is, 63). Das erste Mal begehrt Icks mit Mitte Zwanzig unbewusst gegen dieses »Grundgefühl« auf, als er mit seiner damaligen Freundin durch die Bielefelder Innenstadt fährt. Mitten auf der Kreuzung »mit zig Richtungs-, Vorfahrts- und Halteverbotsschildern und maximal möglicher Anzahl an Ampeln« (Is, 56) hält er an und macht 47

Mitscherlich, Alexander und Margarete (1967): Die Unfähigkeit zu trauern, S. 8f.

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ein theatralisches Geständnis: »Ich kann diese ewigen Erinnerungen in dieser ewig gleichen Stadt unter diesem ewig regnenden Himmel nicht mehr ertragen!« (Is, 57). Die Beschreibung der Verkehrskreuzung und der Stadt mit ihren »gesichtslose[n] Fassaden«, die die »vollkommen deutsche Bemühtheit« repräsentiert und als in Stein gemeißeltes Synonym des Wiederaufbaus und der Wirtschaftswunderjahre steht, ist zusammengenommen die Graphie der verschütteten Erinnerungen und der Verleugnung der NS-Zeit. Die regulierenden Verkehrsschilder und Ampeln symbolisieren die Sagbarkeitsregeln und Tabuisierung in Bezug auf den NS. Dass Icks ausgerechnet inmitten der Kreuzung stoppt und so die Regeln ignoriert und bewusst überschreitet, ist Ausdruck seiner (noch) unbewussten Wut auf seine Elterngeneration. So meint er angesichts der Stadt: »Spielzeugland halt, für große Kinder, die eben niemals erwachsen werden wollen, beziehungsweise: Westdeutschland, um mal so plakativ zu sein, diese ewige angebliche Unbedarftheit. […] Jedesmal kommt es mir derart hoch« (Is, 56). Einige Sätze zuvor attestiert er seinem Vater aufgrund seiner Emotionslosigkeit, niemals erwachsen werden zu wollen (Is, 20). Das Nachkriegsdeutschland ist schließlich von der Generation seiner Eltern aufgebaut worden und somit deren topographisches Abbild von Verdrängung und Leugnung. Doch bevor ich im letzten Analyseabschnitt (4.3) meine Lesart des kompletten Romans darlege, möchte ich diesen Abschnitt auf Icks’ Äußerungen über seine Kindheit und Jugend in Bielefeld beschränken. Ein Leitmotiv, das mit der Verlogenheit in Beziehung steht, welche er seinen Eltern vorwirft, ist das von ihm wahrgenommene »Gemurmel« von Lehrern, Eltern und anderen in seinem sozialen Umfeld. »Gemurmelt« wurde beispielsweise über einen angeblichen Nazi-Lehrer, der nach dem Krieg in Kairo untergetaucht sei und nun als Beamter unkündbar weiter unterrichte an der Schule, die Icks als Jugendlicher besucht. Wenn »das zur Sprache kam […] winkte man ab »so daß ich nichts Genaues weiß« (Is, 51). So besteht das Aufwachsen von Icks aus einem »Dickicht von Widersprüchen« (Is, 76), das letztlich sein Denken beherrscht und ihm seine Unordnungsstruktur vorgibt. Die Verleugnungstaktik seiner Eltern hat Auswirkungen auf Icks’ Entwicklung. Angefangen habe das mit dem Eintritt in die Pubertät, so erinnert sich Icks. Das Kinderzimmer war »prompt fremd«, als er sich mit »ungefähr zwölf« das erste Mal verliebte (Is, 45ff). In seiner Erinnerungen fallen diese ersten Gefühlsregungen mit dem Frühling und »Vogelgezwitscher« zusammen. Da erst hätten das Denken und die Aufzeichnung der eigenen Lebensgeschichte angefangen, glaubt Icks aus der Retrospektive betrachtet. Tagelang war ich wahrscheinlich damit beschäftigt gewesen, wirklich, und war gespannt jeden Morgen, auf die Fahrt mit dem Schulbus schon, wo sie ein paar Stationen nach mir einstieg. Und ich weiß auch noch, daß ich mich wunderte, wie ich davor die Tage wohl verbracht hatte, das heißt verbracht haben könnte, ohne diese Spannung, daß es doch furchtbar öde gewesen sein muß und so weiter,

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wenn ich nachmittags allein in meinem Zimmer war, das ja noch mein Kinderzimmer war […]. (Is, 47). Er führt fortan eine Zwitterexistenz: Zuhause bleibt er »das zwölfjährige Kind«, im Schulbus ist er der flirtende Junge (Is, 47). Seine erwachende Sexualität bemerken seine Eltern nicht, für sie bleibt er das geschlechts- und trieblose Kind. Die Entdeckung der eigenen Sexualität ist der Entwicklungsschritt hinaus aus der unschuldigen und auch unwissenden Kindheit. Der jugendliche Icks nimmt sein Umfeld mit anderen Augen wahr, hinterfragt die Handlungen seiner Mitmenschen. Icks wird mit seinem Hang zur Wahrheit unbequem für seine Eltern und Lehrer. So nimmt es nicht wunder, dass Icks den Moment des ersten Verliebtseins mit dem Tag zusammenführt, als ihm seine Mutter sein Gerechtigkeitsempfinden zum Vorwurf macht. Im Text heißt es dazu: »und spätestens da ging die Lampe zu meinem kurzen, grellen Moment an« (Is, 48). Die Lampe ist als Metapher zu verstehen, die wie bei einem Verhör nur das Gesicht des Angeklagten in den Lichtkegel stellt.48 In solch einer Verhörsituation ist der Charakter von Icks von dem Vorwurfsmoment an gestellt. Ab hier beginnt sich Icks zu erinnern, das ist offenbar das Initiationsmoment, daran »kotzt« er herum (Is, 103). Seine Mutter nimmt er als »reinster Vorwurf« wahr (Is, 49), als sie vom Lehrergespräch heimkehrt, wo der Lehrer dem Sohn ein »ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden« bescheinigt hat. Seine Jugend sei eigentlich ein einziges Verhör gewesen (Is, 152) »und mit dem einzig möglichen Ziel des Verhörs: daß der Angeklagte die Vorwürfe am Ende selbst glaubt« (Is, 153). Eine eigentlich positive Eigenschaft wird von dem sozialen Umfeld des Jungen als Makel verachtet, ist unerwünscht. Icks adaptiert diese Interpretation seines Charakterzugs und glaubt, er sei »aus tiefster Seele: ICH«, »von Grund auf falsch« (Is, 49). Und so ist der titelgebende Name »Icks« auch eine misslungene Vorstellung zur Identitätsvorstellung des eigenen Ichs. Eine verkrüppelte Identität, die im Namen ihren Ausdruck findet. Da es sich dabei um den Familiennamen handelt, tragen auch seine Eltern diesen Nachnamen. Sie haben nicht bloß den Namen vererbt, sondern auch die erlittenen Traumata – die Mitscherlichs betrachten vor allem den plötzlichen Verlust der Führerfigur Hitler für die deutsche Bevölkerung als traumatisierend und glauben, dass das Kollektiv diesen Verlust hätte verarbeiten und trauern müssen, um gestärkt und geheilt aus der Situation hervorzugehen. Icks wurde das »Dickicht« oktroyiert, und von jeher widersetzte er sich dieser Zwangsmaßnahme. Dass die Mitglieder seiner Generation »dem Genuß jeglicher Art so

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»Nee, nicht nur die paar Erinnerungen waren so wie das Verhör im Mafiafilm, wie das grelle Licht, das plötzlich von einem Punkt aus dem Dunkel das Kindergesicht ins gleißende Weiß reißt, meine Jugend, jetzt wirklich, war bloß ein Verhör, und mit dem einzig möglichen Ziel des Verhörs: daß der Angeklagte die Vorwürfe am Ende selbst glaubt« (Is, 152f.).

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abgeneigt werden, wie wir es jetzt sind« (Is, 103), betrachtet Icks als eine unmittelbare Konsequenz aus den Erziehungsmaßnahmen der Elterngeneration. Seine Kindheitserfahrungen und Verhaltensmuster überträgt er auf das Kollektive »Wir« seiner Generation. Seine Mutter habe neben der einen Geschichte vom zerbombten Haus die aus der Nachkriegszeit erzählt, als sie ihren Mann bat, ein Viertel Butter mitzubringen, weil sie sich mehr nicht leisten konnten. Es sind solche und ähnliche tradierte Familiengeschichten, die durch ihre wiederholende Erzählung eine Mythologisierung erfahren. Die nicht überwundenen Traumata der Kriegsgeneration werden so an deren Kinder weitergegeben und intergenerationell vererbt.49 Das »Dickicht« besteht aber nicht allein aus dem Verschweigen der familiären Verstrickungen in den NS-Apparat, sondern auch in vordergründig profanen Talenten verstorbener Familienangehöriger. So glaubt Icks seinem Vater, als der sagt, dass die Familie immer schon unmusikalisch gewesen sei. Das Credo »Wir sind nicht musikalisch« ist deshalb auch eine erste und entfernteste Erinnerung Icks’. Sein Großvater erzählt ihm stattdessen, dass es sogar einen Berufsmusiker in der Familie gegeben habe, mit Namen Jurek und Mitglied der NSDAP (vgl. Is, 115). Icks unterdrückt seine Euphorie für Musik, wenn auch mit großem Widerwillen. Als 14-Jähriger sieht er einen Live-Auftritt von Jimi Hendrix im Fernsehen und ist fasziniert; dort sei ihm das Leben begegnet, sagt er zu seinem Sitznachbarn. Jimi Hendrix wird in dieser Szene zur Verkörperung des Dionysischen, er ist pure Musik und Ekstase. Gleichzeitig ist der Gitarrist Repräsentant und Idol der HippieBewegung, der weltweit einflussreichen Jugendkultur, die Icks nur im TV verfolgen kann, weil er als 1963 Geborener zu jung ist, um als Mitglied der Kultur gelten zu können. Die Reaktion seines Vaters »zerstört« die aufflammende Leidenschaft jäh; der könne nicht ganz richtig sein, meint er im Vorbeigehen über den Gitarristen (vgl. Is, 119). Das Dionysische, das produktiv-kreative Potenzial, das in dem Jugendlichen schlummert, wird durch die apollinischen Wertvorstellungen, die die Eltern verkörpern, nie zur Entfaltung gebracht. Der Wunsch nach Musik sei – so erinnert sich Icks – schon im Keim erstickt worden. Ich sagte dementsprechend gar nichts dazu und vergaß es halt, wie gesagt, wie eine dunkle Ahnung, die immer schlimmer und bedrohlicher wird, je mehr man sie vergessen will, setzte das Kreuz also wieder, und das war das Verbrechen und

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Vertiefende Einblicke in die aktuelle historische Traumaforschung und Forschungstendenzen zur transgenerationellen Weitergabe von Traumata finden sich im Sammelband »Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung und Wirkung eines Paradigmas«, insbesondere die Aufsätze von David Becker (Erlernt und verdrängt – Traumatheorien und -praktiken im »Zeitalter der Extreme«, S. 242– 269) und Carol A. Kidron (Verkörperte Präsenz statt Psychopathologie – Eine Dekonstruktion der transgenerationellen Weitergabe des Überlebenden-Syndroms. Aus dem Englischen von David Ajchenrand, S. 161-184).

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eines, das keinen Täter hatte, wenn man es unbedingt so hindrehen will […]. (Is, 120). Das imaginär gesetzte Kreuz ist eine von seinen Eltern übernommene Praktik, ein Verdrängungsmechanismus, der das Dickicht im Kopf des Protagonisten erschafft. Ein Blick auf die zeithistorische Forschung der NS-Vergangenheit in Bielefeld zeigt, dass auch hier am 9. November 1938 die Synagoge brannte und ab 1941 vom dortigen Bahnhof aus Juden und politische Gefangene in Konzentrationslager gebracht wurden.50 Am 13.12.1941 wurden 400 Juden von Bielefeld nach Riga deportiert; von ihnen überlebten nur 47 Menschen, sechs von ihnen aus Bielefeld. Zu Kriegsbeginn 1939 war Bielefeld eine mittelgroße Industriestadt mit etwa 125.000 Einwohnern und rund 500 Industrieanlagen, vor allem aus dem metallverarbeitenden Gewerbe, Textil- und Nahrungsmittelindustrie. Am 30.9.1944 erlebte die Bevölkerung einen schweren Luftangriff, bei dem 649 Menschen ihr Leben verloren.51 All dies hat Icks vermutlich einmal im Leistungskurs Geschichte gelernt, er könne sich aber nicht mehr erinnern (Is, 61), was als Symptom der intergenerationellen Weitergabe der unverarbeiteten Traumata gewertet werden kann. In diesem Zusammenhang fällt dem monologisierenden Icks auch das »Gemurmel« um die »Integrität« des Sponsors der Kunsthalle ein, der »die Halle einem waschechten ehemaligen Parteisoldaten widmete« (Is, 60). Diese historische Begebenheit bezieht sich auf die 1968 gebaute Bielefelder Kunsthalle, die mit der finanziellen Unterstützung des Bielefelder Großunternehmens Dr. Oetker realisiert wurde. Der damalige Firmenchef Rudolf-August Oetker wollte das Bauwerk nach seinem verstorbenen Stiefvater Richard Kaselowsky benennen lassen. Es kam zu Protesten, nicht zuletzt seitens der Bielefelder Studenten. Der Grund: Richard Kaselowsky gehörte als Unternehmenschef von Dr. Oetker zur NS-Zeit zum engen Bekanntenkreis Heinrich Himmlers und war Mitglied von dessen »Freundeskreis Reichsführer SS« sowie

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»Stießen Maßnahmen gegen die Juden allgemein auf Zustimmung und auch die Zerstörung der Synagoge kaum auf offenen Widerspruch, so musste die Staatspolizeistelle Bielefeld den Unmut der Bevölkerung angesichts der Vernichtung von Sachwerten feststellen […]. Hier schwang kein empörtes Mitempfinden für das Schicksal der betroffenen Juden mit, sondern allein ein ökonomisch bestimmtes Kalkül. […] Der ersten Deportation von Bielefelder Juden am 13. Dezember 1941 nach Riga folgten acht weitere u.a. nach Auschwitz, Warschau und Theresienstadt. Von insgesamt über 460 deportierten Jüdinnen und Juden aus Bielefeld überlebten nur wenig mehr als 60 die Shoah. Nach 1945 wäre eigentlich eine schonungslose juristische Aufarbeitung der Pogrome in Bielefeld zu erwarten gewesen, doch – wie auch bei der Entnazifizierung – gaben sich die entsprechenden Stellen nachsichtig.« Rath, Jochen: 9. November 1938: Die Pogromnacht in Bielefeld, online: https://www.bielefeld.de/de/biju/stad tar/rc/rar/01112008.html#090 [Stand: 21.11.2018]. Weitere Details im Aufsatz von Kwiecinski, Wojciech: Lebens- und Arbeitsbedingungen polnischer Zwangsarbeiter in Deutschland am Beispiel der Bielefelder Region, in: Ost-westlicher Dialog, Dialog Wschodu i Zachodu, Saarbrücken 2017, S. 69-94.

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der NSDAP, sein Betrieb wurde ferner als Musterbetrieb ausgezeichnet. Außerdem übergab er die Tageszeitung »Neue Westfälische Nachrichten« der NSDAP und inszenierte sich selbst als Hitlerverehrer, indem er beispielsweise die Oetkerhalle an der Außenfassade mit einem Portrait Hitlers ausstatten ließ. Rudolf-August Oetker war seit den 1930er-Jahren Mitglied der Reiter-SA und der Waffen-SS. Erst achtundsechzig Jahre nach Kriegsende entschied die Enkelgeneration der Oetkers, das Unternehmensarchiv zu öffnen und eine Aufarbeitung der Geschichte in Auftrag zu geben, die unter Leitung der Historiker Jürgen Finger, Sven Keller und Andreas Wirsching erfolgte.52 Die Kunsthalle indes hieß von der stillen Eröffnung bis 1998 RichardKaselowsky-Haus. Als der Name nach Stadtratsbeschluss abgelegt wurde und die Kunsthalle nur noch Kunsthalle Bielefeld heißen sollte, ließ der sich brüskiert fühlende ehemalige Firmenpatriarch Rudolf-August Oetker die Kunstleihgaben der Familie mit einem Lkw abholen. Sein Sohn August Oetker sprach in einem Interview mit der »Zeit«53 von einem Gefühl der Illoyalität, das sein Vater zu Lebzeiten nie überwunden habe. Zur Erzählzeit des Romans trägt die Kunsthalle Bielefeld noch den Namen des ehemaligen Dr.-Oetker-Firmenchefs. »Diese Diskussion«, so schildert es Icks, »die ohnehin auch nur gemurmelt war, bestenfalls, starb gleich wieder ab, warum auch immer […]. Alles wie gehabt also« (Is, 60). Die im Volksmund genannte »Dr.-Oetker-Stadt« (Is, 60) ist somit mehr als bloß der Verweis auf eine durch die Nahrungsmittelindustrie und das Familienunternehmen geprägte Region, sondern, so die Lesart des Romans, das Synonym für Opportunismus während der Nazi-Herrschaft und dessen Verschleierung in der Nachkriegszeit und darüber hinaus. Die Unternehmerfamilie selbst steht für die verpasste Aufarbeitung der Verstrickungen in den Nationalsozialismus und die Fortführung und den Ausbau des eigenen Prestige während der Wirtschaftswunderjahre, ohne je Rechenschaft ablegen und Verantwortung übernehmen zu müssen. Die Nachkriegsarchitektur findet ihre Entsprechung in der Praxis des KreuzeSetzens und Verschweigens. Deren Ursprung identifiziert Icks für sich im Leben seiner Eltern: »[…] das eigentliche Kreuz steht in ihrem Garten […]« (Is, 103). An

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Vgl. Schanetzky, Tim: Rezension zu: Finger, Jürgen; Keller, Sven; Wirsching, Andreas: Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933-1945. München 2013, in: H-Soz-Kult, 21.02.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuec her-20468 [Stand: 30.10.2018]. Sowie: Jungbluth, Rüdiger: Oetker und die Nazis, in: Die Zeit am 19.01.2012, Ausgabe Nr. 4 2012 und online: https://www.zeit.de/2012/04/Oetker-National sozialismus [Stand: 30.10.2018]. Jungbluth, Rüdiger und Kunze, Anna: »Mein Vater war ein Nationalsozialist«, Zeitonline, 16.10.2013, online: https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2013-10/oetker-ns-drittes-re ich [Stand: 30.10.2018].

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

anderer Stelle stellt er fest, dass ein ganzer Wald voller Kreuze die Familie ausmache (vgl. Is, 106f.). Die makellose Außendarstellung ist den Eltern wichtig, und ein erfolgloser Sohn gefährdet offenbar das »Abbild«, das die Eltern präsentieren wollen.

2.3

On the Road – Reisen durch die Bonner Republik und Europa

Das Trampen, dessen literarische Darstellung im Roman »On the Road« (1957) von Jack Kerouac zu einer Allegorie für die Rites de Passage der Adoleszenten erhoben wird, war auch zur erzählten Zeit des Textkorpus in Westdeutschland populär.54 Im Roman wird das ziellose Reisen durch Amerika gepaart mit dem Konsum von Drogen, dem Hören von Bebop-Musik und dem Wechsel der Sexualpartner als Ausbruch aus den verkrusteten Strukturen und überkommenen Moral- und Wertevorstellungen zelebriert. Ursprünglich als Bibel der Beatniks erfolgreich geworden zählt der Roman, der von den Fahrten durch die USA der 1950er-Jahre handelt und dessen Figur Dean Moriaty zum Vorbild des Außenseitertums par excellence wurde, zu einem der prägenden Texte für viele folgende Subkulturen der westlichen Hemisphäre. Filme wie »Easy Rider« oder »Bonnie und Clyde« versteht Heinrich Kaulen als filmische Adaptionen der Raum- und Erzählstruktur der »Road Novel«.55 Der Road Movie stellt die Straße ins Zentrum der Handlung und lässt sie zur »Metapher permanenter Grenzüberschreitung« werden.56 Das literarische Äquivalent sei eine moderne Form des Bildungsromans. Es handelt sich auch hier um männliche Erzähler und adoleszente Helden, die sich aufmachen in die Fremde. Sie befinden sich in der Ferne und qua ihres Entwicklungsstadiums in einem liminalen Raum; Handlungsraum und psychosoziale Situation der Helden spiegeln sich gegenseitig wider. Die Unterschiede zum klassischen Bildungsroman seien das Fortbewegungsmittel und die Geschwindigkeit, in der die Reise vonstattengeht. Auto, Motorrad und Zug seien die bevorzugten Methoden der Bewegung; die Straße wird zum Pfad, der die Richtung bestimmt.57 Die Straße als Schwellen-

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Als dessen literarischer Vorläufer gilt indes die dokumentarische Erzählung »The Road« von Jack London, die 1907 erschien und im deutschen unter den Titeln »Abenteurer des Schienenstranges« und »Abenteuer eines Tramps« veröffentlicht wurde. Der Text beruht auf Erlebnissen Londons, der Anfang des 20. Jahrhunderts als Hobo – Obdachloser – mittels Güterwaggons durch die USA reiste, eine zu der Zeit häufig praktizierte, wenn auch illegale Aktivität wohnungsloser Menschen. Vgl. Kaulen, Heinrich (2015): On the road again, S. 141. Ebenda, S. 140. Ebenda, S. 142ff. Kaulen analysiert die Darstellung der Raumstruktur sowie die innere Entwicklung der Protagonisten von Gegenwartsromanen von Benjamin Lebert, Benedict Wells und Wolfgang Herrndorf, ab S. 147.

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Topographien der Adoleszenz

ort sowie die per Anhalter Fahrenden als deren temporäre Bewohner, die selbst im liminalen Zustand der Adoleszenz dargestellt werden, sind Beispiele für eine Vielzahl von Tramp- und Reiseerlebnissen der Protagonisten des Textkorpus. Nutzen die Helden der Filme motorisierte Vehikel – Motorrad oder Auto – als Fortbewegungsmittel, welche sie selbst steuern, wodurch sie zu die Richtung bestimmenden Handelnden werden, bedeutet die Fortbewegungsmethode des Trampens, sich auf andere Fahrer und deren Ziele einzulassen. Als Beifahrer können Tramper nur von »Abtrampe« (Dp, 106) zu »Abtrampe« reisen. »Abtrampen« sind Orte, wie Raststätten und Autobahnauffahrten, oder Verkehrsknotenpunkte, wie Bundesstraßenkreuzungen; sie werden als Nichtorte im Text markiert und dienen als Knotenpunkte zwischen den einzelnen Autobahnen und Bundesstraßen58 , die Deutschland überziehen. Das Straßennetz wird so zu einem Network, das den Tramper im Modus des Transports Bewegung ermöglicht – dies jedoch nur auf den vorgegebenen Wegen, den asphaltierten Straßen. Für die adoleszenten Protagonisten des Textkorpus ist das Trampen eine Fortbewegungsmethode, die ihnen – so lange sie zu jung für einen Führerschein sind oder schlicht nicht die finanziellen Mittel für ein eigenes Gefährt haben – den Ausbruch aus der Heimat, die als Provinz markiert ist, erlaubt. Roddy Dangerblood und seine Freunde zieht es nach Berlin und Hamburg, um andere Punks zu treffen. Sie suchen das Abenteuer und die Communitas. Per Anhalter gelangen sie zu ihren Zielen, sodass der Metropolenbesuch als Initiationsritus figuriert wird. Schmalenstedt, die Heimat von Roddy Dangerblood, wird als »eine sterbende Stadt«, in der der »totale Totentanz« herrsche, beschrieben (Dp, 9). An anderer Stelle spricht das erinnernde Ich von der »alten Dame Schmalenstedt« (Dp, 68). So wird die Provinz, die zugleich Heimat ist, als weiblich markiert und mit dem Schoß der Mutter assoziiert. Der Wunsch, der Heimat zu entfliehen, ist deshalb als Reflex und notwendiger Schritt auf dem Weg der Rites de Passage zu interpretieren. Auch Martin und Hermann nutzen das Trampen aus Abenteuerlust. Im Sommer 1980 zieht es sie nach Hannover, dort wollen sie »nach einem besetzten Haus zum Übernachten suchen« (Abr, 20). Sie finden schließlich Obdach in einer WG, die als verdreckt beschrieben wird und deren Bewohner und ihre Pseudonyme – Professor Atomschnauze und Rübezahl – darauf schließen lassen, dass sie in einer Punk-WG untergekommen sind. Praktiken, wie mit den Fingern Koteletts aus einer Bratpfanne zu essen und auf einer stockfleckigen Matratze in einer Wohnung

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Kaulen spricht in diesem Zusammenhang von »auswechselbaren Interims-Orten«. Bei diesen »anonymen Schauplätzen« handele es sich »um die Schaltstellen und Knotenpunkte der motorisierten Verkehrsströme der Gegenwart wie Parkplätze, Raststätten, Hotelzimmer, Schnellimbisse, Bars, Tankstellen, Bahnhöfe oder Airports« [Kaulen (2015): On the road again, S. 142].

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

fremder Menschen zu übernachten, sind in Hermanns Augen bewusste Abgrenzungsversuche gegen seine Eltern. Er weiß, dass die das nicht gutheißen würden, und allein deshalb macht ihm dieser Ausflug Spaß. Dass die beiden selbst Ekel vor den Bergen verschimmelten Geschirrs entwickeln und trotzdem dort bleiben, zeigt, dass der Wunsch nach Abgrenzung größer ist als die schützende Abwehrhaltung.59 Es nimmt nicht Wunder, dass diese Szene ausgerechnet in »Abenteuerroman« beschrieben wird. Wenngleich die titelgebenden Gattungsbegriffe im Falle der Martin-Schlosser-Reihe immer ironisch gebrochen werden, da die evozierte Erwartungshaltung weder dem Inhalt noch der Erzählstruktur nach erfüllt wird, befindet sich der Abiturient zur erzählten Zeit in einer Übergangsphase von Schüler zu Wehrpflichtigem, welche die Beschreibung von Abenteuern durchaus erwarten lässt. Der Wechsel der sozialen Rolle wird durch liminale Räume, wie Straßen oder Zugstrecken und die Punk-WG, topographisch dargestellt. Es sind die kleinen Abenteuer, die als kurze Szenen eingestreut die gewohnte Darstellungsweise des monotonen Alltags aufbrechen. Als gattungsbestimmendes Element reichen sie aber nicht aus. Die Texte Henschels kommen ohne Spannungsbogen aus und reflektieren so die Ereignislosigkeit der erzählten Zeit. Trampende Menschen sieht Martin Schlosser zum ersten Mal in Jever. Er ist 8 Jahre alt und in den Sommerferien zu Besuch bei seinen Großeltern. Mit Gustav, dem unehelichen Kind seiner Tante Gisela, streift Martin durch die Nachbarschaft. Auf der anderen Straßenseite standen zwei Langhaarige, die den Daumen raushielten und von einem Auto mitgenommen werden wollten. ›Gammler‹, sagte Herr Kaufhold und schüttelte wieder den Kopf. ›Im schönen Jever!‹ ›Aus dem schönen Jever wollen die ja gerade w-w-weg‹, sagte Gustav (Kir, 179). Die Szene wird kommentarlos wiedergegeben. Martin ist noch zu jung, um die Situation zu verstehen. Dem Leser zeigt sie jedoch, dass Trampen in den Augen der älteren Generation als unvernünftig wahrgenommen wird und in einem idyllischen Städtchen wie Jever noch weniger angebracht sei als womöglich in Großstädten. Der »Gammler« wird als Außenseiter wahrgenommen und als Störung der idyllischen Ordnung interpretiert. Gustav, der einige Jahre älter als Martin ist, versteht die Situation und kann dementsprechend kontern. Aus dieser Szene lässt sich die Intention des Trampens lesen: Ziel ist die Flucht aus dem bekannten Ort, der als provinziell wahrgenommen wird. Mit elf Jahren versucht Martin das erste Mal selbst zu trampen, jedoch nicht um in die Fremde zu reisen, sondern um nach Hause gefahren zu werden. Ihm ist der ursprüngliche Gedanke des Trampens nicht bewusst, schließlich ist er selbst 59

»›Faß bloß nichts an‹, rief Hermann. ›Hier lauern Cholera und Beri-Beri!‹« (Abr, 22). Und: »›O Jesus‹, sagte Hermann und nahm einen enormen Zug aus seiner Bierflasche. ›Jetzt müßten uns mal unsere Eltern sehen!‹« (Abr, 23).

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noch nicht in der liminalen Phase und verspürt folglich noch nicht den Wunsch, aus den bestehenden Strukturen auszubrechen. Gemeinsam mit seinem Freund Michael Gerlach stellt er sich nach dem Katechumenenunterricht an die Straße, um die steile Strecke zum »Wilgeshohl hoch« (Kir, 426) nicht laufen zu müssen. Sie werden nur ein einziges Mal mitgenommen. Und das auch nicht von einer fremden Person, sondern von Michaels älterer Schwester. Für den jugendlichen Martin Schlosser bedeutet Trampen zunächst die Flucht vor den elterlichen Streitereien und der verhassten Heimatstadt. Doch im Gegensatz zu den Dorfpunks visiert Martin vorerst nicht die Metropolen als Ziel an, sondern Jever, den Wohnort seiner Großeltern. So trampt er das erste Mal erfolgreich, als er dem Ehekrach entfliehen will; das ist im Winter 1979. Martin stellt sich an die Auffahrt zur B70, die Richtung Ostfriesland führt (Lir, 461). Alsbald hält ein VW Käfer, in dem ein katholischer Theologe sitzt, der ihn mitnimmt. Während der Fahrt diskutieren die beiden über Recht und Gerechtigkeit. Der Theologe vertritt die Meinung, dass allein Gottes Wille geschehe und er Menschen ewig bestrafe, verstößen sie gegen nur eines der Zehn Gebote. Das bringt Martin zur Weißglut. Der Fahrer redet Martin immer als »mein junger Freund« (Lir, 461) an und stellt sich so über ihn und seine Meinung. Das Trampen ist eine Flucht vor dem Elternhaus in Richtung des Sehnsuchtsorts Jever, der für Martin ebenfalls Zuhause bedeutet.60 Dieser Ausbruchsversuch wird jedoch getrübt durch den Fahrer, der als Vertreter christlicher Moralvorstellungen indirekt das Handeln Martins als Sünde begreift. Die Fahrt, die als Schwellensituation und Loslösung aus bestehenden Strukturen figuriert sein sollte, wird konterkariert: Die erhoffte Freiheit auf der Straße wird für Martin zu einer Lehrstunde über den Willen Gottes. Der Fahrer wird für Martin zu einem Störfaktor und dekonstruiert auf der Inhaltsebene des Textes die Schwellensituation. Sowohl Martins Ziel als auch der Weg dorthin entsprechen nicht dem Schema der Rites de Passage. Während Martin, um aus Meppen zu entkommen, trampt, entscheidet sich sein Kindheitsfreund für ein altes Moped. Zuerst ist Michael sehr glücklich und stolz auf seinen fahrbaren Untersatz und schwärmt Martin in seinen Briefen von der neuen Freiheit vor. Doch weitere Strecken – etwa eine Fahrt nach Meppen – traut er dem Vehikel nicht zu.61 Nach zwei Stürzen ist seine Garelli schließlich so schwer beschädigt, dass er sie nicht mehr fährt. »Fürs erste hab ich aber sowieso die Nase voll vom Garellifahren. Am Montag kauf ich mir ’ne Wochenkarte für den Bus«, scherzt Michael in einem Brief (Lir, 399).

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Auch Christi Himmelfahrt 1980 trampt er nach Jever. Wieder flieht er aus Meppen, weil er mit seinem Vater und seiner kleinen Schwester nicht alleine sein will (Lir, 547). »Mit einem 150-DM-Moped fast 800 Kilometer? Nee, nee, das gibt nichts. […] Nach spätestens einer Stunde Fahrt ist Sense« (Lir, 364f.).

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

Auch Roddy Dangerblood sehnt sich nach einem Moped, um »dem Kuhstallidyll entfliehen« (Dp, 37) zu können. Gemeinsam mit anderen Jugendlichen schraubt er an Mopeds herum, mit dem Ziel, ein »Höchstmaß an Lautstärke und Tempo« (Dp, 38) zu erreichen. Von seinem Konfirmationsgeld kauft er sich einen Motorradhelm, der die Zugehörigkeit zur Gruppe der Mopedbesitzer bereits besiegelt. Vom restlichen Geld kauft er zwei ausgediente Mopeds und schraubt sie zu einem fahrbaren Untersatz zusammen. Roddy bezeichnet das Moped als »es«. Er fährt es ohne Zulassung und Führerschein. Vor seinen Eltern versteckt er das Gefährt, das er erst außerhalb des Ortsausgangs startet, weil es so laut ist. Das Gefährt ermöglicht ihm, nachts in die Disco zu fahren und unbemerkt nach Hause zu gelangen. Es wird zum Vehikel, das ihm Ausbrüche zu Initiationsorten erlaubt und ihm Grenzerfahrungen bietet. Er verletzt durch das Fahren ohne Zulassung und Führerschein Gesetze, missachtet durch die nächtlichen Touren die Pflicht als Schüler, morgens ausgeschlafen zu sein, und er entfernt sich aus dem Einflussbereich seiner Eltern, ohne deren Wissen. Für Martin ist die Wahl, einen Mopedführerschein zu machen, nicht nachvollziehbar. »Was ich nicht begriff, war Michaels Zuversicht, seinem Elend durch das Herumdüsen mit einem Moped entrinnen zu können. […] Und was hätte ich in Meppen mit ’nem Moped anfangen sollen? Nach Bramsche fahren? Oder nach Aschendorf? Und dann?« (Lir, 358). Viel eher könne er sich vorstellen, mit einem Interrail-Ticket durch Europa zu reisen »und unterwegs einen Haufen interessanter Typen kennenlernen« (Lir, 358). Dass der Bewegungsradius mit einem Moped freilich größer wäre als ohne, ist Martin bewusst, jedoch scheint auch der Besuch des näheren Umlands in seinen Augen nicht erstrebenswert. Das Tempo, das Roddy Dangerblood an Mopeds schätzt und immer weiter zu erhöhen versucht, reicht Martin nicht aus. Er sehnt sich nach höheren Geschwindigkeiten und weiteren Distanzen. Den Adoleszenten beider Texte ist jedoch gemein, was Roddy Dangerblood in einem inneren Monolog wie folgt zusammenfasst: »Ich will Bewegung« und »ich darf nicht stehen bleiben« (Dp, 57). Der Drang nach Bewegung, der Fliehreflex wird in der Martin-Schlosser-Chronik in Form von zitierter Rede und zitierten Briefe literarisch verarbeitet. Er müsse hier raus, erklärt Martin seiner Mutter, als er in den Sommersemesterferien auf gut Glück und ohne konkretes Ziel ins Ausland trampen will. »Die Häuser hier … die stehen jeden Tag am selben Platz …« (Br, 344). Er brauche eine »Luftveränderung«, »[n]ur weg aus Meppen« (Br, 343). Den Stillstand nimmt Martin topographisch und klimatisch wahr. Das Trampen selbst wird zum Grund des Reiseantritts. Die Häuser, die immer am gleichen Platz stehen, markieren den Stillstand, dem Martin entgegenwirken will. Deshalb fährt er per Anhalter, er wird zur Bewegung. Die Häuser und Landschaften fliegen aus den fahrenden Autos oder Lkw betrachtet an Martin vorbei. Der Raum ist dynamisiert, der empfundene Stillstand gebrochen. Der Drang nach aktiver Bewegung, des Erfahrens von Raum

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untermauert die These Hartmut Böhmes, dass unsere Sinne anti-kopernikanisch und unsere Körper strikt anti-newtonisch seien.62 Obwohl sie um die physikalischen Gesetzmäßigkeiten wissen, nach denen die Erde ständig in Bewegung ist und um die Sonne kreist und dass, sobald ein Körper sich bewegt, er sich auch ohne die Krafteinwirkung weiterbewegt, handeln und empfinden die adoleszenten Protagonisten entgegen der Physik. Sie spüren die ständige Bewegung nicht und wollen deshalb selbst bewusst und aktiv zu Bewegung werden. Die jugendlichen Dorfpunks wie auch der adoleszente Martin nehmen in ihrer jeweiligen Heimat Stillstand wahr, dem sie entfliehen wollen. Auch Hermann, der mittlerweile in Göttingen wohnt und studiert, sehnt sich nach Abenteuern und Aufbruch, wovon ein Brief an Martin zeugt. Und wir sollten mal wieder trampen gehen. Ohne Ziel. Man könnte sich ja eins setzen, pro forma […] aber wenn die Reise anders verlaufe, lasse man Böblingen eben links liegen. ›Man fährt mit, wohin auch immer der Fahrer fährt, bei dem man eingestiegen ist, und dann läßt man sich weitertreiben …‹ (Br, 285). Der Brief von Hermann wird mit den Worten »In Göttingen saß Hermann wie auf heißen Kohlen« eingeleitet (Br, 283). Er sei »voller innerer Unruhe« und »momentan mit einem Überschuß an Energie geladen«, erklärt er in seinem Brief an Martin. »Jedenfalls fordere ich mit allem Nachdruck günstigere Bedingungen für mein Leben; insbesondere auch verlangsamten Zeitumschlag. Die pure Existenz ist Grund genug, alles vom Leben zu fordern!« (Br, 283). Die Sätze zeugen von Abenteuerlust und Lebenshunger und geben Einblick in die Gefühlswelt des Twentysomething. Unabhängig, ohne familiäre Verpflichtung, aber mit geringen finanziellen Mitteln ausgestattet, loten Hermann und Martin die Möglichkeiten aus, die ihnen das Leben bereitstellt. Ob man sich »weitertreiben« lässt oder aktiv etwas vom Leben fordert, ist nach den Worten von Hermann kein Widerspruch. Er will beides: Totale Freiheit und fordert zugleich alles vom Leben; er will Chaos und Struktur gleichermaßen. Zwei vordergründige Gegensätze, die sich in der dynamischen Raumerschließung des Trampens symbiotisch verbinden. Den »Überschuß an Energie« kann Hermann, so glaubt er, nur durch Bewegung abbauen. Die Landstraßen und Autobahnen sind vorgezeichnete Wege, die den Raum strukturieren, ihm Ordnung verleihen. So gibt der »Autobahnfink« (Abr, 267) – eine Landkarte Westdeutschlands – einen Überblick über Raststätten, Autobahnzubringer und deren Lage zueinander – eine Karte, die Martin als Tramper immer dabeihat. Die Raststätten sind Haltepunkte im Network, Nichtorte im Sinne Marc Augés. Sie sind geschichts- und identitätslos, und durch die Autobahnen miteinander verbunden. Nach Ingolds Verständnis bewegen sich Tramper wie Martin somit im Modus des Transports entlang der vorgegebenen Wege von einem Ort zum 62

Vgl. Böhme, Hartmut (2005): Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie, S. XVf.

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

nächsten. Die Verwendung des Autobahnfinken unterstützt diese erste Annahme, schließlich identifiziert Ingold die Map als die zweidimensionale Materialisierung des Networks, die einen Blick aus der Vogelperspektive ermöglicht. Eine nähere Betrachtung zeigt aber, dass das Trampen mitnichten im Modus des Transport entlang eines Network erfolgt. Was Hermann als Sich-weitertreiben-Lassen beschreibt, ist die Dynamisierung des Raums, die durch den Handelnden entsteht, das Trampen so in den Modus des Wayfaring überführt und so die Bewegung entlang der Straßen im Sinne de Certeaus zu einem Parcours werden lässt. Selbst wenn sich Martin nicht bloß treiben lässt, sondern mit einem Ziel per Anhalter fährt, ist er im Modus des Wayfaring unterwegs. Es ist, wenn überhaupt, Glück und Zufall, falls er es schafft, einen vorher ausgearbeiteten Wegeplan mit allen Haltepunkte und Autowechseln, einzuhalten. »Bei trampenden Gästen wußte man ja nie, wie gut sie vorankamen« (Br, 284), weiß Martin und er macht sich keine Illusionen darüber, dass per Anhalter zu fahren mit vielen Unwägbarkeiten verbunden ist. Aber mangels Geld nutzt er diese Fortbewegungsmethode fast ein ganzes Jahrzehnt, bis Ende der 1980er-Jahre. Die Zielorte werden von den Adoleszenten unterschiedlich wahrgenommen. Während Roddy Dangerblood eine Tramptour »gen Italien« als Abenteuer beschreibt und Orte wie Portofino als »wunderschön« (Dp, 92) erlebt, sind Auslandserfahrungen für Martin in der Regel mit negativen Erlebnissen behaftet. Schon sein erster Urlaub ohne Eltern kurz vor seinem 18. Geburtstag entpuppt sich entgegen seinen Hoffnungen als Reinfall. In den Osterferien 1980 reist er mit Udo, Angela und Michael nach Florenz. Udo und Angela betonen die »Lebensart und das Sonnenlicht«, das mit dem »norddeutschen Grau-in-Grau« nicht zu vergleichen sei (Lir, 485). Die zwei Freunde hoffen auf das mediterrane Klima und die südländische Mentalität – freilich handelt es sich hier um Stereotype, denen sie Glauben schenken –, welche sie dem Bekannten dichotom entgegenstellen. Das »norddeutsche Grau-in-Grau« bezieht sich zum einen auf das Wetter, zum anderen aber auch auf den Alltag in Norddeutschland, der so als langweilig und monoton markiert wird. Auch Martin lässt sich von der Euphorie anstecken: »In Italien, hey, da würde ein neues Leben beginnen. Und was für eins!« (Lir, 486). Es kommt dann aber anders als gedacht. Schon die Zugfahrt zeigt, dass sich jeder etwas anderes unter diesem Urlaub ausmalt. Martin glaubt, es wird ein »Abenteuer«, und er freut sich auf »die lange Reise« und »das Großstadtleben« (Lir, 493). Udo und Angela wollen vor allem »in die großen Museen gehen« (Lir, 485). Das Wetter stellt sich Martin warm und sommerlich vor: »Von Schneeflocken, Glatteis und Streusalz hatten die Florentiner garantiert noch nie irgendwas gehört. Diese Wörter gab’s vielleicht gar nicht auf Italienisch« (Lir, 486). Als sie dann die erste Nacht im Zelt verbringen, wird er eines Besseren belehrt.

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In meinem Schlafsack fror ich wie ein Schneider. Viel zu dünn, war das Ding! Aber es herrschten auch Temperaturen in Italien, davon hatte mir noch keiner was verraten. Frühlingsnächte in Florenz, darunter stellte man sich doch wohl irgendwas mit warmen Brisen vor, die einen sanft umfächelten, und nichts nur annähernd Polarkreismäßiges! (Lir, 522). Es ist grotesk, wie stark Martins Vorstellungen und seine Erlebnisse in Italien voneinander abweichen. »Am Morgen war das Kaffeepulver in der Dose hartgefroren. Ein einziger Schwachsinn, diese Italienreise« (Lir, 528). Auch das von Angela und Udo gepriesene Sonnenlicht sucht Martin vergeblich. »Italien! Alle schwärmten davon, wie toll es da sei, aber was man da erblickte, waren nichts als öde, verkarstete Mondlandschaften, abgewirtschaftete Käffer und bepißte Gewerbegebiete. […] Von wegen Myrtenhain und Goldorangen. Eins geschissen!« (Lir, 519). Schon während der Zugfahrt kündigt sich an, dass das erhoffte Abenteuer anders als gewünscht verlaufen wird. Während der nächtlichen Zugfahrt zweifelt Martin an den Urlaubsplänen. Er vermisst sein warmes Bett und bekommt das erste Mal Heimweh. »Was hatte ich im Ausland verloren?« (Lir, 519). Als er dann noch aus Versehen auf den Zeh von Angela tritt und die ihn anblafft, wird ihm bewusst, dass aus ihm und ihr niemals ein Paar würde. »[U]nd damit war der Rest dieses Urlaubs für mich gelaufen« (Lir, 518). Florenz selbst findet Martin ebenfalls enttäuschend. Nicht nur, dass der Zeltplatz am Rande der Stadt liegt und die Nächte kalt sind, auch die Unternehmungen findet er langweilig. Die anderen wollen Museen und Aussichtspunkte aufsuchen und die Stadt erkunden, aber Martin ist bald gelangweilt von diesen Aktivitäten. Der Blick über die Stadt macht Florenz für Martin zwar ansehnlicher, aber der Weg zu solchen Aussichtspunkten schreckt ihn ab.63 Die Vogelperspektive verschafft ihm einen Überblick und hält ihn zugleich auf Abstand zu den nervenden, lauten Mopeds allerorten und den Verkehrsregeln missachtenden Autofahrern. Im Modus des Wayfaring, als Flaneur, bewegt er sich nicht gerne durch die Stadt. In Ermangelung anderer Möglichkeiten des Zeitvertreibs unternimmt er viel alleine, geht beispielsweise drei Abende hintereinander in den gleichen Woody-Allen-Film. Zwar versteht er kein Wort der italienischen Synchronisation, aber immerhin ist es warm. Die Vier brechen die Reise vorzeitig ab, reisen einen Tag früher zurück. Zu Angela und Udo pflegt er nach dem desaströsen Urlaub keinen engeren Kontakt mehr. Als er drei Jahre später als Student alleine nach Südeuropa trampt, erlebt er auch diesen Aufenthalt in Südfrankreich als enttäuschend. Schnell gelangt er per Anhalter bis Baden-Württemberg und wird von der Raststätte Bühl aus bis

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»Von oben sah Florenz viel gediegener aus als von unten, aus der Fußgängerperspektive, aber ich hatte keine Lust, meine Tage damit zu verbringen, auf Gebäude zu kraxeln, um mir andere Gebäude anzusehen, auf die ich schon gekraxelt war oder noch kraxeln könnte« (Lir, 525).

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

zum südfranzösischen Küstenörtchen Sète mitgenommen. Die Fahrt im Lkw wird durch Bob Dylans Musik begleitet, was Martin gut gefällt und ihn auf den Urlaub einstimmt. Die Intertexte »Hot chili peppers in the blistering sun …« und »Magic in a magical land …« (Br, 344) stammen aus den Liedern »Romance in Durango«64 und »Mozambique«65 . Die zitierten Verse vermitteln die freudige Erwartung auf einen Urlaub in einem südlichen Land mit viel Sonne und schönen Momenten. Wer sich den gesamten Songtext von »Romance in Durango« anschaut, stellt schnell fest, dass es sich um eine Flucht in die mexikanische Stadt Durango handelt. Magdalena und das männliche lyrische Ich fliehen, weil er Ramón erschossen hat. Das lyrische Ich reitet mit seiner Geliebten durch die Peripherie, um der Strafverfolgung zu entgehen. Das Lied endet tragisch, das lyrische Ich wird mit einem Schlag auf den Kopf umgebracht. Die Wahl des Intertextes kann als Hinweis auf den Ablauf des Urlaubs interpretiert werden. Vordergründig scheint der Küstenort idyllisch zu sein, doch schon als Martin sich im Zelt ausruht und er plötzlich von einem Franzosen, der unvermittelt sein Zelt öffnet, gestört wird, zeigt sich, dass der Schein trügt. Der Eindringling hatte offenbar gehofft, eine Frau im Zelt vorzufinden, und wendet sich ab, als er Martin erblickt. »Rauhe Sitten. Wenn das bei den Franzmännern gang und gäbe war, hätte ich in deren Land keine alleinreisende Mademoiselle sein wollen« (Br, 345). Die Erkundung des Hinterlandes bringt Martin zur Überzeugung, dass »Südfrankreich auch nicht das Gelbe vom Ei« sei (Br, 346). Ihm kommt passend dazu ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann66 in den Sinn, das die Sehnsucht nach südlichen Ländern konterkariert, indem es Komposita mit dem Toponym »Süden« aneinanderreiht. Die Determinativkomposita beschreiben den Süden näher und geben ihm eine pejorative Bedeutung. Sie träumen alle vom Süden, Wörtersüden, nächtlicher Gaukelsüden, Schwebetiersüden, Bunte Hose Süden! Asphalt und Autowracksüden! Scheißkötersüden, Turnschuhe und Ölkanistersüden … (Br, 346). Die Rückreise verläuft anders als geplant und ist das eigentliche Abenteuer, das Martin erlebt. Die Erzählzeit der Rückreise nimmt zweieinhalb Seiten ein und der Urlaub selbst bloß eineinviertel Seiten. Die Erlebnisse der Fahrt67 haben für den 64 65 66 67

Dylan, Bob und Levy, Jacques: Romance in Durango, 1975, in: Bob Dylan Lyrics 1962-2012, sämtliche Songtexte, Deutsch von Gisbert Haefs, Hamburg 2014, S. 698. Dylan, Bob und Levy, Jaques (1975): Mozambique, Bob Dylan Lyrics 1962-2012, sämtliche Songtexte, Deutsch von Gisbert Haefs, Hamburg 2014, S. 688. Brinkmann, Rolf Dieter: In Voyageurs Apt. 311 East 31st Street, Austin, in: derselbe: Westwärts 1&2 Gedichte, Reinbek bei Hamburg 2005, S. 105-108. Da er in Frankreich keine Mitfahrgelegenheit bekommt, will er mit dem Zug bis Freiburg fahren. Er verwechselt aber das schweizerische Fribourg mit Freiburg und landet deshalb

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autodiegetischen Erzähler offenkundig mehr Bedeutung, sind ihm besser im Gedächtnis geblieben als der Aufenthalt selbst. Die Rückfahrt ist, sobald er wieder in Deutschland trampen kann, angenehm, und er hat keine negativen Erlebnisse, abgesehen von dem Tiertransporter. Sie steht somit im Gegensatz zu seinen Auslandserfahrungen. Der Besuch in Frankreich lässt Martin die Einsicht gewinnen, dass auch im Ausland Orte existieren, die so langweilig wie Meppen sind. Der Italienurlaub, den Roddy Dangerblood erlebt, wird über knapp drei Seiten erzählt, etwa zwei Seiten sind den Tramp-Erlebnissen gewidmet. Obwohl die Gewichtung zwischen Fahrt nach Südeuropa und Aufenthalt dort zwischen den Texten divergiert, zeigen die Darstellungen des Reisens unisono, dass der neue Ort nicht per se als Rezept gegen den Stillstand gelten kann, sondern die Art des Reisens zu den neuen Orten. Das Autobahnnetz wird zu einem gekerbten Raum, der unter Anstrengung erobert werden muss. Das passende Auto anzuhalten, die Gespräche mit den Fahrern68 , der Wechsel von einer Autobahn zur nächsten, um ans Ziel zu kommen, all das sind Hindernisse, die der Bewegung, dem Fortkommen im Wege stehen. »Raum ist niemals einfach da, sondern er ist das, was mit Mühe und Arbeit überwunden werden muß«, erklärt Böhme69 . Der Raum des Trampers sind die Straßen, das Autobahnnetz, das die Bonner Republik und das westliche Europa miteinander verbinden und zugleich prägen. »Die Mühe und Arbeit« der Raumüberwindung respektive -aneignung wird in der Schlosser-Chronik alsbald als routinierte Praxis beschrieben. Mit der Zeit entwickelt Martin ein Gespür dafür, solche Autofahrer, die sehr wahrscheinlich Tramper mitnehmen, von solchen zu unterscheiden, die weiterfahren. Er wendet Her-

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unvermittelt in der Schweiz. Erst am Bahnhof, wo er freilich nichts wiedererkennt, bemerkt er seinen Fehler. Er nimmt einen Zug nach Basel, um näher an die Grenze zu gelangen. Von dort geht er zu Fuß nach Deutschland und trampt bis zur Raststätte Dammer Berge, an der A1 zwischen Vechta und Osnabrück. Auf der Fahrt fällt Martin »nur ein Schweinetransporter unangenehm auf« (Br, 347). Die Gewissheit, dass die Tiere in Richtung Schlachtung unterwegs sind, stimmt ihn nachdenklich. Mit Deminutiven wie »Rüsselchen«, »Äuglein« und »Tierchen« wird die Hilflosigkeit der Schweine betont, die aufgrund ihres Status als Fleischlieferant wahrgenommen werden und eben nicht als Lebewesen. Entgegen seiner Vermutung, schließlich dämmert es schon, wird er von einem VW-Busfahrer bis nach Bremen mitgenommen, dort kann er auch übernachten. Nach einem heißen Bad, mehreren Partien Schach und einem selbstgekochten Abendessen macht sich Martin am nächsten Morgen auf nach Jever, wo er pünktlich zum Geburtstagskuchen-Essen seiner Großmutter ankommt. So muss sich Martin als Berliner Student die immer gleichen Phrasen anhören. Berlin sei sehr groß und was er denn später mit dem Studien-Abschluss in Germanistik beruflich machen wolle (vgl. Br, 276, 302, 304). Martin beginnt bald, sich eine Alternativversion auszudenken, die ihn als erfolgreichen, kosmopolitischen Nachwuchsintellektuellen darstellt. Erst mit dieser Version seines Lebens verstummen die negativen Zukunftsprognosen der Fahrer (vgl. Br, 364). Böhme, Hartmut (2005): Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie, S. XVII.

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

manns Methode an, Autofahrer beim Tanken anzusprechen, und leitet so aus seiner Erfahrung die Theorie ab, dass »BMW-Fahrer, alleinreisende Omis, kinderreiche Familien, erst recht, wenn an der Karre einer von diesen ›Ein Herz für Kinder‹Aufklebern pappte« (Abr, 256f.), niemanden mitnehmen. Eine Auflistung der Ausreden, warum Autofahrer keine Tramper mitnehmen können, entwickelt Martin mit der Zeit ebenfalls: ›Mein Wagen ist bis obenhin voll‹ (obwohl hinten alles frei war), ›Ich fahr schon die nächste Abfahrt runter‹ (trotz Gütersloher Kennzeichen), ›Ich würde ja gern, aber das ist das Auto von meinem Schwager, und der erlaubt das nicht‹, ›Sorry, echt, aber das issen Firmenwagen‹, ›Dieser Pkw ist nur für zwei Personen zugelassen, ehrlich, ohne Scheiß …‹ (Abr, 209). Als er das erste Mal gemeinsam mit seiner Freundin Andrea per Anhalter fahren will, weiht er sie »in die Grundlagen der Kunst des Trampens ein« (Br, 490). Die beiden wollen Hermann in Göttingen besuchen, weshalb Martin rät, nach Kennzeichen Ausschau zu halten, die entweder aus dem Zielort selbst stammten oder zumindest auf dem Weg dorthin liege. Außerdem gelte die Faustregel: »Je gammliger das Auto aussehe, desto größer sei die Wahrscheinlichkeit, daß es anhalten werde« (Br, 491). Bei Autotypen solle man sich an Enten, VW-Käfer und R4 halten, es sei empirisch erwiesen, dass die am häufigsten Tramper mitnähmen. Die drei Automodelle wurden zur erzählten Zeit vor allem von jungen Menschen, Studenten oder Auszubildenden gefahren, nicht zuletzt weil sie günstig in Anschaffung und Unterhalt waren. So nimmt auch Frank Lehmann, als er noch in Bremen wohnt, immer mal wieder Anhalter, vorzugsweise Studenten mit. Doch die Zeiten ändern sich; das stellt auch Martin fest. Die empirisch belegten Thesen zu Haltewahrscheinlichkeit nach Autotypen funktionieren schon Mitte der 1980er-Jahre nicht mehr reibungslos. Man konnte sich allerdings auch nicht mehr darauf verlassen, daß jede Ente und fast jeder zweite Käfer anhielt. Vor allem am Steuer von Enten saßen jetzt statt Hippies immer öfter irgendwelche dauergewellten Gänse – Zahnarzthelferinnen, Nagelstudiotanten und Boutiquenverkäuferinnen oder sowas –, und die nahmen natürlich niemanden mit, sondern kuckten nur doof. Fuhren wahrscheinlich nur deshalb Enten, weil sie die Automarke so schnuckelig fanden (Br, 571). Martin nutzt das Trampen ein knappes Jahrzehnt lang auch zum gezielten Reisen. Als er in Aachen lebt und in Köln studiert, nimmt er sich vor, zur Universität zu trampen. Das gelingt ihm jedoch nur selten und noch seltener zur gewünschten Uhrzeit. Stattdessen liegt auf dem Tramper-Weg eine Stadtbücherei in KölnChorweiler, »in der man Schallplatten ausleihen konnte« (Kür, 145), die er einmal aufsucht. Die Pflicht des Studiums wird in diesem Fall auch räumlich gegen die Vorlieben der Musik gestellt; die Straße führt Martin in die Stadtbücherei anstatt

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Topographien der Adoleszenz

an die Universität. Die Entscheidung, das Studium zugunsten der eigenen Interessen und Zukunftsvorstellungen abzubrechen, wird in dieser Szene präfiguriert. Die liminale Phase führt in ihrer Konsequenz der Wiedereingliederung zum Beruf des Schriftstellers. Die Trampstrecke Oldenburg – Meppen kennt er bald auswendig, »doch sie war mir nicht ans Herz gewachsen« (Kür, 569). Der Intertext eines Volksliedes veranschaulicht, dass Martin sich auf den Straßen zu Hause fühlt, jedoch nicht an den Orten, zu denen diese Wege führen: »Ich fahr dahin mein Straßen, in fremde Land hinein …« (Kür, 569). Das Possessivpronomen erklärt die Straße zur Heimat, das Adjektiv macht das Ziel zu einem identitätslosen Ort, mit dem das lyrische Ich respektive Martin keine emotionale Verbindung aufbaut. Passend dazu bringt der britische Cousin von Martin es auf den Punkt: »Ausfahrt is a very, very, very big german town« (Br, 436). Aus der Perspektive eines auf der Autobahn fahrenden Menschen bedeutet jeder Weg hinunter von der Autobahn den Weg entlang einer Abfahrt. Jeder dieser Wege wird mit dem Hinweisschild »Ausfahrt« ausgewiesen. Was als Witz gemeint ist, enthält einen wahren Kern: Die Autobahn wird so in das Zentrum gerückt, und die einzelnen Ortschaften, die an die Autobahnen angebunden sind, werden zu »Ausfahrten« degradiert. Deutschland besteht, aus dieser Perspektive betrachtet, allein aus einem Geflecht von Autobahnen. Die Städte und Dörfer werden zu einem Toponym, nämlich »Ausfahrt«, der »big german town« zusammengefasst. Der Satz erinnert an das Stereotyp, dass Deutschland stolz auf sein Autobahnnetz und die damit einhergehende Mobilität sei. Zur erzählten Zeit ist der Mythos durch die Begrenztheit der Ressourcen, die Grenzen des Wachstums und die Ölpreiskrisen der 1970er-Jahre bereits angekratzt. Gezieltes Trampen und dessen Verlauf misst Martin nicht nach den zurückgelegten Kilometern, sondern nach der Zeit, die er braucht. Als Tramper muss er manchmal Umwege und Wartezeiten in Kauf nehmen, die er mit eigenem Auto nicht einkalkulieren müsste. So spricht er von einem »Ritardando«, einer allmählichen Verlangsamung des Tempos, als er die Fahrt von Berlin nach HildesheimItzum beschreibt. »Für die letzten dreißig Kilometer brauchte ich bald länger als für die gesamte Transitstrecke« (Kür, 307). Das Trampen wird in den Texten als eine signifikante Fortbewegungsmethode der Jugendlichen dargestellt. »Trampen war damals eine der beliebtesten Reisemethoden« (Dp, 90), erklärt der autodiegetische Erzähler Roddy Dangerblood. Die Aussage lässt sich sowohl auf die Communitas Roddy Dangerbloods beziehen als auch auf ein weiter gefasstes Kollektiv, etwa der Jugendlichen der erzählten Zeit im Allgemeinen. Das Temporaladverb »damals« verweist auf die erinnerte Zeit des Erzählers und zugleich auf die kollektive Erinnerung der Generation der in den 1960er-Jahren in Westdeutschland Geborenen. Die Praktik des Trampens und die Raumerfahrung entlang des Autobahnnetzes der Bonner Republik (und der Zugstrecken Westeuropas) prägten so maßgeblich die Topographie der Adoleszenz,

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

wie sie im Erinnerungsraum Bonner Republik der Gegenwartsliteratur dargestellt wird, mit. Die Road Novel weist Merkmale einer offenen Raumstruktur auf Erzähltextebene auf. Texte, die »rastlose Bewegung und rasante Ortswechsel inszenieren«, nicht Lebensräume auratisieren, sondern auf austauschbare Nichtorte fixiert sind, operieren nach Heinrich Kaulen mit einer offenen Erzähltextstruktur.70 Wie oben ausgeführt weisen auch die Textausschnitte aus »Dorfpunks« und der Martin-Schlosser-Chronik solch eine offene Raumstruktur auf. In Momenten des Trampens, der Flucht aus der Heimatstadt respektive dem Heimatdorf wird die Straße selbst zum wichtigsten Raum. Kaum kehren die Protagonisten nach Hause zurück, wird die Wahrnehmung des Bekannten als langweilig und einengend beschrieben. Die Dichotomie zwischen Heimat versus Fremde, Provinz versus Metropole, Langeweile versus Abenteuer wird in den Romanen bestätigt und zwingt die adoleszenten Protagonisten förmlich entlang dieser zwei Pole zur Bewegung. Der Weg hinaus aus der mütterlichen Heimat, hinein ins Abenteuer ist im Fall der Romane des Textkorpus den männlichen Adoleszenten vorbehalten. Damit stehen die Textpassagen in der Tradition der Road Novel.71 Im Falle Martin Schlossers ist es sogar so, dass Stillstand – auch an unbekannten, neuen Orten – als langweilig wahrgenommen wird. Während Roddy Dangerblood das Trampen als Mittel zum Zweck nutzt, ist in Martins Fall das Trampen nicht bloße Fortbewegungsmethode. Wenngleich auch er in der Regel konkrete Städte erreichen will, hat das Trampen auf ihn einen anderen Einfluss. Die Begegnungen mit neuen Menschen, die verschiedenen Wege, die sich ihm offenbaren, um ein Ziel zu erreichen, die Musik, die er während der Fahrten kennenlernt,72 all das sind Erlebnisse, die er mit dem Trampen selbst verbindet. Die Texte oszillieren geradezu zwischen einer geschlossenen und einer offenen Raumstruktur, je nachdem, wo sich der wahrnehmende Protagonist gerade befindet. Martin Schlossers Horizont und damit auch die Raumstruktur des Textes öffnen sich, als er das erste Mal trampt.

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Kaulen, Heinrich (2015): On the road again, S. 145. Einen kurzer Abriss zum Motiv der Straße in der US-amerikanischen Kultur bietet der Aufsatz von Brian Ireland »American Highways: Recurring Images and Themes of the Road Genre« in The Journal of American Culture, Volume 26, Number 4, December 2003, S. 474-484. In dem Aufsatz erklärt Ireland, dass die Road Novel und der häufig eingeschlagene Weg nach Westen mit der Frontier-Erfahrung, der Besiedlung Amerikas und der Sehnsucht nach der Erfüllung des »American Dream« verbunden ist. So heiße es auch in Kerouacs »On the Road« »the East of my youth and the West of my future« (S. 476). Dass es männliche Helden sind, die den Weg nach Westen bestreiten und Frauen nur als Objekte oder Randgestalten erscheinen, ist ein Merkmal der Road Novel, das bereits in frühen Western-Filmen oder etwa auch in den Abenteuern von Huckleberry Finn angelegt sei. Die traditionellen Rollenklischees und Geschlechterstereotype werden hier schlicht reproduziert (S. 481). So entdeckt er erst durch eine Mitfahrgelegenheit die Musik von Tom Waits für sich.

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Topographien der Adoleszenz

Von diesem Moment an ist er unabhängig von seinen Eltern und kann hinreisen, wann und wohin er will. Roddy Dangerblood verfolgt konkrete Ziele durch das Fahren per Anhalter. In »Dorfpunks« verändert sich die Erzähltextstruktur nicht, wenn die Fahrt entlang von Autobahnen beschrieben wird. Es sind stattdessen die Erinnerungen an Erlebnisse in Metropolen wie Berlin oder Hamburg, die eine Dynamisierung und ein rascheres Erzähltempo erkennen lassen.73

2.4

Transit Westberlin

Wer zur Zeit der Zweistaatlichkeit Deutschlands nach Westberlin wollte, musste durch die DDR reisen. In den Romanen des Textkorpus wird dieser Weg durch den unbekannten Teil Deutschlands zum Topos erhoben und als außergewöhnliche Reise beschrieben. Die Landschaft, die Topographie insgesamt und das Grenzpersonal werden kontrastiv zum bundesrepublikanischen Pendant wahrgenommen. Bekanntes wird durch fremde Eindrücke abgelöst. Das Trennende zwischen den zwei deutschen Staaten wird betont. Der Weg nach Westberlin lässt sich in unterschiedliche Segmente aufteilen. Zuerst ist es der Weg über die westdeutschen, bekannten Autobahnen, der die Reisenden auf die Transitstrecke führt. Diese Straße verläuft durch die DDR und ermöglicht einen Blick in den Alltag dieses unbekannten Landes. Martin Schlosser beschreibt die Fahrt entlang der Transitstrecke so: Bei Tempo 100, 80, 50 oder auch 30 sah man von der DDR vor allem karge Nutzlandschaften, farblose Kleinkleckerdörfer, schlechte Straßenbeläge und putzige Reklametafeln. PLASTE UND ELASTE AUS SCHKOPAU Augenfällig vorgeführt wurde einem die hoffnungslose Überlegenheit der Planwirtschaft auch durch die Krückelkarren der Marke Trabant. Wenn man einen ›Trabi‹ vor sich hatte, dann stank’s. Aber warum sollten gerade die Deutschen das Menschenrecht auf protzige Wagen gepachtet haben? (Abr, 204f.). Martin nimmt die Dörfer, an denen er vorbeifährt, als farblos wahr. Auch in den anderen Texten wird die DDR bzw. deren Bevölkerung farblos attributiert. Zwar nimmt Roddy Dangerblood die Transitstrecke selbst als »normal« wahr und nicht, wie »von der westlichen Welt« beschrieben, als »böser Moloch«, jedoch hätten die »Eingeborenen« »aschfahl« gewirkt (Dp, 106). Auch eine Zugfahrt durch die DDR überzeugt Martin nicht vom Gegenteil: »Vom Zugfenster aus wirkte die DDR nicht ansehnlicher als von der Autobahn aus. Verwittert, leer und grau« (Br, 405f.). Als 73

Vgl. Abschnitt 3.1.

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

der Weg für den Wahlberliner Martin schon zur Routine geworden ist, heißt es: »Die elendiglich monotone Transitstrecke. Auch wenn man gedurft hätte, wäre man nicht in Versuchung gekommen, irgendwo abzubiegen. Man wollte einfach nur so schnell wie möglich wieder raus aus dieser drögen DDR« (Kür, 99). Die Transitstrecke wird als Durchfahrt beschrieben, die in Kauf nehmen muss, wer nach Westberlin reisen will. In »Der kleine Bruder« wird der Weg in die geteilte Stadt als eine Fahrt durch einen Tunnel beschrieben, der nur eine Ausfahrt zulässt. Neues Leben hin, neues Leben her, dachte er, es sollte nicht mit einer Fahrt durch einen langen, dunklen Tunnel beginnen. Oder vielleicht doch, dachte er, als in der Ferne die hell strahlende Grenzkontrollstelle auftauchte wie ein frisch gelandetes Raumschiff. Oder vielleicht gerade doch (DkB, 10). Frank Lehmann fährt nachts entlang der Transitstrecke und nimmt die Fahrt als langen Tunnel wahr. Dieser assoziative Eindruck unterstreicht, dass Frank die DDR kaum registriert und sie nicht im aktiven Wahrnehmungsbereich des Protagonisten liegt. Des Weiteren ist die Beschreibung der Fahrt nach Westberlin als ein transitorischer Akt dargestellt, was mit Franks Lebensphase der Postadoleszenz in Verbindung steht. Sein Plan ist es, seinen Bruder Manni in Westberlin zu besuchen. Der Roman »Der kleine Bruder« beginnt mit der langen Fahrt entlang der Transitstrecke durch die DDR nach Westberlin. Die DDR wird dabei akustisch wie visuell komplett ausgespart. Frank und sein Freund Wolli fahren in »das sehr dunkle Dunkel« durch »das Land um sie herum, von dem man nichts sah oder hörte« (DkB, 6), und warten einzig auf das verheißungsvolle Schild »Transit Westberlin« (DkB, 8). Der zweite Teil der Trilogie wird somit ebenso mit einem Ablösungsmoment bzw. der einsetzenden Übergangsphase begonnen74 , nur der Kosmos der zentralen Figur, Frank Lehmann, hat sich im Gegensatz zum ersten Band anscheinend erweitert. Während die Grenzkontrolle selbst ausgespart wird, wird die Fahrt zum Ziel – nach Kreuzberg – als eine Tunnelfahrt mit umgekehrten Vorzeichen dargestellt. Der Weg in die Metropole ist auch hinter der Grenze dunkel, und Frank zweifelt schon daran, dass dies tatsächlich der richtige Weg sei: »Das sieht hier nicht gerade nach da sein aus, ich meine, das kann ja wohl nicht Berlin sein!« (DkB, 11). Frank sieht zunächst nur Wald und Dunkelheit, bis plötzlich der beleuchtete Funkturm auftaucht und sie den Kurfürstendamm entlang fahren. Dass es hier »keine sanften Übergänge« (DkB, 14) gibt, wird Frank angesichts des Hineingeworfenwerdens in die Stadt bewusst. Als »steinerne Masse neben der Autobahn« (ebd.) nimmt er die sich auftürmende Stadt wahr. Der Kurfürstendamm mit seinen Lichtern und den

74

Vgl. Neue Vahr Süd, Abschnitt 4.1.

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Topographien der Adoleszenz

vielen Menschen erinnert ihn an den »Emil-und-die-Detektive-Quatsch«, er bekommt gute Laune und fühlt sich wie in einem Film, wobei der Kurfürstendamm als »Kulisse« (DkB, 16) fungiert. Frank kennt Berlin bis dahin nur aus Erzählungen, Filmen und Büchern. Deshalb wird seine Erwartungshaltung vorerst auch enttäuscht, wird Berlin doch immer als pulsierende Großstadt dargestellt. Der Topos Berlin75 wurde bereits durch Gotthold Ephraim Lessing und Karl Philipp Moritz im 18. Jahrhundert genährt, literarisch verarbeitet und selbst zum Ort des literarischen und publizistischen Arbeitens. Berlin ist Projektionsfläche, in der sich Geschichte und Geschichten spiegeln, die in der und über die Stadt kursieren. Franks Assoziation mit Kästners Kinder-Detektiv-Roman ist nur eines von unzähligen Narrativen, die sich über die Jahrhunderte in die Oberfläche, die Topographie der Stadt, eingeschrieben haben. Dass er den Kudamm als Kulisse wahrnimmt und es »wie in einem Film« (DkB, 16) war, stellt ferner einen intertextuellen Bezug zu Irmgard Keuns Berlinroman »Das kunstseidene Mädchen« her. Der Roman spielt in den frühen 1930er-Jahren und verhandelt selbst die intermedialen Verbindungen, die in der Weltstadt Berlin zusammenlaufen. So ist eine immer wiederkehrende Forderung der Protagonistin, zu schreiben »wie Film«.76 Die Szene selbst wird so als ein kulturelles Bedeutungsgewebe erkennbar, das sich Frank als ein topographisches Meshwork offenbart. Als Frank und sein Beifahrer Wolli den Kurfürstendamm hinter sich lassen, werden die Leuchtreklamen augenblicklich weniger. Für Frank entsteht der Eindruck eines hell erleuchteten Lichtertunnels, den man passieren muss, um nach Kreuzberg zu kommen: Und dann waren sie in einer anderen Gegend, die Straße war zwar noch immer groß und breit, aber dunkler jetzt, der ganze Glitzertand des Kudamms war mit einem Mal verschwunden, der Kudamm ist genau so ein Tunnel wie die Transitstrecke, dachte Frank, bloß umgekehrt (DkB, 17). Auf dem Weg nach Kreuzberg passiert Frank drei Transitzonen: die Transitstrecke durch die DDR, die als dunkel beschrieben wird, die Grenzkontrolle selbst, die in der Erzählung ausgespart wird, und zu guter Letzt die Fahrt nach Kreuzberg, die entlang des Touristenmagneten schlechthin – des Kudamms – führt. Transitstrecke und Kudamm symbolisieren im Text die zwei politischen Systeme des Kommu-

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Einen kurzen historischen Abriss der Entwicklung Berlins vom Barockzeitalter bis zur Gründerzeit bietet der Aufsatz von Matthias Harder und Almut Hille »Berlin – Literatur – Geschichte, Literarisches Leben und Stadtentwicklung in Berlin«, in: »Weltfabrik Berlin«, Eine Metropole als Sujet der Literatur, Würzburg 2006, S. 9-34. »Ich denke nicht an Tagebuch – das ist lächerlich für ein Mädchen von achtzehn und auch sonst auf der Höhe. Aber ich will schreiben wie Film, denn so ist mein Leben und wird noch mehr so sein.« [Keun, Irmgard (1932): Das kunstseidene Mädchen, S. 233].

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nismus bzw. des Kapitalismus. Während das Land des Arbeiter- und Bauernstaates in nächtlicher Dunkelheit liegt, repräsentiert der Kurfürstendamm als illuminierte Straße die Welt des kapitalistischen Konsumrauschs. Die zwei Extreme werden in Opposition zueinander gesetzt, was durch die ihnen zugeschriebenen visuellen Eindrücke – dunkel versus glitzernd –, die akustischen Wahrnehmungen – Stille versus Sause (DkB, 16) – und die Gefühle des Wahrnehmenden – Ungeduld versus gute Laune – markiert wird. Frank lässt beide Transittunnel hinter sich, um in der Heterotopie Kreuzberg ein neues Zuhause zu finden77 . Wenngleich Frank bei seiner Einreise nach Westberlin die DDR nicht wahrnimmt, thematisiert der Text an anderer Stelle Franks Eindruck des anderen Teils von Deutschland. Gemeinsam mit Wolli klettert er auf einen Beobachtungsturm an der Mauer, um nach Ostberlin zu blicken. Was er hinter der Mauer sieht, widerspricht seinen Erwartungen: Frank hatte sich das immer so vorgestellt, daß hinter der Mauer die Stadt einfach weiterging, aber jetzt sah er zum ersten Mal, wie breit die Schneise war, die man hier zwischen die Häuser geschlagen hatte, um darin Sandfelder, Wege, Mauern, Zäune, Wachtürme und große Peitschenlampen, die das alles in ein gelbes, unwirkliches Licht tauchten, unterzubringen. Die andere Stadt war mehr als hundert Meter weit weg, schätzte Frank (DkB, 214f.). Der Grenzraum, der Berlin in zwei separate Städte teilt, ist Ausdruck der architektonisch repräsentierten Macht und der damit einhergehenden repressiven Politik gegen die DDR-Bevölkerung durch den Parteiapparat. Entgegen Franks Vermutung stellt sich die Grenze auf der anderen Seite nicht als lediglich die schmale Mauer dar, entlang derer er in Kreuzberg flaniert. Stattdessen offenbart sich seinen Augen ein breiter Grenzraum, der nur existiert, damit er nicht überwunden werden kann. Er sperrt die Menschen auf der einen Seite der Mauer ein und verbietet ihnen den Grenzübertritt. Die Grenze stellt sich Frank derart manifest dar, dass er angesichts Ostberlins von der anderen Stadt und nicht etwa vom anderen Teil der Stadt Berlin spricht. Das Tempolimit auf der DDR-Autobahn wird in »Der kleine Bruder« und in der Martin-Schlosser-Chronik thematisiert. Wolli ermahnt Frank bloß nicht die vorgegebenen 100 km/h zu überschreiten, aus Angst vor harten Strafen. In »Abenteuerroman« wird das Verhalten der Fahrer nach dem Grenzübertritt in Richtung Westberlin wie folgt beschrieben: Von Drewitz [Kontrollpunkt] ging der Weg über Dreilinden auf die »Avus«, die Berliner Stadtautobahn, und da drückten sie aufs Gaspedal, die Fahrer, aber wie!

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Vgl. Abschnitt 3.2.

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Topographien der Adoleszenz

Crescendo! Freie Bahn! Der Tempolimit-Diktatur des Proletariats entronnen! (Abr, 206). Die von Westdeutschland abweichenden Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Autobahnen lassen die DDR als Land mit strengeren und reglementierenderen Gesetzen erscheinen. Zwar ist die Angst Wollis, in einem Gulag zu enden (DkB, 5), als Hyperbel zu verstehen, dennoch unterstreicht dieses Bild das Stereotyp über die kommunistischen Machthaber. Die erlaubte Höchstgeschwindigkeit ist letztlich auch nur ein Ärgernis für Fahrzeuge der westlichen Hemisphäre. Der in der DDR verbreitete Trabant ist das einzige Auto auf der Transitstrecke, das sich an die vorgeschriebenen 100 km/h hält, nicht zuletzt, weil es nicht schneller fahren kann. Frank fährt hinter solch einem Trabant her, nutzt ihn als Orientierung durch den dunklen Tunnel, bis jener schließlich abfährt. Alle anderen Autos überholen ihn auf der Fahrt Richtung Westberlin (DkB, 6). Auch Martin spricht von »Kriechverkehr« (Br, 226), der mangels irgendwelcher »Sehenswürdigkeit« entlang der Transitstrecke das »Nach-Berlin-Trampen« an dieser Stelle für ihn zu einem stetigen Hindernis auf dem mittlerweile routinierten Weg werden lässt. Während die Straßen der westlichen Hemisphäre als Schwellenraum markiert werden, der Geschwindigkeit und Raumeroberung verspricht, ist die Transitstrecke eine Straße, die die Bewegung unfreiwillig verlangsamt. Auch die Reise per Zug wird als Fahrt mit Hindernissen beschrieben: »In Helmstedt stand der Zug fast eine halbe Stunde lang still« (Br, 405). So nimmt Martin die Beschilderung entlang der Transitstrecke zum Anlass, um über die DDR nachzudenken und seine eigenen Schlüsse zu ziehen: Ausgeschildert war auf der Autobahn nur »Berlin – Hauptstadt der DDR«, also Ostberlin; Westberlin wurde unterschlagen. Die hatten’s wohl echt nötig, sich die geographischen Gegebenheiten so hinzubiegen, wie es ihnen paßte (Abr, 206). Der Machtapparat der DDR negiert die Existenz Westberlins, indem sich die Wegbeschilderung einzig auf den von ihnen regierten Teil der Stadt ausrichtet. Das Ziel, die Sogwirkung Westberlins auf diese Weise außer Kraft zu setzen, erreicht er freilich nicht. In »Der kleine Bruder« wird vice versa der Kurfürstendamm als transitorischer Repräsentationsraum des Kapitalismus dargestellt, den die Postadoleszenten passieren müssen, um nach Kreuzberg zu gelangen. So sind sie gleich von vier Seiten begrenzt: Der Landwehrkanal, die Mauer, der Kurfürstendamm und abermals die Mauer bilden passierbare und unpassierbare Grenzen zwischen der Subsemiosphäre Berlin Kreuzberg, SO 36, und dem Rest der geteilten Stadt. Der Akt der Grenzkontrolle wird in den Texten als Praktik der Machtausübung und das Personal als automatisierte Befehlsempfänger dargestellt. Martin Schlosser und Roddy Dangerblood bezeichnen die Grenzbeamten als »Miesepampel« (Abr, 204), »Sauerfleischfratzen« (Kür, 126), »Terrier« (Abr, 204) und »ausgespro-

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

chen unfreundlich« (Dp, 106). Die schlechte Laune der Grenzbeamten strahlt auf den Eindruck der DDR als freud- und farblos ab. »Die Reisepässe zuckelten auf einem Förderband von Kajüte A zu Kajüte B, in der ein weiterer Terrier residierte, und bei dem durfte man sie sich wieder abholen. Der Kanadier weinte fast vor Entgeisterung über den lieblos in seinen Paß gekloppten Stempelabdruck. […] So machte sich der real existierende Sozialismus keine Freunde in der Welt« (Abr, 204). Die Fahrt auf der Transitstrecke wird im Textkorpus auf der Ebene der Diegese als notwendiges Übel beschrieben, welche in Kauf genommen wird, um nach Westberlin zu gelangen. Mithin liegt in der Tiefenstruktur dieser Darstellung die liminale Schwelle, die die adoleszenten Protagonisten mit all ihren Schwierigkeiten durchleben, verborgen. Besonders deutlich tritt dies in »Der kleine Bruder« zu Tage, ist Frank doch auf dem Weg, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Im Fall von Roddy Dangerblood ist der Weg nach Westberlin als Übergang aus der Provinz in das Zentrum der westdeutschen Punkbewegung markiert78 . Im Gegensatz dazu wird gerade in der Martin-Schlosser-Chronik die politische Situation des Kalten Krieges virulent, zielen Martins Kommentare doch immer wieder auf die diktatorischen Züge des Regimes. Im folgenden Beispiel wird seine Meinung besonders deutlich: »In der DDR wäre ich nicht alt geworden. Wenn man es da zu was bringen wollte, mußte man kuschen und den Funktionären der alleinseligmachenden Einheitspartei nach dem Munde reden« (Br, 405f.).

2.5

Der Wehrdienst – Rudiment der Krisenheterotopie

Die Raumsoziologie geht davon aus, dass institutionalisierte Räume durch ritualisiertes Handeln der Akteure, das den Akteuren aufgrund ihres Standorts im institutionalisierten Raum abverlangt wird, entstehen. Institutionalisierte Räume wie beispielsweise Kasernen existieren also qua der Personen, die gemäß der vorgegebenen Praktiken agieren. Anthony Giddens erläutert das Verhältnis sozialer Prozesse und die Signifikanz von Routinen wie folgt: Routinen sind konstitutiv sowohl für die kontinuierliche Reproduktion der Persönlichkeitsstrukturen der Akteure im Alltagshandeln, wie auch für die sozialen Institutionen; Institutionen sind solche nämlich nur kraft ihrer fortwährenden Reproduktion.79

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Vgl. Abschnitt 3.1. Giddens, Anthony (1988): Die Konstitution der Gesellschaft. S. 111f.

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Topographien der Adoleszenz

In diesem Abschnitt wird der literarischen Darstellung eines institutionalisierten Raums par excellence nachgespürt: der Kaserne. Neben der Raumdarstellung werden auch das Verhalten und die Wahrnehmung der Protagonisten in den Blick genommen, die Akteure in einer stark hierarchisierten Struktur werden. Wenngleich die Erzählzeit der Erlebnisse bei der Bundeswehr in »Neue Vahr Süd« weitaus umfangreicher ist als in »Abenteuerroman«, lassen sich doch einige Parallelen konstatieren. Das Handlungsschema der Bundeswehrzeit ist auf den ersten Blick in beiden Romanen beinahe identisch. Die Art und Weise der Darstellung ist jedoch unterschiedlich. In »Abenteuerroman« werden einzelne Bundeswehrerlebnisse zu Erinnerungssplittern montiert, die aus der Perspektive des autodiegetischen Erzählers Martin Schlosser dargestellt werden. Im Falle Frank Lehmanns ist die Erzählperspektive nicht so leicht zu durchschauen. Die Aussage Franks, man spreche über Anwesende nicht in der dritten Person (vgl. NVS, 35), die eine Art Leitmotiv in allen drei Romanen ist, gibt einen entscheidenden Hinweis auf die Erzählperspektive. Zwar ist die Trilogie im epischen Präteritum verfasst, was eine gewisse Distanz des Erzählers zum Ereignis vermuten lässt, jedoch handelt es sich immer um eine fixierte interne Fokalisierung. Die langen Passagen der Gedankenrede Franks, die den Stil der Trilogie maßgeblich bestimmen, werden einzig durch das verbum credendi »dachte er« unterbrochen und wirken ansonsten wie ein langer Bewusstseinsbericht. Wenngleich es eine narrative Instanz gibt und Erzählerbericht und Gedankenrede abwechseln, bekommt der Leser nur Informationen aus der Mitsicht Franks. So entsteht der Eindruck, dass die Hauptfigur gleichzeitig der Erzähler ist, obwohl nicht aus der Ich-Perspektive berichtet wird. Der Erzählmodus bricht die konventionellen Modi auf und dekonstruiert sie. Der leitmotivische Satz weist den Leser immer wieder auf die Divergenz zwischen Erzählperspektive und grammatischer Form hin. Der Bundeswehralltag wird somit in beiden Texten aus der Perspektive der Hauptfiguren, Frank und Martin, dargestellt. Die Ausgangslagen beider Protagonisten unterscheiden sich: Während Frank Lehmann vergessen hat zu verweigern, beschließt Martin Schlosser, den Wehrdienst anzutreten, um Informationen aus dem Inneren der Bundeswehr zu sammeln. Sein Plan ist es, ein Buch über seine Erlebnisse bei der Bundeswehr zu verfassen. Diese Idee hat er bereits als 17-Jähriger, zwei Jahre vor seiner voraussichtlichen Abiturprüfung 1981 und der anschließenden Wehrdienstzeit (vgl. Lir, 324). Martins Meinung zur Bundeswehr ist stark durch die NS-Vergangenheit und den Kalten Krieg geprägt, was immer in den Momenten zum Ausdruck kommt, wenn er von seinem Bruder Volker berichtet, der sich zwei Jahre als Zeitsoldat verpflichtet hat. »Wieviele alte Nazis wohl in der Bundeswehr noch aktiv waren? Und Aufmarschpläne für einen weiteren Krieg gegen die Sowjetunion entwarfen?«, fragt sich Martin, als sein Bruder nach der Grundausbildung in eine andere Kaserne versetzt wird (Lir, 400). Auch die bis ins Absurde ausgeführten Regeln der Bun-

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

deswehr lassen Martin darauf schließen, dass das ein »Scheißladen« sein müsse (Lir, 491). Sein Bruder muss nämlich über das Wochenende in der Kaserne bleiben, weil die Person, die aufgrund ihres Dienstgrades die Entlassungspapiere für den von einem Hexenschuss Genesenen unterschreiben kann, erst nach dem Wochenende wieder Dienst hat. Die erzählte Zeit von »Neue Vahr Süd« beginnt mit dem Tag vor der Einberufung und endet mit der vorzeitigen Entlassung wegen Dienstuntauglichkeit. Der Roman ist unterteilt in zwei Bücher: »Grundausbildung« und »Feierliches Gelöbnis«. Diese Bücher enthalten 30 bzw. 16 Kapitel und erstrecken sich über 386 bzw. 217 Seiten. Das erste Buch endet mit der Versetzung Franks in eine andere Einheit und damit auch in eine andere Kaserne, die in der Neuen Vahr liegt und somit nahe der elterlichen Wohnung. Die Kapitel wechseln zwischen zwei Handlungsräumen: Kaserne und privater Raum. Der private Raum des Protagonisten erstreckt sich zwischen Ostertorviertel und Neue Vahr Süd. Die Wegstrecke zwischen Wohnort und Kaserne nimmt eine Sonderstellung ein und kann als Schwellenraum gelesen werden.

Die Kaserne Die Kaserne selbst wird in den Texten als Ort dargestellt, der nur von ausgesuchten Personen betreten und verlassen werden darf. Geregelt werden diese Ein- und Ausschließungen durch den Wehrdienst, der Männer mit deutscher Staatsangehörigkeit, einer bescheinigten Befähigung und einem bestimmten Alter zu Wehrdienstleistenden macht.80 Die Feststellung zur Wehrdiensttauglichkeit – die Musterung – ist diskursiv geprägt, wird in Regeners Roman aber ausgespart.81 Gerhard Henschel widmet der Musterung knapp über eine Seite Erzählzeit, die zum größten Teil aus den Worten »Warten« (Abr, 124) besteht. Unterbrochen wird diese Zeit durch die Körpervermessung Martins, seine Urinabgabe, die Voruntersuchung, die Hauptuntersuchung und den Bescheid über die Entscheidung des Musterungsausschusses.

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Das Wehrpflichtgesetz trat am 21.07.1956 in Kraft. Darin wurde festgesetzt, dass Männer, »die Deutsche im Sinne des Grundgesetzes sind« (WpflG, Paragraph 1) einen Grundwehrdienst leisten müssen. Der Begriff »Wehrdienst« schließt sowohl Soldaten auf Zeit, Berufssoldaten als auch Grundwehrdienstleistende ein (vgl. Soldatengesetz, Paragraph 1 und 39). Die Wehrpflicht wurde 2011 ausgesetzt. So wird eine medizinische Untersuchung vorgenommen, die die körperlichen und geistigen Voraussetzungen für den Wehrdienst abklärt und eine Tauglichkeitsstufe für den jungen Mann festlegt. Je besser die Voraussetzungen, umso wahrscheinlicher ist es, dass er den Wehrdienst antreten muss. Jedoch ist dies auch immer abhängig vom Jahrgang und der aktuellen weltpolitischen Situation. Ob der Untersuchte schließlich eingezogen wird, hängt nicht von vermeintlich objektiv bewertbaren körperlichen und psychischen Fähigkeiten ab, sondern primär vom Bedarf an neuen Rekruten.

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Die Beschreibung der Musterung ist durch eine Montage aus appellativen Zitaten – »Und bitte etwas Urin…« sowie »Sie können sich wieder anziehen« – und der Aufzählung von Untersuchungsformen – etwa »Körperlänge«, »Kinderkrankheiten«, »Sehtest« – gekennzeichnet. Die stakkatoartige Aufzählung verbunden mit der zwischen den Untersuchungen immer länger werdenden Wartezeit, die durch die Steigerung des identischen Reims von zweimal »Warten« auf viermal »Warten« markiert wird, stellen den Ablauf der Musterung in lyrischer Form dar. Dem gegenüber steht der Bescheid, den der autodiegetische Erzähler erhält. Er wird anschließend zitiert und gibt Auskunft über die Tauglichkeitsstufe: Aufgrund des Ergebnisses der ärztlichen Untersuchung wird festgesetzt, daß Sie gem. § 8a Abs. 1 Satz 1 WpflG wehrdienstfähig und nach Maßgabe des ärztlichen Urteils gem. § 8a Abs. 2 WpflG verwendungsfähig mit Einschränkung für bestimmte Tätigkeiten sind (Abr, 124). Die Textform entspricht der eines juristischen Standardformulars, das an entsprechender Stelle optional ergänzt werden kann. Die Ausstellung des Bescheids obliegt einzig den dazu bevollmächtigten Personen des Kreiswehrersatzamtes, die so die Macht der Institution Bundeswehr reproduzieren. Der Akt der Tauglichkeitseinschätzung kann als performativ im Sinne Judith Butlers interpretiert werden. Kraft des Bescheids wird Martin Schlosser zum Wehrdienst verpflichtet und damit zum Angehörigen der Institution Bundeswehr ernannt. Der performative Akt beruht, und das moniert auch Martin Schlosser, auf der binären Geschlechteropposition, die Männer zu potenziellen Soldaten qua Geschlecht macht und Frauen von der Wehrpflicht ausschließt. »Reichlich ungerecht, daß Frauen weder Kriegsdienst noch Zivildienst leisten mußten, sondern unbehelligt von der Schule in die Uni wechseln durften. Wo blieb denn da die Gleichberechtigung?« (Abr, 119). Der Einberufungsbescheid, den Martin schließlich erhält, informiert ihn über seine Personenkennziffer, mit der man sich gleich viel wohler in seiner Haut fühle, so sein süffisanter Kommentar (vgl. Abr, 190). Die Vergabe der Kennziffer ist eine Praktik, die die Person zu einer Nummer degradiert, sie entpersonalisiert und so abermals die Dispositive der Macht offenbart. Die Ein- und Ausschließungsmechanismen, die für die Macht des Orts »Kaserne« konstitutiv sind, werden in der folgenden zitierten Rede des Kompaniechefs deutlich, als Frank und seine Kompanie das erste Mal unter der Woche Ausgang haben: Dann ist ja gut. Und Sie dürfen raus, ja, das ist ja kein Gefängnis hier. Aber nur in Zivil oder im kleinen Dienstanzug. Und wenn Sie rausgehen, den Dienstausweis nicht vergessen, sonst kriegen Sie Ärger, wenn Sie wieder reinwollen. Hier darf nicht jeder rein, hier dürfen nur die Besten rein (NVS, 70).

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Ohne den Dienstausweis, der die Identität und die Zugehörigkeit zur exklusiven Gruppe der Bundeswehr sicherstellt, wäre eine reguläre Rückkehr in die Kaserne nicht möglich. Was der Kompaniechef nur als Ironie formuliert, ist in den Augen Franks Realität. »Man ließ sie frei« (NVS, 68), stellt er überrascht fest, als die Kompanie das erste Mal abends frei bekommt. Die semantische Abwandlung, die Frank an der Aussage »Ihr tretet gleich weg zum Abendessen, und danach habt ihr frei«82 vornimmt, verdeutlicht seinen Eindruck des Kasernenalltags. In Franks Wahrnehmung ist die Kaserne ein Gefängnis, ein Ort, an welchem die Insassen ihrer Handlungsfreiheit beraubt sind. In »Abenteuerroman« indes wird die Bundeswehr mit ihren Praktiken als »Irrenhaus« (Abr, 291) bezeichnet. Beide Synonyme, die die Protagonisten der Kaserne – in Franks Fall indirekt – geben, lassen unweigerlich an Michel Foucaults Ausführungen zu Psychiatrien und Gefängnissen denken. Auch er zieht Parallelen zwischen diesen drei Räumen, die auf dem gleichen Ordnungssystem – nämlich dem der Ein- und Ausschließung – beruhen. Insofern sind die Umbenennungen der Kaserne als Metapher zu verstehen. Denn Gefängnis, Psychiatrie und Militär gelten nach Foucault als Orte, deren Macht sich durch Gewohnheiten, Übungen und Dressur vollzieht. Das Verhalten der Vorgesetzten gegenüber den Rangniedrigeren erzeugt sowohl bei Frank als auch bei Martin den Eindruck von Unfreiheit. Martin sieht sich der »Knechtschaft« entgegenfahren, als er mit dem Zug die erste Fahrt zur Kaserne in Budel antritt (vgl. Abr, 289). Budel liegt dicht hinter der deutsch-niederländischen Grenze, befindet sich also auf fremden Territorium, eine Exklave der deutschen Bundeswehr. Der Kompaniefeldwebel betrachtet seine Untergebenen als Zöglinge, die man noch zu Soldaten erziehen muss. »Es ist noch kein Soldat vom Himmel gefallen« (NVS, 69), begründet er die harte Ausbildungsart, der sich die Wehrpflichtigen beugen müssen. Die Wehrpflicht ist aus Sicht der Bundeswehr ein Ausbildungsprogramm für Soldaten, das mit starren hierarchischen Strukturen und Regeln sowie kriegsvorbereitenden Übungen die jungen Männer erzieht. So gibt es die »Formalausbildung«, in der die Pioniere »Grundstellung, Rührt euch, Grüßen, Links um, Rechts um, Marschieren, Anhalten« (NVS, 67) trainieren. Bei Übungen im Gelände lernen sie, »sich zu tarnen und sich hinzuwerfen« (NVS, 67). Frank findet diese Handlungen mehr als grotesk, vor allem weil sie sich ihre Gesichter »mit einem angekokelten Korken geschwärzt« und »Blumen, Zweige und Gräser« zur Tarnung ins »Grünzeug« gesteckt haben (NVS, 67). »Zum Lachen hatte niemand Zeit und niemand Lust«, stellt Frank angesichts der unzähligen Wiederholungen des Befehls »Deckung!, Sprung auf, marsch marsch!, Deckung!« fest (NVS, 67). Ähnlich werden die Befehle auch in »Abenteuerroman« zitiert:

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NVS, 68, Hervorhebung: L.H.

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›Stillgestanden!‹ ›Rührt euch!‹ ›Stillgestanden!‹ ›Rührt euch!‹ ›Durchzählen!‹ ›Augen – links!‹ ›Augen – geradeee-aus!‹ (Abr, 294f.). Die Routinen entfalten ihre Wirkung, sobald die Wehrdienstleistenden den Befehlen der Vorgesetzten folgen. Beide Gruppen werden zu Akteuren, die die Bundeswehr als Institution reproduzieren. Die »Neuzugänge« sind selbst während des Essens von den höheren Rängen getrennt (vgl. Abr, 293), was das Hierarchiegefüge zusätzlich unterstützt. In »Abenteuerroman« werden die Befehle zum Marschieren im Gleichschritt durch die Figur eines Obergefreiten zur Persiflage, die in der Beschreibung des Kasernenalltags immer wieder eingestreut wird. Das rhythmische »Links! Zwo! Drei! Vier!« gerinnt zu einem einzig aus Vokalen bestehenden Buchstabenskelett: »Iiii! Oooo! Aiii! Iiii!« (Abr, 291). Der onomatopoetische Klang wird zum wiederkehrenden Element im Text und zieht den von der diskursiven Macht geforderten Ernst ins Lächerliche und konterkariert ihn. Das Gelernte lässt sich im Alltag oberflächlich betrachtet nicht anwenden und dient vordergründig der Soldatenausbildung. Die Wehrpflicht stellt zur erzählten Zeit eine bereits rudimentäre Form der ritualisierten männlichen Adoleszenz dar, sind Verweigern und der alternative Zivildienst in der Zeit doch schon leichter möglich. Das zeigt sich auch am Alltag der gleichaltrigen Figuren, die mit Frank in einer WG leben. Sie haben sich für andere Ausbildungsformen entschieden. Die Zeit der Wehrpflicht steht der Universitätsausbildung – Franks Freunde sind zum Großteil Studierende – diametral entgegen. Was im Studium auf Freiwilligkeit und eigenverantwortlichem Lernen basiert, steht dem Wehrdienst mit exerzierenden Praktiken und ständig wiederholenden Übungen gegenüber. Die Machtstrukturen schließen eine exklusive Gruppe von wehrdienstleistenden Männern und Berufssoldaten ein und grenzen andere aus. Die Kaserne wird als ein Ort markiert, der aufgrund nicht-diskursiver Praktiken (Architektur, Kleidung) existiert und seine Macht entfaltet. Frank soll in seiner Funktion als Vertrauensmann mit einem Pionier über dessen Beweggründe dafür sprechen, warum er nach dem Wochenende nicht vorschriftsmäßig in die Kaserne zurückgekehrt ist. Der Hauptmann, der Frank mit der Aufgabe betraut, nutzt, um das Zurückholen des Wehrdienstleistenden Reinboth durch die Feldjäger zu beschreiben, den Ausdruck »reinholen« (NVS, 176). Das Verb verdeutlicht das Verständnis der Bundeswehr gegenüber den Machtstrukturen, die die Institution ausstrahlt. Die Bewegung, die durch das Verb beschrieben wird, geht von der Kaserne als Ausgangspunkt aus und betrachtet den Aufenthaltsort des Pioniers – er befand sich zu Hause – als Ort, der

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der Kaserne entgegensteht und somit außerhalb des Bundeswehrraums liegt. Reinboth hätte sich dort, nachdem das Wochenende vorbei war, nicht mehr aufhalten dürfen. Die Zeit, in der das Zuhause als ein betretbarer Raum gilt, endet um ein Uhr in der Nacht auf Montag, wenn alle Soldaten zurück auf ihrer Stube sein müssen. Reinboth hat diese zeiträumlichen Grenzen missachtet und übertreten. Die exekutive Gewalt der Bundeswehr – die Feldjäger – stellen die diskursive Ordnung wieder her, indem sie den Flüchtigen zurückholen. Das Verb »reinholen« verdeutlicht die Grenzen zwischen innen und außen, zwischen Kaserne und Privatleben. Der Hauptmann betrachtet die Situation aus der Perspektive der Bundeswehr und begreift das Handeln der Feldjäger als ein Zurückführen des Wehrpflichtigen zu seinem angestammten Platz. Die Kaserne wird in den Texten als Heterotopie markiert. Ein realer Raum, in dem Raum-, Wissens- und Machtstrukturen eine Abgrenzung schaffen, die nur ausgewählte Individuen übertreten können. Diese diskursive Grenze ist auch architektonisch sichtbar, sind Kasernen doch durch Tore, Zäune und Wachpersonal gesichert. Um Einlass zu erhalten, muss den Wachen der Dienstausweis vorgezeigt werden. Martin hat einen Tag »Pförtnerdienst, in einem Bau, wo lauter Offiziere ein- und ausgingen« (Abr, 314). Nur die niederen Ränge zeigen den Ausweis unaufgefordert beim Betreten vor, höhere Dienstgrade passieren die Schwelle ohne dieses Prozedere. Der Protagonist ignoriert das Nicht-Vorzeigen des Ausweises. Je höher der Dienstgrad, desto stärker scheint die Stellung innerhalb der Bundeswehrhierarchie das Selbstbild der Soldaten zu beeinflussen. Denn sie gehen davon aus, dass sie allein durch ihren Rang, den die Uniform offenbart, die Berechtigung zum Passieren des Pförtnerhäuschens erhalten. Mithin wird Martins Handeln nicht als seine Akzeptanz gegenüber der informellen Regelungen dargestellt, sondern als Ignoranz. »Mir war’s eins. Ich genoß den Frieden, döste vor mich hin […]« (Abr, 314). Der Raum unmittelbar vor dem Eingangsbereich der Kaserne wird in »Neue Vahr Süd« als Schwellenraum markiert, der ausschließlich zum Passieren gedacht ist und nicht zum Verweilen. Als Frank zu früh nach dem Wochenende an der Kaserne ankommt und im Auto sitzend eine Zigarette rauchen will, wird er sofort vom Wachdienst angesprochen. Der Soldat erklärt: »Hier kannst du nicht stehenbleiben. Hier ist Halteverbot. Außerdem wird dann der OvWa nervös, der sieht überall Terroristen, der OvWa« (NVS, 54). Frank folgt schließlich der Aufforderung, die Schwelle in das Innere der Kaserne zu passieren. Nachdem er seinen Dienstausweis vorgezeigt hat, erhält er Einlass. Die Kaserne übt auf Frank eine Sogwirkung aus, der er sich nur schwer entziehen kann. Er muss spätestens um ein Uhr in der Nacht auf Montag wieder zurück in Dörverde sein und fühlt sich gleich nach dem Aufstehen von der Kaserne angezogen. Freitagabend und Samstag fühlt sich Frank noch als »Zivilist« (NVS, 150), der die gleichen Aktivitäten verfolgen kann wie seine Mitbewohner, aber am Sonn-

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tag fühlt er sich wie ein »Soldat auf Abruf«. Bereits um 18 Uhr beschließt er, sich ins Auto zu setzen und Richtung Kaserne zu fahren. Da er weiß, dass es noch viel zu früh ist, um dort einzutreffen, nähert er sich dem Ort im Zickzackkurs: Hauptsache »in Bewegung« sein (NVS, 152), ist seine Devise. »[…] [W]ie ein Satellit, dessen Fliehkräfte verbraucht waren und der langsam, aber letztlich unaufhaltsam der Erde entgegentaumelte« (NVS, 153), wird Franks Fahrt zur Kaserne beschrieben. Dieser Vergleich verdeutlicht die Macht der Kaserne als Ort, dessen Anziehungskraft so stark ist, dass sie jeden, der Teil der Bundeswehr ist, zu sich zurückführt. Die Institution muss bloß abwarten, bis die Willensstärke des Soldaten nachlässt und er von alleine zurückfindet. Die Kaserne wird hier mit der Erde gleichgesetzt, also dem Konstruktionsort des Satelliten. Frank fühlt sich fremdbestimmt, als er mit seinem Kadett Dörverde, den Standort der Kaserne, umkreist. Ein Satellit ist in der Regel unbemannt im Erdorbit unterwegs, umkreist den Planeten und fällt irgendwann, sobald die Kräfte schwinden, auf ihn zurück. Dieser automatisierte Prozess, der Frank in den Sinn kommt, verdeutlicht seine Sicht auf die Kaserne und sein Verhältnis zur Bundeswehr. Mit dem Vergleich kommt zum Ausdruck, dass sich Frank als Produkt des Ausbildungsapparats begreift, dessen Ergebnis ein Soldat sein soll. Sein Herstellungsort ist die Kaserne, so wie die Erde der Konstruktionsort des Satelliten ist. Ein Soldat ist aus dieser Perspektive betrachtet das Ausbildungsergebnis der Bundeswehr, und der Rohstoff sind wehrpflichtige Männer. Durch die Ausbildung werden den Pionieren Gehorsam und Pflichtgefühl gegenüber der Institution, das heißt den Vorgesetzten, die als Vertreter der Gesetze und Pflichten der Bundeswehr auftreten, beigebracht. Abhanden kommt dabei – folgt man dem Vergleich – die Willensstärke und Selbstbestimmung des Individuums. Frank fasst nach seinem ersten Monat als Pionier (NVS, 365) den Entschluss, nachträglich zu verweigern. Als ein anderer Soldat die schriftliche Verweigerung von Frank entdeckt, verrät er ihm, dass auch er mit seiner Verweigerung gescheitert ist. »Viel Glück. Aber da kommst du sowieso nicht mit durch, glaub’s mir. Wenn du einmal hier bist …« (NVS, 295). Der degradierte Pionier Müller deutet mit seiner Aussage die gleichen institutionellen Mechanismen der Bundeswehr an, die mit Franks Zickzackkurs in Richtung Kaserne zum Ausdruck kommen. Die Macht der Institution ist so groß, dass wer Mitglied der Bundeswehr ist, nicht mehr frei entscheiden kann, ob er Teil der Institution sein will oder nicht. Die Anziehungskraft reicht von psychologischen Kräften bis hin zu juristischen Mächten, denen Bundeswehrangehörige unterliegen. Als der Termin zur Anhörung zur Kriegsdienstverweigerung feststeht, wird nach fünf Wochen auch endlich die »G-Karte« (NVS, 364), die Gesundheitsakte von Frank Lehmann, an die Kaserne weitergeleitet. Dass Frank aufgrund der fehlenden Unterlagen keine Einstellungsuntersuchung erhalten hat, macht den Kompaniefeldwebel sehr wütend:

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›Was soll das heißen, die konnten keine Einstellungsuntersuchung machen? Das geht doch gar nicht. Das müssen die doch. Sie können hier doch nicht ohne Einstellungsuntersuchung herumhüpfen, was glauben Sie denn, wo Sie hier sind? Warum haben Sie mir das nicht gemeldet?‹ (NVS, 365). Die rhetorische Frage nach dem Ort bzw. der Institution, in der sich Frank befindet, verdeutlicht die Empörung, die den Kompaniefeldwebel angesichts der Unregelmäßigkeiten überkommt. Die vorgegebene Ordnungsstruktur, die den Ablauf der Wehrpflicht bestimmt, ist in Franks Fall durcheinandergeraten. Dies kann vor allem im Schadensfall rechtliche Konsequenzen haben. So malt der Vorgesetzte das Szenario eines übersehenen Herzfehlers bei Frank aus, der durch Unkenntnis bei Übungen lebensgefährdend werden könne (NVS, 366). Der Vorgesetzte möchte sofort einen Schuldigen für diese Situation ausfindig machen. Frank ist ihm dabei jedoch keine Hilfe und schiebt absichtlich Gedächtnislücken vor, die ihn hindern, sich an den Namen des Fahnenjunkers zu erinnern, den er gleich zu Beginn seiner Wehrpflicht über die ausgebliebene Einstellungsuntersuchung informiert hat. Damit versucht Frank die hierarchische Ordnungsstruktur aufzubrechen, da der »Spieß« so keine Möglichkeit hat, eine konkrete Person in die Verantwortung für die Versäumnisse zu nehmen. Frank wird – als die Namensverwechslung aufgeklärt ist – in die LettowVorbeck-Kaserne in der Neuen Vahr Süd, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Stätten seiner Kindheit, versetzt. Er wird dem sogenannten Nachschub zugeordnet und arbeitet fortan bei der Betriebsstoffgruppe. Als Frank den Namen der Kaserne hört, kann er sie räumlich nicht zuordnen, was seinen Vorgesetzten verwundert. »Ich denke, Sie sind aus Bremen« (NVS, 395), entgegnet Albrecht. Nach seiner Logik muss jemand, der in Bremen lebt, anhand der Namensnennung einer Kaserne wissen, wo sich diese befindet. Frank erschließt sich die Lage der Kaserne durch die Adresse »In der Vahr 76« (NVS, 395). Die Szene zeigt, dass es unterschiedliche Praktiken gibt, um fremde Orte in einer bekannten Stadt zu lokalisieren. Der offizielle Name der Kaserne ist aus der Perspektive des Berufssoldaten ein besserer Hinweis als der Straßenname, an der die Kaserne liegt. Aus Franks Perspektive, der sich – wie er selbst bekennt – als Zivilist nicht für die Namen von Kasernen interessiere, ist die Adresse der entscheidende Hinweis, um die Lettow-Vorbeck-Kaserne als die in seiner Nachbarschaft zu identifizieren. Frank wird nun zum sogenannten »Heimschläfer« (NVS, 395) und muss die Nächte nicht auf der Stube verbringen. [Die Kaserne] hatte […] mit dem Viertel, in dem er aufgewachsen war, nicht allzuviel zu tun, geographisch mochte sie in der Neuen Vahr Süd liegen, aber deshalb gehörte sie noch lange nicht dazu, im Gegenteil, er selbst hatte zwanzig Jahre in ihrer unmittelbaren Nähe gelebt, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu

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haben, welch eine seltsame Art zu leben sich hinter ihren Zäunen und Mauern verbarg […] (NVS, 417f.). Das Zitat verdeutlicht abermals die Macht, die von der Kaserne als architektonischem Bauwerk und darüber hinaus auch als Repräsentant der Institution Bundeswehr ausgeht. Obwohl sie geographisch mitten in dem Viertel liegt, in dem Frank aufgewachsen ist, hat er die Kaserne immer schon als einen Gegenort außerhalb seiner Heimat verstanden. Die Kaserne ist ein Ort, der als Mikrokosmos vollkommen isoliert existiert und eigene Praktiken, Routinen und Hierarchien institutionalisiert hat. In den zwei Romanen ist die Lage der Kasernen auf einer Entfernungsskala an den jeweiligen Enden angesiedelt. Während sich die Kaserne in »Abenteurroman« sogar in einem anderen Land befindet, könnte sie im Falle Franks nicht näher an den ihm bekannten Straßen liegen. Der Vergleich zeigt, dass die Lage einer Kaserne keinerlei Auswirkungen auf die Geschehnisse im Inneren hat. Sie ist vollkommen abgegrenzt von dem Raum, der sie umgibt. Im Text gibt es keine Hinweise darauf, dass die niederländische Regierung und das Rechtssystem auf irgendeine Weise Einfluss auf die Praktiken in der Kaserne hätten. Nur der Wehrsold der Wehrpflichtigen sei im Ausland höher, bemerkt Martin, was aber eine Entscheidung der Bundeswehr und nicht durch die niederländische Staatsmacht bestimmt sei. Die Ablehnung des nachträglichen Verweigerungsantrags und die Versetzung in die Kaserne nach Bremen fallen zeitlich zusammen, was der Situation Franks einen tragischen Moment verleiht. Sein Ziel, mit der Verweigerung aus alten Strukturen ausbrechen zu können und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, wird mit der Versetzung ins Gegenteil verkehrt. Die Ironie: Er wird in die Kaserne versetzt, die in unmittelbarer Nachbarschaft seiner elterlichen Wohnung liegt. Dort ist er zu Beginn seines Wehrdienstes ausgezogen, um wenigstens im privaten Bereich einen aktiven Schritt in Richtung Unabhängigkeit zu gehen. Nun findet er sich am gleichen Ort – in der Neuen Vahr Süd – wieder, ohne dass er dagegen etwas tun könnte. Letztlich ist er keinen Schritt weitergekommen.

Fliehen oder Verweigern? Dass sie die 15 Monate bei der Bundeswehr nicht ableisten wollen, ist den Protagonisten beider Texte schnell bewusst. Sie überlegen zu fliehen: Frank denkt darüber nach, zu seinem Bruder nach Westberlin oder in den Untergrund nach Dänemark bzw. in die Niederlande zu gehen. Das Problem ist ihm jedoch bewusst: Er würde sich dann freiwillig an den Rand der Gesellschaft begeben, da ihm sonst eine Anklage wegen Fahnenflucht bevorstehen würde (vgl. NVS, 71). Auch Martin stellt sich angesichts der Möglichkeit, die nachträgliche Verweigerung würde nicht gebilligt, vor, nach Berlin oder Amsterdam zu fliehen. Für beide Protagonisten bewegen sich die Überlegungen im rein hypothetischen Bereich. »Oder existierte da ein Auslie-

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ferungsvertrag?« (Abr, 345), fragt sich Martin bezüglich der Option, in Amsterdam Unterschlupf zu suchen. In den Texten werden letztlich andere Möglichkeiten verhandelt, um nachträglich aus der Bundeswehr auszuscheiden. Sowohl Martin als auch Frank reichen zunächst die nachträgliche Verweigerung ein und verweigern vorsorglich die Teilnahme am feierlichen Gelöbnis. Diesen Tipp bekommen sie aus ihrem jeweiligen Bekanntenkreis auf den Weg (vgl. NVS, 294 und Abr, 325). Von beiden Wehrdienstleistenden werden drei schriftliche Zeugenaussagen aus dem Familien- bzw. Freundeskreis verlangt, die die Verweigerung aus Gewissensgründen bestätigen. Zusätzlich geben ein Vorgesetzter der Bundeswehr und ein Mitglied der Mannschaft in Grundausbildung je eine Stellungnahme ab. Beide Protagonisten suchen sich die Zeugen bewusst aus. Während Frank seine Eltern und Martin Klapp um Schreiben bittet, wählt Martin seine Tante Dagmar, seinen Schulfreund Hermann und seinen Onkel Rudi, der sein Schreiben absichtlich mit dem Briefkopf seiner Anwaltskanzlei versieht – Martin erhofft dadurch eine höhere Aussagekraft. Hermann äußert sich in Worten, die er privat niemals verwenden würde – »eine Atmosphäre des ›Sich-Akzeptierens‹, des ›Sich-Verstehens‹ und ›Sich-Wohlfühlens‹« (Abr, 341) sei Martins Ziel. Tante Dagmar lässt sich über seine »humanistische Lebensphilosophie« aus (Abr, 341). Letztlich ausschlaggebend ist aber das Verhalten der Verweigerer bei der Anhörung. Die Situation wird ähnlich geschildert. Beide Protagonisten sehen sich im Kreiswehrersatzamt vier Personen gegenüber. Der Vorsitzende vertritt die Bundeswehr, der Schriftführer gehört ebenfalls der Bundeswehr an, zwei weitere Personen repräsentieren die Bürgerschaft der Stadt. In Fall von Frank Lehmann ist es ein Vertreter der SPD und einer der FDP (NVS, 374). Beide Protagonisten bekommen eine Frage gestellt, die das Gewissen prüfen soll. Konkret geht es um die Bedrohung einer nahestehenden Person und die Möglichkeit, mittels einer Waffe die Angreifer an ihrer Tat zu hindern. Im Text »Neue Vahr Süd« sollen die fremden Angreifer aus einem anderen Kulturraum kommen. Das Böse und Bedrohliche kommt in Gestalt exotische gewaltbereiter Männer daher. Aus Russland kommen sie – angesichts des »Zeitalters der Entspannung« (NVS, 377) – nicht, stattdessen wählt der Vorsitzende das Szenario von Kambodschanern. Eine Alternative, die immer noch in den gleichen Stereotypen zwischen West und Ost verhaftet ist, haben die als »Rote Khmer« bezeichneten maoistisch-nationalistisch orientierten Kämpfer unter der Führung Pol Pots bis Ende der 1970er-Jahre doch einen grausamen Genozid an ihren eigenen Landsleuten verübt. Dass Frank Lehmann stattdessen Nordkoreaner vorschlägt, entbehrt nicht einer gewissen Komik, offenbart es doch die weltideologisch geprägten Frames83 , denen der 83

Der Frame-Begriff bezeichnet Wissensinformationen, die in kognitiven Frame-Networks organisiert sind. [Vgl. Ziem, Alexander (2008): Frame-Semantik und Diskursanalyse – Skizze

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Vorsitzende der Anhörung folgt. Ob Nordkorea, Kambodscha oder Russland – alle drei Länder stehen zur erzählten Zeit auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs und sind (potenzielle) Gegner der Westmächte. Martin Schlosser wird zwei Jahre später (1982) angehört; die Art der Fragestellung hat sich zu dieser Zeit offenbar geändert. So wird Martin gefragt: »Was ich machen würde, wenn Banditen meine Freundin überfielen, um sie zu vergewaltigen, in einem Park zum Beispiel? Und wenn ich dann bewaffnet wäre?« (Abr, 343). Von Nationalitäten ist bei dieser Frage nicht die Rede. Die Vorstellungen von Alterität überlassen die Fragesteller dem Verweigerer selbst. Die Angreifer einer Nationalität zuzuordnen, würde die ideologischen Vorstellungen der Fragesteller offenbaren und zugleich das dualistisch geprägte Weltbild reproduzieren, dem die meisten Kriegsdienstverweigerer der erzählten Zeit nicht folgen. Martin Schlosser kann die Männer schließlich von seiner Unfähigkeit, den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen weiterhin auszuüben, überzeugen. Frank Lehmann indes schafft es nicht. Er verstrickt sich in fahrige Überlegungen, anstatt klar und deutlich zu sagen, dass er keine Waffe in die Hand nehmen werde. Es lassen sich Parallelen beim Ablauf der Anhörungen konstatieren. Bereits der Entschluss nachträglich zu verweigern, zieht die gleichen Praktiken nach sich. Der einzige Unterschied liegt in der entscheidenden Fragestellung, die das Gewissen der Verweigerer prüfen soll. Während in der Martin-Schlosser-Chronik das Feindbild als Leerstelle repräsentiert wird und durch die Vorstellungen der Befragten gefüllt werden muss, wird Frank Lehmann mit einem zur erzählten Zeit typischen Feindbild, welches die Ost-West-Dualität reproduziert, konfrontiert. Ob es tatsächlich eine politisch begründete Entwicklung der Fragen gibt, lässt sich anhand der Erzählungen nicht klären.

Frank Lehmann und Martin Schlosser als Wehrdienstleistende Die Protagonisten leben in ihren Stuben und der Kompanie in einer Schicksalsgemeinschaft, einer Zwangscommunitas, deren Mitglieder sich alle aufgrund ihres Alters in der liminalen Phase befinden. Schon beim Eignungstest vermutet Martin Schlosser, dass er bei der Bundeswehr »voraussichtlich ganze Scharen von BildLesern kennenlernen« werde (Abr, 139). Die Bild-Zeitung ist für ihn ein Synonym für schlecht recherchierten, hetzerischen und voyeuristischen Journalismus und deren Leser folglich ungebildete, stumpfe Personen. Martin Schlosser erinnert die Situation an die in einer »Jugendherberge. Nur daß man mittlerweile erwachsen war« (Abr, 328). Sexuelle Erlebnisse am Wochenende sind der Inhalt der Gespräche seiner Stubenmitbewohner, an denen sich Martin nicht beteiligt, wohl wissend, dass es sich eher um Geprahle denn um wahre Ereiner kognitionswissenschaftlich inspirierten Methode zur Analyse gesellschaftlichen Wissens, S. 92ff].

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lebnisse handelt. Neben sexualisierten Erzählungen spielt Gewalt eine große Rolle im Alltag der Soldaten. Um sich ihrer Männlichkeit zu versichern, herrscht selbst unter den Rekruten ein rauer Ton, bestehend aus derben Witzen, die mal ins Xenophobe (Abr, 323) oder Misogyne abrutschen. Die zitierte Rede über die Vorstellung des Rekruten Friedrich zur richtigen Ausbildung beim Militär zeugt davon: »Isch würd die Leude schleiwe! Un dann sarr isch: ›Alle an die Wand, isch erklär eusch jetzt dat Jewehr!‹ Und dann – ratta-tatta-tatta-tatt! Exitus!« (Abr, 300f.). Zwar erzeugt der Dialekt ein komödiantisches Moment, steht jedoch der Aussage selbst diametral entgegen. Der Begriff des Schleifens stammt aus der Soldatensprache und meint den harten Drill bei der Militärausbildung.84 Die Aussage des Rekruten Friedrich treibt die Vorstellung vom Schleifen aus Schikane auf die Spitze: Es geht so weit, dass die Rekruten grundlos erschossen werden. So betrachtet hat der Witz etwas zutiefst Zynisches, ja beinahe Defätistisches, wird die Aussage doch von einem Rekruten getroffen, der letztlich auf der Seite der Männer an der Wand stehen würde. Witze solcher Art gehören vermutlich zum Inventar der Soldatensprache wie der Begriff des Schleifens selbst. So gleicht Martin seine Erlebnisse mit denen seines Vaters bei der Wehrmacht ab und er stellt fest, dass auch schon zur NS-Zeit die gleichen Metaphern für das richtige Stillstehen verwendet wurden. Frank wird aufgrund seiner vorlauten Art gegenüber dem Standortpfarrer von einem Stubenmitbewohner als Vertrauensmann vorgeschlagen. Mit 82 zu 19 Stimmen entscheidet er die Wahl zu seinem Missfallen für sich (vgl. NVS, 167). Als Vertrauensmann der Pioniere »vertritt [er] die Interessen der Mannschaftsdienstgrade in der Kompanie, er vermittelt, wenn es sein muß, zwischen euch und euren Vorgesetzten oder, wie es in den Vorschriften heißt, hat die Aufgabe, für ein gutes Verhältnis zwischen Mannschaft und Dienstgraden zu sorgen« (NVS, 162), erklärt ein Hauptfeldwebel den Wahlberechtigten. Frank nimmt durch sein neues Amt eine Sonderstellung unter den Wehrpflichtigen ein, und Schmidt, der Mann, der ihn zur Wahl gestellt hat, glaubt: »Mann, wir haben den Vertrauensmann auf unserer Stube, jetzt können die uns gar nichts mehr« (NVS, 168). Der Vorschlag basiert auf der Hoffnung, dass Frank Lehmanns neue Funktion als Vertrauensmann auf die anderen Bewohner der Stube ausstrahlt und sie so einen gewissen Schutz gegenüber den Vorgesetzten genießen. Frank hält diese Einschätzung für »rührend[], unschuldig[] und naiv[]« (NVS, 168). Vorteile genießt Frank durch seine neue zusätzliche Rolle nicht. Stattdessen muss er nun zusätzliche Aufgaben erfüllen. Als Pionier Reinboth durch die Feldjäger von seinem Zuhause abgeholt werden muss, droht ihm eine Strafe. Der Vertrauensmann hat die Aufgabe, sich die Sicht der Dinge des Pioniers anzuhören

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Vgl. Auszug aus Munzinger Online/Duden – Das große Wörterbuch der Zitate und Redewendungen, 2. Auflage, Berlin 2007, Artikel: »Schleifen« [Stand: 28.2.2019].

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und eine Stellungnahme zu verfassen. Frank ist als Vertrauensmann nun ein Vermittler zwischen den Hierarchien und der Vertreter der Pioniere. In dieser Rolle befindet er sich in einer Zwischenposition innerhalb der Ebenen. Frank hat diese Zwischenstellung unfreiwillig eingenommen, ähnlich wie ihm auch die Rolle als Soldat aufgrund seines Phlegmas in den Schoß gefallen ist. Die zwei neuen Rollenanforderungen, mit denen sich Frank auseinandersetzen muss, verdeutlichen die Spannungen, die die Lebensphase Adoleszenz für Individuen bereithält. Zugleich lassen sich Parallelen zwischen der neuen Rolle des Vertrauensmanns und der liminalen Phase, in der sich Frank befindet, ziehen. Frank ist mindestens in doppelter Hinsicht im Liminalen gefangen: erstens aufgrund der Lebensphase, zweitens in seiner Rolle als Vertrauensmann innerhalb der hierarchischen Struktur der Bundeswehr und drittens auch in seinem privaten Leben. Frank muss, um sich die Sicht der Dinge von Pionier Reinboth erklären zu lassen, in den ersten Stock des Kompaniegebäudes. Als er den langen Flur betritt, von dem rechts und links die einzelnen Stuben abgehen, überkommt ihn ein vertrautes unangenehmes Gefühl, das er aber nicht direkt einordnen kann. Obwohl der Flur, von dem seine Stube abgeht, vermutlich genauso aussieht wie der Trakt eine Etage höher, erzeugt die Räumlichkeit andere Empfindungen bei ihm. Der Grund ist, dass er im Moment des Betretens des fremden Flurs eine Schwelle übertritt, die zu übertreten ihm nur erlaubt ist, weil er mit dem Flüchtigen sprechen muss. Frank ist es »selbst unangenehm, hier einzudringen« (NVS, 178). Seine neue Funktion als Vertrauensmann erweitert seinen Bewegungsradius innerhalb des Kompaniegebäudes. Er darf in Ausnahmefällen und mit Anordnung nun auch fremde Bereiche betreten, in denen Soldaten aus anderen Zügen untergebracht sind. Frei bewegen darf er sich trotz seiner neuen Aufgaben dennoch nicht, er ist auch hier weisungsgebunden und handelt auf Anordnung der Vorgesetzten. Die »Beklemmung beim Betreten eines längeren Flurs« und die Auskunft des Unteroffiziers, auf welcher Stube der gesuchte Pionier zu finden sei (NVS, 178), lassen Frank Vergleiche mit einem Krankenhausbesuch ziehen. Nachdem er die Stube verlassen hat und er ein Stockwerk höher zu seiner eigenen Stube gegangen ist und damit in einen ihm vertrauten Teil des Gebäudes, fällt ihm ein, welche Assoziation der lange Flur und die gesamte Situation in ihm hervorgerufen haben: Er wußte plötzlich, woran ihn das alles erinnerte: an einen Besuch im Krankenhaus. Man geht nicht gerne hin und ist auch froh, wenn man wieder raus ist, dachte er und ging die Treppe hinauf zu seinen Kameraden vom 3. Zug (NVS, 181). Die Etagen des Kompaniegebäudes sind gleich aufgebaut, erzeugen dennoch unterschiedliche Wirkungen sowie Ein- und Ausschließungen. Das obere Zitat gibt einen entscheidenden Hinweis auf die Gründe. Frank geht nach der Befragung in seine Etage, zu seinen Kameraden. Betritt er dort den Flur, wird er nicht erklären müssen, was er dort will, schließlich ist er Angehöriger des 3. Zugs. Es sind so-

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mit die Menschen, die Kameraden desselben Zugs sind, die den Raum zu einem begehbaren und vertrauten Raum werden lassen. Wird eine Etage innerhalb des Kompaniegebäudes für eine Gruppe von Wehrpflichtigen bestimmt – was durch hierarchische Regelungen geschieht –, dann werden die Individuen im Moment des Einzugs in die Stube zu einer Gemeinschaft bzw. zu Kameraden und gleichzeitig wird der Raum seiner Benennung gemäß funktionalisiert. Dass es auch innerhalb der Gruppe der wehrpflichtigen Pioniere Einteilungen in Kleingruppen gibt – in der Kaserne in Dörverde sind es zur erzählten Zeit 101 Individuen – und diese auch noch durch die Architektur des Kompaniegebäudes und die täglichen Routinen bzw. Übungen voneinander separiert werden, bewirkt, dass die Masse an gleichgesinnten jungen Männern, die sich am untersten Ende der Hierarchie befinden, sich nicht verbrüdert und eventuell einen Aufstand anzettelt. Stattdessen entsteht ein Segregationsgefühl zwischen den Zügen. Dieses Gefühl evoziert zugleich, dass sich die Wehrpflichtigen, die auf einer Stube oder in einem Zug sind, besonders verbunden fühlen, da sie sich gemeinsam von den anderen Kleingruppen abgrenzen können. Diese Verhinderung des Gemeinschaftsgefühls führt zur Stärkung der Institution Bundeswehr. Was sich vorerst paradox anhört, ergibt Sinn, wenn man sich die Anzahl der Soldaten der einzelnen Hierarchiestufen in Kasernen vor Augen führt. Obwohl die Wehrpflichtigen eine hohe Anzahl an Individuen stellen, sind sie es nicht, denen die meiste Macht zugesprochen wird. Wie erläutert, ist genau das Gegenteil der Fall. Eine so große Anzahl von Menschen, die ausschließlich nach dem Willen der Vorgesetzten zu agieren hat, muss – nach der Logik der diskursiven Ordnungsmacht – klein gehalten werden, ohne dass die Identifikation mit der Bundeswehr verloren geht. Erreicht wird dies durch Segregation und Konkurrenzdruck zwischen den einzelnen Zügen. So echauffiert sich Fahnenjunker Tietz bei einer ABC-Übung über die schlechte Leistung der Gruppe um Frank: »[D]as kann doch nicht sein, daß ich die unfähigste Gruppe von allen habe« (NVS, 169). Ohne zu wissen, wie schnell die anderen Züge lernen und die Übungen erfolgreich absolvieren, stellt der Verantwortliche Vergleiche an, um seine eigene Gruppe zu schikanieren. Dass dieses Vorgehen gängige Praxis ist, kann angenommen werden, passt es doch zu den diskursiven Strukturen, die so implementiert und reproduziert werden sollen. Anthony Giddens erklärt passend hierzu: Absonderung ist eine Grundlage disziplinierender Macht schlechthin, aber für sich alleine ist sie nicht ausreichend, um das detaillierte Management der Bewegungen und Aktivitäten des Körpers zu erlauben. Dies kann nur durch interne regionale Teilung […] erreicht werden. Die interne Aufgliederung von Raum und Zeit für den Zweck der Disziplinierung hat mindestens zwei Konsequenzen. Sie hilft die Formierung großer Gruppen zu vermeiden, die eine Quelle unabhängiger Willensbildung oder von Opposition sein könnte, und sie erlaubt die direkte

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Kontrolle individueller Aktivitäten, indem sie den möglichen Fluß und die Unbestimmtheit zufälliger Begegnungen ausschließt.85 Die von Giddens beschriebenen Praktiken zur Machtkontrolle erlebt der Protagonist von »Neue Vahr Süd« und er spürt deren Auswirkungen, sobald er versucht, von den vorgeschriebenen zeitlichen und räumlichen Normen abzuweichen. Als Frank Lehmann in seiner Funktion als Vertrauensmann einen ihm fremden Flur betreten muss, beschleichen ihn Emotionen, die ihm das Betreten des Raums erschweren. Die Disziplinierungsmaßnahmen erzielen die bezweckte Wirkung bei den Wehrpflichtigen schon nach kurzer Zeit. Aus Sicht Außenstehender bleibt Frank seinen Einstellungen treu, wie auch der Kompaniearzt bemerkt (vgl. NVS, 370). Die Feststellung des Arztes zeigt, dass die Zeit der Wehrpflicht die Menschen in der Regel in ihrem Verhalten verändert und dass Frank offenbar eine Ausnahme ist. Die routinemäßigen Übungen haben auf Franks Charakter von außen betrachtet keinen Einfluss, sonst würde sich der Stabsarzt nicht entsprechend äußern. Doch innerlich verschwimmt Franks Privatleben mit dem des Soldaten im Laufe der erzählten Zeit immer mehr. Die erzählte Zeit setzt drei Monate nach der Versetzung in die Lettow-VorbeckKaserne wieder ein. Die beschriebenen Routinen sind dort ganz andere als in der Kaserne in Dörverden. Frank holt regelmäßig ein zweites Frühstück für seine Kameraden der Betriebsstoffgruppe, was bei den Pionieren undenkbar gewesen wäre. Er genießt außerdem das Vertrauen des Stabsunteroffiziers, der Frank die Überwachung der Tankreserven überträgt. »[I]ch verlaß mich auf Sie. Jetzt, wo Koch nicht mehr da ist, müssen Sie das machen, lassen Sie das auf keinen Fall Meyer machen, der verzählt sich […]« (NVS, 402). Er wird von seinen neuen Vorgesetzten anders wahrgenommen als noch in der Kaserne in Dörverden. Die Gründe sind vielfältig und beruhen auf der neuen Situation in der Vahr-Kaserne sowie auf dem Verhalten Franks. Die täglichen Übungen, die zur Grundausbildung gehören, werden bei der Betriebsstoffgruppe nicht vollzogen. Der Umgang der verschiedenen Hierarchiestufen ist nicht durch machtausübende Rituale geprägt, stattdessen begegnet man sich kollegial. Die Lettow-Vorbeck-Kaserne macht es Frank leichter, sich als Individuum zu fühlen, sodass seine Abwehrreaktionen, die ihm zum Beispiel die Funktion des Vertrauensmanns eingebracht haben, ausbleiben. Es gibt keine Situationen, in denen er sich durch detaillierte Nachfragen zu einem speziellen Sachverhalt oder Ausdruck unbeliebt machen könnte. Zu seiner Aufgabe gehört es nun, eine Tankstelle für die Fahrzeuge des Standorts zu betreiben. Seit der Obergefreite Koch seinen Dienst quittieren durfte, ist Frank gemeinsam mit den Gefreiten Groß und Meyer sowie mit dem Stabsunteroffizier Aster alleine. Koch, der Frank einarbeitete, gab ihm noch auf den Weg, dass er mit Groß und Meyer alleine sei, egal,

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Giddens, Anthony (1992): Die Konstitution der Gesellschaft, S. 200.

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was passiere (vgl. NVS, 408). Frank hat nun also eine unabhängige Position inne, die im krassen Gegensatz zur Dauerüberwachung bei den Pionieren steht. Verstärkt werden die Besonderheiten in der Lettow-Vorbeck-Kaserne dadurch, dass Frank formell gesehen ja immer noch Rekrut bzw. Schütze ist, hat er doch das feierliche Gelöbnis verweigert und damit die Chance auf höhere Dienstgrade vertan. Dennoch ist er es, der die Verantwortung durch seinen aus dem Dienst ausscheidenden Vorgesetzten übergeben bekommt; und das, obwohl er noch nicht so lange dort den Dienst verrichtetwie die zwei anderen Gefreiten sowieder Stabsunteroffizier,und er hierarchisch betrachtet außerdem unter allen anderen steht.

Zwischen den Welten Die Kaserne ist für Wehrdienstleistende ein Ort auf Zeit. Die Wehrpflicht dauert zur erzählten Zeit der Romane 15 Monate.86 Außerdem müssen die Wehrpflichtigen zu bestimmten Zeiten wieder in der Kaserne sein, wenn sie über das Wochenende nach Hause dürfen. Schnell erliegt Frank dem Kasernenalltag und kann sich auch am Wochenende nur schwer dem »Sog« (Kapitelüberschrift, NVS, 149) entziehen. Auch Martin Schlosser stellt fest: »Die Tage, an denen man zurück in die Kaserne mußte, egal um wieviel Uhr, waren von vornherein vergeigt.« (Abr, 307) Am Unisee sitzend reflektiert Frank seine Situation: […] das einzige, was noch zählte, war die Kaserne in Dörverden, ein Ort, der ihm hier, im normalen Leben, zutiefst unwirklich erschien, bedrohlich und faszinierend zugleich, ein verdrängter Alptraum, der plötzlich in seinem ganzen Schrecken wieder um die Ecke kam, und je ausgelassener die anderen wurden, desto düsterer wurden seine Gedanken, und er mußte sich schließlich geradezu zwingen, wenigstens einmal ins Wasser zu gehen und ein bißchen herumzuplanschen, um so die hier am Unisee geforderten kulturellen Leistungen zu erbringen (NVS, 150f.). Da er am Wochenende die Zeit vornehmlich mit Menschen in anderen Lebenssituationen verbringt, wird ihm die Divergenz zwischen sich und den Anderen bewusst, und die Aussicht, in ein paar Stunden diese Realität gegen den Kasernenalltag eintauschen zu müssen, hindert Frank daran, das Wochenende zu genießen. Er will »endlich Schluß machen mit diesem seltsamen Schwebezustand zwischen zwei Welten, die er in seiner Verwirrung schon beide nicht mehr begriff« (NVS, 151). Dass Frank das Gefühl des Liminalen am Ufer eines Sees überkommt, bekräftigt

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Vgl. Bundesgesetzblatt vom 13.12.1972, die Neufassung des Wehrpflichtgesetzes sieht eine Verkürzung der Wehrdienstzeit von nun fünfzehn statt achtzehn Monaten vor (Wehrdienstpflichtgesetz § 5 Absatz 1). 1990 beschloss die Bundesregierung den Wehrdienst um drei Monate zu verkürzen (vgl. Bundesgesetzblatt vom 30.11.1990).

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die Verortung der Figur im Liminalen nochmals, gilt das Ufer doch als Schwellenraum schlechthin. Die Gedankenwelt der Figur und die Lebensphase, in der sich Frank befindet, werden durch das Ufer repräsentiert. Die Kaserne als Ort ist für Frank und Martin zum Inbegriff der Zeit der Wehrpflicht geworden. Sie verbinden mit ihr die Erfahrungen, Praktiken und Routinen, die den institutionalisierten Raum ausmachen und sie bestimmen. Dass in einem Raum bestimmte Handlungen gefordert werden, lernen die Wehrdienstleistenden während ihrer Zeit bei der Bundeswehr. In »Neue Vahr Süd« wird das Antrainieren von Gewohnheiten zu einer verinnerlichten Norm des Körpers, die sich auch auf das Privatleben Franks auswirkt. Auch im »normalen Leben« fühlt er sich gedrängt, die »geforderten kulturellen Leistungen«, die dem Ort »Unisee« eingeschrieben sind, zu erbringen. Die Institution Bundeswehr färbt somit auf Franks Freizeit ab und bestimmt sein Handeln dort. Die Akteurszwänge, die ihm die Bundeswehr auferlegt, wendet er auf sein Privatleben an. Das bedeutet, dass die Pioniere vordergründig zwar nur auf den Kriegsdienst vorbereitet werden, sie die Strukturen der Bundeswehr unbewusst aber mit in das Privatleben überführen. So beugt sich Frank den kulturellen Forderungen, die er spürt, als er mit Studierenden den Nachmittag am Unisee verbringt. Dass Frank dies tut, steht seinem Charakter entgegen und ist deshalb als Indikator für die Auswirkungen des Orts Kaserne auf den privaten Raum lesbar. Das Tragen der Uniform hat auf Franks Gemütsverfassung unmittelbaren Einfluss. Selbst wenn er noch nicht in die Kaserne zurückgekehrt ist, das »olivgrüne Zeug« aber schon trägt, sei »das Wochenende […] wie ausgelöscht« und vice versa (NVS, 224), so findet er. Das An- und Ausziehen der Bundeswehrkleidung lässt Frank die Rollen wechseln. Mal ist er der Wehrdienstleistende, mal der Bewohner einer WG im Ostertorviertel. In welcher Rolle sich Frank gerade befindet, ist nicht allein abhängig von seinem Aufenthaltsort, sondern auch davon, welche Kleidung er trägt. Die Macht der Institution Bundeswehr ist somit ebenfalls der Uniform eingeschrieben. Ähnlich werden auch die Martins Empfindungen dargestellt: Bis auf die Strümpfe hatte ich keinen Faden von der Uniform mehr auf dem Leib, doch erst im Zugabteil begann ich mich in einen Zivilisten zurückzuverwandeln. Die Soldaten, die auch außerhalb der Kaserne in Oliv herumliefen, hatten meiner Meinung nach ʼne Schraube locker (Abr, 295). Der Zug ist das Transportmittel, welches ihn von der Kaserne wegbringt, und erst wenn er diesen dynamischen Ort erreicht, kann er sich von seiner Rolle als Soldat lösen. Allein der Kleidungswechsel reicht Martin nicht aus, um sich als Zivilist zu fühlen. Demgegenüber wird das Ablegen der Bundeswehrkleidung als Voraussetzung für die Verwandlung in einen Zivilisten während der Rückfahrt beschrieben. Die Wirkung der Uniform auf Frank verändert sich mit seiner Versetzung, und es gelingt ihm, sich als Individuum stärker von der Kompanie abzugrenzen. Selbst

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wenn er noch sein »Grünzeug« (NVS, 419) trägt, aber schon außerhalb des Kasernengeländes in seinem Auto sitzt, ist »die Bundeswehr verschwunden« (NVS, 418). Die architektonische Grenze, die die Kaserne bestimmt, ist für Frank jetzt die Schwelle, die er überqueren muss, um außerhalb der Bundeswehr zu sein. Nach seiner Versetzung zur Betriebsstoffgruppe der Lettow-Vorbeck-Kaserne wird für Frank der Einstieg in seinen Opel Kadett zum Moment, in dem er die Kaserne verlässt. Anfangs parkt er sein Auto auf dem Gelände der Kaserne, so gibt es schon innerhalb der Kaserne ein Refugium, das aus Franks Perspektive außerhalb der Kaserne liegt. Der private Raum stülpt sich in diesem Fall über den institutionalisierten Raum Bundeswehr. Nachdem ihm die Parkerlaubnis wegen Wassers in seinem vorderen Scheinwerfer entzogen wurde, muss er sein Auto außerhalb parken und somit in der Vahr. Obwohl er die Straßen seit seiner Kindheit kennt und sie zu seinem privaten Leben gehören, ist erst durch das Erreichen seines Autos der Tag als Soldat beendet. Die Kaserne ist für ihn »verschwunden«, »ausgelöscht, vergeben und vergessen« (NVS, 418), sobald er das Auto erreicht. Es ist die Bewegungsdynamik, welche der Autofahrt inhärent ist, die Frank den Bundeswehrraum verlassen lässt; allein der Fußweg reicht dafür nicht aus. Frank leidet sehr unter der entzogenen Parkerlaubnis, wie er sich selbst eingesteht. »[D]urch den Entzug der Parkerlaubnis kam er jetzt zum Feierabend immer erst mit einer gewissen Verspätung in sein Auto« (NVS, 418). Er weiß selbst, dass es kein besonderes Auto ist, sondern im Gegenteil ein sehr vermülltes Fahrzeug, das aber gerade dadurch einen zivilen Eindruck erwecke und dem geordneten Bundeswehralltag entgegenstehe. Schon auf dem Kasernengelände in das Auto einsteigen zu können, ermöglicht Frank auch schneller als zu Fuß die Kaserne hinter sich zu lassen. Mit dem Opel kann er in kürzerer Zeit eine größere Distanz zurücklegen, als wenn er zuerst zu Fuß in der Neuen Vahr sein Auto suchen müsste. Obwohl das Auto für ihn den Feierabend einläutet, gibt es eine Szene, in welcher Frank gedanklich immer noch bei der Bundeswehr ist. Der Grund ist, dass er einige seiner Stubenmitbewohner mitnimmt, als sie am Wochenende nach Hause dürfen. Frank wünschte sich, er wäre schon alleine, solange die anderen bei ihm waren, wurde er das Kasernengefühl nicht los, es sind gute Jungs, dachte er, aber sie gehören nicht ins Wochenende, man muß ja auch mal irgendwann allein sein, mal richtig über alles nachdenken, ganz in Ruhe, dachte er (NVS, 86). Das Gruppenzugehörigkeitsgefühl ist aus Franks Perspektive zeitlich und räumlich begrenzt. Seine Stubenmitbewohner möchte er nur während der Kasernenzeit um sich haben. Da er seine Leidensgenossen mitnimmt, stülpt sich der Bundeswehrraum nach außen, über die Grenzen der Kaserne hinaus, und auch zeitlich weitet sich das Kasernenleben aus. Dieses raumzeitliche Konstrukt ist es, was Frank als »Kasernengefühl« benennt.

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Zwar besitzt Martin kein eigenes Auto und fährt deshalb in der Regel mit dem Zug nach Hause, jedoch gibt es eine Szene, in der er sich von einem anderen Wehrdienstleistenden mitnehmen lässt. Die Rückfahrt ist für Martin kaum auszuhalten, da es im Auto nur eine Kassette mit »Blödiangeträller« und Musik auf »Schützenfestniveau« (Abr, 310) gibt. Martin nennt das Auto entsprechend »Oldehoffs rollende[] Klapsmühle« (Abr, 310). Die Benennung stellt einen Bezug zu Martins Bezeichnung der Ausbildungspraktiken bei der Bundeswehr als »Irrenhaus« her. Die Bezeichnung des Autos impliziert, dass Martin die Fahrt ebenfalls als eine räumliche Fortsetzung der Kaserne begreift. Unterstützt wird die Annahme dadurch, dass er nur ein einziges weiteres Mal die Chance nutzt, mitgenommen zu werden und so früher Zuhause zu sein. Franks Auto wird im Text als ein dynamischer Ort beschrieben, der sowohl die Kaserne in das Privatleben ziehen kann als auch das Privatleben innerhalb der Kaserne aufrechterhält. Entscheidend ist in beiden Fällen, wer in dem Auto sitzt beziehungsweise wie das Auto von innen aussieht. Frank bezeichnet es als »eindeutig ziviles Fahrzeug«, weil es ihn eher an einen rollenden Mülleimer erinnere (NVS, 418). Im Kontrast dazu verliert das Auto seinen zivilen Charakter in dem Moment, als Frank seine Stubenmitbewohner mitnimmt. Franks Wahrnehmung lässt ihn im Laufe der erzählten Zeit sogar vergessen, dass er auch außerhalb der Kaserne in Uniform herumläuft. Franks Bruder Manfred erkennt die Schwierigkeiten, denen Frank durch seinen ständigen Wechsel zwischen Kaserne und Ostertorviertel ausgesetzt ist. ›Egal, ich meine, wie kann man in so eine Hippiekneipe wie diese hier gehen und sich die Zigaretten selbst drehen und in so einer Wohnung wohnen, ich meine, wenn man das überhaupt wohnen nennen kann, was ihr da macht […] und dann gleichzeitig beim Bund sein und da den Soldaten spielen, das ist doch ein totaler Widerspruch, wie kriegst du das bloß zusammen, das kommt mir reichlich komisch vor, Frankie, wirklich, find ich ziemlich komisch‹ (NVS, 439). Diesen »Widerspruch«, den Frank tagtäglich lebt, spürt er selbst auch. Zu Beginn seiner Wehrpflicht überlegt er, ob er selbst ohne Uniform im Nachtleben des Ostertorviertels als Soldat erkennbar ist (NVS, 260), so weitreichend schätzt er den Einfluss seiner Wehrpflicht auf seine Außenwirkung ein. Denn auch er selbst entwickelt ein Gespür für Soldaten, die außerhalb des institutionalisierten Raums in Zivil und als Privatperson auftreten. Das Gelernte aus dem Grundwehrdienst überträgt sich allmählich auf die bundeswehrfreien Wochenenden. […] Tarnung ist der beste Schutz des Soldaten, dachte er verwirrt, die Nacht auch, dachte er, die Nacht ist der Freund des Soldaten, erinnerte er sich der Worte, mit denen Hauptfeldwebel Tappert neulich die Vorführung ›Verhalten des Soldaten bei Nacht‹ eingeleitet hatte […]. (NVS, 261).

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Privater und Bundeswehrraum vermischen sich im Moment, als Frank als Fackelträger zur Vereidigung im Weserstadion fährt. In einem Bundeswehrfahrzeug sitzend nimmt er die ihm vertraute Umgebung mit anderen Augen wahr: ›Nein‹, sagte Frank, der sich unterdessen still darüber wunderte, wie anders es war, wenn man die sonst so vertrauen Straßen zwischen der Vahr und dem Weserstadion durch die Scheiben eines KOM 21 sah, mit einem Stahlhelm auf dem Schoß und im Großen Dienstanzug; es war gespenstisch: […] Wenn man nicht frei ist, sieht alles anders aus, dachte er, irgendwie eingefärbt, oder wie unter Wasser (NVS, 583f.). Während der feierlichen Zeremonie gleitet Frank in eine »Zwischenwelt« (NVS, 597). Das gleichmäßige Hintergrundrauschen der Sirenen und Sprechchöre der Demonstranten, die außerhalb des Stadions stehen, hypnotisiert Frank geradezu und lässt ihn den Akt der Vereidigung mit offenen Augen verschlafen. Sein Zustand wird als Aufenthalt in einer »seltsamen Zwischenwelt« beschrieben, »in der es keine Zeit gab, und wo ihn der Rest der Welt nichts mehr anging«. Schon die Fahrt durch die ihm bekannten Straßen erlebt Frank aus einer ihm fremden Perspektive und er beginnt, in eine andere Welt zu fliehen. Franks Reaktion ist ein Schutzmechanismus, um nicht – wie es sonst häufiger bei ihm vorkommt – durch spontane Aktionen negativ aufzufallen. Frank nimmt nicht freiwillig als Fackelträger an der bei seinen Freunden umstrittenen Zeremonie teil. Die Vereidigung selbst konnte er als Wehrdienstleistender verweigern, dass er nun in anderer Funktion wider Willen vor Ort ist, verdankt er seinen Vorgesetzten. Die Vereidigung im Weserstadion endet in einem Desaster und mit vielen Verletzten auf beiden Seiten. Für Frank begründen die Vorfälle den Entschluss, mit einer List aus der Bundeswehr auszusteigen. Das bei der Vereidigung Ins-Liminale-Rübergleiten deutet Franks fingierten Selbstmordversuch voraus. Denn auch hier befördert sich der Protagonist – dieses Mal absichtlich mit Hilfe von Medikamenten – in eine Zwischenwelt, dieses Mal zwischen Leben und Tod. Der Grenzübertritt ist als Schwelle markiert, da Frank die Menge der Tabletten so dosieren will, dass es nach einem Suizidversuch aussieht, er aber nicht ernsthaft in Gefahr schwebt (NVS, 612f.). Er tritt durch die narkotisierende Wirkung der Tabletten in einen Zustand zwischen nicht mehr wach, aber noch nicht tot ein. Franks Plan geht auf, und er wird wegen »Dienstuntauglichkeit« (NVS, 616) entlassen.

2.6

Zwischenfazit

Roddy Dangerblood isst vom »Baum der Erkenntnis«, als er »circa zwölf« (Dp, 8) ist; Icks ist »ungefähr zwölf« (Is, 46), als er in die Pubertät eintritt; Martin Schlosser

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zieht mit dreizehn Jahren nach Meppen und verlässt die Stätten seiner Kindheit: Der Beginn der Pubertät wird von den drei Protagonisten somit etwa im gleichen Alter verortet. Sie nehmen nicht allein körperliche Veränderungen an sich wahr, zudem verändern sich auch ihr Bewusstsein und ihre Wahrnehmung der Umwelt. Die Figur Frank Lehmann ist hier nicht mit eingeschlossen, da die erzählte Zeit erst beginnt, als Franks Pubertät schon abgeschlossen ist und er als (Post-)Adoleszenter gelten kann. Das Ziel, die Ausbildung einer selbstbestimmten Identität – die Individuation – wird in allen Texten thematisiert und mit Hilfe diverser Schwellenfiguren und transitorischer Momente dargestellt. Aufgrund des Entwicklungsstadiums, in dem sich die Protagonisten befinden, lässt sich in den Texten eine Vielzahl von Schwellenräumen und Übergangsriten finden. Es sind Körperpraktiken, wie Rauscherfahrungen, Selbstverletzungen und erste sexuelle Erfahrungen, welche die liminale Phase markieren. Sie ermöglichen es den Protagonisten, sich im Raum zu verorten. Die Identitätsausbildung geht mit der Ablösung aus bestehenden Strukturen einher und setzt mit einer Krisensituation ein. Während Roddy Dangerblood qua seines Alters »auf dem Weg zur anderen Seite« ist, wird Martin durch äußere Umstände zur Ablösung gedrängt. Der Umzug nach Meppen und die Verschärfung der elterlichen Eheprobleme tragen dazu bei, dass er sich zuhause nicht mehr heimisch fühlt. Damit einher gehen Interessenverschiebungen und die Erschließung neuer Räume. Roddy Dangerblood entscheidet sich Punk zu werden, verändert sein Äußeres, legt seinen Namen ab und erlangt damit eine neue Identität. Martin entwickelt politisches Bewusstsein und kulturelles Interesse. Badewanne und Jugendzimmer werden die neuen Orte, die – als liminal beschrieben und eingebettet ins Elternhaus – als Refugium der neuen, weiten Welt der Populärkultur gelten. Zugleich sind sie der Warteraum auf dem Weg zu ersten sexuellen Erfahrungen. Die jugendlichen Protagonisten bewegen sich zwischen Alltagsroutinen und Abenteuerlust, welche durch gelegentliche Fluchtversuche gestillt wird. Die Straße ist dabei ein die Bonner Republik konturierender Schwellenraum, der von den adoleszenten Protagonisten im Stadium der Liminalität zum temporären Aufenthaltsort wird. Der psychosoziale Status der Protagonisten spiegelt sich in der Raumsemantik des Autobahnnetzes wider. Der transitorische Charakter dieser Topographie ist diesem dynamischen Aufenthaltsort, welcher die Heranwachsenden anzieht, eingeschrieben. Der Drang nach Bewegung wird durch die Praxis des Trampens befriedigt. Da die Erzählzeit der Martin-Schlosser-Chronik deutlich umfangreicher als die der anderen Romane ist, wird hier stärker sichtbar, dass die Praktik des Trampens entscheidend für die psychosoziale Entwicklung ist. Martin fährt schon per Anhalter, als er noch nicht in der Pubertät ist, aber der Schwellencharakter der Straße und das Ablösungsmoment der Praktik fehlen. Neben dem zur erzählten Zeit in Deutschland beliebten Trampen nutzen Martin Schlosser und Roddy Dangerblood das Zugfahren, das es ihnen ermöglicht, erst die BRD und

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schließlich auch Südeuropa in rhizomatischen Strukturen zu erschließen. Sie sind beim Trampen auf die Gunst der Autofahrer angewiesen und können die Routen so nur bedingt planen; sie sind im Modus des Wayfaring unterwegs. So ist es die dynamische Raumerschließung des Trampens, Zug- und Autofahrens, welche die Adoleszenten befähigt, ihren geistigen wie auch räumlichen Horizont zu erweitern. Der Wille zur Expansion und Raumeroberung ist dieser Bewegungsdynamik eingeschrieben, die in der Literaturgeschichte des Entwicklungs- und Bildungsromans als männlicher Bewegungsdrang verhandelt wird. Zur Phase der Adoleszenz gehört die Ausbildung einer sozialen Geschlechtsidentität. Vorbilder finden die männlichen Protagonisten in ihren Vätern indes nicht vor. Sie versuchen, sich – im besten Fall – von ihnen abzugrenzen. Martin Schlosser sieht in seinem Vater eine Gegenfigur, die ihn dazu bewegt, sich in puncto Partnerschaft, Liebe und Lebensführung von ihm abzugrenzen. Roddy Dangerblood hingegen vermisst solch einen Gegenpart: sein Vater ist Lehrer, Alt-68er und praktiziert einen antiautoritären Erziehungsstil. Im Fall von Icks werden die Eltern als Hindernis auf dem Weg zum emanzipierten Erwachsenen beschrieben. Frank Lehmann betrachtet seinen Vater nicht als Vorbild, stattdessen orientiert er sich an Filmen, wie etwa »Rumble Fish«. In diesem Verweis auf die Initiationsgeschichte zieht Firaza eine Parallele zu Franks Loslösung von seinem eigenen großen Bruder als Identifikationsfigur. Der übermächtig große Bruder wird im Film zufällig erschossen, und Rusty James kann »die anschließende Fahrt nach Kalifornien als Tour der Freiheit« antreten.87 Auch Frank ist erst in Westberlin beheimatet, als er seinen großen Bruder als Medikamentenprobanden in einem Hotel wiederfindet – ein Moment, in welchem der große Bruder die Aura der Autorität und seinen Vorbildcharakter einbüßt. Icks nimmt seinen Vater als Hindernis wahr, ist er doch der große Andere (im Sinne Lacans), der Icks eine selbstbestimmte Identitätsausbildung verwehrt. Erst als Icks selbst Vater wird und das »Nein« auf den Lippen trägt, wird er zum Subjekt und kann ein Selbstbild entwickeln. Alle Texte operieren mit der Dichotomie Heimat versus Fremde, die mit Provinz versus Metropole und Langeweile versus Abenteuer gleichgesetzt wird. Beide Pole sind gegendert. Die Heimat wird mit Weiblichkeit und dem mütterlichen Schoß assoziiert, wohingegen das Abenteuer und die Eroberung unbekannter Städte und Länder den Männern zugewiesen werden. Die Texte sind vordergründig in der bekannten Tradition des Bildungsromans und der Road Novel (vor allem »Abenteuerroman«, teilweise auch »Dorfpunks«) verfasst und arbeiten mit Geschlechterrollenklischees. Martin betrachtet seine Eltern als Negativbeispiel für seine eigenen Lebenspläne. Neben der Art der Ehe und der Rollenverteilung sieht er, dass

87

Firaza, Joanna (2011): Grenzgängertum eines (Post)Adoleszenten in Sven Regeners »Herr Lehmann« (2001) und »Der kleine Bruder [sic!] (2008), S. 571.

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seine Eltern in Meppen, dem Inbegriff von Provinzialität und Langeweile, gefangen sind. Während seine Mutter immer wieder Ausbruchsversuche wagt, letztlich aber scheitert und – Ironie der Geschichte – in der katholischen Rheinmetropole Köln verstirbt, verbarrikadiert sich sein Vater im Keller. Die Chronik wechselt zwischen offenen und geschlossenen Raumstrukturen. Durch die autodiegetische Erzählperspektive wird die Unabhängigkeit, die Martin im Laufe seines Älterwerdens erlangt, sichtbar wie auch seine kritische Sicht auf das Lebensmodell der Eltern. Vor allem die Isolation seiner Mutter in Meppen bereitet ihm Sorgen. Dass sie als Hausfrau mit ihrem Auto in fünf Jahren 68492 Kilometer zurückgelegt hat (Abr, 188), zeugt von ihrem Drang auszubrechen. Martin kommentiert diese Distanz mit »ungewöhnlich«. Er äußert sich zwar nicht als Befürworter einer Verräumlichungspraxis, die Frauen an das Eigenheim bindet, jedoch empfindet er das Verhalten seiner Mutter, das nicht der Norm entspricht, als sonderbar und exklusiv. Martin kann der Lebensführung seiner Eltern nicht viel Positives abgewinnen. Ein imaginierter Rollentausch der Ehepartner und Martins Fazit veranschaulichen, dass mit der Vorstellung einer emanzipierten Frau oft nur die Annahme verbunden ist, Frauen übernähmen die Fähigkeiten und Charakteristika von Männern. Indes sind die immer an Genderklischees gekoppelten Rollenanforderungen sozialgesellschaftliche Konstrukte. Im folgenden Zitat werden diese Klischees und die Vorstellung von Emanzipation ad absurdum geführt. Dies geschieht fein nuanciert: Wann würde die Emanzipation in Meppen Einzug halten? Mama im Panzeranzug in der Werkstatt und Papa in einer kariert gemusterten Küchenschürze am Teigrühren? Ich selber war schon emanzipiert: Nie im Leben hätte ich freiwillig eine Autobatterie oder eine Zündkerze angefaßt (Br, 464). Auch Icks beschäftigt sein eigenes Bild vom Mannsein, das er spätestens mit 40 Jahren umgesetzt haben müsse. Er sieht zwei Entwicklungsmöglichkeiten: »vielleicht sogar [mit einem] lächelnden Ja auf den Lippen« (Is, 9), »ab und zu mit so einem Nein auf den Lippen« (Is, 166) »oder aber geschlagen« (Is, 9). Kurzum: Entscheidungsfähig und selbstbewusst stellt sich Icks sein Mannsein im besten Fall vor. Um dieses Ziel zu erreichen, muss er die interfamiliären Praktiken des Verschweigens und Leugnens durchbrechen und sich von dem durch seine Eltern erzeugten »Eigenabbild« (Is, 58) distanzieren. Während der Herkunftsort Bielefeld in »Icks« namenlos bleibt und so die Identitätslosigkeit des Protagonisten mit der Geschichtslosigkeit einiger westdeutscher Städte verknüpft wird, erfüllen die Orte der Jugend der anderen Texte andere Funktionen. Für Roddy Dangerblood und Martin Schlosser sind die Orte mit Langeweile verbunden und werden an der Peripherie, abseits des Geschehens, wahrgenommen. Findet der Jugendliche Roddy Dangerblood anfangs noch einen Initiationsort im »Kuhstallidyll« des Bauern Nold, reichen ihm die Mutproben und Rituale, die er

2. Zuhause: Raum und männliche Adoleszenz

dort erleben kann, bald nicht mehr aus. In der Martin-Schlosser-Chronik werden das Musikhören im Jugendzimmer, die Baderituale und Kinobesuche als Initiationsrituale beschrieben. Mit fortschreitendem Alter der Protagonisten verändern sich deren Bewegungsdrang und -radius. Die temporäre Flucht aus der empfundenen Enge ist nun mittels Trampen oder Mopedfahren möglich. Die Adoleszenz wird durch narrativierte Erinnerungen beschrieben. Diese Erzählstränge verdichten sich zu einem topographischen Gebilde und offenbaren zugleich ein Netz aus diskursiven Praktiken, die den Orten chronotopisch eingeschrieben sind. Ritualisierte Praktiken der Adoleszenz gibt es zur erzählten Zeit nur noch in rudimentären Formen; einzig die Wehrpflicht wird als eine Praktik der männlichen Initiation in zwei Texten verhandelt. Bedeutend ist dabei die Darstellung der Institution Bundeswehr, die ihre diskursive Macht im architektonischen Ort der Kaserne sowie durch ihre Akteure selbst performativ reproduziert. Auswirkungen hat der Bundeswehrraum auch ganz unmittelbar auf den Alltag der Wehrpflichtigen, denen es schwerfällt, das durch etliche Wiederholungen Eingeübte im Alltag abzulegen und zu vergessen. Dass sowohl Martin als auch Frank vorzeitig die 15-monatige Dienstzeit abbrechen, zeugt von den überholten Praktiken des Wehrdienstes, die selbst vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ein Menschen-/Männerbild produzieren, welches nicht mehr zeitgemäß ist. Die Rites de Passage werden in den Texten nie als linearer Verlauf dargestellt. Es sind etliche liminale Räume, die es zu passieren gilt. Martin Schlosser trampt ein ganzes Jahrzehnt, befindet sich also fortwährend in einer liminalen Phase. Frank Lehmann gerät von einer Schwellensituation in die nächste: Erst lebt er im Durchgangszimmer, dann entkommt er der Bundeswehr durch einen vorgetäuschten Selbstmordversuch und schließlich reist er nach Westberlin und erlebt dort als »Einheimischer« die Wende mit. Die liminale Phase wird in den Texten folglich als zeitlich unbegrenzte Passage markiert, die – entgegen den anthropologischen Vorstellungen Turners – auch zum Verharren einlädt. Dieses Erzählmuster korrespondiert der Theorie der Postadoleszenz und der Verlängerung der Lebensphase Jugend in postmodernen Gesellschaften. Postadoleszenz wird in »Dorfpunks« als neues Lebensmodell verhandelt, das nicht durch Erwachsensein abgelöst werden muss. Mithin kann der Text im Sinne Jurij Lotmans als revolutionär betrachtet werden, kreiert Roddy Dangerblood doch ein Leben in der Subsemiosphäre des Punk, die altersunabhängig ist. Auch »Herr Lehmann« ist ein tendenziell revolutionärer Text, kehrt Frank doch nicht zurück in die alte Ordnungsstruktur, die er mit dem Weggang aus der Neuen Vahr hinter sich gelassen hat. Die MartinSchlosser-Chronik indes ist offengehalten, weil das Projekt noch nicht abgeschlossen ist. Nimmt man aber das Leben seiner Eltern als Ordnungsstruktur, von der sich Martin mit Eintritt in die Adoleszenz ablöst, kehrt er nicht dorthin zurück. Spätestens seine ersten Erfolge als Schriftsteller zeigen, dass er ein anderes Lebensmodell wählt und damit erfolgreich ist. Auch »Icks« kann tendenziell als revo-

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Topographien der Adoleszenz

lutionärer Text gewertet werden, wenngleich das Ende des Romans ein offenes ist. Jedoch sind die Pläne der Figur, als Regisseur zu arbeiten, ein deutlicher Hinweis auf eine neue Art der Lebensführung, die. ähnlich wie die von Martin Schlosser, nicht den vorgelebten Strukturen der Eltern korrespondiert.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Dieser Analyseabschnitt beleuchtet die Bestrebungen der Protagonisten, aus der Heimat, die als provinziell wahrgenommen wird, auszubrechen und das Heil in einer Metropole zu finden. Den Romanen ist diese Bewegungsdynamik eingeschrieben. Ein Großteil der Texte befasst sich mit der Anziehungskraft Berlins auf Jugendliche. Deshalb steht der Analyseteil auch unter dem Motto »Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt«. Die geteilte Stadt Berlin, durch welche die sichtbare Grenze der zwei deutschen Staaten verlief, war für junge Männer der BRD unter anderem deshalb so attraktiv, weil sie so dem Wehrdienst entgehen konnten, der 1956 in der Bundesrepublik wieder eingeführt wurde. Die Kreiswehrersatzämter konnten aufgrund des Sonderstatus der Stadt die Wehrpflichtigen nicht strafrechtlich verfolgen, da die Wehrgesetzgebung in der geteilten Stadt nicht rechtswirksam war.1 Zum Mythos Westberlin trägt außerdem bei, dass die Stadt als Ausgangspunkt der 68erBewegung gilt. Westberlin zur Zeit des Kalten Krieges ist eine Ausnahmestadt, inmitten des Arbeiter- und Bauernstaates DDR. Ihr Sonderstatus, der auch durch die geographische Lage markiert ist, macht Westberlin zu einem besonderen Erinnerungsraum innerhalb der Bonner Republik. Der erste Teilabschnitt befasst sich mit dem Roman »Dorfpunks« (3.1). Der zweite Teilabschnitt analysiert die Lehmann-Trilogie und beleuchtet Frank Lehmanns Wahrnehmung von vermeintlichen Metropolen und die Strategien der Raumaneignung, die im Roman verhandelt werden. Die vorläufige These lautet: »Gefangen im Alltag« (3.2). Der dritte Abschnitt analysiert die Wahrnehmung von Städten aus Martin Schlossers Perspektive. Er scheint seine Wohnortwahl von der seiner aktuellen Freundin abhängig zu machen; »Home ist where your heart is« ist deshalb die Ausgangsbehauptung dieses Analyseabschnitts (3.3). Der vierte

1

In dem Aufsatz von Stefanie Eisenhut und Martin Sabrow »West-Berlin. Eine historiographische Herausforderung« werden die juristischen und völkerrechtlichen Schwierigkeiten, die um die geteilte Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg bestanden, erläutert. [Vgl. S. 168].

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Topographien der Adoleszenz

Abschnitt befasst sich mit Ralf Bönts Roman »Icks« und der Wahrnehmung von Berlin und New York (3.4). Anschließend folgt ein Zwischenfazit (3.5).

3.1

»Berlin, alte Hure mit Herz«

Rocko Schamonis »Dorfpunks« »Berlin, das war für uns ein Name mit Klang. Das war so was wie das London Deutschlands« (Dp, 106). Diese Attribute, die der Erzähler der geteilten Stadt Berlin im Rückblick zuschreibt, stehen bildlich für die Wirkung, die der westliche Teil Berlins auf Jugendliche ausübt und der literarisch verarbeitet wird. Roddy Dangerblood und seine Clique wollen nach Berlin, da die Stadt für sie eine ähnliche Bedeutung hat wie London. Die Hauptstadt Großbritanniens gilt als die Wiege des Punks, der Subkultur, der sich der Ich-Erzähler und seine Freunde zugehörig fühlen. Auch als »alte Hure mit Herz« (Dp, 106) wird Berlin im Text bezeichnet. Der Bezeichnung ist das Motiv der Eroberung inhärent. Die Stadt wird weiblich gegendert und als Objekt männlicher Begierde dargestellt. Berlin wird als eine Stadt beschrieben, an die man sich nicht bindet, die man nur gelegentlich aufsucht, in der man sich amüsiert und die man wieder verlässt. Die Zuschreibung ist zugleich ein intertextueller Verweis auf »die biblische Mythe« der Hure Babylon, die sich, wie sich etwa aus Ernst Jüngers Tagebucheinträgen lesen lässt, nur dem Sieger hingibt.2 Das Bild der Eroberung wird gleich beim »ersten Berlin-Besuch« bedient. Es sei »wie das Betreten eines neuen Kontinents« (Dp, 106) gewesen, schwärmt der Erzähler, der so zum Kolonisierenden wird. Die Stadt wird als ein Ort außerhalb des Bekannten, als etwas Fremdes wahrgenommen, jedoch ohne die Besucher zu verschrecken oder einzuschüchtern. Grund dafür ist, dass sie sich schon Wissen über die Stadt angeeignet haben und so bei der Ankunft in Berlin zielstrebig ausgesuchte Stadtteile ansteuern, um »Citypunks« (Dp, 107) zu treffen. »Wir versuchten, so schnell wie möglich nach Kreuzberg zu kommen, denn wir hatten aus zuverlässiger Quelle gehört, dass das der angesagte Platz für Punks sei« (Dp, 107). Die Bezeichnung »Citypunks« steht als oppositioneller Gegenpart der Selbstbezeichnung »Dorfpunks« gegenüber und macht zugleich die Herkunft deutlich. »City2

Sigrid Weigel argumentiert mithilfe eines Tagebucheintrags von Ernst Jünger, der als Wehrmachtsoffizier von Russland ins besetzte Paris zurückkehrend von der Stadt als weiblich spricht, dass die Imagination von der Stadt als Verführerin eine bekannte Darstellung ist, die bei Jünger jedoch sehr explizit benannt werde. Der Autor werde als Sieger dargestellt, dem das Recht zugestanden werde, »in die Stadt einzudringen, sie zu besetzen und zu besitzen, sich in ihr und an ihr Genuß zu verschaffen. Die Stadt erscheint dabei im Bild als eine Frau, die hiermit nicht nur einverstanden ist, sondern es geradezu erwartet.« [Weigel, Sigrid (1990): Topographien der Geschlechter, Zitat: S. 150, vgl. S. 149].

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

punks« sind aus der Perspektive des Protagonisten in der Hierarchie höhergestellt als »Dorfpunks«, leben sie doch im deutschen Zentrum des Punk. Hier erhoffen die »Dorfpunks«, Inspiration zu finden und Gleichgesinnte zu treffen. So gehört es zu den ersten Handlungen, die Haare mit »Crazy Colours« (Dp, 106) bunt zu färben und die Citypunks am Kottbusser Tor zu treffen. An den gängigen Touristenattraktionen sind die Jugendlichen nicht interessiert. Abfällig benennt der autodiegetische Erzähler die Informationsquelle sachlich nüchtern und mit dem größtmöglichen Abstand als »Erwachsene aus dem Umfeld meiner Eltern« (Dp, 107).3 Der Protagonist teilt das Wissen, welches er über Berlin erzählt bekommt, implizit in zwei Kategorien ein: zum einen vertrauensvolle Tipps aus der Punkszene und zum anderen solche Tipps, die er von Erwachsenen erhält, die keiner Szene zugehörig sind und deshalb nur die Berlinklischees kennen. Der Ich-Erzähler und seine Freunde, Bea und Sonny, erleben ihren Berlinbesuch deshalb auch anders als der gewöhnliche Berlintourist. Das Kottbusser Tor, kurz Kotti, wollen die drei mit der S-Bahn erreichen. Bewusst lösen die Jugendlichen kein Fahrticket, denn: »Beim Schwarzfahren erwischt werden, das war ein bisschen wie Eintritt zahlen für Punk-Berlin« (Dp, 107). Der Erzähler weist auf die Ironie, die in dieser delinquenten Handlung steckt, hin, indem er erklärt, dass die »oft wohl situierten Eltern« der »Penner […] später die Rechnung beglichen« (Dp, 107). Der Begriff Penner ist ein Dysphemismus, den sich die Schwarzfahrer als Selbstbezeichnung geben. Die Bezeichnung verbunden mit den milden Konsequenzen, die das Fahren ohne Ticket nach sich zieht, entlarvt die Praktik als vortäuschende Verhaltensweise. Vordergründig möchten die Punks zwar als andersartig und fremd wahrgenommen werden, hintergründig nutzen sie aber die Annehmlichkeiten, die das Elternhaus ihnen bietet. Sie spielen in Berlin nur Obdachlose und Verwahrloste. Die nachahmende Verhaltensweise, die nicht mehr ist als Mimikry, wird als Teil des Punkseins beschrieben. Dem Erzähler ist die Ironie des Schwarzfahrens bewusst – zumindest in der Retrospektive –, dennoch wird dieser Akt als Initiationspraxis anerkannt. Auch das Schnorren, dem die drei Jugendlichen während ihres zweiwöchigen Berlinaufenthalts nachgehen, gehört zum Teil der Mimikry. Sie bitten Passanten um Geld und imitieren so das Verhalten der Obdachlosen, die auf Spenden angewiesen sind. »Nach zwei Wochen hatten Bea, Sonny und ich keine Lust mehr auf den irgendwie schon demütigenden Schnor-

3

»Erwachsene aus dem Umfeld meiner Eltern hatten uns dagegen vor der Abreise wärmstens Charlottenburg empfohlen, da sei der Ku’damm, die City, da sei immer was los, im Kuhdorf beispielsweise, da seien die jungen Leute.« (Dp, 107) Das Kuhdorf war eine GroßraumDiskothek in Charlottenburg, die 1975 eröffnet wurde. Später, in Q-dorf unbenannt, wurde die Erlebnisdiskothek 2015 geschlossen. Online: https://de.wikipedia.org/wiki/Q-Berlin [Stand: 08.02.2019].

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Topographien der Adoleszenz

reralltag, und wir beschlossen zurückzureisen, dorthin, wo jeden Tag Essen von selber auf dem Tisch steht« (Dp, 111). Berlin besuchen die Freunde immer in wohlüberlegten Outfits. So beschließen der Protagonist und sein Freund Fliegevogel, die zusammen die Band »Die Amigos« gegründet haben, im Dezember 1983 nach Berlin zu trampen. Insgesamt brauchen die Freunde zwei Tage, um Westberlin zu erreichen. Grund dafür, so stellt der Erzähler fest, sei die Wahl der Kleidung gewesen: Wir zogen unsere neu erstandenen Schlaghosen an, ein paar zerfetzte Pullover und unsere Sombreros. Wie räudige Banditen sahen wir aus. Ich trug ein Kinderpistolenholster, in das ich in Ermangelung einer Waffe eine Bierflasche steckte (Dp, 186). Was den Weg zur Grenze nach Westberlin erschwert, macht den Gang über die Grenze umso leichter: »An der Grenze ließ man uns allerdings anstandslos durch, nur rein mit dem Dreck nach Westberlin, mögen sich die Grenzer gedacht haben« (Dp, 186). Die Außendarstellung der Punks erzeugt unterschiedliche Reaktionen bei den Mitmenschen. Da aber aus der Ich-Perspektive erzählt wird, handelt es sich nur um Vermutungen und Interpretationen der Mimik und Gestik des Umfelds. Ziel der Inszenierung ist es, Abwehrreaktionen der Mitmenschen hervorzurufen. Abgrenzung und Darstellung des Andersseins sind die Intentionen der Jugendlichen, wenn sie sich karnevalesk maskieren. Sie montieren verschiedene folkloristische Modestile miteinander, um das gewollt Andere zu unterstreichen und das Statement, das einst durch Kleidung ausgedrückt werden konnte, ehe es zu einer leeren Modehülse verkommen ist, ad absurdum zu führen. Der Sombrero, der traditionell zur mexikanischen Tracht gehört, und das Pistolenholster sind Stilelemente, die zur Verkleidung im Karneval eingesetzt werden und in der westeuropäischen Hemisphäre nicht in ihrer ursprünglichen Funktion verwendet werden. Die Subkultur der Punks adaptiert somit Codes anderer Semiosphären und macht sie zu ihren eigenen, deutet sie um. Dass Punks an der Grenze der Semiosphäre angesiedelt und dort maßgeblich an Übersetzungsprozessen beteiligt sind, macht die Umdeutung von modischen Accessoires deutlich. Als Teil einer Subsemiosphäre fallen sie mit ihrem Äußeren auf und werden so als Bewohner der Peripherie des semiotischen Raums identifizierbar. In Berlin Kreuzberg treffen Fliegevogel und Roddy auf die Mitglieder der Punkband »Die Toten Hosen«. Das Erscheinungsbild der Jugendlichen wird von den Düsseldorfer Punks als Code verstanden und gewürdigt. Die Kleidermontage bestimmt somit über Abgrenzung und Einschließung. Es bildet sich so eine eigene Subkultur, die sich über Äußerlichkeiten, wie Kleidung, Frisur, Tätowierungen, Piercings, aber auch Verhalten und Musikgeschmack vom Mainstream abgrenzt. Bei einem späteren Berlinbesuch erhalten Roddy Dangerblood und Fliegevogel die Chance, nach den »Toten Hosen« auf deren Instrumenten ein Konzert in einem

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Berliner Hinterhof zu spielen. Diese Möglichkeit wird als Ehre gesehen und als Initiation zum Punkmusiker empfunden. Das spontane Konzert gerät zum Fiasko, da Fliegevogel aufgrund seines hohen Alkoholpegels nicht mehr in der Lage ist, Gitarre zu spielen. Der Erzähler zeigt sich rückblickend sehr enttäuscht über die vertane Chance: »Die Chance für uns Dorftypen, in der Großstadt für eine Nacht das coole Ding zu sein« (Dp, 188). Vor dem vermasselten Auftritt nutzt der Erzähler noch die Selbstbezeichnung »Dorfpunks« (Dp, 187). Durch das Negativerlebnis verunsichert und demotiviert gesteht der Erzähler dem Duo die Bezeichnung Punk nicht mehr zu. Auch die Kapitelüberschrift »Zwei Provinzler fallen über eine Großstadt her« macht das empfundene Ausmaß der Schmach deutlich.

Die Wellen-Metapher Im Text wird England als das Land bezeichnet, in dem der Punk erfunden wurde. Zu Beginn des Romans erklärt der Ich-Erzähler seine Absichten der Erzählung: Ich komme von der Ostsee, ich war SH-Punk. SH steht für Schleswig-Holstein. Dies ist eine Geschichte von Ufern. An die Wellen schlugen. Sie kamen aus England, breiteten sich dort sehr schnell aus, sprangen aufs Festland über, setzten die Großstädte unter Wasser und flossen von dort aus weiter, um später in der Provinz zu verebben. Jahre später. 1975 in England ausgebrochen, 1981 bei uns verebbt. In uns. Ein Jugendtsunami (Dp, 7). Die parataktische Beschreibung der Erzählintention wirkt absolut und lässt die individuellen Erlebnisse der dargestellten Adoleszenz als prototypisch für einen Jugendlichen, der in den 1970er- und 1980er-Jahren in der Provinz der BRD aufwächst und sich entscheidet Punk zu werden, erscheinen. So wechselt der Erzähler auch von der ersten Person Singular in den Plural, um das Punksein als eine Bewegung zu markieren: Und es ist eine Geschichte von verschiedenen Wegen, erwachsen zu werden. Von Wegen, die die Zeit für uns bereithielt. Ich konnte es mir gar nicht anders aussuchen. Das Schicksal hatte bestimmt, dass ich Punk werden sollte. Niemand Geringeres als das Schicksal (Dp, 7) [Hervorhebung: L. H.]. Der Erzähler vergleicht die Ausbreitung des Punk mit Wellen, die durch einen Tsunami entstanden sind. Das bedeutet, dass die Punkbewegung zeitlich und räumlich variabel ihre Höhepunkte erreichte. Der Text beschreibt Bewegungsverlauf und Dynamik der Wellen, die mit der Zeit an Intensität verliert. Der Tsunami beginnt in England, breitet sich in den Großstädten Europas aus, und die Ausläufer verirren sich schließlich in flachen, dünnbesiedelten Teilen der Länder. Die Verbformen »schlugen«, »sprangen«, »flossen«, »verebbten« aus der maritimen Beschreibungssprache komplettieren die Wellenmetapher.

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Topographien der Adoleszenz

Das Zitat erinnert an die berühmte Wave-Speech von Hunter S. Thompson aus seinem Roman »Fear and Loathing in Las Vegas«, in der er vom Untergang der Hippie-Bewegung berichtet. Am Ende des achten Kapitels reflektiert der Erzähler über seine Zeit 1971 in Las Vegas, die er gemeinsam mit Dr. Gonzo und dem Konsum vieler Drogen erlebte. Strange memories on this nervous night in Las Vegas. Five years later? Six? It seems like a lifetime, or at least a Main Era – the kind of peak that never comes again. San Francisco in the middle of the sixties was a very special time and place to be a part of. […] History is hard to know, because of all the hired bullshit, but even without being sure of »history« it seems entirely reasonable to think that every now and then the energy of a whole generation comes to a head in a long fine flash, for reasons that nobody really understands at the time – which never explain, in retrospect, what actually happened. […] There was a fantastic universal sense that whatever we were doing was right, that we were winning… And that, I think, was the handle – that sense of inevitable victory over the forces of Old and Evil. Not in any mean or military sense; we didn’t need that. Our energy would simply prevail. There was no point in fighting – on our side or theirs. We had all the momentum; we were riding the crest of a high and beautiful wave… So now, less than five years later, you can go up on a steep hill in Las Vegas and look West, and with the right kind of eyes you can almost see the high-water mark – that place where the wave finally broke and rolled back.4 Thompson, der den sogenannten Gonzo-Journalismus5 begründete, beschreibt in dem Roman seine realen sowie fiktive Erlebnisse, die er auf einer Forschungsreise nach Las Vegas im Jahr 1971 machte.6 San Francisco wird in dem Zitat als die Stadt im äußersten Westen der USA beschrieben, in der die Hippie-Bewegung ihren Höhepunkt erreichte. Er vergleicht den Einfluss der generationellen Bewegung mit dem Abreiten einer Welle. Im Gegensatz zu Schamoni nutzt Thompson die Wellenmetaphorik im friedlichen Verständnis, ohne die Wucht eines Tsunamis zu evozieren. Thompson verbindet das Lebensgefühl der Love-and-Peace-Generation 4 5

6

Thompson, Hunter S. (2005): Fear and Loathing in Las Vegas. A Savage Journey to the Heart of the American Dream, S. 66-68. In Kindlers Literaturlexikon heißt es zum von Hunter S. Thompson entwickelten GonzoJournalismus, dass er durch einen »stark subjektive[n], angeblich nicht redigierte[n] Stil« gekennzeichnet sei. Quelle: Kindlers Literaturlexikon Online, Artikel: »Hunter S. Thompson. Biogramm«, online: http://kll-aktuell.cedion.de/ [Stand: 28.02.2019]. Geplant war es, den Überresten des American Dream nachzuspüren, der sich unter anderem durch die West-Expansion speist. Vgl. Rosenhagen, Diana: Artikel: »Fear and Loathing in Las Vegas«, in: Kindlers Literaturlexikon Online [Stand: 28.02.2019].

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

mit dem Gefühl des Surfens. Der Erzähler befindet sich im Jahr 1971 und erinnert sich von Las Vegas aus an die Zeit in San Francisco. Fünf oder sechs Jahre – »in the middle of the sixties« – sind die Erinnerungen alt, und begreifen könne diese Zeit nur, wer »the right kind of eyes« hat. Gemeint sind damit wohl die individuelle Einstellung und das Wissen um diese Zeit. Denn übriggeblieben sei von dieser Ära nichts Sichtbares. Aus diesem Grund beschreibt der Erzähler die Welle auch ausschließlich mit sensorischen und emotionalen Worten. San Francisco erhält im Fall von Thompson allein durch die individuelle Erinnerung eine Aura; das Stadtbild lädt sich allein durch die Individuen, die die Stadt begehen, semantisch auf. Auch der Erzähler von »Dorfpunks« greift auf individuelle Erinnerungen zurück, die nicht durch Erinnerungsorte oder Topographien, welche die Zeit zwischen Jugend und Zeitpunkt des Erzählens überdauert hätten, ergänzt werden können. Die Topographien der Adoleszenz gehören der Vergangenheit an und existieren einzig im Gedächtnis. Obwohl die Hippiebewegung mit ihrer pazifistischen Grundhaltung entgegen der Attitüde vieler Punks steht, kann sie sowohl als zeitlicher als auch kultureller Vorläufer des Punk verstanden werden. Musikerinnen wie Patti Smith, die dem frühen Punk und Garage-Rock zugerechnet werden kann, geben an, Szenegrößen der Protest- und Hippiebewegung, wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Bob Dylan, seien ihre musikalischen Vorbilder. Die »Experimentierfreude der Hippies« sei ein Merkmal, das die Punkbands inspiriert habe.7

London und neue Subkulturen Das Zitat von der ersten Seite des Romans nennt das Jahr 1975 als Beginn der Punkbewegung in England. Damit folgt der Erzähler dem gängigen Szenenarrativ, das die Gründung der Sex Pistols zur Geburtsstunde des Punk erklärt. Meinert und Seeliger relativieren deren Bedeutung, indem sie schreiben: »Die SEX PISTOLS sind nicht die Erfinder des Punk [,] aber die Pioniere, die der Punkbewegung den Weg geebnet haben.«8 Dank ihres Entdeckers und ersten Managers Malcom McLaren konnten die Sex Pistols auf musikalische und modische Entwicklungen aus New York zurückgreifen. Malcom McLaren war kurzzeitig Manager der New York Dools, einer oft dem Glam-Rock zugerechneten Band, die vor allem durch ihre Travestie-Performances und ihre schnellen kurzen Songs bekannt war. McLarens Lebensgefährtin Vivienne Westwood, die auf der Londoner Kings Road einen Modeladen der etwas anderen Art führte – dort verkaufte sie provokative Kleidung,

7 8

Vgl. Meinert, Philipp/Seeliger, Martin (2013): Punk in Deutschland. Sozial- und Kulturwissenschaftliche Perspektiven, eine Einleitung, S. 16. Ebenda, S. 20.

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Topographien der Adoleszenz

die »sich an Fetischoutfitte der SM-Szene anlehnte« –, unterstützte die Sex Pistols schließlich bei ihrer äußerlichen Darstellung.9 Die Möglichkeit, nach Südengland zu reisen, um das Land, das als Wiege des Punk gilt, im Rahmen eines Schüleraustauschs kennenzulernen, nimmt der 15Jährige mit seinen Freunden gerne wahr.10 Sie erwarten – ähnlich wie in Berlin – auf Gleichgesinnte zu treffen. Dass die Jugendsubkultur im Jahr 1981 in England schon von neuen Formen des Andersseins abgelöst wurde, ist den jungen Austauschschülern nicht bewusst. Als sie in einem Park »Punks mit besonders kurzen Haaren« (Dp, 63) begegnen, interpretieren sie das äußere Erscheinungsbild falsch und missverstehen die Codes der für sie unbekannten Subkultur. Dass es sich offenbar um eine den Punks gegenüber negativ bis aggressiv eingestellte Gruppierung handelt, die zwar einen ähnlichen modischen Stil hat, wird den Jugendlichen erst bewusst, als die »englische[n] Punks« anfangen, sie zu bespucken und zu schlagen. »Danach waren englische Punks für mich gestorben. Wie viel besser waren doch unsere SH-Punks [Schleswig-Holstein], wie frisch, gut und neu war Punk in Ost-Holstein. Dieses England hier konnte man vergessen, es hatte seine besten Momente offensichtlich hinter sich« (Dp, 64), beschreibt der Erzähler seine Reaktion auf das Erlebte. Die Schlüsse zeugen von der unbefangenen Annahme, alle Jugendlichen, die sich modisch wie Punks kleideten, müssten sich zwangsläufig solidarisch zueinander verhalten. Die Tatsache, dass sich zu der Zeit in England die Punkbewegung in weitere Subkulturen aufgespalten hatte, die unterschiedlichen politischen und musikalischen Richtungen angehörten, ist den Austauschschülern offenbar nicht bekannt. Die Beschreibung der »englische[n] Punks« deutet darauf hin, dass es sich um rechtsradikale Skinheads handelt. Das Kapitel, in dem der Schüleraustausch beschrieben wird, ist mit »Hölle im Land der Engel« überschrieben. Der Titel nimmt die Erlebnisse vorweg. Außerdem wird hier die Bibelmetaphorik eingesetzt, die am Ende des Kapitels erneut aufgegriffen wird. »Nun war ich Pilger, und ich war in Jerusalem gewesen. Aber Jerusalem stand nicht mehr« (Dp, 64). Der Stellenwert des England-Besuchs für den Punk Roddy Dangerblood wird mit dem des Pilgerns nach Jerusalem für einen Gläubigen gleichgesetzt. Vor allem im Mittelalter war das Pilgern zu den zentralen Stätten des Christentums ein Höhepunkt im Leben eines Gläubigen. Die Ablösung des Punk durch eine neue Subkultur wird nicht als friedliches Ereignis beschrieben, sondern durch den Gebrauch einer Beschreibungssprache aus dem kriegerischen Bereich als kämpferische und konfliktreiche Entwicklung dargestellt. Das Substantiv »Hölle« und die Feststellung »Jerusalem stand nicht mehr« sind Ausdrücke, die

9 10

Ebenda. »Ich fand England cool. Wie die sich dort benahmen, diese überall spürbare Härte bei gleichzeitiger Freundlichkeit! Wie waren in der Heimat von Punk und sehr stolz darauf« (Dp, 62).

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

die Bedeutung Englands aus der Perspektive des jugendlichen Protagonisten beschreiben. Die Erwartungshaltung gegenüber dem Besuch in England wird nicht erfüllt, und der Protagonist kann sich nur vorstellen, wie England gewesen sein müsse, als der Punk dort aufkam. Vorstellung und dargestellte Realität stimmen nicht überein, und es ist anzunehmen, dass der Punk in dem Ort Poole, in dem die Jugendlichen ihren Austausch verbringen, auch zur Hochzeit des Punk keine große Rolle spielte. Die Punkbewegung war vor allem in den großen Städten, wie London und New York, sicht- und hörbar. Bands gründeten sich primär in den Metropolen, und Clubs, wie das CBGB in New York, das sich zum Szeneladen für aufstrebende wie etablierte Punkbands entwickelte. Meinert und Seeliger sprechen sogar ausdrücklich davon, dass New York »die Brutstätte des entstehenden Punks« gewesen sei. Das CBGB wurde im Dezember 1973 eröffnet und sollte eigentlich »die Musikrichtungen Country, Bluegrass und Blues« bedienen. Aus den Anfangsbuchstaben ergebe sich auch der Name des Clubs.11 Die Wellenmetaphorik und die Erlebnisse des Protagonisten in England zeugen von einer Dynamisierung von Jugendkulturen. Über Nationalgrenzen hinweg verhandelt »Dorfpunks« die Entwicklung des Punk in den 1970er- und 1980er-Jahren. Der Roman zeigt, wie der Kulturaustausch an den Grenzen der Semiosphären stattfindet. Jurij Lotman beschreibt die Grenzen als ambivalent, sie trennen und verbinden wie eine Membran. Diese Eigenschaft wird im Text durch die Ausbreitung des Punk belegt. Dass Roddy Dangerblood während seines Schüleraustauschs keine anderen Punks trifft, sondern nur Mitglieder einer neuen Subkultur, die er in der Provinz Schleswig-Holsteins noch nicht angetroffen hat, verdeutlicht abermals die semiotische Aktivität, die eine Semiosphäre bedingt. Die Wellenmetaphorik veranschaulicht die transkulturelle Dynamik zwischen einzelnen Semiosphären. Die ursprünglich aus England kommenden Wellen des Punk erreichen die Ränder anderer Semiosphären, in diesem Fall der BRD, über das Zentrum des Punk in Berlin. Die Jugendlichen, die empfänglich für Neues sind, leben in der Regel noch im elterlichen Haus, das sich – so empfinden es die Protagonisten – in der Provinz und weitab der Metropolen befindet. Die topologische Dichotomie zwischen Schleswig-Holstein und Berlin bzw. London ist in diesem Fall semantisch codiert und wird im Text zur Topographie. Die Toponyme werden im Roman zu topographischen Dichotomien, die analog zur Funktion von Peripherie und Zentrum der Semiosphäre zu verstehen sind. In England und den USA ist der Punk schon in den Zentren angekommen, bevor er die Jugendkultur in der BRD erfasst und sich dort vom Rand her einen Weg in die Mitte der Semiosphäre bahnt.

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Vgl. Meinert, Philipp/Seeliger, Martin (2013): Punk in Deutschland. Sozial- und Kulturwissenschaftliche Perspektiven, eine Einleitung, S. 17.

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Topographien der Adoleszenz

Kurz vor Beginn seiner Ausbildung zum Töpfer beschließt der Ich-Erzähler, seine letzten drei Monate »in Freiheit« (Dp, 120) in vollen Zügen auszukosten, und reist mit seinen Freunden nach Hamburg und Kiel. Vor allem die Stadt an der Alster übt auf die jungen Punks eine große Anziehungskraft aus, da sie dort »in den coolsten Laden« (Dp, 121) gehen wollen, ins B’sirs. Der Besuch in der Hansestadt und im Speziellen dieses Szeneladens entpuppt sich als ein Ausflug, den die Punks erst einmal nicht wiederholen wollen, da sie dort rechtsradikalen Skins begegnen, die die Clique rund um Roddy Dangerblood aus dem B’sirs locken und durch die Stadt jagen, um sie zu verprügeln. Nur mit viel Glück können die Jugendlichen unbeschadet aus der Situation fliehen. »Wir fuhren zurück nach Schmalenstedt, denn unsere Meinung über Hamburg hatte sich spontan geändert. Wir fanden es sehr bescheuert dort und hatten erst mal überhaupt keinen Bock mehr auf Reisen dahin. Für ein paar Wochen war unser Fernweh gesättigt« (Dp, 122). Ausflüge in fremde Städte – Berlin, Poole und Hamburg – werden immer im Spannungsverhältnis von hohen Erwartungen und Abenteuerlust auf der einen Seite und Enttäuschung der Erwartungshaltung durch aggressive Reaktionen auf das eigene Erscheinungsbild auf der anderen Seite dargestellt. Die Feindschaft zwischen Punks und Skinheads, die die Protagonisten am eigenen Leib erleben, begegnet ihnen sowohl in fremden Städten als auch im Heimatdorf. Die Aggressivität, die den jungen Punks entgegenschlägt, ist Ausdruck der Abwehrhaltung gegenüber fremden Einflüssen in der Kultur der Skinheads. Die aggressive Reaktion offenbart die Mechanismen der Subsemiosphären, die sich vor »fremden« Einflüssen schützen, um bestehen zu können. Dass dies ein fein auszutarierendes Spiel ist, welches zu kippen drohen kann – wenn keine Einflüsse mehr zugelassen werden, stirbt die Kultur ab, werden zu viele zugelassen, verändert sie sich so stark, dass die Ursprünge nicht mehr identifizierbar sind12  –, zeigt die Analyse zu der Darstellung der Punks in der Lehmann-Trilogie.

3.2

Gefangen im Alltag

Frank Lehmanns Außenwahrnehmung von Berlin Frank Lehmann ist zu der Zeit, als er seinen Wehrdienst ableistet, an der Stadt Berlin nicht interessiert, obwohl er dort der Bundeswehr entgehen könnte und auch sein älterer Bruder Manfred dort lebt. Selbst sein Vater äußert diesen Vorschlag beim letzten gemeinsamen Abendessen vor der Einberufung. »›Oder du hättest nach Berlin gehen können, wie Manfred‹, fügte er hinzu. ›Das wäre natürlich auch 12

Freilich ist es nach Lotman und Welsch der »natürliche« Lauf der Entwicklung von Kulturen. Transkulturelle Veränderungen bestimmen seit jeher die Transformationen in der Semiosphäre.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

gegangen.‹« (NVS, 36). Zwar spekuliert Frank anschließend über die Möglichkeit, solange in Berlin zu leben, bis »das verjährt ist« (NVS, 42), aber eigentlich nutzt er die Idee seines Bruders, bei ihm in Berlin unterzukommen, nur, um seine Eltern zu schockieren. Frank fühlt sich von ihnen in die Enge getrieben und hat das Gefühl, als glaubten sie, er gehe freiwillig zur Bundeswehr. Das Gedankenexperiment, nach Berlin zu fliehen, führt er bewusst aus, um seinen Eltern zu beweisen, dass die Situation für ihn ausweglos ist und er den Wehrdienst antreten muss. Ein Gespräch zwischen Frank, Martin, Manfred und Karl, der in »Neue Vahr Süd« als Künstlerfreund Manfreds eingeführt wird, offenbart die Stereotype, die die Bewohner von Westberlin gegenüber Bremen haben und umgekehrt. Karl und Manfred, die sich selbst als Künstler verstehen, werden von Martin Klapp zu ihrer Arbeit befragt: ›Objekte‹, sagte Manfred. ›Ich mach jetzt eigentlich nur noch Objekte.‹ ›Was soll denn das sein, Objekte?‹ ›Objekte. Soll ich dir jetzt erklären, was Objekte sind, oder was?‹ ›Nee, lieber nicht. Und aus was sind die?‹ ›Stahl. Schrott. Eigentlich fast nur aus Stahl. Hol ich mir alles vom Schrottplatz und schweiß das zusammen.‹ ›Und wer kauft sowas? Ist das sowas wie Kunst am Bau, oder was?‹ Martin Klapp lachte meckernd (NVS, 432f.). Für Karl kommt die Frage einem Affront gleich. »›Mann‹, sagte Karl, ›ich hätte gar nicht gedacht, daß heute einer noch so ʼne Fragen stellt. Das kann auch nur in der Provinz vorkommen‹« (NVS, 433). Karl versucht sich durch seine Aussage aufgrund seines Wohnortes über Personen außerhalb Westberlins zu stellen. Seine Aussage impliziert, dass sich Bremen und seine Bewohner intellektuell auf einem niedrigeren Niveau befinden als die Bewohner Westberlins. Die Aussage ist stark verallgemeinernd und trennt Provinz von Metropole deutlich ab. Frank verlangt nach einer Erklärung für die Bezeichnung Provinz. Karl druckst herum und nennt Bremen als Beispiel für eine Provinz und stellt Berlin in Opposition: »Du müßtest mal nach Berlin kommen, dann wüßtest du, was ich meine« (NVS, 433). Diese Erklärung, die den Begriff Provinz nur durch die Benennung des Gegenteils beschreibt, reicht Frank nicht aus, und für ihn ist diese Antwort eher der Beweis für die provinzielle Haltung Karls, die er aber lieber als »enthirnt« bezeichnet. Die Position Karls lässt sich mit dem Begriff des Othering erklären. Die Bewohner Bremens sind nach Karls Perspektive das Andere, von dem er sich abzugrenzen versucht. Dies geschieht, indem er der Stadt Bremen einen anderen Status zuschreibt als seiner Wahlheimat. Frank schafft es, durch seine Aussage Karls Argumentationsstruktur zu durchbrechen. Indem er die Parallele des Konstruktionscharakters der Dichotomien Provinz versus Metropole und Bremen versus Berlin offenlegt, decodiert er die stereotype Gegenüberstellung, die hinter den Argumen-

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Topographien der Adoleszenz

ten Karls steckt, als eingeschränkte und zentrierte Sichtweise. So wird sichtbar, dass Karl selbst in die Falle getappt ist, indem er sich als Bewohner einer Stadt über die Bewohner einer anderen Stadt stellt und deren Stereotype aufgreift und einfach übernimmt, ohne darüber nachzudenken. In der Figur des Künstlers Manfred ist der Imagewechsel der Stadt Berlin angelegt. Die Wahrnehmung der Figur gegenüber der Stadt wandelt sich im Laufe der Romane »Neue Vahr Süd« und »Der kleine Bruder«. Der Sehnsuchtsort Berlin wird abgelöst durch den Sehnsuchtsort New York. Manfred ist in Berlin nicht sehr glücklich. Vor allem vermisst er den Fisch und erzählt von einer Begebenheit in einem Berliner Fischladen (NVS, 460). Er wollte Bückling kaufen, den sie in Berlin nicht kennen. Für Manfred ist das ein Zeichen der Provinzialität Berlins. Als Frank nach Berlin fährt, möchte er Manfred Bücklinge als Geschenk mitbringen. Doch auch die Verkäuferin in Bremen kann ihm diesen Fisch nicht verkaufen, da die Leute jetzt lieber geräucherte Makrele äßen (NVS, 631). Die geschilderte Szene verdeutlicht, dass Manfred nicht die richtigen Schlüsse aus seiner Erfahrung im Berliner Fischladen zieht. Zusammen mit der beschriebenen Erfahrung Franks offenbart der Text eine andere Lesart. Ob es eine spezielle Fischsorte in einer Stadt zu kaufen gibt oder nicht, qualifiziert weder den Fischladen selbst noch die Stadt. Da ein Fischladen, der in einer Hansestadt mit großem Hafen liegt, wo frischer Fisch täglich angeboten werden kann, wegen mangelnder Nachfrage auf den Verkauf von Bückling verzichtet, handelt es sich ausschließlich um ein marktwirtschaftliches Prinzip, das hier zum Ausdruck gebracht wird. Denn: Die Nachfrage bestimmt das Angebot. Manfred, der mittels eines Stipendiums des Goethe-Instituts seine Kunstinstallationen in New York produzieren durfte, empfindet Berlin nach der Rückkehr aus den USA als zu klein. Er nimmt deshalb an einer Medikamentenstudie teil, die ihm 20.000 DM und das Startkapital für eine Auswanderung nach New York einbringen soll. Manfred begründet seine Pläne so: ›Mann, Frankie, du hast ja keine Ahnung, New York ist das, was zählt, der Rest ist Quatsch. Mit dem, was ich mache, werde ich in Berlin nichts. Berlin ist zu klein. Und vergiß mal die ganze Mauerstadtscheiße, die die jetzt am Laufen haben, noch ein, zwei Jahre, dann ist das vorbei, dann ist das wieder Verden an der Aller hier, das ist doch alles nur noch für Rentner und Hippies, das bringt doch alles nichts‹ (DkB, 310). Aus Manfreds Perspektive kann er als Künstler in Berlin nicht erfolgreich werden, weil die kaufwillige Klientel fehlt. Der Standortfaktor ist entscheidend, denn Manfreds Objekte sind sehr groß, und es ist teuer, diese Kunstwerke aus Westberlin in die Bundesrepublik zu transportieren. Manfred folgt der Dynamik der Subsemiosphäre, die in seinem Fall jedoch nicht die der Punks ist. Er als Künstler orientiert sich in Richtung New York, dorthin hat sich das Zentrum der Subsemiosphäre ver-

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

lagert. Dass Westberlin für Künstler wie ihn an Relevanz verliert, spürt er. »Hippies«, die Vorgängergeneration, sind die politischen 68er, die die moderne geteilte Stadt als Subsemiosphäre begründet haben. Manfred und auch Karl wollen sich mit ihrer Kunst davon abgrenzen, etwas Neues entwerfen und beziehen sich damit nicht allein auf das Kunstprodukt, sondern letztlich auf ihr eigenes Selbstbild. Für Franks Bruder steht fest, dass er diese Transformation in Westberlin nicht vollziehen kann. Er spürt in der Stadt Stillstand, weswegen sie allein von Rentnern und Hippies bewohnt werden sollte. Innovation verspricht er sich in der anderen, fremderen Metropole; New York. Welche Bedeutung New York zugeschrieben wird, lässt sich aus »Icks« ablesen.13

Punks Die Punkszene wird auch in der Lehmann-Trilogie thematisiert. Frank entdeckt die um ein Feuer sitzende Gruppe zufällig, als er Schutz vor einem Unwetter unter einer Weser-Brücke sucht. Wolli, ein Mitbewohner Franks, gehört ebenfalls zu der Gruppe Punks, die apathisch in das Feuer und auf die Weser starren. Frank fragt Wolli nach den Gründen für sein Verhalten, das »wirklich fast Pennerkram« (NVS, 473) sei. Für die selbsternannten Punks gehört das Sitzen am Fluss unter einer Brücke zu ihrem Selbstverständnis. Mike, ein weiterer Mitbewohner und Punk, erklärt: »Weil er [der Fluß] sich bewegt. Weil er nie stillsteht. Und weil er aus Bremen gleich wieder abhaut« (NVS, 474). Abhauen wollen auch die Punks und das – wie könnte es anders sein – nach Berlin. Wie in »Dorfpunks«, wird die Stadt als Sehnsuchtsort verklärt. »Mann […] du hast ja keine Ahnung, Frankie, was da alles läuft, mit den Hausbesetzungen und allem, ich meine, echt mal, auch mit Musik und so, mit allem, was meinst du, was da alles läuft, Konzerte, Randale, der ganze Kram …!« (NVS, 474). Frank betrachtet die Situation von einem nüchternen Standpunkt aus und entgegnet, dass die Menschen dort auch nur mit Wasser kochten. Er versucht herauszufinden, was Wolli und seine Freunde von Berlin erwarteten, das in Bremen nicht möglich sei. Frank argumentiert, dass er seine Möglichkeiten ausschöpfen möchte und dafür der Wohnort unwichtig sei. Die Wahrnehmung der Punks steht diesen Argumenten entgegen. Für sie ist Berlin der Inbegriff der Szenestadt, nur hier können sie konsumieren, was aus Sicht der Punkszene attraktiv ist. Der Dialog offenbart die phlegmatische Haltung, die charakteristisch für die Punkszene zu sein scheint. Mike erklärt: »[…] ich scheiß auf Möglichkeiten […]« (NVS, 476). Für sie besteht der Alltag aus Rumhängen, Trinken billigen Dosenbiers und Hören von Punkmusik. Als Frank gemeinsam mit Wolli nach Westberlin fährt, werden ähnliche Zuschreibungen erkennbar wie im Roman »Dorfpunks«. Wolli möchte schnellstmöglich

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Vgl. Abschnitt 3.4.

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nach Kreuzberg und die Touristenattraktionen, wie den Kurfürstendamm, meiden. In Ermangelung eines Stadtplans fährt Frank geradewegs in die von Wolli verhasste Straße. ›Kudamm ist doch gut‹, sagte Frank und fuhr von der Autobahn ab. ›Was hast du denn überhaupt immer gegen den Kudamm? Den kennt man doch wenigstens, so vom Namen her.‹ ›Du vielleicht‹, sagte Wolli in einem leicht gehässigen Tonfall. ›Du warst ja auch noch nie hier! Kann ich mir vorstellen, daß du vom Namen her in Berlin bloß den Kudamm kennst.‹ […] ›Das ist doch alles totale Touristenscheiße, der Kudamm‹, sagte Wolli. ›Das ist doch bloß was für Touristen!‹ (DkB, 15). Wolli, der sich derselben Subkultur zugehörig fühlt wie der Protagonist aus »Dorfpunks«, betrachtet sich selbst als Szenekenner und teilt Berlin deshalb in starre Kategorien ein. Den Stadtteil Kreuzberg versteht er als Inbegriff der Hausbesetzerszene, weshalb es dort mit dem »Wohnen und so auch kein Problem« (NVS, 625) sei. Der Kurfürstendamm mit dem Europacenter, dem KaDeWe und weiteren Geschäften steht in seiner Wahrnehmung für das touristische Berlin, das den Menschen vermittelt wird, die keiner Szene angehören bzw. noch nie in Berlin waren. Aus Wollis Sicht trifft beides auf Frank Lehmann zu. Er hat sich mit der Aussage, dass man den Kudamm vom Namen her wenigstens kenne, als Außenseiter enttarnt. Westberlin wird in »Neue Vahr Süd« als eine Stadt dargestellt, die – je nach Szenezugehörigkeit – verschiedene Sehnsüchte weckt. Der Protagonist Frank hat keine Erwartungshaltung an Städte im Allgemeinen, und da er sich keiner Szene zugehörig fühlt, reizt ihn der Besuch der geteilten Stadt nicht. Die einzige Figur des Romans, die handfeste Gründe vorzuweisen hat, weshalb Berlin für sie ein Ort der Sehnsucht sein sollte, ist an einer Flucht nach Berlin nicht interessiert. Nur durch diesen Umzug könnte Frank dem Wehrdienst entkommen. Als Gegenentwurf zu Franks Einstellung fungieren die Protagonisten Wolli und Mike, die die Perspektive der Punks verkörpern. Sie glauben, ihr Heil ausschließlich in Berlin finden zu können. Letztlich gelingt es nur Wolli, nach Berlin zu kommen, und das auch nur mit der Hilfe Franks. Diese Handlungsentwicklung unterstreicht die phlegmatische Antriebslosigkeit der Punkclique. Obwohl die Jugendlichen ohne familiäre Verpflichtungen sind und deshalb frei in ihrer Wohnortwahl, kommt keiner auf den Gedanken, die Initiative zu ergreifen und nach Berlin zu ziehen. Dass es Frank ist, der Wolli seinen Sehnsuchtsort nahe bringt, ist eine ironische Wendung, die in »Der kleine Bruder« auf die Spitze getrieben wird. Wolli will nach einem Tag in einem besetzten Haus in Berlin wieder zurück nach Bremen. Es ist Frank, der ihm das nötige Geld für eine Rückfahrt gibt (DkB, 216f.).

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

»Alle Punks sind Touristen« (DkB, 165) bringt Karl seine Ansicht auf den Punkt. Frank träumt die Situation nur und konterkariert so Karls Ausspruch, dass alle Punks Hippies seien (DkB, 59). In seinem Traum liegt aber eine Wahrheit im Freud’schen Sinne, die man in allen untersuchten Texten, die die Punkkultur verhandeln, findet: Punks sind in der Regel nicht in Berlin geboren, sondern gehen nach Berlin. Punk kann man erst in Berlin sein. Denn diese Metropole ist für Deutschland die Stadt, in der sich diese Subkultur entfalten kann; sie wird damit als Zentrum der Subsemiosphäre erkennbar. Die Stadt wird durch den Punktourismus zum Punkmekka, und die Punks wiederum fühlen sich erst als echte Punks, wenn sie in Berlin sind. Dieser Zirkelschluss führt dazu, dass die Subkultur und die Stadt Berlin ihre Bedeutung verlieren, das macht Karls Ausspruch deutlich. Denn: Sobald die Punkkultur im Mainstream angekommen ist, und das ist sie unweigerlich, wenn alle Punks als Touristen in Erscheinung treten, dann ist Punksein keine Subkultur mehr, die nur den Jugendlichen gehört. Gleichzeitig kann Berlin nicht mehr die Metropole der Punks sein, sobald sich Touristen als Punks verkleiden. Berlin wird bedeutungslos im Moment der Manifestierung der Jugendkultur. Der Bedeutungszuwachs auf der einen Seite führt zum Bedeutungsverlust auf der anderen Seite. Sobald sich Punkbewegung und Berlin als Ort des Punk nicht mehr die Waage halten, die Subkultur in der allgemeinen Kultur angekommen ist, dann sind Ort und Subkultur tot. Das Zentrum »verblasst«, um mit Lotman zu sprechen. Punksein wird zur Normalität und geht in die Semiosphäre über. Die semiotische Aktivität, die die Statik der Semiosphäre verhindert, ist im Falle des Punk zu beobachten und auch – wie oben erläutert – im Subtext der Aussage »Alle Punks sind Touristen« enthalten. Punksein hat sich von der Peripherie über den gesamten Kulturraum ausgeweitet, transformiert und geht nun ins Zentrum über. Lotman führt aus, dass dieser Prozess wichtig sei, um Kultur ihre nötige Flexibilität zu verleihen. An den Grenzen der Semiosphäre, oft auch im Austausch mit anderen Semiosphären, kommt es zu Veränderungen, die entweder die Semiosphäre dynamisieren oder eine Ausbildung aggressiver Fronten bewirken. »Die Grenze wird damit zu dem Ort, an dem die Semiosphäre darüber zu reflektieren genötigt wird, was sie ausmacht.«14 Häuser zu besetzen gehört zur Subkultur der Punks, weshalb auch Wolli bei seiner Ankunft in Berlin sogleich in ein besetztes Haus geht. Wie sich nach einiger Zeit herausstellt, sind nicht Vorder- und Hinterhaus besetzt, denn der vermeintliche Besetzer des Vorderhauses hat den Gebäudekomplex geerbt. Das Haus gehört Immel, und er hat im vorderen Bereich die sogenannte »ArschArt-Galerie« begründet. Auch Franks Bruder Manfred stellt dort aus und arbeitet an seinen Skulpturen. Karl erklärt, dass das Gebäude auch aus Marketinggründen als besetzt dargestellt wird. 14

Ruhe, Cornelia (2015): Semiosphäre und Sujet, S. 173.

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›Das hat ihn [Immel] doch erst nach vorne gebracht, daß er und seine ArschArtLeute die großen Besetzerkünstler sind, und was weiß ich denn, was die halt dauernd so schreiben und erzählen und filmen und so. […] und als das dann mit dem Besetzen losging, da hat er’s lieber gleich selber besetzt, bevor es andere tun, und dann stellte sich auch noch raus, daß das die ideale Promo für seine Aktionskunstscheiße war. Bloß die Sache mit den Punks war Pech. Die waren plötzlich im Hinterhaus […]‹ (DkB, 143). Das vermeintlich besetzte Haus ist ebenfalls Ausdruck des Veränderungsprozesses in der Semiosphäre. Der Besitzer des Hauses stellt das Haus als besetzt dar, um es vor einer echten Besetzung zu schützen. Er nennt es eine »Hausbesetzungssimulation« (DkB, 205). So lockt er unabsichtlich echte Hausbesetzer in sein Hinterhaus, die er nun nicht mehr los wird, da er sich nicht als Besitzer zu erkennen geben will. Zugleich bringt die angebliche Besetzung auch Vorteile mit sich, die er für die Vermarktung seiner Kunst nutzt. Im medialen und wirtschaftlichen Diskurs haftet der Kultur des Punk, zu der das Besetzen von Häusern gehört, ein positiv kreatives Image an, was als erster Schritt hin zur Ausweitung der Subkultur bis ins Zentrum der Semiosphäre gedeutet werden kann. Die räumliche Anordnung von pseudobesetztem Vorderhaus und von Punks realbesetztem Hinterhaus kann auch als metaphorische Darstellung der subkulturellen Genese gedeutet werden. Zuerst besetzten Punks leerstehende Gebäude, um auf Wohnungsnot und die gleichzeitige Vernachlässigung von Gebäuden seitens der Besitzer aufmerksam zu machen. Daraus entwickelte sich eine Geschäftsidee, die den marktwirtschaftlichen Prinzipien treu blieb und im Text durch das Vorderhaus metaphorisch dargestellt wird. Das Hinterhaus symbolisiert die Geschäftsgrundlage der Künstler. Denn der Erfolg der Künstler fußt auf der Annahme, dass die Galerie in einem besetzten Haus verortet ist. Am Rand – durch das Hinterhaus versinnbildlicht – erscheint also die Subsemiosphäre Punk, deren transformierte Adaption in das Zentrum der herrschenden Ordnung durch das Vorderhaus verkörpert wird. Eine analoge Lesart lässt sich in der von den Bewohnern der ArschArt-Galerie gegründeten Kunstperformance-Band erkennen. Als Frank, Karl und der ExBassist dieser Band in einer Punkkneipe auftauchen, ziehen sie sofort alle Blicke auf sich. Die drei werden als fremde Eindringlinge wahrgenommen. Dass Frank nach einer Legitimation für den Besuch der Kneipe von seinem Punk-Freund Wolli gefragt wird, verwundert ihn, schließlich war es in Bremen – ihrer Heimatstadt – auch nicht entscheidend, welcher Szene Frank angehörte oder nicht. »[A]ls ob man dazu eine Bescheinigung von der Punkbehörde braucht« (DkB, 125), werden Franks Gedanken im Text wiedergegeben. Die Subsemiosphäre Punk ist hier bereits durch Selbsterhaltungstendenzen gekennzeichnet, da sie ihre Identität durch den Einfluss von außen zu verlieren droht. Es ist vor allem der Musiker, der den Punks negativ auffällt, da er im Vorderhaus des besetzten Gebäudekomplexes

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mit anderen Künstlern lebt. Die Punks haben das Hinterhaus besetzt, und ihnen wurde der Strom abgestellt, wofür sie die Leute aus dem Vorderhaus verantwortlich machen. Karl versucht deeskalierend auf die Situation einzuwirken, indem er den betrunkenen Bassisten als Punk ausgibt. ›Schau, er hat seine Haare gefärbt, das war diesen verdammten Nazikunstschweinen von der ArschArt schon zuviel!‹ sagte er. ›Martin ist doch einer von euch, Menschenskind!‹ (DkB, 129). Die Taktik der Camouflage offenbart, welche Charakteristika einen Punk ausmachen. In diesem Fall sind es die gefärbten Haare, das Außenseitertum, der exzessive Alkoholkonsum und der Dilettantismus als Musiker. Karl nutzt diese Attribute, um seine Behauptung zu untermauern, dass Martin Punk sei. Die Mitglieder der Band Dr. Votz verstehen sich als Künstler und arbeiten in der ArschArt-Galerie. Karl bezeichnet den Auftritt der sechs in der sogenannten »Zone« als »Punk-Avantgardescheißkonzertkram« (DkB, 61). Hinterhaus und Vorderhaus werden im erzählten Raum zu einem Gegensatzpaar stilisiert. Sie existieren in wechselseitiger Abhängigkeit und sind somit komplementär. Hinten leben die Punks, die das Haus besetzt haben; vorne leben die Künstler, die das Haus nur vermeintlich besetzt und auch sonst viele Elemente der Punkkultur adaptiert haben, sei es das Besetzen von Häusern, die Pseudopunkband oder der Künstlerkollektivname »ArschArt-Galerie«. Diese Form der Aneignung stellt das dynamische Moment der Semiosphäre dar. Die kulturellen Praktiken der Punks werden von anderen übernommen und abgewandelt, sodass es zu Modifizierungen innerhalb der Kultur kommt. Erst dadurch ist es der Punkkultur möglich, weiter zu bestehen, wenn auch unter anderen Vorzeichen und Namen. Die Künstler und Bewohner des Vorderhauses würden sich freilich nie zur Subkultur der Punks zählen, schließlich verachten sie die Punks aus dem Hinterhaus geradezu. Doch durch die Adaption einiger Praktiken verbreitet sich das »Selbstbeschreibungssystem«15 in der gesamten Semiosphäre.

Ostertorviertel und Neue Vahr Süd Mit Antritt des Grundwehrdienstes beschließt Frank Lehmann kurzerhand ein WG-Zimmer für die Wochenenden anzumieten. Die Wohngemeinschaft befindet sich in einem Wohnhaus im Ostertorviertel. Dieses Viertel im Zentrum Bremens kennt Frank bisher nur durch seine Kneipenbesuche. In der Trilogie werden Heterotopien als Orte des Anderen bzw. einer Communitas vorgestellt. Mal sind es real existierende Räume, wie Kneipen oder Jugendzimmer, mal sind es Landschaftsräume, die sich die Jugendlichen aneignen, indem sie eigene Grenzen ziehen, um den Raum zu konstruieren. 15

Ruhe, Cornelia (2015): Semiosphäre und Sujet, S. 171.

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Franks Einstellung zu den Menschenansammlungen, die sich allabendlich in den Läden des Stadtteils bilden, ändert sich in dem Augenblick, als er das erste Mal aus seiner Wohnung im Ostertorviertel einen Rundgang durch die Straßen macht. Die Ausführungen ähneln einem Bewusstseinsbericht und zeigen, dass sich Frank schon heimisch fühlt: […] aber heute machte ihm das nichts aus, schließlich wohnte er jetzt um die Ecke, gehörte quasi dazu, da sah er das nicht mehr so eng wie früher, als er sich im Ostertor/Steintor immer als Fremder gefühlt hatte, als Tourist gewissermaßen, das war jetzt vorbei, jetzt war das sein Gedränge und sein Gestank, so empfand er das jedenfalls, und das gefiel ihm (NVS, 119). Der Umzug in das Viertel, das er nun zu Fuß durchquert, lässt Frank die Szenerie aus einer neuen Perspektive wahrnehmen. Er distanziert sich von den Leuten, die nur für einen Abend das Viertel besuchen. Im Gegensatz zu ihnen begreift er sich nicht als »Tourist«. Er ist Teil des Viertels, was durch Kursivierung der Possessivpronomina vor den pejorativen Nomina »Gedränge« und »Gestank« markiert wird. Die Situation in dem überfüllten Imbiss ist aus Franks Perspektive nicht stressig, weil er sich nicht als Teil der Touristenmasse sieht. Durch ein Gedankenzitat werden die Ausführungen des Erzählers unterbrochen: Aus der Neuen Vahr habe ich es jedenfalls schon mal raus geschafft, dachte er aufgekratzt, während er mit dem Selbstbewußtsein des Eingeborenen die Ellenbogen nach links und rechts einsetzte, um sich auf dem Weg zu Gyros und Krautsalat Vorteile zu verschaffen, und auch als er seinen Kram bekommen hatte, verließ er den Imbiß nicht, sondern stellte sich essend in eine Ecke, um dem ganzen Tohuwabohu noch ein wenig zuzusehen, dieser Mischung aus erwartungsfroher Aufgekratztheit beim einen und stumpfer Resignation beim anderen Teil des Publikums, die gefiel ihm gut, zwischen diesen beiden Stimmungen war er schließlich selber den ganzen Tag hin und her geschwankt (NVS, 119). Das »Selbstbewußtsein des Eingeborenen« beschreibt die Selbstwahrnehmung des Protagonisten aus der personalen Erzählperspektive. Die fixierte interne Fokalisierung erlaubt dem Leser eine Mitsicht der Erfahrungen und Gefühle Frank Lehmanns. Der Rezipient erläuft das neu bezogene Viertel mit und eignet es sich so ebenfalls an. Obwohl sich Frank von den »Touristen« abgrenzt und sich als Eingeborener fühlt, ist er – im Vergleich zu seinem WG-Mitbewohner, ehemaligen Mitschüler und guten Freund, Martin Klapp – weniger konsequent in seiner Unterscheidung. ›Das sind doch alles Neubauviertelpenner‹, sagte Martin Klapp, als sie die Treppe hinaufgingen, ›die kommen hier am Wochenende in unsere Gegend und nerven nur rum.‹

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›Wir sind auch aus der Vahr‹, sagte Frank, ›wir sind auch Neubauviertelpenner.‹ ›Bei uns ist das was anderes‹, sagte Martin Klapp, ›das war einmal, das ist vorbei, wir wohnen jetzt hier.‹ (NVS, 307). Die zitierte Rede offenbart, dass Frank noch nicht in letzter Konsequenz das Ostertorviertel als seine »Gegend« reklamiert. Dass er ebenfalls in einem Neubauviertel aufgewachsen ist und bis vor Kurzem dort gewohnt hat, empfindet er als einen Makel. Martin Klapp hingegen hat den Ort seines Aufwachsens abgestreift, für ihn zählt nur sein aktueller Wohnort, der es ihm erlaubt, sich selbst als Einheimischen des Ostertorviertels zu benennen und sich so abzugrenzen. Um sich von den wechselnden WG-Mitbewohnern zu distanzieren, weist Martin auf die Herkunft der Gäste hin. Als Wolli wieder einen Punk-Freund bei sich wohnen lässt, mokiert sich Martin darüber, dass auch der wieder aus Walle stamme und man ihn deshalb noch nicht einmal kennen könne (vgl. NVS, 303). Frank entlarvt das Argument schnell und führt Martin vor Augen, dass die Vahr selbst auch noch mal in Vorstadtteile gegliedert und die Wohnungsdichte dort so hoch ist, dass es unwahrscheinlich ist, jeden Bewohner der Vahr zu kennen.16 Letztlich nutzt Martin die Herkunft als Vorwand, um darauf aufmerksam zu machen, dass ihn die ständigen Übernachtungsgäste stören. Beide Situationen zusammengenommen belegen Martins Strategie bei der Betonung seiner Herkunft aus der Neuen Vahr Süd. Er nutzt sie, wenn es ihm zum Vorteil gereicht, und tut sie als nichtig ab, wenn sie seiner Selbstdarstellung im Weg steht. Das Ostertorviertel ist geprägt durch viele Szenekneipen, die sich in ihrer Inneneinrichtung, Getränkeauswahl und Musik voneinander abzugrenzen suchen so wie auch deren Gäste. Das »Storyville« liegt im Souterrain, ist mit Möbeln vom Sperrmüll ausgestattet und dezent durch Kerzenlicht beleuchtet. Außerdem riecht es nach »Alkohol, Schimmel, Zigaretten, Hasch und Räucherstäbchen« (NVS, 124). Da dort Rotwein aus Wassergläsern serviert wird, es weder Flipper noch Billardtisch gibt und man »bloß rumsitzen und quatschen« (NVS, 133) könne, ist für Harry – einem ehemaligen Mitschüler Franks, der zu einer delinquenten Rockerbande zählt – klar, dass die Kneipe von Studenten frequentiert werde. Diese Fremdzuschreibungen, die von einem Außenstehenden gemacht werden, der zwar im gleichen Alter ist, aber einer anderen Szene angehört, offenbaren die Stereotype, die Studierenden der erzählten Zeit der 1980er-Jahre anhafteten. Die Diskothek »Why Not«, die Frank besucht, um heimlich Birgit zu treffen, wird als dunkler Laden beschrieben, in dem Leute zu »etwas angestaubter Rockmusik hin und her pendelten« (NVS, 259). Aus Franks Perspektive halten sich dort

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»Ich meine, wenn die wenigstens aus der Vahr wären, dann würde man die wenigstens kennen.« »Das ist nicht gesagt«, gab Frank zu bedenken, »wenn die aus der Neuen Vahr Nord wären oder aus der Gartenstadt Vahr, dann nicht unbedingt« (NVS, 304).

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nur »Unterwassertänzer und Räucherstäbchenanzünder« (NVS, 161) auf, die er als »lethargische[s] Publikum« (NVS, 259) bzw. »Seepferdchen« (NVS, 160) beschreibt. Birgit und Frank versichern sich gegenseitig, dass sie sonst nie in diesen Laden gingen, was impliziert, dass auch keiner ihrer Bekannten dort auftauchen wird. »Hier merkt keiner was«, sagt Birgit deshalb auch zu Frank, bevor sie sich in eine noch dunklere Ecke zurückziehen (NVS, 262). Das Treffen findet außerhalb des Netzwerks aus Kneipen statt, die von Franks Mitbewohnern besucht werden. Obwohl sich Parallelen zum »Storyville« feststellen lassen – beispielsweise die Räucherstäbchen –, sprechen die Läden unterschiedliche Bedürfnisse der Jugendlichen an. Das »Storyville« lädt zum gemütlichen Beisammensein und Gesprächen in WGAtmosphäre ein, wohingegen das »Why Not« mit seiner düsteren Tanzfläche eher introvertierte Melancholiker ansprechen soll. Auch die Drogen, die in den Läden konsumiert werden, sind als Codes der jeweiligen Szenen zu lesen. So begrüßt Franks Bruder, Manfred, Sibille im »Storyville« so: »Willkommen in der Hippiehölle. Ich bin der große Bruder« (NVS, 438). In der Studentenkneipe werden Rotwein und Marihuana als Rauschmittel genannt, und in der Diskothek sind es WhiskyCola und Mandrax, also Mittel mit einer deutlich stärker berauschenden Wirkung. Die Kneipen und Diskotheken werden durch deren Besucher zu Szeneläden, umgekehrt fühlen sich die Besucher durch den Aufenthalt in einem Szeneladen und der Aneignung der dort üblichen Praktiken – seien es Tanzstil, Drogenkonsum, Musikgeschmack oder Gesprächsthemen – erst als Mitglied der Szene. So ist auch zu erklären, warum Harry das »Storyville« schnell wieder verlässt. Er fühlt sich unwohl in der Umgebung, da er sich einer anderen Subkultur zugehörig fühlt, die in anderen Kneipen verkehrt. Die Reaktion Manfreds auf einen Besuch im »Storyville« verdeutlicht, dass man einer Subkultur auch entwachsen kann. Er lebt seit längerem in Berlin und kennt das »Storyville« noch aus seiner Jugendzeit in Bremen. »Das ist ja wirklich irre, […] der Laden sieht ja genauso aus wie immer« (NVS, 432). Die Kneipe zieht Menschen in der immer gleichen Lebensphase an, und wenn sie dieser entwachsen sind, suchen sie sich einen neuen Ort. Aus diesem Grund verändert sich das »Storyville« auch nicht; das Interieur, die Musik und die Getränkeauswahl bleiben gleich. Die Kneipe wird somit als prototypische Heterotopie beschrieben. Ein Ort, der außerhalb der Zeit zu liegen scheint und nur Menschen in der Lebensphase der Adoleszenz mit einer speziellen Weltanschauung anlockt. Der gleichaltrige Harry fühlt sich in der Kneipe unwohl, weil er weder studiert noch politisch aktiv ist. Er ist im »Storyville« im wahrsten Sinne des Wortes deplatziert. Der Dialog zwischen Martin und Frank betont die eigenwillige Dynamik, die hinter der Wahl der Szenekneipen steckt. ›Ich meine‹, sagte Frank, ›wieso soll das Storyville früher okay gewesen sein, jetzt aber nicht mehr? Das ist doch unlogisch. Das hat sich ja überhaupt nicht verändert.‹

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›Ja, eben‹, sagte Martin Klapp. ›Darum ja. Das ist ja das Problem. Wir haben uns geändert, das Storyville aber nicht. Oder wir sollten uns jedenfalls auch irgendwie ab und zu mal verändert haben oder weiterentwickelt und so. Wir sind ja noch jung.‹ ›Wer sagt das?‹ ›Was? Daß wir noch jung sind?‹ ›Nein, das andere.‹ ›Alle.‹ ›Ja, aber das ist dann ja auch schon wieder ein bißchen verdächtig‹, gab Frank zu bedenken. ›Ich meine, wenn das alle sagen…‹ (NVS, 431). Frank stellt sich mit seiner Einstellung gegen Martins Sichtweise und beweist damit seine Unabhängigkeit gegenüber den beschriebenen Praktiken. Zugleich wird so seine Außenseiterposition erkennbar, die ihm aber andere Möglichkeiten eröffnet als den Menschen, die sich einer Gruppe bzw. Szene und Subkultur zugehörig fühlen. Schließlich ist es Frank, der nach seiner Entlassung aus dem Wehrdienst spontan nach Westberlin fährt. Es sind somit die anderen, die im Alltag gefangen sind. Zusätzlich ist Franks Unabhängigkeit ein Hinweis darauf, dass er im Gegensatz zu seinen WG-Mitbewohnern nicht Teil der Communitas ist, die ihren Ort des Übergangs in ebendieser Kneipe gefunden hat. Im Falle der Studenten in Franks Umfeld treffen die Klischees zu, die Harry zu dem Schluss kommen lassen, dass das »Storyville« eine Studentenkneipe sei. Immer wieder aufkommende Gespräche über K-Gruppen und Komitees verdeutlichen das. So nimmt es nicht wunder, dass ein Beratungsgespräch für Franks Verweigerungsanhörung in ebendieser Kneipe stattfindet. Ein Student, Heiner, »mit langen Haaren und Bart« (NVS, 347) von der Deutschen Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstverweigerer (DFG/VK) soll Frank helfen, die Anhörung zu meistern. Dass Heiner das genaue Gegenteil zu Franks Äußerem bildet, wird im Laufe des Gesprächs zu einer Diskussion der beiden ausgebaut. Im Kern geht es dabei um die Dekonstruktion der leeren Worthülsen, mit denen sich die Anhänger politischer Gruppen gegenseitig beleidigen. So wird Frank vorgeworfen, er würde »Junge-Union-Scheiße« verbreiten, als er auf die Tatsache hinweist, dass in der DDR die Wochenendbereitschaft der Soldaten bei neunzig Prozent liege. Ein Faktum, das die Vorstellung der »sozialistisch-friedliebend[en]« DDR konterkariert. Heiner tut das Argument als »Kalte-Kriegs-Propaganda« (NVS, 352) ab. Frank nennt seinen »Imperialismuskram« wiederum »Revi-Scheiß« (NVS, 351), wodurch sich ein wortreicher Schlagabtausch entspinnt, der im Rückzug des DFG/VK-Mitglieds endet. Die Diskussion offenbart auch die Mental Maps, die der Argumentation linker westdeutscher Jugendlicher und – als Gegenpol – dem konservativen westdeutschen Zeitgeist zugrunde liegen. Aus linkspolitischer Perspektive galten die DDR und die UdSSR als vorbildliche Länder im Sinne der kommunistischen Weltan-

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schauung. Der Common Sense in der BRD sowie die politische Handlungsmacht empfanden die Sowjetstaaten als Gefahr und Bedrohung, die sich im Kalten Krieg ausdrückte. Die Zurschaustellung des Beratungsgesprächs ist nur eine von vielen Debatten, die im Roman exemplarisch für die Aufspaltung und Zerfaserung der politischen Studenten- und Jugendgruppen in den 1980er-Jahren steht. Die Diskussionen werden mit dem immer gleichen Vokabular geführt und sind inhaltsleer. Im Roman werden immer nur die Abkürzungen der politischen Gruppierungen genannt, wodurch die geringe Handlungsmacht der einzelnen Gruppen verdeutlicht wird. Die Akronyme sind nur für Mitglieder selbsterklärend und werden von Außenstehenden als bloße Aneinanderreihung von Majuskeln gesehen. Die Entwicklung, die der Mitgliederschwund der einzelnen K-Gruppen nehmen wird, prophezeit Ralf Müller, ein WG-Mitbewohner, als Achim aus dem Ruhrgebiet heimkehrt. Dort war er hingezogen, um in der Bezirksleitung für den neugegründeten Bund Westdeutscher Kommunisten (BWK) zu arbeiten (NVS, 275). ›Das wird nichts mehr mit der Organisation, noch ein Jahr, dann sind die alle bei den Grünen oder so‹, sagte Ralf Müller […]. ›Die ganzen Genossen, die wir früher rausgeworfen haben, die sind doch alle schon bei den Grünen, daran sieht man doch, wo der Hase langläuft‹ (NVS, 481). Als »das letzte Gefecht der K-Gruppen« (NVS, 504) bezeichnet Achim die Komiteesitzungen zur Veranstaltung gegen das feierliche Gelöbnis im Weserstadion. Sven Regener wandelt das real historische Ereignis vom 6. Mai 1980 ab und verlegt es auf den 5. November 1980 (NVS, 500). Eine feierliche Rekrutenvereidigung im Weserstadion geriet damals zu einem Fiasko der Sicherheitsbehörden, als unerwartet viele Demonstranten mit Molotowcocktails und Steinen bewaffnet der Polizei gegenüberstanden. Es kam zu »Straßenschlachten« und – so berichtete der »Spiegel« damals – »257 verletzte Polizisten, drei verwundete Soldaten und zahllose blessierte Demonstranten«17 waren die Bilanz des Tages. Gründe für die Demonstrationsbereitschaft werden in zeitgenössischen sowie erinnernden Zeitungsartikeln analysiert. Im »Spiegel« werden Stimmen der Delegierten aus dem SPD-UnterbezirkOst zitiert, die die Veranstaltung als »überflüssiges Säbelrasseln« und »unzeitgemäßes Brimborium«18 empfanden. Der Grund: Zum 25-jährigen Jubiläum der ersten öffentlichen Vereidigung in Bremen sollte es ein besonders großer Festakt werden »mit Vorbeimarsch von Panzern und Artillerie und dem Überflug von Kampf-

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Signale überhört, o. A., in: Der Spiegel, Nr. 20, Jahrgang 1980, S. 25-27, hier: S. 25, online: htt ps://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14315097.html [Stand: 16.02.2017]. Ebenda, S. 26, online: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14315097.html [Stand: 16.02. 2017].

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geschwadern«.19 Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundesverteidigungsminister Hans Apel lehnten diese Forderungen wegen der angespannten Weltlage ab. Stattdessen sollte es ein öffentliches Gelöbnis mit Bundespräsident und hohen Nato-Offizieren werden.20 Dreißig Jahre später erinnert ein Artikel in der »taz« an die Geschehnisse des 6. Mai 1980. Der Verfasser sieht einen Grund für die Ausschreitungen, die entgegen der pazifistischen Grundhaltung der meisten Jugendlichen in den 1980er-Jahren stehen, bei den Organisatoren. »Die DKPorientierten ›Friedensgruppen‹ wollten die Bundeswehr im Interesse der DDR im Misskredit bringen, die maoistischen und autonomen Gruppen setzen darauf, mit quasi-militärischen Mitteln die Nato zu schwächen«21 , so das Fazit. Im Roman äußert Achim seine Meinung über die Organisationstreffen als eine zwar desillusionierende, aber präzise Vorwegnahme der Ereignisse, die Frank bei der Vollversammlung erleben wird. Die Vollversammlung sei »[f]ür alle, die darüber reden wollen, die mitreden wollen oder überhaupt nur irgend etwas reden wollen, für alle, die labern wollen, und labern und labern und labern…«. Und wenig später sagt er, »Hauptsache du willst reden oder besser noch, Hauptsache, du willst zuhören, man braucht ja auch Leute, die zuhören, ich glaube, vor allem werden da noch Leute gebraucht, die sich den ganzen Scheiß anhören« (NVS, 499). Sven Regener beschreibt die Komiteesitzung aus der Perspektive Franks, der als Außenstehender – er war nie Mitglied in einer politischen Gruppierung – wie aus der Vogelperspektive die Geschehnisse beobachten kann. Als der Leiter der Versammlung das Rednerpult betritt, identifiziert Frank ihn als »Wolfgang, der Lehrer, Ex-Genosse und Ex-Mitbewohner von Martin Klapp« (NVS, 503). Die anschließende Beschreibung steht exemplarisch für den Ablauf der gesamten Vollversammlung: Wolfgang bekam ein bißchen Beifall aus der Mitte des Saals, nicht aber von den Genossen und Ex-Genossen um Frank herum, die buhten ihn aus, was Frank zu der Annahme brachte, daß Wolfgang mehr als nur ausgetreten war, wahrscheinlich hat er die Seiten zu schnell gewechselt, dachte er, wahrscheinlich ist er schon bei den Grünen, das geht manchmal schnell, dachte er, da ist dann Ex-Genosse nicht mehr gleich Ex-Genosse, dachte er und nahm sich vor, Martin Klapp, der irgend

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Ebenda. Ebenda. Eine Vereidigung ist im Gegensatz zu einem Gelöbnis mit einem Schwur verbunden. Das Gelöbnis legen Wehrdienstleistende ab, vereidigt werden Soldaten auf Zeit sowie Berufssoldaten. Diensteid und Gelöbnis sind in § 9 des Soldatengesetzes geregelt. Eidesformel: »Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, so wahr mir Gott helfe.« Gelöbnisformel: »Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.« Rekrutengelöbnis. Niederlage für die Bundeswehr, von Klaus Wolschner, in: der taz, 5.5.2010, online: https://www.taz.de/!5143164/ [Stand: 16.02.2017].

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etwas in Richtung Rednerpult brüllte, bei Gelegenheit mal nach Details zu fragen (NVS, 503). Das verbum credendi leitet von der bloßen Beschreibung zu einer Analyse der Ereignisse aus der Perspektive Franks über. Dass der Mann auf dem Podium ausgebuht wird, ist für Frank ein Hinweis auf einen vermeintlichen Verrat. Überläufer zu den Grünen werden von K-Gruppen-Mitgliedern kritisch beäugt. Wolfgang ist Lehrer und kürzlich Vater geworden, seine Frau sitzt stillend in der ersten Reihe des Veranstaltungsraums. Seine Lebenssituation ist eine andere als die der Studenten Martin und Ralf, so ist vielleicht auch sein Rückzug aus den K-Gruppen zu erklären. Die Grünen gründeten sich im Januar 1980 und hatten Mitglieder aus zwei »Grundströmungen«: den bürgerlich-konservativ »grünen« sowie der bunten Liste (»einem vielfältigen Spektrum linker, zum Teil aus den Überresten maoistischer Gruppen«22 ). Die neue Partei spaltete das Drei-Parteien-System nachhaltig auf und trat mit dem Ziel an, die Ideen der neuen sozialen Bewegungen und alternativen Milieus in die Bundespolitik zu tragen.23 Die im Roman geschilderten Formen der politischen Teilhabe sind Realitäten der erzählten Zeit. »Eine Vielzahl von Methoden der direkten Demokratie« zeichne die zur Selbstverständlichkeit gewordene »Option der Bürgerbeteiligung«24 aus, erklären die Historiker Axel Schildt und Detlef Siegfried. Die Romanfigur Wolfgang steht exemplarisch für die Mitbegründer der Grünen. Obwohl er nur eine Nebenfigur ist, werden genug Hinweise gegeben, die seinen politischen Weg erklären. Dass er Lehrer ist und vorher in K-Gruppen aktiv war, wirkt wie ein Abbild des prototypischen Grünen-Mitglieds bzw. -Wählers. So beschreiben Schildt und Siegfried, dass die Partei »in den frühen 90er Jahren […] im Kern von einem ›alternativen Mittelstand‹ mit hohem Akademikeranteil und Schwerpunkt in Berufen der Humandienstleistungen – also Lehrerinnen und Sozialpädagogen – getragen«25 worden sei. Die Figur, die das Studium ja schon abgeschlossen hat, im Beruf steht und eine Familie gegründet hat, ist offensichtlich älter als diejenigen, die ihn ausbuhen. Wolfgang befindet sich nicht mehr in der Postadoleszenz, was auch durch seine Verantwortungsbereitschaft verdeutlicht wird. Er ist der Organisator des Komitees, er hat die schwierige Aufgabe übernommen, alle linken Splittergruppen an einem Tisch zu versammeln, um gemeinsam ein Bündnis gegen das feierliche Gelöbnis im Weserstadion zu bilden. Das Verhalten der Zuhörerschaft wirkt dagegen infantil. Die Nebenfigur kann auch als personifizierte Vorausdeutung der Entwicklung der jugendlichen Figuren – allen voran Martin und Ralf – gelesen werden. Die drei sind ebenfalls politisch aktiv, jedoch noch nicht beruflich gefestigt. Das Bildungsmoratorium hindert die 22 23 24 25

Schildt Axel/Siegfried, Detlef (2009): Deutsche Kulturgeschichte, S. 377. Vgl. ebenda, S. 377. Ebenda, S. 365. Schildt Axel/Siegfried, Detlef (2009): Deutsche Kulturgeschichte, S. 377.

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Studierenden Ralf und Martin an der finanziellen Unabhängigkeit und damit vollständigen Teilhabe am Erwachsenenleben. Da die Wohnung mittlerweile so verdreckt, der Strom abgestellt und die Toilette verstopft ist, geht Frank in Ermangelung eines besseren Zeitvertreibs durch das Ostertorviertel, nachdem er die Vollversammlung verlassen hat. Sein Ziel ist das Bremer Eck in der Bremer Straße. Er verläuft sich in den kleinen Gassen. Frank wird hier zum Flaneur im Sinne der Literatur der Moderne, so wie es Walter Benjamin schon erläuterte: Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung. Da müssen Straßennamen zu dem Irrenden so sprechen wie das Knacken trockener Reiser und kleine Straßen im Stadtinnern ihm die Tageszeiten so deutlich wie eine Bergmulde widerspiegeln.26 Und tatsächlich »sprechen« die Straßennamen zum Protagonisten und machen seinen Irrweg perfekt: […] und das ist ja überhaupt das Absurdeste, daß sie die wohl kleinste Straße, die es in Bremen gibt, Bremer Straße genannt haben, dachte er, vor allem aber ist es nicht nur die kleinste Straße, sondern auch die am schwersten zu findende, dachte er kurze Zeit später, als er schon einige Zeit im Gewirr der kleinen Straßen herumgeirrt war, ohne die Bremer Straße und/oder das Bremer Eck gefunden zu haben (NVS, 512). Als er sich in der Lübecker Straße befindet, keimt in ihm die Hoffnung auf, nicht weit von der gesuchten Straße entfernt zu sein: […] und dann war er in der Lübecker Straße, das ist ja schon mal nicht schlecht, dachte er, wo die Lübecker Straße ist, da kann die Bremer Straße nicht weit sein, Hansestädte sind sie beide, und wie die eine heißt so sieht die andere aus, dachte er, während er zugleich feststellte, daß es ihm eigentlich völlig scheißegal war, ob er ins Bremer Eck ging oder in irgendeine andere Kneipe, am Ende sind sich ja alle Kneipen gleich, genau wie die Hansestädte, dachte er gut gelaunt und ging in die nächstbeste Kneipe, die er sah, es war die einzige in der Lübecker Straße, was die Entscheidung leicht machte, und sie hieß Buddenbrooks […] (NVS, 513). Die Hauptfigur flaniert durch das Ostertorviertel, das ihr vermeintlich bekannt ist. Da sich Frank aber im Dickicht der kleinen Gassen verirrt, erschließt er sich sein Viertel im Sinne de Certeaus neu. Er hat keinen Überblick über die Lage der Gassen zueinander und hat deshalb keine gedankliche Karte parat, die ihm einen Weg aus

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Benjamin, Walter (1983): Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, S. 9.

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dem Labyrinth weisen könnte. Anhand der Straßennamen versucht er, die Orientierung zu wahren. Er vermutet, dass die Straßen, die nach Hansestädten benannt sind, alle beieinanderliegen. Das Gedankenzitat offenbart Franks Verständnis der Logik, die hinter der Straßennamensgebung steckt. Er glaubt, dass ähnliche Bezeichnungen der Hinweis auf räumliche Nähe seien. Er versucht sich so seine eigene Mental Map zu erschließen. Die Gassen bilden für ihn ein Meshwork, das es zu erkunden gilt. Die Gedanken, die sich Frank während seines Gangs durch das Straßendickicht macht, wirken nicht ängstlich, statisch oder passiv, was angesichts der Tatsache, dass er sich verlaufen hat, durchaus sein könnte. Stattdessen nimmt er die Situation an und beschließt, sich treiben zu lassen. Sowohl Timothy Ingold als auch Michel de Certeau betrachten das Wayfaring respektive die Tour als einen dynamischen und positiven Prozess, der Raum und Gehenden gleichermaßen konstruiere. Dass die Kneipenszene eine zentrale Stelle des Romans bildet, wird durch das Wayfaring antizipiert. Denn an diesem Ort, dem »Buddenbrooks«, wird der Protagonist das erste Mal außerhalb der Kaserne »Lehmann« (NVS, 514) genannt. Sein Nachname, der zugleich titelgebend für den letzten Teil der Trilogie ist, wird hier – wenn auch ohne die Anrede »Herr« – als erster Schritt hinaus aus dem WG-Chaos lesbar. Losgelöst von seinen Mitbewohnern und auf eigene Faust hat sich Frank diese Kneipe ausgesucht. Diese selbstbestimmte Handlung wird gemeinsam durch die neue Anrede als Prolepse interpretierbar. Da »Herr Lehmann« zuerst erschienen ist, ist es wahrscheinlich, dass Leser diese Szene dementsprechend deuten und die Szene als Vorausdeutung auf den Abschied Franks von Bremen, der WG und der Bundeswehr verstehen. Dass der Weg zu einem neuen Lebensabschnitt noch nicht ganz beschritten ist, wird durch die fehlende Anrede lexikalisch umgesetzt. Erst als er in Berlin ist, wird Frank zu Herrn Lehmann.

In Berlin Kreuzberg Als Frank in Berlin ankommt und seinen Bruder sucht, gilt er als der kleine Bruder (DkB, 202) von Manfred. Manfred wird unter seinen Freunden nur Freddie genannt. Zunächst empfindet Frank den Gebrauch des neuen Namens als fremd, doch schon nach zwei Tagen und vielen Erlebnissen mit der Clique seines Bruders gewöhnt er sich an den Spitznamen. Als er seinen Bruder endlich in einem Hotel am Kudamm aufspürt, ist es Manfred, der über Franks Gebrauch seines Berliner Spitznamens verwirrt ist. ›Seit wann sagst du Freddie zu mir? Du hast doch früher immer Manni gesagt.‹ ›Alle hier nennen dich Freddie, da gewöhnt man sich das an.‹ ›Klingt komisch, wenn du das sagst.‹ ›Ich glaube, es ist besser, wenn man das einheitlich regelt‹, sagte Frank (DkB, 312).

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Auch Frank bekommt im Laufe der Trilogie neue Namen zugeschrieben. Wird er in »Neue Vahr Süd« noch Frankie oder Frank genannt, heißt er in Berlin bald nur noch Herr Lehmann. Der zuletzt veröffentlichte Roman der Trilogie stellt das Bindeglied zwischen »Neue Vahr Süd« und »Herr Lehmann« dar. In »Der kleine Bruder« emanzipiert sich der Protagonist von seinem älteren Bruder Manfred. Zunächst wird er von den Freunden und Bekannten Manfreds nur als dessen kleiner Bruder wahrgenommen, was sich aber im Laufe der erzählten Zeit – etwa zwei Tage im November 1980 – ändert. Am Ende des Romans hat Frank seine erste spontane Schicht im »Einfall« übernommen, der Kneipe, in der er in »Herr Lehmann« arbeitet. Auch viele Nebenfiguren, die im letzten Roman der Trilogie eine Rolle spielen, werden in »Der kleine Bruder« eingeführt: beispielsweise Karl Schmidt und Erwin, der Besitzer u.a. des »Einfalls«. Frank entdeckt sein Talent für den Beruf des Barkeepers auf einem Konzert der Pseudopunkband Dr. Votz (DkB, 75ff). Er übernimmt spontan den Verkauf von Bierdosen zu je zwei Mark, als Klaus – der eigentliche Verkäufer – verletzt ins Krankenhaus muss. Obwohl er viel zu tun hat, das Bier bald ausverkauft ist und er für Nachschub sorgen muss, merkt er, »wieviel Spaß ihm das machte, daß er noch nie so viel Spaß und Befriedigung bei einer Arbeit empfunden hatte wie hier, bei dieser vollkommen hirnlosen, idiotischen Bierdosenverklappung, wie er es in Gedanken nannte« (DkB, 77). Als er am nächsten Abend – wieder wird Klaus ins Krankenhaus gebracht – abermals die Schicht übernimmt, dieses Mal im »Einfall«, scheint sein Schicksal, das die Leser aus »Herr Lehmann« kennen, bestimmt zu sein. Frank wird dort von P. Immel »Der junge Lehmann« genannt (DkB, 260), was sich im dritten Teil der Trilogie zu »Herr Lehmann« entwickelt; eine komische Kombination aus Duzen und Siezen, wie seine Mutter und er selbst bemerken (HL, 178 und 87). Auch in der Präsentation von Gedankenrede und gesprochener Rede wandelt sich das sprechende bzw. denkende Subjekt von Frank zu Herr Lehmann. Er beschließt, nachdem er seinen Bruder gefunden hat, in Berlin zu bleiben, und bezieht eine Wohnung direkt über der Kneipe. In einem Interview des Tagesspiegel äußert sich Sven Regener kritisch gegenüber den Rezensenten seiner Trilogie, die in Frank Lehmann einen Taugenichts erkennen wollen: Frank Lehmann hat Spaß an dem, was er macht: Becks rausgeben, abkassieren, Bierkästen stapeln, Bier aus dem Keller holen, Theke abwischen. Und das ist offensichtlich für manche Leute schwer zu verstehen. Ich finde es bedenklich, wenn einer Romanfigur bescheinigt wird, nur weil sie in einer Kneipe arbeitet und damit sehr zufrieden ist, dass sie ein Taugenichts ist, der sich nicht entwickelt. Wer

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jahrelang Chefredakteur bei der ›Zeit‹ ist, wird doch auch nicht gefragt, warum er eigentlich nicht mal was anderes macht.27 Der Blick auf die Reaktionen der Kritiker offenbart die subversive Macht, die in Regeners Trilogie steckt. Ein junger Mann, der sich karrieristischen Zielen widersetzt, erweckt Misstrauen, selbst wenn die Person fiktiv ist. Frank Lehmann steht mit seinem Verhalten und seinem Lebensentwurf außerhalb der Norm und der Akzeptanz, das machen die Reaktionen und auch die – laut Sven Regener – Fehlinterpretationen des Romans »Herr Lehmann« deutlich.28 Regener entgeht hier aber offenbar die Referenz auf Joseph von Eichendorffs Novelle »Aus dem Leben eines Taugenichts«29 , die ebendiese Ambivalenzen anhand der Hauptfigur des Taugenichts thematisiert. Von seinem Vater wird der musisch veranlagte junge Mann in die Welt geschickt, damit er den Ernst des Lebens kennenlerne. Allein das Geigenspielen beherrscht der Taugenichts in Perfektion, weshalb Menschen wie sein Vater glauben – dem Namen entsprechend –, dass er keine Talente besitze, die ihm ein Auskommen ermöglichen könnten. Insofern ist die Anspielung auf die Figur Frank Lehmann als Taugenichts nicht per se als negative Kritik zu lesen. Im Gegenteil: In der Fremdzuschreibung des Taugenichts werden, berücksichtigt man Eichendorffs Prosa, die entgegengesetzten Lebensentwürfe von musischen und technisch begabten Menschen veranschaulicht. Der sprechende Namen ist bei näherer Betrachtung ein rhetorischer Kniff, der eben nicht den Namensträger charakterisiert, sondern nur die fremden Zuschreibungen ausdrückt. Es handelt sich also um einen antithetischen sprechenden Namen, der nur aufgrund der sozialen Bedingungen besteht. Würde musisches Talent bzw. Frank Lehmanns Talent als Barkeeper gesellschaftlich höher bewertet, dann würde der Taugenichts seinen Namen nicht tragen. Dass Frank Lehmann von Kritikern als Taugenichts bezeichnet wird, ist somit keine negative Kritik, denkt man die literaturhistorische Verwendung des sprechenden Namens mit. Ob diese jedoch bei den Rezensenten mitgedacht wird, ist fraglich. Tilman Spreckelsen etwa ist der

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Bartels, Gerrit/Lippitz, Ulf (Interview, 24.8.2008): »Wer gegen Schwaben ist, ist auch nur Rassist.«, online: https://www.tagesspiegel.de/kultur/interview-mit-sven-regener-wer-gegen-sch waben-ist-ist-auch-nur-rassist/1307488.html [Stand: 14.08.2015]. Auch Stefan Born diskutiert in seinem Aufsatz die Meinung der Kritiker und Literaturwissenschaftler die Figur Frank Lehmann sei eine, die nicht nach Höherem strebe. Sven Regener selbst sieht die Entwicklung Lehmanns nicht als eine Läuterung »im Sinne […] zu mehr Bürgerlichkeit und Leistungswillen« (S. 536), ärgere sich aber dennoch über die Annahme, Lehmann sei antriebslos und eine »Oblomow-Figur«. [Vgl. Born, Stefan (2011): Sven Regeners »Herr Lehmann« (2001) als Adoleszenzroman, S. 529-558]. Eichendorff, Joseph von (2014): Aus dem Leben eines Taugenichts.

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Ansicht, dass sich Herr Lehmann »jeder Karriere beharrlich und eloquent widersetzt«30 . Das Motiv des Taugenichts wird schon im ersten Buch der Trilogie dem Charakter der Hauptfigur eingeschrieben. Als Frank seinem Bruder von seinen Zukunftsplänen nach der Bundeswehr berichtet, erklärt er: ›Etwas ganz gut zu machen ist ein Scheiß, das ist Zeitverschwendung. Man muß was finden, das man richtig gut macht, und das kann nur etwas sein, das man auch richtig gerne macht, und sei es nur, daß man es deshalb richtig gerne macht, weil man es richtig gut macht‹ (NVS, 464). Die Ausführungen verdeutlichen, dass sich Frank nicht erhofft, durch seine berufliche Tätigkeit materiellen Reichtümer erwirtschaften zu können. Wichtig ist ihm die intrinsische Motivation, die er sich von der Ausführung seines zukünftigen Berufs wünscht. Sein Talent als Barkeeper vermittelt ihm offenbar ein positives Gefühl, wie das folgende Zitat belegt: Er war überhaupt immer froh, wenn er arbeiten konnte. Es hatte etwas Beruhigendes, erfrischend Gewohntes, das kühle, schattige Halbdunkel des Einfall zu betreten und den vertrauten Geruch von Zigaretten, Bier und Putzmittel zu atmen (HL, 84). Wenngleich Frank einer Arbeit nachgeht und so sein Leben finanziell bestreiten kann, verfolgt er mit der Tätigkeit des Barkeepers keine karrieristischen Ziele. Frank fühlt sich angekommen. Der wachsame Leser erkennt jedoch immer mehr Hinweise auf Risse in der heilen Welt Franks, die der Protagonist selbst geflissentlich zu ignorieren weiß. Dass etwa Katrin und er divergierende Vorstellungen vom Leben haben, diesen Gedanken lässt Frank nicht zu. Ihre Anderthalbzimmerwohnungen seien »fast baugleich«, und die Einrichtung in ihrer Wohnung »faszinierte« Frank, nicht zuletzt weil sie nicht gegensätzlicher zu seiner hätte sein können (HL, 143). Von dem Grad der Ordnung und Einrichtung ihrer Wohnung schließt Frank auf ihren Lebensentwurf, den er sich im Gegensatz zu seinem eigenen als zielstrebig vorstellt. Ein Blick in ihr Bücherregal »beunruhigt« Frank zusätzlich, weil sich dort nur solche Romane und Designliteratur befinden, die zu erwarten sind. Als er Groschenheftchen mit antiquierten Geschlechterrollenklischees hinter den gut sortierten Büchern aufspürt, ist Frank erleichtert. Er hat etwas in ihrer Wohnung gefunden, das nicht perfekt ist, wenn auch versteckt hinter einer Fassade aus Büchern, die nach Franks Meinung »irgendwie zu gut« (HL, 143f.) zusammengepasst haben. Die zur Schau gestellte perfekte Einrichtung macht Frank zunächst 30

Spreckelsen, Tilman: Verwirrt, träge und verliebt, Frankfurter Allgemeine Zeitung am 11.08.2001, online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/r ezension-belletristik-verwirrt-traege-und-verliebt-133082.html [Stand: 17.04.2018].

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»mutlos«, und er fragt sich, ob zwei Menschen, die eine baugleiche Wohnung so unterschiedlich eingerichtet haben, überhaupt zusammenpassen könnten. Erst die versteckten Brüche in Katrins Leben, die durch die Literaturauswahl offenbart werden, zerstreuen Franks Sorgen vorerst. Im Traum spült sein Unterbewusstsein die Ängste nach oben. Dort ist es jedoch Katrin, die ihre Gedanken über zu hohe Ansprüche seitens Franks an die Beziehung äußert (HL, 145f.). In der erzählten Welt ist es stattdessen Katrin, die Frank auffordert, etwas aus seinem Leben zu machen (HL, 141). Neu in Berlin angekommen, findet sich Frank schnell zurecht. Er kauft sich einen Stadtplan, der ihn aber nicht weiterbringt, da Karl und die anderen Menschen in seinem Umkreis die Orte anders benennen. So macht er sich auf den Weg zu Almut, einer Galeristin, um mehr über den Verbleib seines Bruders zu erfahren. Karl meint, ihre Galerie befinde sich »eher zum Zickenplatz hin« (DkB, 187), dieser Platz ist auf dem Stadtplan aber nicht verzeichnet. Weitere Ortsumbenennungen lassen vermuten, dass die Bewohner von Kreuzberg Fixpunkte ihres Viertels umtaufen. So fordert Karl Frank auf: »Schau dir die Reichenberger Straße an, […] das ist wirklich die Pißrinne von Kreuzberg! Deprimierend, wenn man da drin wohnt« (DkB, 236). Und er erklärt, dass der Tunnel unter dem Görlitzer Park »[d]ie Harnröhre« (DkB, 237) sei. Diese Neubenennungen von Orten sind im besten Sinne Besetzungen von Knotenpunkten im Meshwork. Kreuzberg als Viertel der Punks und Künstler wird von seinen Bewohnern besetzt und das nicht allein durch die materielle Aneignung von Wohnraum, sondern auch durch die semantische Aneignung von Orten. Verstehen kann die Sprache der Szenekenner nur, wer selbst Teil der Szene ist, das spürt auch Frank, als er mit in die »Zone« (DkB, 61) geht. Er muss fragen, was sich hinter der Bezeichnung verbirgt, da er neu in Berlin ist. Dass es sich nicht um die tatsächliche sowjetische Besatzungszone handeln kann bzw. um einen Ausflug nach Ostberlin, ist Frank bewusst. Der Weg von der Dieffenbachstraße [dem Standort von Almuts Galerie] zur Naunynstraße war nicht weit, und Frank bekam trotz der Dunkelheit langsam ein Gefühl dafür, wie hier alles zusammenhing. Die Häuser sind groß und die Straßen breit, aber sie liegen eng beieinander, dachte er, als er zum zweiten Mal an diesem Tag, aber an einer anderen Stelle einen Kanal überquerte, der ihm ein wichtiger Orientierungspunkt in diesem fremden Gelände war, entweder ist man auf der einen oder auf der anderen Seite, dachte er, als er auf der Brücke innehielt, um zu verschnaufen und sich eine Zigarette zu drehen, einfacher geht’s nicht! (DkB, 199). Der gekaufte Stadtplan, der ihn im Modus des Transports durch die unbekannte Stadt navigiert hätte, wird nicht allein durch die Umbenennung spezieller Fixpunkte überflüssig. Das Gehen im Raum mit dem Blick auf die Karte abzugleichen, ist im Vergleich zum Erlaufen der neuen Stadt, die sich der Protagonist so Stück für

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Stück zu eigen macht, viel zu mühsam und wenig Erfolg versprechend. Der Kanal, der für den Neuankömmling bald zu einem wichtigen Orientierungspunkt wird, ist ein Knoten im Meshwork, der eine Raumrelation zwischen dies- und jenseits des Kanals schafft. Dass Frank ausgerechnet auf der Brücke, dem Schwellenraum schlechthin, innehält, repräsentiert die liminale Phase, in welcher sich der Protagonist befindet. Kreuzberg ist für den Protagonisten in »Herr Lehmann« kein unbekanntes Terrain mehr, spielt der Roman doch neun Jahre nach seiner Ankunft in Berlin. Er teilt den Bezirk selbst noch mal in Kategorien ein, indem er den westlichen Teil Kreuzbergs, der zur erzählten Zeit in den Zustellbezirk 1000 Berlin 61 fiel, Kreuzberg 61 nennt. Diese umgangssprachliche Bezeichnung ist auch heute noch für den realen Teilbezirk gebräuchlich, obwohl sich die Postleitzahlen durch die Wiedervereinigung und die Einführung des fünfstelligen Systems geändert haben. Der andere Teil Kreuzbergs, in dem sich der Protagonist heimisch fühlt, ist identisch mit dem realen Quartier Kreuzberg SO36, der seine Bezeichnung ebenfalls dem damaligen Zustellbezirk verdankt und seit dem Mauerbau von drei Seiten von der Grenze umringt war. Diese topographische Besonderheit führte zu günstigen Mieten in dieser Gegend; und eine alternative Szene etablierte sich. Der weitaus größere westliche Teil Kreuzbergs genoss den Ruf des Szeneviertels hingegen nicht.31 Frank meidet Kreuzberg 61 sowie den angrenzenden Stadtteil Neukölln, »das deprimierte ihn immer« (HL, 231). Ähnlich wie schon das Ostertorviertel besteht das Meshwork Kreuzberg aus Kneipen, die für Frank und seine Freunde Fixpunkte darstellen. Das »Einfall« ist die Arbeitsstätte Franks, und die »Markthalle« sucht er auf, um mittags den Tag mit einem deftigen Frühstück starten zu können. Die Kneipen in Kreuzberg 61 missfallen Frank aufgrund der Einrichtung: Billardtisch und zu allem Übel noch Teppiche, die in Franks Augen »der Irrtum aller Irrtümer« seien, machen das Interieur aus. Frank begreift sich als Flüchtling, sobald er diesen Teil Kreuzbergs betritt, »wir haben uns quasi nach 61 geflüchtet, ins Exil und dann noch ins Savoy« (HL, 135). Abstecher in den angrenzenden Bezirk Neukölln meidet Frank ebenfalls nach Möglichkeit, was zeigt, dass sich Franks Revier auf SO36 beschränkt, die Straßen um den Görlitzer Park, die Wiener Straße und die Begrenzung durch den Landwehrkanal. Zwar kennt er auch andere Stadtteile Westberlins, die er, wenn es sein muss, auch aufsucht oder durchquert, aber wohl fühlt er sich nur in dem ihm angestammten Terrain. Eine wichtige Straße in Westberlin, die auch in der erzählten Welt von »Der kleine Bruder« und »Herr Lehmann« eine Rolle spielt, ist der Kurfürstendamm,

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Eine kulturethnographische Studie des Stadtteils Kreuzberg und seiner Transformationen zwischen 1961 – 1995 zeichnet Barbara Lang in ihrer Dissertation nach. [Lang, Barbara (1998): Mythos Kreuzberg. Ethnographie eines Stadtteils (1961-1995), zu Berlin 61 und 36 siehe S. 17ff].

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kurz Kudamm. In »Der kleine Bruder« wird der Kurfürstendamm für Frank zur Einfahrtsstraße nach Westberlin. Der Kudamm stellt für Frank den ersten Fixpunkt in der noch unbekannten Stadt Berlin dar. Seinen verschollen geglaubten Bruder findet er schließlich in einem Hotel an ebenjener Straße wieder. Er ist dort für mehrere Wochen als Proband einer Medikamentenstudie untergebracht. Auf der Hinfahrt zum Hotel ist der Kudamm für ihn »nicht mehr der leuchtende, glitzernde Tunnel« (DkB, 301), erst als er das Hotel wieder verlässt und sich vergewissert hat, dass es Manfred den Umständen entsprechend gut gehe, »hatte er wieder einen Sinn dafür« (DkB, 313). Er nimmt den Trubel auf der belebten Straße wahr und beschließt, dass es Zeit sei, aus dieser »Touristenscheiße« zu verschwinden. Frank übernimmt die Sprache von Wolli und Karl Schmidt. Erst als er seinen Bruder wiedergefunden hat, ist er in Berlin angekommen und kann den Kurfürstendamm derselben Kategorie zuordnen wie die anderen Bewohner Kreuzbergs. Am Anfang des Romans wird Franks Einfahrt nach Westberlin über den Kudamm als Besucher markiert. Die Straße hat eine auratische Wirkung auf ihn, die auch am Ende des Romans, als Frank das Hotel verlässt, kurz von ihm aufgesogen und genossen wird (DkB, 314), nur um sie hinter sich zu lassen und das neue Leben in Kreuzberg zu beginnen. Nach neun Jahren in der geteilten Stadt meidet Frank die bekannte Straße so gekonnt, wie es Wolli schon, seiner Szenezugehörigkeit entsprechend, von Anfang an tat. Für Frank ist der Kurfürstendamm jedoch mehr als bloße »Touristenscheiße« (DkB, 15), sondern eine Straße, in deren Cafés und Boutiquen Naziwitwen heute noch unbehelligt verkehrten (HL, 155). »[O]bwohl er dort noch Tauentzienstraße hieß«, beginnt der Kudamm in Franks Augen am Wittenbergplatz. Denn bereits dort kann man im Bus das günstige Kurzstreckenticket für eine Fahrt entlang der beliebten Flaniermeile erwerben (HL, 147). Seinen Eltern, die zu Besuch in Berlin sind, erklärt er, dass Kreuzberg so groß sei wie die Bremer Quartiere Hemelingen, Neue Vahr, Sebaldsbrücke und Arsten zusammen. Frank nutzt für seine Eltern bekannte Orte, um die Weitläufigkeit Kreuzbergs zu veranschaulichen. Seine Mutter hat nämlich Sorge, dass ein abendlicher Besuch in dem für sie berüchtigtem Stadtteil gefährlich sein könnte. »[…] und wenn da jetzt Krawalle sind« (HL, 166), ist die Befürchtung, die Frank mit seinem Vergleich zerstreuen will. Die Mauer, die überall sei, stört Franks Mutter zusätzlich. Sie müsse einem doch das ständige Gefühl des Eingesperrtseins vermitteln, vermutet sie. Auch hier argumentiert Frank mit Beispielen aus seiner Heimatstadt: »Wenn in Bremen irgendwo eine Straße zu Ende ist, und da ist eine Mauer, dann fühlst du dich doch auch nicht gleich eingesperrt« (HL, 175). Die Mauer ist aus Franks Perspektive dazu da, um die DDR-Bevölkerung zu kontrollieren. Er betrachtet ihre Wirkung sowohl aus westdeutscher Perspektive – dann schließt sie andere Menschen aus – als auch aus ostdeutscher Sicht – dann sperrt sie Menschen ein (HL, 176). »Eingesperrt« (HL, 176) fühle er sich im Gegensatz zu

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seiner Mutter keinesfalls, er könne jederzeit gehen. Die Mauer hat für ihn keine Bedeutung, da sie ihn in seiner Bewegungsfreiheit nicht einschränke. Diese Einschätzung ändert sich jedoch, als ihm der Zutritt in die DDR verwehrt wird. Seinen Eltern zuliebe will er D-Mark zu Verwandten in Ostberlin bringen und vergisst, das Geld beim Zoll zu melden. Die Mauer wird in diesem Moment auch für Frank zu einer Grenze, die ihn aussperrt. Zusätzlich wird ihm sein Mehrfachberechtigungsschein abgenommen, der Menschen mit Berliner Personalausweis eine unkompliziertere Einreise in die DDR ermöglichte. Die Mauer verändert für Frank, da seine Begleiterin auf der anderen Seite der Grenze vermutlich auf ihn wartet, nun ihre Bedeutung. Im Moment ihrer Machtdemonstration lädt sich die Mauer semantisch auf. Sie wird Teil des Grenzbereichs, in dessen Zentrum der »fensterlose[] Raum im Bahnhof Friedrichstraße« (HL, 207) liegt. Der Weg in den Verhörraum raubt Frank jegliche Orientierung, und er kann nicht einmal einschätzen, ob er sich ober- oder unterhalb der Straßen befindet. Auch das Zeitgefühl geht ihm verloren (HL, 215). Der Transitbereich zwischen der geteilten Stadt wird hier als Nichtort dargestellt, der außerhalb von Raum und Zeit zu existieren scheint. Der Raum wird geprägt durch die Figurenperspektive. Die Semantisierung der Berliner Mauer baut auf der Wahrnehmung Franks auf. Es sind seine Erlebnisse und Erfahrungen, die die Mauer von einem peripher wahrgenommenen, architektonischen Gebilde zu einer Grenze werden lassen, die letztlich das Ende seiner Beziehung zur schönen Köchin Katrin besiegelt. Sie wartet in Ostberlin vergeblich auf ihn und entschließt sich dann, mit Rainer auszugehen, was Frank zufällig – dank der Tatsache, dass er nicht in die DDR einreisen durfte – mitbekommt. Der gescheiterte Grenzübertritt Franks offenbart so das Scheitern seiner Beziehung. Die Zukunft ist für ihn nun wieder offen. Sieht man sich die letzten Absätze jedes Romanteils an, ist eine stetige Entschleunigung in Frank Lehmanns Entscheidungs- und Handlungsbereitschaft festzustellen. In »Neue Vahr Süd« »drückte er ordentlich auf die Tube« (NVS, 632), um der Zeit der Wehrpflicht und seinen Eltern zu entfliehen. Frank handelt hier noch aktiv, indem er das Gaspedal seines Opel Kadetts betätigt. In den Folgeromanen denkt Frank nur darüber nach, etwas zu tun. In »Der kleine Bruder« stellt er angesichts des Berliner Kudamms mit großem Tatendrang fest: »Wird Zeit, daß ich hier wegkomme, dachte er. Wird Zeit, daß ich rauskomme aus der Touristenscheiße hier« (DkB, 313). Um sich, Leser des Folgeromans wissen es, im Kreuzberger Kneipenmilieu neun Jahre lang als Kellner einzuigeln. Angesichts der Maueröffnung erscheint Frank beinahe desillusioniert: »Ich gehe erst einmal los, dachte er. Der Rest wird sich schon irgendwie ergeben« (HL, 285). Die stetig steigende Passivität, die sich bei Frank abzeichnet, lässt zunächst vermuten, dass Frank so weiterleben wird wie bisher. Verbunden mit dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch Karls kann seine Haltung aber auch als Indiz für seinen Austritt aus der Postadoleszenz verstanden werden. Zwar hat er sich in Kreuzberg vorerst ein

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zufriedenstellendes Leben aufgebaut, das mit der Entdeckung seines Talents als Schankwirt in »Der kleine Bruder« beginnt (DkB, 79ff), aber die Veränderungen im erzählten Raum deuten auf ein Weiterziehen des Protagonisten hin. Private und historische Ereignisse verdichten sich in »Herr Lehmann« und kulminieren im offenen Ende. Frank denkt darüber nach, sein Leben zu verändern und neue Länder zu bereisen. »Oder mal Urlaub machen. Mit Heidi nach Bali. Oder nach Polen«, überlegt er angesichts seines Geburtstags und des Mauerfalls. Das historische Ereignis, das literarisch nur peripher verhandelt wird, zieht das Ende des Kalten Krieges nach sich mit alle seinen Konsequenzen. Die Macht, die einst durch den Eisernen Vorhang symbolisiert wurde, erlischt und ein Vakuum entsteht, das vorerst nicht gefüllt wird. Ähnlich geht es der Hauptfigur Herr Lehmann: Auf den ersten Blick gibt es keine Lebensinhalte für ihn, kein Ziel, das er erreichen will. Doch anstatt in Depressionen zu verfallen und nach dem vielbeschworenen Sinn des Lebens zu suchen, lässt Frank die Ereignisse auf sich zukommen. Dass das Buch ausgerechnet mit dem 30. Geburtstag des Helden endet, betont die diskursiv geprägte Altersgrenze, die Frank nun überschritten hat. Er fühlt sich an einen Science-Fiction-Film aus den 1970er-Jahren erinnert, in dem Menschen ab einem bestimmten Alter in die euphemistisch bezeichnete »Erneuerung« müssen und dort umgebracht werden, sodass es keine alten Menschen in der Welt der Zukunft gibt. »Und alle glauben, das ist normal. […] Ja, jedenfalls denken die alle, das muß so sein, die denken älter kann man gar nicht werden, die haben noch nie einen alten Mann gesehen […]«, erzählt Frank über die Protagonisten im Film (HL, 277f.). Es lassen sich Parallelen zwischen der Fantasiewelt des Films und dem erzählten Berlin des Romans ausmachen, auch hier spielen ausschließlich Protagonisten in Franks Alter eine Rolle. Einzig seine Eltern – die nur zu Besuch sind – brechen dieses Muster zeitweilig auf. Der erzählte Raum des Films ist als mise en abyme des erzählten Berlins zu interpretieren, er spiegelt die Realität der Figur Frank Lehmann in einem Modellraum wider. Der in etwa gleichaltrige Arzt im Urbankrankenhaus weiß, wie leicht das Leben »in der Gegend ist«, »wenn man jung ist: ein bißchen arbeiten, billig Wohnen, viel Spaß […]« (HL, 269). Was in »Der kleine Bruder« noch als großes Fest auf der Insel Westberlin dargestellt wird, bekommt neun Jahre später in »Herr Lehmann« Risse. Der Fall der Mauer, der 30. Geburtstag des Protagonisten und der Nervenzusammenbruch seines besten und gleichaltrigen Freundes Karl verändern den erzählten Raum. Nicht das historisch reale Ereignis beeinflusst die erzählte Welt, sondern die Figurenentwicklung. Frank und Karl entwachsen ihrem sozialen Umfeld, welches Franks Wahrnehmung und damit die Darstellung des erzählten Raums prägt. Frank spürt die Veränderung, kann sie aber nicht zuordnen: […] es ist in allem der Wurm drin, dachte er […]. Daß es nicht so wie früher ist, ist kein gutes Argument, hielt er sich selbst vor, so reden Leute, die bald dreißig

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werden, das ist Quatsch […]. [D]as Rätsel um Karl schien ihm symptomatisch für die ganze Sache zu sein […]. [S]eine Arbeit im Einfall, das Publikum dort, da ist irgendwie das Feuer raus, dachte er und grübelte den Rest des Weges darüber nach, ob tatsächlich alles anders war oder ob es ihm nur so erschien, weil er selbst sich verändert hatte. Wieso aber, dachte er, sollte ich mich verändert haben, ich wollte mich ja gar nicht verändern […] (HL, 225). Dass sich Franks älterer Bruder bereits im zweiten Teil der Trilogie auf seinen Umzug nach New York vorbereitet, untermauert die These von der erzählten Subkultur Kreuzbergs, die Menschen in einer bestimmten Lebensphase vorbehalten ist. Dass Karl alles als »Hippiescheiße« beschimpft, was ihm nicht gefällt (DkB, 59) und ausgerechnet Erwin und Franks Bruder (DkB, 112) davon ausschließt, offenbart das intuitive Gespür Karls für Menschen, die sich nicht den Zwängen der Heterotopie Berlin Kreuzberg unterwerfen. Manfred und Erwin beschreiten unterschiedliche Wege: Manfred wechselt die Stadt und wandert in die USA aus. Erwin profitiert von den Marktgegebenheiten in Berlin und eröffnet Kneipen in verschiedenen Stadtteilen. Erwin war Schwabe durch und durch und gleichzeitig überzeugter Kreuzberger. Er war schon seit ewig hier und hatte sich über die Jahre ein kleines Kneipenimperium aufgebaut, das von den Yorckbrücken bis ans Schlesische Tor reichte. Neuerdings experimentierte er sogar mit Kneipen in Schöneberg, aber ›da läuft das anders‹, hatte er Herr Lehmann einmal gesagt, ›da ist das nicht so einfach, da muß man irgendwas bieten‹, und das sagte für Herr Lehmann eigentlich alles über Erwin (HL, 86). Jedoch ist nicht das Alter allein ausschlaggebend für die Anziehungskraft Berlins. Die Figur Sylvio ist beispielsweise sechs Jahre älter als Herr Lehmann und verkörpert eine der vielen Lebensentwürfe, die außerhalb der gesellschaftlich akzeptierten Norm liegen. Sylvio kommt aus der DDR, lebt in Westberlin und ist homosexuell. Gegenüber anderen gibt er sich als 28-Jähriger aus, nur Frank verrät er sein wahres Alter (HL, 284). Ihm sind die diskursiv geprägten Altersgrenzen offenbar bewusst, weshalb er sich jünger macht. Der Fall der Mauer versinnbildlicht die Dynamik, die sowohl in manifesten Grenzziehungen als auch in vermeintlich festgeschriebenen Altersabschnitten schlummert. Die Risse in der heilen Welt des Protagonisten kulminieren im Nervenzusammenbruch seines besten Freundes Karl. Dass Karl im gleichen Alter ist wie Frank, ebenfalls aus Westdeutschland kommt und am 9. November 1989 in eine Klinik eingeliefert wird, macht ihn zur Gegenfigur Franks. Die Veränderungen im Verhalten seines Freundes nimmt Frank lange Zeit nicht wahr. Als sie seit langer Zeit wieder gemeinsam eine Schicht im »Einfall« übernehmen, spürt Frank, dass sich das Verhältnis zu seinem besten Freund gewandelt hat. Er vergleicht die Zusammen-

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arbeit von vor acht Jahren mit der gegenwärtigen Schicht, bei der sie nicht mehr intuitiv Hand in Hand arbeiten. Frank ärgert sich dabei über seinen nahenden 30. Geburtstag. Erst danach habe man eine Vergangenheit und denke über frühere Zeiten nach (HL, 204). Schwarze Ränder unter Karls Fingernägeln versucht sich Frank durch seine momentan gesteigerte Aufmerksamkeit angesichts seines elterlichen Besuchs in der »Markthalle« zu erklären (HL, 170). Sorgen Bekannter und Freunde des gemeinsamen Umfelds spielt er herunter (HL, 179ff). Erst als Frank zu Hilfe gerufen wird, weil Karl im »Einfall« randaliert und nicht zur Besinnung kommt, nimmt er sich des völlig übernächtigten und mit Aufputschmitteln zugedröhnten Freundes an und versucht ihn nach Hause zu bringen. Dort erblickt er eine komplett zerstörte Werkstatt, sämtliche Kunstobjekte, die Karl für eine Ausstellung zusammengeschweißt hat, liegen verstreut auf dem Boden; die darüber liegende Wohnung sieht so aus, als sei sie seit Wochen nicht saubergemacht worden. Frank bringt Karl schließlich in die Notaufnahme des Urbankrankenhauses. Der zuständige Arzt vermutet eine Depression verbunden mit Drogenkonsum. Frank fragt nach den Gründen, und der Arzt gibt ihm eine auf seinen Erfahrungen in Westberlin basierende Antwort, die junge Menschen aus Westdeutschland pathologisiert: ›Oft hängt das mit dem Zerbrechen des Selbstbildes zusammen. […] Vielleicht hat ihr Freund herausgefunden, daß er nicht der ist, der er die ganze Zeit zu sein glaubte. […] Vielleicht war die Ausstellung eine Art Stunde der Wahrheit, und da hat er Angst bekommen. […], [d]aß er versagt. Daß für ihn dabei herauskommt, daß er vielleicht gar kein richtiger Künstler ist. Dann bricht vielleicht alles andere auch zusammen. Das Leben hier in der Gegend ist leicht, wenn man jung ist […]. Aber die meisten brauchen auf Dauer irgend etwas, wodurch das legitimiert wird. Wenn das wegbricht … buff! […] wir sehen das hier öfter. […] Ich empfehle in solchen Fällen immer, die Leute wieder nach Hause zu schicken und dort zu therapieren. Es sind ja fast immer Leute aus Westdeutschland‹ (HL, 269f.). Die Erklärung des Arztes lässt Westberlin als Heterotopie erscheinen, die jungen Menschen einen Lebensinhalt auf Zeit verspricht. Wer den Absprung nicht schafft, endet, wie Karl, mit einem Nervenzusammenbruch oder Depression in der Notaufnahme. Die Zerstörung seiner Wohnung und der Kunstinstallationen symbolisiert den Wunsch nach Veränderung auf der einen Seite und das unweigerliche Scheitern, aus der Heterotopie unbeschadet herauszukommen, auf der anderen Seite. Der exzessive Drogenkonsum und die durchgefeierten Nächte zeigen, dass Karl gleichzeitig versucht, Teil der Heterotopie zu bleiben. Diese zwei divergierenden Kräfte zerren an Karl und begünstigen so seinen Nervenzusammenbruch. Frank ist vor solchen Exzessen gefeit, kennt er die neuesten Drogentrends der Szene doch gar nicht (HL, 88 und 264). Diese Unkenntnis zeigt, dass Frank der Heterotopie Westberlins schon entwachsen ist, obwohl er noch in Kreuzberg lebt. Er bewegt

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sich zwar vordergründig noch in der Subkultur, bedient in den Kneipen Kreuzbergs, bemerkt die Veränderungen aber nicht. In »Der kleine Bruder« wimmeln die Beschreibungen, die sich aus Franks Wahrnehmung speisen, noch von Autonomen, Hausbesetzern und Punks, wobei Frank auch hier – wie in »Neue Vahr Süd« – nur Beobachter ist. In »Herr Lehmann« ist von der aufkommenden Rave- und TechnoKultur nur am Rande die Rede. Zum Beispiel als Frank die Schicht im »Einfall« beginnt und noch die von seinen Vorgängern aufgelegte Musik läuft: »Es lief eine Bumm-Bumm-Musik ohne Gesang, im Gegensatz zu der sonst hier üblichen Rockmusik. Herrn Lehmann war das egal, Musik sagte ihm nichts […]« (HL, 87). Karl versucht sich der wandelnden, in Kreuzberg gelebten Subkultur anzupassen, was sich in seinem Drogenkonsum widerspiegelt. Frank hingegen entgeht der Wandel, der um ihn herum stattfindet, komplett. Die unterschiedlichen Handlungen, die die zwei Figuren im erzählten Raum vollführen, offenbaren die Raumsemantiken, die dem (fiktiven) Westberlin eingeschrieben sind. Als Heterotopie für junge Menschen aus der Bonner Republik ist Westberlin der Sehnsuchtsort der Jugendkulturen und das Zentrum diverser Subsemiosphären, welche im Grenzraum der Semiosphäre verortet sind. In den Figuren Frank und Karl ist der zeitliche Qualität beziehungsweise – bildlich gesprochen – das Verfallsdatum dieses Ortes angelegt. Karl scheitert an seinem Versuch, auch die neue Subkultur mitzutragen. Frank hat sich so sehr in die Provinzialität Kreuzbergs eingeigelt, dass er die Veränderungen erst sehr spät realisiert, nämlich am 9. November 1989. Es lassen sich hier Parallelen zu den Kneipen im Ostertorviertel ziehen. Sie fungieren im Vergleich zu Kreuzberg als Mikroheterotopien, die sich nicht verändern. Das Viertel Kreuzberg ist stattdessen konjunkturellen Veränderungsprozessen unterworfen, die durch die Neuankömmlinge – zumeist aus der Bonner Republik – verursacht werden. Die Jugend prägt in diesem Fall den Raum. Wer nicht mehr hineinpasst, muss gehen. Die Figur des homosexuellen DDR-Bürgers Sylvio kommt mit den Raumdynamiken zurecht. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Zunächst stammt er nicht aus der Bonner Republik, außerdem verkehrt er in einer Subkultur, der er aufgrund seines sexuellen Begehrens angehört und nicht aufgrund seines Alters.

3.3

Home is where your heart is

Das Jahr 1981 – in dem er das Gymnasium abschließt – begrüßt Martin Schlosser als »das Jahr der Befreiung« (Abr, 117). Vorerst verschlägt es ihn jedoch nicht in Metropolen, sondern für einen Ferienjob nach Juist und zum Wehrdienst an die niederländische Grenze. Die Entscheidung, nach Bielefeld zu ziehen, trifft er, weil seine Freundin bereits dort studiert und er in ihrer Nähe sein will. Im folgenden Abschnitt werden die in der Chronik signifikanten Städte betrachtet. Zum einen

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sind das Martins Wohnorte nach seinem Wegzug aus Meppen, zum anderen seine Eindrücke von Bonn, wo seine Schwester lebt.

Bielefeld Zunächst zieht Martins Freundin Heike nach dem Abitur fürs Studium nach Bielefeld. Gemeinsam suchen sie im Spätsommer 1981 nach einer geeigneten Unterkunft in der Stadt, und Martin lernt die Universität kennen. Das Gebäude widerspricht seinen Erwartungen. Er hoffte auf ein altes Bauwerk mit »weinbelaubten Erkern«, »Brunnenhöfen« und knarzenden »Holztreppenstufen« (Abr, 261). Die Uni ist aber erst wenige Jahre alt, und das Gebäude ist dementsprechend modern. Martin meint, es sehe aus wie »’ne Raumstation mit vorgelagertem Parkdeck«. Die Stadt selbst gefällt Martin zwar nicht besonders gut, aber sie schneidet, da hier viele junge Menschen wohnen, besser ab als Meppen. Er hierarchisiert Städte, indem er sie mit seinem aktuellen Wohnort vergleicht. Er ist Meppens überdrüssig und will unbedingt seinem Elternhaus und der Umgebung entfliehen, und so findet er jede andere Stadt besser als Meppen – zumindest auf den ersten Blick. Ein Traum von einer Stadt war Bielefeld ja nicht, sondern eher ein Konglomerat aufgedonnerter und zusammengedrängter Kleinstädte, aber eben voller Studenten und schon deshalb lebendiger als ein Kuhkaff wie Meppen. Und außenrum der Teutoburger Wald (Abr, 262). Aus Martins Perspektive ist es nur folgerichtig, dass er nach dem abgebrochenen Wehrdienst eine Zivildienststelle in der Stadt sucht, in der seine Freundin Heike studiert. Er stellt sich das Leben dort in den »herrlichsten Farben« vor – »Zimmer in einer bombigen WG, moderate Arbeitszeiten, fürstlicher Lohn, facettenreiches Kulturangebot, intakte Beziehung, großer Bekanntenkreis« (Abr, 334). 1982 zieht er nach Bielefeld. Die Aussicht, Meppen verlassen zu können und seiner Freundin Heike nach Bielefeld zu folgen, empfindet Martin anfangs als »[h]immlisch« (Abr, 383). Er malt sich »die prickelnde Stadtatmosphäre« folgendermaßen aus: »Festivals, Konzerte, Filmpremieren, Straßenfeste, Vernissagen …« (Abr, 383). Doch schon der Umzug nach Bielefeld und die ersten Eindrücke der Stadt nehmen vorweg, dass die Wohnortwahl nicht wohlüberlegt ist: Den fiesesten Streckenteil bildete die B 68 ab der Gemeinde Hilter: Kilometer für Kilometer eine einzige lang ausgewalzte Albtraumkulisse, bestehend aus Straßenteer, Tankstellen, Verkehrszeichen, Frittenbuden, Überholverboten, Fahrbahnmarkierungen, Teppichhäusern, Autohäusern, Reparaturwerkstätten, rollendem Blech und pottscheußlich verklinkerten Wohnsiedlungsbunkern. Ein riesiges breitgemantschtes Chicago auf ostwestfälisch (Abr, 394).

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Der Erzähler vergleicht Bielefeld mit US-amerikanischen Metropolen, wie Chicago oder Las Vegas.32 Der sarkastische Unterton macht deutlich, wie wenig sich seine Hoffnungen auf das Leben in einer aufregenden Stadt bestätigt haben. Die in seiner Vorstellung zurechtgelegten Aktivitäten, die er in einer Stadt ausüben würde, lassen sich nicht mit dem realen Alltag abgleichen, den Martin in Bielefeld lebt. Die Stadt, das Umfeld und die ständigen Diskussionen mit Heike machen den Wohnort für ihn zu einem Ausgangspunkt für Kurzbesuche bei Freunden und Verwandten, die in anderen Städten leben. Auch die Rubrik »Nachrichten aus der Großstadt Bielefeld« aus der dortigen Lokalzeitung veranlasst den Erzähler, auf die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung der Stadt Bielefeld hinzuweisen: Darauf bildeten die sich wohl was ein, die Redakteure, daß sie in ʼner Großstadt wohnten. In richtig großen Städten hätte man sich das geschenkt. ›Nachrichten aus der Großstadt New York‹ – eine solche Rubrik wäre da nicht nötig gewesen (Abr, 403). Sein Freund Hermann lebt in Osnabrück. In Martins Augen eine »dieser mittleren Provinzgroßstädte«, die sich nur durch ein höheres Verkehrsaufkommen von Kleinstädten unterscheiden. Vermutlich zählt er auch Bielefeld zu dieser Kategorie von Städten. Im Gegensatz dazu betrachtet Martin Städte wie Hamburg oder Berlin als echte Großstädte (vgl. Abr, 424). Vor allem der »typisch ostwestfälische[] Pißregen« (Abr, 414) nervt Martin nach kurzer Zeit. Bielefeld wird in seiner Wahrnehmung – das beweist eine Aufzählung aller Dinge, die Martin in Bielefeld »scheiße« findet – innerhalb kurzer Zeit zu einer Stadt, in der er nicht lange leben will (Abr, 441). Aber als eine Stadt mit noch weniger Lebensqualität betrachtet er Meppen, »die noch ödere Ödnis« (Br, 58). Die Wahrnehmung Bielefelds aus der Perspektive von Menschen, die Martin besuchen, reicht von »trübe[r], abgefuckte[r] und verschissene[r] Tiefdrucksuppe« (Br, 168) bis zu einer vom subjektiven geographischen Standpunkt aus geäußerten Lage der Stadt im »hohen Norden« (Br, 166). In Bielefeld fühlt sich Martin einsam, vor allem nach der Trennung von Heike und dem Beginn seines Studiums. »Ich hatte niemanden« (Br, 200). »Zwei Lebensjahre hatte ich hier vergeudet« (BR, 248), ist das Fazit, das er am Umzugstag angesichts des letzten Blicks ins ausgeräumte Zimmer zieht. Schon zu Beginn von »Bildungsroman« steht für Martin fest: »Ich war auf dem Sprung« (Br, 7).

32

»Obwohl das [Bielefeld] doch eine schnieke Stadt war! Eine blühende, vor Energie vibrierende Weltmetropole! Das Las Vegas Ostwestfalens, mit der Hauptattraktion Martin Schlosser, dem berühmten Partylöwen!« (Br, 55).

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Ende 1983 beschließt Martin, Bielefeld den Rücken zu kehren, und überlegt, sein Studium an der FU Berlin fortzusetzen.33 Er hält es, wie er sich eingesteht, in Ostwestfalen nicht mehr aus und träumt vom Eintauchen »in das fulminante Leben der Millionenstadt« (Br, 189). Berlin und Bielefeld sind für Martin zwei gegensätzliche Städte. »In Berlin würde alles anders werden« (Br, 246), hofft er. Die eine Metropole verspricht Abenteuer und viele interessante Menschen und Orte, die andere bedeutet für Martin Einsamkeit und Langeweile. Dass Bielefeld, bevor er dort hinzog, mit ähnlichen Attributen besetzt war wie nun Berlin, zeigt, dass Städte in Martins Wahrnehmung immer die Assoziation an etwas Neues und Aufregendes wecken. 1989 macht Martin noch einmal einen Abstecher in die Bonhoefferstraße, wo er zuletzt in einer WG gewohnt hat. Seinen Eindruck fasst er so zusammen: »Death Valley. Eine Kleinfamilien- und Rentnerhölle. Und da hatte ich mich von meinem Leben im Emsland erholen wollen!« (Arr, 205). Dass es sich bei Bielefeld als Zuflucht vor Meppen und seiner Provinzialität um eine Fehlentscheidung gehandelt hat, wurde Martin schon beim Umzug nach Ostwestfalen bewusst, und dieser erste Eindruck ändert sich auch nicht aus der Retrospektive betrachtet oder nach einem erneuten Besuch. Für ihn ist und bleibt Bielefeld mit einer pessimistischen Zeit verbunden, die mit der unerwiderten Verliebtheit in seine Kommilitonin Katja zusammenhängt.

Berlin aus der Fremdwahrnehmung Einen Vorgeschmack auf das Metropolenleben bekommt Martin, als er nach Berlin trampt. Der vierte Band der Martin-Schlosser-Chronik, »Abenteuerroman«, spielt von Sommer 1980 bis Frühjahr 1983. Gemeinsam mit Hermann macht sich Martin das erste Mal auf den Weg in die geteilte Stadt, weil »Hermann fand, wir müßten auch mal nach Berlin« (Abr, 204). Wie Roddy Dangerblood nutzt auch Hermann den öffentlichen Personennahverkehr, ohne ein Ticket zu lösen. Zur Provokation singt er im Doppeldeckerbus das Lied »Mensch Meier«34 der Agitrock-Band »Ton Steine Scherben«. Der Erzähler erinnert sich: Nee, nee, nee eher brennt die BVG! Ich bin hier oben noch ganz dicht, der Spaß ist zu teuer, von mir kriegste nüscht! Was für Hannover die ÜSTRA war, war für Berlin die BVG (Abr, 207).

33 34

»Es ging nicht mehr. Ich mußte umziehen. In eine größere Stadt. Mit mehr Menschen und weniger Regen. Und weniger Bielefeldern« (Br, 187). Reiser, Rio und Lanrue, R.P.S.: Mensch Meier, auf dem Album: Keine Macht für Niemand von Ton Steine Scherben, David Volksmund Produktion 1972.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Obwohl Punk in Deutschland in der Tradition von »Ton Steine Scherben« steht – vornehmlich die Band um Rio Reiser war es, die in den 1970er-Jahren deutschsprachige Musik jenseits von Schlager und Volksmusik für junge Hörer attraktiv machte –, wird im Zusammenhang mit der Subkultur oder Hausbesetzung nicht auf die Texte der Band rekurriert; weder in »Dorfpunks« noch in der Lehmann-Trilogie geschieht das. In »Abenteuerroman« wird »Mensch Meier« von einer Figur zitiert, die sich bewusst von der Subkultur der Punks abgrenzt. Bevor Hermann und Martin im Bus sitzen, besuchen sie den Nollendorfplatz, einen Treffpunkt von Punks. Die Punks haben sich »zusammengerottet, von struppigen Hunden umringt und mit Bierflaschen bewaffnet«, so beschreibt der Ich-Erzähler die Gruppe. Sein Begleiter Hermann nimmt eine Abwehrhaltung gegenüber der Subkultur ein, da er vor allem die pessimistische Lebenseinstellung der Jugendlichen und deren Aussehen nicht nachvollziehen kann. Er könne zwar die »No-future-Haltung« angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit verstehen, aber nicht, dass man sich deshalb auch die Gegenwart schlecht mache (Abr, 207). Dass auch Martin keine Sympathien für diese Jugendbewegung hegt, wird bereits an dem Kommentar deutlich, den er als 15Jähriger angesichts eines »Spiegel«-Artikels über eben jenen neuen Trend äußert. Sich Sicherheitsnadeln durch die Backen zu stechen und Hakenkreuze zu tragen, um dazuzugehören, ringt Martin nur ein »Danke bestens« (Lir, 17) ab und auch Buttons mit ihren Parolen, wie »AKW – nee!« oder »Legalize it!«, findet Martin sinnlos. Sein Kommentar: »Da fiel ich doch lieber ohne Etikett ins Bett« (Lir, 194). Martin und Hermann versuchen, im Gegensatz zu den Punks, die nur an Plätzen zusammenkommen, um Alkohol zu konsumieren, die Stadt zu erkunden. Sie besuchen Touristenorte wie den Kurfürstendamm, die Gedächtniskirche, den Bahnhof Zoo, die Mauer, das Brandenburger Tor und den Todesstreifen (vgl. Abr, 206). Zusammengefasst sind es Orte der Erinnerung, die Teil des kollektiven Gedächtnisses sind. Dies ist der Grund, warum Martin der Anblick der geschichtsträchtigen Bauwerke wenig fasziniert, er kenne sie schließlich schon von Fotos, wie er anmerkt (vgl. Abr, 206). Der Berlinbesuch ist für Martin eine Enttäuschung: »[…] es passierte auch sonst weiter nichts« (Abr, 207). Dass er mit dem Wunsch nach Abenteuer nach Berlin aufgebrochen war, wird einige Absätze zuvor deutlich, als Martin in den Fernsehnachrichten einen Bericht über die Hausbesetzungen in Berlin sieht (vgl. Abr, 108). Er nimmt solche Geschehnisse als Gegenpol zur Langeweile in seiner Heimatstadt Meppen wahr. »Und statt da mitmischen zu können, auf der Seite der Hausbesetzer, hockte man im verstunkenen Meppen vorm Fernseher. Wie lange wohnte ich jetzt eigentlich schon hier? Fünftausend Jahre?« (Abr, 108). Die Hyperbel in Form einer rhetorischen Frage betont die Langeweile, der sich der Ich-Erzähler während seiner Jugend in Meppen ausgesetzt sieht. Im Frühjahr 1984 entdeckt Martin Berlin auf eine andere Weise als noch bei seinem ersten Besuch vier Jahre zuvor. Ihn interessieren nicht mehr die Touristenorte, stattdessen sucht er für die politische

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Linke historisch bedeutsame Orte auf. So werden der Landwehrkanal, in den die Leichen Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts geworfen wurden, und die Deutsche Oper als »Schauplatz zwischen Polizisten und Anti-Schah-Demonstranten« zu auratischen Erinnerungsorten (Br, 235). Mit einem Tagesticket ausgestattet fährt er zu den Orten, die für die Linke der Weimarer Republik und die Studentenproteste der 68er-Bewegung Relevanz haben. Martin erfährt Berlin mit öffenlichen Verkehrsmitteln im Modus des Transports, erläuft die Erinnerungsorte aber zu Fuß, im Modus des Wayfaring; passend dazu spricht der Text auch von »streun[en]«. Das Verb impliziert, dass Martin nicht planmäßig die Orte abschreitet, sondern sich einem Flaneur gleich treiben lässt, und an für ihn interessanten Orten innehält. Dass ihn ausgerechnet ebendiese Erinnerungsorte interessieren, kann als Ausdruck seines akademischen Bildungshintergrunds interpretiert werden. Zu Beginn seines Studiums in Bielefeld im Sommersemester 1983 kontert Martin die Frage, warum er denn in Bielefeld und nicht in Berlin wohne, mit: »das sei ja doch ›n bißchen weit vom Schuß« (Br, 11). Aus rein geographischer Perspektive hat er damit natürlich Recht. Martin empfindet die umständliche Anfahrt nach Westberlin als störend, musste jeder, der nach Berlin wollte, doch jedes Mal durch die DDR fahren und die obligatorischen Grenzkontrollen auf sich nehmen. Die Frage seiner Zuhörer gibt indirekt Auskunft über die Motive junger Menschen, nach Berlin zu gehen. Es ist die Flucht vor der elterliche Enge sowie den staatlichen und gesellschaftlichen Normen. In Berlin gelten andere Gesetze – keine Wehrpflicht, andere Steuersätze35 – als in der restlichen Republik, und durch die Grenze und die Transitstraßegetrennt, ist die Stadt auch geographisch weit entfernt vom Einflussbereich der Eltern und staatlicher Kontrollinstanzen. Silvester ›83 spielt Martin mit Hermann das Wahrsage-Spiel I Ging. Martin beschäftigt die Frage, ob er nach Berlin ziehen soll oder nicht. Zwar seien die Antworten des Orakels »kryptisch«, aber sie ließen sich dennoch zielgerichtet interpretieren. So sagt das Orakel: »Man mag die Stadt wechseln, aber kann nicht den Brunnen wechseln. Er nimmt nicht ab und nimmt nicht zu« (Br, 201). Hermann rät Martin deshalb, nicht zu viel von einem Umzug nach Berlin zu erwarten: »Man bleibe eben überall der Alte« (Br, 201). Hermann glaubt also, dass der Ort einen Menschen nicht beeinflussen könne und ein Wohnortwechsel die Stimmung und Verhaltensweisen nicht mitbestimme. Stereotype von Berlin offenbaren sich in Liedtexten, die die Stadt besingen. Der bevorstehende Wohnortwechsel veranlasst Martin und seine Freunde zur Zitation ebensolcher: »Kreuzberger Nächte sind lang!« und »Berlin erwacht noch mitten in der Nacht…« (Br, 204). Berlin wird so mit Nonkonformismus und Abenteuer attributiert und wird zu einer Topographie, die gegen den Herkunftsort steht. Während Berlin als ein durch die Nacht geprägter Raum, der mit Jugend und Abenteuer 35

Vgl. Kür, 282.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

verknüpft ist, semantisch aufgeladen wird, steht die Heimat stattdessen für den Tag (denn zu der Zeit findet das Leben statt), Langeweile und Kindheit. Die populären Songtexte greifen die bekannte Dichotomie zwischen provinzieller Heimat und Metropole auf, die sich in divergierenden Alltagshandlungen niederschlägt. Lotman lokalisiert das Nachtleben an der Grenze der Semiosphäre, in der Normen pervertiert seien. »Diese verkehrte Welt«, so schreibt er über das Nachtleben, »orientiert sich am Anti-Benehmen«36 . Dass Berlin, speziell Kreuzberg, im Grenzraum der Semiosphäre zu verorten ist, ist zur erzählten Zeit bereits im öffentlichen Diskurs der Bonner Republik angekommen. Davon zeugen die zitierten Schlager und ihre damalige Popularität. Es ist allerdings fraglich, inwiefern von einem Grenzphänomen im Sinne des Semiosphäre-Konzepts gesprochen werden kann, wenn diese Zuschreibung bereits im Mainstream angekommen ist. Diese Tatsache spricht für die der Semiosphäre inhärente Dynamik, die einen steten Wandel zwischen Peripherie und Zentrum meint. In der Tat ist es so, dass im Moment der Überführung von Impulsen aus der Peripherie in das Zentrum die Peripherie beginnt, sich zu etablieren und aufzulösen. Dass auch Kreuzberg allmählich seinen Sonderstatus verliert, wird spätestens durch den Fall der Mauer besiegelt, wie es schon in »Herr Lehmann« anklingt. Für Oma Schlosser (Jahrgang 1899) ist die Stadt mit Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg und die Olympischen Spiele von 1936 verbunden. Als Kind lebte sie in Wilmersdorf, weil ihre Heimat in Masuren Kriegsschauplatz geworden war. Das Fotomotiv der Gedächtniskirche, das Martin ihr geschickt hat, nimmt sie zum Anlass, von ihren Gottesdienstbesuchen in der damals nicht zerstörten Kirche zu berichten. »Immer diese Kriegserinnerungen!«, denkt sich Martin angesichts der Schilderungen (Br, 259). Seine Großmutter verbindet offenbar andere Attribute mit der Stadt, das ist auch Martin bewusst. So fragt er sich, was seine Großmutter wohl unter »vollständigen Eindrücken« von Berlin verstehe. Denn sie selbst gibt an, dass ihre »Eindrücke von Berlin […] nur gering und unvollständig« seien. Martins Großmutter hat aufgrund ihres Geburtsjahrs andere Erinnerungen an Berlin. Die Ansichtskarte der zerstörten Kirche evoziert zwangsläufig eigene Erinnerungen an den Krieg. Erinnerungsorte, die zwar im kollektiven Gedächtnis verankert sind, können dennoch unterschiedliche Bedeutungen haben, verweben sich individuelle Erinnerungen doch immer mit denen des kollektiven Gedächtnisses, wie an der Figur Oma Schlosser und dem zwei Generationen später geborenen Enkelkind deutlich wird. Martin findet eine Wohnung in Berlin-Friedenau, die er ab dem 1. April 1984 übernehmen kann. Die Gedankenrede Martins nach der erfolgreichen Wohnungsübergabe verdeutlicht, wie viel er sich von einem Neuanfang in einer neuen Stadt verspricht: »Jetzt bist du am Ziel« (Br, 227). Zur Wohnungssuche, Immatrikulation 36

Lotman, Jurij (2010): Die Innenwelt des Denkens, S. 188.

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und Wohnungsübergabe wohnt er bei einem homosexuellen Polen namens Jerzy. Einen freien Abend in der »Weltstadt Berlin« (Br, 227) verbringt der Noch-Tourist Martin lieber im Kino, als den Tipps Jerzys zu folgen. Es steht zu vermuten, dass er glaubt, Jerzy empfehle ihm Clubs, die seiner eigenen sexuellen Orientierung entsprechen und nur von Homosexuellen besucht werden. Es lassen sich hier Parallelen zu der Figur Sylvio aus »Herr Lehmann« ziehen, der als Besucher ebensolcher Clubs dargestellt wird. Berlin wird somit in beiden Texten als Stadt gekennzeichnet, die von Randgestalten – in diesem Fall Homosexuellen – bewohnt und geprägt wird. Freunde, die Martin in Berlin besuchen oder bloß davon hören, dass er nun dort lebt, und Tramper-Bekanntschaften äußern sich alle ähnlich zu seiner Wahlheimat. Berlin sei zu groß (vgl. Br, 302 und 304), meinen Leute, die Martin im Auto mitnehmen. Ob er sich nicht eingeengt fühle, fragt umgekehrt eine Brieffreundin (Br, 287). Berlin wird als Metropole wahrgenommen, mit Autoverkehr, von dem »man ja ganz tüdelig« werde, und gleichzeitig als einengend wegen der Mauer. Martin indes versteht diese Anmerkungen nicht: »Was hatten bloß immer alle gegen Berlin?« (Br, 290). Seine Unvoreingenommenheit gegenüber der Stadt erklärt auch, weshalb er eine Reportage über die Unheimlichkeit Berlins nicht in ihrer ihr qua Veröffentlichungsort (»Der Spiegel«) zugeschriebenen Faktizität liest, sondern als unterhaltsame Lektüre. Welchen Anteil nicht zuletzt die mediale Berichterstattung an dem Image Westberlins hat, zeigt ebendiese Reportage über einen Leichenfund auf einem Berliner Dachboden. Sechs Jahre lang lag in einem besetzten Gebäude Kreuzbergs unbemerkt die Leiche einer vermissten jungen Frau, Ingrid Rogge aus Saulgau. Die »Spiegel«-Autorin Marie-Luise Scherer verfasste anlässlich der Beisetzung 1986 eine Reportage über Kreuzberg, den Ort, der für die Frau aus der Provinz zuerst zum Sehnsuchts- und schließlich zum Todesort geworden sei.37 Während Martin Schlosser die »Spiegel«-Reportage in ihrer Dramaturgie und Stilistik erfasst, wird sie im Vorwort zur Ethnographie Berlins als Beitrag zur »Mythologie Kreuzbergs«, und zwar nicht als Utopie, sondern als »Dystopia, als unheimlicher Ort, den man wie eine rite de passage hinter sich bringen muß[,] oder wie ein Purgatorium«, interpretiert.38 Martin Schlosser vermutet angesichts der Lektüre, dass auch Kleist diese Reportage gerne gelesen bzw. geschrieben hätte, war der Dichter und Publizist unter seinen Zeitgenossen doch für seine eindrückliche Aufbereitung

37 38

Scherer, Marie-Luise: Der unheimliche Ort Berlin, in: Der Spiegel, Nr. 21, 1987, S. 98-126. Lindner, Rolf: Vorwort, Von »Freakland« zu »Slumland«? Zur Mythologie Berlin-Kreuzbergs, in: Lang, Barbara (1998): Mythos Kreuzberg, S. 10.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

von Polizeiberichten bekannt (vgl. Kür, 440).39 Die Autorin Scherer suchte für ihre Recherchen die Orte des Aufwachsens sowie das Viertel in Berlin auf, in dem Ingrid bis zuletzt gelebt haben muss. Sie sprach mit Weggefährten, Arbeitskollegen und der Familie, beschrieb ihre Eindrücke dann schließlich in der Reportage, ohne über die Todesumstände zu spekulieren. Stattdessen handelt der Text von dem Umgang des Umfeldes mit dem Verschwinden Ingrids und der Entdeckung ihrer Leiche. Kreuzberg werde bewohnt von drei Kategorien von Menschen: »Normale, Nicht-Normale und Türken« (»Spiegel«, S. 110). Die schwäbische Heimat wird im Text als einengend [»Keine Natur wächst gegen einen Ordnungsanspruch an« (»Spiegel«, S. 99)] und abergläubisch – es werden Wahrsager und Pendler mit der Suche der vermissten Tochter beauftragt – dargestellt. In dieser Reportage wird eine ähnliche Kategorisierung vorgenommen, wie sie in den zuvor beschriebenen Fremdwahrnehmungen Berlins, die in der Martin-Schlosser-Chronik von diversen Figuren bedient werden, mitschwingen. Berlin ist das Andere, der Gegenpart zur Heimat, verrucht und aufregend. Diese Wiederholung der immer gleichen Semantisierung Berlins in diversen Diskursen verdeutlicht deren Interdependenz. Das Imaginäre der Stadt Berlin speist sich u.a. aus dem popkulturellen Diskurs (Liedtexte), den kollektiven Erinnerungen (Gedächtniskirche), dem medialen Diskurs (»Spiegel«-Reportage) sowie dem kulturellen Diskurs (Martin-Schlosser-Chronik).

Wohnen in Berlin Seine erste eigene Wohnung in der geteilten Stadt bezeichnet Martin als »Himmelreich« (Br, 252). Zwar lebte er auch schon in Bielefeld getrennt von seinen Eltern, aber zusammen mit zwei Mitbewohnern. Als er das erste Mal Gas und Strom für seine Wohnung anmelden muss, merkt er, dass es auch Vorteile gehabt habe, in eine WG zu ziehen, in der solche Dinge schon geregelt gewesen seien (vgl. Br, 261). In Berlin ist Martin somit das erste Mal vollkommen unabhängig und selbstständig. Trotz der zusätzlichen Pflichten und Eigenverantwortung fühle er sich »hundertmal heimischer als in dem durchgestylten Bielefelder Kackwürfel« (Br, 261). Ihm gefällt, dass in Berlin Menschen mit besonderem Aussehen, selbst »Berliner Omis«, gar nicht auffielen. »In Bielefeld oder erst recht in Meppen hätte sie [eine barfüßige Frau mit pink gefärbten Haaren und grünen Fingernägeln] ein ungeheures Aufsehen erregt« (Br, 254). »Berliner Omis« sind somit nicht vergleichbar mit denen außerhalb Berlins. Auch in Scherers Reportage werden sie als »die Normalen« kategorisiert, die in Kreuzberg inmitten der Freaks und Türken ausharren, vornehmlich »alte Frauen, die sich während der Sanierung nicht umquartieren ließen« (Spiegel, S. 110). Die »Normalen« in Berlin sind somit zu unterscheiden von 39

So gab er – zumindest bis die Zeitung der Zensur zum Opfer fiel – die »Berliner Abendblätter« heraus. Zum ersten Mal werde hier »Crime« zu »einem wesentlichen Bestandteil deutschsprachiger Tagespresse.« [Peters, Sibylle (2009): Berliner Abendblätter, S. 167].

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den »Normalen« Westdeutschlands. Die Bewohner der Stadt bilden allesamt eigene Kategorien, die durch Berlin bestimmt sind. Die Stadt schafft sich ihre Bewohner und vice versa. Dass Martins Mutter keine Einheimische ist und sich als Touristin zu erkennen gibt, da sie sich über den Straßennamen Berliner Straße in Berlin amüsiert, ist dem Zugezogenen unangenehm. »Richten Sie bitte Ihr Augenmerk auf die Schamröte, die ihn beschlichen hat, weil seine Mutter sich durch ihre losen Reden als Provinzlerin bloßstellt« (Br, 331), denkt sich Martin. Zwar ist ihm das Verhalten seiner Mutter unangenehm, doch auch Martin erkennt das Besondere der Stadt, eben weil er Zugezogener ist. Er spricht vom »Schmelztiegel Berlin« mit seinem »Dialektmischmasch«, und ihm fällt auf, dass die Berliner »wie die Henkersknechte« Auto fahren (Br, 262). Der gängige Glaube junger Bewohner, die sich für nonkonformistisch halten, wird durch eine Vorlesung zum Thema Neue Sachlichkeit und ihrer Einflüsse auf die Architektur als kurzsichtig enlarvt, was Martin augenblicklich für Architektur begeistert. Die von Studierenden bewohnten, stuckverzierten Altbauwohnungen seien eigentlich in der Ästhetik der Gründerzeit erbaut, gegen die sich die Bauhaus-Architektur der 1920er-Jahre gewendet habe, erfährt Martin in der Veranstaltung. Der Bedeutungswandel, der sich in der Aneignung der einst als kleinbürgerlich geltenden Gründerzeithäuser durch die Studenten in den 60er-Jahren vollzogen habe, fasziniert Martin und eröffnet ihm einen neuen Wissenshorizont. Nach der Vorlesung steht für ihn fest: »Ich hatte mich mein Lebtag nicht für Architektur interessiert, aber jetzt erkannte ich mein Versäumnis« (Br, 281). Wenngleich Martin sich für Erinnerungsorte des linkspolitisch geprägten Berlins interessiert, stoßen ihn die In-Viertel der neuen Politischen Linken in Kreuzberg ab. Als er eine Kommilitonin in ihrer Kreuzberger Wohnung besucht, setzt sich gleich eine lange »Assoziationskette« in Gang: […] deutsche Teilung, Kalter Krieg, Eiserner Vorhang, Adenauer, Chruschtschow, Ulbricht (›Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten‹), Kennedy (›Ich bin ein Berliner‹) … und dazu die Erinnerung an die im Fernsehen gezeigten Mauerbausequenzen in Schwarzweiß … der behelmte Grenzsoldat, der über den Stacheldraht springt … die Frau, die aus dem Fenster geklettert ist und runterfällt … Notaufnahmelager Marienfelde … die ›Mauertoten‹ … (Kür, 125). Diese Frames sind topographisch und zeithistorisch geprägt. Es sind Assoziationen, die im kommunikativen Gedächtnis der erzählten Zeit des Romans virulent sind. Der Mauerbau in den 1960er-Jahren, die legendär gewordene Rede des USPräsidenten in der geteilten Stadt, die zum Sinnbild für die Grausamkeit der SED gewordenen Aufnahmen an der Grenze, all dies sind Erinnerungen des Kalten Krieges, die unmittelbar mit der geteilten Stadt verbunden sind. Sie tragen ein chronotopisches Element in sich, das allein durch die Nähe zur Mauer ausgelöst wird.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Berlin wird für Martin zu einer weiteren Zwischenstation und er identifiziert sich mit den Zeilen von Bob Dylan, die er bei dessen Konzert auf der Waldbühne am 13. Juni 1984 hört. So I’m walking around that long and lonesome road, babe Where I’m bound, I can’t tell …40 Where was I bound? Neither to Meppen nor to Bielefeld. Dort gab es keine Katja mehr. Die lebte ja jetzt in Berlin. Irgendwo in meiner Nachbarschaft und trotzdem wie auf einem anderen Planeten (Br, 313). Martin ist entwurzelt, fühlt sich weder zu Meppen noch zu Bielefeld oder Berlin zugehörig. Dass er Katja in Berlin aus den Augen verloren hat, zeigt, wie groß diese Metropole ist. Der Vergleich, es sei, als wäre sie auf einem anderen Planeten, unterstreicht dies ebenfalls. Nachdem sich die erste Euphorie über die neue Wahlheimat gelegt hat, stellt sich der Alltag ein. Und Hermann scheint mit seinen Vorahnungen richtig gelegen zu haben, dass Menschen sich nicht ändern, nur weil sie woanders leben. »In die Uni, aus der Uni. Morgens rein und abends raus, im Bus die immer gleichen Sackgesichter, im Hauseingang der Schweineblutgeruch und in der Wohnung Kohlenstaub und Spinnweben« (Br, 433). Dieses Gefühl verstärkt sich noch, als er Silvester 1984 mit Andrea, einer Sozialpädagogik-Studentin aus Aachen, zusammenkommt. Schnell nimmt er die Stadt ähnlich wie Bielefeld wahr. Als es zu schneien beginnt und der Schnee in der Großstadt sich zu »rußiger Matschepampe« verwandelt, fühlt sich Martin unwohl. Dem Schnee könne er es nicht verdenken, dass er sich in Berlin nur in dieser unschönen Form zeige. Schuld seien die Umstände: die Räumfahrzeuge, die Autoabgase und der Hundeurin. »Als Schneeflocke wäre ich lieber blütenrein in den Harz gerieselt […]« (Br, 432). Es ist die Metropole, die ursprüngliche Wetterphänomene wie Schnee – die woanders, etwa in weniger bebauten und damit natürlicheren Gegenden romantische Winterlandschaften prägen – zu einem Störfaktor für deren Bewohner werden lassen. Nicht zuletzt ist es die beinahe unberührte Winterkulisse in Belgien, vor der Martin und Andrea zueinanderfinden und sich das erste Mal küssen, die in Opposition gesetzt wird. In Berlin wird Schnee stattdessen zu einem unansehnlichen Matsch im Rinnstein. Natur findet in der Metropole keinen Platz, Schnee zeigt sich nicht in seiner reinen, weißen Form. Die Metropole absorbiert mithin das natürliche, unschuldige Weiß des Schnees und befleckt es mit dem Auswurf der Stadtbewohner (Autos, Hunde, Müll). Natur und auch die Liebe zu Andrea, die schließlich im blütenweißen Schnee ihren Anfang nimmt, können in der Metropole nicht überleben. Als auf den Schnee Dauerregen folgt, sind die Parallelen zur Wahrnehmung Bielefelds unübersehbar. »Auf 40

Dylan, Bob: Donʼt think twice, it’s all right, 1963, in: Bob Dylan Lyrics 1962-2012, sämtliche Songtexte, Deutsch von Gisbert Haefs, Hamburg 2014, S. 126.

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den Schnee folgte Regen und auf den Regen Regen. Und immer noch mehr Regen, auch als ganz Berlin schon bis obenhin vollgepißt war« (Br, 481). Für Martin steht fest: »Ich wollte nicht mehr in Berlin sein. Ich wollte bei Andrea sein« (Br, 483). Nur wenn Andrea zu Besuch in Berlin ist, nervt Martin die Stadt nicht mehr. Er schließt sie aus seiner Wohnung aus, die zu einem Refugium für das junge Liebespaar wird. »Wozu brauchte ich das Berliner Nachtleben, wenn ich Besuch von Andrea hatte?« (Br, 556). Die vormals attraktiv erscheinenden Ausgehmöglichkeiten der Metropole interessieren ihn nicht mehr. Stattdessen besucht er randständige Stadtteile, um Brinkmann gleich seine Eindrücke in Fotos festzuhalten. »Gropiusstadt war ein Slum, in dem die Menschen wie Ratten hausten« (Br, 373), bemerkt er über die Großwohnsiedlung, die in den 1960er- und 1970er-Jahren in Neukölln errichtet wurde. Bekanntheit erlangte die von Sozialwohnungen geprägte Trabantenstadt durch das Buch »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, in dem die Drogenkarriere von Christiane F. geschildert wird. Martin liest die Reportage, die zunächst im »Stern« abgedruckt wurde, als 16-Jähriger und gleicht die Schilderungen Christianes, die »bereits mit dreizehn Jahren auf den Strich gegangen war« (Lir, 200), mit seinen Erlebnissen in Meppen ab. »Nur in Meppen merkte man absolut nichts von Rauschgift und Prostitution. Oder jedenfalls ich merkte nichts davon« (Lir, 200). Der jugendliche Martin kommt so zu dem Schluss, dass Meppen und Berlin in Opposition zueinander stehen. Meppen ist für ihn mit Langeweile verbunden, Berlin hingegen verspricht Abenteuer, Rausch, Kriminalität und Sex. Als Erwachsener sucht er Gropiusstadt, den Ort des Aufwachsens von Christiane F., auf. Über die Bezirke Marienfelde und Lichterfelde bemerkt er: »So sah sie aus, die Welt der menschlichen Versuchstiere, die ein Käfigleben führten, von der Wiege bis zur Bahre« (Br, 537). Die Wahrnehmung der Orte korreliert mit den Vorstellungen, die er sich als Jugendlicher beim Lesen der »Stern«-Reportage machte. Die Trabantenstädte, die der nun postadoleszente Protagonist besucht, evozieren für ihn den Eindruck von Gefängnissen bzw. Käfigen und stehen damit diametral gegen das Berlinbild, das er sich aus der Ferne von der Metropole gemacht hat. Neben der räumlichen Distanz, die zwischen den zwei Wahrnehmungen steckt, ist es der zeitliche Abstand, der die Raumwahrnehmung verändert. Der die Stadtteile besuchende Protagonist ist Mitte zwanzig, hat mittlerweile viele Städte bereist, kann also differenzieren und er ist beeinflusst durch seine Brinkmann-Lektüre. Die Wahrnehmung ist nicht deckungsgleich mit der Imagination Berlins – insbesondere mit Gropiusstadt. Berlin – so lässt sich aus der Darstellung der Martin-Schlosser-Romane schließen – ist mehr als Kreuzberg, sondern die Summe seiner Stadtteile. Dazu zählen eben auch die Randbezirke und Trabantenstädte, wie Gropiusstadt, Lichterfelde und Marienfelde, die als der am Rand liegende Einbruch des anderen markiert werden. Die anderen Romane des Textkorpus legen den Fokus einzig auf Kreuzberg und stellen den Kurfürstendamm

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

als dessen dichotomes Gegenstück dar, das die Berlintouristen und Naziwitwen repräsentiert.

Aachen Martin beschließt, Berlin zu verlassen, nach Aachen zu ziehen und für Vorlesungen nach Köln an die Universität zu trampen. Er findet ein WG-Zimmer in der Nähe von Andreas Wohnung. Die Zeit in Aachen wird nur ein kurzes Intermezzo von August 1985 bis April 1986. Sein Studium in Nordrhein-Westfalen lässt er schleifen, und auch das Leben mit seinen Mitbewohnern missfällt ihm. Dass er sich unwohl fühlt in Aachen, wird durch Martins Beschreibung der Besonderheiten der Stadt sowie der Bewohner deutlich. Besonders hässlich findet Martin die »Hauptverkehrsader«, den Adalbertsteinweg, in dessen Nähe Andrea wohnt. Seine erste Begegnung mit der Straße wird so beschrieben: Zwei Minuten später lernte ich den Adalbertsteinweg kennen, eine Aachener Hauptverkehrsader, wo es zuging wie in der Vorhölle: Gehupe, Hustenreiz, Motorengefurze, Hektik, Bremsgeräusche, Idiotie und zugeparkte Gehwege. In der Liga der fußgängerunfreundlichsten Straßen der Welt wäre der Adalbertsteinweg ein allseits gefürchteter Titelaspirant gewesen (Br, 452). Vom ersten Moment an wird diese Straße für Martin zum Inbegriff der Hässlichkeit Aachens. Als Bewohner der Stadt entwickelt er im Laufe der Zeit einen routinierten Umgang mit dem Adalbertsteinweg, indem er regelmäßig auf dessen Hässlichkeit hinweist. Mit seiner Freundin kommt es deswegen zu Diskussionen. Ich durfte nur nicht zu rabiat über Aachen herziehen; sonst erwachte die normalerweise tief in ihr [Andrea] schlummernde Lokalpatriotin zum Leben. Ich durfte auch keine Arien über die Häßlichkeit des Adalbertsteinwegs mehr absingen, obwohl ich fand, daß sie weitaus gottgefälliger und schöner waren als der gesamte Adalbertsteinweg (Kür, 159). In Brinkmanns »Rom, Blicke« entdeckt er Beschreibungen, die sich nach seiner Auffassung auf Aachen übertragen ließen. Als eine Stadt, die so überfüllt mit Autos sei, bezeichnete Brinkmann die italienische Hauptstadt. Angesichts der Erfahrungen vom Adalbertsteinweg sieht Martin seine Ablehnung des Autoverkehrs bestätigt. Das folgende Zitat aus »Rom, Blicke« ist als Intertext in »Künstlerroman« montiert: Der Wahnsinn: in der schmalen, holprigen Straße, links und rechts noch geparkte Autos, durch stumpfe Schatten düster verhangen und aus der stumpfen Düsternis herausbrechend die hellen Löcher der zum Teil offenen Räume, ein schwerer Überland-Transporter, der hupt, weder vor noch zurückkann. – Der Unterschied zwischen Autos und Menschen

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hat aufgehört. Die einzelnen Gestalten drücken sich in die verschlissenen Schatten der Mauern, Eingänge, Torbogen, und hervor treten die Autos.41 (Kür, 194). Während einer Autobahnfahrt bekommt Martin einen ersten Eindruck vom »Aachener Umland […], das allerdings keinen Augenschmaus darstellte. Autohäuser, Kfz-Werkstätten, Schnellstraßen, Schnellrestaurants, Gebrauchtwagenmärkte, Großtankstellen mit Autowaschanlagen und dann wieder Autohäuser, Autohäuser, Autohäuser … Eine ganze Region als Hure der Automobilindustrie« (Kür, 196). Ähnlich wie im Intertext von »Rom, Blicke« wird durch die stakkatoartige Aneinanderreihung von Serviceeinrichtungen, die einzig und allein aufgrund der florierenden Automobilindustrie bestehen, Martins Blick aus dem Beifahrerfenster in eine Sprachpoetik überführt. Der Wahrnehmende, der von Sekunde zu Sekunde, Meter um Meter neue Geschäfte entlang der Autobahnen und der angrenzenden Industriegebiete sieht, wird zum Zeugen einer entfremdeten, automatisierten Welt. Was im Brinkmann-Zitat als Ablösung der Menschlichkeit durch Automobile beschrieben wird, wird in »Künstlerroman« aus autodiegetischer Perspektive weiterentwickelt und auf eine andere Topographie angewandt. Die Gesellschaftskritik, die in Martins Wahrnehmung Aachens anklingt und die durch die Brinkmann-Lektüre des Protagonisten geprägt ist, korrespondiert seiner Mentalitätskritik an den Aachenern. Beim Anblick des Wahrzeichens der Stadt, dem Aachener Dom, von dem aus Kaiser Karl der Große das gesamte karolingische Reich christianisierte und regierte, ist in den Augen Martins nicht mehr als »[h]ingeklotzt« und das »ins Land der Heiden«. »Und die Urahnen der zwangsgetauften und im Weigerungsfall hingeschlachteten Heiden bildeten sich auch noch etwas ein auf dieses Monument der Knechtung!« (Br, 453). Ebendieser Hang zur Knechtung scheint sich in der Gegenwart manifestiert und fortentwickelt zu haben. Bemüht Martin doch die modernere Form der Knechtschaft, nämlich die Prostitution, um auf die Abhängigkeit der Region von der Automobilindustrie aufmerksam zu machen. Hinzu kommt, dass der Wahrnehmende das Umland im Modus des Transports kennenlernt und so selbst Teil der automatisierten Welt ist, von der er sich abgestoßen fühlt. Auch ein achtlos hingeschmiertes Graffiti ist für Martin vom ersten Moment an ein Stein des Anstoßes. Aachens größter Schandfleck war der unmenschlich häßliche Adalbertsteinweg. Aber auch andere Anschläge auf mein Wohlbefinden hatten es in sich. Über mehr als zwanzig Meter Länge stand an einer Mauer in Bahnhofsnähe hingesudelt: Ich kann meine Träume nicht verleugnen, denn ich schuldle [!] ihnen noch mein Leben (Kür, 120).

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Brinkmann, Rolf Dieter (1979): Rom, Blicke, S. 67.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Der Rechtschreibfehler macht Martin geradezu wütend. Am liebsten würde er den Schreiberling zur Strafe in die erste Klasse zurückversetzen. Andrea indes kann kein Verständnis für Martins Reaktion angesichts des Schreibfehlers aufbringen und findet seine Wut übertrieben (vgl. Kür, 139). Abseits des Autoverkehrs und der Wandgestaltung öffentlicher Räume findet Martin auch keinen rechten Zugang zu den Bewohnern der Stadt. Sich selbst nannten die Aachener ›die fiesen Öcher‹, und wenn man sie so reden hörte, auf der Straße oder beim Bäcker, dann wußte man auch, warum. Verglichen mit den Öchern waren selbst die mauligen Berliner gut drauf (Kür, 141). Martin gleicht die neuen Eindrücke der Aachener mit denen der ihm bekannten Mentalität der Berliner ab, die für ihn – bevor er in diese Stadt gezogen ist – ebenso fremd war. Seine Einstellung zu den »Öchern« kulminiert in einem negativen Erlebnis, das letztlich dazu beiträgt, dass Martin wieder zurück nach Berlin ziehen wird. Als er nach dem Einkaufen von einem »Irren« überfallen wird und niemand ihm hilft, wird die Stadt für ihn allmählich unerträglich. »Es lagen rund fünfhundert Meter zwischen der Tengelmannfiliale und meiner WG, aber mir war das ganze Leben im Stadtbezirk Aachen-Mitte vergällt« (Kür, 196). In dem Snapshot, in dem Martins Erinnerungen an den Wegzug aus Aachen zusammengetragen sind, nimmt er Abschied von allen Dingen, die ihn in der Stadt gestört haben. Die Mitbewohner der WG, inklusive der Katze, die immer in sein Bett urinierte, der »Abschied vom Adalbertsteinweg« und »Abschied auch von dem dämlichsten Graffito« (Kür, 216), all dies wird noch mal aufgeführt. Es sind Bewohner und topographische Eigenarten der Stadt Aachen, die für Martin untrennbar mit ihr verbunden sind. Wie sehr er sich den Weggang aus dieser Stadt wünscht, lässt sich auch an der auf die Spitze getriebenen und rein hypothetischen Möglichkeit erkennen: »Und wenn sie mir den Karlspreis angetragen hätten, die fiesen Öcher: Ich wäre nicht mehr aufzuhalten gewesen« (Kür, 216). Noch unerträglicher als Aachen sind für Martin die Besuche bei Andreas Familie in Würselen, einer Stadt im Kreis Aachen. Bei seinem ersten Besuch zieht er das Fazit, dass er sich »in der Würselener Stubenluft […] dem Erstickungstod noch näher als in Meppen« fühle (Br, 505). Auch diese Erfahrungen lassen Martin abermals an Schilderungen des Dichters Brinkmann denken. Dieses Mal sind es Eindrücke aus dessen Geburtsstadt Vechta. Mir war ja schon Würselen an sich ein Graus. Diese Garagentore! Diese Mäuerchen und Zäune! Und diese bestialischen Haustüren aus Drahtglas und Metall und Stahl und Schnurkeramik! In einer Rangliste der scheußlichsten Kleinstädte Deutschlands hätte Würselen als Ballung architektonischer Gemeinheiten weit oben stehen müssen. Und dann die Kaffeestunde in der Wohnstube an einem penibel gedeckten Tisch,

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der sonst ersichtlich nur als Ablage für die Fernsehprogrammzeitschrift […] diente. Die Sitzmöbel waren ausnahmslos auf die Glotze ausgerichtet. […] In dieser Konstellation wirkten wir auf mich (um Brinkmann zu zitieren) ›sexlos und erledigt/wie eine Familie am Sonntag‹ (Kür, 61). Martin reagiert auf längere Aufenthalte in Würselen mit körperlichen Symptomen: »Nach mehr als drei Stunden Würselen war mir immer so, wie ich mir vorstellte, daß mir wäre, wenn ich schlechtes LSD genommen hätte« (Kür, 298). Die einengende Atmosphäre der Stadt passt nicht zum jungen, kreativen und dynamischen Martin. Weder Aachen noch Würselen sind Städte, die zu ihm als Postadoleszenten passen und ihm die Raumpraktiken erlauben, die er anwendet, um sich heimisch zu fühlen.

Berlin, die Zweite Für ein halbes Jahr zieht Martin erneut 1985 nach Berlin mit dem Vorsatz, sein Studium dort abzuschließen. Er sucht sich eine Wohnung zur Zwischenmiete, »kein WG-Zimmer« (Kür, 201), und wird in Moabit fündig. Wie sich später herausstellt, handelt es sich bei der eigentlichen Bewohnerin um die Schwester von Rainald Goetz. Für Martin, der in Berlin den Entschluss fasst, sein Studium abzubrechen und Schriftsteller zu werden, ein »gutes Omen« (Kür, 325). Nach kurzer Zeit zurück an der FU Berlin beschließt Martin, sein Studium aufzugeben. Er findet einen lukrativen Job bei Tetra Pak, arbeitet »von Ende Juli bis Ende September« (Kür, 282), um in seiner neuen Wahlheimat Oldenburg ungestört an seiner Schriftstellerkarriere feilen zu können. Die Wahrnehmung von Berlin ist bei seinem zweiten Aufenthalt mithin stärker geprägt durch die Perspektive eines Arbeitnehmers im Schichtdienst und steht in Opposition zu den Erfahrungen des Studentenlebens. Sein Tagesrhythmus – »[u]m acht Uhr abends ins Bett, um vier Uhr morgens auf und um kurz vor halb fünf aus dem Haus« (Kür, 304) – macht Martin zu schaffen. »[W]erktäglich«, so rechnet er sich aus, »blieben mir […] dürftige drei freie Stunden für die Selbstverwirklichung«. Er fragt sich, wie »die normalen Arbeiter« mit »dieser Zeitnot« fertig würden. Die ständigen Schichtwechsel bringen ihn ganz durcheinander, und er verwechselt Tag und Nacht. Als er gegen vier Uhr am Nachmittag nach einer Frühschicht einschläft, zeigt der Wecker sechs Uhr, als er aufwacht. Martin glaubt, es sei sechs Uhr früh und er habe verschlafen. Als er vermeintlich zu spät am Werkstor ankommt, klärt ihn der belustigte Pförtner über die wahre Tageszeit auf. »Tetra Pak schafft alle«, ist der Kommentar, den Martin zu hören bekommt (Kür, 318). Berlin wird für Martin als Arbeitnehmer zu einer gewöhnlichen Stadt, die das Image à la »Kreuzberger Nächte sind lang« pervertiert. Es ist nicht das brausende Leben der Subkultur, welches Martin in Berlin kennenlernt, sondern das eines Schichtarbeiters. Auch in Berlin führt er

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

nicht das Leben, das er sich wünscht zu führen. Aber im Unterschied zu Aachen verfolgt er mit seiner Schichtarbeit dieses Mal ein hehres Ziel. Die Vorstellungen, die er ganz zu Beginn seines selbstständigen Lebens abseits von Meppen hegte, sind indes passé. Seine Arbeitsroutine erlebt Martin so: »Rolle einspannen, rumstehen, Etiketten aufpappen, Knöpfchen drücken und der Maschine zukucken …« (Kür, 305). Dieser Ablauf wird im immer gleichen Wortlaut mehrmals während der Beschreibung von Martins Arbeitsmonaten in Berlin wiederholt (Kür, 321, 323, 325, 337) und verdeutlicht die Monotonie, der er sich ausgesetzt sieht. Das Nachtleben in Berlin liegt für ihn auf Eis, und die Freizeit, die er hat, nutzt er zum Lesen und Ausschlafen. Auf den Fahrten zur Arbeit verliert er sich in Tagträumen und Romanzen mit weiblichen Fahrgästen (vgl. Kür, 316ff). Von Andrea ist er während dieser Zeit getrennt und er fühlt sich einsam. Ein Gedicht von Berthold Viertel42 spricht ihm aus dem Herzen, wie er sagt: Wenn der Tag zu Ende gebrannt ist, Ist es schwer, nach Hause zu gehn, Wo viermal die starre Wand ist Und die leeren Stühle stehn (Kür, 322). Die Wohnung, die er sich im Aachener WG-Chaos so sehr gewünscht hat, wird zum Isolationsraum. Die Monotonie des Arbeitsalltags tut ihr Übriges, um Martins Wahrnehmung negativ zu beeinflussen und die Zeit in Berlin zu einem Warteraum werden zu lassen, der als Übergang zum ersehnten freien Schriftstellerleben in Oldenburg führt. Bei seiner letzten Fahrt mit der Berliner U-Bahn blickt er noch einmal auf die »behämmerte Pech-Brot-Reklame«, die er tausendmal zu oft gelesen habe (Kür, 330). Es lassen sich hier Analogien zu seinem Wegzug aus Aachen ziehen, wo er am Umzugstag auch zum letzten Mal das Graffito mit dem Rechtschreibfehler sieht. Jeder Spruch für sich ist aus Martins Perspektive untrennbar mit der jeweiligen Stadt verbunden und weckt Assoziationen an sie.

Martins Eindrücke von Bonn Martins ältere Schwester Renate zieht 1976 mit ihrer Jugendliebe und späterem Ehemann, Olaf, nach Bonn. Der Ich-Erzähler zieht seine ganz eigenen Schlüsse, als er den Straßennamen hört: Mit Hilfe eines Immobilienmaklers hatten Renate und Olaf in Bonn eine Wohnung an Land gezogen, über einer Metzgerei gelegen, die den Vermietern gehörte. Zwei Zimmer, Küche, Bad für 290 Mark Kaltmiete und 333 warm. Die Adresse hätte mich

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Viertel, Berthold: Einsam, in: derselbe: Fürchte dich nicht!, a.a.O., S. 143.

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allerdings abgeschreckt: Graurheindorfer Straße 63. Das hörte sich nach Teppichstange, Hinterhof und Erbseneintopf an. Nach einem Planquadrat, wo pampige Hausfrauen um die Ecke gebogen kamen, mit Raucherhusten und Lockenwicklern, übler als in Lützel (Jr, 328). Was der 14-Jährige nicht ahnt, ist, dass die Graurheindorfer Straße in Bonn eine große Hauptstraße ist, die parallel zum Rhein verläuft und an der der Sitz des Bundesinnenministeriums lag und, als Zweitsitz, immer noch liegt. Noch heute, nach dem Wechsel nach Berlin, ist die ehemalige Düppel-Kaserne in der Graurheindorfer Straße 198 zweiter Amtssitz des Bundesinnenministers. Die Erwartungen angesichts des Straßennamens decken sich somit nicht mit der Realität. Der erwähnte Vergleichsort Lützel war der erste Wohnsitz der Familie Schlosser, an den sich Martin erinnern kann, und er ist ein Stadtteil von Koblenz, der lange Zeit als Problemviertel angesehen wurde. Der Vergleich, den Martin aufgrund des Straßennamens zieht, beruht auf Frames. Der Straßenname evoziert bei Martin Vorstellungen, die er als Kleinkind im Stadtteil Lützel erworben hat.43 Diese Erfahrungen haben sich als Stereotype manifestiert und sind zu Frames geworden, die helfen, Unbekanntes einzuordnen. Bald erkennt Martin die Vorzüge des von seiner Schwester gewählten Wohnortes. Die Vorstellungen werden somit durch die Realität und Wahrnehmung aktualisiert, und neue Wissensinformationen werden kognitiv verarbeitet. »In Bonn, diesem gigantischen Kuhdorf, holte Olaf mich vom Bahnhof ab, und dann gab’s überbackene Nudeln und Rosé« (Lir, 423). Das Oxymoron unterstreicht den provinziellen Charakter des Regierungssitzes, den Martin positiv wahrnimmt. Er beneidet seine Schwester, die aufgrund ihres Alters eigene Entscheidungen treffen darf und nicht mehr in Meppen leben muss. »Bonn am Rhein« ist die Stadt, »wo die Freiheit grenzenlos war« (Jr, 373). Ein Besuch in Bonn bestätigt seine Vermutung von einer asozialen, geschichtslosen Gegend, die schlimmer als Lützel ist, jedoch nicht. In Bonn hausten Renate und Olaf ohne Trauschein in einer Drei-ZimmerWohnung, zwischen ausgesüffelten Weinflaschen von Aldi und Zeichnungen von progressiven Künstlern. […] Im August wollten Renate und Olaf nach Schweden fahren. Die hatten’s gut. Die hatten’s sogar verdammt gut. Die wußten überhaupt nicht, wie gut sie’s hatten mit ihrem selbstgemachten Tomaten-Paprika-GurkenZwiebel-Salat in ihren eigenen vier Wänden. Pennen durfte ich auf ›ner Matratze im sogenannten Wohnzimmer. In der Küche gab es sogar ’ne Badewanne. Wenn man die benutzen wollte, mußte sie vorher leider erst superumständlich freigeräumt werden von allem möglichen Kleinscheiß (Jr, 435). 43

»An Lützel hatte ich nur lauter häßliche Erinnerungen« (Lir, 425).

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Martin ist fasziniert und verwundert zugleich. Der private Raum des unverheirateten Paars – 1976 war es nicht unüblich, dass von potenziellen Mietern ein Trauschein verlangt wurde – bildet die Antithese zum aufgeräumten, sortierten, geordneten elterlichen Haushalt. Dass ihn die Unordnung stört, wird deutlich, als er über die vollgestellte Badewanne berichtet, die ihrer eigentlichen Funktion beraubt sei: »[…] in der Wanne stand wie immer lauter Schrott« (Jr, 436). Als er schließlich selbst aus Meppen wegzieht und in Bielefeld lebt, wandelt sich seine Meinung vom Leben seiner Schwester. Was er als Jugendlicher als aufregend, anders und erstrebenswert empfand, sieht er nun 1983 – Olaf und Renate haben mittlerweile zwei Kinder, leben nicht mehr zentral in Bonn, und der studierte Politikwissenschaftler verdient sein Geld mit Taxifahren – kritisch: Wie konnte man bloß so leben? Mit zwei kleinen Kindern in einer vollgepfropften Rumpumpelbude in einem der Außenbezirke eines ausgefransten, in den Nachkriegsjahren notdürftig zusammengeflickten und völlig grundlos zur Hauptstadt erklärten Kuhkaffs? (Br, 160). Im Laufe der Chronik manifestiert sich ein Bild von Bonn, das die damalige Hauptstadt in eine Kategorie mit Würselen und Bielefeld stellt. Nichts unansehnlicher als Bonn! Allenfalls Würselen, Löhne und Bielefeld konnten da mithalten. Lieblos aneinandergeklatschte und geschmacklos gekachelte Häuserhaufen mit perversen Türklinken, vulgären Butzenscheiben, rohen Ladenschildern und karzinomartigen Markisen, und dazwischen Autos, Autos, Autos, Autos, Autos. Aber die Hauptstadt sein wollen! (Arr, 128). Selbst Martins Mutter empfindet Bonn als Kaff, wie man einer Postkarte aus Venezuela entnehmen kann. Dort schreibt sie an ihre Kinder, dass sie durch viele kleine Käffer gefahren sei u.a. Bonn. Renate passt diese Behauptung gar nicht und entgegnet: »das sei ja wohl ʼne Unverschämtheit«, wo »wir doch immerhin Bundeshauptstadt sind!« (Jr, 437). Sie fühlt sich mittlerweile als Bonnerin und identifiziert sich mit der Hauptstadt, was anderen Westdeutschen, wie etwa Martin und seiner Mutter, schwerfällt. Bonn wird in der Chronik als provinziell und geschichtslose Stadt dargestellt. Selbst dass die Stadt am Rhein zur erzählten Zeit Regierungssitz ist, hält die Figuren der Texte nicht davon ab, Bonn als eine typische Nachkriegsstadt zu sehen.

Oldenburg Über seine Ex-Freundin Heike lernt Martin die Stadt Oldenburg kennen, die er schnell als mögliche Wahlheimat in Betracht zieht. Neben der Topographie – »Überall Radwege, nette Kneipen, schöne Altbauten, gutes Klima, grünes Umland …« (Br, 381) – ist es die Lage – »im Würgegriff dreier Autobahnen« –, die die Stadt für Martin interessant macht.

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Im Sommer 1985 besuchen Martin und Andrea das Paar Heike und Matthias und unternehmen gemeinsam Ausflüge ins Umland. »Je näher wir dem See kamen, desto schöner wurde die Landschaft. […] Hätte man nicht so naturnah wohnen sollen? Wie in Lönneberga? Statt in Kloaken wie Berlin oder Aachen?« (Kür, 67). Oldenburg wird als eine Stadt beschrieben, die zwischen Großstadt und Dorf changiert, was nicht allein der Größe und Einwohnerzahl geschuldet ist, sondern der Mentalität der Bewohner und dem Charme der Stadt. Auch Heike macht diese Unterscheidung und hebt auf die Nachbarschaftshilfe ab, die man in den Städten, in denen Martin und Andrea wohnen, nicht kenne (Kür, 67). Sie nennt das Paar »Großstädter« und hebt sich damit als Bewohnerin Oldenburgs bewusst von ihnen ab. Als Martin den Entschluss fasst, sein Studium abzubrechen und Schriftsteller zu werden, fällt seine Wohnortwahl schnell auf Oldenburg, obwohl Andrea und ihm ja die ganze Bundesrepublik offenstünde (Kür, 282). Oldenburg selbst unterteilt Martin in unterschiedliche Teile, die mal dörflich, mal städtisch seien. Im dörflichen Stadtteil Ohmstede »unter einem dieser Reetdächer« zu wohnen, könne er sich gut vorstellen. Und der Intertext »Build me a cabin In Utah,/Marry me a wife, catch rainbow trout …« (Kür, 261) aus Bob Dylans »Sign on the Window« offenbart, welche Hoffnungen der Protagonist insgeheim mit solch einem Wohnort verbindet. Nach dem unsteten Lebensabschnitt zwischen Zivildienst, Studium und Pendeln durch die Bundesrepublik wünscht sich Martin offenbar einen Ort, den er »Heimat« nennen kann. Einen Ort, der nicht bloß erneut eine Zwischenstation darstellt, um das Studium abzuschließen oder genug Geld zu verdienen, um das Wunschleben als Schriftsteller realisieren zu können. Der Songtext geht im Original wie folgt weiter: »Have a bunch of kids who call me ›Pa‹/That must be what it’s all about«44 . So weit ist der Twentysomething des »Künstlerromans« indes noch nicht, dass er bereit wäre, eine Familie zu gründen. Stattdessen wehrt er jede Annäherung Andreas in Richtung Familienplanung ab; Kinder wolle er selbst nie haben. Es macht Sinn, dass der Intertext auf diese entscheidenden Songzeilen verzichtet. Bereitsein, eine Familie zu gründen, ist letztlich auch eine der Rollenanforderungen der Adoleszenz ebenso wie eine feste Partnerschaft einzugehen. Dazu sind Andrea und Martin erst nach langem Hin und Her bereit. Zunächst führen sie über mehrere Monate eine offene Beziehung und trennen ihre Haushalte. Wenngleich die zwei keine Familie planen, wird Oldenburg für sie die Stadt der ersten gemeinsamen Wohnung, die zugleich auch den Beginn einer festen Partnerschaft einläutet. Sobald Andrea ihr Studium in Aachen beendet hat, zieht sie zu Martin. Auch wenn Martin das Leben im dörflichen Teil der Stadt gefallen würde, entscheidet er sich für eine Stadtwohnung. Die Gründe sind praktischer Natur: »Mit 44

Dylan, Bob: Sign on the Window, 1970, in: Bob Dylan Lyrics 1962-2012, sämtliche Songtexte, Deutsch von Gisbert Haefs, Hamburg 2014, S. 512.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Garten, ja, aber eben auch eine, von der aus man mit dem Fahrrad zur Landesbibliothek oder zum Kino fahren konnte, ohne sich zu übernehmen« (Kür, 286). Er findet eine günstige Hochparterre-Wohnung in der Nardoster Straße 157, was wichtig ist, da das junge Paar, wie Martin selbst weiß, vorerst unterhalb der Armutsgrenze leben werde (Kür, 513). Auch aus diesem Grund malt er sich in seiner Fantasie das Zusammenleben mit Andrea wie das von Philemon und Baucis aus (Kür, 396). Auch wenn sie von den Göttern schließlich keinen Tempel aus Marmor errichtet bekommen und nicht zum gleichen Zeitpunkt sterben, um den Tod des anderen nicht erleben zu müssen, ist es so, dass das Paar trotz wenig Geld häufig Freunde und Verwandte beherbergt. Und auch Möbel und übrige Haushaltsutensilien bekommen die beiden geschenkt, was ihren schmalen Geldbeutel schont. »Gemäß dem physikalischen Gesetz von der Abneigung der Natur gegen leere Räume strömte mir von überallher Inventar für meine Wohnung zu« (Kür, 357). Andrea hat Sorge, im dörflichen Oldenburg isoliert leben zu müssen wie die Frau von Arno Schmidt. Martin führt die Kempowskis als Gegenbeispiel an: »In Nartum leben die urbaner als die meisten Großstadtpflanzen …« (Abr, 166). Sie würden sich das Leben nach Hause holen, was sie schließlich auch praktizieren werden. Auch wenn die Wohnung »nur eine Übergangslösung« (Kür, 491) darstelle, fühlt sich Martin das erste Mal zuhause, wie er auch an seine Großmutter schreibt. »Seit ich zuhause ausgezogen bin, habe ich mich nirgends so wohlgefühlt wie hier!« (Kür, 513) Dass er irgendwann wieder umziehen werde, liege allein an seiner Zuneigung zu Andrea, der er mehr als das bieten müsse, wolle er sie nicht verlieren, wie er sich selbst eingesteht (vgl. Kür, 491). Schließlich hat die Wohnung kein Badezimmer, und man kann sich nur an einem Waschbecken in der Küche waschen. Doch zunächst genießt er das neue, frei gewählte Schriftstellerleben. »Mein erster Wintertag in Oldenburg. Eine dichte Schneedecke hatte sich über den Rasen gelegt, der Wind wirbelte Flocken von den Ästen und Schuppendächern auf, und ich sagte mir: Hier bist du richtig. Das ist dein Zuhause, Schlosser« (Kür, 373). Der Schnee wird hier im Gegensatz zum Matsch im Rinnstein Berlins in seinem reinweißen Zustand beschrieben, so wie Martin ihn mag. Vom Arbeitszimmer aus kann er das Naturschauspiel betrachten, das ihm in der Großstadt so gefehlt hat. Der Schnee und seine Ausprägung werden in der gesamten Chronik als Metapher für Martins Empfindungen eingesetzt. Fühlt er sich in Berlin nicht mehr wohl, wird der Schnee matschig. Verliebt er sich in Andrea, tummeln sie sich in frischem Neuschnee. Bereits die ersten Sätze des »Kindheitsroman« heben auf dieses Naturphänomen und seine Bedeutung ab. Licht ausmachen, Handflächen neben die Augen legen und durchs Fenster schräg nach oben kucken, in den fallenden Schnee: Dann hatte man das Gefühl, man würde fliegen, zwischen den Schneeflocken durch. Das hatte Renate mir beigebracht (Kir, 7).

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Der Erzähler beginnt die Chronik mit seiner prägendsten Kindheitserinnerung, so ist anzunehmen. Eine andere Möglichkeit wäre es, dass er mit der ersten Erinnerung solch ein Werk eröffnet. Doch welche das ist, darüber gibt die Chronik unterschiedliche Auskünfte. In »Kindheitsroman« heißt es: »Meine älteste Erinnerung war die, daß ich beim Ostereiersuchen umgefallen war und geweint hatte« (Kir, 494). In »Abenteuerroman« glaubt Martin, dass das Murmelspiel in Lützel seine älteste Erinnerung sei (vgl. Abr, 279).45 Schnee ist für Martin eng mit seiner Kindheit verbunden und positiv besetzt. Im Roman wird fallender und frischer Schnee beschrieben, wenn sich Martin geborgen respektive wohl fühlt. Mit der Wohnung in Oldenburg hat Martin endlich einen Ort gefunden, den er sein Zuhause nennen kann. Folglich wird sein Elternhaus zur Antithese dessen, was Martin an seiner Oldenburger Wohnung schätzt. Nach einigen Tagen bei seinen Eltern in Meppen, die er vor allem darauf verwenden muss, seinem Vater bei der immerwährenden Renovierung des Hauses zu helfen, ist er erleichtert, als er endlich wieder in Oldenburg ankommt: Ich atmete auf, als ich wieder warm und trocken in der Nardoster Straße saß. Home where my thought’s escaping, Home where my music’s playing … (Kür, 542). Die Refrainzeilen aus dem Lied »Homeward Bound«46 von »Simon & Garfunkel« bekommen im Kontext ihrer Zitation eine andere Bedeutung, als das lyrische Ich im Lied beabsichtigt. Wird im Roman durch den Intertext das Wohlgefühl der Heimkehr unterstrichen, sehnt sich das lyrische Ich des Songtextes nach ebendiesem Gefühl, das er aufgrund seines hektischen Alltags und ohne Ruheort nicht erreichen kann. So heißt es: »I wish I was, Homeward Bound«. Wünschen muss sich Martin diesen Ort, den er Zuhause nennen kann, nun nicht mehr. Das antithetische Verhältnis zwischen elterlicher Wohnung und seiner eigenen in Oldenburg weitet Martin auf die Regionen, in denen die zwei Orte liegen, aus. Zwar befinden sich sowohl Oldenburg als auch Meppen in Niedersachsen, dennoch unterscheidet Martin zwischen Oldenburger Land und Emsland.

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Von einem pedantischen Standpunkt aus gesprochen könnte man die unterschiedlichen Aussagen des autodiegetischen Erzählers über seine älteste Erinnerung als Ungenauigkeit des Autors kritisieren. Mir scheint es jedoch eher ein Hinweis auf die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses zu sein, die hier zum Ausdruck kommt. Entwicklungspsychologisch ist es außerdem schwer möglich seine früheste Erinnerung genau zu bestimmen, schließlich haben Kleinkinder noch kein ausgebildetes Ich-Bewusstsein, sind nicht reflexionsfähig. Um sich an Zeitpunkt und Ort eines Erlebnisses erinnern zu können, es zu lokalisieren und zu datieren, dafür muss ein Verständnis von Raum und Zeit zum Zeitpunkt des Erlebens vorhanden sein. Das Individuum muss sich verorten können und das ist im Kleinkindalter noch nicht möglich. Simon, Paul (1966): Homeward Bound, Columbia Records.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Wenn man von uns aus nach Meppen fuhr, konnte man sehen, wie die schönen Ausläufer des Landes Oldenburg ins hutzelige und bigotte Emsland übergingen. Da wirkten die Käffer alle viel enger, die Häuser trister und die Menschen, sofern man welche auf der Straße sah, irgendwie bräsiger und blutärmer. Als ob sie darauf gefaßt wären, irgendwann in Lathen oder Aschendorfer Obermoor tot überm Zaun zu hängen. ›Jetzt übertreibst du aber‹, sagte Andrea (Arr, 247). Martin nimmt das Emsland anders wahr als Andrea, weil er es mit seiner langweiligen Jugend verbindet. Er glaubt, in dessen Bewohnern die Tristesse und Hoffnungslosigkeit, die er selbst während seiner Jugend verspürte, erkennen zu können. Sie spiegeln die Ödnis der Landschaft des Emslandes wider. Dass es sich um rein subjektive Assoziationen handelt, macht Andreas Aussage deutlich. Sie selbst hat ihre Jugend in keinem der beiden Landkreise verbracht, kann deshalb auch keine Verknüpfungen zwischen ihren eigenen Ortserfahrungen und denen der restlichen Bewohner des Emslandes herstellen. Martin findet einen einzigen »Wermutstropfen«, der ihm die neue Wahlheimat etwas verleidet: »Das Lokalblatt NWZ synonymisierte Oldenburg, weil’s an der Hunte lag, als Huntemetropole« (Kür, 339). Als Bewohner Bielefelds mokierte sich Martin ebenfalls über den Untertitel der Lokalzeitung vor Ort, welcher den Status einer Großstadt hervorhob (vgl. Abr, 403). In seinen Augen war das eine absolut unnötige Auskunft, die nur von Städten ersonnen werden kann, die in Wirklichkeit gar keine Großstadt sind. Das Antonomasie »Huntemetropole« stößt Martin vermutlich aus ähnlichen Gründen auf, genießt doch auch Oldenburg ebensowenig wie Bielefeld nach seiner Auffassung den Status einer Großstadt.

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Die Metropole als Verführerin

Im Roman »Icks« werden zwei Städte als Metropolen klassifiziert: Berlin und New York City. Icks strebt eine wissenschaftliche Karriere an und setzt auf ein Stipendium in New York. Doch der Fall der Mauer und der Zusammenbruch der Sowjetunion haben unmittelbaren Einfluss auf seine persönlichen Zukunftsperspektiven, so stellt Icks es zumindest dar. Statt ihm eine Chance zu geben, seien »Hunderte oder sagen wir Dutzende von unglaublich guten Russen aufgenommen« worden (Is, 63). Sein Forschungsgebiet, das an keiner Stelle näher erläutert wird, ist plötzlich obsolet. Als Begründung halten das Ende des Kalten Krieges und der Zwang des Wettrüstens her, denn »die« glauben, »unser Arbeitsgebiet hinge mit Waffen zusammen« (Is, 74). Icks bezweifelt diese Begründung, will nicht sehen, dass seine Forschung womöglich doch für militärische Zwecke genutzt werden könnte. Dass

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die Forschungsgelder just in dem Moment versiegen, als das Wettrüsten für beendet erklärt wird, schenkt dieser als Ausrede aufgefassten Begründung Plausibilität. Zwischenstopps werden für Icks deshalb Berlin und ein Schreibtisch an der Humboldt-Universität, wo er seine Arbeit abschließen kann. Er ist im sozialen Status des akademischen Prekariats gefangen. Ein unabhängiges Leben, in dem Icks alle sozialen Rollenanforderungen eines Erwachsenen erfüllen kann, wird ihm verwehrt. Der Grund ist die fehlende Zukunftsperspektive in der Wissenschaft, da durch den Fall der Mauer alles durcheinandergebracht worden sei (vgl. Is, 67). Das aus freien Stücken verlängerte Verharren im Bildungsmoratorium und die Entscheidung zu promovieren korrelieren mit den äußeren historischen Ereignissen. Mithin sind es aber nicht allein äußere Faktoren, die Icks’ prekäre Situation erklären. Aus seinen Schilderungen lässt sich ablesen, dass er auch bewusst Angebote abgelehnt hat. Eine alternative Stelle südlich von Chicago für zwei Jahre schlägt er aus ebenso wie eine Anstellung am Max-Planck-Institut in Konstanz. Das provinzielle Amerika lehnt er seiner Lebensgefährtin und der Partnerschaft zuliebe ab, und in die Stadt am Bodensee will er nicht zurückkehren. Dies war sein erster Aufenthaltsort, als er damals aus Bielefeld »floh«, und dort, so erfährt man am Ende des Buches konkreter, wollte Icks sich vermutlich mit Schlaftabletten umbringen.47 Die negative Erfahrung in Konstanz macht Icks wählerischer, was seine Wahlheimat angeht. Nach Konstanz habe ihn ein »dunkles Gefühl« begleitet, und den »Regen im Herzen« habe er immer dabei (Is, 68). Als es dann einige Zeit später doch die Möglichkeit gibt, in New York, konkret in Long Island, zu arbeiten, sei es indes »ein helles Gefühl« gewesen, das ihn bestärkt habe, die Chance zu ergreifen (Is, 69). Die zwei Orte – Konstanz und Long Island (New York) – evozieren unterschiedliche Gefühle und werden so in Opposition zueinander dargestellt. Während das dunkle Gefühl in Konstanz aus seiner Heimat und dem sozialen Umfeld seines Aufwachsens resultiert, wird das helle Gefühl in New York als prospektiv beschrieben. […] und ich wollte mittlerweile das Bessere tatsächlich auch haben, das war das eigentlich wirklich Gute daran: Ich scheute die Arbeit und das Risiko, daß ich mich täuschen würde, daß ich wieder eine falsche Entscheidung treffen würde, nicht. Ich war 30, bejubelte das Risiko und wollte endlich einmal anfangen […] (Is, 69). Icks trifft mit der Entscheidung, nach Long Island zu gehen, das erste Mal eine selbstbestimmte, bewusste Entscheidung, indem er etwas bejaht, statt es zu verneinen und abzulehnen. Er emanzipiert sich von seinen Wurzeln und seiner Vergangenheit, nicht allein weil er weggeht, sondern weil er sein destruktives Verhaltensmuster durchbricht. Das in der Kindheit verwurzelte Gefühl, ungerecht be47

So wurde ihm der Magen ausgepumpt und er musste sich in psychiatrische Behandlung begeben (vgl. Is, 162).

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

handelt zu werden, welches sich im verstärkten Gerechtigkeitsempfinden widerspiegelt, wird mit der Zusage, in die Staaten zu gehen, temporär aufgebrochen. Als er danach aber beim Arbeitsamt seine Situation darstellt, verweist er allein auf die historischen Ereignisse, die Einfluss auf den Arbeitsmarkt und im Speziellen auf seine Branche hätten, und verschweigt, dass er Stellen aus persönlichen Gründen ausgeschlagen habe. »[D]a habe ich mich vielleicht in Rage geredet!« (Is, 73), erinnert sich Icks. Er tritt aus dem Schatten seiner Eltern, welcher als »dunkles Gefühl« wahrgenommen wird, in die »helle« und offene Zukunft, die schon lange vor ihm liegt und die er erst mit 30 Jahren wagt zu beschreiten. Und obwohl er New York »dummerweise im Winter« erlebt, genießt er die Zeit. Seine Freundin ist derweil auf der anderen Seite der Welt in der sonnigen »Ödnis« Australiens unterwegs, »wo sie mich natürlich betrog« (Is, 69), wie Icks lakonisch bemerkt. Er revanchiert sich seinerseits mit einem Seitensprung in New York, statt die psychischen Belastungen eines Beziehungsendes zuzulassen. Die Beschreibung Australiens und des Fremdgehens seiner Freundin sind von Sarkasmus geprägt. Die rhetorische Frage nach anderen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten in Australien entbehren nicht einer gewissen Komik, denkt man an das Stereotyp der sportenthusiastischen Australier, die sich selbst in der Mittagspause zum Wellenreiten ins Meer begeben. Dass seine Freundin ihn ausgerechnet in Australien betrügt, offenbart letztlich die Brüchigkeit und das dünne Fundament der Beziehung. In New York, so erinnert sich Icks, »fühlte [ich] mich beschützt und wurde auch sofort bedroht« (Is, 70). Zwei gegensätzliche Empfindungen bzw. Erfahrungen, die er sogleich mit zwei unterschiedlichen sozialen Rollen verknüpft: »ich konnte dort gleichzeitig Mann und Kind sein« (Is, 70). Er begreift den Aufenthalt als »eine Pause«, in der er bei sich sein könne. Die Beschreibung seines Zustands ist die eines Postadoleszenten. Die Stadt am Hudson River fungiert für ihn als Rettungsinsel: »Gott, das war wirklich wie nach einem langen sehnsüchtigen Schwimmen einmal ans Land zu kriechen« (Is, 70). Und weiter, Assoziation mit dem »Regenloch Heimat« weckend: »wie aus jahrelangem Regen kommend sich einmal in einen Hauseingang zu stellen und die Jacke so ein bißchen abzuschlagen, den nassen Kragen wegzufalten und mit vorgeducktem Kopf einen prüfenden Blick am Mauervorsprung vorbei in den Himmel zu werfen, was da noch kommen mag« (Is, 70). In einem Interview äußert sich der Autor Ralf Bönt passend dazu über die Metropole: New York ist der Ort, zu dem der Berlin-Tourist unterwegs ist. Der – vom Nürnberger Stadtrand aus betrachtet – das alles ganz toll findet. Es ist der nächste Ort nach Berlin, sobald man weiß, welche Bars gerade angesagt sind, und an den Punkt kommt, wo man merkt, dass man sich in Berlin doch nicht richtig niederlassen kann und nicht richtig zuhause ist. Das dauert, glaube ich, drei, vier, fünf Jahre.

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Von da aus gibt es eigentlich nur noch einen Fluchtort, als Küste für alle Schwimmer ohne Schwimmweste.48 Diese Sichtweise auf die zwei Städte hat Bönt auch seiner Figur Icks eingeschrieben. Dass das Zitat mit Begriffen aus demselben Repertoire der maritimen Beschreibungssprache operiert, vervollständigt zugleich das Bild von New York als einer Metropole, die als Subsemiosphäre verhandelt wird. Während Westberlin aus der innerdeutschen Perspektive als Vorstufe umschrieben wird, bewegt sich New York als Melting Pot an der US-amerikanischen Ostküste in interkulturellen Dimensionen. Schon der Weg dorthin, der mehrstündige Flug über den Atlantik, zeugt von der herausstechenden Lage New Yorks, zumindest aus europäischer Perspektive betrachtet.49 Die geographische Position der Metropole lässt sich mit Jurij Lotmans Verständnis einer Subsemiosphäre, die im Randbereich der Semiosphäre und als Ort diverser Übersetzungs- bzw. Transformationsprozesse existiere, zusammenführen. Auch Icks befindet sich im Stadium der Postadoleszenz in solch einem Prozess, den er aber beim ersten New-York-Besuch noch nicht endgültig abschließen kann. Erst der transatlantische Flug, der als Rahmenhandlung und Erzählsituation des Romans fungiert, schließt die von Icks selbst als »Dickicht im Kopf« beschriebene Phase des Übergangs ab. Im Flugzeug über dem Meer, zwischen zwei Kontinenten, zwischen zwei Metropolen wechselnd (von Frankfurt a.M. nach New York), kann er die zurückliegenden Tage, den Besuch bei seinen Eltern, die abgebrochene Wissenschaftskarriere, sein ganzes bisheriges Leben Revue passieren lassen. Die Wahl der Erzählperspektive ist sicherlich kein Zufall und trägt starke Züge einer psychoanalytischen Sitzung. Der Gesprächspartner, der im Grunde nur in Form von in eckigen Klammern eingeschobenen Bemerkungen, die an Nebentexte eines Dramas erinnern, zu Wort kommt, ist quasi stumm. Der Roman besteht, betrachtet man die Syntax und die Gedankensprünge, aus einem Bewusstseinsbericht, der eventuell gar nicht gegenüber dem Sitznachbarn artikuliert wird, sondern ebenso gut im Kopf der Hauptfigur stattfinden könnte. So vertritt Rezensent Ingo Arend im »Freitag« die Ansicht, dass der stumme Sitznachbar »nur

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Ralf Bönt im Interview mit Julia Schöll: Nichts ist frustrierender als Pornographie. Ralf Bönt über seine Romane »Icks« und »Gold« und sein Verhältnis zu Metropolen. In: literaturkritik.de, Nr. 12, Dezember 2000, online: https://literaturkritik.de/id/3161 [Stand: 21.11.2018]. Umgekehrt lässt sich freilich beobachten, wie US-Amerikaner Berlin für sich entdecken und als Zufluchtsort und Gegenpol zum Altbekannten begreifen. Man denke an die ultraorthodox aufgewachsene Jüdin Deborah Feldman aus New York, die mittlerweile mit ihrem Sohn in Neukölln lebt – »Hier habe ich das Gefühl, dass wirklich alles möglich ist« – erklärt sie in einem Zeitungsinterview [Online: https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/in-be rlin-ist-alles-moeglich/], oder auch an Künstler wie David Bowie und Bruce Springsteen, die sich vom besonderen Flair der damals noch geteilten Stadt inspirieren ließen.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

das erweiterte, einsame Icks-Ich« sei. Das »Spalt-Ich« werde allein durch seine eigenen »Regieanweisungen« unterbrochen.50 Mit New York hat Icks eine Stadt ausgewählt, die zu seiner aktuellen Lebenssituation passt, ihn weder betrübt noch einengt. Nach und nach beginnt er, New York für sich zu entdecken. Konsumiert er zunächst nur passiv über den Fernseher in der Cafeteria den amerikanischen Lebensstil, nutzt er bald ein Auto, um aktiv die allzeit geöffneten Shopping Malls in der Peripherie zu besuchen, am Wochenende mit der Bahn in die Stadt zu fahren und die Nächte in der Metropole zu verbringen. Er taucht in das Großstadtleben ein, das sich ihm bietet. Aus der neu gewonnenen Perspektive blickt Icks das erste Mal auf sein Leben, reflektiert und überlegt, was er eigentlich mit seinem Leben anfangen wolle. Um jeden Preis »normal« zu sein, ist schon während der Wartezeit auf das Stipendium sein Wunsch, mit »einem normalen Leben«, »normalen Freunden«, »einer normalen Geliebten mit normalem Sexualleben« und einer »normalen Wohnung«. Nur an die »normalen Folgen eines solchen Lebens« habe er nicht gedacht (Is, 66). Das Adjektiv gebraucht Icks, um den Zustand des Erwachsenseins als Normalzustand zu kennzeichnen. Der Schwebezustand des Nicht-mehrKindseins und des Noch-nicht-Erwachsenseins, der vor allem seiner prekären Karrieresituation geschuldet ist, lässt ihn in Städten wie Konstanz vereinsamen, in Berlin und New York stattdessen aufblühen.51 In den Metropolen kann er seine Lebenssituation als »Pause« akzeptieren. New York sei, so gesteht er gleich zu Anfang des Monologs seinem Sitznachbarn, ein Mythos für ihn, und eigentlich müsse man zu der Stadt »sie« (Is, 44) sagen. Selbst nachdem er die Stadt bei seinem Stipendien-Aufenthalt in Long Island kennengelernt hatte, bleibt sie für ihn weiterhin mythisch. Dass er New York feminisiert, passt zur Assoziation, die Provinz mit dem mütterlichen Schoß, den Auszug in die Fremde und die Sehnsucht nach Abenteuern in Metropolen mit männlichen Attributen zu verknüpfen. Die Feminisierung der Metropole geht auf den etymologischen Ursprung des Begriffs zurück. Das altgriechische Wort »Metropolis« heißt so viel wie Mutterstadt und bezeichnete in der Antike wichtige Zentren, von denen aus Kolonien expandierten.52 New York ist eine Metropole, die als Kolonie von europäischen Siedler gegründet worden war. Später wurde sie dann, im Zuge der Expansion nach Westen, zum Ausgangspunkt der Landeroberer und somit 50 51

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Arend, Ingo: Generation dazwischen, Der Freitag, 26.03.1999, online: https://www.freitag.de /autoren/der-freitag/generation-dazwischen [Stand: 08.01.2019]. »Eine Ansammlung dunkler Ahnungen muß ich demzufolge gewesen sein, und als ich während der Promotion in Konstanz dann tatsächlich unglücklich war – also so richtig unglücklich war ich, ich weiß nicht, ob du das kennst –, da habe ich eben dunkel geahnt, daß New York was für mich wäre oder Berlin« (Is, 68f.). Vgl. Mieg, Harald A. (2012): Metropolen: Begriff und Wandel, S. 11-33. Der Aufsatz bietet einen geschichtlichen Abriss über die Entwicklung des Begriffs bis in die Gegenwart.

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Topographien der Adoleszenz

zur Mutterstadt der USA. Die Freiheitsstatue, die die römische Göttin Libertas verkörpert, gilt, seit sie den Amerikanern als Geschenk der Brudernation Frankreich überreicht worden ist, als das Wahrzeichen der Stadt und ist das personifizierte New York. In ihr bilden sich die Normen und Werte ab, auf deren Fundament die Vereinigten Staaten von Amerika stehen. Generationen von Einwanderern sahen über den Schiffsweg kommend das imposante Monument, errichtet auf Liberty Island, und verbinden es mit New York als Zentrum und Ausgangsbasis der Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die die vergleichsweise junge Nation prägen. Dass sich Icks in New York sowohl als Kind wie auch als Mann fühlen kann, offenbart die Raumsemantik der Metropole. Er erlebt sie als beschützende Mutter und gleichzeitig als bedrohlich wirkende, emanzipierte und dennoch anziehende Frau, ganz im Sinne der eroberungswilligen Stadt, wie sie Sigrid Weigel beschreibt. Berlin wird letztlich seine Wahlheimat, weil sich die Zukunftspläne in New York nicht umsetzen lassen. Von seiner Freundin getrennt, lebt er fortan alleine in der verhassten Berliner Wohnung und beginnt, abends Theatervorstellungen zu besuchen. »[…] das Theater ist wirklich ein schöner Ort, reeller als der Tag, finde ich oft« (Is, 91). Es nimmt nicht wunder, dass Icks ausgerechnet in der Theaterwelt einen Platz findet, der ihn sowohl beruflich als auch privat befriedigt. Er wolle »umschulen« und Regisseur werden. Die Frau seines zukünftigen Sohnes ist Mitglied der Theaterkompanie. Dass er sich dieser Branche mit allen Facetten seines Lebens zuwendet, ist Ausdruck seiner Rebellion gegen sein Elternhaus. Sein unbedingtes Ziel, »normal« zu werden (Is, 79) beziehungsweise als erwachsener Mann alle Rollenanforderungen zu erfüllen, erreicht er erst mit Barbara. Icks spürt die sich vollziehenden Umbrüche in seinem Leben ausgerechnet an einem warmen Sommertag auf dem Weg zum Wandlitzsee über die Oberbaumbrücke gehend. Dass es eine Brücke ist, die als topographisches Gebilde für Liminalität schlechthin zum Ort des Auftakts zur Entscheidung über die Richtung der Partnerschaft wird, macht die Szene zu einem zentralen Moment des Textes. Er fühlt sich »morgens schon komplett besoffen« (Is, 123) vor Verliebtheit und macht Barbara auf der Oberbaumbrücke ein Kompliment, indem er sagt, dass sie eigentlich überhaupt keine Fehler habe. Anders als erwartet, reagiert sie beleidigt und wirft ihm »Fatalismus vor« (Is, 124). Er beginnt über sein Kompliment nachzudenken und findet schließlich etliche Fehler, die er Barbara auch gleich nennt. Am nächsten Morgen begrüßt er sie gar mit »hallo Fehler« (Is, 127). Als Fehler fühle sie sich schon viel wohler, meint sie, und was ein Kind mit ihr mache, wisse sie doch nicht. Durch diese Aussage wird Icks der »alles entscheidende Unterschied« bewusst (Is, 128). Während Barbara ein klares Bild von sich hat und dementsprechend lebt und handelt, muss Icks sein Bewusstsein erst noch erlangen, wie er es scherzhaft auch bei Vorstellungsgesprä-

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

chen immer beschreibt (vgl. Is, 11).53 Icks, der sich selbst als »von Grund auf falsch« (Is, 49) begreift, gründet eine Familie mit einer Frau, die sich als Fehler wohlfühlt. Barbara wird im Text als Figur dargestellt, die entwicklungspsychologisch reifer als Icks ist. Sie ist es, die Icks den Weg der Selbsterkenntnis aufzeigen kann. Allein durch ihr Handeln bietet sie Icks Möglichkeiten an, das Abbild abzustreifen und zu einem Selbstbild und Selbstbewusstsein zu gelangen. Das Ziel, ein normales Leben zu führen, wird hier konkretisiert und meint eben nicht das Abbild des bürgerlichen Lebens seiner Eltern, sondern das der Künstler in Berlin. Es sind im Grunde nicht sie, die Theatermenschen, sondern Menschen wie Icks’ Eltern, die sich in einer inszenierten Welt eingerichtet haben. Die Handlungsräume und deren semantische Codierung werden umgekehrt: Das »real« und »normal« scheinende bürgerliche Leben in Bielefeld ist Inszenierung, das künstliche Künstlerleben in Berlin stattdessen ist aus Icks’ Perspektive das wahrhaftigere. Im Text gibt es jedoch auch Hinweise auf eine verklärte Sicht des Familienvaters, und zum Ende des Telefonats mit Barbara treten erste Brüche zu Tage, die – frei nach Adornos »es gibt kein richtiges Leben im falschen«54 – auf ein mögliches Scheitern der Beziehung hinweisen. Sie wünsche sich ein Haus mit mehr Platz, habe gehört, dass in Berlin bald wieder gebaut werde und man sich beteiligen könne und solch ein Bauprojekt auch für sie erschwinglich werden könne (vgl. Is, 169). Wird Icks doch noch zum Hausbauer? Damit würde er sich seinen größten Ängsten stellen und zugleich in die Fußstapfen seines Vaters treten und so auch einen Lebensweg beschreiten, der dem seiner Eltern entsprechen könnte. Bauen würden sie im Nachwende-Berlin, einer Stadt, in der nach der Wiedervereinigung eine regelrechte Baueuphorie entstand, die die Topographie der Stadt bis heute maßgeblich verändert.55 Das Paar würde zur Veränderung der architektonischen

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Der immer wieder ähnlich ablaufende Dialog in Vorstellungsgesprächen kann als weiteres gesetztes Kreuz gelesen werden, das das Dickicht in Icks’ Kopf anwachsen lässt. Potenziellen Arbeitgebern erzählt Icks immer, er sei, noch bevor er Bewusstsein erlangt habe, nach Bielefeld »verfrachtet« worden. Unweigerlich müssten die Personaler dann immer fragen, ob er es denn mittlerweile erlangt habe. »Man lachte. Und meine Antwort war auch immer dieselbe: Es geht so« (Is, 11). Adorno, Theodor W. (2003): Asyl für Obdachlose, in: derselbe: Minima Moralia, S. 43. Durch politische Einflusskraft wurden Zeugnisse der DDR-Vergangenheit aus dem architektonischen Bewusstsein der Stadt getilgt zugunsten einer Rekonstruktion der vermeintlichen Blütezeit Berlins. Die Rede ist hier freilich von dem Abriss des Palastes der Republik, den die DDR-Spitze anstelle des Berliner Stadtschlosses bauen ließ. Im Zweiten Weltkrieg wurde das von den Hohenzollern errichtete Gebäude zerstört, die DDR-Diktatur entschied sich für einen Abriss. Das asbestverseuchte Gebäude aus den 1970er-Jahren wurde wiederum im wiedervereinigten Deutschland zugunsten eines Neubaus des Stadtschlosses abgerissen, welches nun das Humboldtforum beherbergt. Nicht allein an diesem Beispiel zeigt sich die erinnerungspolitisch motivierte Einflussnahme auf das Nationengedächtnis, das eine zentrale Stadt wie

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Topographien der Adoleszenz

Landschaft der Stadt beitragen, Vergangenheit auslöschen – denn es ist anzunehmen, dass alte Gebäude für Neubauten weichen müssen – und gleichzeitig etwas Neues schaffen. Es bleibt also die Frage, was ausgelöscht und was neu gebaut wird, doch darauf gibt der Text keine Antwort. Die abschließende Entwicklung der Figur Icks und verbunden damit der Fortgang der Partnerschaft werden im Text offen gehalten.

3.5

Zwischenfazit

Dass Metropolen als Ziel der Abenteuersehnsucht männlicher Adoleszenter fungieren, ist in allen Texten des Korpus virulent. Sie deshalb unter das Label »Metropolenliteratur« zu rubrizieren, birgt jedoch keinen Erkenntnisgewinn. Als »Berlinroman«, wie ihn Schirrmacher forderte, lassen sich lediglich Sven Regeners »Herr Lehmann« und »Der kleine Bruder« bezeichnen. So ordnet auch Ledanff beide Texte der Kategorie von »Atlantis Westberlin« zu, womit sie Texte bezeichnet, welche den »Westberliner Inselmythos als nostalgisches Erinnerungsobjekt«56 verarbeiten. Die Untersuchung des vorliegenden Textkorpus zeigt jedoch, dass Westberlin nur einen von vielen Sehnsuchtsorten darstellt, den es zu erobern gilt. Berlin hat zur erzählten Zeit einen besonderen Status aufgrund seiner außerordentlichen geopolitischen Lage als Mauerstadt inmitten der DDR; die Stadt selbst ist ein liminaler Ort, wie geschaffen für Individuen im liminalen Status der (Post-)Adoleszenz. Aber auch Hamburg (»Dorfpunks«, »Abenteuerroman«) und Bremens Ostertorviertel (»Neue Vahr Süd«) sind Städte bzw. Stadtteile in Westdeutschland, die von den Protagonisten zu Orten des Übergangs gemacht werden. Berlin ist lediglich eine von vielen Metropolen, weshalb ein »Metropolenroman« nicht zwangsläufig in Berlin spielen muss. Aber: Der Topos Berlin geht weit über die jüngste Vergangenheit der geteilten Stadt hinaus. Die Stadt ist so gelesen eine Metropole im Sinne der Wortherkunft. Der nach der Begriffsgeschichte des altgriechischen Wortes Metropolis weiblich gegenderte Aspekt als nährende Mutterstadt, von der aus die Kolonien in der Fremde entstehen und expandieren können, klingt vor allem in Bönts Text an. Allerdings verbindet Icks zwei disparat erscheinende Eindrücke mit einer Metropole: er fühlt sich beschützt, aber auch bedroht. Die für ihn weibliche Stadt New York ist sowohl behütende Mutter als auch bedrohliche Verführerin. Dass New York die nächste Metropole nach Berlin sei, wie Bönt bemerkt, wird auch in Regeners »Der kleine Bruder« literarisch verarbeitet. Dieses literarische Motiv demonstriert die Bewegungsdynamik der Semiosphäre.

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Berlin zu einem Palimpsest werden lässt. [Hierzu: Flamm, Stefanie (2001): Der Palast der Republik, S. 667-684]. Ledanff, Susanne (2009): Hauptstadtphantasien, S. 617.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

Roddy Dangerblood spricht von Berlin als »alte Hure mit Herz« (Dp, 106) und gendert sie so ebenfalls weiblich, jedoch als ehemalige, weil alte Verführerin. Das Attribut der Herzlichkeit unterstreicht die mütterliche Seite der Stadt. Zugleich ist der Zuschreibung aber auch das Motiv des flüchtigen Besuchs und baldigen Fortgehens inhärent. Das Ermächtigungsmoment steht hier im Fokus und symbolisiert die hegemoniale Macht der Abenteurer und Stadteroberer, die sich den Raum gefügig machen. Es ist primär Sigrid Weigels Verdienst, die literarische Imagination der Stadt als Verführerin, Mutter und Zufluchtsort herausgearbeitet zu haben. Sie stützt ihre These mit literarischen Zeugnissen aus der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts, die unisono Berlin als prototypische Stadt heranziehen.57 Auch in den Ausführungen Karl Schefflers zur Stadtgeschichte Berlins58 wird das Bild der Kolonialstadt bedient. Wenngleich seine Polemik heute gemeinhin in Zusammenhang mit dem Schlusssatz, Berlin sei dazu verdammt, »immerfort zu werden, aber niemals zu sein«59 , in Verbindung gebracht wird, lohnt doch vor allem ein Blick auf Schefflers Argumentationsgang, welcher ihn zu dieser These führt. Denn in seinem Berlinbild finden sich Imaginationen, die auch hundert Jahre später noch in literarischen Texten bedient werden. Berlin liege »an der östlichen Peripherie der deutschen Kulturzone. Auf den gegen Morgen führenden Landstraßen vor den Toren dieser Grenzstadt beginnt gleich der Osten. […] Berlin ist ein vorgeschobener Punkt, gerade noch westlich genug gelegen, um nicht abgeschnitten zu sein […]«60 . Auch zur erzählten Zeit des Textkorpus liegt Berlin an der Grenze zum Osten, ist jedoch umrahmt von der DDR, daher abgeschnitten und einer Insel gleich. An anderer Stelle meint Scheffler, Berlin mit Metropolen neu entdeckter Kontinente vergleichen und sie in Opposition zu anderen Hauptstädten Europas setzen zu können. Denn diese seien im Gegensatz zur deutschen Hauptstadt immer schon im natürlichen Zentrum des Landes gewesen und organisch gewachsen. »Berlin ist buchstäblich geworden wie eine Kolonialstadt, wie im neunzehnten Jahrhundert die amerikanischen und australischen Städte tief im Busch entstanden sind.«61 Der Expansions- und Eroberungswille der adoleszenten Romanfiguren und deren Bewegungsdynamik spiegeln sich in Schefflers These wider, Berlin und Städte Amerikas seien Kolonialstädte. Scheffler spricht sogar explizit davon, dass Berlin als Kolonialstadt immer weiblich bleiben werde: […] sicher ist, daß Berlin nicht eine primäre Stadtkultur schaffen kann, solange es eine Kolonialstadt ist; und ebenso ist es gewiß, daß Berlin nur stark und mächtig 57 58 59 60 61

Vgl. Weigel, Sigrid (1990): Topographie der Geschlechter, Kapitel zwei: »Die Städte sind weiblich und nur dem Sieger hold«, vor allem S. 149-152. Scheffler, Karl (1910): Berlin – Ein Stadtschicksal. Ebenda, S. 267. Ebenda, S. 12. Scheffler, Karl (1910): Berlin – Ein Stadtschicksal, S. 17.

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Topographien der Adoleszenz

sein kann, solange es eben eine Kolonialstadt ist. […] Und weil es so ist, wird Berlin seinen Einwohnern niemals im höchsten Sinne eine Vaterstadt, eine Heimat sein.62 Indem er der Stadt Berlin abspricht, je eine Stadtkultur zu entwickeln, verweigert er der Stadt, auf das Niveau anderer europäischer Hauptstädte zu gelangen und zur Vaterstadt zu werden. Der höchste Entwicklungszustand ist demnach eine männlich gegenderte Stadt, die im Gegensatz zum wilden, natürlichen, weiblichen Bild der Kolonialstadt steht. Heimat könne Berlin deshalb nie sein – eine Zuschreibung, die sich auch in den Texten des Textkorpus erkennen lässt. Berlin ist stets nur das Ziel von Erorberungen und wird von den Protagonisten meist nur kurz besucht. Andere europäische Hauptstädte werden in den Texten indes nie zum Sehnsuchtsort erhoben; auch hier tradiert sich das von Scheffler beschriebene Bild fort. Die vielzitierte Sentenz Schefflers und seine verborgenen Imaginationen zur Stadt Berlin sind ihr seit jeher eingeschrieben. Mit Blick auf die Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts lesen sie sich zugleich wie eine Zukunftsprognose. Die Dynamik der Stadt nehmen die Protagonisten unterschiedlich wahr. Die Raumsemantik Westberlins ändert sich in »Icks« und »Herr Lehmann« durch die Wiedervereinigung. Während Icks die Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion deutlich zu spüren glaubt, wird die Wiedervereinigung in »Dorfpunks« nicht thematisiert. Für Martin Schlosser fällt der Fall der Mauer mit dem privaten Schicksalsschlag, dem Tod seiner Mutter, zusammen. Deshalb nimmt er das historische Ereignis vorerst, obwohl er ein politisch interessierter Mensch ist, nur peripher über Fernsehen und Printmedien wahr. Frank Lehmann spürt die sich anbahnenden Veränderungen indes nur, kann sie aber nicht einordnen. Im Text werden die politischen Geschehnisse nur angedeutet. Die Brüche kulminieren am 9. November 1989 in der Verdichtung der privaten und historischen Ereignisse. Die von Doris Bachmann-Medick für das 20. und 21. Jahrhundert identifizierten »Raumturbulenzen«, die durch Globalisierungsprozesse, interkulturelle Herausforderungen und Katastrophenrisiken entstünden, werden in den Texten ebenfalls sichtbar. Das »Trudeln und Schwanken des Subjekts« als Symptom der Verunsicherung angesichts der Veränderung63 wird beispielsweise in der Szene deutlich, als Frank Lehmann in die DDR einreisen will und die Orientierung im Grenzbereich unter der Erde verliert. Ebenso zeugen Icks’ Perspektivlosigkeit und sein Selbstmordversuch von der Verunsicherung des Subjekts genauso wie Karls Nervenzusammenbruch.

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Ebenda, S. 265. Bachmann-Medick, Doris (2009): Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze: Bewegungshorizonte und Subjektverortung in literarischen Beispielen, S. 257-279, Zitate: S. 260.

3. Aufbruch: Von der Provinz in die Metropole – Aneignung der Stadt

»Dorfpunks« sowie »Herr Lehmann« und »Der kleine Bruder« beschreiben Westberlin als Zentrum der Subsemiosphäre des Punk und schildern dessen Untergang. Aus der Perspektive des 15-jährigen Protagonisten Roddy Dangerblood ist Berlin das Äquivalent zur britischen Geburtsstadt des Punk, London, und somit ein Sehnsuchtsort. Obwohl die erzählte Zeit von »Dorfpunks« und »Der kleine Bruder« beinahe identisch ist – 1981 bzw. November 1980 –, sind die Beschreibungen vollkommen unterschiedlich. Der Grund liegt zum einen in der Figurenperspektive – es wird aus der internen fixierten Mitsicht Franks erzählt, der zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt ist –, zum anderen daran, dass Frank immer nur Beobachter ist und nie Teil der Subkultur. Der autodiegetische Erzähler von »Dorfpunks« hingegen beschreibt seine Punkwerdung. Als Tourist, der seinen Sehnsuchtsort besucht, nimmt er die Erlebnisse anders wahr als Frank, der die neuen Eindrücke von Kreuzberg unbeeinflusst auf sich wirken lässt. Diese unterschiedlichen Perspektiven auf »das« Kreuzberg der 1980er-Jahre offenbaren das Raumwissen und die Mechanismen, die Kreuzberg letztlich zu einem Sehnsuchtsort werden lassen. Erst die Beobachter- und die Erlebnisperspektive ergeben ein Gesamtbild, das Kreuzberg am Rand der Semiosphäre verortet. An der Grenze sind deren Bewohner – die letztlich Kreuzberg zu einem Grenzort machen – geprägt von neuen Einflüssen anderer Kulturen. Hier ist der Ort für neue Lebensweisen, andere Musik, neue Formen des Wohnens und Arbeitens. Schon in »Der kleine Bruder« werden erste Adaptionen der Punksubkultur und deren Vermarktung erkennbar. Neun Jahre später, in »Herr Lehmann«, spielt der Punk gar keine Rolle mehr und ist abgelöst worden durch eine diffuse, unbenannte neue Subkultur. Dass es sich um die Techno und Rave Culture handelt, ist den Lesern bewusst, dies bleibt aber eine Leerstelle im Text.64 Dass die Trilogie mit dem Fall der Mauer beendet wird, kann allegorisch gedeutet werden. Die Mauer, die Kreuzberg 36 umgab, fällt weg. Berlin ist plötzlich wieder in der Mitte Deutschlands und deshalb kein Sehnsuchtsort für Jugendliche, kein Zentrum der Subsemiosphäre, welches neue Impulse in das Zentrum bringt. Der Mythos Kreuzberg findet dort sein Ende, wo auch die Geschichte ihr (vermeintliches) Ende findet.65 Im Textkorpus werden zwei unterschiedliche Motive für die Raumaneignung Berlins verhandelt. Die Stadt ist ein Sehnsuchtsort für Jugendliche, die zum einen Teil einer Subkultur sein wollen und deshalb in deren vermeintliches Zentrum reisen, zum anderen wollen sie die Touristenorte in Berlin bereisen (MartinSchlosser-Chronik). Der Raum wird durch die Figuren mit Bedeutung aufgeladen.

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In »Magical Mystery oder: die Rückkehr des Karl Schmidt« (Köln 2013) wird die Techno- und Rave-Kultur zum Thema gemacht. Rekurriert wird hier sowohl auf das Ende der Trilogie als auch auf das von Francis Fukuyama postulierte »Ende der Geschichte«. Vgl. Fukuyama, Francis (1992): Das Ende der Geschichte.

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Topographien der Adoleszenz

Das lässt sich daran erkennen, dass die Figuren Großstädte unterschiedlich erleben. Obwohl die Protagonisten alle in den 1980er-Jahren Westberlin besuchen, nehmen sie die Stadt unterschiedlich wahr. Figuren, die der Subkultur der Punks angehören, wie die Clique um Roddy Dangerblood und Wolli aus der Lehmann-Trilogie, haben die gleichen Stereotype über begehbare, angesagte und nicht begehbare Touristenorte verinnerlicht. Frank Lehmann versteht diese Mental Map der Punks erst, als er längere Zeit in Berlin lebt. Martin Schlosser und sein Begleiter Hermann kennen die Plätze der Punks ebenfalls, machen sich aber über die Lebenseinstellung der Punks lustig. Während Berlin aus der Ferne immer zum Sehnsuchtsort verklärt wird, betrachten die Protagonisten Berlin aus der Nähe doch unterschiedlich. Als Mitglied der Punksubkultur sind für Roddy Dangerblood in der geteilten Stadt andere Orte von Interesse als etwa für Martin Schlosser. Die Beschreibungen ihrer ersten Berlinaufenthalte können komplementär zueinander gelesen werden. Während in »Dorfpunks« Szenetreffs positiv semantisch aufgeladen werden, sind es bei Martin Schlosser die gängigen Touristenorte, die die Jugendlichen besuchen. Berlin stellt für die meisten Figuren des Textkorpus eine Enttäuschung dar. Sie fahren in der Regel mit Erwartungen an eine aufregende, andersartige Stadt dorthin und kehren nach einigen Tagen wieder zurück ins Heimische. Frank Lehmanns Reaktion weicht davon ab. Er fährt ohne Erwartungen an die Stadt nach Westberlin. Er will nur seinen Bruder wiedersehen, und als er ihn gefunden und die unbekannte Gegend kennengelernt hat, beschließt er, dort zu bleiben. Das Lehmann’sche Traumzitat, alle Punks seien Touristen, lässt sich auch auf »Dorfpunks« anwenden. Werden Punks doch auch dort als Berlinbesucher dargestellt. In der Martin-Schlosser-Chronik indes werden Punks als Teil Berlins identifiziert. Das erzählte Berlin wird im Textkorpus zu einem Sehnsuchtsort erklärt, der dichotom zum Heimatort steht. Der Wechsel vom bekannten Heimatraum ins fremde Berlin wird in den Texten als Passieren einer topographischen Grenze markiert, die als wichtige autonome Handlung und Auszug aus dem elterlichen Schoß in die Freiheit semantisiert wird. Die Faktoren Class und Gender spielen bei der topographischen Darstellung und den Raumpraktiken eine entscheidende Rolle. Berlin als Abweichungsheterotopie und Ort für Anhänger neuer Subkulturen bleibt denen vorbehalten, die bereit sind, Mitglied dieser Subkultur zu sein. Daran scheitern sowohl Wolli (»Neue Vahr Süd«) als auch letztlich Roddy Dangerblood (»Dorfpunks«). Martin Schlosser ist ebenfalls nie Teil einer Subkultur in Berlin, interessiert sich nicht sonderlich für das Nachtleben oder die »In-Stadtteile« wie Kreuzberg. Auch Karl scheitert, als er versucht, die neu aufkommenden Praktiken und Rituale der Techno-Bewegung mitzutragen. Lediglich Sylvio verweilt in der Subkultur , obwohl er älter als die anderen Figuren ist. Der Unterschied liegt in seiner Herkunft – er stammt aus der DDR – und seiner sexuellen Orientierung. Er ist Mitglied einer anderen Subkultur, besucht andere Szenekneipen; die Subsemiosphäre, in der er agiert, ist somit eine andere, die andere Ein- und Ausschließungen produziert.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

Im folgenden Abschnitt liegt der Untersuchungsfokus auf der Darstellung von Erinnerung. Die Protagonisten aller Texte werden auf unterschiedliche Weise mit den Erfahrungen und Erlebnissen ihrer Kindheit und Jugend konfrontiert, die eng mit ihrem Herkunftsort und den Eltern verknüpft sind. Zum einen wird die Darstellung der Erinnerungsorte vorgestellt und zum anderen der Einfluss der Rückkehr zu den Stätten der Kindheit auf die Protagonisten. Während Frank Lehmann den Vorort Neue Vahr Süd als beengt wahrnimmt und Roddy Dangerblood aus der Provinz fliehen will (4.1), spielen in Henschels Chronik auch Sehnsuchtsorte der Kindheit eine wichtige Rolle für die Identitätsausbildung des Protagonisten (4.2). Icks hingegen kehrt als Thirty-Something zurück zu den Orten des Aufwachsens. Der gesamte Text reflektiert diesen Tag der Rückkehr nach fast zehn Jahren des Fernbleibens (4.3).

4.1

Heimat, das ist die Provinz

Die Texte »Dorfpunks« und »Neue Vahr Süd« sind chronologisch erzählt. Die Erzählperspektive in »Dorfpunks« operiert mit einzelnen Ana- und Prolepsen. Der autodiegetische Erzähler kommentiert die Kindheits- und Jugenderinnerungen und zieht sporadisch Schlüsse zu seinem Gegenwarts-Ich. Die Lehmann-Trilogie hingegen bleibt immer im Modus der internen fixierten Fokalisierung, sodass Reflexionen aus der Perspektive eines älteren Erzähler-Ichs nicht vorkommen.

Schmalenstedt Für den autodiegetischen Erzähler Roddy Dangerblood bzw. Rocko Schamoni besteht sein Leben aus zwei Teilen: »Aus meiner Kindheit und dem Rest« (Dp, 7). Wie er zum Punk wurde und damit der »Rest« seines Lebens beginnt, der sich klar von seiner Kindheit und damit seinem bürgerlichen Namen abgrenzt, ist der Inhalt des Textes. Werde er mit seinem bürgerlichen Namen angesprochen, was ihm bei Behördengängen passiere, seien das für ihn »Wurmlöcher durch die Zeit« (Dp, 7).

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Topographien der Adoleszenz

Der ihm von seinen Eltern gegebene Name ist ein Erinnerungsraum, der ihn in seine Kindheit transportiert und zu seinem alten Kindheits-Ich zurückführt. Der Erzähler zieht als Kind mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder in ein »Dorf mit vielleicht dreihundert Einwohnern […] und sieben aktive[n] Bauernhöfe[n]« (Dp, 9). Hinter dem fiktiven Ort »Schmalenstedt« steckt der Geburtsort des Autors, Lütjenburg in Schleswig-Holstein. Der Ort selbst hat rund 5000 Einwohner. So wird das Dorf, der Vorort der Stadt, als ein Außenbereich der Peripherie markiert. Der Erzähler berichtet über die Kindheit und Jugend am Rand der Peripherie, in einem Bereich, der als Ort des Aufwachsens in den untersuchten Texten dieser Studie eine Sonderstellung einnimmt. Die Familie bezieht ein für »relativ wenig Geld« (Dp, 9) erworbenes altes Bauernhaus. Aus den Beschreibungen der Eltern lässt sich schließen, dass sie der 68er-Generation angehören. Deutlich wird dies etwa an Roddys Erinnerungen an ein Mädchen namens Inka, das einige Zeit bei ihnen gelebt habe, weil es seine Drogensucht in den Griff hatte kriegen wollen. Zunächst lebt sie gemeinsam mit ihrem Vater John Scholl, einem Künstler, in dem Bauernhaus der Familie. Der autodiegetische Erzähler erklärt, seine Eltern hätten John und seine Familie in Guatemala kennengelernt. Rückblickend meint Roddy zu der Zeit mit John: »Ich wusste nicht genau, was er von mir wollte. Er kam mir ein wenig überspiritualisiert vor, aber irgendwie imponierte er mir auch« (Dp, 20). Die Mutter des Erzählers nimmt sich Inkas an und bemalt mit ihr Bauernmöbel, mit den immergleichen Motiven – Adam und Eva vor dem Baum der Erkenntnis. Eva hielt den Apfel in der Hand, und Adam ein grotesk großes Geschlechtsteil. […] Während die Erwachsenen das Motiv als ›total natürlich‹ bezeichneten, fand ich es irgendwie säuisch, was Freunde und Bekannte meiner Eltern nicht davon abhielt, ihre Resthöfe ebenfalls mit paradiesischen Schwanzbildern zu versehen (Dp, 20). Sowohl die Unterstützung des Freundes bei dem Drogenentzug der Tochter als auch das Leben auf einem Bauernhof und die Vergangenheit in exotischen Ländern sind deutliche Hinweise auf den linkspolitisch orientierten Wertekanon, den die Eltern des Protagonisten pflegen. Die Flucht auf’s Land war für die 68erGeneration in den späten 1970er-Jahre bzw. 1980er-Jahren eine häufig getroffene Entscheidung, deren auch heute noch bekanntestes Beispiel sicherlich der von den Mitgliedern der Band »Ton Steine Scherben« bezogene Resthof in Fresenhagen ist. Der Umzug der Familie an den Rand der Peripherie ist aus der Perspektive der alteingesessenen Dorfbewohner der Einbruch des Anderen, Exotischen in das Dorfidyll. Als Kind passt sich der Ich-Erzähler den Praktiken der anderen Dorfkinder an und fällt so im Gegensatz zu seinen Eltern nicht als Exot auf. Das »Kuhstallidyll« (Dp, 37), das er mit dem Ärgern von Kühen und Hühnern sowie der Unterstützung der Bauern bei der täglichen Arbeit verbindet, reicht ihm bald nicht mehr aus. Mit dem Eintritt in die Pubertät 1979 beginnt sich der Protagonist »aus der Dorfsze-

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

ne« zu lösen (Dp, 37), sein Horizont erweitert sich, dabei hilft ein motorisiertes Fahrzeug (siehe Abschnitt 3.1). Als Jugendlicher sei Roddy auf dem Weg »zu anderen Ufern der Härte« (Dp, 37) gewesen. Er befindet sich in der liminalen Phase der Pubertät. Durch die Beschreibung der Erlebnisse wird ersichtlich, dass nicht den Orten selbst die Langeweile zugerechnet werden kann, sondern die Entwicklung des Kindes hin zum Jugendlichen die Orte verändert. Es ist die Wahrnehmung, die die Orte uninteressant bis unerträglich werden lässt. Da der Protagonist in einer antiautoritären Umgebung aufwächst, die selbst ein Resultat einer Jugendbewegung (nämlich die der 68er-Generation) ist, ist er in der Phase der Liminalität instinktiv auf der Suche nach Reibungsflächen, die er bei seinen Eltern nicht finden kann. Die Flucht aus Schmalenstedt ist keine Flucht aus der Enge, sondern eher eine aus der Weite. Es sind keine Verbote der Eltern, die ihn zwingen zu gehen, sondern die Langeweile, die er verspürt.

Alles löst sich auf Als Töpferlehrling muss Roddy Dangerblood im Gegensatz zu vielen seiner Freunde bis zum Ende seiner Ausbildung in der Provinz bleiben. Der Protagonist vereinsamt, spricht rückblickend von Depressionen. »Wenn ich zurückmusste aufs Land, fiel die Depression wie ein dunkler Vorhang über mich« (Dp, 194). Der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben wird während der zweijährigen Ausbildung immer größer und durch den Wegzug der Freunde verstärkt, die das vermeintlich bessere, unabhängige Leben in der Großstadt bereits führen können. Die Erinnerungen Roddy Dangerbloods enden in Büsum, auf den Stufen der Berufsschule, in der er erfolgreich seine Abschlussprüfung besteht. Büsum ordnet der Protagonist unterhalb seines Heimatdorfes Schmalenstedt ein. »Verfluchtes Büsum, noch toter als Schmalenstedt, warum wurden solche Städte überhaupt gebaut?« (Dp, 200), fragt er sich. Schon die Anreise mit Bus und Bahn beschreibt der Lehrling als eine Odyssee. Für die zweihundert Kilometer lange Strecke muss er sieben Stunden Zeit einplanen, in der er von der Ostsee über Stelling, Neumünster, Elmshorn und Heide nach Büsum an die Nordsee gelangt. Dabei ist er darauf bedacht, nicht als Punk aufzufallen und nicht die Aufmerksamkeit von »Skinheads und Schlägertypen, die in Neumünster im Knast gesessen hatten und in dieser grauesten aller Städte hängen geblieben waren« (Dp, 198), zu erregen. Für Roddy Dangerblood beginnt sein neues Leben in Freiheit und ohne tägliche Arbeitsroutine auf eben jenen Stufen der Berufsschule. »Der Schritt aus dieser Tür war der Schritt in mein neues Leben, in mein eigentliches Leben, jetzt gehörte ich niemandem mehr! Ich war so glücklich, alles war klar, erst Büsum – jetzt die ganze Welt.« (Dp, 201) Die zweigliedrige Klimax verweist auf die offene Zukunft des Protagonisten, die ein letztes Mal »heim nach Schmalenstedt« (Dp, 201) führt.

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So wird die zweigliedrige Steigerung durch den Zwischenschritt Schmalenstedt komplettiert und abermals auf die Abstufungen zwischen Büsum und Schmalenstedt rekurriert. Der abschließende Epilog beschreibt in Form einer Parabel, dass sich der Protagonist an einem Ort seiner Kindheit von seiner Jugendzeit und auch seiner ersten großen Liebe – Maria – verabschieden muss, um seinen neuen Lebensabschnitt antreten zu können. Topographisch ist die Parabel im Garten seiner Kindheit angesiedelt, in einem großen ausladenden Baum haben sich zwei Gestalten verfangen, die seine Jugend und seine Liebe symbolisieren. Eine der zwei Gestalten lässt ein Seil zu ihm hinab, das die Verbindung zwischen beiden stärken soll. Ob damit die Beziehung zu Maria oder die subkulturelle Einstellung des Protagonisten, als Punk zu leben, gemeint ist, wird nur implizit sichtbar. Als schmerzhaft wird nur die Trennung von einer der zwei Gestalten beschrieben, was oder wen diese Gestalt symbolisiert, wird zwar nicht explizit im Text benannt, jedoch weist die eingangs zitierte Unterteilung von Kindheit und Rest des Lebens darauf hin, dass sich der Jugendliche für den Punk und gegen seine Jugendliebe entschieden hat. Der Epilog schließt an die dreigliedrige Steigerung an, die in elliptischer Form das Ende des Romans markiert. Aus diegetischer Perspektive reiht sich der Epilog aber innerhalb der Klimax – Büsum, Schmalenstedt und dann die ganze Welt – ein und steht nicht am Ende. Die letztmalige Rückkehr nach Hause und deren psychologische Bedeutung für den Protagonisten werden im Epilog beschrieben. Erst nach dem Verlassen und der Verabschiedung von Jugend und Liebe ist der Protagonist bereit, die dritte Stufe der Klimax anzutreten: der Auszug aus Schmalenstedt, hinaus in die Welt.

Die Neubausiedlung Neue Vahr Süd Dass Frank seiner Umgebung der Kindheit – dem Bremer Neubauviertel Neue Vahr Süd – entwachsen ist, wird ihm am letzten Tag vor der Einberufung bewusst: Die Bäume sind groß geworden, dachte Frank, und die Häuser klein. Sie hatten immer hier gewohnt, hier war er aufgewachsen, und jetzt fiel ihm das plötzlich auf. Früher waren die Bäume kleiner gewesen und die Häuser größer, dachte er, und dieser Gedanke machte ihn traurig. Es ist vorbei, dachte er, ich bin wie einer dieser Bäume, ich bin irgendwie aus der Proportion geraten, ich sollte hier nicht mehr sein, dachte er […] (NVS, 34). Der Protagonist spürt, dass der Ort seiner Kindheit der Vergangenheit angehört und er endlich die elterliche Wohnung verlassen sollte. Er fühlt sich nicht mehr wohl dort und hat das Bedürfnis wegzugehen. Dass die Bäume größer geworden seien, macht deutlich, wie viel Lebenszeit – nämlich sein gesamtes bisheriges Leben – er hier verbracht hat. Die vormals kleinen Bäume sind mit der Zeit gewachsen, so wie Frank dem Ort entwachsen ist. Im Verhältnis zu den großen Bäumen und Frank sind die Mehrfamilienhäuser nun klein, zu klein für ihn.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

In diesem Zitat liegt der erste Hinweis auf den Grenzübertritt, den der Protagonist absolvieren wird und der den Text zu einem sujethaften macht. Frank befindet sich in einer Ablösungsphase, die im Verlauf noch stärker markiert wird1 . Sein Auszug wird von den Nachbarn heimlich beobachtet, so nimmt Frank an: Er sah, wie hinter einem Fenster im Erdgeschoß des Hauses eine Gardine zurückgezogen wurde, nur ein kleines Stückchen, und er wußte, daß jetzt Frau Koopmann wußte, daß er auszog, und kurz darauf würde es der ganze Neubaublock wissen. Die wohnen alle schon so lange hier, dachte er, die kennen sich alle schon zu gut (NVS, 149). Das Gedankenzitat offenbart, dass der Protagonist die Enge der Siedlung nicht allein an den zu klein gewordenen Gebäuden festmacht, sondern auch an der zu großen Nähe der Bewohner zueinander. Ihm fehlt die Anonymität, die er im Ostertorviertel zu finden hofft. Die Eindrücke, die über das Neubauviertel im gleichnamigen Roman vermittelt werden, stehen dem entgegen, was der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich 1965 in seinem Essay »Die Unwirtlichkeit unserer Städte« über diese nach dem Krieg entstandenen Viertel schreibt. Es behandelt die Auswirkungen des modernen Städtebaus auf die Psyche des Menschen sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Die nach dem Krieg wegen fehlenden Wohnraums zügig errichteten Trabantenstädte waren dem Stadtkritiker ein Dorn im Auge. Mitscherlich meint, dass der moderne Städtebau nicht mit organischen Stadtwachstum, sondern mit Produktion beschrieben werden müsse.2 Modernen Städten fehle das Herz und die Gastlichkeit, und das beeinflusst deren Bewohner.3 Die Unwirtlichkeit der Städte habe vor allem auf Heranwachsende einen großen Effekt: Der junge Mensch ist noch arm an höherer geistiger Leistungsfähigkeit – er ist weitgehend ein triebbestimmtes Spielwesen. Er braucht deshalb seinesgleichen – nämlich Tiere, überhaupt Elementares, Wasser, Dreck, Gebüsche, Spielraum. Man kann ihn auch ohne das alles aufwachsen lassen, mit Teppichen, Stofftieren oder auf asphaltierten Straßen und Höfen. Er überlebt es – doch man soll sich dann nicht wundern, wenn er später bestimmte soziale Grundleistungen nie mehr erlernt, zum Beispiel ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem Ort und Initiative. Um Schwung zu haben, muß man sich von einem festen Ort abstoßen können, ein Gefühl der Sicherheit erworben haben.4

1 2 3 4

Vgl. Abschnitt 2.1. Vgl. Mitscherlich, Alexander (1978): Die Unwirtlichkeit unserer Städte, S. 33. Vgl. ebenda, S. 16ff. Ebenda, S. 24.

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Topographien der Adoleszenz

Diese Auswirkungen lassen sich an der Romanfigur nicht feststellen, was auch damit begründet werden kann, dass die Neue Vahr Süd zur erzählten Zeit eben keine neu erbaute Trabantenstadt mehr ist. Das zeigt sich auch an den großen Bäumen, die vermutlich nach Fertigstellung der Mehrfamilienhäuser als junge Setzlinge gepflanzt wurden. Mit der Bebauung der Vahr wurde 1954/55 begonnen.5 Die Gartenstadt ist somit knapp 25 Jahre alt, und es steht zu vermuten, dass die Eltern Frank Lehmanns zur ersten Generation der Vahr-Bewohner zählen. Die Kinder dieser ersten Bewohner sind in der Vahr aufgewachsen und gleichzeitig mir ihr gewachsen. Die Planstadt hat sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt, und die Bewohner haben sie geprägt, sei es durch Gardinen oder den »Vahraonenkeller« (NVS, 630). Das fehlende Zugehörigkeitsgefühl, das Mitscherlich beklagt, lässt sich auch bei Frank ausmachen, aber nicht, weil er sich mit dem Ort nicht identifizieren kann aufgrund seiner Geschichtslosigkeit, sondern weil er sich mittlerweile deplatziert fühlt. Er ist zu alt. Er will sich abstoßen von dem Ort seiner Kindheit. Ein Reflex, den Mitscherlich angesichts der Unwirtlichkeit des Neubaugebiets den Bewohnern abspricht. Der Roman zeichnet indes kein Bild einer geschichtslosen und unwirtlichen Gartenstadt. Die Topographie der Neuen Vahr Süd wird aus Franks Perspektive als Ort markiert, in dem er Kindheit und Jugend verbracht hat und von dem er sich nun lösen will. Auch wenn das Neubauviertel nicht aus alten, geschichtsträchtigen Bauten besteht, gehören die Straßenzüge, Kneipen, Bewohner und Wohnungen dennoch zum individuellen Gedächtnis Franks und sind Teil von Narrativen, die die Topographie seiner Kindheit ausmachen. Thematisiert werden diese Erinnerungen nur rudimentär, und der Leser muss die Leerstellen des Romans selbst füllen.

4.2

Sehnsuchtsorte der Kindheit

Der folgende Analyseabschnitt geht auf die positiv besetzten provinziellen Orte ein, die Martin Schlosser primär mit seinen Kindheitserinnerungen verbindet. Er verbringt seine Kindheit in Rheinland-Pfalz sowie bei seinen Großeltern in Jever und zieht mit zwölf Jahren ins emsländische Meppen. Seine alte Heimat Vallendar wird so für ihn zum Sehnsuchtsort, der mit unbeschwerten Zeiten verbunden ist.

Koblenz 1975 siedelt die Familie nach Meppen über. In Martins Teenager-Augen liegt in dem Wegzug aus Koblenz ein Zwang, dem er sich als Minderjähriger nicht entziehen

5

Vgl. Geschichte der Freien Hansestadt Bremen von 1945 bis 2005. Band 1: 1945-1969, hg. v. Karl Marten Barfuß, Hartmut Müller und Daniel Tilgner, Bremen 2008. S. 542f.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

konnte. So kann er sich, als er 1979 bei einem Koblenzbesuch Goethes Drama »Iphigenie auf Tauris« anschaut, gut in die Heldin einfühlen, die gewaltsam von Griechenland nach Tauris gebracht wird. Der Intertext spiegelt die Empfindungen des damaligen Teenagers wider. Das ist’s, warum mein blutend Herz nicht heilt In erster Jugend, da sich kaum die Seele An Vater, Mutter und Geschwister band, Die neuen Schößlinge, gesellt und lieblich, Vom Fuß der alten Stämme himmelwärts Zu dringen strebten: leider faßte da Ein fremder Fluch mich an und trennte mich Von den Geliebten, riß das schöne Band Mit ehrner Faust entzwei. Sie war dahin, Der Jugend beste Freude, das Gedeihn Der ersten Jahre. Selbst gerettet, war Ich nur ein Schatten mir, und frische Lust Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf.6 Das konnte ich ihr nachfühlen. So ähnlich war es auch mir ergangen, nach dem Umzug von Vallendar nach Meppen (Lir, 426). Nachdem er mit seiner Familie nach Niedersachsen umgezogen ist, sieht er seine alte Heimat in den Schulferien, wenn er seinen Freund aus Kindheitstagen, Michael Gerlach, besucht. Die Besuche werden von Mal zu Mal ernüchternder, und aus der Nähe betrachtet, entwickelt der Kindheitsort nicht mehr eine solch starke Wirkung auf Martin. »Hier war ich irgendwann mal eingetopft und dann wieder ausgetopft worden« (Lir, 232), stellt Martin als Jugendlicher fest, als er mal wieder auf Stippvisite in Koblenz ist. Cola trinkend sitzt er auf einer Anhöhe mit Blick über das Rheintal und meint selbst, er sitze da »wie ein Zaungast oder wie ein oller Opi, der die Stätten seiner Kindheit besucht« (ebd.). Aus der Ferne – einem Zugabteil im Vorbeifahren – lässt der Anblick seiner alten Heimat jedoch auch nach Jahren noch so etwas wie Heimweh in ihm aufsteigen: Auf der anderen Rheinseite kamen Vallendar und der Mallendarer Berg in Sicht, weit weg und winzig klein. Mehr als drei Jahre war der Umzug jetzt schon her. Dann zuckelte der Zug nach Lützel und über die Moselbrücke und hinter der Fußgängerzone lang, und ich konnte einen Blick auf mein altes Gymnasium

6

Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris, Ein Schauspiel, endgültige Fassung, in: derselbe: Goethes Dramatische Dichtungen, Band III, 1786-1805, Grossherzog Wilhelm Ernst Ausgabe, Leipzig 1911, S. 11.

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Topographien der Adoleszenz

erhaschen, das Eichendorff. In Koblenz hatte der Zug zwei Minuten Aufenthalt. Einfach aussteigen, alles stehen- und liegenlassen und sich sagen: Hier ist meine Heimat. Ich bin wieder da und werde niemals mehr weggehen. Guten Tag allerseits! […] Hinter Oberwerth kam die Horchheimer Höhe zum Vorschein, mit Hochhaus und Wäldchen, und ich erkannte sogar unser altes Reihenhaus. O Mann, wie hatten es die Kinder gut, die in diesem Garten Eden leben durften, statt in Meppen zu verschimmeln! Die Burgen am Rhein sahen auch nicht verkehrt aus, und die Loreley gefiel mir ebenfalls ganz gut, doch an die Schönheit der Horchheimer Höhe reichte im gesamten Rheintal nichts heran (Lir, 219f.). Die Raumkategorisierungen sind in diesem Beispiel aus der rein subjektiven Perspektive des jugendlichen Martin geprägt. Aufgewogen werden hier kulturell signifikante Orte wie die Loreley gegen die Chronotopoi der Horchheimer Höhe und Vallendar. Raum und Zeit sind im vorliegenden Fall eng miteinander verknüpft, handelt es sich doch um einen dargestellten Raum, der, zeitgeschichtlich und entwicklungspsychologisch betrachtet, verschwunden und damit historisierbar ist. Für einen jungen Menschen wie Martin spielen Sehnsuchtsorte, die durch private Erinnerung geprägt sind, eine gewichtigere Rolle als Kulturdenkmäler. Nur die durch das individuelle Gedächtnis geprägten Orte evozieren bei Martin Emotionen. Topographien seiner Kindheit werden so zu einem Bestandteil seiner Biographie, die zu seiner persönlichen Entwicklung beitragen – und dies sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft. Denn: In der Adoleszenz werden die Orte der Kindheit zu Sehnsuchtsorten. Es ist nicht der bloße Ort Koblenz, nach dem sich Martin sehnt, sondern die mit ihm verbundenen Erinnerungen, das ist auch dem Protagonisten bewusst. Er stellt selbst die Vermutung an, dass Kleist in Koblenz zu »Beginn des achtzehnten Jahrhunderts […] wahrscheinlich kein besonders süßes Leben gehabt« habe (Lir, 71). Es liegt folglich nicht an dem Stadtraum selbst, dass er in Martins Augen zu einem Sehnsuchtsort wird, sondern an den Erlebnissen, die der Protagonist erinnert und die so unweigerlich mit der Topographie verknüpft sind. Im Spätsommer 1981 besucht Martin seinen Freund Michael Gerlach, mit dem er seit seinem Wegzug nach Meppen eine Brieffreundschaft pflegt. Da sich beide nicht mehr als »Bübchen« (Abr, 269) fühlen würden, scheiden Wanderungen auf den Pfaden der Kindheit – »ins Wambachtal gehen oder zum Fernsehturm wandern« (Abr, 268f.) – aus. Schließlich schauen sie sich die ersten Wohnorte der Familie Schlosser an, den Stadtteil Lützel und die Horchheimer Höhe. Lützel nimmt Martin nun als »arschige Gegend« (Abr, 269) wahr. Jetzt fallen ihm die Kaugummis auf den Straßen, »Trübsal und Wirtshausgebrüll« (Abr, 269) auf. Nicht nur die Namen auf den Klingelschildern des ehemals von den Schlossers bewohnten

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

Mehrfamilienhauses sind Martin unbekannt und zeugen von den Veränderungen, die im Laufe der Jahre vonstattengehen, vor allem der Weg hinauf zur Horchheimer Höhe hat sich gewandelt. Ein sonst markanter riesiger Autoreifen, den die vier Geschwister immer »Autoreifen vom lieben Gott« (Abr, 269 und Kir, 143) nannten, wurde abmontiert. Dass der als Werbung einer KFZ-Werkstatt aufgestellte Reifen ein wichtiger Wegmarker in den Augen Martins ist, wird dadurch unterstrichen, dass die Erinnerung sowohl in »Kindheitsroman« als auch in »Abenteuerroman« thematisiert wird. Der Reifen ist in der individuellen Erinnerung Martins mit der Straße, die nach Hause zu »An der grünen Bank 10« führt (Abr, 269), verknüpft. Bei einer Stippvisite im NDR-Funkhaus in Hannover, dem Arbeitsplatz seiner Tante Dagmar, lernt Martin die Gedichte Hölderlins kennen und fühlt sich an seine eigenen Gefühle erinnert, die er beim Weggang aus Vallendar hatte.7 Fortan werden die Erinnerungen und die Wiederkehr an die Orte des Aufwachsens mit Intertexten Hölderlins gespickt. Seid geseegnet, goldne Kinderträume, Ihr verbargt des Lebens Armuth mir, Ihr erzogt des Herzens gute Keime, Was ich nie erringe, schenktet ihr! Auch das konnte ich unterschreiben. Was war denn das ganze Leben in Meppen in den letzten fünf Jahren im Vergleich mit einem einzigen meiner Kindertage auf der Horchheimer Höhe! (Abr, 27). Auf den Weg zu einem weiteren topographisch wichtigen Erinnerungsort, zur Schlüsselblumenwiese, wird ein Vers aus Hölderlins »Da ich ein Knabe war …«8 in Kursivschrift eingeschoben: Mich erzog der Wohllaut Des säuselnden Hains … (Abr, 269) und Ich verstand die Stille des Aethers, Der Menschen Worte verstand ich nie (Abr, 270). Im Original folgen die Verspaare in umgekehrter Reihenfolge aufeinander. Im Text werden die Gedichtfragmente jedoch auf diese Art montiert, da sie so in Bezug auf

7

8

»Das hätte mir mal Ende ʼ75 einer zu lesen geben sollen. Da hätte ich aber Augen gemacht! Gerade so, wie Hölderlin das hier beschrieb, hatte ich mich gefühlt. Das stimmte alles« (Abr, 27). Hölderlin, Friedrich: Da ich ein Knabe war …, in: derselbe: Sämtliche Werke, Band I, Gedichte bis 1800, Text, hg. v. Friedrich Beissner, Stuttgart 1946, S. 266f.

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Topographien der Adoleszenz

die Eindrücke des Ich-Erzählers gelesen werden können. Der Anblick der Schlüsselblumenwiese evoziert in Martin Kindheitserinnerungen, die mit den zuerst zitierten Versen in Einklang stehen. Seinem Begleiter, Michael Gerlach, missfällt der Gang zur Wiese; lange wolle er sich da nicht aufhalten, zitiert der Ich-Erzähler ihn (vgl. Abr, 269). Auf diese Reaktion folgt der zweite Intertext. Mit dieser Gedichtmontage wird ein erster Bruch in der Beziehung zwischen Martin und Michael erkennbar. Aus Mangel an Alternativen wandern die beiden doch ins Wambachtal, was »total langweilig und völlig witzlos« sei (Abr, 271). Im Januar 1986 will der nun 23-Jährige ein paar Tage in Koblenz verbringen. Dies beschließt er beim Lesen der ersten zwei Strophen von Hölderlins Gedicht »Die Heimat«9 : Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom, Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat; So kämʼ auch ich zur Heimat, hättʼ ich Güter so viele, wie Leid, geerntet. Und ich? Was hatte ich geerntet? Ihr teuern Ufer, die mich erzogen einst, Stillt ihr der Liebe Leiden, versprecht ihr mir, Ihr Wälder meiner Jugend, wenn ich Komme, die Ruhe noch einmal wieder? (Kür, 183). Die letzten Verse verdeutlichen Martins Hoffnung, die er in den Besuch setzt: Er möchte zu sich finden. Als Heimat empfindet Martin die Stätten seiner Kindheit; seine ältesten Erinnerungen sind durch die Topographie der Orte, die er besucht, geprägt und untrennbar mit ihnen verbunden. Seine Identität wurzelt in diesen frühesten Kindheitserinnerungen. Er sucht immer die gleichen Topographien der Kindheit auf: Lützel, das erste Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe, das zweite Haus in Vallendar, die Schlüsselblumenwiese, die Schulen, die er besucht hat. Er macht Fotos von den Orten und registriert die Veränderungen. Während die Natur sich allein aufgrund der Jahreszeiten wandelt – »[f]ür die Schlüsselblumenwiese war ich eine Jahreszeit zu früh gekommen, aber die Bäume des Hügels und die meisten anderen Formationen hatten sich mir auch in verschneiter Gestalt eingeprägt« (Kür, 185) –, nimmt er bauliche Veränderungen wahr. So hat sich die Außenanlage der »schedderige[n] Mietskaserne« in Koblenz-Lützel deutlich gewandelt. Die Erinnerungen lassen sich nicht mehr mit der Realität abdecken: »Ich erinnerte mich an einen Zaun mit einem Stück Rasen dahinter, aber als ich auf dem Hof stand, endete mein Blick an einer grauen Palisade mit einem Glasscherbensaum« (Kür, 184). Die Sehnsucht packt Martin, als er die Stätten seiner Kindheit fotografiert und er sich wünscht, das 9

Hölderlin, Friedrich (1992): S. 245.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

Haus auf dem Mallendarer Berg eines Tages zurückkaufen zu können. Das Reihenhaus auf der Horchheimer Höhe lässt ihn von seiner Kindheit schwärmen: »Noch einmal fünf sein und hier ein Zuhause haben!« (Kür, 184). Als er durch das Wambachtal wandert und an die glückliche Zeit mit seinem Freund Michael Gerlach denkt, wird die Darstellung abermals durch einen Intertext ergänzt: »Wie lang ists, oh wie lange! Des Kindes Ruh Ist hin, und hin ist Jugend und Lieb und Lust …« (Kür, 186). Auch dieser Auszug stammt aus einem Gedicht Friedrich Hölderlins mit dem Titel »Rückkehr in die Heimat«10 . Es lassen sich hier intratextuelle Verbindungen zwischen den zwei zitierten Hölderlin-Gedichten ziehen. Die Ruhe, die das lyrische Ich in den Wäldern der Jugend erhofft zu finden, wird im zweiten Intertext als für immer vergangen dargestellt. Was Martin durch den Besuch meint zu erreichen, nämlich Klarheit und innere Ruhe, scheint sich nicht einzustellen, darauf lässt der eingeschobene Vers schließen. Ein Blick auf das gesamte Gedicht, aus dem nur zwei Verse zitiert werden, zeigt, dass das lyrische Ich des Intertextes wie der Protagonist Martin entlang der Stätten seiner Kindheit wandert. In der letzten Strophe nimmt das lyrische Ich Abschied, wenn es heißt: Lebt wohl dann, Jugendtage, du Rosenpfad Der Liebʼ, und allʼ ihr Pfade des Wanderers Lebt wohl! und nimm und seegne du mein Leben, o Himmel der Heimath, wieder! Der Verweis auf das Gedicht lässt darauf schließen, dass Martin Abschied von seiner Kindheit und seiner frühen Jugend nimmt. Dafür begeht er noch einmal die Pfade – den Naturraum – und besichtigt die Gebäude, Schulen und Wohnorte, der Vergangenheit. Da diese letzte Strophe nicht in »Künstlerroman« vorkommt, lässt sich vermuten, dass Martin zum Zeitpunkt des Besuchs nicht bewusst ist, dass er womöglich das letzte Mal die Stätten seiner Kindheit besucht. Bekräftigt wird diese Lesart durch den Fakt, dass der Protagonist auch in den folgenden zwei Romanen nicht nach Koblenz zurückkehrt. Am Ende seines Aufenthalts zieht er das Fazit, dass er nicht wieder in Koblenz leben könne [»Der Dialekt. Und die Rheinländer!« (Kür, 187)]11 , aber »es tat dann doch weh, als ich mit dem Zug […] aus Koblenz ab-

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Hölderlin, Friedrich (1992): Rückkehr in die Heimat, S. 252. Schon zwei Romane zuvor, in »Abenteuerroman«, wird beschrieben wie Martin erste, zaghafte Zweifel beschleichen, ob er sich genauso positiv entwickelt hätte, wäre er in RheinlandPfalz aufgewachsen. Es ist die Zeit zwischen Abitur und Zivildienst im Sommer 1981, die Martin nutzt, um durch die BRD zu trampen und Weggefährten zu besuchen. Unter anderem auch Michael Gerlach. Da stellt er sich schließlich die Frage »Wie ich mich ohne den Um-

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fuhr und hinter Lützel den Mallendarer Berg auf der anderen Rheinseite aus den Augen verlor« (Kür, 187f.). Der Blick aus der Ferne ist ein immer wiederkehrendes Motiv in den Folgeromanen. 1989 fährt Martin Schlosser im Zug sitzend nochmals an den Stätten seiner Kindheit vorbei: […] und nach mehrmaligem Umsteigen war es so weit: Die Loreley kam in Sicht und nach Bad Salzig, Spay und Brey und Rhens und Lahnstein die Horchheimer Höhe. Ich hatte mir einen Fensterplatz auf der linken Seite gesichert und glaubte unterhalb des Hochhauses sogar unser altes Reihenhaus zu erkennen, wo wir einst Mandelspekulatius gegessen, Tee getrunken und aufs Christkind gewartet hatten. Hinter Oberwerth konnte man vom Zug aus nicht mehr viel sehen. Das Eichendorff-Gymnasium, ganz kurz, das Dreckskaufhaus Woolworth, das Deutsche Eck, na schön, die Festung Ehrenbreitstein, die Slums von Lützel, dann Urbar und Vallendar mitsamt der Residenz Humboldthöhe, die Insel Niederwerth, den Mallendarer Berg und den Fernsehturm, den Michael Gerlach und ich als Kinder immer wieder angesteuert hatten, aber danach driftete alles weg, und auf der Höhe des Fabrikgebäudes der Firma Rasselstein war es vorbei. In Lützel oder auf der Horchheimer Höhe oder in Vallendar hätte ich nicht mehr Fuß fassen können. Obwohl die Häuser ja noch standen. Und die meisten Bäume. It was a train that took me away from here but a train can’t bring me home … Aber ob sich das anders entwickelt hätte, wenn wir 1975 nicht nach Meppen umgezogen wären? (Arr, 225f.). Diese Beschreibung des Gesehenen klingt weniger sehnsuchtsvoll als noch in »Liebesroman«. Der Protagonist ist mittlerweile 27 Jahre alt und blickt kritischer auf seine Herkunft und die Vergangenheit. Der Moment der Verklärung von Orten der Kindheit beginnt schon brüchig zu werden, als er mit 19 Jahren aus nächster Nähe seine ehemaligen Wohn- und Spielgefilde aufsucht. Zwar ist ihm die Wehmut über den Wegzug aus Koblenz und Vallendar noch anzumerken, vor allem die Gedichtmontagen Hölderlins unterstreichen dies, aber die Konsequenzen der Zeit, die Veränderungen mit sich bringen, sind auch dem jungen Abiturienten bewusst. Sowohl er als auch die Orte der Kindheit haben sich verändert: Lützel wird nun von anderen Familien bewohnt, und die natürlichen Topographien – wie das Wambachtal und die Schlüsselblumenwiese – haben durch seine veränderte Wahrnehmung eine andere Wirkung auf ihn.

zug nach Meppen wohl entwickelt hätte? Zu meinem besten? Oder zu einem Banausen ohne Interesse an Kunst und Kultur?« (Abr, 268).

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

Es lassen sich anhand der unterschiedlichen Beschreibungen von Besuchen der alten Heimat zwei Faktoren ausmachen, die die Wahrnehmung prägen. Zum einen ist es die räumliche Distanz, von der aus der Protagonist auf die Orte seiner Herkunft blickt, zum anderen ist es die zeitliche Distanz, die den Blick auf die Topographien der Kindheit prägt. Aus der Nähe betrachtet, wird Koblenz im Laufe seiner Jugend immer uninteressanter. Einerseits liegt das daran, dass er älter wird und sich weiterentwickelt, andererseits an den enormen Veränderungen, die sich gerade in den Wohngegenden feststellen lassen. Aus der Ferne – wie etwa aus einem fahrenden Zug – betrachtet, kann Martin auch später noch seine Erinnerungen mit dem Gesehenen in Einklang bringen, da er nur einen kurzen Blick auf die Orte seiner Kindheit erhaschen kann und deshalb die Bilder in seinem Gedächtnis stärker zum Einsatz kommen, um die kurzen Augenblicke zu komplettieren. Der Intertext von Tom Waits’ »Train Song«12 macht darauf aufmerksam, dass es sich bei Erinnerungstopographien um Chronotopoi handelt. Und das ist auch dem nun erwachsenen Protagonisten bewusst: It was a train that took me away from here but a train can’t bring me home … (Arr, 226). Der Weg zurück zu einem Ort, der nur in der Erinnerung respektive Vergangenheit existiert, ist nicht möglich. Martin vermutet, dass er, selbst wenn seine Familie 1975 nicht nach Meppen umgezogen wäre, so oder so die Topographien der Kindheit nur in seiner Erinnerung als auratische Orte wahrnehmen würde. »Fuß fassen« könne er dort nicht mehr. Schon in »Bildungsroman«, die erzählte Zeit spannt sich von Februar 1983 bis Mai 1985, ist Martin bewusst, dass man, »[w]enn man die Horchheimer Höhe hinter sich gelassen hatte«, nicht mehr zurückkonnte (Br, 18), »[d]ie sah ja inzwischen auch etwas anders aus«. Nur mit einem »Zauberspruch« sei es möglich, die Kindheitstopographien erneut aufzusuchen. Dass der Glaube an die Wirksamkeit von Zaubersprüchen ein kindlicher ist, verdeutlicht die Endgültigkeit des Vergangenen. Im Unterschied zu den zuvor zitierten Gedanken über eine Rückkehr nach Koblenz glaubt Martin in »Bildungsroman« noch, dass er auch in der Gegenwart in der Horchheimer Höhe »verwurzelt wäre« (Br, 18), hätte er von dort nicht wegziehen müssen. Als er im April 1986 abermals mit dem Zug an Koblenz vorbeifährt, liest er in der Zeitschrift »Die Fackel«. Ein dort vorgestelltes Gedankenexperiment lässt ihn an seinen Lieblingskletterbaum aus Kindheitstagen denken. »Es sollte verlockend sein, das Vorstellungsleben eines Tages der Kindheit wiederherzustellen. Der Pfirsichbaum im Hofe, der damals noch ganz groß war, ist jetzt schon sehr klein geworden. […] Der [Baum] lebte nur noch in meiner [Martins] Erinnerung« (Kür, 224). Martin kann den Stätten seiner Kindheit nicht entwachsen, da er mit dreizehn umziehen musste und auch 12

Waits, Tom: Train Song, auf dem Album: Big Time, Island Records 1988.

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weil sein Lieblingsbaum nicht mehr existiert. Er wurde gefällt und damit mutwillig am Wachsen gehindert. Analog dazu wird Martins Aufwachsen durch den Umzug gestört. Er konnte sich nicht »abstoßen« von einem Ort, der Heimat ist, wie sich Mitscherlich das für Jugendliche wünscht. Martin wurde zwangsumgesiedelt. Anders sieht es aus, wenn Martin die Stätten seiner Kindheit in der Realität wieder aufsucht. In »Rank Strangers to Me«13 von Bob Dylan findet Martin Schlosser 1989 seine eigenen Gefühle bestätigt: I wandered again to my home in the mountain Where in youth’s early days I was happy and free … […] I looked for my friends but I never could find them I found they were all rank strangers to me (Arr, 149). Seit 1985 hat Martin keinen Kontakt mehr zu seinem einstigen Kindheitsfreund Michael Gerlach. Obwohl beide nach dem Abitur ein Germanistikstudium beginnen, haben sie sich unterschiedlich entwickelt und bewegen sich nicht mehr auf derselben Wellenlänge (vgl. Br, 509). Es sind somit nicht nur die Orte der Kindheit, die sich verändern, sondern auch die Menschen, die Martin zurückgelassen hat. Diese anthropologische Grundkonstante wird in dem zitierten Lied von Dylan als Chronotopos beschrieben. Zwar existieren seine Freunde noch, aber sie sind zu Fremden geworden. Martin bleibt so nur die Erinnerung an seine Kindheit, inklusive der Topographie und den Menschen, die sie bewohnten. Eine Rückkehr bzw. ein Wiedersehen der ehemaligen Freunde und Nachbarn würde die erinnerte Zeit nicht wieder lebendig werden lassen. Es sind Fotos, die die bauliche Erschließung der Horchheimer Höhe dokumentieren, die Martin auf dem Dachboden des Elternhauses in Meppen findet, die ihn in Erinnerungen schwelgen lassen. Der Dachboden als Fundort für beiseite geschobene Erinnerungen ist laut der Erinnerungstheoretikerin Aleida Assmann eine Metapher für das individuelle Speichergedächtnis. Das unbewohnte Gedächtnis verhalte sich zum bewohnten Funktionsgedächtnis komplementär, das heißt, dass Gedächtnisinhalte zwischen dem Speicher- und Funktionsgedächtnis hinund herwandern können und ein Austausch besteht.14 So entdeckt er 1990 ein altes Kinderbuch seiner Schwester Wiebke und beschreibt die Magie solcher Fundstücke: »Solche Bücher waren wie Zeitmaschinen. Man brauchte sie nur aufzublättern, um das Gefühl zu bekommen, daß man die Hausaufgaben in Sachkunde und

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Dylan, Bob: Rank Strangers to Me, auf dem Album: Down in the Groove, Columbia Records 1988. Vgl. Assmann, Aleida (1995): Funktionsgedächtnis und Speichergedächtnis – Zwei Modi der Erinnerung, S. 182.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

Musik schon gemacht hatte und nachher noch Bonanza kucken konnte. Oder Lolek und Bolek« (Arr, 473). Martin denkt nicht ständig an seine Kindheit in Koblenz, aber die Fotos auf dem Dachboden und ebenso das Kinderbuch wecken Erinnerungen, die in seinem unbewohnten Gedächtnis abgespeichert sind. Ob die Fotos von seinen Eltern gemacht wurden oder ob es sich um ein »Büchlein« (Br, 18), das in einem Verlag erschienen ist, handelt, lässt sich aus dem Absatz nicht entnehmen. Die Fotos findet Martin in einer Kiste mit anderen privaten Erinnerungsstücken, wie einem Zeugnis seiner Mutter und einem Buch seines Urgroßvaters väterlicherseits. Dass das Büchlein als »Entstehungsgeschichte des Neubaugebiets Horchheimer Höhe« beschrieben wird, spricht dafür, dass es sich um ein Druckwerk handelt. Das Speichermedium Buch, das die Entstehungsgeschichte fotografisch dokumentiert, ergo ein Dokument der Zeitgeschichte ist, und somit Teil des kollektiven Gedächtnisses, wird in Martins Augen privatisiert. Er reichert das Dokument mit seinen individuellen Erinnerungen an: »Das Ladenzentrum, wo ich als Grundschüler mit meiner Bande Spielzeugpistolen gestohlen hatte, und der Sandkasten vor dem Hochhaus, wo wir die Pistolen eingebuddelt hatten […]« (Br, 18). Die Fotos zeigen Martin nicht als Kind im Sandkasten spielend, aber sie zeigen den Sandkasten, einen Ort, der für ihn mit individuellen Erinnerungen verbunden ist. Da die Fotos die Vergangenheit sichtbar werden lassen, fällt es Martin leichter, beim Anblick der Fotografien die Erinnerungen wachzurufen, als wenn er die realen Orte in der Gegenwart erblicken würde. Die Fotos haben die Zeit konserviert und fungieren so als Trigger, die die Erinnerungen an Erlebtes ins bewohnte Gedächtnis schieben. Die Fotos von seinem Besuch in Koblenz 1986 klebt er in ein Album. Gespickt wird dieser Snapshot mit dem Intertext eines Verses aus dem Beatles Song »In my Life«15 : »There are places I remember all my life …« (Kür, 190). Es sind nicht allein Fotos und Dokumente der Vergangenheit, die Martin helfen, Erinnerungen ins bewohnte Gedächtnis zu holen, sondern auch Namen, wie »Moselweiß, Kühkopf, Asterstein, Remstecken, Rittersturz, Karthause, Stolzenfels und Bembermühle« (Abr, 268), die bereits Heimweh in Martin aufsteigen lassen. Es sind regionalspezifische Ausdrücke, die Ortsteile oder topographisch bedeutsame Orte in Koblenz meinen und deshalb ebenfalls als Trigger fungieren. Auch rituelle innerfamiliäre Praktiken, wie das Singen bestimmter Weihnachtslieder, versetzen Martin zurück in seine Kindheit und lassen ihn wehmütig werden. Als seine Mutter, die zu dieser Zeit (Weihnachten 1986) schon unheilbar an Krebs erkrankt ist, und seine Schwester Renate zweistimmig »Es ist für uns eine Zeit angekommen« singen, steigen Martin Tränen in die Augen. »Da war ich plötzlich wieder sechs und saß bei uns auf der Horchheimer Höhe im Wohnzimmer, wo Mama und Re-

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The Beatles (1965): In my life, Lyrics von Paul Mc Cartney und John Lennon, auf dem Album: Rubber Soul, Apple Records 1965.

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Topographien der Adoleszenz

nate mir das auch schon einmal vorgesungen hatten« (Kür, 379). Schon als Kind habe er davon eine Gänsehaut bekommen (Kir, 114).

Jever Neben Koblenz stellt Jever für Martin den zweiten zentralen Sehnsuchtsort dar, den er im Gegensatz zur Stadt an Rhein und Lahn regelmäßig besucht. Wie im Falle von Koblenz ist auch, als Martin den Jeveraner Schlossgarten betritt, ein Intertext aus einem Beatlessong montiert: »There are places I’ll remember …« (Br, 350). Dass hier die Variante im Futur zitiert wird, kann als Prolepse auf die noch stärker werdende Auratisierung des Schlossgartens nach dem Tod von Ingeborg Schlosser gelesen werden. Martin ist zur erzählten Zeit 22 Jahre alt, und der Ort hat schon längst eine auratische Wirkung auf ihn und ist zum Erinnerungsort geworden. »Weshalb konnte man nicht wieder fünf sein? Oder drei? Und beim Plumpsackspielen und Entenfüttern glücklich sein?« (Br, 350). Das Zitat geht auf die persönlichen Kindheitserinnerungen ein, die mit dem Ort verbunden sind. Da seine Großeltern in Jever leben und seine Mutter dort aufgewachsen ist, hat auch Martin die Stadt schon zu Kindheitstagen häufig besucht. Seine Großeltern nennt er passend zum Wohnort deshalb auch Oma und Opa Jever. Die Namensgebung verdeutlicht die untrennbare Verknüpfung der Großeltern mit der friesischen Stadt. Jever ist für Martin die Stadt, in der seine Familie verwurzelt ist. Es sind nicht bloß eigene Erlebnisse aus der Kindheit, die dem Ort eine auratische Wirkung verleihen, sondern auch die Beziehung seiner Mutter zur Stadt. Sie ist schließlich dort aufgewachsen, und alte Kinderfotos aus den 1920er- und 1930er-Jahren zeugen davon. Schon als seine Mutter unheilbar an Krebs erkrankt ist, denkt Martin, wenn er das Waldschlösschen passiert, das als Kulisse für ein Kinderfoto seiner Mutter »aus besseren Tagen« diente, wehmütig an das kleine Mädchen, das 1932 dort auf dem Holzkarussell gesessen habe (Arr, 309). Die Diskrepanz zwischen dem »seligst« mit Kinderfreunden spielenden Mädchen und der krebskranken Mutter stimmt ihn traurig. Der Schlossgarten ist auch Teil seiner eigenen Kindheitserinnerungen und ist in Martins Augen prägend für seine Beziehung zu Jever ebenso wie seine Großmutter. »Ohne Schloß wäre Jever nicht Jever gewesen. Ohne Oma allerdings auch nicht« (Arr, 451). Mit seinem Patenkind Nantje besucht Martin 1989 den Schlossgarten, um, so wie er selbst früher auch, die Enten zu füttern. An der alten Entenfütterstelle teilte ich den Kindern Bröckchen von Omas gesammelten Brotkanten zu und dachte an die Zeit zurück, als es für mich das höchste der Gefühle gewesen war, im Schloßgarten eine Pfauenfeder zu finden. Da umfiengen goldne Tage mich … (Arr, 462).16

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Intertext von Hölderlin, Friedrich: An die Natur, S. 229.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

Der Schlossgarten wird im Text zu einem Ort, der die Unschuld und Sorglosigkeit einer glücklichen Kindheit bewahrt. Für Generationen von Kindern – Martins Mutter, er selbst und nun seine Nichten und Neffen – ist der Ort mit positiven Erlebnissen verknüpft. Die Erwachsenen nehmen den Schlossgarten als Erinnerungsort wahr. Die Kinder im Text sind gerade erst dabei, diesen Ort topographisch zu erschließen und zu einer Topographie der Kindheit werden zu lassen. Kraft der Handlungen und Erfahrungen, die sie dort machen, graben sich die Spuren immer tiefer in das Gedächtnis ein. Eventuell werden sie sogar zu Erinnerungen aus zweiter Hand, indem – wie bei Ingeborg Schlosser – Fotos von der Zeit im Schlossgarten angefertigt werden, die schließlich von der nachfolgenden Generation gesichtet werden. Neben diesen topographischen Erinnerungstriggern sind es olfaktorische Reize, die Martin an seine eigenen Kindheitserlebnisse in Jever denken lassen. So ist es der Geruch der alten Mecki-Bücher, die sein Vetter Gustav ihm geschenkt hat, weil er schon als Junge gerne in ihnen blätterte, die Martin in die Vergangenheit zurückversetzen (Arr, 214). Auch wenn der eigentümliche Geruch immer noch da sei, haben die Kinderbücher dennoch nicht die gleiche verängstigende Wirkung mehr auf ihn, schließlich sei er nun erwachsen (Arr, 217). Auch der Küchenschrank seiner Oma sei »[v]ollgesogen mit Kindheitserinnerungen« (Kür, 395), wie Martin feststellt, als Möbelpacker den Schrank in seine Wohnung stellen. Im Text wird das antike Möbelstück mit seinen diversen Fächern und Schubladen beschrieben und in Verbindung gebracht mit den individuellen Erinnerungen, die für Martin an ihm hängen. »Kakaopulver und Schokoladensplitter« seien die Kindheitserinnerungen, die im Schrank und seinem Duft verborgen lägen. »Das Aroma, wenn man die Türen öffnete …«, schwärmt Martin. Die Beschreibung erinnert an die berühmte Madeleineszene aus Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«17 . Wenngleich es dort der Geschmack des Gebäcks und nicht der Geruch ist, handelt es sich in beiden Fällen um Sinneseindrücke, die den Protagonisten zum Erinnernden werden lassen. Martins Erinnerungen sind jedoch nicht so stark verschüttet wie die des Protagonisten in Prousts Werk. Ferner ist der Küchenschrank ein individuelles Möbelstück, das mit seinen Großeltern verbunden ist, wohingegen die Madeleines als typisch französisches Gebäck eine häufig konsumierte Süßspeise sind. Die Regelmäßigkeit des Schmeckens der Madeleines ist schließlich auch der Grund, weshalb der Protagonist zunächst nicht in der Lage ist, seine Glücksgefühle beim ersten Biss in das vom Tee durchtränkte Gebäckstück einzuordnen; dieses Kindheitserlebnis ist verschüttet durch viele andere Madeleine-Erlebnisse. Erst in Verbindung mit dem Teegeschmack kommt das vertraute Gefühl wieder auf. Ähnlich verhält es sich auch mit dem Küchenschrank. 17

Proust, Marcel (2014): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band I, Auf dem Weg zu Swann, S. 65-71.

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Allein dieser Küchenschrank, der vermutlich Jahrzehnte in der Wohnung der Großeltern stand, vermag diese Erinnerungen in Martin zu evozieren. Die Gegenstände – Madeleine und Küchenschrank – sind somit mit individuellen Besonderheiten – Geschmack von Lindenblüten- oder Schwarzem Tee und der Geruch der in den Schubladen gelagerten Dinge – gespickt, gehen eine Verbindung ein und werden so zu Triggern individueller Kindheitserinnerungen. Der Küchenschrank in Martins neuer Wohnung trägt mit dazu bei, dass er sich in der Nardoster Straße schnell heimisch fühlt. Denn der Schrank und sein Geruch wecken positive Emotionen und Gefühle von Geborgenheit in ihm. Als seine mittlerweile verwitwete Großmutter beschließt, das Haus gegen eine kleinere Wohnung einzutauschen, ist das für Martin zunächst eine »bittere Pille«. Hier habe er schließlich seine glücklichsten Kindheitstage erlebt (Br, 538). Schnell kann er sich aber mit der neuen Wohnsituation arrangieren, denn die neue Wohnung habe »inzwischen ebenfalls den guten alten Oma-Jever-Polstermöbel-Geruch angenommen« (Kür, 464). Hier wirken ähnliche olfaktorische Erinnerungstrigger wie bei dem Küchenschrank, die Martin das Gefühl des Vertrauten vermitteln. Es ist also nicht der Ort – das Haus in der Mühlenstraße –, der für Martin positiv konnotiert ist, sondern der Geruch, den er mit der Wohnung seiner Großeltern verbindet. Der Wohnsitz seiner Großeltern könnte folglich überall in Jever sein, ohne dass Martin sich fremd fühlen müsste, vorausgesetzt der typische Geruch ist für Martin noch wahrnehmbar. Wie stark seine Wahrnehmung von Jever durch seine positiven Kindheitserlebnisse und die Familiengeschichte geprägt ist, fällt Martin besonders auf, als er mit seiner ersten Freundin Heike die friesische Stadt besucht. Anhand von Heikes sparsamen Emotionen erkennt Martin, dass es persönliche Erinnerungen sind, die dem Ort eine auratische Wirkung verleihen. »Um Jever zu lieben, hätte man es wohl bereits mit Kinderaugen erblicken müssen. Spätere Stipvisiten reichten dafür nicht« (Abr, 445). Jede Rückfahrt von seinen Großeltern zurück nach Meppen fühlt sich für den Jugendlichen an, »wie sich für Adam die Vertreibung aus dem Paradies angefühlt haben dürfte« (Lir, 469). Dieser Vergleich zeigt die Raumkategorisierungen, die Martin aufgrund persönlicher Erlebnisse trifft. Jever ist für ihn ein paradiesischer Ort, der Meppen diametral entgegensteht. Auch Martins Assoziationen, die er beim Lesen eines Briefes von Rolf Dieter Brinkmann an seine Frau Maleen entwickelt, zeugen von diesen Kategorien, die sich offenbar im Laufe der erzählten Zeit manifestieren. Martin konstatiert: »Da kriegt man ja fast Sehnsucht. Wenn auch nicht nach Meppen. Eher schon nach Jever, Schillig und Hooksiel oder Ohmstede« (Kür, 169). Im Intertext aus »Rom, Blicke« heißt es: Manchmal, abends, sitze ich hier und bin in Tagträume an eine norddeutsche Landschaft befangen, wenn alles ganz still ist, ich wach bin, niemand da, der spricht, man kann es

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

wohl nicht trauriges Heimweh nennen, es ist wohl eine schöne Landschaft, und seitdem du mir von Lüneburg erzähltest oder Göttingen, sehe ich ab und zu eine kleine norddeutsche Stadt, die abends still wird, wo man seiner Arbeit nachgehen kann, […] wo die Dunkelheit wirklich eine abendliche Dunkelheit ist […]. Sind das Wunschträume? Träumereien, die zu nichts führen? Es muß doch so etwas geben! Auch heut noch (Kür, 169).18 Der aus Vechta stammende Brinkmann führt hier norddeutsche Städte an, die er – so ist dem Intertext zu entnehmen – nur aus den Erzählungen seiner Frau kennt. Es ist nicht das Heimweh nach seiner Geburtsstadt, welche ja ebenfalls im Norden liegt, sondern eher eine nicht verortbare Sehnsucht, die den Briefeschreiber da beschleicht. Auch Martin fühlt sich wie Brinkmann nicht an seine eigene norddeutsche Heimat erinnert, sondern an Sehnsuchtsstädte. So bezeichnet er Jever auch als »die Stadt meiner Träume« (Arr, 262). Das weiß Martin bereits als Oberstufenschüler und er kann sich vorstellen, einmal dort zu leben. »In Jever hätten wir wohnen sollen. Auch ’ne Kleinstadt, sicherlich, aber eine, in der man’s aushalten konnte« (Lir, 549). Später, zur erzählten Zeit von »Arbeiterroman«, scheint sich dieser Traum zu erfüllen. Andrea und er überlegen dorthin zu ziehen, unter anderem auch, um Martins Großmutter im Haushalt zu helfen. Auch wenn es nicht Jever wird, zieht das Paar letztlich nach Heidmühle, nur wenige Kilometer von der Traumstadt entfernt. Martin lebt nun »in einer vom Himmel gesegneten Landschaft« (Arr, 283).

4.3

Rückkehr zu den Eltern

Sowohl Martin Schlosser als auch Icks kehren zu den Orten ihrer Jugend zurück, besuchen ihre Eltern und begehen damit den Erinnerungsraum ihrer Jugend neu. Dieser Moment der Konfrontation mit den alten, bekannten Orten wird in den Texten unterschiedlich beschrieben und hat auch unterschiedlichen Einfluss auf die Protagonisten. Während in der Martin-Schlosser-Chronik regelmäßige Besuche in Meppen stattfinden, ist es in Ralf Bönts Roman ein entscheidender Besuch in der Stadt Bielefeld, der für den Protagonisten Icks zum Wendepunkt in seinem Leben wird.

Rückkehr nach Meppen Als Student und später als freier Schriftsteller kehrt Martin regelmäßig nach Meppen zurück. Obwohl er die Stadt nicht als seine Heimat bezeichnet, ist sie doch – neben Jever – der Dreh- und Angelpunkt.

18

Brinkmann, Rolf Dieter (1979): Rom, Blicke, S. 282.

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Beeinflusst ist das Schreiben und Handeln des autodiegetischen Erzählers durch den Nachkriegslyriker Rolf Dieter Brinkmann sowie Arno Schmidt. Henschel verfasste bereits den ersten Band im Stil von Snapshots, die wie Polaroids kurze Momentaufnahmen repräsentieren. Brinkmann wählte Lyrik als seine Ausdrucksform, Henschel die Epik, mit der er die literarische Verfahrensweise des Snapshots verfolgt, die Arno Schmidt beschrieb (s. Kapitel 1). Die genannten Schriftsteller sind genaue Beobachter der eigenen Raumerfahrung und Alltagspraktiken. Die Bewegungsfigur, aus der die Arbeiten resultieren, stellt Henschel in »Bildungsroman« metaphorisch dar. Mit seiner Mutter ziellos durch das Emsland fahrend und Fotos machend kommentiert Martin Schlosser sein Handeln mit: »Martin Schlosser: The Emsland Snapshots« (Br, 565). Den »Streifzug durchs Emsland« (Br, 565) versüßt er sich mit zwei Flaschen Bier. Der berauschte Bewusstseinszustand des Fotografen beeinflusst auch die spontane Route, die Mutter und Sohn wählen, denn Martin gibt Anweisungen, wohin Ingeborg den Wagen lenken soll. Sie handelt in dem Moment fremdbestimmt, ist nur das Medium, welches die Richtungsvorgaben umsetzt. »Hier rechts abbiegen … und da vorne links …«, weist Martin seine Mutter an (Br, 565). Sie ist es aber schließlich, die nach einer Stunde den Ausflug beendet und »ohne Umwege« (Br, 565) zurückfährt. Die Art der Bewegung ist eine Mischung aus den dynamisierten Raumerschließungen, die im 19. Jahrhundert virulent wurden, und dem Umkippen dieser expansiven Eroberungstaktik hin zu einem »Trudeln und Schwanken des Subjekts«, welches, so stellt es Doris Bachmann-Medick fest, das Bewegungsmuster des späten 20. und 21. Jahrhunderts kennzeichne.19 »Kühe, Zäune, Bauernhöfe. Ich fotografierte immer durch die Windschutzscheibe, so daß der dünne Insektenmatsch wie ein Filter über der sagenhaft grünen Landschaft lag« (Br, 565), beschreibt Martin sein Vorgehen. Der »Filter« ist Teil des Vehikels, das die dynamische Raumerschließung erst ermöglicht und zugleich den direkten Blick auf die Landschaft verklärt. Das Grün der Natur wird auf den Bildern verblasst sein, so wie auch die Beschreibung der Erinnerung in Form von Snapshots nicht identisch mit dem tatsächlichen Erlebnis ist. Die intermedialen Verbindungen, die in der kurzen Sequenz zum Ausdruck kommen, finden ihren Ursprung sowohl im erzählten Zeitgeist als auch im sich konstituierenden Subjekt der Chronik, Martin Schlosser. Martin identifiziert sich mit den Alltagsbeschreibungen Brinkmanns. Vor allem die Beschreibung des Orts des Aufwachsens, Vechta, beeindruckt den jungen Martin augenblicklich (vgl. Kür, 462f.). Einiges sei auf das Emsland übertragbar, und so folgt ein passender Intertext aus einem posthum veröffentlichten Text, der in »Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand« herausgegeben wurde. 19

Bachmann-Medick, Doris (2009): Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze: Bewegungshorizonte und Subjektverortung in literarischen Beispielen, S. 260.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

Weihnachten, Ostern/nur Tod, nur Tod, und Geld, und Krankheit/: und das endlose Gerede darüber//: endlos, und wenn nicht geredet, dann Sonntagnachmittagsmusik, Kreuzworträtsel/schlafen, schlafen, schlafen, müde, erschöpft, träge/zur Schule mit einem grauen, öden Gefühl morgens auf dem Fahrrad/immer die Vorhaltungen, ich solle mir genau anschauen, wie die morgens arbeiten, Klempner, Maurer/der namenlose Schrecken, unter solchen Leuten leben!!! (Kür, 464).20 Die Beschreibung Brinkmanns geht nicht auf die Stadt und ihre Beschaffenheit ein, sondern auf das familiäre Gefüge und die Empfindungen des Aufwachsenden. Wenngleich Martin Schlossers Alltagsbeschreibungen stilistisch anders gestaltet sind, behandeln sie inhaltlich die gleichen Themen. Während Brinkmann Anaphern bzw. Repetitionen einsetzt, um die Monotonie des Alltags zu betonen, beschreibt Henschel die Alltagspraktiken seines Alter Ego, die mangels Alternativen immer gleich aussehen21 , ausführlich und nicht in elliptischen Satzgefügen und Versform. Martin Schlosser entwickelt die Idee für eine Reportage aus der Ich-Perspektive, die das Vechta der erzählten Zeit, den Brinkmann-Raum, mit dem der brinkmannschen Beschreibung abgleicht. Dafür besucht Martin die niedersächsische Stadt, macht sich Notizen und schießt fünfzig Fotos, die »alle etwas grauschleirig geraten« (Arr, 189). Die Bilder findet Martin jedoch passend, denn so sehe es da halt aus. »Straßenlärm, Baustellenlärm, Hubschrauberlärm und Tieffliegerlärm« (Arr, 187) sind die akustischen Eindrücke, die Martin bei dem Besuch gewinnt. Martin empfindet sich als »Spurensucher«, der sich mit einem klaffenden Abgrund von dreißig, vierzig Jahren konfrontiert sieht, der zwischen ihm und der Spur liege (Arr, 210). Er selbst habe Vechta aber nur von außen gesehen, will sich deshalb nicht festlegen, ob die Stadt eigentlich »harmlos« sei, wie Michael Rutschky es vermutet (Arr, 210). Dass eine katholische Kleinstadt für einen »rauschbereite[n]« (Arr, 210) Jugendlichen nicht erträglich sei, kann Martin nachfühlen. Der Ort ist qua seiner Attribute – katholisch und provinziell – nicht geeignet für junge Menschen in der liminalen Phase. Dass das gegenwärtige Vechta äußerlich Veränderungen durchlebt hat – beispielsweise haben sich die Umgebungsgeräusche gewandelt –, steht für Martin indes außer Frage. Martin entdeckt in den Beschreibungen Vechtas Parallelen zu den eigenen Erfahrungen und Wahrnehmungen seiner Jugendzeit. Durch seine Reportagearbeit und die Lektüre der Prosa Brinkmanns reflektiert Martin seine eigene Wahrnehmung der Eltern und von Meppen (vgl. Arr, 166). Die Beschreibungssprache nähert sich 20 21

Brinkmann, Rolf Dieter (1987): Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand, S. 192. »Die Wochenenden in Meppen glichen sich wie ein Ei dem anderen. Die gleichen Gerüche, die gleichen Gerichte, die gleichen Gespräche« (Arr, 163). Dieses Zitat zeigt den deutlichen Einfluss der Stilistik Brinkmanns auf die Wahrnehmung von Martin Schlosser. Hier operiert er ebenfalls mit Anaphern, um die Wochenenden zu beschreiben.

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im Laufe der Diegese an die Brinkmanns an. Wenngleich Henschel die Stilistik nicht adaptiert und der romanesken Form treu bleibt, werden Wahrnehmungen Martin Schlossers ebenfalls durch eine parataktische Aneinanderreihung gleicher Wortgruppen dargestellt. Brinkmanns späterem poetologischen Programm entsprechend22 arbeitet auch Henschel mit intermedialen Bezügen – Songtexten, Lyrik, Zeitungsartikeln – und setzt sie in einen neuen Kontext, sodass deren Bedeutung umcodiert wird. Die Hase – der Fluss, der sich durch Meppen schlängelt – wird in den Romanen zu einer regelmäßig wiederkehrenden Begegnungsstätte, die Martin mit seinen Gedanken über die aktuelle Lebenssituation konfrontiert. Angestoßen von Klaus Theweleits Überlegungen zur Speicherfähigkeit von »Gefühlsströme[n]« durch Plattenspieler, glaubt Martin, dass auch das Ufer der Hase all seine Gefühle, die er im Laufe der Jahre beim Durchlaufen der Landschaft hatte, gespeichert habe. Die Emotionen, wie »Niedergeschlagenheit, Frustration, Beklommenheit, Einsamkeit, Ekel, Trauer, Haß und Fernweh« (Arr, 523), seien ins Ufer der Hase eingeschrieben worden. Was im Falle Brinkmanns eine Häufung von Adjektiven und Verben (s. oben) ist, um die empfundene Ereignislosigkeit des Jugendlichen zu betonen, wird im Falle der Chronik zu einer Aneinanderreihung von Substantiven. Als »Endlagerstätte« bezeichnet Martin diese besondere Topographie, was bedeutet, dass er die Emotionen dort ablegen und sich von ihnen befreien kann. Dass diese Speicherelemente Einfluss auf die Hase haben, ist für Martin offensichtlich, schleppe sie sich doch »noch genauso zäh durchs Leben […], wie sie es wohl schon unter Kaiser Karl dem Dicken« getan habe. Doch Gefühle können sich, so vermutet Martin, nicht allein in der Landschaft abspeichern, sondern auch in Häusern. Die Emotionen und die unglückliche Ehe der Eltern sieht Martin im gesamten Haus in der Dammstraße widergespiegelt. Nicht allein ins Gemäuer seien sie eingedrungen, sondern in »sämtliche Gegenstände – die Gardinen, das Brotschapp, die Bücher, die Flaschenöffner, die Einmachgummis in den Küchenschubladen, die Salzfäßchen, die Zuckerschütte, der Garderobenspiegel, die Armaturen im Badezimmer, der siffige Duschvorhang und in noch höherem Maße das Werkzeug in Papas Keller, vom Schlagbohrer bis hinunter zur letzten Schraubenmutter« (Arr, 523). Es sind die Erinnerungen, die sich mit der Landschaft und dem Haus verwoben haben und evoziert werden, sobald ihre Besitzer zu den »Endlagerstätte[n]« zurückkehren. Abgespielt werden kann dieses Speichermedium nur von Personen, die die Erfahrungen selbst gemacht haben, aus denen die gespeicherten Emotionen resultieren. Aber auch Menschen,

22

Zu Brinkmanns Schreibverfahren und Arbeit mit intermedialen Elementen gibt das vierte Kapitel in Stephanie Schmitts Dissertation »Intermedialität bei Rolf Dieter Brinkmann. Konstruktionen von Gegenwart an den Schnittstellen von Text, Bild und Musik, Bielefeld 2012, S. 105-236«, Auskunft.

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die die Erlebnisse berichtet bekommen haben, beispielsweise die Rezipienten der Martin-Schlosser-Chronik, könnten beim Anblick der Hase die Gefühle Martins nachempfinden oder besser gesagt ihnen nachspüren; sich auf Spurensuche begeben, um das Gelesene in der Realität wiederzufinden. Ein Phänomen, das bei Autofiktionen, der Verwendung von Typonymen und historischen Romanen häufig auftritt. Letztlich wird auch der freie Autor Martin Schlosser zum Spurensucher Brinkmanns, wenn er in dessen Geburtsstadt Vechta reist.23 Martin vertreibt sich seine Zeit mit den immer gleichen Tätigkeiten. Weihnachten 1984 verbringt er mit »baden, lesen, schlemmen, fernsehen und LPs auf Kassetten überspielen« (Br, 438). Ist er mit den Renovierungsarbeiten fertig, die er gemeinsam mit seinem Vater erledigt und die oft in Streit enden und in Martins Augen völlig sinnlos sind, genießt er die freie Zeit. »Das beste an den Wochenenden in Meppen war das Baden und das zweitbeste das Essen« (Kür, 502). Die Beschäftigungen können dennoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Meppen »die Stadt der Verdammten« (Arr, 516) sei. »Diese elend langen Nachmittage in Meppen. Nichts los, keine Anrufe, keine Besucher, keine Zerstreuung, kein Appetit, kein gar nichts. Nur ein nachhaltiges Erschlaffen der Schaffenskraft« (Arr, 35). Die Langeweile, die er schon zu Schulzeiten verspürte, beschleicht ihn auch bei kurzen Stippvisiten. »Nach zwei Tagen Meppen fühlte ich mich in Jever jedesmal noch viel wohler« (Arr, 513). Den Tätigkeiten wird keinerlei Bewegung vorausgesetzt, und so unterstreichen sie den Stillstand, der alle Bewohner des Ortes befällt. Eine Entwicklung ist in Meppen nicht möglich. Was schon für den Jugendlichen Martin Schlosser unerträglich erschien, ist auch für den (post-)adoleszenten Besucher, der sich weiterhin in einem liminalen von Bewegung geprägten Entwicklungsstadium befindet, nur schwer auszuhalten. Nur Besuche des einzigen sich bewegenden topographischen Gebildes in Meppen, der Hase, verschaffen ihm Erleichterung, verspricht der Blick auf den Fluss doch Bewegung. Meppen beschreibt Martin als einen Ort, dessen negative Energie über die Stadtgrenzen hinaus strahlt. Schon den nach Meppen führenden Straßen ist die Ereignislosigkeit der Stadt eingeschrieben. Auf den letzten Kilometern machte sich das Unheil, das von Meppen ausging, immer übler fühlbar. Eine Reise in das Herz der Finsternis. Wer das bezweifelte, der brauchte bloß mal das links und rechts von der Straße sprießende Nadelgehölz zu mustern« (Arr, 323). 23

So machen sich einige Leser vom Uwe Tellkamps Familienepos »Turm« tatsächlich zu den Romanschauplätzen in Dresden auf. Der Historiker Albrecht Hoch bietete diese »Literatour« an. Vgl. https://www.spiegel.de/reise/deutschland/literatur-touren-durch-dichters-land e-a-712346-2.html [Stand: 2.8.2018]. Auch Martin Schlosser wandelt auf den Pfaden des Dichters Rolf Dieter Brinkmann als er dessen Heimatstadt Vechta besucht. (s. »Arbeiterroman«, S. 187f.)

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Die von Carsten Gansel aufgestellte These, dass die erinnerte Heimat in aktuellen Adoleszenzromanen als paradiesisch dargestellt werde, kann anhand einer Analyse der Ausführungen Martins nicht bestätigt werden. Ganz im Gegenteil: Das Alter Ego Martin Schlosser erlebt sowohl die Jugend in Meppen als langweilig und ereignislos wie auch die späteren Besuche bei seinen Eltern, die keine positiven Erinnerungen an das Aufwachsen dort wecken. Stattdessen konstatiert er: »Das altvertraute Meppen-Syndrom: Man wurde aufgefressen von der Ödnis und Ereignislosigkeit. Wie hatte ich es an einem solchen Ort sechs Schuljahre lang ausgehalten?« (Kür, 292). Die Attribute haften der Stadt selbst an, dem »Moloch Meppen, der alle auffraß, die ihm dienten« (Arr, 282). Refugien seiner Oberstufenzeit indes werden als Heterotopie dargestellt. In Mike’s Pub »so wie früher« (Arr, 319) ein Erdbeerbier trinkend, stellt er fest, dass der Proust’schen Madeleine-Effekt nicht eintritt. Stattdessen offenbart ein Abgleich der Besucherklientel, das nur aus Fremden besteht, die Raumstruktur der Kneipe. Wie das »Why Not« im Ostertorviertel in Regeners »Neue Vahr Süd« handelt es sich um einen heterotopen Raum. »Die Kundschaft hatte man nach 1981 mehr als einmal komplett ausgetauscht und radikal verjüngt« (Arr, 319), konstatiert Martin Schlosser passend dazu. Ein weiteres dieser Refugien seiner Jugend existiert 1984 nicht mehr, was der autodiegetische Erzähler wie folgt kommentiert: Eine tragende Säule der Meppener Kulturlandschaft! Weshalb hatten die Ratsherren diese ehrwürdige Kneipe nicht unter Denkmalschutz gestellt? In einhundert Jahren hätte man an der Außenwand eine Gedenktafel anbringen können: Hier versoff der Schüler MARTIN SCHLOSSER in den Jahren 1976-1981 sein Taschengeld, soweit er es nicht für Bücher, LPs und Tabak ausgab. […] Das war nicht mehr mein Meppen (Br, 370). Veränderungen des Stadtbildes – wie die Schließung der Kneipe oder der Bau einer Umgehungsstraße – haben keinen Einfluss auf die Raumwahrnehmung und deren Wechselwirkung zwischen den Stadtbewohnern und der Topographie der Stadt. Martin nimmt Meppen zu jeder Zeit als »Moloch« wahr, der alles auffresse. Das veränderte Erscheinungsbild der Stadt beeinflusst die Raumpraktiken und die damit einhergehenden Empfindungen Martins nicht. Der Grund: Die Topographie hat die Erinnerungen gespeichert und spult sie immer wieder ab, sobald Martin die Stadt aufsucht. Einen vergleichbaren Effekt hat die Geburtsstadt Brinkmanns auf ihn. Obwohl auch sie sich verändert, kann Martin die Beschreibungen des Dichters nachempfinden. Die zeitliche Divergenz, die zwischen seinem Besuch

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und der Zeit des Aufwachsens Brinkmanns liegt, ist ihm bewusst und »unübersehbar, unüberhörbar« (Arr, 210). Doch durch die Kenntnis des Brinkmann’schen Oeuvres kann sich Martin auch angesichts des gegenwärtigen Vechtas in die Gefühlswelt des lyrischen Ichs einfühlen. Die Technisierung der Zeit im Blick geht Schlosser jedoch nicht davon aus, dass Kinder angesichts des erhöhten Verkehrsaufkommens auch heute noch von einer zur anderen Straßenseite kommunizieren, sondern stattdessen wohl telefonieren (Arr, 210), doch abgesehen davon, sei Vechta von außen betrachtet keineswegs »harmlos«. Die Wahrnehmungsperspektive von Martin Schlosser selbst ist eine Verinnerlichung der Forderung Brinkmanns, Oberflächen als wichtiges Material eines jeden Autors zu begreifen. Die neue Herangehensweise bescheibt Brinkmann so: […] es ist der letzte Blick, der wieder wie der erste ist, weil er nicht verleugnet, daß, was immer er sammelt, Oberfläche ist, jetzt und jetzt und jetzt und jetzt … wir leben in der Oberfläche von Bildern, ergeben diese Oberfläche, auf der Rückseite ist nichts – sie ist leer. Deshalb muß diese Oberfläche endlich angenommen werden, das Bildhaften täglichen Lebens ernst genommen werden, indem man Umwelt direkt aufnimmt und damit die Konvention »Literatur« auflöst …24 Die Akzeptanz der Oberfläche, die sich in der Schreibstrategie des Snapshots widerspiegelt, ist nicht mit der pejorativen Kritik der Oberflächlichkeit zu übersetzen. Brinkmann fordert Leslie A. Fiedler folgend eine Öffnung der Beschreibungssprache der Literatur hin zur Realität, zu dem, was wahrgenommen, gesehen, erlebt, gehört wird. Jürgen Schäfer hebt pointiert auf das im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit bekannte semiotische Phänomen ab, das »Tiefe« und »dauerhafte Sinnzuschreibungen« nicht zulässt. »Was als Verschwinden der Bedeutung wahrgenommen wird, ist genaugenommen die Gleichsetzung der Ebenen der Signifikanten und der Signifikate«25 .

Die Stadt Bielefeld – »zu Ende die Geschichte mit ihr« Die Rückkehr nach fast zehn Jahren zu den Stätten seiner Kindheit und Jugend lässt Icks über sein »Dickicht im Kopf« nachdenken. Er reist mit dem Zug von Berlin kommend an. Die ersten Eindrücke, die er gewinnt, sind die vom Bielefelder Hauptbahnhof. Doch die Erinnerungen kehren nicht »mühselig« zurück, wie es

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Brinkmann, Rolf Dieter: Die Lyrik Frank O’Haras, O. o.a., S. 69, zitiert nach Schäfer, Jürgen: »Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen«, Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zu Pop-Literatur, in: Text+Kritik, Sonderband Pop-Literatur, München 2003, S. 69-80, hier: S. 74f. Schäfer, Jürgen: »Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen«, Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zu Pop-Literatur, in: Text+Kritik, Sonderband Pop-Literatur, München 2003, S. 69-80, hier: S. 75.

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der Fall sei, wenn man gemeinsam mit Freunden »die Bilder von den zugehörigen Orten von damals aus den müden Hirnen kramen« müsse (Is, 28). Noch im Zug, während der in den Bahnhof einfährt, erkennt Icks die ersten Häuserzeilen und Straßenecken wieder und empfindet das beklemmende Gefühl, welches er mit seinen Eltern und der Heimatstadt verbindet. Dieses Gefühl ist den konkreten Erinnerungen vorgeschaltet. Die Erinnerung beschreibt er als »unzuverlässiges und unbarmherziges Tier«, das ihm »seinen schlechten Atem« entgegenwehen lässt (Is, 36). Erst komme es »grollend« und dennoch »ungebremst« als Empfindung daher, als wenn es in den »ewig gleichgültigen Straßen gewartet hätte« (Is, 37). Das »dicke, bedrückte Tier« holt Icks am Gleis ab, begleitet ihn wütend gestikulierend durch den Bahnhof als »kranke[s], getriebene[s] Tier«, bis dieses »simple Vieh« Icks »glatt an die Kehle« springe (Is, 39). Die »schlechte Erinnerung« schlägt Icks mit Betreten des Bahnhofsvorplatzes plötzlich entgegen. Icks beschreibt die Situation ambivalent: Zunächst erscheint ihm der Bahnhofsvorplatz als »blendend weißes Neuland« (Is, 29), unschuldig und unbefleckt von Erinnerungen, doch nach kurzem Nachdenken über die Situation wirkt der Tritt hinaus auf den bekannten Platz wie ein Überfall an Erinnerungen, der sich schon im Zug langsam als Gefühl angebahnt habe. Er selbst nennt es ein »ambivalentes Glück«, das ihm als altbekanntes »Lebensgefühl« auf dem Bahnhofsvorplatz begegne (Is, 39). Zwar kehrt er zu seinen Wurzeln zurück, aber dennoch – das zeigen die Attribute, mit denen das Erinnerungstier belegt wird – sind es negative Gefühle, die in ihm aufkommen. Das Glück empfindet er darüber, zehn Jahre nicht in Bielefeld gewesen zu sein (Is, 40). Es ist die Architektur der Stadt, die Icks’ persönliche Erinnerungen evoziert. Den Straßen, Plätzen, Wegen und Häusern sind die Gefühle und Erlebnisse eingeschrieben. Es sind jedoch nicht allein individuelle Erinnerungen, die in der Topographie der Stadt lagern, sondern auch Kollektiverfahrungen. Die Geschichte des Bahnhofsvorplatzes zeugt von der politisch gesteuerten Erinnerungskultur, die das Nationengedächtnis und damit die kollektive Identität prägen soll. Von 1983 bis 1990 hieß der Platz »Platz des Widerstandes«, das weiß auch Icks. Doch ein Stadtratsbeschluss erkannte diesen Namen, der nicht zuletzt als Mahnung und Erinnerung an die von dort aus deportierten Juden und Widerstandskämpfer der NSZeit gewählt wurde, wieder ab. Zu verwirrend sei der Name für Ortsunkundige, die dann den Weg zur neuen, nahegelegenen Stadthalle nicht finden würden. Also wurde der Platz wieder seiner Lage gemäß in »Bahnhofplatz« umbenannt.26 Diese Umbenennung des Platzes steht exemplarisch und symbolisch für den Umgang mit Geschichte, der letztlich auch den Protagonisten umtreibt. Was zunächst nur ein individuelles Entwicklungsproblem des Protagonisten zu sein scheint, wird durch Randbemerkungen immer wieder auf eine kollektive 26

Nähere Informationen im zeitgenössischen Zeitungsbericht von Uwe Pollmann: Negativer Klang. Weg mit dem »Platz des Widerstands«, in der »Zeit« am 22. Juni 1990.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

Ebene gehoben. Es sind persönliche Erinnerungen, die Icks wie Geistesblitze im bewohnten Gedächtnis aufscheinen und sich vor seinem geistigen Auge abspielen. Er nutzt für diese plötzlich aufkommenden Erinnerungen das Bild des Lichts einer »Lampe beim Verhör in Mafiafilmen« (Is, 45), welche den Verdächtigen direkt anstrahlt. Einzelne Situationen werden in »grelles Licht« getaucht, und das »Schwarz hinter der Lampe« sei nur »Gemurmel« (Is, 45), etwa das Wissen der Mutter über die NS-Vergangenheit des Lehrers oder die Gerüchte über Dr. Oetker. Das »gleißende Weiß« der Lampe im Verhör begegnet Icks schon, als er auf den Bahnhofsvorplatz tritt. Was er als »blendend weißes Neuland« (Is, 29) identifiziert, sind indes die ihn überflutenden Erinnerungen. Die Vielzahl der Gedächtnisinhalte, die ihn überwältigen, wird wie das vollständige Farbspektrum als grelles, weißes Licht wahrgenommen. Die Beschreibung der Analogie zwischen Verhörsituation und dem plötzlichen Auftauchen von Erinnerungen stimmt mit der ersten Wahrnehmung des Bahnhofplatzes überein. Doch in diesem Moment ist er noch geblendet von der Strahlkraft respektive den vielfältigen Erinnerungen, die ihm plötzlich ins bewohnte Gedächtnis schießen. Er kann sie als solche noch nicht identifizieren und nimmt das weiße Licht zunächst als »unschuldiges Neuland« wahr – ein Trugschluss. Der Platz hat sich seit seinem letzten Aufenthalt verändert. Er wurde mit Pflastersteinen ausgelegt, die zumeist aus der DDR stammten und über die Grenze gegen »harte Devisen« getauscht worden seien (Is, 27). Dort, wo die Steine in den neuen Bundesländern fehlten, so verlautbaren es Gerüchte, würden die Löcher mit »billige[m] Schotter oder bloß Sand« geflickt. Diese »betont neuen Pflaster aus betont alten Steinen« (Is, 39f.) wurden »im Zuge des sogenannten Wiederaufbaus« (Is, 27) aus ostdeutschen Straßen herausgerissen und in Bielefeld und anderen deutschen Städten wieder verlegt. Die Wortwahl – »harte Devisen« gegen »billigen Schotter« (Is, 27) und das Verb »herausreißen« – ist als eine Kritik an der Profitgier Westdeutschlands gegenüber der bankrotten DDR zu lesen. Icks missbilligt aber nicht nur den auf Bereicherung ausgerichteten und unter dem Euphemismus »Wiederaufbau« stattfindenden Raubbau an den neuen Bundesländern, sondern auch die Verdrängung und damit fehlende Aufarbeitung der Verbrechen der SED-Diktatur. Das Kopfsteinpflaster musste von seinem Ursprungsort entfernt werden, »weil es aus der Vergangenheit stammte, an die Vergangenheit erinnerte, die ja nicht die beste war in diesem Fall« (Is, 27). Die Geschichte scheint sich unter anderen Vorzeichen zu wiederholen, so die Befürchtung. Dass ihm die Rückkehr nach Bielefeld schwer fallen würde, war Icks von Anfang an bewusst. Die Begründung ist indes ungewöhnlich: Weißt du, ich habe offenbar prinzipiell eine wirklich übergroße Bindung an Orte, sie ist so groß, daß […] sie mich oft erdrücken will und ich mir keinen Ort als leicht und froh bewahren kann, das heißt […] bis jetzt konnte, also ich konnte kaum je irgendwohin leicht und froh zurückkehren, wo ich einmal gelebt hatte (Is, 52f.).

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Topographien der Adoleszenz

Die »Lebensorte« bzw. »Plätze« kämen ihm dann »belastet«, »verschmutzt« bzw. »beschmutzt« vor (Is, 53), führt er weiter aus. »Und für diese meine sogenannte wunderbare Heimatstadt galt das sogar schon zu der Zeit, wo ich eben noch da gelebt habe« (Is, 53). Bielefeld ist für Icks schon von jeher ein beschmutzter Ort. Trotz bzw. gerade wegen des neuen Stadtbildes und der Nachkriegsarchitektur spürt Icks instinktiv die verschwiegene und überbaute (Stadt-)Geschichte, die eng verknüpft mit seiner eigenen Familiengeschichte und anderen Bezugspersonen seiner Kindheit und Jugend zu sein scheint. Aus Icks’ Perspektive kompensieren seine Eltern mit dem Hausbau und ihren ritualisierten Praktiken – dem Setzen von Kreuzen – ihre nicht verarbeiteten Traumata der (Nach-)Kriegszeit. Icks’ »Gefühlsmüll« wollen sie nicht zulassen, sie verschweigen und ignorieren ihn. Stattdessen leben sie in einer Parallelwelt, in »dieser schönen von ihnen und ihrer ganzen Generation geschaffenen und besessenen Welt, die sie von ihrem Häuschen aus in aller Ruhe beobachten, ihrem Neuland, in das der Häßlichkeit zweifellos der Einlaß verwehrt wird« (Is, 34f.).27 Seine Eltern stehen nur exemplarisch für die Nachkriegsgeneration, die während der NS-Zeit aufwuchs. Deshalb betont Icks auch gegenüber seinem Sitznachbarn, dass der Name seiner Heimatstadt nur sekundär sei und die Geschichte in jeder Stadt spielen könne. Dass seine Eltern mit ihm als Kind nie über die Nazi-Verbrechen, die er pars pro toto unter dem Toponym Auschwitz28 (Is, 101) subsumiert, gesprochen und es verschwiegen haben, verurteilt Icks, und es passt in sein Bild der Elterngeneration, dass sie die Geschichte nicht aufgearbeitet habe. Das Schweigen seiner Großeltern indes kann er nachvollziehen, »es gibt ja eine Grenze, wo das Reden nicht mehr erträglich ist« (Is, 101f.). Er zieht Parallelen zu einem weiteren historischen Ereignis, welches das Nationengedächtnis prägt: dem Mauerfall. Es dauere jetzt nicht mehr so lange, »bis der Mauerfall zehn Jahre hergewesen sein wird« (Is, 100), meint Icks.29 Sein Sohn – so nimmt er an – wird im Geschichtsunterricht über die Ereignisse lernen und geprüft werden und auch dann – also zwanzig Jahre später – werde der Mauerfall »immer wie gestern bleiben« (Is, 101). Die Erinnerungen, die sich aus dem Generationengedächtnis speisen, weisen danach keine zeitlichen Indizes auf. Und dennoch, und das ist in Icks’ Augen das Unverständliche, das 27

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Da Bielefeld hier insgesamt als »Neuland« bezeichnet wird, rekurriert das »blendend weiße Neuland«, das Icks beim Betreten des Bahnhofsvorplatzes sieht, auch auf die Verleugnungsstrategien der Nachkriegszeit, die sich im Stadtbild widerspiegeln. Dass Auschwitz »für die Deutschen zum Inbegriff des Grauens, das Deutschland unter Hitler über die Welt gebracht hatte« wurde, hängt – so Heinrich August Winkler – mit der Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie »Holocaust« an vier Abenden Ende Januar 1979 zusammen. Über 16 Millionen Zuschauer sahen damals die Erstausstrahlung der dritten Programme. [Winkler, Heinrich August (2005): Der lange Weg nach Westen II, Deutsche Geschichte 1933-1990, S. 440]. Zur erzählten Zeit (1996) ist der Mauerfall gerade sieben Jahre her.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

ihm Sorgen bereitet, werde man in dreißig Jahren nichts mehr über den Mauerfall wissen. Zu dieser Annahme kommt er, weil auch seine Eltern dreißig Jahre nach Kriegsende nicht mit ihrem Sohn über die Zeit redeten. Er vermutet, dass auch er seinem Sohn nur »zusammenhanglose[n], sentimentale[n] Blödsinn« (Is, 100) erzählen werde. Aber die persönlichen Erinnerungen des Vaters und die auswendig gelernten Fakten aus dem Schulunterricht haben keinen Wert und sind gegenstandslos, wenn die Erinnerungen aus dem Gedächtnis der Stadt getilgt werden, so wie es mit etlichen deutschen Städten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs passierte. Der Ursprung des Dickichts in Icks’ Kopf – »das eigentliche Kreuz« (Is, 103) – stehe im Garten seiner Eltern. Ihr Schweigen, das Icks zu einem sprichwörtlichen Leben auf dem Friedhof zwang, wo alles totgeschwiegen wurde, ist ursächlich für seine Identitätsprobleme. Erst durch seine Rückkehr nach Bielefeld und durch die Konfrontation mit seiner eigenen Vergangenheit, die ihn zum Nachdenken animiert, kann er sich von dem Schweigegebot seiner Eltern lösen. Er fährt mit der neuen Stadtbahn zum Haus seiner Eltern. Die Bahn ist für einige Stationen unter die Erde verlegt worden. Die Fahrt steht metaphorisch für den Entwicklungsweg, den Icks während der erzählten Zeit zurücklegt, und ist gleichzeitig ein Teil von ihr. Die Fahrt unterhalb der Erdoberfläche steht bildlich für das indifferente Gefühl, welches Icks während seiner Ankunft in Bielefeld empfindet. Die als Tier dargestellte Erinnerung wird von seinem Unterbewusstsein angetrieben und fördert längst verschüttete Ereignisse aus dem Speichergedächtnis zutage. Und wenn man so zugeschüttete Erinnerungen, alte Erinnerungen sozusagen, mit echten Bildern konfrontiert, dann sind die Orte plötzlich bedrohlich klein, stimmt’s? Eine Hofeinfahrt, in der man als Kind Fußball gespielt hat zum Beispiel, oder eben so ein Vorplatz vom Bahnhof, ein Bahnhofsplatz oder Bahnhofsvorplatz. Ja? – Eben! Ob das den Impuls gegeben hat? Jedenfalls lief tatsächlich der Film ab vor meinen Augen, mit dem Gefühl des Abschieds von dieser Stadt damals […] genauso grobschlächtig wie im Film oder meinetwegen einem Roman, indem sich einfach bloß Entscheidendes an Entscheidendes reiht, ja Entscheidungen in ihre Reihe gerückt werden – meine Entscheidungen […] (Is, 107). Icks erfährt seinen persönlichen Erinnerungsraum, dem Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend eingeschrieben sind. Jetzt, aus der Perspektive eines erwachsenen Mannes, erscheinen die Erinnerungsorte kleiner. Er erblickt seine Topographie der Kindheit und Adoleszenz aus der Perspektive der neuen Stadtbahn. In der Bahn fühlt er sich »zwischen allen Zeiten«, »wo die Zeit praktisch aufgehoben war« (Is, 112), dort halte er sein Leben in Form von Puzzlestücken plötzlich in den Handflächen. Das Bild zeigt, dass der Aufenthalt in Bielefeld eine Chance für den Protagonisten darstellt, seine eigene Lebensgeschichte zu sortieren, ihr einen roten Faden zu verleihen, um selbst mit einer gefestigten Identität aus der Situation hervor-

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zugehen. Diese Entwicklungsphase ist eine liminale Phase, die laut dem Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann sowohl Jugendliche als auch Postadoleszente durchlaufen.30 Die Aufenthaltsorte des Protagonisten, eine fahrende Straßenbahn sowie ein fliegendes Flugzeug, werden als Heterotopien markiert, die losgelöst von Zeit und Raum einen weitläufigen Überblick erlauben und so eine (Re-)konstruktion der Identität des Protagonisten ermöglichen. Ein weiteres wichtiges Element auf dem Weg zur Selbstfindung ist der Blick in den Spiegel, den Foucault ebenfalls als Gegenort auffasst: Und ich glaube, dass es zwischen den Utopien und diesen völlig anderen Orten, den Heterotopien, eine gemeinsame, gemeinschaftliche Erfahrung gibt, für die der Spiegel steht. Denn der Spiegel ist eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. […] Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann.31 Icks blickt in den Hotelzimmerspiegel, nachdem er mit seinem besorgten Bruder telefoniert hat. Er denkt über den Besuch bei seinen Eltern und seine offene Zukunft nach, »alles ist einmal ganz unverrätselt« (Is, 167), wundert er sich. Das Dickicht im Kopf scheint gebändigt zu sein. »Mit dieser Stadt war ich fertig, zu Ende die Geschichte mit ihr« (Is, 7), erklärt Icks ja schon zu Beginn seines Monologs im Flugzeug sitzend. Der Spiegelblick wird durch einen Anruf von Barbara unterbrochen. Ihr erklärt er: »Daß jetzt alles zu Ende ist, […] wie gut das sei und so weiter, daß man halt einmal mit Auschwitz brechen müsse, endgültig, und nicht immer in diesem Fahrwasser schwimmen, in diesem Sumpf waten, in diesem Dickicht sich verheddern« (Is, 168). Das »Ende der Geschichte« rekurriert auf das gleichnamige Buch von Francis Fukuyama, der damit noch vor dem Fall der Mauer, im Sommer 1989, die Verbreitung der Demokratie und den Sieg des Neoliberalismus als letzte Synthese im Sinne von Hegels geschichtsphilosophischem Verständnis vorherzusehen meinte. Fukuyamas Thesen führten zu Diskussionen und brachten ihm den Vorwurf ein, ein ideologisch argumentierender Neokonservativer zu sein, der die USamerikanische Realität als den evolutionären Höhe- und Endpunkt der politischgesellschaftlichen Entwicklung auffasse.32 Ungeachtet dessen ist der intertextuelle Verweis auf Fukuyamas These ein Hinweis auf Icks’ Weg der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, die zugleich auch eine gesamtgenerationelle Lösung

30 31 32

Vgl. Kapitel 1.1 Adoleszenz. Foucault, Michel: Von anderen Räumen, in: derselbe (2005): Dits et Ecrits, Schriften in vier Bänden, Band IV, 1980-88, S. 935f. Vgl. Jordan, Stefan (2009): Francis Fukuyama und »Das Ende der Geschichte«, S. 159-163.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

darstellen soll. An anderer Stelle spricht er schließlich von einer allgemeinen »Sehnsucht«, »die sich in unserer Generation so breit gemacht hat und – da bin ich mir heute sehr sicher – eigentlich nichts andres als ein Heimweh ist« (Is, 86). Das Heimweh präsentiert sich jedoch als Sehnsucht nach einem nicht lokalisierbaren Ort, der freilich (zunächst) inexistent ist. Icks befriedigt dieses Heimweh schließlich aus sich heraus, indem er dreierlei Schwellen überwindet. Es ist die Rückkehr nach Bielefeld, die ihm eine Fahrt durch den Erinnerungsraum seiner Kindheit und Jugend erlaubt. Dieses Erfahren der Topographie ermöglicht Icks, eine Schwelle zu beschreiten und seine Lebensentscheidungen zu einer Geschichte zu montieren. Zudem lässt ihn erst der Blick in die Augen seines Kindes über die eigene Endlichkeit und sein Selbstverständnis reflektieren. Die letzte Schwelle stellt die endgültige Loslösung und Überwindung der von seinen Eltern oktroyierten Lebensvorstellungen dar, die ihn als Kind und zum anderen als erfolgreich in ihrem Sinne sehen wollen. Diese drei Schwellen setzen jedoch den Weggang aus der Heimatstadt voraus. Die Flucht aus der Provinz ermöglicht erst die Konstruktion des Erinnerungsraums. Holger Bösmann erklärt: Das Verlassen der Provinz lässt diese erst zum Erinnerungsraum einer Generation werden. Zur Generation als Gemeinschaft wird sie innerhalb dieses Abkopplungsprozesses konstituiert, wobei die Abkopplung aber zugleich auch ein ständiges Wiederheraufbeschwören einer gemeinsamen Erinnerung bedeutet.33 Mit der Aussicht auf ein Kind lebe man im Moment und gleichzeitig in der Zukunft, meint Icks (Is, 125). Die Rückkehr nach Bielefeld stellt sich für ihn genau andersherum dar: Er besucht das Bielefeld der Gegenwart und sieht doch nur seine Vergangenheit und die fehlenden Hinweise auf die kollektive Vergangenheit der Stadt. In der Beschreibung der Bewegungsdynamik – »Die Uni also im Rücken, Richtung Kindheit Stück für Stück vorwärts ruckelnd« (Is, 110) – kommt der Entwicklungsstatus zum Zeitpunkt seiner Ankunft in Bielefeld zum Ausdruck. Die Wissenschaftskarriere, die durch das Universitätsgebäude symbolisiert wird, hat er ad acta gelegt, die Kindheit hat er hingegen noch nicht ausreichend aufgearbeitet. Dafür muss er seine Eltern besuchen, um sich von ihnen emanzipieren zu können. Das Bild von Icks in der Stadtbahn sitzend erinnert auch an Walter Benjamins Überlegungen zu Paul Klees Gemälde »Angelus Novus«. Der Philosoph sah in dem Bild den Engel der Geschichte und erläutert so sein Geschichtsverständnis. Wie der Engel der Geschichte hat Icks »das Antlitz der Vergangenheit zugewendet«. Auch er »möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagne zusammenfügen«, das man ihm als Trümmer unablässig vor die Füße schleudert. Doch der Sturm des 33

Bösmann, Holger (2006): Nach dem Ende der Geschichte? Die Provinz der Bonner Republik als erinnerter Geschichtsraum, S. 201.

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Fortschritts hindert Benjamins Engel daran und treibt ihn »unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zu Himmel wächst«.34 Dem Geschichtsbild ist eine deutliche Fortschrittskritik inhärent. Die Kritik gilt aber nicht per se dem Fortschritt und der Zukunft, sondern der Geschwindigkeit des Fortschritts, der sich als Sturm manifestiert und zuungunsten der Aufarbeitung der Vergangenheit vorangetrieben wird. Fukuyamas Verständnis von Fortschritt ist positiv besetzt. Er betrachtet die moderne Naturwissenschaft als »Regulator oder Mechanismus«, der bewirke, dass »die Geschichte zielgerichtet und kohärent verläuft«. Das Ergebnis sei das »Ende der Geschichte«, ein »einzigartige[r], kohärente[r] evolutionäre[r] Prozeß«, der in das »Ideal« der »liberalen Demokratie« münde und »die Homogenisierung aller menschlichen Gesellschaften zur Folge« habe.35 Beide Blickwinkel auf den Begriff des Fortschritts werden im Text von Ralf Bönt verhandelt. Icks’ Status quo stellt sich wie der des Engels der Geschichte dar; er blickt in Richtung Vergangenheit, schafft es aber nicht, eine Biographie zu entwickeln. Erst als er sich auf die Ebene der Trümmer selbst begibt, dem Sturm der Zukunft so ausweicht, kann er seine »Puzzelteile« zu einem Ganzen zusammenfügen. Die Rückkehr zu den Stätten der Kindheit ist die Voraussetzung für einen positiven Weg in die Zukunft. Fukuyamas Verständnis der modernen Naturwissenschaft als Motor, die zum Ziel, dem Ende der Geschichte, beiträgt, wird im Text gegen die individuelle Entwicklung der Figur Icks gestellt. Die Universalgeschichte Fukuyamas wird heruntergebrochen auf das Einzelschicksal von Icks. Der gibt seine Karriereoption als Naturwissenschaftler nicht zuletzt wegen mangelnder Optionen auf, die ihm, im Moment des Zusammenbruchs der Sowjetunion und damit dem von Fukuyama prognostizierten teleologischen Erfolg der westlichen Demokratien über die Staatsform des Kommunismus, genommen wurden. Das Fortschreiten der Geschichte selbst zerstört quasi die individuelle Entwicklung des Protagonisten. Man kann es wohl Ironie der Geschichte nennen, dass es ausgerechnet die historische Entwicklung ist, die die naturwissenschaftliche Karriere beendet. Als Icks das Haus seiner Eltern erreicht, kommen ihm zurückliegende Telefonate mit ihnen in den Sinn, in denen sie ihn über Selbsttötungen von Bekannten informierten und die Hilflosigkeit gegenüber der Tat offenbarten. Etwa einmal im Jahr gebe es Freitode im elterlichen Vorort, schätzt Icks (Is, 136). Über den Suizid von einem Bewohner mit Namen Holtkämper erfährt der Leser schon auf der ersten Romanseite. Konkretisiert wird die Randerzählung aber erst am Ende des Romans, als Icks von seinem besorgten Bruder im Frankfurter Hotelzimmer angerufen wird. Er solle nicht den Holtkämper machen, bittet der Bruder. Der habe sich wegen seines Vaters umgebracht, den er als neugewählten Bürgermeister in 34 35

Benjamin, Walter (2010): Über den Begriff der Geschichte, S. 19f. Fukuyama, Francis (1992): Das Ende der Geschichte, S. 11-16.

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

Sennestadt nicht mehr habe ertragen können und der zusätzlich noch in zwei Aufsichtsräten gesessen habe (Is, 163). Sennestadt ist eine Trabantenstadt, errichtet wegen Wohnungsmangel und stetigen Bevölkerungswachstums zur Zeit der Vollbeschäftigung. Die Planstadt ist Ausdruck der von Icks verhassten Verlogenheit und Verdrängungsstrategien seiner Elterngeneration. Es ist anzunehmen, dass die Alterskonstellation zwischen Vater und Sohn der Familie Holtkämper der der Familie von Icks entspricht, weshalb eine vergleichbare Reaktion von Icks nicht unwahrscheinlich ist. Die Sorgen der Familienangehörigen sind auch deshalb nicht unbegründet, weil sie von Icks’ Selbstmordversuch in Konstanz wissen, ihn aber nie darauf angesprochen haben. Auch dieser Tat wird ein Kreuz gesetzt und sie somit verschwiegen und tabuisiert. Das Schicksal der Familie Holtkämper wird als mögliche Entwicklung der Familie Icks figuriert und stellt letztlich den Gegenpol zu ihnen dar. Wenngleich auch Icks die Lebenslügen seiner Eltern nicht ertragen kann, entscheidet er sich schließlich für ein selbstbestimmtes Leben, anstatt sich durch den Freitod von den Zwängen der Familie zu befreien. Der Suizid des Sohnes ist die Perversion des Ödipuskomplexes, das Scheitern an der Emanzipation als eigenständiges Subjekt. Zum Bruch zwischen Eltern und Sohn kommt es schließlich, als Icks’ Eltern ihm offenbaren, dass sie illegal Geld in die Schweiz gebracht haben. Icks kann den Sätzen, die das Prozedere darlegen, nicht folgen und geht wie ferngesteuert weg. Am Bahnhof angekommen löst sich das Dickicht im Kopf allmählich auf: »[U]nd [ich] hatte den klaren, eindeutigen Gedanken, daß mich ein klares eindeutiges Gefühl in Schach hielt: der helle Abschied« (Is, 146). Die dichotomen Begriffspaare, die bei Ankunft und Abfahrt verwendet werden, kommentieren das undurchdringliche, nicht fassbare Sammelsurium von Entscheidungen und Gedanken über die Vergangenheit, das sich in einer wenn auch offenen, aber angstfreien Zukunft sublimiert. Sind es anfangs dunkle Empfindungen und Ahnungen bei der Ankunft in Bielefeld, ist es beim Abschied ein helles Gefühl, das Icks begleitet. Er erkennt durch das erste Aufeinandertreffen im Elternhaus nach fast zehn Jahren, dass »sich eigentlich nichts verändert« (Is, 138) habe, dass die »Lieblosigkeit« (Is, 151) und der Hass seiner Eltern beinahe dazu geführt hätten, dass er so werde wie sie (Is, 153). Die Stimme des Über-Ich, die bereits in Abschnitt 2.1 thematisiert wird, lässt Icks fortan nicht mehr zu. Er schwört sich, »nicht mehr […] die zickige, fremde Stimme im eigenen Körper [zu] vernehmen« (Is, 134). Icks beendet seine persönliche Geschichte und ist – im Sinne Fukuyamas – am Ziel seiner individuellen Entwicklung angelangt. »Auf die 40 gehe ich, sage ich mir noch mal, dieses verzerrt lachende Spiegelbild gegenüber, wegen der 33, dieser dusseligen 33, kannst du das glauben, und so vollkommen schlecht ist es gar nicht« (Is, 165).

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Topographien der Adoleszenz

4.4

Zwischenfazit

Die Topographien der Kindheit werden in allen Romanen des Textkorpus thematisiert und nehmen eine zentrale Rolle für die Subjektkonstituierung der Protagonisten ein. Der zeitliche Abstand und die Erzählperspektive sind von Text zu Text verschieden. Während Frank Lehmanns Wahrnehmung der Mitsicht eines (Post-)Adoleszenten entspricht, ist es bei Roddy Dangerblood ein erinnerndes Ich, das aus Erwachsenenperspektive auf seine Kindheit und Jugend blickt und so die erinnerten Orte in einen Kontext setzen kann. Dieses Kontextualisieren und Überführen der Erinnerungen in eine Lebensgeschichte ist Thema des Romans »Icks«. Der Besuch Bielefelds wird als Monolog mit geringem zeitlichen Abstand von einem erinnernden Ich reflektiert. Dieses erinnerte Ich der Binnenerzählung ist jedoch nicht der Erzähler der Rahmenhandlung, die im Flugzeug stattfindet und von Icks’ Sitznachbarn erzählt wird. Aufgrund der Länge und des zeitlichen Umfangs der MartinSchlosser-Chronik kann hier der autodiegetische Erzähler als Kind, Jugendlicher und Erwachsener auf sein Leben blicken und es beschreiben. Es ist eine außergewöhnliche Erzählsituation, die Rezipienten ermöglicht, den Wahrnehmungswandel von Topographien und die Auratisierung von Erinnerungsorten im Laufe eines Lebens literarisch inszeniert nachzuvollziehen. Während Roddy Dangerblood seine Kindheit und frühe Jugend im »Kuhstallidyll« am Rand der Peripherie verbringt, wächst Frank Lehmann in einem Vorort Bremens auf, der als Paradebeispiel einer geschichtslosen und unwirtlichen Planstadt gelten könnte, jedoch im Roman nicht als solche dargestellt wird. Martin Schlosser empfindet den Umzug von Koblenz nach Meppen als einen Prozess des Umtopfens, ein Entwurzeln aus der gewohnten Umgebung. Icks kehrt nach Bielefeld zurück, einer Stadt, die sich als ein Palimpsest aus individuellen Erinnerungsschichten, historischen Ereignissen und vor allem dem Verschweigen und Verdrängen speist. Während Martin Schlossers Blick auf den Erinnerungsraum seiner Kindheit ein wehmütiger ist, stoßen sich Frank Lehmann und Roddy Dangerblood – im Sinne Alexander Mitscherlichs – zielgerichtet von ihrem Herkunftsort ab. Auch Icks versucht dies; er scheitert jedoch, nimmt den Regen, der Bielefeld bestimmt, im Herzen mit. Denn durch das Leugnen und Verschweigen der Vergangenheit wird seine Heimatstadt zu dem geschichtslosen und unwirtlichen Ort, als den Mitscherlich die modernen Planstädte seiner Zeit beschreibt. Die Eigenschaften des Ortes werden von den Protagonisten des Romans »Dorfpunks« und der Martin-Schlosser-Chronik ähnlich wahrgenommen: In einem Fall handelt es sich um eine Korrelation, im anderen um Kausalität. Während die empfundene Langeweile Schmalenstedts ein Indikator der Adoleszenz ist und nur zufällig mit dem Ort korreliert, wird Meppen die Langweile und Ereignislosigkeit per se durch den Protagonisten zugeschrieben. Martin Schlosser betrachtet Mep-

4. Rückkehr: Orte der Kindheit (re)visited

pen als beengend, Roddy Dangerbloods Wahrnehmung ist dementgegen durch die Weite des Raums geprägt. Er findet als Jugendlicher keine Reibungsfläche, keine autoritären Personen oder strengen Regeln, gegen die er opponieren könnte (siehe 2.1). Martin Schlossers Perzeption von Meppen ändert sich nicht im Laufe seiner Entwicklung, auch kurze Besuche bei seinen Eltern empfindet er fortlaufend als lähmend. Bestätigung findet er in Brinkmanns Schilderungen über dessen Heimatort Vechta. Ferner unterstreichen die Intertexte die eigene Raumwahrnehmung Martin Schlossers. Während Brinkmanns Zitate die Enge Meppens unterstreichen, werden Verse Hölderlins beim sehnsuchtsvollen Blick auf die Topographien der Kindheit in Koblenz, Vallendar und Jever montiert. Dieses intermediale Verfahren markiert eine die Chronik konstituierende Schreibfigur, ferner eine Erinnerungsstrategie, die das autokommunikative Verhältnis zwischen Autor, Text und Leser bestimmt. Die Intertexte verweisen sowohl auf den erzählten Raum als auch auf den erinnerten bzw. erlebten Raum, den der Autor und die Leser erfahren haben; sie sind der Türöffner in die imaginierte, erinnerte Welt aller drei Instanzen, die sich wechselseitig beeinflussen, auf sich selbst zurückstrahlen und so einen neuen, gleichsam fremden Blick auf das eigene Weltbild erlauben. Auch in »Icks« konnten intertextuelle Verweise eruiert werden. Jedoch sind es in diesem Fall keine Intertexte aus dem popkulturellen Bereich, sondern aus dem wissenschaftlichen Diskurs. So rekurrieren Icks’ Argumente auf die psychoanalytischen Arbeiten des Ehepaars Mitscherlich und die Geschichtstheorie Francis Fukuyamas. Der Text gibt die Namensgeber dieser Theorien, auf welche er verweist, nicht preis, stattdessen setzt Icks die titelgebenden Sentenzen der Theorien als Argumente gegen das Leben seiner Eltern ein. Der Text evoziert mit »Die Unfähigkeit zu trauern« und »zu Ende die Geschichte mit ihr« ganze Wissensfelder und Diskurszusammenhänge, die ein Eindringen in die Tiefenstruktur des Romans ermöglichen. Icks’ Rückkehr nach Bielefeld wird als eine zweite Chance des Abschließens mit der Vergangenheit beschrieben. Sind es in Henschels Texten vor allem Intertexte, die die Erinnerungsstrategie prägen, so sind es in Bönts Roman das Bild der Verhörsituation und das helle Licht der Schreibtischlampe, welche die Erinnerungsflut im Augenblick des Besuchs metaphorisch darstellen. Die der Flut an Erinnerungen inhärente Wucht und unaufhaltsame Dynamik wird durch die Verkehrsmittel, die der Erinnernde nutzt, symbolisiert. So sitzt das erinnernde Ich im Flugzeug und fliegt zwischen Zeit- und Raumgrenzen hinweg über den Atlantik; der Weg zum Elternhaus ist durch Zug- und Straßenbahnfahrten, die teilweise unter der Erde entlangführen, geprägt. Icks ist immer nur Passagier in ihn befördernden, fremdgesteuerten Transportmitteln, die prägend für die Raumdynamisierung des 20.

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Topographien der Adoleszenz

und 21. Jahrhunderts sind.36 Dass ein Protagonist, dessen Ziel es ist, seine eigene, selbstbestimmte Biographie zu schreiben, auf deren Grundlage er sein weiteres Leben aufbauen kann, ausgerechnet in solchen Vehikeln diese Entwicklungsaufgaben meistern soll, offenbart die Komplexität der Welt, welcher sich Individuen der erzählten Zeit ausgesetzt sehen.

36

Vgl. Bachmann-Medick, Doris (2009): Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze: Bewegungshorizonte und Subjektverortung in literarischen Beispielen, S. 257-279.

5. Autokommunikation und Bonner Republik

Die Auswirkungen des Endes der Zweistaatlichkeit Deutschlands schlagen sich in der kulturellen Produktion von Gegenwartsliteratur nicht allein in Texten nieder, die als konstituierend für den Erinnerungsraum DDR verstanden werden können, sondern darüber hinaus auch in solchen Texten, die das westliche Pendant – den Erinnerungsraum Bonner Republik – erzeugen. Während der Erinnerungsraum DDR bereits Gegenstand zahlreicher literaturwissenschaftlicher Untersuchungen war, wurde das westliche Pendant bisher eher marginalisiert. Mit der Untersuchung der Topographie widmet sich die Studie daher einem Forschungsdesiderat, indem sie zwei Aspekte in den Blick nimmt: auf der einen Seite den Erinnerungsraum Gegenwartsliteratur und auf der anderen Seite die literarische Darstellung des Aufwachsens in der Bonner Republik. In den untersuchten Texten schwingt ein nostalgisches Moment mit, das viele Leser als Gefühl eines freudigen (Wieder-)Erkennens überkommt. Dieses »AhaErlebnis«1 ist als Erkennen im Spiegel, als Moment der Selbstidentifikation zu werten. Die Texte werden zugleich als Träger des kollektiven Gedächtnisses sichtbar, die das Selbstverständnis der Semiosphäre prägen und transformieren. Sie tragen zur Veränderung bei, erzeugen Dynamik in der Semiosphäre, indem sie zwar Bekanntes erzählen, jedoch die Perspektive darauf verändern. Die Texte erzeugen eine Reaktion bei ihren Lesern. Sie regen zur Reflexion an, zum Nachdenken darüber, inwiefern die Vergangenheit – in diesem konkreten Fall das Aufwachsen zur Zeit des Kalten Krieges in Westdeutschland – Einfluss auf die Gegenwart nimmt. Selbst wenn die Rezipienten nicht zur Alterskohorte der Protagonisten zählen oder in einem anderen Land aufgewachsen sind, regt die Lektüre zu einem Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart an. Die Topoi Westberlin, der Weg über die Transitstrecke, das Aufwachsen in der vermeintlichen Provinz sowie der Wehrdienst sind zentrale Elemente für die Phase der (Post-)Adoleszenz der Protagonisten. Die diesen Topoi eingeschriebenen

1

Vgl. Mahler, Andreas (2004): Semiosphäre und kognitive Matrix, S. 59. Mahler bezieht sich damit auf Lacans Ausführungen zur Ausbildung eines Selbst im Moment des Erkennens im Spiegel. (Vgl. Fußnote 127).

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Topographien der Adoleszenz

Raumpraktiken konstituieren den Erinnerungsraum Bonner Republik wie er in den Romanen des Textkorpus dargestellt wird. Das Erlaufen von Stadtteilen, die Rückkehr in die Heimat, das Erinnern an das Aufwachsen in der Provinz – all diese literarisch inszenierten Praktiken der Protagonisten bilden die Topographie der Adoleszenz zur Zeit der Bonner Republik. Als Lebensphasen und Repräsentation liminaler Schwellenräume haben die genannten Topoi unterschiedlich gewichtete Signifikanz im Hinblick auf die Entwicklung der Protagonisten. Die erzählte Zeit der Romane ist für die heranwachsenden Protagonisten durch den Wehrdienst, erste Beziehungen und erwachende Sexualität, die Abnabelung von den Eltern, Ausbildung, Studium und den Kontakt zu Subkulturen geprägt. Diese Stationen auf dem Weg zum Erwachsensein werden in Subsemiosphären gelebt und gehorchen unterschiedlichen Praktiken und Routinen, die die Heterogenität der Gesamtsemiosphäre ausmachen. Einige sind an den Rändern der Semiosphäre angesiedelt (etwa der Punk); Übersetzungsprozesse benachbarter (Sub-)Semiosphären werden dort besonders virulent. Andere sind im Zentrum der Semiosphäre zu verorten, wie die Bundeswehr; sie nimmt vor allem in »Neue Vahr Süd«, aber auch in der Martin-Schlosser-Chronik eine wichtige Stellung ein. Der Wehrdienst erweist sich als eine in Auflösung begriffene Praktik eines institutionalisierten und männlich gegenderten Initiationsrituals. Als Ort des Männerbündnisses ist die Kaserne, insbesondere die Stube ein heterotoper Raum, der durch spezifische Ein- und Ausschließungen produziert wird. Diese Raumeigenschaften haben Einfluss auf die Bewohner, die die wiederholenden Übungen verinnerlichen und in Alltagspraktiken überführen. Die institutionelle Macht tritt durch die Verhaltensänderungen der Protagonisten Frank Lehmann und Martin Schlosser hervor. Den Machterhalt garantieren die Akteure der Institution Bundeswehr, denen durch den institutionalisierten Raum Praktiken abverlangt werden, die wiederum den Raum konstituieren. Sowohl Martin Schlosser als auch Frank Lehmann spüren den Druck, der durch die exerzierenden Praktiken auf ihnen lastet, und sie entschließen sich, den Wehrdienst nachträglich zu verweigern. Zur erzählten Zeit der Romane ist es unpopulär, ihn abzuleisten, was durch die Reaktionen des nahen Umfelds der beiden Protagonisten gespiegelt wird. Dass sowohl Frank Lehmann als auch Martin Schlosser vorzeitig aus dem Dienst ausscheiden, unterstreicht den Bedeutungsverlust des Kalten Krieges und der Institution Bundeswehr als Ort des Männerbündnisses. Es sind für den westdeutschen Teil charakteristische räumliche Strukturen, die als literarisch inszenierter Erinnerungsraum dargestellt werden. Neben der Wehrpflicht sind die Mauerstadt, insbesondere Kreuzberg, sowie die Transitstrecke zeittypische Elemente. Sie stellen räumliche Ordnungsmuster und liminale Schwellenräume dar, die von den männlichen Protagonisten begangen oder erzeugt werden – und die seit dem Fall der Mauer der Vergangenheit angehören. Die Raumer-

5. Autokommunikation und Bonner Republik

oberung im Modus des Wayfaring, das Aneignen und gleichzeitige Konturieren neuer Räume sind charakteristische Praktiken der Raumerschließung. Da es allein Randgestalten obliegt, Subsemiosphären zu produzieren, indem sie die genannten Praktiken ausführen, zieht es die Protagonisten in diese Grenzbereiche. Auf diese Weise bilden sich neue Subsemiosphären aus, neue Impulse werden aufgenommen und ins Zentrum der Semiosphäre überführt. Die Metropole Westberlin wird zum Sehnsuchtsort der adoleszenten Protagonisten erhoben und als (bedrohliche) Verführerin dargestellt, die der ebenfalls weiblich gegenderten, aber behütenden Heimat gegenübersteht. Als Bewohner des Grenzraums erzeugen die Adoleszenten in der Mauerstadt einen heterotopen Raum, der aufgrund seiner geographischen Lage und der daraus resultierenden rechtlichen Besonderheiten ein Hort vor allem für junge Männer ist. Denn dort können sie der Wehrpflicht entgehen, die in Westberlin nicht existierte. Dies kann auch zur Erklärung dafür beitragen, warum sich »Kollektive Biographien«2 dieser Art aus vornehmlich männlicher Perspektive finden lassen. Für junge Männer hatte Westberlin aus den genannten Gründen offenbar eine größere Sogwirkung. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet ist diese Anziehungskraft auf junge Männer als Fortschreibung der in Bildungs- und Entwicklungsromanen angelegten Bewegungsdynamik zu lesen. Im Gegensatz zu ihren literarischen Vorläufern löst sich in den Texten dieser Studie die Schwellensituation, in der sich die Adoleszenten befinden, jedoch nicht im teleologischen Sinne auf. Stattdessen passieren die Protagonisten viele liminale Räume und befinden sich fortwährend in einem transitorischen Zustand. Die Phase der Adoleszenz wird in den Texten als eigenständiger Lebensabschnitt dargestellt. Der soziologische Terminus der Postadoleszenz trägt der Eigenständigkeit der Lebensphase Rechnung. Das subversive Potenzial der Adoleszenz befähigt die Bewohner der Subsemiosphäre zur Transformation der Semiosphäre. Als Randgestalten tragen sie neue Impulse ins Zentrum der Semiosphäre. Was die Texte als revolutionär verhandeln – beispielsweise die Subkultur des Punk –, wird, wenn auch in abgewandelter Form, ›gesellschaftsfähig‹ oder, anders ausgedrückt, akzeptiert. Die Schilderungen von besetztem Hinterhaus und pseudobesetztem Vorderhaus in »Der kleine Bruder« machen auf bildlicher Ebene den Prozess deutlich. Raumturbulenzen und die Dynamik der Semiosphäre werden vor allem im Grenzbereich sichtbar. Der Effekt des »Trudelns und Schwankens des Subjekts«3 , wie ihn Doris Bachmann-Medick beschreibt und wie er in den Schilderungen von U- und Straßenbahnfahrten sichtbar wird, lässt sich in den Texten als literarische Inszenierung der Veränderungen innerhalb der Semiosphäre erkennen. Die Eroberung 2 3

Die Gattungsbezeichnung prägte Carsten Gansel, vgl. Fußnote 18. Bachmann-Medick, Doris (2009): Fort-Schritte, Gedanken-Gänge, Ab-Stürze: Bewegungshorizonte und Subjektverortung in literarischen Beispielen, S. 260.

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neuer Räume durch die Globalisierungsprozesse des späten 20. Jahrhunderts thematisieren die Texte ebenfalls. Jedoch sind es primär nicht jene Länder, die einst hinter dem Eisernen Vorhang lagen, sondern solche der westlichen Hemisphäre, die in den Texten als Reiseziele verhandelt werden. So macht sich Frank Lehmanns Bruder Manfred in den 1980er-Jahren nach New York auf, er selbst überlegt an seinem 30. Geburtstag, nach Bali oder (und das wäre in der Tat eine Erschließung von neuen, unbekannten Räumen) nach Polen (HL, 285) zu reisen. Icks fliegt ebenfalls nach New York, um dort seine neue Berufslaufbahn als Regisseur voranzubringen. Für Mitglieder einer Subkultur ist Berlin das Zentrum der Subsemiosphäre, die auch geographisch tatsächlich im Grenzraum angesiedelt ist. Jurij Lotmans Ausführungen zum Aufbau und der Positionierung von Peripherie und Zentrum der Semiosphäre lassen sich in den Texten selbst geographisch bestätigen. So nimmt es nicht wunder, dass sich mit dem sich anbahnenden Zusammenbruch der Sowjetunion im Laufe der erzählten Zeit von »Herr Lehmann« auch Veränderungen im persönlichen Leben des Protagonisten konstatieren lassen, die schließlich in einem Großereignis am Ende der Handlung kulminieren. Dass Frank Lehmann weder die persönlichen Veränderungen noch die politischen Umwälzungen zu fassen bekommt und schließlich mit abwartender Haltung am 9. November 1989, an seinem 30. Geburtstag, an der geöffneten Mauer steht, ist als literarische Inszenierung der symptomatischen Reaktion eines Großteils der Bevölkerung Westdeutschlands zu bewerten. Die »Wende« wird in der Regel mit dem Zusammenbruch der DDR gleichgesetzt und der Untergang der DDR ist es, der literarisch, filmisch und wissenschaftlich thematisiert wird. Dass indes auch auf der westdeutschen Seite Transformationsprozesse zu diesem Zeitpunkt virulent wurden, schwingt nur im Subtext der untersuchten Romane mit. Die Trilogie von Sven Regener operiert explizit mit diesem historischen Ereignis. Der Fall der Mauer wird zum Kippmoment zwischen vergangener Bonner Republik und vereinigtem Deutschland stilisiert; das Ereignis führt zum Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart. In »Icks« werden die negativen Auswirkungen der »Wende« auf die individuelle Karrieregestaltung des Protagonisten verhandelt. Martin Schlosser registriert den Zusammenbruch der Sowjetunion als mediales Ereignis, das (vorerst) keinen Einfluss auf sein Leben nimmt. »Dorfpunks« thematisiert den Fall der Mauer gar nicht. Dennoch denken Rezipienten diesen historischen Bruch beim Lesen dieser »Kollektiven Biographien« mit. Die »nachträgliche[] Bedeutungszuweisung und rückwärtsgewandte[] Projektion«4 ist Teil solcher Lektüren. Die insulare Topographie Westberlins ist der zentrale, konstituierende Topos des Erinnerungsraums. Es ist wider Erwarten nicht die Stadt Bonn als Ort des Regierungssitzes, die, wie aufgrund der Bezeichnung »Bonner Republik« anzunehmen wäre, eine prominente Rolle spielt; die einstige provisorische Bundeshaupt4

Brüns, Elke (2006): Nach dem Mauerfall, S. 22.

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stadt sollte doch zumindest thematisiert werden. Aber dies ist mitnichten der Fall. Im Gegenteil: Bonn wird nicht erinnert, nicht erzählt. Lediglich Martin Schlosser registriert die Stadt als das »gigantische[] Kuhdorf« (Lir, 423), in das seine ältere Schwester zieht. Bonn als Ort bleibt im Erinnerungsraum Bonner Republik, so wie er durch das Textkorpus konturiert wird, eine Leerstelle. Wenngleich er zunächst irritieren mag, ist der Bezug auf die Bonner Republik bei der Benennung des Erinnerungsraums sinnvoll, ist es doch gerade diese Leerstelle, die den Erinnerungsraum bestimmt. Bonn, der Regierungssitz, ist sekundär und liegt an der Peripherie der geographisch umrissenen Republik sowie des Erlebnishorizonts der jugendlichen Protagonisten. Die Bezeichnung legt den Finger bildlich gesprochen in die Wunde, indem sie die Wunde eben nicht benennt. Die Wunde ist nicht die Stadt Bonn, sondern der ›Rest‹ – Westberlin, die bundesrepublikanische Provinz, die Transitstrecke. Diese Räume werden durch die semiosphärischen Eruptionen geprägt; sie sind die Wunde, die in den Texten erzählt und erinnert wird. Besonders deutlich wird das in »Icks« und der Wahrnehmung seiner Heimatstadt Bielefeld durch den Protagonisten. Hier begegnet ihm das unheimliche Tier der Erinnerung, das aus seinen eigenen Erlebnissen, den Erinnerungen seiner Eltern, den Verstrickungen in das NS-Regime und den unverarbeiteten Traumata besteht. Die Bonner Republik ist Resultat des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs; nicht bloß als geographisch klar begrenzte Biosphäre wird sie sichtbar. Die semiosphärischen Eigenarten der Bonner Republik werden in den Texten verhandelt. Die adoleszenten Protagonisten eignen sich die Räume an, erzeugen Orte des Übergangs, kreieren Subsemiosphären. Der provisorische Charakter der Bonner Republik wird auf diese Weise betont. Mit dem Land auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs verhält es sich ähnlich: Die DDR wird als Erinnerungsraum ausgespart. Als das »sehr dunkle Dunkel« (DkB, 6) nimmt Frank Lehmann die Fahrt über die Transitstrecke deshalb auch wahr. Die DDR ist in den Texten eine Leerstelle, die – wenn überhaupt – nur als eintönig und grau wahrgenommen wird. Dieses Nicht-Wahrnehmen der DDR kann als Hinweis auf die auch heute noch virulenten Missverständnisse und Vorurteile seitens der ›alten‹ BRD gegenüber der Bevölkerung der ›neuen‹ Bundesländer gedeutet werden. Stießen doch schon zur erzählten Zeit der Zweistaatlichkeit die Geschehnisse in der DDR auf Desinteresse seitens der Protagonisten, so verwundert es wenig, wenn auch der Fall der Mauer nicht dazu führt, dass die Adoleszenten ihre Abenteuerlust in Richtung des neuen, nun leichter erreichbaren ›Ostens‹ fortsetzen. Die Ignoranz gegenüber der DDR, die in den Texten auf individueller Ebene sichtbar wird, schlägt sich dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung in gesellschaftlichen und kulturellen Differenzen nieder und kulminiert in Stereotypen wie dem »Jammer-Ossi« und dem »Besser-Wessi«. Wenngleich die Texte keinen expliziten Vorschlag zum besseren Dialog machen, können sie zum besseren Verständnis beitragen. Zwar bedeutet der Fall der Mauer für die Bevölkerung der

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Bonner Republik keinen politischen Systemwechsel wie für die Menschen der DDR, dennoch – und davon zeugen alle untersuchten Texte – wird dieses historische Ereignis als Umbruch erinnert. Eine Parallele also, die möglicherweise zum Anlass des Besser-verstehen-Wollens genommen werden kann.5 Die bundesrepublikanische Provinz wird in den Texten auf zweierlei Weise erzählt. Zum einen ist sie der Ort, von dem sich die adoleszenten Protagonisten abstoßen. Das Zuhause wird als ereignisloser Warteraum auf dem Weg zum Erwachsensein inszeniert. Im Sinne der Rites de Passage wird die Provinz als Startpunkt des Aufbruchs verhandelt. Zu betonen ist, dass die vermeintlich provinziellen Orte, die es zu verlassen gilt, objektiv betrachtet ganz unterschiedlich sind. Martin Schlosser verbringt seine Jugend in einer mittelgroßen Kreisstadt, Roddy Dangerblood in einem wenige Bauernhöfe umfassenden Dorf in Schleswig-Holstein. Frank Lehmann wächst in einer Planstadt am Rande Bremens auf und Icks in einem Neubaugebiet Bielefelds. Der Wunsch auszubrechen ist den Orten offenbar nicht per se eingeschrieben. Es sind vielmehr die adoleszenten Protagonisten, die die Orte des Aufwachsens als provinziell markieren. Zweitens wird die bundesrepublikanische Provinz als Sehnsuchtsort erzählt. Primär in der Chronik Gerhard Henschels erhalten die Topographien der Kindheit diese Qualität. Jever, der Wohnort seiner Großeltern, und Vallendar – dort hat Martin Schlosser bis zu seinem zwölften Lebensjahr gelebt – sind die Orte, die der adoleszente Protagonist als paradiesisch erinnert. In »Dorfspunks« wird die Kindheit im Dorf als abenteuerlich dargestellt, erst mit dem Eintritt in die Pubertät erhält der Herkunftsort eine andere Qualität und wird als langweilig und einengend wahrgenommen. Martin Schlosser indes sehnt sich fortwährend nach Jever und Vallendar. Jedoch lässt sich auch hier ein Prozess erkennen, den der Protagonist reflektiert. Er bemerkt, dass sich Vallendar und die Bewohner im Laufe der Zeit wandeln und sein Sehnsuchtsort nur in der Erinnerung existiert. Besuche werden mit größerem zeitlichen Abstand immer ernüchternder, nur aus der Ferne und mit einem flüchtigen Blick bleibt die auratische Wirkung lange Zeit bestehen. Anders verhält es sich mit Jever: Die Stadt ist für Martin und seine gesamte Familie mütterlicherseits prägend. Seine Mutter, seine Tanten und sein Vetter sind dort aufgewachsen, seine Großeltern haben – seit er denken kann – dort gelebt. Topographien, wie der Schlossgarten, das Kinderkarussell und der Bahnhof, sind tief in das Familiengedächtnis der Lüttjens eingeschrieben. Die intergenerationelle Pflege dieses Gedächtnisses, also das Erzählen über und das Erinnern an die Erlebnisse

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Dass auch der umgekehrte Blick Teil eines wechselseitigen Dialogs sein sollte, liegt auf der Hand. Texte, die den Erinnerungsraum DDR verhandeln, tragen dazu bei. Wer seinen eigenen Erfahrungshorizont mithilfe solcher Lektüren weitet, kann zuvor unbekannte Erfahrungen verstehen lernen und so mit größerer Empathie dem ›Fremden‹ begegnen.

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der einzelnen Familienangehörigen, trägt zur Auratisierung der Topographien und mithin zum Einschreiben der Erinnerung in diese Orte bei. Die Ergebnisse dieser Studie regen darüber hinaus zu einer Diskussion über das Verständnis von Wende- und Berlinroman an. Bisher werden nur solche Texte unter die Gattung Wenderoman rubriziert, die den Erinnerungsraum DDR konturieren. Da der Fall der Mauer auch aus westdeutscher Perspektive als historischer und individueller Bruch erfahren und erinnert wird, sollte die Verwendung des Begriffs – so man denn überhaupt auf solchen Etikettierungen besteht – überdacht werden. Gleiches gilt für den Berlinroman. Die literarische Darstellung Westberlins bezieht sich auf einen historischen Ausnahmezeitraum. Ob es jedoch sinnvoll ist, politisch-historische Zäsuren, die Einfluss auf die geographischen Ränder der Metropole entfalten, zum Anlass zu nehmen, eine Subkategorisierung der Romangattung vorzunehmen, lässt sich bezweifeln. Schließlich wird gerade anhand der Geschichte dieser Stadt die Dynamik von Raumtransformationen deutlich. Die Gattung Berlinroman sollte vielmehr eine Aufwertung erfahren, indem sie eine historische Unterfütterung erfährt, die die geschichtlich motivierten Raumveränderungen mitdenkt, anstatt die Gattung weiter zu untergliedern. Die von Feuilleton und Buchverlagen zu Marketingzwecken eingesetzte Worthülse birgt indes keinen weiterführenden Erkenntnisgewinn. Der in den Texten erzeugte Erinnerungsraum Bonner Republik zeichnet nicht bloß individuelle Erlebnisse des Heranwachsens nach, sondern trägt zum kollektiven Gedächtnis und zur Gestaltung der Semiosphäre bei. Es sind neue Modi der Thematisierung von Adoleszenz, die den untersuchten Erinnerungsraum prägen. Die neuen Lebensweisen sowie die Reflexion über die Elterngeneration und die eigene Jugend weisen eine subversive Tendenz auf. Die Texte bilden nicht bloß Bestehendes oder Erlebtes ab. Stattdessen fordern sie durch humoreske Elemente (Lehmann-Trilogie) bzw. autofiktionale Selbstironie (»Dorfpunks« und MartinSchlosser-Chronik) oder selbstkritische Sichtweisen (»Icks«) dazu auf, neue Gedankengänge zuzulassen. Die Texte tragen zum Dialog und Verständnis des kulturellen Wir, dem Selbstverständnis der Bewohner der Semiosphäre, bei.6 Sie stoßen, im autokommunikativen Code gelesen, einen Prozess an, der das Selbstbild der Semiosphäre gestaltet.

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Erzählungen aus inter-/transkultureller Perspektive dürfen nicht außer acht gelassen werden. Sie sind ebenfalls Teil der Semiosphäre und formen das kulturelle Wir im Modus der Autokommunikation. Der Erinnerungsraum Bonner Republik besteht aus vielen Facetten. Der männlich gegenderte, innerdeutsche Blick auf die Zeit der Zweistaatlichkeit reicht allein nicht aus, um diesen Raum komplett auszuleuchten und damit das kulturelle Wir in toto anzusprechen. So ist etwa auch die Perspektive von Migrantinnen und Migranten eine entscheidende sowie der westeuropäische Blick.

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Literaturwissenschaft Julika Griem

Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2

Klaus Benesch

Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2

Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

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Literaturwissenschaft Renate Lachmann

Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1

Achim Geisenhanslüke

Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12. Jahrgang, 2021, Heft 2: Zeit(en) des Anderen Januar 2022, 218 S., kart. 12,80 € (DE), 978-3-8376-5396-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5396-4

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