»High« und »low«: Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur 311025560X, 9783110255607

Die Geschichte der Ästhetik verzeichnet das Verhältnis von high und low, also von Hoch- und Populärkultur, als ein stren

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»High« und »low«: Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur
 311025560X, 9783110255607

Table of contents :
Inhalt
High und low. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur • Thomas Wegmann / Norbert Christian Wolf
Bestimmungsgrößen von high und low • Thomas Hecken
LowHigh: Hybridität und Pfropfung als Modelle einer Vermischung von Hoch und Tief • Uwe Wirth
Wo steht die Gegenkultur? Zum Unterschied zwischen normativem Diskurs und sozialer Realität im Spiel zwischen high und low • Thomas Becker
Das Material ordnen. Rolf Dieter Brinkmanns akustische Nachlassedition Wörter Sex Schnitt • Natalie Binczek
Parasitäres Schreiben. Literatur, Pop und Kritik bei Marcel Beyer • Achim Geisenhanslüke
»Schall und Wahn«. Andere Orte der Erinnerung in Peter Handkes Versuch über die Jukebox • Clemens Peck
Das bin ich nicht. Thomas Glavinics Literaturbetriebs-Szene • David-Christopher Assmann
Hybride Beeindruckungsmaschinen. René Polleschs Videothek und der Erfahrungsreichtum seiner SchauspielerInnen • Franziska Schößler
»Weil im Nachhinein immer einfach«. Die Marke Haas auf dem Höhenkamm der Moderne • Heinz Drügh
Virtuose des Trash. Dietmar Daths Entwurf einer »Ästhetik der Drastik« in kultursoziologischer Perspektive • Uta Degner
loslabern. Rainald Goetz’ »maximale Ethik der Schrift« und die Genesis der Popkultur • Stefan Greif
Auktionskatalog, Fotoroman, Liebesinventar. Vom Wert der Dinge in Leanne Shaptons Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck • Ulrike Vedder
So oder so. Die Liste als ästhetische Kippfigur • Thomas Wegmann
Beiträger
Personenregister

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STUDIEN UND TEXTE ZUR SOZIALGESCHICHTE DER LITERATUR

Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger

Band 130

»High« und »low« Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur

Herausgegeben von Thomas Wegmann und Norbert Christian Wolf

De Gruyter

Redaktion des Bandes: Norbert Bachleitner

ISBN 978-3-11-025560-7 e-ISBN 978-3-11-025561-4 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data High und low : zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur / herausgegeben von Thomas Wegmann und Norbert Christian Wolf. p. cm. ⫺ (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; Bd. 130) Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-025560-7 (alk. paper) 1. German literature ⫺ 20th century ⫺ History and criticism. 2. German literature ⫺ 21st century ⫺ History and criticism. 3. Literature, Experimental ⫺ Germany ⫺ History and criticism. 4. Popular culture ⫺ Germany. 5. Avant-garde (Aesthetics) ⫺ Germany. I. Wegmann, Thomas, 1962⫺ II. Wolf, Norbert Christian. PT405.H436 2011 830.9100914⫺dc23 2011037965

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

Thomas Wegmann / Norbert Christian Wolf High und low. Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Hecken Bestimmungsgrößen von high und low . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Uwe Wirth LowHigh: Hybridität und Pfropfung als Modelle einer Vermischung von Hoch und Tief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Thomas Becker Wo steht die Gegenkultur? Zum Unterschied zwischen normativem Diskurs und sozialer Realität im Spiel zwischen high und low . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Natalie Binczek Das Material ordnen. Rolf Dieter Brinkmanns akustische Nachlassedition Wörter Sex Schnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Achim Geisenhanslüke Parasitäres Schreiben. Literatur, Pop und Kritik bei Marcel Beyer . . . . . . . . . . . . . . 83 Clemens Peck »Schall und Wahn«. Andere Orte der Erinnerung in Peter Handkes Versuch über die Jukebox . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 David-Christopher Assmann Das bin ich nicht. Thomas Glavinics Literaturbetriebs-Szene . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Franziska Schößler Hybride Beeindruckungsmaschinen. René Polleschs Videothek und der Erfahrungsreichtum seiner SchauspielerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Heinz Drügh »Weil im Nachhinein immer einfach«. Die Marke Haas auf dem Höhenkamm der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

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Inhalt

Uta Degner Virtuose des Trash. Dietmar Daths Entwurf einer »Ästhetik der Drastik« in kultursoziologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Stefan Greif loslabern. Rainald Goetz’ »maximale Ethik der Schrift« und die Genesis der Popkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Ulrike Vedder Auktionskatalog, Fotoroman, Liebesinventar. Vom Wert der Dinge in Leanne Shaptons Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Thomas Wegmann So oder so. Die Liste als ästhetische Kippfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Beiträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

Thomas Wegmann / Norbert Christian Wolf

High und low Zur Interferenz von Hoch- und Populärkultur in der Gegenwartsliteratur

In einem Artikel für das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft über die historischen Avantgarde-Bewegungen der Literatur des 20. Jahrhunderts erläutert der Münchner Germanist Georg Jäger die ästhetischen Avantgarde-Strategien wie folgt: Die künstlerischen Avantgarden im engeren Sinn sind multimediale […] Bewegungen programmatischen Charakters (›Ismen‹). Gemeinsam ist ihnen die Ablehnung […] der überkommenen Kunst- und Gattungsgrenzen sowie des organischen Kunstwerkes. Mit den Avantgarden werden alle Materialien und Verfahren kunstfähig und verschwimmt die Grenze zwischen Kunst und Leben.1

Tatsächlich setzten diese Tendenzen bereits um 1800 poetologisch mit den Postulaten der deutschen Frühromantik2 sowie im mittleren 19. Jahrhundert dichtungspraktisch mit den poetischen Verfahren Baudelaires und Flauberts3 ein. Was dann spätestens mit den historischen Avantgarden programmatisch wurde, findet auch in der aktuellen Gegenwartsliteratur kein Ende, nämlich Grenzüberschreitungen zu ›illegitimen‹ Kunst- und Kulturformen: Thomas Meinecke nennt seinen »so gut wie handlungsfreien«4 Roman Musik (2004) und meint damit vor allem Popmusik. Dietmar Dath bezieht sich in Die salzweißen Augen (2005) ausführlich auf Horrorfilme, Pornografie, Heavy Metal und Science-Fiction und verfolgt das Ziel, diese ›niederen‹ Genres ästhetisch zu nobili-

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Georg Jäger: Avantgarde. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. I: A–G. Hg. v. Klaus Weimar, Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. Berlin/New York 1997, S. 183–187, hier: S. 184. Vgl. die berühmte Formel aus Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragment [116]: »Die romantische Poesie […] will, und soll auch Poesie und Prosa […] bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen« (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler, unter Mitw. v. Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Fortgef. v. Andreas Arndt. 1. Abt., Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken [1796–1801]. Kritische Neuausgabe. Hg. v. Hans Eichner. Darmstadt 1967, S. 182f.). Zu Flaubert vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes [frz. 1992]. Frankfurt am Main 1999, S. 150–166. Zu Baudelaire ebd., S. 103–114, sowie ders.: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt am Main 2001, S. 107– 117. Eine genauere Analyse des Baudelaire’schen ästhetischen Verfahrens aus der Perspektive der Feldsoziologie unternimmt Thomas Becker: Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung einer autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires. In: Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Hg. v. Markus Joch und Norbert Christian Wolf. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108) Tübingen 2005, S. 159–175. Edo Reents: Thomas Meineckes Geschlechtersound. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 6. Oktober 2004.

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Thomas Wegmann / Norbert Christian Wolf

tieren. Nicht von ungefähr zeichnen sich beide Bücher durch einen hoch reflektierten Umgang mit der sogenannten Populärkultur aus, der auf aktuelle kultur- und medienwissenschaftliche Theoriebildungen rekurriert und vor dem akademischen Gestus der Annotation nicht zurückschreckt. Wenn als ein Kennzeichen populärer Kultur ihre Massenkompatibilität herausgestellt wird, ist diese zwar für Dath und Meinecke ein zentrales Sujet, ihre Texte selbst aber sind alles andere als populär. Vielmehr situieren sie sich offensichtlich in Abgrenzung von der symbolischen »Massenproduktion« im »Subfeld der eingeschränkten Produktion«5 und setzen dabei die Emotionalisierungsund Faszinationseffekte von Populärkultur nicht nur gezielt ein, sondern auch ein großes Vorwissen unterschiedlicher Provenienz voraus. Mit solchen spezifische Kennerschaft und Arkanwissen ausstellenden Verfahren scheinen sie tradierte Muster ästhetischer Erfahrung nachhaltig zu irritieren, weswegen sie von der Literaturkritik des Feuilletons regelmäßig als allzu theorie- und diskurslastig abqualifiziert werden: Von ›Literatur‹ erwartet man in Deutschland – spätestens seit der sogenannten ›Lesbarkeitsdebatte‹ der neunziger Jahre6 – zumindest in den öffentlich sichtbaren Bereichen des literarischen Feldes anderes. Solche Irritationseffekte ergeben sich nicht allein durch das in diesem Band an verschiedenen Beispielen untersuchte Phänomen einer scheinbaren Entgrenzung von Populär- und Hochkultur, sondern auch durch die textuelle Integration verschiedener Elemente von ›Nicht-Kunst‹, von theoretischen und wissenschaftlichen Diskursen und vor allem durch eine auffällige Aufwertung dessen, was George Steiner stets kenntnisreich als das »Sekundäre« diskriminiert hat, also der Rede über Kunst, ihrer Vor- und Hinterhöfe, kurz: ihres »Beiwerks« (Gérard Genette). Als etwa Wolf Haas 2006 mit Das Wetter vor 15 Jahren einen Roman vorlegte, der einzig aus einem Gespräch über einen Roman zwischen einer sogenannten ›Literaturbeilage‹ und einer Autorfigur namens Wolf Haas besteht, gab es Anfragen beim Verlag, wann denn der darin besprochene, der ›richtige‹ Roman dieses Wolf Haas erscheinen würde. Das Beiwerk (hier ein Interview mit dem Autor) wird Werk, der Paratext Text – eine Tendenz, die im deutschsprachigen Raum spätestens mit Thomas Bernhard eingesetzt hat und die auch international zu beobachten ist: Man denke etwa an Michel Houellebecqs jüngsten Roman Karte und Gebiet (dt. 2011), in dem der Autor ebenfalls als eigene Romanfigur auftritt und zudem seine (fiktionale) Ermordung und Zerstückelung beschreibt. Hier wie da überblendet der literarische Text fiktionale und faktuale Verfahren: Als Genre ist das Autoreninterview kein fiktionaler Text, sondern ein journalistisches Format, in dem reale Personen unter anderem über fiktionale Texte sprechen. Haas modelliert daraus einen Roman, in dem der in Rede stehende Roman gänzlich fiktiv ist und zugleich dennoch genau das, was der reale Leser dieses fingierten Interviews zu lesen bekommt. Und ein zumindest darin vergleichbares Spiel mit dem Sekundären kennzeichnet auch die letzten Bücher von Rainald Goetz, der aus dem nebenbei gesprochenen Wort in Partygesprächen und

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Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 344f. Vgl. hierzu Andrea Köhler und Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998.

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Internettagebüchern Literatur fabriziert und seinen jüngsten Text konsequent loslabern (2009) nennt. So unterschiedlich all diese hier Pars pro Toto angeführten Texte auch sind, eines haben sie doch gemein: Es sind allesamt Artefakte, die – implizit oder explizit – die Rezeption von anderen Artefakten und damit ästhetische Erfahrung selbst reflektieren, mithin – um mit Walter Benjamin zu sprechen7 – Dokumente einer »Erfahrungsarmut« sind oder zumindest Erfahrungsskepsis signalisieren, wenn ›Erfahrung‹ nicht die Begegnung mit selbst schon dezidiert künstlichen Artefakten auf einer Metaebene meint. Darin korrespondieren sie mit jenen künstlerischen Bewegungen, die David Shields in seinem Buch Reality Hunger. Ein Manifest (dt. 2011) als symptomatisch für eine fortgeschrittene Mediengesellschaft deklariert und als deren Kennzeichen er unter anderem »ein Verwischen (bis zur Unkenntlichkeit) jeglicher Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion« ausgemacht hat: »die Verlockung und das Verschwimmen des Realen«.8 Shields lotet nicht nur Grenzen zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion, zwischen Reportage und Erfindung, Originalität und Kopie aus, wie er sie in den Sampling-Techniken des Hip-Hop und den Mashups der DJs paradigmatisch vorfindet; sein »lyrischer Essay« verdankt sich auch solchen Techniken, da er zu einem großen Teil selbst aus Zitaten, Aphorismen und Anekdoten anderer Autoren besteht, mithin Symptom und Diagnose zugleich ist: Dieses Buch enthält hunderte von Zitaten, die im Text nicht als solche ausgewiesen sind. Ich versuche, eine Freiheit wiederzugewinnen, die für Schriftsteller von Montaigne bis Burroughs selbstverständlich war und die uns verloren gegangen ist. Ihre Unsicherheit, wessen Worte Sie jetzt gelesen haben, ist kein Defekt, sondern charakteristisch.9

Insofern ließen sich solche Texte auch als ›Rezipientenprosa‹ bezeichnen, als literarische Texte, deren Produktionsästhetik maßgeblich auf verschiedenen Rezeptionsakten und Rezeptionsweisen unterschiedlicher kultureller Erzeugnisse gründet bzw. diese inszeniert. Solche Verfahren wiederum, wie sie für Teile einer ›jüngeren‹ Autorengeneration signifikant sind, lassen die binären Differenzen zwischen Populär- und Hochkultur, Produktion und Rezeption, Primärem und Sekundärem, ›legitimen‹ und ›illegitimen‹ Künsten zumindest auf der textuellen Oberfläche diffundieren. Doch genau diese vermeintliche Entgrenzung gilt es genauer zu analysieren und daraufhin zu überprüfen, ob sich hinter der provokanten Thematisierung und Inszenierung von Grenzüberschreitungen, ja gezielten Grenzverletzungen nicht vielmehr Ablösungsprozesse und Neuverhandlun-

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Walter Benjamin: Erfahrung und Armut [1933]. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. II.1. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 213–219, hier: S. 214f.; vgl. ders.: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows [1936]. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. II.2. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 438–465, hier: S. 439. David Shields: Reality Hunger. Ein Manifest. München 2011, S. 11. Ebd., S. 212. Die meisten Zitate sind dann allerdings doch – wie Shields behauptet, auf Verlangen der Rechtsabteilung des Verlags – im Anhang nachgewiesen.

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gen von Grenzen verbergen, die auf einer ›unsichtbaren‹ funktionalen Ebene angesiedelt sind und denen mit einer vertieften Reflexion zu begegnen wäre. Wie die Rede von ›Entgrenzung‹ nämlich schon nahelegt, bleiben die damit bezeichneten künstlerischen Akte auf (zu überwindende) Grenzen angewiesen. Eine gänzlich ›entgrenzte‹ Kunst begäbe sich jeglicher Möglichkeit der Entgrenzung. Umgekehrt impliziert jede Entgrenzung zugleich (neue) Grenzziehungen sowie die Thematisierung jener entscheidenden Grenze, die Niklas Luhmann zufolge als »Klarheit der Außenabgrenzung« für die Konstitution des Sozialsystems ›Kunst‹ im Unterschied zu ›NichtKunst‹ grundlegend ist.10 Die dabei erfolgenden innovativen Grenzfestlegungen definieren einen neuen ›Raum des Möglichen‹,11 der das jeweils geltende soziale und mediale Bedingungsgefüge von Literatur- und Kunstproduktion sowie -rezeption ausmacht und durch die Forschung stets von neuem zu bestimmen ist. Diffusionsprozesse zwischen ›hoher‹ und ›niederer‹ Kultur müssen daraufhin untersucht werden, ob und inwiefern einerseits die Vereinnahmungen von Elementen des Populären durch Akteure und Gattungen aus der Sphäre der ›Hochkultur‹ (und vice versa) wiederum Distinktions- und Legitimierungszwecke innerhalb des eignen ›Subfeldes‹ erfüllen, andererseits die programmatische Aufwertung des Populären häufig einer Logik des emanzipatorischen Voluntarismus folgt, wenn sie möglichst entlegene und arbiträr erscheinende Spezialkenntnisse in Literatur überführt. Ein solcher – etwa von Dietmar Dath gepflegter – »Populismus, der auch die Form eines Relativismus annehmen kann«, bringt Pierre Bourdieu zufolge »in seinem Bestreben der Rehabilitierung die Herrschaftseffekte zum Verschwinden«, an deren Aufweis ihm ja gerade gelegen ist: Bemüht zu zeigen, daß das ›Volk‹ die ›Bürger‹ in Sachen Bildung, Kultur oder Distinktion nicht zu beneiden braucht, vergißt er, daß seine kosmetischen oder ästhetischen Bestrebungen vorweg als exzessiv, unangemessen oder deplaziert abqualifiziert werden in einem Spiel, in dem die Herrschenden jederzeit durch ihre schlichte Existenz die Regeln des Spiels bestimmen […], indem sie die Gesuchtheiten mit der Elle der Diskretion und die Einfachheit an der des Raffinements messen.12

Es gilt zu diskutieren, ob diese kritische Diagnose aus dem Jahr 1982 auch noch heute erklärungsmächtig ist. Folgende konkrete Fragestellungen resultieren aus der skizzierten Problematik: Handelt es sich bei besagten Strategien ästhetischer Subversion um Fortschreibungen und Transformationen tradierter ästhetischer Verfahrensweisen, oder antwortet die aktuelle Literatur auf die oftmals konstatierte Ästhetisierung der Lebenswelt tatsächlich mit einer ›Entästhetisierung‹ der Literatur? Ist die künstlerische Adaptation des ›Anderen‹ – der ›Nicht-Kunst‹ wie der Populärkultur – für die neuere Erzählliteratur überhaupt noch als häretische Option aufzufassen? Oder hat sie sich längst als gängiger Erwartungshorizont etabliert? Welche Transformationen erfahren Elemente der Populärkultur bei ihrer

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Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, S. 8 u. passim. Vgl. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 371–378. Pierre Bourdieu: Der Begriff »Volk« und sein Gebrauch. In: P. B.: Rede und Antwort. Frankfurt am Main 1992, S. 167–173, hier: S. 170f.

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Anverwandlung durch Erzähltexte der Hochkultur, und inwiefern tragen sie heute noch zu Distinktionsgewinnen im literarischen Feld bei? Generieren die oben erwähnten Subfelder der eingeschränkten und der symbolischen Massenproduktion automatisch ›hohe‹ bzw. ›niedere‹ Kulturprodukte, oder ist die Gemengelage komplexer zu beschreiben? Werden durch die literarische Integration populärkultureller Phänomene ästhetische Erfahrungen reflektiert, die ihre Möglichkeitsbedingung allererst in einem literatursoziologisch genauer zu bestimmenden Beiwerk haben – im Sinne eines spezifischen sozialen und kulturellen Voraussetzungsgefüges? Sind ›Entgrenzungen‹ hin zur Populärkultur oder in den Bereich der Nicht-Kunst als Nivellierung dieser Grenzen zu verstehen, oder dienen sie im Gegenteil gerade von neuem der innovativen Profilierung spezifischer und durchaus ›autonomer‹ ästhetischer Erfahrung? Lassen sich abjekte Gegenstände und Gattungen samt und sonders durch ihre künstlerische Vereinnahmung ›entpopularisieren‹ und zu Gegenständen ›legitimierter‹ ästhetischer Erfahrung nobilitieren? Oder handelt es sich bei diesen ästhetisch nobilitierten Elementen der Populärkultur um nur noch scheinbar populäre Thematiken und Formen, deren Rezeption sich indes auf spezielle, zumeist minoritäre Fankulturen mit entsprechend spezialisiertem Geschmackswissen beschränkt – zu denken wäre etwa an das Publikum bestimmter Horrorfilme, dessen Angehörige sich als »Unterschiedswesen«13 durch einen gewollt und betont ›schlechten‹, aber umso spezialisierteren Geschmack von der großen Zahl gewöhnlicher Kinogänger abgrenzen und zu kleinen Expertengruppen mit elitärem Anspruch konstituieren können? Ließen sich beispielsweise auch an einem auf den schnellen Erfolg bei einem möglichst großen Publikum ausgerichteten, also heteronom produzierten Text wie Charlotte Roches Bestseller Feuchtgebiete (2008) ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten demonstrieren? Oder wird darin gerade das Subversive des Ekels als ›Pseudo-Tabubruch‹14 auf eine Weise massentauglich nivelliert, die dessen ästhetische Distinktionsfunktion hintertreibt? Die im Roman inszenierte ›gemeine‹ Freude am Ekel liefe in diesem Fall auf die Banalisierung einer mittlerweile altehrwürdigen ästhetischen Kategorie hinaus – und sei es auch nur für die kurze Halbwertszeit eines Kassenschlagers –, anhand derer sich seit dem 19. Jahrhundert zahlreiche historische Avantgarden definiert haben.15

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Vgl. Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben. In: G. S.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908. Bd. 1. Hg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Otthein Rammstedt. (G. S.: Gesamtausgabe. Hg. v. Otthein Rammstedt. Bd. 7) Frankfurt am Main 1995, S. 116–131, hier: S. 116. Vgl. Thea Dorn: Seichtgebiete. Charlotte Roche, Alice Schwarzer, Lady Bitch und Harald Schmidt: Wie das Spiel mit der Provokation das Denken verdrängt. In: Die Zeit Nr. 22 (21. Mai 2008): http://www.zeit.de/2008/22/Oped-Tabubruch (14. Juli 2011). Albert Meier sieht Charlotte Roches Feuchtgebiete im Gefolge der unter anderem durch groteske Körperlichkeit und Komik gekennzeichneten grobianischen Literatur, die im 15. und 16. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte; von daher, so Meier, knüpfe der Roman durchaus an literarische Traditionen an, wenn auch an Traditionen der niederen Literatur, und bewege sich in deren Gattungsgrenzen; das wiederum erkläre, warum Feuchtgebiete ein großer Bucherfolg wurde und eben kein Skandal. Vgl. Albert Meier: Immer sehr unmädchenhaft. Charlotte Roche und ihre Feuchtgebiete. In: Hans-Edwin Friedrich (Hg.): Literaturskandale. Frankfurt am Main u. a. 2009, S. 231–241.

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Assistiert erscheinen solche innerliterarischen Entwicklungen durch eine rasante Transformation des Buchmarktes, wo es zumindest prima vista den Anschein hat, als ob es sich immer weniger Verlage leisten könnten, auf die kurzatmige Produktion von Bestsellern zugunsten von nachhaltig verkäuflichen Longsellern zu verzichten. Der vorliegende Sammelband wird sich der Klärung dieser und weiterer Fragen widmen, auch wenn er damit am Ende neue Fragen und Desiderate aufwerfen sollte. Werden damit Perspektiven für künftige Forschungen eröffnet, so wäre dies ganz im Sinne der Herausgeber. Die hier nur kursorisch vorgestellten Beiträge folgen nicht einem einzigen theoretischen Ansatz bzw. einem bestimmten methodischen Paradigma, sondern fokussieren aus unterschiedlichen Perspektiven die verschiedenen Dimensionen der Problematik von high und low jeweils an konkreten Gegenständen und Fragestellungen, wobei die ersten drei Beiträge das Thema allgemein, nämlich historisch bzw. theoretisch-methodologisch erschließen: So geht Thomas Hecken der Diskursgeschichte von high art und low art, von hoher und niederer Kunst nach, vor allem in der amerikanischen Kultur. Er fragt nach den Bestimmungsgrößen, den Distinktionsmerkmalen von high und low, nach den ästhetischen und poetologischen Kriterien, die für diese Unterscheidung virulent sind und nimmt die Differenz von Hoch- und Populärkultur nicht zuletzt aus (literatur)soziologischer Perspektive in den Blick. In Bezug auf die Gegenwart kommt er zu dem Schluss, dass jene avantgardistischen, (post)modernistischen Kunstformen, die als high und low eingestufte Elemente kombinieren und damit gegen den älteren bildungsbürgerlichen Kanon verstoßen, sich nach den Maßstäben des renovierten, modernisierten bildungsbürgerlichen Kanons deutlich auf der Seite des ›Hohen‹ bewegen. Dort stehen Musil und Hofmannsthal nicht mehr allein, hinzu haben sich etwa auch Brinkmann und Jelinek gesellt.

Im Anschluss daran untersucht Uwe Wirth zwei verschiedene Modelle bzw. »TheorieMetaphern« hinsichtlich ihrer Tauglichkeit für das Begreifen und Beschreiben der in den Künsten immer häufiger anzutreffenden Kombinationen von high und low: zum einen das vor allem im Umfeld der Postcolonial Studies wirkmächtig gewordene Konzept der Hybridisierung als Sammelbegriff für diverse Techniken des Vermischens und Verknüpfens; zum anderen das auf Jacques Derrida zurückgehende Modell der greffe citationelle, wonach die Möglichkeit des Herausnehmens und des zitathaften Aufpfropfens zur Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens gehört: Die Formel der Aufpfropfung lautet: ›Aus zwei mach eins!‹, wobei die zusammengesetzten Teile zwar zusammenwachsen, aber dennoch ihre genetische Eigenständigkeit bewahren. Im Gegensatz dazu lautet die Formel der Hybridisierung: ›Aus zwei mach drei‹ – aus zwei relativ artfremden Organismen, etwa einem Pferd und einem Esel, entsteht ein dritter Organismus, das Maultier, das eine genetische Mischung zweier Arten ist.

Thomas Becker schließlich diskutiert den sozialen Standort von Gegenkultur und ›niederer Kunst‹ am Beispiel des Comics, der in den vergangenen Jahrzehnten als zunächst ›illegitimes‹ Genre eine ungeahnte Dynamik entwickelt hat. Becker differenziert dabei mit Bourdieu zwischen den ›Subfeldern‹ der symbolischen ›Massenproduktion‹ und der ›eingeschränkten Produktion‹, deren Grenzziehung sich im Bereich der Medienkombination Comic freilich anders darstelle als in jenem des ›legitimen‹ Schriftmediums

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Literatur: Die nicht auf schnellen ökonomischem Profit hin angelegte Produktion von anspruchsvollen ›graphic novels‹ wie Art Spiegelmans Maus habe sich erst allmählich innerhalb des Massenmarktes herausgebildet, opponiere also gegen die ›legitimen‹ Formen von Hochkultur und subvertiere die Monopolstellung von akademischen und schulischen Institutionen zur Defi nition von high und low. Im Unterschied zum Roman habe sich der Comic nicht allein gegen den Massenmarkt etablieren müssen; es mangelte ihm zudem stets an institutioneller Anerkennung. Die dennoch allmählich auch hier einsetzende Autonomisierung musste von Anfang an ethische und ästhetische Aspekte zu einer gemeinsamen Opposition gegen etablierte Anerkennungsformen durch staatliche Bildungseinrichtungen zusammenführen. Nur die weitgehende Verkennung dieser komplexen Zusammenhänge habe dem (falschen) Anschein eines Verschwindens der Grenzen zwischen high und low Vorschub geleistet. Als erste der folgenden Fallstudien widmet sich Natalie Binczeks Beitrag dem 2005 auf fünf CDs publizierten akustischen Nachlass Rolf Dieter Brinkmanns und damit der Frage, ob und inwiefern dieser als Werk bzw. als Teil des Gesamtwerks gelten kann: Wird hier Übriggebliebenes, Aussortiertes zu einem High-culture-Produkt veredelt, bei dem sich das Hörbuchprojekt gegenüber dem ungeordneten Nachlass als die höherwertige Publikationsform erweist? Ist ›Sprechen tatsächlich etwas völlig anderes als Schreiben‹, wie Brinkmann meinte? Oder entfernt sich Brinkmann sprechend und gehend immer weiter von einer systematischen Beantwortung der Frage nach den Differenzen zwischen den beiden Operationen? In jedem Fall konstituiert das Editionsprojekt die Genese von Brinkmanns akustischem Œuvre als einen der schriftstellerischen Tätigkeit eines Autors am Schreibtisch analog konzipierten Vorgang. Marcel Beyer wiederum, so Achim Geisenhanslüke in seinem Beitrag, schreibt sich mit der Transformation populärer Kultur in literarische Hochkultur auf der einen Seite in die Tradition avantgardistischen Schreibens ein. Auf der anderen Seite erscheint der Spielraum avantgardistischen Schreibens in der Literatur der Gegenwart aus einer soziologischen Perspektive beschränkter als zu Zeiten der Klassischen Moderne. Dennoch sieht Geisenhanslüke bei Beyer das Fortbestehen einer kritischen Tradition unter veränderten medialen Bedingungen einer Kritik, deren politische Reichweite begrenzt, deren ästhetische Möglichkeiten aber weiter unbegrenzt sind. In seinem Versuch über die Jukebox (1990) lotet Peter Handke nicht nur die Relation zwischen Raum und Geschichte aus, sondern lässt auch die Musik, vor allem die Popmusik, in einem anderen Licht erscheinen. Die seit den 1980er Jahren selbst im Verschwinden begriffene Jukebox steht für ein Projekt der Rückgewinnung des Raumes, das, wie Clemens Peck in seinem Beitrag zeigt, die Erzählung als populärkulturellen »Erinnerungsraum« (Aleida Assmann) in Szene setzt. Die Frage wiederum, welche Funktion Entgrenzungen hin zu Populärkultur oder der Nicht-Kunst um 2000 erfüllen, ist, so David-Christopher Assmann, unmittelbar mit dem verbunden, was gemeinhin unter ›Kultur-‹ oder ›Literaturbetrieb‹ firmiert. Dieser nämlich fungiert als das schlichtweg Heteronome der Literatur – zumindest in Teilen der Literaturkritik und -wissenschaft. Was aber passiert, wenn jemand wie Thomas Glavinic die Diagnose vom Verderben der Literatur gleichsam als Medium für die Form ihrer Narration nutzt und dabei die Bedingungen und Möglichkeiten literarischer Kreativität und ästhetischer Erfahrung um 2000 eruiert?

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Thomas Wegmann / Norbert Christian Wolf

Für die Theaterarbeit von René Pollesch ist die Montage von Elementen aus der high und low culture zentral, wie Franziska Schößler in ihrem Beitrag zeigt. Er integriert in einer Art Zufallsdramaturgie, wie er selbst behauptet, Titel aus Radio und Fernsehen und untermischt diese mit Zitationen aus dem akademischen Diskurs. Dabei scheint es ihm besonders auf die Fallhöhe zwischen den kulturellen Ebenen anzukommen: »Neben Zitaten von Giorgio Agamben, Michel Foucault, Donna Haraway und Judith Butler stehen solche aus Popsongs, Fernsehformaten und populären Filmen.« Polleschs Abende, so Schößler, erzeugen die Aporie, dass seine inhaltliche wie formale Kritik an der männlichen weißen Machtposition durch die Reetablierung der geschlechtlich semantisierten Kulturhierarchie zwischen high und low konterkariert wird. Das doppelte Potenzial der ›U-Kultur‹ wiederum untersucht Heinz Drügh: Zum einen fungiere sie als ein verlässlicher Produzent unverbrauchter Ideen für die Einspeisung neuer Güter in die Warenzirkulation, zum anderen als Motor ästhetischer Innovation. Am Beispiel von Wolf Haas’ Roman Der Brenner und der liebe Gott (2009) zeigt Drügh, wie viel Moderne in einem avancierten Unterhaltungsroman steckt – und entdeckt dabei die ›U-Kultur‹ als Überlieferungsträger genuin ›moderner‹ Darstellungsformen. Gerade die Art von ›U-Kultur‹, für die Wolf Haas’ Brenner-Romane stehen, erweist sich dabei als geeigneter Weg der Tradierung moderner Erzählformen oder gar Manierismen, ist sie doch eben aufgrund ihres Mangels an (vordergründigem) Ernst über den Verdacht wohlfeilen Epigonentums erhaben. Kaum einer literarischen Veröffentlichung der letzten Jahre, so Uta Degner, dürfte es derart emphatisch um eine Aufwertung des ›Niederen‹ gegangen sein wie Dietmar Daths Die salzweißen Augen, das 2005 als erstes seiner Werke im Suhrkamp Verlag erschien. Der Kontrast zwischen dem Ort der Publikation, nämlich einem Verlag mit hohem kulturellen Kapital, und dem programmatischen Einsatz gegen die ästhetischen Werte der ›Hochkultur‹ erweist sich dabei als symptomatisch für eine strukturelle Schwierigkeit des Textes: Daths Protagonist ist in dem Maße gezwungen, die Bewertungskriterien ›hoher‹ Kunst anzuerkennen, in dem er ihnen ihre ›Legitimität‹ abspricht. Die Beobachtung hingegen, dass die Hochkultur derzeit von einem »aktiv affirmierten Proletendeppismus« abgelöst werde, verdankt sich Rainald Goetz’ loslabern, das 2009 als Bericht über den Herbst des Vorjahres erschien. Dabei unterscheidet Goetz zwischen einer maroden Hochkultur, die sich dem Ordinären öffnet, und einer Populärkultur, in der Medien und Deppentum über kulturelle sowie soziale Macht entscheiden. Davon, so Stefan Greif, hebt sich in loslabern ein popästhetisch, ethisch und politisch reflektiertes Verständnis von Kultur ab, das Dissidenz und Subversion für soziale Verantwortungsbereitschaft fruchtbar macht. Mit einer elaborierten Beweisführung widerlegt loslabern schließlich auch den Verdacht, Popliteratur habe mit ›Low-level-Themen‹ einer heutigen Populärkultur vorgearbeitet. Mit ihrem Buch Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck hat die kanadische Autorin Leanne Shapton die Geschichte einer Liebe in Form eines Auktionskatalogs gestaltet. Ulrike Vedder geht in ihrem Beitrag zu Shaptons Buch der Frage nach, auf welche Weise das Vermischen oder gar Verkehren von high und low, von Hoch- und Populärkultur vollzogen werden kann. Damit verbunden sind stets Strategien

High und low

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des Umwertens – nicht zuletzt auch im Sinne ökonomischen Wertes. In welchen Gattungen, dank welcher Medien, mit welchen Techniken aber wird ein solches Umwerten vollzogen, und auf welche Weise fordert es Autorschaftskonzepte und Werkbegriff heraus? Weil es offenbar keine Kunst ist, Substantive und Namen aufzuzählen, sorgen Listen in der Kunst häufig für Irritationen – und sind trotzdem oder gerade deswegen ein signifikanter Bestandteil von Gegenwartsliteratur, nicht nur in Leanne Shaptons Katalogroman. Ein Grund dafür, so Thomas Wegmann in seinem Beitrag über Listen in der Literatur, dürfte in der durch sie ins Werk gesetzten Entgrenzung von Kunst und NichtKunst liegen – und in dem durch Listen erzeugten Realitätseffekt. Die Liste erscheint so als sprachlich organisierte Kippfigur, die je nach Kontext und Beobachterperspektive eine pragmatische Verwendung oder interesseloses Wohlgefallen evozieren kann. Man liest in actu stets so oder so, weiß aber, dass es auch anders geht, wenn man den Text bzw. die Liste nur anders fokussiert. Die meisten der im Folgenden abgedruckten Texte wurden auf der Tagung »Low ganz high? Zur literarischen Hybridisierung von Populär- und Hochkultur in der Gegenwartsliteratur« im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« (Freie Universität Berlin) im Berliner Literaturhaus (9./10. Juli 2010) erstmals präsentiert. Die Herausgeber danken dem Sfb 626 für die Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung sowie bei der Drucklegung. Für Hilfe vielfältiger Art danken wir Alina Neumeyer und Daniel Kashi, für Endkorrektorat und Registererstellung Christine Niedermaier und Sarah Meissner. Berlin und Salzburg im Juli 2011

Thomas Hecken

Bestimmungsgrößen von high und low

High und low sind in der Terminologie Lakoffs und Johnsons »orientational metaphors«.1 Sie gehören zu den Metaphern, die wenig als solche bemerkt werden und doch bzw. gerade deshalb beinahe allgegenwärtig sind. In der Rede über Kunstwerke macht sich das ebenfalls zuverlässig bemerkbar. Im Einklang mit der übrigen Verwendung der Metaphern, bekommt das, was als ›hoch‹ bezeichnet wird, zumeist einen äußerst positiven Wert verliehen, was als ›niedrig‹ eingestuft wird, findet sich im unteren, negativen Bereich der Wertungshierarchie wieder. So weit, so klar. Das Urteil legt fest, was hoch und was niedrig ist, die Hochwertung ist ein Lob, eine Anerkennung, eine Huldigung, die niedrige Bewertung ein Tadel, eine Bestrafung, eine Verdammung. Das Urteil kann sich auf einzelne Werke beziehen, muss es aber nicht. Es kann sich auch auf bestimmte große Einheiten von Werken und auf die Gattung selbst richten: high art, low art, hohe Kunst, niedere Kunst. Im Sprachgebrauch war das sehr oft der Fall und ist es nicht selten bis heute. Dann zählte etwa der Film schlechthin oder der Western – oder zählt weiterhin noch zumindest der B-Movie-Western – zur niederen Kunst. Umgekehrt sind nicht wenige unverändert geneigt, die Oper, das Drama, das Gedicht als ›Sitze‹ hoher Kunst anzusehen. Überwiegend weist die Verwendung von high und low im Sprachgebrauch genau diesen Bezug auf Gattungen und Arten auf. Ein einzelnes Werk wird, wenn es nicht rein in seiner Eigenschaft als Mitglied eines hohen oder niedrigen Genres gerichtet wird, höchst selten als high oder low bezeichnet. Ein Künstler, den man der hohen Kunst zuschlägt, wird mit seinem einzelnen Werk nicht zu einem Teil der low art, selbst wenn dieses einzelne Werk als mäßig, missraten etc. beurteilt wird. Umgekehrt steigt jemand, der prinzipiell dem Bereich der niederen Kunst zugerechnet wird, nicht in die Hochkunst auf, wenn sein Werk als relativ (relativ zu anderen Werken der low art) akzeptabel gilt. Was aber sind die Bestimmungsgrößen, um zur Einschätzung ›hohe/niedere Kunst‹ zu gelangen? Es sind zweifellos ästhetische und poetologische Kategorien, die eine Rolle spielen; die Werke der hohen Kunst sind schön, erhaben, kreativ, originell, formvollendet, überraschend, avantgardistisch, modern oder zeitlos, ihr Widerpart das jeweilige Gegenteil und anderes (kitschig, seicht, klischeehaft etc.). Es gehen aber häufig weitere (zusätzliche oder mit ersteren versuchsweise verschmolzene) Gesichtspunkte in die Bewertung ein, die außerhalb von Ästhetik und Poetologie liegen; dann werden die ›guten Wirkungen‹ der Werke hoher Kunst auf Bildung, Moral, Persönlichkeit und die ›schlech-

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George Lakoff und Mark Johnson: Metaphors We Live by. Chicago/London 1980, S. 14ff.

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ten Wirkungen‹ der niederen Kunst (Verrohung, Mittelmäßigkeit, entfesselte Sinnlichkeit, Konzentrationsunfähigkeit etc.) festgestellt.2 Häufig kommt Folgendes hinzu: Als Rezipienten der Werke niederer Kunst (oder Unkunst) werden bestimmte Gruppen und Klassen ausgemacht (das Volk, die niederen Schichten, Jugendliche, Frauen, Ungebildete; sie eint unter anderem, dass sie allesamt über wenige oder gar keine Machtpositionen verfügen). Das wird unter Titeln wie ›populäre Kultur‹ oder ›Massenkultur‹ angezeigt, wodurch oftmals besonders die große Zahl der Mitglieder solcher Klassen hervorgehoben werden soll. Die Gleichung von populärer Kultur und minderwertiger Kultur bleibt aber zumeist auch dann bestehen, wenn die Werke, die zur populären Kultur gerechnet werden, tatsächlich nur wenige Abnehmer finden. In dem Fall kann man sich mit dem Argument behelfen, dass das Werk auf viele Abnehmer zielte, in der Marktkonkurrenz jedoch nicht alle Angebote erfolgreich sein können. Zusammenfassend kann man darum sagen, dass die Begriffe high und low im Bereich der Kunst und Kultur sich häufig auf Werke bestimmter Gattungen richten, die man im einen Fall grundsätzlich hoch und im anderen Fall niedrig bewertet. Die ästhetischen und/oder politischen, moralischen Kriterien, die dabei zur Anwendung kommen, sieht man zumeist von bestimmten Schichten erfüllt oder enttäuscht, so dass mit der Einstufung high/low ebenfalls soziologische Klassifizierungen und soziale Einschätzungen verbunden sind.3 Ein Beispiel aus Gottfried Kellers Roman Der grüne Heinrich aus der Mitte des 19. Jahrhunderts mag dies verdeutlichen. Heinrich Lee berichtet dort über seine eigenen jugendlichen Lesegewohnheiten und die einer Reihe gewöhnlicher Zürcher Bürger, die eine »Unzahl schlechter Romane« lesen. »Aristokraten«, heißt es kurz darauf, würden von »Plebejertum«4 sprechen; eine Verbindung zwischen beiden Schichten existiert nur in der Form, dass Letztere empfänglich für das längst entwertete und abgesunkene Kulturgut Ersterer sind: Verlorengegangene Bände aus Leihbibliotheken, niedriger Abfall aus vornehmen Häusern oder von Trödlern um wenige Pfennige erstanden, lagen in der Wohnung dieser Leute auf Gesimsen, Bänken und Tischen umher, und an Sonntagen konnte man nicht nur die Geschwister und ihre Liebhaber, sondern Vater und Mutter und wer sonst noch da war, in die Lektüre dieser schmutzig aussehenden Bücher vertieft finden. Die Alten waren törichte Leute, welche in dieser Unterhaltung Stoff zu törichten Gesprächen suchten; die Jungen hingegen erhitzten ihre gemeine Phantasie an den gemeinen unpoetischen Machwerken oder vielmehr, sie suchten hier die bessere Welt, welche die Wirklichkeit ihnen nicht zeigte. Die Romane zerfielen hauptsächlich in zwei Arten.

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Vgl. Lawrence W. Levine: Highbrow/Lowbrow. The Emergence of Cultural Hierarchy in America. Cambridge, Mass./London 1988. Vgl. Herbert J. Gans: Popular Culture in America. Social Problem in a Mass Society or Social Asset in a Pluralistic Socierty? In: Howard S. Becker (Hg.): Social Problems. A Modern Approach. New York u. a. 1966, S. 549–620; Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982 [La distinction, 1979]; Paul DiMaggio: Classification in Art. In: American Sociological Review 52 (1987), S. 440–455. Gottfried Keller: Der Grüne Heinrich. Erste Fassung. Hg. v. Thomas Böning und Gerhard Kaiser. Frankfurt am Main 2007, S. 154, 159.

Bestimmungsgrößen von high und low

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Die eine enthielt den Ausdruck der üblen Sitten des vorigen Jahrhunderts in jämmerlichen Briefwechseln und Verführungsgeschichten, die andere bestand aus derben Ritterromanen.5

So geht es in der Mischung von ästhetischem und sozialem Urteil, das ganze Genres und Bevölkerungsklassen umfasst, bis in unsere Gegenwart; eine jüngste, ›niedrige‹ Version ist die Klage über das ›Unterschichtenfernsehen‹ bestimmter Sender, Serien und Formate. In dieser Klage und Anklage wird sogar mit ›unter‹ die Dimension des Niedrigen unmissverständlich benannt. Das ist bemerkenswert, weil im deutschen Sprachraum zwar noch manchmal von ›hoher Kultur‹ die Rede ist, nicht aber von ›niederer Kultur‹, weil dieser Ausdruck mittlerweile offenkundig als allzu abwertend und beleidigend empfunden wird und darum denjenigen, der ihn verwendet, gefährlich exponiert. Stattdessen sprechen auch diejenigen, die zu einer deutlichen Aburteilung solcher Kultur gelangen, überwiegend von ›populärer Kultur‹ und Ähnlichem. Daraus erklärt sich wohl auch zum Teil der Gebrauch von low im akademischen Bereich; das angloamerikanische Wort klingt im deutschen Zusammenhang weniger scharf, auch wenn es nun einmal nichts anderes als ›niedrig‹ bedeutet. Die Scheu, mit Blick auf ›Kultur‹ den Ausdruck ›niedrig‹ zu gebrauchen, zeigt noch mehr an als eine höfliche Zurückhaltung. Sie ist auch ein Zeichen dafür, dass sich eine nicht unbeträchtliche Zahl derjenigen, die an wichtiger Stelle über die Bewertung und öffentliche Unterstützung von Kulturgütern zu entscheiden haben – Politiker, geisteswissenschaftliche Akademiker, Journalisten, Verleger, Lektoren, Kuratoren, Sponsoren, Buchhändler, Rundfunkräte, Theater- und Museumsbesucher –, heutzutage von einer klaren Verurteilung vieler Gegenstände der sogenannten ›Massen-‹, ›Populär-‹, ›Unterhaltungs-‹ und/oder ›Popkultur‹ verabschiedet hat. Dies geht sogar so weit, dass man zu der Vermutung kommen kann, mittlerweile habe sich geradezu eine Vertauschung von high und low ergeben. Wie immer man die Hypothese oder Behauptung am Ende auch beurteilen mag, sicher vorausgesetzt wird dadurch, das kann gleich zu Beginn zweifelsfrei festgehalten werden, die bekannte schroffe, zweigeteilte Raum- bzw. Wertordnung. Die Vertauschungsthese kann sich folglich 1. nur auf die historischen Gegenstände richten, die einmal als ›hoch‹ und ›niedrig‹ eingestuft wurden, und 2. auf die Maßstäbe, nach denen die Einstufung erging: 1. In dem Fall bleiben die Maßstäbe intakt, korrigiert wird allein die Einstufung bei bestimmten einzelnen Werken. Ältere Einstufungen werden dadurch offen oder stillschweigend als falsch ausgegeben. Karl May sei unterschätzt worden, Peter Handke überschätzt, so lauten dann die Sätze. Zumeist bleibt es bei der Aufwertung (es wird also keineswegs immer im Gegenzug die Abwertung eines bisher der hohen Kunst zugerechneten Künstlers vorgenommen). Manchmal bezieht die Aufwertung Genres ein (wenn zum Beispiel der Kung-Fu-Film oder die Schwarze Serie als Ganze verteidigt und gewürdigt werden), zumeist jedoch richtet sie sich auf einzelne Künstler, die im Sinne genial-subjektiver Kunstdoktrinen als individuelle Schöpfer und eigenwillige Persönlichkeiten belobigt werden, selbst wenn

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Ebd., S. 154f.

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vom Lobenden eingeräumt wird, dass sie in Genres zu Hause sind, die in der Kunsthierarchie weiter unten zu finden sind; die Reihe der Beispiele reicht hier von Charlie Chaplin über Howard Hawks, Alfred Hitchcock, Bob Dylan, Nick Cave bis zu Lady Gaga. Sie dürfen sich dann im einen oder anderen Kanon neben Namen wiederfinden, die aus Sicht der bildungsbürgerlichen hohen Kunstauffassung durch solche Annäherung verunreinigt werden. Als Beispiel sei hier eine Kanonliste aus der Mitte der 1960er Jahre angegeben; sie stammt vom englischen Lyriker Adrian Henri; auf ihr stehen egalitär nebeneinander: Paul McCartney und Gustav Mahler, Alfred Jarry und John Coltrane, Charles Mingus und Claude Debussy, Hindemith und Mick Jagger.6 Ohne dass dies ausdrücklich erwähnt würde, ist klar, dass es sich hierbei um eine Liste der Besten handelt. In der amerikanischen Soziologie hat sich für die Gruppe derjenigen, die gleichermaßen – um beim musikalischen Beispiel zu bleiben – bestimmte Künstler aus der klassischen Musik, aber auch aus Pop, Jazz und Heavy Metal schätzen und hören, die Bezeichnung omnivore (Allesfresser) eingebürgert. Habe es zuvor eine exklusive Bindung von ›high-status Americans‹ an die Hochkultur gegeben, zeichne die statushohen Amerikaner nun verstärkt aus, dass sie – weiterhin im Gegensatz zu den Bevölkerungsgruppen mit ›niedrigem‹ sozialen Status – aus allen Bereichen, auch denen der Lowbrow- und Middlebrow-Kultur, auswählten.7 Essayistisch ist die Gruppe der »Allesfresser« als Trägergruppe einer neuen »Nobrow«-Kultur gefasst worden: An die Stelle der alten Unterscheidung zwischen der elitären Kultur der (Bildungs-)Aristokratie und der kommerziellen Kultur der Massen sei eine »hierarchy of hotness« getreten. »Nobrow is not culture without hierarchy, of course, but in Nobrow commercial culture is a potential source of status, rather than the thing the elite define themselves against. […] Dominique de Menil side by side with Courtney Love.«8 Die »Nobrow«-Kultur zeichne, kurz gesagt, aus, dass die Differenz von Mainstream und Subkultur oder Avantgarde nicht mehr trennscharf wirke.9 Dadurch bleibt die Unterscheidung von ›hoch‹ und ›niedrig‹ erhalten, sie wird aber nicht mehr durch die Unterscheidung von Literatur und Dichtung, Film und Theater, neuer Musik und leichter Musik, Jazz und Rock, Rock und Pop etc. bestimmt, weil die Schicht der omnivores sich potenziell aus all den mit diesen Kategorien erfassten Werken für ihre Favoritenliste bedient (gemäß dem älteren Diktum von Leonard Bernstein: »[T]here is no such thing as U- und E-Musik, only good and bad music«). Auf Deutschland lässt sich der Befund gemäß einer Studie aus dem Jahr 2001 (noch) nicht übertragen,10 festgestellt werden kann aber ein Jahrzehnt später zweifelsfrei, dass

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Adrian Henri: Me. In: Edward Lucie-Smith (Hg.): The Liverpool Scene [1967], 2. Aufl. London 1971, S. 42. Richard A. Peterson und Roger M. Kern: Changing Highbrow Taste. From Snob to Omnivore. In: American Sociological Review 61 (1996), S. 900–907. John Seabrook: Nobrow. The Culture of Marketing. The Marketing of Culture [2000]. London 2001, S. 28f. Ebd., S. 66, 71, 169. Hans Neuhoff: Wandlungsprozesse elitärer und populärer Geschmackskultur? Die »AllesfresserHypothese« im Ländervergleich USA/Deutschland. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 53 (2001), S. 751–772.

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unter anderem die überregionalen Feuilletons mittlerweile durchweg sowohl über Phänomene aus den früher exklusiv der Hochkultur zugeschlagenen Bereichen als auch über aus ihrer Sicht herausragende Künstler aus dem Bereich der Popkultur positiv berichten. Die umgekehrte Vorgehensweise wird höchst selten ergriffen; sie besteht darin (oder besser, mangels Beispielen, in den Konjunktiv gesetzt: sie bestünde darin), herkömmlicherweise lange als unvereinbar geltende Künstler gleichrangig zu behandeln, indem man sie unterschiedslos ästhetisch diskreditiert, etwa indem man ausführte, dass Bach, ABBA, Schönberg, Dave Brubeck, Radiohead gleichermaßen unhörbar seien, Martin Walser, Lore-Romane, Durs Grünbein, Botho Strauß, Thea Dorn, Stephen King ähnlich unerträglich usf. 2. Noch einschneidender geht es zu, wenn die Maßstäbe der Einordnung grundsätzlich geändert oder sogar ausgetauscht werden. Der bildungsbürgerliche »Haß gegen die Presse, der Haß gegen die Reklame, der Haß gegen die Sensation« zum Beispiel stellt für die Dadaisten mitunter bloß die falsche, sentimentale Einstellung von Leuten dar, »denen ihr Sessel wichtiger ist als der Lärm der Straße«.11 Deshalb verbünden sie sich an der Stelle demonstrativ mit dem Feind des Bildungsbürgertums, das über die Kriterien des ›Hohen‹ verfügt: »Der Masse ist Kunst oder Geist wurscht. Uns auch«.12 Aus dieser Konstellation heraus können dann im Manifest »Reklame« und »Sensation« einen hohen und die nach herrschender Anschauung großartigen Kunstwerke und auch Genres einen niederen Rang zugesprochen bekommen. So kann das vormals bzw. von anderen als stark minderwertig Eingeschätzte an die Spitze rücken, vorausgesetzt der neue Maßstab bleibt intakt und macht nicht sofort neuen Adjustierungen oder gar einem indifferenten Nonsens Platz, der das Hierarchie- und Unterscheidungsprinzip außer Kraft setzt. Man operiert weiter mit der Differenz von oben und unten, billigt den höchsten Wert aber in einer radikalen Umwertung dem Unteren zu, etwa (um weitere Beispiele zu nennen) dem Underground, der Subkultur, dem Lofi-Sound, dem Trash-Stil. Trotz aller Vehemenz der Umkehrung bleibt das alte Schema dabei getreulich bewahrt. Es gibt allerdings sogar eine Möglichkeit, die Ordnung der exklusiven Ausrichtung auf high und low zu zerstören, ohne in Indifferenz und Zufälligkeit zu verfallen. Diese Möglichkeit liegt darin, das Schema von high und low beizubehalten, den höchsten Wert aber weder dem einen noch dem anderen zuzusprechen. Das Hohe, das Wertvollste liegt dann in aristotelischer Tradition in der Mitte. Im Bereich unserer Semantik ist das wirkungsmächtig von Van Wyck Brooks auf die weltanschauliche Tagesordnung gesetzt worden, der 1915 sowohl die »Highbrows« als auch die »Lowbrows« kritisiert und stattdessen eine Haltung, die dazwischen liegt, bejaht.13 Mit seiner Berufung auf

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Tristan Tzara, Franz Jung, Georg Grosz, Marcel Jano, Richard Huelsenbeck, Gerhard Preiß, Raoul Hausmann u. a.: Dadaistisches Manifest [1918, abgedruckt 1920]. In: Richard Huelsenbeck (Hg.): Dada. Eine literarische Dokumentation, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 31–33, hier: S. 31. Raoul Hausmann: Aliterell Deliterell Subliterell [1919]. In: Karl Riha (Hg. in Zusammenarbeit mit Hanne Bergius): Dada Berlin. Texte, Manifeste, Aktionen. Stuttgart 1977, S. 54–56, hier: S. 54. Van Wyck Brooks: »Highbrow« and »Lowbrow«. In: V. W. B.: America’s Coming-of-Age [1915]. New York 1975, S. 3–35.

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Wirklichkeitssinn, Vernunft, ausgeglichene Persönlichkeit hat Brooks aber nur geringe Chancen, sich in der Kunstsphäre Gehör zu verschaffen – und dass die von anderen später eingeführte Klassifizierung middlebrow culture (im Sinne gehobener Unterhaltung) nach dem Urteil der Feuilletonisten, Experten und Geschmacksrichter, die für Universitäten, Museen und für die von Führungskräften gelesenen Zeitungen tonangebend sind, keineswegs das Gute oder Höchste bedeutet,14 braucht man wohl kaum hervorzuheben. Verlassen wir damit den reinen Bereich des ästhetischen (und, teilweise damit verbunden, ebenfalls des politischen, moralischen) Urteils und wenden uns einer zweiten Möglichkeit zu, das vormals als niedrig Angesetzte beträchtlich zu erhöhen. Diese Möglichkeit besteht darin, in einer Art Poetologie verschiedene Arten und Weisen herauszustellen, wie Elemente ›niedriger‹ Genres mit solchen ›hoher‹ Genres in einem Werk zusammengebracht werden können, und die jeweiligen Vorgehensweisen dem Künstler abzuverlangen (dem Geschmacksurteil obliegt es dann, diese geforderte oder durchgeführte Erhebung und Kombination in grundsätzlichen Stellungnahmen oder in Besprechungen einzelner Werke positiv oder negativ zu sanktionieren). Für Friedrich Schiller etwa gehört es zur Aufgabe des Genies, den »großen Haufen« und die »gebildete Klasse« erneut – nach der modernen Entzweiung – durch die Poesie zu jener »Einheit« zu bringen, wie sie die Antike noch gekannt habe. »Popularität« legt Schiller sich darum als »schwere Aufgabe« vor. Die Lösung der Aufgabe besteht für ihn – zumindest wenn man seiner Rezension zu Bürgers Gedichten folgt – nicht darin, »jede Volksklasse mit irgendeinem, ihr besonders genießbaren, Liede« zu versorgen, sondern darin, sich zu dem »Volk« herabzulassen, um es »hinaufzuziehen«. Jene »Materie«, die Leser befriedige, die »nur für das Sinnliche empfänglich sind und, den Kindern gleich, nur das Bunte bewundern«, müsse mittels der »Idealisierkunst« künstlerisch so umgestaltet werden, dass »die Schönheit der Form« dominiere.15 Das Ziel besteht hier gerade nicht in einer unwillkürlichen Vermischung, sondern in der Bändigung niederen Stoffs durch hohe Formkunst. Einen ganz anderen Vorschlag machen die Futuristen in einem ihrer Manifeste. In genauem Gegensatz zu Schiller ruft F. T. Marinetti dazu auf, die Hochkunst auf eine Weise mit der niederen Kultur in Kontakt zu bringen, die sie ihrer idealen Gestalt beraubt. Was Schiller als kennzeichnende Eigenschaften der Werke populärer Kunst negativ herausgestellt hat – den durch künstlerische Formgebung ungebändigten Stoff, das Bunte und Sinnliche, den Reiz –, möchte Marinetti jetzt aus den großen Klassikern der Formkunst hervortreiben. Die angeblich »unsterblichen Meisterwerke« will Marinetti deshalb wie eine »x-beliebige Attraktion« präsentieren, das »Ernste und Erhabene in der Kunst« soll dadurch zerstört, jede Tradition, aller Akademismus aufgelöst werden.

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Vgl. Janice Radway: The Scandal of the Middlebrow. The Book-of-the-Month Club, Class Fracture, and Cultural Authority. In: South Atlantic Quarterly 89 (1990), S. 703–736; Janice Radway: On the Gender of the Middlebrow Consumer and the Threat of the Culturally Fraudulent Female. In: South Atlantic Quarterly 93 (1994), S. 871–893; Shelley Rubin: The Making of Middle Brow Culture. Chapel Hill/London 1992. Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte [1791]. In: F. S.: Schillers Werke. Bd. 22. Hg. v. Herbert Meyer. Weimar 1958 (= Nationalausgabe), S. 245–264, hier: S. 247ff.

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Er schlägt darum zum Beispiel vor, die klassische Kunst zu »prostituieren«, indem alle antiken und klassizistischen Tragödien an einem Abend in Kurzform oder einer »komischen Mischung« aufgeführt werden, er regt an, eine Beethoven-Symphonie rückwärts zu spielen oder die Werke von Chopin, Wagner, Bach, Bellini durch das »Einfügen neapolitanischer Lieder« zu beleben – in dieser Mischung wahrlich eine Auflösung des Zusammenhangs der Form zugunsten des besonderen stofflichen Reizes, sogar eine Kombination von ›Hohem‹ und ›Niedrigem‹ auf dem Niveau des nach herkömmlich durchgesetzter Kunstauffassung ›Niedrigen‹, nach bewusster Entstellung des ›Hohen‹. Trotzdem bleibt der Unterschied zu vielen gängigen Spielarten populärer Unterhaltung oftmals deutlich erhalten. Denn häufig wird die futuristische Hingabe an die Vulgarität dadurch von jener Kälte durchdrungen, die vor der ›natürlichen‹ Sinnlichkeit der Menge bewahrt, etwa wenn Marinetti im Rahmen seines Plädoyers für ein erneuertes Varieté gegen die romantische Liebesvorstellung polemisiert und sich für das »geschminkte Fleisch«, das »falsche Rot der Lippen« und ganz unnatürliche weibliche Mittel der Verführung begeistert: »Grüne Haare, violette Arme, blaues Dekolleté, orangefarbener Chignon«. Im futuristischen Varieté gibt es nur noch »Karikaturen des Schmerzes und der Sehnsucht«, die Kälte triumphiert problemlos.16 Sie stellt jedoch selbstverständlich bloß eine Perversion der idealistisch geforderten ästhetischen Interesselosigkeit dar; bei den Futuristen bildet die Kälte die Voraussetzung, sich bestimmten, eigens produzierten Stimulantien unbegrenzt auszusetzen. Von einer Vermischung oder Kombination, in die gleichmäßig Teile des ›Niederen‹ und ›Hohen‹ eingehen, kann man demnach weder bei den Idealisten (Beispiel Schiller) noch den Avantgardisten (Beispiel Marinetti) sprechen. In der Mitte, harmonisch ausgleichend, trifft man sich nicht. Während es bei Schiller stärker auf eine Adaption des Niederen unter methodischer Führung des Hohen hinausläuft, geht es bei Marinetti um eine Verunreinigung des Hohen durch den Einbruch des Niederen in dessen Sphäre. Beiden gemeinsam ist jedoch, dass sie für ihre Misch- bzw. Adaptions- und Übertretungsoperationen ganz bestimmte Zielvorstellungen hegen, die auch den Modus der Annäherung und Bezugnahme entscheidend bestimmen. Lässt Schiller den populären Stoff nur gelten, um ihn zu beseelen und zu durchgeistigen, möchte Marinetti nicht bei der mutwilligen Störung des Hohen durch das Niedrig-Populäre stehen bleiben, sondern auch das Populäre futuristisch-technologisch erkalten. Zumindest zu dieser Seite hin gibt es eine Übereinstimmung zwischen Schiller und Marinetti: Was Ersterer durch künstlerische Form beseelen und seines direkten stofflichen Reizes entkleiden möchte, will Marinetti entromantisieren und seiner Natürlichkeit berauben. Das vormals Niedere – das Populäre – wird von beiden keineswegs an die Stelle des Hohen gesetzt. Im Unterschied zu Marinetti bleibt bei Schiller aber das vormals Hohe durch die Annäherung an den populären Stoff weitgehend unangetastet. Beide wiederum stehen in Konkurrenz zu anderen Kombinationsformen und Adaptionen, die von ihrer beider Warte aus nur als verfehlte, unbeseelte oder biedere, Versuche

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Filippo T. Marinetti: Das Varieté [Il teatro di varietà (1913)]. In: Umbro Apollonio (Hg.): Der Futurismus. Manifeste und Dokumente einer künstlerischen Revolution. Köln 1972, S. 170–177.

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verurteilt werden können, etwa Popularisierungen hochkultureller Werke durch Potpourris, Readers-Digest-Versionen, Modernisierungen (zum Beispiel die Überführung von Dramenhandlungen in Filmplots). Auch bei den Ansätzen, die strikte Differenz von Hoch und Niedrig im Bereich der Kunst aufzuheben, macht sich ebendiese demnach bemerkbar. Sie ist nicht nur die logische Voraussetzung der Aufhebungsbemühungen – ohne den Unterschied wäre es selbstverständlich nicht möglich, ihn abzumildern oder zu beseitigen –, sie dient auch oftmals noch zur Einsortierung und Bewertung der jeweiligen Aufhebungsversuche. Gerade die prominenten angloamerikanischen Ansätze, die Trennung von high und low durch Kombinationsformen zu überwinden, verfügen in modern-avantgardistischen Kreisen über ein gewisses Renommee, das zwar nicht genau die Ausprägung der älteren bildungsbürgerlich-idealistischen Hochkunst besitzt, aber doch einer erneuerten Form solcher Hochkunst entspricht. Die bekannten Beispiele liefern dafür Beiträger zur PopArt- und Postmoderne-Konzeption. Ihr Image unter Akademikern und Intellektuellen haben sich die von ihnen beschriebenen oder geforderten Kombinationsformen nach und nach erarbeiten können, weil sie als avanciert und damit viel eher als hoch denn als niedrig eingestuft werden: 1. Früh – Mitte der 1950er Jahre – geht die englische Independent Group von einem bruchlosen Zusammenhang zwischen hoher und populärer Kunst aus,17 von dem fine art/popular art continuum.18 Folgerichtig zeigt man sich begeistert von vielen Produkten der populären Kultur, die man den Werken der traditionellen Hochkultur gleichrangig an die Seite stellt. Einer aus der Gruppe, Richard Hamilton, propagiert aber auch eine Mischform, die Pop Fine Art, »the expression of popular culture in fine art terms« – Pop Fine Art sei wie der Futurismus »fundamentally a statement of belief in the changing values of society«. Pop Fine Art sei »a profession of approbation of mass culture«, sei »positive Dada, creative where Dada was destructive. Perhaps it is Mama – a crossfertilization of Futurism and Dada«.19 Hamilton hofft, durch Werke der Pop Fine Art auch einen Beitrag zur Populärkultur leisten zu können. Das hat er auch getan (ein Beispiel ist sein Einfluss auf die Gruppe Roxy Music), dennoch findet man seine Werke viel häufiger im Museum als etwa in der Werbung wieder.

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Lawrence Alloway: The Long Front of Culture [1959]. In: L. A. u. a.: Modern Dreams. The Rise and Fall and Rise of Pop: Cambridge, Mass./London 1988, S. 31–33, hier: S. 31. John McHale: Gropius and the Bauhaus [1955]. In: David Robbins (Hg.): The Independent Group. Postwar Britain and the Aesthetics of Plenty. Cambridge, Mass./London 1992, S. 182. Der Gruppe gerät darüber auch die Mitte nicht aus dem Blick: »A trap for the consumer looking for a unifying but tolerant aesthetic is the alignment of the top and bottom without the middle. On this scale Picasso is fine and so are comic books, but in between is the unspeakable middlebrow. But in this excluded middle are novels like The View from Pompey’s Head and art like Ben Shahn’s which are neither difficult nor lively. What is needed is an approach that does not depend for its existence on the exclusion of most of the symbols that people live by.« (Lawrence Alloway: Personal Statement. In: Ark 19 [Frühjahr 1957], S. 28.) Richard Hamilton: For the Finest Art try – POP [1961]. In: R. H.: Collected Words. 1953–1982. London 1982, S. 42–43.

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2. In den Debatten der 1960er Jahre zur Pop-Art (im Sinne bildender Kunst) zeigt sich Hamiltons Pop Fine Art als Mama nicht selten am Werk. Mario Amaya etwa stellt in seiner frühen Pop-Art-Monografie aus dem Jahre 1965 heraus, dass die Kunst sich in den letzten Jahrzehnten als Institution ganz entgegen den avantgardistischen Absichten stark vom Leben abgetrennt habe (»art has become separated, divorced from life, something special for the walls of an institution and only to be visited on rare occasions«), mit der Pop-Art hingegen die Kluft überwunden werde: »It is only when a group of artists actually use the popular culture itself as straight source material, and thus directly accept its visual existence, that the old division between ›popular‹ and ›fi ne‹ art must be questioned.« Gerade da die Pop-Artisten – weil sie mit vorgefertigtem Material arbeiteten – sich in der Lücke zwischen Leben und Kunst bewegten, wie Amaya mit Robert Rauschenberg sagt (»work in a no-man’s-land they call the ›gap‹ between life and art«), seien sie imstande, herkömmliche Trennungen und Unterschiede wie die zwischen hoher, angewandter und industriell produzierter Kunst zu beseitigen.20 Selbst innerhalb der vorherrschenden Gruppe der Pop-Art-Theoretiker, die stets darauf hinweisen, dass der ›Gebrauch‹ der Popobjekte durch die Pop-Art sie ihres eigentlichen Zwecks (ihrer functional reality) beraube, ist man zumindest kunstintern von der Grenzüberschreitung der Pop-Art überzeugt. Lichtenstein und Warhol zählten zur »avant-garde of applied aesthetics in the art world«, merkt etwa Harold Rosenberg an und zieht daraus den Schluss, dass die Pop-Art in der modernen Kunst eine Richtung bilde, die den Abstand zwischen ›high‹ and ›low‹ schließe und überlagere.21 Leo Steinberg bestimmt den Rahmen der Malerei der sechziger Jahre grundsätzlich neu als »flatbed picture plane«; sie breche mit der Konvention des Bildes als ein an die Wand gehängtes Gemälde, das eine vertikale Betrachtung von oben nach unten bedinge, die dem aufrecht stehenden Menschen entspreche. Die neuen Bilder (zum Beispiel Robert Rauschenbergs) simulierten stattdessen »opaque flatbed horizontals«; man brauche sie deshalb nicht mehr aufhängen, sondern könne sie einfach auf den Boden oder einen Tisch legen, genau wie eine Zeitung oder eine Karte: The flatbed picture plane makes its symbolic allusion to hard surfaces such as tabletops, studio floors, charts, bulletin boards – any receptor surface on which objects are cattered, on which data is entered, on which information may be received, printed, impressed – whether coherently or in confusion.

In Analogie dazu wird die Leinwand dann zu einer Oberfläche, auf der alles Mögliche versammelt werden kann, das sonst in der Kunst fein säuberlich getrennt oder als unkünstlerischer Gegenstand von vornherein ausgeschlossen worden ist;22 sogar das als hoch oder niedrig Klassifizierte kann sich demnach auf einmal nebeneinander finden.

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Mario Amaya: Pop as Art. A Survey of the New Super Realism. London 1965, S. 15ff. Harold Rosenberg: The Art World. Marilyn Mondrian [1969]. In: Steven H. Madoff: Pop Art. A Critical History. Berkeley u. a. 1997, S. 180–185, hier: S. 182. Leo Steinberg: Other Criteria [1968/1972]. In: L. S.: Other Criteria. Confrontations with Twentieth-Century Art. New York 1972, S. 55–91, hier: S. 84 u. 88.

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Thomas Hecken

3. Susan Sontag weitet solche und verwandte Diagnosen und Poetologien über die bildende Kunst hinaus auf verschiedene andere Kunstgattungen aus. Sie betrachtet weitere Richtungen der modernen Kunst als Grund dafür, weshalb man die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst, aber auch zwischen ›high‹ and ›low‹ (or ›mass‹ or ›popular‹) culture nicht mehr aufrechterhalten könne.23 Sontag spricht zum Beispiel angesichts von Jean-Luc Godards Filmen von einem framework, das Godard den Genrekonventionen Hollywoods entnehme, um es teils antinarrativ auszuhöhlen, teils zu benutzen, um seine im Vergleich zum populären Kino ganz anders gearteten Sequenzen und Montagen so unterzubringen, dass sie nicht nur ein äußerst kleines Kunstpublikum erreichen: »By adapting familiar, second-hand, vulgar materials – popular myths of action and sexual glamour – Godard gains a considerable freedom to ›abstract‹ without losing the possibility of a commercial theater audience«.24 4. Susan Sontag ist es auch, die das in männlichen homosexuellen Szenen gut bekannte Konzept des Camp einem anderen Publikum in der veränderten Absicht vorstellt, sich auf eine nicht mehr einfach ablehnende Weise unter anderem zu Phänomenen der Massenkultur zu verhalten. Sontag bestimmt Camp als einen »good taste of bad taste«. Der zeitgenössische Dandy delektiere sich nicht länger an seltenen, erlesenen Objekten, sondern nun genau im Gegenteil an Gegenständen der »mass culture«, die er (im Gegensatz zu den einstmals oder gegenwärtig begeisterten oder direkt sinnlich umgetriebenen Fans solch popkultureller Objekte) vorzugsweise amüsiert und mit einer gewissen ironischen Distanz betrachte.25 Bei Sontag ist es zwar nicht dem Künstler aufgegeben, in bewusster Weise Camp-Objekte zu schaffen, dennoch hat ihr Aufsatz einen Beitrag dazu geleistet, dass Objekte des »bad taste« von künstlerischen Dandys in ihre Werke aufgenommen worden sind. 5. Leslie Fiedler möchte – ebenfalls in den sechziger Jahren – an die Stelle des Kunstromans eines Thomas Mann oder Proust einen »antiseriösen« Roman setzen, der die Lücke zwischen »der Bildungselite und der Kultur der Masse«, zwischen den »›Belles lettres‹ und der Pop-Kunst« überwindet.26 Um die Lücke zwischen »high culture and low« zu schließen27 und damit »subversiv« gegen die überkommenen »Klassenvorurteile« anzugehen, die in einer »pluralistischen Gesellschaft« fehl am Platze seien, verweist Fiedler auf drei Methoden: Das erste Mittel besteht in der »Parodie, Übersteigerung, grotesken

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Susan Sontag: Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise [One Culture and the New Sensibility (1966); erw. Fassung des Artikels »Opinion, Please, from New York«. In: Mademoiselle (April 1965)]. In: S. S.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen [Against Interpretation and other Essays (1966); dt. Originalausgabe 1980]. Frankfurt am Main 1982, S. 342–354, hier: S. 346. Susan Sontag: Godard. In: Partisan Review 35 (1968), S. 290–313, hier: S. 292. Susan Sontag: Notes on ›Camp‹ [1964]. In: S. S.: Against Interpretation and other Essays [1966]. New York 2001, S. 275–292, hier: S. 289ff. Leslie A. Fiedler: Das Zeitalter der neuen Literatur. Die Wiedergeburt der Kritik. In: Christ und Welt v. 13. September 1968, S. 9–10. Leslie A. Fiedler: Cross the Border, Close the Gap. In: Playboy (1969) 12, S. 151, 230, 252–258, hier: S. 252.

Bestimmungsgrößen von high und low

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Überformung der Klassiker«, das zweite in der Aufnahme von »Pop-Formen« des Westerns, der Pornografie und der Science Fiction durch zeitgenössische Schriftsteller, das dritte in der damit teilweise verbundenen Hinwendung zu den neuen, maschinell produzierten »mythischen Bilderwelten« der Schlagzeilen, Comics und Fernsehsendungen.28 Als Beispiele für eine Literatur, die sich den »Nach-Göttern« und »Nach-« bzw. »Anti-Helden« von Marilyn Monroe über John Lennon und Superman bis hin zu John F. Kennedy zuwendet, nennt Fiedler Romane von Autoren wie Ken Kesey, Anthony Burgess, Norman Mailer und William Burroughs; als Ziel einer entsprechenden nachmodernen Literatur gibt er die Erweckung von »Traum, Vision, Ekstase« an. Von der Kühle und Indifferenz der Pop-Art und ihrer literarischen Entsprechung, der Zitation und Transponierung von Fundstücken aus Magazinen und Zeitungen, ist der von ihm selbst als postmodern eingestufte Ansatz Fiedlers weit entfernt. 6. Charles Jencks wiederum legt die postmoderne Stil- und Codemischung auf genau zwei Bezugssysteme fest. Der postmoderne Pluralismus nach Jencks konzentriert sich einerseits auf die lokalen Vorstellungen und andererseits auf die Ansprüche der Zunft. Als Arbeits- und Lernprogramm für den Architekten formuliert, bedeutet das: The architect should be trained as a radical schizophrenic […], always looking two ways with equal clarity: towards the traditional slow-changing codes and particular ethnic meanings of a neighbourhood and towards the fast-changing codes of architectural fashion and professionalism.

Anders gesagt, empfiehlt Jencks dem Architekten eine »pluralistic language«, eine Sprache, die »traditional and modern elements, vernacular and high art meanings« in sich aufnimmt.29 Was so eindeutig (beziehungsweise zweiseitig) klingt, wird dadurch kompliziert, dass es nicht nur eine lokale und eine professionelle Stilsprache gibt. Man kann dies allein schon daran erkennen, dass traditionelle und lokale Elemente keineswegs immer übereinkommen, ebenso wenig wie die hohe Kunst gleichbedeutend mit modernen, sich schnell ändernden Elementen ist. Solch eine Gleichung würde nur dann aufgehen, wenn es beispielsweise keine moderne Popkultur gäbe, die auch Teil des städtischen Alltags ist bzw. einen oder mehrere subkulturelle Codes prägt. Jencks trägt dem insofern Rechnung, als er in späteren Definitionen der Postmoderne den lokalen Code zwar mit dem Begriff Basil Bernsteins als restringierten Code bezeichnet (im Gegensatz zum elaborierten Code der Profession), ihn jedoch ausdrücklich durch eine komplizierte Mischung verschiedener Variablen bestimmt sieht (Herkunft, Alter etc.). Mit dieser Unterscheidung geht bei Jencks aber weiterhin eine wenig komplizierte Zweiteilung einher. Die Überzeugung, dass es zwei gegensätzliche Codes gebe, dominiert seine postmoderne Konzeption:

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Leslie A. Fiedler: Das Zeitalter der neuen Literatur. Indianer, Science Fiction und Pornographie: die Zukunft des Romans hat schon begonnen. In: Christ und Welt v. 20. September 1968, S. 14–16, hier: S. 15f. Charles Jencks: The Language of Post-Modern Architecture. London 1977, S. 96f.

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Thomas Hecken A popular, traditional one, which like spoken language is slow-changing, full of clichés and rooted in family life, and, secondly, a Modern one full of neologisms and responding to quick changes in technology, art and fashion as well as the avant-garde of architecture.30

Das Modell Archigram (für das Jencks früher eintrat), also die Adaption modischer Elemente der Popkultur durch professionelle Architekten für Design-Environments, wird hier ausgeblendet bzw. ausschließlich auf der zweiten Seite untergebracht, als gehöre Pop gar nicht zur populären Kultur, als müsse man auf der restringierten Seite popular unbedingt mit traditional kurzschließen. Die Schlussfolgerung kann deshalb bei Jencks nur lauten, dass die Kluft zwischen dem populären, lokalen und dem professionellen, modern-hochkulturellen Ansatz auch für die zeitgenössische Popkultur unüberwindbar bleibt. Darum bleibt es bei seinem radikalen Eklektizismus, der gewährleisten soll, dass die nach dem postmodernen Stilprinzip errichteten Gebäude von different taste cultures verstanden werden und ihnen Freude bereiten: Since there is an unbridgeable gap between the élite and popular codes, and since there is no way to abolish this gap without a drastic curtailment in possibilities, it seems desirable that architects recognize the schizophrenia and code their buildings on two levels[,]

variiert Jencks seine bekannte Formel, um in der zweiten Auflage seines Buches zur postmodernen Architektur aber die doppelte Codierung im Ergebnis etwas präziser zu umreißen: Partly this will parallel the ›high‹ and ›low‹ versions of Classical architecture, but it will not be, as that was, a homogeneous language. Rather the double coding will be eclectic and subject to the heterogeneity that makes up any large city.31

Oder noch genauer, noch einengender: Post-Modern architecture is ›doubly-coded‹, one half Modern and one half something else (usually traditional building), in its attempt to communicate both with the public and a concerned minority, usually architects.32

7. Eine weitere Variante der Favorisierung einer postmodernen Kombination liegt unter dem Titel »Avant-Pop« vor. Sie richtet sich sowohl gegen den »high modernism« als auch gegen einen Postmodernismus, der die Popkultur ausspart. Stattdessen ist das Ziel eine »Avant-Pop Culture«, in der Phänomene der Massenkultur so aufgegriffen und benutzt werden, dass sie »not uniform or banal but highly individualized, and potentially interactive« sind.33 Im Namen der Kreativität und des richtigen Bewusstseins wird so

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Charles Jencks: The Language of Post-Modern Architecture. 6., überarb. Aufl. New York 1977, S. 106f. Ebd. Charles Jencks: Introduction – End of an Era? In: C. J.: Late-Modern Architecture and other Essays. New York 1980, S. 6–9, hier: S. 6f. Larry McCaffery: Introductory Ways of Looking at a Post-Post-Modernist Aesthetic Phenomenon Called »Avant-Pop«. In: Mark Amerika und Lance Olsen (Hg.): In Memoriam to Post-

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den Produkten von »mass media« und »mainstream culture« letztlich doch wieder eine deutliche Absage zuteil.34 Im Kanon des »Avant-Pop« nehmen Velvet Underground, Pere Ubu, David Lynch, Stereolab, Situationismus, Fluxus etc. Spitzenplätze ein, entsprechende literarische Anthologien versammeln Texte von Ronald Sukenick, Raymond Federman, David Foster Wallace, Kathy Acker, Richard Meltzer, William Gibson, Bret Easton Ellis.35 In Deutschland konnte sich dieser Begriff nicht durchsetzen, wiewohl ihn Diedrich Diederichsen einmal frühzeitig – lange vor der amerikanischen Debatte und noch vor Lester Bowies Album Avant Pop (1986), auf das der literaturkritische amerikanische Begriffsgebrauch zurückgeht – verwendet hat.36 Daran änderte auch die Taschenbuchausgabe von Christian Krachts Sammelband Mesopotamia aus dem Jahr 2001 nichts, die den Begriff »Ein Avant-Pop-Reader« im Untertitel führt37 (in der Hardcover-Ausgabe lautete der Untertitel 1999 noch »Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends«38). Autoren wie Kracht, Meinecke, Goetz und Dath würden aber sicherlich, wenn sie in einschlägigen amerikanischen Kreisen bekannt wären, mit dem Begriff belegt werden. Egal aber, unter welchem Schlagwort die avantgardistischen, postmodernen Debatten und Poetologien das Projekt, eine zeitgemäße Aneignung von Elementen der Popkultur durch experimentelle Verfahren und Verfremdungen zu bewerkstelligen, auch ausflaggen mögen – der Kreis derjenigen, die sich dafür interessieren, ist bislang stets ungefähr gleich groß geblieben. Wenn man über die Bestimmungsgrößen von high und low reden will, dann dürfen Angaben zu solchen und anderen Kreisen und Schichten, die über die Ausgestaltung und Durchsetzung von ästhetischen und künstlerischen Haltungen, Konzepten und Wertungsmaßstäben bestimmen, nicht fehlen. Durch die Jahrzehnte handelt es sich überwiegend um jüngere, männliche, der Mittel- oder Oberschicht entstammende Angehörige akademischer, feuilletonistischer, künstlerischer Kreise, um Kunsthochschüler, Avantgardekünstler, Kunstrezensenten, Zeitgeistjournalisten, avancierte Studenten, Doktoranden oder Mitarbeiter an geistes- und kulturwissenschaftlichen Instituten, öffentlich-rechtliche Kulturredakteure, Lektoren und Kuratoren in modernen Museen und Verlagen etc. Sie haben es (im Zuge ihres Aufstiegs an den Universitäten, in den Zeitungen etc.) in den letzten fünf Jahrzehnten geschafft, die postmodern-avantgardistischen Höherwertungen und Adaptionen der zuvor oftmals als low abgewerteten Massen- und/oder Popkultur so weit durchzusetzen, dass entsprechende Werke und Ge-

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modernism. Essays on the Avant-Pop, San Diego 1995, S. 33–47, hier: S. 37. Auch Larry McCaffery: Avant-Pop. Still Life after Yesterday’s Crash. In: L. M. (Hg.): After Yesterday’s Crash. The Avant-Pop Anthology. New York 1995, S. xi–xxix. Mark Amerika und Lance Olsen: Smells Like Avant-Pop. An Introduction, of Sorts. In: M. A. und L. O. (Hg.): In Memoriam to Postmodernism, S. 1–31, hier: S. 18. Larry McCaffery (Hg.): Avant-Pop. Fiction for a Daydream Nation, Boulder 1993; McCaffery (Hg.): After Yesterday’s Crash. Diederichsen teilte mir in einem Gespräch im November 2010 mit, er habe den Begriff damals wohl von Paul Morley oder Ian Penman übernommen. Christian Kracht (Hg.): Mesopotamia. Ein Avant-Pop-Reader. München 2001. Christian Kracht (Hg.): Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends. Stuttgart 1999.

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schmacksurteile wesentliche Teile des überregionalen Feuilletons von Zeitungen und Zeitschriften wie FAZ, Spiegel, SZ, Art, Spex usf., von öffentlich-rechtlichen Kulturprogrammen, von universitären Lehrveranstaltungen und in kleinerem Maße auch von gymnasialen Lehrplänen einnehmen. Wegen ihres Einflusses bei der Mitgestaltung von öffentlich-rechtlichen Programmen haben sie die Möglichkeit, ihren Prinzipien und Vorlieben Sendezeiten zu verschaffen, die in einem kommerziellen, privatwirtschaftlichen Rahmen undenkbar wären. Dank der ihnen eingeräumten Chance, die Schul- und Universitätslehrpläne mit zu bestimmen, können sie in den Ausbildungsstätten ihren Favoriten Zwangsabnehmer zuführen. Dadurch gewinnen diese in beachtlichem Maße – wenn auch meist nur vorübergehend – Leser und Hörer hinzu. Trotz des Popanteils in manchen Werken der Postmoderne und durchgehend im Avant-Pop rekrutieren sich deren freiwillige Rezipienten nämlich zumeist ausschließlich aus dem Kreis ebenjener Doktoranden, Feuilletonisten, Künstler, die über sie schreiben und berichten (oder gerne schreiben und berichten wollten) oder verwandte Werke herstellen. Mit Blick auf die Gegenwart kann man deshalb sagen, dass jene avantgardistischen, (post)modernistischen Kunstformen, die als high und low eingestufte Elemente kombinieren und damit gegen den älteren bildungsbürgerlichen Kanon verstoßen, sich nach den Maßstäben des renovierten, modernisierten bildungsbürgerlichen Kanons deutlich auf der Seite des ›Hohen‹ bewegen. Dort stehen Musil und Hofmannsthal nicht mehr allein, hinzu haben sich etwa auch Brinkmann und Jelinek gesellt. Von den Kreisen, die diesen Kanon zusammenstellen bzw. sich implizit auf ihn einigen, gehen auch stets die bereits erwähnten Bemühungen aus, vormals zum Low-Bereich gezählte Künstler, Werke und mitunter sogar auch Genres als Hochkunst innerhalb eines erneuerten Kanons mit an die Spitze zu setzen. Dort stehen dann nicht nur die genannten Adaptionen und Kombinationen, sondern auch The Zombies, Chic, Human League, Madonna oder Hitchcock, Hawks und Kung-Fu-Filme. Dabei handelt es sich um teils gewagte, spektakuläre Umwertungen im Geist der Avantgarde oder Postmoderne – und fast immer um Umwertungen, die zu dem hohen Lob mit anderen Argumenten und Formulierungen gelangen, als sie die überwiegende Mehrheit der Chic- oder Madonna-Fans verwendet. Der Unterschied wird schon allein dadurch gestiftet, dass sich im Kanon derjenigen, die in einem weiten Sinne über high und low nachdenken, neben den hochgewerteten einzelnen Popstars oftmals Musil und Brinkmann (mitunter sogar Goethe), Edgar Varèse und John Cage befinden. Die überkommenen Bestimmungsgrößen von high und low werden von ihren avantgardistischen und postmodernen Überwindern zumeist insofern teilweise bewahrt, als sie an die Stelle von klassischen, modernen und avantgardistischen Werken nicht einfach ausschließlich die üblicherweise so bezeichneten Pop- und Unterhaltungsgenres setzen und damit die Zusammensetzung der Rangliste grundsätzlich umkehren. Interessanterweise verfährt das Gros der Popfans und der Freunde sogenannter ›leichter Unterhaltung‹ genauso. Sie hören oder lesen zwar keine Goethe-Romane oder Beethoven-Streichquartette – und erst recht keine Brinkmann-Gedichte, Webern-Kompositionen, Napalm-Death-Stücke (und auch keine Zappa-Konzeptalben) –, sie hängen

Bestimmungsgrößen von high und low

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aber immerhin noch so weit am bildungsbürgerlichen Erbe, dass sie in einer Umfrage 2003 zu den größten Deutschen in die Top Hundred neben Dieter Bohlen (Platz 30) und Patrick Lindner (Platz 44) Goethe (Platz 6), Beethoven (Platz 12) und Thomas Mann (Platz 76) platzierten.39

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Anonymus: Wer ist der größte Deutsche? ZDF-Ranking »Unsere Besten« – Die Top 100. In: http://www.berlinews.de/artikel.php?13732 (30. Mai 2010).

Uwe Wirth

LowHigh: Hybridität und Pfropfung als Modelle einer Vermischung von Hoch und Tief

Der Begriff der Hybridisierung hat, so scheint es, sowohl in den Theoriedebatten (high!) der Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen1 als auch in den Niederungen unserer Lebenswelt (low!) Konjunktur. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das Wort ›Hybridität‹ mittlerweile Eingang in unsere Alltagssprache gefunden hat: Alle sprechen wie selbstverständlich von Hybridanleihen, Hybridmotoren und Hybridstaubsaugern – eine Tendenz, die sich übrigens auch in der Popmusik beobachten lässt. Dort finden wir den Begriff in Albumnamen wie Hybrid Theory oder bei Bandnamen wie Hybrid Children. Besonders wirkmächtig ist der Hybriditätsbegriff im Kontext der Postcolonial Studies geworden: Die Kernthese lautet dort, dass die Beziehung zwischen verschiedenen Kulturen, aber auch die Beziehung innerhalb einer Kultur als ambivalenter Hybridisierungsprozess beschrieben werden kann: Zum einen als Kontakt zwischen Körpern, Sprachen und Weltbildern höchst unterschiedlicher Herkunft, durch deren Vermischung etwas Neues, etwas Drittes entsteht. Die klassischen Konzepte für die Beschreibung dieser Fusionsdynamiken sind, wie García Canclini in seinem Buch Culturas Hibridas feststellt, Kreolisierung, Synkretismus und Mestizaje.2 Personifiziert werden diese durch Malinche, die indigene Übersetzerin des spanischen Eroberers Cortés, die ihm – gleichsam als Beiwerk ihrer Übersetzertätigkeit – ein Kind gebar und dadurch zur Urmutter der Mestizen geworden ist. Zum anderen bezeichnet der Begriff der Hybridisierung aber nicht nur die Vermischung, sondern auch die Konfrontation zwischen verschiedenartigen, heterogenen Kulturelementen. Kulturelemente, die auf unterschiedlichen Levels – low and high – zu verorten sind. So wird der Hybridisierungsbegriff zur Beschreibung einer kolonialen Konstellation in Dienst genommen, bei der die Kolonisierten die Vermischung der eigenen Kultur mit der fremden Kultur der Kolonisatoren als subversive Strategie – als strategische Umkehrung – einsetzen. Hier erscheint Hybridisierung, wenn man Homi

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Vgl. hierzu Elisabeth Bronfen, Benjamin Marius und Therese Steffen (Hg.): Hybride Kulturen. Tübingen 1997; Irmela Schneider und Christian W. Thomson (Hg.): Hybridkultur. Medien, Netze, Künste. Köln 1997; Christof Hamann und Cornelia Sieber: Räume der Hybridität. Postkoloniale Konzepte in Theorie und Literatur. Hildesheim 2002; Kien Nghi Ha: Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus. Bielefeld 2005, sowie jüngst Uwe Wirth (Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren. Berlin 2011. Néstor García Canclini: Hybrid Cultures. Strategies for Entering and Leaving Modernity. Minneapolis/London 2005, S. XXIX.

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Uwe Wirth

Bhabha folgt, als »Umwertung des Ausgangspunktes kolonialer Identitätsstiftung durch Wiederholung der diskriminatorischen Identitätseffekte«3 seitens der Kolonisierten. Schließlich ist Hybridisierung aber auch – gleichsam als Interferenz der beiden gerade genannten Aspekte – der Name für eine bestimmte Form transkultureller Übersetzbarkeit, bei der das cultural crossing als Reise verstanden wird – als trans-cultural travelling,4 in dessen Vollzug sich Gewohnheiten, Überzeugungen und Denkweisen aufgrund von Migrationsbewegungen im kulturellen Crossover vermischen. »Migranten, Künstler und Intellektuelle verkörpern«, schreibt Doris Bachmann-Medick im Anschluss an Homi Bhabha, »Hybridität, insofern sie sich kosmopolitisch zwischen den Kulturen bewegen und ihre mehrfache Zugehörigkeit produktiv machen bzw. kreativ entfalten können sollten«.5 Doch nicht nur im Kontext der Kulturtheorie, auch im Kontext der Medientheorie bezeichnet Hybridität eine ambivalente Dynamik, nämlich die Kombination unterschiedlicher technischer Systeme mit dem Ziel, ihre Funktionalität zu steigern: etwa eine CD-ROM, die sowohl auf einem Microsoft- als auch auf einem Apple-Betriebssystem abgespielt werden kann (kaum zu glauben, dass so etwas möglich sein kann!) und mithin die Bezeichnung ›Hybridmedium‹ verdient.6 Die theoretische Folie hierzu liefert Marshall McLuhan in Understanding Media, wenn er die These aufstellt, durch »Kreuzung oder Hybridisierung von Medien« würden »gewaltige neue Kräfte und Energien frei«.7 Zudem böten derartige Hybridbildungen »eine besonders günstige Gelegenheit«, die »strukturellen Komponenten und Eigenschaften« der gekreuzten Medien zu erkennen.8 Dieser Aspekt steht heute bei der Erforschung intermedialer ›Mischformen‹ im Zentrum. Dabei geht man im Rekurs auf Julia Kristevas Intertextualitätstheorie davon aus, dass die »Transposition eines Zeichensystems in ein anderes«9 einer doppelten Logik gehorcht: Zum einen führen die Prozesse der Absorption und Transformation zu einer hybriden Mischung, zum anderen bleiben die hybridisierten Elemente jedoch auch nach der Hybridbildung noch als different erkennbar.10 Maßgeblich beeinflusst wurde dieses Konzept von Bachtins Ästhetik des Wortes, wonach die »Vermischung« verschiedener sozialer Sprachen innerhalb einer Äußerung als Hybridbildung anzusehen ist. Da-

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Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, S. 165. Vgl. Mieke Bal: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide. Toronto 2002. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 200. Vgl. Irmela Schneider: Von der Vielsprachigkeit zur ›Kunst der Hybridation‹. Diskurse des Hybriden. In: Schneider und Thomson: Hybridkultur, S. 13–66, hier: S. 19. Marshall McLuhan: Understanding Media. Dresden 1994, S. 84. Ebd. vgl. hierzu auch: Yvonne Spielmann: Hybridkultur. Berlin 2010. Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. Paris 1967, S. 59. Deutsch: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt am Main 1978, S. 68. Vgl. Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation. Münster 1996, S. 83; Joachim Paech: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figuration. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Hg. v. Jörg Helbig, Berlin 1998, S. 14–40, hier: S. 16, sowie Uwe Wirth: Intermedialität. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Bd. 1. Hg. v. Thomas Anz. Stuttgart 2007, S. 254–264.

LowHigh: Hybridität und Pfropfung als Modelle einer Vermischung von Hoch und Tief

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bei dient die Äußerung »als Tiegel der Vermischung«,11 als melting pot verschiedener Sprechweisen.

Alles hybrid? Bereits dieser erste kursorische Überblick zeigt, dass Hybridisierung der gemeinsame Bezugspunkt ist, unter dem interkulturelle, intertextuelle und intermediale Beziehungen analysiert werden. So schreibt Elisabeth Bronfen: Hybrid ist alles, was sich einer Vermischung von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustande gekommen ist.12

Hier möchte ich einhaken und fragen: Ist das so? Ist wirklich alles hybrid, was sich einer Vermischung, einer Verknüpfung, einer Collage, einem Sampling verdankt? Dass diese Frage für eine Untersuchung popkultureller und popliterarischer Diskurse relevant werden kann, mag die folgende Kennzeichnung der Schreibweise von Thomas Meinecke in seinem Roman Tomboy belegen. Moritz Baßler spricht von einer »Mixtur von Zitat und Narration«,13 wobei er das Barthes’sche Bild eines »tissu de citation«14 erwähnt. Rhythmisiert durch die DJ-Praxis des samplings und pitchings, entsteht ein Textfluss aus »sorgsam ›ausgepegelten‹ Textabschnitten«.15 Die damit implizierte These lautet, dass das Mischen und Mixen die grundlegende performative und poetische Geste der Popkultur ist. Der DJ, als ausführende Instanz dieser Geste, erweist sich dabei als moderner scripteur, dessen diskursive Macht darin besteht, »de mêler les écritures«.16 Hieraus resultiert eine zitierende Schreibpraxis, die der Maxime des copy and paste respektive des cut and paste gehorcht:17 ein Schreiben, das mit dem Vermischen des bereits Geschriebenen auch die Lücken – die gaps – zwischen hoher und niederer Kultur schließt.18 Insofern erscheint Popkultur immer auch als Hybridkultur: Hybridkultur verstanden als mediale Praxis, deren Grunddynamik das Mischen und Vermischen von bereits vorhandenen Elementen – welcher Art auch immer – ist. Deutlich zutage tritt dies an popliterarischen Schreibweisen, die sich an Techniken der Collage und Montage orientieren. Deren Grunddynamik besteht in der Rekontextualisierung von Textschnipseln, die man der Alltagskultur entreißt, so wie es Tristan

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Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main 1979, S. 244. Vgl. Bronfen: Einleitung zu Hybride Kulturen, S. 8. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 148f. Roland Barthes: La mort de l’auteur. In: Essais Critiques IV. Le Bruissement de la Langue. Paris 1984 (1968), S. 61–67, hier: S. 65. Baßler: Der deutsche Pop-Roman, S. 143. Barthes: La mort de l’auteur, S. 65. Vgl. hierzu: Anke te Heesen (Hg.): cut and paste um 1900. Der Zeitungsausschnitt in den Wissenschaften. Berlin 2002. Vgl. Leslie A. Fiedler: Cross the Border – Close the Gap. New York 1972, S. 4.

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Tzara 1923 in seinem berühmten dadaistischen Manifest fordert: »Nehmt eine Zeitung. Nehmt Scheren«,19 um dann das gewonnene Sprachmaterial in einen neuen Kontext zu manövrieren und es dort einer Kombinationsregel zu unterwerfen. Sei es das leichte Schütteln der Schnipsel in einer Tüte, um ein Zufallsgedicht entstehen zu lassen; sei es als arrangiertes crossreading, wie es William Burroughs vor Augen hat, wenn er 1969 (ein Jahr nach Barthes’ Forderung, die Kategorie des Autors durch die Funktion des modernen scripteurs zu ersetzen) über die Zukunft des Romans nachdenkt, wobei er das Collageprinzip der Cut-up-Methode um die sogenannte Fold-in-Methode erweitert: ein Vertextungsverfahren, bei dem Textseiten aus unterschiedlichen Quellen herausgelöst, in der Mitte gefaltet und nebeneinandergelegt werden: »[D]er neue Text entsteht indem man halb über die eine Texthälfte und halb über die andere liest«.20 Genau wie Barthes fragt Burroughs: »Was tut ein Schriftsteller im Grunde anderes als vorgegebenes Material zu sortieren, redigieren & arrangieren?«21 Das erneute Anordnen, Arrangieren und Kombinieren eines bereits vorhandenen Ausgangsmaterials ist auch der Grundzug der ›DJ-Culture‹, der, mit Rainald Goetz zu sprechen, »Kultur und Kunst des handwerklichen Tuns des Mischens und Mixens, des Cuttens und des Scratchens«. Diese Kultur beginnt damit, wie Goetz in Rave schreibt, dass man versucht, »mit zwei verschiedenen Plattenspielern gleichzeitig EINE Musik zu machen«.22 Das bedeutet zum einen live, durch Plattenauflegen einen Soundmix, einen Soundteppich herzustellen, der an die Stimmung des Publikums anschließbar ist. Dabei kommt der Kunst des Auspegelns entscheidende Bedeutung zu, um »die Geschwindigkeit der neuen an die alte Platte anzupassen«.23 Zum anderen bezeichnet DJ-Culture, gefasst als Record Art, das »Komponieren neuer Stücke anhand vorhandener Platten«. 24 Diesmal nicht mehr als live event, sondern als aufgezeichnetes Arrangement von bereits existierender Musik. Dabei werden die Ausdrücke ›Komponieren‹ und ›Mixen‹ zu Synonymen: In beiden Fällen kommt es darauf an, nicht einfach nur zu schneiden und zu kleben, sondern durch Schneiden und Kleben ein Arrangement, einen tissu de citation herzustellen, der vom Sound und vom Rhythmus her in sich stimmig ist. »Mixen sollte«, so Westbams Antwort auf die Frage: Worum geht es beim Mixen?, »ein bestimmtes Miteinander, Nacheinander und Gegeneinander von Takten und Harmonien sein« – nicht primär mit dem Ziel einen homogenen Sound, mit gleichbleibenden beats per Minute herzustellen, sondern »musikalische Strukturen aufzugreifen und zu verändern«, wobei durch das Mixen »Spannungen zwischen gerade artfremden, aber auch ähnlichen Stücken aufgebaut und aufgelöst werden sollen«.25

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Tristan Tzara: Sieben Dada-Manifeste. Hamburg 1998, S. 90f. William Burroughs: Die Zukunft des Romans. In: Cut up. Der sezierte Bildschirm. Hg. v. Carl Weissner. Darmstadt 1969, S. 19–23, hier: S. 20. Ebd. S. 21. Rainald Goetz: Rave. Frankfurt am Main 2001, S. 82f. Ebd., S. 85. Westbam und Goetz: Mix, Cuts & Scratches. Berlin 1997, S. 24. Ebd. S. 56.

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Diese Auszeichnung des Mischens als Arrangement von vorhandenem Material einerseits sowie als rhythmisierte Kombination »artfremder« aber dennoch »ähnlicher« Stücke andererseits, wirft die Frage auf, ob Hybridität tatsächlich das einzige Beschreibungsmodell popkultureller Schreibweisen ist.26 Gerade wenn es um Sampling, Collage, aber auch um Montage von zitierten Elementen geht, wäre auch ein anderes Modell, nämlich das der greffe citationelle denkbar. Was ist damit gemeint?

Alles greffe? Prominent wurde der Begriff der greffe citationelle durch Derridas Aufsatz »Signatur Ereignis Kontext«, in dem die Aufpfropfung zur Metapher für die »wesensmäßige Iterabilität« – die Wiederholbarkeit und Zitierbarkeit – der Zeichen wird.27 ›Iterabilität‹ heißt, dass jedes Zeichen »mit jedem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen« kann. Diese »Kraft zum Bruch« des Zeichens mit einer syntagmatischen Verkettung eröffnet die Möglichkeit, dem Zeichen neue, andersartige Funktionsweisen zuzuerkennen, indem man es »in andere Ketten einschreibt oder es ihnen aufpfropft«.28 Kurz darauf schreibt Derrida: Auf dieser Möglichkeit möchte ich bestehen: Der Möglichkeit des Herausnehmens und des zitathaften Aufpfropfens [greffe citationelle], die zur Struktur jedes gesprochenen oder geschriebenen Zeichens gehört.29

Nun ist die Tatsache, dass Derrida die Aufpfropfung als Metapher für das Zitieren einführt, an sich noch nicht sonderlich außergewöhnlich. Immerhin gibt es eine lange Tradition, die Pfropfung im Rahmen poetologischer und poetischer Diskurse als Metapher für die sekundären Praktiken des Zitierens, Kopierens und Nachahmens zu verwenden – entsprechende Äußerungen finden sich im 18. Jahrhundert recht häufig – Jean Paul hat sogar einen ganzen Roman über die Aufpfropfung als Modell eines collagierenden Texterzeugungsverfahrens geschrieben: Leben Fibels,30 ein Roman, dem die Fiktion zugrunde liegt, dass er aus Fragmenten einer Makulatur gewordenen ersten, 40 Bände umfassenden Biografie zusammengesampelt wurde. Französische »Marodeurs« hatten, so erfährt man im Vorwort des Herausgeber-Autors Jean Paul, in den Wirren der napoleonischen Kriege die Lebensbeschreibung Fibels »zerschnitten und aus dem Fenster fliegen lassen«, woraufhin die Bewohner des Dorfes Heiligengut die »übriggebliebenen

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Vgl. hierzu Eckhard Schumacher: ›Be Here Now‹. Zitathaftes Aufpfropfen im Popdiskurs. In: Wirth (Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren, S. 213–234, hier: S. 229. Jacques Derrida: Signatur Ereignis Kontext. In: J. D.: Limed Inc. Wien 2001, hier: S. 27. Ebd. Ebd., S. 32. Vgl. Uwe Wirth: Die Geburt das Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008, S. 367ff.

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Quellen« auflasen und »zu Papierfenstern, Feldscheuen und zu allem« machten.31 Angesichts dieser zerstreuten Quellenlage beschließt Jean Paul nach Heiligengut zu reisen, um dort als Sammler monumentaler Schriftspuren noch genügend »historische Quellen« aufzutreiben, um eine zweite Biografie Fibels »zusammenzuleimen«.32 Dieses collagierende und montierende, auf den Prinzipien des cut and paste basierende Textverarbeitungsprogramm ist – wie viele andere Texte der Romantik auch – eine ironische Inszenierung einer progressiven Poetik, die nicht nur das Gefälle von high culture und low culture auskostet, sondern auch explizit auf das Modell der Aufpfropfung als sekundäre Praktik des Komponierens rekurriert.33 In Leben Fibels protokollieren die einzelnen Kapitelüberschriften jeweils den Fundort. Im »20. oder Pelz-Kapitel« lesen wir: Dieses ganze Kapitel wurde in einem Impf- oder Pelzgarten im Grase gefunden und schien zum Verbinden der Pelz-Wunden gedient zu haben, was einer leicht fein-allegorisch deuten könnte, wenn er denn wollte.34

Pelzen und Impfen sind – wie ein Blick in Zedlers Universal-Lexicon verrät – Synonyme für die Kulturtechnik des Pfropfens,35 die hier als fiktive poetische Collagetechnik vorgeführt wird. Um 1900 findet sich diese Technik in modulierter Form wieder: nun nicht mehr als ironischer Fiktionsrahmen, sondern als empirischer Interventionsrahmen, in dem sich ein als »Meta-Autor« operierender Künstler bewegt, »der vorwiegend mit Versatzstücken und Zitaten«, also mit »Vorfabrikaten«36 arbeitet. Bei einem so gelagerten Dichtungsverfahren werden, wie Kurt Schwitters 1923 schreibt, »die Worte aus ihrem alten Zusammenhang gerissen, entformelt und in einen neuen künstlerischen Zusammenhang gebracht, sie werden Form-Teile der Dichtung, weiter nichts«.37 Das so verstandene Verfahren der demonstrativen Montage entspricht einer Aufpfropfungsbewegung, die das rekontextualisierte Material in seinem ›Herausgerissensein‹ aus dem alten Zusammenhang und in seinem ›Aufgepfropftsein‹ auf den neuen, künstlerischen Zusammenhang vorführt. Auch im literaturwissenschaftlichen Diskurs, der sich mit avantgardistischen Poetiken und Schreibverfahren auseinandersetzt, ist das Aufpfropfungsmodell keineswegs unbekannt: So untersucht Antoine Compagnon in seinem Buch La seconde main ou le travail de la citation detailliert die »geste archaïque du découper-coller«,38 durch die sich die greffe als Transplantation im botanischen wie im chirurgischen Sinne auszeichnet.

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Jean Paul: Leben Fibels (1811). In: J. P.: Werke in zwölf Bänden. Hg. v. Norbert Miller. München 1975, Bd. 11, S. 374f. Ebd. Vgl. Uwe Wirth: Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpfropfung. In: Originalkopie. Praktiken des Sekundären. Hg. v. Gisela Fehrmann u. a. Köln 2004, S. 18–33. Jean Paul: Leben Fibels, S. 464. Vgl. Johann H. Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Bd. 3. Leipzig/Halle 1753, S. 762. Felix Philipp Ingold: Der Autor am Werk. München 1992, S. 347. Kurt Schwitters: Merz 1, Holland Dada. Hannover 1923. Antoine Compagnon: La Seconde Main ou le Travail de la Citation. Paris 1979, S. 17.

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Dass zitierende und collagierende Schreibweisen einen ›aufgepfropften Charakter‹ haben, ist keineswegs unplausibel – aber kann man daraus auch ableiten, dass alles Schreiben Aufpfropfungscharakter hat? Ebendies ist Derridas These, nämlich dass die Pfropfung nicht nur das Modell für das Zitieren, sondern für das Schreiben überhaupt ist. In La Dissemination schreibt er: »Écrire veut dire greffer. C’est le même mot«.39 Schreiben heißt Aufpfropfen – das ist dasselbe Wort. Entschärft wird diese Provokation lediglich dadurch, dass greffe im Französischen auch die Bezeichnung für eine Schreibkanzlei ist. Der greffier ist ein Schreiber, der Schriftstücke kopiert.40 In dieser Hinsicht wird der greffier zum Kumpan des modernen scripteur, der nicht mehr als origineller, auktorialer Urheber, sondern als ein zusammenzitierender, zusammenmischender Schreiber operiert, dessen einzige Macht im Mischen von bereits Geschriebenem besteht. Vielleicht könnte man vorläufig festhalten: Greffier und scripteur sind die Protagonisten kopierender, zitierender, collagierender und montierender Textverarbeitungsstrategien, bei denen es darum geht, »vorgegebenes, vorgefertigtes oder angefertigtes Material so zusammenzusetzen, daß ein neues ›Produkt‹ entsteht«.41 Montage, verstanden als Verfahren, »fremde Textsegmente in einen eigenen Text aufzunehmen, sie mit eigenem zu verbinden bzw. zu konfrontieren«,42 führt im Extremfall dazu, dass sich im Rahmen von Zitatmontagen die zitierten Textsegmente »gegenseitig zum Kontext« werden.43 Diese dem Prinzip des rearrangierenden cut and paste verpflichtete Technik wird in direkte funktionale Analogie zur Kulturtechnik der Aufpfropfung gesetzt. Wie naheliegend diese Analogie ist, mag das oben erwähnte Schwitters-Zitat belegen, aber auch die folgende Passage, in der Herta Müller ihre Collage- und Montagetechnik fast mit den gleichen Worten beschreibt wie Derrida die greffe citationelle: Ich möchte Sachen aus Kontexten herausnehmen und meine eigenen daraus machen. Ich habe den Eindruck, es sind gar nicht meine Wörter, die sind ja immer von jemand anderem geschrieben und die hat immer jemand anderes gesagt.44

Dabei kommt nicht nur dem Herausnehmen, sondern vor allem auch dem Zusammenfügen eine zentrale Rolle zu. Das collagierende Zusammenleimen, die Montage als funktionales Gefüge, aber auch das botanische Zusammenwachsen sind Möglichkeiten, das Zusammenfügen von Teilen zu einem Ganzen zu beschreiben. All diese Aspekte interferieren bei der Kulturtechnik des Pfropfens, deren Pointe darin besteht, dass man

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Jacques Derrida: La Dissémination. Paris 1972, S. 431. Vgl. Stichworte »Greffe« und »Greffier« in: Jean Le Rond D’Alembert und Denis Diderot (Hg.): Encyclopédie. Bd. 7. Paris 1757, S. 921–924. Vgl. Bernd Stiegler: Montagen des Realen. Photographie als Reflexionsmedium und Kulturtechnik. Paderborn 2009, S. 289. Viktor Žmegaþ: Montage. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. v. Dieter Borchmeyer und Viktor Žmegaþ. Tübingen 1994, S. 286–291, hier: S. 286. Hanno Möbius: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München 2000, S. 58. Interview mit der Schriftstellerin Herta Müller über ihren literarischen Umgang mit Zeitungsschnipseln. In: te Heesen (Hg.): cut and paste um 1900, S. 171–180, hier: S. 174.

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Uwe Wirth Teile von zwei Pflanzen verletzt und dann so zusammenfügt, dass sie miteinander verheilen. Der eine Teil wird als Unterlage bezeichnet. Er ist eine Art Gastgeber, der im Boden wurzelt und den anderen Teil, den Reis, mit Nährstoffen versorgt.45

Das Zusammenwachsen wird durch die Wundheilungskräfte des verletzten Kambiums der beiden Pflanzenteile ermöglicht. Voraussetzung ist allerdings, dass die Unterlage und der Reis passgenau aufeinander zugeschnitten werden. Zu diesem Zweck ist der Einsatz spezieller Werkzeuge und Hilfsmittel erforderlich: eine Baumsäge, ein besonderes Messer, aber auch Materialien zum Verkleben der Schnittwunden. Hier wird der Bezugspunkt zwischen der greffe citationelle im Sinne Derridas und der Aufpfropfung im botanischen Sinne deutlich: In beiden Fällen handelt es sich um ein Verfahren des cut and paste, durch das aus zwei verschiedenen Teilen ein neues Ganzes zusammengesetzt wird. Dabei bringt die Agrikulturtechnik der Aufpfropfung einen Begriff der Schnittstelle ins Spiel, der ein weites Feld kulturwissenschaftlicher und medientechnischer Implikationen eröffnet.46 Die Schnittstelle steht, um es sehr allgemein zu formulieren, für die Notwendigkeit, ein ›Dazwischen‹ zu organisieren,47 und das heißt vor allem: durch eine technische Intervention, die, vor allem auch mit Blick auf das anschließende Verkleben der Schnittstellen, den Charakter einer biologischen bricolage respektive einer organischen Montage hat.48 Der Aufpfropfung liegt dabei erstens die Zielvorgabe einer qualitativen und quantitativen Steigerung der Erträge zugrunde. Zweitens geht es bei der Aufpfropfung darum, Zeit zu sparen, nämlich die Zeit, die eine ausgesäte Pflanze brauchen würde, um tragfähige Wurzeln zu bilden. Die Aufpfropfung bewirkt also eine Beschleunigung der Reproduktion. Drittens steht die Aufpfropfung im Zeichen der Kontrolle. So lässt sich der künstliche, nichtsexuelle Reproduktionsprozess besser steuern als die natürliche, sexuelle Fortpflanzung. In allen drei Hinsichten erweist sich die Aufpfropfung als dispositives Verfahren der Steigerung und der Steuerung. Mehr noch: Mit der Ausführung dieses dispositiven Verfahrens wird nicht nur der Raum zwischen Natur und Kultur konfiguriert, sondern zugleich auch die Grenze zwischen Naturzustand und Kulturzustand markiert.

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Oliver E. Allen: Pfropfen und Beschneiden. Time-Life Handbuch der Gartenkunde. Amsterdam 1980, S. 62. Vgl. hierzu Uwe Wirth: Aufpfropfung als Figur des Wissens in der Kultur- und Mediengeschichte. In: Kulturgeschichte als Mediengeschichte (oder vice versa?). Hg. v. Lorenz Engell, Joseph Vogl und Bernhard Siegert. Weimar 2006, S. 111–121. Régis Debray: Für eine Mediologie. In: Kursbuch Medienkultur. Hg. v. Claus Pias, Joseph Vogl, Lorenz Engell u. a. Stuttgart 1999, S. 67–75, hier: S. 67. Vgl. hierzu Uwe Wirth: Kultur als Pfropfung. Pfropfung als Kulturmodell. Prolegomena zu einer Allgemeinen Greffologie (2.0). In: Wirth (Hg.): Impfen, Pfropfen, Transplantieren, S. 9–28, hier: S. 14.

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Zwischen Hybrid und Pfropf Nach diesem ersten Überblick, wie die Modelle ›Hybridität‹ und ›Aufpfropfung‹ im Kontext literatur- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung in Dienst genommen werden, möchte ich einen Verdacht formulieren, der mein ganz persönliches Forschungsinteresse an diesen beiden Begriffen betrifft: der Verdacht, dass es häufig zu einer Verwechslung kommt, wenn Hybridität und Aufpfropfung als Theoriemetaphern verwendet werden. Um diesen Verdacht noch etwas zu konkretisieren: Wenn Elisabeth Bronfen schreibt, hybrid sei alles, was sich einer Vermischung von Signifikantenketten verdankt, »was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustande gekommen ist«, bringt sie dann nicht unter dem Label hybrid die Logik der kreuzenden Vermischung und die Logik der pfropfenden Verbindung durcheinander? Die Formel der Aufpfropfung lautet: ›Aus zwei mach eins!‹, wobei die zusammengesetzten Teile zwar zusammenwachsen, aber dennoch ihre genetische Eigenständigkeit bewahren. Im Gegensatz dazu lautet die Formel der Hybridisierung: ›Aus zwei mach drei‹ – aus zwei relativ artfremden Organismen, etwa einem Pferd und einem Esel, entsteht ein dritter Organismus, das Maultier, das eine genetische Mischung zweier Arten ist. Die Frage danach, wie der Hybriditätsbegriff zur Zeit im Kontext der Postcolonial Studies, aber auch im Kontext der Auseinandersetzung mit Populärkultur verwendet wird,49 verweist auf eine Geschichte der Verwechslung einer Logik der Hybridisierung und einer Logik der greffe. Die Geschichte dieser Verwechslung, dieser Interferenz, reicht aber noch viel weiter zurück und kommt womöglich schon in der Bezeichnung ›Bastardisierung‹ selbst zum Ausdruck, die im Bereich der Biologie bis heute als Synonym für Hybridisierung verwendet wird. Zugleich bezeichnet der Bastard bis heute den Spross einer außerehelichen Beziehung – eine Erklärung, die sich schon in Zedlers Universal-Lexicon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts findet. Besonderes Interesse verdient nun aber die folgende Spekulation über den etymologischen Ursprung des Wortes ›Bastard‹: Bastard, so lesen wir im Zedler, »kommt her von dem Bast, mit welchem man die Pfropfreiser den […] Rinden einverleibt […] und anwachsen macht«.50 Hier wird nicht nur das uneheliche Kind als Spross einer Verbindung zweier verschiedenartiger Zeugungspartner beschrieben, sondern Hybridisierung wird im Vokabular der Aufpfropfung beschrieben. Zu fragen bleibt, was die terminologische – aber mehr noch die konzeptionelle – Übertragung von Teilaspekten der Aufpfropfung auf den Vorgang der Hybridisierung (und umgekehrt) zu bedeuten hat: Sind derartige Verwechslungen bloß Figuren eines Nicht-Wissens, oder sind sie selbst eine besondere Art von Wissensfigur? Inwiefern finden derartige Verwechslungen ihre Reprise im Kontext der Theoriebildung? Oder aber im Kontext von Verschmelzungs- und Vermischungsfantasien zwi-

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Vgl. hierzu auch Spielmann: Hybridkultur, S. 126f. Vgl. Lemma »Bastardus«. In: Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 3, S. 644.

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schen unterschiedlichen Kulturen oder zwischen verschiedenen Stilebenen, zwischen high and low? Ich möchte diese Frage an einem Beispiel erläutern, das nicht gerade zur Gegenwartsliteratur im engeren Sinne gehört: In Wolfram von Eschenbachs Parzival wird uns berichtet, dass Parzivals Vater mit der ›Mohrenkönigin‹ Belakane einen Sohn gezeugt hat, der den Namen »Feirefiz« – der »bunte Sohn« trägt. Der Ausdruck vair – eigentlich eher für gescheckte Kleidung oder Pferde gebräuchlich – wird zur Kennzeichnung eines Kindes, das aus einer multikulturell ›gemischten Verbindung‹ zwischen einem Weißen und einer Schwarzen hervorgegangen ist: diu frouwe an rehter zît genas eins suns, der zweier varwe was, an dem got wunders wart enein: wîz und swarzer varwe er schein.51

Bemerkenswerterweise wird die Verbindung von Weiß und Schwarz hier nicht als hybride Durchmischung dargestellt, die einen neuen Farbton ergibt, sondern als mosaikartige Musterung, die die Differenzqualität der ursprünglichen Farben beibehält. An anderer Stelle ist davon die Rede, das Gesicht von Feirefiz sei ›elsternfarben‹: schwarzweiß-gescheckt. Hybridisierung wird von Wolfram von Eschenbach offenbar als zusammengepfropftes Kompositum gedacht – ähnlich wie die mehr oder weniger monströsen Fabelwesen der Antike, etwa die Zentauren: vorne Mensch, hinten Pferd, oder die Chimäre: »Vorn ein Löw und hinten ein Drach und Geiß in der Mitte«, wie es in Homers Ilias heißt.52 Man könnte vielleicht sagen: Fabelwesen, Monster und Chimären sind Figuren, die Hybridität im Modus der Aufpfropfung repräsentieren. Die miteinander verbundenen Teile werden nicht als zusammengemischt dargestellt, sondern als zusammengesetzt: als phantasmagorisches cut and paste. Unter dem Vorzeichen von Kolonialismus und Evolutionstheorie ändert sich die Vorstellung von der Vermischung verschiedenartiger Körper im 19. Jahrhundert grundlegend. So mündet, wie Robert Young in seinem Buch Colonial Desire. Hybridity in theory, culture and race ausführt, das Phantasma sexueller Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß in einen Hybriditätsdiskurs,53 in dem vor allem die Frage verhandelt wird, ob der Preis für eine ›gemischte Verbindung‹ die Unfruchtbarkeit der hybriden Nachkommen sei – wie es zum Beispiel bei den Mauleseln der Fall ist. Nicht von ungefähr leitet sich die rassistisch konnotierte Kennzeichnung ›Mulatte‹ vom ›Mule‹, dem Maulesel her, einem Hybrid aus männlichem Pferd und weiblichem Esel. Damit ist freilich auch impliziert, dass sich schwarze und weiße Menschen wie Esel und Pferd zueinander verhalten, also biologisch betrachtet nicht von derselben Art sind. Ebendies ist der Kern der Hy-

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Wolfram von Eschenbach: Parzival. Rev. u. komm. v. Eberhard Nellmann. Übers. v. Dieter Kühn. Bd. 2: Kommentar. Frankfurt am Main 1994, S. 57, 15ff., 100. Vgl. Homer: Ilias. Übers. v. Johann Heinrich Voß. München 1976, 6. Gesang. Robert J. C. Young: Colonial desire. Hybridity in theory, culture and race. London/New York 1995, S. 9.

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briditätsdebatte im 19. Jahrhundert, deren crucial point die Gleichsetzung der Begriffe ›Art‹ und ›Rasse‹ ist.54 Hier kommt Charles Darwin das große Verdienst zu – und das ist mit Blick auf die rassistischen Implikationen der Hybriditätsdebatte im 19. Jahrhundert entscheidend –, den Begriff der Art nicht mehr absolut zu fassen, sondern operational, da es häufig unklar bleibt, »ob diese oder jene zweifelhafte Form als Art oder als Varietät zu betrachten sei«.55 Im Kontext der Postcolonial Studies steht der Hybriditätsbegriff heute nicht mehr nur für eine biologische Vermischung von Körpern,56 sondern für ein crossing of cultures,57 das eine weltanschauliche Vermischung von Perspektiven impliziert, eine, mit Salman Rushdie zu sprechen, »stereoscopic vision«,58 die unterschiedliche Weltbilder überblendet. Die Hybridisierung findet hier – gleichsam als Blickfigur des Dritten – im Auge des Betrachters statt.

Von Sinnhybriden und Soundchimären Die vielleicht wichtigste theoretische Folie für den postkolonialen Hybriditätsdiskurs bildet dabei das eingangs bereits erwähnte Modell der »Sinnhybride«, das Bachtin in Das Wort im Roman entwickelt: ein Modell, das im Kontext der Cultural Studies mittlerweile häufig für die Beschreibung interkultureller Beziehungen in Dienst genommen wird, obwohl es von Bachtin zunächst für die Beschreibung intertextueller Beziehungen entwickelt wurde: Wir nennen diejenige Äußerung eine hybride Konstruktion, die ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositorischen Merkmalen nach zu einem einzigen Sprecher gehört, in der sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ›Sprachen‹, zwei Horizonte von Sinn und Wertung vermischen.59

Häufig treffen, so Bachtin weiter, zwei Stimmen, zwei Sprachen innerhalb eines Satzes aufeinander, »oft gehört sogar ein und dasselbe Wort gleichzeitig zwei Sprachen und zwei Horizonten an, die sich in einer hybriden Konstruktion kreuzen, und sie hat folglich einen doppelten in der Rede differenzierten Sinn und zwei Akzente«.60

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Vgl. ebd., S. 18. Charles Darwin: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein. Durchges. v. J. Victor Carus. 9. Aufl. Stuttgart 1899, S. 321. Vgl. hierzu auch Brian Stoss: The Hybrid Metaphor. From Biology to Culture. In: The Journal of American Folklore 112 (1999), S. 254–267. Vgl. Homi Bhabha: Minority Maneuvers and Unsettled Negotiations (Editor’s Introduction). In: Critical Inquiry (Front Lines/Border Posts) 23 (1997) 3, S. 431–459, hier: S. 433. Salman Rushdie: Imaginary Homelands. In: Literature in the modern World. Critical Essays and Documents. Hg. v. Dennis Walter. Oxford 2004, S. 226–231, hier: S. 230. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 195. Ebd.

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Hier sind nun gleich mehrere Aspekte bemerkenswert, und zwar zunächst einmal die Formulierung »hybride Konstruktion« selbst: Hier trifft ein biologisches Konzept auf eine Begrifflichkeit der Artifizialität, genauer gesagt: auf eine Begrifflichkeit der Montage. Zweitens findet in dieser Passage eine starke Differenzierung zwischen einer syntaktischen und einer semantischen Ebene der Hybridisierung statt – obwohl unklar bleibt, ob die »hybride Konstruktion« eine syntaktische oder eine semantische Konstruktion ist, ja ob der Hybriditätseffekt womöglich durch die Wechselwirkung respektive die Interferenz beider Ebenen sozusagen als Resultat einer stereoscopic vision entsteht. Schließlich ist festzustellen, dass Bachtin an anderer Stelle – rund 50 Seiten später – zwischen unabsichtlichen und absichtlichen Hybridbildungen unterscheidet. Die unabsichtlichen, unbewussten Hybride, die Bachtin auch »organisch« nennt, sind der »zentrale Modus des historischen Lebens und Werdens von Sprachen«, und für diese Form der Hybridisierung gilt: Die Äußerung dient als »Tiegel der Vermischung«, da es immer wieder zu »überaus produktiven«, aber »blinden und dunklen Vermischungen sprachlicher Weltanschauungen« kommt.61 Allerdings wäre es unplausibel, diese Form der Hybridisierung als ›hybride Konstruktion‹ zu bezeichnen (was Bachtin auch nicht tut), wobei sich die Resultate dieser blinden und dunklen Vermischung durchaus als »phänotypisch hybride Merkmale« beobachten lassen.62 Im Gegensatz zu unabsichtlichen, organischen Hybriden zielen die absichtlichen, künstlerischen Hybridbildungen darauf ab, etwa im Rahmen des Romans das Aufeinandertreffen verschiedener sozialer Sprachen nicht einfach nur herzustellen, sondern darzustellen. Und ebendiese absichtlichen hybriden Konstruktionen bezeichnet Bachtin als »Sinnhybride«, wobei er betont: »Die beiden Standpunkte werden hier nicht vermischt, sondern einander dialogisch konfrontiert.«63 Ist das nicht einigermaßen erstaunlich? Ausgerechnet die Sinnhybride stellt keine Vermischung her, sondern stellt eine dialogische Konfrontation dar, eine semantische stereoscopic vision sozusagen. Die Konfrontation verschiedener Perspektiven entzieht sich also genau jener Vermischung des Verschiedenartigen, die für organische Hybridisierungsprozesse typisch ist, denn auf der semantischen Ebene bleiben die beiden Standpunkte unvereinbar. Lediglich auf der syntaktischen Ebene kommt es zu einer »Verschmelzung zweier Äußerungen zu einer einzigen Äußerung«,64 wobei diese Verschmelzung auf der syntaktischen Ebene der Äußerung eine Überblendung verschiedenartiger, nicht vereinbarer Bedeutungen auf der semantischen Ebene bewirkt. Die Formulierung »Verschmelzung zweier Äußerungen zu einer einzigen Äußerung« erinnert sehr an die Formel, auf die die Aufpfropfung zu bringen ist: ›Aus zwei mach eins‹. Zu fragen bleibt daher, ob die »Sinnhybride« Bachtins nicht besser als »Sinnchimäre« zu beschreiben wäre: als Interferenz von textuellen Pfropfungen auf der syntaktischen Ebene (low!) und Hybriditätseffekt auf der semantischen Ebene (high!).

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Ebd., S. 244f. Anne Bohnenkamp: Hybrid statt verfremdend? Überlegungen zu einem Topos der Übersetzungstheorie. In: Linguistische Aspekte der Übersetzungswissenschaft. Hg. v. Peter Colliander, Doris Hansen und Ingeborg Zint-Dyhr. Tübingen 2004, S. 9–26, hier: S. 21. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 246. Ebd.

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Wie leicht derartige Sinnüberblendungen durch syntaktische textuelle Pfropfungen erzeugt werden können, mag das folgende Beispiel veranschaulichen. Im Jahre 1982 erschien der von Eckhard Henscheid und F. W. Bernstein herausgegebene parodistische Sammelband Unser Goethe. Zu diesem Band haben Robert Gernhardt und Peter Knorr das folgende Gedicht beigesteuert: Sah ein Knab ein Röslein stehn, Röslein auf der Heiden, War so jung und morgenschön, Lief er schnell, es nah zu sehn, Sah’s mit vielen Freuden. Warte nur, balde Ruhest du auch.65

Die letzten beiden Zeilen dieser Collage, die sich offenbar einer ›archaischen Geste‹ des Schneidens und Klebens verdankt, sind die letzten beiden Zeilen aus Wandrers Nachtlied. Sie erzeugen einen witzig-zotigen Effekt, der dadurch entsteht, dass sich die Äußerungsbedeutung des Satzes »Warte nur, balde / Ruhest du auch« in seinem neuen Kontext verändert. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen könnte man die letzten Zeilen als eine Art ›Unterlage‹ bezeichnen, auf die die ersten fünf Zeilen aus dem »Heidenröslein« aufgepfropft sind. Diese durch cut and paste hergestellte syntaktische textuelle Pfropfung erzeugt einen hybriden semantischen Effekt: Der Satz »Warte nur, balde / Ruhest du auch« ist nicht mehr wie in seinem Ausgangskontext Ausdruck lebensmüder Todessehnsucht, die in die Ankündigung einsamen Entschlafens mündet, sondern wird zur frivolen Prognose gemeinsamen Zubettgehens. Die Interferenz von greffe citationelle auf der syntaktischen und Hybriditätseffekt auf der semantischen Ebene gebiert eine parodistische Sinnchimäre, die aus zweimal high einmal low macht. Scratches Abschließend möchte ich noch einmal auf die These eingehen, Popkultur sei immer auch Hybridkultur – eine These, die sich auf einer allgemeineren Ebene mit der Frage nach den Rahmenbedingungen kultureller Hybridbildungen überhaupt beschäftigt, wobei immer wieder Analogien zu sprachlichen Hybridbildungen gezogen werden, wie die vor allem in den Postcolonial Studies festzustellende Bezugnahme auf Bachtin zeigt. Auf einer spezielleren Ebene ging es um das Mischen und Vermischen als Tertium Comparationis zwischen Popkultur und Hybridkultur, wobei sich die Frage stellte, ob das Hybriditätsmodell für die Techniken und Praktiken zitathaften Mischens angemessen ist, ob es nicht erst in Kombination mit dem Modell der Aufpfropfung zu einer differenzierten Perspektivierung kommt. Das Beispiel des Goethe-Gedichts hat gezeigt, dass es so etwas wie eine parodistische DJ-Culture auch im Bereich des Vermischens von Geschriebenem geben kann: mit

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Eckhard Henscheid und F. W. Bernstein (Hg.): Unser Goethe. Zürich 1982, S. 303.

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zwei verschiedenen Gedichtteilen EIN Gedicht sampeln, wobei es auch hier nicht darum geht, einen homogenen Sound, ein einheitliches Metrum herzustellen, sondern einen Sinneffekt zu erzielen, der sich aus einem strategischen Miteinander, Nacheinander und Gegeneinander ergibt. Dabei werden durch das parodistische Mixen »Spannungen zwischen gerade artfremden, aber auch ähnlichen Stücken aufgebaut und aufgelöst«.66 »Ähnliche Stücke« heißt in diesem Fall: das Arrangement zweier Gedichte von Goethe. »Artfremd« heißt: ein Gedicht, in dem es um Liebe geht, wird mit einem Gedicht, in dem es um Tod geht, kombiniert, wodurch eine Zeile – »Warte nur, balde / Ruhest du auch« – eine semantische Umwertung erfährt. Diese Zeile fungiert auf der semantischen Ebene als eine Überblendung zweier Bedeutungen, zugleich markiert sie einen metrischen Bruch mit den vorangegangenen Versen. Derartige Übergänge eröffnen zwei Optionen: Die eine Möglichkeit ist das metrische respektive rhythmische Auspegeln, um die Überblendung in Analogie zu einer verdeckten Montage durch das Angleichen der Geschwindigkeit unsichtbar respektive unhörbar zu machen. Es entsteht ein rhythmisch synchronisierter flow. Die zweite Option, der Kontrastmontage vergleichbar, ist die Inszenierung des Übergangs als Bruch, als break, der durch einen Rhythmuswechsel eine Schnittstelle markiert. Beide Verfahren finden sich sowohl bei der musikalischen Komposition aus vorhandenen Platten als auch bei der literarischen Komposition aus vorhandenen Textbausteinen, wobei Hybridisierung und Aufpfropfung nicht nur zu komplementären Beschreibungsmodellen, sondern zu komplementären Kompositionsprinzipien werden. So schreibt Vered Shemtov im Anschluss an Bachtins Konzept der hybriden Konstruktion: […] the poet can choose between different styles, each presenting a different tone, voice, rhythm, and accordingly a different ideological position; and that these can be grafted together in hybrid construction.67

Wenn sich unterschiedliche Tonfälle, Stimmen, Rhythmen und mit ihnen unterschiedliche semantische oder weltanschauliche Konnotationen in eine hybride Konstruktion ›zusammenpfropfen‹ lassen, dann bildet das daraus entstehende Kompositum eine, wie ich es nennen möchte, Soundchimäre: ein Arrangement, bei dem es etwa aufgrund von aufpfropfenden Einschreibungen auf der ›syntaktischen‹ Ebene des Rhythmus zu Hybriditätseffekten kommt. Bestes Beispiel hierfür wäre das Scratching, das eine rhythmisierte Aufpfropfung ist, bei der sich ein neues Stück im vorherigen ankündigt, »durch eine sequenzierte, rhythmische Abfolge eines mehr oder minder charakteristischen Wortes, Satzes, Geräusches« – zugleich können aber auch »Wörter oder Geräusche in die folgende Platte isoliert fortgeführt werden«.68 Mit anderen Worten: Das Scratchen organisiert den Übergang von einer Platte zur anderen als Alternative zur Überblendung, nämlich als musikalische greffe citationelle.

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Westbam und Goetz: Mix, Cuts & Scratches, S. 56. Vered Shemtov: Metrical Hybridization. Prosodic Ambiguities As a Form of Social Dialogue. In: Poetics Today 22 (2001) 1, S. 65–87, hier: S. 73. Westbam und Goetz: Mix, Cuts & Scratches, S. 24.

LowHigh: Hybridität und Pfropfung als Modelle einer Vermischung von Hoch und Tief

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Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten scheint es ratsam, die These, hybrid sei alles, was sich einer Vermischung von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustande gekommen ist, erheblich zu relativieren – und zwar gerade auch mit Blick auf die Rolle hybrider Konstruktionen in der Popliteratur. Die durch die DJCulture etablierten Praktiken des Mischens machen deutlich, dass etliche der hybriden Effekte das Resultat von aufpfropfenden Übertragungen sind. Was bislang noch fehlt, ist ein Ansatz, diese aufpfropfenden Übertragungen für die Beschreibung popkultureller und popliterarischer Schreibweisen konzeptionell zu erschließen. Ein erster Schritt in diese Richtung könnte sein, das Modell der Sinnhybride, vermittelt durch die greffe citationelle, in das der Soundchimäre zu modulieren.

Thomas Becker

Wo steht die Gegenkultur? Zum Unterschied zwischen normativem Diskurs und sozialer Realität im Spiel zwischen high und low

High and Low nannte sich das Motto einer Ausstellung über das Zusammenspiel moderner Kunst und Trivialkultur, die im New Yorker Museum of Modern Art vom 7. Oktober 1990 bis zum 15. Januar 1991 stattfand.1 Die ausgestellten künstlerischen Gegenstandsbereiche und Genres waren: Wörter, Graffiti, Comics, Karikatur und Werbung. Wie stark diese Ausstellung das Spiel zwischen high und low im nicht-musealen Bereich aufgrund ihrer Veranstaltung im institutionellen Rahmen eines anerkannten Museums beeinflusste, lässt sich mit einem immer wieder auftauchenden Mythos der Comic-Theorie veranschaulichen: Comic-Theoretiker reproduzieren seither ungeprüft die kaum belegbare, aber im erwähnten Katalog aufgestellte Behauptung, Picasso habe Comics produziert, weil sein Radierungszyklus Traum und Lüge Francos von 1937 auf einer Seite Bilder in einer sequentiellen Erzählanordnung zeige und diese auf einer weiteren durch einen Text kommentiere.2 Wir wissen zwar aus Berichten von Gertrude Stein, dass Picasso in der Tat die an Max und Moritz von Wilhelm Busch angelehnte Comic-Folge Katzenjammer Kids schätzte, doch kann dies kaum als Nachweis dafür gelten, dass er selber Comics gezeichnet hat.3 Es ist offensichtlich, dass in einem legitimatorischen Comic-Diskurs Analogien zwischen gering legitimierter und museal anerkannter Kunst dazu genutzt werden, den Comic zusammen mit seinen journalistischen Kritikern aufzuwerten.4 Paradigmatisch ist hier die Schlagzeile auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung vom 24. Februar 2010, wonach der Comic seit der Ersteigerung der Erstausgabe von Superman um den sagenhaften Preis von einer Million Dollar endgültig zur ›hohen Kunst‹ zähle. Wenn aber allein der Preis darüber entscheiden würde, was zur Hochkultur gehört, dann müsste man wohl auch Oldtimer und die Haute Couture dazurechnen. Die der Presse entstammenden Comic-Kritiker sehen die ökonomische Wertsteigerung von Erstausgaben indes

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High and Low. Moderne Kunst und Trivialkultur. Hg. von Kirk Varnedoc und Adam Gopnik. München 1990. Ebd., S. 130. Vgl. dazu die Übernahme dieser Aussage bei: Andreas Platthaus: Die 101 wichtigsten Fragen. Comics und Manga. München 2008, S. 122. Gertrude Stein: Autobiographie von Alice B. Toklas. Zürich 1955, S. 29f. (Kap. II: Meine Ankunft in Paris): »Oh, ich habe vergessen, dir das hier zu geben, sagte Gertrude Stein und reichte Picasso ein Paket Zeitungen, die werden dich trösten. Er öffnete sie, es waren die Sonntagsbeilagen von amerikanischen Zeitungen, die Katzenjammer-Kids. Oh ja, oh ja, rief er und sein Gesicht strahlte vor Vergnügen, merci danke, Gertrude.« Vgl. dazu Stephan Ditschke: ›Die Stunde der Anerkennung des Comics‹? Zur Legitimierung des Comics im deutschsprachigen Feuilleton. In: Comic. Intermedialität und Legitimität eines popkulturellen Mediums. Hg. von Thomas Becker. Essen und Bochum 2011, S. 21– 44.

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als symbolische Aufwertung, zumal der Comic aus der Geschichte der Presse hervorgegangen ist. Die Behauptung eines Verschwindens der Grenze zwischen high und low hält sich auch jenseits des Feuilletons gut. So hat die letzte Documenta in Anlehnung an Derrida das Konzept unter Beweis zu stellen versucht, dass Kunst und Nicht-Kunst nicht mehr eindeutig zu unterscheiden seien. Ihre kunsthistorisch geschulten Kuratoren verfügen jedoch über ein spezifisches Wissen, das keinesfalls jedem zur Verfügung steht und das ihnen sehr wohl eine Differenzierung zwischen dem ermöglicht, was in die Documenta gehört und was nicht. Die Umwertung aller Werte in der Kunst wird inzwischen allzu schnell mit einer angeblich freien Positionswahl gleichgesetzt.

Sein und Zeit von Schund und Trash In der Tat ist der Comic ein gutes Beispiel für die gewandelte Legitimität eines industriell hergestellten Mediums, denkt man an den Holocaust-Comic Maus von Art Spiegelman oder an die Produktionen von Chris Ware, der nicht nur den Buchpreis des Guardian erhalten hat, sondern dem auch als erstem Comic-Zeichner ein Ausstellungsplatz in einer Biennale zuteil wurde (Whitney Biennale 2002, New York). Für Ware wie für Spiegelman gilt indes, dass sie keine Comics für den Massenmarkt produzieren. Wendet man dagegen ein, dass Spiegelmans Holocaust-Comic doch einen weltweiten Massenerfolg zu verbuchen hat, dann übersieht man die unterschiedliche zeitliche Logik des Erfolgs auf dem Massenmarkt und auf einem symbolischen Markt, der Innovation über ökonomischen Erfolg stellt: Während der Massenmarkt jeden ökonomischen Misserfolg unumgänglich sanktioniert, vermag eine Underground-Produktion wie jene Spiegelmans, in kleinen, ökonomisch vollkommen belanglosen Auflagen über Jahrzehnte zu experimentieren, um einen Comic wie Maus hervorbringen zu können. Angesichts dieser differenten Zeitlogik ist auch der große Erfolg Picassos nicht mit dem Massenmarkt gleichzusetzen. Auch für Picasso gilt, dass der weltweite Erfolg später einsetzte als seine künstlerischen Innovationen. Andy Warhol, der immer wieder als Beweis dafür angeführt wird, wie sehr die Grenze zwischen Massenproduktion und Hochkultur seit den 1960er Jahren verschwunden sei, weil er doch gezeigt habe, dass der Kunstmarkt nichts anderes sei als ein Markt wie jeder andere,5 ist vielmehr ein weiterer Beleg für die unterschiedliche Logik zweier Märkte: Zur Zeit seiner Brillo Boxes verdiente er als Künstler weniger denn als Designer für Schuhläden der Fifth Avenue. Die Taktik, den im Feld der Macht als schlecht geltenden Geschmack populärer Kulturen wie Comics, Porno- oder Horrorfilme kosmetisch zum guten Geschmack zu

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Als Beispiel einer solchen Fehlinterpretation: Nina Zahner: Die Kunst der Inszenierung. Die Transformation des Kunstfeldes der 1960er Jahre als Herausforderung für die Kunstfeldkonzeption Pierre Bourdieus. In: Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Hg. von Markus Joch, York-Gothart Mix und Norbert Christian Wolf. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108) Tübingen 2009, S. 289–308, hier S. 297f.

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erklären, sichert die bestmögliche Distinktion Intellektueller gegenüber einem harmlosen Akademismus.6 So sehr wir dieser Praxis zahlloser Anhänger der Postmoderne eine Demokratisierung im Feld der Macht verdanken, entgeht ihr doch im Namen der Distinktion gegen den konventionellen Akademismus, dass populäre Kultur nicht etwa nur aus unseriösem trash besteht, sondern sich ebenfalls seit den 1960er Jahren differenziert hat. Die populäre Kultur hat nicht erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dauerhaften Independent-Produktionen jene innere Differenzierung erlangt, die bislang institutionell legitimierter Kultur vorbehalten war: Dem auf ökonomischen Profit hin ausgerichteten Markt steht ein eher um Innovation ringender gegenüber. Asterix gehört zum Massenmarkt, der Holocaust-Comic Maus aber war eine veritable ästhetische Innovation der Independent-Produktion, die zunächst nur von sehr wenigen wahrgenommen wurde. Da solche Independent-Produktionen aber ohne institutionelle Stützung erzeugt werden, ist hier offenbar eine gegen ›legitime‹ Kultur gerichtete ›Gegenlegitimation‹ am Werk. Freilich darf dabei nicht übersehen werden, dass von einer Gegenkultur nicht schon dann geredet werden kann, wenn ein Medium oder eine Gattung der industriellen Produktion einzelne anspruchsvolle Ausnahmewerke mit komplexen Strukturen aufzuweisen hat. Erst wenn ein Medium oder eine Gattung wie der Roman im 19. Jahrhundert kontinuierliche Innovationen vorzuweisen vermag, die sich über mehrere Generationen hinweg aufeinander beziehen und akkumulieren, kann von einer dauerhaften Legitimationssteigerung gesprochen werden. Auch hier ist die Zeit in den Feldern kultureller Produktionen ein entscheidender Faktor des sozialen Unterschieds. Ein Grund, warum der Begriff einer ›illegitimen‹ Kultur in der vorliegenden Untersuchung dennoch weiter für Independent-Produktionen benutzt wird, liegt daher darin, dass damit kenntlich gemacht werden soll, wie diese Differenzierung innerhalb der Populärkultur von vielen postmodernen Diskursen der legitimen Kultur gerade übergangen wird, um sich durch ihre Konzentration auf möglichst unseriöse Produkte der populären Kultur eine Ressource der Distinktion innerhalb ›legitimer‹ Kultur zu bewahren. In diesem Sinne ist es für viele legitime Diskurse, die sich der Massenkommunikation zuwenden, gerade unschick, die evolutionäre ›Reihe‹ von innovativen Produktionen der Populärkultur als solche zu verstehen, um sich weiterhin von scheinbar exzeptionellen Einzelfällen begeistern zu lassen (die dann zum ›Kult‹ stilisiert werden). Kurz: Die mit dem nietzscheanischen Gestus einer Attacke auf die im Akademismus kultivierte Fetischisierung des Seriösen vollzogene diskursive Hinwendung der intellektuellen Analyse zu einzelnen Phänomenen populärer Kultur hebt nicht notwendig deren symbolischen Ausschluss aus der ›legitimen‹ Kultur auf, sondern kann sogar einem ebenso regen wie impliziten Eigeninteresse an der Aufrechterhaltung der Grenzziehung zu ›illegitimer‹ Kultur entsprechen. Der Diskurs über die angebliche Auflösung der Grenzen läuft dann Gefahr, die Demokratisierung im Feld der Macht für Demokratie schlechthin zu halten.

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So z. B. paradigmatisch: Leslie A. Fiedler: Das Zeitalter der neuen Literatur. Indianer, Science Fiction und Pornographie: Die Zukunft des Romans hat schon begonnen. In: Christ und Welt vom 29.9.1968, S. 14–16. Vgl. dazu: Pierre Bourdieu: Der ›Gelehrte‹ und der ›Mann von Welt‹. In: ders.: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982, S. 125–133.

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Diese genuin intellektuelle Verleugnung der eigenen privilegierten Stellung im Feld der Macht ist immer noch eine Strategie der Legitimierung. An die Stelle von Derridas ›il n’y pas de hors texte‹ müsste vielmehr eine an Foucault und Bourdieu ausgerichtete Leitlinie treten: ›il n’y a rien hors de strategies‹. Symbolische Formen können sehr wohl außerhalb von Diskursen agieren, aber niemals außerhalb von Machtstrukturen. Wer das Spiel von high und low adäquat beschreiben will, muss auch seine eigenen Positionierungsstrategien in den Blick nehmen. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist nicht allein das Phänomen dessen zu konstatieren, was Bourdieu die ›anerkennende Verkennung‹ bildungsferner Klassen nannte, die zwar die Autorität ›legitimer‹ Kunst akzeptieren, aber aufgrund mangelnden kulturellen Kapitals nicht über die Kompetenz und den Code zu ihrem angemessenen Verständnis verfügen.7 Daneben existiert auch eine ›anerkennende Verkennung‹ populärer Kultur durch jene Intellektuelle, die in ihrem Willen zu innerintellektueller Distinktion ›triviale‹ Formen generell aufwerten, dabei aber die Differenzierungen innerhalb der populären Kultur verkennen, um ihre Libido der Distinktion gegen den Akademismus und damit ihr Monopol der institutionellen Legitimation aufrechtzuerhalten. So behauptete Umberto Eco, der doch gemeinsam mit Roland Barthes als einer der Pioniere der Erforschung (scheinbar) unseriöser populärer Massenmedien gelten darf und seit den 1960er Jahren vielen Intellektuellen erst die Augen dafür geöffnet hat: »Ein Text, der so schamlos ›offen‹ für jede mögliche Interpretation ist, wird als geschlossen bezeichnet. Comicstrip-Hefte über Superman oder die Romane von Sue und Fleming gehören zu dieser Kategorie.«8 In Befunden wie diesem äußert sich jener intellektuelle Blick, der auch an trivialsten Gegenständen seine subtile analytische Kompetenz unter Beweis stellt, indem er dort komplexe Mehrfachcodierungen ›entdeckt‹, wozu der ungeschulte Blick üblicher Konsumenten von Massenproduktion nur in sehr beschränktem Maß in der Lage ist. Zwar mag man Ecos Kanonenschuss auf Spatzen als wegweisende Sympathiebekundung eines verdienstvollen Pioniers der Populärkulturforschung verbuchten, der die nachfolgenden Entwicklungen noch nicht überblicken konnte. Doch auch 50 Jahre später hat sich derselbe Diskursduktus in der dekonstruktivistischen Deutung von Trivialkultur erhalten. So meinte z. B. der von der Dekonstruktion inspirierte britische Schriftsteller Tom McCarthy noch im Jahr 2010, im Mainstream-Comic Tim & Struppi eine spezifisch populärkulturelle Identität des geschlossenen Codes mit absoluter Offenheit diagnostizieren zu können: Die 24 Bände sind natürlich leicht und lustig wie ein Kinderbuch. Aber man kann sie auch wie große Literatur lesen: Dann entdeckt man einen intelligenten Subtext, verborgene Themen und eine literarische Metaphorik, fast wie bei Shakespeare. Das ist das Paradoxe an diesem Comic: Kein anderer ist so simpel und zugleich so kompliziert wie Tim & Struppi.9

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Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 503–519. Umberto Eco: Die Rolle des Lesers. In: ders.: Im Labyrinth der Vernunft. Texte über Kunst und Zeichen. Leipzig 1989, S. 190–245, hier S. 198. Tom McCarthy im Interview mit Lars Reichhardt: »Tim und Struppi ist voller komplexer Doppeldeutigkeiten, darin besteht seine Qualität«, in: Süddeutsche Zeitung Magazin Nr. 10 vom 12. März 2010, S. 15–19, hier S. 16.

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Der Anstoß zu dieser ›offenen‹, dekonstruktivistischen Lesart entstammt hier wohl kaum der bisher verkannten komplexen Struktur des Objekts, sondern allein der intellektuellen Haltung des Interpreten, der sich damit als mondäner, antiakademischer Künstler-Intellektueller zu erkennen gibt. Das nimmt bei McCarthy freilich eine etwas peinliche Form an, wenn er in der schon längst akademisch gewordenen Haltung einer Abgrenzung vom Akademismus den Comic-Autor Hergé zum Genie erklärt, zu einem Ausnahmekünstler, der mit Tim & Struppi ein bisher literaturwissenschaftlich nicht klassifizierbares Genre erfunden habe.10 Dass Hergé Shakespeare oder gar Homer in seinen Comic für Jugendliche eingearbeitet hat, wie McCarthy zu berichten weiß, entspringt dabei weder einem spontanen Geniestreich noch ist die Diagnose vollkommen aus der Luft gegriffen. Vielmehr dürfte eine solche Adaption mit der überhöhten Anerkennung ›legitimer‹ Kunst durch den bildungsbeflissenen Kleinbürger Hergé zu erklären sein, der damit jedoch keineswegs einem Code künstlerisch-intellektueller Avantgarde folgt: Die konvertierenden Anleihen an in höchstem Grade ›legitimer‹ Literatur wie Homer oder Shakespeare durch einen Autor der Massenkommunikation stellt eine Gestaltung seines Stoffs anhand weitläufig etablierter und längst gängiger Erzählmuster dar, um ihn gerade dadurch massenmarkttauglich zuzubereiten. Noch unfreiwillig komischer mutet ein Bekenntnis des Wissenschaftsphilosophen Michel Serres in der FAZ an, der mit Blick auf einen populären Comic Hergés in seinem Artikel Mit dem Kanu auf der Garonne dem staunenden bürgerlichen Publikum verkündete: »Wie viele andere auch habe ich aus dem Arumbaya-Fetisch mehr und schneller gelernt als aus vielen Traktaten.«11 Man kann nur hoffen, dass diese Feststellung für Serres nicht wirklich zutrifft, sondern um der Distinktion willen erfolgte. Aber allemal dokumentiert sie, dass auch Intellektuelle nicht vor Selbstverkennungen ihrer Position gefeit sind, wenn sie die bestehenden Legitimitätsgrenzen überschreiten wollen, um sich die Aura des mondänen Intellektuellen zu geben. Die Theorie des absolut offenen Rauschens der Diskurse entspringt einer intellektuellen Lust am Unseriösen, welche die in der Massenkommunikation nicht mehr vollkommen kontrollierbare Zirkulation von Zeichen zwar als Katalysator für das unendliche Spiel der Codierung und Decodierung in theoretischen Avantgarden genutzt hat. Zugleich verkennt dieser Diskurs aber die Codes populärer Ästhetiken, indem er seinen damit innerhalb der ›legitimen‹ Institutionen gewonnenen Freiraum gegenüber akademischen Positionen auf ›illegitime‹ Massenkultur projiziert, die so als ›geschlossen‹ und schamlos ›offen‹ zugleich gefeiert werden kann, was ihr zu einem besonderen Prädikat gereicht. Die angeblich bis zur Schamlosigkeit gesteigerte Offenheit ist eine stillschweigende Abgrenzung gegenüber dem Massenkonsum, der nicht über dieselbe Kompetenz zur virtuosen Verwendung ›trivialer‹ Ästhetiken verfügt.

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Vgl. ebd.: »Ja, Hergé war als Künstler ein Genie, das ein ganz eigenes Genre begründet hat. Auch wenn wir heute noch nicht wissen, in welche Schublade wir ihn stecken sollen […].« Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Juli 2001, S. 8.

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Die postmodernen Mythen des Alltags Auch wenn die von Bourdieu eingeführte Unterscheidung eines eigenen Markts symbolischer Güter, auf dem der Kampf um Innovation und Eigenwert eines Mediums den Wettbewerb um Profit überwiegt, von einem ökonomisch dominierten Markt12 als selbstverständliche und angeblich kaum innovative Feststellung hingenommen wird, scheint dies keineswegs im Kopf der meisten Diskursteilnehmer angekommen zu sein. Angesichts des Massenerfolgs von Autorencomics wie Persepolis von Marjane Satrapi, der als Zeichentrickfilm sogar in die Kinos kam und den Anteil an Comic-Leserinnen erheblich gesteigert hat, behauptete der französische Journalist Didier Pasamonik, der Erfolg beweise, dass es keine Independent-Produktion im Comicbereich geben könne.13 Der Independent Verlag Association, der diesen Comic herausgebracht habe, könne sich nämlich nur aufgrund des Massenerfolgs von Persepolis auf dem Markt halten. JeanChristoph Menu, der einzige heute noch verbliebene Gründer von Association, habe Persepolis überdies gar nicht veröffentlichen wollen, was zeige, dass man hier im Independent-Bereich die eigene Abhängigkeit vom Massenmarkt missverstehe: Der Comic ziele nun einmal auf Unterhaltung, was man nicht unter dem falschen Label ›seriöser Kunst‹ schamhaft verstecken solle. Woher dieser Journalist seine Informationen bezieht, deren Quelle er auch in seinem Buch über Comics nicht nennt, ist unklar. In einem vom Verfasser des vorliegenden Artikels geführten Interview hat Menu im Gegenteil behauptet, dass Persepolis von der Verlagsleitung einstimmig angenommen worden sei. Es besteht die berechtigte Annahme, dass hier ein Journalist – bewusst oder nicht – eine Fehlinformation verbreitet, weil er der festen Überzeugung folgt, dass der Comic nun einmal zum Massenmarkt und zur reinen Unterhaltung gehört, weshalb er die faktische Existenz eines symbolischen Marktes der Comic-Avantgarde in Frankreich nicht statuieren kann. In diesem Zusammenhang spielt wohl auch der erwartbare Distinktionsgewinn gegenüber jenen Journalistenkollegen eine Rolle, die in der Mehrzahl weiterhin annehmen, dass ausgerechnet Frankreich eine wegweisende Independent-Szene aufzuweisen hat. Während beim Beispiel der ökonomischen Aufwertung Supermans der Massenmarkt schlichtweg unter den symbolischen Markt subsumiert wird, um Comics zur legitimen Kunst zu erklären, haben wir es hier mit dem umgekehrten Fall zu tun, der aber im Ergebnis ebenfalls die Differenz zweier Märkte verkennt: Die Innovation einer Independent-Produktion wird im Namen einer Rechtfertigung der Unterhaltung unter den Massenmarkt subsumiert. Obwohl infantile Comics und experimentelle Produktionen spätestens seit dem so genannten amerikanischen underground der 1960er Jahre in den USA und etwas verspätet in Frankreich zwei verschiedenen Märkten entstammen, wird das ›Subfeld‹ der avantgardistischen Independent-Positionen kraft des Begriffs Co-

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Vgl. Pierre Bourdieu: Le marché des biens symboliques. In: L’Année sociologique 22 (1971), S. 49–126; Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 2001, S. 227–282. Didier Pasamonik: Critique de la bande dessinée pure. Chroniques narqouises: 2005–2007. Paris 2008, S. 17f.

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mic mit dem des Massenmarktes gleichgesetzt. Die Prophetie postmoderner Positionslosigkeit erfüllt sich hier selbst, indem sie die angeblich gar nicht existenten Positionen konfundiert, um weiterhin kulturelle Produktionen als positionslos und zugleich der ›Hochkultur‹ zugehörig besingen zu können. Bourdieus Unterscheidung von ›eingeschränkter‹ und symbolischer ›Massenproduktion‹ ist bekannt, nicht aber seine daraus folgende Kritik an der Verwechslung der Positionen qua postmoderner Mythenbildung, die er als Allodoxie, mithin als verkehrte Doxa bezeichnet.14 Die beiden oben angeführten Allodoxien lassen sich vor allem nach ihrer Stellung im sozialen Raum unterscheiden: Während die Aufwertung von SuperheldenComics und Hergés Tim & Struppi als ›legitime‹ Kultur von einem eher intellektuellen Flügel des Journalismus betrieben wird, entspringt die ideologische Abwertung auch der subtilsten Formen des Comics als low einem gegen den intellektuellen Kult des Trivialen gerichteten Ressentiment, das die Wirkung intellektualistischer Strategien in der Presselandschaft mit dem Hinweis zurückzudrängen strebt, es gehe schließlich bloß um Unterhaltung und keineswegs um Kunst. In der Tat ist die Aufwertung des Trivialen Bestandteil eines intellektuellen Habitus, der sich von seinem akademischen Gegenspieler durch gesuchte Nähe zu außerinstitutionellen Medien abgrenzen möchte.15 Um sich von dem im Feld der Macht als ›legitim‹ erachteten guten Geschmack zu distinguieren, (v)erklären Avantgardisten seit Baudelaire den vom Feld der Macht aus betrachtet ›schlechten‹, ›vulgären‹ oder gar ›barbarischen‹ Massengeschmack unterer sozialer Klassen zum besonders mondänen Geschmack.16 Mit dieser Rechtfertigung des Trivialen und Unseriösen demonstrieren intellektuelle Diskurse und künstlerische Praktiken, dass ihre Akteure in der Lage sind, just die auf Spektakel, forcierten Reiz, zerstreute Wahrnehmung und reinen Konsum hinauslaufenden kulturellen Güter, denen sich die ökonomisch und politisch dominierenden Angehörigen des Machtfeldes meist unter Ekel verweigern, allererst ästhetisch wahrzunehmen. Indem sie diesen gemeinhin als ›niedrig‹ erachteten Produkten ihr komplexes Decodierungsvermögen entgegenbringt, kann sich die intellektuelle Opposition als anspruchsvollere Instanz kulturellen Wissens beweisen, da sie zur Durchsetzung ihres kulturellen

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Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 503ff. Vgl. dazu die Interpretation von Martin Schüwer: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier 2008, S. 81: Schüwer sieht die dem Massenmarkt angehörigen Superhelden-Comics als Comics schlechthin an und übergeht damit, dass diese den normalisierten Bereich der Comic-Produktion abdecken, während avantgardistische Autoren wie Art Spiegelman sich unmissverständlich gegen diese Produktionsformen ausgesprochen haben. Die ästhetische Aufwertung von Superhelden-Comics entspricht dem in der Postmoderne eingeübten Intellektuellenhabitus, der gerne unter Beweis stellt, dass man auch triviale Produkte mit komplexen ästhetischen Begriffen analysieren kann, und zwar meist wie bei Schüwer auf philosophische Art, welche in ihrer Reflexion die sozialen und historischen Bedingungen dieser Interpretationsmöglichkeit außer Acht lässt, um sich durch eine hochtheoretisch aufgeladene Semiotik den Anschein großer wissenschaftlicher Seriosität zu geben. Dazu: Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 80 u. S. 125ff. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 760, Anm. 6, u. S. 766f.

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Wertmaßstabes nicht der Legitimierung durch Geld oder politischen Einfluss bedarf.17 Diese Rechtfertigung des Trivialen nahm zur Zeit Baudelaires noch eine absolute Ausnahmestellung ein, die nicht auf einen Platz in einer akademischen Institution hoffen konnte. Mittlerweile ist diese Praxis allerdings längst in der akademischen Tradition angekommen und dient dann der Verleugnung der gesicherten institutionellen Position, um subkulturellen Stallgeruch zu simulieren. So stellten etwa Wolfgang J. Fuchs und Reinhold C. Reitberger zu Beginn der 1970er Jahre in ihrer in empirischer Hinsicht überaus lobenswerten frühen soziologischen Studie über Comics fest: »[G]erade die ›schlechten‹ Comics sind vom sozialpsychologischen Standpunkt her am interessantesten.«18 Je trivialer, desto interessanter – das ist die normative Haltung eines intellektuellen Habitus, der sich im Zeitalter der Massenkommunikation und der zunehmenden Integration von Intellektuellen im Feld der Macht den Profit eines mondänen Trendsetters zu sichern vermag. Die »Trivialität« der Comics, so das Ende des Vorwortes von Fuchs und Reitberger, »ist Legitimation genug.«19 Dieser intellektuellen Taktik einer häretischen Opposition gegen den im Feld der Macht kanonisierten ›legitimen‹ Geschmack verdanken wir zwar in der Tat eine zunehmende Demokratisierung und Bejahung der Sinnlichkeit. Es ist jedoch auch unschwer zu erkennen, dass eine solche Aussage eine normative Projektion der intellektuellen Häresie auf Comics darstellt: Sie übergeht stillschweigend, dass Comics zu dieser Zeit noch konsequent aus der schulischen Legitimation ästhetischer Wahrnehmung ausgeschlossen waren. Aber tragen nicht gerade solche versteckt normativen Diskurse zur Legitimierung ›illegitimer‹ Produktionen bei, wo doch mittlerweile Comics wie Maus zum Prüfungsstoff in Schulen geworden sind? Wenn das Wachstum des Massenmarkts der Comics als Legitimationszuwachs verstanden wird, mag das politisch schätzenswert sein, weil man sich so der Monopolisierung des kulturellen Kapitals und ihrer Hierarchie der ›legitimen‹ Künste widersetzt. Mit normativen Feststellungen ignoriert man jedoch die Tatsache, dass die institutionell abgesicherte kulturelle Hierarchie gegenüber rein medial postulierten Legitimationen einen entscheidenden strategischen Vorteil hat: Wer über Comics bestens Bescheid weiß, aber Goethe kaum kennt, wird allein im Feld der Comic-Produktion Anerkennung finden. Wer jedoch neben einer profunden Goethe-Kenntnis auch noch etwas über Comics zu sagen hat, gilt schnell als ebenso mondäner wie avantgardistischer Intellektueller, dessen Anerkennung über sein spezifisches Feld hinausreicht und auch in seriöseren Medien ihr Echo findet. Der symbolische Profit ist dabei ungleich größer, was häufig übersehen wird. Diese Form der Anerkennungsproduktion durch Rechtfertigung ›unseriöser‹ Ästhetiken ist in der Tat keine bloße Ideologie, da sie ja gegen die vom Feld der Macht zugewiesene und monopolisierte Rolle des Intellektuellen als Verkörperung des überkommenen Humanitätsideals opponiert; dennoch camoufliert sie die ungleichen Bedingungen einer Hybridisierung von high und low. Das Postulat des in der Postmo-

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Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 125–133. Wolfgang J. Fuchs und Reinold C. Reitberger: Comics. Anatomie eines Massenmediums. Reinbek bei Hamburg 1973, S. 9. Ebd., S. 10.

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derne allseits beliebten Anscheins von Hybridität und Positionslosigkeit hat etwa Barthes gegen den Mythos des ›legitimen‹ Autor-Subjekts entwickelt. Ihm zufolge sind die höchst unterschiedlich legitimierten Autoren mittlerweile von absolut gleichberechtigten Lesern abgelöst. Mit kontrafaktischen egalitären Fantasien werden aber die nach wie vor bestehenden Hierarchien in und mittels der Auseinandersetzung um high und low verschleiert: Es existieren schließlich keineswegs nur gleich kompetente und gleich mächtige Leser. Barthes geht indes so weit, ›den‹ Leser zu einer geschichts- und geschlechtslosen Figur zu mythisieren, um ihn gegen die traditionell glorifizierte Autorperson als (angeblich von kulturellen Kompetenzunterschieden nicht betroffene) kritische Instanz in Stellung bringen zu können: »Der Leser ist ein Mensch ohne Geschichte, ohne Biographie, ohne Psychologie. Er ist nur der Jemand, der in einem einzigen Feld alle Spuren vereinigt, aus denen sich das Geschriebene zusammensetzt.«20

Das Unbehagen in der Schriftkultur Gleichwohl hat gerade auch Bourdieu bei seiner Kritik am postmodernen Mythos vom Verschwinden der Grenze zwischen Massenmarkt und eingeschränkter symbolischer Produktion übersehen, dass für bestimmte Medien und Kunstgattungen am Ende des 20. Jahrhunderts Autonomisierung keinesfalls mit institutioneller Legitimation gleichgesetzt werden kann. Auch er hat nämlich die Literatur und insbesondere den Prozess der Herausbildung des modernen Gesellschaftsromans zum idealtypischen Modell der Emanzipation einer Gattung vom Massenmarkt erhoben. Das wird immer dann deutlich, wenn Bourdieu das Feld der ›legitimen‹ Kultur verlässt und sich dem Pop zuwendet. Seine Analyse der Jugendkultur fällt dann schnell in die geläufigen Bahnen kulturpessimistischer Verdammung zurück: Tatsächlich setzen sich zum ersten Mal in der Geschichte (in einer Gesellschaft, die zu den ökonomisch und politisch herrschenden gehört) die Produkte einer Popkultur, die besonders cheap sind, als besonders cool durch. Die Jugendlichen aller Länder, die baggy pants tragen, diese Hosen, deren Hosenboden am Oberschenkel hängt, wissen zweifellos nicht, dass diese Kleidermode, die sie zugleich für ultra-cool und ultra-modern halten, ihren Ursprung in den US-amerikanischen Gefängnissen hat; dasselbe gilt für eine gewisse Vorliebe für Tattoos! Das heißt, die Jeans-, Coca-Cola- und McDonald’s-›Kultur‹ hat nicht nur ökonomische, sondern auch die symbolische Macht auf ihrer Seite – eine Macht, die in Gestalt einer Verführung williger Opfer ausgeübt wird. Indem sie Kinder und Jugendliche […] zu Adressaten ihrer Verkaufspolitik machen, sichern sich die großen Kulturproduktions- und Diffusionsunternehmen […] einen immensen, nie zuvor dagewesenen Einfluss auf alle heutigen Gesellschaften, die dadurch einer Art Infantilisierung erliegen.21

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Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matias Martinez und Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 185–193, hier S. 192. Pierre Bourdieu: Kultur in Gefahr. In: ders.: Gegenfeuer 2: Für eine europäische Bewegung. Konstanz 2001, S. 82–99, hier S. 87f.

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Der Diagnose einer seichten McDonalds-Kultur kann man getrost zustimmen, sofern es um rein rezeptive Formen des Konsums wie das Tattoo geht. Die Ornamentierung der Haut durch Tattoos z. B. galt im 19. Jahrhundert als ein Kennzeichen des kriminellen Milieus, was die Voraussetzung dafür war, dass Adolf Loos die ornamentale Wiener Gründerzeitarchitektur den herrschenden Klassen mit dem Hinweis madig zu machen versuchte, das Ornament sei mit dem Verbrechen assoziiert. Im späten 20. Jahrhundert hingegen konnte sich das Tattoo von seiner ›peinlichen‹ Herkunft aus dem Lumpenproletariat befreien und eine Zeitlang in höheren sozialen Klassen schick werden, wodurch es jeden oppositionellen Touch verlor. Im Gegensatz dazu ist die produktive Sphäre von Independent-Bewegungen keineswegs deswegen a priori marktkonform, weil ihnen die institutionelle Stütze fehlt. Offensichtlich verfahren bestimmte Jugendkulturen im Grunde zunächst genauso, wie die von Bourdieu analysierten klassischen Avantgarden der legitimen Kunst: Sie benutzen das auf dem Markt vollkommen Entwertete, eben das Billige, um es aufzuwerten, was in der weiteren Folge innerhalb des ökonomisch bestimmten Marktes dann tatsächlich einer Normalisierung zugeführt werden kann. So entspricht das von Susan Sontag (zuerst 1964) beschriebene moderne Dandytum des camp, der insbesondere das vollkommen Schräge und Billige aufwerte, dieser Haltung.22 Die moderne Coolness ist nichts anderes als die ehemalige Gleichgültigkeit des Aristokraten gegenüber dem (Be-) Rechnen, der bürgerlichen Leistungsethik sowie der Jagd nach Reichtum und gesellschaftlichem Aufstieg unter den modernen, gänzlich unaristokratischen Bedingungen eines Massenmarktes, indem das als cool (bzw. bei Sontag noch als campy) gilt, was »altmodisch, unmodern, démodé«23 bzw. heutzutage retro ist. Nur übersieht Sontag wieder die eventartige Seite in diesem Spiel mit Codes. In den Jugendprotesten ist nämlich die mangelnde Unterscheidung von Neuheit und Innovation zu beachten: Hipness und Coolness hatten schon immer einen klaren Bezug zur Aufwertung einer Unterklassenästhetik, einer Ästhetik randständiger Gruppen wie der Homosexuellen und der Immigranten. Freilich kann diese Aufwertung eine nur kurzlebige Mode sein, wenn die Übernahme solcher Ästhetiken in höhere, mit besserer Bildung ausgestattete soziale Klassen als bloße Generationenfrage fungiert, indem Jugendliche darin vornehmlich die Abgrenzung gegen die Schule und damit eine Distinktion gegenüber ihren Eltern sehen, um schließlich die neue Ästhetik für einen Augenblick ins Feld der Macht zu tragen. Dass der Widerstand innerhalb der Marktlogik äußerst schwierig und sehr labil ist und schließlich dann auch noch von Intellektuellen als besonders schickes Beispiel autorloser Zeichenverkettung gefeiert werden kann, ist dabei ebenso bezeichnend wie die Tatsache, dass sich heutige Independent-Bewegungen dieser Problematik bewusst sind. Die von Bourdieu im Rahmen seiner oben zitierten Analyse angesprochene Infantilisierung haben z. B. die ersten Underground-Comics in einer ironischen Paraphrasie-

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Susan Sontag: Anmerkungen zu ›camp‹ (Notes on ›Camp‹). In: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt am Main 92009, S. 322–341, hier S. 337: »Gleichgültigkeit ist das Privileg der Elite. Im 19. Jahrhundert ist der Dandy der Stellvertreter des Aristokraten in Fragen der Kultur; Camp ist der moderne Dandyismus.« Sontag: Anmerkungen zu ›camp‹, S. 333.

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rung explizit gemacht und damit von vorneherein als Waffe gegen den Massenmarkt eingesetzt.24 Oberflächlich, nämlich rein semiotisch betrachtet, scheint dies dasselbe Verfahren einer Adaption entwerteter Formen des Massenmarktes zu sein wie der seit Baudelaire und Flaubert bekannte Umgang der künstlerischen Avantgarde mit trivialen Formen des Alltags. Der Protest gegen anerkannte Formen ›legitimer‹ Literatur durch die Avantgarden des 19. Jahrhunderts ist hingegen nicht als Gegenkultur mittels neuer Medien ausgetragen worden, sondern war stets dominiert vom Medium der Schrift. Diese ist bis heute durch die Schule grundlegend konsekriert und somit trotz Computer und Videokonferenzen nach wie vor als eines der ›legitimsten‹ Medien anzusehen. Immigranten verfügen indes über andere kulturelle Kompetenzen, die in der staatlichen Schule nicht gelehrt werden. Sie suchen sich Formen der ›Gegenlegitimation‹ bevorzugt in innovativen, gering legitimierten Medien der Massenkommunikation, die weitab von einer national geprägten Schriftkultur angesiedelt sind. Kann es ein Zufall sein, dass der Comic in seiner Entstehungszeit eine stark ›jüdische Seite‹ hatte, indem sein Umgang mit Bildlichkeit durch die Immigrationskultur definiert war und im Nationalsozialismus auch deshalb verboten wurde? Sowohl Superman, Batman, MAD als auch der Holocaust-Comic Maus stammen von jüdischen Autoren. Und der heutige, in Deutschland produzierte Manga ist kein ›männliches‹ Medium mehr, weil alle deutschsprachigen Mangaka ausnahmslos weiblich und Immigrantenkinder sind. So sehr die Logik der dauerhaften und traditionsbildenden Reproduktion als Grundlage einer Etablierung der Gegenkultur wie der ›legitimen‹ Literatur gleichermaßen gilt, ist hier doch ein entscheidender Unterschied festzuhalten: Der von der historischen Emanzipation des Romans abweichende modus operandi der Autonomisierung von Gegenkulturen sucht von Anfang an seinen Antrieb in einer antielitären, demokratischen Opposition zum Feld der Macht. Dagegen hat sich das literarische Feld in der historischen Anfangsphase seiner Autonomisierung parallel zur Entwicklung des Gesellschaftsromans gerade durch radikale Ablehnung jeglicher Demokratisierung der Kunst etabliert. Wenn Baudelaire zwar einerseits festhielt, er sei republikanisch infiziert, wie er die Syphilis im Blut habe,25 so notiert er doch andererseits in sein Tagebuch, die Demokraten liebten keine Katzen, weil diese schön seien.26 Für ihn wie für Stéphane Mallarmé war es kein Widerspruch, sich vom ›Volk‹ trotz politischer Sympathien durch einen ästhetischen Aristokratismus abzugrenzen, der sich offen als antidemokratisch ausstellte, weil die Künstler im Feld der Macht für Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung zwischen

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In einem Interview von 1982 bemerkt Spiegelman zu den pionierhaften Undergroundcomics eines Robert Crumb: »In a sense underground comics played off comics-as-kid-culture. For instance, Crumb, who comes to mind, is a parody of it […].« Jewish Mice, Bubblegum Cards, Comics Art, & Raw Possibilities. Art Spiegelman und Françoise Mouly im Interview mit Joe Cavalieri und Gary Groth. In: The Comics Journal. Nr. 65, August 1981, S. 98–125, hier S. 124. Zit. nach Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: ders.: Gesammelte Schriften. Band I.2. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1980, S. 513–604, hier S. 515. Charles Baudelaire: Journaux intimes. In: ders.: Œuvres complètes. Bd. I. Hg. von Claude Pichois. Paris 1975, S. 662 (Fusées Nr. XIII).

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Thomas Becker

Geld und Kultur plädierten.27 Dagegen hat sich der underground der Comicproduktion mit der Studentenbewegung der 1960er Jahre aus einem politischen Protest gegen die vom Feld der Macht gesteuerte Presse herausgebildet.28 Damit soll freilich nicht behauptet werden, dass jede eventartig auftretende Verbindung von politischer Opposition und heterodoxer Kunstproduktion als veritable Gegenkultur zu bezeichnen wäre; Legitimation setzt ja – wie schon erwähnt – immer eine über mehrere Generationen aufeinander aufbauende Reihe an Innovationen voraus. Eine dauerhafte Etablierung der Gegenkultur versucht aber, mittels der (Re-)Produktion komplexer Werke den Widerspruch zwischen ethischem und ästhetischem Regime, der noch den Prozess einer Emanzipation des Romans im 19. Jahrhundert bestimmte, von vorneherein außer Kraft zu setzen. Gelingt dies nicht, so verpufft der Protest als Ausnahme oder wird zum bloßen ›Kult‹. Eine Gegenkultur ist jedoch mehr als nur Kult. Der historische Prozess der symbolischen Emanzipation des Romans eignet sich deshalb nicht als Modell zur Beschreibung intermedial verfahrender Legitimationsprozesse heutiger Gegenkulturen, weil er von der Dominanz des Mediums Schrift geprägt ist. Roland Barthes’ Missverständnis der Pop Art als Kunst, die nichts mehr bedeute, verdankt sich dem Umstand, dass er sie ausgehend vom Paradigma der Sprache als Phänomen der Intertextualität zu fassen versucht, und spricht Bände: »Das Objekt der Pop-art (dies ist tatsächlich eine sprachliche Revolution) ist weder metaphorisch noch metonymisch […]; weit und breit kein Signifikat, keine Absicht.«29 Wenn die Pop Art keine Absicht hätte, dann wäre ihre Distinktionsstrategie gegenüber dem abstrakten Expressionismus durch eine Subversion der Opposition zwischen high und low wohl nicht aufgegangen. Ebenso wenig ist die Pop Art ohne ihren Bezug zum musikalischen underground zu denken, den Barthes in seiner Konzentration auf die Lesepraxis und die visuelle Kultur insgesamt komplett übergeht.

Schlussbemerkung Wir sind nicht mehr in der Situation, die Eco und Bourdieu im Zusammenspiel von Popkultur und schulisch legitimierter ›hoher‹ Kunst beschrieben haben: Weder finden wir heutzutage anspruchsvolle Produkte der Massenkultur wie seinerzeit Eco nur als Ausnahmen vor, noch kann der Autonomisierungsprozess allein von der institutionellen Legitimation her definiert werden, wie Bourdieu das tat. Während Schrift ein genuin

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»L’homme peut être démocrate, l’artiste se dédouble et doit rester aristocrate.« Stéphane Mallarmé: Hérésies Artistiques. L’Art pour tous (1862). In: Kritische Schriften. Bd. I. Hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Gerlingen 1998, S. 20–29, hier S. 26. Vgl. dazu Thomas Becker: Genealogie der autobiografischen Graphic Novel. Zur feldsoziologischen Analyse intermedialer Strategien gegen ästhetische Normalisierungen. In: Comics. Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums. Hg. von Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva und Daniel Stein. Bielefeld 2009, S. 239–264, hier S. 243–252. Roland Barthes: Die Kunst diese alte Sache… In: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Frankfurt am Main 1990, S. 207–215, hier S. 210.

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intellektualitätsaffines und vom Feld der Macht institutionell gestütztes und hoch bewertetes Medium ist, trifft dies für eine Medienkombination wie den Comic nicht zu, der Schrift und Bild vermischt. Wenn aber die Independent-Produktion des Comics in den USA inzwischen seit drei Generation (von Robert Crumb bis Chris Ware) aufeinander aufbauende Innovationen vorzuweisen hat, die weder auf dem Massenmarkt der Major Labels rezipiert noch durch eine institutionelle Verankerung vor ökonomischen Zwängen geschützt werden, dann kann man von einer echten Gegenkultur sprechen, die einen eigenen modus operandi der Autonomisierung aufweist. Wir haben es um die Jahrtausendwende keineswegs mit einem Verschwinden der Grenze zwischen Massenmarkt und beschränkter symbolischer Produktion zu tun, sondern mit ihrer fortgesetzten (Re-)Etablierung in einem außerinstitutionell legitimierten Bereich der Kunst. Nicht die Grenze zwischen kultureller Großproduktion und eingeschränkter symbolischer Produktion ist verschwunden, sondern die Monopolstellung der schulischen Institution zur Definition und Erhaltung dieser Differenz. Freilich ist die Durchsetzungskraft der neuen Legitimationsformen auf habituelle und damit dauerhaft angeeignete Dispositionen immer noch geringer als jene der Schule, weil ihnen nicht dieselben Mittel für eine längerfristig gesicherte Reproduktion zur Verfügung stehen. Die anhand ›legitimer‹ Literatur kontinuierlich eintrainierte Verkennung dieser MachtAsymmetrie, welche sich in der symbolischen (nicht aber sozialen) Hybridisierung von high und low ausdrückt, wird von den schrift- und literaturfixierten Diskursen der Dekonstruktion permanent verleugnet. Dies trägt zur Erhaltung der privilegierten Stellung von Literatur bei, die mit der aufrechterhaltenen Dominanz des Mediums Schrift weitere Distinktionsgewinne im Feld der Macht abschöpfen kann. Doch hat zweifelsohne auch die intellektuelle Verkennung der nach wie vor wirksamen Grenze zwischen high und low mit der Schwächung des institutionellen Monopols auf die Differenzierung zwischen Massenmarkt und eingeschränkter symbolischer Produktion zugenommen.

Natalie Binczek

Das Material ordnen Rolf Dieter Brinkmanns akustische Nachlassedition Wörter Sex Schnitt

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Hörbuchedition und Radiofeature

Unter dem Titel Wörter Sex Schnitt veröffentlichen 2005 Herbert Kapfer und Katharina Agathos in der Reihe »intermedium records«1 den »akustische[n] Nachlass des wichtigsten deutschen Pop-Autors« – so die auf dem Cover vorgenommene Kennzeichnung Rolf Dieter Brinkmanns – »als Erstveröffentlichung«.2 Mit dieser fünf CDs und ein circa sechzigseitiges Booklet umfassenden Box machen die Herausgeber bislang unpubliziertes Material zugänglich. Indem sie hier zuallererst Kriterien für die Edition akustischer Dokumente zugleich aufstellen und erproben müssen, womit sie eine bemerkenswerte Pionierleistung erbringen, bemühen sie sich einerseits darum, den Nachlass als ein akustisches ›Œuvre‹ eigener Art zu präsentieren. Andererseits aber führen sie immer wieder und in mehrfacher Hinsicht ein Bewusstsein von der Problematik dieses Unternehmens vor. Offengelegt werden dabei Schwierigkeiten, die zwar mit diesem Spezialfall zusammenhängen, zugleich jedoch auf allgemeine Problemstellungen der Editionsphilologie verweisen. Die Audioausgabe Wörter Sex Schnitt ist mit der grundlegenden Frage konfrontiert, inwiefern die von ihr ausgewählten und zusammengestellten akustischen Aufnahmen als ein ›Werk‹,3 mehr noch: als integraler Bestandteil des Brinkmann’schen Gesamtwerks,

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Auf der Homepage des Bayerischen Rundfunks findet sich ein Link auf die Reihe »intermedium records«, die sich dort vorstellt: »intermedium records ist eine von der Redaktion Hörspiel und Medienkunst herausgegebene Reihe auf dem Label STRUNZ! von Gerhard Strunz« (http://www. br-online.de/bayern2/hoerspiel-und-medienkunst/publikationen-intermedium-rec-medienkunstID1203344651566.xml). Diese Reihe ist wiederum Bestandteil von intermedium: »intermedium ist ein Netzwerk für Medienkunst. intermedium kombiniert Festivalveranstaltungen und Sendungen in den Medien Hörfunk und World Wide Web. intermedium ist organisatorisch beim Bayerischen Rundfunk angesiedelt und wird in Zusammenarbeit mit Kulturinstituten, Medienzentren, Bühnen und öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten realisiert« (http://www.intermedium-rec.com/ ueber.html; 14. Juli 2011). Rolf Dieter Brinkmann: Wörter Sex Schnitt. Originaltonaufnahmen 1973, hg. v. Herbert Kapfer und Katharina Agathos. Unter Mitarb. v. Maleen Brinkmann. BR Hörspiel und Medienkunst, intermedium records 2005, Cover-Rückseite. Siehe dazu: »Das Ergebnis einer produktiven (handwerklichen, künstlerischen, schriftstellerischen, wissenschaftlichen) Tätigkeit.« (Horst Thomé: Werk. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. III: P–Z. Berlin/New York 2007, S. 832–834, hier: S. 832) Die Betonung liegt dabei auf dem »Ergebnis«, welches sich unter Beteiligung von Herausgebern immer auch deren Produktivität verdankt und daher auch als ihr ›Ergebnis‹ aufzufassen ist.

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mithin auch als Literatur, behandelt werden können. Während sich ihre Herausgabe als Hörbuch an biblionomen Editionsverfahren orientiert und überdies der Tendenz folgt, den Nachlass als eigenständiges Werk zur Geltung kommen zu lassen, fällt auch die maßgebliche Bedeutung, die die high/low-Unterscheidung dabei spielt, auf: In gewisser Weise zielt die Edition Wörter Sex Schnitt darauf ab, ein Nebenprodukt als ein Hauptwerk wahrnehmbar zu machen und somit überhaupt erst als im starken Sinn verstandenes (literarisches) Werk4 zu rahmen. Transformiert wird Übriggebliebenes, ein ungeordneter Nachlass in ein geordnetes High-culture-Produkt,5 womit ein erster Aspekt der kulturellen ›Veredlung‹ dieses Materials angesprochen wäre, ein Aspekt, der in gewisser Weise jede Nachlassedition betrifft. Zudem erweckt das Hörbuchprojekt Wörter Sex Schnitt den Anschein, als müsste es sich gegenüber der Erstveröffentlichung (zumindest eines Teils) des Materials im Format eines Radiofeatures als die höherwertige Publikationsform behaupten, womit ein weiterer Aspekt der high/low-Unterscheidung bezeichnet wäre. Insbesondere dieser zweite Zusammenhang wird die folgenden Überlegungen beschäftigen. Insofern der Nachlass ausschließlich für die Reihe »Autorenalltag« des Westdeutschen Rundfunks (Redaktion: Hanns Grössel) aufgenommene Aufzeichnungen enthält, verweist dessen hörbucheditorische Aufbereitung auf eine problematische Ausgangskonstellation. Denn unter Berücksichtigung der produktionsgeschichtlichen Voraussetzung bildet das Material eine Sammlung von Entstehungsvarianten, welche lediglich der Vorbereitung eines Auftragswerks, des Hörfunkfeatures, dienten, für dieses aber nicht in vollem Umfang genutzt wurden. Zum größten Teil sogar handelt es sich dabei um

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Als ein literarisches Werk im zweifachem Sinn: »Im Kontext von Literatur und Literaturwissenschaft […] meint Werk (1) das fertige und abgeschlossene Ergebnis der literarischen Produktion, das einem Autor zugehört und in fixierter, die Zeit überdauernder Form vorliegt, so dass es dem Zugriff des Produzenten ebenso enthoben ist wie dem Verbrauch durch den Rezipienten. […] Der (2) emphatische Begriff schreibt den Werken der Kunst Qualitäten zu, die sie […] von allen anderen Produkten unterscheiden.« (Ebd.) Entscheidend ist in dem Zusammenhang, dass »Fragment« als Gegenbegriff zum Werkbegriff behandelt und folgendermaßen definiert wird: »Texte, allgemeiner Kunstgebilde, die vom Urheber nicht vollendet oder die durch die Überlieferung verstümmelt wurden, bezeichnet man im Gegensatz dazu als Fragmente.« (Ebd.) Es ist schwer zu sagen, ob der akustische Nachlass Brinkmanns als ›Fragment‹ bezeichnet werden kann. Inwiefern er jedoch die Kriterien der obigen Werkbestimmung als ›fertiges und abgeschlossenes Ergebnis der literarischen Produktion‹ erfüllt, stellt sich ebenfalls als nicht endgültig zu beantwortende Frage dar. Die Aufgabe der Herausgeber und der Editionsarbeit besteht im Fall des Brinkmann’schen Nachlasses jedenfalls darin, die geforderte ›Fertigstellung‹ und ›Abgeschlossenheit‹ unter Hervorhebung der Prozessualität der Entstehung herzustellen. So erheben Kapfer/Agathos die offen unfertige Struktur des Nachlasses zum konstitutiven Merkmal des Werks selbst, womit zugleich auch dessen ›Unterschied‹ gegenüber anderen ›Produkten‹ (emphatische Auffassung) festgeschrieben wird. Die Edition vollzieht »unweigerlich eine aufwertende Transformation […], eine Transformation von ungeordnet abgelegtem, vielleicht als Abfall aussortiertem Material in ein identifizierbares Werk mit Schuber, Katalognummer, Autorenfoto«. Eckhard Schumacher: »Schreiben ist etwas völlig anderes als Sprechen«. Rolf Dieter Brinkmanns Originaltonaufnahmen. In: Dirck Linck und Gert Mattenklott (Hg.): Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre. Hannover 2006, S. 75–90, hier: S. 81.

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Ausschussware, um Aussortiertes. In Korrespondenz zu Brinkmanns eigenen poetologischen Stellungnahmen, die ihrerseits mit wirkmächtigen Ästhetiken der Moderne übereinstimmen, kann jedoch gerade für das Unfertige, das Unvollendete, das Abgelegte und zufällig Wiedergefundene der Status literarischer Autonomie umso nachdrücklicher in Anschlag gebracht werden.6 Entsprechend proklamieren auch die Editoren im Booklet von Wörter Sex Schnitt eine zumindest »teilweise« Deckung des akustischen Materials, das in diesem provisorischen Zustand den Herstellungsprozess greifbar zu machen verspricht, mit dem Werk selbst. Einem Werk, das somit als etwas vorläufig Hergestelltes und letztlich prinzipiell Unabgeschlossenes gefasst werden muss: »Nicht in das Material eingreifen als editorisches Prinzip: die Bänder bzw. Aufnahmen als readytapes so zu belassen, wie sie vorgefunden wurden – das bedeutet die teilweise Gleichsetzung von Material und Werk.«7 Brinkmann selbst scheint den hier zugrunde gelegten poetologischen Maßstab zu affirmieren: Dennoch macht mir Spaß zu schreiben. Ohne Absicht, ohne ein Ziel. Und ich werde immer vollkommen bedrückt, wenn ich auf ein Ziel, eine Absicht hin schreiben muss. Auf irgendeine Verwertung hin, sei es ein Buch, sei es eine Sendung, sei es ein Artikel. Überall, wo Geld hinter steht, dann bekomme ich ein ganz unwilliges, widerwilliges Empfinden gegenüber der Arbeit, die mit dem Schreiben auch verbunden ist.8

So erscheint das in der vorliegenden Audioausgabe vertretene ›editorische Prinzip‹ als eine auktorial legitimierte Entscheidung,9 hebt doch Brinkmann selbst den Arbeitspro-

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In Analogie zum textkritischen Verfahren der critique génétique ließe sich daher auch für das editorische Interesse, das Kapfer/Agathos an Brinkmanns Nachlass verfolgen, konstatieren: »Philologie wird hier zur ›Schreibprozessforschung‹, die sich den Dynamiken der Textgenese und nicht mehr der Aufgabe der Textkonstitution widmet. Das Erkenntnisinteresse zielt darauf ab, die ›Textwerdung‹ darzustellen, wobei aber der gedruckte, publizierte Text nur noch ein Knotenpunkt in einem Geflecht von Schreibspuren ist. Das impliziert einen offenen und dynamischen Textbegriff, ohne dass deswegen die Instanz des Autors ausgeblendet würde.« (Kai Bremer und Uwe Wirth: Die philologische Frage. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Theoriegeschichte der Philologie. In: K. B. und U. W. (Hg.): Texte zur modernen Philologie. Stuttgart 2010, S. 7–48, hier: S. 24) Die Hörbuchausgabe Wörter Sex Schnitt betreibt in diesem Sinn eine ›Schreibprozessforschung‹, jedoch im akustischen Medium, weshalb sie es über weite Strecken mit einer ›Sprechprozessforschung‹ zu tun hat. Und obgleich sie die Veröffentlichung einerseits als kontingent zu verstehen nahelegt, nämlich als nur einen von vielen möglichen ›Knotenpunkten in einem Geflecht von akustischen Spuren‹, so wird sie andererseits nicht zuletzt auch durch die Charakterisierung als ›der akustische Nachlass‹ des Autors als die einzig mögliche Form markiert. Herbert Kapfer: Aufnahmen aus dem Originalton-Raum. Wörter Sex Schnitt. Eine NachlassEdition. In: Brinkmann: Wörter Sex Schnitt, Booklet, o. S. Rolf Dieter Brinkmann: Jetzt fällt draußen gleichmäßig. In: R. D. B.: Wörter Sex Schnitt, CD orange, Track 1, 01:30–02:20 Min. (Das Transkript hier und im Folgenden stammt von der Verfasserin.) Dies gilt genauso für einige biblionome Werke Brinkmanns, insbesondere für die posthumen Veröffentlichungen. Hier ist vor allen an Schnitte (Rolf Dieter Brinkmann: Schnitte. Hamburg 1988) zu denken. Siehe dazu auch: »Beim Hören der 29 Bänder und bei den Überlegungen, wie

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zess als entscheidend hervor: Allein das Schreiben ›mache ihm Spaß‹. Unter dieser Prämisse bekommt das Material, gerade weil es unfertig wirkt und daher als unmittelbares Zeugnis ebendieses Schreib- bzw. Sprechprozesses aufgefasst werden kann, eine besondere Gewichtung. Da Brinkmann jedoch die literarische Produktivität vehement von jeder Zielsetzung und ›Absicht‹, aber auch von jeder ›Verwertung‹ freizuhalten postuliert, wird zugleich jeder Form der Veröffentlichung – als ›Buch‹, ›Sendung‹ oder ›Artikel‹, aber auch als Radiofeature und Hörbuch – eine Absage erteilt. Es fällt auf, dass Brinkmann hier einerseits typische Medien der Auftragsproduktion, ›Sendung‹ und ›Artikel‹, sowie andererseits das zentrale und einzig legitime Medium der literarischen Kommunikation, das ›Buch‹, nahtlos aneinanderreiht. Unter der Hand, indem er sie gleichermaßen als ›Verwertungsmedien‹ klassifiziert und deshalb in einen unmittelbaren Zusammenhang mit ökonomischer ›Verwertung‹ bringt, ebnet er die literaturwissenschaftlich prominente Differenz zwischen autonomer und zweckgebundener Literatur10 ein. Indes erweist sie sich für die Edition Wörter Sex Schnitt durchaus als relevant, und dies nicht nur, weil sie das akustische Material in eine Art ›Buch‹, ein Hörbuch, überführt. Vielmehr ermöglicht sie auch in anderer Hinsicht eine wichtige Abgrenzung gegenüber der vom WDR produzierten ›Sendung‹11 Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973. Eine subjektive Dokumentation. Als »spoken word. Lesung. Tonbandexperiment«12 wird das, was die Audioedition präsentiert, bestimmt. Sie verfolgt

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diese Aufnahmen auf angemessene Weise zu edieren wären, ergaben sich die gleichen Fragestellungen wie bei der Herausgabe von Text-Bild-Collagen, die Brinkmann als Materialbände bzw. Materialhefte hinterließ: so wie sich für das 1972/73 entstandene Manuskript Schnitte (erschienen 1988) als einzige Form die Faksimile-Veröffentlichung anbot, […] schien uns bei den nachgelassenen Tonbändern nur eine Audio-Edition angemessen, die Brinkmanns Aufnahmen unbearbeitet als 1:1-Kopie vorstellen.« Kapfer: Aufnahmen aus dem Originalton-Raum, o. S. Ralf Schnell bezeichnet »die Hörfunk- und Fernseh-Anstalten als Mäzene des modernen L[iteraturbetriebs]«. Ralf Schnell: Literaturbetrieb. In: R. S. (Hg.): Metzler Lexikon. Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945. Stuttgart/Weimar 2000, S. 307–309, hier: S. 308. Die Sendung ist am 26. Januar 1974 im WDR zum ersten Mal gesendet worden. Unter ästhetischen Gesichtspunkten könnte jedoch der Radiosendung der Vorzug gegenüber der Edition gegeben werden. In einer Rezension anlässlich des Erscheinens von Wörter Sex Schnitt hält Olaf Selg dementsprechend fest: »Welches Tonbandmaterial schon in die Hörfunksendung ›Die Wörter sind böse‹ übernommen wurde, ist leider in dem sehr ausführlichen CD-Booklet nicht vermerkt. Dabei wäre eine Gegenüberstellung interessant gewesen: Verglichen mit der jetzt vorliegenden umfangreichen Abfolge der O-Töne ist die Sendung dramaturgisch durchkomponierter und wirkt insgesamt als wohl ausdrucksstärkstes Hörereignis, das es von Brinkmann gibt.« (Olaf Selg: »Frieden ist der Kiff der Seele« – Rolf Dieter Brinkmann im O-Ton. In: titel. Online-Magazin [April 2005]: http://www.titel-magazin.de/artikel/9/2160/rolf-dieter-brinkmann-wörter-sex-schnitt. html.) Es wäre interessant zu erfahren, wer alles bei der Fertigstellung dieses »wohl ausdrucksstärkste[n] Hörereignis[ses], das es von Brinkmann gibt«, beteiligt war. In einem Interview, das ich am 3. November 2010 mit Hein Brühl, dem Regisseur von Die Wörter sind böse führen konnte, berichtete dieser, dass Brinkmann den Zusammenschnitt des Materials nicht nur autorisierte, sondern auch veranlasste, zum Teil möglicherweise sogar auch selbst erstellte. Mit welchem Cutter er dabei zusammenarbeitete, sei nicht bekannt. Brinkmann: Wörter Sex Schnitt, Cover-Rückseite.

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nicht die Absicht, die Genese des Radiofeatures13 aufzuarbeiten oder dieses in einer anderen Weise kommentierend zu ergänzen. Im Gegenteil werden die Auswahl und Montage des Materials, wie sie die Hörfunkredaktion vorgenommen hatte, von der Hörbuchfassung entschieden in Frage gestellt, indem zum einen das, was für dieses Auftragswerk aussortiert wurde, zugänglich gemacht und zum anderen das bereits Veröffentlichte nun in einer anderen Anordnung präsentiert wird. Wörter Sex Schnitt will nicht die Entstehung des Radioprojekts erläutern, sondern erhebt vielmehr selbst den Anspruch, ein besonderes, in diesem unfertigen Zustand dennoch – im poetologischen Sinn – ›abgeschlossenes‹ akustisches work in progress Brinkmanns zu publizieren. Deshalb kommt das Feature in der Hörbuchedition, von einer kurzen, obgleich signifikanten Erwähnung im Booklet abgesehen, nicht vor. Es wird im Vergleich zu dem hier in seiner ursprünglichen Form erstmals rekonstruierten Werk – »Originaltonaufnahmen 1973«14 – als ein geradezu verstümmeltes, jedenfalls stark beschnittenes Produkt gekennzeichnet, in welchem die Gesamtlaufzeit der Tonbänder von gut 656 Minuten auf circa 49 reduziert wurde.15 An die Stelle des drastisch eingreifenden Auftraggebers treten in der Audioedition die Herausgeber, darum bemüht, sich selbst so weit als möglich zurückzunehmen und das Material als Dokument des literarischen Herstellens so vollständig und ursprünglich wie möglich16 freizulegen. Dem Fremdeingriff in das Brinkmann’sche Werk, das die Hörfunkanstalt vorgenommen hat, stellen sie ein ›editorisches Prinzip‹ gegenüber, dem zufolge das Material seinem ›Autor‹ wieder zugeeignet werden soll. Die Edition verschreibt sich somit einem Programm, dessen Umsetzung aber recht besehen unmöglich ist. Tatsächlich zeugt sie zugleich auch von dieser Unmöglichkeit,

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Das Feature »ist in der Regel eine Hörfunksendung […], die – ähnlich wie das Hörspiel – mit Sprache, Musik, Geräusch und Stille arbeitet. Im F. können diese radiophonen Ausdrucksmittel in allen stilistischen Formen verwandt werden: von Originalton-Einspielungen bis zu experimentellen Montagen bzw. Collagen. […] Paradigmen für die dt. Geschichte des F.s sind vor allem in den 1950er und 1960er Jahren im öffentlich-rechtlichen Hörfunk […] entstanden.« (Reinhold Viehoff: Feature. In: Helmut Schanze (Hg.): Metzler Lexikon. Medientheorie. Medienwissenschaft. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2002, S. 82–84, hier: S. 83) Der radiophonen Gattung Feature wird mit der Hörbuchedition ein ganzes Bündel von literaturaffinen Gattungsvorschlägen gegenübergestellt: »spoken word. Lesung. Tonbandexperiment.« Brinkmann: Wörter Sex Schnitt, Cover-Vorderseite. Siehe dazu Kapfer: Aufnahmen aus dem Originalton-Raum, o. S. Obgleich die Edition sich einerseits der Prämisse einer vollständigen und jegliche Eingriffe vermeidenden Wiedergabe des Nachlassmaterials verschreibt, muss sie andererseits Eingriffe vornehmen, die »teilweise juristische, teilweise inhaltliche Gründe« aufweisen: »Weggelassen werden mussten […] Aufnahmen, die bei Parties entstanden und die aus musikrechtlichen Gründen nicht veröffentlicht werden können. Bei anderen Aufnahmen gab es juristische Gründe, die den Schutz der Persönlichkeit tangieren. Aber auch inhaltliche Erwägungen sprachen für eine Auswahl: beim intensiven und mehrmaligen Hören der Bänder erwies es sich als sinnvoll, stark ähnliche Sequenzen mit immer wiederkehrenden Formulierungen etc. nicht als Varianten nebeneinander zu stellen oder aufeinander folgen zu lassen, sondern auszuwählen. Nicht in der Edition enthalten sind auch einige Aufnahmen, die von den Herausgebern als eindeutig und ausschließlich privat kategorisiert wurden.« (Ebd.)

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wie etwa am Folgenden deutlich wird. In seinem Beitrag im Booklet hält Herbert Kapfer nämlich fest: 29 Tonbänder, Magnetbandspulen, fast alle in den originalen Schubern verpackt, mit nummerierten Aufklebern, beiliegend bekritzelte Zettel, handschriftliche stichwortartige Notizen […]. Die Nummerierung stammt von der Witwe Maleen Brinkmann, die 30 Jahre nach dem Tod des Dichters, die Bänder zur Veröffentlichung freigibt.17

Was an anderer Stelle als ›Vorgefundenes‹ bezeichnet wird, erweist sich hier als vom Nachlasseigner ›Freigegebenes‹. Eine kleine, dennoch bedeutsame Akzentverschiebung, die das editorische Prinzip, wonach das Material so belassen werden sollte, wie es vorgefunden wurde, in ein durchaus anderes Licht rückt. Überdies wurden die Bänder – wie man diesem Passus entnehmen kann – zumindest im Hinblick auf ihre Durchnummerierung vom Nachlasseigner bereits bearbeitet, da in eine bestimmte Anordnung gebracht. Von dieser distanzieren sich Kapfer/Agathos zwar, womit sie auch die Suggestion der Wiedergabe einer Entstehungsabfolge der Aufnahmen unterbinden. Sie verzichten auf jede Nummerierung der CDs, die stattdessen farblich unterschieden werden. Gleichwohl sind die CDs in der Box durchaus in einer bestimmten Reihenfolge sortiert, nämlich orange, dunkelgrün, pink, blau und hellgrün. Zudem werden auf den einzelnen CDs die Tracks durchnummeriert. Nach welchen Gesichtspunkten diese Anordnungen vorgenommen wurden und wie sie zu derjenigen der im Nachlass verwahrten Spulen stehen, lässt sich anhand der im Booklet enthaltenen Angaben nicht rekonstruieren. Durch die Übertragung der Tonbänder auf die digitale Trägertechnologie wird das ›vorgefundene‹ Material erneut bearbeitet. Von dem gravierenden technischen Transfer in ein Digitalmedium abgesehen, fällt auf, dass die ursprünglich 29 Tonbänder nun auf fünf CDs präsentiert werden. »Wo immer möglich, wurden die Spulen von der ersten bis zur letzten Sekunde kopiert und jeweils als ein geschlossener, eigenständiger track behandelt.«18 Die Formulierung ›wo immer möglich‹ verweist auf Unregelmäßigkeiten, darauf, dass diese Umsetzung eben nicht immer möglich war. Insgesamt 37 Tracks und damit acht Tracks mehr als Spulen sind auf den CDs enthalten. »Wo es nur möglich bzw. inhaltlich angemessen erschien, Sequenzen von einzelnen Bändern zu veröffentlichen, wurden diese ebenfalls jeweils als eigenständige tracks markiert und ausgewiesen.«19 Es wäre wünschenswert zu erfahren, nach welchen Gesichtspunkten die ›inhaltliche Angemessenheit‹, auf deren Grundlage die Herausgeber einzelne Werkeinheiten identifizierten und voneinander abgrenzten, jeweils bestimmt worden ist. Deutlich wird jedenfalls, dass der editorische Anspruch einer völligen Zurückhaltung, wonach die »Aufnahmen […] so zu belassen [seien], wie sie vorgefunden wurden«, um auf diese Weise das Material in seiner ursprünglichen Form wiederherzustellen, mithin den Herstellungsprozess zu rekonstruieren, sich letztlich nicht einlösen lässt. Aufschlussreich ist indes ein weiterer Aspekt. Wenn das Anliegen der Audioedition darin besteht, dem ›vorgefundenen‹ akustischen Nachlassmaterial einen angemessenen

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Rahmen zu verleihen – der sich selbst zwar diskret zurückzuziehen vorgibt, deshalb aber umso wirksamer mitarbeitet20 –, dann wird hier nicht nur die ›zumindest teilweise Gleichsetzung von Material und Werk‹ bzw. von Arbeitsprozess und Werk angestrebt, sondern der Arbeitsprozess vielmehr auf einen bestimmten Ausschnitt begrenzt. Denn einzig das Material, das der alleinigen Urheberschaft Brinkmanns zuzurechnen ist, wird berücksichtigt. Diese Festlegung auf den Nachlass des Autors mag unterschiedlich motiviert sein. Neben rechtlichen und institutionellen Faktoren spielen auch editionsphilologische Usancen eine wichtige Rolle. So testet die Audioausgabe Wörter Sex Schnitt Formen und Möglichkeiten der Veröffentlichung von akustischem Material aus, womit sie, da es kaum elaborierte Richtlinien oder Vorbilder gibt, Neuland betritt. Sie orientiert sich dabei stark an den literarisch üblichen Vorgaben der Buchedition. Die Autorzentrierung gehört deshalb auch hier zu den maßgeblichen Parametern. Doch werden durch die Übertragung in das Hörbuch diese in Anlehnung an das konventionelle Buch entwickelten Regeln der Editionsphilologie in ihrer Geltung zugleich in Frage gestellt, nämlich da, wo sie sich nicht adäquat übersetzen lassen. Ihre Kontingenz kommt zudem zum Tragen, wenn man die Edition Wörter Sex Schnitt im Kontext anderer Projekte Kapfers/Agathos’ betrachtet, allen voran Robert Musil. Der Mann ohne Eigenschaften. Remix, wo gerade die Kategorien ›Autorschaft‹ und ›Texttreue‹ als konstitutive Probleme der Literatur reflektiert und in gewisser Weise auch zur Disposition gestellt werden. Aus der Veröffentlichung des akustischen Nachlasses Brinkmanns werden jene Bereiche der Produktion und damit der Bearbeitung des Materials ausgeschlossen, die den kooperativen Zusammenhang einer Sendeanstalt bzw. einer Redaktion betreffen. – Der Bereinigung des Brinkmann’schen Projekts von derartigen allografen Einwirkungen ist die Edition jedenfalls gewidmet.21 Zumal in dieser Hinsicht bildet sie ein Gegenprojekt zum Radiofeature, das ein in unterschiedlichen Bearbeitungszusammenhängen entstandenes und durch externe Vorgaben gerahmtes hybrides Mischwesen, einen ›Bastard‹, darstellt.22 Ausgeblendet wird zugleich, inwiefern die Edition selbst als das Medium

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»Die editoriale Aneignung nimmt ihren Ausgang bei der Auffindung[ ] des Textes […]. Der Akt des Herausgebens transformiert das originale Manuskript [hier: den akustischen Nachlass] in eine Buchkopie [hier: in Hör-CD-Kopien] – und erst durch diese Transformation wird das Geschriebene zum Werk.« Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008, S. 109. Bedenkenswert ist dabei der paradoxale Umstand, dass diese Bereinigung der Autorschaft durch den Editor geschieht, der sich seinerseits auf diese Weise zum Koautor macht. Der Autor ist eine Funktion des Editors: »Autorschaft ist also immer schon performativ durch die Funktion Herausgeber gerahmt.« Uwe Wirth: Performative Rahmung, parergonale Indexikalität. Verknüpfendes Schreiben zwischen Herausgeberschaft und Hypertextualität. In: U. W. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2002, S. 403–433, hier: S. 424. Eckhard Schumacher bezieht sich auf Thomas Meineckes Zitat: »Guter Pop war zu allen Zeiten ein Bastard, unrein«, um auch Brinkmanns popliterarisches Verfahren der ›Verunreinigung‹ als eine Form der »Übersetzung mit Differenz« zu beschreiben, bei welcher banal Popkulturelles in neue, »Missverständnisse« hervorrufende Abmischungs- und Vermischungsverhältnisse transferiert wird. (Eckhard Schumacher: »In Case of Misreading, read on!«. Pop, Literatur, Überset-

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dient, durch welches dieses akustische Œuvre zu einer auktorialen Einheit erst geformt und mit dem Versprechen versehen wird, dem Autor unmittelbar beim Denken 23 bzw. bei der Genese von Literatur zuzuhören. Und nur dem Autor.24 Indem die Herausgeber sich dabei auf die Position gleichsam unbeteiligter Beobachter zurückzuziehen vorgeben, invisibilisieren sie ihre eigene ›kooperativ-konstruktive‹ Leistung, als wären sie an der Herstellung dieses Produkts nicht beteiligt gewesen: »Nicht in das Material eingreifen als editorisches Prinzip.« Nur dem Autor zuhören, wie man ergänzen müsste. Zwar beruft sie sich immer wieder auf ›das Material‹, jedoch rekonstruiert die Edition dieses vor allem im Hinblick auf eine Stellvertreterfunktion für ein Autorsubjekt, das sie dabei überhaupt erst und mit Nachdruck konstruiert. Allerdings ist das Material unter Umständen wesentlich komplexer,25 als es dessen Zurechnung und Bändigung auf das auktoriale Vorhaben wahrzunehmen erlaubt. Nicht unerheblich ist in dem Zusammenhang, dass die erste akustische Äußerung des Hörbuchs – auch wenn dieses die Festlegung auf eine bestimmte Abfolge zugleich verneint – einen schweren Atemzug, einen Seufzer hörbar macht, gefolgt von einem lauten Schnäuzen. Bevor noch das erste Wort fällt, scheint der Autor schon präsent zu sein, indem er seinen Körper sich mitteilen lässt. Diesem Zugriff entspricht die Covergestaltung der CD-Box.26 Auf einem magentafarbigen Hintergrund firmiert souverän der Autorname »Rolf Dieter Brinkmann« (sie-

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zung. In: Jochen Bonz (Hg.): Popkulturtheorie. Mainz 2002, S. 25–44, hier: S. 40) Ein Bastard hat keine legitime Abstammung; ein Bastard kennt seinen Vater nicht. Was aber heißt es, ein Werk als ›Bastard‹ zu verstehen? Kann es einem Autor (Vater) zuschreibbar sein? »Den Dichter beim Denken hören« lautet programmatisch der Titel einer Rezension. Frank Kaspar: Den Dichter beim Denken hören. In: Theater heute (2004) 8/9, S. 42. Olaf Selg betont demgegenüber die von dem akustischen Projekt Brinkmanns implizierte Unterwanderungsbewegung des Autorschaftskonzepts: »Die Produktion der Aufnahmen kommt dabei als Prozeß zur Geltung und wird nicht ausgeblendet. Dadurch verliert der im konventionellen Literaturbetrieb ›verehrte‹ Autor als Institution und Instanz an Bedeutung. So liefert Brinkmann beim Sender kein fertiges und dann fremdzuproduzierendes (Hörspiel- oder Hörbuch-)Skript ab. Statt dessen fertigt Brinkmann außerhalb eines Aufnahmestudios selbst Hör-Collagen an durch die in ihrer Entstehung und ihrer Abfolge mehr oder weniger zufälligen Aufnahmesituationen und unter Einbeziehung des Alltäglichen«. Olaf Selg: »Kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert«. Zu Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandaufnahmen ›Wörter Sex Schnitt‹. In: Weimarer Beiträge 53 (2007) 1, S. 47–66, hier: S. 50. Wie komplex das ›Material‹ ist, insbesondere weil es ja das ›Making-of‹ einer Arbeit nachvollziehbar macht, lässt sich mit Bruno Latour beschreiben: Das Making-of »führt einen nicht nur hinter die Kulissen und in die Fertigkeiten und Kniffe der Praktiker ein, sondern es bietet auch die seltene Gelegenheit, einen Blick auf die Entstehung, die Emergenz eines neuen Dings zu werfen, dessen Zeitlichkeit auf diese Weise kenntlich wird. Noch wichtiger ist jedoch, daß, wenn man an irgendeine Baustelle geführt wird, man die irritierende und erfrischende Empfindung hat, daß die Dinge anders sein könnten«. (Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt am Main 2007, S. 153) Das Material ist zudem niemals das Produkt eines einzelnen Akteurs, sondern Ergebnis unterschiedlicher, Menschen, Dinge, Orte und Technologien einbeziehender Interaktionen. Sandra Rühr differenziert die vielfältigen Elemente der Hörbuchverpackung und beschreibt ihre Funktion wie folgt: »Schrift- und Bildzeichen, ihre Anordnung und Beziehung zueinander lassen erste Rückschlüsse auf den akustisch dargebotenen Text zu. Es ist notwendig, Design

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he Abb. 1). Darunter in gleicher Schriftgröße die Titelangabe: Wörter Sex Schnitt. Links ein Foto Brinkmanns und daneben ein einmontiertes Faksimile seiner handschriftlichen Aufzeichnungen – »Wörter Sex Schnitt« –, als sollte der Titel, der von den Herausgebern stammt,27 gleichwohl auktorial beglaubigt werden. In deutlich kleinerer Typografie ist unterhalb des Titels eine weitere wichtige, da entweder als Untertitel lesbare oder die Funktionsstelle einer Gattungsbezeichnung besetzende Mitteilung platziert – sie fungiert zugleich auch als eine Art Echtheitssiegel: »Originaltonaufnahmen 1973«. In gewisser Weise wird dem Radiofeature somit kurzerhand der Status einer ›Originaltonaufnahme‹ strittig gemacht.

Abb. 1: Frontcover der CD-Box

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und Farbwahl der Einzelteile des Gesamtprodukts, Packung, Inlay oder Booklet, Trägermaterial und zusätzlich angebrachte Informationen wie Aufkleber, im Zusammenhang zu sehen. […] Das Cover verfügt über die Möglichkeit, den Blick des Betrachters über den Einsatz von Bildern und Fotos sowie über unterschiedliche Schrifttypen und -grade zu lenken.« (Sandra Rühr: Tondokumente von der Walze zum Hörbuch. Geschichte – Medienspezifik – Rezeption. Göttingen 2008, S. 210f.) Tatsächlich handelt es sich bei der Verpackung nicht nur um einen ebenso komplexen wie wichtigen Bestandteil einer (jeden) Veröffentlichung. Vielmehr konkretisiert sich in ihr die paratextuelle Zone, durch die ein Werk konstituiert wird, in besonderer Weise. »Der Titel Wörter Sex Schnitt ist kein originaler Titel von Rolf Dieter Brinkmann. Bei der Suche nach einem alles umfassenden titelverdächtigen Zitat stießen wir in den Notizen auf die Abfolge der Begriffe Monolog Sex Schnitt. Davon ausgehend kristallisierte sich schließlich in Gesprächen mit Maleen Brinkmann der Titel Wörter Sex Schnitt heraus, der Rolf Dieter Brinkmanns zentrale Themen und Motive einkreist.« Kapfer: Aufnahmen aus dem Originalton-Raum, o. S.

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Das Verhältnis zwischen der Audioedition und der Hörfunkproduktion Die Wörter sind böse beschreibt folglich ein Feld asymmetrischer Zuordnungen, welche in besonderer Weise auch mit der high/low-Unterscheidung verknüpft sind: einerseits die eingeforderte möglichst unberührte Originalität des Materials in seiner fast vollständigen Breite, andererseits dessen durch den WDR vorgenommene Selektion und Rekombination; einerseits eine eindeutige Autorschaftszuschreibung und die Hervorhebung der Leistung eines Einzelnen, andererseits eine komplexe Gemengelage unterschiedlicher, zum Teil anonym Beteiligter in diversen arbeitsteiligen Funktionen; einerseits ein literarisches Unternehmen, andererseits ein Produkt der Massenkommunikation. – Indem sie das bislang Unveröffentlichte lediglich zu erschließen vorgibt, löst die Hörbuchedition es – und dies ist entscheidend – aus seiner ursprünglichen Kontextualisierung als bloßes Auftrags- bzw. Gelegenheitswerk heraus. Ein Zugriff, mit dessen Hilfe das Material literarisch – ausgerechnet im Populärmedium Hörbuch28 – nobilitiert wird. Kein Nebenwerk, das seine Bestimmung einer äußerlichen Veranlassung verdankt und der Erwartung des Auftraggebers Rechnung tragen müsste, sondern ein akustisches Hauptwerk Brinkmanns wird hier konstituiert: »spoken word. Lesung. Tonbandexperiment.« Ein durch und durch literarisches Unternehmen eines autonomen Autors.29

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Das hängt damit zusammen, dass das Hörbuch in seiner heute üblichen Aufmachung als CD in einer Hülle, oft auch mit einem Booklet ausgestattet, am gedruckten Buch orientiert ist und auch einen daran angelehnten Umgang nahelegt. Mehr noch: Wenn Ursula Rautenberg konstatiert, dass die »zur Zeit zu beobachtende Aufbereitung buchnaher Inhalte in elektronischen Publikationsformen (u. a. als Datenbanken und E-Books, online und als CD-ROM, aber auch in Form des Hörbuchs) […] die vorläufig letzte mediale Transformation des Buchs« bezeichne (Ursula Rautenberg: Buch, in: Erhard Schütz u. a. (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 63–69, hier: S. 64), dann rechnet sie das Hörbuch durchaus dem Medium Buch zu, indem sie dieses in medientechnischer Hinsicht als einen bestimmten Entwicklungspunkt innerhalb eines größeren Transformationszusammenhangs begreift. Eckhard Schumacher stellt seiner Analyse der Hörbuchedition die Frage voran, ob sie »die Aufmerksamkeit auf das bereits in den 1970er Jahren ausgiebig verhandelte, nicht selten als Gegenbegriff zu Pop in Stellung gebrachte Konzept der Authentizität [lenke] […], die sowohl im Blick auf Brinkmanns Poetologie als auch hinsichtlich einer weiter gefassten Pop-Ästhetik von Interesse [ist]: Lassen sich die Originaltonaufnahmen als missing link zwischen Pop und Authentizität begreifen?« (Schumacher: »Schreiben ist etwas völlig anderes als Sprechen«, S. 78) Er beantwortet schließlich diese Frage, indem er eine ambivalente Bewegung im Umgang mit der Opposition in Brinkmanns Werk feststellt: Danach beglaubigt »Brinkmann die Konstruktion von Authentizität zwischen Sprachskepsis und Medienfaszination einerseits«, Schumacher verweist aber andererseits darauf, dass Brinkmann sie auch »unablässig unterminiert und fragwürdig erscheinen läßt« (ebd., S. 86).

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Auftragsliteratur

Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass Teile der Tonaufnahmen den Aspekt des broterwerblichen Schriftstellerns offensiv ansprechen, womit sich das Projekt deutlich dazu bekennt, okkasionell Hergestelltes zu sein. Literatur als Ware, also käufliches Gut, und der »Dichter als ›Lohnschreiber‹«,30 wie Brinkmann in einem anderen Text formuliert, bilden zentrale Motive der Aufzeichnungen, wie insbesondere anhand der folgenden Aussage nachvollziehbar ist: Mein Kontoauszug vom 30. 11. 1973. Soll: Eintausend D-Mark, vierhundertsechsundzwanzig D-Mark, fünf Pfennig. Neuer Kontostand. Soll: Achthundertneun D-Mark, fünf Pfennig. Wie kriege ich diese minus achthundertneun D-Mark, fünf Pfennig wieder vom Konto der Stadtsparkasse Köln runter? Das ist die Frage, vor der ich jetzt stehe. Keine Rücklagen, keine Möglichkeiten, etwas zu verdienen. Ich müsste wieder Wörter machen. Mit Wörtern ist nicht viel Geld zu verdienen […].31

Die deiktische Angabe »jetzt« markiert die Aktualität der Sprechersituation und stellt auf diese Weise das Moment des Wörtermachens wie -verkaufens als einen wichtigen Ausgangspunkt der hiermit gerade im Entstehen begriffenen akustischen Arbeit heraus.32 Sogleich jedoch geht das Bekenntnis in eine Kritik an den »Massenmedien« über, womit die spezifischen Arbeitsbedingungen von Auftragsliteratur adressiert werden. Am bisher übelsten sind meine Erfahrungen mit den Massenmedien. Zeitung, Rundfunk, Fernsehen, was es sonst noch gibt. Das sind ja Medien für Massen. Und das heißt direkt: Kontrollmaschinen.33

Die Bezeichnung »Massenmedien« bezieht Brinkmann explizit auf »Zeitung, Rundfunk, Fernsehen« etc. – sie trifft also auf Medien zu, die gemäß der One-to-many-Kommunikationsstruktur Informationen distribuieren und technisch reproduzieren. Tatsächlich kritisiert Brinkmann an den Massenmedien jedoch weder ihre hohe Distributionsdichte und maschinell bedingte Reproduktionsfähigkeit noch den von ihnen praktizierten asymmetrischen Kommunikationsmodus, sondern, wie die Gleichung »Und das heißt direkt« unterstreicht, in erster Linie die von ihnen ausgeübte ›Kontrolle‹. Eine Kontrolle, die in der anschließenden Beschreibung vor allem auf die Produktionsverhältnisse angewandt wird. Mindestens fünf Kontrollstadien sind dabei zu unterscheiden: Die Kontrolle bei den Medien ist am übelsten und oft am undurchschaubarsten. Ich hab lange Zeit gebraucht, um dahinter zu kommen. Die erste Kontrolle findet statt bei der Auswahl eines

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Rolf Dieter Brinkmann: Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/1975). In: R. D. B.: Westwärts 1 & 2. Erw. Neuausg. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 271. Brinkmann. Jetzt fällt draußen gleichmäßig, 14:05–14:43 Min. Hier vom ›Ausgangspunkt‹ des Projekts zu sprechen, ist einerseits zwar nicht gerechtfertigt, da die Entstehungsfolge nicht geklärt ist. Dennoch handelt es sich um eine Aussage, welche der erste Track der in der CD-Box ersten CD enthält. Brinkmann: Jetzt fällt draußen gleichmäßig, 14:59–15:12 Min.

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Natalie Binczek Textes, das heißt durch Annahme oder Ablehnung. Oder welche Passage aus einem Text genommen wird. Das ist erstmal die erste Kontrolle. Die zweite Kontrolle betrifft die Korrektur eines angenommenen ausgearbeiteten Textes. Die Empfehlung, diese oder jene Wörter zu streichen, oder diese und jene Formulierungen auszulassen, das heißt herauszunehmen. Sie sagen: »Bitte nehmen Sie das doch heraus.« Das ist das zweite Stadium der Kontrolle. Die dritte Kontrolle ist bestimmt durch die Platzierung des Textes innerhalb des Gesamtprogramms, in dem dieser eine Text, diese eine Arbeit erscheint. Die Uhrzeit und die Länge, die Dauer einer Sendung. Die vierte Kontrolle findet statt durch die gepflegten kulturellen und routiniert-höflichen empfindungslosen Sprecherstimmen, die jeden Text durch ihre Aussprache mildern und verschandeln. Sie können die ungeheuerlichsten Dinge sagen, die ungeheuerlichsten Zusammenhänge, die schmierigsten Wörter sagen, und die empfindungsreichsten Wörter sagen. Und immer klingt es gleich. Das ist die vierte Kontrollinstanz. Die fünfte Kontrolle ist dann die saubere, perfekte und gefilterte Art der Aufnahme, so dass gar nicht mehr die Atmosphäre eines lebendigen Körpers vorhanden sein kann innerhalb dessen, was gesendet oder gedruckt wird. Das heißt, mit diesen kleinen Rülpsern, Verschnitzern, mit diesen kleinen Atemgeräuschen, mit dieser falschen, sogenannt falschen Betonung. Also das ist die fünfte Kontrolle.34

In mehrfacher Hinsicht ist diese Passage aufschlussreich, vorrangig aber, weil sie ein Schema komplexer, kooperativer Produktionsverhältnisse innerhalb von Rundfunkanstalten entwirft. Obgleich sie zunächst auf ›Massenmedien‹ überhaupt abhebt, womit übrigens auch das buchdrucktechnisch vervielfältigte Buch erfasst wäre, zeichnet sich anhand der im Einzelnen durchgeführten Differenzierung der Kontrollstadien ab, dass in erster Linie das Radio im Blickfeld der Betrachtung steht. Spätestens vom ›dritten Kontrollstadium‹ an, welches in der Kontextualisierung eines Beitrags ›innerhalb des Gesamtprogramms‹ liegt, vor allem jedoch durch die Bezugnahme auf die besondere Leistung der Sprecherstimmen wird manifest, dass die Ausführungen sich am Modell eines Audiomediums orientieren.35 Mithin scheint es, als reflektierte Brinkmann hier die im Zusammenhang mit seinem eigenen Projekt Die Wörter sind böse stehenden Arbeitsbedingungen, zumindest aber liefert er einen Hintergrund, vor welchem dieses Auftragsprojekt betrachtet werden kann. Da sich die Stellungnahme im ersten Track der ersten CD findet und daher als eine Art Einstieg in die Edition fungiert, wird ihr der Status einer programmatischen Aussage nicht nur im Hinblick auf das edierte Werk, sondern auch im Hinblick auf das Herausgeberprojekt zuteil. Als rechtfertigte sich die Veröffentlichung des Nachlassmaterials dadurch, dass sie es den kritisierten Kontrollmechanismen der Massenmedien gleichsam entreißt und dem Autor wieder zurückerstattet. Brinkmanns Darstellung der massenmedialen Produktionsverhältnisse steht unter einem negativen Vorzeichen, beschreibt sie doch eine Enteignung des Verfassers bzw. Autors, insofern sein Beitrag einer tiefgreifenden, den Standards des Mediums angepassten Modifikation unterzogen werde. Hat der angebotene bzw. in Auftrag gegebene Text die erste Kontrolle, also die Entscheidung über seine ›Annahme oder Ablehnung‹,

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Ebd., 15:52–17:48 Min. Zwar ließen sich die genannten Kontrollstadien genauso auch auf das Fernsehen übertragen, allerdings wäre hier auch die Kontrolle bei der Verarbeitung von Bildern anzusprechen. Dass Brinkmann diese nicht erwähnt, ist ein Beleg dafür, dass es ihm hier vor allem um den Hörfunk geht.

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erfolgreich passiert, begibt er sich in eine Abfolge unterschiedlicher, arbeitsteilig organisierter Modellierungsvorgänge, in deren Zug er nach rundfunkinternen Entscheidungskriterien – Einpassung ins Programm, Veränderung/Korrektur, Vertonung sowie technische Möglichkeiten der Postproduktion – gestaltet und somit peu à peu der ›Kontrolle‹ des Verfassers entzogen wird. Der pejorativen Ausrichtung dieser Beschreibung legt Brinkmann die Kontrastvorstellung einer autonom-eigenverantwortlichen Arbeitsweise zugrunde, wie sie nicht einmal im Rahmen literarischer Buchprojekte realisiert werden kann, gleichwohl aber als eine Art produktionsästhetischer Richtwert dient. Literatur als Produkt eines eigenverantwortlich tätigen Autors steht hier den massenkulturellen Produktionsmodi gegenüber, die als industriell hergestellte ›Low‹-culture-Praxis durchaus kulturkonservativ abgelehnt, paradoxerweise jedoch auch bedient werden. Zugleich zeigt Brinkmann mit seiner Kritik ex negativo auf, dass die kulturindustriell-massenmediale Produktionsform eine gegenüber der einsam in einem Arbeitszimmer erfolgenden literarischen, auf kein ›Ziel‹, keine ›Absicht‹ und ›Verwertung‹ hinzielenden Praxis36 wesentlich höhere arbeitsorganisatorische Komplexitätsstufe aufweist. Auch im Zusammenhang mit dem Radiofeature wird Rolf Dieter Brinkmann als Autor genannt. Das Werk, auf welches sich seine Autorschaft hier bezieht, unterscheidet sich aber erheblich von dem der Hörbuchausgabe. Auf der Homepage des WDR wird es anlässlich seiner Wiederausstrahlung am 11. April 2010 als »Literaturfeature« angekündigt. Dabei folgt auf die Angabe der Sendezeit und des Formats der Titel, bevor eine kurze Inhaltsangabe anschließt: »1973. Rolf Dieter Brinkmann ist 33 Jahre alt und in der Bundesrepublik ein Aufsehen erregender junger Autor. Er ist schroff, provozierend, begabt. In Deutschland ist der Ton seiner Texte neu.«37 So wird zunächst der Eindruck erweckt, als wäre der Beitrag Rolf Dieter Brinkmann gewidmet, als berichtete er über ihn, bis am Ende dieser Programmvorschau der »Autor: Rolf Dieter Brinkmann« sowie die »Produktion: WDR 1974« und die »Redaktion: Imke Wallefeld«38 in dieser Reihenfolge genannt werden.39 Während die in der Kritik unterschiedenen Punkte 1–3 (Auswahl des Materials, Korrektur sowie Anpassung an das Sendeformat und Programm) auch auf das Radiofeature Die Wörter sind böse zutreffen, so dass in diesem Passus erkennbare selbstreferenzielle Züge zum Vorschein kommen, lässt sich hinsichtlich der zwei zuletzt genannten Punkte

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»Ich sitze in meinem Zimmer, das dreieinhalb mal fünf Meter groß ist. Ein kleines, schmales Zimmer mit einem Fenster. Als ich vor zehn Jahren in diese Wohnung zog, habe ich dieses kleine Zimmer als Mietzimmer bewohnt. Jetzt schreibe ich hier drin, ein Schreibtisch steht darin, ein kleiner, billiger, gelber Schrank, ein Stereogerät, eine elektrische Ölheizung, einige Bücher.« (Brinkmann: Jetzt fällt draußen gleichmäßig, 00:26–01:01 Min.) http://www.wdr.de/wissen/wdr_wissen/programmtipps/radio/10/04/11_1505_3.php5?start= 1270991100 (13. November 2010). Ebd. Auf einer anderen Homepage von WDR 3 wird das Feature Rolf Dieter Brinkmann bereits im Anschluss an die Titelangabe zugeschrieben. Dort heißt es: »Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973 – eine subjektive Dokumentation. Von Rolf Dieter Brinkmann.« Die Angaben zur Produktion und Redaktion folgen erst im Anschluss an die Inhaltsangabe (http://www.wdr3. de/literaturfeature/details/artikel/die-woerter-sind-boese.html; 14. Oktober 2010).

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eine deutliche Abweichung von dem skizzierten Schema feststellen. Denn weder sind die Texte hier von einem professionellen Sprecher eingesprochen worden, noch auch werden die ›Rülpser und Verschnitzer‹ oder andere ›Unsauberkeiten‹ vollständig eliminiert. Nur bedingt also lässt sich die von Brinkmann entfaltete Typologie anhand von Die Wörter sind böse bestätigen. Die zitierte Sequenz wurde für die Radiosendung übrigens radikal modifiziert und gekürzt, mithin »beschnitten«. Und genau das wird dort auch angesprochen: Noch etwas zu meiner Erfahrung mit den Medien: nämlich, dass für die Arbeit selten Zeit da ist. […] Und da wird man überall beschnitten. Durch die Aufnahmezeiten, durch die Fertign [!], durch die Fertigstellung.40

Gegenüber der unterschiedliche Bearbeitungsphasen ausführlich differenzierenden Darstellung in den Aufzeichnungen aus dem Nachlass fällt diese Stellungnahme nicht nur kürzer aus, sie wird vielmehr auch auf lediglich einen Gesichtspunkt beschränkt, nämlich die durch die Zeitknappheit bedingte ›Beschneidung überall‹. Indes wird nur hier diese Aussage unmittelbar auf die Praxis ihrer Bearbeitung abgebildet, wohingegen der oben zitierte Passus der Hörbuchausgabe etwas anderes, ihn selbst nicht Betreffendes zu verhandeln scheint. Nur im Kontext der Hörfunkausstrahlung bezieht sich der Text tatsächlich unmittelbar auf seine eigenen Rahmenbedingungen, die in der Beschneidung des Wortes ›Fertigstellung‹ – Brinkmann verspricht sich hier – zugleich unterstrichen, aber auch widerlegt werden, insofern sich die Sendung die Zeit dafür nimmt, diese Beschneidung – ›Fertign‹ – vorzuführen. Einerseits lehnt Brinkmann Massenmedien als ›Kontrollmaschinen‹ ab. Andererseits finden sie in der Funktion als Verbreitungskanäle von Literatur seine Zustimmung, wie etwa in dem ein Jahr nach der Entstehung der akustischen Aufzeichnungen veröffentlichten Essay »Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/75)« nachzulesen ist. Die Überlegungen erfolgen hier in einer als »unkontrolliert« charakterisierten literarischen Schreibweise. Eine massenmedial reformierte Literatur wird von Brinkmann ins Auge gefasst, die er in alternativen Formen der Publikation und Präsentation erwägt: »Ich stelle mir eine Stadt mit Dichterlesungen vor, Wandzeitungen mit Gedichten, Gedichte, die an Haltestellen morgens verteilt werden statt der Schmierzeitungen«.41 Literatur soll sich in die Vertriebskanäle von »Schmierzeitungen«, also ›schlechten‹ Massenmedien, einnisten, an ihnen parasitieren und dabei die »Schmierzeitungen« selbst ersetzen. Sie soll überdies auch nicht mehr aktuelle, wie die ›Wandzeitung‹ beispielsweise, wiederbeleben und folglich selbst als ein gleichsam ›gutes‹ »Massenmedium« zirkulieren. Zwar muss sie popularisiert,42 also an den Mann gebracht werden, womit eine zentrale Funkti-

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Die Wörter sind böse. Kölner Autorenalltag 1973. Eine subjektive Dokumentation (WDR 3, gesendet am 11. April 2010), 28:39–28:58 Min. – Es ist durchaus bedeutsam, dass diese Aussage in dem Feature ziemlich exakt in der Mitte platziert ist und somit als eine Art Mittelpunkt bestimmt wird. Brinkmann: Ein unkontrolliertes Nachwort, S. 269. Die Beziehung zwischen Massenmedien und Populärkultur skizziert Urs Stäheli in systemtheoretischer Perspektive wie folgt: »Zwar wird populäre Kommunikation häufig massenmedial

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on der Massenmedien erfüllt wird. Aber sie darf dennoch keine Literatur für die Massen werden. »Das sind ja Medien für Massen. Und das heißt direkt: Kontrollmaschinen.« Die Differenz verläuft also weniger zwischen elitärer (high) und massenmedialer (low) Kultur, sie verläuft vielmehr innerhalb der massenmedialen Kultur selbst, indem sie einen offiziellen – und daher abzulehnenden – von einem gleichsam subversiv-parasitären – und daher zu bejahenden – Umgang mit Massenkommunikation unterscheidet,43 um mit dieser Unterscheidung eine andere Variante der high/low-Differenz (wieder) einzuführen. Zur Populärkultur – im Sinne von massenhaft verbreiteter Kultur – gibt es jedenfalls keine Alternative. Grundsätzlich wird die Unterscheidung zwischen Populärem und Elitärem mithin zurückgewiesen, um daraufhin jedoch umso rigoroser und kritischer, das heißt differenzbewusster, gleichsam gute und schlechte Modi der Popularisierung zu distinguieren. Eine Re-entry-Struktur, durch die das Elitäre in das Populäre als Binnenunterscheidung wieder eintritt. Deutlich wird daran, dass und in welchem Maße sich die high/low-Unterscheidung, indem sie angewandt und reflektiert wird, zu bewegen und zu verschieben beginnt.44

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verbreitet. Allerdings lässt die Verwendung eines Massenmediums nicht auf die Systemreferenz schließen. Einige populäre Kommunikationsformen wie etwa Werbung mögen zum Mediensystem gehören oder sogar ein eigenes System bilden, das schließt aber nicht aus, dass es sich hier um Mehrsystemereignisse handelt.« (Urs Stäheli: Das Populäre als Unterscheidung – Eine theoretische Skizze. In: Gereon Blaseio, Hedwig Pompe und Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005, S. 146–167, hier: S. 163f.) Siehe auch: »Das Populäre bedarf in der Regel technischer Verbreitungsmedien, erklärt sich aber nicht in erster Linie durch die Massenmedien.« (Urs Stäheli: Bestimmungen des Populären. In: Christian Huck und Carsten Zorn (Hg.): Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur. Wiesbaden 2007, S. 306–321, hier: S. 315.) Insofern aber »Verbreitungsmedien keineswegs nur neutrale technische Hilfsmittel [sind], sondern […] auch das Inklusionsgeschehen [strukturieren]« (ebd., S. 316), sind sie an Prozessen und Formen der Popularisierung entschieden mitbeteiligt. Zu der spezifischen Verarbeitung von Populärkultur im Werk Brinkmanns schreibt Jörgen Schäfer: »Brinkmann plädiert […] immer wieder für das ›Offenhalten‹ der Wahrnehmung, um sich von den sinnlichen Reizen des Augenblicks – und das sind dann häufig Popsongs und Filme, Werbeslogans und Plakate – stimulieren zu lassen. Betrachtet man also den Autor Brinkmann zuerst als ›Konsumenten‹ von Populärkultur, so wird der Stellenwert des populären Materials deutlich, und dann lassen sich auch die Verfahren der produktiven Umcodierung im literarischen Text beschreiben. Denn Brinkmann, so meine These, reproduziert ja nicht etwa einfach die PopVorlagen, wie dies gleichzeitig etwa Horst Bienek in seinen ›Vorgefundenen Gedichten‹ oder Peter Handke in einigen Beispielen in ›Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt‹ getan haben. Seine Signifikationspraktiken bleiben stets an die Subjektivität des Autors zurückgebunden.« (Jörgen Schäfer: »Mit dem Vorhandenen etwas anderes als das Intendierte machen«. Rolf Dieter Brinkmanns poetologische Überlegungen zur Pop-Literatur. In: Text + Kritik. Sonderband: Pop-Literatur. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold und Jörgen Schäfer. München 2003, S. 69–80, hier: S. 75f.) Diese Typologie lässt sich ähnlich auf Brinkmanns Umgang mit Produkten und Vorlagen der Massenmedien anwenden. »Pop-Literatur entsteht, wenn der Autor die Pop-Signifikanten – gleichgültig, ob sie aus einem Popsong, einem Film oder einem Werbeslogan stammen – im literarischen Text neu ›rahmt‹«. (Jörgen Schäfer: »Neue Mitteilungen aus der Wirklichkeit«. Zum Verhältnis von Pop und Literatur in Deutschland seit 1968, in: Text + Kritik. Sonderband: Pop-Literatur, S. 7–25, hier: S. 15.) Das aber bedeutet zugleich, dass Popliteratur gerade durch die spezifische Rahmung selbst nicht

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»Schreiben ist etwas völlig anderes als sprechen«?

In Bezug auf die medientechnische Rahmung ihrer Veröffentlichung sind sowohl Wörter Sex Schnitt als auch Die Wörter sind böse Werke populärer Massenmedien: des Hörbuchs einerseits und des Hörfunks andererseits. Innerhalb dieser Medien und ihrer ›Programme‹ gehören sie jedoch nicht zu den populären Repräsentanten. Beide loten vielmehr alternative Möglichkeiten des Umgangs mit ihren medialen Voraussetzungen aus: Das Radiofeature etwa durch die Selbstreflexivität seiner medienbedingten Arbeitsweise sowie eine zumindest teilweise Umgehung der professionellen und standardisierten Verfahren; das Hörbuch, indem es sich von der Funktionsbestimmung als Zweitverwertung von oft durch eine besondere Kürzungspolitik45 bearbeiteten literarischen Vorlagen distanziert, um sich stattdessen philologisch-biblionomen Editionsverfahren und Präsentationsformen anzunähern. Gemäß dieser Anlehnung wird hier der Autor als eine quasi leiblich-präsente Instanz der Werkherstellung inszeniert. Dabei ist es vor allem der akustisch-mündliche Aggregatzustand des Materials, der der Evokation dieses Effekts besonders dienlich gemacht wird.46 Ausdrücklich und an erster Stelle bezieht sich Brinkmann in dem obigen, seinem Essay »Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten (1974/75)« entnommenen Zitat auf die ›Dichterlesung‹,47 mit welcher er mündliche Formen literarischer Präsentation anspricht. »Ich stelle mir eine Stadt mit Dichterlesungen vor«, heißt es dort. Literatur soll daher einen Sound haben und hörbar machen. Sie muss als ein akustisches Ereignis zum Tragen kommen. Dieser Gesichtspunkt wird in gattungsevolutionärer Perspektive weitergeführt: Gegenwartsdiagnostisch wird dabei »eine Umwandlung von Gedichten in Musik«, festgehalten, »deren Auswirkungen im deutschen Sprachraum auch heute, 1974,

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an Populärkultur partizipiert, sondern ausschließlich über Signifikationsprozesse auf diese Bezug nimmt. Populäres wird lediglich als Thema oder Motiv von ihr behandelt. In Brinkmanns oben zitierter Schilderung wird demgegenüber die Frage nach Möglichkeiten der Popularisierung von Literatur selbst aufgeworfen. Siehe zur Kürzungsproblematik Angelika Diehm: Lesen Sie noch oder hören Sie schon? Die Kürzungsproblematik beim Hörbuch, Marburg 2010. Deutlich wird dies etwa an folgender exemplarischer Aussage, die der menschlichen Stimme eine herausragende Beziehung zum Körper des Sprechers und zur Wahrnehmung des Hörers bescheinigt: »Die vox humana wirkt auf den Menschen ganz direkt. Zudem ist Sprechen ein sehr körperlicher Ausdruck. Im Vergleich zu einem Schriftbild wecken stimmliche Äußerungen daher erheblich mehr Emotionen und Assoziationen. Es ist kaum möglich, einer Stimme ›neutral‹ zu begegnen.« Tilla Schnickmann: Vom Sprach- zum Sprechkunstwerk. Die Stimme im Hörbuch: Literaturverlust oder Sinnlichkeitsgewinn? In: Ursula Rautenberg (Hg.): Das Hörbuch – Stimme und Inszenierung. Wiesbaden 2007, S. 21–53, hier: S. 25. Bedeutsam ist hierbei, dass die Dichterlesung – ungeachtet der ihr immanenten ästhetischen Disposition – zuallererst als Kategorie der Literaturvermittlung gilt und somit den Aspekt der ›Auftragsproduktion‹ bzw. ›Auftragsarbeit‹ anspricht. Siehe zum Zusammenhang von literarischer Autonomie und ökonomischer Verwertung in historischer Perspektive: Harun Maye: »Klopstock!«. Eine Fallgeschichte zur Poetik der Dichterlesung im 18. Jahrhundert. In: H. M., Cornelius Reiber und Nikolaus Wegmann (Hg.): Original/Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons. Mit Hörbeispielen auf CD. Konstanz 2007, S. 165–190.

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nicht mehr zu übersehen sind. Was gesungen [wird], [geschieht] nicht mehr in der Lyrik, es [geschieht] auf Schallplatte.«48 Zwei Aspekte gilt es hier hervorzuheben. Erstens ist mit der Schallplatte ein Trägermedium angesprochen, welches massenhafte Verbreitung von vor allem Musik ermöglicht.49 Auch hier liegt eine One-to-many-Kommunikationsstruktur vor. Ermöglicht die Dichterlesung als Live-Ereignis eine unmittelbare Interaktion zwischen Dichter und Publikum, so wird diese unterbunden und auf eine andere Interaktionsebene transferiert, wenn sie auf Schallplatte erscheint. Während Erstere jedoch eine Distributionsreichweite nur mittleren Grades erreicht, ist mit der Schallplatte eine erhebliche Zunahme der Verbreitungskapazität gegeben: ein Massenmedium also. Zweitens skizziert diese Passage eine kulturhistorische Linie, der zufolge sich ›gegenwärtig eine Umwandlung von Gedichten in Musik‹ beobachten lässt. In Popmusik vornehmlich, wie man wohl mit Blick auf Brinkmanns wiederholt vorgebrachte Bemerkungen zur Popmusik ergänzen kann. Wenn aber die auf Schallplatte aufgezeichnete und massenhaft reproduzierbare Musik, Popmusik, die Lyrik beerbt, weshalb beide in eine gemeinsame evolutionäre Linie eingeschrieben und so miteinander verknüpft, gleichsam verbandelt werden, lässt sich die high/low-Differenz, die diesen beiden Gattungen nach gewissen, zumindest in den späten 1960er Jahren noch geltenden Typologien zugrunde liegt, nicht mehr aufrecht erhalten. Sie wird außer Kraft gesetzt. An ihre Stelle tritt jedoch die Notwendigkeit einer unablässigen Neubewertung und Neuvermessung des gesamten aktuellen, aber auch traditionellen kulturellen Feldes. Ist Lyrik ›heutzutage‹ nur noch auf Schallplatte bzw. – um den Bezug auf die verwendete Medientechnologie zu aktualisieren – auf CD möglich, kann im Umkehrschluss die Audioedition Wörter Sex Schnitt auch als ein Beitrag zu ›Lyrik heute‹ verstanden werden. Die von den Editoren gewählten Kategorien zur Kennzeichnung des Projekts stützen diese These: Lyrik als »spoken word. Lesung. Tonbandexperiment«. Auf CDs digitalisierte Lyrik. Aber auch Gesang? Tatsächlich spielt Musik hier eine wichtige Rolle.50 Manchmal wird

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Brinkmann: Ein unkontrolliertes Nachwort, S. 287. Luhmann definiert den Begriff wie folgt: »Mit dem Begriff der Massenmedien sollen […] alle Einrichtungen der Gesellschaft erfaßt werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen. Vor allem ist an Bücher, Zeitschriften, Zeitungen zu denken, die durch die Druckerpresse hergestellt werden; aber auch an photographische oder elektronische Kopierverfahren jeder Art, sofern sie Produkte in großer Zahl mit noch unbestimmten Adressaten erzeugen. Auch die Verbreitung über Funk fällt unter den Begriff, sofern sie allgemein zugänglich ist und nicht nur der telephonischen Verbindung einzelner Teilnehmer dient. Die Massenproduktion von Manuskripten nach Diktat wie in mittelalterlichen Schreibwerkstätten soll nicht genügen und ebenso wenig die öffentliche Zugänglichkeit des Raumes, in dem die Kommunikation stattfindet – also nicht: Vorträge, Theateraufführungen, Ausstellungen, Konzerte, wohl aber eine Verbreitung solcher Aufführungen über Filme und Disketten.« (Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 2., erw. Aufl. Opladen 1996, S. 10f.) Nach dieser Bestimmung wäre eine ›Dichterlesung‹ nur dann ein Massenmedium, wenn sie im Radio gesendet – Die Wörter sind böse – oder auf ›Schallplatte‹ bzw. CD – Wörter Sex Schnitt – vervielfältigt und distribuiert würde. Demgegenüber stellt Olaf Selg verwundert »die relativ geringe Rolle der Musik« (Selg: »Kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert«, S. 52) in Brinkmanns Hörspielen und O-Ton-Aufnahmen fest.

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Brinkmanns Stimme musikalisch unterlegt, manchmal geht sie selbst vom Sprech- in einen Singmodus über. Der Track »Maleen ist reingekommen« etwa beginnt mit einem akustischen Hintergrundgeräusch, in welchem sich eine konfuse Polyphonie sprechender und/ oder lachender Stimmen mit einem Gesang mischen – dieser klingt, als würden hier nur wenige, lang gehaltene und gedehnte Töne aufeinander folgen –, bevor sich Brinkmanns Stimme in einem Rhythmus in diese Tonspur einschaltet, der sich weniger an der artikulatorisch üblichen Betonung der Wörter als vielmehr an dem Rhythmus der Geräuschkulisse, beinahe singend, orientiert. Lyrik,51 die daher wie folgt transkribiert werden kann: Maleen ist reingekommen. Hält den kaputten Wasserhahn über den Tisch. Mitten in dieser Bruchbude. Die Sicherung ist durchgegangen, das Gummiband. Seit dem Nachmittag läuft der Wasserhahn. Irgendwas ist daran kaputt. Immerzu ist was kaputt. Den ganzen Tag geht das so. Das macht einen dann [unverständlich, N. B.] vollkommen verrückt. So was Doofes. Immer…52

An diesem Punkt wird Brinkmanns Stimme ausgeblendet, man hört ca. zwei Sekunden lang auch keine Hintergrundgeräusche, nur ein leises Knacken, als würde das Aufnahmegerät abgeschaltet werden. Eine Zäsur. Dann setzt das Stimmengewirr im Hintergrund wieder ein, diesmal begleitet von Gitarrenmusik. Brinkmanns Stimme beginnt wieder zu sprechen, aber sie tut dies jetzt in einem anderen Rhythmus als zuvor: Die Schwierigkeiten, sich selbst auszudrücken. Die Körperempfindungen auszudrücken, die Schmerzen auszudrücken, den Gefühlszustand auszudrücken, diese verwischten Wörter auszudrücken, diese Gegenwart auszudrücken jetzt in diesem Moment, in diesem Zimmer, mitten unter diesen Leuten, mitten unter diesen Dingen, überall Dinge, überall Dinge. Zwischen den Dingen bewegen sich Leute. Die Dinge sind vorprogrammiert,

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Archivdaten des WDR listen im Zusammenhang mit der Sendung Die Wörter sind böse neben »Textlesung« auch »Gedichtrezitation« als für die Sendung typische Inhalte auf. (Für die Bereitstellung dieser Daten danke ich Leslie Rosin.) Rolf Dieter Brinkmann: Maleen ist reingekommen. In: Brinkmann: Wörter Sex Schnitt, CD grün, Track 4, 00:00–00:32 Min. (Übrigens ließen sich alle Tracks nach dem Schema gebundener Sprache transkribieren.)

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die Gefühle, die Empfindungen, die Luft, die Gegenstände, die Dinge, die Dinge, die Dinge, die Dinge, die Dinge …53

Spätestens mit der verhallenden Wiederholung der ›Dinge, Dinge, Dinge …‹ fängt die Stimme fast zu singen an. Während sich der akustische Hintergrund von der im Vordergrund vernehmlichen Artikulation des Sprechers deutlich abhebt, während also das, was er sagt, im Gegensatz zu dem tendenziell diffusen Hintergrundrauschen nachvollzogen werden kann, insistiert die Aussage auf der Schwierigkeit, sich »mitten unter diesen Leuten / mitten unter diesen Dingen«, also mitten in dieser Geräuschumgebung, Ausdruck verschaffen zu können. Indem sie auf die Wiederholung der »Dinge« hinausläuft, scheint sie sich selbst als ein ›Ding‹ – vielmehr im Plural – als »Dinge«, zu spiegeln, womit sie zugleich auf den medial-materialen Modus ihres eigenen Ausdrucks Bezug nimmt. Als ›Ding‹ hat der Ausdruck nämlich auch eine Körperlichkeit, zum Beispiel eine mündlich-akustische.54 »Schreiben ist etwas völlig Anderes« lautet das Incipit eines Tracks, das weiterführt in die Formulierung der Differenz: »als sprechen«.55 Mit diesem programmatischen Statement leitet Brinkmann einen Sprechspaziergang ein, in welchem die das Projekt konstituierende Codeunterscheidung zwischen Schrift und Stimme vor allem zu Beginn explizit verhandelt wird, bevor sie im weiteren Verlauf des Stücks von anderen Themen überlagert wird. Der Track beginnt jedoch nicht mit dem genannten Incipit, sondern mit einem Geräusch, welches an Schritte erinnert. Ein Eindruck, der im Zusammenspiel mit der Stimme bestätigt wird, klingt diese doch manchmal etwas atemlos, als spräche Brinkmann tatsächlich im Gehen.56 »Ein atemloses Sprechen.«57 Zudem verweisen etwa vorbeifahrende Autos im Hintergrund oder eine Veränderung der Schrittgeräusche, als beträten die Füße unterschiedlich beschaffene Wege, darauf, dass der Sprecher draußen ist und dass er sich in unaufhörlicher Bewegung befindet. Schreiben ist etwas völlig anderes als Sprechen. Sprechen, dazu gehören Situationen. Beim Schreiben gehört Stille dazu. Und ein langsames Zerlegen von winzigen Augenblicken in die einzelnen Best, in den einzelnen, in die einzelnen Bestandteile. Wenn ich alleine spreche, dann fällt mir meistens nichts ein. Sind andere Leute da, lass ich mich gerne anregen. Grade geht ne Jalousie runter. Ich geh wieder an dem Fenster vorbei. In das ich hineingucken kann. Und hinten hängt eine Geige mit einem Geigenbogen an der Wand. Ringsum, überall vor den Fenstern Blumentöpfe. Überall kleine vieräst, vierkäs, viereckige Kästchen. Dünnes Geäst bei mir drüber.

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Ebd., 00:33–01:36 Min. »Die technisch reproduzierte Stimme kann, in Ablösung vom sichtbaren Körper des Sprechers, gleichsam eine eigene Körperlichkeit annehmen.« Katja Hachenberg: Hörbuch. Überlegungen zu Ästhetik und Medialität akustischer Bücher. In: Der Deutschunterricht. Literatur hören 4 (2004), S. 29–38, hier: S. 31. Rolf Dieter Brinkmann: Schreiben ist etwas völlig Anderes. In: Brinkmann: Wörter Sex Schnitt, CD gelb, Track 1. Olaf Selg spricht in dem Zusammenhang von der »allmähliche[n] Verfertigung der Gedanken beim Gehen«. Selg: »Kein Wort stimmt doch mit dem überein, was tatsächlich passiert«, S. 49. Dieser Satz wird mehrfach auf dem Track »Jetzt fällt draußen gleichmäßig« wiederholt.

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Natalie Binczek Wieder ein Auto. Tatsächlich, Schreiben an der Schreibmaschine ist etwas völlig anderes als Sprechen. Schreiben kann man nur allein. Sprechen macht man mit vielen Leuten.58

Diese Sequenz enthält einige Zäsuren in Form von Pausen, die nicht immer gemäß der syntaktischen Logik einer Sinneinheit, am Ende eines Satzes etwa, gemacht werden, also nicht nur den Regeln der gewohnten Prosodie folgen. Es scheint vielmehr, als wären sie entweder durch die körperliche Anstrengung beim Gehen verursacht worden – Verschnaufpausen – oder aber als Indikatoren für eine Unsicherheit in Bezug auf den Fortlauf einer Aussage lesbar. Wo sich das Sprechen hinbewegt, wird somit als ein unwägbarer, offener Prozess vorgeführt; als eine Improvisation, die gelegentlich ins Stolpern gerät, wie beim mehrmaligen Versuch, die Wortkombination »viereckige Kästchen« zu artikulieren. Lässt sich die Sprechpause nach dem ersten Wort dieses Tracks, nämlich »Schreiben«, noch als bewusste Akzentsetzung deuten, mit welcher einer der zentralen Begriffe der hier entfalteten Überlegungen als bedeutsam markiert wird, so kann dies für das Hinauszögern der Präpositionalbestimmung »an der Wand« im Anschluss an »eine Geige mit einem Geigenbogen« nicht plausibel in Anschlag gebracht werden. Entscheidend ist jedoch in beiden Fällen, dass diese akustischen Markierungen mittels schriftlicher Transkription nicht deckungsgleich wiedergegeben, allenfalls umschrieben werden können. Insofern die in der Vokalisation eines Textes enthaltene Fülle an Informationen59 nicht unmittelbar in das typografische Codesystem übertragen werden kann, wird die Feststellung, ›Schreiben sei tatsächlich etwas völlig anderes als Sprechen‹, bestärkt. Indes fällt auf, dass die technische Speicherung auf den Magnettonbändern das Sprechen durch die somit ermöglichte identische Iterabilität in die Nähe des Schreibens – Phonographie60 – wie auch umgekehrt das Schreiben in die Nähe des Sprechens rückt, etwa dadurch, dass es unter Einbeziehung der Schreibmaschine auch akustisch vernehmbar ist. Insbesondere durch den medientechnischen Einsatz lässt sich die einfache Opposition zwischen Schreiben als einer manuell ausgeführten, nur der visuellen Wahrnehmung zugänglichen Speichertätigkeit und dem Sprechen als einer akustischflüchtigen Mitteilungsform nicht aufrechterhalten. Bemerkenswert ist in dem Stück, dass die das Sprechen begleitenden Schritte beinahe genauso laut klingen wie die Stimme, weshalb sich deren Beziehung kaum nach

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Brinkmann: Schreiben ist etwas völlig Anderes, 00:05–01:50 Min. Meyer-Kalkus hält in diesem Sinne fest, der laute Vortrag leiste »gegenüber dem stummen Lesen in der Regel ein Mehr, insofern er den Text in einen anderen Code und in eine andere Materialität übersetzt, welche graphische Zeichen nie fassen, ja nicht einmal restlos erschöpfend beschreiben oder determinieren können: die Stimme eines Sprechers, die auf eine ganz bestimmte Person, deren Geschlecht, Alter, Herkunft usw. verweist, weiterhin die Dimension von Klang und Rhythmus, also Tempo, Lautstärke, Tonhöhenbewegungen, Akzente, Atmung, Vielstimmigkeit und vokale Gesten des Vortrags.« Reinhart Meyer-Kalkus: Vorlesbarkeit – Zur Lautstilistik narrativer Texte. In: Andreas Blödorn, Daniela Langer und Michael Scheffel (Hg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin 2006, S. 349–379, hier: S. 359. Mit Claas Morgenroths Formulierung: »Sprechen ist Schreiben auf Band«. Claas Morgenroth: Sprechen ist Schreiben auf Band. Rolf Dieter Brinkmanns Tonbandarbeiten. In: Martin Stingelin und Matthias Thiele (Hg.): Portable Media. München 2009, S. 123–147, hier: S. 145.

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der Struktur der Vorder-/Hintergrund-Unterscheidung bestimmen lässt. Die Schritt- und die Sprechfolge bilden vielmehr zwei gleichwertige Klangebenen. In produktionstechnischer Hinsicht erscheint allerdings fraglich, ob beide Tonspuren gleichzeitig aufgezeichnet werden konnten. Das Aufnahmemikrofon hätte nämlich stets in gleicher Entfernung zu den Füßen wie zum Mund des Sprechers gehalten worden müssen. Wahrscheinlicher ist, dass sie nachträglich zusammenmontiert worden sind. Allerdings wäre in diesem Fall nur schwer nachvollziehbar, wie Brinkmann diese Montage ohne Hilfe eines professionellen Tontechnikers und der erforderlichen Schnitttechnik bewerkstelligt haben könnte. Die Kennzeichnung von Wörter Sex Schnitt als »Originaltonaufnahmen« – deren Originalität nicht zuletzt durch den medientechnischen Dilettantismus Brinkmanns authentifiziert wird – bezöge demnach Produktionsverfahren und Beteiligte ein, welche auf der Expertise und technischen Ausstattung der Hörfunkanstalt und damit der heftig kritisierten Massenmedien beruhen bzw. darauf zurückgreifen können. Jedoch selbst wenn Brinkmann diese Aufnahmen ohne eine solche Unterstützung gemacht hätte, bildet schon der basale Umstand, dass ihm vom WDR das Aufnahmegerät zur Verfügung gestellt wurde, eine unabdingbare Voraussetzung seiner Arbeit: Dieser Apparat nämlich ermöglichte erst das als »spoken word. Lesung. Tonbandexperiment« kategorisierte Werk. Zumal in dieser Hinsicht bleibt Brinkmanns »akustischer Nachlass« an die externen Rahmenbedingungen des ›Massenmediums‹ Radio gebunden. Unaufhörlich, obgleich nur im Hintergrund, arbeitet dieser Rahmen an dem Gerahmten, an dem akustischen Werk noch der Audioedition daher mit. So sehr die von Kapfer und Agathos verantwortete Ausgabe die autonome Leistung Brinkmanns hervorhebt, so sehr deutet sie zugleich darauf hin, dass sie durch die Angewiesenheit auf die Medientechnik des WDR in die Rahmenbedingungen der Auftragsproduktion eingebunden bleibt; dass sich das Material seinem Autor Brinkmann deshalb nicht vollständig und in jeder Hinsicht zueignen lässt. Eine weitere Variante der Bearbeitung von Brinkmanns akustischem Nachlass zeigt Harald Bergmanns Film Brinkmanns Zorn (BRD 2006) auf. Der weitgehend von den ›Originalaufnahmen‹ dominierten Tonspur wird hier eine fi ktionale Bildspur synchronisiert, in welcher sich unterschiedliche Aufnahmesituationen als audiovisuell erzählte, in den Alltag des Autors integrierte Geschichten präsentieren. Wo der Protagonist Brinkmann, aber auch alle anderen Filmfiguren sprechen, handelt es sich, wie der Film durch die beharrliche Einbeziehung des Mikrofons und eines portablen Aufnahmegeräts in die Filmszenen kenntlich macht, um akustische Aufzeichnungen. Nicht nur werden die Tondokumente in Bilder umgesetzt, vielmehr handeln auch umgekehrt die Bilder von der Entstehungsgeschichte der akustischen Aufnahmen. Ein ums andere Mal läuft Brinkmann durch Köln, ein ums andere Mal sitzt er in der Wohnung, in seinem Arbeitszimmer und führt mündliche Protokolle, befragt seinen Sohn, seine Frau und speichert alles auf den Magnettonbändern, als wäre jede Aussage vor allem für dieses Projekt bestimmt. Harald Bergmann porträtiert Brinkmann als einen unermüdlich mit seinem akustischen Werk befassten Autor. Aber auch er kappt die Beziehung zu den Rahmenbedingungen, die der WDR gesetzt und ermöglicht hat. Auch er zeigt einen Autor, der sich von jeder ihm von außen auferlegten Verpflichtung und Zweckbindung freizusprechen versucht, was insbesondere durch die Verwendung der bereits zitierten Tonsequenz un-

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terstrichen wird. In seinem Arbeitszimmer, allein, zum Teil stehend, zum Teil hin- und hergehend, spricht der Protagonist hier die Worte: Dennoch macht mir Spaß zu schreiben. Ohne Absicht, ohne ein Ziel. Und ich werde immer vollkommen bedrückt, wenn ich auf ein Ziel, eine Absicht hin schreiben muss. Auf irgendeine Verwertung hin, sei es ein Buch, sei es eine Sendung. Überall, wo Geld hinter steht, dann bekomme ich ein ganz unwilliges, widerwilliges Empfinden gegenüber der Arbeit, die mit dem Schreiben auch verbunden ist.61

Dabei wird die Unmöglichkeit dieser Aussage gerade dadurch, dass das akustische Material Brinkmanns unterschiedliche Werkformen – als Radiofeature, als Hörbuchausgabe und als Spielfilm – angenommen hat, die ihrerseits an unterschiedliche Verwendungs- und Verwertungszwecke geknüpft sind, nachgerade vorgeführt. Einerseits fordert Brinkmann für seine Texte ein, sie von jeder ›Verwertung‹ fernzuhalten. Andererseits bekennt er sich nicht nur zum bezahlten ›Wörterschreiben und -machen‹, mithin zur Auftragsarbeit. Vielmehr werden Teile seiner Texte, hier insbesondere die akustischen, vielfältigen Verwendungs- und Verwertungsweisen unterzogen, wenn das Material unterschiedlich zusammengestellt und unterschiedlichen Deutungszusammenhängen angepasst wird. Aufschlussreich ist, dass das Editionsprojekt Wörter Sex Schnitt und die Verfilmung des Tonmaterials von Bergmann – beide sind etwa zeitgleich erschienen – sich insofern überschneiden, als sie die Genese von Brinkmanns akustischem Œuvre partiell als einen der schriftstellerischen Tätigkeit eines Autors am Schreibtisch analog konzipierten Vorgang nachvollziehen. Wo sonst die Schreibmaschine auf dem Schreibtisch steht, nimmt jetzt das Tonbandgerät Platz. Oder aber: Die Schreibmaschine und das Tonbandgerät stehen auf dem Schreibtisch, nebeneinander (siehe Abb. 2). Gegenüber der Schreibmaschine hat Letzteres allerdings den Vorteil, portabel, das heißt auch draußen und im Gehen einsetzbar zu sein.62 Der Film zeigt Brinkmann bei den Außenaufnahmen weitgehend allein mit dem Tonbandgerät unterwegs. Szenen einer nachträglichen Bearbeitung des gespeicherten Materials fehlen hier. Suggeriert wird vielmehr, jede Aufzeichnung sei mit der Erstaufnahme sogleich schon fertig gewesen. Schließlich wird sie ja unmittelbar, als Tonspur des Films, hörbar gemacht. Das trifft auch auf die Kombination aus Schritten und Sprachsequenzen zu, wird sie doch in Brinkmanns Zorn allein auf die Schilderung der Aufnahmesituation begrenzt, in welcher Brinkmann mit seinem Aufnahmegerät durch die Straßen Kölns läuft und dabei ins Mikrofon spricht (siehe Abb. 3). Keine Postproduktion, obwohl der Film sie selbst praktiziert, nur spontane Aufnahmen. Der akustische Nachlass als Dokument einer unmittelbaren Inskription der Stimme des Autors und seines engsten Umfeldes.

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Brinkmanns Zorn (Harald Bergmann, BRD 2006), 24.20–24.47 Min. – Diese Passage unterscheidet sich in einem Detail von der Hörbuchfassung. Im Film ist nämlich in der folgenden Aufzählung: »Auf irgendeine Verwertung hin, sei es ein Buch, sei es eine Sendung« der Rekurs auf den »Artikel« (»sei es ein Artikel«) gestrichen. Siehe zu diesem Aspekt Morgenroth: Sprechen ist Schreiben auf Band, S. 139ff.

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Abb. 2: Brinkmann am Schreibtisch mit Aufnahmegerät und Schreibmaschine

Abb. 3: Gang durch die Stadt

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Natalie Binczek Schreiben ist etwas völlig anderes als Sprechen. Sprechen, dazu gehören Situationen. Beim Schreiben gehört Stille dazu. […] Tatsächlich, schreiben an der Schreibmaschine ist etwas völlig anderes als sprechen. Schreiben kann man nur allein. Sprechen macht man mit vielen Leuten.

Brinkmann reproduziert hier eine vertraute Typologie, wonach Schreiben als isolierte und das Sprechen als interaktive Tätigkeit bestimmt werden. Zugleich nimmt er diese Gegenüberstellung auch wieder zurück, indem er sie als einen lediglich provisorischen Entwurf einer improvisierten Rede lesbar macht. Wenn er festhält, ›Sprechen kann man nur mit vielen Leuten‹, hat er bereits lange alleine gesprochen und dabei Assoziationsketten gebildet, die Spekulatives mit konkret Beobachtbarem (›Jalousien‹, ›Geige mit Geigenbogen‹, ›Blumentöpfe‹) vernetzen und sich immer weiter von einer systematischen Beantwortung der Frage nach den Differenzen zwischen den beiden Operationen, Sprechen und Schreiben, entfernen; selbst wenn er die Gegenüberstellung nach einer Weile wieder aufgreift und durch die Hinzufügung des Adverbs ›tatsächlich‹ zu bestärken scheint. Erkundet wird vielmehr, in welcher Weise Sprechen situativ funktioniert. Indem der Sprecher während des Gehens spricht bzw. während des Sprechens geht – eine Übertragung dieser Konstellation auf das Schreiben ist kaum möglich –, versetzt er sich in immer neue Situationen, lässt sich aufs Neue ›anregen‹ und begegnet neuen Gelegenheiten. Zumindest diesbezüglich lässt sich Sprechen auch als eine okkasionelle Tätigkeit auffassen. Wie die Schritte in ihrer beständigen Rekurrenz diesen Track strukturieren und rhythmisieren, so auch das wiederkehrende Motiv des Tippens auf der Schreibmaschine insbesondere den letzten Track der Hörbuchedition »Das Telefon ist abgestellt«. In beiden Fällen wird Zeit akustisch als Abfolge variierender Abstände zwischen gleichlautenden, wiederholbaren Messeinheiten organisiert. Ist ›Sprechen tatsächlich etwas völlig anderes als Schreiben‹? Wo Brinkmann sich auf das Schreiben bezieht – und er tut dies nicht nur auf den Tonbändern mit einer geradezu leitmotivischen Konsequenz –, wird es vorrangig im Zusammenhang mit der Schreibmaschine thematisiert.63 Nachdem er zunächst Sprechen von Schreiben unterscheidet, fügt er im erneuten Rückgriff auf diese Unterscheidung die ›Schreibmaschine‹ hinzu: ›Tatsächlich, Schreiben an der Schreibmaschine ist etwas völlig anderes als Sprechen.‹ Vom »Geräusch meiner klappernden Schreibmaschine«64 ist in »Ein unkontrolliertes Nachwort« die Rede. Schreiben bezeichnet demnach eine hörbare Tätigkeit – ›es klappert‹. Es ist insbesondere aber eine mechanische Tätigkeit, die aus den Buchstaben die Züge der jeweils individuellen Handführung vertreibt und

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Dagegen betont das Cover der Hörbuchedition die Handschrift. Sowohl auf dessen Front- als auch auf der Rückseite finden sich die Handschriftabbildungen. Diese sind auch in dem Booklet und auf den einzelnen CD-Hüllen sehr dominant. Die Bezugnahme auf die Schreibmaschine setzt einen anderen Akzent. – Siehe zum Verhältnis zwischen Manuskript und Typoskript in der Editionsphilologie Christoph Hoffmann: Schreibmaschinenhände. Über ›typographologische‹ Komplikationen. In: Davide Guiriato u. a. (Hg.): »Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: Von Eisen«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. München 2005, S. 153–167. Brinkmann: Ein unkontrolliertes Nachwort, S. 327.

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mit ihr die »Suggestion von Leibnähe«65 zerstreut, indem sie sie in standardisierte, aber hörbar gesetzte Zeichen verwandelt.66 Der letzte Track der Audioedition wird vom Geräusch der Schreibmaschine beherrscht, als sollte das Schreiben das letzte ›Wort‹ behalten.67 Hörbar gemacht auf einer CD wird hier der Schreibprozess. Lyrik heute? »spoken word. Lesung. Tonbandexperiment.« Was dabei geschrieben wird, kann jedoch nicht nachvollzogen werden, weil sich die Stimme nicht gegen die Schreibmaschine durchzusetzen vermag. Das Feature Die Wörter sind böse endet übrigens mit einem Ausschnitt aus »A certain kind« von Soft Machine, mit Musik also.

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»Der Autor erscheint durch die Leibnähe suggerierende Handschrift gleichsam restpräsent.« Jörg Döring: New Philology/Textkritik. In: Claudia Benthien und Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Konzepte. Reinbek bei Hamburg 2002, S.196–215, hier: S. 206. McLuhan stellt bei Henry James eine Beziehung zwischen dem Klang der Schreibmaschine und seinem Schreibstil her, dem er interessanterweise etwas »Singendes« bescheinigt: »Mit Henry James war das Maschinenschreiben um 1907 zur allgemeinen Gewohnheit geworden, und sein neuer Stil brachte etwas Freies und Singendes. Seine Sekretärin berichtet, wie er das Diktieren nicht nur leichter fand, sondern auch anregender als handschriftliches Arbeiten […]. Henry James war schließlich so sehr mit dem Klang seiner Schreibmaschine verbunden, daß er auf dem Totenbett nach seiner Remington verlangte und bat, man solle in seiner Nähe auf der Schreibmaschine schreiben.« (Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media. Dresden/ Basel 1994, S. 396.) Siehe dazu auch Friedrich Kittler: Grammophon Film Typewriter. Berlin 1986, S. 314f. Das erste Wort der CD-Edition wird hinausgezögert und mit ihm das für Brinkmann virulente Problem der Abarbeitung an und mit verbaler Sprache. Das Fritz-Mauthner-Problem. Ausprobiert werden stattdessen Mitteilungsformen jenseits der sprachlichen Signifikation. Nonverbale Geräusche, die auf den Sprecher verweisen, als sollte der Aufzeichnung seiner Stimme der Körper wiedererstattet werden. Im weiteren Verlauf kommen auch Schmatzen, Schnaufen oder Urinieren hinzu. Eine der letzten Sequenzen ist aber das fast 1:20 Minuten andauernde Geklapper der Tastenanschläge, das die Stimme des Sprechers unverständlich werden lässt.

Achim Geisenhanslüke

Parasitäres Schreiben Literatur, Pop und Kritik bei Marcel Beyer

1.

Ist Kunst widerständig? Literatur und Medien zwischen Kulturindustrie und affirmativer Ästhetik

»Fun ist ein Stahlbad.«1 Mit dieser und ähnlich apodiktisch formulierten Äußerungen hat Theodor W. Adorno seit dem Erscheinen der Dialektik der Aufklärung dazu beigetragen, eine scharfe Grenze zwischen der Populär- und der Hochkultur zu errichten. In Adornos ästhetischer Theorie schließt ein tendenziell normativer Kulturbegriff all das aus, was entweder Improvisation oder einfach Unterhaltung zu sein scheint. Dazu zählen der Film als neues modernes Massenmedium, aber auch der Jazz oder jene Literatur, die sich nicht mehr zu den Höhen Becketts oder Kafkas aufzuschwingen vermag. Adornos kritische Überlegungen zur Kulturindustrie legen einen ganz anderen Akzent als die seines Freundes Walter Benjamin, der im Rahmen seiner Thesen zur technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks über »die Entwicklungstendenzen der Kunst unter gegenwärtigen Produktionsbedingungen«2 nachdenkt und einen medientheoretischen Umbruch diagnostiziert, der sich an so unterschiedlichen Formen wie Lithografie, Grafik, Fotografie oder Tonfilm festmachen lässt. Benjamins zentrale These, dass die medialen Veränderungen auch zu einem veränderten Kunstbegriff führen, scheint bei Adorno nur ein negatives Echo zu finden, wenn er behauptet, dass ein medial veränderter Kunstbegriff mit dem Verschwinden der Kunst als integralem Bestandteil der Hochkultur einhergehe. »Kultur heute schlägt alles mit Ähnlichkeit. Film, Radio, Magazine machen ein System aus.«3 Mit der Ähnlichkeit rekurriert Adorno zwar wiederum auf einen von Benjamin besetzten Begriff, dies aber vor allem, um diesem im Hinblick auf die Unterhaltungsindustrie eine kritische Pointe abzugewinnen, indem er den »Sieg der technologischen Vernunft über die Wahrheit«4 und »die falsche Identität von Allgemeinem und Besonderem«5 anprangert. Wo sich mit Hegel in der Kunst unter

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Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 1988, S. 149. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: W. B.: Gesammelte Schriften I. Hg. v. Rolf Tiedemann und Wolfgang Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1980, S. 435. Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 128. Ebd., S. 148. Ebd., S. 128.

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der Chiffre ›ästhetische Sublimierung‹6 die Freiheit zum Objekt verstehen lasse, unterstelle die Kulturindustrie dem ästhetischen Verhältnis von Subjekt und Objekt einen Zwang, der auf den Warencharakter der modernen Kunst zurückzuführen sei und ein affirmatives Bewusstsein hervorbringe: »Vergnügtsein heißt Einverstandensein.«7 Mit dieser und vergleichbar eingängigen Formeln hat Adorno ein kritisches Bild der Populärkultur geprägt, ohne freilich in ausreichendem Maße darauf zu reflektieren, dass die einprägsamen Formulierungen aus seiner Feder selbst den Charakter von populären Slogans gewinnen. Es soll vor diesem Hintergrund jedoch nicht darum gehen, Adornos Überlegungen zur Kulturindustrie Normativität und Antiquiertheit vorzuwerfen. Postmoderne Theorien wie Jean-François Lyotards Essays zu einer affirmativen Ästhetik8 oder Deleuze/Guattaris poppige Bestimmung »RHIZOMATIK = POP-ANALYSE«9 haben schon in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts dazu beigetragen, die Trennung von Populär- und Hochkultur aufzuheben, die für Adorno noch selbstverständlich war. Was beide aber, Adorno und die postmoderne Ästhetik, trotz ihrer offenkundigen Differenzen miteinander verbindet, ist die Frage nach dem kritischen Potenzial der Kunst, nach dem, was Jacques Rancière die Frage nach der Widerständigkeit der Kunst genannt hat: »Warum haben wir es nötig, die Kunst zugleich als eine Kraft der Autonomie, der Selbsterhaltung zu denken und als Kraft, die hinausführt und die Transformation ihrer selbst betreibt?«10 In Frage steht, was schon Adorno unter dem »Doppelcharakter der Kunst als autonom und fait social«11 zwischen den beiden Polen von Affi rmation und Widerstand gefasst hat. Nach der einmal erfolgten Aufhebung der strikten Trennung von Populärund Hochkultur sollte allerdings klar sein, dass diese Frage sich nur im Rahmen eines erweiterten Kunst- und Medienverständnisses stellen lässt, wie es sich seit geraumer Zeit in der Literatur der Gegenwart durchgesetzt hat, namentlich bei Thomas Kling und seinem Statement über das postmoderne Gedicht als Sprachinstallation: »Die Einbeziehung aller existierenden Medien ist gefragt.«12 Schon bei Thomas Kling ging dieser offensive Umgang mit Medien keineswegs mit der Aufgabe eines kritischen Begriffes der Kunst einher, sondern vielmehr mit einer geschichtsbewussten Spracharchäologie, die ihn zu Jean Paul und Paul Celan zurückführte.13 Das gilt, unter ähnlichen Voraussetzungen, auch für den von Thomas Kling früh geförderten Lyriker und Erzähler Marcel Beyer, in dessen Werk sich ein an Michel Leiris, Claude Simon, Friederike Mayröcker und eben auch an Thomas Kling geschultes avantgardistisches Schreiben und die Einbeziehung von Medien wie Funk (Verklirrter Herbst), Schallplatte (Flughunde), Fotoalbum (Spi-

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Zum Begriff der Sublimierung bei Adorno vgl. Eckart Goebel: Sublimierung der Natur. Theodor W. Adorno. In: E. G.: Jenseits des Unbehagens. ›Sublimierung‹ von Goethe bis Lacan. Bielefeld 2009, S. 211–243. Horkheimer und Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 153. Vgl. Jean-François Lyotard: Essay zu einer affirmativen Ästhetik. Berlin 1982. Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus. Berlin 1997, S. 40. Jacques Rancière: Ist Kunst widerständig? Berlin 2008, S. 9. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main 1973, S. 16. Thomas Kling: Itinerar. Frankfurt am Main 1997, S. 15. Vgl. ebd., S. 28.

Parasitäres Schreiben

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one) und Fernsehen (Der westdeutsche Tierfilm, Kaltenburg) auf signifikante Art und Weise miteinander verschränken.14 Im Folgenden geht es darum, anhand verschiedener Texte von Marcel Beyer aus unterschiedlichen Werkphasen jener Verknüpfung von Hoch- und Populärkultur nachzugehen, die die Postmoderne kennzeichnet, um zugleich eine Antwort auf die von Adorno wie von Rancière auf unterschiedlichen Grundlagen gestellte Frage nach der Widerständigkeit der Kunst im Zeichen der Herrschaft einer technologischen Vernunft zu finden. Wie geht derjenige Teil der Gegenwartsliteratur, der auf einem spezifisch modernen kritischen Sprach- und Geschichtsbewusstsein besteht, mit den scheinbar affirmativen Ausprägungen der populären Kultur um, und wie schreibt sich ein kritischer Impetus, der den veränderten medialen Bedingungen der Postmoderne Rechnung trägt, in das soziale Feld der Gegenwartsliteratur ein? Um diese Frage wenn nicht zu beantworten, so aber zumindest auf angemessene Weise stellen zu können, beziehen sich die folgenden Analysen auf Marcel Beyer als einen der profi liertesten Vertreter einer jungen, im Literaturbetrieb inzwischen fest installierten Generation von Schriftstellern. Das Augenmerk richtet sich zunächst auf seinen Erstlingsroman Menschenfleisch aus dem Jahre 1991, in einem zweiten Schritt auf die Rezeption Gottfried Benns in dem 1997 erschienenen Gedichtband Falsches Futter und schließlich auf den jüngsten Roman Kaltenburg von 2008.

2.

Pop-Romane? Zur Kultur der Gegenwart

Dass die Trennung von Populär- und Hochkultur, von der die Kritische Theorie ausging, längst aufgehoben ist, kann nicht nur der Blick auf jüngere Entwicklungen in der Literatur verdeutlichen. Populäre Fernsehserien wie Dr. House sind gespickt mit literarischen, filmischen und musikalischen Verweisen, ihr Plot darüber hinaus an der Folie des nicht zuletzt von Siegfried Kracauer untersuchten Detektivromans in der Prägung durch Arthur Conan Doyle entwickelt. Am anderen Ende der Skala der Verschränkung von Populär- und Hochkultur stehen preisgekrönte Romane wie Jonathan Littells Les bienveillantes, in dem die Geschichte des nationalsozialistischen Kriegsverbrechers Max Aue geradezu ostentativ an der Orestie und dem Modell der griechischen Tragödie ausgerichtet ist, ebenso offensichtlich aber Erzeugnisse der Populärkultur wie James-Bond-Filme oder die Tintin-Comics15 einbezogen werden. Littells Roman ist in diesem Zusammenhang insbesondere deswegen ein aufschlussreiches Beispiel, weil das politisch brisante Thema des Nationalsozialismus und der Judenvernichtung, das Les bienveillantes in ebenso schockartigen und gewaltgesättigten wie durch Comics und

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Zu Beyer und den Medien vgl. etwa Ulrich Baer: ›Learning to Speak Like a Victim‹. Media and Authenticity in Marcel Beyer’s Flughunde. In: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 2 (2003). Hg. v. Paul Michael Lützeler und Stephan K. Schindler, S. 245–261. Vgl. Martin von Koppenfels: Captatio Malevolentiae. Infame Ich-Erzähler bei Céline und Jonathan Littell. In: Wissenschaftskolleg zu Berlin. Institut for Advanced Study: Verleihung des Anna Krüger Preises an Martin von Koppenfels am 18. Februar 2009. Berlin 2009, S. 14–29, hier: S. 21.

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Achim Geisenhanslüke

Filme geprägten Bildern vor Augen führt, gerade in Deutschland unweigerlich zu der kritischen Frage führte, ob eine derartige Darstellung von Kriegsverbrechen überhaupt akzeptabel sei – selbst unter den Voraussetzungen der Hybridisierung von Populär- und Hochkultur scheint es Grenzen zu geben, die nicht aus dem autonomen Charakter der Kunst allein ableitbar sind. Dass Marcel Beyer ein anderes Beispiel für die Grenzüberschreitung zwischen Populär- und Hochkultur als Jonathan Littell abgibt, scheint nicht zuletzt anhand der weithin positiven Rezeption seines Romans Flughunde aus dem Jahr 1995 in der Literaturkritik wie der Öffentlichkeit evident. In seinem äußerst erfolgreichen Roman verknüpft Marcel Beyer im Rahmen dessen, was Michael Braun den ambitionierten Versuch genannt hat, »eine Archäologie des 20. Jahrhunderts zu schreiben«,16 die kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus mit medientheoretischen Überlegungen, die neben Friedrich A. Kittler vor allem dem von Helmut Kreuzer, Karl Riha und anderen geprägten medienerfahrenen Geist der Siegener Universität geschuldet zu sein scheinen, an der Beyer Germanistik, Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft studierte. Die langjährige Mitarbeit an dem Musikmagazin Spex hat das Ihre zu dem Eindruck einer besonderen Nähe von Marcel Beyer zur Populärkultur und insbesondere zur Musik beigetragen.17 Beyer scheint in diesem Zusammenhang im Hinblick auf Flughunde wie seine späteren Romane ein seltenes Beispiel nicht nur für die Hybridisierung, sondern auch für die gelungene Synthese von Populär- und Hochkultur im Zeichen einer »Poetik der Fiktionalisierung der Geschichte«18 abzugeben, der zufolge ein im weitesten Sinne avantgardistischer literarischer Anspruch die Einbeziehung von Medien und Populärkultur im Sinne Thomas Klings eben nicht ausschließt, sondern in das eigene Schreiben von Beginn an einbezieht.19

3.

Lieder der Eifersucht: Das Menschenfleisch

Dass nicht nur die klassische Literatur der Moderne, sondern auch die populäre Kultur für Marcel Beyers Romane eine große Bedeutung hat, zeigen bereits seine frühen Texte. So enthält Marcel Beyers erster Roman Das Menschenfleisch im Anhang ein Glossarium, in dem der Autor Texte, Filme und Musik nennt, die in den Roman eingeflossen sind. Die Liste reicht von Antonin Artaud bis zu den Einstürzenden Neubauten und

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Michael Braun: Marcel Beyer. In: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur (KLG), S. 10. Zu Marcel Beyers Auffassung von Musik vgl. das Interview mit Birgit Dölling: Nirgends haben Sie so viel Geschichtsschrott im Nacken. Marcel Beyer über erträumte Freiheit, europäische Prägung und die Furcht vor dem Kunstlied. In: Lose Blätter 36. Berlin 2006, S. 1076–1085. Braun: Marcel Beyer, S. 13. So berichtet Norbert Hummelt von den ersten gemeinsamen Auftritten mit Marcel Beyer: »[F]olglich mußten wir uns als Avantgardisten erkannt und bestätigt fühlen.« Norbert Hummelt: Marcel Beyer und die Jahre mit ›Postmodern Talking‹. Bericht über das ›einzige Sprechduo der Welt‹. In: Marc-Boris Rode (Hg.): Auskünfte von und über Marcel Beyer. Bamberg 2000, S. 47–56, hier: S. 48.

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François Truffaut.20 Beyer verfährt wie ein typischer DJ der neunziger Jahre, der all die Tracks aufführt, die er für seine Aufnahme gesampelt hat.21 In einer Art Selbstzitat kennzeichnet er diese Form der Textgewinnung als »parasitäres Schreiben«,22 als ein Schreiben, das sich an den Schnittstellen von Gesprächen, Texten, Songs und Filmen bewegt. So lautet der Titel des 13. Kapitels des Buches in Anspielung auf den auch im Glossar aufgeführten Musiker Prince nach einem Titel aus dem damals sehr erfolgreichen Album Sign O’ The Times aus dem Jahre 1987 einfach »If I Was Your Girlfriend«. Die Vorgabe von Prince, die das Inhaltsverzeichnis unter »Wir wären zwei Freundinnen und sie erzählte mir von einem Mann. Was könnte ich tun?« zusammenfasst, wird von Beyer als eine Vorlage begriffen, die es ihm erlaubt, jenes parasitäre Schreiben zu entfalten, das den Roman insgesamt bestimmt: If I WAS YOUR GILRFRIEND WOULD U REMEMBER TELL ME ALL THE THINGS U FORGOT WHEN I WAS YOUR MAN? IF I WAS YOUR BEST FRIEND WOULD U LET ME TAKE CARE OF U AND DO ALL THE THINGS THAT ONLY A BEST FRIEND CAN IF I WAS YOUR GIRLFRIEND WOULD U LET ME DRESS U I MEAN, HELP U PICK UP YOUR CLOTHES BEFORE WE GO OUT NOT THAT YOU’re HELPLESS; BUT SOMETIMES; THOSE ARE THE THINGS THAT BEIN’IN LOVE’S ABOUT IF I WAS YOUR OUR ONE AND ONLY FRIEND WOULD U RUN TO ME IF SOMEBODY HURT U EVEN IF THAT SOMEBODY WAS ME? SOMETIME I TRIP ON HOW HAPPY WE COULD BE IF I WAS YOUR GIRLFRIEND WOULD U LET ME WASH YOUR HAIR COULD I MAKE YOU BREAKFAST SOMETIME OR COULD WE JUST HANG OUT GO 2 THE MOVIES AND CRY TOGETHER 2 ME BABY THAT WOULD BE SO FINE SUGAR DO U KNOW WHAT I’m SAYING 2 U THIS EVENING? MAYBE U THINK I’m Being A LITTLE SELF-CENTERED BUT I WANT 2 BE ALL OF YOUR THINGS U ARE 2 ME SURELY U CAN SEE23

Den Songtext von »If I Was Your Girlfriend«, selbst Teil eines Konzeptalbums, das von Liebe, Eifersucht, Versöhnung und nicht zuletzt von Sex erzählt – der Song endet mit einer erotischen Phantasie des Sängers/Erzählers, die im abgedruckten Text nicht mehr verzeichnet ist, in der er sich vor seiner nackten Freundin auszieht, tanzt, ihr ein Bad macht und sie küsst, »u know down there where it comes« –, nutzt Beyer zu einer Sprachreflexion auf die Eifersucht, von der der Roman aus der Ichperspektive des Erzählers erzählt: Wie, wenn ich ihre Freundin wäre und sie läge da mit geschlossenen Augen, welchen Vornamen trüge ich, hieße ich, hörte auf welchen Namen, hätte ihn angenommen zugewiesen bekommen,

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»Daß der Roman gespickt ist mit Fremdzitaten aus Literatur (von Artaud bis Wittgenstein), Musik (›Einstürzende Neubauten‹ bis Prince) und Film (Hitchcock bis Truffaut) ist sein eigentlich postmoderner Coup: Diese Wendungen, die in einem Glossarium aufgelistet werden, sind dem Textcorpus bis zur Unkenntlichkeit einverleibt und werden so zum integralen Bestandteil seines, des Erzählers, ›Menschenfleischs‹« (ebd., S. 3). »Dabei wird der Rhythmus des Originals erhalten und mit einem zweiten Song durchschossen. Beide Klanggestalten bleiben erhalten, Anspielungen und historische Verweise, literarische Techniken also, fließen in die Popmusik ein.« Thomas E. Schmidt: Erlauschte Vergangenheit. Über den literarischen Stimmensucher Marcel Beyer. In: Thomas Kraft (Hg.): aufgerissen. Zur Literatur der 90er. München/Zürich 2000, S. 145. Marcel Beyer: Das Menschenfleisch. Frankfurt am Main 1991, S. 159. Prince: Sign O’ The Times. Warner Brother Records 1987. Die Schreibung folgt dem Booklet.

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Achim Geisenhanslüke wüßte ihn zu schreiben und zu sprechen, und wie lautete dann ihr Name, wie würde ich sie nennen, K., welches Wort müßte ich aussprechen, damit sie sich zu mir umdrehte, damit sie sich angesprochen fühlte. Doch ich weiß keinen Namen, kein Wort zu sagen, Vorname, unter dem sie erschienen ist.24

Über knapp sieben Seiten variiert Marcel Beyer den Text von Princes Song, zum Teil in direkter Übertragung – »Wenn ich deine Freundin wäre, frage ich sie, würdest du zu mir kommen, falls dich jemand verletzt hätte, selbst wenn dieser jemand ich wäre?«25 –, zum Teil in Improvisationen, die das Thema des Songs aufnehmen, das Feld Liebe, Körperlichkeit und Eifersucht aber zugleich um das Thema der Sprachkritik ergänzen. Im Unterschied zu dem Ich aus »If I Was Your Girlfriend«, das die Sprache selbst- und zielbewusst zur Verführung des weiblichen Gegenübers einsetzt, dieses aus der zunächst bestehenden körperlichen Abwesenheit in eine Form der Anwesenheit hinüberphantasiert, die dann in der körperlichen Vereinigung kulminiert, im Unterschied zu dieser Unterwerfung des weiblichen Körpers unter die Sprache und die erotische Phantasie des Mannes erzählt Marcel Beyer eine Geschichte der Namenlosigkeit, des Vertrauensverlustes und der Sprachlosigkeit: »Mein leicht geöffneter Mund, als wollte ich etwas sagen, dann aber folgt nichts mehr, und ich schließe ihn wieder.«26 Der Text endet entsprechend nicht mehr mit der Bestätigung männlicher Virilität durch die Eroberung der Frau, sondern mit der sprachlichen Auslöschung des Erzählers: Und im Laufe der Nacht würde mein Name gestrichen, der gerade erst erfundene Name gelöscht, der zusammengeklappte Körper ersetzt, in einen anderen Körper verwandelt, da ohnehin aus der Fassung geraten, neu vernetzt die Zellen untereinander, und sie hätte dabei ihre Hände im Spiel gehabt.27

Beyer moduliert in seiner Übertragung von »If I Was Your Girlfriend« nicht nur das Thema von Liebe und Eifersucht im Zeichen seiner Verschränkung in der zeitgenössischen Popmusik. Er nutzt die musikalische Vorlage von Prince zugleich zu einer für die neunziger Jahre kennzeichnenden Verknüpfung des Themenbereichs von Sprache und Körperlichkeit im Zeichen einer kritischen Reflexion, die auch in seinen weiteren Arbeiten von Bedeutung bleiben sollte.

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Ebd., S. 84. Ebd. Ebd., S. 87. Ebd., S. 89f. Über die Sprachlosigkeit notiert Marc-Boris Rode: »Literarisch äußert sie sich in einem aphasischen Sprechen und Schreiben und in der Erfahrung des Erzählers, der Sprache nicht mehr mächtig und deswegen in ein sprachloses Wesen verwandelt zu sein.« Marc-Boris Rode: Hautwörter. Zur Körperlichkeit in Marcel Beyers Das Menschenfleisch. In: M.-B. R. (Hg.): Auskünfte von und über Marcel Beyer, S. 97–107, hier: S. 104.

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4.

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Der Sound der Väter: Marcel Beyer und Gottfried Benn

Dass sich die äußerst sprachbewusste Auseinandersetzung Marcel Beyers mit Vorbildtexten aus den Bereichen der Literatur, der Musik und des Films nicht nur auf die Populärkultur beschränkt, zeigt der Band Falsches Futter aus dem Jahre 1997, eine Sammlung von Gedichten, die zumeist im Kontext der Arbeit an dem Roman Flughunde entstanden sind. So kreisen die ersten Gedichte um die Figur des formbewussten österreichischen Dichters und Nationalsozialisten Josef Weinheber, der im Gedicht als Josef eine gespenstische Präsenz als Widergänger der bedrohlichen Vergangenheit gewinnt: »Am / Nebentisch nickt Josef: Dies ist die / Sprache Gotens und Holunderlins.«28 Der Auftritt von Josef Weinhuber, der in dem Gedicht »Achter Vierter Fünfundzwanzig« mit dem Datum seines Selbstmordes endet, wird in den folgenden Gedichten des Bandes wie etwa »Leni, tiernah« um den von Leni Riefenstahl erweitert. Im Blick auf Josef Weinhuber und Leni Riefenstahl thematisiert Beyer die Verstrickung von Sprache – die »Sprache Gotens und Holunderlins« – und Bildern – »Leni im Finstern«, »Leni mit Feldflasche«, »Leni mit Ölflasche«, »Leni beim Blitzen«, »Leni mit Tropenhelm«, »Leni im Licht« und schließlich »Leni beim Züchten, tiernah«29 – mit dem Ende und dem gespenstischen Weiterleben des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit. Unter der Oberfläche der Bilder von Leni Riefenstahl in Afrika sucht Beyer nach Spuren der Geschichte, die die Filmemacherin in ihrem Schaffen nach dem Krieg gerade zu verwischen suchte. Zugleich setzt sich Beyer auf ambitionierte Art und Weise mit Vorbildern aus der Tradition der Klassischen Moderne auseinander, insbesondere mit Georg Trakl und Gottfried Benn. So ist das Gedicht »Verklirrter Herbst«, wie schon Jörg Drews in einer Laudatio auf Marcel Beyer vermerkt hat, als »eine Art Palinodie, ein Gegen-Gesang zu Georg Trakls Gedicht«30 »Der Herbst« im Zeichen der Funktechnik zu verstehen.31 Der Schluss des Gedichtbandes steht jedoch ganz im Zeichen Gottfried Benns. Bereits in dem Gedicht »Retina, Nachkriegsmodell« rekurriert Beyer auf den typischen BennSound der fünfziger Jahre. Das letzte Gedicht des Bandes mit dem Titel »Nur zwei Koffer« gibt sich leicht als Palinodie von Benns berühmtem »Nur zwei Dinge« zu erkennen: Nur zwei Dinge Durch so viel Formen geschritten, durch Ich und Wir und Du, doch alles blieb stets erlitten durch die ewige Frage: wozu? Das ist eine Kinderfrage. Dir wurde erst spät bewußt,

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Marcel Beyer: Falsches Futter. Frankfurt am Main 1997, S. 12. Ebd., S. 39. Jörg Drews: Laudatio auf Marcel Beyer. In: Bayrische Akademie der schönen Künste. Jahrbuch 13. Bd. 2. München 1999, S. 847–853, hier: S. 850. Zur Aufnahme der Funktechnik im Gedicht vgl. Tobias Lehmkuhl: »Die Technik strukturiert das gesamte Gedicht und prägt den Titel.« Tobias Lehmkuhl: Marcel Beyers Trakl-Übersetzung. In: ndl. Neue deutsche literatur (2004) 2, S. 135–140, hier: S. 136.

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Achim Geisenhanslüke es gibt nur eines: ertrage – ob Sinn, ob Sucht, ob Sage – dein fernbestimmtes: Du mußt. Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich.32

Benns Gedicht erfährt bei Marcel Beyer eine lockere Variation, die den pathetischen Gestus von »Nur zwei Dinge« aufnimmt und zugleich ironisch unterläuft: Nur zwei Koffer Was dort im Koffer liegt, sagst du, ist allein mir bekannt: doch kein leichtes Rasierzeug, die Borsten gelockert von Hand. Ein anderer, brüchige Riemen, auch sein Inhalt ungenannt, die Seife, die Klingen schienen – aus Wien, Berlin aus Kassel – uns miteinander verwandt. Es bleiben nur die zwei Koffer, Rasurfehler hier, und du: ich stelle die Kinderfrage ebenso lautlos. Wozu.33

»Er macht gern mit der Sprache rum«,34 lautet der ironische Kommentar von Thomas Kling zu Marcel Beyers Gedichten. Wie seine Variation von »Nur zwei Dinge« zeigt, nimmt das Beyer’sche ›Mit der Sprache Herummachen‹ zwar den Duktus Benns auf, verändert ihn aber zugleich, wie schon Jörg Drews vermerkt: »[D]as Melodiöse, Schluchzende wird Benn entzogen«.35 Beyers Adaptation zeugt von einem ebenso souveränen wie ironischen Umgang mit der Tradition der Moderne und zugleich von der kritischen Auseinandersetzung mit dem, was Helmut Lethen mit Blick auf Gottfried Benn – eher unkritisch – den »Sound der Väter« genannt hat.36 Beyer macht damit nicht nur deutlich, dass Benns Gedichte in ihrer kunstvollen Einfachheit selbst wie Songs angelegt sind. Bewusst trivialisiert er den erhabenen Sprachgestus Benns, um ihn geradezu zum Bestandteil der populären Kultur der Nachkriegszeit zu machen. Die Transformation von »Nur zwei Dinge« hebt die Trennung von Populär- und Hochkultur auf, indem sie Benn scheinbar bestätigt und im Rahmen des parasitären Schreibens, dem sich Beyer verpflichtet, zugleich travestiert und subvertiert. In dieser ironischen Unterschreitung des Erhabenen, von der die Transformation des Benn’schen Pathos in die Ironie Marcel Beyers zeugt, wird zugleich die geschichtskritische Stoßrichtung von Beyers parasitärem Schreiben deutlich, die auch die Menschenfleisch nachfolgenden Romane Flughunde, Spione und Kaltenburg bestimmt.

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Gottfried Benn: Nur zwei Dinge. In: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. In Verb. m. Ilse Benn hg. v. Gerhard Schuster. Bd. 1. Gedichte 1. Stuttgart 1986, S. 320. Beyer: Falsches Futter, S. 79. Thomas Kling: Das kommende Blau. Über Marcel Beyer. In: T. K.: Botenstoffe. Köln 2001, S. 201. Drews: Laudatio auf Marcel Beyer, S. 851. Vgl. Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit. Berlin 2006.

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Stimmen der Angst: Kaltenburg

Der selbst- und sprachbewussten Vermischung von Hoch- und Populärkultur ist Marcel Beyer auch in seinem jüngsten Roman Kaltenburg treu geblieben. In ihm nimmt er eine Perspektive auf, die bereits Flughunde und Spione entfaltet haben: eine geschichtliche Spurensuche, die ein kritisches Bild des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit entwickelt, indem sie sich an den materialen Trägern der Erinnerung orientiert. In Flughunde sind das die Tonaufzeichnungen von Hermann Karnau, in Spione ein Fotoalbum mit Bilden der Großeltern des Erzählers aus den dreißiger Jahren. In beiden Romanen geht es um die blinden Stellen in der Erinnerungsarbeit, in Flughunde um die Stille auf der Platte, die den Tod der Goebbelskinder im Führerbunker anzeigt und zugleich die beunruhigende Frage nach Schuld und Weiterleben Karnaus stellt, in Spione um die fehlenden Fotos der Großmutter und die verschwiegene Beteiligung des Großvaters an der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg. Auf eine geschichtliche Spurensuche begibt sich Marcel Beyer auch in Kaltenburg. Allerdings sind die narrativen Voraussetzungen des Romans im Vergleich zu den früheren Texten komplexer geworden. Auf der einen Seite leitet Beyer das Thema der Erinnerungsarbeit, das seinen Roman bestimmt, ganz aus dem Kanon der Hochkultur her. »Ach, bloß ein kleiner Vogel – der hat keinen besonderen Namen.« So lautet das dem Buch vorangestellte Motto, das Vladimir Nabokovs Autobiografie Erinnerung, sprich entnommen ist und als paratextueller Verweis zugleich eines der zentralen Themen des Romans, den Zusammenhang von Vogelkunde und Erinnerung anspricht. Die Referenz auf Nabokov erweitert der Roman um explizite wie implizite Verweise auf die großen Erinnerungsromane der Moderne von Marcel Proust und Claude Simon. Die Frage nach dem Zusammenhang von Erinnerung, Geschichte und Sprache erscheint in Kaltenburg, etwa im Rahmen der im Roman geführten Diskussionen um die Übersetzungen Prousts, als eines der Grundthemen von Beyers parasitärem Schreiben. Sie gewinnt eine besondere Präsenz in der literarischen Darstellung der Dresdener Bombennacht vom 13. Februar 1945, die zugleich auf W. G. Sebalds Forderung nach einem anderen Umgang mit Geschichte und Luftkrieg reagiert. Im Rahmen der von Sebald in Luftkrieg und Literatur angedeuteten Erzählform einer »Naturgeschichte der Zerstörung«37 entfaltet Beyer das Bild einer in der Bombennacht getroffenen Splittereiche als Allegorie von Geschichte sowie der individuellen Erinnerungsarbeit des Erzählers Hermann Funk: »An der Splittereiche habe ich die Erinnerung, habe ich meine Eltern vor mir.«38 Wie in Claude Simons Roman Die Akazie wird der Baum zum Träger geschichtlicher Signaturen, die den Erzähler im Fall von Kaltenburg in die Kindheit, zum traumatischen Verlust der Eltern in der Dresdner Bombennacht und zu seiner späteren Arbeit als Ornithologe am Dresdner Institut zurückführt. Auf der anderen Seite orientiert sich Beyers Versuch einer kritischen Zeitgeschichte in Weiterführung der narrativen Vorgaben von Flughunde und Spione wiederum an

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W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Frankfurt am Main 2001, S. 40f. Marcel Beyer: Kaltenburg. Frankfurt am Main 2008, S. 34.

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historischen Figuren, denen in der Nachkriegszeit eine besondere mediale Präsenz zukommt: an Konrad Lorenz, der das Vorbild für die titelgebende Figur Kaltenburg darstellt, sowie an Heinz Sielmann und Joseph Beuys, die im Roman unter den Namen Knut Sieverding und Martin Spengler auftreten. Wie in seinen früheren Romanen thematisiert Beyer, etwa am Beispiel der Karriere des Tierfilmers Knut Sieverding, die Verstrickung der Figuren in die von ihnen geschaffenen Sprachen und Bilder: »In keinem seiner Filme tritt er selbst auf«,39 stellt der Erzähler fest, um zugleich die Frage zu stellen, was sich hinter den Bildern verbirgt, die dem Betrachter gezeigt werden. Zum Leitmotiv der Erinnerungsarbeit, die den Roman bestimmt, werden die schon im Nabokov-Zitat angesprochenen Vögel. Die Übersetzerin Frau Fischer, der der Erzähler elementare Kenntnisse der Vogelkunde zu vermitteln sucht, wird für den Erzähler zu einer Muse der Erinnerung, die ihn zu zwei traumatischen Ereignissen zurückführt, die sein Leben bestimmt haben: dem frühkindlichen Anblick eines Mauerseglers, der sich in das Haus der Eltern verirrt hat, und der Dresdener Bombennacht, in der der Erzähler, der an diesem Tag seine Eltern verliert, durch die Stadt irrt und in einem Park von Vögeln getroffen wird, die als verbrannte Brocken auf ihn herunterregnen: Der nächste Schlag, diesmal am Kopf, Ich rannte los. Ich rannte zwischen den Bäumen und Kratern und dann den Menschen auf der Lichtung umher, doch je länger ich lief, um so verzweifelter erschien mir meine Lage, überall kamen diese verbrannten Brocken herunter, und selbst, wenn ich glaubte, einen Moment lang verschnaufen zu können, unter der umgelegten Wurzel einer großen Eiche, im Schatten einer freistehenden Mauer, hörte ich sie überall um mich herum auf dem Boden aufschlagen, als kämen sie näher, als kreisten mich die tot aus dem Himmel fallenden Vögel ein. Spechte, die aus ihrer Höhle im brennenden Baum entkommen waren. Ein Waldkauz, der auf dem Ansitz vom hereinbrechenden Feuer, vom Flugzeuglärm aus seiner sonst stoischen, an Totenstarre gemahnenden Ruhe gerissen worden war und nun panische Luftbewegungen vollführte, um die Flammen zu löschen, die von der Schwanzdecke her kommend schon an seinen Armschwingen fraßen. Und Ringeltauben, die in die Luft aufstiegen, als das Getöse einsetzte, um Richtung Elbe oder sonstwohin zu fliehen, worauf sie sich bei den ungeheuren Temperaturen auch in höheren Luftschichten mitten im Flug entzündeten. Die vielen Enten, auf der eisfreien Fläche eines Teiches dicht zusammengedrängt, dort, wo sie sich gegen alle Feinde sicher glaubten: Wie hätte ich jetzt Krickente von Löffelente, Pfeifente von Reiherente oder Schellente von Tafelente unterscheiden sollen, da sämtliche Tiere auf dem Wasser brannten.40

Das traumatische Erlebnis der Dresdner Bombennacht verknüpft der Roman auf eine virtuose Art und Weise, die allerdings manche Leser verschreckt hat, mit dem Thema der Vogelkunde, das den Erzähler an seinen Lehrer und Ersatzvater Kaltenburg bindet. Vor dem Hintergrund von Kaltenburgs Hauptwerk, der Urgeschichte der Angst, für Michael Braun »der intratextuelle Kern des Romans«,41 erscheint die Kunst der Klassifizierung der Vögel, die seit Linné auf exakter Beobachtung und Benennung beruht, zugleich als Versuch, die Angst zu bewältigen, die sich im Text in der »Geruchserinnerung«42 an

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Ebd., S. 244. Ebd., S. 93f. Braun: Marcel Beyer, S. 12f. Ebd., S. 109.

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das verbrannte Fleisch der Vögel und dem damit einhergehenden Scheitern ihrer korrekten Benennung zeigt. In Kaltenburg überlagern sich die von Nabokov, Proust und Claude Simon hergeleitete Erinnerungsarbeit, die mediengeschichtliche Aufarbeitung der Sprache und der Bilder, die auf diskontinuierliche Art und Weise Aufschluss über den Erinnerungsort Dresden geben, und die Ornithologie als narrativer Kompass des Romans bis zum Ende des Romans, an dem sich, als Allegorie für Beyers Arbeit an Sprache und Geschichte, »mit den Rabenkrähen, Nebelkrähen, Dohlen riesige Vogelwolken bilden, die über uns pulsieren, an den Rändern ausfransen und sich erneut zu schwarzen Flecken zusammenziehen.«43

6.

High fidelity: Marcel Beyer und das Schreiben der Gegenwart

Den Begriff des parasitären Schreibens hat Marcel Beyer in seinem ersten Roman Das Menschenfleisch gleichsam als Programm seiner schriftstellerischen Arbeit eingeführt, um den Veränderungen Rechnung zu tragen, die das Schreiben der Gegenwart bestimmen. In den Mittelpunkt seiner Arbeit stellt er einen Umgang mit der Sprache, der unmittelbar auf die Moderne zurückführt: Ich beurteile Literatur weniger danach, ob sie mir etwas Außergewöhnliches, etwas Unbekanntes vorführt, als danach, ob ich beim Lesen selbst Dinge, die mir bekannt sind, aufgrund der Sprache, der Darstellungsweise als etwas Unbekanntes, Neues wahrnehme.44

Das Neue und Unbekannte, seit Baudelaires Fleurs du mal und seinem abschließenden Sprung »Au fond de l’Inconnu pour trouver le nouveau!«45 die geschichtliche Signatur der Moderne, gilt Beyer als das Kriterium, dem sich sein Schreiben verpflichtet. Um vor diesem Hintergrund den Ort des Erzählers und Lyrikers Marcel Beyer in der Gegenwartsliteratur zu bestimmen, bieten sich unterschiedliche Zugänge an. Die Aufhebung der Trennung von Hoch- und Populärkultur, so lässt sich in einem ersten Schritt festhalten, verdankt sich bei ihm einer Transformation avantgardistischer Schreibweisen in der Gegenwart. Dazu zählt die von Thomas Kling geforderte selbstverständliche Einbeziehung aller Medien ebenso wie der präzise Umgang mit Wissensformen, die Romanen wie Kaltenburg ein netzförmiges Spiel von Verweisen unterlegen und damit eine narrative Struktur verleihen, die dem Leser einiges abverlangen. Als autonomes Sprachkunstwerk schreiben sich Marcel Beyers Sampel- oder Dubtexte in den geschichtlichen Horizont der Klassischen Moderne ein, lässt sich sein Schreiben, das insbesondere in der Tradition von Claude Simon und dem Nouveau Roman steht, als eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte verstehen. Das unterscheidet Marcel Beyer zugleich von dem landläufigen Verständnis von Popmusik, wie schon Thomas Kling in seiner Würdigung des befreundeten Autors unterstrichen hat: »Beyers Bewegtheit in den

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Ebd., S. 395. Marcel Beyer: Nonfiction. Köln 2003, S. 24. Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal. In: Ch. B.: Œuvres Complètes I. Texte établi, présenté et annoté par C. Pichois. Paris 1975, S. 134.

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Textgängen, die Performance seiner Dichtung: Ausgeburten des Zynismus im Sinn der Generation Golf, die Bewegung mit seifigster Beweglichkeit verwechselt? Kann nicht sein«.46 Mit Blick auf sein von der Musik geprägtes Sprachbewusstsein bezeichnet Kling Beyer als »rythmische[n] Forensiker der Gegenwartsliteratur«47. Werden Beyers komplexe Texte dagegen nicht als autonome Kunstwerke in der Tradition moderner Avantgarden betrachtet, sondern im Sinne von Adornos Rede vom Doppelcharakter der Kunst zwischen Autonomie und fait social, so ergibt sich ein anderes Bild. Im Feld der Gegenwartsliteratur, so lässt sich vor dem Hintergrund der Arbeiten Pierre Bourdieus zusammenfassen,48 besetzt Beyer mit anderen Autoren den Avantgardepol, den er selbst für sein Schreiben in Anspruch nimmt. Die Funktion der Avantgarde im literarischen Feld der Gegenwart hat sich im Vergleich zur Moderne aber signifikant verändert. Kam der Avantgarde in der Moderne die Funktion zu, das literarische Feld zu transformieren, neue Bewegungen einzuführen, die zu Umwälzungen des gesamten Systems führen konnten, so erscheint der Avantgardepol heute nur noch als integraler Bestandteil eines sozialen Feldes, das er aus eigener Kraft nicht mehr zu transformieren vermag. Im Rekurs auf den autonomen Charakter der Kunst kann die Avantgarde-Literatur zwar ihren eigenen Platz verteidigen, dies jedoch allein als Nische im Raum der Gegenwartsliteratur, der es nur in Ausnahmefällen – etwa in Marcel Beyers Flughunde,49 aber nicht mehr in seinen späteren Romanen – gelingt, ästhetische Autonomie mit ökonomischem Erfolg, sozialer Akzeptanz und politischer Relevanz zu verbinden. In diesem Zusammenhang sollte gerade die Frage nach der Funktion der Politik im sozialen Feld der Gegenwartsliteratur nicht zu unterschätzen sein. In eine Integrationsfigur der deutschen Literatur nach der Wende lässt sich der sprach- und geschichtsbewusste wie kritische Geist, den Marcel Beyer verkörpert, offensichtlich nicht leicht verwandeln, obwohl er, symbolisch zwischen Köln und Dresden verortet, gerade dafür einsteht. Die Nobilitierung bestimmter Autorpositionen scheint in keiner Weise mehr von ästhetischen Vorgaben selbst abzuhängen, wie es die Rede von der Autonomie der Literatur in der Moderne suggeriert, sondern vielmehr von ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen, die die Kunst nicht länger außer Kraft zu setzen ver-

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Thomas Kling: Das kommende Blau. Über Marcel Beyer, S. 200. Ebd., S. 201. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Norbert Hummelt: »Mit dem, was heute als ›Popliteratur‹ gehandelt wird, hatte das nicht das Geringste zu tun, und auch der Unterschied zu den ›Poetry Slams‹, die einige Jahre später in Mode kamen, kann größer kaum gedacht werden. Es ging um Literatur, um Dichtung.« Hummelt: Marcel Beyer und die Jahre mit ›Postmodern Talking‹, S. 50. Vgl. Pierre Bourdieu: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Nouvelle edition revue et corrigée. Paris 1998, S. 259–268. Bourdieus Überlegungen zur Avantgarde orientieren sich allerdings eher an der Malerei als an der Literatur. Vgl. Sven Hanuschek, der auf der einen Seite »den pflichtgemäßen, mit Avantgarde-Techniken aufbereiteten Umgang mit Geschichte« in Flughunde diagnostiziert, auf der anderen Seite den Erfolg des Romans auf die Crime-Tradition zurückführt. Sven Hanuschek: »Jeder Zeuge ist ein falscher Zeuge«. Fiktion und Illusion in Marcel Beyers Roman Flughunde. In: Marijan Bobinac, Wolfgang Düsing und Dietmar Goltschnigg (Hg.): Tendenzen im Geschichtsdrama und Geschichtsroman des 20. Jahrhunderts. Zagreb 2004, S. 387–397, hier: S. 394.

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mag. Zwar sprechen die internationalen Auszeichnungen von Elfriede Jelinek und Herta Müller scheinbar eine andere Sprache. Nobilitiert werden in Deutschland aber weiterhin – neben den eigentlich überlebten Galionsfiguren der westdeutschen Nachkriegsliteratur wie Günter Grass oder Martin Walser, die darüber hinaus durch ihre biografisch und politisch fragwürdige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in ihren späten Jahren alles dazu getan haben, ihr scheinbar vom Geist der Gesellschaftskritik bestimmtes früheres Werk zu diskreditieren – vornehmlich Autorfiguren, die weniger für eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte einstehen als vielmehr für das Bild eines national geeinten Gesamtdeutschlands nach der Wende wie Durs Grünbein oder Uwe Tellkamp. Das aber sind politische Entscheidungen, die unmittelbar in das literarische Feld der Gegenwart hineinwirken und die zugleich verraten, dass die horizontale Achse des Wissens immer mit der vertikalen Achse der Macht verbunden ist. In diesem Sinne ist das literarische Feld der Gegenwart zugleich mit Foucault als ein diskursiver Raum zu fassen, der von Dispositiven der Macht bestimmt wird, die nicht nur nicht von der Kunst entworfen, sondern auch nicht mehr erfolgreich von ihr unterlaufen werden können. Kein Gegendiskurs, nirgends, ließe sich resignativ formulieren. Was Marcel Beyers parasitäres Schreiben aber unabhängig von seiner Verortung im literarischen Feld oder Diskurs der Gegenwart zeigt, ist das Fortbestehen einer kritischen Tradition unter veränderten medialen Bedingungen, einer Kritik, deren politische Reichweite begrenzt ist, deren ästhetische Möglichkeiten aber weiter unbegrenzt sind.

Clemens Peck

»Schall und Wahn« Andere Orte der Erinnerung in Peter Handkes Versuch über die Jukebox

Well, I ain’t gonna wander, Like the boy I used to know. He’s a real unluckly fella And he’s got no place to go. Ray Davies

In einem von Herbert Gamper im April 1986 geführten Interview verweist Peter Handke zu Beginn auf den für ihn konstitutiven Zusammenhang von Literatur und Topografie: »Ja, ich bin ein Orts-Schriftsteller, bin das auch immer gewesen. Für mich sind die Orte ja die Räume, die Begrenzungen, die erst die Erlebnisse hervorbringen.«1 Dieses Selbstzeugnis trifft im besonderen Maß auf den vier Jahre später erschienenen Versuch über die Jukebox (1990) zu, in dem Handke die Relation zwischen Raum und Geschichte durchspielt. Anhand der Jukebox – ein idealer Gegenstand, um das von Cézanne übernommene Verfahren der »Bergung der Dinge in Gefahr«2 erneut zu erproben – wird dieses Spiel in die Sphäre der Musik, vor allem der Popmusik übertragen. Noch während der späten achtziger Jahre galt Handke »die Musik an sich« als »Mythologisierung; sie stellt vorschnelle Harmonien her«.3 Ein Notat in Am Felsfenster morgens (1982–1987) kategorisiert Musik sogar als Medium des individuellen Vergessens und des Raumverlusts: »Sie [die Musik, C. P.] nimmt mir den Raum […]. Habe ich mich in der Musik nicht immer wieder (schlecht) vergessen? Statt daß sie mich gemahnt hätte, an das, was ich vergessen habe?«4 Während ex negativo bereits an dieser Passage deutlich wird, dass Handkes ›Orts-Literatur‹ auch spezifisch poetische Erinnerungstechniken beansprucht, die sich »vorschnellen Harmonien« zu entziehen suchen, erscheinen über die Vermittlung der Jukebox auch allgemein Musik und vor allem Popmusik in einem gänzlich

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Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Ein Gespräch, geführt v. Herbert Gamper. Zürich 1987, S. 19f. Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Frankfurt am Main 1980, S. 84. Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg/Wien 1982, S. 10. Die ironische Wendung stellt sich im Nachsatz der zitierten Passage ein: »[A]ber ich mag die Volksmusik (sie ›entspricht‹ mir), mit allen Jauchzern, doch ohne Triller« (ebd.). Peter Handke: Am Felsfenster morgens. Und andere Ortszeiten. Salzburg/Wien 1998, S. 398. Vgl. allgemein zur Musik bei Handke Fabjan Hafner: Peters Musiktruhe oder Handkes Jukebox. Wie ein Schriftsteller Musik hört. In: F. H. u. a. (Hg.): Peter Handke. (ide. Informationen zur Deutschdidaktik 25 (2001), Heft 4) Innsbruck u. a. 2001, S. 62–81, sowie die Sammlung Peter Handke: Über Musik. Mit Illustrationen v. Amina Handke. Hg. u. Nachw. v. Gerhard Melzer. (Libell 4) Graz/Wien 2003.

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neuen Licht: Der seltsam anmutende und seit den 1980er Jahren selbst historisch im Verschwinden begriffene Gegenstand der Jukebox bezeichnet geradezu ein Projekt der »Rückgewinnung des Raumes«,5 das, wie im Folgenden gezeigt werden soll, die Erzählung selbst als populärkulturellen »Erinnerungsraum« (Aleida Assmann) in Szene setzt. Der solchermaßen in den Blick genommenen Jukebox kommt eine Funktion der Vermittlung zu, die sich entlang der Grenze des ästhetischen sowie sozialen high and low präzisieren lässt: Zuallererst bezeichnet der Gegenstand der Jukebox ein Ding der (amerikanischen) Alltagskultur, das eng mit der ›Erfindung‹ der fordistischen leisure time nach dem Ersten Weltkrieg verknüpft ist. Hinzu kommt, dass die Jukebox in ihren zwei typischen Formvarianten – rund im Fall der Wurlitzer-, eckig im Fall der SeeburgJukeboxen – bereits nach dem Zweiten Weltkrieg zum fetischisierten Design-›Klassiker‹ avanciert war, der nicht zufällig kurzfristig in Wechselwirkung mit dem Automobildesign stand. Gleichzeitig verkörpert die Jukebox nicht zuletzt ein Medium, das wiederum (nicht nur, aber vor allem) Popmusik diverser Interpreten vereinigt – ein Durcheinander, das Handke mit dem Wort »Mischmasch«6 beschreibt. Darin liegt auch die ästhetische und ideologische Ambivalenz der Jukebox selbst, die einerseits an der Renitenz von gesellschaftlichen Subkulturen partizipiert – wie schon die Verwendung des vulgären Ausdrucks »juke« (für populäre Musik, obszön anmutenden Tanz und Geschlechtsverkehr) verdeutlicht –, andererseits paradigmatisch für ästhetische, kulturökonomische und politische Nivellierungen in der sogenannten Massenkultur steht. Zwangsläufig drängt sich die Frage auf, wie sich Handkes in der Forschungsliteratur unterschiedlich bewerteter Hang zur »Epiphanie der Dingwelt«7 gegenüber dieser intrikaten Ausgangslage bzw. allgemein zu Kategorien der Ideologie und Geschichte verhält. Denn nicht nur der hohe Ton der Literatur hat sich im erzählerisch angeeigneten »Ding«8 der Jukebox zu bewähren. Gefordert ist der Jukebox-Apparat vor allem dort, wo es um den ›Urmythos‹ der Moderne, also des Nationalstaats und dessen »lieux de mémoire«9 (Pierre Nora), geht, an deren imaginärer Verankerung sich auch die Literatur bekanntermaßen nicht schadlos gehalten hat. Die Jukebox operiert vorerst als Medium jener von Handke noch zuletzt

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Samuel Moser: Das Glück des Erzählens ist das Erzählen des Glücks. Peter Handkes »Versuche«. In: Gerhard Fuchs und Gerhard Melzer (Hg.): Peter Handke. Die Langsamkeit der Welt. Wien/Graz 1993, S. 137–154, hier: S. 144. Peter Handke: Versuch über die Jukebox. Frankfurt am Main 1990, S. 108. Im Folgenden zitiert als VJ. Manfred Durzak: Für mich ist Literatur auch eine Lebenshaltung. Gespräch mit Peter Handke. In: M. D.: Gespräche über den Roman. Frankfurt am Main 1976, S. 314–343, hier: S. 333. Zum Moment der Epiphanie bei Handke vgl. Christoph Bartmann: Suche nach Zusammenhang. Wien 1984, S. 93–201, sowie Wolfram Frietsch: Die Symbolik der Epiphanien in Peter Handkes Texten. Sinzheim 1995. Vgl. Ulrich Schönherr: Die Wiederkehr der Aura im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit. Musik, Literatur und Medien in Peter Handkes »Versuch über die Jukebox«. In: Modern Austrian Literature 33 (2000), Nr. 2, S. 55–72, hier: S. 62. Schönherr spricht von der »narrativen Verwandlung der Jukebox in einen Kultgegenstand mit Kunstcharakter«. Pierre Noras Sammlung französischer »Erinnerungsorte« erschien bei Gallimard von 1984 bis 1992.

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bekräftigten »unsterblichen« Errungenschaften der Popkultur:10 als auratischer Verstärker und Schallkörper des im Text beharrlich beschworenen »Jukebox-Klangs« einerseits, als differenzierender Speicher und Kollektion ›diverser Interpreten‹ andererseits. Ulrich Schönherr hat in seiner Analyse des Versuchs über die Jukebox in Umkehrung von Benjamins Kunstwerk-Aufsatz vor allem auf ersteren Punkt verwiesen: die Rückkehr der Aura im technischen Medium.11 Während man demzufolge von einer Sakralisierung des profanen Mediums sprechen kann, stellt sich die Situation im Fall der Erinnerung und Erinnerungsorte völlig entgegengesetzt als ›Entzauberung‹ der Geschichte dar. Die folgenden Ausführungen orientieren sich an der zwischen diesen beiden Polen entstehenden Spannung, die nicht zuletzt ein Moment verdeutlicht, das für alle drei Versuche als Movens gilt: den Zweifel.12

Der Beat im »Jahr der Geschichte« Als einziger der drei »Versuche« (Versuch über die Müdigkeit [1989], Versuch über den geglückten Tag. Ein Wintertagtraum [1991]) trägt der Versuch über die Jukebox die Gattungsbezeichnung »Erzählung«. Diese Erzählung führt einen Schriftsteller im Dezember des geschichtsträchtigen Jahres 1989 – der Erzähler macht keinen Hehl daraus, dass es sich um eine Flucht vor den Orten dieser Ereignisse handelt13 – in das nordspanische Soria, das »durch seine Lage, fernab der Verkehrswege, seit geradezu einem Jahrtausend fast außerhalb der Geschichte« (VJ, S. 10) liege. Ebendort soll ein essayistischer »Versuch über die Jukebox« verfasst werden, ein Versuch »sich die Bedeutung dieses Dings in den verschiedensten Phasen seines nun schon lang nicht mehr jungen Lebens klarzumachen« (VJ, S. 11). Es geht also auch um eine ›Lebensgeschichte‹, die sich über die Vermittlung des Gegenstands und des Orts konstituieren soll.14 Die Abhängigkeit zwischen

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Vgl. Bernhard Flieher: »Alle Texte sind Ausdruck meines Nicht-Gelingens«. Interview mit Peter Handke. In: Salzburger Nachrichten v. 11. August 2009, S. 10f., hier: S. 10. Vgl. Schönherr: Die Wiederkehr der Aura im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit, S. 55–72. Ähnlich, nur durch den Hinweis auf Marshall McLuhans »Botschaft des Mediums« erweitert, argumentiert Anja Pompe: Pop als poetisches Prinzip. (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 15) Köln u. a. 2009, S. 178–182. Gerade hinsichtlich der Fragestellung nach der Rolle der Jukebox in der Opposition high/low bleiben Pompes Ausführungen allerdings dürftig. Vgl. Moser: Das Glück des Erzählens ist das Erzählen des Glücks, S. 138. Eine Relation zur »Flucht« in Goethes berühmten Eingangsversen des West-Östlichen Divans scheint naheliegend. Mit dem Hinweis auf das »schon lang nicht mehr junge[ ] Leben[ ]« wird der vom Protagonisten geplante Versuch über die Jukebox allerdings bereits zu Beginn vom Untersuchungsgegenstand selbst abgekoppelt, da die Selbstverständlichkeit des Jukebox-Drücken-»Gehens«, die Handke mehrfach mit der nicht unironischen Attitüde des »Jungseins« versehen hat, weit zurück liegt. So führt Handke in einem frühen Gespräch mit Sigrid Löffler und Erhard Stackl aus: »Jungsein, das bedeutet für mich, einsam durch die Straßen gehen, flippern, ein Bier trinken, in der Musicbox eine Platte drücken.« (Peter Handke im Gespräch mit Sigrid Löffler und Erhard Stackl. In: Profil v. 27. April 1973, S. 48ff., hier: S. 49.) Auch gegenüber André Müller kommt Handke 1979 zu einem ähnlichen Befund: »Während wir den Bahndamm entlanggehen, setzt sich der Schlager

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dem Schreibakt und dem Gehen am Schreibort wird durch die (auch diegetische) Grenze zwischen den Gattungen Versuch/Essay und Erzählung zusätzlich verstärkt, um den für Handke zur Konvention einer Museninvokation geronnenen ›Neuanfang‹ zu gewährleisten. Dadurch erweist sich die Frage der Erzählbarkeit von Anfang an als eine Frage des Rhythmus. So hebt auch der erste Gehversuch in Soria an: Eine deutschsprachige [!] Umgebung kam jetzt für ihn nicht mehr in Frage […]. Vielleicht war es ein Zwang, daß er sich solche Fluchten, den Weg zurück, verbot – es durfte nur noch weiter weg über den Kontinent gehen –, und ein Zwang vielleicht auch, daß er, nach einer Zeit des Beanspruchtseins nun ohne Pflichten und Bindungen, meinte, für sein Anschreibengehen, sollte dieses überhaupt eine Berechtigung haben, sich ein jedes Mal regelrecht aussetzen zu müssen, in eine gerade noch zu bewältigende Unwirtlichkeit, in eine auch die tagtäglichen Lebensumstände bedrohende Grenzsituation, mit der Verschärfung, es habe, neben der Sache des Schreibens, zusätzlich eine zweite angegangen zu werden: eine Art Erkundung oder Vermessung des jeweiligen fremden Ortes und ein Sicheinlassen, allein, ohne Lehrer, auf eine Sprache, die zunächst möglichst unbekannt sein mußte. (VJ, S. 23f.)

Am »fremden« (Schreib-)Ort Soria will der ›gewohnte‹ Neuanfang, die räumliche Vermessung und das Erlernen einer »unbekannten« Sprache vorerst nicht gelingen: Fast jeder fremde Ort, der ihm bei seinem Unterwegssein auf den ersten Blick nichtig und abgeschieden vorgekommen war, hatte sich ihm dann beim Kreuz- und Quergehen geheimnisvoll ausgedehnt und als ein Teil der Welt gezeigt […]. Aber Soria, dessen Gassen er sich am Regenabend überließ, weitete sich nicht einmal, als er sich zur Stadt hinaus durch die Finsternis auf den Hügel des ehemaligen Kastells tastete […]. Nichts, so sein Vorurteil, konnte da mehr entdeckt und geschaffen werden. (VJ, S. 35f.)

Hier wird eine Orts- und damit eine Schreibkrise evident, die in ähnlicher Form in einem weiteren ›Nebentext‹ Handkes aus dem Jahr 1990, Noch einmal für Thukydides, auftaucht – kein Zufall, wie gemutmaßt werden darf. Im abschließenden Kapitel jenes dem antiken ›Historiker‹ in der Verbannung gewidmeten Werks »Epopöe vom Verschwinden der Wege oder Eine andere Lehre der Sainte-Victoire« verliert der poetologisch programmatische Wanderer vor der durch Brände verwüsteten Sainte-Victoire buchstäblich den Weg: Dem durch solche Zerstörtheit Irrenden, Stolpernden und manchmal auch schwindlig Dahintorkelnden wurde dann klar, daß er mit dem Brand der Sainte-Victoire einen Weg verloren hatte; Weg: bis dahin für ihn das einzige Ding von Dauer; das einzige, was sich verläßlich wiederholen ließ und in der Wiederholung ein jedes Mal auf neue Weise eine seit je vorhandene, doch, ohne das Gehen auf diesem Weg, vergessene Erkenntnis zeigte. Und es wurde ihm zugleich klar, daß er auch all seine anderen derartigen Wege in den letzten Jahren verloren hatte […].15

Die oben angeführte Passage führt eindrücklich vor Augen, dass Peter Handkes »Poetik der Wiederholung« auch als ein Ringen um eine Poetik der Erinnerung lesbar ist,16

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Ma Baker in Peter Handkes Kopf fest. In einer Kneipe läßt er dann die Musicbox spielen. ›Man wird nicht alt‹, sagt er.« (André Müller: Entblössungen. Interviews. München 1979, S. 266.) Peter Handke: Noch einmal für Thukydides. Salzburg/Wien 1990, S. 37f. Vgl. Angela Oster: The Poetics of Memory as the Poetics of Repetition. Peter Handke’s Aes-

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die sich dem Jukebox-Schriftsteller nun gleich dem »Verschwinden der Wege« auf der Sainte-Victoire in der spanischen Provinz zu entziehen droht. Die Bewegung des epiphanen »Realisierens«17 aus der Lehre der Sainte-Victoire (1980) gerät vor allem unter den gewaltigen Bildern der politischen Wende von 1989 rund um den im Text omnipräsenten Mauerfall ins Stocken, wie schon die Ablehnung einer »deutschsprachigen Umgebung« vermuten lässt. Auch dem Schriftsteller des »Versuchs« bietet sich auf der Reise nach Soria das Bild einer »weglosen Steppe« (VJ, S. 18), eines »Ödland[es]« (VJ, S. 19), einer »Trümmersteppe« (VJ, S. 20), einer »von Steppen und Felswüsten umgebenen […] Stadt« (VJ, S. 27). Entgegen der ersten Charakterisierung als Ort »außerhalb der Geschichte« will sich der Geh-»Rhythmus des Erzählens« im »Jahr der Geschichte« (VJ, S. 26) auch in Soria nicht einstellen. Wenn Handke solcherart den in seinen früheren Werken zu beobachtenden Rückzug aus der Geschichte anno 1989 reflektiert, stehen damit auch bislang fruchtbare Annäherungen an Gegenstände auf dem Spiel: Vielseitige kleine und größere Annäherungen, und zwar, statt in den üblichen Einfang-, in Durchlaß-Formen, waren es, was jetzt, gerade durch seine vollständigsten, innigsten, eine Einheit stiftenden Erfahrungen mit Gegenständen, für ihn bei Büchern der Fall sein sollte: den Abstand wahren; umkreisen; umreißen; umspielen – deiner Sache von den Rändern her den Begleitschutz geben. (VJ, S. 70)

Dieser spielerischen Oszillation wird im historischen wasteland der Kredit aufgekündigt. Stattdessen greift auf der Suche nach gehbaren und beschreibbaren Wegen in der öden Steppenlandschaft Sorias mit dem Epiphaniesignal »auf einmal« ein anderer Rhythmus um sich, der sich gegenüber der umkreisenden Wiederholung durchaus als ›einfach‹ beschreiben lässt, ein Beat: Und nun, auf seinem Wege-Probieren ziellos in der Savanne, setzte in ihm auf einmal ein ganz anderer Rhythmus ein, kein wechselnder sprunghafter, sondern ein einziger, gleichmäßiger, und vor allem einer, der, anstatt zu umzirkeln und zu umspielen, geradlinig und vollkommen ernst in einem fort in medias res ging: der Rhythmus des Erzählens. (VJ, S. 71)

Hinter diesem Szenario des ›einzigen‹ Rhythmus und des On-the-beat-Seins verbirgt sich einerseits das Gegenwartspostulat der Popkultur, das, wie Handke selbst ausgeführt hat, durchaus mit dem klassischen nunc stans zu vergleichen ist.18 Andererseits ist dahinter Handkes auch an Roland Barthes erinnernde fortlaufende Arbeit an einem Erzählverfahren des ›Hier‹ und »des Jetzt« (VJ, S. 42) zu vermuten, das in der Lage ist, »die Gegenwart in der Vergangenheitsform« (VJ, S. 71) zu erzählen und sich bei Handke gegen Ende der 1980er Jahre in zunehmendem Maße als Distanzierung von der ›großen Erzählung‹ des Romans zu erkennen gibt.19 Die »Synchronie von Gehen und Schreiben,

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thetics of Innovation. In: Thomas Wägenbaur (Hg.): The Poetics of Memory. Tübingen 1998, S. 322ff. Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire, S. 102. Flieher: »Alle Texte sind Ausdruck meines Nicht-Gelingens«, S. 3. Vgl. Karl Wagner: »I’m not like everybody else«. Handke und die Weltliteratur (in Auswahl). In: K. W.: Weiter im Blues. Studien und Texte zu Peter Handke. Bonn 2010, S. 206–220, hier: S. 218.

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rhythmisches und metonymisches Prinzip von Handkes Erzählen«,20 führt im Versuch über die Jukebox zu folgender metadiegetischen Konstellation: Durch das »Wahrnehmen in der Erzählform« (VJ, S. 73) verwandelt der Schriftsteller den erst zu schreibenden »Versuch« »noch vor dem ersten geschriebenen Satz in eine Erzählung« (VJ, S. 72), die allerdings immer wieder »ins Stocken« (VJ, S. 75) gerät und im mehrfachen Sinn einer Verstärkung bedarf. So steht auch der »Versuch über die Jukebox« von Beginn an unter dem Verdacht, eine jener »Gelegenheitsarbeiten« (VJ, S. 30) zu sein, »eine seiner inzwischen schon über die Zeit benutzten Ausflüchte«: »Warum wurde er nicht seßhaft, gleich wo? Merkte er nicht, daß sein Unterwegssein oft und oft nur noch ein Herumirren war?« (VJ, S. 31) Das »als göttlich erschienene Erzählen« läuft Gefahr, nur »Ausdruck seiner Angst vor all dem Vereinzelten, Unzusammenhängenden« (VJ, S. 74) zu sein.

Irrfahrten (zwischen) high und low: »Somewhere I lost connections« Obwohl sich also in formaler Hinsicht ein geradliniger Erzählfluss21 durchsetzt, bleibt das Moment des Herumirrens und des »Wege-Ausprobierens« durchaus präsent. Soria erscheint zu Beginn der Erzählung nicht nur als Inbegriff des »Herumirrens«, sondern auch als apokalyptische Miniatur einer von der Geschichte überfrachteten Welt, wie sie später in Handkes Kali (2007) (von einer »Sängerin«) als »[e]ine Hölle ohne Schall und Wahn, / erzählbar von niemandem«22 beklagt werden wird. Im hier anklingenden Macbeth-Monolog, der wiederum William Faulkners von Handke geschätztem Roman The Sound and the Fury (1929) als Motto dient, fällt die Funktion der Erzählung immerhin noch dem »Idioten« zu: To morrow, and to morrow, and to morrow, / Creepes in this petty pace from day to day, / To the last Syllable of Recorded Time: / And all our yesterdayes, haue lighted Fooles / The way to dusty death. Out, out, breefe Candle, / Life’s but a walking shadow, a poore Player, / That struts and frets his houre vpon the stage, / And then is heard no more. It is a Tale / Told by an Ideot, full of Sound and fury / Signifying nothing.23

Diese abwegige Position des Erzählers gegenüber der sich selbst »weitererzählenden« Geschichte ist, gespickt mit Hinweisen auf Shakespeare, auch im Versuch über die Jukebox zu finden, dessen Schriftsteller im Text nebenbei bemerkt an den Jukebox-Orten auch auf »Freigänger aus der Nervenklinik« (VJ, S. 101) trifft: Und jetzt, da die Geschichte als das große Märchen der Welt, der Menschheit, dem Anschein nach Tag für Tag weiterging, sich weitererzählte [!], fortzauberte (oder war es doch bloß eine

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Ebd. Vgl. dazu Blanchots etymologische Herleitung des Begriffs »Rhythmus« sowie den Hinweis auf Hölderlins »Alles ist Rhythmus« in Maurice Blanchot: Die Schrift des Desasters. (Genozid und Gedächtnis 5) München 2005, S. 137. Peter Handke: Kali. Eine Vorwintergeschichte. Frankfurt am Main 2007, S. 87. William Shakespeare: Macbeth. In: W. S.: The Complete Works. Original Spelling Edition. Hg. v. Stanley Wells u. a. Oxford 1986, S. 1101–1128, hier: S. 1126f.

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Abart der alten Gespenstergeschichte?), wollte er hier sich, fernweg, in dieser von Steppen und Felswüsten umgebenen, geschichtstauben Stadt – vor den zwar allüberall da schallenden [!] Fernsehern […] – versuchen an einem so weltfremden Gegenstand wie der Jukebox, einer Sache ›für Weltflüchtlinge‹, wie er sich jetzt sagte; einem bloßen Spielzeug, laut Literatur wohl dem ›der Amerikaner liebsten‹, doch nur für die kurze Zeit jenes ›Samstagfiebers‹, nach dem Ende des Kriegs. Gab es in der Jetztzeit, da jeder neue Tag ein historisches Datum war [!], jemand Lächerlicheren, jemand Verrannteren [!] als gerade ihn? (VJ, S. 27f.)

Angesichts der sich selbst weitererzählenden Geschichtsbilder in den schallenden Fernsehern findet der ›verrannte‹ »Weltflüchtling« Verbündete in der Popmusik. Eher am geografischen wie kulturellen Rand des Great American Songbook, das seine Popularität dem Aufstieg des Radios, der Hollywood-Filmmusik und des Broadway-Musicals während der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre verdankte, haben sich (als Paraphrasen der geradlinigen ›Eroberung des Westens‹) Erzählungen vom Unterwegssein und den damit verbundenen Umwegen und Sackgassen im (N)Irgendwo angesammelt. Die dementsprechenden Erzähl- und Klageweisen des frühen Blues und Folk sowie der frühen Countrymusik finden sich nicht nur in der populären Musik der sechziger Jahre wieder, sondern auch in existenziell radikalisierter Variante in der Beatliteratur, etwa in Jack Kerouacs On the Road (1957), oder in brachial komischer Inversion der Popkultur der 1960er Jahre schließlich in Hunter S. Thompsons Fear and Loathing in Las Vegas (1971). Während auch in Soria ›Angst und Schrecken‹ sowie das »alte[ ], frischerwachte[ ] Grauen vor der Geschichte« (VJ, S. 124) vorherrschen, macht Handke einen anderen ›verrannten Amerikaner‹ zum Gewährsmann für den Raum- und Schreibverlust seines Schriftstellers. Diese Szene wird aus der Erinnerung an eine Jukebox an der äußersten Peripherie bzw. der last frontier Nordamerikas – Anchorage, Alaska – ›gehoben‹: Da im Inneren der Baracke begrüßte einen dann verlässlich, gleich neben der Theke, auf der die Köpfe speichelnder und erbrechender Schläfer (Männer wie Frauen, vor allem Eskimos) ruhten, eine klassisch den Raumschlauch beherrschende Jukebox, mit den entsprechend urwüchsigen Liedern – man konnte etwa darauf zählen, sämtliche Singles der Creedence Clearwater Revival vorzufinden und sogleich durch die Schwaden John Fogertys inständiges finsteres Klagen schneiden zu hören, darüber, daß er auf seiner Sängerirrfahrt ›irgendwo den Zusammenhang‹ verlor […]. (VJ, S. 96f.)

Gemeint ist der Jukebox-Klassiker »Lodi« vom CCR-Album Green River (1969), das Handke bereits im Erscheinungsjahr im Kurzfilm Drei amerikanische LPs (1969) mit einem von Wim Wenders gesprochenen Lob bedacht hat: »[S]ie spielen WIE EIN MANN; die Musicboxen sind für diese Musik erfunden worden. Ihre dritte Langspielplatte ›Green River‹ ist … wie ein störungsfreier Flug über die Alpen: mit einer Düsenmaschine: bei klarem Wetter: zufrieden.«24 Geradliniger kann ein Rhythmus inklusive dessen korporative Gewalt (»WIE EIN MANN«) wohl kaum beschrieben werden. John Fogertys von Handke nun im Versuch frei wiedergegebene dritte Strophe des Songs »Lodi« hat im Original allerdings einen Wortlaut, der die gestanzte Form konterkariert: »The man from the magazine told me I’m on my way. / Somewhere I lost connections, ran out of

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songs to play. / I came into town, a one night stand, / Looks like my plans fell through / Oh! Lord, Stuck in Lodi again.«25 Bei dem Bezug auf CCR handelt es sich weniger um popkulturellen Zierrat als vielmehr um einen Handkes Werkkosmos durchziehenden, ›tiefer liegenden‹ Topos des »verlorenen Zusammenhangs«, ein »spielerisch-geheime[s] Erkennungszeichen für die Lesergemeinde«.26 Wie Fogerty den Refrain der ersten Strophe noch vor dem »verlorenen Zusammenhang« mit den Worten »I guess you know the tune«27 einleitet, so ironisiert auch der Erzähler des Versuchs die Kette der ausweglosen Schreib- und Wahrnehmungskrisen gegenüber dem geübten Leser. Handke folgt dabei der Vorlage von »Lodi«, ein Lied darüber zu singen, dass keine Lieder mehr übrig sind (»ran out of songs to play«). Fogertys »Sängerirrfahrt« beginnt in einem Bus, ebenso wie die Reise des Schriftstellers im Versuch. In einer später im Text beschriebenen Busfahrt nach Logroño lauscht eine Nonne gemeinsam mit dem Protagonisten dem aus den Radioboxen des Busses dröhnenden »Satisfaction« der Rolling Stones (VJ, S. 46f.) – jener (nicht jugendfrei) beklagten libidinösen Flucht vor den vorgefertigten Bildern der Werbeindustrie. Annegret Pelz hat anhand von Der Bildverlust (2002) hervorgehoben, dass Busfahrten mit Ordensschwestern durchs spanische Hinterland bei Handke einer durchaus komischen Referenz verpflichtet sein können: So befindet sich Cervantes’ für den Bildverlust nicht unwesentliche Figur Don Quijote im 52. Kapitel des Romans mit »Pilgern auf der Bußfahrt«.28 Die erste Bußfahrt des »Weltflüchtlings« im Versuch von Burgos nach Soria wird genutzt, um sich der ›Litanei‹ des Complete Identification Guide to the Wurlitzer Jukebox (1984) von Rick Botts zu widmen. Der darin skizzierten Form- und Verwendungsgeschichte der Musicbox – die von Paul Fuller gestaltete Rundbogenvariante »1015« von 1946 wird retrospektiv als »icon of design« gehandelt29 – ist kaum verwunderlich die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben, deren ideologische ›Offenheit‹ der Erzähler anhand der Jukebox nun genüsslich ausbreitet: Zur Zeit des Alkoholverbots im Amerika der zwanziger Jahre wurden in den Hintertür-Wirtshäusern, den ›Speakeasies‹, zum ersten Mal auch Musikautomaten aufgestellt. Unsicher die Herkunft des Wortes ›Jukebox‹, ob von ›Jute‹ oder von dem Verb ›to jook‹, das afrikanischen Ursprungs sein sollte und ›tanzen‹ hieß. Jedenfalls trafen sich seinerzeit die Schwarzen nach der Arbeit auf den Jutefeldern im Süden an den sogenannten ›jute points‹ oder ›juke points‹ und hörten dort aus den Musikautomaten für einen Nickel Billie Holiday, Jelly Roll Morton, Louis Armstrong, welche von den Radiosendern, alle im Besitz der Weißen, nicht gespielt wurden. Das goldene Zeitalter der Jukeboxen habe begonnen mit der Aufhebung des Alkoholverbots in den dreißiger Jahren, als überall Lokale entstanden; sogar in Geschäften wie Tabak- und Friseurläden gab es damals Plattenautomaten, wegen des Platzmangels dort nicht größer als die Kassen, neben diese auf die Theke postiert. Solche Blüte endete, fürs erste, dann mit dem Weltkrieg, als

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John Fogerty: Lodi. http://www.creedence-online.net/lyrics/lodi.php (28. September 2010). Vgl. Wagner: »I’m not like everybody else«, S. 207f. Fogerty: Lodi. Vgl. Annegret Pelz: Peter Handke. Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. In: Klaus Kastberger und Kurt Neumann (Hg.): Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. Erste Lieferung. (Profile 14) Wien 2007, S. 163–172, hier: S. 168f. Vgl. Volker Albus u. a. (Hg.): Icons of Design! The 20th Century. München 2000.

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die Materialien der Jukeboxen, vor allem Plastik und Stahl, rationiert wurden. Holz ersetzte das Metall, und mitten im Krieg dann sei die Produktion völlig umgestellt worden auf Rüstung. So bauten die führenden Jukebox-Hersteller, Wurlitzer und Seeburg, damals Enteisungsanlagen für Flugzeuge und elektromechanische Teile. (VJ, S. 13f.)

Diese alternative Form der Geschichtsschreibung versucht der Schriftsteller schließlich in ein Bild zu bringen, das auch ein Bewusstsein der hochgradig artifiziellen Rolle von Alltagsgegenständen in vergangenen Avantgarden verrät. So schwebt ihm ein »Ausspruch Picassos als ein mögliches Motto« vor: [D]ie Bilder mache man wie die Prinzen ihre Kinder, mit Schäferinnen. Nie bilde man das Pantheon ab, nie male man einen Fauteuil Louis XV., sondern man mache Bilder mit einer Hütte des Midi, mit einem Päckchen Tabak, mit einem alten Stuhl. […] Was hatte ein Ding wie die Jukebox, Plastik, Buntglas, Chromblech, überhaupt zu tun mit einem Stuhl oder einer Feldhütte? – Nichts. – Oder doch etwas? (VJ, S. 31f.)

Die Frage, ob sich die Jukebox dazu eigne, der von Picasso ins Auge gefassten künstlerischen Symbolisierung von ›niederer‹ oder Alltagskultur zu dienen, bejaht die »Erzählung« vorsichtig, allerdings nicht ohne auf die gemachte Illusion aus »Plastik, Buntglas, Chromblech« zu verweisen, die sie vom ›einfachen‹ decorum der Feldhütte unterscheidet. Bereits auf den ersten Seiten des Versuchs kehrt sich damit allerdings auch die ursprüngliche Intention einer ›Flucht vor der Geschichte‹ um zu einer Rückkehr in die Geschichte. Nach der Formgeschichte der Jukebox spielt der Schriftsteller gattungstechnische Möglichkeiten der Darstellung der Jukebox durch: Zuerst denkt er sich den »Versuch über die Jukebox« als einen »Dialog auf der Bühne« (VJ, S. 67), dann als ein »unverbundenes Miteinander vieler verschiedener Schreibformen« (VJ, S. 68), um schließlich mit der Hoffnung zu enden, »seinen ›Versuch‹ ausklingen lassen zu können in eine ›Ballade von der Jukebox‹« (VJ, S. 69). Diese erscheint ihm zufolge nicht nur dem »speziellen Objekt gemäß, sondern auch der Zeit« (VJ, S. 69f.). Der Verweis auf das »zeitgemäße«30 Genre der Ballade erschließt sich erst über den populärkulturellen Zusammenhang: Erstens steht die Ballade gattungsgeschichtlich wie kaum eine literarische Gattung für die Nobilitierung der Volks- und Populärkultur. Zweitens stellt die Ballade selbst einen heterogenen ›Mischmasch‹ aus unterschiedlichen Gattungen dar. Drittens hat sich die Ballade im Gegensatz zur Literatur in der Pop-, Folk- und Rockmusik (auch als fixer Bestandteil der Jukebox-Sammlung) erhalten. Ähnliches lässt sich an einer bereits von Karl Wagner verfolgten (Balladen-)Spur von Shakespeare zu Bob Dylan und vice versa in Handkes Übersetzungsarbeit für die Berliner Schaubühne – Ein Wintermärchen (1991) – zeigen. Auch hier ›sitzt‹ offensichtlich ein Balladensänger ›fest‹. So heißt es bei Shakespeare: »Why, this is a passin merry one and goes to the tune of ›Two maids wooing a

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Handkes Verwendung des »Zeitgemäßen« spielt hier wohl auf Nietzsches Verständnis des »Unzeitgemäßen« an. Vgl. in Bezug auf die Historie Friedrich Nietzsche: Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: F. N.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München u. a. 1988, S. 243–334, hier S. 246f.

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man‹.« Handke ersetzt die von Shakespeare erwähnte Ballade durch »Mitten in Mobile wieder in der Mangel des Memphis Blues«.31 Die Pointe liegt nun darin, dass in Bob Dylans »Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again« – »ein großer Hit!«,32 wie Handkes Autolycus versichert – wiederum Shakespeare ins Verweisspiel kommt:33 »Well, Shakespeare, he’s in the alley / With his pointed shoes and his bells / Speaking to some french girl / Who says she knows me well.«34 Abgesehen von der Rolle Shakespeares als Straßenpoet35 in Dylans Song auf dem Album Blonde on Blonde (1966) kann in der Abschlusszeile »Oh, Mama, can this really be the end? / To be stuck inside of Mobile with this Memphis Blues again«36 auch eine Binnenopposition zwischen high und low im Bereich der Popularmusik selbst festgemacht werden. Bekanntlich war Bob Dylan 1965 von der akustisch orientierten Folkgemeinde wegen seines Wechsels zum elektrifizierten (Memphis-)Blues geächtet worden, der im Gegensatz zur Folkmusik zum Standardrepertoire der Musicboxen zählte. Die Ballade »Mitten in Mobile wieder in der Mangel des Memphis Blues« gehört ebenso wie Dylans andere »Ballad of a Thin Man« dem Bereich des von der Folkmusik als Ausverkauf an die kapitalistische Massenkultur verachteten Rock ’n’ Roll an.37 Dylans berühmte erste elektrifizierte und verstärkte Akkorde am Folkfestival in Newport 1965 lassen sich als Geste beschreiben, die gegen das selbstverständliche ›Eingeweihtsein‹ und die Rituale einer kleinen Gruppe die Ästhetik der neuen Populärmusik stellt und gleichzeitig dem ›anspruchsvollen‹ Ton

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William Shakespeare: Das Wintermärchen. Deutsch v. Peter Handke. Frankfurt am Main 1991, S. 112. Ebd. Vgl. Wagner: »I’m not like everybody else«, S. 213. Bob Dylan: Lyrics 1962–2001. Sämtliche Songtexte. Deutsch v. Gisbert Haefs. 2. Aufl. Hamburg 2004, S. 392. Vgl. Michael Coyle und Debra Rae Cohen: Blonde on Blonde (1966). In: The Cambridge Companion to Bob Dylan. Hg. v. Kevin J. H. Dettmar. (Cambridge Companions to American Culture 4) Cambridge 2009, S. 143–149, hier: S. 146: »The pointed shoes and bells, for all that key evoke the jester or fool, suggest that Dylan means for us to see Shakespeare himself, rather than a modern who simply carries that nickname, but otherwise it functions as Dylan’s claim of fraternity with the Bard, even to the extent of sharing women. This isn’t the Shakespeare of American classrooms, but a poet of the streets, who knows that it’s on those streets and not in parlors that real life and passion are to be found.« Übrigens ist Shakespeare wie kein anderer literarischer ›Klassiker‹ in der sogenannten Massenkultur des 20. Jahrhunderts präsent. Vgl. dazu Richard Burt: Shakespeares after Shakespeare. An Encyclopedia of the Bard in Mass Media and Popular Culture. Westport o. J. Dylan: Lyrics 1962–2001, S. 392. Vgl. dazu Steve Jones: Rock Formation. Music, Technology, and Mass Communication. (Foundations of Popular Culture 3) Newbury Park u. a. 1992, S. 60f.: »Bob Dylan placed himself in an interesting situation at the 1965 Newport Festival when he switched from acoustic to electric guitar, in one stroke (strum) alienating much of his folk audience and proving the political power of sound in popular music. The experience and ideology of folk music were based on the acoustic guitar, an instrument that could be played anywhere and was designed to be heard by a small group of people. The electric guitar carried the image of rock music and amplification intended to increase its reach to a large audience. Dylan’s folk audience was well aware of this and considered his switch to electric guitar a form of selling out.«

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bzw. dem ›Archiv‹ des Folk verpflichtet bleibt. Diese Geste ist durchaus mit Handkes Selbstinszenierung als Autor bei seinem Auftritt vor der Gruppe 47 zu vergleichen.38 Damit lässt sich folgender Schluss ziehen: Geht man in Handkes Werkkosmos auf die Suche nach intertextuellen Verweisen ohne Rücksicht auf deren populärkulturelle Nachbarschaft (Musik, Film, ›Trivialliteratur‹, Sport), wird damit gleichzeitig eine zentrale (oftmals auch ideologiekritische) Schlagseite seiner Poetik übersehen und bestätigt in der automatisierten Rezeptionsweise geradezu eine vom Autor aufgestellte Versuchsanordnung zwischen high und low im negativen Sinn. So erhalten eingespielte Passagen des Hochkulturkanons, einmal den zirkulären Weiheritualen entrissen und im ästhetischen Unterhaltungssumpf gespiegelt, etwas von der ihnen eigenen Renitenz zurück, während Werken der Populärkultur ästhetische Relevanz zugestanden wird: »Dieser blöde Ausdruck von E- und U-Musik. Alles was aus der Tiefe kommt, auch wenn es zugleich wieder oberflächlich wird, wie Pop, hat Schönheit«,39 so Handke noch in einem Interview 2009. Keineswegs gehen mit dieser Gleichung eine Nivellierung intermedialer Hierarchien und die Aufgabe des literarischen Autonomiepostulats einher,40 sonst hätte sich der Kärntner Kleinhäusler-Sohn wohl kaum angeschickt, »Bewohner des Elfenbeinturms« zu werden. Vielmehr ist es in diesem Modell die Aufgabe der Literatur, das Ohr an die Oberfläche des Pop zu legen, um – mit dem von Handke im oben zitierten Interview evozierten Bild gesprochen – den Sound bzw. die Klagen41 aus der »Tiefe« zu hören. Gerade diese Offenheit, so ließe sich die Positionierung des Autors im Feld der »eingeschränkten Produktion«42 (zugegebenermaßen ein Ausdruck, der beim Viel-

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Peter Handke warf dem literarischen Zirkel bei seinem spektakulären Auftritt in Princeton »Beschreibungsimpotenz« vor. Auch Handkes schriftliche Nachbereitung seiner Kritik führt mitten in die hier verhandelten Problemstellungen von Populärkultur und ästhetischem Regime: »Ich habe keine Meinung über die Gruppe gehabt und kann mich deshalb als unbefangen bezeichnen. Ich habe mich gefreut, nach Amerika zu kommen, weil ich bis dahin noch nicht in Amerika gewesen war. Ich habe mich gefreut, endlich nach Oxford in Mississippi zu kommen, wo William Faulkner gelebt hat. Ich habe mich gefreut auf die Beatbands [!], die ich vielleicht dort kennenlernen würde. […] Ich möchte keine Genrebilder von der Tagung geben, sondern nur die Einwände genauer fassen, die ich schon während der Tagung ausgesprochen habe. Man hat mir später gesagt, ich hätte mit einer meiner Äußerungen eine stillschweigende Gruppenregel [!] gebrochen […]. Ich habe in meiner Kritik von einer ›Beschreibungsimpotenz‹ gesprochen.« (Peter Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in USA. In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt am Main 1972, S. 29–34, hier: S. 29.) Flieher: »Alle Texte sind Ausdruck meines Nicht-Gelingens«, S. 10. Zum möglichen Distinktionsgewinn der Literatur durch den Einsatz popkultureller Elemente aus anderen Medien vgl. Norbert Christian Wolf: High and Low. Mediale Dominanzbildungen bei Peter Handke. In: Uta Degner und N. C. W. (Hg.): Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Bielefeld 2010, S. 77–97. Der Erzähler lässt im Versuch mehrmals »klagen«, an prominentester Stelle Jacques Brel mit »Ne me quitte pas«. Das mehrfache Klagen kann als Indiz für die abwesend anwesende Klage aus dem Psalm 130 (Vulgata 129) gelesen werden: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir«. Vgl. zur sakralen Funktion der Klage auch Schönherr: Die Wiederkehr der Aura im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit, S. 63ff. Zur Begrifflichkeit Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 2001, S. 193–207.

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schreiber Peter Handke zumindest vordergründig irritieren muss) literatursoziologisch festmachen, verstärkt deren symbolische Dominanz. In der produktiven Kehrseite dieser Positionierung ist ein »zweifacher Bruch«43 zu finden, durch den sich der Autor die seit den 1950er und 1960er Jahren radikalisierte Opposition zwischen avantgardistischer, sprachreflektorischer und erzählend engagierter Literatur vom Leib zu halten verstand.44 Dazu dient nicht nur die Sphäre der Musik, sondern auch jene des Films: Vor allem die erwähnten Irrfahrten folgen bei Handke immer auch dem Bildapparat amerikanischer Roadmovies, deren prosaische Perspektive auf die Welt sich generisch von John Fords Steinbeck-Verfilmung von Grapes of Wrath (1939) herleiten lässt, in der für das Genre maßgebliche wastelands als Zeichen der großen Depression der dreißiger Jahre dominieren. Die Obsession für dieses Genre zieht sich durch Handkes (frühes) Werk ebenso wie durch jenes seines filmischen partner in crime Wim Wenders.45 Dass nun gerade im Versuch über die Jukebox, in dem das Nebeneinander von ›neuer Geradlinigkeit‹ und Irrweg zum Programm erhoben wird, filmische Techniken zur Anwendung gelangen, ist durchaus konsequent: Der geplante »Versuch über die Jukebox« im Text soll aus »fragmentarischen Filmszenen« bestehen, »in deren Mittelpunkt jeweils eine andere Jukebox« (VJ, S. 96) zu finden ist. Zwischen diesen Szenen erfolgt ein kurzes »Schließen der Augen«, »neuerliches Schließen der Augen« (VJ, S. 75) etc. Damit hat allerdings, wie im Folgenden gezeigt werden soll, längst die literarisch urbar gemachte bzw. ›gerettete‹ Jukebox die Erzähl- und Medienhoheit übernommen.

Oberfläche und Tiefe: »Das Röhren der Jukebox« Während im Versuch nun eine neue Geradlinigkeit und Zielstrebigkeit – »in medias res« – im »Rhythmus des Erzählens« zu finden ist, welche die Gegenwart in der Vergangenheitsform erfahrbar macht, haben sich längst nur über die Jukebox verbundene Analepsen in den Erzählfluss eingeschlichen, die genau der gegenteiligen Richtung folgen: Erinnerte Ereignisse werden gegenwärtig. Dadurch erscheint die Jukebox nicht nur als Gegenstand, sondern auch als Medium der Erinnerung. Der gerade, einfache

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Ebd., S. 127ff. Vgl. zur doppelten Distinktion bzw. zum doppelten Bruch als Voraussetzung einer ästhetischen Autonomie auch Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main 1998, S. 83ff. Vgl. dazu auch die Zuspitzung dieses Modells bei Thomas Becker: Subjektivität als Camouflage. Die Erfindung einer autonomen Wirkungsästhetik in der Lyrik Baudelaires. In: Markus Joch und Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108) Tübingen 2005, S. 159–175. Deshalb ist es meines Erachtens allerdings auch problematisch, Handke mit der Popliteratur der 1990er Jahre in Einklang bringen zu wollen. Vgl. dazu Wolf: High and Low, S. 79ff. Vgl. dazu bei Handke zuletzt Der Bildverlust (2002), vor allem Die Angst des Tormanns vorm Elfmeter (1970) und Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), an dessen Ende sich die beiden Protagonisten auf der Couch des amerikanischen Regisseurs John Ford wiederfinden. Für Wim Wenders: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1972), Paris, Texas (1984), Land of Plenty (2004) und Don’t Come Knocking (2005).

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Rhythmus oder das imaginäre »›Drücken‹-Gehen« (VJ, S. 85) zur Jukebox haben zur Folge, dass die ›gedrückten‹ und lose aneinandergereihten Jukebox-Erinnerungen letztlich tatsächlich Fragmente einer alternativen Lebensgeschichte zeigen und damit intradiegetisch auch der tatsächliche »Versuch« in Gang kommt. Durch die Jukebox werden Orte und Episoden des Lebens ›an der Jukebox‹ aufgerufen – von einer Jukebox-Urszene der Kindheit über ein Café der Studienzeit und der Kantine des Arbeitersportvereins Maxglan in Salzburg, nahe dem Flughafen (damals noch »kein Airport«) bis zu einem Jukebox-Lokal in Jugoslawien etc. Ein Song und ein Sänger werden genannt, die auf ein einheitsstiftendes und geradliniges Moment abseits der unzusammenhängenden Erlebnisse verweisen: So bemerkt der Erzähler, dass dem Schriftsteller das bereits erwähnte »Satisfaction« wie »kaum ein anderes für jenes ›Röhren der Jukebox‹« (VJ, S. 47) steht und ihm »einzig ein ›Sänger‹ in den Sinn [kommt], Van Morrison, dem das ›Röhren der Jukebox für immer‹ gegolten hatte« (VJ, S. 33). Das in der Erzählung immer wiederkehrende »Röhren der Jukebox« verweist darauf, dass die Metanarration des Textes selbst der Mechanik einer Jukebox folgt,46 um »vergessene Erkenntnis« zu vergegenwärtigen bzw. aus der Tiefe zu heben: Erst durch das imaginierte Röhren der »Musiktruhe« (VJ, S. 12) kann die eingangs erwähnte »Rückgewinnung des Raumes« beginnen und der ›Geschichte‹ (von unten) ein besonderer Raum abgetrotzt werden: Dabei bedeuteten die äußere Form der jeweiligen Geräte und sogar die Auswahl fürs erste weniger als der besondere Klang, der davon ausging. Er kam nicht, wie zu Hause beim im Herrgottswinkel stehenden Radio, von oben, sondern aus dem Untergrund, und auch, bei vielleicht gleicher Lautstärke, statt vom üblichen Dudelkasten aus einem den Raum durchvibrierenden Innern. Es war, als sei das kein Automat, vielmehr das Zusatzinstrument, mit welchem die Musik – allerdings so erkannte er erst im nachhinein, nur eine bestimmte – erst ihren Grundton bekam, vergleichbar etwa mit dem Geratter eines Zuges, aus dem bei seiner Fahrt über die Eisenbrücke plötzlich ein urtümliches Donnern wird. (VJ, S. 79f.)

Das epiphane Moment dieser raumgreifenden Eroberung wird dadurch verstärkt, dass sich der Gegenstand der Epiphanie wiederum dem Betrachter realiter entzieht, um stattdessen desto stärker auf seine medialen Bedingungen zu verweisen. So »röhrt« und »donnert« in Soria selbst eben keine Jukebox. Auch in Anlehnung an Edward Hoppers Bilder hat der Schriftsteller eine »Halluzination […] als seien die Dinger da, aber gleichsam weggemalt, ein leerer leuchtender Fleck« (VJ, S. 33); und sogar gegenüber Van Morrison – »mein Sänger (oder einer von ihnen)«47 –, dem das Röhren für immer hätte gelten sollen, muss schließlich konstatiert werden: »[A]ber das [für immer, C. P.], ein Volksmundspruch für ›schon lange her‹, war ›lang aus‹« (VJ, S. 33). Umso spürbarer wird das Röhren der Musikkiste – weitere klangästhetische Ausprägungen im Text sind: »tremolieren, heulen, brüllen, klirren, wummern« (VJ, S. 83) –, das den Raum anders erfahrbar macht, von Handkes Erzähler abseits der Musik eingesetzt: »So viel Raum

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Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen Lutz P. Koepnik: Negotiating Popular Culture. Wenders, Handke, and the Topographies of Cultural Studies. In: The German Quarterly (1996), S. 381–400, hier: S. 394, und Pompe: Peter Handke. Pop als poetisches Prinzip, S. 182. Peter Handke: Versuch über den geglückten Tag. Frankfurt am Main 1991, S. 17.

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war auf einmal« (VJ, S. 137). Jenes »Spielwerk« (VJ, S. 41) erfährt der Jukebox-Schreiber auch tatsächlich analog vor der romanischen Kirche Santo Domingo am eigenen Leib: Von den romanischen Bauten geht ein »Ruck« auf ihn über, »mit dem er auf der Stelle deren Proportionen in sich fühlt[e], in den Schultern, den Hüften, den Sohlen, wie seinen eigentlichen, verborgenen Körper. Ja, Körperlichkeit, das war die Empfindung, mit der er nun so langsam wie möglich, im Bogen, auf diese Kirche zuschritt« (VJ, S. 38). Auch die romanischen Rundbögen, eine Art Jukebox, wirken in diesem Bild als ein Schallkörper und sind dadurch nicht mehr nur bloßes Objekt der Betrachtung, sondern fungieren als Medium der (Selbst-)Wahrnehmung. Gegenüber den folgenden architektonischen Epochenstilen der Gotik und des Barock gilt der romanische Baustil freilich als Inbegriff des ›Einfachen‹ und ›In-sich-Ruhenden‹.48 So betont der Erzähler, dass im röhrenden Sound der Jukebox auch ein Szenario der Kontemplation verborgen liegt: Gefährlich am Musikhören, hatte ihm einmal jemand erzählt, sei dessen Vorgaukeln eines erst noch zu Tuendem als bereits Getanem: Der Jukebox-Klang jener Anfangszeit dagegen ließ ihn sich buchstäblich sammeln, weckte, oder oszillierte, in ihm einzig seine Möglichkeitsbilder und bestärkte ihn darin. (VJ, S. 85f.)

War es in der Lehre der Sainte-Victoire der Tanz, der als zentrale Metapher für Wiederholung und »vergessene Erkenntnis« ins Bild gerückt wurde,49 geht Handkes JukeboxSchriftsteller den entgegengesetzten Weg. Obwohl Bewegung noch immer eine Rolle spielt, zum Beispiel im Rhythmus des »›Drücken‹-Gehens« der Lieder, stellt die Jukebox zuallererst einen »Ort der Sammlung« dar: Obwohl auch in seiner Gegend die Musicboxen ein Treffpunkt für die Samstagnacht-Tänze waren […], wäre ihm selber dergleichen dann nie in den Sinn gekommen. Wohl schaute er gerne den Tanzenden zu, die in der Schummernis der Lokale vor dem massigen, wie aus dem Beton dröhnenden Lichtergestell zu bloßen Umrissen wurden – nur war für ihn eine Jukebox, wie früher die Ackerhütten, ein Ding der Ruhe, oder etwas zum Ruhigwerden, zum Stillesitzen, in ziemlicher Reg- und fast Atemlosigkeit, unterbrochen nur vom gemessenen, geradezu zeremoniellen ›Drücken‹-Gehen. (VJ, S. 84f.)

Der Versuch über die Jukebox unterscheidet im Folgenden zwischen zwei Techniken der theologischen Kontemplation: auf der einen Seite im Typus der »Sich-Sammler«, auf der anderen in dem der »Lasser« oder »Gelassenen«, »die sich untätig einfach dem überließen, was der Gott in ihrer Seele […] anzurichten wünschte […] und so saß sozusagen auch er bei seinen Jukeboxen, nicht um sich zu konzentrieren für das Weitertun, sondern um sich dafür zu lassen« (VJ, S. 99f.). Handke wählt für die beschriebene Dualität der Erinnerung das literaturgeschichtlich mehrfach belastete Bild der Reziprozität des ruhenden Wassers und des Flusses: »Das ganz eigentümliche Röhren« wirkt aus »der Tiefe wie unter vielen lautlosen Schichten« und lässt sich »oft erst mit Lauschen« hören, »ähnlich, so dachte er einmal, wie in William Faulkners Erzählung eben der ›Strom‹ in den horizontweit von ihm überschwemmten Land sich tief unter den stillen,

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Für diesen Hinweis danke ich Anna König. Vgl. Handke: Die Lehre der Sainte Victoire, S. 77ff.

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stehenden Seewassern hören lässt als the ›roaring of the Mississippi‹« (VJ, S. 105f.). Hinter der Faulkner-Referenz versteckt sich zudem nicht nur ein erneuter Hinweis auf den Rhythmus als Fluss, sondern auch ein weiterer Bezug auf ein literarisches Muster, der sichtbar macht, wie der Autor durch ein außergewöhnliches Maß an inhaltlicher und struktureller Intertextualität50 polysemantische Bilder erzeugt. Der Weg dorthin führt über die geplante »Ballade von der Jukebox« zu den Lyrical Ballads (1798) der englischen Romantik; im Vorwort zu diesen Balladen fordert Wordsworth gegenüber tradierten »Memoria«-Formen ein alternatives Erinnerungskonzept,51 in dem – wie Aleida Assmann gezeigt hat – Erinnerung von der klassischen ars memoria getrennt und mit der subjektiven Imagination zusammengeführt wird.52 William Wordsworths später erschienenes Gedicht »Memory« (1827) entwickelt beinahe deckungsgleich mit Handkes Verfahren ein Zusammenspiel von »Recollection« und »Anamnesis«. Das ›Echo des Gebirgsbaches‹, das auf der ›ruhenden, glatten Oberfläche‹ eines Sees widerhallt, ist nur hörbar durch die subjektive Gewalt der »imaginatio«. In der letzten Strophe heißt es: »With heart as calm as lakes that sleep, / In frosty moonlight glistering; / Or mountain rivers, where they creep / Along a channel smooth and deep, / To their own far-off murmurs listening.«53 Bereits in Handkes Der kurze Brief zum langen Abschied (1972) »empfindet« der IchErzähler beim Hören des Dampfschiff-Signaltons ›auf dem Mississippi‹ eine »einzige, schmerzliche und theatralische Geschichte«. Dabei geht die Epiphanie der Geschichte voraus und hebt sich, wenn auch »routiniert erzeugt«, deutlich von der bloß »erzählten« Form ab: So gewaltig war das Signal, daß ich, während es dröhnte, auseinanderschreckend sekundenlang einen Traum von einem Amerika empfand, von dem man mir bis jetzt nur erzählt hatte. Es war der Augenblick einer routiniert erzeugten Auferstehung, in dem alles ringsherum seine Beziehungslosigkeit verlor, in dem Leute und Landschaft, Lebendes und Totes an seinen Platz rückte und eine einzige, schmerzliche und theatralische Geschichte offenbarte.54

Im Versuch über die Jukebox werden Vorstellungskraft und Erinnerung durch das Röhren der Jukebox verstärkt: »Da kam es nun, im Verein mit der Jukebox, zusammen

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Vgl. zu unterschiedlichen Formen der Intertextualität bei Ulrich Broich, Manfred Pfister und Ulrich Suerbaum: Bezugsfelder der Intertextualität. In: U. B. und M. P. (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35) Tübingen 1985, S. 48–77. Vgl. William Wordsworth: Wordsworth’s Prefaces of 1800 and 1802. In: W. W. und Samuel Taylor Colerdige: Lyrical Ballads. Hg. v. Raymond L. Brett und Alun R. Jones. London 1971, S. 240–272. Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 89–113. William Wordsworth: Poetical Works. Hg. v. Thomas Hutchinson. Oxford 1969, S. 391. Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied. Frankfurt am Main 1974, S. 121f. An Stellen wie diesen lässt sich nachweisen, dass die popkulturell zum Fossil gewordene Jukebox auch eine Reflexion eines vergangenen Umgangs mit dem Pop beim Autor selbst verkörpert. Vor allem Der kurze Brief zum langen Abschied hallt im Versuch über die Jukebox nach.

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mit dem Dahinphantasieren, ohne das ihm so zuwidere Beobachten, oft zu einem SichVerstärken« (VJ, S. 102). Gebannt scheint darin das in der Musik zu findende »Dahinphantasieren, das nur Ich-Phantasie bleibt, statt Form-Phantasie zu werden«.55 Ähnlich argumentiert Wordsworth in der Vorrede zu den Lyrical Ballads. Während Wordsworth sich aufgrund des ›niederen‹ Tons und der ›niederen‹ Gegenstände der Balladen zunächst bei den Lesern entschuldigt und Gebrauchsanweisungen mit auf den Lektüreweg gibt, um moralische Zerrüttungen prophylaktisch zu vermeiden, gelangt er schließlich aus der Defensive zu einem Plädoyer für das »low and rustic life«, das im Dichter eine ›Verstärkung‹ zu einer direkteren Sprache hervorzurufen vermag: The principal object then which I proposed to myself in these Poems was to make the incidents of common life interesting by tracing in them, truly though not ostentatiously, the primary laws of our nature: chiefly as far as regards the manner in which we associate ideas in a state of excitement. Low and rustic life was generally chosen because in that situation the essential passions of the heart find a better soil in which they can attain their maturity, are less under restraint, and speak a plainer and more emphatic language […].56

Wie man sich die »verstärkte Gegenwart« von unten vorzustellen habe, führt der Schriftsteller im Versuch schließlich mit einem für Handke nachgerade technokratischen Bild aus: »Ja, das war es, der Gegenwart wurden die Gelenke eingesetzt!« (VJ, S. 103)

Versteckte Zeugnisse – monumentale Fragmente: Heterotopien Als historiografisch sanktionierter »Gedächtnisort« erscheint im Versuch über die Jukebox die (gefallene und nun einheitsstiftende) Berliner Mauer, der sich der Schriftsteller, wie zu sehen war, selbst in der nordspanischen Provinz nicht zur Gänze entziehen kann. Immerhin bietet sich der vormals »geschichtstaube« Ort Soria an, um sich innerhalb der Geschichte des Jahres 1989 »andere« Wege zu bahnen: »Doch nur noch der andere Ort kam in Frage, wo in die Schutthänge neben den Neubauten die Schafherden schon ihre Steigmuster getreten hatten« (VJ, S. 51f.). Vor allem die erwähnten Schafherden verweisen dabei auf eine idyllische Ausformung des einfachen und niederen Lebens durch die hohe Kunst: Arkadien. Der »andere Ort« ist zunächst noch ein Nicht-Ort, also nicht lokalisierbar, eine Utopie. Erst durch die im Lauf der Erzählung ins Spiel kommenden Jukebox-Erinnerungen wird deutlich, was andere Orte überhaupt sein könnten: Jukebox-Orte wie »abseits gelegene Nachbarorte«; »an Fährstationen«, »auf Inseln und in der Nähe von Grenzen«, »Siedlungen an Durchzugsstraßen«, »Bahnhöfen« gelegene Orte; »weder in der Mitte […] noch an den Rändern […] sondern in den Zwischenbereichen« (VJ, S. 53ff.) angesiedelte reale Orte. Handkes Erinnerungsapparat ruft Orte ab, die in ihrer Phänomenologie und ihrer Lagerung ›dazwischen‹ und ihrer Partizipation an mehreren Räumen eine frappierende Ähnlichkeit mit Michel Foucaults frühem Raumkonzept der »Heterotopien« aufweisen. Bei Heterotopien handelt es sich um Orte,

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Handke: Die Geschichte des Bleistifts, S. 198. Wordsworth: Wordsworth’s Prefaces of 1800 and 1802, S. 244f.

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die sich im Gegensatz zur Utopie (dem Nicht-Ort) realiter innerhalb topografischer und kultureller Ordnungen sowie politischer Hegemonien befinden und trotzdem signifikante Gegenpositionen dazu darstellen können bzw. die Möglichkeit beinhalten, einen herrschenden Diskurs zu unterminieren und dessen »Illusion« bloßzustellen: »Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.«57 Vor dieser Folie wird auch bei Handkes Rede vom »Anderen« ein Differenzmodell sichtbar, das hegemoniale Strukturen der Gesellschaft in gleichem Maße perpetuiert wie invertiert: Das Programm einer Jukebox soll seinem Schriftsteller dann auch keine Absicht, keine »Kennerschaft«, kein »Eingeweihtsein«, keine »Harmonie« verkörpern, sondern hat ihm vielmehr »ein Durcheinander vorzustellen« (VJ, S. 107f.). Als Indiz für dieses Durcheinander wird der »Mischmasch von Maschin- und Handgeschriebenem, und vor allem d[ie] Vielfalt der oft von Titelschild zu Titelschild wechselnden Handschriften« (VJ, S. 108) angenommen. Bezeichnenderweise greift dagegen auch bei den Musikboxen eine ›dunkle‹ Nivellierungsmacht um sich, »erzählbar von niemandem«: Einen Widerwillen dagegen hatte er vor jenen Musicboxen, wo das Angebot der Lieder, statt einmalig zu sein und am Standort ›persönlich‹ sortiert, selber Teil einer Serie war, von Ort zu Ort, quer durch ein ganzes Land, gleich, variantenlos und den einzelnen Lokalen vorgesetzt, ja, aufgezwungen von einer namenlosen Zentrale, welche er sich nur als eine Art von Mafia, der Mafia der Jukeboxen, vorstellen konnte. (VJ, S. 106f.)

Wiederum impliziert diese Absetzbewegung vom serienmäßig Vorgefertigten die Illusion, es handle sich bei der Jukebox selbst um etwas ›Natürliches‹ oder, dem Adjektiv »persönlich« folgend, um etwas »Privates«. An anderer Stelle spricht der Erzähler von den »Menschenspuren«, welche die serienmäßige Jukebox solcherart zu verwandeln wissen: versteckte Zeugnisse einer anderen Geschichte. Wenn Handkes Schriftsteller sich an eine Jukebox in einer »Nordafrikanerbar« eines Pariser Vorortes erinnert, »an deren durchweg französischen Einheitsnummerntafel sofort als Mafialieferung kenntlich« (VJ, S. 109f.), ist es wieder die Heterotopie, wohlgemerkt nicht die Utopie, die den Blick für diese Menschenspuren schärft. In dieser Differenz wird auch der imperialistische Anstrich nationalgeschichtlicher Gedächtnisorte sichtbar: Denn neben der Einheitsnummerntafel erscheint ein handbeschriebener Aufkleber mit unregelmäßigen Buchstaben, »jeder geprägt wie ein Ausrufezeichen«: [Er] hatte das eingeschmuggelte arabische Lied gewählt, dann immer wieder, und war noch jetzt hier begleitet von jenem weithin schallenden SIDI MANSUR, das, so sagte der für einen Augenblick aus seiner Stummheit erwachende Barmann, der Name eines ›besonderen, nicht gewöhnlichen Ortes‹ sei (›man geht dort nicht einfach so hin!‹). (VJ, S. 110)

Dabei ist hervorzuheben, dass der Barmann nur »für einen Augenblick aus seiner Stummheit« erwacht. Die Pointe der gleichzeitigen Präsenz mehrerer Räume an einem Ort liegt nun darin, dass Sidi Mansur nicht nur einen religiös-mythischen Ort tunesi-

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Michel Foucault: Andere Räume. In: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 34–46, hier: S. 39.

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scher Muslime, sondern auch eine ›monumentale‹ Ferienanlage für europäische Touristen ebendort bezeichnet. Nur für einen Augenblick erscheint die postkoloniale Renitenz auf der (›zeitgemäßen‹) Jukebox-Auswahltafel dem Schriftsteller als literarisches Gegenbild innerhalb (nationalgeschichtlich) vorgefertigter Erinnerungsprogramme. In diesem Kontext ist auch das negierte »Eingeweihtsein«, die Ablehnung von Harmonie und Einverständnis zu lesen: Die Flucht vor dem Berliner Mauerfall rekurriert auf jenes literarische Pathos des nationalen Einverständnisses, das bereit ist, das Autonomiepostulat der Literatur aufzugeben – »unbedingt Zeuge der Geschichte« (VJ, S. 26) zu sein. Vor allem Martin Walsers anlässlich der Ereignisse rund um den Fall der Berliner Mauer zur Schau gestellte Wiedervereinigungsemphasen der »richtigen Geschichte« mögen als Bezugsrahmen der Handke’schen Positionierung ausreichen.58 Allerdings richtet sich Handke mit dem Erinnerungskonzept der »anderen Orte« nicht prinzipiell gegen die Methodik der Geschichtsschreibung. Vielmehr sind es auch hier bereits jene medialen Nivellierungen historischer Narrative und die dadurch suggerierte Natürlichkeit ideologischer Erzählformen,59 vor denen sein Schriftsteller flieht. Demgemäß ist die Positionierung gegen das »Eingeweihtsein« nicht nur auf einen nationalen Schulterschluss, sondern auch auf das intellektuelle Ritual der »engagierten Literatur« gemünzt, wie der Hinweis im Versuch vermuten lässt, »[d]as Programm einer Jukebox sollte ihm keine Absicht – auch keine noch so edle – verkörpern« (VJ, S. 107f.).60 Stattdessen habe es ihm ein Durcheinander vorzustellen, mit seinem Teil an Unbekanntem (mit den Jahren mehr und mehr) und auch gehörig vielen Stücken zum Flüchten, dazwischen freilich, um so kleinodhafter, genau die Weisen (ein paar wenige, herauszusuchen aus dem unübersichtlichen Feld, genügten), die ihm im Augenblick entsprachen. (VJ, S. 108)

Der ›Nachweis‹ von Heterotopien in der Literatur, spätestens seit dem »topographical turn«61 zu einem inflationären Verfahren der Literaturwissenschaft geworden, läuft immer Gefahr, in einer Tautologie zu enden. Wird doch dabei zu oft vergessen, dass Michel Foucault zentrale Modelle seiner Theorie aus der Beschäftigung mit der literarischen Avantgarde gewonnen hat, die den »anderen Ort« und den »Zwischenraum« zum einzig Literaturfähigen erklärt hat.62 Andererseits laufen die Verbindungslinien zwischen dem Konzept der Heterotopie und der Raumpoetik der Jukebox möglicherweise bei den Arbeiten Maurice Blanchots und Gaston Bachelards zusammen. Vor allem eine von Blanchot ausgehende Linie der Literaturkritik und -theorie folgt im Gegensatz zur germanistischen, dem Hegelianismus verschriebenen Theoriebildung von Beginn an dem Primat

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Vgl. Martin Walser: 11. November 1989. In: M. W.: Über Deutschland reden. Frankfurt am Main 1989, S. 115. Vgl. Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 2003, S. 130ff. Von welcher literarischen Praxis sich der Autor hier distinguiert, lässt auch die Bemerkung erahnen, er gehe »nicht wegen des Milieus« (VJ, S. 101) in die oft zwielichtigen Jukebox-Lokale. Vgl. dazu Sigrid Weigel: Zum »topographical turn«. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften. In: KulturPoetik 2 (2002) 2, S. 151–165. Dazu etwa eine vor den »Anderen Räumen« erschienene Sammelrezension. Vgl. Michel Foucault: Die Sprache des Raumes. In: M. F.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt am Main 2003, S. 168–174.

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der Bewegung und des Raumes. Die Betonung dieses Primats liest sich bei Michel Foucault mit dem schlichten Hinweis, dass es sich beim 20. Jahrhundert gegenüber dem 19. – einer von der Zeit besessenen Epoche – um die »Epoche des Raumes« handle: »Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition […].«63 Auch Handkes Schriftsteller erfährt, »in Spanien sei die Geographie immer eine Dienerin der Geschichte gewesen, der Eroberungen und Grenzziehungen, und erst jetzt werde mehr auf die ›Botschaften der Orte‹ geachtet« (VJ, S. 126). Diese Botschaften bestätigen nun nicht nur die bestehenden sozialen Übereinkünfte und Hierarchien, sondern bestreiten auch deren soziale Illusio (Pierre Bourdieu). Somit erklärt sich im Versuch auch der Hinweis auf Karl Valentin nach der Besichtigung der bereits erwähnten romanischen Kirche: Indem er rasch wegging, blickte er sich über die Schulter von weitem um und sah das so ziselierte Gehäuse – um so deutlicher das Leergelassene –, mit dem Ausdruck Karl Valentins, ›im Freien‹ stehen: von diesem gab der Bau, so breit wie niedrig (alle die Wohnblöcke im Umkreis waren höher), mit dem Himmel darüber, trotz der vorbeitosenden Laster, geradezu die Idealvorstellung; der Bau ganz anders als die starren Fassaden der Umgebung, erschien als ein Spielwerk, tätig gerade in seiner Ruhe – er spielte. (VJ, S. 41)

Hier ist eine Position wiederzuerkennen, die »gewissermaßen einen Ort außerhalb aller Orte« bezeichnet, der trotzdem »geortet« werden kann.64 Ein von Foucault favorisiertes Beispiel der Heterotopie ist neben dem Friedhof und der Irrenanstalt das Bordell, dessen (auch auf den Ort jener Literatur, die sich eine Offenheit nach ›unten‹ bewahrt) verweisende »Botschaft« sich folgendermaßen ausnimmt: Man meint, Zugang zum Einfachsten und Offensten zu finden, doch in Wirklichkeit ist man mitten im Geheimnis. So zumindest betrat einst Aragon [Louis, C. P.] Freudenhäuser: ›Noch heute trete ich nicht ohne eine gewisse schülerhafte Emotion über diese Schwellen besonderer Erregbarkeit. […] Keinen Augenblick denke ich an die soziale Seite der Orte. Den Ausdruck maison de tolérance [Freudenhaus] kann man unmöglich ernsthaft aussprechen.‹ Hier stoßen wir auf das eigentliche Wesen der Heterotopien. Sie stellen alle anderen Räume in Frage, und zwar auf zweierlei Weise: entweder wie in den Freudenhäusern, von denen Aragon sprach, indem sie eine Illusion schaffen, welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt, oder indem sie ganz real einen anderen Raum schaffen, der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist.65

Diese vollkommene Ordnung verspürt der Erzähler in Handkes Versuch über die Jukebox nach dem Besuch der romanischen Kirche von Santo Domingo de Calzadar: So hat er etwa »den Gedanken, daß damals, vor achthundert Jahren, jedenfalls in Europa, eine Formen-Epoche lang, die Menschengeschichte, die einzelne wie die allgemeine, wunderbar geklärt gewesen sei« (VJ, S. 41). Gleichzeitig verweist dabei die Betonung der »Idealvorstellung« und des »ganz anders« (VJ, S. 41) wiederum selbst auf eine Annä-

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Foucault: Andere Räume, S. 34. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. Michel Foucault: Die Heterotopien/Les hétérotopies, Der utopische Körper/Le corps utopique. Zwei Radiovorträge. Frankfurt am Main 2005, S. 19f.

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herung an die retrospektive Utopie im Rahmen der Heterotopie. Foucault erwähnt diesbezüglich eine paradigmatische »Misch- oder Mittelerfahrung« zwischen »den Utopien und diesen anderen Plätzen, den Heterotopien«: »den Spiegel«. Die »Utopie des Spiegels« ergibt sich, da »er ein Ort ohne Ort« sei. Man sehe sich im Spiegel da, »wo ich nicht bin: in einem unwirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine Art Schatten, der mir meine eigene Sichtbarkeit gibt […], wo ich abwesend bin«.66 Eine Heterotopie sei der Spiegel, insofern er wirklich existiert und insofern er mich auf den Platz zurückschickt, den ich wirklich einnehme […] von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne […] mich da wieder einzufinden, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als eine Heterotopie in dem Sinn, daß er den Platz, den ich einnehme, während ich mich im Glas erblicke, ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet, und daß er ihn zugleich ganz unwirklich macht, da er nur über den virtuellen Punkt dort wahrzunehmen ist.67

Ähnliche Konstellationen lassen sich im Versuch über die Jukebox finden. Nicht nur die Oberfläche des stehenden Gewässers impliziert die doppelte Qualität des Spiegels; die Grenze zwischen der ästhetischen Ordnung in der virtuellen Tiefe und dem realen Ort, der selbst wiederum mehreren Täuschungen unterliegt, wird in den Traumpassagen evident. Die im Text hervorgehobene »Sinnlichkeit des epischen Träumens« (VJ, S. 31) fühlt der Schriftsteller als »Rhythmus« – Fluss – nach dem Aufwachen noch »ausschwingen« (VJ, S. 30): Dort in der Traumtiefe, das erfuhr er mit Wucht im Schlafen und dachte es aufgewacht weiter, zeigte sich ihm ein Gesetz als Bild, Bild um Bild. Jene Träume erzählten, und sie erzählten, wenn auch nur in monumentalen Fragmenten, die oft in den üblichen Traumunsinn übergingen, ihm gebieterisch ein weltumspannendes Epos von Krieg und Frieden, Himmel und Erde, Westen und Osten, Mord und Totschlag, Unterdrückung, Empörung und Versöhnung, Schlössern und Spelunken, Urwäldern und Sportpalästen, Verschollengehen und Heimkehr, triumphalen Vereinigungen zwischen Wildfremden und sakramentaler ehelicher Liebe, mit unzähligen, dabei scharf umrissenen Personen: vertrauten Unbekannten, den durch die Jahrzehnte wechselnden Nachbarn, den entfernten Geschwistern, Filmstars und Politikern, Heiligen und Puppen, den in den Träumen verwandelt (so wie sie in Wahrheit gewesen waren) weiterlebenden Vorfahren, und immer neu den Kindern, dem Kind der Kinder als einer der Hauptfiguren. Er selbst trat in der Regel dabei gar nicht mit auf, war bloßer Zuschauer und Zuhörer. (VJ, S. 29)

Es ist eben das Bewusstsein, dass die Totalität der epischen Traumtiefe nicht zurückzuholen ist, sondern sich nur in »monumentalen Fragmenten« erahnen lässt, das Handkes heterotopes Geschichtsbild erdet. Eine ›reine‹ Utopie wird im Versuch nur einmal formuliert. Nicht das Epos erscheint dabei als Referenz, sondern das Märchen, dessen konventionelle Eingangsphrase dazu dient, die zeitliche Abwesenheit zu markieren: »Es war einmal, als könne diese [die Geschichte, C. P.], neben all ihren anderen Formen, auch ein sich selbst erzählendes Märchen, das wirklichste und wirksamste, das himmlischste so

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Vgl. Foucault: Andere Räume, S. 39. Ebd.

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wie irdischste der Märchen sein« (VJ, S. 26). Darin drückt sich in nachgerade universaler Form eine ästhetische wie soziale Überwindung von high and low aus – »himmlisch« und »irdisch« zugleich. Ernst Bloch hat auf einen ähnlichen ›Ort‹ des Märchens verwiesen; er sieht im Märchen vor allem eine Unterminierung der hegemonialen aristokratischen Form des Epos. Dies betrifft nicht zuletzt Narrative der düsteren (nationalen) Heldenideologie.68 Auch Handkes Schriftsteller befremden schließlich die »epischen Formen der vergangenen Epochen – ihre Einheitlichkeit, ihre Gesten der Beschwörung und Bemächtigung (fremder Schicksale), ihr so vielwisserischer wie ahnungsloser Totalitätsanspruch« (VJ, S. 70). Andererseits sind es, wie zu sehen war, gerade jene Formen vergangener Epochen, die ihm in der Manier der im Verschwinden begriffenen Jukebox literarische Muster für eine Erinnerungspoetik ›aus der Tiefe‹ liefern. Im Versuch über die Jukebox wird durch das Oszillieren zwischen den Genres Erzählung und Essay sowie Epos und Popsong deutlich, dass der andere Ort nicht nur keiner des totalitären Anspruchs, sondern auch keiner einer »langen Dauer« sein kann: »Doch, es war ihm immer wieder wo recht gewesen – zum Beispiel? – an Orten, wo er zum Schreiben gefunden hatte […] wo ohnehin, von vornherein klar, auf Dauer kein Sein war?« (VJ, S. 65)

Rock-’n’-Roll-Geschichte: Österreich Dass das inflationäre Auftauchen des nordamerikanischen Popmediums in der europäischen Nachkriegsära eine »Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln« (VJ, S. 55) sei,69 wird vom Erzähler in Handkes Versuch zwar nicht weiterverfolgt und Pier Paolo Pasolini in Bezug auf die Jukebox in den Mund gelegt, bereitet allerdings einen für den Autor erstaunlichen intensiven Kontakt mit der im Wortsinn grauenerregenden ›Gespenstergeschichte‹ des 20. Jahrhunderts vor: Am Ende des erratischen Wegs zurück in die Geschichte steht ein nicht minder monumentaler Erinnerungsort; eine ›andere‹ Mauer, die wieder auf den Ausgangspunkt verweist und diesen als Fiktion entlarvt, markiert einen weiteren Neuanfang. In einem Chinarestaurant der spanischen Provinzstadt entdeckt Handkes Protagonist ein Bild der »Großen Mauer, von der das Lokal seinen Namen hatte« (VJ, S. 138): La Gran Muralla. Beim Betrachten des Mädchens (»in dieser Gegend […] noch ungleich fremder […] als er«), das am Nebentisch chinesische Zeichen in ein Heft malt, »spürte er mit Staunen, dass er jetzt erst wirklich aufgebrochen war von dort, wo er herkam« (VJ, S. 138). Was mit dieser ›Herkunft‹ gemeint ist, wird bereits an früherer Stelle im Text deutlich: Auch der historische »Aufbruch« der Republik Österreich nach 1945 wird gleichzeitig mit dem Aufbruch des poetischen Subjekts auf einschlägige Erinnerungsorte zurückgeworfen und bezweifelt. Wiederum dient die Jukebox als Differenzkriterium: Handkes Schriftsteller verspürt beim Hören von Chuck Berrys

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Vgl. Ernst Bloch: Zerstörung, Rettung des Mythos durch Licht. In: E. B.: Verfremdungen I. Frankfurt am Main 1963, S. 152–162, hier: S. 152ff. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade Handkes Jukebox-Text von der amerikanischen Germanistik ausgewählt wurde, um einen ›ethnologischen‹ Zugang zur explizit »german popular culture« zu gewinnen. So etwa bei Koepnik: Negotiating Popular Culture, S. 381ff.

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»Route Sixty-Six« den Drang nach einem »Aufbruch«; gehört wird dieser Song aus einer Jukebox in einem »miefkalte[n] und verrülpste[n] ›Espresso-Stübchen‹« an der Durchfahrtsstraße von der »Stadt der Volksabstimmung von 1920« (Klagenfurt) zur »Stadt der Volkserhebung von 1938« (Graz); »angeschlossen durch den hallenden StahlgitarrenRitt« eines weiteren Songs aus der Jukebox – ein Instrumental der Shadows mit dem Titel »Apache« (VJ, S. 84). Allerdings lassen die von Handke evozierten »Siedler-Trecks« auf der Route Sixty-Six (von Chicago nach L. A.) in Kombination mit dem Untergang eines Indianervolkes nichts Gutes erahnen. Chuck Berrys dadurch plötzlich mehrdeutiger Refrain lautet: »Get your kicks on Route Sixty-Six«. Der Ambivalenz nordamerikanischer Freiheitsmetaphern korrespondiert an dieser Stelle eindrucksvoll der für die historischen »Wunden« Österreichs so bedeutsame »Opfermythos« der Zweiten Republik (Österreich als erstes Opfer des Hitler-Regimes), in dem die erwähnten Erinnerungsräume nach wie vor von der Sprache der ›Täter‹ besetzt werden. Handkes Jukebox macht nationalsozialistische Ideologeme hörbar, denen bereits durch österreichische Heldenerzählungen wie dem – der Volksabstimmung von 1920 vorangegangenen – Kärntner »Abwehrkampf« gegen Truppen des jugoslawischen SHS-Staats der Weg bereitet wurde: die Route Sixty-Six als ›Route 666‹. Dieser Auftritt einer Jukebox im Text bindet also die Lebensgeschichte wieder zurück an die politischen Traumata des 20. Jahrhunderts, gegen deren Totalität auch die poetische Erinnerung in »monumentalen Fragmenten« nichts auszurichten vermag. Damit lässt der Autor, der so oft für seine von der Kritik in die Nähe von Heidegger gerückte »Verwindung der Moderne«70 angegriffen worden ist, seinen Jukebox-Schriftsteller, einen verrannten Narr in Soria, in die Geschichte zurückkehren, als diese darangeht, sich selbst zu erzählen und sich dadurch zwangsläufig abzuschaffen. Gegenüber dem Jukebox-Bild an der österreichischen Durchfahrtsstraße ist daran zu erinnern, dass mit Thomas Bernhards Heldenplatz ein Jahr vor der Wende 1989 – zum hundertjährigen Jubiläum des Wiener Burgtheaters und zum Gedenken an den fünfzig Jahre zurückliegenden Anschluss an Hitler-Deutschland – das Vergegenwärtigen, Verstärken und Hörbarmachen der Tätersprache in der Nachkriegskultur für einen österreichweiten Skandal gesorgt hatte. Welche Form diese Verstärkung der Sprache ›an der Oberfläche‹ annimmt, hat Handke schon einige Jahre davor unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: »das Fette, an dem ich würge: Österreich«,71 so eine mittlerweile auch vom österreichischen Bundespräsidenten zitierbare72 Kurzbeschreibung des Verhältnisses zur österreichischen Republik. Gleichzeitig ermöglicht (wenn überhaupt, dann) der Sound der Jukebox in der Erinnerung die Vermittlung ebendieser österreichischen Heimat:

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Tilman Küchler: Von blinden Fenstern und leeren Viehsteigen – Zu Peter Handkes »Die Wiederholung«. In: Seminar 30 (1994), S. 152. Peter Handke: Das Gewicht der Welt. Salzburg 1977, S. 21. Etwa Heinz Fischer im Interview anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums des österreichischen Staatsvertrags. Vgl. Hubert Patterer und Hans Winkler: »Das Land hat sich mit sich selbst versöhnt«. Das Sonntags-Interview. In: Kleine Zeitung v. 15. Mai 2005, S. 2f., hier: S. 2.

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Wo die einen ihr erster Weg daheim ›auf den Friedhof‹, ›an den See‹ oder ›in das Stammlokal‹ führte, so ihn, oft gleich von der Bushaltestelle, nicht selten zu einer Musicbox, von der gehörig durchdröhnt er sich, hoffentlich, weniger fremd und ungelenk auf seine übrigen Wege machte. (VJ, S. 91)

Geht man nach wie vor von der Gültigkeit des im Versuch über die Jukebox entwickelten Differenzmodells der »anderen Orte« aus, muss angenommen werden, dass Handke auch in der Jugoslawien-Frage versucht, »im Freien« zu stehen, »voll mit Schall und Wut [!]«.73 Die zuletzt gewählte Tiersymbolik des Kuckucks,74 um der »Botschaft der Orte« im Kosovo nachzuspüren, lässt darauf schließen.75 Hatte die Jukebox bislang vor allem individualisierende Wirkung gezeigt, die mit dem »I’m not like everybody else« der Kinks bereits im Versuch über die Müdigkeit zementiert worden war,76 gilt es allerdings im Blick zu behalten, an welchem Ort im Versuch über die Jukebox die einzige auch kollektivierend wirkende »Verstärkung« durch die Jukebox im »Jahr der Geschichte« 1989 stattfindet: Ein Gasthaus, eine gostilna, auf einer Kuppe des jugoslawischen Karstes, etwas abseits der Durchfahrtsstraße von Štanjel (oder San Daniele del Carso). Innen. Eine wuchtige altertümliche Jukebox neben dem Schrank, auf dem Weg zum Klosett. Hinter Kunstglas sichtbar Plattenkreis und Spielteller. Für den Betreib werden statt Münzen Jetons gebraucht, und es genügt dann nicht das Drücken der Taste – es gibt nur eine –, sondern zuvor hat eine Skala gedreht zu werden, bis die gewünschte Nummer und der Richtstrich zusammenpassen. Der mechanische Arm legt dann die Platte mit einer Eleganz auf, vergleichbar dem Ellbogenknick, mit dem ein formvollendeter Kellner ein Gericht serviert. […] Das Lied, das an diesem Abend […] immer wieder durch die Säle geht, wird gesungen als ein selbstbewusstes, dabei kindlich-heiteres und sogar, in der Vorstellung von einem Volk, tanzbares Unisono und hat als Refrain ein einziges Wort: ›Jugoslavija!‹ (VJ, S. 113ff.).

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So die Übersetzung von »sound and fury« bei Thomas Brasch: Die Tragödie des Macbeth. In: Th. B.: Shakespeare-Übersetzungen. Frankfurt am Main 2002, S. 426. Vgl. Peter Handke: Die Kuckucke von Velika Hoþa. Eine Nachschrift. Frankfurt am Main 2009. So assoziiert etwa das Grimm’sche Wörterbuch dem semantischen Wortfeld »Kuckuck« mehrere Bedeutungen, u. a. als Allegorie des Frühlings oder schlicht als Synonym für einen »einfältigen Narren«. Vgl. Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 5. Bearb. v. Rudolf Hildebrand. Leipzig 1873, S. 2519–2527. Vgl. Peter Handke: Versuch über die Müdigkeit. Frankfurt am Main 1989, S. 45.

David-Christopher Assmann

Das bin ich nicht Thomas Glavinics Literaturbetriebs-Szene

Die Frage, welche Funktion Entgrenzungen hin zu Populärkultur oder Bereichen der Nicht-Kunst in der deutschsprachigen Literatur um 2000 erfüllen, ist unmittelbar mit dem verbunden, was gemeinhin unter ›Kultur-‹ oder ›Literaturbetrieb‹ firmiert. So diagnostiziert Andreas Breitenstein 1996 im Nachwort zu den von ihm herausgegebenen Dreißig Annäherungen an den Kulturbetrieb eine aus dem Spannungsfeld von Kunst, Markt und Öffentlichkeit resultierende »Entgrenzung der ästhetischen Wertungskriterien«1: Kunst finde sich immer öfter im Sortiment des »allgemeinen Dienstleistungsangebots«2 wieder, und Künstler seien, unter einem »unguten Produktionszwang«3 leidend, zu Arbeitskraftunternehmern der »allgemeinen Warenerzeugung«4 degradiert. Je schneller sich der Betrieb drehe, je weniger Aufmerksamkeit also das einzelne Werk für sich im »unendliche[n] Palaver«5 beanspruchen könne, desto wichtiger werde die geschickte Vermarktung desselben, was indes zu Lasten der künstlerischen Qualität gehe, mehr noch: »um des Erfolgs willen wird das Werk vernichtet«.6 Mit dem Hinweis darauf, dass sich der Betrieb auf illegitime Weise in die Kunst einmische, also deren Autonomieansprüche störe und dass sich daraus eine »Krise der primären Kunsterfahrung«7 ergebe, aktualisiert Breitenstein eine Vermutung, die nicht nur, aber auch in Bezug auf deutschsprachige Literatur seit den 1990er Jahren immer wieder aufkocht: dass nämlich der Literaturbetrieb8, also die an Prozessen der Literaturvermittlung beteiligten Akteure und Organisationen, als das schlichtweg Heteronome der Literatur, deren ganz anderes, äußerliches, mithin nicht-literarisches Gegenstück literarischer Kreativität zum einen, ästhetischer Erfahrung zum anderen nicht unbedingt zuträglich seien. Unterliegt das deutsche literarische Feld spätestens seit den 1990er Jah-

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Andreas Breitenstein: Nachwort. In: A. B. (Hg.): Der Kulturbetrieb. Dreißig Annäherungen. Frankfurt am Main 1996, S. 156–164, hier: S. 158. Ebd., S. 159. Ebd., S. 158. Ebd. Ebd., S. 164. Ebd., S. 162. Ebd., S. 161. Der Begriff ›Literaturbetrieb‹ ist letztlich unterbestimmt und beschreibt ein eher »diffuses Phänomen« von Literaturvermittlungsstrukturen und -prozessen (Bodo Plachta: Literaturbetrieb. Paderborn 2008, S. 9). Siehe allgemein auch Erhard Schütz u. a. (Hg.): Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Reinbek bei Hamburg 2005; Heinz Ludwig Arnold und Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. 3., völlig veränderte Auflage. Neufassung. München 2009.

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ren einem tiefgreifenden Wandel, für den etwa das sich diversifizierende und pluralisierende Publikum, die steigenden Profitvorgaben der mittlerweile größtenteils zu Konzernen zusammengeschlossenen Verlage sowie die gewachsene Bedeutung des Marketings stehen, sind es genau diese als mehr oder weniger verdorben vorgestellten sozialstrukturellen Vermittlungsbedingungen von Literatur, die, so Breitensteins Behauptung, für die ästhetisch-semantische Verdorbenheit der Gegenwartsliteratur verantwortlich zeichnen. Denn es sei ja wohl »[n]aiv […] zu glauben, der verschärfte Erfolgszwang sei etwas, was dem Werk und seinem ideellen Gehalt äußerlich bliebe«.9 Dabei erweist sich die Rede vom Verderben der Literatur im Literaturbetrieb10 vor allem als eines: nämlich als Rede – oder besser: als Selbstbeschreibungsformel11 der Literatur wie ihres Betriebes. Als eine semantisch immer wieder neu zu füllende Leerstelle ermöglicht sie es den im Subfeld der eingeschränkten Produktion agierenden beziehungsweise auf die dortigen Positionen strebenden Akteuren des literarischen Feldes12, grob gesprochen, literarische Identität, Legitimität und Autonomie über die Unterscheidung zwischen eigentlichem Werk und eigentlich bloß sekundärem Beiwerk13 zu etablieren und zu strukturieren. Die Konsequenzen einer Variante dieser Rede reflektiert und vollzieht Thomas Glavinics Das bin doch ich. Indem die dort betriebene »Nabelschau«14 die Diagnose vom Verderben der Literatur gleichsam als Medium für die Form ihrer Narration nutzt, geht es ihr indes nicht lediglich um die selbstironisch verfremdete Kritik an voyeuristischen oder als authentisch kommunizierten Blicken hinter die Kulissen des Literaturbetriebs, in das Privatleben eines mitunter peinlichen Autors und einer entsprechend angelegten Literaturvermittlung. Der Roman realisiert vielmehr auf spezifische Weise, so die im Folgenden entfaltete These, eine um die Bedingungen des literarischen Feldes ausgebaute Schreib-Szene. Worum es also geht, ist die Engführung von Literaturbetriebsreflexion und Literaturbetriebspraxis – und damit um das Eruieren literarischer Kreativität und ästhetischer Erfahrung um 2000, die ihre Möglichkeitsbedingung im literarischen Feld haben. Diese Korrelation stellt sich vor dem Hintergrund der Rede vom Verderben der Literatur in ihrem Betrieb ein und verweist über die Reflexion der Betriebsbedingungen hinaus auf eine Distinktionsstrategie Glavinics im literarischen Feld, die keineswegs ihrer Reflexion erst nachträglich ist, sondern ihre eigenen Entstehungsbedingungen mitvollzieht.

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Breitenstein: Nachwort, S. 158f. Breitenstein diagnostiziert »bloße[ ] Unterhaltung« und »Beliebigkeit« (ebd., S. 160). Vgl. Jens Jessen: Verdirbt der Literaturbetrieb die Literatur? Vorbemerkung zu einer Diskussion. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 51 (2007), S. 11–14. Im Sinne von Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. 4. Aufl. Frankfurt am Main 2002, S. 393–401. Vgl. dazu Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übers. v. Bernd Schwibs und Achim Russer. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2005, S. 341–353. Siehe zur Unterscheidung zwischen Werk und Beiwerk Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Vorw. v. Harald Weinrich. Aus d. Franz. v. Dieter Hornig. 3. Aufl. Frankfurt am Main 2008, S. 9–21. So die Formulierung in der Besprechung von Ijoma Mangold: Den Nabel betrachten, aber den Kopf oben behalten. In: Süddeutsche Zeitung v. 9. Oktober 2007.

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Literaturbetriebswiderwillen

Das bin doch ich gibt tiefe Einblicke in Leben und Leiden des sich selbst als »Hypochonder«15 titulierenden Ich-Erzählers: zum einen in dessen Familienleben und die damit verbundenen alltäglichen Schwierigkeiten mit Frau, Kind und Eltern; zum anderen hinter die Kulissen des österreichischen und deutschen Literaturbetriebs. Der Roman macht mithin die privaten wie öffentlichen Begleitumstände und damit einhergehende Probleme literarischen Schreibens zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu seinem Thema. Lassen sich Glavinics vorherige fünf Romane als »Literatur des verausgabten Ichs«16 fassen, scheint sich hier das Ich nicht nur irgendeines Autors, sondern das Ich des Thomas Glavinic aufzureiben. Die Namensidentität von Ich-Erzähler und Autor ist dabei nur das offensichtlichste Element einer Verführung des Lesers, auf das Angebot zum autobiografischen Pakt17 einzugehen. Der Roman fingiert eine autobiografische Homestory über seinen Autor und transformiert sich damit selbst in genau den Typ von Epitext18, der nach Andreas Breitenstein zu den besonders verdorbenen Formaten der Literaturvermittlung zählt. Stilisierten sie sich als Personen in der Öffentlichkeit, seien es nämlich nicht zuletzt die Autoren selbst, die einem massenmedialen Voyeurismus Vorschub leisteten. »Wer permanent Interviews und Statements von sich gibt, wer die Medien ununterbrochen mit Texthäppchen und Fernsehbildern alimentiert, beweist, wie wenig er der ästhetischen Kompetenz des Publikums noch vertraut.«19 Journalistische Formate wie Autorenporträts, -interviews oder Homestorys unterliefen demnach die Vielschichtigkeit von Literatur, indem sie nicht die Auseinandersetzung mit dem Eigentlichen, also den literarischen Texten, suchten, sondern den mehr oder weniger biografisch interessierten Einblick in die wirklich wahre Geschichte hinter den Geschichten tradierten, mithin »Sekundäres in den Vordergrund«20 stellten. Mit Rüdiger Campe lässt sich diese von Das bin doch ich vollzogene Konversion des Paratextes in den Text als Schreibszene verstehen. Demnach kann jede individuelle Schreibsituation abstrakt auf ein »nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste«21 zurückgeführt werden. In Schreib-Szenen22 hält sich das Schreiben

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Thomas Glavinic: Das bin doch ich. 2. Aufl. München 2007. Seitenzahlen daraus im Folgenden in runden Klammern im Text, hier: S. 7. Helmut Gollner: Thomas Glavinics Welt-Literatur. Anmerkungen zu einem Erzähler. In: Literatur und Kritik 353–354 (2001), S. 51–56, hier: S. 55. Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Aus d. Franz. v. Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1994, S. 13–51. Vgl. Genette: Paratexte, S. 328–330. Breitenstein: Nachwort, S. 162. Ebd., S. 161–162. Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt am Main 1991, S. 759–772, hier: S. 760. Wird das Schreiben im Schreiben selbst problematisiert und gerät damit zur literarischen Darstellung, kann im Unterschied zur faktisch durchlaufenden Schreibszene von Schreib-Szene gesprochen werden. Vgl. zu dieser begrifflichen Differenzierung etwa Martin Stingelin: ›Schreiben‹.

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an diesem ›Ensemble‹ auf, so dass deren Beziehungsgefüge in seiner Instabilität und Problematik in den Fokus rückt und die Kontextbedingungen literarischen Schreibens in den »szenischen Rahmen[ ] des Schreibens«23 verlegt werden. In den Praxisspuren des Schreibens thematisieren literarische Texte mithin die »Praktik«24 des Schreibprozesses im Prozess des Schreibens, inszenieren und vollziehen also gleichsam eine »Wiederkehr des Schreibens im Geschriebenen«.25 Ein solcher Durchbruch der eigenen Produktionslogik und -bedingung liegt mit der fingierten Homestory auf spezifische Art auch Das bin doch ich zugrunde, lässt deren Form doch zunächst einmal die Thematisierung von Schreibsituationen des Ich-Erzählers und eventuell damit verbundene Probleme vermuten. Der gleich zu Beginn mit der Spiegel-Szene im Bad (vgl. S. 7) auch motivisch provozierte autobiografische Blick auf den Ich-Erzähler, der sich ständig »selbst bemitleidet« (S. 41), wird dabei dadurch ausgebaut, dass der Ich-Erzähler von Beginn an gezielt auf die Position Thomas Glavinics im literarischen Feld bezogen wird.26 Vor einer Woche habe ich meinen fünften Roman beendet. Die Arbeit der Nacht ist die Geschichte von Jonas, der eines Tages erwacht und feststellt, daß alle anderen Menschen verschwunden sind. Meine Agentin hat das Manuskript an verschiedene Verlage geschickt, und nun heißt es warten. Ich bin schlecht im Warten, deswegen mache ich schon am Nachmittag eine Flasche Wein auf. (S. 7f.)

Genau genommen problematisiert diese Szene gar nicht mehr die Geste des Schreibens und damit verbundene Widerstände selbst, sondern die dem literarischen Schreiben nachfolgenden, mehr oder weniger problematischen und verdorbenen Begleitumstände: nämlich die für die Publikation des Manuskriptes von Glavinics Die Arbeit der Nacht als literarisches Werk notwendigen »Praktik[en]«27 von Akteuren des literarischen Feldes. Literatursoziologisch gesehen hat die Einbettung des Werks in ein Beiwerk, das heißt in das »Netz objektiver Beziehungen […] zwischen Positionen«28 eines sozialen Feldes – hier also etwa in Handlungs- und Entscheidungszusammenhänge mit Agentin und Verlag – als sozialstruktureller Rahmen von Literatur einen unhintergehbaren Status. Dieser ist die Bedingung der Möglichkeit, dass im literarischen Feld, mithin im »Raum

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Einleitung. In: M. S. (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. In Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Zanetti. München 2004, S. 7–21, hier: S. 15. Campe: Die Schreibszene, S. 764. Ebd., S. 759. Sandro Zanetti: Logiken und Praktiken der Schreibkultur. Zum analytischen Potential der Literatur. In: Uwe Wirth (Hg.): Logiken und Praktiken der Kulturforschung. Berlin 2008, S. 75–88, hier: S. 77. Siehe für eine Skizze der Autorposition Glavinics im österreichischen literarischen Feld Günter Haika: Ein schlafwandelndes Chamäleon. Ein fiktiver Dialog über Thomas Glavinic. In: Michael Ritter (Hg.): praesent 2007. Das literarische Geschehen in Österreich von Juli 2005 bis Juni 2006. Wien 2006, S. 87–98. Campe: Die Schreibszene, S. 759. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 365.

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des Möglichen«29, überhaupt Erwartungen im Hinblick auf den Ich-Erzähler als Autor generiert werden können und dessen Text als Werk erscheint.30 Und genau auf diese durch die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen der literarischen Felder Österreichs und Deutschlands bereitgestellten »sekundären Formen des Wahrscheinlichmachens von Unwahrscheinlichkeit«31 weist Das bin doch ich immer wieder hin und realisiert sie als »Anfall von Literaturbetriebswiderwillen« (S. 188). Tatsächlich ist es denn auch die für den Ich-Erzähler tendenziell unbestimmte Übergangsphase32, »die Warterei« (S. 95), zwischen dem Akt des Schreibens am Computer und dem Akt der Veröffentlichung von Die Arbeit der Nacht im literarischen Feld, die zum dominierenden Thema von Das bin doch ich wird. Glavinic »fehlt die Beschäftigung am Schreibtisch« (S. 8) – und genau das nutzt er als Katalysator für sein Erzählen »von den eigenen neurotischen Abhängigkeiten vom Betriebsgeschehen«33: von der Ungewissheit, einen Verlag zu finden, über die lästige Produktion von Autorenfotos und das Führen von Interviews mit nur unzureichend vorbereiteten Journalisten, über das angespannte Abwarten der medialen Reaktion auf Vorabdrucke bis zum ersehnten Erscheinen des Romans im Hanser Verlag. »Seit Wochen laufe ich im Kreis. Ich denke immer dasselbe. Zeitungsartikel, Fernsehauftritte, Lesungen, und dabei abwarten, ob es kracht« (S. 185). Der Text inszeniert in gewisser Hinsicht die Figur ›Thomas Glavinic‹ als zwischen Person und Autorfunktion oszillierend, exemplifiziert also gleichsam den prozessualen Einstieg einer (privaten) Person als (öffentlicher) Autor in das literarische Feld. Inklusion und Exklusion in diesen ›Raum des Möglichen‹, soll das heißen, werden als strukturell unbestimmte, ›liminale‹ Phase, eben als von Neurosen geprägte ›Warterei‹, zur Darstellung gebracht. Da er »schlecht im Warten« (S. 8) ist, stellt der Ich-Erzähler nicht nur immer wieder fest, »daß ich betrunken bin und mir sterbenslangweilig ist« (S. 96). Auch verstrickt er sich als »Trottel« (S. 13) in allerhand »sinnleere[ ]« (S. 29) Gespräche vor und nach Veranstaltungen im Literaturbetrieb.

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Ebd., S. 371. Siehe speziell und grundlegend dazu Markus Joch und Norbert Christian Wolf: Feldtheorie als Provokation der Literaturwissenschaft. Einleitung. In: M. J. und N. C. W. (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005, S. 1–24. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 249. Siehe allgemein zu den damit angesprochenen Konvergenzen und Divergenzen zwischen einerseits dem prozessualen Gang durch Übergangszonen, für die sich die ethnologische Ritualforschung interessiert, und andererseits der durch soziale Positionierung strukturell erzeugten Inklusion und Exklusion, die die soziologische Feldtheorie stark macht, Rolf Parr: Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft. In: Achim Geisenhanslüke und Georg Mein (Hg.): Schriftkultur und Schwellenkunde. Bielefeld 2008, S. 11–63, hier: S. 27–30. Anja K. Johannsen: »In einem Anfall von Literaturbetriebswiderwillen«. Die Romane Thomas Glavinics im Geflecht des Literaturbetriebs. In: Paul Brodowsky und Thomas Klupp (Hg.): Wie über Gegenwart sprechen? Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt am Main u. a. 2010, S. 105–118, hier: S. 115.

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Unterdessen habe ich fünf weitere Gespritzte getrunken und unterhalte mich ohne direkten Sichtkontakt quer über den Tisch mit den Leuten vom Rabenhof. Jeder redet so vor sich hin, was dem jeweiligen Gegenüber das Gefühl geben muß, angesprochen zu werden, und wirklich, die deutsche Lektorin auf der Rabenhofseite und der größte Starautor der westlichen Welt auf meiner wirken zunehmend befremdet. Außerdem reden wir nicht gerade leise. Die üblichen Provokationen und Beleidigungen werden ausgetauscht. Ich merke selbst, daß wir uns benehmen wie Kinder, die einen Besucher durch schlechtes Betragen auf sich aufmerksam machen wollen, doch ich kann mein Verhalten nicht mehr kontrollieren. (S. 29f.)

Geht es der Rede vom Verderben der Literatur in ihrem und durch ihren Betrieb seit den 1990er Jahren um das auf seinen Warencharakter reduzierte Werk, die Beschädigung der literarischen Autonomie-Illusion oder das Kranken des Autorsubjekts an der literaturbetrieblichen Verwertungsmaschinerie, mithin um Auswirkungen sozialstruktureller Umbrüche wie Pluralisierung und Individualisierung einerseits, Veränderungen der Öffentlichkeiten und Zwänge des Marktes auf Prozesse der Literaturvermittlung andererseits, koppelt der Roman genau dies nicht zuletzt auch mit dem Klatsch oder Palaver hinter den Betriebskulissen und den damit einhergehenden Eitelkeiten der Beteiligten. Denn fordere der Betrieb auch keine großen literarischen Genies, so doch einen Autorentypus, der in geselliger Runde eine gute Figur abgebe, Smalltalk über »Literaturdebatte[n]« (S. 96) beherrsche und sich in Szene zu setzen wisse. Wird der Betrieb dazu als mehr oder weniger verdorbene »Mischung von Salon, Tafelrunde und Funktionärsbüro«34 ausgewiesen, markiert der Text mit Wien als »geographische[m] Horizont«35 und »Handlungsraum[ ]«36 indes gleichzeitig einen literaturhistorischen Bezugspunkt seines Programms. So knüpft Das bin doch ich nämlich nicht zuletzt an Themen und Motivstrukturen dessen an, was grob unter ›Wiener Moderne‹ firmiert, rekombiniert sie jedoch und stellt sie teils auf den Kopf. Neben dem geselligen Zusammensein vor allem nach »Literaturveranstaltungen in Wien« (S. 15), das an den intellektuellen Austausch auf distinguiertem Niveau in den Wiener Salons und Kaffeehäusern der Jahrhundertwende erinnern mag, zählt dazu zum einen das bereits mit dem Titel aufgerufene und mit der Bad-Szene zu Beginn zusätzlich an prominenter Stelle markierte Motiv des »Spiel[s] mit der Wirklichkeit und ihrer Verdopplung« (Klappentext). Hinzu kommen zum anderen aber auch und gerade die durchaus vorhandene Willens- oder Nervenschwäche des Ich-Erzählers, sein immer wieder beinahe leitmotivisch hervorgehobener Alkoholkonsum und der auch wiederum bereits in der Eingangsszene im Bad eingeführte Verweis auf seine körperlichen ›Missbildungen‹ und die damit verbundenen Leiden. Glavinics Rekombination dieser Motive besteht mit all dem jedoch weder darin, ästhetische Programme der ›Wiener Moderne‹ schlicht weiterzuführen, noch sie zu ironisieren. Wenn der Text mit dem Ich-Erzähler einen Künstler ins Zentrum stellt, dem »sterbenslangweilig« (S. 96) ist und der an krankhaften Neurosen und überreizten Nerven leidet, dann knüpft er zwar an solche Décadence-Vorstellungen

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Klaus Zeyringer: Ehrenrunden im Salon. Kultur – Literatur – Betrieb. Innsbruck u. a. 2007, S. 10. Barbara Piatti: Die Geographie der Literatur. Schauplätze, Handlungsräume, Raumphantasien. Göttingen 2008, S. 128. Ebd., S. 129.

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und ihre paradoxe, weil sowohl zerstörerische wie auch künstlerisch produktive Wirkung an. Er führt die Unterscheidung zwischen dem nach innen gerichteten ›ätzenden Nihilismus‹ und dem nach außen produzierten ›verführerischen Kulissenzauber‹ indes mit der Verdorbenheit des Literaturbetriebs um 2000 narrativ eng und reißt sie damit aus ihrem Ursprung im ›Höhenkamm‹ einer Variante der literarischen Moderne.37 Dazu formt der Text sein Erzählen mit einem Schreibverfahren, das die »Unterscheidung von realer und fiktionaler Realität«38 als Medium nutzt: insofern nämlich, als es die Szenen im Literaturbetrieb mit ›real existierenden‹ Entsprechungen zum einen von Literaturagenten, Autoren oder Literaturkritikern und zum anderen von Verlagen, Zeitungen und Zeitschriften oder Fernsehsendungen bestückt und so immer wieder einen – nicht zuletzt für die Homestory als Format der Literaturvermittlung typischen – Effekt von Authentizität39 erzeugt. So steht der Ich-Erzähler etwa via Handy mehr oder weniger in ständigem Kontakt mit Schriftstellerkollege und Freund Daniel Kehlmann. Der hat gerade ein Buch veröffentlicht, »das Die Vermessung der Welt heißt« (S. 12), und eilt damit als »Deutschlands literarischer Superstar«40 von Erfolg zu Erfolg – ganz im Gegensatz zum Ich-Erzähler Thomas Glavinic. Gleich mehrmals macht sich dieser wiederum (letztlich vergebliche) Gedanken über seine Chancen beim anstehenden Deutschen Buchpreis auf der Frankfurter Buchmesse und referiert dabei völlig fehlerfrei das Verfahren der Preisvergabe: »Schaffe ich es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises? Unter die ersten Sechs? Da muß ich es vorher erst mal unter die ersten Zwanzig schaffen, also auf die Longlist« (S. 185). Daneben wird etwa die tatsächliche Longlist des Buchpreises von 2006 im Modus einer ›Syndiegese‹41 abgedruckt (vgl. S. 236), eine E-Mail der real existierenden ›IG Autoren‹ zitiert (vgl. S. 116–117), und der Ich-Erzähler ärgert sich über tatsächlich erschienene Kritiken zu Glavinics Romanen (vgl. S. 147 und 212) in nicht weniger tatsächlich existierenden publizistischen Organen wie Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung oder Kronen Zeitung. Vor allem treten neben Kehlmann aber allerhand weitere ganz reale »Betriebsnummern«

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Vgl. dazu Wolfgang Lange: Im Zeichen der Dekadenz. Hofmannsthal und die Wiener Moderne. In: Rolf Grimminger u. a. (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 201–229, hier insbesondere S. 201–213. Siehe allgemein auch Dagmar Lorenz: Wiener Moderne. 2., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart/Weimar 2007. Niklas Luhmann: Literatur als fiktionale Realität. In: N. L.: Schriften zu Kunst und Literatur. Hg. v. Niels Werber. Frankfurt am Main 2008, S. 276–291, hier: S. 281. Im Sinne von Susanne Knaller: Ein Wort aus der Fremde. Geschichte und Theorie des Begriffs Authentizität. Heidelberg 2007, S. 21–24. Wilhelm Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar«? Daniel Kehlmann und sein Erfolgsroman Die Vermessung der Welt im literarischen Feld. In: Markus Joch u. a. (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009, S. 233–251, hier: S. 233. Siehe zum Darstellungsmodus der ›Syndiegese‹, der zufolge das Schriftbild eine Abbildung ist, die als Abbildung erzählt, Remigius Bunia: Mythenmetz & Moers in der Stadt der Träumenden Bücher – Erfundenheit, Fiktion und Epitext. In: J. Alexander Bareis und Frank Thomas Grub (Hg.): Metafiktion. Analysen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin 2010, S. 189– 201, hier: S. 196–197.

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(S. 96) auf – zum Beispiel Glavinics Agentin Karin Graf, Verleger Michael Krüger vom Hanser Verlag oder Literaturkritiker Denis Scheck. Mit all dem fingiert der Roman mithin nicht nur eine autobiografisch angelegte Homestory, sondern weist sich selbst gleichsam auch als ›unverschlüsselter‹ Schlüsselroman42 über die verdorbenen literarischen Öffentlichkeiten Deutschlands und Österreichs aus. Mithilfe der »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung«43 inszeniert er eine wenig verhüllte »Wut auf den Literaturbetrieb« (S. 96) – und dies mit einem Ich-Erzähler im Zentrum, der sich immer wieder über die Bedingungen des literarischen Feldes und deren Akteure nahezu resignierend beschwert: »noch immer kein berühmter Schriftsteller, noch immer nicht reich, noch immer kein neuer Verlag« (S. 41).

2.

»die wollen schreiben wie ich BIN«

Der Einbau ›realer‹ Literaturbetriebsakteure und -instanzen scheint Das bin doch ich vollkommen in die Wirklichkeit zu verlegen und als selbstironische Abrechnung Glavinics mit dem Betrieb auszuweisen. Doch der Text steuert dem Abdriften in die Positionskämpfe in den real existierenden literarischen Feldern Österreichs und Deutschlands entgegen. Mit dem kontinuierlichen, über die 24 Kapitel vollzogenen Alternieren der Darstellung sozialstruktureller Rahmenbedingungen von Literatur mit den zum Teil slapstickartigen Szenen der Privatperson Thomas Glavinic gehen Strategien der fi ktionalen Distanzierung und vervielfältigenden Kontextualisierung einher, die die erzeugten Authentizitätseffekte durchbrechen. Dazu zählt zum einen die Staffelung der in die Narration eingebauten Partikel aus der »realen Realität«44 nach Wiedererkennungswert. Die Figurendarstellung schöpft aus einem Pool von realen Personen, der vom massenmedial stark verbreiteten und somit auch über die Grenzen des literarischen Feldes hinaus berühmten Daniel Kehlmann über mehr oder weniger bekannte Figuren wie den im Feuilleton beheimateten Klaus Nüchtern, Personen des österreichischen öffentlichen Lebens wie die ehemaligen Sportstars Werner Schlager und Herbert Prohaska sowie Figuren der regionalen Wiener Literaturszene (Rabenhof) bis hin zu Figuren aus Glavinics engstem Familienkreis reicht, die öffentlich gänzlich unbekannt sind. Mit dieser Schichtung des Bekanntheitsgrads nach räumlichen (nationalen, regionalen) und funktionalen Subfeldern, die den Leser jenseits der von ihm ›erkannten‹ Personen immer noch weitere, ihm ›unbekannte‹, aber gleichwohl vermutlich ›bekannte‹ oder ›reale‹ Personen annehmen lässt, nimmt der Ich-Erzähler die Unterscheidung zwischen realer Person und fiktionaler Figur als kaskadenartig eingerichtete Re-entries operativ in Anspruch. Die Sichtbarkeit der sozialen Zusammenhänge, in denen sich der Ich-Erzähler positioniert und an denen er leidet, wird darüber hinaus durch das erzeugt, was man als

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Vgl. zu den ›Problembereichen‹ des Schlüsselromans Gertrud Maria Rösch: Clavis Scientiae. Studien zum Verhältnis von Faktizität und Fiktionalität am Fall der Schlüsselliteratur. Tübingen 2004, S. 7f. Ebd., S. 7. Luhmann: Literatur als fiktionale Realität, S. 282.

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Schema des Peinlichen bezeichnen könnte – und zwar sowohl im Literaturbetrieb wie auch im privaten Leben. Denn Thomas Glavinic ist ein Erzähler, dem »als ungeschickte, neurotische Figur […] allerlei Unannehmlichkeiten passieren«.45 Als peinlich wird dabei das beobachtet, was gegen Konventionen, Manieren oder Verhaltensformen verstößt, die sozial und situativ vorgeschrieben sind. Der Text versteht Peinlichkeit mithin als psychische Last wie auch als Belästigung. »Dem als peinlich empfundenen Vergehen liegt ein Verstoß gegen die ungeschriebenen Regeln des sozialen Umgangs, der Etikette, des guten Tons oder Geschmacks zugrunde«.46 Als Inhalte und Auslöser von Peinlichkeit greift Das bin doch ich auf ein relativ unspektakuläres Inventar an Situationen, Themen und Konstellationen mit Peinlichkeitspotenzial zurück.47 Dazu zählen die unfreiwillige Entblößung des Ich-Erzählers zum Beispiel durch Ungeschicklichkeit (»Nun liegt meine Brücke vor mir im Zugklo, während ich mit nacktem Hintern auf dem Boden knie, Fieber habe und sich mein Magen zusammenkrampft«, S. 125), die unfreiwillige Entblößung anderer Figuren durch deren eigenes Handeln oder widrige Umstände (etwa die vom Ich-Erzähler als peinlich empfundenen Hilferufe von Schwiegervater Gunther im nicht mehr funktionstüchtigen Lift, vgl. S. 98–109) und unfreiwillige Entblößungen von Tatsachen, die auf Situationen referieren und nicht ohne Weiteres auf einzelne Personen zurückgerechnet werden können (beispielsweise die sinnleeren, in Alkohol getränkten Gespräche vor und nach literarischen Veranstaltungen, vgl. S. 29f.). Erweist sich Peinlichkeit insofern als ein narrative Kohärenz stiftendes Element zwischen den Szenen im Privaten und den Literaturbetriebs-Szenen, das darüber hinaus den Anforderungen an die Form der Homestory und des damit gekoppelten voyeuristischen Blicks hinter die Betriebskulissen entspricht und nicht zuletzt für die immer wieder angemerkte Komik des Romans verantwortlich ist, wird sie indes derart ausgestellt, dass sich in der Literaturkritik die Vermutung einstellt, »dass Glavinic seine eigene Realität, die des Literaturbetriebs und seines Personals niemals eins zu eins aufgeschrieben haben kann«.48 Zu viel ausgestellte Peinlichkeit wirkt offenbar nicht mehr authentisch. Im Vordergrund steht damit gar nicht so sehr das Peinliche und das damit einhergehende Leiden des Autors an sich, »sondern lediglich ein im Hinblick auf ein bestimmtes Publikum als peinlich Unterstelltes«.49 Der Text nutzt das Schema des Peinlichen insofern vor allem, um die kommunikative Einbettung des Ich-Erzählers und deren Gefährdung zu markieren: Die durch einen Normverstoß in einem sozialen Feld hervorgerufene Peinlichkeit exkludiert tendenziell die Person, der peinliches Verhalten zugeschrieben wird, aus ebendiesem Feld, erzeugt zumindest eine »Exklusionsfurcht«50 und unterstellt

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Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur nach 1945. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. Innsbruck u. a. 2008, S. 509. Alexandra Pontzen: Peinlichkeit und Imagination. In: Jörg Huber u. a. (Hg.): Archipele des Imaginären. Zürich 2009, S. 235–250, hier: S. 236f. Vgl. ebd., S. 242. Nina Berendonk: Schlimme Schriftsteller. In: Süddeutsche Zeitung v. 17. Januar 2008. Pontzen: Peinlichkeit und Imagination, S. 250. Peter Fuchs: Die Funktion der Peinlichkeit – modern. In: Jörg Huber u. a. (Hg.): Archipele des Imaginären, S. 209–223, hier: S. 211.

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dem jeweiligen Beobachter ein unangenehmes Berührtsein. Bedient das Peinliche also auch zunächst die Form der Homestory, nutzt Das bin doch ich gerade den Blick ins Private, um die erzeugten Realitätseffekte zu irritieren. Dort, wo peinliches Verhalten beobachtet wird, ergibt sich dem Beobachter gewissermaßen ein Blick auf die illusio51 des Feldes. Dabei geht es nicht um die Fiktionalität des Privaten an sich, sondern den Kontrast, die Unterscheidung zwischen Öffentlichem und Privatem. Glavinic zieht »Binnendifferenzierungen«52 in den Text ein, die gerade in der Fixierung auf seine Person oder auf die den »Betriebsnummern« (S. 96) entsprechenden realen Personen eindeutige Zurechnungen auf den ›tatsächlichen‹ Literaturbetrieb verstellen. So erweist sich die grundsätzliche Beobachterabhängigkeit und Kontingenz der all dem zugrunde liegenden Beobachtungsdirektive von Öffentlichem und Privatem, die den voyeuristischen Blick auf das Intime hinter den Kulissen dirigiert.53 Die damit erzeugte Rückbindung des Verderbens der Literatur an den Rahmen des literarischen Feldes wird schließlich noch dadurch verstärkt, dass das Verhältnis von Semantik und Sozialstruktur den gesamten Roman hindurch immer wieder auf der Ebene der histoire thematisiert wird. Dazu zählt die Kopplung von (schriftstellerischer) Identität und massenmedialer Selbstreferenz: Bei Perlentaucher lese ich, jemand schreibt in der Süddeutschen, Daniel sei der beste Autor seiner Generation. Ich zucke zusammen. Das bin doch ich! mein erster Gedanke. (S. 41)

Dass es mit der Beantwortung der Frage, wer denn nun dieses leidende »ich« eigentlich ist, nicht so einfach ist, wird daneben durch ein entstellendes Spiel mit der Aussprache des Signifikanten ›Glavinic‹ – »Klawenetsch« (S. 38) »Glwntsch« (S. 157) oder »Glawischnig« (S. 237) – auf den Punkt gebracht. Gibt sich der Ich-Erzähler darüber erstaunt, »was die Leute so denken, wenn man ein- oder zweimal in der Zeitung gestanden hat« (S. 165), ist es schließlich ausgerechnet der erst rekursiv in den Massenmedien erzeugte literarische Superstar Deutschlands, Daniel Kehlmann, der »sich über den Blödsinn [beschwert], der über ihn geschrieben wird« (S. 113). Denn die wollen schreiben wie ich BIN! Die wollen was über mich schreiben als PERSON verstehst du als MENSCH wie ich bin wollen sie ihren Lesern vermitteln und da schreibt einer ich sei der SCHRIFTSTELLER-SCHLAKS! Also bitte bin ich schlaksig? (S. 114)

Neben Schreib-Szenen der Arbeit an Das bin doch ich – so korrigiert und bearbeitet der Ich-Erzähler immer wieder Aufzeichnungen, »die ich mir zu meinem nächsten Roman gemacht habe« (S. 176) – wird der Text darüber hinaus punktuell durch inter- und intratextuelle Verweise bestimmt, die sich als metafiktionale Kommentare zum eigenen Schreibverfahren lesen lassen. So ergibt sich gleich zu Beginn mit dem Auftritt des wohl

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Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 360–365. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2003, S. 198. Vgl. dazu auch Thomas Schwietring: Zeigen und Verbergen. Intimität zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung. In: Herbert Willems (Hg.): Theatralisierung der Gesellschaft. Bd. 1: Soziologische Theorie und Zeitdiagnose. Wiesbaden 2009, S. 259–277.

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»größte[n] Starautors der westlichen Welt« (S. 25) Jonathan Safran Foer etwa ein intertextueller Verweis auf ein mögliches literaturprogrammatisches Vorbild für das Textverfahren.54 Schließlich setzt sich der real existierende Roman im Roman, Die Arbeit der Nacht 55, mit existenziellen Fragen und dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auseinander, die Das bin doch ich in werkgeschichtlicher Kontinuität auf das Verhältnis von Autor und literarischem Feld verdichtet.

3.

Buchpreis-Bewerbungsschreiben

Die Kombination aus beidem – dem schreibtechnischen Einbau von Realitätspartikeln in fiktionale Kontexte und der Thematisierung und Reflexion von Realitätskonstruktionen – führt Nuancen in den Text ein, die Zurechnungen auf den ›realen‹ Literaturbetrieb ganz erheblich irritieren. Monoreferenzialisierte Lektüren des Textes als ›unverschlüsselter‹ Schlüsselroman im Sinne eines enthüllenden Blicks hinter die Betriebskulissen werden so stark gestört. Für die Lektüre des Textes ist das Wissen um die realen Entsprechungen der Literaturbetriebsfiguren und -instanzen zwar nicht entscheidend, es löst aber gleichwohl »Feedbackeffekte«56 aus, die durchaus bemerkbare Auswirkungen auf die öffentliche Rezeption des Buches haben. Als der Börsenverein des Deutschen Buchhandels nämlich im August 2007 die Longlist für den Deutschen Buchpreis bekannt gibt, zählt zu den zwanzig Auserwählten auch Das bin doch ich.57 Während die Mehrzahl der Pressestimmen Glavinics Roman für den »mit Abstand ungewöhnlichste[n] Schmöker auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis«58 hält, sieht sich die Grande Dame der deutschen Literaturkritik Sigrid Löffler hingegen nur einmal mehr in ihrer Meinung über den deutschen Literaturbetrieb bestätigt: »Es funktioniert also tatsächlich. Man kann als Autor die Jury des Deutschen Buchpreises ins Bockshorn jagen«.59 Löfflers Unverständnis über Glavinics Nominierung kann dabei zunächst durchaus überraschen. Denn die Juryentscheidung als solche ist, wenn nicht zu erwarten gewesen, so doch

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Neben Foers Everything is Illuminated ist wohl Bret Easton Ellis’ Lunar Park zu nennen. Siehe speziell zu diesem Detektivspiel Günter Haika: »there is no catharsis«. Ein fiktiver Dialog über einige Vorbilder der gegenwärtigen Österreichischen Literatur. In: Michael Ritter (Hg.): praesent 2009. Das literarische Geschehen in Österreich von Juli 2007 bis Juni 2008. Wien 2008, S. 79–90, hier: S. 87. Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht. 5. Aufl. München/Wien 2006. Einen Überblick über den Roman bietet Birgit Holzner: Thomas Glavinics Endzeitroman Die Arbeit der Nacht. In: Evi Zemanek und Susanne Krones (Hg.): Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000. Bielefeld 2008, S. 215–224. Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 201. Siehe http://www.deutscher-buchpreis.de/de/135020 (1. September 2010). Eine andere Feedbackschleife zentriert sich um den ›realen‹ und den ›fiktiven‹ Daniel Kehlmann. Siehe dazu etwa das Interview mit Kehlmann: »Ich mache mich jetzt sicher unbeliebt«. Daniel Kehlmann findet Österreichs Nationaldichter Thomas Bernhard verlogen. In: Der Tagesspiegel v. 1. Juni 2008. Brigitte Helbling: Ein Mann will nach oben. In: Welt am Sonntag v. 11. November 2007. Sigrid Löffler: Thomas Glavinic: Das bin doch ich. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen, November 2007.

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zumindest nachvollziehbar. Zum einen liegen 2007 mit Der Kameramörder60 und Die Arbeit der Nacht immerhin zwei sowohl von einem größeren Publikum als auch von Kennern der literarischen Felder Österreichs und Deutschlands beachtete, mit symbolischem Kapital prämierte Romane vor, von denen der eine zudem im renommierten Hanser Verlag erschienen ist; zum anderen wird Glavinic derjenigen Autorengeneration zugeordnet, von der es heißt, sie trage zur lang ersehnten »Renaissance des Erzählens«61 (nicht nur) in Österreich bei.62 Der Autor hat im Literaturbetrieb mithin bereits durch Positionsnahmen63 auf sich aufmerksam machen können, gilt als aufstrebender, förderungswürdiger Jungautor und ist genau damit als potenzieller Preisträger im literarischen Feld anschlussfähig. Löffler stört sich denn auch nicht so sehr am Autor Glavinic selbst, sondern liest Das bin doch ich in ihrer ›kurzen und bündigen‹ Rezension als Ausdruck einer literaturbetrieblich verdorbenen Literatur im Sinne Breitensteins: Glavinic gehe es nämlich weniger um die Umsetzung einer wie auch immer gearteten Ästhetik als vielmehr um massenmediale Aufmerksamkeit und damit Verkäuflichkeit – und dies werde im Feld auch noch goutiert. Wenn man es mit seinem Roman nicht einmal auf die Longlist geschafft hat, schreibt man im Jahr darauf einen Roman darüber, wie man es nicht auf die Longlist geschafft hat, nennt ihn ›Das bin doch ich‹, um auf die Verwechslungsgefahr von Autoren-Ich und Roman-Ich empfehlend hinzuweisen – und siehe da: die Jury lässt sich von der Ich-Fiktion ganz real düpieren, fühlt sich gemeint und zieht ›Das bin doch ich‹ ernstlich in Preis-Erwägung.64

Das Verwerfliche an Glavinics Nominierung sei also, dass mit Das bin doch ich ein Roman mit dem auch im literarischen Feld knappen Gut Aufmerksamkeit65 bedacht werde, der sich gleichsam, so formuliert Wolfgang Höbel, als »Buchpreis-Bewerbungsschreiben«66 lesen lasse, dessen Autor sich also an eine sich seit 2005 etablierende Konsekrationsinstanz des deutschen literarischen Feldes anbiedere. Mehr als der lesenden Branche »einen kleinen Prickelreiz«67 zu verschaffen, gelinge dem Text indes nicht. Auch wenn Löfflers Kritik im Ergebnis für eine Minderheitenposition in der sich im Überblick durchaus erfreut äußernden Kritik steht, ist sie dennoch symptomatisch für

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Thomas Glavinic: Der Kameramörder. Frankfurt am Main u. a. 2001. Helmut Gollner: Die Wahrheit lügen. Die Renaissance des Erzählens in der jungen österreichischen Literatur. Innsbruck u. a. 2005. Vgl. Verena Holler: Autonomie und Heteronomie – das Profane und das Kulturelle. Überlegungen zum österreichischen Literaturbetrieb der letzten Jahre. In: LiTheS. Zeitschrift für Literaturund Theatersoziologie 1 (2008), S. 52–71, hier insbesondere S. 62–65. Siehe in diesem Zusammenhang den etwas kuriosen Artikel von Eberhard Sauermann, der Glavinics Kameramörder im Hinblick auf das Skandalschema analysieren möchte und verwundert feststellt, dass der Text keinen Skandal ausgelöst hat. Eberhard Sauermann: Thomas Glavinic’ »Der Kameramörder« – doch kein Skandal? In: Stefan Neuhaus und Johann Holzner (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen. Göttingen 2007, S. 666–677. Löffler: Thomas Glavinic. Dies im Sinne von Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. 3. Aufl. München/Wien 2002. Dies allerdings ironisch. Wolfgang Höbel: Das Bewerbungsschreiben. In: Der Spiegel (2007) 41. Löffler: Thomas Glavinic.

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den Umgang mit den durch Glavinics Schreibverfahren provozierten Rückkopplungen zwischen Werk und Beiwerk. Symptomatisch insofern, als Löffler wie auch die meisten anderen literaturkritischen Stimmen den durch die Form der Homestory angelegten Blick hinter die Betriebskulissen entweder zwar als mehr oder weniger boulevardesk spannend zur Kenntnis nehmen, im gleichen Schritt aber als letztlich sekundär und unbedeutend abwerten oder den Roman explizit loben, obwohl (und nicht weil) er eine Art Literaturbetriebsroman oder -satire darstelle, denn »als Romancier [schreibt man] nicht über den Literaturbetrieb, als gäbe es sonst nichts Interessantes auf der Welt«.68 Für das Interessante des Romans lässt sich, so scheint es, nur über das Ausblenden der Lesart als ›unverschlüsselter‹ Schlüsselroman argumentieren, ist doch ein Roman »über den Literaturbetrieb […] so ziemlich das uninteressanteste Vorhaben, das sich ein Autor vornehmen kann«.69 In umgekehrter Richtung insistiert Sigrid Löffler auf dieser Lesart und kann den Roman deshalb kritisieren und als letztlich irrelevante, verdorbene Literatur qualifizieren. Doch gerade die Literaturbetriebs-Szenen und der damit ausgestellte »gehobene[ ] literaturbetriebliche[ ] Klatsch[ ]«70 sind Teil der »Selbstprogrammierung«71 von Das bin doch ich als Werk und der »Positionierung«72 Glavinics im literarischen Feld. Das Verderben der Literatur im Literaturbetrieb wird nämlich nicht nur auf der HistoireEbene des Textes thematisiert und durch die Form der Homestory auf der DiscoursEbene umgesetzt, sondern auch und gerade auf die Ebene der sozialstrukturellen Positionierung Glavinics projiziert und dort als die Genese eines literarischen Textes im literarischen Feld vorgeführt. In der paratextuellen »Übergangszone«73 zwischen realer und fiktiver Welt setzt sich nämlich mit dem ganz ›real existierenden‹ Autor Thomas Glavinic die Literaturbetriebs-Szene fort. So ist ein durchgängiger Themenkomplex in Interviews, Rezensionen und Berichten über Lesungen aus Anlass von Das bin doch ich die wie auch immer ironisch (aus)gestellte Frage, ob ›der wahre Thomas Glavinic‹ denn nun ›wirklich‹ so sei, wie es der Roman vermuten lasse. Wenn Glavinic dabei selbst wiederholt die Unterscheidung zwischen Erzähler und Autor bemüht, indem er auf den kategorialen Unterschied zwischen Roman und Autobiografie hinweist, lösen sich autobiografische Lesarten jedoch letztlich ebenso wenig auf wie der Versuch, den Roman unter Rückgriff auf die Autorfunktion Thomas Glavinic zu verrechnen. Solche Referenzialisierungen werden vielmehr über die Rede darüber umgeleitet, indem nicht zuletzt das Qualitätsfeuilleton die Illegitimität der Autor-Erzähler-Korrelation zwar her-

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Ursula März: Ohne ein Fitzelchen Fiktion. In: Die Zeit v. 19. September 2007. Richard Kämmerlings: Das Ich im Kreise seiner Teufel. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 1. September 2007. Doja Hacker: Schriftsteller im Wartestand. In: Der Spiegel. Spiegel Special (2007) 5. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 331. Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 368. Uwe Wirth: Paratext und Text als Übergangszone. In: Wolfgang Hallet und Birgit Neumann (Hg.): Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaft und der Spatial Turn. Bielefeld 2009, S. 167–177, hier: S. 167.

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ausstreicht, aber im Gestus des überlegenen Wissens um das eigentlich ›Verwerfliche‹ an diesem Kurzschluss spielerisch eben doch auf die Person Glavinic verweist. Dem Glavinic ist es nämlich sehr wichtig, damit spaßt er oft an diesem Abend, dass auf seinem lustigen Buch mit dem Titel ›Das bin doch ich‹ das Wort ›Roman‹ draufsteht, damit man auch ja nichts, schon gar nicht die Hauptfigur, mit der Wirklichkeit verwechselt. Was natürlich doch jeder tut, Homestorys sind so schön, auch wenn nicht allzu viel Wahres dran ist.74

Der Abstand zwischen Ich-Erzähler und Autor wird auf diese Weise weder vergrößert noch verringert, sondern verbleibt im Oszillieren. Gleichzeitig werden jede Lesung, die Auftritte auf der Frankfurter Buchmesse, Interviews, selbst die Nominierung für den Deutschen Buchpreis Teil des literarischen Programms der Literaturbetriebs-Szene. Nimmt man die Beobachtung, dass das Beiwerk erst ein Werk als Werk erscheinen lässt, ernst, lässt sich Das bin doch ich als ein Text verstehen, der zwar durch die Gattungsbezeichnung ›Roman‹ peritextuell markiert ist, aber gerade deshalb in Kombination mit seinem Schreibverfahren die Aufmerksamkeit nicht nur auf den eigentlichen Text, sondern auch auf dessen Verhältnis zu vermeintlich zweitrangigen Paratexten lenkt. Auf dieser Basis kann Glavinic gleichzeitig auf den fiktionalen Status »seine[s] lustigen Buch[s]« wie auf das Authentische seiner Person verweisen und dabei die binäre Unterscheidung von eigentlichem Werk und eigentlich sekundärem Beiwerk gleichermaßen hybridisieren wie letztlich, und darauf kommt es an, bestätigen und verfestigen. Nicht zufällig erscheint passend zur Buchmesse ein kurzer Essay Glavinics im Spiegel, in dem er ganz im Schema des Peinlichen, wie es in Das bin doch ich Verwendung findet, über seine Erlebnisse in Frankfurt berichtet. Auf großen Bildschirmen werden Kurzporträts aller sechs Shortlist-Autoren gezeigt. Das quält mich, weil ich Neurotiker bin und weder mein Gesicht noch meine Stimme ertrage, schon gar nicht auf Bildschirmen beziehungsweise aus Lautsprechern. Als mein Porträt kommt, stöpsle ich mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren und drehe so laut auf, wie ich es ertragen kann, zudem senke ich den Kopf und beschatte die Augen mit der Hand. Ich glaube, auf den Sitzen ringsum eine gewisse Verwunderung wahrzunehmen, aber das ist mir gleichgültig.75

»›Herr Glawatschnig, wieso haben Sie den Deutschen Buchpreis nicht gekriegt?‹«76 Spätestens mit dieser Frage scheint die Unterscheidung von Werk und Beiwerk zu implodieren, der für den Buchpreis 2007 nominierte Autor Glavinic mit dem Protagonisten seines Romans zu fusionieren. Analog zum peinlichen Ich-Erzähler Thomas Glavinic, der sich als leidend am verdorbenen Literaturbetrieb darstellt, verfährt der Autor Thomas Glavinic, der nun – ›ganz real‹ – ebenso leidend an Buchmesse und Betrieb auftritt. Der Ich-Erzähler Thomas Glavinic steigt aus dem eigentlichen Text heraus, um in dessen paratextuellem Umfeld, im literarischen Feld, als Autor Thomas Glavinic zu wuchern.

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Monika Goetsch: Das bin ich nicht. In: Süddeutsche Zeitung v. 19. Januar 2008. Thomas Glavinic: Ein Mangel an Anarchie. In: Der Spiegel (2007) 42. Ebd.

Das bin ich nicht

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Die Metalepse77 besteht hier also nicht darin, dass der Autor sich auf illegitime Weise im Werk zu Wort meldet. Die »Konfusion[ ]«78 des Rahmens wird vielmehr im Rahmen, im Bereich des Epitextes vom Ich-Erzähler vollzogen, der sich dort als Autor positioniert, um somit nicht zuletzt die im Literaturmarketing beliebte Korrelation von Autor und Erzähler gleichsam von hinten aufzuziehen. Denn so darf »Thomas Glavinic […] jetzt endlich mal der Thomas Glavinic aus dem Buch sein, ein wenig zumindest«.79 Die Frage, was denn nun eigentlich Werk und was Beiwerk ist, kulminiert schließlich in der Frage nach dem Status des Eintrags zum Autor ›Thomas Glavinic‹ in Wikipedia. Zu Mittag habe ich das fünfte Interview. Ich finde es interessant zu beobachten, daß auch dieser fünfte Journalist die Wikipedia-Seite über mich vor sich liegen hat. Ich finde es schon deswegen interessant, weil ich die selbst geschrieben habe. Also zumindest die erste Fassung. Ist schon eine Weile her, zwei Jahre bestimmt, ich hatte keine Lust, darauf zu warten, bis irgendein Lump Bösartigkeiten über mich verbreitet. Ein wirklich sachlicher Artikel übrigens, ich lobte mich nicht besonders, über mein zweites Buch schimpfte ich sogar, natürlich im Rahmen. Aus taktischen Gründen von mir hinterlassene Detailfehler (falsches Geburtsjahr etc.) wurden von eifrigen Usern bald korrigiert, die seither den Artikel auch immer wieder auf den neuesten Stand bringen, so daß er keine große Ähnlichkeit mehr hat mit meinem. (S. 211f.)

Dass sich im tatsächlichen Wikipedia-Artikel nun ein Verweis auf genau diese Textstelle findet und dass dort von den beteiligten Usern darüber hinaus vorsichtig angenommen wird, die Behauptung des Ich-Erzählers sei wohl ›zumindest teilweise‹ zu bestätigen, gibt nicht nur Interpretationsansätzen tragfähige Anhaltspunkte für Referenzialisierungen im wirklich wahren Leben, die den Roman als mehr oder weniger selbstironische Entlarvung der verdorbenen Betriebe Österreichs oder Deutschlands lesen. Der Eintrag performiert vielmehr Rückkopplungen zwischen Text und Epitext, zwischen Roman und Beiwerk, die – trotz der Verwendung von Konjunktiv und dem ebenso vorbildlichen wie unvermeidlichen Hinweis auf den Unterschied zwischen Autor und Ich-Erzähler – zunächst die Grenze zwischen der erzählten Welt und dem wirklich wahren Leben ganz erheblich irritieren. Unter der Überschrift ›Thomas Glavinic und die Wikipedia‹ heißt es in der Online-Enzyklopädie: In seinem Roman Das bin doch ich (2007) behauptet der Ich-Erzähler (der ebenfalls »Thomas Glavinic« genannt wird), diesen Wikipedia-Eintrag als Erster angelegt zu haben; sein Geburtsdatum habe er absichtlich vordatiert und einen seiner Romane absichtlich negativ bewertet, um sich nicht in den Verdacht zu bringen, sich selbst eingetragen zu haben. Tatsächlich ist in der ältesten Fassung des Wikipedia-Artikels Thomas Glavinic vom 21. März 2004 ein falsches Geburtsdatum zu finden, aber keine Negativkritik eines Werkes. Erst in der Version vom 27. Oktober 2004 findet sich eine Negativkritik, und zwar des Romans Herr Susi. Beide Versionen des Artikels stammen jedoch von einem Chello-Kunden aus Wien, was die Behauptung in Das bin doch ich zumindest teilweise bestätigen würde. Außerdem gibt der Erzähler ›Thomas Glavinic‹ in dem Roman an, dass ›alle (…) Journalisten‹, denen er im Vorfeld der Veröffentlichung des

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Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus d. Franz. v. Andreas Knop. Hg. v. Jochen Vogt. 2. Aufl. München 1998, S. 167–168. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 415. Christian Mayer: Warum heißt Ihr Roman »Das bin doch ich«? In: Süddeutsche Zeitung v. 13. Oktober 2007.

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Romans Die Arbeit der Nacht ein Interview gegeben habe, diesen Eintrag ausgedruckt vor sich liegen gehabt hätten.80

Wenn der (›reale‹) Eintrag hier behauptet, der (›fiktive‹) »Ich-Erzähler« habe genau »diesen [›realen‹] Wikipedia-Eintrag« angelegt, kollabiert bei aller begrifflichen, letztlich aber umso hilfloseren Genauigkeit die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion, weil die innertextuelle Welt in die Zwischenzone des Paratextes hinein ausgeweitet wird. Dieser ist damit nicht mehr nur noch lediglich sekundäres Beiwerk, sondern wird in die Selbstprogrammierung des Werks hineingezogen. Genau damit entzündet sich an der Wikipedia-Frage aber paradoxerweise ein Zusammenspiel von Autor und Betrieb, das dem Autor letztlich die Kontrolle über sein Bild in der medial vermittelten Öffentlichkeit zuschreibt. Der Ich-Erzähler und/oder Autor Glavinic reißt in dieser LiteraturbetriebsSzene die Rolle der mehr oder weniger autonomen, das heißt die Regeln vorgebenden Instanz an sich, indem er dem Journalisten, der seinem literarischen Schreiben und Handeln offenbar unkontrollierbare, verdorbene »Praktik[en]«81 entgegensetzt, die Grenzen aufweist. Das Verdorbene des Literaturbetriebs, hier exemplarisch mit der mangelhaften Recherchearbeit des Journalisten thematisiert, wird damit an Glavinic zurückgebunden, um es so nicht nur zu fiktionalisieren, sondern als vom Autor ausgelösten und strategisch kontrollierbaren Akt auszuweisen.

4.

Literatur in statu nascendi

Mit Blick auf Thomas Glavinic als Akteur der literarischen Felder Österreichs und Deutschlands realisieren die Literaturbetriebs-Szenen in Das bin doch ich eine posture 82, eine Form der Selbstdarstellung, die Glavinic dazu dient, seinen Habitus gleichsam zu ›erfinden‹, sein Leben also als Teil seines Werks zu begreifen und die eigene Feldposition gleichsam zu ›erspielen‹. Als Selbstpositionierung transformiert der Text das nicht zuletzt von Andreas Breitenstein diagnostizierte Dilemma eines jeden Autors, unweigerlich zum Objekt der literaturbetrieblichen Verwertungsmaschinerie degradiert zu sein, in eine Rückeroberung und Potenzierung des Subjektcharakters Glavinics, also als Geste der Autonomie. Nicht zuletzt die Szenen des vermeintlich oder tatsächlich Peinlichen sind mithin nur vordergründig Ausdruck eines Schreibverfahrens, das möglichst komische Effekte erzielen will. Die Thematisierung des Peinlichen signalisiert als Thematisierung vielmehr, dass der Ich-Erzähler sich seines peinlichen Handelns durchaus bewusst ist. Er agiert gerade nicht als ahnungsloses Opfer, dem Peinliches immer wieder unterläuft, sondern stellt sich als »artistischer Meister des eigenen Fehlverhaltens«83 dar. Seine kreative Potenz, die unter anderem zu »eine[m] der komischsten Romane unserer

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http://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Glavinic (1. September 2010). Campe: Die Schreibszene, S. 759. Vgl. dazu Jérôme Meizoz: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq. In: Joch und Wolf (Hg.): Text und Feld, S. 177–188, hier insbesondere S. 177. Alexandra Pontzen: Nach der Scham: Nur noch Peinlichkeit. Beobachtungen zur literarischen

Das bin ich nicht

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Zeit« (Klappentext) befähigt, erweist sich mitunter »in der Beherrschung des Peinlichen als Produkt künstlerischer Imagination«.84 Denn nur im »Bereich absichtsvoller Enthüllung«85 kann Glavinic sich zum einen »als mehr oder weniger gut integrierte[r] Teil des debilen Betriebs«86 darstellen und sich zum anderen dennoch oder gerade deshalb als handlungsmächtiger Autor im Feld positionieren. Mit der Selbsttransformation in das Literaturvermittlungsformat der Homestory, die mit mehr oder weniger autobiografischem und authentischem Marketinganspruch auftritt, erweist sich Das bin doch ich darüber hinaus als autofiktionaler Text.87 Der Roman greift auf die Namensidentität zwischen realem Autor und fi ktivem Ich-Erzähler zurück und beansprucht zugleich Fiktionalität für sich – ein Verfahren, auf das nicht nur die literaturkritische Rezeption hinweist, sondern das auch Glavinic selbst immer wieder in Interviews explizit thematisiert. Mein Roman ist auch ein Spiel mit Identitäten. Wenn man eine Ich-Erzählung schreibt, wird man ohnehin immer gefragt, ob oder inwieweit sie autobiografisch ist. Ich wollte dieses Spiel weitertreiben. Autor und Ich-Erzähler heißen gleich – und sind trotzdem nicht ident.88

Einerseits verweist Glavinics posture jede Vorstellung eines unverstellten Blicks hinter die Kulissen des Betriebs und auf seine private Person an das Spiel mit »der Wahrheit und ihrer Erdichtung« (Klappentext), andererseits wird dieses ›Spiel‹ als posture in und zwischen Text und Paratext derart forciert, dass sich immer wieder die Frage nach dem ›Spieler‹ stellt. Bei Das bin doch ich handelt es sich insofern nicht um einen autobiografischen Text, der die Unmöglichkeit reflektiert, »gelebtes Leben ›so wie es tatsächlich war‹ wiederzugeben«89, und somit immer wieder seinen eigenen Konstruktionscharakter hervorhebt. Der Text knüpft an diese »fundamentale Skepsis gegenüber dem referenziellen Diskurs der Autobiografie und dessen Wahrheitsanspruch«90 zwar an, wenn er sich als Homestory inszeniert und dabei die voyeuristische Hoffnung, das wirklich wahre Leben hinter der Betriebs- und Autorinszenierung zu entdecken, in gewisser Hinsicht konterkariert. Gleichwohl reflektiert der Text aber auch und gerade sein eigenes sozial-

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»Psychogeschichte der Republik«. In: Klaus Berndl u. a. (Hg.): Scham. Erzählungen, Glossen, Essays & Erinnerungen. Tübingen 2005, S. 37–55, hier: S. 53. Pontzen: Peinlichkeit und Imagination, S. 241. Ebd. Johannsen: »In einem Anfall von Literaturbetriebswiderwillen«, S. 115. Siehe zu den Spezifika autofiktionaler Texte die Zusammenfassung bei Claudia Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction – Nouvelle Autobiographie – Double Autobiographie – Aventure du texte. Hildesheim u. a. 2002, insbesondere S. 75. »Wer meine Bücher ablehnt, lehnt mich ab«. Thomas Glavinic spielt in seinem neuen Roman selbst die Hauptrolle. In: Wiener Zeitung v. 1. September 2007. Martina Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie. Goethe – Barthes – Özdamar. In: Ulrich Breuer und Beatrice Sandberg (Hg.): Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bd. 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität. München 2006, S. 353–368, S. 360. Gronemann: Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie, S. 48.

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strukturelles Eingebundensein und die damit einhergehende Option zur Referenzialität der innertextuellen Welt des Ich-Erzählers. Verknüpft mit dem Gedanken der posture erweist sich das autofiktionale Verfahren von Das bin doch ich demnach nicht als bloßes Ausstellen der Differenz von Erzähler und Autor, Text und Paratext und Fiktion und Realität. Die Form des Textes ist vielmehr »im produktiven Sinne einer möglichen Selbstsetzung«91 zu verstehen, die es Glavinic überhaupt erst erlaubt, sich mittels seines Textes wie des literarischen Feldes in demselben als Autor zu positionieren. Indem der Text »in den Romantext hineinholt, was gewöhnlich dessen Außen bildet«92, und sich damit in selbstreflexiver Distanz zu sich selbst in Szene setzt, inszeniert Das bin doch ich den Literaturbetrieb als das Heteronome und Widerstrebende im literarischen Schreiben. Der Text integriert mit der fingierten Homestory also nicht nur Aspekte des Literaturbetriebs als Teil einer abzubildenden Wirklichkeit in seinen Darstellungsanspruch, sondern koppelt die Verdorbenheit des Literaturbetriebs als Rahmenbedingung von Literaturvermittlung mit dem Akt literarischer Kreativität. Was damit nicht zuletzt zur Disposition steht, ist, ob das von Campe beschriebene ›Ensemble‹ (literarischen) Schreibens nicht um den Aspekt einer sozialen Einbettung, also um den Verweis auf »Einrichtungen […], in denen es nicht unwahrscheinlich ist, Kunst anzutreffen«93, zu ergänzen, die Schreib-Szene um 2000 nicht als Literaturbetriebs-Szene zu formulieren ist.94 Literaturbetriebs-Szenen sind Thematisierungen der vermittelnden Akteure und Organisationen im Prozess literarischer Kreativität, also gleichsam Inszenierungen eines Re-entry der Produktions- und Vermittlungsbedingungen im literarischen Text. In diesen Szenen gehen literarische Texte auf die Bedingungen ihrer eigenen Genese ein und geben diese im Medium der beinahe gleichzeitigen Reflexion als Widerstreit heterogener Aspekte des Zusammenspiels von Text und literarischem Feld zu erkennen. Im Rahmen solcher Literaturbetriebs-Szenen fingiert Das bin doch ich einen Aufschluss darüber, »aufgrund welcher Schreibprozesse ein Schreibprojekt zu einem Text wird, dem die Öffentlichkeit den Status eines literarischen Werkes zuerkennt«.95 Insofern der Roman damit einen Blick hinter die Kulissen literarischer Produktion inszeniert, dem sich »ein Arsenal von Faktoren [bietet], die dem Prestige der Kunst fremd sind und

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Wagner-Egelhaaf: Autofiktion oder: Autobiographie nach der Autobiographie, S. 361. Johannsen: »In einem Anfall von Literaturbetriebswiderwillen«, S. 117. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 249. Falls man diesen sozialen Rahmen nicht unter einen (etwa den der Technologie) oder mehrere der drei bei Campe genannten Aspekte subsumieren möchte. Siehe zu einer Adaption des Modells für den Akt des Lesens, die das, was hier grob als soziale Einbettung verstanden wird, mit ebendiesem Aspekt der Technologie fasst, Carlos Spoerhase: Die spätromantische Lese-Szene. Das Leihbibliotheksbuch als ›Technologie‹ der Anonymisierung in E. T. A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 84 (2009) 4, S. 577–596. Vgl. für eine andere Erweiterung und Applikation auf die Literatur um 2000 auch Uwe Wirth: Neue Medien im Buch. Schreibszenen und Konvertierungskonzepte um 2000. In: Corina Caduff und Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005, S. 171–184. Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die »critique génétique«. Aus d. Franz. v. Frauke Rother und Wolfgang Günther. Bern u. a. 1999, S. 252.

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dazu angetan, den Glanz jener Vorstellung vom singulären Werk und schöpferischen Individuum zu trüben«96, stellt er durchaus ein »entsublimierte[s], entzauberte[s] Bild[ ] des Künstlertums«97 vor. »Literatur in statu nascendi zu betrachten«98, heißt dabei nicht nur, sich im Sinne der critique génétique auf die Arbeit eines Autors an einem Text zu konzentrieren. Der Roman macht vielmehr deutlich, dass Schreibprozesse an literarischen Texten um 2000 als »Praktik[en]«99 zu verstehen sind, die erst dann angemessen modelliert sind, wenn man sie »nicht auf den Autor allein zurückprojiziert, sondern als strukturelles Ereignis im literarischen Feld interpretiert«.100 Glavinics Ankommen im Hanser Verlag und damit in einer größeren literarischen Öffentlichkeit, das heißt seine posture, begnügt sich nicht mit der Publikation zweier Romane, sondern reflektiert auch den Kontext der literarischen Felder Deutschlands und Österreichs, ohne den solche Texte weder produziert noch rezipiert werden könnten. Entsprechend betrifft sein Schreibverfahren nicht nur die Textebene von Das bin doch ich, indem es die »Doppelstruktur von Oberfläche und unterliegender Bedeutung«101 ebenso einführt und gleichzeitig unterläuft wie die Form einer autobiografischen Homestory. Das Verfahren geht vielmehr mit dem autofiktionalen Text über diesen hinaus, indem es auch die »Hektik der Vermarktung«102 wie die Konsekration durch den Deutschen Buchpreis mit einbezieht – und das eben gerade nicht lediglich als selbstironische Kritik oder Anbiederung an die Preisjury, sondern als Teil des literarischen Programms. Versteht man literarisches Schreiben als eine Schreibweise, »die die Bedingungen und Möglichkeiten ihres eigenen Zustandekommens, aber auch ihrer Gefährdung«103 zu reflektieren versucht, ist Das bin doch ich ein literarischer Text, der mit den Literaturbetriebs-Szenen »im Rekurs des Schreibens auf seine eigenen Produktionsbedingungen (und also auch: Produktionsmöglichkeiten)«104 die »Praktik[en]«105 literarischen Schreibens um 2000 vorführt. Glavinics Integration von nichtliterarischen Elementen in seine literarische Inszenierung und die damit einhergehenden Entgrenzungen des ›Werks‹ hin zum populärkulturellen oder nichtliterarischen ›Beiwerk‹ sind mithin nicht ohne Weiteres als literarische oder literaturprogrammatische Nivellierungen der Grenze zwischen Populär- und Hochkultur zu verstehen. Ganz im Gegenteil: Analog zur singulären

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Sabine Mainberger: Von der Liste zum Text – vom Text zur Liste. Zu Werk und Genese in moderner Literatur. Mit einem Blick in Perecs Cahier des charges zu La Vie mode d’emploi. In: Gundel Mattenklott und Friedrich Weltzien (Hg.): Entwerfen und Entwurf. Praxis und Theorie des künstlerischen Schaffensprozesses. Berlin 2003, S. 265–283, hier: S. 266. Gabriele Feulner: Mythos Künstler. Konstruktionen und Dekonstruktionen in der deutschsprachigen Prosa des 20. Jahrhunderts. Berlin 2010, S. 449. Grésillon: Literarische Handschriften, S. 17. Campe: Die Schreibszene, S. 759. Stephan Porombka: Literaturbetriebskunde. Zur »genetischen Kritik« kollektiver Kreativität. In: Stephan Porombka u. a. (Hg.): Kollektive Kreativität. Tübingen 2006, S. 72–87, hier: S. 75. Rösch: Clavis Scientiae, S. 7. Breitenstein: Nachwort, S. 162. Zanetti: Logiken und Praktiken der Schreibkultur, S. 81. Ebd., S. 82. Campe: Die Schreibszene, S. 759.

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Schreib-Szene werden die diversen Akteure und Organisationen des Literaturbetriebs nicht lediglich thematisiert. In den Literaturbetriebs-Szenen kreuzen einander vielmehr Semantik und Struktur des Verderbens der Literatur. Die Thematisierung literarischen Schreibens um 2000 als wie auch immer von sozialstrukturellen Verhältnissen des Literaturbetriebs ›bedingt‹ muss deshalb als Beobachtung oder Selbstreflexion vor dem Hintergrund einer als ›autonom‹ angenommenen Literatur verstanden werden. Erst durch die Aussicht auf Nobilitierung von Positionsnahmen im literarischen Feld als ›autonom‹ stellt sich die Distanz ein, die das Verderben der Literatur etwa durch Homestorys, in die Autoren Andreas Breitenstein zufolge geraten, beobachtbar macht.

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Hybride Beeindruckungsmaschinen René Polleschs Videothek und der Erfahrungsreichtum seiner SchauspielerInnen

Seit etwa Mitte der 1990er Jahre entdecken die etablierten Repertoiretheater das Thema Prekarität und Unterschicht als taugliche Sujets einer engagierten Theaterpraxis. Thomas Ostermeier tritt seine Intendanz an der Berliner Schaubühne mit dem erklärten Ziel an, sich in einer sozial ausgerichteten Dramatik ganz den Prekären widmen zu wollen.1 Doch auf der Kehrseite dieses Engagements für diejenigen, die das Theater ehedem nicht besuchen, für die Beschmutzten, Beleidigten und Erniedrigten, halten sich nicht nur die altbekannten Vorurteile der Bildungselite und intellektuellen Kulturarbeiter, sondern formuliert wird ein implizites Plädoyer für eine elitäre Hochkultur, wie es sich unter anderem in Falk Richters Stück Unter Eis abzeichnet.2 In diesem Theatertext wird ein demokratisch ermitteltes Musical als Bestandteil der zeitgenössischen Unternehmenskultur und der Ausbildung zum kreativen Arbeitskraftunternehmer zum Gespött, ganz anders als etwa Eva Illouz in ihren Adorno-Vorlesungen den Zusammenhang von Kreativität und Unternehmertum bewertet.3 René Pollesch wird in der Forschung gemeinhin als ein Theatermacher beschrieben, der die blinden Flecken dieses protagonistischen Prekaritätstheaters exponiert,4 der die im Kapitalismus isolierten Diskurse Liebe und Ökonomie zusammendenkt und die wirtschaftliche Situation von Theaterarbeitern reflexiv in seine Schauspielabende einträgt. Die Montage von Elementen aus der high und low culture sind an diesem Projekt,

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Thomas Ostermeier: Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung. In: Theater der Zeit 4 (1999), S. 10–15. Falk Richter: Unter Eis. In: F. R.: Unter Eis. Stücke. Frankfurt am Main 2005, S. 433–476. Per Umfrage wird ein prototypisches Musical entwickelt, das den Mainstream-Geschmack repräsentieren soll (und damit die Nachfrage garantiert). »Wir haben über einen ausgefeilten Fragebogen und nach dreimonatiger firmenweiten Recherchephase herausgefunden, dass 47 Prozent der Befragten gerne die Geschichte einer verloren gegangenen Robbe sehen würde, die nach einer aufrüttelnden Reise durch den gesamten Ozean zu sich selbst findet, und das alles getanzt in weinroter Farbgebung, wobei die Tanzbewegungen narrativ und nicht abstrakt sein sollten. Dabei sollte die Musik aus dem Bereich Popmusik stammen, aber von einem Streicherensemble eingespielt werden«. Erarbeitet wird eine Choreografie, »im Kern eine Gruppe Eisbären auf Schlittschuhen, die über politische Themen diskutieren, parteiübergreifend und lösungsorientiert und in ihrer Diskussion das betrachtete Thema von allen Seiten ausgewogen beleuchten« (ebd., S. 464). Eva Illouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus (Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2004). Frankfurt am Main 2006. Vgl. Evelyn Annuß: Tatort Theater. Über Prekarität und Bühne. In: Franziska Schößler und Christine Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld 2009, S. 23–38.

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das eine etablierte Theaterpraxis, ihre Arbeitsteiligkeit sowie die Arbeitsbedingungen reflektiert, maßgeblich beteiligt. Pollesch entwirft ein auf minoritäre Erfahrungen ausgerichtetes intermediales Hybridtheater (im Anschluss an das kinematografische Theater von John Jesurun), denn er integriert in einer Art Zufallsdramaturgie, wie er selbst behauptet,5 Titel aus Radio und Fernsehen und mischt diese mit Zitationen aus dem akademischen Diskurs. Dabei scheint es ihm besonders auf die Fallhöhe zwischen den kulturellen Ebenen anzukommen: Neben Zitaten von Giorgio Agamben, Michel Foucault, Donna Haraway und Judith Butler stehen solche aus Popsongs, Fernsehformaten und populären Filmen. Der Form nach orientiert er sich vor allem in seinen früheren Produktionen am Medium Fernsehen: Seine Abende, die sich an seriellen Massenproduktionen orientieren – zugleich ein Angriff auf den weiterhin validen Originalitätsmythos –, sind nach dem Muster von Sitcoms organisiert; zudem werden die anstrengenden Sprechtiraden von stummen Szenen mit Musik und Körperaktionen, von (Musik-)Clips unterbrochen.6 Im Folgenden sollen die Funktion und die Bewertung von Filmen bei Pollesch genauer untersucht und diverse Typen sowie die performativ hergestellten Klassifizierungen von high und low vorgestellt werden. Gezeigt wird, dass Pollesch aus der Perspektive einer konsequent durchgehaltenen Schauspielkritik neuartige (inter)mediale Allianzen herstellt, beispielsweise zwischen Mainstream-Film und hochkulturellem Repräsentationstheater, und gleichwohl einer adornistischen Medienkritik folgt, die zunehmend in den Vordergrund tritt. In seinen neueren Arbeiten geraten das Boulevardtheater (wie in JFK) und der komödiantische Mainstream-Film (wie in Ein Chor irrt sich gewaltig) unter Beschuss, so dass trotz einer queeren Geschlechterkritik traditionsreiche Grenzziehungen zwischen high und low reproduziert werden, die, wie unter anderen Andreas Huyssen gezeigt hat,7 einen Geschlechterindex haben. Denn die Populärkultur wird seit dem 19. Jahrhundert weiblich semantisiert, die Hochkultur männlich. Polleschs Abende erzeugen mithin die Aporie, dass seine inhaltliche wie formale Kritik an der männlichen weißen Machtposition durch die Reetablierung der geschlechtlich semantisierten Kulturhierarchie zwischen high und low konterkariert wird. Die weitläufig zitierten Argumente aus der aktuellen Kulturtheorie, die Pollesch in seine Texte einarbeitet, scheinen entsprechend trotz der Bezugnahme auf Agambens Begriff der Profanierung sakrosankt zu sein, das heißt sie gelten als zentrales Medium der Dekonstruktion und Kritik, ohne dass sie selbst kritisch befragt werden. Pollesch entgrenzt den akademisch-elitären Dis-

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Birgit Lengers: Ein PS im Medienzeitalter. Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater von René Pollesch. In: Heinz Ludwig Arnold und Christian Dawidowski (Hg.): Theater fürs 21. Jahrhundert. Text und Kritik Sonderband. München 2004, S. 143–155, hier: S. 146f. Vgl. zum Verhältnis von Sprache und Körper bei Pollesch, die deutlich voneinander getrennt werden: Gerald Siegmund: Der Skandal des Körpers. Zum Verhältnis von Körper und Sprache in der Farce bei Feydeau und René Pollesch. In: Maske und Kothurn 4 (2004), S. 249–262, hier: S. 258f. Andreas Huyssen: After the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmodernism. Bloomington, Indianapolis 1986, S. 44f.; vgl. ebenso Jochen Schulte-Sasse: High/Low and other Dichotomies. In: Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hg.): High and Low Cultures. German Attempts at Mediation. Madison, Wisconsin 1994, S. 3–18.

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kurs zwar, indem er ihn ins Theater integriert und mit dem Glamour von Popikonen infiziert, also zum Amusement werden lässt – ähnlich wie Brecht liegt Pollesch daran, »die Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters zu unterhalten, und zwar in sinnlicher Weise und heiter«.8 Doch Pollesch hält im Anschluss an Hegel und an die Intellektuellenkritik von Brecht, der unter anderem in den TUI-Fragmenten die Idee eines parzellierten Gebrauchswissens entwirft,9 an der Funktion dieses akademischen Wissens als Orientierungs- und Sehhilfe fest; das hochkulturell-akademische Feld wahrt seinen auratischen Status. Die Leerstelle, die sich in Polleschs Theater mithin abzeichnet, bildet eine Kritik des theoretischen Elitewissens aus dem Geist popkultureller Formate. In Polleschs Interviews erscheint der Film in Bezug auf eine emotionalisierte Darstellungsweise als nahezu unschlagbares Konkurrenzmedium des Theaters und als normative Instanz, die die darstellende Kunst auf einen kruden Naturalismus festlegt: »Ich glaube, dass der konventionelle und kommerziell erfolgreiche Film das Theater zu einem Naturalismus verdammt hat, zu dieser Einheitsvorstellung, bei der ein Körper Emotionen hat, die etwas erzählen sollen«10 – sein Gegenprogramm besteht entsprechend in der Trennung von Sprechen und Spiel. Jenseits dieser generellen Aussagen lassen sich in Polleschs Stücken dreierlei Arten von Filmen unterscheiden: der Mainstream-Film (unter anderem das beliebte Historienformat wie Der Untergang), der politisch engagierte Film der 1970er Jahre, der die neue Unmöglichkeit von Kritik seit den 1990er Jahren profiliert (in seinem Stück Heidi Hoh kommt beispielsweise Norma Rae mit Mae West diese Funktion zu),11 und der Schauspielerfilm, der die Grenzen zwischen Theater und Film sprengt, wie Cassavetes’ Opening Night und Sein oder Nichtsein von Lubitsch, den Horkheimer/Adorno ausdrücklich der gescholtenen Massenkultur zuordnen.12

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Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. In: B. B.: Schriften zum Theater 7. 1948–1956. Frankfurt am Main 1964, S. 5–67, hier: § 75. Der Gebrauch, auch der der schauspielerischen Fähigkeiten, spielt bei Pollesch eine wichtige Rolle: »Der Schauspielerberuf kann doch nicht damit einhergehen, dass ich jede Fähigkeit des Benutzens verloren habe« (René Pollesch: Cappuccetto Rosso. In: R. P.: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke. Texte. Interviews. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 15–60, hier: S. 31). Vgl. zur Theorie als Orientierungswissen auch Norbert Otto Eke: Störsignale. René Pollesch im ›Prater‹. In: Schößler und Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart, S. 175–191. René Pollesch: Interviews. In: R. P.: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke. Texte. Interviews, S. 313–369, hier: S. 330. Pollesch arbeitet wiederholt revolutionäre Ausdrucksformen der 1970er Jahre in seine Texte ein, auch aus feministischem Blickwinkel (wie den Kampf um bezahlte Hausarbeit), und signalisiert deren Historizität. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main 1969, S. 139.

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Der Mainstream-Film: Die Kritik am stellvertretenden Sprechen Die erste Variante verhandeln Polleschs Theaterabende Liebe ist kälter als das Kapital, Das purpurne Muttermal, Tod eines Praktikanten und Cappuccetto Rosso allem voran über den Film Snow Cake von Marc Evans von 2005, der, 2006 auf der Berlinale gezeigt, mit dem Prädikat »besonders wertvoll« ausgezeichnet wurde und in dem Sigourney Weaver eine Autistin spielt. In einem Interview berichtet sie von ihren Erfahrungen mit dieser Krankheit und empfiehlt emphatisch, die Welt einmal durch die Augen von Autisten zu sehen.13 Pollesch lässt in einem trashigen Ambiente mit Handkamera, die die glatten Oberflächen und geschlossenen Körper des Mainstream-Films mit seiner unsichtbaren Kamera konterkariert,14 allerdings als Dogma- und YouTube-Ästhetik markiert wird, einige Szenen nachspielen15 bzw. nachsprechen und den Film diskutieren. Snow Cake wird deshalb zum Feindbild, weil ein Film dieses Typus als Inbegriff der ›Trennung‹ gilt, das heißt für eine schauspielerische Repräsentation steht, die den Repräsentierenden von seinem eigenen Leben abtrennt, seine eigenen Erfahrungen (die allerdings nicht authentisch sein müssen, sondern sich in der ›Vorstellung‹ entwickeln können) auslöscht; dazu gehören nicht zuletzt die konkreten Erfahrungen am Arbeitsplatz.16 Dieses Mainstream-Kino basiert zudem auf einem repräsentativen Sprechen für die Subalternen, das das unmarkierte Zentrum der Macht, die weiße heterosexuelle Männlichkeit, und die damit verbundene ökonomische Ordnung affi rmiert. »N: Wenn eine Millionärin sich auf dem Boden rumwälzt und für die Autisten sprechen will und welches Heil die für die Menschheit bedeuten, wenn wir bloß einen Blick aus ihren Augen auf die Welt werfen würden«.17 Tatsächlich erzählt der Film Snow Cake auf den ersten Blick von der Therapierung eines älteren weißen Mannes, der seinen Sohn verloren hat, durch die Wiederholung des Traumas und die Begegnung mit einer Autistin, die aufgrund ihrer Egozentrik keinerlei Erwartungen hegt und keine Schuldzuweisungen vornimmt – immerhin ist ihre Tochter zu Tode gekommen. Die weibliche Gemütskälte, in der rekurrenten Schneemetapher symbolisiert (diese Weiblichkeitsphantasie ließe sich durchaus als neues role model gewinnen), wird zum Heilmittel für den chaotischen Gefühlszustand eines Mannes. Polleschs Stück Tod eines Praktikanten profiliert durch den permanenten Hinweis auf den Reichtum des Stars Sigourney Weaver allem voran die ökonomischen Hintergründe dieses repräsentativen Sprechens, das die wirtschaftliche Asymmetrie zwischen Hollywoodstars und repräsentierten Ausgeschlossenen ver-

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Die Werbung für Snow Cake setzt auf eine Konkurrenz filmischer Autistendarstellungen. Der Film zeige, dass Dustin Hoffmans Rainman und Jodie Fosters Nell eben nicht das »A und O gelungener Autistendarstellungen« seien. Vgl. zu dieser Art der Demontage Lengers: Ein PS im Medienzeitalter, S. 147. Insbesondere das Wälzen im Schnee, das in dem Film Inbegriff einer (zwangsneurotischen) Sehnsucht nach Reinheit ist. Mit seinem Eintreten für den Schauspieler steht Pollesch in der Tradition der Mitbestimmungsdebatte aus den 1960er Jahren, mit der Nivellierung der Arbeitsteilung von Regie und Autorschaft in der Tradition Brechts. René Pollesch: Tod eines Praktikanten. In: R. P.: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke. Texte. Interviews, S. 121–169, hier: S. 137.

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schwinden lässt. Die Kritik an populärkulturellen Formaten erfolgt mithin, und dieser Befund lässt sich verallgemeinern, aus einer kapitalismuskritischen Perspektive und wird von den eingespielten Zitaten Donna Haraways unterstützt, wenn es heißt: »Es ist wie Donna Haraway sagt, über den Regenwald können anscheinend nur Greenpeace und europäische und amerikanische Wissenschaftler reden, aber nicht die, die im Regenwald leben«.18 Pollesch etabliert zudem gleitende Übergänge zwischen Hollywoodfilmen und theoretischem Diskurs, denn die repetitiven Loops nähern die Sphären einander an und überspielen die Niveaudifferenzen. Der Bezug zu Haraway beispielsweise entsteht durch den Rekurs auf Filme wie Planet der Affen – das Tierwerden ist bei Pollesch im Anschluss an Agamben eine zentrale Variante, um die ›anthropologische Maschine‹ mit ihren ausschließenden Binaritäten stillzustellen19 – und Gorillas im Nebel, in dem die Kollegin der Primatologin Goodall, Dian Fossey, eine zentrale Rolle spielt; auf Erstere bezieht sich Haraway ihrerseits mehrfach. Pollesch lässt auf diese Weise eine hybride Übergangszone zwischen Hollywood, Akademie und Theater entstehen, die ebenfalls der Inskription von prekären Arbeitsverhältnissen (am Theater) in den Film dient – mit komödiantischen Effekten: »Da waren alle diese Gorillas und Praktikanten im Nebel«.20 Die im Kontext dieses Populärformats kritisierte Form des Schauspiels findet der Theatermacher im hochkulturellen Repräsentationstheater wieder: In Tod eines Praktikanten bezieht sich Pollesch in einer parodierenden Umschrift auf Dimiter Gotscheffs (2003) und Luk Percevals (2006) an der Schaubühne gezeigte Inszenierungen Tod eines Handlungsreisenden, die dem protagonistischen Darstellungsprinzip folgen und eine Abwertung minoritärer sowie proletarischer Lebensstile vornehmen – der Aufsteiger beispielsweise ist bei Perceval anders als im Text schwul, und es werden sämtliche bildungsbürgerliche Phantasien über TV-versessene Proletarier bedient. Pollesch etabliert mithin neue Konstellationen im ästhetischen Feld, die die Grenzen zwischen high und low umfigurieren und durch die Verbindung der getrennten Sphären komische Effekte haben. Diese Neuformierung kultureller Grenzziehungen findet in Tod eines Praktikanten auch dann statt, wenn der Fotokünstler Wolfgang Tillmans, der als Chronist der Club- und Schwulenszene gilt und zeitgleich in Berlin im Hamburger Bahnhof ausstellt – auch hier folgt Pollesch der Augenblicksfixierung von Pop –,21 in die Position der Schau-

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Ebd., S. 151. In Polleschs Theater wird das repräsentative Sprechen durch permanente Rollenwechsel und unablässige Selbstadressierungen torpediert, die hier neben Sigourney Weaver den Namen von Hans Moser nennen, einem bekannten Volksschauspieler, der in zahlreichen Filmen (auch mit Veit Harlan in der NS-Zeit) spielte. Im Übrigen gibt es einen Regisseur pornografischer Filme gleichen Namens (Deckname Sascha Alexander), so dass aus der Perspektive der Repräsentations- und Männlichkeitskritik der populäre und der pornografische Film auf die gleiche Ebene gerückt werden. Vgl. dazu Franziska Schößler: Fremdheit und Kapitalismuskritik. Okkulte Ökonomien und das Ende des Subjekts in René Polleschs Prater-Saga (2005). In: Acta Germanica. German Studies in Afrika 37 (2009), S. 141–150. Pollesch: Tod eines Praktikanten, S. 135. Vgl. dazu Eckart Schuhmacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2003.

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spielerin Weaver eingerückt wird: »Hör auf, dich im Schnee rumzuwälzen, Tillmans«.22 Auch dessen Fotokunst erscheint als repräsentierend-trennend, wie die Bühne mit ihren ausgestellten Fassaden, mit den Abbildungen von (nicht essbarem) Obst veranschaulicht. Die Kritik an Snow Cake bewegt sich also in der Tradition einer adornistischen Medienkritik, die die komplexierenden Filmlektüren und -strategien der Cultural Studies, die polyvalenten Symbolisierungen der Populärkultur ignoriert. Die Theaterabende Polleschs scheinen, jedenfalls auf der Ebene des Textes, diejenigen Erfahrungen zu nivellieren, die die Populärkultur zu speichern vermag – von dieser Fähigkeit des Populärkulturellen war Brecht überzeugt, der den Trivialformen, die von der bürgerlichen Kritik als ›ungeistig‹, billig abqualifiziert zu werden pflegen, zwei grundsätzliche Qualitäten abgewinnt; sie speichern – wie immer – Erfahrungen, die sonst nicht oder kaum zu Wort kommen, und sie verweisen auf ein Publikumsinteresse, das Brecht für sich zu nutzen gedachte.23

Allerdings rufen die eingespielten Filmsequenzen und Songs auch bei Pollesch die Erinnerungen eines bestimmten Milieus wach, vergegenwärtigen einen bestimmten Lebensstil, spezifische biografische Erfahrungen, die wesentlich durch Populärkultur (als Alltagskultur) bestimmt sind. Diese Erfahrungen werden primär auf visueller und akustischer Ebene der Theaterabende aufgerufen und durch den Text dekonstruiert bzw. hinsichtlich ihrer geschlechtlichen wie ökonomischen Ideologeme seziert. Die populärkulturellen Formate geraten bei Pollesch insbesondere in Bezug auf ihre Geschlechterbilder, auf ihren Sexismus ins Visier, wie sich am Beispiel der ebenfalls von Pollesch zitierten James-Bond-Serie zeigen ließe. In Cappuccetto Rosso weist eine Schauspielerin (in einer fingierten Biografie) auf ihre Rolle als »screen« in einem James-Bond-Streifen hin: »Ich bin früher einmal als Projektionsfolie aufgetreten, in einem berühmten James-Bond-Vorspann […]. I: Was hatten Sie an, eine Badehose? T: Ich sagte doch, ich trug nur meinen Namen«.24 Tony Bennett und Janet Woollacott hingegen rücken in ihrer Lektüre, die sich an den Prämissen der Cultural Studies orientiert, nicht die sexistischen, rassistischen und reaktionären Züge der beliebten Bond-Serie in den Vordergrund, sondern betonen die relative Unabhängigkeit der Populärkultur von den herrschenden Ideologemen, die Öffnung eines kulturellen Raums, der (zumindest provisorisch) widersprüchliche Subjektpositionen anbietet, die Genese von zirkulierenden Texten durch die Filmserie (auch in Zeitungen etc.) sowie die Permutationen von Ideologien im Verlauf der Zeit.25 Pollesch profiliert den ehedem manifesten Sexismus der Serie, doch er nutzt zugleich den auf großen Leinwänden gezeigten James-BondVorspann in Tod eines Praktikanten, um die Intellektuellen im Publikum auf sinnliche Weise zu unterhalten.

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Pollesch: Tod eines Praktikanten, S. 147. Jan Knopf: Brecht-Handbuch. Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart 1980, S. 417. Pollesch: Tod eines Praktikanten, S. 153. Tony Bennett und Janet Woolacott: Bond and Beyond. The Political Career of a Popular Hero. Houndmills u. a. 1987, S. 3f.

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Diese Kritik Polleschs, die die Aussagekraft des Populärkulturellen neutralisiert, tritt in den neueren Produktionen Polleschs in den Vordergrund. In Ein Chor irrt sich gewaltig wird bekanntes französisches Liedgut als Inbegriff eines klischierten Liebesmythos und der heterosexuellen Norm allein von Schauspielerinnen performt, so dass (männliche) Stimme und (weiblicher) Körper auseinandertreten. Die »heterosexuellen Liebesschnulzen«, wie es bereits in Cappuccetto Rosso heißt,26 artikulierten zwar immanente Probleme, die jedoch den trivialen Liebesmythos affi rmierten, also seine unausgesprochene Prämisse, die Heterosexualität, nicht problematisierten. Makrostrukturell parodiert Ein Chor irrt sich gewaltig eine beliebte Filmkomödie der 1970er Jahre, Un éléphant ça trompe énormément (1976, Regie: Yves Robert), die in einen rein weiblichen Kosmos transferiert wird. Geht es in dem Film um die ironisierte Suche alternder Männer nach Abenteuer und Glück (durch den Ehebruch), um ihre Realitätsverkennung – durchaus im Sinne einer prekären Männlichkeit, die hier im Kollektiv, als ›Chor‹ auftritt –, so codiert Pollesch einzelne Szenen wie das Verlassenwerden des Mannes von seiner Ehefrau und die Trauer über die entführten Möbel geschlechtlich um. Die Akteurinnen besetzen alle Rollen, auch die des jugendlichen Liebhabers Lucien, und parodieren topische männliche Gesten wie den Blick in den Ausschnitt. Zugleich steht der antike (männliche) Chor als wissende Instanz und aus Polleschs Sicht als Inbegriff der (durch Theaterkonventionen zementierten) Heteronormativität zur Disposition – allem voran durch den im Titel ausgestellten Irrtum. Diese Parodie eines männlichen Diskurses in der filmischen Boulevardkomödie wie im hochkulturellen Theater stützen die zahlreichen Foucault-Zitate, die die Disziplinierung des Körpers durch den binären Geschlechterdiskurs thematisieren.27 In JFK – die Initialen des amerikanischen Präsidenten entsprechen den Vornamen der AkteurInnen auf der Bühne – sind die Figuren von Zeichen umstellt, die die Boulevardkomödie aufrufen. Nachgespielt wird demgemäß, allerdings als Gesangsvorführung, also im V-Modus, eine klassische heterosexuelle Liebesgeschichte, die ausdrücklich als Männerphantasie vorgeführt wird: Zwei Frauen buhlen um einen Mann, der durch diese Aneignungsmimesis zum Superhelden wird. Auf der Bühne steht eine klassische Kulisse des Boulevardtheaters, ein konkretistisches Bühnenbild mit Schrank, Bett und Tür; dieses Setting wird bezeichnenderweise mit dem aus ›schlechten Filmen‹ verglichen. Das populärkulturelle Format wird an späterer Stelle als Tatortszene fortgesetzt, in der die als Bunny gekleidete Frau die schöne Leiche gibt. Auch in JFK demontiert Pollesch also die binäre Geschlechterordnung der Populärkultur.

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Pollesch: Cappuccetto Rosso, S. 23. Auch der Bildband Fight von Stephen Dupont, den der Chor deutlich sichtbar liest, verweist auf einen patriarchalen Kosmos des Kampfes und der Aggression, der in der Boulevardkomödie zum Tennisspiel moderiert wird. Die Figuren tragen in Ein Chor irrt sich gewaltig nahezu ausschließlich Kleider aus afrikanischen Stoffen, so dass die kolonialökonomischen Aktivitäten Frankreichs aufscheinen, die den Hintergrund der männerzentrierten Komödie und der unbesorgten luxurierenden Lebensform abgeben.

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Der Historienfilm: Die Unsichtbarkeit der SchauspielerInnen und die Dominanz der Ökonomie Ein weiteres Feindbild Polleschs stellen die sich in der letzten Zeit häufenden HistoryFilme dar, wie sie unter anderem der Stuttgarter Abend Liebe ist kälter als das Kapital (2007) zum Gegenstand macht (im Kontext der Projektwochen »Endstation Stammheim« am Staatstheater Stuttgart entstanden). Pollesch, der bereits im Titel auf Fassbinders frühen Schwarz-Weiß-Film Liebe ist kälter als der Tod anspielt,28 schreibt hier dessen Filmscript Nur eine Scheibe Brot fort, das sich mit der (unmöglichen) Verfilmung von Auschwitz beschäftigt und beispielsweise die Spannung zwischen Thema und Erfolg thematisiert. Über die Gelegenheit, einen Film über den Holocaust zu drehen, äußert eine der Figuren bei Fassbinder: »Aber das ist ja eine ganz tolle Möglichkeit, da hast du ja von vornherein alle Preise und Prädikate in der Tasche«;29 es werde sicherlich »ein geschäftlicher Erfolg«.30 Bei Pollesch heißt es analog: »Es ist ganz egal, was so ein Film erzählt. Wenn er Erfolg hat, erzählt er nur die Erfolgsgeschichten der Beteiligten. Egal, ob’s um die Stasi geht, Auschwitz oder die RAF!« Dann heißt es: »Und die Fressen, die da als Nazis vor die Kamera gezerrt werden, sind nur Erfolgsfressen«.31 Der Sprecher verweist damit auf die Neutralisierung der Inhalte durch das ›Medium‹ der Filmindustrie, durch den Erfolg. Fassbinder reflektiert zudem die Abtrennung von Wirklichkeit und Spiel,32 die Differenz zwischen Schauspielerinteressen und Sujet, wenn eine der Frauen moniert: »Und in diesem KZ-Film gibt es keine Rolle für mich«.33 Die deutschen Geschichtsfilme – Der Untergang des Produzenten Bernd Eichinger wird in besonderem Maße exponiert – forcieren nach Pollesch also die Neutralisierung der Schauspielerbiografie. Die Forschung zu Der Untergang unterstreicht entsprechend die Mimesis des Films, die nolens volens in Künstlichkeit umschlage und die Schauspieler zu schlechten Kopien werden lasse. Der Glaube an die mythische Kraft des Konkreten verlange eine naturalistische Schauspielkunst, die »den Eindruck einer mechanischen Etüde in der Schauspieltechnik« hinterlasse.34 In Cappuccetto Rosso debattieren die SchauspielerInnen darüber, dass Tobias Moretti als Hitler nie mit einem Schäferhund

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Fassbinder thematisiert wiederholt die Ausbeutbarkeit der Liebe, insbesondere in seinem Film Faustrecht der Freiheit, in dem ein proletarischer Lottokönig von der herrschenden Klasse seines Geldes beraubt wird. Rainer Werner Fassbinder: Nur eine Scheibe Brot. In: R. W. F.: Theaterstücke. Frankfurt am Main 2005, S. 7–33, hier: S. 11. Ebd., S. 12. René Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital. In: R. P.: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke. Texte. Interviews, S. 171–224, hier: S. 185. Einer der Schauspieler erklärt: »Natürlich hat es das alles gegeben, aber doch nicht so, ich meine, das ist doch was anderes, ob das in der Wirklichkeit passiert, oder ob man das nur spielt. Natürlich hat es das gegeben, da habe ich noch gar nicht richtig darüber nachgedacht. Ich meine, ich habe schon darüber nachgedacht, aber nicht so richtig. Wenn ich darüber nachdenke, dann kann ich mir das alles so gar nicht richtig vorstellen« (Fassbinder: Nur eine Scheibe Brot, S. 17). Ebd., S. 12. Hito Steyerl: Mimesis als Anpassung – Die unbewusste Optik des Films Der Untergang. In:

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auftreten könne, weil der Film dann in die Serie Kommissar Rex umschlage. Die Genealogie der schauspielerischen Tätigkeiten (als persönliches Archiv) reibt sich an den filmischen Konstruktionen, die in diesem Falle einen Schauspieler ohne eigene Geschichte verlangen. Das Format des Historienfilms scheint die Schauspieler auch deshalb in besonderer Weise zur Ware zu machen; der Schauspieler wolle alles spielen, »wie Geld«,35 heißt es in Cappuccetto Rosso im Anschluss an eine traditionsreiche Kapitalismuskritik, die Geld als Inbegriff unendlicher Metamorphosen und damit als ebenso identitäts- wie gesichtslos konzipiert. Der Geschichtsfilm gilt mithin als Bestandteil einer ausbeuterischen Kulturindustrie, eines schlechten Konsumismus, der die »Verstellungskunst« in ihrer reinen »Geldähnlichkeit« hervortreibe.36 Hinter den »Blockbusterweltkrieg[en]«37 vermuten die SprecherInnen einzig ein ökonomisches Interesse, das noch dazu das Vorwissen des Publikums, das heißt seine bereits finanzierte Ausbildung, voraussetzt und sich dessen bedient. Auch die populären Historienfilme, die auf eine veränderte Memorialkultur reagieren, rücken also in den Fokus einer Kapitalismuskritik, die die Differenzen und Aussagen dieses Genres reduziert. Die umfassende Forschung zu Der Untergang entwirft hingegen ein weitreichendes Spektrum an Lektüremöglichkeiten, indem sie die Genrekompilation – Tragödie und Melodram – untersucht,38 die Mythisierung von Geschichte und die damit verbundenen Entlastungsoperationen,39 die Unmöglichkeit der Authentizität und die Fähigkeit des Films, kulturelle Texte zu provozieren.40 Die Intimisierung Hitlers als Bedingung von Identifikation ermögliche es zudem, so Manuel Köppen, die Unfähigkeit zur Trauer zu überwinden.41 Die Repräsentations- und Geschlechterkritik Polleschs verknappt also die polyvalenten Lektüremöglichkeiten des Populärkulturellen.

Der Schauspielerfilm: Die Trennung der Räume und ihre Wirklichkeitseffekte Eine etwas andere Rolle als die Mainstream-Filme spielen für Pollesch diejenigen Produktionen, die liminale Grenzzonen zwischen Theater und Film entstehen lassen und damit Schauspielerfahrungen wie die der Trennung von Bühne und offstage verhandeln

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Willi Bischof (Hg.): Filmri:ss. Studien über den Film Der Untergang. Münster 2005, S. 29–37, hier: S. 30. Pollesch: Cappuccetto Rosso, S. 18. Ebd., S. 53. Ebd., S. 23. Hannes Heer: »Hitler war’s«. Die Befreiung der Deutschen von ihrer Vergangenheit. Berlin 2005, S. 12. Ebd., S. 13. Roel Vande Winkel: Hitler’s Downfall, a film from Germany (Der Untergang, 2004). In: Leeh Engelen und R. V. W. (Hg.): Perspectives on European Film and History. Gent 2007, S. 183–219. Manuel Köppen: Die letzten Tage des Reiches. Von Theodor Plieviers Roman Berlin zu Oliver Hirschbiegels Film Der Untergang. In: Lars Koch und Marianne Vogel (Hg.): Imaginäre Welten im Widerstreit. Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900. Würzburg 2007, S. 304–319, hier: S. 305.

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können. Ein solcher Film ist neben Ernst Lubitschs Sein oder Nichtsein, ein Film über Schauspieler in Warschau, die Hitler spielen, Opening Night von John Cassavetes. Beide Filmemacher kommen bezeichnenderweise vom Schauspiel: Lubitsch von Max Reinhardt, Cassavetes war in den 1950er Jahren als Film- und Theaterschauspieler erfolgreich. In ihren Filmen wird ganz im Sinne von Polleschs Repräsentationskritik die Trennung von Leben und Rolle thematisiert und tendenziell aufgehoben. Lubitschs Komödie Sein oder Nichtsein suspendiert die Separierung von Künstlerbiografie und Rolle auf der Ebene des Plots: Seine Comedy erzählt davon, dass berühmte SchauspielerInnen Warschaus – in Das purpurne Muttermal heißt Martin Wuttke Josef Tura, in Cappuccetto Rosso fällt der Name Maria Tura, und es werden einzelne Szenen nachgestellt42 – Nazis spielen, zunächst im Theater, dann nach dem Einmarsch der Deutschen (die Imitatoren der Imitatoren sind) in öffentlichen Räumen, um den Warschauer Widerstand zu retten. Ihre Performances sind bei aller Perfektion dadurch risikoreich, dass sich die privaten Gefühle (der Eifersucht) in die Rollen einmischen und die Figuren eine doppelte, kaum kontrollierbare Sprache sprechen. Pollesch transponiert diese Konstellation in gewissem Sinne eine Ebene tiefer, indem er die tatsächliche Situation der SchauspielerInnen – zum Beispiel die Spannung zwischen Liebesszenen auf der Bühne und privater Liebesbeziehung wie in JFK oder die Situation unmittelbar vor dem Auftritt – in die Bühnenvorgänge selbst einlässt. Auch deshalb, also als Ausdruck von Alltagserfahrungen, sind der Liebesdiskurs und das alltägliche Glücksverlangen in seinen Theatertexten so dominant, wobei die Auseinandersetzung mit Liebe als Ware und Arbeit als Ausbeutung sicherlich auch auf Brecht und Fassbinder zurückgeht.43 John Cassavetes, dessen Film Opening Night für Polleschs Theatertexte ebenfalls zentral ist, wird seit seinem Erstling Shadows zwischen Avantgardekino und Hollywood-Film situiert. Seine Arbeitsweise sowie sein Interesse an präzisen Problemstellungen, nicht an Lösungen, erinnern durchaus an die Abende Polleschs, zumal Cassavetes (ähnlich wie Fassbinder) mit Freunden und Familie dreht, allen voran mit seiner Ehefrau Gena Rowlands.44 Diese Gruppe verzichtet in den Filmen auf die Präsentation geschlos-

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Die Texte kehren einige Szenen des Films um, beispielsweise den Wunsch der Schauspielerin, in einem weißen Seidenkleid im KZ auf der Bühne zu erscheinen. In Das purpurne Muttermal will sie in einem alten Fetzen aus dem Müll auftreten – vor dem Hintergrund einer pseudorealistischen Ästhetik (à la Spielberg) das angemessene Kleidungsstück, doch N sagt: »Du trägst natürlich ein nettes Abendkleid. Die Zuschauer haben ja auch nette Sachen an, du kannst dich doch hier oben nicht mit diesem KZ-Fetzen zeigen« (René Pollesch: Das purpurne Muttermal. In: R. P.: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke. Texte. Interviews, S. 61–119, hier: S. 83). Vgl. Andrzej Wirth: René Pollesch. Generationsagitpoptheater für Stadtindianer. In: Werk-Stück. Regisseure im Porträt – Arbeitsbuch. Berlin 2003, S. 126–131, hier: S. 129. Adorno untersucht das Verhältnis von Glück und Kunst ebenfalls und begreift das kulturindustrielle Amusement als permanenten Aufschub des versprochenen Glücks, als masochistisch verstümmelten Verlust; vgl. dazu Ruth Sonderegger: Adorno geht in das Theater von René Pollesch und fragt nach Kulturkritik heute. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 48 (2003) 2, S. 175–193, hier: S. 177. Vgl. dazu Georg Seeßlen: Liebesströme, Todesbilder. Die Filme von John Cassavetes. In: Kinemathek 81 (1993), S. 3–12, hier: S. 4.

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sener Charaktere sowie psychologischer Entwicklungen und arbeitet autobiografisches Material ein, verbindet also Kunst und (angestrengtes) Leben.45 Cassavetes lehnt die Handlungsdramaturgien vorgegebener Drehbücher ab und entwickelt seine sprachlastigen Filme zusammen mit seinen Schauspielern; Shadows zum Beispiel entsteht aus Improvisationen.46 Es geht in seinen Filmen entsprechend darum, Fragen zu vertiefen, den normalisierenden Diskurs zu hysterisieren und auf diese Weise nach der Rolle der geschlechtlichen und sterblichen Körper zu fragen; 47 es geht darum, »das in diesen Fragen enthaltene Wissen über die Unmöglichkeit einer endgültigen, harmonischen Lösung erfahrbar zu machen«.48 Cassavetes entwirft zudem Räume, in denen es lediglich eine Folge von fragmentierten Selbstentwürfen geben kann und in denen sich der Schauspieler in einem Theater der Emotionen selbst befragt: So ist der Ausgangspunkt dieses Schauspiels die Bereitschaft, sich einer Situation zu öffnen, in der die Antworten fehlen, in der der gewußte Ausdruck nicht mehr hilft, und dieses Nicht-Wissen zum Ausgangspunkt des Spielens zu machen, sich in ihm aufzuhalten und eine Möglichkeit der Existenz zu erfinden. Das ist das schöpferische Potential der Schauspieler.49

Nach Anja Streiter wird das Schauspiel damit zur Chiffre der menschlichen Existenz schlechthin und verliert seinen Charakter als Schein. Auch dieses Schauspielkonzept entspricht Polleschs Theater,50 ebenso die folgende Aussage von Cassavetes: Die andere Art [des Filmens] ist die kreative Interpretation, die ohne Rücksicht auf Karriere und Profit danach strebt, das eigene Leben klarer zu machen durch den Ausdruck von Gefühlen und das Exerzitium der Intelligenz. Doch das hat eigentlich schon nichts mehr mit Kino zu tun; es bedeutet, sich selbst in den dargestellten Personen wiederzufinden.51

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Ebd., S. 6. Anja Streiter: Das Unmögliche Leben. Filme von John Cassavetes. Berlin 1995, S. 33. Fokussieren die Filme von Cassavetes allem voran die Körper der Schauspieler und die Unmöglichkeit, ihr Begehren zu erfüllen, so geht es in Polleschs Theater – sowohl in den theoretischen Intertexten als auch in einer Dramaturgie, die Rede und Körperaktion trennt – darum, die Körper als nichtintelligiblen Rest jenseits der erzählbaren Geschichten (als Machtgeschichten), jenseits der Lesbarkeit erscheinen zu lassen: »Wir schieben unsere Körper dauernd von der Bühne vor eine Kamera und wieder zurück! Und wir denken, das könnte irgendwas über das, was wir leben, erzählen« (Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital, S. 181). Diesem Anliegen kommt die postdramatische Form entgegen, die die Materialität des Schauspiels, die Körperlichkeit betont; vgl. dazu Jens Roselt: In Ausnahmezuständen. Schauspieler im postdramatischen Theater. In: Arnold und Dawidowski (Hg.): Theater fürs 21. Jahrhundert, S. 166–176, hier: S. 166f. Gilles Deleuze hat Cassavetes’ Kino entsprechend als »Kino des Körpers« bezeichnet; das Denken versenke sich in den »Körper, um das Ungedachte, das Leben selbst zu denken« (Gilles Deleuze: Kino 2. Das Zeit-Bild. Frankfurt am Main 1991, S. 244f.). Streiter: Das Unmögliche Leben, S. 21. Ebd., S. 26. Auch folgende Aussage ließe sich über Polleschs Theater machen: »Für das in der Ausgangsszene aufgeworfene Problem der Identität [in Shadows, F. S.] wird keine Lösung gesucht, sondern im Gegenteil, das Problem wird auf die Schienen einer endlosen Bewegung gesetzt: Es wird in immer neuen Variationen zur Darstellung gebracht« (ebd., S. 34). Kinemathek 81 (1993), S. 24.

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Der Film Opening Night löst die Grenzziehungen zwischen privaten und öffentlichen Räumen, zwischen Schauspiel und Leben auf (durchaus im Sinne einer Avantgardepraxis), indem beispielsweise der Backstage-Bereich nicht wesentlich anders gefilmt wird als das extensiv gezeigte Bühnengeschehen.52 Diese Gleichbehandlung der Räume setzt Polleschs Stück Liebe ist kälter als das Kapital53 gleichfalls um, indem hinter (und durch Projektionen auf) der Bühne ein Film gedreht wird – durch die performative Aussage »Cut« und die irrwitzigen Titel, die die History-Filme parodieren, wird das scheinbar authentisch Gesprochene der Schauspieler rückwirkend zum Script, zur Rolle. Die Hinterbühne wird als Spielraum mit einbezogen: »Hier hinter der Bühne wurde doch nicht immer schon gefilmt! Oder doch?«54 Diese Raumkonstellation, die das Geschehen hinter der Bühne auf dieser vermittelt sichtbar macht, vorderen und hinteren Raum also auf eine Fläche projiziert, stellt Pollesch in einer Vielzahl seiner Produktionen her. Die traditionelle Abtrennung von Vorder- und Hinterbühne wird entsprechend als Diskurs mit hohen Wirklichkeitseffekten thematisiert, denn die Figuren beklagen sich wiederholt – ähnlich wie Myrtle Gordon in Cassavetes’ Film – über den Verlust von Wirklichkeit,55 sobald die Trennung von Bühne und offstage, von Spiel und Authentizität verschwindet. »Liebling! Was ist denn mit der Realität passiert? Die war doch immer hier hinten«.56 Die Suspension dieser binären Raumordnung – Figuren und Räume bilden bei Pollesch wie bei Cassavetes ein offenes, dynamisches Beziehungsfeld 57 – wird von einem Angriff auf hermeneutische Operationen (als Produzenten »hintergründiger« Wahrheiten) und die Diskurse der Macht flankiert, die verborgene Geheimnisse suggerieren, sich also ebenso der Opposition von Vorder- und Hintergrund bedienen. Pollesch unterbricht diese binäre, Wirklichkeit generierende Struktur von Räumen und Diskursen, die über die Trennung von »vorne« und »hinten« Geheimnisse produzieren, in inhaltlicher wie

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Vgl. zu dieser heterotopischen Strategie Petra Löffler: Riskante Gesten. John Cassavetes’ Opening Night (USA 1977). In: Maske und Kothurn 4 (2009), S. 63. In Liebe ist kälter als das Kapital gibt der Name einer fiktiven Schauspielerin, Myrtle Gordon, der neben Namen von realen Schauspielerinnen steht, den Hinweis auf Opening Night, einen Film über eine alternde Diva. Diese nimmt während der Inszenierung von The Second Wife den Kampf mit der Autorin auf, die die Identifikation mit der Rolle verlangt, und dazu gehört unter anderem, dass sich die Schauspieler schlagen lassen. Im Verlauf der Proben eignet sich Gordon die fremd bleibende Figur durch Alkohol und hysterische Anfälle an, entmachtet so die Regieführenden und demonstriert, dass persönliche Krisen das Material sind, aus dem der Erfolg gemacht ist. Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital, S. 175. Auch in anderen Stücken wie Cappuccetto Rosso arbeitet Pollesch Bezüge zu Cassavetes ein, wenn dort zum Beispiel der Umstand verhandelt wird, dass der »Zauber weg« sei; diese Erfahrung resultiert in Opening Night aus dem Altern, das zugleich einen Liebesverlust mit sich zu bringen scheint. In Liebe ist kälter als das Kapital setzt Pollesch die Zeile »Du willst wieder jung sein, ist es das?« als Refrain ein. In gewissem Sinne nutzt bereits Cassavetes die Widerstandsform, die Pollesch bevorzugt: den Schrei, mit dem sich Gordon gegen die Ohrfeige wehrt. Diese Geste wird auch bei Pollesch zum Gradmesser für ein spezifisches Theater, für die Demütigung in der Machtmaschinerie des Repräsentationstheaters. Pollesch: Liebe ist kälter als das Kapital, S. 176. Streiter: Das Unmögliche Leben, S. 64.

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formaler Hinsicht, indem er die vierte Wand schließt, mit Handkameras arbeitet (wie in Cappuccetto Rosso, Liebe ist kälter als das Kapital und JFK)58 und damit eine geschlossene Repräsentation des Schauspielerkörpers, die Verheißung seiner Ganzheit (als Bestandteil des psychologischen Schauspieltheaters und seiner Raum- wie Wahrheitsordnung) stört. Die nachgestellten Schauspielerfilme scheinen also insgesamt ein ähnliches Anliegen zu verfolgen wie Polleschs Abende: Die SchauspielerInnen bringen sich – zumindest bei Cassavetes – mit ihren konkreten Arbeitsbedingungen und Fragen in den Spielprozess ein, werden hingegen nicht durch den Als-ob-Modus als Bedingung eines sich autonomisierenden Bühnenvorgangs unsichtbar.

Der »Erfahrungsreichtum« der SchauspielerInnen Pollesch stellt in seinem hybriden Zitattheater die Frage nach der möglichen Sichtbarkeit der SchauspielerInnen, nach ihren Erfahrungen, wobei es sich gerade nicht um ›authentische‹ Geschichten handeln soll. Denn dass auch Lebenserzählungen im Sinne Foucaults der Disziplinarmacht unterliegen, setzt der Regisseur voraus, ebenso, dass der sakrosankte Authentizitätsgestus wesentlich zu der problematisierten Ästhetik der Trennung und der Repräsentation gehört. Schauspieltheoretisch gesprochen, sind es die gängigen Methoden von Konstantin Sergeewiþ Stanislavskij und Lee Strasberg, die diese Ästhetik ermöglichen, denn beide arbeiten mit den emotionalen Erfahrungen von SchauspielerInnen, die den fiktionalen Figuren zur Verfügung gestellt und damit von den Akteuren abgelöst werden. Ein Gegenmodell müsste die ›Wirklichkeit mindernde‹ Grenze zwischen der Authentizität (des eigenen Lebens) und dem Als-ob-Spiel perforieren. In JFK sind die SchauspielerInnen ganz in diesem Sinne auf der Suche nach einer anderen, eigenen Geschichte, die jedoch nicht als authentische (im Leben) das repräsentative Spiel (auf der Bühne) beglaubigt. Wenn hier von Erfahrungsreichtum die Rede ist, geht es mithin nicht um ein biografisches Theater wie bei Rimini Protokoll, sondern um eine Reflexion über die Bedingungen des Repräsentationstheaters im Verhältnis zu eigenen Gefühlen und um die Integration konkreter Erfahrungen wie die Situation kurz vor dem Auftreten, die Reisen zu Gastspielen (von Hamburg nach Berlin), das Zusammenspiel von privaten und gespielten Geschichten und anderes mehr. Diese Suche kulminiert in der Frage, ob es keine Erfahrungen im Spiel geben könne, die nicht durch das ›Als-ob‹ nivelliert werden. Die Sprecher fordern in JFK, auch und gerade im Spiel Erfahrungen sammeln zu können, ›wie es früher einmal möglich gewesen war‹ – beispielsweise in Brechts Lehrstücken ohne Publikum, die für Pollesch vorbildlich sind. Die SchauspielerInnen visionieren mithin einen Aktionsraum, in dem sie nicht durch den Modus des ›Als-ob‹ auf der Bühne (als Kehrseite des Authentizitätsdiskurses) von ihren Erfahrungen abgeschnitten sind.59 Das Theater soll im Sinne Brechts ein Raum artikulierbarer (Arbeits-)Erfahrungen sein, vor allem aber ein Reflexions-

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Lengers: Ein PS im Medienzeitalter, S. 149. Dem hybridisierenden Umgang mit kulturellen Äußerungen entsprechend gilt der Sänger Emi-

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raum, um die Verstrickungen in Machtdiskurse durchdenken und Probleme neu formulieren zu können.60 Pollesch ordnet also das kulturelle System von high und low vor dem Hintergrund seiner Schauspiel- und Repräsentationskritik auf neuartige Weise, indem er bestimmte Mainstream-Filme mit hochkultureller Kunstfotografie und dem Repertoiretheater verknüpft. Diese (enthierarchisierenden) Vernetzungen folgen zum einen der Gegenwartsfixierung von Popliteratur, zum anderen ergeben sie sich aus einer autobiografischen, zeit- wie mediengeschichtlichen Selbstverständigung. Pollesch gibt den Anspruch auf Allgemeinheit, den das Repräsentationstheater bereits seiner Form nach erhebt, im Namen einer generationenspezifischen, lokalen und autobiografischen Erfahrung auf und spricht so ein spezifisches Milieupublikum mit ähnlicher Westsozialisation, also eine Teilöffentlichkeit bzw. eine minoritäre queere Gegenkultur an, wie Sonderegger formuliert.61 Entsprechend geben die theoretischen Texte auf den Proben Anlass für biografische Assoziationen: Es ist zentral, dass meine Texte sehr privat sind. Das wissen die Schauspieler auch, denn ich erzähle aus meinem Leben und sie auch aus ihrem, wenn sie Lust haben. Die Schauspieler wissen, dass es immer eine konkrete biographische Anbindung gibt,62

wobei auch den Platten und Filmen ein »biographiekonstitutive[r] Status« zukommt.63 Gleichwohl folgen diese Selbstverständigungen einer relativ verbindlichen (adornistischen) Medienkritik aus hochkultureller Perspektive, die die polyvalente Aussagekraft populärkultureller Formate nivelliert. Einen ähnlichen Effekt hat der einschränkende Fokus auf die Heteronormativität der Populärkultur. Der Hinweis auf den Zufallsfaktor bei der Auswahl und auf den biografischen Kontext verschleiert diese hierarchisierende Logik in der Bewertung der zitierten Formate. Die Schauspielerfilme allerdings sind für Polleschs Suche nach einer sichtbaren Schauspielerbiografie vorbildlich, so dass hier low (die Comedy) ganz high ist und eine ähnliche Orientierungsfunktion für ein neues Theater jenseits der Repräsentation hat wie auf inhaltlicher Ebene das theoretische Wissen.

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nem als Vertreter der kritisierten Stanislavskij-Methode: Der Rapper habe allein durch sein Trauma, seinen früheren Schmerz, Wirksamkeit und Charisma auf der Bühne erlangt. Pollesch ist im Sinne einer unmöglichen Dramaturgie auf der Suche nach nicht dechiffrierbaren Erfahrungen, die der Lesbarkeit als Signum von Herrschaftsdiskursen entkommen. Er überflutet Zuschauer wie Schauspieler mit medialen Geschichten, um sie als nicht ihre erscheinen zu lassen – »warum gehen uns Geschichten nahe, die nicht unsere sind« (Pollesch: Tod eines Praktikanten, S. 135) – und damit als Kollaborateure der Macht- bzw. Geschlechterordnung. Er durchsetzt seine Geschichten auf der Bühne deshalb mit nichtintelligiblen Aussagen. Sonderegger: Adorno geht in das Theater von René Pollesch, S. 187. Pollesch: Interviews, S. 339. Ebd., S. 183.

Heinz Drügh

»Weil im Nachhinein immer einfach« Die Marke Haas auf dem Höhenkamm der Moderne

1.

U-Kultur als Überlieferungsträger der Moderne

Die sogenannte Unterhaltungs- oder Populärkultur hat durch die Entstehung der Konsumgesellschaft immens an Bedeutung gewonnen. Ursache hierfür war ein systematisch geförderter Konsumismus, der einer zunehmend kaufkräftigen und mit Freizeitressourcen ausgestatteten Schicht von Lohnempfängern ein reiches Angebot von Mainstream-Unterhaltung offerierte.1 Die Popkultur ist allerdings nicht auf einen solchen kulturindustriellen Ökonomismus2 zu reduzieren. Vielmehr steht sie in bestimmten Ausprägungen oder Aneignungsformen auch für ein Ferment kultureller Innovation, das freilich seinerseits gerne wieder ökonomisch vereinnahmt wird. Der conquest of cool, das Verfügbarmachen von einstmaligen Popkapriziosen, welche zunächst Hipstern vorbehalten gewesen sind, für den Geschmack der Massen, stellt eine elementare Strategie bei der Generierung neuer Moden dar, auf die der Markt dringend angewiesen ist.3 Die U-Kultur ist also zum einen ein verlässlicher Produzent unverbrauchter Ideen für die Einspeisung neuer Güter in die Warenzirkulation. Zum anderen wird sie aber auch seit beinahe 100 Jahren als Motor ästhetischer Innovation aufgefasst. Wenn »die Formen der Kunst versteinern und […] nicht mehr wahrgenommen« werden, schreibt Viktor Šklovskij 1923 in seiner Abhandlung »Literatur und Kinematograph«, »dann fällt die Spannung der künstlerischen Atmosphäre und es beginnen in sie Elemente nicht kanonisierter Kunst durchzusickern, denen es gewöhnlich zu dieser Zeit gelingt, neue künstlerische priemy herauszubilden«.4 Boris Groys schließt mit seiner Untersuchung Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie insofern an diesen Gedanken an, als er

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Zur Geschichte der Konsumgesellschaft vgl. Wolfgang König: Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne. Stuttgart 2008; Christian Kleinschmidt: Konsumgesellschaft. Göttingen 2008, bes. S. 32–34. Als Konsumismus bezeichnet man den Zustand der Vergemeinschaftung, in dem das Wirtschaftssystem eine »ständige Zunahme und Intensivierung von Wünschen« kultiviert und der Erwerbswunsch »zur entscheidenden Antriebsund Triebkraft der Gesellschaft« gerät (Zygmunt Bauman: Leben als Konsum. Aus d. Engl. v. Richard Barth. Hamburg 2009, S. 41, 44). Der Terminus Ökonomismus bezeichnet einen Zustand, in dem die Ware zur »Universalkategorie des gesamten gesellschaftlichen Seins« wird (Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein. Neuwied 1923, S. 174). Thomas Frank: The Conquest of Cool. Business Culture, Counterculture, and the Rise of Hip Consumerism. Chicago/London 1997. Viktor Šklovskij: Literatur und Kinematograph. In: Aleksandar Flaker und Viktor Žmegaþ (Hg.): Formalismus, Strukturalismus und Geschichte. Kronberg im Taunus 1974, S. 38.

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darlegt, dass »gerade der profane Raum«, der, wie man meint, »aus allem Wertlosen, Unscheinbaren, Irrelevanten, und – Vergänglichen« besteht, »als Reservoir für potentiell neue kulturelle Werte [dient], da er in bezug auf die valorisierten Archivalien der Kultur das Andere ist: Der Ursprung des Neuen«.5 Ohne die Energiezufuhr jener wahlweise als Massen-, Populär- oder U-Kultur wie als profaner Raum bezeichneten Sphäre lässt sich die Evolution der Hochkultur in der Moderne nicht begreifen. Vor diesem Hintergrund wirkt Leslie Fiedlers im Jahr 1968 formulierte Forderung »Cross the border, close the gap« (»Überquert die Grenze, schließt den Graben« zwischen E- und U-Kultur) nicht als jener bloße Affront gegen die Hochkultur, als der sie meist verstanden worden ist. Laut Fiedler geht es vielmehr darum, durch die Integration von Momenten der niederen Kultur oder der Pop-Art den »Todeskampf der literarischen Moderne«, jene zunehmend bloß noch routiniert betriebene »Wiedergabe des gespreizten Kanons aus vornehmer Tradition und dem niederschmetternden Gejammer der Kulturreligion des Modernismus« im Dienste ästhetischer Innovation ohne falsche Sentimentalität zu beenden.6 Dies impliziert nach Fiedlers Meinung allerdings auch, und damit weicht er von formalistischen Vorbildern ab, dass die für die moderne Ästhetik zentrale philologische Tradition kleinteiliger Lesetechnik7 ad acta zu legen sei: »Eine neue Literaturkritik wird selbstverständlich nicht mehr befaßt sein mit Fragen der Struktur, Diktion oder Syntax«, pointiert Fiedler seine Forderung nach einer »ekstasis des Lesens«,8 die wie eine von der Woodstock-Kultur angehauchte Vorwegnahme neuerer skeptischer Einlassungen gegenüber unserer vermeintlichen »Sinnkultur« zugunsten einer an epi-

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Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München/Wien 1992, S. 56. Leslie A. Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur. Leipzig 1994, S. 14–39, hier: S. 14 u. 17. Damit sind Positionen gemeint, denen zufolge das ästhetische Proprium im intensiven Selbstbezug der Kunstwerke besteht; Kunstwerke, die »in allen Teilen sich in sich selber spiegeln[ ]«, wie Karl Philipp Moritz in seiner grundlegenden Bestimmung der Kunstautonomie formuliert, oder anders: »[J]e mehrere […] Beziehungen eine schöne Sache von ihren einzelnen Teilen zu ihrem Zusammenhange, das ist, zu sich selber, hat, um desto schöner ist sie« (Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: K. P. M.: Werke. Hg. v. Horst Günther. Zweiter Band. Frankfurt am Main 1981, S. 549–578, hier: S. 559, 572). Auch für Friedrich Schleiermachers Auffassung von Hermeneutik ist »die Sprache ein Unendliches, weil jedes Element auf eine besondere Weise bestimmbar ist durch die übrigen«, die Aufgabe des Textverstehens ist daher »eine unendliche« (Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Hg. u. eingel. v. Manfred Frank. Frankfurt am Main 1977, S. 80, 94). »Verzögerung und Reflexivierung« ist laut Niklas Luhmann eine der zentralen Aufgaben der Kunst (Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1995, S. 27) oder in den Worten des russischen Formalismus: »[D]as Verfahren der Kunst ist das Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden« (Viktor Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. In: Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. Hg. von Jurij Striedter, München 1969, S. 2–35, hier: S. 15). Fiedler: Überquert die Grenze, S. 16.

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phanischem Kunsterleben interessierten »Präsenzkultur« wirkt.9 Problematisch daran könnte freilich sein, dass Lesen und Schreiben als einsame Tätigkeiten im Vergleich mit anderen populären Medien wie Kino oder Rockkonzert, die am wirkungsvollsten kollektiv erfahren werden, hoffnungslos im Nachteil zu sein scheinen – »und sollte ich nicht lieber die Musik um ein paar Phonstärken erhöhen und mich ihr ganz überlassen anstatt weiterzutippen …«, gibt Rolf Dieter Brinkmann, eigentlich der deutlichste Fürsprecher in der deutschsprachigen Debatte um Fiedler, zu bedenken.10 Neuere Theorien des Populären überspielen indes mehr und mehr die Alternative zwischen massenkompatiblen Rezeptionsformen und akribischer »Versenkung« als, wie Walter Benjamin spitz formuliert, »asoziale[m]«11 Analysegestus. Vielmehr ist es in Bezug auf die Formen populärer Kunst mittlerweile gang und gäbe, nach Ästhetisierungsindikatoren wie Überdeterminierung, Mehrfachcodierung oder Ambiguität zu suchen, mit dem die U-Kunstwerke neben ihrer Massenkompatibilität auch versehen sind und die ein Rezipient wahrnehmen kann, aber nicht muss. Nicht selten äußert sich dies wie bei Fiedler als Kritik an ästhetischen Glaubenssätzen der Moderne. So formuliert der Romancier Ulrich Peltzer im Rahmen eines Gesprächs über TV-Serien wie The Sopranos oder The Wire Kardinalfälle eines obwohl für das Massenmedium Fernsehen produzierten, dennoch durchweg als ästhetisch anspruchsvoll gepriesenen Formats: In der Moderne wurde lange bestritten, dass man Wirklichkeit anhand eines Plots erzählen kann. Man hat behauptet, die Wirklichkeit sei so kontingent, dass sie nicht mehr in einem zusammenhängenden Plot gebändigt werden könne. Wir stehen heute möglicherweise an einem Punkt, an dem sich die Frage stellt: Muss man es nicht wieder, und kann man es nicht wieder? Ohne freilich auf eine überholte Spannungsdramaturgie zurückzugreifen.12

Die Fernsehserie gerät in dieser Sicht zum ästhetischen Stimulans für den Gegenwartsroman, ein Stimulans, mit dessen Hilfe sich die Literatur aus dem verkrampften Festhalten an Manierismen der Moderne, an einer verbrauchten Avantgarde hofft befreien zu können. Ich möchte mit den folgenden Überlegungen zu Wolf Haas’ siebtem Kriminalroman über den Privatdetektiv Simon Brenner Der Brenner und der liebe Gott (2009) den komplementären Weg beschreiten und vorführen, wie viel Moderne in einem avancierten Unterhaltungsroman steckt. Es soll gezeigt werden, in Form welcher Darstellungsverfahren genuin moderne Schreibweisen anders als laut Fiedlers Diagnose auch heute noch lebendig zu halten, ebenso vor dem Absturz in leerlaufende Routinen ohne ästhetischen Provokationswert wie vor bloßer Musealisierung zu bewahren sind.

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Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt am Main 2004. Rolf Dieter Brinkmann: Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter. In: Wittstock (Hg.): Roman oder Leben, S. 65–77, hier: S. 66. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung. In: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, S. 431–469, hier: S. 463. »Das Fernsehen schaut uns an« – Ein Gespräch mit den Schriftstellern Martin Kluger, Ulrich Peltzer und David Wagner. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 11. Juni 2010, S. 40.

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Mit der Zuwendung zur U-Kultur soll also nicht etwa Kritik an verbrauchten und nicht mehr provozierenden Formen der Avantgarde geübt werden, sondern umgekehrt: Die U-Kultur ist als Überlieferungsträger moderner Darstellungsformen zu entdecken. Die Art von U-Kultur, für die Wolf Haas’ Brenner-Romane stehen, erweist sich dabei als denkbar geeigneter Weg der Tradierung moderner Erzählformen oder gar Manierismen, ist sie doch eben aufgrund ihres Mangels an (vordergründigem) Ernst über den Verdacht wohlfeilen Epigonentums erhaben. Bei Haas lässt sich’s modern sein, ohne dass man in die – von Fiedler so genannte – »Eliotsche Kirche«13 einzutreten hätte.

2.

Wolf Haas’ deemphatische Moderne

Das Vorhaben, Haas’ Prosa und ihre Pointen strukturell zu erklären, setzt sich so gut wie unvermeidlich dem Verdacht der Beflissenheit aus – wie wenn man einem lachenden Publikum umständlich darzulegen suchte, warum es sich gerade so köstlich amüsiert hat. »Die Witze von einem anderen erklären, […] kriegt man das als Nebenwirkung, wenn man sich das Rauchen abgewöhnt?« (S. 91),14 raunzt denn auch der Held des zur Debatte stehenden Romans, der vormalige Polizist und Privatdetektiv und jetzige Chauffeur Simon Brenner, einen ebenso bulligen wie beschränkten Verdächtigen an, der gerade mithilfe aufwendiger Apparaturen und Hilfsmittel seinen Konsum von Zigaretten zu unterbinden sucht. Auch wenn man damit nolens volens auf der falschen Seite steht, soll das Brenner-Deutsch, die eigentümliche Sprache, mit der Haas’ Krimi solch große Effekte erzielt, erzähltheoretisch wie poetologisch genauer auf den Punkt gebracht werden. 2.1 Die Erzählweise Zunächst einmal ist die Eigentümlichkeit hervorzuheben, dass der Text personal erzählt wirkt, obwohl er in Wirklichkeit durch einen nullfokalisierten, auktorialen Erzähler vermittelt wird. Dieser Erzähler, der am Ende des sechsten und ursprünglich als Showdown der ganzen Reihe konzipierten Romans Das ewige Leben (2003) in der Diegese als Untermieter von Brenners Großmutter in der Kärntner Provinzstadt Puntigam Fleisch und Blut gewonnen hat, ist dem Helden mit der Ausdauer eines frühverrenteten Stubenhockers verbunden und hat »immer mit einem gewissen Interesse verfolgt, wie es dem Brenner so geht in der weiten Welt«.15 Dieser Erzähler wirkt also, obwohl sich weder seine kleinbürgerliche Weltsicht noch seine Geschwätzigkeit auch nur im Mindesten mit der Wesensart des maulfaul verschlossenen Jimi-Hendrix-Fans Brenner deckt, nahe dran am Helden und am Erzählgeschehen, so dass man manchmal Brenner selbst reden zu hören meint. »Man könnte vielleicht sagen«, formuliert Moritz Baßler mit Blick auf die-

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Fiedler: Überquert die Grenze, S. 17. Ich zitiere aus Wolf Haas: Der Brenner und der liebe Gott, Hamburg 2009, im laufenden Text nur mit der Seitenangabe. Wolf Haas: Das ewige Leben. Hamburg 2003, S. 218.

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se eigentümliche Erzählkonstruktion, »daß der Erzähler erzählt, was Brenner erzählen könnte, wenn er«, der schweigsame und grantelnde Einzelgänger, denn »der Typ dafür wäre«.16 Auch in Brenner und der liebe Gott findet sich somit die durch die Vorgängerromane der Serie bereits bekannte Mixtur aus Kolloquialismen und rhetorischen Figuren: Fügungsbrüche und Aposiopesen, die Marotte, kausale Nebensätze mit der Konjunktion ›weil‹ konsequent als Hauptsatz zu formulieren oder die für Haas-Adepten zum Erkennungszeichen gewordene elliptische Zuspitzung am Ende des Satzes mit Partikeln wie ›praktisch‹ und ›quasi‹ oder mit angehängten Interjektionen wie ›nichts dagegen‹ oder ›frage nicht‹. Die Textur einer so verfahrenden Erzählung ist »gegenüber dem großen narrativen Bogen der Kriminalhandlung«17 deutlich aufgewertet. Es geht dem Text ganz im Sinne der formalistischen Vorstellung von Poetizität um sich selbst und seine Verfahren. Diese Form sprachkritischer Selbstbezüglichkeit wird von Haas’ Roman nun aber ihrerseits ironisch ausgestellt, etwa wenn der Erzähler sich in seiner unnachahmlichen Mischung aus kleinkariertem Schwadronieren und positivem Rassismus über einen Tankstellenmitarbeiter mit jugoslawischem Vornamen auslässt: Der Tankwart war sehr freundlich, oder eigentlich müsste ich sagen Shopwart, weil tanken tun die Warte ja heute nicht mehr, sondern nur mehr Shop. ›Milan‹ ist auf seinem Brustschild gestanden, aber der junge Mann hat dem Kunden in tadellosem Deutsch erklärt, Säulen überwacht, Eingang überwacht, Kassa überwacht. (S. 27f.)

Den Spielraum gnomischer Rede kostet dieser Erzähler mit seinem boulevardzeitungshaften Wertesystem nicht zuletzt dann genüsslich aus, wenn Klatsch und Tratsch über Brenners gesundheitliche Verfassung, insbesondere seinen psychischen Zustand zu verbreiten sind. Hierbei trifft sich seine Neigung zur idiosynkratischen Reaktion mit derjenigen des Protagonisten, der den Verhaltensformen seiner Mitmenschen mit einer gewissen Dauergereiztheit, dem sprichwörtlichen Grant, begegnet, sofern seine Stimmung nicht von den nach einem depressiven Zusammenbruch eingenommenen Tabletten künstlich aufgehellt ist. Als Simon Brenner, der in Der Brenner und der liebe Gott nun nicht mehr als Privatdetektiv, sondern als Chauffeur eines Wiener Baumagnaten und seiner Frau, einer Ärztin mit dem Spezialgebiet Abtreibungen, tätig ist, auf einer längeren Dienstfahrt bemerkt, dass er vergessen hat, zuvor den Tank aufzufüllen, kommentiert der Erzähler diesen Fauxpas seines Helden so: Aber das ist vielleicht an den Tabletten gelegen. Weil nicht nur positive Wirkung. Eine gewisse Zerstreutheit. Möglich wäre es, dass es von den Tabletten kommt, hat der Chauffeur überlegt, während er Ausschau nach der nächsten Tankstelle gehalten hat. Er hat überhaupt viel über die Wirkung der Tabletten nachgedacht. (S. 11)

Wir bekommen es also mit einer doppelt gefi lterten psycho narration18 zu tun: Ein in sich gespaltener Held und dessen im Grunde grantelnde, jetzt aber gewissermaßen che-

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Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002, S. 192. Ebd. Vgl. zu diesem Begriff Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton, N. J. 1978.

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misch gereinigte Einschätzungen werden von einem zur Geschwätzigkeit neigenden auktorialen Erzähler dargeboten und kommentiert. Als Brenner während seines unfreiwilligen Tankstopps eine Tafel Schokolade für die im Fond des Wagen sitzende kleine Tochter seiner Arbeitgeber kauft und damit gegen die strikte Weisung der »Frau Doktor« verstößt, da meldet sich mithin nur vorübergehend die für Brenner typische Genervtheit: Der Herr Simon hat der Frau Doktor schon tausend Mal erklärt, dass es ja vorläufig erst die Milchzähne sind, dass da sowieso noch ein zweites Paar kommt, also Paar nicht, sondern eben eine zweite Belegschaft quasi, und da kann man dann immer noch sagen, weniger Schokolade. Oder zumindest, nicht beißen. Die Frau Doktor natürlich wieder alles besser gewusst, obwohl sie gar keine Zahnärztin war, und der Chauffeur hat sich manchmal im Stillen gedacht, bei ihren Abtreibungen werden ihr noch nicht so viele Zähne untergekommen sein. (S. 13f.)

Im Folgenden tritt die Pharmakologie ins Mittel und sorgt für einen Stimmungswandel: Sonst eine ausgesprochen nette Frau. Nett, intelligent, Spitzenfigur, alles. Der Chauffeur hat den Kressdorf sogar ein bisschen um sie beneidet, aber es war kein böser Neid, sondern fast möchte ich sagen, ein positiver Neid, und das muss auch von den Tabletten gekommen sein. Weil er hat sich gesagt, warum soll sich eine Frau wie die Frau Doktor einen wie mich suchen, wenn sie einen wie den Kressdorf haben kann. Früher hätte er das vielleicht auch denken können. Aber früher wäre derselbe Gedanke erstens gegen die Frau gegangen, zweitens gegen den Mann, drittens gegen sich selber, viertens gegen die Welt im Allgemeinen. Und heute sehr auf der versöhnlichen Seite, sprich: Der Kressdorf gar nicht so ein schlechter Kerl. Vielleicht haben es da die Tabletten sogar ein bisschen übertrieben mit der positiven Sichtweise […]. (S. 14)

2.2 Psychopharmaka und asignifikante Tropfen: Die Textur der Moderne Mit Schönfärbung und dem grundsätzlichen Ziel, »den Verstand vom Brenner zusammenzuhalten« (S. 160), tritt der Tablettenkonsum in Der Brenner und der liebe Gott in ironische Distanz zur modernen Tradition literarischer Psychopharmaka-Inszenierung. Denn die Moderne ist weniger an seelenstabilisierenden denn an dissoziierenden Wirkungen interessiert, da Letztere insbesondere im personalen Erzählen die größere Herausforderung darstellen, das Erzählen an den Rand seiner Möglichkeiten führen; so etwa in der berühmten Schlussszene von Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else, in welcher der mit dem Schlafmittel Veronal vollgepumpten Protagonistin die Sinne schwinden: Sie rufen von so weit! Was wollt Ihr denn? Nicht wecken. Ich schlafe ja so gut. Morgen früh. Ich träume und fliege. Ich fliege . . . fliege . . . fliege . . . schlafe und träume . . . und fliege . . . nicht wecken . . . morgen früh . . . ›El . . .‹ Ich fliege . . . ich träume . . . ich schlafe . . . ich träu . . . träu – ich flie . . . . .19

Im Vergleich zu solch textsprengenden Preziosen scheint das narrative Arrangement in Der Brenner und der liebe Gott mit seiner Trennung von Erzähler und Hauptfigur

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Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Hg. v. Johannes Pankau. Stuttgart 2003, S. 81.

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auf der sichereren, literarästhetisch prima facie aber auch langweiligeren Seite. Eine solche Wertung lässt sich freilich auch umkehren: Während nämlich zeitgenössische Texte, die einen Bewusstseinsverlust personal erzählen, fast unweigerlich epigonal wirken, hält Haas’ konventionelleres Erzählarrangement unverbrauchte Pointen bereit; etwa wenn dargestellt wird, wie der allzu neugierige Brenner von den Beteiligten des Wiener Baufilzes in einer Senkgrube für immer zum Schweigen gebracht werden soll. Der sich dabei ereignende Bewusstseinsverlust hat so gar nichts vom ätherischen Verwehen des Fräuleins Else, sondern wird – obwohl als Nahtoderfahrung samt Gottesepiphanie nicht eben zurückhaltend orchestriert – vom Erzähler gnadenlos profaniert und im Stil eines ›Otto Normalverbraucher trifft Promi‹-Klatschzeitungsformats dargeboten: Schon allein, wie der geleuchtet hat. Überirdisch Hilfsausdruck! Das war ein Hallo beim Brenner, das kannst du dir gar nicht vorstellen. […] [U]nd er hat immer wieder hinschauen müssen, so sehr hat ihn die Begegnung in diesem unpassenden Rahmen überrascht: Ausgerechnet in einer Senkgrube, zwei Meter von Scheiße bedeckt, begegne ich dem lieben Gott. […] Und je näher er gekommen ist, umso besser ist es dem Brenner gegangen. Weil der liebe Gott natürlich eine Ausstrahlung, frage nicht. Dem war die schlechte Umgebung vollkommen egal. Das hört man ja immer wieder, die richtigen Berühmtheiten sind unkompliziert. Bestes Beispiel jetzt der liebe Gott. […] Die Riesenland-Zwerge oben waren ihm schon so was von egal, nicht einmal böse war er ihnen, weil mit dem lieben Gott super Ebene gehabt. (S. 192ff.)

Der modern-antiklassizistische Einspruch gegen die »plumpe Formvollendung« (S. 192) des Körpers, als der Brenners Kontakt mit der verwesenden Leiche des Abtreibungsgegners Knoll in ebenjener Senkgrube fungiert und der auf kein geringeres Vorbild anspielt als auf Charles Baudelaires skandalöses Kadavergedicht »Une Charogne«, wird im Folgenden denn auch konsequent in die Deftigkeit des Hardboiled-Genres übersetzt – beispielsweise durch das Standbild, das sich dem Erzähler aufdrängt, als Brenner gerade in die Senkgrube hinabgelassen wird: »Und wie er immer noch tiefer eingesunken ist und ausgesehen hat wie ein beidseitig beinamputierter Jesus, der mit seinen Stummeln auf dem Scheißesee wandelt […]« (S. 188). Wenn in Der Brenner und der liebe Gott seelische wie körperliche Auflösungsphänomene sowohl in ein gesichertes Erzählarrangement eingesponnen als auch, gehörige Kontrastkomik erzeugend, in die Weltsicht des Erzählers übersetzt werden, so heißt das freilich nicht, dass sich Haas nicht doch auch einmal den Luxus eines personal fokalisierten Bewusstseinsverlusts nach Schnitzler’schem Vorbild erlaubt hätte. Die Rede ist vom Ende des sechsten Brenner-Romans Das ewige Leben, in dem der bis dahin extradiegetische Erzähler nicht nur als Untermieter von Brenners Großmutter und als Zeuge der finalen Schießerei zwischen Brenner und dem Hauptverdächtigen, einem Major namens Heinz, ins Geschehen involviert wird, sondern mutmaßlich während des Erzählens ums Leben kommt – ein Kabinettstück, in dem die sprachlichen Marotten des geschwätzigen Erzählers gleichsam im Verlöschen ein letztes Mal glänzen: »Sprechen, um nicht zu sterben, ist wahrscheinlich eine Beschäftigung, die so alt ist wie das Wort«,20 könnte

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Michel Foucault: Das unendliche Sprechen. In: M. F.: Schriften zur Literatur. Aus dem Franzö-

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man dies – ein wenig pathetisch – mit einem von Foucault angeführten Zitat Maurice Blanchots überschreiben: Jetzt warum weiß ich auf einmal, der Heinz muss geschossen haben. Pass auf. Der Brenner reißt auf einmal beide Hände in die Luft, fast ein Sprung war das, weniger wie ein Leibwächter, mehr aus dem Schreck heraus, und ich denke mir noch, der Stich in seiner linken Hand, das schaut ja aus wie beim reinsten Jesus oder bei diesem Pater Pio, den sie in Italien so anbeten, weil der hat diese Wundmale gehabt, die zu den hohen Feiertagen zu bluten angefangen haben, und im selben Moment sehe ich, wie der Brenner in der anderen Hand auch, also rechts, auf einmal sehe ich, er blutet ja in der rechten Hand auch, und ich denke mir noch, wenn man einem Menschen mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit in die Hand schießt, kann man ihn töten, und ich denke mir noch, der Brenner wird mir doch nicht, zuerst nur ein kleines Loch, aber ob du es glaubst oder nicht, noch bevor ich überhaupt einen Schuss höre, wird das Loch immer größer, zuerst nur ein kleines Loch, aber jetzt, und ich denke mir noch, wie kann ein Loch in der Hand größer als die Hand selber sein, und ich denke mir noch, ich habe noch nie ein Loch gesehen, das so schnell näher kommt, und ich dingse mir noch, wie kann ein dings in der Hand so groß sein wie das Arnold-Dingsenegger-Stadion, und das schießt so schnell aus der hochgerissenen Hand vom ding, vom vom vom wie heißt er schnell, vom ding, vom vom vom, dass ich, und ich höre noch ding wie wie wie ding und ding und riesenrotes Loch und ganz gewaltig ding und ich ding und ich ding ding ich ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding ding […]21

Für die Motivierung der Chuzpe, einem solchen Showdown, der die Brenner-Reihe seinerzeit erklärtermaßen beendet hatte, mit Der Brenner und der liebe Gott doch noch einmal eine Fortsetzung folgen zu lassen, braucht Wolf Haas nicht mehr als einen starken ersten Satz: »Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt, wenn du einmal stirbst, muss man das Maul extra erschlagen« (S. 7) – und schon sind wir wieder im Geschäft mit diesem Erzähler, der nun, wie es scheint, körperlos aus einem Jenseits der Diegese erzählt. So wenig der Haas’sche Erzähler auch zum Outrierten modernistischer Texturen neigt, ja diese vielmehr gezielt unterbietet, so bleibt seine Erzählweise also dennoch höchst künstlich und »künstlerisch« im formalistischen Sinne eines »besonderen Verfahren[s]«.22 Ist für Šklovskij – wie oben gesehen – die Populärkultur wichtiges Stimulans für die Generierung neuer, unverbrauchter Darstellungsverfahren, so könnte man für Haas’ Prosa reklamieren, dass sie das »Empfinden« für die modernistische Textur durch ihre ironisch-distanzierte Montage in ein populäres Genre gegen die hochkulturelle »Automatisierung« und gegen jede falsche epigonale Andacht wieder ermöglicht.23 So handelt es sich um eine Verfahrensauffälligkeit, einen Versprecher des Baustellenwächters, der die entführte Tochter des Baumagnaten beharrlich ›Helene‹ statt kor-

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sischen von Karin von Hofer und Anneliese Botond. Frankfurt am Main 1988, S. 90–103, hier: S. 90. Haas: Das ewige Leben, S. 219f. Šklovskij: Die Kunst als Verfahren, S. 7. Ebd., S. 13, 15.

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rekt ›Helena‹ nennt, der Brenners Aufmerksamkeit auf diesen Namen zieht und dann assoziativ eine – keineswegs beliebige, sondern für Brenners ›literarische Sozialisation‹ offenbar zentrale – Reminiszenz ins Spiel bringt, die so gar nicht in den Kontext der emphatischen Moderne zu gehören scheint: Dem Brenner ist aufgefallen, dass er den Namen genauso falsch betont hat wie die Südtirolerin ihre Marlbooro. Und ob du es glaubst oder nicht, das hat ihn an das einzige Buch erinnert, das es bei seinen Großeltern gegeben hat, oder besser gesagt, an eine Geschichte in dem zehn Zentimeter dicken Wilhelm Busch, sprich Die fromme Helene. So hat der tätowierte Ochse den Namen ausgesprochen, wie die fromme Helene. Nein, stimmt nicht, zwei Bücher haben seine Großeltern gehabt, den Wilhelm Busch und Der Hausarzt. Und in beiden sehr gute Bilder! Aber ab einem gewissen Alter, wo er den Hausarzt in seinem Versteck gefunden hat, ist ihm die fromme Helene langweilig geworden, und nur mehr Hausarzt, frage nicht. (S. 180f.)

Wilhelm Busch ist vergleichsweise langweilig – nicht nur in Bezug auf seinen Gebrauchswert für den jungen Brenner, sondern auch in Sachen Literarisierung von Rauschmitteln. Denn eine Lakonik wie »Es ist ein Brauch von alters her: Wer Sorgen hat, hat auch Likör!« lässt nicht eben ein aufsehenerregendes Darstellungsverfahren erwarten. Einerseits. Andererseits aber finden sich auch bei Busch – wenngleich bescheidene – Anflüge von per Repetition hergestellten Textureffekten, bei denen »die Sprache in Stücke[ ]«24 zerlegt wird: »›Nein!‹ – ruft Helene – ›Aber nun will ich’s auch ganz – und ganz – und ganz – und ganz gewiß nicht wieder tun!‹« Solche Extravaganzen, die bei Busch freilich nur die Ausnahme darstellen, werden zu gesuchten Effekten im Naturalismus. So findet sich in Arno Holz’ und Johannes Schlafs Erzählung Papa Hamlet (1889) die folgende berühmte, ebenfalls von Alkohol stimulierte Szenerie, in welcher der Schauspieler Niels Thienwiebel seinen Sohn Fortinbras erstickt und seine Frau vergewaltigt: ›Na? Bist du – nu still? Na? – Bist du – nu still? Na?! Na?!‹ ›Ach Gott! Ach Gott, Niels, was, was – machst du denn bloß?! Er, er – schreit ja gar nicht mehr! Er … Niels!!‹ […] Eine Diele knackte, das Öl knisterte, draußen auf die Dachrinne tropfte das Tauwetter. Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . . . Tipp . . . . . . . . . . . .25

Das Tropfen, das zunächst einmal für die schiere asemantische Signifikanz, für ein materielles Spiel der Zeichen mit sich selbst steht, das die Narration – auch optisch – durchlöchert, verdeckt den gewaltsamen Beischlaf von Thienwiebel und seiner Frau und wird dadurch im Gegenzug geradezu bedeutungsschwer. Tropfen scheint für ein solches Changieren zwischen reiner Textmaterialität und dicker Semantik geradezu prädestiniert, denkt man etwa an jene Szenerie aus Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857), in der Heinrich Drendorf und seine Natalie sich nach einer Fülle von Seiten erstmals am

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Roland Barthes: Die Lust am Text. Aus d. Franz. v. Traugott König. Frankfurt am Main 1990, S. 77. Arno Holz und Johannes Schlaf: Papa Hamlet. Stuttgart 2001, S. 60.

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Finger berühren, eine Äußerung der Körperlichkeit, welche den, so Arno Schmidt, sonst durchweg »chemisch gereinigte[n] Liebeshandel«26 des Textes in die Ausweichbewegung einer Amplifi kation zu treiben scheint, in eine Wortreihe, die das ›Skandalon‹ der Körperlichkeit sprechend verdecken soll: Das unermüdlich fließende Wasser, die Alabasterschale, der Marmor waren verjüngt; die weißen Flimmer auf der Gestalt und die wunderbar im Schatten blühenden Lichter waren anders; die Flüssigkeit rann, plätscherte oder pippte oder tönte im einzelnen Falle anders.27

Es passt ins Bild von Wolf Haas’ deemphatischer, digressiver Moderne, wie in Der Brenner und der liebe Gott in der Beschreibung der Frisur des Abtreibungsgegners Knoll dieses Motiv des Tropfens in den Genuss einer sehr eigentümlichen Wiederaufnahme kommt: Noch dazu hat der [Knoll, H. D.] genau wie der Brenner keinen Schirm gehabt, aber im Gegensatz zum Brenner nicht einmal Haare. Eine Vollglatze wäre bei Regen vielleicht sogar ein Vorteil, weil du nachher wenigstens keine nassen Haare hast. Aber sein Verfolger hat so eine altmodische Glatze gehabt, mit einem Haarkranz rundherum, sprich das Schlechteste bei Regen, weil dir die Tropfen schutzlos auf die Glatze hämmern, aber nasse Haare trotzdem. (S. 60)

Gegen jede Spannungsökonomie genehmigt sich der Roman dann auch in Bezug auf Knolls Frisur gleich noch eine weitere überdeutliche Beschreibung, die nicht nur mit ihrer Ekligkeit und ihrem außergewöhnlichen Farbspiel an Verfahren der DécadenceLiteratur erinnert,28 sondern auch deren Tendenz zur Überausführlichkeit, zum Verstoß

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Arno Schmidt: Der sanfte Unmensch (Einhundert Jahre »Nachsommer«). In: A. S.: Bargfelder Ausgabe (BA) II. Dialoge 2. Bd. 1. Zürich 1990, S. 61–85, hier: S. 71. Adalbert Stifter: Der Nachsommer. In: A. S.: Werke und Briefe. Historisch-Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald. Bd. 4.2. Stuttgart 1998, S. 262 – Schmidt freilich findet dies die einzig sprachlich aufregende Stelle des Nachsommers: »Halt! Give the devil his due: einmal, aber auch nur einmal, hat [Stifter] für Tropfendes das sehr suggestiv Neue: ›Das Wasser pippte‹: sehr gut!« (Schmidt: Der sanfte Unmensch, S. 81). Zum Vergleich die Beschreibung der Industriellengattin Claire Pimbusch aus Heinrich Manns von der Décadence inspiriertem Roman Im Schlaraffenland aus dem Jahr 1900: »Claire Pimbusch trug auf dem Gipfel ihrer kunstvollen Frisur einen großen Amethyst, und der violette Stein schrie grell inmitten ihres karminroten Haares. Die blauschwarzen Wölbungen der Augenbrauen bildeten zwei Wulste, in deren Mitte, über der Nasenwurzel, eine tiefe Einsenkung, umgeben von kleinen senkrechten Falten die Stirn durchquerte. […] Es lag über ihr ein künstlicher grüner Schimmer, wie über der schlecht aufgeklebten Stirnhaut einer Theaterperücke. Ein roter Kreis zog von den oberen Lidern bis an die Backenknochen um die grünlichen, verquollenen Augen. Das Gesicht schien aufgeblasen, ohne daß Fettpolster zu entdecken waren, und an seine rosige Farbe war schwer zu glauben, weil die lange scharfe Nase mit ihren weit offenen, gierigen Nüstern und das spitze Kinn kreideweiß, gleich der Maske eines Clowns, daraus hervorragten. Die blutroten Mundwinkel krümmten sich mit merkwürdiger Beweglichkeit. Die zu kurze Oberlippe legte die weißen, spitzigen Zähne frei, zwischen denen ein wenig Flüssigkeit glitzerte.« (Heinrich Mann: Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten. Frankfurt am Main 1988, S. 107f.)

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gegen die Erzählökonomie und daraus resultierend zur Verselbständigung der Details29 auf geradezu offensive, ins Phantasmagorische zielende Weise betont: Im grünen Licht des Wettcafé-Schriftzugs hat er überdeutlich gesehen, wie die riesengroßen Regentropfen in den Haarkranz vom Knoll gekrabbelt sind. Die violetten Besenreiser, die der Mann um einen uralten, längst zugewachsenen Einstich am Ohrläppchen gehabt hat, sind dem Brenner wie ein Geheimzeichen vorgekommen, entweder von einer Sekte oder von Außerirdischen. Durch die offene Tür hat man Rennpferde und Rennhunde und Rennautos über die Bildschirme flimmern gesehen, draußen ist eine unnatürlich rote Straßenbahn elegant durch die Regengischt gesegelt […]. (S. 61)

2.3 Die Ästhetik des populärkulturellen Archivs Die aus meist abseitig wirkenden Details wie schwadronierenden Digressionen und übereinlässlichen Deskriptionen gewobene Haas’sche Textur formiert allerdings keine bloß poetische, sondern auch eine kulturpoetische Funktion,30 in der nicht zuletzt auch populärkulturelle Archivalien verzeichnet werden: »die Sprache in Stücken; die Kultur in Stücken«.31 Als Brenner sich zu einem »Mitternachtsspaghetti«-Nachspiel im Bett der Südtirolerin vorfindet, plötzlich das (von niemand anders als seiner Gastgeberin) entführte Kind hereinspaziert und, als wäre nichts gewesen, bei den beiden einschläft, da dokumentiert der Text Brenners emotionale Verwirrung zwischen amourösem Abenteuer, rasanter Wendung des Falls inklusive großer Erleichterung über das Wiederauftauchen des kleinen Mädchens und seiner unverhofften ›Vaterschaft‹: Dem Brenner hat vor Erleichterung das Herz so geschlagen, dass er gar nicht richtig gehört hat, was die Südtirolerin da redet. Ihn hat nur gewundert, dass die Helena ein paar Zentimeter von seiner Brust entfernt schlafen kann, obwohl sein Herz geschlagen hat, als wäre seine Brust ein Dinosaurier-Ei, und der Kleine will ausgerechnet jetzt aus seiner Brust schlüpfen und das Licht der Welt erblicken. Aber das Klopfen war so laut und rhythmisch, das kann kein noch so musikalischer Dinosaurier sein, hat der Brenner überlegt. Angehört hat es sich eher, als hätte er den Schlagzeuger vom Jimi Hendrix verschluckt, den Mitch Mitchell, und der spielt zu Ehren der rothaarigen Frau im Bett Foxy Lady. (S. 158f.)

Fokus dieser Szenerie ist also weniger der Plot, in Bezug auf dessen Lösung die Südtirolerin gerade mutmaßlich Entscheidendes mitzuteilen hat, sondern einmal mehr Brenners leibseelischer Zustand, und die Darstellung des rhythmischen Herzklopfens kulminiert in einem Vergleich mit dem Schlagzeugspiel Mitch Mitchells, des Drummers der Jimi-

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Dieser Aspekt wird in den décadencekritischen Bemerkungen von Friedrich Nietzsche markiert: »Womit kennzeichnet sich jede litterarische décadence? Damit, dass das Leben nicht mehr im Ganzen wohnt. Das Wort wird souverain und springt aus dem Satz hinaus, der Satz greift über und verdunkelt den Sinn der Seite, die Seite gewinnt Leben auf Unkosten des Ganzen – das Ganze ist kein Ganzes mehr« (Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem. In: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 6. 2. Aufl. München 2009, S. 27). Vgl. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005. Barthes: Die Lust am Text, S. 77.

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Hendrix-Band. Hendrix ist zwar von jeher ein festes Inventarstück von Brenners Imaginationswelt. Hier verdankt sich die Aufmerksamkeit auf Mitch Mitchell aber einer zeichenmateriellen, einer phonetischen Motivation. Denn im Namen ›Mitch‹ wird metonymisch die ›Milch‹ wieder aufgegriffen, von der im Roman kurz zuvor die Rede war, und zwar insofern, als »der Brenner […] es sich wahnsinnig vorgeworfen [hat], dass er« ihre zentrale Bedeutung »übersehen hat« (S. 158): die Tatsache, dass die Südtirolerin bei ihrer ersten Begegnung im Tankstellenshop einen Liter Milch (nun weiß Brenner: für die entführte Helena) gekauft hat, obwohl sie Milch nach eigener (späterer) Auskunft wegen eines fehlenden Enzyms im Verdauungstrakt gar nicht verträgt. Indirekt fordert der Text damit – wie jeder Krimi – Aufmerksamkeit für die in den Indizien gespeicherten »interessante[n] Nachricht[en]« (S. 158), und das heißt in der Verschiebung von ›Milch‹ auf ›Mitch‹: Aufmerksamkeit ebenso für die Feintextur der Signifikanten wie für unspektakuläre Versatzstücke des profanen Raums. In Brenners Körperphantasie wird die Aufmerksamkeit auf Mitch Mitchell indes durch eine auffällige Geburtsmetaphorik überlagert, in der, gestützt auf popkulturelle Archivalien, ebenso eine queere Familiengeschichte erzählt wie metapoetisch das Verfahren des Textes ausgestellt wird. Am Beginn der Passage steht Brenners Erleichterung über das Wiederauftauchen der kleinen Helena, die im Bett der Südtirolerin nur »ein paar Zentimeter von [Brenners] Brust« entfernt eingeschlafen ist. Es ist aber offenbar nicht bloß Erleichterung, was Brenner verspürt, es ist vielmehr regelrechte Panik, die sich in ihm ausbreitet, »als wäre seine Brust ein Dinosaurier-Ei, und der Kleine will ausgerechnet jetzt aus seiner Brust schlüpfen«. Die eigentlich im Bett der Südtirolerin von Brenner zu erwartende männliche Libido wird also merkwürdigerweise in eine männliche Schwangerschaftsphantasie transformiert: eine Verschiebung, die sich zuvor bereits angedeutet hat. Denn schon nach dem Genuss der von der Südtirolerin kredenzten »Mitternachtsspaghetti« ist Brenner gewissermaßen zur genudelten Gans mutiert, statt noch als Liebhaber zu sexueller Prokreation bereit zu sein: »Weil Südtirolerinnen immer gute Köchinnen [hat sich] der Brenner […] nach drei Tellern Nudeln schwangerer gefühlt […] als jede Patientin, die jemals in der Abtreibungsklinik aufgetaucht ist« (S. 130). »Und da wird er doch einmal sagen dürfen«, sinniert der Erzähler, »lass mich jetzt schlafen, ohne dass seine Ehre als Mann auf dem Spiel steht« (S. 156). »Zeugung und Geburt« sind aber, so Barbara Vinken, »nicht von ungefähr […] heißumkämpfte Topoi im Kampf der Geschlechter«, denn »in der Regel ist das reproduktive Erzeugen des Fleisches weiblich, das produktive Erzeugen des Geistes männlich konnotiert«.32 Und so geht Brenner in dieser Situation einerseits geistig schwanger mit der Lösung des Falles. Was ihm aber in der Diegese andererseits leibseelisch zu schaffen macht, ist, dass ihm diese Lösung in Person der bei der Südtirolerin plötzlich auftauchenden Helena in Form einer unverhofften Vaterschaft zuläuft, bei der es noch erschwerend hinzukommt, dass sie auch noch ohne vorangegangene Zeugung zustande gekommen ist: »Und siehst du, das wollte ich

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Barbara Vinken: Wo Joseph war, soll Prometheus werden. Michelets männliche Mütter. In: Christian Begemann und David E. Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt. Theorien und Metaphern ästhetischer Produktion in der Neuzeit. Freiburg 2002, S. 251–270, hier: S. 251.

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sagen. Jetzt sind der Brenner und die Südtirolerin, bevor sie mit dem Geschlechtlichen halbwegs zu einem Ende gekommen sind, wie das glücklichste Ehepaar mit einem Kind im Bett gelegen« (S. 157f.).33 Gegen das aufgeregte Getrommel seines Herzens treten nun aber zunächst einmal wieder beschwichtigend die Tabletten auf den Plan, wobei sie sogar das Signifikantenspiel zu einem Sedativum zu entmächtigen suchen: Und dass die Südtirolerin ein bisschen komisch ist, ist dir ja schon aufgefallen, haben die Tabletten ihm gut zugeredet. Mein Gott, hat sie eben das Kind mitgenommen. Besser, als wenn ein anderer es genommen hätte. Hat sie sich die Helena eben für ein paar Tage ausgeborgt. ›Geborgt‹ oder ›geboren‹, das klingt schon so ähnlich, dann kann es nicht so schlimm sein. Das hört man ja immer wieder, haben die Tabletten ihm vor Augen gehalten, dass Frauen, die keine Kinder kriegen, sich in Gebärstationen schleichen und ein Neugeborenes stehlen. Und alles, was immer wieder vorkommt, ist auch ein bisschen normal, haben die Tabletten im Brenner argumentiert. (S. 159)

Doch gegen diese Form der Beruhigung per repetitiver Normalisierung persistiert die männliche Geburtsphantasie, mit der die kleinfamiliäre Behaglichkeit schräg durchgestrichen wird. An deren Stelle bringt sich das Ingenium des Detektivs in Stellung – »die Kunst scheint das Gebären des Mannes zu sein«.34 Der Bildspender dieser Phantasie ist indes unschwer im populären Science-Fiction-Film auszumachen, in dem Dinosaurier-Ei aus Steven Spielbergs Jurassic Park und der berüchtigten Chestbuster-Szene aus Ridley Scotts Alien, in der das Monster aus seinem Wirt, einem Mitglied der Raumschiffcrew, in dem es sich zuvor eingenistet hat, äußerst blutig und einer Geburt nicht unähnlich herausbricht: »Aber der Dinosaurier in seiner Brust hat gesagt, jetzt komme ich gleich. Aber die Tabletten haben gesagt, das kann kein Dinosaurier sein, weil zu musikalisch, das muss der Mitch Mitchell sein« […] (S. 159f.). Die popkulturelle Digression nutzt also zum einen das Imaginäre massenkultureller Phantasien. Die Aufladung des Textes mit solch popkultureller Energie wird aber zum anderen auch wieder überführt in Textur. An dem durch Mitch Mitchell personifi zierten Beat der Hendrix-Band findet der Text nicht zuletzt deshalb Gefallen, weil sich ausgehend vom Namen des Schlagzeugers als Mimikry seines Spiels effektvoll eine texturier-

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Mit einer inversen Narration experimentiert der Text auch, als Brenner mithilfe der rückwärtslaufenden Überwachungskameras im Tankstellenshop den Tathergang der Entführung zu rekonstruieren sucht. Der digressive Beginn des hier zur Debatte stehenden Kapitels lautet: »Jeder kennt die regulären Zusammenhänge zwischen dem Sexuellen und dem menschlichen Leben, wo man im Allgemeinen sagt, das eine entsteht, weil man das andere getan hat, quasi ursächlicher Zusammenhang, weil immer das eine neun Monate vor dem anderen, oder können auch einmal acht oder sieben Monate sein. Ein Abtreibungsgegner wird sogar sagen, einen einzigen Tag nach dem einen ist das menschliche Leben schon da, aber niemand wird im Prinzip bestreiten, dass immer das eine vor dem anderen sein muss. Keiner wird behaupten, es kann ausnahmsweise auch einmal umgekehrt sein, quasi Kredit bei der Samenbank, und du hast schon zwei, drei Jahre ein Kind, und hinterher, wenn du im Terminkalender einmal ein fünfminütiges Zeitfenster findest, dann machst du schnell das Sexuelle für deinen Erben, der im Kindergarten schon schönere Zeichnungen als die anderen Kinder macht« (S. 154). David Wellbery: Kunst – Zeugung – Geburt. Überlegungen zu einer anthropologischen Grundfigur. In: Begemann und Wellbery (Hg.): Kunst – Zeugung – Geburt, S. 9–36.

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te Prosa entwickeln lässt, mit der das beharrliche Drängen des detektivischen Fragens simuliert und gleichzeitig effektvoll dementiert wird, dass »alles, was immer wieder vorkommt, […] auch ein bisschen normal« ist: Wie hängt das alles zusammen, hat er sich gefragt, während der Mitch Mitchell nicht und nicht aufgehört hat, mit seinem Fuß auf die Brust vom Brenner einzuhämmern. Der ist einfach nicht und nicht müde geworden, und der Brenner hat mit dem Nachdenken nicht und nicht aufhören können. […] So viele Fragen sind dem Brenner eingefallen, aber die Antworten nicht und nicht. […] Die Helena hat geschlafen, die Südtirolerin hat geschlafen, der Brenner hat nicht geschlafen. Nicht und nicht. Aber glaubst du, ihm wäre wenigstens eine Antwort auf seine Frage eingefallen, wie die zufällige Entführung der Helena und der Tod des Knoll zusammenhängen? Nicht und nicht. Und nicht und nicht. Und nicht und nicht. (S. 160f.)

3.

»Weil im Nachhinein immer einfach«? – Die Marke Haas

Moritz Baßler, Haas-Leser und -Interpret der ersten Stunde, hat sich in seiner Rezension in der Zeitschrift Literaturen ein wenig enttäuscht darüber gezeigt, dass Brenner und der liebe Gott eine Art same procedure as every year ins Werk setzt: Vielleicht ist das ja wirklich das Äußerste, was man unter den gegebenen Umständen als Künstler erreichen kann. Haas, da bin ich mir sicher, weiß, was er tut. Womöglich lag unser Fehler darin, dass wir auch noch innerhalb der Marken-, Pop- und Medienkultur auf so etwas gehofft hatten wie eine Avantgarde, mit Wolf Haas an der Spitze. Dann hätte man es mit Carl Einstein halten können und seiner Einsicht: ›Was einmal mit Gottes Hilfe anständig traitiert ist, lasse man ruhen. Wir wiederholen ja doch‹.35

Dieser Diagnose ist einerseits zuzustimmen: Mit Brenner und der liebe Gott legt Wolf Haas keinen avantgardistischen Versuch vor, sondern bekennt sich mit affirmativem Gestus zum Status einer Marke – deutlichster paratextueller Hinweis darauf, dass jedes Stückchen der Tafel Schokolade auf dem Schutzumschlag des Buchs vom Markennamen ›Haas‹ geziert ist. Offenbar hat Haas kein Problem damit, seine »Markenpersönlichkeit« durch »planmäßiges Absorbieren von Aufmerksamkeit« »am Markt […] bekannt[ ] […] zu halten«.36 Eine solche Haltung ist – bei aller tatsächlichen Verstrickung von Autoren in den Literaturbetrieb – natürlich die Ausnahme, weil jene »einmalige[ ] Gestalt«, die als »Primärtugend einer Marke« gilt, mit der Einzigartigkeit des literarischen Genies nicht vereinbar ist, bleibt das literarische Genie doch seinem Selbstverständnis nach

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Moritz Baßler: Ist jetzt was passiert? Wie es Wolf Haas gelingt, seinen toten Erzähler als Stimme aus dem Jenseits zu reaktivieren, und was das für die Marke ›Brenner‹ bedeutet, in: Literaturen (September 2009), S. 36. Thomas Wegmann: Zwischen Maske und Marke. Zu einigen Motiven des literarischen Inkognito. In: Jörg Döring, Christian Jäger und T. W. (Hg.): Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Opladen 1996, S. 128–140, hier: S. 135.

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ineffabile, während die Marke »der Massenseele gemeinschaftliche Bindung erlaubt«,37 eben nicht mit Vorstellungen schöpferischer, vom Markt unabhängiger Individualität zu vereinen ist. Womit Haas’ Markenverständnis allerdings weit eher konvergiert, das sind Vorstellungen, in denen Kunst und Handwerk noch nicht auseinanderdividiert sind, in denen Marken lange vor der Einführung des Massenkonsums als »Eigentumsmarken, Hausmarken, Handwerkszeichen, Künstlerzeichen«38 eine selbstbewusste Qualitätsanzeige jenseits aller Inspirationsmythen darstellen. So erstaunt es nicht, dass die erzählerische Abrechnung mit den Qualitäten des Bauunternehmers Kressdorf als Verbrecher in Der Brenner und der liebe Gott als Hommage an das Handwerkliche formuliert ist: Und ein Kressdorf ist kein Türaufbrecher. Diese Art von Full-Service-Verbrecher war der ja nicht, wo man sagt, Handwerk von der Pike auf gelernt, der kann alles vom Fahrradschloss bis zum sauberen Nierenstich. Der Kressdorf hat nur die Brutalität gehabt, die Geradlinigkeit, die Kompromisslosigkeit, was man eben so auf der Wirtschaftsuniversität des Lebens lernt, aber Handwerk und Können null (S. 207).

Diese Einschätzung lässt sich auch als poetologisches Credo auf Haas’ Prosa beziehen. Auf die Bemerkung der Literaturbeilagen-Mitarbeiterin in dem Roman Das Wetter vor 15 Jahren, dass der Begriff »›Textingenieur […] ürgend so was Verklemmt-Sechzigerjahre-Mäßiges« an sich habe, lässt er sein fiktionales Alter Ego antworten: »Na ja, Textingenieur. Finden Sie das so schlimm?«39 – Nein, finden wir nicht. Denn Wolf Haas’ handwerkliche Art, die Versatzstücke der Moderne in einer alles andere als überkandidelten, vielmehr die Zitatmöglichkeiten der U-Kultur als Überlieferungsform nutzenden Weise zu verarbeiten, scheint eine der überzeugendsten Varianten zu sein, das schwierige Erbe der Moderne auf unbeflissene, peinliche Epigonalität vermeidende Weise zu wahren. »Weil im Nachhinein immer einfach« (S. 114)? Von wegen (und nicht und nicht).

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A. Deichsel: Die Führungsmarke. In: Der Markenartikel 57 (1996), zit. n. Kai-Uwe Hellmann: Soziologie der Marke. Frankfurt am Main 2003, S. 39. Georg Bergler: Markenartikel. In: Erwin von Beckerath: Handbuch der Sozialwissenschaften. 1960, zit. n. Hellmann: Soziologie der Marke, S. 39. Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Hamburg 2006, S. 134.

Uta Degner

Virtuose des Trash Dietmar Daths Entwurf einer »Ästhetik der Drastik« in kultursoziologischer Perspektive

Kaum einer literarischen Veröffentlichung der letzten Jahre dürfte es derart programmatisch um eine Aufwertung des ›Niederen‹ gegangen sein wie Dietmar Daths Die salzweißen Augen,1 das 2005 als erstes seiner Werke im Suhrkamp Verlag erschien. Der Autor gilt gegenwärtig als einer der produktivsten im anspruchsvollen Literatursegment und als Hoffnungsträger einer avancierten Literatur. Zuletzt diskutiert wurde vor allem sein Roman Die Abschaffung der Arten, der 2008 für den Deutschen Buchpreis nominiert war und für welchen Dath 2009 den Förderpreis für Literatur der Berliner Akademie der Künste und den Kurd-Laßwitz-Preis erhielt. 2005 kannte eine mehr oder wenige breite Öffentlichkeit den Autor eher als Journalisten denn als Verfasser von Romanen: Dath hatte sich als ehemaliger Chefredakteur des Musikmagazins SPEX einen Namen gemacht und arbeitete seit 2001 als Redakteur im Feuilleton der FAZ. Zwar hatte er seit Mitte der neunziger Jahre regelmäßig auch literarische Werke publiziert, doch waren diese in kleinen Subkultur-Verlagen wie dem Berliner Verbrecherverlag erschienen 2 und eher ein Geheimtipp. Interessant an den Salzweißen Augen ist nicht zuletzt, dass sie den Sprung in eine konsekrierte Verlagskultur mit einer inhaltlichen Huldigung des ›Niederen‹ verbinden. Der Kontrast zwischen dem Ort der Publikation, nämlich dem Verlag mit dem wohl höchsten kulturellen Kapital Deutschlands, und dem im Folgenden dargestellten Einsatz gegen die ästhetischen Werte der ›Hochkultur‹ wird sich dabei als symptomatisch für eine strukturelle Schwierigkeit erweisen: Daths Protagonist ist in dem Maße gezwungen, die Bewertungskriterien ›hoher‹ Kunst anzuerkennen, in dem er ihnen ihre Legitimität abspricht. Vierzehn Briefe richtet ein David genannter junger Mann an eine ehemalige Schulkameradin, in welchen er ihr Antwort auf eine Frage aus der inzwischen schon länger

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Dietmar Dath: Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und Deutlichkeit. Frankfurt am Main 2005. Im Folgenden zitiere ich aus diesem Band unter Angabe der Seitenzahl im laufenden Text. Cordula killt Dich! oder Wir sind doch nicht Nemesis von jedem Pfeifenheini. Roman der Auferstehung. Berlin: Verbrecher Verlag 1995; Die Ehre des Rudels. Horrornovelle. Berlin: MAAS Verlag 1996; Charonia tritonis. Ein Konzert, Dumme bitte wegbleiben. Erzählung. (Schöner Lesen 3) Berlin: SuKuLTuR Verlag 1997; Der Minkowski-Baumfrosch. Fortsetzungsroman in 12 Kapiteln. Berlin: De:Bug 2000; Skye Boat Song. Roman. Berlin: Verbrecher Verlag 2000; Am blinden Ufer. Eine Geschichte vom Strand und aus den Schnitten. Roman. Berlin: Verbrecher Verlag 2000; Phonon oder Staat ohne Namen. Roman. Berlin: Verbrecher Verlag 2001; Schwester Mitternacht. Roman (mit Barbara Kirchner). Berlin: Verbrecher Verlag 2002; Ein Preis. Halbvergessene Geschichte aus der Wahrheit. (Schöner Lesen 18) Berlin: SuKuLTuR Verlag 2003; Für immer in Honig. Roman. Berlin: Implex Verlag 2005.

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zurückliegenden Schulzeit geben möchte: nämlich welche ästhetische Erfahrung das Anschauen und Anhören von Heavy-Metal-Platten, Zombiefilmen oder Horrorcomics ermögliche, die er und seine Freunde ausgiebig konsumierten.3 Die Unterscheidung zwischen high und low hat in Daths Buch eine phänomenologisch-ästhetische, eine kulturhistorische und eine kultursoziologische Dimension. Ein nicht geringer Reiz des Textes besteht in seinem Hybridcharakter zwischen literarischer Fiktion, journalistischem Essay und biografischer Sozioanalyse. Auf der inneren Umschlagseite können wir den Hinweis lesen, dass »Teile dieses Textes […] in anderer Form in den Jahren 1998 bis 2004 in Spex und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen« seien.4 Zwar wird betont, »[d]er Autor des Buchs [sei] mit dem fi ktiven Verfasser der Briefe nicht identisch«, und in der Tat gibt es eine Anzahl von Fußnoten, in welchen eine anonyme Stimme – Dietmar Dath? – David kritisch kommentiert (vgl. S. 212ff.).5 Doch präziser denn als Differenz zwischen Autor und Figur ließe sich David wohl als Versuch einer Selbstobjektivierung6 des Autors Dietmar Dath verstehen. Daths Protagonist und sein Erfinder teilen nicht nur ihre Initialen, sondern auch ihre Sozialisation in der deutschen Provinz und einer zerrütteten Arbeiterfamilie. Sie gleichen sich zudem hinsichtlich ihrer Position und Positionierung im kulturellen Feld: Wie Dath arbeitet David als Journalist und Autor und widmet sich mit Vorliebe kulturell eher verfemten Gegenstandsbereichen. Auch wenn David wiederholt betont, es ginge ihm um ein (scheinbar wertneutrales) ›Erklären‹, lassen sich die Briefe in kultursoziologischer Hinsicht zugleich als eine Art Kampfschrift verstehen. Der agonale Einsatz des Briefprojekts wird insbesondere an einer Stelle des Textes deutlich:

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In der sehr ausführlichen Antwort wird zwar nicht nur diese Frage behandelt, sondern zugleich damit die unglückliche Liebe des Verfassers zu seiner Schulleidenschaft Sonja aufgerollt; diese emotionale Dimension des Textes werden die folgenden Ausführungen jedoch außer Acht lassen, um sich umso genauer der im Rahmen dieses Bandes interessierenden Distinktion von high und low zu widmen. Ein Teil dieser journalistischen Produktion ist nachzulesen in: Dietmar Dath: Heute keine Konferenz. Texte für die Zeitung. Frankfurt am Main 2007. Vgl. die Bemerkung von Dirck Linck: Über die Möglichkeit des popkulturellen Vergnügens an drastischen Gegenständen. In: Martin Vöhler und D. L. (Hg.): Grenzen der Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud. Berlin/New York 2009, S. 293–322, hier: S. 299: »David und die übrigen Figuren des Textes sind […] zugleich Daths Mittel, seine Thesen von der Seite der Polyglossie des Erzählens her zu überprüfen und in Frage zu stellen. Dath ordnet die Thesen nämlich individuellen Lebensläufen zu, die sie motivieren. Er relativiert auf diese Weise den Anspruch auf eine allgemeine Gültigkeit der Thesen.« Zum Konzept literarischer Selbstobjektivierung vgl. Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt am Main 1999, S. 54ff. Zu Adaptionen in Hinblick auf die deutschsprachige Literatur vgl. Norbert Christian Wolf: Robert Musil als Analytiker Robert Musils. Zum Mann ohne Eigenschaften. In: Markus Joch und N. C. W. (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 108) Tübingen 2005, S. 207–229, und ebd., S. 231–246: Ulrich Krellner: Uwe Johnsons Jahrestage als ›literarischer Selbstversuch‹.

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Vor Jahren habe ich mal eine Weile in der Redaktion eines Pop-Magazins arbeiten dürfen. Das ist immerhin ein Ort, an dem man noch vergleichsweise viel Erfahrungshunger hinsichtlich kulturindustrieller Erzeugnisse erwarten darf, ein Ort, an dem die übleren Borniertheiten des schöngeistigen Milieus nicht vorkommen sollten. Wie habe ich mich deshalb darüber gewundert, daß ich dort erleben mußte, wie Damen und Herren mit lupenreinster Bohème-Sozialisation in den besten Rauchkneipen Altwestdeutschlands in den Pausen zwischen öden Redaktionskonferenzen und hektischer Heftmacherei sich immer wieder das Maul über drastische Unterschichtsvergnügungen zerrissen haben – Pazifistinnen, Feministen, lauter Leute, die sich eher die Zunge abgebissen hätten, als ein politisch unkorrektes Röcheln von sich zu geben, schmähten da, so gut sie konnten, mißliebige Rocker als ›Inzest-Hinterwäldler‹, bezeichneten schrille weibliche Disco-Stars als ›peinliche Realschülerinnen‹ oder nannten Computerspiele mit hohem Metzelfaktor ›Unterhaltung für Untermenschen‹ – nicht im guten, bösen Spaß, sondern mit erhobenem Zeigefinger, im schönsten Lehrertremolo. Man kann ihn sich nicht vorstellen, wenn man nicht dabei war, diesen mit Ekel vor vermeintlich niederen Lebensformen vermischten Klassendünkel von Anwaltstöchtern und Fabrikantensöhnen, Buben mit Adelstiteln und Mädchen mit Nazigroßvätern, dieses altjüngferliche … naja, schon gut. Ich hatte in meinem Leben vor meiner Arbeit bei der Pop- und sonstigen Kultur sowenig mit diesem liberalen Menschenschlag zu tun wie umgekehrt jene Damen und Herren mit Proleten, auch ordentlich anintellektualisierten wie mir. (S. 82f.)

Soziologisch geradezu idealtypisch ist an dieser Stelle die Wahrnehmung nicht sehr feiner Unterschiede von Geschmack als sozial diversifiziert.7 Das Popmilieu bürgerlicher Herkunft grenzt sich sehr genau gegenüber einem Geschmack »vermeintlich niedere[r]« Abkunft ab. Davids Darlegung spannt sich zwischen den beiden Polen Analyse und Interesse: Die persönliche Erfahrung wird einerseits zum Paradigma einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz im Umgang mit bestimmten Kultursparten:8 Die Erklärung bestimmter Kulturerzeugnisse als ›illegitim‹9 erlaube deren Indienstnahme »für gegenmoderne, anti-aufklärerische, irrationalistische Propaganda«. »[V]om rechten Flügel der surrealistischen Bewegung bis zum Poststrukturalismus und den Rechtsaußen-Fraktionen der popkulturellen Gothic-, Black-Metal- und Dark-Wave-Strömungen« gebe es eine »Instrumentalisierung, die über Interessen und Absichten« laufe, »also nicht dem ›Wesen der Sache‹« entspreche, über die gesprochen wird (S. 78). Eine solche Überfrachtung mit von außen kommenden, parteiischen Distinktionsinteressen habe zu einer fatalen Polarisierung des Diskurses über drastische Kunst geführt, so dass seit Jahren »schwere[ ] Denkfehler« (S. 80) die öffentliche Meinung beherrschten. David zufolge reproduziert sich im Diskurs des Feuilletons und der Kultur generell vor allem eine »Fehlbeschreibung von Rezeptionstatsachen«: »Fast nie« gebe »jemand richtig wieder, wie das Publikum« solche Produkte »tatsächlich erlebt«: »Nirgends liest oder hört man, wie Horrorfilmfans oder Pornocomic-Sammler mit ihrem Zeug tatsäch-

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Grundlegend hierzu: Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1987. Im Vorwort zur Buchausgabe seiner journalistischen Arbeiten betont Dath, ihm gehe es in seiner Literatur nicht um »Subjektivismus«, sondern um »Wahrheit« (Dath: Heute keine Konferenz, S. 15). Zum Begriff vgl. Pierre Bourdieu u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt am Main 1983.

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lich umgehen« (S. 80). Zu beobachten sei vielmehr eine allgemeine Negierung des ästhetischen Eigenwertes dieser Werke: Anders als Duchamp, Bergman, Beckett und selbst Claire Denis aber werden Romero und seinesgleichen selten als Künstler, viel häufiger als soziologische Exempel diskutiert – als wären sie so etwas wie Bäume oder Sträucher, an denen für Kulturstudien interessante Äpfel des Bösen halt irgendwie wachsen, statt für ihr Tun verantwortliche und sich dabei etwas denkende Schöpfer.

In der Konsequenz werden die Werke der ›illegitimen‹ Kunst auch nicht in einer ästhetisch analysierenden und klassifizierenden Optik betrachtet: Von Werken, Einflüssen, Strömungen, Schulen spricht, wo es um Drastik geht, kaum jemand; lieber von ›Phänomenen‹. Und doch prägen herausragende Drastiker ihre Stile, die aber, das ist der Witz, von der geläufigen Kunstbetrachtung nicht als Stile erkannt und von den Konsumenten und Fans auch nicht als Stile diskutiert werden, sondern als Effektbündel, als Muster von Sensationen. (S. 19f.)

David erkennt darin eine Verkennung und Abwertung ästhetisch eigentlich interessanter Objekte. Sein Briefprojekt versteht sich als Projekt der Rehabilitation der ›Unterschichtsvergnügungen‹ und nimmt insofern eine Position der Gegnerschaft gegenüber dem (auch popkulturellen) Establishment ein. Seine Reflexionen adressieren sich an Sonja als eine paradigmatische Figur des gerade karikierten, nur vermeintlich liberalen, schöngeistigen Milieus und damit auch an dieses insgesamt. Suhrkamp scheint deshalb der kongeniale Publikationsort seiner Briefe, weil sich sein Publikum wohl mehr als bei jedem anderen Verlag noch aus einem solchen sich als progressiv und aufgeschlossen verstehenden Bürgertum rekrutiert. Hier erweist sich Davids Analyse selbst als eine interessierte. Sein – und wohl auch Daths – sozialer, nämlich ›proletarischer‹ Hintergrund, wie er im obigen Zitat aufscheint, ist zentral für ein soziologisches Verständnis seiner – und wohl auch: ihrer – Schreibmotivation: Es geht David nicht nur um eine Selbstaufklärung darüber, wie die eigenen ästhetischen Vorlieben mit der Erfahrung der Gesellschaft in Zusammenhang stehen, sondern auch darum, dem eigenen, gesellschaftlich marginalisierten ästhetischen Geschmack, dem vermeintlich ›Niederen‹, zur Anerkennung zu verhelfen. Seine emphatische Identifikation mit dem sogenannten Illegitimen rührt, das ist ihm selbst klar, gerade aus der Homologie zwischen seiner dominierten Position im sozialen Feld und seiner (ästhetischen) Sozialisation. David sagt einmal ganz pathetisch, er fühle sich den »Schlitzer[n] und Spritzer[n], Menschenfresser[n] und Spermaluder[n] der Kulturindustrie […] verbunden« und setzt als Erklärung hinzu: »Geschöpfe mit kaputten Eltern sollten zusammenhalten.« (163f.) Eine soziale Differenz, die das Rütteln an der Grundordnung von high und low untergründig motiviert, tritt insbesondere auch in der Polemik gegen die ›hohe‹ Kunst und ihre Rezeption zutage; hier dreht David den Spieß der Aberkennung symbolischer Werthaftigkeit um und polemisiert nun seinerseits gegen die kulturellen Werte der etablierten Avantgardekunst, gegen

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avantgardistische Modernisten, denen etwas am Bürgererschrecken liegt […] und die mit ihren Hervorbringungen bei den feinsinnigen jungen Herrschaften und höheren Töchtern der akademienahen Pop- und Trash-Betrachtung um dero werten Schock einkommen wie der päpstliche Hofmaler um den Segen des Heiligen Stuhls (S. 16).

Aus der paradoxen, weil zutiefst gespaltenen sozialen Erfahrungswelt Davids/Daths – dem Widerspruch zwischen seiner/ihrer Sozialisation und seiner/ihrer gegenwärtigen Position – resultiert wohl einerseits seine/ihre Sensibilität gegenüber der gesellschaftlichen Gebundenheit des ästhetischen Geschmacks, zum anderen aber auch sein/ihr Interesse an der meinungsbildenden Macht des Journalismus: denn seine/ihre soziale Rolle ist nicht die der Reproduktion des ästhetischen Habitus des höheren Feuilletons, sondern dessen häretische Unterwanderung mit Themen, über die man dort sonst eher schweigt, und Thesen, die dessen übliche Wertungen subvertieren. – Gerade dies, so könnte man vermuten, machte Dath für eine als konservativ geltende Zeitung wie die FAZ und nicht zuletzt auch für den Suhrkamp Verlag attraktiv: Beide Medien konnten sich damit als subkulturell offen und avanciert profilieren.

Das Unpopuläre Bereits hier dürfte deutlich geworden sein, dass es den Briefen nicht um eine Populärkultur geht, wie sie in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr in die akademische Betrachtung eingewandert und inzwischen doch zumindest so weit in die Hochkultur integriert ist, dass man von einer Tradition der hochkulturellen Aneignung des Populären sprechen kann.10 Die salzweißen Augen gehen einen Schritt weiter, denn ihnen geht es nicht um das Seichte, sondern um spezifische Formen eines schon-nicht-mehr-seichten ›Niederen‹, das David unter dem Begriff »Drastik« fasst.11 Drastische Kultur, so betont er, sei zwar ebenso »massenwirksam« wie die Populärkultur, im Unterschied zu dieser aber »unpopulär« (S. 16). Es gehe mit ihr gleichsam um einen Bereich, der aus der Sicht des ›Hohen‹ noch hinter den flacher werdenden Regionen des Populären angesiedelt sei, um die entlegenste, sumpfige Grenzregion der kulturellen Produktion, die Zone ihrer von den ernsten Gedankenblitzen der Erwachsenen absichtlich besonders schlecht ausgeleuchteten, peinlichen und fiesen Winkel, die Gegend, wo schlechter Geschmack, schäbige Produktionsbedingungen, extreme Oberflächlichkeit, rein auf Effekt reduziertes, in jeder Hinsicht rudimentäres und krudes Kunsthandwerk (S. 15)

aufeinandertreffen. Die genannten Konditionen sind allesamt Kriterien des Drastischen, wie ein vorläufiger Definitionsversuch erklärt: »Ich möchte diesen feuchten und verdreckten Winkel […] Drastik nennen« (S. 16).

10 11

Vgl. hierzu zum Beispiel Thomas Hecken (Hg.): Der Reiz des Trivialen. Künstler, Intellektuelle und die Popkultur. Opladen 1997. Vgl. dazu auch Thomas Wegmann: Ist Gegenwartsliteratur noch romantisch? Dietmar Daths Roman Sämmtliche Gedichte und Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes. Vortrag im Rahmen der Vorlesungsreihe »Theorie-Lektüren«, Universität Greifswald, 9. Juni 2010. Ich danke Thomas Wegmann für die Bereitstellung des Manuskripts.

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Weder um Hochkultur noch um populäre Kultur im genauen Sinne des Wortes geht es im Folgenden also, sondern um den allerniedersten Skalenwert der kulturellen Produktion. Mit dieser Gebietserweiterung positioniert sich der Autor gegenüber der Generation Pop auf einer neuen Stufe: Denn während die Popkultur seit den sechziger Jahren die Anerkennung des Populären durchsetzte, blieben die von David ins Auge gefassten ›unpopulären‹ Gegenstände weiterhin aus dem (nicht nur Pop-)Diskurs ausgeschlossen. Sie seien zwar hochgradig der Moderne verpflichtet, »typisch […] für den Westen, und wären undenkbar ohne Kulturindustrie. Sie gehören in eine Zeit, die ohne Aufklärung, industrielle Revolution, bürgerliche Ära nicht möglich gewesen wäre« (S. 14). Dennoch grenze gerade diese Zeit sie aus: [D]iejenigen, die sich zu dieser Zeit, dieser Welt, diesem Raum bekennen, [bekennen sich] nicht gern zu den kulturellen Erscheinungen, um die es gehen soll. […] Man redet und schreibt in den Foren des Westens/Nordens nicht gern über sie, es sei denn, um sich von ihnen zu distanzieren: Wer Pornographie oder Splatter-Filme so detailverliebt und ernst diskutiert wie die Feuilletons Produkte von hochoffiziell als diskussionswürdig ausgeflaggten Themenmenschen wie Steven Spielberg, Michel Houellebecq oder Madonna diskutieren, muß das draußen tun; wo immer das sein mag. (S. 15)

Interessant ist diese ›Ausweitung der Kunstkampfzone‹ auf als ›illegitim‹ geltende Gegenstände nicht zuletzt im historischen Vergleich: Denn so sehr sich David von den ›schöngeistigen Borniertheiten‹ des Popmilieus abgrenzt, da dessen ästhetische Grenzziehungen und Wertungen letztlich ebenso ressentimentbeladen seien wie die seiner Eltern, so wiederholt er zugleich strukturell deren Geste der sechziger Jahre, nämlich die häretische Aneignung des als illegitim Geltenden, nur dass dies heute nicht mit Namen wie »Steven Spielberg, Michel Houellebecq oder Madonna« geschehen könne, die ja inzwischen »hochoffiziell als diskussionswürdig« gälten; seine neuen Helden heißen Lucio Fulci, Rocco Siffredi oder Dale Peck.

Eine Ästhetik der Drastik Die bereits genannten Attribute, mit denen David den ›drastischen‹ Produktbereich belegt – »schlechter Geschmack«, »schäbige Produktionsbedingungen«, »extreme Oberflächlichkeit«, Reduktion auf den Effekt, »rudimentäres und krudes Kunsthandwerk, Drogenmißbrauch, Prostitution und Psychopathologie« (S. 15) – lassen zunächst nicht erahnen, dass sie einer Ästhetik subsumierbar scheinen. Und doch ist gerade dies das Ziel des Briefverfassers: Ihm geht es um nichts weniger als den Nachweis einer Ästhetik der Drastik, die den verfemten, durch Drastik vereinigten Kultursparten vor und in den Augen der bürgerlichen Sonja zu einem ›höheren‹ Ansehen verhelfen soll. Sein Ziel besteht darin, über den Nachweis der ästhetischen Dignität ›des Niederen‹ dessen zweifache Ablehnung durch die Hoch- und Populärkultur als eine Verkennung zu erweisen und damit seinen eigenen Geschmack ästhetisch zu rehabilitieren. Dazu bedürfe es jedoch zunächst einer Ästhetisierung, eines ästhetischen Blicks, wie er vom Diskurs über die ›niederen‹ Kulturprodukte verunmöglicht werde, denn dieser werde beherrscht von »ressentimentbelasteten Denkansätzen« (S. 82), wie sie oben geschildert wurden. Den

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Wortführern fehle dabei die Sachkenntnis, den sozial marginalisierten Sachkundigen die Wortmacht. Am Beispiel von Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho erörtert David die ästhetische Verkennung drastischer »Meisterwerk[e]« (S. 60) noch seitens ihrer Fürsprecher. Über drei Seiten zitiert er eine detailliert dargestellte Vergewaltigungsund Tötungsszene aus dem Roman und konfrontiert diese mit einem apologetischen Essay über das zeitweise auf dem Index stehende Buch aus der Feder des renommierten Schriftstellers Norman Mailer, »weil [er] auf höchstem erreichbarem denkerischen Niveau Argumente versammel[e], die in vergleichbaren Fällen immer wieder aufgefahren w[ü]rden« (S. 61). Mailers Argument laute Kunstfreiheit, was zur Folge habe, dass sich sein Plädoyer »nur im Zusammenhang mit Kritik, Anklage, Protest« artikulieren könne (S. 64). Dies bedinge, »daß Drastik nicht als normale Verständigung absichtlich störende Sozialtatsache beschrieben und ernstgenommen […], sondern als Kritik gedeutet und aufgewertet werde[ ]« (S. 64). Diese Aufwertung ist jedoch keine ästhetische, sondern eine gesellschaftskritische. Seinem »Lektüreprogramm gehorchend, muß Mailer das Buch als Kunstwerk geradeso entschieden ablehnen, wie er es als Versuch, die Kunstfreiheit berechtigterweise in Anspruch zu nehmen, den restlichen Artikel über vehement verteidigt« (S. 65). Er merke dabei »nicht, daß die Elle, an die er das Buch hält, von ihm stammt, aus seiner Gesinnung, nicht aus der Kunst oder der sachgeleiteten Reflexion darauf«. Mailer unterstelle dem Buch eine These, die es nirgendwo aufstelle, nämlich die »von der hohlen, mitleidlosen, bis ins Mark von Menschenhaß zerfressenen nordamerikanischen Gesellschaft der achtziger Jahre« (S. 65). American Psycho aber, so David, handele »nicht vom Klassenkampf mit scharfen und spitzen Gegenständen, sondern von Gelegenheiten zur Darstellung von [drastischen] Vorgängen« (S. 66). David beharrt auf dieser Unableitbarkeit des Drastischen, Ellis’ Darstellung kappe gerade den symbolischen Sinnfaden: »Wir erfahren zu viel, als daß man das noch auf irgendwelche Abstrakta projizieren könnte, auf ›die Erfolgreichen‹, ›die Gesellschaft‹« (S. 68). Sein »geschmacksneutrales Aneinanderreihungsprinzip« (S. 70), seine »faktorisierte Wiederholung« (S. 69) produziere eine »Ausführlichkeit«, von der »jede Verallgemeinerbarkeit […] zerrissen wird und wir nur noch den Einzelfall, den Moment sehen und es also persönlich nehmen müssen, gleichsam genötigt werden, ganz nah ranzukommen und hinzuschauen« (S. 68). Implizit angesprochen sind hier einige Stilmittel des Drastischen, die Davids Briefe zu systematisieren suchen. Welche ästhetischen Kriterien gehören ihm zufolge nun zur Qualifizierung drastischer Kunst? Zuallererst nennt er das Prinzip der Buchstäblichkeit »als vehement und ostentativ eben nicht nur anti-, sondern vor allem unbürgerliche Verfahrensweise in der Kunst« (S. 17). Buchstäblichkeit meint dabei einen Ausfall des Symbolisch-Allegorischen, dass also ein Zombie nicht von Anfang an augenzwinkernd als Platzhalter der Verdammten dieser Erde und eine männerfressende Frau dem Publikum nicht plump als feministisches Rache-Konstrukt untergejubelt werden, sondern der Zombie zunächst mal einen Zombie bedeutet und die männerfressende Frau eine männerfressende Frau meint (S. 19).

Was in der Charakterisierung »unbürgerliche Verfahrensweise« so radikal klingt, erweist sich in den relativierenden Formulierungen »nicht plump« und »zunächst mal« als Variation von Goethes symbolischer Darstellung:

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Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besondern das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie, sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.12

Anspruch auf solch ein »erst spät[es]« ›Allgemeines‹ erhebt auch Davids drastische Kunst, wie gleich noch deutlich werden wird. Ein weiterer Darstellungsmodus der Drastik sei zudem Genauigkeit. Dieses Kriterium bezieht sich nicht auf eine weltliche Referenzialisierbarkeit, also nicht auf die Wirklichkeitstreue der Darstellung, sondern auf eine intrinsische Ehrlichkeit, welche den Inhalt kultureller Tabus nicht verschweigt, sondern ausmalt: Drastik sei nicht deshalb ›genauer‹ als Kitsch, weil sie Korrespondenz anstreb[e] oder erreich[e], sondern weil sie das zeig[e] und formulier[e], was man nicht sagt, solange man zivil und höflich ist. Die Datendichte der drastischen Darstellung kommt einem höher vor, weil Daten dabei sind, die man normalerweise unterschlagen würde (S. 30).

David zufolge verfügt eine drastische Darstellung drittens über eine Kraft der Kontextzersetzung, der Unterbrechung von Kontinuität, der eine Aufladung des Moments korrespondiere: Der drastische Augenblick […] hat nicht nur, wie schon erörtert, eine hohe Reizpackungsdichte, sondern erlaubt es auch, zwischen innen und außen, beteiligt und unbeteiligt, aktiv und passiv auf andere Art zu unterscheiden, als wir das normalerweise tun. […] Eine Drastiksekunde ist so datenreich […], daß denen, die sie erleben, alle realen Zeitverhältnisse drüber durcheinandergeraten. […] Drastik als Mimesis an fordernde, anstrengende Erlebnisse sagt also zum erfundenen Ereignis: Verweile doch, du bist so eklig respektive geil. (S. 72)

Für diejenigen, die anhand dieser Kriterien und Beschreibungen durchaus Assoziationen zu Konzeptionen modernistischer Kunst sehen – die Kategorie der Plötzlichkeit und der Verzicht auf kohärente Sinnbildung erinnern stark an Benjamins Schockästhetik –, betont David in nicht sehr verschleierter Polemik die Differenz beispielsweise zu den »abgehalfterte[n] Greuel[n] der Linie Bataille-Burroughs« oder dem »billignihilistische[n] Ennuikitsch Marke Figgis« oder zu den »gegenkulturellen Kunstzertrümmerungsfaxen der sechziger Jahre« (S. 18). Die Differenz zwischen Kitsch und Drastik bestehe dabei im »Ernst« (S. 19), der aus den drastischen Darstellungsmitteln entstehe. Hier scheint die Polemik eine argumentative Lücke übertünchen zu müssen, denn sachliche Gründe für die Bewertung bestimmter Werke als »Ennuikitsch« und »[F]axen«, die ihrerseits durchaus den Anspruch auf ›Ernsthaftigkeit‹ stellen, werden nicht genannt. Die pauschale Abwertung von Werken, die tatsächlich als Vorläufer von

12

Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen, Nr. 751. In: J. W. G.: Werke (Hamburger Ausgabe in 14 Bänden). Hg. v. Erich Trunz, Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen, Hamburg 41960, S. 471. Für diesen Hinweis danke ich Norbert Christian Wolf.

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Davids Beispielen drastischer Kunst fungieren könnten, scheint strategisch vonnöten, um deren Originalität zu erweisen. Ein weiteres für das Buch besonders wichtiges, paradigmatisches Beispiel ist der Horrorfilm L’Aldilà des italienischen Regisseurs Lucio Fulci von 1981. Nicht nur ist die Coverabbildung der Salzweißen Augen ein Filmstill daraus; auch der Titel von Daths Buch ist als Motiv dem Film entnommen: Es sind dort die gleichsam zu Salzsäulen erstarrten Augen, erblindet und doch sehend, welche diejenigen besitzen, die dem absoluten Grauen in die Augen geschaut haben. Anhand von Fulcis Film wird Davids Strategie besonders anschaulich, wiederum führt er die genannten Stilmerkmale ins Feld, allen voran den freiwilligen Verzicht auf eine »sinnvolle Geschichte«. Fulci sei es in L’Aldilà, so David, »genausowenig auf altmodische ›Spannung‹ oder auch nur eine sogenannte ›Atmosphäre‹« angekommen: Fulci wollte Taten sehen und deren direkte Folgen zeigen: alles, was die ganze Welt der Betroffenen verwandelt, möglichst in etwas ganz Schreckliches. / Es ist ihm gelungen. Die sinnlos und gerade deshalb besonders überzeugend, nämlich authentisch traumartig aneinandergereihten, in jedem einzelnen Fall bis zu dem Punkt, an dem auch ekelverwöhnte Zuschauer genug haben, in die Länge gezogenen Schocksequenzen von ›L’Aldilà‹ vergißt man […] so schnell nicht wieder. (S. 20)

Was dem Film von der etablierten Filmkritik sonst vorgeworfen wird,13 behandelt Dath als Vorzug: die Einzelsequenzen seien »sinnlos und gerade deshalb besonders überzeugend«. In der Tat ist die Geschichte in Fulcis Film eher hölzern: Der Film handelt von einer jungen Frau, die ein verfallenes Hotel wieder herrichten möchte. Dabei rührt sie die Erinnerung an eine ehemals geschehene äußerst gewaltvolle Hinrichtung in einem der Hotelzimmer wieder auf und erweckt die Toten zu einem untoten Leben. Jedoch scheint in Fulcis Film das haarsträubende Geschehen nicht so bar jeden Zusammenhangs zu sein wie David behauptet. Sieht man sich den ganzen Film an, wird durchaus ein inhaltlicher Überbau sichtbar. Die Anfangsszene des Films zeigt ein Geschehen in historischer Rückschau, einen Lynchmord in einem Hotel, das noch viele Jahrzehnte

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Beispielhaft mag hierfür eine vernichtende Besprechung der amerikanischen Version des Films (The Beyond) durch den renommierten Filmkritiker Roger Ebert angeführt werden, der als Erster seiner Zunft den Pulitzer-Preis zugesprochen bekam: »It’s the kind of movie that alternates stupefyingly lame dialogue with special effects scenes in which quicklime dissolves corpses and tarantulas eat lips and eyeballs. / The plot involves … excuse me for a moment, while I laugh uncontrollably at having written the words ›the plot involves.‹ I’m back. The plot involves a mysterious painter in an upstairs room of a gloomy, gothic Louisiana hotel. One night carloads and boatloads of torch-bearing vigilantes converge on the hotel, and kill the painter while shouting, ›You ungodly warlock!‹ Then they pour lots of quicklime on him, and we see a badly made model of his body dissolving« (http://rogerebert.suntimes.com/apps/pbcs.dll/ article?AID=/19980703/REVIEWS/807030301/1023, 10. Januar 2011). Ganz anders urteilt ein ungenannter Fan auf der Website www.houseofhorrors.com über »what Fulci playfully calls ›A plotless film, (with) no logic to it, just a succession of images.‹«: »I, myself, wouldn’t sell The Beyond that short, because in my opinion its story […] gets stronger with each viewing« (http:// www.houseofhorrors.com/beyond.htm, 10. Januar 2011). Für diese Hinweise danke ich Daniel McMackin.

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später das Schicksal der neuen Hotelbewohner bestimmen wird. Denn die Urszene der Gewalt reproduziert sich dort nur scheinbar unmotiviert, der Narration des Films nach bringt sie das unvergoltene Unrecht rächend wieder ans Tageslicht. Gerade hier zeigt sich ein Spannungsverhältnis zwischen dem Gegenstand und dem Modus seiner Rezeption. Die Ausblendung der Geschichte ist weniger dem Film an sich geschuldet, als Davids ästhetisierendem Blick, der der modernen Autonomieästhetik entlehnt ist und die Kunst allein in Hinblick auf ihre Form beurteilt wissen will. Davids Rezeptionsmodus ist gerade umgekehrt zu dem, welchen Fans im Internet zelebrieren, wo L’Aldilà als »feuchter Traum eines Splatter-Fans«14 gepriesen wird. David zufolge ist die »Drastiksozialisation« im Gegenteil gleichbedeutend mit »Übungen der Selbstbeherrschung«: »[W]as man genießt, das ist die vielbeschworene ›Abstumpfung‹: Man genießt, daß man das Schlimmste aushält (Splatterfilm) oder den Rauschzustand des Sexuellen selber auslösen, abbrechen, vor- und zurückspulen oder anhalten kann (Pornographie)« (S. 168). Nicht also das Schock- und Überwältigungsmoment wird betont, sondern die Fähigkeit des Rezipienten zur Distanz, wie sie traditionell den Umgang mit der ›hohen‹ Kunst auszeichnet. Damit reaktiviert David ein bereits bekanntes Schema der Aufwertung des ›Niederen‹: Dessen Legitimität wird zu erhöhen versucht, indem man es betrachtet wie ein Kunstwerk, als Kunstwerk, es mithin zum Kunstwerk erklärt. Ein solches Bemühen um Konsekrierung bedingt wohl auch einen argumentativen Widerspruch der Briefe: Denn während David Drastik gerade durch das Absehen von jeder Motivierung, die über ihren konkreten Darstellungsgegenstand hinausgeht, definiert, argumentiert er in anderen Teilen seiner Briefe selbst für eine solche interpretative Einbettung:15 Die Pointe seiner Nobilitierung der Drastik besteht nämlich letztlich in der Behauptung eines intimen Zusammenhangs von Drastik und Aufklärung. Denn David versteht drastische Kunst als »Verlängerung von Zeige-, Rede- und Beobachtungsformen, die nicht im Atavistischen gründen, sondern […] mit dem Aufstieg des Bürgertums und der Ideenwelt der Aufklärung geschichtsmächtig wurden« (S. 80): Präzision, Anschauen, Zeigen […]: Drastik, Aufklärung und moderne Wissenschaft verbindet […] nicht nur Methodisches, sondern auch Historisches. Sie saßen von Anfang an, soll heißen: ab spätestens dem achtzehnten Jahrhundert, im selben erkenntnisleitenden und ästhetischen Boot. (S. 75)

Die »salzweißen Augen«, welche die ›Sehenden‹ in Fulcis Film besitzen, werden damit zum Symbol für die aufklärerische Funktion von Drastik im David’schen Verständnis und weisen auf die pervertierte Bedeutung von Aufklärung in der gegenwärtigen Gesellschaft. In der Drastik äußere sich der »ästhetische Rest der Aufklärung nach ihrer politischen Niederlage« (S. 162). Horrorfilme à la Fulci seien daher Verwesungsprodukte, die sich mit den Fragmenten der zergehenden neuen Hoffnungen im Moment des Scheiterns einer großen emanzipatorischen Umwälzung zu Rätselbildern vermischen.

14 15

S. ebd., »a gore-hound’s wet dream«. Vgl. auch Linck: Über die Möglichkeit des popkulturellen Vergnügens an drastischen Gegenständen, S. 302, Anm. 20.

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Von ihren Zusammenhängen, den alten wie den neuen, stehen diese Bilder ab wie der Mensch im Museum des Übermenschen von seinem historischen Hintergrund: als Gelächter oder schmerzliche Scham, als Horror und Porno, Krach und komplett amoralisches Erzählkunstwerk (S. 163).

Es scheint, dass eine solche kulturkritische Aufladung von Horrorfilmen und Pornografie strukturell (und auch stilistisch, wie die akademisierenden Formeln andeuten) nicht weit entfernt ist von den von David perhorreszierten Drastikressentiments und -verkennungen – dass sich eben nur die Vorzeichen vertauscht haben. Er verstößt an dieser Stelle gegen sein eigenes Diktum einer Nicht-Ableitbarkeit der drastischen Momente. Denn diese hören hier auf, in ihrer Bedeutung für sich zu stehen, und verkörpern stattdessen eine »verquere Mimesis«,16 sie werden zu Symbolen eines gesellschaftlichen Scheiterns. Goethes symbolische Darstellung ist wieder auferstanden.

Virtuosentum und ›Illegitimität‹ Warum benötigt David überhaupt ein solches der Hochkultur entlehntes Argument zur Legitimierung seiner Ästhetik der Drastik? Warum ist er seinerseits anscheinend angewiesen auf eine Art von Systematik, wie sie der ›hohen Kunst‹ eigen ist? Dem französischen Kultursoziologen Pierre Bourdieu zufolge sind [a]lle, die mit den Regeln der üblichen Praxis brechen und ihrer Tätigkeit und deren Produkt eine andere, nicht-übliche Bedeutung und Funktion anheften wollen, […] gezwungen, einen Ersatz (der als Ersatz erkennbar bleibt) für das zu schaffen, was den gläubigen Adepten der legitimen Kultur als unmittelbare Gewißheit gegeben ist: das Gefühl der kulturellen Legitimität der Praxis, samt den Rückversicherungen, die damit zusammenhängen, von den technischen Modellen bis zu den ästhetischen Theorien.17

Als »Virtuosen« bezeichnet Bourdieu dabei gerade denjenigen, der »jene Verhaltensmodelle, die im Terrain der traditionellen Kultur gebräuchlich sind«, auf das Feld der illegitimen Kunst überträgt.18 Davids Anstrengung ähnelt in der Tat der von Bourdieu beispielhaft beschriebenen »Anstrengung mancher engagierter Photoamateure, die Photographie als künstlerische Praxis mit uneingeschränkter Legitimität einzusetzen«, was, so Bourdieu, »fast immer lächerlich und aussichtslos« wirke, »da sie so gut wie nichts gegen die gesellschaftliche Wahrheit der Photographie verm[ögen], die sich nirgendwo nachdrücklicher in Erinnerung bring[e] als in dem Versuch, ihr zu widersprechen«.19 Der Versuch der Aufwertung muss die ästhetische Legitimität ihrer Gegenstände behaupten und benötigt dazu deren Kriterien. David ist daher letztlich gezwungen, die konventionalisierten ästhetischen Normen und Prinzipien der geringgeschätzten höhe-

16 17

18 19

Ebd., S. 320. Pierre Bourdieu: Die gesellschaftliche Bedeutung der Photographie, in: P. B. u. a.: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt am Main 1983, S. 85–109, hier: S. 108. Ebd., S. 106. Ebd., S. 108.

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ren Töchter und feinsinnigen Herren in seiner Ästhetik der Drastik zu übernehmen. Der Aufwand an ›Akademisierung‹ in Daths Text ist in der Tat beträchtlich. Nicht nur gibt es die bereits erwähnten Fußnoten, auch die Erwähnung neuerer Kulturtheorie macht aus dem Buch zumindest phasenweise eher einen kulturwissenschaftlichen Essay als ein literarisches Werk. Was jedoch mit dieser Legitimierung des Illegitimen einhergeht, ist nicht nur der Anspruch auf Anerkennung, sondern zugleich wiederum eine Verkennung.20 Denn auch David löst seine Forderung, den ›tatsächlichen Gebrauch‹ von Horrorfilmen und Ähnlichem zu beobachten und zu dokumentieren (vgl. S. 80), nicht ein, sondern theoretisiert über diese Gegenstände. Was ihm dabei nicht zu Bewusstsein kommt, ist der Umstand, dass sein Umgang mit und sein Verständnis von ›(un)populärer‹ Kultur unter deren ›Konsumenten‹ alles andere als üblich ist, sondern ein höchst idiosynkratisches Verfahren darstellt. Sichtbar wird dies beispielsweise dort, wo David die schulemachende Wirkung von Fulcis Film in späteren ›Zitaten‹ nach dem Modell der Intertextualität verfolgt (vgl. S. 20f.). Wie in Fulcis Film die rückkehrenden Untoten die lebenden Protagonisten in ihre Gewalt bekommen, so erweist sich Davids Darstellung als infiziert vom ›Gift‹ der hohen Kultur. Dies stellt kein persönliches Versagen dar, sondern ist die Crux jedes Virtuosen des ›Illegitimen‹: Wenn er einerseits nicht auf den Provokationswert verzichten will, gerade den »letzten Dreck[ ]« (S. 15) des kulturellen Feldes ästhetisch interessant zu finden, muss er doch zugleich die Kriterien, Regeln und das Vokabular der ›legitimen‹ Ästhetik anerkennen: Nur so und erst dann kann das Abjekte als höchste »Kunst« (S. 25) gehandelt werden.

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Vgl. Pierre Bourdieus Begriff der Allodoxie, zum Beispiel in Bourdieu: Die Regeln der Kunst, S. 385f.

Stefan Greif

loslabern Rainald Goetz’ »maximale Ethik der Schrift« und die Genesis der Popkultur

Sie kennen doch den Masterplan der anderen Seite jetzt wird die nächste Raketenstufe gezündet.1

Rainald Goetz’ loslabern erscheint 2009 als Bericht über den Herbst des Vorjahres. Doch diese Gattungsbezeichnung im Untertitel ist irreführend. Mit Hilfe verschiedener Erzählformen und -instanzen geht loslabern der Frage nach, ob sich die Alltagswelt derzeit ästhetisiere. Dass der ›Bericht‹ mit einem kategorischen ›Nein‹ antwortet, erklärt sich aus der Beobachtung, die Hochkultur werde derzeit von einem »aktiv affi rmierten Proletendeppismus« abgelöst. Und wie Höllor, eine der Ego-Facetten des Erzählers, ergänzend hinzufügt, dürfte auf »Widerspruch und Widerstand« von »intellektueller Seite« kaum zu hoffen sein (S. 156). Bei diesem resignativen Befund lässt es Goetz freilich nicht bewenden. Als poetologischer Entwurf bietet der Herbstbericht mit der Kunst des Loslaberns ebenjene Energie auf, die erforderlich ist, um der Gegenwart neue Sinnstrukturen zu erschließen und dem Banausentum gehörig Einhalt zu gebieten. Von diesem Labern abzugrenzen ist das sinnlose Gerede der ›Deppen‹ und vermeintlichen Geistesgrößen. Für beide hat loslabern nicht nur Hass und Häme übrig, vielmehr wird ihnen mit hochreflektierten Argumenten und dem sardonischen Bekenntnis zum Elitären begegnet.2 Um dem Verdacht eines parteilichen Intellektualismus zu entgehen, erschließt sich Goetz gleichzeitig ein neues popkulturelles Terrain, das ihn kunstautonom und weltanschaulich vor jeder sozialen Indienstnahme bewahrt. Entsprechend souverän nimmt er sich das Recht, das landläufige Polit- und Kunstgequatsche bloßzustellen. Solch ein Vorschlag, Hochkultur durch Popkultur zu ersetzen, lässt sich mit den literaturwissenschaftlich üblichen Kategorien – Pop als Affirmation des Oberflächlichen und Alltäglichen, als Ausdruck jugendlicher Szenekulturen oder Versuch, die Gräben zwischen high und low zu schließen – kaum überzeugend erklären. Wird loslabern dagegen im Kontext einer Popliteratur gelesen, die sich bereits vor fünfzig Jahren mit philosophischen und wissenschaftlichen Theorien beschäftigt hat, dann knüpft Goetz an eine Tradition an, die er in loslabern auch anspielungsreich nachzeichnet. Einleitend wird an Rolf Dieter Brinkmann erinnert, der sich mit Friedrich Nietzsche, Fritz Mauthner,

1 2

Rainald Goetz: loslabern. Bericht Herbst 2008. Frankfurt am Main 2009. Nach dieser Erstausgabe werden die Zitate im Folgenden direkt belegt; hier: S. 184. Das Motiv des Hasses und seine ästhetische Umsetzung in loslabern wären eine eigene Untersuchung wert, denn der Bericht kreist auch um die Frage, in welchen Situationen welches Maß an Polemik erforderlich sein kann, ohne dass sich der Autor die Blöße der Eitelkeit gibt (vgl. z. B. S. 122).

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Stefan Greif

Walter Benjamin und Herbert Marcuse auseinandergesetzt hat. Von hier aus zieht der Bericht eine Verbindungslinie zu Goetz’ eigenen literarischen Anfängen – Irre (1983) als Kritik an verschiedenen psychiatrischen Heilkonzepten – und setzt sich schließlich in Beziehung zu Christian Krachts erstem Roman Faserland (1995), in dem der postmodernistische Dekonstruktivismus aufs Korn genommen wird. An diese Geschichte popliterarischer Theoriekritik anschließend, entwickelt Goetz in loslabern eine avancierte Popästhetik weiter, mit deren Hilfe er überkommene Ansprüche an Hochkultur und die Blödeleien ihrer Nachfolgerin, der selbstverliebten Spaßgesellschaft, hintertreibt.3 So entlarvt Goetz nicht nur das Rohe medialer Events, auch das klügelnd-witzige Gehabe der Mächtigen gilt es als Kokettieren mit einem neuen Grobianismus zu durchschauen. Indem beide Facetten geistigen Unvermögens miteinander in Beziehung gesetzt werden, forciert loslabern den Niedergang jener Reste politischer, ethischer und ästhetischer Doktrin, mit denen die bürgerliche Hochkultur in der Vergangenheit allzu schlicht zwischen dem Wahren und Falschen, dem Schönen oder Hässlichen unterscheiden wollte. Ohnehin fast »weggesoftet« und »niedergesoapt«, nimmt die Stelle solcher Privilegien in loslabern eine »Moral des Schreibens« ein, die dem Subversiven und geistig Differenzierten verpflichtet bleibt (S. 46 u. 15). Wie im Folgenden eingehender gezeigt wird, unterscheidet Goetz folglich zwischen einer maroden Hochkultur, die sich dem Ordinären öffnet, und einer Populärkultur, in der Medien und Deppentum über kulturelle sowie soziale Macht entscheiden. Davon ab hebt sich in loslabern ein popästhetisch, ethisch und politisch reflektiertes Verständnis von Kultur, das Dissidenz und Subversion für soziale Verantwortungsbereitschaft fruchtbar macht. Darüber hinaus distanziert sich diese Popkultur von jeder Form des medialen Populismus; ebenso verweigert sie sich allen gesellschaftspolitischen Versuchen, kognitive Überlegenheit als Machtstreben zu sabotieren. Warum es dieser Abschaffung des Hoch- und Populärkulturellen bedarf, wird besonders deutlich im Verlauf der Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns. Aus ihrem massiven Einfluss auf die Kulturpolitik der letzten Jahrzehnte zieht Goetz Rückschlüsse auf die Entwicklung zeitgenössischer Ge-

3

Die These, Pop weise eine hohe Affinität zu wissenschaftlichen Theorien auf, mag sich die Entgegnung einhandeln, was sich an Rolf Dieter Brinkmann oder am ›Suhrkamp-Pop‹ – Goetz, Meinecke, Neumeister – verifizieren lasse, treffe wohl kaum auf Alexa Hennig von Lange oder Benjamin von Stuckrad-Barre zu. Das Ambivalente an Popliteratur (und Pop überhaupt) kann indes auch produktiv gewendet werden: Je nach Adressatenbezug (bei Hennig von Langes Relax jugendliche Leser), weist nicht jeder Poptext eine so dichte Theorienähe auf wie beispielsweise loslabern. Auch die Intensität der Auseinandersetzung mag sich unterscheiden. Gleichwohl werden mit Hilfe von ›Theoriesignalen‹ bestimmte Lesererwartungen gesetzt. In Krachts Faserland sind es zahlreiche Verwechslungen – Gilles Deleuze etwa mit einem Filmkritiker –, deren herrschafts- und/oder diskurskritische Implikate nur Rezipienten verständlich werden, die mit den entsprechenden Namen und Theorien auch etwas anzufangen wissen. Lässt man die hier vorgeschlagene Theoriethese gelten, könnte von hier aus der Begriff ›Popliteratur‹, der noch immer im Verdacht eines mehr oder minder geistlosen Hedonismus steht, zum einen schärfer konturiert werden. Zum anderen sollte Popliteratur nicht länger mit theoriegeschichtlicher Ausschließlichkeit auf Leslie Fiedlers Behauptung reduziert werden, sie schließe die Gräben zwischen ›high & low‹. Popliteratur gewinnt ihre ästhetische Valenz über die kritische Haltung zur Hochkultur, infiziert sie aber nicht mit ›Trivialem‹.

loslabern

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dankenarmut und eines redundanten Palaverns. Mit einer elaborierten Beweisführung widerlegt loslabern damit auch den Verdacht, Popliteratur habe mit ›Low-level-Themen‹ einer heutigen Populärkultur vorgearbeitet.

1.

Jenseits der Hochkultur

Um die Abrechnung mit der gesellschaftsübergreifenden »Unterschichtenordinärheit« (S. 156) möglichst provokant anzulegen, wird mit Höllor ein gefallener Engel eingeführt, der in loslabern sechs Tage an der Genesis einer verkommenen Gegenwart mitarbeitet und das Wochenende mit Alkoholexzessen verbringt. Als eines der Alter Egos des Erzählers tritt Höllor zugleich als Fürsprecher popliterarischen Dichtens auf. Mit infernalischem Scharfsinn begabt, ist er geradezu »süchtig« nach dem »totalen Endzusammenbruch«. Vom standesbewussten Auftreten des Gelehrten verführt, droht Höllor allerdings jene kritische Distanz abhandenzukommen, welche für einen neutralen Bericht über die »stürzenden Kurse an der Börse« und die »Kernschmelze des globalen Finanzsystems« eigentlich nötig wäre. Prompt erliegt er dem »extremen Gegenwärtigkeitsflash« und berichtet über die Folgen des Bankendesasters in Anlehnung an ein Unterhaltungsspektakel (S. 19). Einen diabolischen Contenanceverlust verrät freilich erst die Beschäftigung mit dem »Haider Crash« im Oktober 2008. Als »das Realkunstwerk des Jahres« fordert er Höllor heraus, die »Todesfahrt« des österreichischen Rechtspopulisten mit der gleichen »Obszönität« nachzugestalten wie Presse und Fernsehen. Um die »allerletzten Sekunden« des bisherigen »Lebensmenschen« möglichst drastisch zu rekonstruieren, verfasst er eine »hyperpräzisistische Haiderexpertise«, die weder mit physikalischem noch mit medizinischem Detailwissen geizt (vgl. S. 21ff.). Mit solchen Indiskretionen ist Höllor »sich selbst zum Depp« geworden. Zur sonntäglichen Buße muss er mit brummendem Schädel feststellen, ihm sei »das ihm Gegebene« weitgehend »fremd« geworden (S. 26). Mit Ernstor und Klagor treten nun zwei weitere Erzählerfiguren auf den Plan, die doxografisch auf Werke wie Kontrolliert (1988) und Klage (2008) zurückverweisen. So quälen Ernstor Zweifel an seiner Haltung zur Geschichtsschreibung. Seinen Andeutungen nach sollte sie sich in Zurückhaltung üben, steht dann aber vor dem Problem, über eine Melange aus weltanschaulich konformen Orientierungshilfen nicht hinauszukommen. Klagor als der deutlich Jüngere gefällt sich demgegenüber in einem ausgeprägten Weltekel. Aber auch er muss rasch einsehen, dass neutrale Schilderungen der laufenden Ereignisse heutzutage niemanden mehr interessieren. Gleichwohl lehnen Ernstor und Klagor alle Zugeständnisse an den Proletkult mit dem Argument ab, die Aufarbeitung von Haiders Tod nach heutigem Gusto setze bei den Rezipienten zwei gänzlich unästhetische Bewusstseinsdrogen frei: entweder »EUPHORIN« oder »SOZIALIN« (S. 33f.). Beide Hirnsubstanzen lösen wiederum einen Mechanismus des Zerredens aus, der zu inhaltlich unterschiedlichen Wortergüssen führt. Im Ergebnis jedoch verhindern sie gemeinsam, dass die Schwätzer im »Interesse der Wahrheit« auf »die höllische Übergrellheit« des ›Event-Journalismus‹ mit »Gegenextremismus« reagieren (S. 27). Hierfür nämlich bedarf es offensichtlich doch jener popkulturellen Qualitäten, über die Höllor schon auf der ersten Seite des Herbstberichts festge-

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halten hatte, wer an einer »maximalen Ethik der Schrift« interessiert sei, müsse sich als »Nichtprolet« seiner »geistigen Freiheit« versichern. Angewandt auf die Literatur, wird dafür die Bereitschaft vorausgesetzt, sich von jenem »traurigen Unterschichtenschmutz« zu reinigen, der im Urschlamm der Schöpfung die Medien und die Öffentlichkeit trübt (vgl. S. 155 u. 114). Was sich hier theologisch wie ein Weg in eine kulturelle Zukunft mit allerlei Teufeleien liest, formiert sich in loslabern mediengeschichtlich zu einer Kritik an metaphysischen Wahrheiten, an welche die bürgerliche Kultur noch glaubte. Für ihre Aufarbeitung engagiert sich Ernstor in der Rolle des ›rückwärtsgewandten Propheten‹. Mit seinen Erkundungen des Schriftsinns rekapituliert er das tiefe Vertrauen, welches das Bürgertum früher noch dem Akt des Schreibens entgegenbrachte. Sein Gewährsmann ist Lessing, der im Laokoon ausgeführt hatte, Vernunft und Schriftordnung stünden unter aufgeklärten Vorzeichen in einem Bedingungsverhältnis. Denn im Medium der Schrift teilen sich die grammatische Disziplin und der Logos der Sprache mit. Gepaart mit sauber arrangierten Gedanken, sorgt das Geschriebene nach Lessing also ›an sich‹ schon für die Ernsthaftigkeit, mit der die Leser einen Text rezipieren. Für seine naive Schlussfolgerung, das Medium müsse dieser Grundlegung des bürgerlichen Bildungsgedankens zufolge identisch mit seiner Botschaft sein, bezahlt Ernstor wenig später teures Lehrgeld. Zu entschuldigen ist seine Ahnungslosigkeit nur mit der Verwirrung, mit welcher er zeitgleich registriert, wie erheblich sich der Stellenwert des Schreibens im Zeitalter eines niederträchtigen Idiotismus gewandelt hat. Schaut sich Ernstor jedenfalls auf der Frankfurter Buchmesse oder dem Herbstempfang der FAZ um, so begegnet er einer traurigen Riege von »Boulevardchefs«, die mit ›nazimäßiger Lockerheit‹ über »das kleine Humorchen für den Deppen von nebenan« lachen (vgl. S. 170 u. 121). Dieser längst gesellschaftsfähigen Überheblichkeit korrespondiert ein völliges Unwissen über die Folgen des eigenen und tagtäglich gestreuten »Boulevarddrecks«. Während die Medienverantwortlichen wähnen, mit »Nullinformationen«, »übler Nachrede« und anderem »Sozialmüll« (vgl. S. 84 u. 170) die Lust der Massen am Skandalon zu befriedigen, entgeht ihnen vollkommen, wie solche Zugeständnisse an das Populäre schrittweise das eigene Denken und Urteilen schwächen. In den bisher vorliegenden Rezensionen reagieren die solchermaßen Attackierten nicht ohne Spott. Verschiedentlich wird angemerkt, es fehle der Popliteratur der ›Nullerjahre‹ offensichtlich an einem »avancierten Zentraldiskurs«, wie etwa die »Loveparade in den Neunzigern« einer war.4 Dass Goetz die geistigen Aporien solch eines beschränkten Verständnisses von (Pop-)Literatur zum Zentraldiskurs einer alerten Popkultur erklärt, wird in solchen Rezensionen erst gar nicht bemerkt. Doch Goetz ist selbstkritisch genug, um am Beispiel Ernstors auch die Schwächen einer ausschließlich kulturkritischen Perspektive darzulegen. Gefunden werden sie in einer Epoche, in der noch weitgehend Konsens darüber bestand, wie Hochkultur zu definieren sei. Ernstor verweist

4

Dirk Knipphals: »Loslabern« von Rainald Goetz. Der Meister des Satzes. In: Die Tageszeitung v. 27. Oktober 2009, http://www.taz.de/1/leben/buch/artikel/der-meister-des-satzes/ (15. September 2009).

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exemplarisch auf die Sprachwissenschaft der 1970er Jahre. Seinerzeit wurde mit allerlei sozialem Ressentiment der Zusammenhang zwischen gebildetem Sprachvermögen und intellektueller Schärfe untersucht. Versucht Ernstor, die wortgewandten Beiträge zeitgenössischer Politiker und Journalisten nachzuvollziehen, so widerlegen die ausgehenden Nullerjahre freilich jene von Basil Bernstein aufgestellte These, gemessen am elaborierten Code der Mittelschichten erweise sich die Sprache der Unterschichten als defizitär, aufs Schärfste. Für die in loslabern verhöhnte Kommunikationsfreude des beginnenden 21. Jahrhunderts gilt nämlich: Elaborierte Sprache verträgt sich durchaus mit einem völlig restringierten Geist.5 Schlimmer noch: Je energischer sich das Deppentum behauptet, desto dummdreister verbrämen die Schriftmedien, wie viel geistige Autorität ihnen fehlt. In der Folge kommt es zu einem tiefgreifenden Respektverlust. Doch diese Entwicklung, so muss sich Ernstor nach einem Gespräch mit Frank Schirrmacher beschämt eingestehen, habe er aufgrund des ihm in jungen Jahren anerzogenen Vertrauens in die Schrift verschlafen: [I]ch hatte gedacht, alle Leute würden Schirrmachers Artikel mit dieser Überaufmerksamkeit, die ja doch auch objektiv vom Positionsindex des Sprechers her, Chef einer der wichtigsten Feuilletons einer der wichtigsten Tageszeitungen der Welt, unweigerlich mitgegeben war, wahrnehmen, aber das war natürlich Unsinn, die Welt hatte sich ein bisschen weiter gedreht seit 1972, das war mir irgendwie entgangen, eine Art der Seriosität […] wiederhaben zu wollen, wie sie damals üblich war, hieße auch: eine Art von Hochkulturarroganz und lächerlichster Seriositätsaufgeblasenheit, ein Ernsthaftigkeitswichtigtuertum […], was ja damals […] so üblich war wie heute das kleine Witzchen […], die streng über ihre Unverkrampftheit wachende Lässighaltung allem gegenüber […] (S. 124f.).

2.

Hochkultur und Subjekt

Ernstors Sorgen über den Bildungsverfall werfen gemeinsam mit dem Plädoyer für Wissen und gesellschaftliche Stratifizierung die Frage auf, woran die Hochkultur in loslabern krankt. Sozialhistorisch ließe sich die These verfolgen, Macht basiere bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf einem normativen Bildungsbegriff sowie exklusiven Sprach- und Verhaltensweisen. Ihnen entspreche ein hierarchisches System der Künste, das symbolisch auf die weltanschaulichen Grundlagen der Hochkultur referiert und folglich ähnlich wie das seriöse Schreiben zur Ideologisierung weiter Bevölkerungskreise beigetragen hat. Nun lässt sich kaum leugnen, dass all diese Wissensgüter nicht nur in der Vergangenheit wichtige Zugangsvoraussetzungen waren, um in der Gesellschaft verschiedene Machtpositionen zu besetzen. Aber darf die Summe solcher Ämter und Funktionen mit sozialer Herrschaft gleichgesetzt werden? Auf dem Kultursektor hat sich diese bildungsbürgerliche Wunschvorstellung zweifellos durchgesetzt und die Etablierung einer fest umrissenen Vorstellung von Hochkultur begünstigt. Politisch oder wirtschaftlich taugt sie allerdings nur noch bedingt. Dafür fehlt es den Repräsentanten eines

5

Zu Bernsteins soziolinguistischen Thesen vgl. beispielsweise seine Abhandlung Studien zur sprachlichen Sozialisation. Düsseldorf 1972.

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avancierten Kulturbetriebs nach Auskunft von loslabern längst an Machtkompetenz und Überzeugungskraft. Demgegenüber mag man einwenden, die bürgerliche Wissens- und Werteordnung habe als Bildungsmaxime in den letzten Generationen erheblich zur gesellschaftlichen Schichtung beigetragen, sei also auch als Machtinstrument eingesetzt worden. In Anlehnung an René Girards Unterscheidung zwischen heiliger und sozialer Gewalt erklärt sich diese Instrumentalisierung aus dem Vollzugscharakter aller Elemente, die Hochkultur konstituieren: Glaubensvorstellungen, Ethik, Sprache, Künste sowie Legislative und Exekutive. Dieses Ensemble »verschiebt sich« nach Girard gewaltsam »nach außen«, denn Hochkultur ist zunächst einmal nicht »immanent« organisiert. Und diese »Verschiebung selbst hat Opfercharakter: sie verbirgt den Ort der ursprünglichen Gewalt und schützt so die elementare Gruppe, in deren Schoß absoluter Friede herrschen muß, vor dieser Gewalt und vor dem Wissen um diese Gewalt«. Als sie ein älteres Feudalsystem ablöste, konnte sich die bürgerliche Hochkultur demgemäß nur in sozialer Praxis niederschlagen, indem sie ihre Dominanz machtorientiert durchsetzte. Ihre Deckmäntel hießen Bildung und Humanitas. Beide entwickelten sich in der Folgezeit zu »mythischen Elementen«, und diese wurden so lange gesellschaftlich reproduziert, wie eine Mehrheit ihre »rituelle Nachahmung« ebenso akzeptierte wie deren geistige und moralische Implikate.6 Ihr inszenatorischer Charakter gewinnt dann zunehmend an Gewicht, wenn die ›elementare Gruppe‹ ihre soziale Führungsrolle an andere Schichten oder Interessenvertretungen abgeben muss. Verhöhnt Ernstor daher das Proletentum ehemaliger Repräsentanten der Hochkultur, bedenkt er ferner die wechselseitige Anbiederung von politischer Macht und Medien mit beißendem Spott, so registriert er sehr genau, wie »rituelle Gewalt« zwischen »bereits konstituierten Gruppen« an Einfluss verliert und dieser Machtverlust mittels repräsentablem Pomp übertüncht werden soll.7 Popliteratur mag den Eindruck erwecken, solch einen Plausibilitätsverlust der bürgerlichen Hochkultur begünstigt zu haben. Zu bedenken bleibt jedoch, dass zuvor schon die realen Gesellschaftsverhältnisse des 20. Jahrhunderts und die globalen Wirtschaftssysteme das Hochkulturelle als idealistisches Konstrukt entlarven. Wendet sich Popliteratur daher seit den 1960er Jahren unter Einbeziehung unterschiedlicher wissenschaftlicher Theoreme unterdrückten Subkulturen oder Minoritäten zu, so verhöhnt sie zwar den ›Opfergestus‹ einer bildungsbürgerlichen Wissenshoheit. Gleichzeitig aber legt sie die Wunde frei, die mit exklusiven Normen und Werten verbrämt werden sollte: »Wenn die allgegenwärtige und starre Differenz die Mutter der Stabilität ist, dann ist sie dem intellektuellen Abenteuer […] sicherlich nicht förderlich.«8 Popästhetisch radikalisiert Goetz dieses Sakrileg, indem er sich den Kulturwissenschaften und ihrer Rolle im Machtkampf um das Hochkulturelle als Bildungsinstanz zuwendet. Wie sein Insistieren auf dem Subjekt signalisiert, misstraut er dabei akademischen Modellen, die Herrschaft im Rückgriff auf materialistische Vorstellungen von Masse gründen und damit

6 7 8

Vgl. René Girard: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt am Main 1992, S. 365. Ebd. Ebd., S. 344.

loslabern

189

die Möglichkeit, an Kultur (popästhetisch) zu handeln, strikt verneinen. Begreift Goetz die Popkultur daher optional als Freiraum, der nicht nur soziale Identität prägt, sondern auch zum Handeln an Wissen und Werten befähigt, dann tritt an die Stelle biologistischer oder psychologistischer Generalisierungen der Mensch, welcher allem Handeln vorangeht. Andernfalls vermag sich der Einzelne im Gefolge sozialer Dezentrierungen nicht als Selbst zu fokussieren. Warum es sich hierbei um einen kulturhermeneutischen Akt handelt, der Handlungsalternativen voraussetzt, warum sich ein so begriffenes Subjekt zudem nicht nur über seine Performanzen erklärt, lässt sich im Rückgriff auf Helmuth Plessner darlegen: »Zum Wesen der Selbststellung gehört die Spaltung in das Ich, auf das Bezug genommen wird, und in das Ich, welches Bezug nimmt.«9 Kultur an sich erklärt sich im Anschluss daran als Bemühen, die »konstitutive Heimatlosigkeit« des Denkens mit dem Gefühl zu paaren, jene »unerträgliche Exzentrizität«10 der menschlichen Natur aushalten zu müssen: Das Subjekt will die Kultur, aber nur wenn sie ihm als »Werkzeug« dient. Anders könnte es auf Gesellschaft keinen Bezug nehmen. Realisieren lässt sich dieses Streben nach der »zweiten Natur« deshalb auch nur unter Umgehung jeder »Ruhelage«.11 Davon zu unterscheiden ist eine Hochkultur, die Identität nur als Ergebnis sozialer Prägung und der Wiederholung von Mustern akzeptiert. Popkultur, wie Goetz sie in loslabern avisiert, versteht sich demgegenüber als Ort dissidenten Handelns. Überdies erlaubt sie, die »Hälftenhaftigkeit der eigenen Lebensform« mit »Dingen« zu kompensieren, »die schwer genug sind, um dem Gewicht seiner Existenz die Wage [sic!] zu halten«.12 Rituale, populäre Kunst oder Alltagsästhetiken, die sich medialen Verrohungsstrategien verdanken, sind daher zu subvertieren. Die so gewonnene »Denkseriosität« ist nach Ernstor zukünftig allerdings ›höllisch‹ vor bürgerlichen Machtvisionen und künstlerischen Standards zu schützen (S. 46f.). Anders ließe sich in der Popkultur weder das ›Heilige der Gewalt‹ als hohles Pathos hinterfragen noch jene Aggressivität, mit der Konkurrenzkulturen ihren Anspruch auf den geistigen oder ästhetischen Primat unterstreichen. Warum es dabei nicht ohne subkulturelle Angriffslust, ästhetische Vielfalt und kluge Taktiken des Aufbegehrens geht, wird mit den Reproduktionsmechanismen der »Unterhaltungsindustrie« begründet. Weil es ihr an ›gewichtigen‹ Inhalten mangelt, hat sie »die Bewusstseine« der Menschen »komplett und erfolgreich kolonisiert« (S. 62). Solch einem Wettstreit muss sich auch eine ›nach außen‹ agierende Popliteratur stellen, die an der Ernsthaftigkeit eines flexiblen Andersdenkens festhält.

9 10 11 12

Vgl. Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. 3. Aufl. Berlin/New York 1975, S. 47. Vgl. ebd., S. 309 u. 311. Ebd., S. 311. Ebd.

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3.

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Pop in der Spaßgesellschaft

Für diese Sichtweise sprechen die intellektuellen Anforderungen, die loslabern als ›Bericht‹ an sein Publikum stellt. Angelegt wie ein Triptychon, mischt er kürzere historische Erzählungen mit Alltagsmitschriften, quasibiografischen Rückblenden und politischen Notaten für literarische Folgeprojekte. Neben ästhetiktheoretischen und poetologischen Passagen finden sich darüber hinaus »PARANOISCHE PARATAKTIKA / PANIKA« und vor allem »antiaffirmationistische Fragmente« (S. 157). Diese auch optisch in Form von Kolumnen und Wortreihen wiedergegebenen Textfetzen verweisen zusammen mit den verschiedenen Erzählerinstanzen einerseits auf die drohende Zerrissenheit des modernen Menschen. Andererseits erzeugen sie, wie Eckhard Schumacher gezeigt hat, ein hohes Maß an Gegenwärtigkeit.13 Goetz’ Erzählungen Theologisches Konvikt und 1918 nehmen sich in loslabern dagegen wie Intarsien aus, die hochkulturell älteren Anforderungen an Literatur zu entsprechen scheinen. In beiden Fällen treten Ich-Erzähler auf, die charakterlich deutlich präziser gezeichnet sind als Höllor oder Ernstor und in chronologischer Ordnung aus ihrem Leben berichten. Von der wunderlichen Begebenheit und Anlage des Textes her erinnert Theologisches Konvikt an Novellen aus Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. 1918 mischt Elemente der Kurzgeschichte mit Überlegungen zur politischen Revolution. Dass solche literarischen Zugeständnisse als Provokation zu lesen sind, darauf weisen Höllor und Ernstor mit dem programmatischen Anspruch auf eine »Emanzipation der Dissonanz« hin (S. 185). Angetreten mit dem Ziel, die »Fehler und Schwächen« offenzulegen, an denen »Hochliteratur« krankt (S. 46f.), deuten beide im ersten Buch von loslabern an, warum sich das »Antipopkonzept« und der »mediale Trashpop«, zu dem sich Christian Kracht im Herbst 2008 versteigt, nicht mit ihrem Verständnis von Widerspruch vertragen (vgl. S. 39 u. 41). Was Popliteratur heutzutage wieder leisten muss, verdeutlicht dann der Mittelteil. Wie bereits angedeutet, geht es um den Herbstempfang der FAZ im Berliner Hotel de Rome. Im Verlauf seiner Beobachtungen wendet sich der Erzähler jenen Persönlichkeiten zu, die 2008 durch Finanzskandale oder intellektuelle Ohnmachtsbekundungen in die Schlagzeilen gelangen, sich in der Nähe zur politischen Macht aber noch immer frei von jedem geistigen Tiefgang fleißig in hochritueller Souveränität üben. Thomas Middelhof und Kai Diekmann identifizieren sich jedenfalls mit jenen »Schleimträgern«, die idealtypisch für den Ausverkauf der Hochkultur stehen. Nur noch dumme Witze auf den Lippen, übertünchen sie ihr Unwissen mit uralten Männlichkeitsritualen. Auch ihr elegantes Erscheinungsbild kaschiert nur mühsam, wie sehr beide dem Deppenmilieu verfallen sind. So soll sich Diekmann die Haare mit »dem berühmten Scheidensekret von Lady Bitch Ray« gelen (S. 104). Solche Selbstinszenierungen bestätigen Ernstor, wie konsequent die schreibende Zunft ihr Pflegeprogramm für den eigenen Kopf dem grassierenden Ungeschmack angepasst hat. Angesichts des »echt echten Schleims«, mit dem sich Middelhof und Diekmann von weniger betuchten

13

Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt am Main 2003.

loslabern

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Dummköpfen abzuheben versuchen, gibt Ernstor sogar seine angestammte Zurückhaltung auf und attestiert solcher »Chefblödheit«, sie provoziere geradezu die Dringlichkeit popkultureller Handlungsreserven (vgl. S. 104 u. 156). Dass Goetz hier die Vermarktungsstrategien der Skandalrapperin Lady Bitch Ray um eine weitere Ekelvariante überbietet, weist popliterarisch voraus auf den dritten Teil von loslabern. In ihm wird das dissonante Schreiben gegen eine sich verflachende Lektürebereitschaft aufgeboten. Vermehrt sind es jetzt Notizfragmente, Wortkolumnen, Wahnsinnsnotate und Falschmeldungen, die sich nicht nur jeder kausalen Logik widersetzen. Sie machen auf anschauliche Weise deutlich, wie Popliteratur mit bürgerlichen Erwartungshaltungen an den Autor als ethische und vernünftige Instanz spielt. Gleichsam als Buße verlangt loslabern den historisch und kulturell, politisch und ästhetisch geschulten Leser. Wird zum Beispiel an den Einsatz der Bundeswehr im Libanon oder Thomas Mann als Verfasser des Doktor Schiwago erinnert, so scheinen solche ›Einfälle‹ jene Behauptung zu verifizieren, die neuproletarische Geistlosigkeit der Künstler und Intellektuellen erkläre sich aus ihrer Freude am Uninformiertsein. Da sich Popliteratur jedoch solchen Sedierungen ebenso verweigert wie dem nur Oberflächlichen, müssen ihre Leser sich vom lethargischen Nichtwissen emanzipieren.

4.

Habermasien

Literaturwissenschaftlich wird Popliteratur bis heute vielfach bagatellisiert – eine Einschätzung, die sich nur rechtfertigen lässt, wenn eines ihrer wichtigsten distanzschaffenden Mittel, die Aufarbeitung wissenschaftlicher Theorien, ignoriert wird. Zweifellos trägt solch eine Reintegration in den öffentlichen Diskurs zur Kontextualisierung des Erzählten bei. Als basisdemokratische Dichtung betrachtet, mag sich ebenso plausibel aufzeigen lassen, wie akademische Verstehensmodelle gesampelt, zitiert oder als modische Allüren entlarvt werden. Doch solche Theorieexkurse sind es auch, die eine »Guerilla-hafte Lektüre« popliterarischer Texte vereiteln.14 Folgt man John Fiske, charakterisieren diese alternativen Rezeptionsweisen in besonderem Maße die Populärkultur. In ihr werden Werbung, Slogans oder Popsongs ›produktiv‹ gelesen, das heißt: Sie werden als »Teil der Populärkultur« akzeptiert, weil sie den Leser nicht »der Autorität des autorisierten Textes« unterwerfen und dennoch das Arrangement »mit der dominanten Ideologie« erleichtern.15 Eine so verstandene Populärkultur hätte zum einen die popästhetischen Taktiken des Subversiven im öffentlichen Bewusstsein verankert und demgemäß einen politisch-medialen Ungehorsam initiiert. Unter diesen Vorzeichen könnte mit gutem Grund nach der Ästhetisierung des Alltagslebens gefragt werden. Zum anderen ließe sich mit Fiske das Populäre zu einem »schwer zugänglichen, bergi-

14

15

Vgl. John Fiske: Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur. In: Andreas Hepp und Rainer Winter (Hg.): Kultur – Medien – Macht. Cultural Studies und Medienanalyse. Opladen/Wiesbaden 1999, S. 67–86, hier: S. 68. Vgl. ebd., S. 71.

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gen Gebiet« stilisieren, das sich kaum kontrollieren lassen soll.16 Das ›Volkstümliche‹ avancierte insofern zum Dissidenten schlechthin.17 Populärkultur vereinnahmt in dieser Diktion jedoch Pop als multikünstlerisches Phänomen, ohne zwischen den beteiligten Künsten und deren Adressatenbezug zu differenzieren. Darüber hinaus verbirgt sich hinter dieser Bestimmung des Populärkulturellen eine ›wildromantische‹ Ästhetik des Subversiven, die schon Herder motivierte, Volkslieder als Dokumente einer noch ›unpolicirten‹, kreativ aufbegehrenden Unterschichtenkultur zu sammeln. Da Herder diese Zeugnisse seinen Lesern aber nicht ohne poetische Bearbeitungen zumutete, darf nicht übersehen werden, dass Hochkultur mit Hilfe solcher ›Disziplinierungen‹ nolens volens ihre ästhetische Vormachtstellung unterstreicht. Ohne die Nachwehen einer so taktierenden Hochkultur zu bestreiten, ohne ferner die Allgegenwart populärkultureller Normierungen zu leugnen, widerlegt Goetz in loslabern auch einen Ästhetikbegriff, der zwar ebenfalls Widerstands- und Handlungspotenziale berücksichtigt, aber manchmal etwas vorschnell den ›Anwender‹, der sich durch das mediale Sensationsangebot zappt, als selbstbewusste Persönlichkeit feiert. Zweifel an solch einer Ästhetisierung des Populären hatte bereits Rolf Dieter Brinkmann angemeldet und mit drastischen Worten eine »Gewaltanwendung seitens der Unterdrückten, Unterprivilegierten« gegen »den militarisierten Standard, das standardisierte Verständnis« eingefordert. Das zentrale Anliegen der Popliteratur sollte es nach Brinkmann daher sein, sich nicht nur einer bewährten »Raum-Zeit-Logik« und »alteingenisteten, verinnerlichten Mustern« des Lesens zu verweigern. Anzustreben sei vielmehr »ein Stückchen befreite Realität«, welche die ästhetische Kompetenz des Publikums herausfordert.18 Von diesem Anspruch getragen, sollte Literatur auf ihrem eigenen Terrain von innen heraus subvertiert werden. Schon deshalb setzt Popliteratur die Hochkultur mitsamt ihren Gattungsgesetzen und poetologischen Normen voraus. Ohne diese Reibungsfläche verlöre sie ihre ästhetische Zentrierung. Politisch und mit Blick auf hochkulturelle Rituale arrangiert sich Popliteratur für Brinkmann folglich mit einer weniger elitär ›besetzten‹ Literatur. Die Vorstellung, das Publikum mit bagatellisierter Dichtung zu ästhetisieren, liegt ihm demgegenüber fern. Seine Forderung nach einem theoriegestützten Widerstand gegen die Populärkultur formuliert Brinkmann in seinem 1969 erscheinenden Essay Der Film in Worten. Auf ihn nimmt Goetz in loslabern Bezug, verweist aber gleichzeitig darauf, dass sich Popliteratur vierzig Jahre später einer hochkulturell völlig veränderten Situation stellen muss. Habe Brinkmann noch unter dem Terror bürgerlicher Geschmacksdoktrin gelitten, so werde das »Habermasien« des Jahres 2008 von einem schichtenübergreifenden Denkverbot und einem nunmehr proletarisierten Kommunikationszwang beherrscht (S. 100). Dass die Bundesrepublik im Herbstbericht zunächst als Proletarien (s. o.) bezeichnet wird, im weiteren Fortgang dann aber den Namen des Frankfurter Gesellschaftswis-

16 17 18

Vgl. ebd., S. 68. Diesen Gedanken greift Hecken auf, um die Ursprünge des Pop im späten 18. Jahrhundert zu suchen. Vgl. Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzepts 1955–2009. Bielefeld 2009, S. 17ff. Vgl. Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. In: R. D. B. und Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Frankfurt am Main 1975, S. 381–399, hier: S. 382ff.

loslabern

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senschaftlers trägt, bildet dabei keinen Widerspruch. Sozialgeschichtlich bedingen sich Logorrhö und Stumpfsinn nach Goetz vielmehr. Sie sind gemeinsam Charakteristika einer Hybridgesellschaft, der es allerdings an hochkultureller Reflektiertheit fehlt. Dafür verfügt sie über eine ›soldateske‹ Mediokrität, die es zu unterlaufen gilt. Für sie verantwortlich zeichnet nach Goetz die 1981 veröffentlichte Theorie des kommunikativen Handelns. Als letztes Spiegelgefecht in Diensten einer normativen bürgerlichen Hochkultur wurde sie ›volkspädagogisch‹ umgesetzt, indem weite Bevölkerungskreise über Sinn und Zweck einer kritischen Öffentlichkeit belehrt und auf einen vermeintlich aufklärerischen Gedankenaustausch eingeschworen wurden. Als geradezu perfide wertet Goetz jedoch die Tatsache, dass man den Habermasiern heute suggeriert, das ›subversive‹ Zitieren weltanschaulicher Gemeinplätze mache Kritikfähigkeit so überflüssig wie alles Dissonante. Es gehört zu Habermas’ Grundannahmen, eine Kultur des dialogischen Einvernehmens könne sich erst im Verlauf einer ›gesellschaftlichen Rationalisierung‹ entwickeln. Allerdings werde das »kognitive Potential« der »konsequent durchrationalisierten Weltbilder« erst in »modernen Gesellschaften entbunden«.19 In der dialogisch organisierten Öffentlichkeit suchen die Gesprächspartner dann »eine Verständigung über die Handlungssituation, um ihre Handlungspläne und damit ihre Handlungen einvernehmlich zu koordinieren«.20 Im sprachlichen Handeln realisiert sich nach Habermas demgemäß eine ethische Integrität, die ein privatistisches Vorteilsstreben in die Schranken weisen und Herrschaftsstrukturen überwinden soll. Wo dieses Ziel erreicht wird, dort erfüllt sich in Habermas’ Deutung das zentrale Anliegen der aufgeklärten Vernunftphilosophie. Solch einem »Neobürgerlichkeitsknast« verweigert sich Goetz erkenntniskritisch (S. 176). Voller Misstrauen in den weltfernen Optimismus, mit dem Habermas an Lehrmeinungen des 18. Jahrhunderts anknüpft, heißt es in loslabern, das »Hauptproblem aller nur rationalen Weltzugänge« bestehe darin, »zu wenige Aspekte gleichzeitig« erfassen zu können (S. 62). Gemeint ist die wachsende Komplexität des modernen Alltags, die den Einzelnen daran hindert, sein Leben mit mathematischer Präzision zu führen. Exemplarisch verweist Klagor darauf, »Gier, Geiz, Egoismus und Verantwortungslosigkeit« würden auch im neuen Jahrtausend »als Tugenden« geschätzt (S. 156). Überdies gestatte die Palavergesellschaft einzelnen Schleimträgern und »mittleren Dummfrau[en]«, das »Diskursmachtstreben« für sich zu entscheiden (vgl. S. 115 u. 60). Nach Habermas hat sich die Spaßgesellschaft also entweder noch nicht ›durchrationalisiert‹, oder in der Theorie des kommunikativen Handelns wurde übersehen, dass der Zwang, sich permanent lösungsorientiert austauschen zu müssen, weder irrationalen Alltagsproblemen und -wünschen gerecht wird noch alle Menschen von der Zwecksetzung eines materiellen oder intellektuellen Altruismus überzeugt. Goetz entscheidet sich für die zweite Lesart und legt anhand dieser Lücke im Systementwurf dar, wie sich aus der hochkulturellen Sprachkompetenz ein Medien- und Literaturbetrieb herauskristallisieren konnte, in

19 20

Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1985, Bd. 1, S. 299. Ebd., S. 128.

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dem allein die Wortgewaltigsten ihre Vormachtstellung verteidigen. Solche Symptome einer Übergangszeit von der Hoch- zur Populärkultur erklärt sich Ernstor aus den Nachwehen einer Schriftordnung, welche das öffentliche Reden ursprünglich mit geistiger Überlegenheit gleichsetzte. Heutzutage werde jedoch übersehen, dass es den triebhaften Schwätzern an der Muße fehlt, die Inhalte ihrer Satzkaskaden abzuwägen. Redseligkeit schafft also die Voraussetzungen seriösen Denkens und Handelns ab. Auf diese Weise wird dem Ordinären auch die Chance unterbreitet, sich für das Ritual der »Rohheitsverherrlichung« und politischer Unaufmerksamkeit zu ›opfern‹ (S. 156). Die Unaufgeregtheit und das Desinteresse, mit der Habermasien im Jahr 2008 auf die mediale Inszenierung der Bankenpleite reagiert, liefert Goetz den Beweis für die geglückte Abrichtung auf den sachlichen Dialog. Zweifellos lag es Habermas mit seiner Sprachhandlungstheorie fern, einem längstens seit dem frühen 20. Jahrhundert ökonomisch zugeschnittenen Machtapparat zuzuarbeiten, der große Teile der Öffentlichkeit als Masse deklariert und in die Populärkultur entlässt. Goetz indes will aufzeigen, warum der Kommunikationsdrill einigen wenigen immer umfassendere Herrschaftsrechte einräumt. Wenn Hochkultur und ihre Nähe zur Macht nicht präziser reflektiert werden, dann verschuldet Wissenschaft beispielsweise Gesellschaftsmodelle, die sich nach Goetz als Arkanpraxis einer Hochkultur legitimieren. In Zeiten wachsender »Stressverlogenheit« entwirft sie überdies ständig neue Paradigmen, die den Kreis der ›Oberlehrer‹ traditionell klein zu halten versuchen (vgl. S. 156 u. 95).21 Damit solche elitären Herrschaftsprivilegien unberührt bleiben, wurde der Öffentlichkeit das »dauernd von Akzeptanzzuwendungen gestützte« Schwadronieren verordnet. Und wie Ernstor unter Berufung auf die Frankfurter Schule hinzufügt, kollaborierte mit ihr eine akademisch »davon auch abhängige IDEE«, der zufolge der »Einzelne« nur in »Abhängigkeit von der Gemeinschaft und in Gesellschaft der vielen anderen Einzelnen hier leben« soll. Dieser maßlosen »Spießerfreude« begegne man »quer durch alle Schichten […], vom Anarcho bis zum letzten Ackermann« (S. 101). Welche schwerwiegenden Folgen diese »brutalstens sich selbst feiernde Zustimmungsbegeisterungserzwingung« mit sich bringt, belegt Ernstor mit einem Zitat Rolf Dieter Brinkmanns: Das »Volk von Deutschland Verrecke«, so heißt es, habe dem »Terror des Faktischen« auf »demokratische Art ein Ende gemacht« (S. 115). Damit wendet Goetz das Faschismus-Argument, mit dem Brinkmann zeitweilig konfrontiert wurde, weil er sich ablehnend über die 68er-Generation geäußert hatte, gegen einen der profiliertesten Gesellschaftstheoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Weil dieser kreative, selektiv reflektierte Wahrnehmungsperspektiven auf das Alltagsleben zugunsten des Konsensgeschwätzes abgeschafft sehen will, raubt er dem Einzelnen den Mut zu individueller Selbstbetätigung oder gar Widerstand. Dieser Verrohung des ursächlich autonomen Intellekts schließen sich die Bildungsverantwortlichen mit ihrer »Raffinierung und Sophistikation des Ordinären« an (S. 170). Einen nicht weniger traurigen Beweis für diese Beobachtung tritt nach Ernstor das Gros der Künstler an. »Komplett daran gewöhnt«,

21

In diesem Kontext sind auch Goetz’ inflationäre Ismen in loslabern zu verstehen: »Theoretizismus« (S. 29), »Sofortismus« (S. 147), »Totalwegblasismus« (S. 165) usw.

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dass man ihnen »die Affirmation von Tratsch«, welche »den Proleten offen und direkt als Lüge angedreht wird«, als »Kunst verkauft«, schauen sie desinteressiert zu, wie die Populärkultur zur sozialen, politischen und ästhetischen Norm avanciert (vgl. S. 170).

5.

Kritik der Popkultur

Goetz’ Vorbehalte der kommunikationstheoretisch verschuldeten Populärkultur gegenüber setzen implizit voraus, Habermas denke zu universalistisch und bürgerlich. Dass diese Sichtweise nicht unbegründet ist, dafür hat Habermas während seiner Auseinandersetzungen mit der postmodernen Philosophie gesorgt. So führt er in der Aufsatzsammlung Die neue Unübersichtlichkeit den Nachweis, sprachlich und sozial korrektes Verhalten bemesse sich an der Akzeptanz allgemeingültiger Werte und Normen. Warum deren Vernünftigkeit nicht zu hinterfragen ist, beantwortet Habermas mit dem Stellenwert von Ordnung und Sitte: Derrida zieht […] den Schluß, daß wir der Tretmühle des abendländischen Logozentrismus nur durch ziellose Provokationen entkommen können. […] Ich halte diese These vom Anbruch der Postmoderne für unbegründet. […] An ein Ende gelangt ist vielmehr eine bestimmte Utopie, die sich in der Vergangenheit um das Potential der Arbeitsgesellschaft kristallisiert hat.22

Was Habermas’ skeptischer Einschätzung des modernen Zeitgeistes wiederum entgeht, ist die Zweckrationalität, der er sich selbst unterwirft. Demgemäß verschließt er sich der Überlegung, Protest könne gegen rationalistische Einseitigkeiten oder politische Anbiederungen durchaus folgerichtig agieren, mit dem gleichen Abscheu wie dem Einwand, soziale Utopien vertrösteten die Entrechteten zynisch auf eine Zukunft, an der sie selbst nicht mehr teilhaben werden. Herrschaftskritisch ließe sich daher gegen Habermas’ Unmut über die ›Erschöpfung utopischer Energien‹ behaupten, seit dem 18. Jahrhundert dienten ethische und ästhetische Verbindlichkeiten dazu, die ›Energieschübe‹ seitens der Ohnmächtigen zu devitalisieren. Über diesen intellektuellen Machtmissbrauch heißt es in loslabern in einem Kapitel, das bezeichnenderweise die Überschrift DDR 2008 trägt: Die »Unterdrückung des Einzelnen« werde »fürchterlich«, wenn »die Vernünftigen ihr Maß und ihre Wahrheit, ihre Politüberheblichkeit in realen Sozialterror diktatorisch umsetzen« (S. 115). Mit Hilfe dieser These lässt sich nun abschließend zeigen, warum Goetz’ Attacken auf die ordinäre Populärkultur nicht der Diskreditierung sozialer Schichten gilt, sondern einer »Kritik der Popkultur« und ihrer Theoretiker (S. 49). Vor allem Letztere haben sich von der Hoffnung auf die ewige Wiederholung des Dissidenten dazu verführen lassen, Popliteratur gefährlich zu trivialisieren. Kronzeugen dieser Befangenheit sind in loslabern Diedrich Diederichsen und Dietmar Dath. Von Ersterem stammt bekanntlich die formelhafte Wendung, Pop sei ein allen

22

Jürgen Habermas: Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien. In: J. H.: Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V. Frankfurt am Main 1985, S. 141–163, hier: S. 141, 144f.

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zugänglicher Geheimcode.23 Eine noch generösere Charakterisierung schlägt Dath in einem Interview vor, das er im Oktober 2006 dem Berliner Stadtmagazin Zitty gegeben hat: Popliteratur ist Literatur, die unter kulturindustriellen Bedingungen hergestellt und wahrgenommen wird; das Wort bedeutet also besser nicht ›Bücher, in denen Platten vorkommen‹. In meinem Sinn ist heute alle Literatur aus den reichen Ländern, die sich mit dem auseinandersetzt, was hier tatsächlich los ist, Popliteratur.24

Weshalb Rainald Goetz die Behauptung, Pop erschließe sich einem größeren Leserkreis, nicht teilt, sollte angesichts seiner hyperbolischen Theoriediskurse auf der Hand liegen. Daths Verständnis von Populärkultur wird zurückgewiesen, weil es ohne ideologiekritische Vorbehalte auskommt und Popliteratur von allen ästhetischen Widerstandspotenzialen freispricht. Statt nämlich über Popästhetik nachzudenken, so Dath, reiche es poetologisch völlig aus, wenn »man sich drum kümmere, ob das, was man schreibt, gut ist«25. Ob sich deshalb jede aktuelle Dichtung unter popliterarischen Vorzeichen lesen lässt, diese Probe aufs Exempel macht Goetz in loslabern: Hinsichtlich der Handlungsführung und Figurenwahl wird Uwe Tellkamps Roman Der Turm (2008) attestiert, er verdiene als Aufarbeitung der DDR-Gesellschaft »allergrößte Begeisterung«. Über die Sprache und Wirkung des erfolgreichen Romans heißt es dagegen: [D]iese ganzen Gewähltheiten des Ausdrucks, das Verzuckerte und Gedrechselte, […] die in der Sprache selbst liegende, von ihr fast schon aggressiv betriebene VER-LANG-SAMUNG, furchtbar, Folter, dass man also auf der Ur- und Erstebene des Literarischen, so unglaublich gequält werden kann (S. 113).

Popliterarisch fehlt es Tellkamps Roman folglich an einer extremen Beschleunigung des Denkens und Argumentierens, einem labernden »Sofortismus«, der sich allen auf Allgemeinverbindlichkeit zielenden Konsenspflichten entzieht. Da Tellkamps Der Turm darüber hinaus ältere literarische Stillagen bemüht, ist der Roman auch nicht wie ein »Existenzexperiment« angelegt, also »hineinverstrickt in möglichst viele Kompliziertheiten auch des Sozialen« (S. 178). Weltanschaulich konfirmiert der Roman mit seinem geschlossenen Erzählkosmos stattdessen die Ordnungsimplikate einer längst diskreditierten Hochkultur. Von solchen Reminiszenzen grenzt sich loslabern mit theoretischen und fragmentästhetischen Ausführungen ab, die zur Komplexitätssteigerung der Lebenswelt beitragen. Ferner wird dem Leser andeutungsreich begründet, warum der Erzähler bis auf Weiteres keinen Roman schreibt. Dessen geschlossener Erzählkosmos würde jene künstlerische »Autonomie« unterlaufen, die sich reiner »Gegenwartsgegebenheit« verdankt (S. 179). Umgesetzt wird sie, indem sich der Künstler der Wirklichkeit aussetzt und seine Eindrücke mit provozierender Unzuverlässigkeit aufbereitet. Der Literatur sind hier jedoch

23 24 25

Vgl. Diedrich Diederichsen: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Marcel Hartges u. a. (Hg.): Pop – Technik – Poesie. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 36–44, hier: S. 40. Zitiert nach Zitty online, http://buehne.zitty.de/896/literatur---interview.html (15. September 2010). Vgl. ebd.

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Grenzen gezogen, weshalb der beanspruchte ›Antiaffirmationismus‹ zunächst am Beispiel des Malers und »FRÖHLICHEN BERSERKERS« Albert Oehlen (vgl. S. 178) verdeutlicht wird: Die neue Zeit der Gegenwart der Nullerjahre schaute so aus wie diese Gemälde, grell, hell, brutalstens stressig, hingeschludert, grimmig […]. In einem Explosionsexzess hatte Albert Oehlen sich der Wahrheit ausgeliefert, dass der Gegenwartsmoment keinen Trost, keine Träume, kein mittleres gemütliches Schuriburi […] anzubieten hatte, sondern nur noch das öffentliche Geschrei, den maximal grellen Terror der Waren, des Geldes, das war eine Kapitalismuskritik ohne Hoffnung, die Bilder waren Wahrheit pur, der Horror usw. (S. 165f.)

Vor Oehlens Gemälden wird sich der »MITSCHREIBENDE MÖNCH« bewusst, dass die Gründe für seine weniger spontane Bearbeitung des Aktuellen nicht allein in der Mischung aus Dissonanz und Theorie zu suchen sind, sondern in der Schriftkultur ›an sich‹ (vgl. S. 145). Um beispielsweise das Nichtssagende des gegenwärtigen Gelabers zu desavouieren, könnte Popliteratur demonstrativ ›schweigen‹; um sich von den zustimmungsheischenden Worthülsen der »Kohärenzseppe« (vgl. S. 48) zu distanzieren, wäre an ironische oder zynische Kommentare zu denken. In beiden Fällen bliebe jedoch die Vormachtstellung des dumm-ordinären Geredes unbestritten. Denn was verschwiegen oder ironisch reflektiert wird, erzeugt nicht wirkmächtige Dissonanz. Vielmehr bestätigen Wortverzicht oder Ironie bloß den sozialen Kontext, aus dem heraus sie verstanden werden müssen. Goetz’ Vergleich von Malerei und Dichtung trägt aber noch weiter: »Eine nichtgegenständliche Schriftstellerei, die diesen Gemälden [Albert Oehlens] entsprechen könnte«, ist dem Erzähler in loslabern auch deshalb versagt, weil es eine Würde des Textes gibt, die das präzise Benennen sozialer Missstände und kultureller Fehlentwicklungen verlangt (S. 178f.). Die Malerei kann dem Geschwätz und Ordinären mit dem Entzug des Wiedererkennbaren begegnen oder die unempfindliche Wahrnehmung des Publikums mit grellen Farben reizen. Auf diese Weise agiert sie fernab von allen Ritualen, unterläuft mithin performative Wiederholungen. In der Schrift- und Hochkultur wurden solche Formen des Widerstands noch mit dem Schlagwort des bildnerischen ›Augenblicks‹ beschwichtigt. Die vagantische Augenlust wird überdies auf die gründliche Lektüre des Sichtbaren verpflichtet. Goetz’ Ethik des Schreibens arrangiert sich mit dieser ›Ordnung‹ widerständig. Zwar verweigert er sich fetzenhaft einer diskursiven Logik. Um aber »gesellschaftliche Verantwortlichkeit« zu übernehmen, fasst Goetz zugleich die »Widerlegung der Dämonie« ins Auge (S. 42). Auch der Autor darf also nicht die »Radikalität der Wahrheit« verraten. Im Unterschied aber zu Oehlen bringt Goetz das Publikum um das Vagantische, indem er es zwingt, aus dem ›höllischen‹ Textarrangement die Ernsthaftigkeit der Argumente herauszulesen: »[D]as ist die Poetologie dieser sehr ernsten Nichtscherze bei mir, die öffentliche Figura wird zum Nennwert des von ihr selbst öffentlich Aufgeführten« und dann »meinem Textwolf einfach so zum Fraße vorgeworfen« (S. 80 u. 96f.). Warum diese Anrufung der Wahrheit nicht den theoriegestützten Vorbehalten widerspricht, die Goetz denen entgegenbringt, die wie Habermas noch zu wissen vorgeben, was richtig und falsch ist, auf diese Frage gibt loslabern nur die Antwort, Wahrheit sei, was der Dichter jenseits des Rationalen und Ordinären finde. Will er daher die zeitgenössische Gesellschaft über ihre selbst verschuldete Vollmundig-

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keit aufklären, so bedarf es einer Dialektik des Ordinären, vor der sich die Öffentlichkeit zu verantworten hat. Angesichts der ästhetischen Verwahrlosung nimmt diese Aufklärung über die mentalen Krisen des Rationalismus bis auf Weiteres für sich in Anspruch, das Bewusstsein für den landläufigen Irrsinn ›wahrhaftig‹ zu schärfen. Mit dieser Restituierung eines geistigen Korrektivs leistet Popliteratur nach Rainald Goetz zweierlei: Zum einen wird das Loslabern einer zu verwirklichenden Popkultur zugerechnet, in der Verqueres, Ungerechtigkeiten oder eben auch Idiotie umgehend anzuprangern und in ihrem populistischen Kontext transparent zu machen sind; zum anderen müssen präzises Denken, literarische Intelligenz und das Ethos des Schreibens vor dem Zugriff einer Gesellschaft bewahrt werden, in der sich immer weitere Kreise dem ästhetisch Anspruchsvollen verweigern. Zu den Kritikern einer so verstandenen Popkultur gehören Proleten wie der »Zeitungsverkäufer«, bei dem der Erzähler täglich stapelweise Lesematerial kauft, eine »totale Ex-zesshaftigkeit«, die der Ladeninhaber mit »jahrhundertealtem Berliner Untertanengeist« und dem »daraus lebenden Schnoddrigkeitston« quittiert (vgl. S. 155). Zur wachsenden Schar der Deppen im Lande zählen aber auch Politiker, Verleger, Journalisten und Dichter, die das »Mittelmaß« in der Spaßgesellschaft einfordern, um sich nicht länger mit dem Umstand quälen zu müssen, dass Unterhaltungsindustrie und Wissenschaften in wirkmächtiger Liaison das massenhafte Bekenntnis zur durchschnittlichen Dummheit beschleunigen (S. 80). Konsequenterweise entscheidet sich Goetz mit »böser Absicht« (vgl. S. 96) dagegen, einen weiteren Blödelbeitrag zur Abschaffung des Denkens zu leisten. Die literarisch von ihm eingeforderte Praxis mag sich aus neoordinärer Perspektive wie eine »Alienationsposition« ausnehmen (S. 86). Das »hier laufende Textexperiment« (S. 147) bleibt jedoch dem Idealismus verpflichtet, sich sogar des Deppentums anzunehmen und es mit kulturellen Kontergewichten zu konfrontieren. Für alles, was sich dieser Aufgabe ›low-ästhetisch‹ in den Weg stellt, gilt demgegenüber: Kein Kommentar. Roman fällt leider aus. […] – per Macht entschiedene, die Wahrheitsfrage aussetzende Aussagen: wenn ich das so sage, ist das auch wahr […] Nervosität, Natur, Moderne; reaktionäre Romantik der heiligen Familie usw; ›niedermachen ALLES‹ (S. 49, 52 u. 56).

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Auktionskatalog, Fotoroman, Liebesinventar Vom Wert der Dinge in Leanne Shaptons Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck Die Frage, auf welche Weise das Vermischen oder gar Verkehren von high und low, von Hoch- und Populärkultur vollzogen werden kann, wirft zugleich die Frage nach dem Umwerten auf – nicht zuletzt auch im Sinne ökonomischen Wertes. Und so soll im Folgenden untersucht werden, in welchen Gattungen, dank welcher Medien, mit welchen Strategien ein solches Umwerten vollzogen wird oder auf welche Weise es Autorschaftskonzepte und Werkbegriff herausfordert. Hinzu tritt die Frage, welche Rolle das Wirkliche, das Reale darin spielen mag. Die kanadische Autorin Leanne Shapton, einige Jahre lang als Artdirector bei verschiedenen Zeitungen, unter anderem der New York Times tätig, hat im Jahr 2009 einen sehr erfolgreichen, vielfach übersetzten Liebesroman vorgelegt: Important Artifacts and Personal Property from the Collection of Lenore Doolan and Harold Morris, including Books, Street Fashion and Jewelry (auf Deutsch 2010 als Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck erschienen). Die eben genannte Gattungsbezeichnung ›Liebesroman‹ will sich zunächst nicht recht zu diesem umständlich-deskriptiven Titel fügen, zumal das Werk auch Referenzen an den Kunstbetrieb im Allgemeinen enthält, ja, darüber hinaus sogar in Form eines Auktionskataloges auftritt: Der Titel auf dem Cover wird durch eine Datumsangabe flankiert: »Sonntag, 14. Februar 2010, New York« – also durchaus plakativ den Valentinstag – sowie anstelle der üblichen Verlagsdaten durch die Angabe von Institution und Ort ergänzt: »Auktionshaus Strachan & Quinn. New York – London – Toronto – Berlin«. Damit annonciert sich das vorliegende Werk als Katalog für einen Auktionstermin. Jedoch: Handelt es sich hier nur um ein übliches Mittel zum Zweck der Versteigerung, das damit auf die verzeichneten und versammelten »bedeutende[n] Objekte« als eigentliches Werk verweist, oder stellt schon das zwischen den Buchdeckeln Eingebundene, die bedruckten Seiten selbst, das Werk dar? Haben wir es also mit einer Art Künstlerbuch zu tun, das nichts anderes als sich selbst repräsentiert? Ohne dies vorweg kategorisch zu entscheiden, sei doch danach gefragt, ob das, was auf den ersten – und auch zweiten – Blick als Auktionskatalog daherkommt, zugleich als Roman, gar als Liebesroman zwischen den beiden im Titel benannten Protagonisten, Lenore Doolan und Harold Morris, gelesen werden kann, das heißt als eine mit den konventionellen Mitteln des Auktionskatalogs auf unkonventionelle Weise erzählte Liebesgeschichte. Dafür seien zunächst einige der Darstellungs- und Verknüpfungsweisen erörtert, die sich in diesem Buch finden, um dann der Erzählbarkeit des Präsentierten nachzugehen.

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Erzählstrategien und Gattungsfragen

Zunächst, ganz äußerlich gesprochen, präsentiert sich das Buch als eine durchnummerierte Aufzählung von Lots, das heißt von Losen einer anstehenden Auktion (Abb. 1). Die durchgehende Nummerierung bringt den Effekt mit sich, unterschiedlichste Dinge in eine einheitliche Rahmung hineinzusetzen und der Aufmerksamkeit der geneigten Betrachter/-innen oder interessierten Käufer/-innen anzuempfehlen. In Richtung einer Geschichte bzw. Erzählung weist die innere Ordnung einer solchen Aufzählung und Aufreihung von Bildern und Texten: So wird nicht nur jede einzelne Abbildung, jedes einzelne Objekt, jeder Textabschnitt als zugehörig zum Gesamtkonvolut deklariert, vielmehr wird auch eine Leserichtung wenn nicht vorgeschrieben, so doch qua Nummernabfolge nahegelegt. Dadurch sind die Versteigerungsobjekte in eine lineare Ordnung eingebunden, die sich der Narration anbietet. Auf diese Weise erfahren alle bildlichen und textlichen Elemente eine Bedeutungszuweisung, die über die geldwerte Taxierung, mit der jeder Eintrag eines Loses schließt, hinausgeht (Abb. 2). Die Anforderungen an eine Erzählung sind allerdings höher, als dass eine bloße Aneinanderreihung dafür schon ausreichte. Zunächst könnte man also von einer fehlenden oder noch zu rekonstruierenden Geschichte sprechen, welche es erst zu erzählen gilt. Welcher Art aber kann diese Narration sein, und wie lässt sich ein solches Erzählen bestimmen? Probehalber ließe sich einerseits von einem komprimierten Erzählen sprechen, einem fragmentarischen oder elliptischen Erzählen, andererseits von einem inventarischen, akkumulierenden oder katalogischen Erzählen. Und zum dritten – darauf wird zurückzukommen sein – kann von einer Annäherung an Format und Genre des Fotoromans gesprochen werden: eine spezifische Kombination von Bildern mit Bildern oder Texten, die auf filmische Weise, also anhand von Schnittfolgen und Montagen gelesen werden kann.1 Voraussetzung eines solchen Erzählens ist, dass die abgebildeten Dinge einen Geschichtenkern haben, sogar auch die nicht abgebildeten, nur kurz beschriebenen Dinge, die so lakonisch, ja spröde daherkommen. Als »telling objects«2 regen sie an, das zu erzählen, was geschehen sein mag. Trotz aller vorliegenden Indizien und Kommentare läuft dieses Erzählen in der Perspektive der Leser/innen doch auf eine konjekturale Haltung hinaus, die vieles, vielleicht das Entscheidende nur vermuten kann. Ein Beispiel: 1320 Restaurantquittung Eine Quittung aus dem Restaurant Wallse, datiert auf den 29. August 2006. Wortlaut: »4 Grüne Veltliner, 1 Gin Martini, 1 Weißfisch-Häppchen, 1 Rote-Bete-Häppchen, 1 x Flussforelle, 1 x Schnitzel.« (Die beiden letzten Posten wurden storniert.) 13 x 9 cm / Nicht abgebildet / $ 5–153

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Auch zum Comic wären hier Verbindungen zu ziehen. Vgl. Mieke Bal: Telling Objects. A Narrative Perspective on Collecting. In: John Elsner und Roger Cardinal (Hg.): The Cultures of Collecting. London 1994, S. 97–115. Leanne Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Le-

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Nicht abgebildet, aber beschrieben ist also eine aufbewahrte Quittung, die die Stornierung von zwei Gerichten in einem angesagten Lokal in Manhattan dokumentiert: ein durchaus aufwändig geplanter, aber bereits nach der Vorspeise abgebrochener Restaurantbesuch. Aber der Indizienwert bleibt mehrdeutig: Weil die Quittung im Schlussteil des Katalogs angesiedelt ist, der zugleich das Ende der Liebesgeschichte markiert, kann hier ein schlimmer Streit zwischen Lenore Doolan und Harold Morris mitgelesen werden. Ein solches Mitlesen verdankt sich also der Platzierung bzw. Nummerierung dieses »telling objects«, denn an anderer Stelle, etwa zu Beginn der Geschichte platziert, hätte der überhastete Abbruch des Essens auch ganz andere, die Liebe befördernde Bedeutungen annehmen können. Allerdings ist die Auslegung der Indizien schon deswegen nicht vollkommen willkürlich oder allein von der Stellung in der langen Reihe des Katalogverzeichnisses abhängig, weil bereits zur Eröffnung des Buches der Text einer Postkarte – angeblich von 2008, das heißt lange nach dem Ende der Liebesbeziehung – der Liste von Losen vorangestellt wird. Auf dieser Postkarte äußert Harold sein Bedauern darüber, eine Frage von Lenore, die er zufällig wiedergetroffen hatte, nicht beantwortet zu haben: »Du [hast] mich gefragt: Hast Du jemals eine Beziehung beendet und es hinterher bereut? Ich habe nicht darauf geantwortet, aber heute wünschte ich, ich hätte gesagt: ›Ja. Die mit dir.‹«4 Offenbar hat es durchaus nachträgliche Momente des Zweifels bei Harold gegeben. Da jedoch dieser Postkartentext schon ein Jahr später im Versteigerungskatalog der Öffentlichkeit preisgegeben wird, scheint sich diese Liebesgeschichte endgültig erledigt zu haben. Doch zu ihrem offenbar unvermeidlichen Ende war es wohl kein reibungsloser Weg, wie eine Reihe von Losen andeutet, darunter beispielsweise Beziehungsratgeber oder auch, Los 1144, »ein kleiner blauer Spiralblock, in dem sich Morris während seiner Sitzungen bei D. Jay Zaretsky Notizen machte« (Abb. 3). Auf dem abgebildeten Block ist zu lesen: »04.06.04 Father – didn’t express love / Mother – too much love / work on being present / even when feel like / running away / Don’t need to solve / her problems / just listen«.5 Ein weiteres Beispiel bildet Los 1119: »Salz- und Pfefferstreuer in Dackel-Form / Ein Geschenk von Morris’ Mutter an Doolan. Unbenutzt. / Länge 8 cm / $ 10–20«.6 Solche komprimierten Erzählungen erinnern an die angeblich von Ernest Hemingway stammende Kürzestgeschichte, bestehend aus sechs Wörtern: »For sale: baby shoes, never worn.«7 Dass es gerade Dinge sind, materielle Objekte, die hier zum Geschichtenkern und zum Auslöser eines Spiels mit Leerstellen werden, ist dabei kein Zufall.8 Denn

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nore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck. Übersetzt von Rebecca Casati. Berlin 2010, S. 125. Ebd., S. 3. Ebd., S. 56. Ebd., S. 45. Leanne Shapton berichtet, sie sei von dieser Geschichte sehr beeindruckt (vgl. Johanna Adorján: Leanne Shapton. Was bleibt, wenn die Liebe geht. http://www.faz.net, 30. Januar 2010). Vgl. zum Folgenden Ulrike Vedder: Das Rätsel der Objekte. Zur literarischen Epistemologie von Dingen. In: Zeitschrift für Germanistik 1 (2012) (im Druck).

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Objekte sind zunächst von einer gewissen Autonomie gegenüber den Subjekten geprägt, von einem »Gewicht« und damit auch von einer gewissen Undurchdringlichkeit. Roland Barthes schreibt am Ende seiner Mythen des Alltags (1957): »[…] wir gleiten unaufhörlich zwischen dem Objekt und seiner Entmystifizierung hin und her, unfähig, seine Totalität wiederzugeben. Wenn wir das Objekt durchdringen, befreien wir [es], aber zerstören es, und wenn wir ihm sein Gewicht belassen, achten wir es zwar, aber geben es mystifiziert wieder.«9 Diese Spannung zwischen Deutbarkeit und Undurchdringlichkeit der Dinge greift Roland Barthes knapp zehn Jahre später in seiner Studie Semantik des Objekts (1966) wieder auf. Darin unternimmt er eine analytische Trennung und unterscheidet die von ihm so genannten »existentiellen« von den »technologischen« Konnotationen des Objekts.10 Mit den »existentiellen Konnotationen« spricht Barthes eine Objektauffassung an, nach der ein Ding »unmenschlich ist und eigensinnig, ein wenig gegen den Menschen, existiert; aus dieser Perspektive gibt es zahlreiche Entwicklungen, zahlreiche literarische Behandlungen des Objekts.«11 Die Literatur wäre demnach also der Ort eines Eigensinns und Eigenlebens der Dinge, das unabhängig von oder sogar »ein wenig gegen den Menschen« stattfindet. Demgegenüber verweisen die »technologischen« Konnotationen auf das Objekt als »das Hergestellte«, genauer als das »den Herstellungs- und Qualitätsnormen unterworfene« Objekt, das »in Millionen Kopien […] reproduziert« wird.12 Barthes zeigt aber nun, dass diese Unterscheidung nicht ein für alle Mal zu treffen ist, denn auch die technologischen Objekte sind nicht auf ihre instrumentelle Funktion zu reduzieren. Vielmehr ist immer ein sozialer und kultureller Sinn im Spiel, »der die Verwendung des Objekts übersteigt«,13 ja, kein Objekt ist frei von »einer leichten Emphase«.14 Und zudem besteht Barthes darauf, dass es im Sozialen kein Objekt außerhalb des Sinns gebe: »Sobald ein nicht signifikantes Objekt von einer Gesellschaft übernommen wird – und ich sehe nicht, wie dies nicht [geschehen] könnte –, funktioniert es zumindest als Zeichen des Insignifikanten«15 – und zugleich: als Zeichen des Realen. Die Dinge nehmen also, gerade weil sie vermeintlich bedeutungslos sind oder sich einer Bedeutungszuweisung

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Roland Barthes: Mythen des Alltags (1957). Übers. v. Helmut Scheffel. Frankfurt am Main 1964, S. 151. Roland Barthes: Semantik des Objekts (1966). In: R. B.: Das semiologische Abenteuer. Übers. v. Dieter Hornig. Frankfurt am Main 1988, S. 187–198, hier: S. 188f. Ebd., S. 188. Diese Gegenüberstellung nimmt die spätere von studium und punctum aus Roland Barthes’ Fotografietheorie Die helle Kammer insofern vorweg, als es sich in beiden Fällen um die Differenz zwischen dem, was planbar, lernbar, machbar, beherrschbar, und dem, was unberechenbar, unerreichbar, Widerfahrnis ist, handelt. Barthes: Semantik des Objekts, S. 189. Ebd., S. 191. Und er fährt fort: »[D]as ausgefallene [= ungewöhnliche] Objekt als solches liegt nicht außerhalb des Sinns; es bewirkt die Suche nach dem Sinn: es gibt Objekte, vor denen wir uns fragen: was ist das?« Später fügt er hinzu: »[A]ber letztlich hält diese Unruhe nicht an […]. Ganz allgemein gibt es in unserer Gesellschaft keine Objekte, die nicht schließlich einen Sinn liefern und sich wieder in den großen Code der Objekte [ce grand code des objets] einfügen, in dem wir leben« (ebd., S. 196).

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entziehen, die Bedeutung (den Effekt) des Wirklichen an. Damit bewegen sie sich in einer Rhetorik des Dokumentarischen, die wiederum bestimmte Formate begünstigt, beispielsweise die Registrierung und Inventarisierung von Dingen, das heißt: Dingkataloge. Sie bewegen sich aber zugleich auch in einer Rhetorik der Aneignung, wenn man an Adornos Formulierung von der Verarbeitung der »Fremdheit unserer Dingwelt zu einem besitzesfrohen Inventar aller Dinge« denkt.16 Neben das komprimierte Erzählen, das sich dem Gewicht und dem Eigenleben der Objekte verdankt, tritt also das katalogische, inventarische Erzählen, das auch in Leanne Shaptons ›Dinggeschichte‹ eine wichtige Rolle spielt. Dazu gehört die schon erwähnte Nummerierung; dazu gehören aber auch katalogisierte Objekte, die ihrerseits eine katalogische Form haben, so beispielsweise die Aufzählung des Inhalts zweier Kulturbeutel, die einerseits eine bloße Zählung darstellen (4 Haarspangen, 54 Haarklammern, 2 Nagellackfläschchen usw.), an die sich der Effekt des Wirklichen heften mag, andererseits den Ausweis eines bestimmten Lifestyle bieten, indem Markennamen von Kosmetika angeführt werden, die es wiederzuerkennen und einzuordnen gilt. Ein weiteres Beispiel für eine Katalogisierung der Inventarisierung innerhalb des Katalogs sind die diversen Lose mit Büchersammlungen, deren einzelne Exemplare akribisch aufgelistet sind: Sammlungen von Fotobüchern, Kochbüchern, Lieblingsbüchern, Belletristik, Gedichtbänden, erotischen Büchern, Ratgebern, Dubletten. Würde man den genannten literarischen Buchtiteln – von Virginia Woolf, W. H. Auden, Henry James, Thomas Bernhard u. v. m. – weiter nachgehen, ließe sich die interne Reflexion der im Katalog praktizierten Erzähltechniken noch weitertreiben. Aber auch die vielfältigen Listen, die vor allem Lenore führt, fungieren nicht nur als Einblicke in ihre Alltagsbewältigung, sondern auch als Abbreviaturen jener Schreibweise, deren Teil sie sind. Dazu gehört die an Mädchen-Pubertäts-Listen gemahnende Aufzählung von Männernamen (Los 1116, darunter interessanterweise ein Fragezeichen) ebenso wie die Song-Listen der füreinander gebrannten Musik-CDs (aus der ersten Zeit der Beziehung, Los 1022, 1044), aber auch listenförmige Kalendereinträge, wie etwa der vom 13. März 2003: Latte mit fettarmer Milch / Sushi / zwei Äpfel / Cheeseburger / Kaffee mit fettarmer Milch / Chinesisches Essen / Mich entschuldigen / Rezept für Cheddar-Zwiebel-Tarte / Ideen für Geschichten: Backen in Kriegszeiten, Karottenpudding / Beinahe-Streit wegen Wasserflasche.17

Solche Listen – Registrierungen eines ›heute‹ Gegessenen, Gedachten, Geplanten – legt Lenore andauernd an. Die eben zitierte zeichnet sich nicht nur durch die Heterogenität des Registrierten aus, sondern auch durch den Ort bzw. das Medium der Aufzeichnung: »Ein Kalender (je eine Seite pro Tag) für das Jahr 2003 von Smythson of Bond Street«.18 Die Aufzeichnungen tragen also jeweils den Index einer Gegenwart, der zugleich ein historisch markierbarer Index ist. Fragt man nach der erzählerischen Leistung solcher

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Theodor W. Adorno: Wirtschaftskrise als Idyll. In: Th. W. A.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 11: Noten zur Literatur. Frankfurt am Main 1974, S. 637–639, hier: S. 639. Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke, S. 19. Ebd.

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Aufzeichnungen, so fasst dieser Index die aufgelisteten Notizen als Momente eines ›im Moment vergehenden Lebens‹, dem gerade durch diese Vergegenwärtigung jene »Lebensverhältnisse mit Perspektive« fehlen – wie Rainald Goetz sie in Abfall für alle (1999) genannt hat –, die allererst »Geschichte, Zukunft, Gehaltensein und Richtigkeit und Güte, Wärme und Vernunft« ergeben würden.19 Vielleicht im Wissen darum legt Lenore auch Listen an, in denen Vorzüge und Nachteile des Geliebten kritisch aufgeführt werden – und die so ein mögliches Ende der Liebesgeschichte schon zeitig ankündigen, beispielsweise die relativ frühe Losnummer 1105 (Abb. 4). Dieses Objekt sieht eher wie Abfall aus, ein zusammengefaltetes, im Nichts liegendes Blatt Papier, das erst durch den Katalogtext als »Eine handgeschriebene Liste […] fünffach gefaltet«20 erläutert wird und eben jene Pros und Kontras enthält, die Lenore zur Einschätzung Harolds aufgelistet und offenbar immer in der Tasche gehabt hat.

Abb. 4

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Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt am Main 1999, S. 328. Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke, S. 41.

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Nimmt man alle Lose zusammen – zu denen übrigens auch solche zählen, die kurz vor der Versteigerung zurückgezogen wurden, warum auch immer –, so ergibt sich ein Inventar von sachlich fotografierten und knapp beschriebenen Objekten: Dinge ohne großen materiellen Wert, mit Gebrauchsspuren als Zeichen der individuellen Aneignung, aufgeladen mit Zeit, Gefühlen, einer Geschichte. Dabei geht es aber nicht um eine Arbeit am Archiv, und es gibt auch keine Referenz auf ein Museum, sondern: auf ein Auktionshaus. Demnach soll die Sammlung nicht archiviert werden, sondern aufgelöst, verstreut, in Geld umgesetzt – versammelt nur mehr im Auktionskatalog. Denn wenn ganze Sammlungen eines Besitzers auf einer Auktion versteigert werden, stellt der Katalog oft den ersten Überblick her, die Gesamtschau bzw. die zusammenhängende Ordnung, während er zugleich als gedrucktes Inventar auch die letzte Darstellung des Bestands bildet, bevor er an verschiedene neue Besitzer verkauft wird. Oft handelt es sich dabei um Nachlässe. Hier allerdings ist kein Mensch gestorben, sondern eine Liebe, deren Hinterlassenschaften nun zum Verkauf stehen: in einem Auktionskatalog, der als Informations- und Werbebroschüre für die angebotenen Objekte fungiert, auf billigem Papier und in schlechter Fotoqualität gedruckt, kein aufwändiger repräsentativer Bildband, sondern seinerseits ein Gebrauchsgegenstand. Dieser Gebrauchstext erfasst und ordnet, zeigt und beschreibt die Dinge, und nicht zuletzt taxiert er sie hinsichtlich ihres Schätzwertes. Die in Auktionskatalogen enthaltenen Angaben sind üblicherweise: zunächst die Losnummer; dann Angaben zu Autor/-in, Künstler/-in oder eine ähnliche Einordnung; auf den Titel oder die Beschreibung des Objekts folgen die Datierung und die Nennung der Materialien und Maße; anschließend Zusatzangaben wie etwa der Name des Verkäufers, die Provenienz oder Hinweise auf Ausstellungen, in denen das Objekt gezeigt wurde; dann wird der Zustand des Objekts beschrieben und schließlich der Schätzpreis angegeben, der auch auf die Rezeptionsgeschichte von Objekten hindeuten kann. Abbildungen sind in heutigen Auktionskatalogen eigentlich immer vorhanden, während historische Kataloge ganz ohne Illustrationen auskamen, und fungieren deshalb manchmal als einzige Bildquelle für zu erforschende (Kunst-)Gegenstände: sei es, weil diese in Privatbesitz sind und damit für die interessierte Öffentlichkeit unsichtbar, sei es, dass sie zerstört wurden oder verschollen sind. Andersherum kann durchaus ein bisher namenloses Objekt für den Zweck der Auktion seine kunsthistorische Einordnung erhalten, die qua Katalog publiziert wird, und so eine Aufwertung erfahren.21 Leanne Shaptons Katalog folgt getreulich diesem Format und seinen Techniken. Es handelt sich um ein Fake, das zur Simulation von Authentizität zum einen sich der Form des Auktionskatalogs bedient und zum anderen auf die Banalität der zu versteigernden Objektwelt eines letztlich gewöhnlichen Liebespaares setzt. Außerdem wird die fotografische Abbildung aller Lose ganz in den Dienst der Wirklichkeitsbeglaubigung gestellt.

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Zu Aufbau und Funktion von Auktionskatalogen vgl. Friederike Sophie Drinkuth: Der moderne Auktionshandel. Die Kunstwissenschaft und das Geschäft mit der Kunst. Köln 2003, S. 76–112.

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Zwar bleibt unklar, ob die Versteigerung jemals stattfinden wird, aber die bloße Ankündigung entspricht jedenfalls allen formalen Anforderungen, die ein Auktionskatalog mit sich bringt. Insgesamt erinnert die künstlerische Aktion der Veröffentlichung dieses Kataloges stark an jene Vorgänge innerhalb und außerhalb der künstlerischen Sphäre, die durch bloße Aufmerksamkeitserregung einen bestimmten Effekt zu erzielen trachten: die in Shaptons Titel »important artifacts« genannte »importance«. Diese »importance« aber kann sich nur als Selffulfilling Prophecy realisieren: Nur wenn es viele Käufer/-innen respektive Leser/-innen gibt, wird diese Aktion ein Erfolg, ein bedeutendes Ereignis gewesen sein. Und erst dadurch würden die vermeintlich zur Versteigerung angebotenen Objekte ihren Wert realisieren. Der eigens für die titelgebenden »persönliche[n] Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris« erstellte Katalog ist eines der Mittel zur Realisierung des Zwecks, Aufmerksamkeit und vielleicht Wertschätzung für die zu versteigernden Güter zu erregen. Schon der Vorgriff des Katalogtitels auf die Bezeichnung »Sammlung« kategorisiert die rubrizierten Versteigerungsstücke als besondere Dinge: als etwas, das ausgewählt und behalten, vielleicht gepflegt, sortiert, erforscht wurde. Diese Strategien der Aufwertung können sich auf Beliebiges richten und sind deshalb geeignet, noch das Alltäglichste und Gewöhnlichste hervorzuheben. Andy Warhol – Kunstproduzent, Promoter und Sammler in einer Person – hat bekanntlich das Begehren der Subjekte in der Mediengesellschaft formuliert, für 15 Minuten Ruhm zu erlangen. Eine der berühmtesten Sammlungsversteigerungen war sicherlich die von Andy Warhols Nachlass, der im Jahr 1988 fast 3500 Objekte umfasste: von Kunstwerken von Picasso, Munch und Cy Twombly bis hin zu Keksdosen und Badetüchern mit Miss-Piggy-Motiv. Allein die Inventarisierung des überfüllten Esszimmers in Warhols New Yorker Haus dauerte drei Monate.22 Ein fünfbändiger Sotheby’s-Auktionskatalog versammelte zum letzten Mal The Andy Warhol Collection (New York 1988), bevor die Lose in alle Richtungen verstreut wurden (Abb. 5). Diese geballte Aufmerksamkeitserregung hätte Warhol bestimmt gefallen – wenn sie auch den Nachteil des Posthumen hatte. Im Unterschied aber zu diesem und vielen anderen Auktionskatalogen ist Leanne Shaptons Katalog auf dem eben umrissenen Feld zwar symbolisch platziert, doch es findet ja keine Versteigerung statt, zumindest ist sie nicht Teil des Buches.23 Vielmehr wird durch den Katalog der Anspruch auf »importance« selber zur Schau gestellt und ironisch gebrochen. Darüber hinaus tritt der Auktionskatalog bei Shapton als Erzählinstanz auf, die die Dinge erfasst und ordnet, ihnen ihre Bedeutung zuweist, die einzelnen Lose durch Bild

22 23

Vgl. ebd., S. 103. Die nicht stattfindende Auktion erinnert an Thomas Pynchons Roman The Crying of Lot 49 (1966), wo die das Rätsel des Textes hoffentlich auflösende Versteigerung der Sammlung gefälschter Briefmarken wenn überhaupt, dann erst nach dem Ende des Romans geschehen wird. Zum Modus von Zirkulation und Abfall in diesem Roman vgl. Ulrike Vedder: L’homme poubelle. Über den Müll in der Literatur (Thomas Pynchon, Unica Zürn). In: Katharina Baisch u. a. (Hg.): Gender Revisited. Subjekt- und Politikbegriffe in Kultur und Medien. Stuttgart/Weimar 2002, S. 117–130.

210

Ulrike Vedder

Abb. 5a

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Auktionskatalog, Fotoroman, Liebesinventar

Abb. 5b

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Ulrike Vedder

und Text auszeichnet und untereinander verknüpft, sie in der Nummerierung und damit in einer chronologisch organisierten Erzählrichtung platziert. Denn die abgebildeten Objekte folgen der Chronologie einer Liebesgeschichte mit ihren Stationen Begegnung, Akzeleration, Entfernung, Trennung; erst dadurch erhalten die Objekte ihren jeweiligen Status, sei es als magisches Objekt des Kennenlernens, sei es als verdächtiges Indiz der Entfernung voneinander. Diese Erzählrichtung im Genre des Katalogs versteht sich nicht von selbst, werden doch Losnummern in Auktionskatalogen zwar durchaus auch nach dem Kriterium der Chronologie vergeben, oft aber auch mit strategischem Blick für eine verkaufs- und wertoptimierende systematische Verteilung der ›Glanzstücke‹ auf die gesamten Losnummern, ohne Rücksicht auf Chronologie.24 Das geschieht hier nicht, so wie auch die Frage des Wertes bei Shapton trotz der obligatorischen Schätzwertangaben am Ende jedes Eintrags keine rein ökonomische Perspektive öffnet. Geht mit der Versteigerung und Veröffentlichung der Sammlung deren Aufwertung oder deren Entwertung einher? Immerhin werden die alltäglichen Gebrauchsdinge, Notizen, Schnappschüsse nicht weggeworfen, sondern mit gewissem Aufwand gesammelt, beschrieben, taxiert, angeboten. Doch die emotionale Aufgeladenheit der Gegenstände, die diese erst im Kontext des die Liebesgeschichte erinnernden Auktionskatalogs erfahren, kollidiert zugleich mit jener »Rohheit des Veräußerns« (Uwe Wirth), die diese Liebesgeschichte mit den Dingen als ihren intimen Ingredienzien von Beginn an skandalisiert. Das hat damit zu tun, dass jede Wertangabe das Bewertete einem Vergleich aussetzt,25 obwohl doch der Liebesdiskurs auf die Unvergleichlichkeit seiner Protagonisten wie auch deren jeweiliger Geschichte setzt.

3.

Fotoroman

Leanne Shaptons Buch lässt sich auch als ein Fotoroman lesen, der einerseits eine Fülle von Fotos der beiden Liebenden archiviert – motiviert über den Protagonisten Harold, der Fotograf ist, wodurch zugleich die Fotosammlung und damit der Katalog wiederum authentifiziert werden – und andererseits die angebotenen Objekte in Form von Fotografie und Kurztext dokumentiert. Die Aufteilung der Seiten – unterschiedlich große Fotos, versehen mit kurzen Texten – erinnert durchaus an das typische Layout herkömmlicher Fotoromane. Im Unterschied zu den populären und trivialen Fotoromanen werden hier den Figuren zwar weder Redebalken noch Sprechblasen verpasst, doch häufig werden Notizen der Figuren zitiert, die sie ›zum Sprechen bringen‹. Zudem sind die zur Versteigerung angebotenen Fotos zum Teil so szenenhaft, dass eine Betextung der abgebildeten

24 25

Vgl. Drinkuth: Der moderne Auktionshandel, S. 81. »Prekär ist all dies nur deswegen, weil der Wert und die ihm zugrunde liegende Praxis des Vergleichs in der Tat differenzlos ansetzt. Das heißt, es gibt schlechterdings nichts, was dem Vergleich entzogen und der Bewertung vorenthalten werden könnte. Der Begriff hat keinen Gegenbegriff.« (Dirk Baecker: Worin besteht der Wert des Wertes? In: Susanne Anna, Wilfried Dörstel und Regina Schultz-Möller [Hg.]: WertWechsel. Zum Wert des Kunstwerks. Köln 2001, S. 11–25, hier: S. 15.)

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Figuren leicht fallen würde: wenn etwa ein Party-Schnappschuss das Paar zeigt, wie es bei Lenores Kollegen zu Gast ist, wie Lenore mit ihren Kolleginnen redet, während Harold sich abwendet und inmitten der Party Zeitung liest. Zudem ist es typisch für die Gattung Fotoroman, dass komplette Geschichten erzählt werden, so wie auch hier der Erzählbogen vom Beginn bis zum Ende der Liebe reicht. Während aber in populären Fotoromanen kein Zweifel über den Zusammenhang zwischen zwei aufeinanderfolgenden Fotos besteht, ist dieser Zusammenhang bei Leanne Shapton zwar qua Abfolge im Buch und Nummerierung nahegelegt, bleibt aber unausgesprochen und weiter nicht begründet. Das führt dazu, dass das Entdecken einer zunehmenden Entfernung der Liebenden voneinander den Leserinnen und Lesern überlassen bleibt. Zudem beinhalten die Bilder im Fotoroman bedeutsame, zeichengesättigte Anhaltspunkte, damit die Betrachter/-innen klischeegemäß zum Beispiel Beziehungen zwischen den Charakteren erschließen können, so wie auch die einzelnen Fotos sich meist auf einen Augenblick konzentrieren, der über das unmittelbare Jetzt hinausweist – etwa eine entscheidende Situation oder Ähnliches – und so eine Zeitstruktur, wie sie eine herkömmliche Narration braucht, schon andeutet. Demgegenüber zeigt Shaptons Fotoroman einfache Objekte, die ohne den Kontext des Textes mehr oder weniger aussagelos sind. Fotoromane erscheinen seit 1947, zuerst in Italien, kurz danach in Frankreich, meist als Liebesromane, manchmal auch als Kriminalgeschichten. Sie gehen auf die sogenannten cineromanzi zurück: Kino- oder Filmromane, die mit Texten versehene Filmstills abbilden, mit deren Hilfe auch Provinzbewohner/-innen ohne Kinozugang die neuesten Filme ›sehen‹ konnten.26 Bis heute sehr populär, erreichten Fotoromane ihren höchsten Verbreitungsgrad wohl schon in den 1950er Jahren: Die einschlägige französische Zeitschrift Nous deux erschien Mitte der 1950er Jahre in einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren. Das Produktive dieser populär-reproduktiven Low-Gattung zeigt sich in ihren ›Anti‹-Repräsentationen. Dem klischeebehafteten trivialen Fotoroman sind beispielsweise immer wieder politisierte Fotoromane entgegengesetzt worden, wenn etwa Guy Debord und die Situationisten Anfang der 1970er sich das Genre und seine massenmediale Verbreitung zunutze machten, indem sie die Texte geläufiger Fotoromane durch politische Botschaften subvertierten. Und auch explizit künstlerische Fotobücher nutzen das Genre als Grundlage ihrer ästhetischen Experimente. Ein interessantes Beispiel bietet der Band Droit de regards (Recht auf Einsicht) der Fotografin Marie-Françoise Plissart, der 1985 mit einem Nachwort von Jacques Derrida erschienen ist. Darin erzählen allein Fotografien eine vielschichtige Geschichte, die ohne Texte bleibt, jedoch nicht ohne Selbstkommentar oder Selbstreflexion. Denn immer wieder wird mit Genre, Medium, Blicklenkung, Rahmung und Narration gespielt, indem die Entstehung der Fotografien und beispielsweise ihre Hängung im Interieur diverser Wohnungen in die qua Fotografie erzählte Geschichte intervenieren. So wird zunächst eine Liebesszene zwischen zwei Frauen zu sehen gegeben. Als eine der Frauen das Haus verlässt, wird sie von einer Fotografin aufgenommen, in deren Haus sie die von den Leserinnen und Lesern

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Zur Geschichte des Genres vgl. Ulrike Schimming: Fotoromane. Analyse eines Massenmediums. Frankfurt am Main u. a. 2002, S. 26–57.

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Ulrike Vedder

zuerst gesehenen Fotografien des weiblichen Paars an der Wand aufgehängt fi ndet. Eine weitere Sequenz zeigt die Fotografi n beim Anblick eines gerahmten Fotos an der Wand, das ein Paar in einem Raum präsentiert, das wiederum – im Bild – von der ersten Frau durch den Türrahmen betrachtet wird. Es folgen etliche Seiten mit Fotos eines Streits dieses Paars, und die Sequenz schließt ab mit einem neuerlichen Foto des an der Wand hängenden gerahmten Bildes, das nun aber das letzte Bild des Streits zeigt. Aus Jacques Derridas Nachwort – gestaltet in Form eines mehrstimmigen Gesprächs über die Deutungsmöglichkeiten dieses Fotoromans – seien hier zwei Überlegungen angeführt, zunächst eine zum ›Lesen‹ der Geschichte aus Bildern: Alles was Du sagen wirst, verweist zurück auf das, was zu sehen bleibt: Photographien, die dazu da sind, angeschaut zu werden, und damit basta. Und Photographien von Photographien, und so weiter, der Möglichkeit nach ins Unendliche.

Doch eine andere Stimme widerspricht dieser Einschätzung: Aber genau dieser unergründliche Einschluß […] appelliert an den Diskurs, er erfordert die Lektüre. Diese Bilder, Szenen und Photogramme fordern dazu auf, zu entziffern […], und an die Stelle des Voyeurismus tritt die Exegese. Und die Interpreten können nur lesen […], indem sie sich Geschichten erzählen […]. Du mußt, Du mußt Dir diese Geschichten erfinden, wenigstens innerhalb der Grenzen, die durch die Anordnung auferlegt sind.27

Eine zweite Überlegung Derridas gilt der Gattung des herkömmlichen trivialen Fotoromans, die hier »noch zitiert, in Erinnerung gerufen, parodiert, vor allem verraten« wird, und von der es heißt, wenn in ihr der Autor, der Erzähler oder die Figur spricht, hat das Sichtbare nur noch einen einzigen Sinn […], der Faden des Labyrinths wird festgehalten, die Erzählung vermag nur einer Bahn zu folgen. […] Die im [herkömmlichen] Photo-Roman gegebene Rede reduzierte jedes Bild auf seine Rolle als Illustration für einen einzigen Sinn.28

Der andere Umgang mit Bildern in Marie-Françoise Plissarts Recht auf Einsicht, der sich beispielsweise durch die Reflexion des ›Wer blickt?‹, ›Wer darf blicken?‹, ›Wer fixiert?‹, ›Wer montiert?‹, ›Wer posiert?‹ auszeichnet, hat unter anderem damit zu tun, dass die fotografierten Personen Bildbetrachter/-innen oder eben Fotografinnen bzw. Fotografen sind – so wie auch Harold in Leanne Shaptons Fotobuch ein Fotograf ist, der nicht nur den Wirklichkeitscharakter des Auktionskataloges verstärkt, weil sein Beruf die Fotografien im Katalog motiviert, sondern der auch, wie eben mit Derrida gesehen, die Gattung Fotoroman ›verraten‹ hilft. Im Unterschied jedoch zu allen genannten Spielarten dieser Gattung sind es bei Leanne Shapton nicht die porträtierten Figuren, sondern die Dinge, die als die eigentlichen Agenten der Liebesgeschichte auftreten. Weil Dinge aber nicht völlig in die Vergegenständlichung eingehen und den ihnen zugeschriebenen Funktionszusammenhän-

27 28

Jacques Derrida: [ohne Titel]. In: Marie-Françoise Plissart: Recht auf Einsicht. Übers. v. Michael Wetzel. Wien 1985, S. I–XXXII, hier: S. V. Ebd., S. VII.

Auktionskatalog, Fotoroman, Liebesinventar

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gen – innerhalb derer Martin Heidegger sie das Zuhandene, das Zeug nennt – nicht entsprechen,29 bildet Dinglichkeit einen Widerstandspol bzw. einen Bereich des Entzugs, wo Bestimmungen nicht greifen und wo das ›Eigenleben‹ der Dinge einsetzt, das die Grundlage ihrer immer neuen Umwertungen und Sinngebungen darstellt.

4.

So ist es gewesen

Der Dichter der Dinge, Adalbert Stifter, ist für seine Schreibweise des Aufzählens und Inventarisierens bekanntlich sehr kritisiert worden, etwa von Friedrich Hebbel: »Zuerst begnügte er sich, uns die Familien der Blumen aufzuzählen, die auf seinen Lieblingsplätzen gedeihen; dann wurden uns die Exemplare vorgerechnet, und jetzt erhalten wir das Register der Staubfäden.«30 Wenn Hebbel dann süffisant folgert: »Ein Inventar ist ebenso interessant«,31 so trifft er damit genau Stifters Schreibweise, deren Qualität freilich nach der Moderne in ganz anderer Weise gewertet werden kann. Und so ließe sich in Analogie zum poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts – und zugleich im Bewusstsein der medialen, ökonomischen und kulturellen Umbrüche seither – formulieren, dass es in Leanne Shaptons Projekt um das Evozieren einer Geschichte geht: darum, anhand banalster, massenhafter oder auch kaputter Dinge das Inventar einer Liebesgeschichte zu erstellen – ›Was bleibt?‹ oder ›Was bleibt sichtbar?‹ Doch mehr noch: Es geht auch um die Wirklichkeit, die im Inventar dokumentiert und garantiert werden soll. Und dies umso mehr in einem Inventar der Dinge, die für das Reale einstehen sollen, wie Roland Barthes’ Semiotik des Objekts anregt. Und dies noch einmal mehr in einem Inventar fotografierter Dinge, wenn man Barthes’ fototheoretischen Referenzbegriff hinzunimmt, der jeder Fotografie die »Emanation des Referenten« zuschreibt, das »So ist es gewesen«32 – oder zumindest ein »Es ist etwas gewesen«. Das sagt auch dieser Katalog. Er führt zudem vor, mit welchen künstlerischen Strategien der Wirklichkeitsbehauptung hier gearbeitet wird, die den Leserinnen und Lesern eine kritische Perspektive eröffnen, nicht zuletzt auf die Umwertungsstrategien zwischen low und high und low: die Umwertung einfachster Alltagsgegenstände und idiosynkratischer Erinnerungsstücke zu Objekten einer hochkulturellen künstlerischen Arbeit, die wiederum mit den gängigen Medienformaten banaler ökonomischer Verwertungsmechanismen arbeitet: Auktionskatalog und Fotoroman.

29 30 31 32

Vgl. Gisela Ecker, Claudia Breger und Susanne Scholz (Hg.): Dinge. Medien der Aneignung, Grenzen der Verfügung. Königstein im Taunus 2002. Leipziger Illustrierte Zeitung v. 4. September 1858. Zit. n. Urban Roedl: Adalbert Stifter in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1965, S. 150. Ebd. Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie [1980]. Übers. v. Dietrich Laube. Frankfurt am Main 1989.

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Ulrike Vedder

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Leanne Shapton: Bedeutende Objekte und persönliche Besitzstücke aus der Sammlung von Lenore Doolan und Harold Morris, darunter Bücher, Mode und Schmuck. Übers. v. Rebecca Casati. Berlin 2010, S. 29. Abb. 2: Ebd., S. 94. Abb. 3: Ebd., S. 56. Abb. 4: Ebd., S. 41. Abb. 5: Sotheby’s: The Andy Warhol Collection (23. April – 3. Mai 1988). Sale 6000. 5 Bde. New York 1988.

Thomas Wegmann

So oder so Die Liste als ästhetische Kippfigur

Weil es offenbar keine Kunst ist, Substantive und Namen aufzuzählen, sorgen Listen in der Kunst häufig für Irritationen. Das gilt beispielsweise, wenn ein literarischer Text zum größten Teil aus der Aneinanderreihung wenig aussagekräftiger Nachnamen besteht: WABRA LEUPOLD LUDWIG MÜLLER STAREK

STREHL

POPP

WENAUER

BRUNGS

BLANKENBURG

HEINZ MÜLLER

VOLKERT

Spielbeginn: 15 Uhr1

Mit diesen Namen dürften die wenigsten ihrer Leser mittlerweile noch etwas verbinden, hätte Peter Handke sie nicht unter dem Titel Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968 in seinem Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (1969) publiziert.2 Es handelt sich um die Namen von historisch verbürgten Fußballspielern eines Bundesligavereins, der an jenem 27. Januar 1968 ein Pokalspiel gegen Bayer 04 Leverkusen bestritt. Schon in der zeitgenössischen Rezeption als »rein sprachlicher Pop«3 wahrgenommen, wird Handkes Text auch in der gegenwärtigen Forschung meist als Poème trouvé oder literarisches Readymade diskutiert, das »sich in Hinblick auf seine manifes-

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3

Peter Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt am Main 1969, S. 59. Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption des Bandes Christel Terhorst: Peter Handke. Die Entstehung literarischen Ruhms. Die Bedeutung der literarischen Tageskritik für die Rezeption des frühen Peter Handke. Frankfurt am Main 1990, S. 198–206. Zwar weist der überwiegende Teil der Rezensionen eine positive Tendenz auf – man war Provokationen bei Handke schließlich schon gewohnt –, doch mancher Kritiker zeigte sich ob des neuen Bandes durchaus irritiert, wie etwa Peter Bautz in der Stuttgarter Zeitung: »Fast nichts eingefallen ist mir nach der Lektüre von Handkes pop-gefärbter Kurzwarensammlung (vornehmlich Gedichte) mit dem bedeutungsschweren Titel ›Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt‹.« (Zit. n. ebd., S. 205.) Vgl. zur Aufstellung selbst ausführlich Volker Bohn: Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968. In: Peter Handke. Hg. v. Raimund Fellinger. Frankfurt am Main 1985, S. 92–113. Henning Falkenstein: Peter Handke. Berlin 1974, S. 58. Falkenstein bezieht sich auf das von Marcel Duchamp in die bildende Kunst eingeführte und von Vertretern der Pop-Art rekapitulierte Verfahren, vorgefundene Gebrauchsgegenstände aus ihrer gewohnten Umgebung zu lösen und unverändert in den Bereich der Kunst zu überführen.

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Thomas Wegmann

ten Eigenschaften nicht von einer Ankündigung, wie sie im Sportteil der Tageszeitung aufgetaucht ist (oder auftauchen kann)«, unterscheide.4 Doch während Gebrauchstexte bestimmte Darstellungsformen einfach verwenden, biete Handkes Aufstellung, so etwa Tilmann Köppe, durch ihre konzeptuelle Rahmung, die Texte in Werke und damit NichtKunst in Kunst transformiere, einen Kommentar über ebendiese Darstellungsformen an. Der im Wortlaut gleiche Text kann somit in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Funktionen erfüllen, zwischen einem nichtkünstlerischen und einem künstlerischen Status changieren. Dem ist hinzuzufügen, dass Handkes Aufstellung sich nicht nur metaisierend zu ihrem vermeintlich oder tatsächlich vorausgegangenen Gebrauchstext verhält, sondern gleichzeitig in neoavantgardistischer Manier auch das Ausloten und Überschreiten literarischer Gattungsgrenzen evoziert – und dabei nicht zuletzt die Frage nach dem Verhältnis von eigenem und fremdem Text5 sowie von high und low aufwirft. Denn produktionsästhetisch greift Handke zunächst auf die »damals als ›trivial‹ geltende[n] Phänomene der Unterhaltungskultur«6 – in diesem Fall auf ein Fußballspiel – sowie auf Elemente der Massenmedien – in diesem Fall auf eine vorgeblich oder tatsächlich in der Zeitung annoncierte Mannschaftsaufstellung – zurück, die er alsdann in einen Band transformiert, der erstens einen sperrigen und enigmatischen Titel trägt und zweitens in einem Verlag erscheint, der in der Nachkriegszeit geradezu zum Synonym textbasierter Hochkultur geworden ist. Neben solchen Transformationsakten, auf die noch zurückzukommen sein wird, lässt sich Handkes Aufstellung als ein Artefakt des Enumerativen begreifen, als eine Art Listengedicht,7 das in erster Linie aus einer Aufzählung von Namen besteht. Als ein solches wiederum hätte es vermutlich bei einem Knut Hamsun ähnlich zwiespältige Re-

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Tilmann Köppe: Autor und Interpretation? Ein analytischer Beitrag zur Diskussion um den ›Tod des Autors‹. In: IASL Diskussionsforum online. Der Autor: Historische Modelle und systematische Perspektiven. Ltg. Fotis Jannidis u. a. http://iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/koeppeforum.html (1. Juli 2010). Der ›frühe‹ Handke gestaltete seine Lesungen zu Happenings aus, wobei es vorkommen konnte, dass er einen Text vorlas, den er tags darauf als gar nicht von ihm selbst stammend deklarierte. Vgl. dazu Georg Pichler: Die Beschreibung des Glücks. Peter Handke. Eine Biographie: Wien 2002, S. 79. Herwig Gottwald und Andreas Freinschlag: Peter Handke. Wien u. a. 2009, S. 79. Gerade auch in der zeitgenössischen Rezeption wurde Handkes ebenso intensive wie eher affirmative Behandlung und Integration der Populärkultur in seinen frühen Werken als gleichermaßen signifikant wie innovativ herausgestellt: »Die Objekte des Massenvergnügens, die wir zusammenfassend als Popularkultur bezeichnen wollen, finden breites Interesse, werden zum gründlich ausgewerteten Sujet, und sie werden gelegentlich sogar – wie sich im Falle Handke andeutet – zum Gegenstand der Verehrung und Bewunderung.« Helmut Schmiedt: Peter Handke, Franz Beckenbauer, John Lennon und andere Künstler. Zum Verhältnis von Popularkultur und Gegenwartsliteratur. In: Text + Kritik 24/24a: Peter Handke. 4. Aufl. München 1978, S. 87–114, hier: S. 88. Zwar verfügt der Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt selbst über keine Gattungsbezeichnung, doch weist Friedrich Torberg in seiner Rezension darauf hin, dass »Pressemitteilungen und Fußnoten zu Vorabdrucken« die Texte des Bandes als »Gedichte« deklariert hätten – eine Klassifikation, die auch weite Teile der Forschung bis heute übernommen haben (Friedrich Torberg: Ob Handke will oder nicht: er ist ein Dichter. In: Die Welt v. 27. März 1969).

So oder so

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aktionen ausgelöst wie seinerzeit die Texte von Walt Whitman, der die Ästhetik der Liste nachhaltig in die moderne Lyrik eingeführt hatte – und damit genauso für Irritationen sorgte wie ein Adalbert Stifter mit seiner Prosa des Aufzählens und Inventarisierens.8 Über Whitman jedenfalls befand Hamsun 1889, dass er stets ankündige, diesen oder jenen Gegenstand zu »besingen«, ihn am Ende aber doch nur ganz naiv beim Namen nenne: Walt Whitmans Naivität ist so unvorstellbar groß, daß sie schon wieder bestechend wirken […] kann […]. Seine Tabellendichtung, dieses unmögliche Herunterleiern von Personen, Staaten, Hausgeräten, Werkzeug, Kleidungsstücken ist wahrhaftig die naivste Dichtung, mit der die Literatur bisher bereichert worden ist, und wäre sie nicht aus einer naiven Brust gesungen, wäre sie ganz gewiß niemals gelesen worden. Denn sie verrät auch nicht einen Funken von dichterischem Talent. Wenn Whitman etwas besingt, sagt er gleich in der ersten Zeile, daß er diesen oder jenen Gegenstand besingt – in der nächsten besingt er bereits einen anderen und in der dritten einen dritten –, und das alles, ohne mehr zu tun, als den Gegenstand zu nennen. Er weiß nicht viel mehr von ihm als seinen Namen; aber er weiß viele Namen – daher all die begeisterten Namensaufstellungen.9

Whitman wiederum gilt mit seinem ästhetischen Verfahren auch als Vorbild für einige ›Beat Poets‹, für Allen Ginsbergs französische Dichternamen im Früh- und indische Götternamen im Spätwerk etwa, aber auch für Andy Warhols hyperrealistische Aufzählung von Softdrinks in seinem Buch America (1985), auf die ebenfalls noch zurückzukommen sein wird. Überhaupt scheint die Liste im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verstärkt Einzug in die Literatur gehalten zu haben, denn »Listen und Listenverwandtes gibt es zum einen bei den Kern-Autoren der Pop-Literatur der 60er Jahre«,10 es gibt sie mit anderen Worten bei Brinkmann, bei Fichte, bei Handke, bei Fauser, aber auch bei Autoren wie Georges Perec oder Italo Calvino, bei Jorge Luis Borges oder Julian Barnes. Und auch die aktuelle deutschsprachige Gegenwartsliteratur weist vor allem in ihren dem Popkontext zugeordneten Spielarten eine hohe Affinität zu Listen auf, die man bei Benjamin von Stuckrad-Barre genauso findet wie im ›Suhrkamp-Pop‹ von Rainald Goetz, Thomas Meinecke oder Iris Hanika, um nur einige Namen zu nennen. StuckradBarre etwa listet in seinem Band Remix (1999) »Fahrradläden in Studentenstädten« auf, »die wirklich so heißen«: »[…] Gegenwind / Stadtrad / Sattelfest / Fahr Rad Laden / Rad ab / Kein Rad au / Fahr Rad (ich dir) / Fahrraden & Verkauft / Radelführer / Zentralrad / Fahrradies«.11 Nun ließe sich dieser Beitrag problemlos mit der Auflistung mehr oder weniger illustrer literarischer Listen füllen; stattdessen soll jedoch gefragt werden: Was hat es mit der auffälligen Affinität zur Liste gerade innerhalb der Literatur der letzten vierzig Jahre auf

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Vgl. zu Friedrich Hebbels süffisanter Kritik an Stifters Ästhetik des Enumerativen den Beitrag von Ulrike Vedder in diesem Band. Knut Hamsun: Amerika. Kritische Schriften. Hg. v. Tore Hamsun. München u. a. 1981, S. 96. Diedrich Diederichsen: Liste und Intensität. In: Abfälle. Stoff und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60er Jahre. Hg. von Dirck Linck und Gert Mattenklott. Hannover 2006, S. 107–123, hier: S. 110. Benjamin von Stuckrad-Barre: Remix. Köln 1999, S. 258.

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Thomas Wegmann

sich? Was gewinnt Kunst mit Listen? Sind sie nicht enervierend, weil in ihnen ästhetisch meist wenig Aufregendes passiert und sie eigentlich ganz anderen, nämlich unkünstlerischen Dingen dienen? Genau das wird in Wolf Haas’ metafi ktionalem Roman Das Wetter vor 15 Jahren (2006), der einzig aus einem Gespräch zwischen der Autorfigur ›Wolf Haas‹ und einer sogenannten ›Literaturbeilage‹ über den letzten Roman dieses Wolf Haas mit dem Titel ›Das Wetter vor 15 Jahren‹ besteht, zumindest von einem der beiden Gesprächspartner insinuiert: Literaturbeilage Diese Aufzählung von Dingen, das geht ja über Seiten: Die Bosch-Bohrmaschinen, die Carrera-Rennbahn, die Remington-Trockenhauben, die Olivetti-Schreibmaschinen, die Braun-Rasierapparate, die Allibert-Badezimmerschränkchen, die Radios von Philips […]. Das klingt ja, als wäre das Warenlager eines Großkaufhauses explodiert. Wolf Haas Davon handelt das Buch doch. Dass so viele Sachen übrig bleiben, wenn ein Mensch stirbt. […] Ich hab mir ja die Liste organisiert vom Gemeindebeamten, der für die Aufräumarbeiten zuständig war. Literaturbeilage Wolf Haas

Sie haben einfach alles aufgezählt?

Ja, das ist der Trick.12

Dieser Passus, der hier nur auszugsweise zitiert ist, verhandelt in nuce – vom unschöpferischen Verfahren bis zur transliterarischen Deixis – genau jene Konflikte und Friktionen enumerativer Verfahren, denen ich im Folgenden nachgehen werde. Dabei vermute ich hypothetisch, dass die Attraktivität von Listen zumindest in der Gegenwartsliteratur mit der Hybridisierung bzw. Entgrenzung von Kunst und Nicht-Kunst zu tun hat. Die Liste erscheint diesbezüglich als klassische, in diesem Fall sprachlich organisierte Kippfigur, die generell zu abrupten Wahrnehmungswechseln führen und speziell auf Listen bezogen je nach Kontext und Beobachterperspektive eine pragmatische Verwendung oder interesseloses Wohlgefallen evozieren kann.13 Dabei stellt sich zunächst die Frage: Was ist überhaupt ein Liste, wodurch zeichnet sie sich aus, welche kultur- und ästhetikgeschichtlichen Funktionen hat sie? Ich werde also zunächst nicht nur auflisten, sondern auch zu begründen versuchen, was Listen ausmacht, um abschließend das zu versuchen, was die meisten Listen so sorgfältig ausschließen: einige Thesen über die Ästhetik von Listen. Etymologisch kommt die ›Liste‹ laut Grimm’schem Wörterbuch vom althochdeutschen ›lîsta‹ und vom mittelhochdeutschen ›lîste‹; beide meinen einen schmalen, bandförmigen Streifen, Letzteres auch Leiste, Saum oder Borte. In Italien wird es zu einem Wort der Buchhaltung und kommt im 17. Jahrhundert – nunmehr verengt auf die Be-

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Wolf Haas: Das Wetter vor 15 Jahren. Hamburg 2006, S. 210ff. In der Philosophie- und Wissensgeschichte ist die Kippfigur vor allem durch Ludwig Wittgensteins Überlegungen zum Hasen-Enten-Kopf einschlägig geworden, eine Figur (vgl. die Abb. unten), die entweder als Hasen- oder als Entenkopf erscheint, je nachdem, wie man sie sieht. Eine Kippfigur wie den Hasen-Enten-Kopf können wir »einmal als das eine, einmal als das andere Ding sehen. – Wir deuten sie also, und sehen sie, wie wir sie deuten.« Vgl. dazu ausführlich Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen (= Werkausgabe, Bd. 1). Frankfurt am Main 1984, S. 519ff.

So oder so

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deutung eines kolumnenförmigen Verzeichnisses – wieder ins Deutsche zurück.14 Mediengeschichtlich stellt die Liste eine typische Form früher Schriftverwendung dar,15 und wie die Tabelle ist sie eine Gegebenheit des Mediums Schrift und ein Instrument bestimmter, meist mnemotechnischer oder klassifizierender Operationen; eine gesungene oder gesprochene ›Liste‹ gibt es allenfalls als Aufführung oder Rezitation einer geschriebenen. Dabei zeichnen sich listenförmige Aufzählungen dadurch aus, dass ihre Glieder überwiegend aus Substantiven und Zahlen bestehen und nicht nebeneinander-, sondern untereinandergeschrieben werden. Das jedenfalls ist kennzeichnend für eine Liste im engeren Sinne, wobei ich im Folgenden – wie im Großteil der Forschung üblich – das Wort in einem weiten Sinn und als Synonym für ›Aufzählung‹ gebrauche. Eine Liste, so ließe sich dann mit Umberto Eco bestimmen, stiftet Ordnung, indem sie eine Reihe von Gegenständen, so heterogen sie auch sein mögen, demselben Kontext zuordnet oder vom selben Standpunkt aus betrachtet. Jesus Christus, Cäsar, Cicero, Ludwig IX., Hitler, Raimundus Lullus, Mussolini, Lincoln, Kennedy, Saddam Hussein […] bilden zum Beispiel ein homogenes Ensemble, wenn man berücksichtigt, daß sie alle nicht in ihrem Bett gestorben sind.16

Dieser Qualifikation von Listen, auch disparate Dinge oder Personen zusammenzubringen und erzählerisch integrieren zu können, hat sich gerade auch die aktuelle Literatur bemächtigt. In Thomas Meineckes sogenanntem ›Roman‹ mit dem schlichten Titel Musik (2004) etwa schreibt eine Schriftstellerin namens Kandis an einem Roman, dessen Hauptfiguren historisch verbürgt sind, die aber darüber hinaus vor allem über eine Gemeinsamkeit verfügen: Ludwig I. von Bayern, Lola Montez, Ludwig II. von Bayern, Clara Bow, Ruby Keeler, Leonard Bernstein und Claudia Schiffer wurden alle wie ihre fiktive Autorin Kandis an einem 25. August geboren. Ihr Bruder Karol, der als Flugbegleiter arbeitet, hatte ihr zu ihrem letzten Geburtstag eine Liste mit Personen geschenkt, die am gleichen Tag wie sie geboren wurden, und diese Liste war das Initial zu ihrem neuen Roman. Was Kandis indes nicht weiß und narratologisch ohne eine Metalepse auch gar nicht wissen kann: Der 25. August ist auch der Geburtstag ihres Autors, also der von Thomas Meinecke. Was sie indes sehr wohl weiß: Der 25. August ist auch der Todestag von Friedrich Nietzsche: Auch Todestage sind Geburtstage, denke ich: Also könnte ich noch den Philosophen Friedrich Nietzsche, 1900, und die R&B-Sängerin Aaliyah, 2001, in das Personal meines Romans aufnehmen. […] Auf der Reservebank, mich seit Stunden nicht einschlafen lassend: Iwan, der Schreckliche, geboren 1530, Johann Gottfried Herder, 1744, Louis Saint-Just, 1767, Erich Honecker, 1912, Sean Connery, 1930, Gene Simmons, 1949, und Elvis Costello, 1954 […].17

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Vgl. dazu und zum Folgenden auch Sabine Mainberger: Die Kunst des Aufzählens. Elemente zu einer Poetik des Enumerativen. Berlin/New York 2003, S. 5f. Vgl. ebd., S. 178, Anm. 8. Die Geschichte der Schrift beginnt bekanntlich vor etwa 5000 Jahren mit der Aufzeichnung von Geschäftstätigkeiten – und mit Tontafeln, die als Zahlungsversprechen und damit als Schuldgeständnisse fungierten. Umberto Eco: Die unendliche Liste. München 2009, S. 131. Thomas Meinecke: Musik. Frankfurt am Main 2004, S. 9. Der Roman wird abwechselnd aus Kandis und aus Karols Perspektive erzählt. Letzterer bemerkt zum Thema Listen: »Seit ich Kan-

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Was Kandis da schreibt, lässt sich als ›Listenroman‹ bezeichnen: Heterogene Elemente – in diesem Fall Personen – werden zunächst dekontextualisiert, dann mit Hilfe der Listentechnik in einen neuen Kontext gestellt – in diesem Fall stiftet ein Kalenderdatum den Zusammenhang –, um von dieser scheinbar kontingenten Gruppierung aus nach weiteren Gemeinsamkeiten zu forschen. Doch nicht nur der Roman seiner Romanfigur, sondern auch Thomas Meineckes eigener Roman ist an einem solchen Paradigma der Liste orientiert, wenn er heterogene Einzelsequenzen kombiniert und dabei einen integrativen Plot eher vernachlässigt. Genau das wurde ihm dann in Teilen der Literaturkritik auch zum Vorwurf gemacht. Sebastian Handke etwa erschien Meineckes Text in der Süddeutschen Zeitung zu theorielastig, und das Attribut ›theorielastig‹ hat sich im gehobenen Rezensionswesen längst als Synonym für Nicht-Kunst etabliert.18 Ferner verzichte Musik, so Handke weiter, auf Verdichtung zugunsten von gleichberechtigten »Einzelskizzen«, was letztlich einer Ästhetik der Enumerativen gilt, welcher sich der Roman nicht zuletzt mit verschiedenen Listen verbunden zeigt. Gleichzeitig aber, und das ist das Intrikate an Listenromanen, erscheint Thomas Meineckes Musik nicht irgendwo, sondern im Kontext des literarischen Feldes, und das wiederum operiert selbst an wichtigen Stellen mit Listen, genauer: mit Ranking- und Kanonlisten, die zu den postulativen Aufzählungen gehören.19 Sie umfassen beispielsweise die SWF-Bestenliste oder die Long- und Shortlist des Deutschen Buchpreises, die durch Jurys und damit durch einzelne Akteure des literarischen Feldes prozessiert werden, genauso wie die verschiedenen Bestsellerlisten, die auf anonyme Verkaufszahlen und damit auf rein quantitative Größen rekurrieren. Solche Rankinglisten sind omnipräsent, sobald Märkte ins Spiel kommen, auf denen konkurriert und getauscht wird – ganz gleich, ob es sich dabei um immaterielle Güter wie Aufmerksamkeit (Einschaltquoten etwa) oder um Konsumgüter wie Waschmaschinen handelt. Sie reduzieren zunächst Komplexität und sorgen für Orientierung, schaffen aber gleichzeitig ihren eigenen Markt, auf dem dann verschiedene Rankinglisten zu den gleichen Produkten – ob Restaurants, Rotweine oder Literatur – miteinander konkurrieren und Metalisten provozieren, die Listen auflisten, auf die man etwa im Internet zuhauf stößt. Auch für diesen Typus der Liste findet sich in der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt mit Die japanische Hitparade vom 25. Mai 196820 ein insofern signifikantes Beispiel, als ihm die Konkurrenz von Rankings, das Nebeneinander verschiedener, hier national bestimmter Hitparaden ebenso eingeschrieben ist wie die Verklammerung von Populär- und Hochkultur über das Paradigma der Liste: eine Hitparade bei Suhrkamp.

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dis zu ihrem letzten Geburtstag eine Liste mit Namen von Personen, die am gleichen Tag wie sie geboren wurden, überreicht habe, ist sie wie besessen davon.« (Ebd.) Wörtlich heißt es: »[Z]ugleich will ›Musik‹ erzählte Theorie sein, und davon nicht gerade wenig. Man muss schon tief von diesen Ideen infiziert sein, um an ihrem Defilee so etwas wie Lesefreude zu empfinden.« Sebastian Handke: Wurm im Ohr. Ein Roman mit Theorie-Turbo: Thomas Meineckes »Musik«. In: Süddeutsche Zeitung v. 16. Oktober 2004. Vgl. dazu Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 222ff. Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, S. 78ff.

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Listen, so lässt sich aufgrund der bisherigen Ausführungen systematisieren und resümieren, sind das Ergebnis eines kulturpoetischen Verfahrens, das nach dem Äquivalenzprinzip vorwiegend konkrete Elemente eines Paradigmas oder mehrerer Paradigmen selektiert und diese dann syntagmatisch verschaltet bzw. kombiniert. Gerade bei Listen in literarischen Texten muss sich der Rezipient die Paradigmen häufig selbst anlegen, in die bestimmte Elemente gehören21 – es sei denn, die Achse der Selektion wird ebenfalls abgebildet, wie bei Peter Handke beispielsweise durch den Titel Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968, der das Selektionskriterium der Einträge scheinbar genauso unmissverständlich offenlegt wie die schreib- und handlungsauslösende Geburtstagsliste des Bruders in Thomas Meineckes Musik. Doch ist damit das Phänomen Liste hinreichend konturiert? Die Frage führt selbst ins Zentrum der Listenästhetik. Versucht man, Dinge – und damit auch Listen – nach ihrer Substanz zu definieren, wobei seit Aristoteles diese Definition als diejenige gilt, die allein »imstande ist, eine bestimmte Sache als Individuum einer bestimmten Spezies und diese wiederum als Element einer bestimmten Art zu definieren«?22 Oder versucht man, eine Sache durch eine Liste von Merkmalen zu definieren, was seit Aristoteles als Definition durch Akzidenzien und damit als Aufzählung von nicht Wesentlichem gilt, mit anderen Worten: die Liste über eine Auflistung ihrer Merkmale zu bestimmen? In diesem Fall dürfte zu den Eigenschaften listenförmiger Aufzählungen wohl das weitgehende Fehlen eines Verbs zählen. »Denn«, so Diedrich Diederichsen, »der große Abwesende […] jeder Liste ist das Verb. Mithin: Bewegung, Zeitlichkeit, Handlung, Narration.«23 Was auf einer Liste steht, ist zudem stets dekontextualisiert, »denn nur, was aus seinem Zusammenhang gelöst wurde, läßt sich auf eine Liste setzten«.24 Dekontextualisierung ist eine grundlegende Operation beim Erstellen von Listen, während Kontextualisierung oder Rekontextualisierung konstitutiv sind für eine im weitesten Sinne hermeneutische Rezeption, für Verstehensakte also. Hinzu kommt, dass Listen notorisch unterbestimmt und Aufzählungen von daher in besonderem Maße anfällig dafür sind, »ihre intendierte Funktion zu verfehlen. Und aus dem gleichen Grund eignen sie sich auch besonders gut für gezielte Umfunktionierungen.«25 Zwar kann man mit Umberto Eco grosso modo praktische Listen von poetischen Listen unterscheiden, wobei praktische Listen wie Einkaufszettel, Bibliothekskataloge oder Speisekarten über eine rein referenzielle Funktion verfügen,

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Vgl. dazu auch Niels Werber: »Das graue Tuch der Langeweile«. Der Dandy als Motiv und Verfahren der Literatur 1900/2000. In: Depressive Dandys. Spielformen der Dekadenz in der Pop-Moderne. Hg. v. Alexandra Tacke und Björn Weyand. Köln u. a. 2004, S. 60–79. Ebd., S. 217. Die entsprechende Passage bei Aristoteles lautet: »Substanz aber ist die hauptsächlich und an erster Stelle und vorzüglich genannte, die weder von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird, noch in einem Zugrundeliegenden ist, zum Beispiel der individuelle Mensch oder das individuelle Pferd.« Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung 1/i. Kategorien. Bd. 1. Teil 1. Hg. v. Klaus Oehler. 4. Aufl. Berlin 2006, S. 11. Diederichsen: Liste und Intensität, S. 117. Ähnlich auch Peter Handke: »Die Zeit ist ein Hauptwort. Das Hauptwort bildet keine Zeit. Da die Zeit ein Hauptwort ist, bildet die Zeit keine Zeit.« Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, S. 14. Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 19. Ebd., S. 20.

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sich also auf Dinge der äußeren Welt beziehen, die sie benennen und aufzählen. Diese Realien indes sind neben dem Verb das große Abwesende jeder Liste: Der Bibliothekskatalog ist eben nicht das Buch, auf das er verweist, und die Lektüre einer Speisekarte kann durchaus genussvoll sein, wird aber kaum den Akt des Essens substituieren, so häufig die Akte des Essens und des Lesens in der Literatur auch enggeführt wurden, aber eben immer nur in Literatur und Literaturwissenschaft. Mit der Auflistung von Merkmalen einer Liste fortfahrend, ist auf zwei Kategorien hinzuweisen, die stets in engem Zusammenhang mit Listen stehen, nämlich das Unsagbare und das Unendliche. Bezüglich des letzten Aspekts lassen sich drei Arten von Listen bzw. Reihen unterscheiden: erstens prinzipiell endliche wie die Aufzählung von Wochentagen oder Monaten; zweitens prinzipiell unendliche wie die Zahlenreihe; und drittens Reihen, deren Elemente zwar prinzipiell endlich, aber empirisch kaum zu zählen sind, wie die Sandkörner an einem Strand oder alle (und zwar wirklich alle!) Zuschauer in einem großen Sportstadion. Entsprechend lässt sich zwischen einem enumerablen und einem nicht enumerablen Unendlichen differenzieren. Das Unendliche wiederum hängt – ob enumerabel oder nicht – eng mit dem Unsagbaren zusammen, wie sich anhand des berüchtigten Schiffskatalogs aus der Ilias verdeutlichen lässt, der einen Eindruck von der imposanten Größe des griechischen Heeres vermitteln soll.26 Nach einigen offenbar unzulänglichen Vergleichen schickt sich die Ilias an, lediglich die Heerführer und die Anzahl ihrer Schiffe aufzuzählen. Doch was als synekdochische Abkürzung fungieren soll, erstreckt sich über immerhin 350 Verse, und da man danach immer noch nicht weiß, wie viele Männer auf einen Heerführer kommen, bleibt die Größe des griechischen Heeres letztlich unbestimmt. Angesichts von etwas enorm Großem oder etwas Unbekanntem, über das er nicht genug weiß oder nie etwas wissen wird, bekennt der Autor [damit letztlich], daß er unfähig ist, etwas darüber auszusagen. Daher schlägt er eine Aufzählung vor, die als Muster, Beispiel oder Auszug gedacht ist, und es bleibt dem Leser überlassen, sich den Rest vorzustellen.27

Und dieser Topos des Unsagbaren taucht nicht nur bei Homer mehrfach auf, etwa in der Odyssee (IV, 240ff.): »Alles kann ich euch zwar nicht nennen / Alle mutigen Taten des leidensgeprüften Odysseus«. Man findet ihn beispielsweise auch bei Vergil, der die Unmöglichkeit, den Reichtum an Wein- und Traubenarten in Worte zu fassen, in den Georgica (II, 103ff.) mit folgenden Worten beschreibt: »Aber wie reich an Arten sie sind und an Namen vielfach / Fehlet die Zahl, und nicht ja in Zahl sie zu fassen verlohnt es.« Die moderne Variante des Unendlichen knüpft da an, ist aber kapitalistisch gefasst und schwankt so programmatisch wie suggestiv zwischen dem Enumerablen und dem nicht Enumerablen. Ihr wirkmächtiges Dispositiv ist das der schönen bunten Warenwelt,28 ihre alltäglichen Aufzählungsverfahren sind Einkaufsliste und Wunsch-

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Vgl. dazu und zum Folgenden Eco: Die unendliche Liste, S. 17f., 49f. Ebd., S. 49. Erst kürzlich hat der Wirtschaftshistoriker Joachim Voth im Rahmen der FAS-Serie »Wie wir reich wurden« die Vielfalt des kapitalistischen Warenangebots gleichermaßen geschichtlich wie

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zettel.29 Die Einkaufsliste stellt dabei erstens einen Marschbefehl dar, den das Subjekt sich selbst gibt, um ein überbordendes Angebot in eine geordnete Nachfrage zu überführen, und zweitens eine Aufzählung begehrenswerter Objekte und damit einen Wunschzettel. In Reinform konstituiert dieser, also der Wunschzettel, einen kindlichen Dialog mit Weihnachtsmännern, schenkenden Eltern und Verwandten, also mit Gesprächspartnern, die aus kindlicher Perspektive Wünsche und Warenangebot, Endliches und Unendliches korrelieren. Waren formulieren somit ein Versprechen auf die Realisierbarkeit von Wünschen, und ob sie es am Ende auch einhalten, ist in diesem Zusammenhang nicht von Belang. Andy Warhol hat aus diesem im Ganzen scheinbar unendlichen, situativ indes stets endlichen Warenangebot jenen eingangs bereits erwähnten listenförmigen Text produziert: Buying things in America today is just unbelievable. Let’s say you’re thirsty. Do you want Coke, Diet Coke, Caffeine-Free Tab, New Improved tab, Pepsi, Diet Pepsi, Pepsi Light, Pepsi Free, Root Beer, Royal Crown Cola, C&C Cola, Diet Royal Crown Cola, Caffeine-Free Pepsi, Caffeine-Free Diet Pepsi, Caffeine-Free Royal Crown Cola, Like, Dr Pepper, Sugar-Free Dr Pepper, Fresca, Mr Pibb, Seven-Up, Diet Seven-Up, orange, grape, apple, Orelia, Perrier, Poland, ginger ale, tonic, seltzer, Yoo-Hoo or cream soda?30

Evoziert ist mit Warhols Reihe aus den Regalen amerikanischer Supermärkte die traditionsreiche Einsamkeit des Individuums angesichts des Unendlichen, die einst religiös konnotiert war und die längst kapitalistisch formatiert ist. Von daher und vom Standpunkt des Listenforschers bildet Warhols Aufzählung von Softdrinks die genaue Umsetzung von Walter Benjamins Fragment Kapitalismus als Religion. Der Kapitalismus diene, so Benjamin, »der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben.«31 Und zu denen zählt maßgeblich auch die Angstlust am Unendlichen, das in Gott eine Chiffre und in den Sternen, die nach Hans Blumenberg zwar vollzählig, nach dem Volkslied Weißt du wieviel Sternlein stehen? des Pfarrers, Lied- und Fabeldichters Johann Wilhelm Hey indes einzig von Einem gezählt sind (»Gott, der Herr, hat sie gezählet, / daß ihm auch nicht eines fehlet, / an der ganzen großen Zahl«),32 ein sinnfälliges Bild gefunden hat. Die religiöse Liste wiederum heißt ›Litanei‹, ohne die christliche Riten bis heute nicht auskommen. Pars pro Toto sei in diesem Zusammenhang auf die Lauretanische Litanei verwiesen, deren Anrufungen sich an die Gottesmutter richten und die auf mittelalterliche Wurzeln zurückgeht.33 Maria wird darin mit zahlreichen verschiedenen Be-

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panegyrisch perspektiviert. Vgl. Joachim Voth: Das Glück der bunten Warenwelt. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 4. Juli 2010. Vgl. zu Einkaufsliste und Wunschzettel auch Diederichsen: Liste und Intensität, S. 114ff. Andy Warhol: America. New York u. a. 1985, S. 21. Vgl. dazu und zur Kultur der Liste vor allem in den USA auch Diedrich Diederichsen: America. In: Spex. Musik zur Zeit (1986) 2, S. 48–51. Walter Benjamin: Kapitalismus als Religion. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main 1991, Bd. VI, S. 100–103, hier: S. 100. Vgl. dazu Hans Blumenberg: Die Vollzähligkeit der Sterne. Frankfurt am Main 2000, S. 16f. Vgl. dazu und zum Folgenden Eco: Die unendliche Liste, S. 118, 123ff.

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zeichnungen angesprochen, die ihre Rolle in der Heilsgeschichte teils direkt zum Ausdruck bringen (»Heilige Maria, Mutter Gottes – Heilige Jungfrau über allen Jungfrauen – Mutter Christi«), teils in symbolischen, oft der Bibel entstammenden Bildern darzustellen versuchen (»Du Spiegel der Gerechtigkeit – Du Sitz der Weisheit – Du Kelch der Hingabe«), die Bedeutung Mariens beschreiben (»Heil der Kranken – Zuflucht der Sünder – Trost der Betrübten«) und schließlich Maria als Königin der Heiligen anrufen (»Königin der Engel – Königin der Apostel – Königin der Märtyrer«). Jede Anrufung wird mit einer Bitte um die Fürbitte Mariens bei Gott verbunden: »Du weiseste Jungfrau, bitte für uns / Du ehrwürdige Jungfrau, bitte für uns / Du lobwürdige Jungfrau, bitte für uns / Du mächtige Jungfrau, bitte für uns […].« Und so weiter, und so weiter. Diese panegyrische Aufzählung kombiniert die Fülle von Attributen und Namen Mariens mit der monoton wiederholten Bitte um Fürbitte, die als eine Art Mantra fungiert. Auf rhetorischer Ebene wird so der Reichtum der göttlichen Sphäre mit der Armut der menschlichen Sphäre korreliert. Dabei geht es weniger um rationales Verstehen als vielmehr um den Realitätseffekt von Religion, der sich in diesem Fall als ästhetische Erfahrung konstituiert: durch den klanglichen Rausch der Liste mit ihrer Kombination von Fülle und Monotonie, durch die scheinbar nicht enden wollende Litanei, die gerade dadurch das Unendliche jenseits der Litanei sinnfällig werden lässt. In dieser Tradition stehen auch die ethnopoetischen Untersuchungen verschiedener Religionen (auch der westlichen Welt), wie sie Hubert Fichte vor allem in den 1970er Jahren vorgelegt hat.34 Zum einen zitiert, alludiert und collagiert er Listen aus unterschiedlichen Zusammenhängen, etwa aus den Gelben Seiten von Greater Miami, aus deren Ausgabe von 1976/77 er eine neunseitige Zusammenstellung der verschiedenen Kirchen als Ausgangsmaterial für einen enumerativ organisierten Text übernimmt: »African Methodist Episcopal / Baha’i Assembly of North Dade / Baptist Churches / Catholic Churches / Christian Sciences / Church of Christ […]«.35 Zum anderen ist auch in seinen Überlegungen zum haitianischen »Vaudou« von Litaneien nicht nur die Rede; vielmehr werden die vielen Vaudou-Götter in langen Namenskatalogen aufgeführt.36 Diese wiederum verweisen ihrerseits auf sprachliche Handlungen, die als kultische Leiergesänge den Wortsinn in der Repetition entleeren und Sprecher und Zuhörer betäuben. Litaneien, Götterkataloge und Tranceperformances gehören insofern in Fichtes Darstellung explizit zusammen und bilden eine »surreale Schicht der Sprache, eine Popschicht«.37 Dabei überlagern sich religiöse und säkulare Kontexte – wie in dem Beispiel der in einem Branchenverzeichnis aufgelisteten Kirchen –, weswegen auch Warenlisten oder werbliche Aufzählungen explizit als Litaneien gelesen werden und dabei vergleichbare Schwindelgefühle erzeugen können: eine Überlagerung von ursprünglich religiöser Magie und kommerziellem Materialismus. Zumindest in diesem Punkt berühren sich die

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Vgl. dazu auch Mainberger: Die Kunst des Aufzählens, S. 25ff. Vgl. Hubert Fichte: Miami 1977–78. In: H. F.: Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen IV. Santo Domingo, Venezuela, Miami, Grenada. Frankfurt am Main 1980, S. 151–252, hier: S. 162. Vgl. Hubert Fichte: Die afroamerikanischen Religionen II. Bahia, Haiti, Trinidad. Frankfurt am Main 1976, bspw. S. 140f., 181f. Ebd, S. 140.

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textuellen Verfahren von Hubert Fichte und Andy Warhol: Wie in der Litanei steht auch bei Warhol das enumerable Unendliche synekdochisch für das nicht enumerable Unendliche: Dort sind es zum Beispiel die zahlreichen, aber doch endlichen Eigenschaften der Gottesmutter (s. o.), welche die unendliche Güte und Ewigkeit Gottes bewähren, bei Warhol ist es die endliche Aufzählung von Softdrinks, die auf das Unermessliche des kapitalistischen Konsumangebots verweist. Darin zumindest folgt ihm Bret Easton Ellis, der in seinem Roman American Psycho (1990) eine ebenso akribische wie exorbitante Auflistung von Markennamen vor allem aus dem oberen Preissegment der Textilbranche betreibt. Damit tritt er einerseits ein in einen Dialog mit »Katalogverfahren der spätrealistischen oder Décadence-Literatur«, andererseits mit der religiösen Tradition der Litanei und ihren säkularisierten Varianten etwa in der Pop-Art. Effekt ist in jedem Fall, so Heinz Drügh, eine »Lexemautonomie«, eine »Verselbständigung des Wortmaterials infolge exzessiv-zwanghafter Beschreibung, wie wir es etwa aus Huysmans’ Roman À Rebour kennen, dem Paradebeispiel für literarische Décadence.«38 Bei aller Vielfalt und Disparatheit von Listen scheint gerade beim Beispiel Warhol ein Merkmal virulent zu werden, das nicht nur allen Listen zu eigen ist, sondern das auch zu ihren wichtigsten zählt, nämlich ihre strikte Referenzialisierbarkeit. Warhols Aufzählung weist nicht nur einfach über den Text hinaus auf immaterielle Imagos oder utopische Fantasien, sondern bezieht sich auf konkrete Gegebenheiten der Außenwelt, wie sie sich angeblich in jedem amerikanischen Supermarkt finden lassen. Das trifft ebenso auf Bret Easton Ellis’ »Geklapper der Markennamen« (Drügh) zu, dessen semantischer Überschuss und enumerables Unendliche sich ausgerechnet einem scheinbar Realität lediglich erfassenden und archivierenden, sie dadurch aber erst konstituierenden Aufschreibesystem verdanken. Und, so ist zu fragen, gilt genau das nicht prinzipiell für alle Listen, da deren Deixis generell über sich selbst hinaus auf Realität verweist? Dienen Aufzählungen nicht auch in fiktionalen Erzählungen dazu, das Erzählte glaubwürdiger zu gestalten, weil Listen über den Nimbus des Realen, über das Prinzip der Indexikalität verfügen? Gerade weil ihr kulturpoetisches Verfahren in unkünstlerischen Kontexten entstand, können Listen literarische Texte offenbar mit Wirklichkeitseffekten ausstatten, die indes nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln sind. Kehren wir auf dieser Basis noch einmal zu Handkes Aufstellung zurück, von der nicht nur Moritz Baßler sagt, sie lasse sich »als historische Information über eine Sportveranstaltung lesen«.39 Aber stimmt das? Und kann man Handkes Text tatsächlich als ›Poème trouvé‹ oder als ›Readymade‹ bezeichnen? Man kann sicherlich, sollte dabei aber dreierlei berücksichtigen: Erstens stimmt Handkes Aufstellung mit der tatsächlichen Aufstellung des 1. FC Nürnberg an jenem 27. Januar 1968 nicht überein, wie schon des Öfteren bemerkt wurde: Neben Popp verteidigte nämlich nicht Leupold, wie in Handkes Aufstellung, sondern Hilpert. Leupold wurde erst in der 76. Minute für Blan-

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Heinz Drügh: Dandys im Zeitalter des Massenkonsums. Popliteratur als Neo-Décadence. In: Depressive Dandys, S. 80–100, hier: S. 91. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie. Tübingen 2005, S. 83.

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kenburg eingewechselt. Zweitens wirft der Text selbst, wirft also Handkes Aufstellung die Frage auf, ob sie vor oder nach dem Spiel generiert wurde – und weist diesbezüglich einen Widerspruch auf, den es nicht geben würde, wäre der Text tatsächlich unverändert einer Zeitung entnommen. Denn handelte es sich um einen Hinweis auf ein noch stattfindendes Spiel, wäre die historisierende Datumsangabe in der Überschrift mindestens ungewöhnlich, wenn nicht unmöglich. Handelte es sich hingegen um einen Spielbericht im Nachhinein, wäre kaum der »Spielbeginn: 15 Uhr« angegeben und darüber hinaus auch die tatsächliche Startelf aufgelistet worden.40 Und drittens haben poetologische Zuschreibungen wie Montage oder Readymade allenfalls metaphorischen Status, denn Handkes Aufstellung ist aus keiner Zeitung ausgeschnitten, dann auf einen anderen Papierträger aufgeklebt und schließlich auf wieder anderen Papierträgern reproduziert worden wie andere Texte in der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt.41 Sie ist vielmehr in medientechnischer Schlichtheit das Produkt eines Schreibaktes, genauer: das Ergebnis höheren Abschreibens, ein hand- oder maschinenschriftlicher Kopierakt, dem eine Zeitungsnotiz als Ausgangspunkt gedient haben mag, aber mehr nicht. Der Clou von Handkes Aufstellung besteht vielmehr erstens darin, dass er einen als Liste per se schon dekontextualisierten Text weiter, nämlich zweifach dekontextualisiert, indem er ihn erstens zunächst abschreibt und dann in einen künstlerischen Kontext überführt – oder dies zumindest suggeriert. Und zweitens darin, dass er damit Kategorien wie Readymade oder Montage als das entlarvt, was sie sind, nämlich Ergebnisse erfolgreicher Schreib- und Zuschreibungsakte, die über keine ontologische Qualität verfügen. Etwas Geschriebenes abzuschreiben, kann somit durchaus metaisierende Funktion haben, die medientechnische Schreib- und literatursoziologische Zuschreibungsprozesse reflektiert, und genau das ist auch das eigentlich Referenzielle an Handkes Text: Indem er im künstlerischen Kontext ›lediglich‹ eine vermeintlich historische Mannschaftsaufstellung auflistet, stellt er auch den eigenen textuellen Status zur Disposition. Damit wiederum korrespondiert er mit dem Titel und dem Konzept des Bandes, in dem er erstmals erschien: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt versammelt 42 Texte, die zumeist von einem einzelnen Satz ausgehen, der einen Moment der Alltagssprache abbildet.42 Dazu heißt es im Klappentext, der als eine Art Gebrauchsanweisung für die Rezipienten fungiert: Weil jeder Satz ein Beispiel für ein bestimmtes grammatisches Modell ist, ergibt sich jeder Text in der Regel als eine Anordnung von syntaktisch ähnlichen Sätzen, die zwar, einzeln genommen, Beschreibungen sind, durch die Reihung jedoch das Modell kenntlich machen und auf diese

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Diesen Hiatus diskutiert ausführlich Volker Bohn (Bohn: Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968, S. 99f.). Metaisierend zum eigenen Produktionsverfahren verhält sich etwa der dreiteilige Text LESEN UND SCHREIBEN: Er besteht erstens aus dem Faksimile einer Zeitungsmeldung bzw. deren Anfang, zweitens aus der Wiederholung dieses Textausschnitts in Druckschrift und drittens aus der Anweisung »und Lesen«, die mit der Überschrift korrespondiert, sie aber eben nicht wiederholt, sondern variiert. Vgl. Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, S. 48. Vgl. dazu ausführlich Sascha Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006, S. 199ff.

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Weise sowohl beschreiben als auch die Beschreibung als Beispiel einer vorgefaßten sprachlichen Struktur, als Satz zeigen: Jeder Satz hat eine Geschichte. Ergebnis ist, daß die satzweise Beschreibung der Außenwelt sich zugleich als Beschreibung der Innenwelt erweist, und umgekehrt und wieder umgekehrt.43

Bezogen auf die Aufstellung heißt das: Die Chronologie, wonach ein Stück Nicht-Kunst in Form einer Liste in die Kunst hineingerät, von wo aus es wiederum aus der Kunst hinausverweist, wird in ihrer Selbstverständlichkeit irritiert und als produktionsästhetische Konvention kenntlich, aber auch als eine signifikante Besonderheit der Textgattung ›Liste‹. Außerdem werden die einzelnen Elemente der Liste nicht einfach aneinandergereiht, sondern im Raum angeordnet, verfügen also über eine grafisch gestaltete horizontale wie vertikale Achse, so dass nicht nur benannt wird, wer am 27. Januar 1968 für den 1. FC Nürnberg auf dem Platz stand bzw. stehen sollte, sondern auch die taktische Aufstellung der Mannschaft zu erkennen ist. Handkes Text archiviert so nolens volens ein 2-3-5-System, das im Fußball längst genauso obsolet ist wie die zu ihm gehörende Bezeichnung ›Läufer‹ für die zwischen Verteidigern und Stürmern operierenden Akteure. Das reine Schema dürfte am Ende nicht einmal mehr die Information bergen, daß die Art der Mannschaftsaufstellung ›altmodisch‹ ist. Aber noch dies wird dem Vergessen anheimfallen: altmodisch ist immer nur das Jüngstvergangene. ›Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27.1.1968‹ wird insofern, poetisch gesehen, immer besser, je älter sie wird.44

Die Kunst überdauert die Nicht-Kunst und Handkes vermeintliche Transformation eines Gebrauchstextes in ein Listengedicht ebendiesen Gebrauchstext. Damit wiederum lässt sich nun eine Antwort auf meine Ausgangsfrage formulieren, was Listen für Teile der Gegenwartsliteratur so interessant macht. Listen in Literatur thematisieren und problematisieren das Verhältnis von high und low, Kunst und NichtKunst, wobei sie selbst zunächst als das Andere von Kunst erscheinen: Während Kunst Realität als kontingent und sich selbst als notwendig erscheinen lässt, so jedenfalls ein Befund von Niklas Luhmann,45 verfahren Listen genau umgekehrt: Sie listen Realien auf und machen sich selbst dabei durchlässig und uninteressant. Das ist ihre List. Ihre Wahrheit hingegen besteht darin, dass sie die Zurichtung, die Konstruktion von Realität gleichermaßen vergessen lassen und veranschaulichen können: In einer Stadionzeitung beispielsweise würde die Aufstellung des 1. FC Nürnberg wohl als Information, nicht aber als Textur ernst genommen, während Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg sprachkritisch nach dem Verhältnis von Information und Text sowie nach der sprachlichen Zurichtung von Wirklichkeit fragt. So kann man Listen alternierend als intransitive oder als transitive Texte lesen, man kann sie zum Skript für nonverbale Handlungen oder die Anordnung von elf Spielern auf einem Fußballplatz machen, man kann sie aber auch abschreiben und in einen literarischen Kontext überführen. Man kann auch

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Handke: Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, o. P. Bohn: Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968, S. 112. »Die Darstellung der Welt in der Welt modifiziert die Welt selbst im Sinne des ›so nicht Nötigen‹. Das Kunstwerk erbringt für sich selbst den Notwendigkeitsbeweis – und entzieht ihn damit der Welt.« Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main 1998, S. 353.

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eine poetische Liste wie eine praktische lesen oder eine praktische wie eine poetische, und die Listen verschollener Bücher in literarischen Texten erscheinen oft nicht wie ein Verzeichnis, sondern wie Beschwörungsformeln.46 Genau diesen vielschichtigen und widersprüchlichen Konnex verdeutlichen literarische Listentexte, genauer: den Realitätseffekt von Listen innerhalb von Kunst und die Künstlichkeit von gelisteter Realität außerhalb von Kunst. Innerhalb literarischer Texte suggeriert die Liste Indexikalität und Referenzialisierbarkeit.47 Sie scheint auf ein (abwesendes) Reales zu verweisen – wie etwa die eingangs zitierte Liste im Roman der Autorfigur Wolf Haas, die er von einem Gemeindebeamten erhalten haben will – und so mit künstlerischen Mitteln einen Weg aus der Kunst zu weisen. Aber dieser Weg ist genauso abwesend wie das Reale, auf das die Liste verweist.48 Die Welthaltigkeit von Listenliteratur gründet damit nicht zuletzt auf den Aufzählungstechniken selbst, die wiederum als Beispiel par excellence für die Entgrenzung zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Verfahren gelten können. Diese Entgrenzungen führen wiederum dazu, dass die einzelnen künstlerischen Hervorbringungen erstens dazu tendieren, die begrifflichen und formalen Bestimmungen der Kunst zu sprengen, um nicht zuletzt eigene für sich zu reklamieren, und zweitens ihre jeweilige künstlerische Besonderheit häufig nicht oder nicht zweifelsfrei erkennen lassen. Diese »De-definition of art« – so der Kunstkritiker Harold Rosenberg – versetze seit den 1960er Jahren jedes Kunstwerk in den instabilen Zustand eines »anxious object«, von dem sowohl für den Betrachter als auch für den Künstler unklar sei, ob es ein Meisterwerk oder Ramsch ist – oder auch beides zugleich.49 Literarische Listen nehmen von daher für das Schriftmedium die gleiche Position ein, die Thomas Meinecke dem Phänomen Disco in der Musik zuschreibt: Disco war von Anfang an eine Diva […]. Disco war hybride und darin genuin, nämlich Pop. Zitierwütig wiederverwertete sie die Glanzlichter früherer Epochen für ihre alles andere als nostalgischen Zwecke und war damit high und low zugleich kodiert […]: ein zutiefst raffiniertes performatives Zeichensystem.50

Auch die Liste ist attraktiv für Avantgarde- und Popliteratur, weil sie high und low zugleich sein kann, Kunst und/oder profanes Gerät – eine hochgradig kontext- und situationsabhängige Kippfigur. Die Übergänge selbst, das Umkippen bzw. Umschlagen von einem zum anderen – all das geschieht jedoch subkutan, unterhalb der Wahrnehmungsschwelle: Man liest in actu stets so oder so, weiß aber, dass es auch anders geht, wenn man den Text bzw. die Liste nur anders fokussiert. Genau wie beim klassischen Hasen-

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Vgl. dazu Eco: Die unendliche Liste, S. 371ff. Vgl. dazu auch Diederichsen: Liste und Intensität, S. 113. Das ist auch bei intermedialen Verweisen auf Popsongs zu konstatieren, die ebenfalls vorderhand als Wirklichkeitseffekte fungieren, diese jedoch zugleich unterminieren können. Vgl. dazu Norbert Christian Wolf: High and Low: Mediale Dominanzbildungen bei Peter Handke. In: Uta Degner und N. C. W. (Hg.): Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Bielefeld 2010, S. 77–97, bes. S. 96. Vgl. Harold Rosenberg: The anxious object: art today and its audience. New York 1964; ders.: The De-definition of art. New York 1972. Meinecke: Musik, S. 48.

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Enten-Kopf, den man entweder als Hasen- oder als Entenkopf wahrnehmen kann, aber nie als beides zugleich, obwohl man weiß, dass beide Betrachtungsweisen in dieser Figur angelegt sind.

Abb.: Hasen-Enten-Kopf (nach Jastrow)

Beiträger

David-Christopher Assmann Kollegiat im Deutsch-Italienischen Promotionskolleg der Universitäten Bonn und Florenz Thomas Becker Privatdozent am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität Berlin Natalie Binczek Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Bochum Uta Degner Universitätsassistentin für Neuere deutsche Literatur am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg Heinz Drügh Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt am Main Achim Geisenhanslüke Universitätsprofessor für Deutsche Philologie am Institut für Germanistik der Universität Regensburg Stefan Greif Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Kassel Thomas Hecken Privatdozent für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Germanistischen Institut der Universität Bochum Clemens Peck Universitätsassistent für Neuere deutsche Literatur am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg Franziska Schößler Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Fachbereich Germanistik der Universität Trier Ulrike Vedder Universitätsprofessorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität Berlin

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Beiträger

Thomas Wegmann Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck Uwe Wirth Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft am Institut für Germanistik der Universität Giessen Norbert Christian Wolf Universitätsprofessor für Neure deutsche Literatur am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg

Personenregister

Aaliyah 221 ABBA 15 Acker, Kathy 23 Adorno, Theodor W. 83–85, 94, 143, 150 Agamben, Giorgio 8, 142, 145 Agathos, Katharina 57–59, 62f., 77 Amaya, Mario 18 Aristoteles 223 Armstrong, Louis 104 Artaud, Antonin 86f. Assmann, Aleida 7, 98, 111 Auden, W. H. 206 Bach, Johann Sebastian 15, 17 Bachelard, Gaston 114 Bachmann-Medick, Doris 28 Bachtin, Michail M. 28, 37f., 39f. Barnes, Julian 219 Barthes, Roland 29f., 46, 51, 54, 101, 203–205, 215 Baßler, Moritz 29, 158, 168, 227 Baudelaire, Charles-Pierre 1, 49f., 53, 93, 161 Beckett, Samuel 83 Beethoven, Ludwig van 25 Bellini, Vincenzo 17 Benjamin, Walter 3, 83, 99, 157, 178, 184, 225 Benn, Gottfried 85, 89f. Bennett, Tony 146 Bergmann, Harald 77f. Bernhard, Thomas 2, 118, 206 Bernstein, Basil 21, 187 Bernstein, F. W. 39 Bernstein, Leonard 14, 221 Berry, Chuck 117f. Beuys, Joseph 92 Beyer, Marcel 7, 83–95 Bhabha, Homi 28 Bienek, Horst 71 Blanchot, Maurice 114, 162 Bloch, Ernst 117 Blumenberg, Hans 225 Bohlen, Dieter 25 Borges, Jorge Luis 219

Bourdieu, Pierre 4, 6, 46, 48f., 51f., 54, 94, 115, 181 Bowie, Lester 23 Botts, Rick 104 Bow, Clara 221 Braun, Michael 86, 92 Brecht, Bertolt 143f., 146, 150, 153 Breitenstein, Andreas 121–123, 132, 136, 140 Brel, Jacques 107 Brinkmann, Marleen 62, 65 Brinkmann, Rolf Dieter 7, 24, 57–81, 157, 183f., 192, 194, 219 Bronfen, Elisabeth 29, 35 Brooks, Van Wyck 15f. Brubeck, Dave 15 Brühl, Hein 60 Burgess, Anthony 21 Burroughs, William 3, 21, 30 Busch, Wilhelm 43, 163 Butler, Judith 8, 142 Cage, John 24 Calvino, Italo 219 Campe, Rüdiger 123, 138 Canclini, García 27 Cassavetes, John 143, 150f., 152f. Cave, Nick 14 Celan, Paul 84 Cervantes, Miguel de 104 Cézanne, Paul 97 Chaplin, Charlie 14 Chopin, Frédéric 17 Coltrane, John 14 Compagnon, Antoine 32 Connery, Jean 221 Costello, Elvis 221 Cortés, Hernán 27 Crumb, Robert 53, 55 Darwin, Charles 37 Dath, Dietmar 1f., 4, 8, 23, 171–182, 195f. Debord, Guy 213 Debussy, Claude 14 Deleuze, Gilles 84, 151, 184 Derrida, Jacques 6, 31, 33f., 44, 46, 213f.

236 Diederichsen, Diedrich 23, 195, 223 Diekmann, Kai 190 Dorn, Thea 15 Doyle, Arthur Conan 85 Drews, Jörg 89f. Drügh, Heinz 227 Duchamp, Marcel 174, 217 Dupont, Stephen 147 Dylan, Bob 14, 105f. Ebert, Roger 179 Eco, Umberto 46, 54, 221, 223 Eichinger, Bernd 148 Ellis, Bret Easton 23, 131, 177, 227 Eminem 153f. Eschenbach, Wolfram von 36 Evans, Marc 144 Fassbinder, Rainer Werner 148, 150 Faulkner, William 102, 107, 110 Fauser, Jörg 219 Federman, Raymond 23 Fichte, Hubert 219, 226f. Fiedler, Leslie 20f., 156–158, 184 Fiske, John 191 Flaubert, Gustave 1, 53 Foer, Jonathan Safran 131 Fogerty, John 103f. Ford, John 108 Foster, Jodie 144 Foucault, Michel 8, 46, 95, 112, 114–116, 142, 147, 153, 162 Fuchs, Wolfgang J. 50 Fulci, Lucio 176, 179, 182 Fuller, Paul 104 Gamper, Herbert 97 Genette, Gérard 2 Gernhardt, Robert 39 Gibson, William 23 Ginsberg, Allen 219 Girard, René 188 Glavinic, Thomas 7, 122–140 Godard, Jean-Luc 20 Goethe, Johann Wolfgang von 24f., 40, 50, 99, 178, 181, 190 Goetz, Reinald 2, 8, 23, 30, 183–198, 207, 219 Gotscheff, Dimiter 145 Graf, Karin 128 Grass, Günter 95 Grössel, Hanns 58 Groys, Boris 155 Grünbein, Durs 15, 95 Guattari, Félix 84 Haas, Wolf 2, 8, 155–169, 220, 230

Personenregister Habermas, Jürgen 184, 193–195, 197 Haider, Jörg 185 Hamilton, Richard 18f. Hamsun, Knut 218f. Handke, Peter 7, 13, 71, 97–119, 217–219, 223, 227–229 Handke, Sebastian 222 Hanika, Iris 219 Hanuschek, Sven 94 Haraway, Donna 8, 142, 145 Harlan, Veit 145 Hawks, Howard 14 Hebbel, Friedrich 215 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 83, 143 Heidegger, Martin 118, 215 Hemingway, Ernest 203 Hendrix, Jimi 166 Hennig von Lange, Alexa 184 Henri, Adrian 14 Henscheid, Eckhard 39 Herder, Johann Gottfried 192, 221 Hergé 47, 49 Hey, Johann Wilhelm 225 Hindemith, Paul 14 Hitchcock, Alfred 14, 24, 87 Hitler, Adolf 148–150 Höbel, Wolfgang 132 Hoffman, Dustin 144 Hofmannsthal, Hugo von 24 Holiday, Billie 104 Holz, Arno 163 Homer 36, 47, 224 Honecker, Erich 221 Hopper, Edward 109 Horkheimer, Max 143 Houellebecq, Michel 2 Hummelt, Norbert 94 Huysmans, Joris-Karl 227 Huyssen, Andreas 142 Illouz, Eva 141 Iwan der Schreckliche 221 Jäger, Georg 1 Jagger, Mick 14 James, Henry 81, 206 Jarry, Alfred 14 Jelinek, Elfriede 24, 95 Jencks, Charles 21f. Jesurun, John 142 Johnson, Mark 11 Kafka, Franz 83 Kapfer, Herbert 57–59, 62f., 77 Karnau, Hermann 91

Personenregister Keeler, Ruby 221 Kehlmann, Daniel 127f., 130f. Keller, Gottfried 12 Kennedy, John F. 21 Kerouac, Jack 103 Kesey, Ken 21 King, Stephen 15 Kittler, Friedrich A. 86 Kling, Thomas 84, 86, 90, 93f. Knorr, Peter 39 Köppe, Tilmann 218 Köppen, Manuel 149 Kracauer, Siegfried 85 Kracht, Christian 23, 184, 190 Kreuzer, Helmut 86 Kristevas, Julia 28 Krüger, Michael 128 Lady Bitch Ray 191 Lady Gaga 14 Lakoff, George 11 Latour, Bruno 64 Leiris, Michel 84 Lennon, John 21 Lessing, Gotthold Ephraim 186 Lethen, Helmut 90 Lichtenstein, Roy 19 Lindner, Patrick 25 Linné, Carl von 92 Littell, Jonathan 85f. Löffler, Sigrid 99, 131–133 Loos, Adolf 52 Lorenz, Konrad 92 Love, Courtney 14 Lubitsch, Ernst 143, 150 Ludwig I., König von Bayern 221 Ludwig II., König von Bayern 221 Luhmann, Niklas 4, 73, 156, 229 Lyotard, Jean-François 84 Madonna 24 Mahler, Gustav 14 Mailer, Norman 21, 177 Malinche 27 Mallarmé, Stéphane 53 Mann, Thomas 20, 25, 191 Marcuse, Herbert 184 Marinetti, Filippo Tommaso 16f. Mauthner, Fritz 183 May, Karl 13 Mayröcker, Friederike 84 McCarthy, Tom 46f. McCartney, Paul 14 McLuhan, Marshall 28, 81, 99

237 Meier, Albert 5 Meinecke, Thomas 1f., 23, 29, 63, 184, 219, 221–223, 230 Meltzer, Richard 23 Menil, Dominique de 14 Menu, Jean-Christoph 48 Meyer-Kalkus, Reinhart 76 Middelhof, Thomas 190 Mingus, Charles 14 Mitchell, Mitch 166f. Monroe, Marilyn 21 Montez, Lola 221 Moretti, Tobias 148 Morgenroth, Claas 76 Moritz, Karl Philipp 156 Morrison, Van 109 Morton, Jelly Roll 104 Moser, Hans 145 Müller, André 99 Müller, Herta 33, 95 Munch, Edvard 209 Musil, Robert 24 Nabokov, Vladimir 91, 93 Neumeister, Andreas 184 Nietzsche, Friedrich 105, 165, 183, 221 Nora, Pierre 98 Nüchtern, Klaus 128 Ostermeier, Thomas 141 Pasamonik, Didier 48 Pasolini, Pier Paolo 117 Paul, Jean 31f., 84 Peck, Dale 176 Peltzer, Ulrich 157 Pelz, Annegret 104 Perceval, Luk 145 Perec, Georges 219 Picasso, Pablo 18, 43f., 105, 209 Plessner, Helmuth 189 Plissart, Marie-Françoise 213f. Pollesch, René 8, 141–154 Prince 87f. Prohaska, Herbert 128 Proust, Marcel 20, 91, 93 Radiohead 15 Rancière, Jacques 84f. Rautenberg, Ursula 66 Rauschenberg, Robert 19 Reinhardt, Max 150 Reitberger, Reinhold C. 50 Richter, Falk 141 Riefenstahl, Leni 89 Riha, Karl 86

238 Robert, Yves 147 Roche, Charlotte 5 Rode, Marc-Boris 88 Rosenberg, Harold 19, 230 Rosin, Leslie 74 Rowlands, Gena 150 Rühr, Sandra 64 Rushdie, Salman 37 Saint-Just, Louis-Antoine-Léon de 221 Satrapi, Marjane 48 Sauermann, Eberhard 132 Schäfer, Jörgen 71 Scheck, Denis 128 Schiffer, Claudia 221 Schiller, Friedrich 16f. Schirrmacher, Frank 187 Schlaf, Johannes 163 Schlager, Werner 128 Schlegel, Friedrich 1 Schleiermacher, Friedrich 156 Schmidt, Arno 164 Schnitzler, Arthur 160f. Schönberg, Arnold 15 Schönherr, Ulrich 99 Schumacher, Eckhard 63, 66, 190 Schüwer, Martin 49 Schwitters, Kurt 32f. Scott, Ridley 167 Sebald, W.G. 91 Selg, Olaf 73, 75 Serres, Michel 47 Shakespeare, William 47, 102, 105f. Shahn, Ben 18 Shapton, Leanne 8f., 199–216 Shemtov, Vered 40 Shields, David 3 Sielmann, Heinz 92 Siffredi, Rocco 176 Simon, Claude 84, 91, 93 Simmons, Gene 221 eŽ‘˜•‹Œ, Viktor 155, 162 Sonderegger, Ruth 154 Sontag, Susan 20, 52 Spiegelman, Art 7, 44, 49, 53

Personenregister Spielberg, Steven 150, 167, 176 Stackl, Erhard 99 Stäheli, Urs 70 Stanislavskij, Konstantin Sergeeviþ 153 Stein, Gertrude 43 Steinberg, Leo 19 Steiner, George 2 Stifter, Adalbert 163, 215, 219 Strasberg, Lee 153 Strauß, Botho 15 Streiter, Anja 151 Stuckrad-Barre, Benjamin von 184, 219 Sukenick, Ronald 23 Tellkamp, Uwe 95, 196 Thompsons, Hunter S. 103 Tillmans, Wolfgang 145 Trakl, Georg 89 Truffaut, François 87 Twombly, Cy 209 Tzara, Tristan 30 Valentin, Karl 115 Varèse, Edgar 24 Vergil (Publius Vergilius Maro) 224 Vinken, Barbara 166 Voth, Joachim 224 Wagner, Karl 105 Wagner, Richard 17 Wallace, David Foster 23 Walser, Martin 15, 95, 114 Ware, Chris 44, 55 Warhol, Andy 19, 44, 209, 219, 225, 227 Weaver, Sigourney 144–146 Weinhuber, Josef 89 Wenders, Wim 103, 108 West, Mae 143 WestBam 30 Whitman, Walt 219 Wirth, Uwe 212 Wittgenstein, Ludwig 87, 220 Woolf, Virginia 206 Woollacott, Janet 146 Wordsworth, William 111f. Wuttke, Martin 150 Young, Robert 36