Zerstörte Sprache - gebrochenes Schweigen: Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen [1. Aufl.] 9783839431795

Can torture be narrated? It leads the victims of torture to the edge of the abyss, and literally breaks them. Can it be

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Zerstörte Sprache - gebrochenes Schweigen: Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen [1. Aufl.]
 9783839431795

Table of contents :
Inhalt
I. FOLTER – DEBATTEN UND HINTERGRÜNDE EINE EINFÜHRUNG
1. Einleitung
2. Die Texte
3. Folter im Staat und Folter im Text – zu den juristischen Grundlagen
2.1 Staatliche Folter und ihre Definitionen
2.2 Die Folterdebatte in der BRD und das deutsche Strafrecht
II. MACHT UND GEWALT
1. Vor dem Schmerz: Das Verhör als Raum der Machtentfaltung
1.1 Im Verhör: Befragungssituationen
1.2 Zum Verhältnis von Macht und Gewalt im Folterverhör: Ariel Dorfmans Death and the Maiden
1.3 Wahrheit I: Die Wahrheit des Verhörs
1.4 Der „schwarze Bruder“ Geständnis
2. Der Dritte: Öffentlichkeit, Schaulust, Scham
2.1 Öffentlichkeit
2.2 Schaulust
2.3 Scham
3. Resümee
III. SPRECHEN – SCHWEIGEN – ERZÄHLEN DER FOLTERTEXT ENTZIEHT SICH
1. Die Sprache der Folter
2. Unsagbare Schmerzen: Zu den Möglichkeiten der Repräsentation von Schmerz
2.1 Vom Mensch zum Tier: Der Schrei
2.2 Die Zersetzung der Welt
2.3 Versuche zu einer Hermeneutik des Schmerzes
3. Foltertexte
3.1 Der Foltertext als Obsession: Penetrationsversuche am Textkörper in J. M. Coetzees Waiting for the Barbarians
3.2 Impotenter Leser oder blinder Mann? Scheiterndes Schreiben und unsichere Lektüren in Waiting for the Barbarians
3.3 Unlesbare Zeichen – Zeichen der Unlesbarkeit: Folterallegorien?
3.4 Nacherleben und Nacherzählen: Schmerzimitatio
4. Leibeszeugenschaft
4.1 Der blinde Zeuge
4.2 Der Traumazeuge
5. Resümee
IV. DIMENSIONEN: WER SPRICHT VON FOLTER?
1. Nach der Folter – Opfer, Täter und der neue Staat
2. Wahrheit II: Die Wahrheit des Verhörten
3. Leibeszeuge oder Erzähler – wer hat das letzte Wort?
4. Resümee
V. LEBEN MIT DEN MADEN
Anhang
Literatur

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Tanja Pröbstl Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen

Lettre

Tanja Pröbstl, geb. 1983, promovierte 2013 bei Inka Mülder-Bach an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Rahmen des internationalen Promotionsprogramms Literaturwissenschaft (ProLit). Von 2009 bis 2012 war sie Doktorandin der DFG-Forschergruppe »Anfänge (in) der Moderne« und arbeitete außerdem als Gerichtsreporterin für die Nachrichtenagentur dapd. Seit 2012 ist sie für eine internationale Stiftung tätig.

Tanja Pröbstl

Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen

Dieses Buch entstand als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München und wurde für die Veröffentlichung geringfügig überarbeitet. Die Arbeit wurde ermöglicht durch eine Doktorandenstelle der DFG-Gruppe Anfänge (in) der Moderne.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Nora Teichert / photocase.de Satz: Tanja Pröbstl, München Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3179-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3179-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

I. FOLTER – DEBATTEN UND HINTERGRÜNDE E INE E INFÜHRUNG 1. Einleitung | 9 2. Die Texte | 21 3. Folter im Staat und Folter im Text – zu den juristischen Grundlagen | 29 2.1 Staatliche Folter und ihre Definitionen | 32

2.2 Die Folterdebatte in der BRD und das deutsche Strafrecht | 38

II. MACHT UND G EWALT 1. Vor dem Schmerz: Das Verhör als Raum der Machtentfaltung | 47 1.1 Im Verhör: Befragungssituationen | 48

1.2 Zum Verhältnis von Macht und Gewalt im Folterverhör: Ariel Dorfmans Death and the Maiden | 55 1.3 Wahrheit I: Die Wahrheit des Verhörs | 73 1.4 Der „schwarze Bruder“ Geständnis | 84 2. Der Dritte: Öffentlichkeit, Schaulust, Scham | 91

2.1 Öffentlichkeit | 93 2.2 Schaulust | 98 2.3 Scham | 110 3. Resümee | 117

III. SPRECHEN – SCHWEIGEN – E RZÄHLEN DER FOLTERTEXT ENTZIEHT SICH 1. Die Sprache der Folter | 123

2. Unsagbare Schmerzen: Zu den Möglichkeiten der Repräsentation von Schmerz | 137 2.1 Vom Mensch zum Tier: Der Schrei | 147 2.2 Die Zersetzung der Welt | 150 2.3 Versuche zu einer Hermeneutik des Schmerzes | 156 3. Foltertexte | 161

3.1 Der Foltertext als Obsession: Penetrationsversuche am Textkörper in J. M. Coetzees Waiting for the Barbarians | 161 3.2 Impotenter Leser oder blinder Mann? Scheiterndes Schreiben und unsichere Lektüren in Waiting for the Barbarians | 169 3.3 Unlesbare Zeichen – Zeichen der Unlesbarkeit: Folterallegorien? | 175 3.4 Nacherleben und Nacherzählen: Schmerzimitatio | 180 4. Leibeszeugenschaft | 187 4.1 Der blinde Zeuge | 194 4.2 Der Traumazeuge | 199 5. Resümee | 207

IV. DIMENSIONEN: WER SPRICHT VON FOLTER? 1. Nach der Folter – Opfer, Täter und der neue Staat | 211 2. Wahrheit II: Die Wahrheit des Verhörten | 221 3. Leibeszeuge oder Erzähler – wer hat das letzte Wort? | 243 4. Resümee | 251

V. LEBEN MIT DEN MADEN Anhang | 263 Literatur | 279

I. Folter – Debatten und Hintergründe Eine Einführung

Nach 183 Sitzungen Waterboarding hat Chalid Scheich Mohammed uns immer noch angelogen. Uns nicht die Wahrheit gesagt … ALI SOUFAN, EHEM. FBI-AGENT

1. Einleitung

[…] How can I compose verses? How can I now write? After the shackles and the nights and the sufferings and the tears, How can I write poetry? […]1

Als Sami al Haj diese Verse notiert, hat er bereits zehn Monate in verschiedenen Haftanstalten hinter sich – sowohl in Bagram als auch in Kandahar war der sudanesische Journalist gefoltert worden, in Guantánamo Bay, wohin ihn US-Streitkräfte im Juni 2002 bringen, ergeht es ihm wenig besser. 2 Al Haj wird verdächtigt, die muslimische Terrororganisation Al Quaida unterstützt zu haben, weil man ihn – muslimischer Berichterstatter für das arabische Mediennetzwerk Al Jazeera – 2001 in Afghanistan aufgriff, wo er zu den Folgen des Anschlags auf das World Trade Center in New York am 11. September desselben Jahres recherchierte. Beweise für terroristische Aktivitäten ließen sich laut Menschenrechtsorganisationen nicht anführen. 2008, nach einem langwierigen Hungerstreik, wird der Fernsehjournalist

1

Al Haj, Sami: Humiliated in the Shackles, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guantánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 42-43, hier: S. 43. Dem Entstehungskontext und den editorischen Besonderheiten der Poems from Guantánamo widme ich mich in Kapitel III.1 ausführlich.

2

Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guantánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 41.

10 | D EBATTEN UND HINTERGRÜNDE

nach über sechs Jahren Haft entlassen. Eine Anklage hatte es nie gegeben. 3 Irgendwann im Verlauf seiner Haft in Guantánamo wird Sami al Haj Schreibzeug zur Verfügung gestellt. Er notiert das Gedicht Humiliated in the Shackles, aus dem die oben zitierten Verse stammen. Sie führen mitten hinein in das Zentrum dieses Buches und seines Entstehungsgedankens. Wie lässt sich nach der Erfahrung unfassbaren Leides schreiben? Wie sprechen? Auf die in dem Gedichtvers formulierte Frage sind mindestens zwei Antworten möglich. Die erste – und diese impliziert auf den ersten Blick bereits die Rhetorik des Verses – lautet: „Gar nicht.“ Die zweite Antwort ist differenzierter und auch sie wird durch das Gedicht nahegelegt, denn es ist selbst eine Weise über Folter zu sprechen. Zunächst wäre im Rahmen dieser Antwort zu sagen, die Arten des Sprechens und Schreibens über Folter sind vielgestaltig – je nach Kontext unterscheiden sie sich. Wer ein Gedicht über die eigene Folter schreibt, spricht anders darüber als jemand, der Anklage vor einem internationalen Gremium erhebt. Wer seine Erinnerungen verfasst, berichtet anders von den Qualen der Folter, als jener, der sie in der Fiktion eines Romans festhält. Und dennoch gibt es Übereinstimmungen, Merkmale, die wiederkehren, egal in welchem Kontext von Folter die Rede ist. Denn: Folter widersetzt sich der Sprache und gleichzeitig scheint sie ihre eigene Dynamik von Mitteilung und Entzug zu entfalten, sie produziert Andeutungen, Vermutungen und den Anschein von Wissen, wo immer die Rede von ihr auftaucht oder vermieden wird. In der vorliegenden Untersuchung möchte ich mich nicht nur mit den verschiedenen Kontexten der Rede von und über Folter auseinandersetzen, sondern ich möchte auch die erste mögliche Antwort auf al Hajs Frage nicht außer Acht lassen. Die Untersuchungen der verschiedenen Arten des Erzählens von Folter, seiner Bedingungen, Methoden und Konsequenzen, die ich in diesem Buch unternehme, sind nicht die Behauptung, dass dieses Erzählen von Folter tatsächlich oder gar vorbehaltlos möglich wäre, wie bereits der Titel des Buches Zerstörte Sprache – gebrochenes Schweigen. Über die (Un-)Möglichkeit, von Folter zu erzählen nahe legt. Bewusst birgt der Titel auch die Unmöglichkeit von Folter zu sprechen. Weder werden die Klammern, noch wird die durch sie gebannte Vorsilbe des vorsichtigen Konstrukts „(Un-)Möglichkeit“ getilgt werden können,

3

http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/7378828.stm, zuletzt aufgerufen am 07. 03. 2013.

E INLEITUNG | 11

soviel darf bereits an dieser Stelle in Aussicht gestellt werden. Wer von Folter erzählt, von sich unter der Folter, ist ein anderer als derjenige, der er vor der Folter war. Wer also der Erzähler der Foltergeschichte ist, wer sich darin entwirft und wer, was und ob überhaupt etwas wieder hergestellt werden kann in der Erzählung, soll Gegenstand der Untersuchung sein, nicht aber Behauptung. Das Inbetrachtziehen der ersten Antwort, also der Unmöglichkeit der Rede, soll gleichzeitig zum Schutz vor der Gefahr einer Banalisierung des Gegenstandes beitragen. Folter ist nicht primär ein Phänomen der Literatur. Folter findet täglich, nahezu auf der ganzen Welt statt. Das Leid ihrer Opfer ist nicht in erster Linie ein dynamisierendes Element in Texten, sondern eine Realität, der Heerscharen von Psychologen, Politikern und Menschenrechtsexperten nicht beikommen. Wenn also die Antwort auf die Frage, ob ein Sprechen über Folter möglich ist, für viele Texte und Situationen mit den entsprechenden Einschränkungen und Auffälligkeiten „ja“ lauten mag, so ist dies kein generelles „Ja“. Die vielen, die an ihrem Trauma zu Grunde gehen, hören wir nicht, wir lesen nicht von ihnen und sie tauchen in keiner Therapie und vor keinem Gericht auf.4 In diesem Sinne erhebt dieses Buch auch nicht den Anspruch, allgemeine Aussagen über die Möglichkeiten des Sprechens und Schreibens über Folter zu treffen. Schwerpunkt der Untersuchung sind literarische Texte, in denen von Folter gesprochen – beziehungsweise eben häufig nicht gesprochen – wird. Die Ähnlichkeiten mit realen Situationen, in denen Folter Gegenstand von Sprache ist, sind mitunter auffällig, und wo es mir angemessen erscheint, weise ich darauf hin, ohne zu vergessen, dass Folter für einen Traumapsychologen, einen Juristen oder Mediziner vollkommen andere Realität besitzt als für einen Literaturwissenschaftler. Und dennoch bin ich überzeugt davon, dass die unterschiedlichen Disziplinen von den jeweiligen Erkenntnissen der anderen profitieren können. Mit der Schwierigkeit, dass sich Folter der Sprache widersetzt, haben jedenfalls all die unterschiedlichen Wissenschaften, die sich mit ihr beschäftigen, mehr oder minder schwer zu kämpfen. Die Gründe dafür sind vielfältig – einige davon wird die vorliegende Arbeit beleuchten. In die frühe Phase der Auseinandersetzung mit meinem Thema fiel der zehnte Jahrestag der Anschläge auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001. Kurz vor diesem bedeutungsvollen Datum, Anfang

4

Liedl, Alexandra: Interview, Anhang, S. 200.

12 | D EBATTEN UND H INTERGRÜNDE

Mai 2011, gelang es einer Spezialeinheit US-amerikanischer Soldaten AlQuaida-Chef Osama bin Laden zu töten. Die Debatte über Folter, ihren Gegenstand sowie Nutzen und Nachteil lebte erneut auf, da man darüber stritt, ob Aussagen unter der Folter letztlich dazu führten, dass man den AlQuaida-Mann in seinem pakistanischen Versteck aufspürte und tötete. Nachdem die Folterbilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib 2004 für weltweites Entsetzen und scharfe Kritik an den US-amerikanischen Streitkräften und Sicherheitsexperten gesorgt hatten, die Gefangene unter Terrorverdacht systematisch und auf schwerste Weise folterten, wie auf den Bildern offensichtlich wird, erwog man angesichts des Triumphes über das Terrornetzwerk im Frühjahr 2011 bereits wieder mögliche Anwendungsgebiete von Folter. Der Rechtsexperte John Yoo, der in der Folge der Anschläge und ersten Verhaftungen für das amerikanische Justizministerium die vielzitierten Memoranden zu „verschärften Verhörmethoden“ verfasste, forderte den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Barack Obama, auf, er solle „die strafrechtlichen Ermittlungen gegen CIA-Agenten beenden und das Verhörprogramm wieder aufnehmen, das uns zu Bin Laden führte“. 5 Bereits zum Zeitpunkt dieser Aussage, also kurz nach der Tötung Bin Ladens, war jedoch fraglich, ob tatsächlich unter Folter preisgegebene Informationen zu Bin Laden führten.6 7 Einer jener FBI-Beamten, der bei den Folterverhören der sogenannten Top-Terroristen anwesend und an ihnen beteiligt war, Ali Soufan, widersprach der Darstellung bereits kurze Zeit später offen in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel:

5

Kreye, Andrian: Dirty Harry im Weißen Haus, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 105 (07. 05. 2011), S. 13.

6

Vgl. ebd.

7

In die Abschlussphase der Arbeit an dieser Publikation fiel die Veröffentlichung des Untersuchungsberichts über das Internierungs- und Verhörprogramm der Central Intelligence Agency, vorgelegt vom Geheimdienstausschuss des USSenats unter der Leitung von Dianne Feinstein. Darin heißt es unter Punkt eins der „Befunde und Schlussfolgerungen“: „Die Anwendung verschärfter Verhörmethoden durch die CIA war kein wirksames Mittel, um geheimdienstliche Informationen zu gewinnen oder die Inhaftierten zur Kooperation zu bewegen.“ Nešković, Wolfgang (Hg.): Der CIA Folterreport. Der offizielle Bericht des USSenats zum Internierungs- und Verhörprogramm der CIA, übers. v. Pieke Biermann u. A., Frankfurt a. M. 2015, S. 36.

E INLEITUNG | 13

„Nach 183 Sitzungen Waterboarding hat Chalid Scheich Mohammed [eines der ranghöchsten Al Quaida-Mitglieder, T.P.], uns immer noch angelogen. Uns nicht die Wahrheit gesagt über den sogenannten Kuwaiti, Abu Ahmed al-Kuwaiti, den Kurier, der uns letztlich zu Bin Laden führte.“8

Nach der Überzeugung Soufans waren es vielmehr vertrauliche Gespräche mit einem anderen hochrangigen Häftling, die CIA und FBI auf die richtige Spur führten.9 Zum Jahresbeginn 2013, kurz vor der Fertigstellung dieser Arbeit, sind die Debatten noch immer lebendig und sie verhandeln noch immer denselben Gegenstand. Diesmal international befeuert durch den viel kritisierten und viel gelobten Film von Kathryn Bigelow Zero Dark Thirty (2012), der in einer Mischung aus Agententhriller und Doku-Fiktion die Suche nach Osama Bin Laden und schließlich seine Tötung erzählt. Im Zentrum der Diskussion um den 156 Minuten langen Film stehen jene 15 Minuten, die die „verschärfte Vernehmung“ eines mutmaßlichen AlQuaida-Terroristen zeigen. Es ist „diese Kontroverse, die diesen Film interessanter macht, als er eigentlich ist“.10 Erneut diskutiert die Welt im Jahr 2013 über den möglichen Nutzen von Folter. Gleichzeitig – und auch dies trägt zu der aktuellen Debatte bei, wenn auch weniger in Deutschland als in den USA – wird bereits erwähntem Chalid Scheich Mohammed vor einem Militärtribunal in Guantánamo der Prozess gemacht. Ein Verfahren, in dem die Verteidiger des „Vorstandsvorsitzenden“ von Al Quaida „nachweisen möchten, dass der Angeklagte von der CIA gefolterte wurde“, 11 um statt der Todes- eine lebenslange Freiheitsstrafe für ihren Mandanten zu erwirken. Es geht dabei um den Beweis von Taten, mit denen sich jene Agenten sowie Justizbeamte wie Yoo vor zwei Jahren offen brüsteten und auf deren Grundlage sie sich für den weiteren Einsatz von als „verschärfte Verhörmethoden“ euphemisierter Folter stark machten.

8

Soufan, Ali: „Wir haben es falsch gemacht“, Gespräch mit Britta Sandberg, in: Der Spiegel, Nr. 37, (12. 09. 2011), S. 119-124, hier: S. 124.

9

Ebd., S. 123.

10 Vahabzadeh, Susan: Die Schuld der Bilder, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 25 (30. 01. 2013), S. 11. 11 Richter, Nicolas: Alles auf Lager, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 28 (2./3. 02. 2013), S. 3.

14 | D EBATTEN UND H INTERGRÜNDE

Weitere Debatten ließen sich hier anführen: In Deutschland spielte die Folterdrohung gegenüber dem mutmaßlichen Entführer des Bankiersohnes Jacob von Metzler eine Rolle, auf die ich im anschließenden Abschnitt der Arbeit eingehen werde. Sri Lanka, Chile, Argentinien oder auch Südafrika führten in den vergangenen 20 Jahren ihre ganz eigenen Folterdebatten, von denen ich einige im Verlauf der Arbeit ebenfalls aufgreifen werde. Nahezu täglich taucht der Begriff „Folter“ in Schlagzeilen verschiedenster Medien auf – von Georgien12 bis nach Südafrika.13 Die Debatte, die in den USA wurzelt, zeigt jedoch nicht nur die Hartnäckigkeit der Diskussion um Folter, sondern an ihr lässt sich ein weiteres Phänomen beobachten, das Folter begleitet: Die Rede über sie ist mit Tabus von verschiedenen Seiten belegt. In dem Verhandlungssaal auf Guantánamo, in dem das Militärgericht unter dem Vorsitz von Oberst James L. Pohl irgendwann über Chalid Scheich Mohammed urteilen soll, leuchtet dieses Tabu regelmäßig rot auf. Im Dezember 2012 „wurde angeordnet, die Öffentlichkeit auszuschließen, wann immer die Gefangenen über ihre Erlebnisse unter Folter sprechen“.14 Der Ton der Verhandlung wird in den separaten Zuhörerraum zeitversetzt übertragen. Wann immer die rote Lampe auf dem Tisch des Richters leuchtet, heißt das, die Verbindung ist unterbrochen, die Zuschauer hören nicht, was im Verhandlungssaal gesprochen wird. Angeblich weiß nicht einmal der Vorsitzende Richter selbst, wer die Rede über Folter zensiert: „Wenn uns hier eine externe Stelle abdreht, weil sie es für richtig hält, und ohne vernünftigen Grund, dann werden wir eine kleine Unterhaltung haben darüber, wer dieses Licht ein- und ausschaltet“, wird Pohl von einem Prozessbe-

12 Im September 2012 tauchten im Internet Videos von Gefangenen in einer georgischen Haftanstalt auf, die von Wärtern gefoltert und sexuell missbraucht wurden: http://www.dw.de/folter-videos-ersch%C3%BCttern-georgien/a-16251035, zuletzt aufgerufen am 07. 03. 2013. 13 Anfang März 2013 geht die Meldung durch internationale Medien, dass Polizisten in Johannesburg unter dem Verdacht stehen, einen Polizisten zu Tode gequält zu haben: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/brutale-festnahme-insuedafrika-zu-tode-geschleift-a-886235.html, zuletzt aufgerufen am 07. 03. 2013. 14 Richter, Nicolas: Alles auf Lager, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 28 (2./3. 02 2013), S. 3.

E INLEITUNG | 15

obachter zitiert.15 Kathryn Bigelows Film löste bei den ersten Vorführungen in den USA wütende Proteste aus – diesmal von Foltergegnern, die jedwede Darstellung von Folter als deren Billigung verstanden und daher unterbinden wollten. „Bigelow verwahrte sich dagegen, ihr Film sei keineswegs eine ‚Billigung‘: Man könne von Folter ja überhaupt nur erzählen, wenn man sie darstelle“.16 Der bereits erwähnte FBI-Agent Ali Soufan schrieb 2011 ein Buch über seine Erlebnisse bei den Vernehmungen in sogenannten black sites, also jenen geheimen Militärgefängnissen der USA, in denen Terrorverdächtige in absoluter Isolation festgehalten wurden und werden. Obgleich Soufan über die Vorgänge bereits öffentlich ausgesagt hatte und in seinem Buch The Black Banners Klarnamen vermeidet, wurde der Text von der CIA massiv zensiert, mitunter sind ganze Seite geschwärzt: „Sie haben sogar Pronomen geschwärzt, ein ‚Ich‘, ein ‚Wir‘, ein ‚Mein‘. Sie haben Dinge geschwärzt, die ich bereits in einer öffentlichen Senatsanhörung gesagt habe, wie andere Informationen, die öffentlich zugänglich sind.“17 18 Wer Folter zur Sprache bringen will – ob Opfer oder Zeuge – hat es schwer, nicht nur in den USA, sondern beispielsweise auch in Deutschland, wie ich im Folgenden noch zeigen werde. Allein die Rede über Folter wird mitunter als Gefahr, als Tat, betrachtet, als würden sich in ihr Teile der eigentlichen Tat wiederholen, als wäre sie gefährlich. Nicht umsonst erfüllt bereits die Drohung mit Folter – allein das Wort – den Straftatbestand der Folter selbst.19 Die Rede von Folter besitzt also ein massives performatives

15 Ebd. 16 Vahabzadeh, Susan: Die Schuld der Bilder, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 25 (30. 01. 2013), S. 11. 17 Soufan, Ali: „Wir haben es falsch gemacht“, Gespräch mit Britta Sandberg, in: Der Spiegel, Nr. 37, (12. 09. 2011), S. 119-124, hier: S. 124. 18 Die Skizzierung aktueller Debatten und Publikationen gibt den Stand um die Mitte des Jahres 2013 wieder. Im Jahr 2015 ließen sich zahlreiche Ergänzungen vornehmen, zu deren wichtigsten sicherlich der bereits zitierte CIA-Folterreport zählt, aber auch die Veröffentlichung des Guantanámo Diary von Mohamedou Ould Slahi Anfang des Jahres. 19 Weilert, Anja Katarina: Grundlagen und Grenzen des Folterverbots in verschiedenen Rechtskreisen. Eine Analyse anhand der deutschen, israelischen und pakistanischen Rechtsvorschriften vor dem Hintergrund des jeweiligen historisch-

16 | D EBATTEN UND H INTERGRÜNDE

Potential, das in den Texten, die von ihr handeln, eine enorme Produktivität entfaltet. Die Rede oder mitunter Unmöglichkeit der Rede von Folter wirkt geradezu wie ein Textgenerator. Folter spukt in den Texten, die sie umkreisen und doch meiden, wie ein böser Geist. Kein Text beschreibt dies besser als Toni Morrisons Beloved (1987). In dem Haus der Protagonistin, der ehemaligen Sklavin Sethe, spukt es buchstäblich, bis sie selbst dem Spuk ein Ende bereitet und von den Misshandlungen erzählt, die sie erlitt. Der Geist, der Haus und Leben von Sethe durchwehte, verschwindet, aber mit ihm auch die Person, die Sethe war. Kraft und Zuversicht weichen – Sethe hat mit ihrer Geschichte auch sich selbst preisgegeben. Trotz dieser einmaligen Veranschaulichung der Textproduktion des Redens und Schweigens über Folter habe ich mich entschieden, den ursprünglich im Textkanon dieser Arbeit zentralen Roman Morrisons letztlich unberücksichtigt zu lassen. Zu speziell sind die Paradigmen des Erzählens vor dem Hintergrund von Sklaverei in den USA. Texte über Sklaverei haben ihre eigenen Verfahren und Verweissysteme entwickelt. Sie zu berücksichtigen hätte weit weg geführt vom Kern dieser Untersuchung und sie unberücksichtigt zu lassen hätte bedeutet, ein zentrales Thema von Beloved zu ignorieren. Ähnlich verhält es sich mit Texten, die im Kontext der Holocaust- oder Zeugenschaftsliteratur stehen. Auch sie erzählen von Folter, tun dies allerdings ebenfalls unter ganz eigenen narrativen Voraussetzungen, deren Berücksichtigung letztlich zu einer anderen Arbeit als dieser geführt hätte. Ich streife diese Texte daher nur hin und wieder an jenen Rändern, die mir allgemeine Aussagen über Folter, unabhängig von ihrem spezifischen Kontext, zu treffen scheinen. Außerdem habe ich mich auch dagegen entschieden, Analysen von Filmen, Serien und anderen Videos, die das Erzählen von Folter zeigen, in das Buch aufzunehmen. Auch ihre Darstellungsparadigmen, bestimmt durch spezifische Bildpolitiken und -dynamiken, weichen von jenen, die Texte bestimmen, entscheidend ab. Ihre analysierende Betrachtung wäre zu vorsaussetzungsreich gewesen, um sich in die Anlage dieser Arbeit sinnvoll einzufügen. Jene Texte, die nun die Basis dieser Arbeit darstellen, werde ich im unmittelbaren Anschluss an dieses Kapitel vorstellen. Zunächst aber soll hier Einblick in die Struktur des Buches gewährt werden:

kulturell bedingten Verständnisses der Menschenwürde, Heidelberg u. a. 2009, S. 34.

E INLEITUNG | 17

Die vorliegende Untersuchung besteht aus insgesamt vier Teilen und einem Fazit, deren Kapitel sich jeweils um einen thematischen Schwerpunkt gruppieren. In diesem ersten Einleitungsteil schließt an die Einführung in die Arbeit und die globalen Debatten, die ihre Entstehung begleiteten, eine kurze Erläuterung der juristischen Grundlagen von Folter und des Folterbegriffs an sowie eine genauere Betrachtung der bundesdeutschen Folterdebatte vor dem Hintergrund des deutschen Strafrechts. Der zweite Teil des Buches nutzt das Verhör als verbalen Raum, aber auch als Topos, in dem sich die Mechanismen von Macht und Gewalt sowie die Beziehung zwischen Opfer und Täter in einzigartiger Weise entfalten und entsprechend analysieren lassen. Dabei hinterfrage ich, mich an Hannah Arendt, Niklas Luhmann und Jan Philipp Reemtsma orientierend, nicht nur, ob sich Macht im Vollzug der extremen Foltergewalt überhaupt entfalten kann und welche Funktion der kommunikative Akt der Befragung in der Folter erfüllt, sondern auch, welchen Stellenwert unter Zwang ermittelte Wahrheit haben kann und welcher Bedeutung vor diesem Hintergrund dem Geständnis, oft zentraler Bestandteil des Folterverhörs, zukommt. Sämtliche Phänomene im Zusammenhang mit dem Verhör untersuche ich an Ariel Dorfmans Drama Death and the Maiden – einem Kammerspiel, in dem sich die Verhältnisse zwischen einstigem Folteropfer und seinem Folterer umkehren und am Ende des Verhörs die Geschichte des Opfers steht. Im Anschluss an diese Lektüre wird anhand der Phänomene Öffentlichkeit, Scham und Schaulust die Rolle und Instrumentalisierung des Dritten, des Beobachters und Mitwissers, untersucht und gezeigt, wie auch er zum kalkulierten Mittel des Folterers wird. Zu diesem Zweck werde ich erneut auf die US-amerikanische Folterdebatte in der Folge der Veröffentlichung von Bildern aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib im Mai 2004 zurückkommen. Der anschließende dritte Teil des Buches ist mit Sprechen – Schweigen – Erzählen überschrieben. Seinen Kern bildet die Analyse des Romans von J. M. Coetzee, Waiting for the Barbarians. Ich möchte anhand dieses Textes zeigen, wie das Begehren nach der Foltererzählung und die Unmöglichkeit authentischer Erzählverfahren zu einem produktiven, textgenerierenden Mittel wird. In diesem Kapitel stellt sich immer wieder auch die Frage nach dem Körper des Gefolterten, die in eine Untersuchung des Folterzeugen und seines Zeugniskörpers mündet.

18 | D EBATTEN UND H INTERGRÜNDE

Der vierte Teil – Dimensionen – ist ein Ausblick über den Textrand hinaus. Ohne rezeptionstheoretisch vorzugehen, widmet sich dieses Kapitel der Frage, in welchen Kontexten und mit welchen Konsequenzen von Folter erzählt und über sie geschrieben wird. Welche Regime lassen diese Erzählungen zu und was sagen sie und ihr Zustandekommen über die Beziehungen von Machthabern, Opfern und Tätern sowie über die Zukunft dieser Beziehungen aus? Die Truth and Reconciliation Commission in Südafrika als Beispiel heranziehend, möchte ich mich ein zweites Mal der ‚Wahrheit‘ zuwenden und der Frage nachgehen, in welchem Maße Texte in der Lage sind, diese zu offenbaren. Während die ‚Wahrheitsermittlungen‘ im Rahmen des Kapitels zum Verhör untersuchten, ob es eine Wahrheit unter der Folter geben kann, ist hier die Frage nach einer Wahrheit über die Folter zentral. Ein Fazit im Leben mit den Maden benannten letzten Buchteil fasst die Ergebnisse der Untersuchung zusammen und gibt einen Ausblick auf sinnvolle, mögliche Ergänzungen dieser Arbeit sowie des Forschungsfeldes, in dem sie sich bewegt. Von Folter ist nicht nur in den verschiedensten Medien, Situationen und Textgattungen die Rede, sondern entsprechend sind auch die wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit ihr beschäftigen, sehr vielfältig. Zu den zahlreichen Erkenntnisinteressen, die sich an den Gegenstand richten, gehörten jene, die der Literaturwissenschaft entspringen, bisher sicherlich nur am Rande. Es gibt einerseits diskursgeschichtliche Annäherungen an das Thema, allen voran Sven Kramers umfangreiche Studie Die Folter in der Literatur. Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Literatur von 1740 bis nach Auschwitz (2004), die Folter ausführlich als Gegenstand literarischer Werke aus zwei Jahrhunderten zeigt. Daneben gibt es zahlreiche Bearbeitungen von Einzelaspekten, die in der Beschäftigung mit Folter auftauchen. Schmerzstudien wie jene von Elaine Scarry (The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, 1985) oder Heiko Christians (Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Allgemeinplätzen, 1999). Studien zum Verhör wie die monumentale Untersuchung von Michael Niehaus (Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion, 2003), der sich dem Thema sowohl (diskurs-)geschichtlich als auch medientheoretisch nähert, oder auch Jennifer R. Ballengees The Wound and the Witness. The Rhetoric of Torture (2009) und Idelber Avelars Letter of Violence. Essays on Narrative, Ethics und Politics (2004), beide eher kleinere Studien zur (Körper-)Politik von

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Folter, beschäftigen sich mit wichtigen Positionen zu meinem Thema: dem Erzählen von Folter, das als solches in den mir bekannten Untersuchungen jedoch lediglich am Rande eine Rolle spielt, am ehesten noch in Aufsätzen zu den jeweiligen literarischen Texten. Ich bin daher in dieser Arbeit darauf angewiesen, auf viele wissenschaftliche Bereiche zurückzugreifen, in denen der Literaturwissenschaftler allenfalls Gast ist. Zu nennen ist hier vor allem die Rechtswissenschaft, aus der ich zahlreiche aktuelle Werke herangezogen habe, um mich dem rechtspolitischen Gehalt des Folterbegriffs und den internationalen Debatten um ihn zu nähern. Auch Studien aus dem Bereich der Psychologie und Traumatherapie finden Eingang in diese Arbeit. Zum Erfassen dieses Feldes trug ein Besuch im Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer (bzfo) und der dortigen institutseigenen Bibliothek bei. Gespräche mit den Mitarbeitern und ein Überblick über die dort zugänglichen Forschungsarbeiten führten zu der Erfahrung, dass auch jene, die nah an der Praxis mit dem Thema Folter umgehen, letztlich auf dieselben Forschungsarbeiten zurückgreifen, wie jene, die sich mit dem Thema theoretisch auseinandersetzen. Ich bin den Mitarbeitern des bzfo für ihre Unterstützung und ihre offenen Türen sehr dankbar. Besonders Alexandra Liedl, die mir durch ein offenes und ausführliches Gespräch Einblick gewährte in die Methoden therapeutischen Sprechens über Folter. Das Gespräch ist der Arbeit in Interviewform als Anhang beigelegt. Auch Mediziner kommen im vorliegenden Buch zu Wort, neben Politikwissenschaftlern, Soziologen und Kriminalexperten. Die Arbeit mit Material aus verschiedensten Disziplinen erfolgt immer in dem Bewusstsein, dass ich kein Fachmann in diesen Disziplinen bin, auf die ich dennoch angewiesen war, um meinem Thema gerecht werden zu können, zumal der Einblick in scheinbar Abwegiges immer wieder auch erstaunliche Erkenntnisse in den Gegenstand des eigenen Fachs liefert. Dass die Schreibverfahren der inhaftierten Autoren der „Gedichte aus Guantánamo“ drastisch jenen der Patienten von Traumatherapeuten im arabischsprachigen Raum ähneln, mag vielleicht nicht jeden überraschen. Dass aber sowohl in literarischen Texten als auch in therapeutischen wie juristisch-politischen Texten die physische Übergabe einer Niederschrift der eigenen Foltergeschichte an das einstige Opfer eine wichtige Funktion einnimmt, ist eher überraschend und die Feststellung ist einzig dem interdisziplinären Blick geschuldet. Lediglich durch diesen breiten wissenschaftlichen Fokus lassen sich letztlich auch jene Aspekte erfassen, um die es mir in meiner Arbeit geht:

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Die Struktur des Erzählens über Folter und darin gleichzeitig der Folter selbst. Wie teilt sich Folter mit und was teilt sich durch ihre Mitteilung mit? Wo nötig, erfolgt eine detaillierte kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen wissenschaftlichen Beiträgen und ihren Autoren an jenen Stellen der Arbeit, an denen diese auftauchen.

2. Die Texte

Die Texteinführung fällt an dieser Stelle umfangreicher aus als dies üblicherweise an diesem Ort einer Arbeit der Fall ist. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die entsprechenden Texte bereits bevor sie zum Zentrum eines Kapitels oder Abschnitts werden, immer wieder für kurze Nachweise oder Seitenblicke herangezogen werden. Diesen jeweils eine umfängliche Einführung in den Text vorzuschalten, würde den Lesefluss stören und stünde in keinem Verhältnis zu den jeweiligen kurzen Texthinweisen. Auf eine Einfürung zu verzichten allerdings, bedeutete den Leser allein zu lassen mit mutmaßlich oft unbekannten, da selten kanonischen Texten. Daher werden jene Texte, die im Verlauf der Arbeit eine bedeutende oder wiederkehrende Rolle spielen, im Folgenden vorgestellt. Zum Kanon der fiktionalen Texte dieser Arbeit gehören aus genannten Gründen an erster Stelle Texte, die nach 1945 entstanden: Ariel Dorfmans Drama Death and the Maiden (1981), J. M. Coetzees Roman Waiting for the Barbarians (1980), aber auch – da er sich am ins Allgemeine reichenden Rand der Holocaust-Literatur bewegt – Jean Amérys Aufsatz Die Tortur (1966). Daneben widme ich mich Henri Allegs Haftbericht La Question/Die Folter (1958), Breyten Breytenbachs autobiografischem Text True Confessions of an Albino Terrorist (1984) und Gillian Slovos Roman Red Dust (2000). Einige weitere Texte finden am Rande Erwähnung. Den genannten Werken ist gemeinsam, dass es in ihnen eine Figur gibt, die von – meist selbst erlebter – Folter spricht oder zu sprechen versucht, dass es also nicht nur um eine abstrakte Darstellung von Folter geht.

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Ariel Dorfman: Death and the Maiden Obwohl das 1990 veröffentlichte Stück Death and the Maiden des argentinisch-chilenisch-US-amerikanischen Autors Ariel Dorfman im Jahr seines Erscheinens und im Folgejahr an über 30 Theatern in London, den USA, aber auch in Südamerika gespielt wurde und allein in Deutschland 1992 auf 18 Bühnen zu sehen war, zählt es heute nicht gerade zu den kanonischen Theaterstücken. Etwas bekannter als die zahlreichen Bühnenfassungen ist vermutlich der 1994 unter demselben Titel erschienene Film von Roman Polanski, besetzt mit Sigourney Weaver, Ben Kingsley und Stuart Wilson. Ein kurzer Überblick zur Handlung dieses Kammerspiels über die Auswirkungen der Folterkammer scheint dennoch geboten: Das Personeninventar besteht aus drei Figuren: Paulina Salas, eine etwa 40-Jährige, die während der Diktatur wegen ihres regimekritischen Engagements inhaftiert, gefoltert und sexuell missbraucht wurde. Ihr Mann, Gerardo Escobar, Jurist und von der neuen demokratischen Regierung in eine Untersuchungskommission zur Aufklärung der Menschenrechtsverletzungen unter dieser Diktatur – die chilenische liegt nahe – bestellt. Und Roberto Miranda, Arzt. Als Gerardo Miranda, der ihn nach einer Autopanne nach Hause gefahren hat, spätabends zu sich einlädt, glaubt Paulina die Stimme ihres ehemaligen Folterers zu erkennen. Ihre Augen waren während der Folterungen verbunden, so dass Mirandas Stimme und seine Art zu sprechen ihre einzigen Indizien bleiben, wodurch ihre Gewissheit, ihren Peiniger vor sich zu haben, aber keineswegs getrübt wird. Paulina fesselt ihren mutmaßlichen früheren Folterer an einen Stuhl und schafft somit eine geradezu prototypische Versuchsanordnung, in der sich das Begehren nach der eigenen, unaussprechlichen Geschichte mit juristischen und politischen Dimensionen überschneidet. Eine ausführliche Analyse des Dramentextes erfolgt in ersten Kapitel des zweiten Teils. Breyten Breytenbach: True Confessions of an Albino Terrorist In True Confessions of an Albino Terrorist schildert der Erzähler „Breyten Breytenbach“ einem Gegenüber, das sich mal als Vernehmungsbeamter, mal als anonymes Du und mal als Leser identifizieren lässt, von seinen Untergrundaktivitäten für die Organisation OKHELA, von seiner Verhaftung,

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der anschließenden Gerichtsverhandlung und vor allem von seiner Haft und den Überlebensstrategien, von denen eine das Schreiben ist.20 Fragesteller und Befragter, Erzähler und Adressat verschwimmen häufig in dem mit einem Punkt versehenen Buchstaben „I“, der für die erste englische Person singular genauso steht wie für den ersten Buchstaben des Wortes „Investigator“. Breytenbach beschreibt in eindringlicher, lyrisch anmutender Prosa, wie die gängigen Darstellungsverfahren des Dichters versagen. „Reality is that the illusion will be executed.“21 Wer erlebt hat, was bis dahin unvorstellbar war, dessen Vorstellungsvermögen ist, so Breytenbach, nicht mehr frei. Gleichzeitig bleibt das Erlebte unaussprechlich: „I write to no one, inventing an I who may mouth the words that I can neither swallow nor spew out – they are the stones of the labyrinth, with the mortar of silences. Too weak. Too weak“.22

Breytenbachs Text ist einer der literarischen Texte, die dem fünften Teil der Arbeit zugrunde liegen. J. M. Coetzee: Waiting for the Barbarians Die Hauptfigur in Coetzees 1980 veröffentlichten Roman ist hoher Beamter, Magistrat, in einem Kolonialreich, das zwar Grenzen zu verteidigen hat, deren Verlauf der Roman aber nicht preisgibt, wie auch die historische Zeit der Handlung vage bleibt Eine Grenzstadt in der Provinz wird zum Stützpunkt von Verteidigungshandlungen „des Reichs“ gegen „die Barbaren“. Nach einer ersten militärischen Expedition werden Gefangene in die vom Magistrat verwaltete Garnisonsstadt gebracht, verhört und gefoltert. Nach ihrer Freilassung bleibt ein Barbarenmädchen zurück – verstümmelt und nahezu blind. Der Magistrat nimmt sie für den Verlauf etwa eines Winters bei sich auf, pflegt sie und unterhält ein hochintimes, wenn auch jede konventionelle Form von Sexualität entbehrendes Verhältnis mit ihr, bevor er sie zurück zu einem der 20 Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, ab S. 155. 21 Ebd., S. 239. 22 Ebd.

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Barbarenstämme des Landes bringt. Nach seiner Rückkehr erwartet ihn der folternde Oberst der für die Reichssicherheit zuständigen Polizeiabteilung III bereits in der einst als idyllisch empfundenen Oasenstadt. Der Magistrat wird wegen seines „Feindeskontakts“ inhaftiert und selbst zum Opfer grausamer Folter, bis die Armeeaktion gegen die Barbaren in einem militärischen Desaster endet und Stadt und Verwalter erneut sich selbst überlassen werden. Die ausführliche Lektüre des Romans erfolgt im dritten Kapitel des dritten Teils. Henri Alleg: La Question Allegs Haftbericht, in dem er mit „bewundernstwerter Genauigkeit“,23 wie Jean-Paul Sartre in seiner Einleitung schreibt, die Verhöre der französischen Besatzer im Gefängnis von Algier schildert, erschien 1958 – die erste Auflage war binnen zwei Wochen vergriffen. Mit dem Blick und im Stil des Journalisten, der Alleg Zeit seines Lebens blieb, schildert er nicht nur seine Haftbedingungen und die seiner Mitgefangenen, die Folterungen, grausamen Verhöre und das Verschwinden zahlreicher Inhaftierter, sondern auch die Täter, deren Dialoge und sadistischen Methoden er mit dokumentarischer Genauigkeit wiedergibt. Jean Améry: Die Tortur Jean Amérys Aufsatz erschien 1966 als Teil einer Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten betitelten Textsammlung. Die Aufsätze sind eine Art Selbstverortung des Intellektuellen nach Auschwitz, vor allem aber der Versuch, nach 20 Jahren das eigene Schweigen zu brechen – ausgelöst durch den soganannten Frankfurter Auschwitzprozess im Jahr 1964. Die Tortur ist nicht nur ein autobiografischer Bericht über Haft und Folter, sondern es handelt sich dabei um die Dokumentation des Versuchs eine Sprache für jene Ereignisse zu finden sowie für das eigene Ich als Teil dieser Ereignisse: „Eine nachdenklich essayistische Arbeit

23 Ein Sieg. Geleitwort zu Henri Allegs La Question, in: Alleg, Henri: Die Folter. La Question, München 1958, S. 7-17, h.: S. 7.

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hatte ich geplant. Eine durch Meditationen gebrochene, persönliche Konfession entstand.“24 Gillian Slovo: Red Dust Der 2002 erschienene Roman Red Dust der Südafrikanerin Gillian Slovo kreist um den Konflikt zwischen Wahrheit und juristischer Gerechtigkeit. Slovo, deren Eltern beide als politische Aktivisten gegen die Apartheid kämpften und deren Mutter 1982 bei einem Bombenattentat getötet wurde,25 gibt sich kaum Mühe, zu verbergen, dass scheinbar ausschließlich die möglichst sachgerechte Darstellung der Kommissionsarbeit und der damit einhergehenden Konflikte den Roman motivieren: Er ist wenig komplex, die Charaktere sind Typen – Täter, Opfer, und deren jeweilige Fürsprecher – und Konflikte werden geradezu parolenhaft ausbuchstabiert. In einer Kritik der New York Times heißt es über Red Dust „Although the central characters tend to be one-dimensional and have the annoying habit of thinking aloud details of the plot, the novel is an overall success and a powerful introduction to one of the 20th century's most extraordinary social experiments.“26 Dennoch und mitunter sogar gerade deshalb eigenet er sich, um die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und die Entwicklung im Umgang mit ihr im nach-Apartheid-Afrika zu zeigen. Die Titel stehen für vollkommen unterschiedliche Genres und es ist nicht mein Anliegen, diese durch die Genreneuschöpfung „Foltererzählung“ zu ersetzen. Mit diesem Begriff möchte ich nicht etwa eine neue Gattung etablieren, wie sie beispielsweise Jan Philipp Reemtsma für die Memoiren

24 Améry, Jean: Vorwort zur ersten Ausgabe, in: ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 15-17, h.: S. 16. 25 Slovo nahm selbst an dem Amnesty Hearing des Mörders ihrer Mutter, einem Polizeispion, teil und führte umfangreiche Interviews mit dem Mann, die unter dem Titel Every Secret Thing: My Family, My Country (1997) erschienen. S. Eprile, Tony: Settling Scores. Gillian Slovos Red Dust, in New York Times Book Review, 28. 04. 2002, einzusehen unter: http://www.nytimes.com/2002/ 04/28/books/settling-scores.html; zuletzt aufgerufen am 30. 01. 2013. 26 Ebd.

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Überlebender vorschlug,27 sondern ich beschreibe mit dem Begriff das buchstäbliche Erzählen von Folter in unterschiedlichsten Kontexten, Gattungen und Medien. Die genannten Texte sind jeweils zentral für unterschiedliche Kapitel. Selbstverständlich lassen sich manche Thesen an bestimmten Texten besser verdeutlichen als an anderen, und dennoch ist ihre Anordnung in dieser Arbeit nicht zwingend. Jeder Text könnte auch zu jedem anderen Themenaspekt sprechen – die Besonderheiten des Erzählens von Folter tauchen in unterschiedlicher Intensität in allen Texten auf. Breytenbachs True Confessions of an Albino Terrorist könnten beispielsweise ebenso gut an die Stelle von Dorfmans Drama Death and the Maiden treten, anhand dessen ich zeige, in welchem Macht- beziehungsweise Gewaltverhältnis der Folterer und sein Opfer im Rahmen des Folterverhörs zueinander stehen. Gleichzeitig könnte das Drama für jenes letzte Kapitel, in dem Breytenbachs Text auftaucht, zentral sein und nachweisen, wie die Politiken des Sprechens über Folter nach einem Regimewechsel funktionieren und unter welchen Umständen ein solches Sprechen überhaupt zustande kommen kann. Ich hätte mich noch für viele weitere, hochaktuelle fiktionale Texte entscheiden können, die ihren Zweck in dieser Arbeit genauso gut erfüllt hätten wie die herangezogenen. Die Wahl dieser Texte hat nicht zuletzt pragmatische Gründe. Ihre Autoren stammen zwar aus unterschiedlichen Nationen und schreiben vor dem Hintergrund unterschiedlicher Unrechtsregime und dennoch sind die Originalsprachen der Texte Deutsch, Englisch oder Französisch. Somit ließ es sich weitgehend vermeiden, mit Übersetzungen zu arbeiten, was in einer Arbeit, in der es um die Spezifik einer bestimmten Art des Sprechens (oder Schweigens) geht, eine Beeinträchtigung darstellen würde. Ebenfalls am Rande spielen auch andere, nicht fiktionale Textsorten eine Rolle. So beziehe ich beispielsweise insbesondere im mit Dimensionen überschriebenen letzten Teil der Arbeit Aussagen von einstigen Opfern vor sogenannten Wahrheitskommissionen mit ein, aber auch Texte aus dem psychotherapeutischen Bereich finden gelegentlich Erwähnung. Teilweise sind die Trennlinien zwischen den Textsorten schlicht unscharf: Ob Emma Mashininis Lebensbericht Strikes Have Followed Me All My Life (1989), in

27 Reemtsma, Jan Philipp: Die Memoiren Überlebender. Eine Literaturgattung des 20. Jahrhunderts, in: Mittelweg 36/2 (1997), S. 20-40.

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dem sie Leben, Unterdrückung und Haft unter dem südafrikanischen Apartheidsregime schildert, eine (auch) fiktionalisierte Autobiografie, ein aus einem Protokoll entstandener dokumentarischer Sachtext oder eine persönliche Mitteilung an das unmittelbare soziale Umfeld ist, bleibt unentscheidbar. Auffällig jedoch ist, dass, egal ob Menschen durch Autobiografien, durch Interviews, Dokumentationen, literarische Figuren oder ein lyrisches Ich von Folter sprechen, die Nöte, die sich daraus ergeben, die Hindernisse, denen dieses Sprechen begegnet, sich ähneln und sich wiederholen. Ohne gleichmachen zu wollen, lohnt daher der vergleichende Blick und dieser soll in der Arbeit an geeignetem Ort auch erfolgen. Zunächst aber möchte ich mich den juristischen Grundlagen von Folter und ihren Verboten zuwenden.

3. Folter im Staat und Folter im Text – zu den juristischen Grundlagen

In Deutschland entfachten im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts zwei sehr unterschiedliche Ereignisse die Diskussion um den Tatbestand Folter: Die bereits erwähnten Foltervorwürfe gegen den Frankfurter Polizeipräsidenten Wolfgang Daschner im Januar 2003 sowie gegen hohe CIA-Beamte und einfache, im US-amerikanischen Gefangenenlager Abu Ghraib stationierte Soldaten in der Folge der Ereignisse um den 11. September 2001 in New York. In Deutschland sorgte vor allem der erste Fall, weltweit insbesondere der zweite nicht nur für Debatten, sondern warf auch die Frage auf, wie Folter definiert und wie sie, in einem zweiten Schritt, juristisch angemessen bewertet werden kann. Die etwas später einsetzende Debatte um den juristisch und sachlich anders gelagerten „Fall Daschner“ fand vielfach vor der Folie der Anschläge von New York statt. Obgleich dem Verhalten des Polizeipräsidenten ein ‚normales‘ Verbrechen, also ein Straftatbestand des deutschen Strafrechts, zu Grunde lag und keine neuartige, islamistisch motivierte terroristische Aktion, erfolgte in diesem Fall „eine Berufung auf den Präventionsstaat, der seit dem 11. September 2001 eine völlig neue politische und rechtliche Dimension erfahren hat“.28

28 Marx, Reinhard: Folter: Eine zulässige polizeiliche Präventionsmaßnahme?, in: Gehl, Günter (Hg.): Folter – Zulässiges Instrument im Strafrecht? Ein internationaler Vergleich, Weimar 2005, S. 96.

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In der sogenannten Folterdebatte wurden zwei völlig unterschiedlich gelagerte Sachverhalte aufeinander bezogen – die Berufung auf terroristische Bedrohung stellte einen latenten Rechtfertigungsgrund für das Vorgehen Daschners dar. Dies zeigt einerseits eine erhebliche Unsicherheit im Umgang mit dem Tatbestand Folter, andererseits auch eine große Sensibilität und Bereitschaft innerhalb der Gesellschaft, wie auch innerhalb der Rechtswissenschaft, sich der Diskussion um dieses Thema zu stellen. Ein Grund für die unzureichende Differenzierung der beiden Sachverhalte – im einen geht es um einen einzelnen Fall von Überschreitung zulässiger Polizeigewalt, im anderen um die von obersten Staatsbeamten und Regierungsmitgliedern aufgebrachte Frage, ob Folter unter bestimmten Umständen systematisch und legal zur Anwendung kommen kann – liegt darin, dass Folter sowohl als Begriff als auch als Straftatbestand wenig greifbar ist. Es herrscht Uneinigkeit darüber, wann und wie von Folter gesprochen werden kann und ob sie unter bestimmten Umständen zu rechtfertigen ist. Darüber, dass Folter als „Zufügung körperlicher Schmerzen zur Erzwingung einer Aussage“ unzureichend beschrieben ist – eine Definition, die laut Jan Philipp Reemtsma noch in den 1970er Jahren als „semantische Norm“ gesetzt wurde29 –, herrscht weitgehend Einigkeit. Gestritten wird jedoch beispielsweise immer wieder erneut darüber, ob künftig weiterhin bereits mit der Androhung von Folter der Tatbestand verwirklicht ist, ob das Verbot einer sogenannten Rechtsgüterabwägung weichen kann, ob von Folter auch dort gesprochen werden kann, wo das Opfer offensichtlich körperlich unversehrt ist oder aber auch, ob Folter stets aus einer bestimmten Intention heraus erfolgen muss. Wolfgang Daschner selbst behauptete beispielsweise, dort wo der Schmerzzufügung ein bestimmter, nachvollziehbarer Zweck zugrunde liege, könne nicht von Folter gesprochen werden: „Wenn eine unaufschiebbare polizeiliche Maßnahme getroffen werden muß und eine andere Möglichkeit nicht besteht, halte ich es nicht für gerechtfertigt, von Folter zu

29 Reemtsma, Jan Philipp: Zur politischen Semantik des Begriffs „Folter“, in: Ders. (Hg.): Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 240.

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sprechen. Folter ist die Zufügung von Schmerzen um der Schmerzen willen, nicht um ein Ziel zu erreichen, das man zwingend erreichen muß.“30

„Es gibt, das überrascht auf den ersten Blick, selbst für das Jahrtausende alte Phänomen der Folter keine absolut verlässliche begriffliche Kontur. Mit diesem Mangel geht zugleich eine inhaltliche und rechtliche Unbestimmtheit der Folter einher“, schreibt der Frankfurter Staatsanwalt Jesco Kümmel in seiner 2008 erschienen juristischen Auseinandersetzung mit Folter als potentiellem Mittel der Gefahrenabwehr.31 Zudem dreht sich auch die vielschichtige Diskussion um Folter, wie sie im vergangenen Jahrzehnt in der sogenannten westlichen Welt, insbesondere in Mitteleuropa und den USA, geführt wurde, lediglich um Folter in einem ganz bestimmten, fest umrissenen Kontext: dem tragic-choice-Szenario. Es geht also lediglich um die Frage nach der Zulässigkeit von Folter zum Zweck der Gefahrenabwehr in einer als ausweglos erscheinenden Situation – etwas beschönigend ist in diesem Zusammenhang auch von „Rettungsfolter“ die Rede. Damit unterliegt Folter, wie sie Gegenstand der immer noch aktuellen politischen und juristischen Debatte ist, tatsächlich einem ganz bestimmten Zweck, nämlich der Verhinderung vermeintlich verhältnismäßig größeren Leides. Ein sehr weites semantisches Feld von „Folter“ wird damit überhaupt nicht berührt. Es besteht im Zusammenhang mit der europäisch-nordamerikanischen Debatte – sofern sie öffentlich geführt wird – kein Zweifel darüber, dass Folter kein Strafmittel sein kann, oder dass sie nicht zum Standardmittel in Vernehmungssituationen werden kann. Jene Folter, wie sie in zahlreichen Texten aus verschiedensten Ländern und Zeiten präsent ist, Folter, die allein den Zweck der totalen Unterwerfung und somit der Zerstörung des Subjekts erfüllt, wird in der Debatte, die hier skizziert ist, nicht berührt. Dennoch ist es diese Form von Folter, die im Text, insbesondere im Erzählen von Folter, die größte Rolle spielt. Die juristischen Grundlagen, die teilweise erst in jüngster Zeit, angestoßen durch die aktuelle Diskussion, so explizit formu-

30 Daschner Wolfgang: „Ich hatte in dieser Situation keine andere Möglichkeit“, Interview mit Adrienne Lochte und Helmut Schwan, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 44 (21. 02. 2003), S. 5. 31 Kümmel, Jesco: Nötigung durch Folter. Eine rechtliche Betrachtung der Folter als Mittel der Gefahrenabwehr unter besonderer Berücksichtigung des Nötigungsbestandes, Frankfurt a.M. 2008, S. 39.

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liert werden, dienen in der vorliegenden Auseinandersetzung mit dem Thema lediglich dazu, bereits vorhandene Möglichkeiten der Definition und Formalisierung aufzuzeigen, gleichzeitig aber auch dazu, auf vorhandene Lücken hinzuweisen. Im Folgenden wird zunächst ein kurzer Überblick über die wichtigsten Folterdefinitionen im Rahmen von juristischen und verfassungsrechtlichen Texten gegeben, bevor noch einmal detailliert die Besonderheiten der bundesdeutschen Debatte um den Folterbegriff dargestellt werden. Die Untersuchung wird nicht nur zeigen, dass die Darstellung von Folter in nicht rechtstheoretischen Texten von diesen oft stark abweicht und sondern auch, dass die Kontexte, in denen sie praktiziert wird, meist andere sind als jene, die in der theoretischen Auseinandersetzung skizziert werden.

2.1 S TAATLICHE F OLTER UND IHRE D EFINITIONEN Zahlreiche nationale und internationale Verfassungen und Konventionen enthalten ein explizites Folterverbot, in dessen Rahmen der Tatbestand auch in einigen wenigen Fällen definiert wird, allerdings weichen die Definitionen häufig wesentlich voneinander ab und sind interpretierbar beziehungsweise unterscheiden sich in manchen Fällen nationales und internationales Recht voneinander. Grundrecht, Strafrecht und Strafprozessordnung in der BRD In der Bundesrepublik Deutschland existiert kein strafrechtlicher Folterbegriff, das heißt, es gibt keinen Strafbestand für Folter. Ein solcher scheint jedoch auch nicht erforderlich zu sein, „da die vorhandenen Strafbestände eine Anwendung der Folter ausreichend abdecken“.32 Laut Horlacher ist diese Nichterwähnung eine Konsequenz aus dem Umgang mit Folter im Nationalsozialismus. Sie wurde selbstverständlich praktiziert, aber nicht im Rahmen definitiver Regulierungen im Rechtssystem. Da sie also nicht positiv geregelt war, wurde Folter nach 1945 auch nicht abgeschafft, sondern man versuchte, ihre Anwendung durch neue Normen unmöglich zu ma32 Horlacher, Carmen: Auskunftserlangung mittels Folter, Hamburg 2007, S. 18.

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chen.33 Daher erfüllen sowohl die Androhung als auch die Anwendung von Folter Strafrechtsbestände des Strafgesetzbuches. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um folgende Paragraphen: §§ 223, 224 StGB stellen „vorsätzliche“ und „gefährliche Körperverletzung“ unter Strafe bis zu fünf bzw. bis zu zehn Jahren.34 Für „Körperverletzung im Amt“ ist sogar eine erhöhte Strafe vorgesehen. Der § 240 StGB verbietet „vorsätzliche Nötigung“. 35 Dabei muss eine Drohung mit einem Übel vorliegen, das einen Tatbestand erfüllt. Eine bloße Drohung kann gegebenenfalls lediglich zur Nichtverwertbarkeit von Aussagen in einem juristischen Verfahren führen. „Vorsätzliche Aussageerpressung“ stellt § 343 StGB unter Strafe, wobei es sich hierbei um eine Regelung handelt, die ausschließlich an einem Verfahren beteiligte Beamte betrifft und nicht auf Privatpersonen angewendet werden kann.36 Der Gesetzestext schließt auch „vorsätzliches seelisches Quälen“ mit ein und kommt damit supranationalen Folterdefinitionen bereits relativ nahe.37 Der § 136 a der Strafprozessordnung legt zudem verbotene Vernehmungsmethoden fest.38 Der Gesetzgeber folgt hierbei nach allgemeiner Auffassung dem Grundsatz, Wahrheit dürfe nicht um jeden Preis, sondern eben nur auf „justizförmige Weise“ erforscht werden. § 136 a StPO geht dabei in seiner Reichweite deutlich über gängige Folterdefinitionen hinaus.39

33 Ebd., S. 16. 34 § 223f. Strafgesetzbuch, hrsg. von Thomas Weigend, 47. Auflage, München 2009, S. 116f. 35 Ebd., S. 123. 36 Ebd., S. 168. 37 Vgl. Schild, Wolfgang, in: Gehl, Günter (Hg.): Folter – Zulässiges Instrument im Strafrecht? Ein internationaler Vergleich, Weimar 2005, S. 63ff. 38 § 136, Strafprozessordnung, hrsg. und kommentiert von Claus Roxin, 46. Auflage, München 2009, S. 76. Der Paragraf wird auf S. 51 dieser Arbeit in voller Länge zitiert. 39 Horlacher, Carmen, Auskunftserlangung mittels Folter, Hamburg 2007, S. 132.

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Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) Ein explizites Folterverbot tritt erst auf europäischer Ebene in Kraft. Artikel 3 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten lautet: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“40

Was Gegenstand von Folter ist, wird nicht näher beschrieben. Die EMRK wurde in Deutschland im Dezember 1952 ratifiziert und trat am 3. September 1953 in Kraft. Damit gilt auch in der Bundesrepublik ein Folterverbot erstmals explizit, obgleich die EMRK nicht Verfassungsrang, wohl aber den Rang eines einfachen Bundesgesetzes besitzt.41 Der Paragraph ist damit rechtlich verbindlich. Er sieht allerdings keine ausdrücklich normierte Bestrafungspflicht vor, so dass unklar ist, ob eine Übertretung des Verbots Konsequenzen hat und, wenn ja, welcher Art diese wären. In Art. 34 EMRK wird jedoch das Recht der Individualbeschwerde „jeder natürlichen Person“ geregelt, sofern sich diese in einem der durch die EMRK zugesicherten Rechte verletzt sieht. Zudem gewährt Art. 41 dem Folteropfer einen Anspruch auf Entschädigung.42 Folter wird damit erstmals in einem verbindlichen Rahmen geregelt, der ein formalisiertes Vorgehen gegen sie ermöglicht. Mittlerweile lässt das Folterverbot des Art. 3 keine Ausnahmen mehr zu.43 Noch bei der Zeichnung im November 1950 wurde der Art. 3 jedoch durch Art. 56 EMRK eingeschränkt, der auf der Grundlage „örtlicher Not-

40 Kanzlei des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Hg.): Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten in der Fassung des Protokoll Nr. 11, 2003, Art. 3, S. 3. 41 Vgl. Horlacher, Carmen, Auskunftserlangung mittels Folter, Hamburg 2007, S. 188. 42 Kümmel, Jesco: Nötigung durch Folter. Eine rechtliche Betrachtung der Folter als Mitte der Gefahrenabwehr unter besonderer Berücksichtigung des Nötigungstatbestandes, Frankfurt a.M. 2008, S. 51. 43 Horlacher, Carmen: Auskunftserlangung mittels Folter, Hamburg 2007, S. 191.

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wendigkeiten“ die Abschreckung vor der Begehung von Straftaten zuließ. Diese Einschränkung war ein Tribut an jene Staaten mit Kolonialbesitz, der mittlerweile durch die Rechtspraxis nicht mehr zugelassen wird.44 Der Art. 3 EMRK gilt als notstandsfest, ist jedoch nur im Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern, nicht der Bürger untereinander, anwendbar. 45 Da „Folter“ nicht definiert wird, bleibt auch offen, ob das Folterverbot des Art. 3 auch die Drohung mit Folter erfasst. Theoretisch wäre aber eine Subsumierung unter das Merkmal der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlungen denkbar.46 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) Der Art. 3 der EMRK ist eine fast wortgleiche Übernahme des Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“47

Mit ihm findet das Folterverbot „als Reaktion auf das während [des zweiten Weltkriegs, T.P.] verwirklichte unvorstellbare menschliche Leid“ erstmals Erwähnung in einem internationalen Vertragstext. 48 Die AEMR ist jedoch rechtlich nicht bindend. Dennoch wird ihr – nicht zuletzt aufgrund ihres Entstehungszusammenhangs – „moralisch-politische Wirkung“ zugesprochen.49 Erst der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte 44 Esser, Robert: Die menschenrechtliche Konzeption des Folterverbotes in deutschen Strafverfahren, in: Gehl, Günter (Hg.): Folter – Zulässiges Instrument im Strafrecht? Ein internationaler Vergleich, Weimar 2005, S. 148. 45 Ebd. 46 Horlacher, Carmen, Auskunftserlangung mittels Folter, Hamburg 2007, S. 191. 47 UN-Departmenet for General Assembly and Conference Management: Resolution 217 A (III) der Generalversammlung vom 10. 12. 1948: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Art. 5. 48 Kümmel, Jesco: Nötigung durch Folter. Eine rechtliche Betrachtung der Folter als Mitte der Gefahrenabwehr unter besonderer Berücksichtigung des Nötigungstatbestandes, Frankfurt a.M. 2008, S. 50. 49 Ebd.

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(IPBPR) vom 19. Dezember 1966 setzt Art. 5 AEMR in verbindliche Vertragsform um.50 Die Präambel nimmt ausdrücklich Bezug auf die AEMR, deren Art. 5 der IPBPR identisch in Art. 7 überführt wird – allerdings erweitert um den Satz: „Insbesondere darf niemand ohne seine freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen werden.“51 Aber weder AEMR noch IPBPR enthalten eine Folterdefinition, die damit zur internationalen Norm erhoben werden könnte. Mit Strafrecht, EMRK, AEMR sind nur die jeweils wichtigsten normierenden Texte auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene genannt. Die Tatsache, dass die mit Folter befassten Paragraphen in oft erheblichem zeitlichem Abstand meist wortgleich oder nahezu wortgleich übernommen wurden, sowie das Fehlen stichhaltiger Definitionen zeigt, wie wenig Arbeit am Folterbegriff geleistet wurde. Selbst dort, wo eine Ahndung von Übertretungen des Folterverbots vorgesehen ist, bleibt unklar, was zu ahnden ist. Dies ändert sich erst 1975 mit der UNO-Erklärung über den Schutz aller Personen vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe.52 In Art. 1, Abs. 1, S. 1 der Erklärung wird Folter wie folgt definiert: „Unter Folter im Sinne dieser Erklärung ist jede Handlung zu verstehen, durch die eine Person durch einen Träger staatlicher Gewalt oder auf dessen Veranlassung hin vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, um von ihr oder einem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erzwingen, sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich von ihr begangene Tat zu bestrafen oder sie oder eine andere Person einzuschüchtern. Nicht darunter fallen Schmerzen oder Leiden, die sich lediglich in einem mit den Mindestbestimmungen über die Behandlung von Strafgefangenen zu vereinbarendem Maß aus gesetzlich zulässigen

50 Horlacher, Carmen, Auskunftserlangung mittels Folter, Hamburg 2007, S. 191. 51 Auswärtiges Amt (Hg.): Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Art. 7, 1966. 52 Kümmel, Jesco: Nötigung durch Folter. Eine rechtliche Betrachtung der Folter als Mitte der Gefahrenabwehr unter besonderer Berücksichtigung des Nötigungstatbestandes, Frankfurt a.M. 2008, S. 52.

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Zwangsmaßnahmen ergeben, diesen anheften oder als deren Nebenwirkungen auftreten.“53

Die Erklärung geht damit deutlich weiter als alle bis dato gültigen Konventionen und wird „zu Recht als Abkehr vom traditionellen Begriffsinhalt interpretiert“.54 Auch ist Folter nicht mehr – entsprechend einem historischen Begriffsverständnis – an die Geständniserpressung gebunden, sondern die reine staatlich intendierte Einschüchterung reicht aus, um von einer Folterhandlung auszugehen. In der zu Grunde liegenden Definition muss Folter allerdings zwingend „von Staats wegen veranlasst sein“.55 Die Bezeichnung oder Bestrafung von durch Privatpersonen ausgeübter Folter ist damit ausgeschlossen. Auch die Folterschutzkonvention der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1984, die in der Bundesrepublik 1986 in Kraft trat, enthält eine verhältnismäßig detaillierte Definition. Dort wird die Voraussetzung staatlichen Handelns erstmals aufgeweicht. Folter liegt nicht nur bei einer Handlung „auf Veranlassung […] einer in amtlicher Eigenschaft handelnden Person“ vor, sondern auch, wenn sie mit deren „stillschweigendem Einverständnis“56 geschieht. Der Staat muss also nicht mehr Initiator einer Tat sein, damit diese als Folter eingestuft werden kann, sondern die Tat muss lediglich vor dem Hintergrund expliziter oder impliziter staatlicher Billigung erfolgen. Jedoch betont auch die Folterschutzkonvention die Zweckgerichtetheit als Charakteristikum einer Folterhandlung – Gewalt um der Gewalt Willen fällt aus dieser Definition heraus. Zudem nimmt die Konvention auf Drängen der islamischen Unterzeichnerstaaten ausdrück-

53 Zitiert nach: Kümmel, Jesco: Nötigung durch Folter. Eine rechtliche Betrachtung der Folter als Mitte der Gefahrenabwehr unter besonderer Berücksichtigung des Nötigungstatbestandes, Frankfurt a.M. 2008, S. 52. 54 Kümmel, Jesco: Nötigung durch Folter. Eine rechtliche Betrachtung der Folter als Mitte der Gefahrenabwehr unter besonderer Berücksichtigung des Nötigungstatbestandes, Frankfurt a.M. 2008, S. 52. 55 Ebd. 56 Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe vom 10. 12. 1984, Art. 1, Abs. 1, einzusehen unter

http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-

Dateien/Pakte_Konventionen/CAT/cat_de.pdf, zuletzt aufgerufen am 10. 03. 2013.

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lich alle gesetzlich zulässigen Zwangsmaßnahmen vom Folterbegriff aus.57 Dieser Text reicht dennoch am ehesten an eine Charakterisierung heran, die in etwa das Erleben eines Folteropfers beschreibt, wie es in den zahlreichen narrativen Texten auftritt, die im Fokus dieser Untersuchung stehen. Dieser Überblick über verschiedene internationale Annäherungen an den Folterbegriff und seinen Gegenstand zeigen nicht nur, wie wenig Einigkeit über diesen herrscht – die Offenheit der Definitionen ist eine Konsequenz daraus, sondern sie zeigen auch, wie wenig jene Erwägungen mit dem individuellen Erleben von Folter zu tun hat. Während Politiker, Juristen und Berichterstatter offenbar nie ganz sicher sind, wann und ob der Begriff „Folter“ angebracht ist, erfolgt dessen Verwendung in Berichten von Opfern – ob in der literarischen Fiktion oder realen Situationen – vorbehaltlos immer dann, wenn ein Individuum durch Gewalt an den äußersten Rand seiner Existenz gedrängt wird. Ein Ziel scheint es dabei zu geben, auch wenn es jenseits der üblichen Zweck-Mittel-Kalkulationen liegt: totale Unterwerfung, eine Aussage, Gewalt um ihrer selbst Willen sind nur einige der möglichen Anliegen des Folterers. Zu einer umfassenden Annäherung an den Folterbegriff gehört selbstverständlich auch der etymologische Aspekt, den ich an dieser Stelle aber zunächst bewusst vorenthalten möchte. Die Etymologie des Begriffs „Folter“ verweist auf ein Phänomen, das meines Erachtens über die bloße Begriffsklärung hinausweist und dem daher an dieser Stelle nicht vorgegriffen werden soll. Im Folgenden skizziere ich zunächst die Diskussion um den Folterbegriff in der Bundesrepublik Deutschland.

2.2 D IE F OLTERDEBATTE IN DER BRD DAS DEUTSCHE S TRAFRECHT

UND

Das deutsche Strafrecht kennt, wie bereits erwähnt, keinen Straftatbestand „Folter“. Nicht nur die Tat, sogar der Begriff wird unter allen Umständen 57 Scheerer, Sebastian: „Folter ist kein Revolutionärer Kampfbegriff“. Zur Geschichte des Foltervorwurfs in der Bundesrepublik Deutschland, in: Reemtsma, Jan Philipp (Hg.): Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 211. Für jene Länder, die dem Europarat angehören, wird mit der Europäischen Antifolterkonvention 1987 ein zusätzliches verbindliches Inspektionssystem etabliert.

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vermieden – Folter ist auch in Deutschland in jeder Hinsicht ein Tabu, das in dem Land, das die nationalsozialistische Schreckensherrschaft überwunden hat, keinen Raum bekommen soll. Dementsprechend taucht der Begriff in Deutschland öffentlich erstmals wieder im Zusammenhang mit Foltervorwürfen im Nachbarland auf: Die „Erklärung über das Recht auf Gehorsamsverweigerung im Algerienkrieg“, kurz Manifest 121 genannt, wird ins Deutsche übersetzt und in der Bundesrepublik von linken Organisationen verbreitet.58 Mit dem von Maurice Blanchot initiierten Aufruf fordern französische Intellektuelle und Künstler – darunter Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Pierre Boulez, André Breton, François Truffaut und Claude Lanzmann –, die Folterungen in Zusammenhang mit der Besetzung Algeriens einzustellen. „Muss man daran erinnern, dass es der französische Militarismus fünfzehn Jahre nach Vernichtung des Hitlerregimes infolge der Erfordernisse eines solchen Krieges fertiggebracht hat, die Folter wieder einzuführen und sie sozusagen in Europa abermals zu einer Einrichtung zu machen?“, heißt es darin.59 Im Rahmen der linksmotivierten Aktionen wird immer wieder auf die Verantwortung der Deutschen aufgrund ihrer NS-Vergangenheit verwiesen. Bei der Eröffnung einer Ausstellung unter dem Titel Was geht uns Algerien an?, die die deutsche Öffentlichkeit mit der Brutalität der Folterungen in Algerien konfrontieren will, formuliert Hans Magnus Enzensberger das politische Anliegen der Ausstellungsmacher: „Algerien ist überall, es ist auch hier, wie Auschwitz, Hiroshima und Budapest.“60 Als Schlagwort einer innerdeutschen Debatte wird der Folterbegriff jedoch erst zu Beginn der Siebzigerjahre relevant. Im April 1973 gründet eine Gruppe von Strafverteidigern RAF-Angehöriger ein „Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD“. Hintergrund sind die Haftbedingungen insbesondere von Astrid Proll und Ulrike Meinhof. In der Folge wird der Foltervorwurf gegen das Justizsystem der Bundesrepublik von verschiedenen Stellen aufgegriffen. Gleichzeitig wird deutlich, dass eine gewisse Unsicherheit mit der Verwendung des Folterbegriffs auch im

58 Kraushaar, Wolfgang: Schreckensbilder. Zum Folterphänomen in der politischen Kultur der bundesdeutschen Linken, in: Reemtsma, Jan Philipp (Hg.): Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 192. 59 Zitiert nach: Ebd. 60 Ebd., S. 194.

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Rahmen der innerdeutschen Debatte einhergeht.61 Während für Anwälte wie Otto Schily oder Heinrich Hannover klar ist, dass es sich bei den Isolationshaftbedingungen, denen die Terroristen unterworfen sind, um „Folter“ handelt,62 distanziert sich der Kern der ersten Generation von RAFHäftlingen selbst von dieser Bezeichnung.63 Dennoch erwies sich der Begriff als geeignet, um zu polarisieren und zu politisieren, insbesondere als die Spitze der RAF bereits inhaftiert war. Der Foltervorwurf wurde „mehr und mehr zum letzten einigenden Band zwischen RAF und linken Gruppen, ein Solidaritätsband […]“.64 Selbst jene Gruppen, die sich nicht zu den Zielen der RAF bekennen, können sich bedenkenlos in der Ablehnung von Folter solidarisieren. Mit der „Erklärung über den Schutz aller Personen vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ existiert ab 1975 auch ein rechtsverbindliches Instrument,

61 Scheerer, Sebastian: „Folter ist kein Revolutionärer Kampfbegriff“. Zur Geschichte des Foltervorwurfs in der Bundesrepublik Deutschland, in: Reemtsma, Jan Philipp (Hg.): Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 210. 62 Noch 1981 kritisiert Otto Schily in einem Interview mit dem Sender Freies Berlin die Haftbedingungen im neuen Hochsicherheitstrakt Berlin Moabit: „Ich habe in der FAZ gelesen ‚Nur wer abschwört, kann auf Erleichterung hoffen.’ Das ist eigentlich die Definition von Folter. Wenn man jemanden unmenschlich behandelt und sagt: diese Behandlung erfährst Du aber nicht, wenn Du Deiner Gesinnung abschwörst, das ist die Definition der Folter.“ Der Rechtsanwalt Heinrich Hannover erklärte im Interview mit dem Fernsehmagazin Panorama bereits im Februar 1973, die Maßnamen der Untersuchungshaft seiner Mandanten seien formal zwar sicher gedeckt, „aber sie sind nicht notwendig und auch nicht geeignet, um den Zwecken der Untersuchungshaft zu dienen […], sondern sie haben hier offensichtlich die Funktion, die Persönlichkeit unserer Mandanten zu zermürben, und stellen sich damit als verfassungswidrige Folter dar.“ Reemtsma, Jan Philipp: Zur politischen Semantik des Begriffs „Folter“, in: Ders. (Hg.): Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 239. 63 Scheerer, Sebastian: „Folter ist kein Revolutionärer Kampfbegriff“. Zur Geschichte des Foltervorwurfs in der Bundesrepublik Deutschland, in: Reemtsma, Jan Philipp (Hg.): Folter. Zur Analyse eines Herrschaftsmittels, Hamburg 1991, S. 216. 64 Ebd., S. 221.

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um anzuprangern, was man als Folter versteht. Von staatlicher Seite wurde jedoch konsequent negiert, dass es sich bei den Isolationshaftmaßnahmen gegen die RAF-Terroristen um Folter handelt. Entsprechende Beschwerden der Inhaftierten wurden zurückgewiesen: die Haftbedingungen entsprächen den Erfordernissen. Der Jurist Sebastian Scheerer, dessen 1991 publizierter Text Folter ist kein revolutionärer Kampfbegriff teilweise selbst politisierende Tendenzen aufweist, wirft der Rechtsprechung der Siebziger- und Achtzigerjahre vor, ihr Selbstverständnis sei „politisch, nicht rechtlich“ gewesen.65 Schließlich entscheidet im Juli 1978 die Europäische Kommission über Beschwerden von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe wegen ihrer Haftbedingungen im Gefängnis Stuttgart-Stammheim. Sie stellte zwar fest, eine Sinnesisolation könne zur „Zerstörung der Persönlichkeit“ führen, entschied aber, es handle sich bei den Haftbedingungen nicht um Folter, sondern um unmenschliche Behandlung. 66 Die Bundesrepublik entging somit dem Stigma des Folterstaates. Die jüngste Debatte um Folter in Deutschland ist etwas anders gelagert. In der Diskussion sowohl um den Fall Magnus Gäfgen/Wolfgang Daschner als auch um Folterungen in US-amerikanischen Gefängnissen, steht nicht zur Debatte, ob es sich um Folter handelt – dies ist eindeutig und wird in der Regel von den streitenden Parteien nicht verneint. Vielmehr wird diskutiert, ob Folter entgegen aller bisherigen Rechtsprechung unter bestimmten Umständen zulässig ist. Zu den wichtigsten Befürwortern dieser These gehört der Heidelberger Jurist Winfried Brugger. In der Auseinandersetzung mit einem Vortrag Niklas Luhmanns, den dieser 1992 unter dem Titel Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? hielt, stellte Brugger seinen Studenten eine Klausurfrage zu einem tragic-choice-Szenario, die folgendermaßen endet: „Die Polizei sieht, nachdem eine Evakuierung der Stadt nicht möglich erscheint, nur noch ein einziges Mittel der Gefahrenbeseitigung, nämlich das Herausholen des

65 Ebd., S. 225. 66 Vgl. ebd., S. 227.

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Verstecks der Bombe aus dem Erpresser, notfalls mit dem Einsatz von Gewalt. Darf sie das?“67

Brugger beantwortet die Klausurfrage auch selbst – mit einem voraussetzungsreichen „Ja“. Laut dem Juristen verhält sich die Rechtsordnung zu dem Problem der Folter in extremsten Fällen der Gefahrenabwehr uneindeutig, es liegt also eine sogenannte Wertungslücke vor: Das absolute Folterverbot steht gegen die Pflicht des Staates, einen rechtswidrigen Angriff zu Gunsten des potentiellen Opfers zu unterbinden. Vor diesem Hintergrund, kommt Brugger zu dem Schluss, müsse der Gesamtanspruch der Rechtsordnung Vorrang haben, „dass das Recht die Opfer schützen und die Täter in die Schranken des Rechts verweisen muss“. 68 Demnach ist es für den Staat unter Umständen nicht nur möglich, das Folterverbot einzuschränken, sondern sogar geboten.69 Ein uneingeschränktes Folterverbot sei Ausdruck einer „Schönwetterjurisprudenz“70. Der richtige Umgang mit bislang nicht angemessen bedachten Ausnahmesituationen – also eine wohlüberlegte und sorgfältig angewandte Foltererlaubnis – stärke das Folterverbot letztlich sogar, weil es dadurch – als Prinzip – anwendbar bleibt. Laut Brugger hat Art. 3 EMRK einen „blinden Fleck“ in Situationen, in denen Leben und Würde des Opfers gegen Leben und Würde des Täters stehen. Dieser blinde Fleck könne nur durch Art. 2 EMRK (Recht auf Leben) kompensiert werden, wodurch der Anwendungsbereich des Art. 3 reduziert würde. Nach Brugger müsste der Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention demnach folgendermaßen lauten: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Folter oder foltergleiche Behandlung wird nicht als Verletzung dieses Artikels angesehen, wenn sie das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwie-

67 Brugger, Winfried/Grimm, Dieter/Schlink, Bernhard: „Darf der Staat foltern?“ – Eine Podiumsdiskussion, in: Dreyer, Tobias, u. a. (Hg.): Humboldt Forum Recht, Berlin 2002 (Nr. 4), S. 47. 68 Ebd. 69 Ebd., S. 49. 70 Ebd.

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genden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Dritten ist und sich gegen den Verursacher dieser Gefahr wendet.“71

Den Hintergrund zu den Überlegungen Bruggers bildet klar die neue terroristische Bedrohung, wie sie so massiv und öffentlich erstmals am 11. September 2001 in New York auftrat. Seine Überlegungen äußert der Jurist bereits in den Jahren vor der Folterdrohung Wolfgang Daschners gegen Magnus Gäfgen. Brugger selbst stellt sich in die Tradition Niklas Luhmanns, der sich zur Folter-Thematik allerdings zu einem Zeitpunkt äußert, als noch nicht absehbar ist, dass er die Realität der damaligen Zukunft beschreibt. Luhmann beginnt seinen Text nach Juristenbrauch mit einem Fallbeispiel – einem tragic-choice-Szenario wie es auch Brugger für seine Studenten entwirft. Jedoch entscheidet er den Fall nicht tatsächlich zu Gunsten von Folter und schon gar nicht anhand einer rechtspraktischen Argumentation wie Brugger. Dieser liest die Erwägungen Luhmanns tatsächlich als – hochtheoretischen – Alternativentwurf zur geltenden Rechtsmeinung und zitiert Luhmann mit den folgenden Worten: „1 GG. Etwa: Zulassung von Folter durch international beaufsichtigte Gerichte, Fernsehüberwachung der Szene in Genf oder Luxemburg, telekommunikative Fernsteuerung, Verschiebung der Unterscheidung Recht/Unrecht in die Option des Opfers, Held oder Verräter zu sein. Insgesamt keine sehr befriedigende Lösung. Aber es befriedigt ja auch nicht, wenn man gar nichts tut und Unschuldige dem Fanatismus der Terroristen opfert.“72

Im Kontext des Aufsatzes handelt es sich hierbei aber nicht zwangsläufig um ein Plädoyer für Folter als vielmehr um eine Randbemerkung im Rahmen der Überlegungen, ob es unverzichtbare Normen gibt, für die das Folterverbot als Beispiel dient. Die viel grundsätzlichere Frage ist, ob nicht in Fällen wie dem des gefassten Verbrechers, der weiß, wo die Bombe in den nächsten Minuten explodiert, die Unterscheidung zwischen Recht (Folter71 Brugger, Winfried: Das andere Auge. Folter als zweitschlechteste Lösung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 58 (10. 03. 2003), S. 8. 72 Luhmann, Niklas: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, in: Horster, Detlef (Hg.): Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 248.

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verbot) und Unrecht (Folter) an sich unrecht ist. Letztlich kommt Luhmann zu dem Schluss, der Skandal des Normverstoßes birgt das Potential zur Lösung derartiger Fragen, ohne die konkrete Frage nach der Rechtmäßigkeit von Folter zu beantworten: „[…] normativ gesehen handelt es sich um Skandale mit normengenerierender Potenz“.73 Jene von Brugger und Luhmann entwickelten und auch in den meisten Debatten zur Folter mitgedachten tragic-choice-Szenarien entwerfen implizit immer auch eine Verhörsituation. Die Befragung ist in den genannten Szenarien sogar Rechtfertigungsgrund für Folter – aus verschiedenen Gründen gehört sie aber auch Abseits dieser Situationen zu ihrem integralen Bestandteil. Eine These dafür, weshalb dem so ist, möchte ich im anschließenden Teil der Arbeit vorstellen, in dem ich auch zeigen will, welches Potential das Folterverhör in der literarischen Fiktion entfaltet, in der sämtliche juristische Rahmen und Definitionen in den Hintergrund treten. Gleichzeitig bleibt Folter aber stets Tatbestand – Gegenstand von Ver- und Beurteilung mit derselben Fähigkeit zu polarisieren und zu dynamisieren wie in den Diskursen auf juristischer und politischer Ebene.

73 Ebd. S. 252.

II. Macht und Gewalt

Es graut ihnen davor, ins Nichts geschleudert zu werden durch das Schweigen derer, die sie verhören. JORGE SEMPRÚN: DIE OHNMACHT

1. Vor dem Schmerz: Das Verhör als Raum der Machtentfaltung

„Seit dem Mittelalter begleitet wie ein Schatten die Folter das Geständnis und hilft ihm weiter, wenn es versagt: schwarze Zwillingsbrüder.“74

Ich möchte aus diesen beiden, von Michel Foucault benannten dunklen Brüdern zum Zwecke der Analyse Drillinge machen, indem ich den Geschwistern das Verhör als dritten Bruder hinzugeselle. Ich will – zumindest im Rahmen eines auf den ersten Blick vielleicht ein wenig künstlich angelegten Analyseexperimentes – davon ausgehen, das Folter und Folterverhör nicht dasselbe sind, eine Annahme, die man Foucaults zitierter Aussage unterstellen könnte. Ich stelle die These auf, dass sich hinter beiden Begriffen schwerpunktmäßig zwei unterschiedliche, wenn auch eng miteinander verwobene Phänomene zeigen lassen: Macht und Gewalt. Wenn wir von ‚Folter‘ sprechen, denken wir meist an jene Situation, die sich hinter den Worten ‚peinliche Befragung‘ verbirgt, also ein schmerzhaftes Verhör oder eine Kommunikationssituation, bei der Gewaltanwendung zumindest als Drohung permanent – buchstäblich – im Raum steht. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass Gewalt und Befragung zwar eng miteinander verknüpft und meist auch räumlich miteinander verbunden beziehungsweise an die Folterkammer gebunden sind, dass es sich aber keineswegs um ein und denselben Vorgang handelt, sondern dass sich vielmehr dort, wo die Gewalt der Folter anfängt, die Macht des Verhörs erschöpft.

74 Foucault, Michel: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M. 1977, S. 63.

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Dennoch würden wir kaum von ‚Folter‘ sprechen, fände jene Gewalt nicht in einem institutionalisierten Rahmen statt, der unabhängig von bestimmten Zielen der Informationserlangung maßgeblich durch die Verhörsituation konstituiert wird. Zunächst also gilt es zu zeigen, worin diese „Situation“ besteht.

1.1 I M V ERHÖR : B EFRAGUNGSSITUATIONEN Es ist festzuhalten, dass es bei den von mir untersuchten Folterverhören nicht um jene geht, bei denen die Gewalt der Folter in eine streng geregelte juristische Praxis überführt wurde und der routinemäßigen Prüfung und Bestätigung – nicht zuletzt der rechtlichen Verfahren selbst – diente, wie dies im klassischen Recht des antiken Griechenland und im Inquisitionsprozess des abendländischen Mittelalters bis weit in die Neuzeit hinein üblich war. In jenen Verfahren, beschreibt Michel Foucault, hatte die Folter „ihren genau bestimmten Platz in einem komplexen Strafmechanismus, in welchem das Inquisitionsverfahren mit Elementen der Anklage beladen ist, die schriftliche Beweisführung einer mündlichen Entsprechung bedarf, […] der Angeklagte wenn nötig mit Gewalt gezwungen wird, im Verfahren freiwillig mitzuspielen und die Wahrheit insgesamt mittels zweier Methoden ermittelt wird: durch die von der Gerichtsautorität geheim geführte Untersuchung und durch den vom Angeklagten selbst formell vollzogenen Akt.“75

Der Körper des Angeklagten hat in jenen Verfahren als „sprechender und wenn nötig leidender Körper […] die Verzahnung dieser beiden Mechanismen“ zu gewährleisten.76 Eine Wahrheit, die der befragte Körper selbst hervorbringt, stand nicht in Frage und somit wurde an der Folter als Weg ihrer Hervorbringung kaum ernsthaft gezweifelt.77 Page DuBois verdeutlicht die Begriffsentwicklung des griechischen Wortes βάσανος (basanos), also ‚Folter‘ oder genauer ‚Sklavenfolter‘ am Beispiel des „Folterrechts“

75 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976, S. 54. Im Folgenden: Foucault, ÜuS. 76 Ebd. 77 Vgl. ebd.

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im antiken Athen. Anders als im Inquisitionsverfahren bestätigte eine unter Folter wiederholte Aussage nicht deren Richtigkeit und erhöhte so ihren Wahrheitswert, sondern die Aussage von Sklaven konnte in juristische Verfahren überführt werden „only if the slave had been tortured“.78 Dabei wurden Sklaven sozusagen als Wahrheitsgenerator eingesetzt: Als Eigentum eines Herren ohne eigenen Rechtsstatus wurden Sklaven nicht gefoltert, um von ihnen die Wahrheit über eigene Verbrechen zu erlangen, sondern über jene anderer.79 Die Folter wurde also buchstäblich zum „Prüfstein“ – der ursprünglichen Bedeutung von βάσανος –, an dem sich die Wahrheit zu bewähren hatte. Im Inquisitionsprozess dagegen wurde der Beschuldigte mit dem Foltergeständnis und seiner Sichtbarkeit in Narben und öffentlicher Zurschaustellung zum „Herold seiner eigenen Verurteilung“. 80 Worum es jedoch im Folgenden geht und worum es in den meisten literarischen Fiktionen zu diesem Thema nach 1945 geht, ist „die entfesselte Tortur der modernen Verhöre“,81 deren Regeln in keinen Kodizes festgelegt sind, deren Ziel nur selten ein Urteil ist und in denen der Status der Wahrheit mehr als prekär geworden ist, wenn sie nicht zugunsten grenzenloser Gewalt gänzlich suspendiert wurde. Was lässt uns dennoch ganz klar unterscheiden zwischen jenen Verhören und beispielsweise der Attacke einer Gruppe gewalttätiger Männer auf ein Opfer auf offener Straße, selbst wenn diese mit deutlichen Fragen, wie etwa nach Geld, einem Waffenversteck oder anderen Informationen, verbunden ist? Auch nach Michael Niehaus ist das Verhör „stets mehr als bloße Gewalt“, es ist aber nicht zwangsläufig an sie gebunden, „die aktuelle Gewaltausübung bildet allenfalls den Horizont des Verhörs als einer diskursiven Praxis“.82 Die Beziehung zwischen Verhörendem und Verhörtem lasse sich „als kommunikatives Gewaltverhältnis“ auffassen, für das sich auch der

78 DuBois, Page: Torture and Truth, New York und London 1991, S. 38. 79 Vgl. ebd., S. 35ff. Da der Sklave Privateigentum ist, bedürfte es für seine Bestrafung auch keines Geständnisses. Vgl. hierzu auch Niehaus, Michael: Das Verhör. Geschichte – Theorie – Fiktion, München 2003, S. 21. Im Folgenden: Niehaus, Verhör. Ganz ähnlich verhält es sich auch im antiken römischen Strafprozess. Vgl. auch hierzu Niehaus, Verhör, S. 56. 80 Foucault, ÜuS, S. 58. 81 Ebd., S. 54. 82 Niehaus, Verhör, S. 11.

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Begriff „Zwangskommunikation“ eigne.83 Der Begriff impliziert mehrerlei: Zum einen muss eine Form des sprachlichen Austauschs stattfinden, damit von einem Verhör die Rede sein kann, das heißt beide Parteien müssen die Möglichkeit zur Äußerung haben. Da es sich um eine Kommunikationssituation handelt, die unter den Vorzeichen des Zwangs stattfindet, an deren Horizont gar Gewalt droht, ist davon auszugehen, dass die teilnehmenden Parteien nicht mit denselben Möglichkeiten sich zu verhalten ausgestattet sind, nicht denselben Spielraum haben und somit in einem ungleichen Machtverhältnis zueinander stehen. Insbesondere der letzte Punkt soll weiter unten noch einmal einer ausführlicheren Betrachtung unterzogen werden. Das Verhör lässt sich also zwischen reiner Befragung (zum Beispiel im Gespräch) und bloßer Gewalt (die sich in der Folter vollzieht) ansiedeln – es „ruft den Körper herbei und hält ihn auf Distanz“.84 Auch dies bedeutet wiederum zweierlei: Zum einen braucht das Verhör einen Körper und dessen Stimme als Präsenz. Ein Verhör ist weder ein Verhör, wenn es schriftlich abgehalten wird (dies wäre eine schriftliche Befragung), noch wenn beispielsweise Tonbandaufnahmen abgehört werden. Der Körper muss mit seiner Stimme anwesend sein. Er muss – im Sinne der Zwangskommunikation – zur Verfügung stehen. Zum anderen bedeutet dies, dass das Verhör einen Ort braucht. Sowohl den Stimmen der teilnehmenden Parteien muss buchstäblich Raum gegeben werden als auch dem stets möglichen gewaltsamen Zugriff auf den Körper des Verhörten. Der Ort muss also den Zwangscharakter der Kommunikation aufrechterhalten oder gar erst schaffen. Beide Aspekte tragen maßgeblich zum institutionellen Charakter bei, der sich dem Verhör kaum absprechen lässt und der dafür sorgt, dass wir es überhaupt erst von anderen Kommunikationssituationen unterscheiden können. In Untersuchungen zur Spezifik der Zwangskommunikation, wie der umfangreichen und exemplarischen Studie zur Rolle der Sprache in (un-)gleichen Sozialbeziehungen von Fritz Schütze,85 bleiben die Beson-

83 Ebd. Den Begriff ‚Zwangskommunikation‘ verwendet unter Anderen auch Fritz Schütze zur Charakterisierung derartiger Kommunikationssituationen. Schütze, Fritz: Sprache soziologisch gesehen. Band II: Sprache als Indikator für egalitäre und nicht-egalitäre Sozialbeziehungen, München 1975, S. 822. 84 Niehaus, Verhör, S. 265. 85 Vgl. Schütze, Fritz: Sprache soziologisch gesehen. Band II: Sprache als Indikator für egalitäre und nicht-egalitäre Sozialbeziehungen, München 1975.

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derheiten des Folterverhörs meist unberücksichtigt, da dieses in der Regel auf den Akt der Folter reduziert wird und damit nicht mehr zum Untersuchungsgegenstand von Sprach- und Kommunikationsstudien gehört. Das Folterverhör unterscheidet sich jedoch deutlich von anderen Verhörsituationen, die zumindest im deutschen Rechtsraum charakteristischer Weise als ‚Vernehmung‘ bezeichnet werden. Hierzu ein kleines Beispiel: In der Strafprozessordnung der Bundesrepublik Deutschland heißt es zur Vernehmung unter Paragraph 136, 1-3: „(1) Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Er ist ferner darüber zu belehren, daß er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen kann. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, daß er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden. (2) Die Vernehmung soll dem Beschuldigten Gelegenheit geben, die gegen ihn vorliegenden Verdachtsgründe zu beseitigen und die zu seinen Gunsten sprechenden Tatsachen geltend zu machen. (3) Bei der ersten Vernehmung des Beschuldigten ist zugleich auf die Ermittlung seiner persönlichen Verhältnisse Bedacht zu nehmen.“86 [Hervorhebungen T.P.]

Dem Beschuldigten werden durch diese Festlegungen der Prozessordnung bestimmte Rechte eingeräumt; wie zum Beispiel jenes, zu erfahren, wessen er beschuldigt wird. Anders als im Folterverhör ist also ein transparenter und realistischer Tatverdacht zwingende Voraussetzung für die Durchführung einer Vernehmung. Zum anderen muss dem Beschuldigten die Gelegenheit gegeben werden, sich selbst bis zur Beseitigung der Verdachtsgründe zu verteidigen oder sich verteidigen zu lassen und somit jede weitere Untersuchung sinnlos und rechtswidrig werden zu lassen. Hierin liegt ein weiterer, ganz entscheidender Unterschied zum Folterverhör: Zwar muss, damit das Folterverhör als Kommunikation gelingt, dem Verhörten auch in

86 § 136, Strafprozessordnung, hrsg. und kommentiert von Claus Roxin, 46. Auflage, München 2009, S. 76.

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seinem Rahmen ein gewisser Rederaum geöffnet werden, doch steht ihm dieser niemals so weit offen, dass er sich ohne Verletzung des institutionellen oder (pseudo-)-legalen Rahmens aus ihm zurückziehen kann. Am Ende des Folterverhörs steht unweigerlich die Folter – ganz gleich, ob sie der Erzwingung „anderer“ Wahrheiten, Geständnisse, Informationen als den gehörten dient, ob sie den Verhörten endgültig dem Verhörenden unterwerfen soll, ob sie Gewalt um ihrer selbst Willen ist oder dem Wunsch nach Demonstration der eigenen Überlegenheit gehorcht. Während die Kommunikationssituation in der polizeilichen oder richterlichen Vernehmung immerhin noch „pseudosymmetrisch“87 ist, will das Folterverhör nicht einmal mehr den Anschein einer gleichberechtigten Kommunikationssituation erwecken. Die Gewalt, die alles aus dem Gleichgewicht zu bringen im Stande ist, droht immer schon am Horizont. Das Folterverhör unterscheidet sich von rechtsstaatlich institutionalisierten und verfahrensrechtlich abgesicherten Verhören – der ‚Vernehmung‘ – also durch das Fehlen eines festgelegten Handlungsrahmens, der seine Mittel, Ziele und seinen Gegenstand klar beschneidet. Die Wahrheitssuche wird in der polizeilichen oder richterlichen Vernehmung beschränkt auf eine Art „Wirklichkeitsrekonstruktion“,88 die dazu dienen soll, ein spezifisches Verfahren zum Abschluss zu bringen. Mangels einschlägiger Untersuchungen zur zwangskommunikativen Spezifik des Folterverhörs liegt es nahe, diese insbesondere über die Abweichung von strafrechtlichen Vernehmungsverfahren nach dem Muster oben gegebenen Beispiels zur Strafprozessordnung zu erfassen. Dies würde im Rahmen dieser Arbeit jedoch zu weit führen und ihren Schwerpunkt verschieben. Stattdessen soll hier zunächst noch einmal die Frage nach der räumlichen Dimension des Verhörs aufgegriffen werden. Auch der Verhörraum – nicht selten die Folterkammer selbst – trägt dazu bei, der Verhörkommunikation ihren situativen und institutionellen Charakter zu verleihen; sie also von herkömmlichen Kommunikationssituationen zu unterscheiden. Nicht zuletzt auch indem sie in Form des räumlichen Zwangs die Drohung erahnen lässt, die hinter ihr steht. Es erscheint überflüssig zu erwähnen, dass der Verhörraum – egal, ob jener des Folterverhörs oder der polizeilichen Ver-

87 Schröer, Norbert: Der Kampf um Dominanz. Hermeneutische Fallanalyse einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung, Berlin und New York 1992, S. 20. 88 Vgl. ebd.

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nehmung – ein abgeschlossener Raum ist, aus dem der Verhörte nicht aus eigener Initiative entkommen kann. Der Einschränkungseffekt mag sich gegebenenfalls durch Fesselungen oder Fixierungen verstärken. Diese Tatsache ist mitentscheidend für den Zwangscharakter, der hinter der Verhörsituation steht. Die verhörte Person ist einem „kommunikationsinternen Zwang“ ausgesetzt, „der sich aus der unausgesprochenen, aber dennoch hochwirksamen situativen Nötigung, sich aus der Verhörkommunikation nicht einseitig zurückziehen“ zu können, ergibt.89 Unausgesprochen bleibt der Zwangscharakter der Situation jedoch nur dort, wo es gilt, den Eindruck einer freien, symmetrischen Gesprächssituation aufrecht zu erhalten – im Folterverhör ist dies freilich selten die Absicht, vielmehr dient der Verweis auf die Begrenztheit des Gegenübers als Mittel der Demonstration von Überlegenheit. So sind dem verhörten, mutmaßlichen ehemaligen Folterer Roberto Miranda in Ariel Dorfmans Drama Death and the Maiden, die Füße mit Stricken fixiert. Er ist im Wohnraum des Ehepaars Escobar gefesselt, der dadurch zum Verhörraum wird, dass alles, was in ihm stattfindet, verhörrelevant ist. Privatgespräche führen die Eheleute ab dem Moment, da Paulina Miranda fesselt, ausschließlich auf der Terrasse ihres Hauses – in dem Raum dagegen, in dem sich der verhörte Miranda befindet, geschieht jede Geste, jeder Wortwechsel zu Demonstrations- und Manipulationszwecken. Ähnlich verhält es sich in den Verhörszenen aus J. M. Coetzees Roman Waiting for the Barbarians. Im Falle der Verhöre des Magistrats finden Befragungen und Folterungen zeitlich und räumlich getrennt voneinander statt, was eine besonders wirksame Machtdemonstration darstellt: Der Magistrat ist in jenen Räumen inhaftiert, in denen die Folterverhöre der vermeintlich feindlichen „Barbaren“ stattfanden und deren Wände klare Spuren der Tortur tragen. Der gewalttätige Horizont des Verhörs steht dem Magistrat also buchstäblich Tag und Nacht vor Augen. 90 Während die Folterungen des Magistrats, teilweise in Form öffentlicher Demütigungen, an verschiedensten Orten in der Stadt stattfinden, ereignen sich die Verhöre stets am selben Ort: Im Büro des Abteilungsleiters der für die Reichssicherheit und damit für die Folterungen zuständigen „Abteilung III“, das

89 Schütze, Fritz: Sprache soziologisch gesehen. Band. II: Sprache als Indikator für egalitäre und nicht-egalitäre Sozialbeziehungen, München 1975, S. 823. 90 Vgl. Coetzee, J. M.: Waiting for the Barbarians, London 1980, S. 79f. Im Folgenden: Coetzee, WfB.

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einst die Amtsstube des Magistrats war. Die Ortswahl für die Verhöre stellt damit eine ganz besondere Machtdemonstration in Form eines buchstäblichen Raumgreifens dar. Dem Magistrat wird an dem Ort, der einst seine Amtsgewalt symbolisierte, demonstriert, dass sich die Machtverhältnisse umgekehrt haben, er also machtlos ist, sein Einfluss in diesem und auf diesen Raum verschwunden ist. Sein früherer Arbeitsraum ist ganz nach den Bedürfnissen der neuen Machthaber umgestaltet. Die Spuren des Magistrats darin wurden getilgt.91 Zudem steht er dem verhörenden Oberst Joll in Lumpen gegenüber, der seinerseits stets eine makellose Uniform trägt, was das Machtgefälle zwischen beiden Männern auch äußerlich unterstreicht und zudem eine Degradierung darstellt, die auf den Ausgang der Verhörkommunikation verweist, denn „ein Nackter kann […] gegenüber einem Bekleideten nie Recht bekommen“, wie Michael Niehaus pointiert zusammenfasst.92 Die Machtpräsentation wird in diesem Punkt deutlich auch zur Selbstdarstellung, zu der die Abgeschlossenheit des Verhörraums sowie die Möglichkeiten der Gesprächsführung durch die Vorgabe der Inhalte die dominierende Partei geradezu einladen. Der Umstand, dass Fragen ausschließlich im Verhörraum gestellt werden und zwar allein durch die verhörende Instanz, stellt zwei weitere Aspekte der Institutionalisierung des Verhörs dar, die in Waiting for the Barbarians beide aufgegriffen werden.93 Was den Verhörraum auszeichnet, ist also, dass der Verhörte in ihm ausgeliefert ist, dass er der Kommunikationssituation nicht entgehen kann. Besonders deutlich wird dies in jenem Raum, in dem zu den Zeichen der Macht auch noch jene der Gewalt hinzukommen, wo also der Verhörraum gleichzeitig auch der Folterraum ist. J. M. Coetzee bezeichnet jenen Raum als „Dark Chamber“ und ruft damit zwei weitere Punkte auf, die den Verhörraum zu einem unvergleichlichen Ort machen: Er ist uneinsehbar und für niemanden betretbar, der nicht selbst am Verhör beteiligt ist. Coetzee beschreibt jenen Ort als einen, der seine dunkle Faszination nicht nur auf die Inhaber der Macht ausübt, sondern auch auf die Literatur selbst. Nicht zuletzt, da

91 Ebd., S. 82f. 92 Niehaus, Verhör, S. 266. 93 Vgl. Coetzee, WfB, S. 77.

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„relations in the torture room provide a metaphor, bare and extreme, for relations between authoritarianism and its victims. In the torture room, unlimited force is exerted upon the physical being of an individual in a twilight of legal illegality, with the purpose, if not of destroying him, then at least of destroying the kernel of resistance within him.“94

Die Bereiche von Macht und Gewalt liegen in jenem Raum, in dem sich Folter und Verhör überschneiden, deutlich näher beieinander, als dort, wo beides räumlich getrennt ist und dennoch ist der Moment ihres Einsatzes nicht identisch. Die Interaktion beider Bereiche, sowie ihre Besonderheiten in Bezug auf das Folterverhör, sollen im Folgenden skizziert werden.

1.2 Z UM V ERHÄLTNIS VON M ACHT UND G EWALT IM F OLTERVERHÖR : A RIEL D ORFMANS D EATH AND THE M AIDEN Es ist Konsens der gängigen Theorien zu Macht und Gewalt, dass es sich um zwei voneinander zu unterscheidende Phänomene handelt. Konsens ist überwiegend auch, dass beide gar nicht zugleich auftreten können, weil Gewalt Macht eliminiert: „Gewalt tritt dort auf, wo Macht verloren ist“, 95 bringt Hannah Arendt diese Beobachtung auf den Punkt. Das eine lasse sich aus dem anderen weder ableiten, noch erzeuge Gewalt Macht, sondern sie vernichte sie.96 Macht stellt sich demnach als Form der Handlungsfähigkeit dar, die in der Lage ist, auf Zwang zu verzichten, im Extremfall hieße dies, die Handlungsfähigkeit auch in „Alle gegen einen-Entscheidungen“ nicht zu verlieren.97 Auch Niklas Luhmann geht davon aus, dass Macht ihre

94 Coetzee, John Marshall: Into the Dark Chamber: The Writer and the South African State (1986), in: Attwell, Derek (Hg.): Doubling The Point. Essays and Interviews, Harvard 1992, S. 363. Coetzees Überlegungen gelten hier natürlich klar jenem Folterraum, der auch Verhörraum ist. Die faktischen Beobachtungen zu den Raumeigenschaften können aber durchaus auf den Verhörraum übertragen werden. 95 Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München 1970, S. 55. 96 Ebd., S. 58. 97 Ebd., S. 43.

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Funktion in dem Maße verliert, als sie sich Zwang annähert, dass in vielen Fällen überhaupt erst „mangels Macht Zwang ausgeübt werden muß“. 98 Jedoch räumt Luhmann Gewalt den Status einer Grundlage für die Ausübung von Macht ein. Sie ist also gleichsam das, was immer schon am Horizont droht, um noch einmal die Formulierung von Michael Niehaus zu gebrauchen. Luhmann allerdings empfiehlt den Erhalt der „Gewalt im Status einer Vermeidungsalternative“.99 Denn, so Luhmann, Gewalt zeichne sich dadurch aus, „daß sie Handeln durch Handeln eliminiert und dadurch auch eine kommunikative Übertragung reduzierter Entscheidungsprämissen ausschließt“.100 Mit anderen Worten: Gewalt reduziert den kommunikativen Zugriff auf den anderen, sie nimmt dem Machthaber die Möglichkeit, den anderen zum Handelnden zu machen und ‚macht ihn‘ stattdessen selbst. Sie ist das Ende symbolisch geregelter Kommunikation, insofern sie zum Zugriff auf den Anderen auf „organischer Ebene“101 wird. Macht kann also nur dort stattfinden, wo das Eintreten der Gewalt nicht zwangsläufig ist. Demnach wäre Machtentfaltung im Folterverhör undenkbar und allenfalls im Verhör möglich. In jenem Verhör, das in Deutschland der strafprozessrechtliche Begriff ‚Vernehmung‘ bezeichnet und in dem Gewaltausübung tatsächlich zumindest den vorläufigen Status einer Vermeidungsalternative hat – zum Beispiel in Form der Waffe, die der polizeiliche Vernehmer in der Regel bei sich trägt, aber anzuwenden vermeidet, oder in Form der bewaffneten Saalwachen, die bei der richterlichen Vernehmung zugegen sind. Macht funktioniert als Kommunikationsmedium nur, solange ihre fundamentale Voraussetzung erfüllt ist: „In Hinblick auf die Selektion des Machthabers“ muss bei dessen Gegenüber „Unsicherheit besteh[en]“. „Er kann bei seinem Partner in Bezug auf die Ausübung seiner Wahl Unsicherheit erzeugen oder beseitigen“.102 Das heißt, das erwartbare Handeln muss mindestens eine Alternative haben, und entsprechend muss das Handeln, von dem der Machtunterworfene erwartet, dass es von ihm erwartet wird, ebenfalls mindestens eine Alternative haben. Wo Handeln aber das Extrem des Zwangs erreicht hat – im äußersten Fall durch Gewalt –, ist das Erwar-

98

Luhmann, Niklas: Macht, Stuttgart 1988, S. 9.

99

Ebd., S. 66.

100 Ebd., S. 64. 101 Ebd., S.61. 102 Ebd., S. 8.

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ten von Handlungsalternativen sinnlos. Macht hört im Zwang also auf, Kommunikationsmedium zu sein. Der Begriff der „Zwangskommunikation“ wird so betrachtet zum Paradox. Vor diesem Hintergrund ist erahnbar, warum sich die Gewalt der Folter und das Verhör nicht im selben Moment vollziehen, aber auch, warum Befragungen sogar dort stattfinden, wo es nicht um Informationserpressung geht. Indem der Folterer dem unausweichlichen Durchbruch der Gewalt die Befragung vor- und immer wieder auch zwischenschaltet, gelingt ihm die Simulation von Macht.103 Durch die Öffnung des Raums der Befragung, des Kommunikationsraums, sichert sich auch der machtloseste blutige Handlanger eine weitere Möglichkeit des Zugriffs auf das unterlegene Individuum, er sichert sich einen weiteren Bereich, neben dem der Gewalt, in dem er dominiert. Nicht zuletzt stellt das Verhör den einzigen Weg der Inbesitznahme auch des Grenzbereichs des menschlichen Körpers dar – der Stimme. Dieser kommunikative Zu- und Übergriff basiert jedoch auf Machtsimulation, da der gewalttätige Ausgang der Situation unausweichlich ist – im Folterverhör kann der Gefolterte die Folter nicht durch richtige Antworten oder richtiges Verhalten abwenden oder beeinflussen, er ist ihr ausgeliefert. Noch einmal zu Erinnerung: Im Rahmen dieser Arbeit ist die Rede von Folter dort, wo sich die Gewaltanwendung nicht im kurzfristigen Ziel der Informationsgewinnung erschöpft – dies wäre beispielsweise mit dem pseudo-juristischen Begriff der „Rettungsfolter“ bezeichnet. In der Folter ist die Information, ist jedes Ziel außerhalb des Körpers des Gefolterten, Beiwerk auf dem Weg zum gewaltsamen und totalen Übergriff auf diesen Körper. Das Folterverhör ist gegenstandslose Kommunikation. Es ist der Versuch, jene Macht, die nur durch Kommunikation gelingen kann, einzusetzen, das Individuum handeln zu machen, seinen Willen zu bestimmen und nicht nur seinen Körper. Jean Améry drückt es so aus: „Mit ganzer Seele waren sie bei ihrer Sache, und die hieß Macht, Herrschaft über Geist

103 Auch Elaine Scarry spricht von der „Fiktion absoluter Macht“ in der Folter, ohne jedoch auf die Dynamik des Verhörs in diesem Zusammenhang näher einzugehen. Auf ihre Verwendung des Machtbegriffs werde ich in Kapitel III. zum Thema ‚Schmerz‘ näher eingehen. Scarry, Elaine: The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, New York und Oxford 1985, S. 43.

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und Fleisch, Exzess der ungehemmten Selbstexpansion.“104 Der gewaltsame Zugriff auf den anderen wird zur scheinbaren Bestätigung der Macht, tatsächlich war es aber die drohende Gewalt, die die Machtkulisse überhaupt erst ermöglichte. Gewalt ist das Ende der Macht, die immer schon Machtsimulation war, weil sich der Folterer nicht mit der Bestätigung von Macht begnügt. Die Frage ist: Wenn wir auch dort von Folter sprechen, wo das Opfer keine Informationen besitzt, die es preisgeben könnte, wenn internationale Gesetzestexte in ihren Folterdefinitionen auf den Zusatz verzichten, die Zufügung von physischen oder psychischen Verletzungen müsse der Informationserpressung dienen, warum ist dann nicht überall dort die Rede von Folter, wo unbegrenzte Gewalt stattfindet? Unabhängig von seinem Ergebnis beziehungsweise davon, ob es nach einem Ergebnis trachtet, scheint das Verhör strukturgebend für die Folter zu sein. Das Verhör ist das Moment der Auslieferung über die körperliche Auslieferung hinaus. Es ist jener Machtraum, in dem der gewaltsame Übergriff auf das Subjekt nicht nur vorbereitet, sondern auch erweitert wird. Erst in Verbindung mit dem Verhör wird der Bruch des Subjekts vollständig, da es Zugriff auf das Individuum jenseits seines Körpers bietet. In seinem inneren Dialog erklärt Breyten Breytenbach seinem „Investigator“, seinem Gegenüber: „Never forget that the purpose of detaining and grilling and convicting and then holding people, is to disorientate them, to destroy their sense of themselves and the whole field of unquestioned awareness of the surrounding world, the whole cloth of relationships with other people, all the tentacles of grasping and understanding ideas, and finally to burgle and to burn down the storehouse of dreams and fantasies and hopes.“105

Die Auslieferung von Geist und Willen ist nur über einen Kommunikationsakt möglich und nur so ist die Unterwerfung total. Das Verhör der Folter und die Gewalt der Folter gehören strukturell zusammen, da nicht nur das Verhör den Boden für den gewaltsamen Zugriff auf das Subjekt berei-

104 Améry, Jean: Die Tortur, in: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 46-73, hier: S. 67. 105 Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, S. 28.

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tet, sondern umgekehrt auch das Verhör kein Verhör – das heißt Folterverhör – wäre, wenn sich in ihm nicht schon die unausweichliche Gewalt der Folter als Drohung ankündigen würde. Dennoch lassen sich beide Phänomene nur erfassen, wenn man sie getrennt voneinander betrachtet, da sie sich zwar gegenseitig bedingen, gleichzeitig aber ausschließen. Jan Philipp Reemtsma folgt Hannah Arendt und Niklas Luhmann zwar insoweit, als auch er Macht dort unmöglich gemacht sieht, wo sich Handeln durch Handeln ausschließt. Doch indem er die Figur des Dritten – des Beobachters oder Mitwissers – in das Interaktionsspiel zwischen Macht und Gewalt einführt, weicht er den Gegensatz zwischen beiden Phänomenen auf. Denn Gewalt mag zwar das Ende der Kommunikation zwischen Gewalttäter und Opfer sein, aber sie ist nicht das Ende der Kommunikation schlechthin: „Gewalt kann als soziales Handeln erst verstanden werden, wenn es im Rahmen einer triadischen Konstruktion verstanden wird, denn Gewalt wird zu sozialem Handeln erst als Akt der Kommunikation.“106

Die Kommunikation gegenüber einem Dritten wird – in Form der Drohung – selbst wiederum Machtmittel. Dieser „Dritte“ berührt allerdings eine Vielzahl von Aspekten, die vom eigentlichen Gegenstand dieses Kapitels wegführen, weshalb ich mich ihm in einem eigenen Abschnitt der Arbeit widme und hier die Relation zwischen Verhör und Foltergewalt zunächst wie angekündigt an einem geradezu prototypischen Dramentext beleuchten möchte. Ariel Dorfmans Drama Death and the Maiden (1990) wirft eine Vielzahl von Fragen auf – unter anderem nach dem möglichen Umgang von Staaten mit kollektiven Traumata wie Massenfolterungen, nach der Rolle der Justiz bei der Wahrheitsermittlung nach derlei Traumata, danach, welche Wahrheiten in Anbetracht widersprüchlicher Positionen und unaussprechlicher Sachverhalte überhaupt möglich und darstellbar sind, und nicht zuletzt auch nach dem genderspezifischen Umgang mit Folter, deren Täter meist Männer und deren Opfer häufig Frauen sind. Ungeachtet dieser zahlreichen, für 106 Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt, Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 467. Im Folgenden: Reemtsma, Vertrauen.

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eine Analyse des Textes und seines Entstehungszusammenhangs fruchtbaren Fragestellungen möchte ich mich vor allem auf die Betrachtung der Anordnung des Stücks als Verhör in einem inszenierten Verfahren konzentrieren. Einige der angesprochenen Punkte werde ich dennoch aufgreifen oder zumindest streifen. Um die inszenierte Justizförmigkeit des Dramas beziehungsweise des Handelns seiner Protagonisten angemessen einordnen zu können, ist es zunächst wichtig, die Folie zu kennen, vor der es spielt. Die Veröffentlichung des Texts 1990 fällt mitten in die als Transition bezeichnete Phase Chiles, also die Zeit des Übergangs vom diktatorischen Militärregime unter Augusto Pinochet zur Demokratie unter dem frei gewählten Präsidenten Patricio Aylwin. Der Präsidentschaft Aylwins waren fast 17 Jahre autoritären Regimes durch das Militär vorangegangen, das sich 1973 unter der Führung Pinochets und mit Unterstützung der USA an die Macht geputscht hatte und die Präsidentschaft des demokratisch gewählten, sozialistischen Präsidenten Salvador Allende damit beendete.107 Die Geschlossenheit sämtlicher Militäreinheiten und der Polizei, die hinter Pinochet standen, ermöglichte ein Regime, das zum einen durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik und deren Erfolg nach außen geprägt war, zum anderen aber durch eine Repressionspolitik, die mit „bis dahin in Lateinamerika beispielloser Brutalität gegen Regimegegner“ vorging.108 Inzwischen gehen Politik- und Rechtswissenschaft davon aus, dass 3 % der chilenischen Bevölkerung während der Militärdiktatur von Menschenrechtsverletzungen betroffen waren.109 Kritiker der Machthaber wurden getötet, verschleppt, gefoltert, sie verschwanden, ohne dass ihr Verschwinden je untersucht wurde, sie wurden in politische Haft genommen, terrorisiert oder des Landes verwiesen.110 Allein in den

107 Ruderer, Stephan: Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990–2006, Göttingen 2010, S. 48. 108 Ebd., S. 50. 109 Eser, Albin/Sieber, Ulrich/Arnold, Jörg (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Berlin 2012, S. 145. 110 Vgl. ebd.

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ersten drei Jahren unter Pinochet kam es zu 42.500 Verhaftungen und 1.800 Todesopfern.111 Die Verfassung, die Pinochet 1980 selbst verabschiedet hatte, sah nach acht Jahren jedoch ein Referendum über eine weitere Amtszeit des Präsidenten vor.112 Wollte Pinochet seinem eigenen Machtwerk die Treue halten, musste er dieses Referendum durchführen, das ihm letztlich nur aufgrund des konzertierten Handelns der Opposition zum Verhängnis werden konnte. Sämtliche Oppositionsparteien verzichteten auf eigene Wahlkämpfe und warben im Schulterschluss lediglich für ein „Nein“ gegen Pinochet, mit dem letztlich 55 % der Wahlberechtigten abstimmten. 113 Somit war der Weg frei für demokratische Präsidentschaftswahlen, aus denen im Dezember 1989 Patricio Aylwin als Sieger hervorging. Aylwin stand vor der Herausforderung, einen Systemübergang zu organisieren, der einerseits die Regierbarkeit des Landes gewährleistete – Pinochet war immer noch Armeechef – und andererseits dem Trauma großer Teile der Bevölkerung gerecht wurde. Dabei setzte er vor allem auf symbolische Gesten: Die feierliche Amtseinführung fand im chilenischen Nationalstadion statt, einem Ort der Massen, den Pinochet bereits in den ersten Tagen seines Regimes für seine Zwecke vereinnahmt und in ein Konzentrationslager umgewandelt hatte.114 Aylwin verkündete in eben diesem Stadion: „Von diesem Ort aus, der in traurigen Tagen des blinden Hasses […] für viele Landsleute ein Ort der Gefangenschaft und der Folter war, sagen wir allen Chilenen und der Welt, die auf uns schaut: Niemals wieder!“115 Eines der Hauptprobleme, mit denen Aylwin im Zuge seiner Ermittlungs- und Versöhnungsarbeit konfrontiert war, bestand darin, dass Pinochet von langer Hand dafür gesorgt hatte, dass ihm und seinen Handlangern die eigene Abwahl juristisch nicht gefährlich werden konnte. Zum einen erwirkte er, dass ein 1978 erlassenes Amnestiegesetz auch über den Sys-

111 Ruderer, Stephan: Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990–2006, Göttingen 2010, S. 51. 112 Freudenreich, Johannes: Entschädigung zu welchem Preis? Reparationsprogramme und Transitional Justice, Potsdam 2010, S. 97. 113 Ebd., S. 81. 114 Ruderer, Stephan: Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990–2006, Göttingen 2010, S. 50. 115 Zit. nach: ebd., S. 90f.

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temwechsel hinaus in Kraft blieb.116 Zum anderen sorgte der General kurz vor seinem Abtritt dafür, dass er eine ihm gewogene Judikative hinterließ. Mit Hilfe eines neuen Gesetzes tauschte er ältere Richter gegen junges Personal aus den eigenen Kaderschmieden aus und vergab drei Verfassungsrichterposten an „Juristen seines Vertrauens, […] so dass die Justiz personell auch noch in der Demokratie deutlich der Diktatur zugewandt blieb“.117 Die Analyse des politischen Übergangs in Chile durch Eser, Sieber und Arnold gelangt dementsprechend zu dem Ergebnis, dass im Zuge der Transition „nur eine eingeschränkte Demokratie minderer Qualität voller autoritärer Enklaven errichtet worden“ ist.118 Nichts desto trotz setzte Aylwin noch 1990 einen Untersuchungsausschuss ein, die sogenannte RettigKommsission. Sie sollte „zu einer umfassenden Aufklärung der Wahrheit über die schwersten Menschenrechtsverletzungen [beitragen], mit dem Zweck an der Versöhnung aller Chilenen mitzuwirken“.119 Die „schwersten Menschensrechtsverletzungen“ bezog sich jedoch nur auf – und genau an dieser Stelle setzt Dorfmans Drama ein – jene, die mit dem Tod oder Verschwinden der Opfer endeten, die also nicht mehr Zeugnis ablegen konnnten über die an ihnen begangenen Verbrechen. Außerdem durfte die Kommission weder die Namen der ermittelten Täter veröffentlichen noch rechtssprechende oder gar sanktionierende Funktionen ausüben – auch die Untersuchung der Menschenrechtsverletzung blieb also eine symbolische Geste ohne strafrechtliche Konsequenzen. Ich lege für die folgende Lektüre von Death and the Maiden den Text der englischen, bei Penguin verlegten Originalfassung zugrunde. Dorfman

116 Freudenreich, Johannes: Entschädigung zu welchem Preis? Reparationsprogramme und Transitional Justice, Potsdam 2010, S. 98. Aylwin hatte im Wahlkampf noch mit der Abschaffung des Gesetzes geworben, mit Antritt seiner Präsidentschaft dann jedoch deutlich gemacht, dass es kein Vorgehen gegen Militärs geben werde. 117 Ruderer, Stephan: Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990–2006, Göttingen 2010, S. 57. 118 Eser, Albin/Sieber, Ulrich/Arnold, Jörg (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Berlin 2012, S. 100. 119 Ruderer, Stephan: Das Erbe Pinochets. Vergangenheitspolitik und Demokratisierung in Chile 1990–2006, Göttingen 2010, S. 99.

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schrieb nach eigenem Bekunden die spanische und englische Erstfassung des Stücks mehr oder minder gleichzeitig, wobei er diesen Ursprungstext dann überwiegend für englischsprachige Strichfassungen immer wieder aktualisierte und anpasste.120 Aus Sicht Paulinas, dem einstigen Opfer, wird die Arbeit der Kommission, die ihr Mann unterstützt, zur absurden Geste: PAULINA:

This Commission you are named to. Doesn’t it only investigate cases that ended in death?

GERARDO:

It’s appointed to investigate human rights violations that ended in death or the presumption of death, yes.

PAULINA:

Only the most serious cases?

GERARDO:

The idea is that if we can throw light on the worst crimes, other abuses will also come to light.

PAULINA:

Only the most serious?

GERARDO:

Let’s say the cases that are beyond – let’s say, repair.

PAULINA:

Beyond repair. Irreparable, huh?

GERARDO:

I don’t like to talk about this, Paulina.121

Aber auch Paulina will nicht reden. Sie hat weder ihrem Mann noch sonst jemandem je erzählt, was genau während ihrer Folterhaft mit ihr geschah. Gehört werden will sie dennoch und sie will wieder hören: Schubert. Über ihn markiert das Stück den Bruch in ihrem Leben, der mit der Folter einsetzte und seitdem fortbesteht: Ihr Peiniger spielte ihr während der Folterungen Stücke von Franz Schubert vor, dessen Musik sie vormals schätzte und seitdem zu hören nicht mehr erträgt. Aus Angst, sie könnte in Situationen geraten, in denen sie unvorhergesehen gezwungen ist, Schubert zu hören, meidet sie gesellschaftliche Anlässe oder steht sie nur mit großer Angst durch. Die Kommission ihres Mannes könnte ihr Gelegenheit geben, im Kontext juristischer Wahrheitsermittlung zu ihrer individuellen Wiederherstellung beizutragen, doch diese versagt. Zugleich ist auch Paulinas Taug-

120 Vgl. Vieira, Patrícia: Twists of the Blindfold: Torture and Sociality in Ariel Dorfman’s Death and the Maiden, in: Chasqui: Revista de Literatura Latinoamericana, Tempe (Arizona) 2009, Nr. 38/2, S. 126-137, hier: 128. 121 Dorfman, Ariel: Death and the Maiden, London 1992, S. 9. Im Folgenden: Dorfman, DaM.

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lichkeit als Zeugin in eigener Sache fragwürdig, denn sie ist eine blinde Zeugin der Tat. Paulina selbst verzichtet dagegen auf eine Ermittlung – sie will „ihren Täter“ dazu bringen, zu gestehen und somit zugleich die Erzählung ihrer eigenen Folter erzwingen. PAULINA:

We are going to put him on trial, Gerardo, this doctor. Right here. Today. You and me. Or is your famous Investigation Commission going to do it?122

Paulina wird dabei zur Anklägerin, ihr Mann, eigentlich Ermittler in jener Kommission, deren Ermittlungen aus Paulinas Sicht ergebnis- und nutzlos sind und die das vom Unrechtsregime etablierte Schweigen auf perverse Art sogar aufrecht erhält, wird endgültig zum Verteidiger eines mutmaßlichen Täters – wobei er selbst darauf beharrt, das ordentliche Gerichtsverfahren und damit die neue demokratische Grundordnung zu verteidigen. Er ist Jurist und argumentiert im Sinne des noch kaum etablierten Rechtsstaats, Paulina dagegen ist ein Opfer, für das dieser Staat keine Rolle vorsieht. Wie das Stück das schwierige Verhältnis zwischen Staat und Opfern des Unrechtsregimes in Szene setzt, möchte ich weiter unten noch einmal gesondert beleuchten. Doch auch zwischen Paulina und ihrem Mann spielen die unterschiedlichen Mittel der Vergangenheitsbewältigung eine wichtige Rolle, in der nicht zuletzt auch das Verhältnis zwischen Macht und Gewalt reflektiert wird. Als Opfer ohne Stimme im staatlichen System der Vergangenheitsbewältigung bleibt Paulina nur die Selbstjustiz, die sich mangels solider Machtbasis allein auf die Gewalt der Waffe stützt. Die grundsätzlich unterschiedlichen Auffassungen der Eheleute Escobar von einem gelingenden Dialog sind somit durchaus plausibel. Für die Zwangskommunikation, die Paulina mit ihrem Opfer durchzuführen beabsichtigt, ist Gewalt nötige und einzige Gewährsgrundlage. Für das, was ihr Mann, der Jurist, als eine gelingende Kommunikation betrachtet, ist eine Rahmenmacht erforderlich, an deren Spielregeln sich alle Beteiligten freiwillig halten: GERARDO:

Paulina, I’m asking you to please give me that gun.

PAULINA:

No.

122 DaM, S. 26.

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GERARDO:

While you point it at me, there is no possible dialogue.

PAULINA:

On the contrary, as soon as I stop pointing it at you, all dialogue will automatically terminate. If I put it down you’ll use your strength to win the argument.123

Die während der Tat blinde Paulina hat dem Täter mit Miranda ein Gesicht gegeben – sein Name erinnert übrigens an das spanische Verb mirar, ‚ansehen‘ –,124 der nun seinerseits den Taten ein Gesicht und Paulina ihre Geschichte geben soll. PAULINA:

I want him to confess. I want him to sit in front of that cassette recorder and tell me what he did – not just to me, everything, to everybody – and then have him write it out in his own handwriting and sign it and I would keep a copy forever – with all the information, the names and data, all the details. That’s what I want.125

Den Auftakt – um in der durch das titelgebende Quartett nahegelegten Terminologie zu bleiben – zum „Privatprozess“,126 wie Paulina ihn nennt, bildet eine verfahrenstechnische Unsauberkeit: der Deal. In Deutschland mittlerweile zugelassen gehörte und gehört die Absprache in Chile zu den unlauteren juristischen Mitteln.127 Und dennoch erdealt Gerardo für seinen ‚Mandanten‘ Straffreiheit, sollte dieser gestehen.

123 DaM, S. 23f. 124 Vgl. Vieira, Patrícia: Twists of the Blindfold: Torture and Sociality in Ariel Dorfman’s Death and the Maiden, in: Chasqui: Revista de Literatura Latinoamericana, Tempe (Arizona) 2009, Nr. 38/2, S. 126-137, S. 131. 125 Dorfman, DaM, S. 41. 126 Ebd., S. 37. 127 Insbesondere nach der Strafprozessreform, die 2005 in dem Land durchgeführt wurde. Vgl. Dettmann, Arne: Strafjustizreform: Mehr Effizienz und Transparenz. Das Ende von Kafkas Prozess, Publikationen der Konrad-Adenauer Stiftung. Auslandsbüro Chile, erschienen unter: http://www.kas.de/chile/de/ publications/6839/ zuletzt aufgerufen am 2.2.2012.

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GERARDO:

He confesses and you let him go.

PAULINA:

I let him go.128

Von diesem Punkt im Stück an entspinnt sich in der Arena des fingierten Gerichtssaals ein wahrer Kommunikationskampf, in dem immer neue Machträume hin zu immer tiefer liegenden Scheinwahrheiten durchschritten werden. Die Positionen der Figuren im binneninszenierten Justizdrama wechseln dabei genauso wie die des Zuschauer-Richters, den das Verfahren des Stücks mal auf Paulinas, mal auf die Seite ihres mutmaßlichen Peinigers zwingt. Paulina wird von der Anklägerin zur Opferzeugin und ist zugleich immer die verfahrenleitende Richterin des rahmenden Prozesses um Miranda, deren Urteil jedoch nicht am Ende des Verfahrens steht, sondern vielmehr dessen Auslöser darstellt, und das durch das im Verfahren erzwungene Geständnis nur noch bestätigt werden soll. Ihr Ehemann wird vom Staatsanwalt zum Strafverteidiger und als solcher von Miranda als beteiligter Täter verdächtigt, zugleich ist er der geständige Angeklagte in einem der ‚Binnenverfahren‘, das Paulina gegen ihn eröffnet. Miranda selbst ist Angeklagter und Ankläger zugleich, der seinem Verteidiger droht: „Escobar. This is inexcuseable. I will never forgive you as long as I live.“ 129 Als Angeklagter, der mit Anklage und Nicht-Vergeben droht, unterstreicht er zugleich seine Unschuldsbehauptung. Zunächst überzeugt Gerardo Doktor Miranda von der Notwendigkeit eines Geständnisses – ungeachtet dessen fortwährender Unschuldsbeteuerungen –, um der durch Paulina drohenden Gewalt zu entgehen, die sich unter anderem mit einer Waffe ausgestattet hat. Mirandas Unschuldsbehauptungen stellen die beiden Männer jedoch vor ein Problem: Wenn Miranda tatsächlich unschuldig ist, oder aber seine Unschulds- und damit Nichtwissensbehauptung aufrecht erhalten will, so kann er nichts gestehen, da er nicht wissen kann oder darf, was Paulina von ihm hören will. ROBERTO:

I need to know what it is I did, you’ve got to understand that I don’t know what I have to confess. If I were that man, I’d know every – detail, but I don’t know, anything, right, so… if I make

128 Ebd., S. 41. 129 Ebd., S. 31.

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a mistake, she’ll think I’m – I’ll need your help, you’ll have to tell me so I can – invent, invent based on what you tell me. 130

Gerardo greift zu einem Trick: Er gibt das Begehren seiner Frau nach der Erzählung dessen, was unter der Folter geschah, als sein eigenes aus und will Paulina so zwingen zu erzählen – um seinerseits eine Aufnahme des Geständnisses, ihres Geständnisses, anzufertigen, das er seinem ‚Mandanten‘ wiederum als dessen Geständnis zuspielen kann. GERARDO:

Paulina, I love you. I need to hear it from your lips. It’s not fair that after so many years the person to tell me, ends up being him. It would be – intolerable.131

Damit unterläuft Gerardo genau jene Regeln des rechtstaatlichen Verfahrens, die er gegen seine Frau und deren Selbstjustiz leidenschaftlich verteidigt. Doch Paulina lässt sich das Verfahren nicht aus der Hand nehmen, sie bleibt souveräne Vorsitzende und schließt nun ihrerseits einen Deal mit ihrem Mann ab: Angeblich war einer der Gründe, warum sie auch ihm gegenüber nie von den Ereignissen in Haft sprechen konnte der, dass sie Gerardo in der Nacht ihrer Rückkehr mit einer anderen Frau antraf. Beide ließen die genauen Geschehnisse während ihrer Trennung im Dunklen. Nun spielt Paulina die Tatsache, dass sie weiß, dass er auf ihre Geschichte angewiesen ist, um seinen Mandanten zu retten, gegen ihn aus: Sie zwingt ihn zu erzählen, was zwischen ihm und der anderen Frau vorgefallen ist und stellt ihm dafür – vermeintlich – jene Informationen zur Verfügung, die er braucht. PAULINA:

How many times did you do it? How many, how many? I tell you, you tell me.132

Ganz nebenbei wird Gerardo so zum geständigen Angeklagten in einem ‚Nebenverfahren‘. Auch Paulina hält sich an die Abmachung und erzählt. Doch nicht die volle Wahrheit: Sie baut Fehler in ihre Darstellung ein, die Gerardo als Aufzeichnung an Miranda weiterreicht. Miranda gesteht das 130 Ebd., S. 48. 131 Ebd., S. 53. 132 Ebd., S. 54.

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ihm zur Verfügung gestellte Geständnis – und berichtigt ahnungslos Paulinas Abweichungen. Paulina und ihr Verfahren bekommen somit den Beweis, den sie nicht mehr brauchten. Zugleich bekommt Paulina ‚ihre‘ vollständige Geschichte, auf Kassette aufgenommen und abgetippt, ohne sie so je erzählt zu haben. Durch die Übergabe der Kassette wird die Inbesitznahme der Stimme des Verhörten buchstäblich in Szene gesetzt. Ob die Geschichte, die diese Stimme erzählt, wahr ist, ob Paulinas Beweise als objektive Beweise taugen, lässt das Stück offen. Die Geständnisszene wird im Text so inszeniert, dass sich die Stimmen, die teilweise die der Aufzeichnung sind, überschneiden und am Ende unklar ist, wer wessen Worte wiederholt – Paulina die des Peinigers Miranda, Miranda Paulinas, oder Miranda seine eigenen. Die Originalworte und damit ein objektiver Sachverhalt können nicht mehr ausgemacht werden. Klarheit aber herrscht darüber, dass es sich um Paulinas Wahrheit handelt – um ihre Geschichte, die im Stande ist, die Lücke in ihrem Leben zu schließen. Die Schlussszene zeigt Paulina und ihren Mann in einem Schubertkonzert. Indem sie ihren mutmaßlichen früheren Peiniger zum Sprechen gebracht hat, ihn ihrerseits unterwarf, hat Paulina nicht nur ihre Geschichte erhalten: Dank dieser Erzählung in Form des Geständnisses gelang es ihr offenbar, den Riss in ihrem Leben zu verfugen und sich als verlässliches, funktionierendes Mitglied – Ehefrau an der Seite eines verdienten und dekorierten Mannes – in die Gesellschaft zu reintegrieren. In der Schlussszene wird diese Verfugung buchstäblich auf die Bühne gebracht, indem das Stück an seinen Beginn anknüpft: Dort lud Gerardo mit den Worten „My wife makes a margarita that makes your hair stand on end“ zu sich und Paulina ein. 133 In der Schlussszene hat Gerardo die Arbeit für die Kommission erfolgreich – oder neutraler: absichtsgemäß – hinter sich gebracht. In der Konzertpause gratuliert man ihm. Mit den letzten Worten, die in dem Stück gesprochen werden, lädt Gerardo den anonymen Gratulanten zu sich ein – die Wortwahl mutet

133 Ebd. S. 3. Sophia McClennen weist darauf hin, dass mit diesem Ausspruch zu Beginn des Stücks bereits auf den Kontext Folter verwiesen wird, bevor ihn noch die Figuren selbst thematisieren, da sich „to make your hair stand on end“ sowohl auf ein starkes Getränk als auch auf die Zufügung von Schmerzen beziehen kann. McClennen, Sophia: Torture and Truth in Ariel Dorfman’s La muerte y la doncella, in: Revista Hispánica Moderna, 62/2, Philadelphia 2009, S. 179-195, hier: S. 191. Im Folgenden: McClennen, Torture and Truth.

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vertraut an: „Maybe we could have a couple of drinks at home. Pau mixes a margarita that’ll stand your hair on end.“134 Doch es ist nicht mehr dieselbe Ehefrau, deren Vorzüge am Ende des Stückes gelobt werden. Paulinas Reintegration ist ein Akt der Selbstbehauptung – nicht nur gegen ihren Peiniger. Auch ihren Ehemann, den sie in ‚ihrem Verfahren‘ ja bereits zum geständigen Angeklagten gemacht hat, hat sie genötigt, ihren Weg, jenseits des von ihm geforderten Rechtswegs, mitzugehen. Es sind ihre, nicht seine Prognosen, die sich erfüllen: Gerardo versuchte Paulina zur Freilassung Robertos zu bewegen unter anderem, indem er prophezeite, sie werde ihrer beider gemeinsame Zukunft zerstören, da es ihm nach den Vorfällen in seinem Haus nicht mehr möglich sein werde, für die Untersuchungskommission zu arbeiten. GERARDO:

Are you deaf? I just told you I’m going to have to resign.

PAULINA:

I don’t see why.

GERARDO:

You don’t see why, but all the rest of the country will see why, especially those who don’t want any kind of investigation of the past will see why. A member of the president’s Commission, who should be showing exemplary signs of moderation and equanimity –

PAULINA:

We are going to suffocate from so much equanimity!

GERARDO:

– and objectivity, that this very person has allowed an innocent human being to be bound and tormented in his house – do you know how the newspapers that saved the dictatorship, do you know how they’ll use this episode to undermine and perhaps even destroy the Commission?135

Doch Paulina prophezeit: „[…] go ahead with your Commission and believe me when I tell you that none of this is going to be made public.“ 136 Die Schlussszene gibt ihr Recht, nicht ihrem Mann. Es ist Paulinas Verfahren, des Opfers Verfahren jenseits der Rechtsnorm, das aufgeht. Paulina behält Recht darin, dass die Rechtsverfahren ihres Mannes und seiner Kommission wie beabsichtigt stattfinden. Doch im Zuge der Auseinandersetzung um den eventuell nötigen Rücktritt verrät sich Gerardo in einem 134 Dorfman, DaM, S. 68. 135 Ebd., S. 36. 136 Ebd., S. 37.

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anderen Punkt und berührt damit eine weitere Dimension des Stücks. Das Stück zeigt die Konfrontation männlicher und weiblicher Positionen in der Auseinandersetzung um Anerkennung als Opfer oder als Richter, aber auch um Schuld, Unschuld und Wahrheit. Er bekennt, er müsse auch dann zurücktreten, wenn niemand von Paulinas Übergriff erführe. Paulina ahnt seine eigentlichen Befürchtungen, die er auf ihre Nachfrage hin sofort einräumt: Gerardo fürchtet, Paulina könnte geisteskrank sein. 137 Schon in der ersten Szene des Stücks, als er seiner Frau von seiner Berufung erzählt, gilt seine Sorge einem möglichen „Rückfall“ Paulinas – worin der bestehen könnte, bleibt offen.138 Paulina wird so von Gerardo als hilfsbedürftiger Risikofaktor für eine durch und durch männliche Karriere beschrieben. Am auffälligsten aber rückt Roberto Paulina in die Nähe des weiblichen Wahnsinns zu einem Zeitpunkt, zu dem er sie zumindest innerhalb der Diegese des Stücks noch gar nicht kennengelernt hat. Während des nächtlichen Gesprächs der beiden Männer kurz nach Roberto Mirandas Eintreffen – unter anderem über Frauen im Allgemeinen – zitiert letzterer vermeintlich Nietzsche mit dem Satz: „[W]e can never entirely possess that female soul.“139 Ist der Leser bereit, Roberto für den Täter, Paulinas Folterer, zu halten, so verweist dieser Satz nicht nur voraus auf die weiteren Ereignisse zwischen Paulina, Roberto und Gerardo, während der die beiden Männer Paulina abwechselnd für wahnsinnig erklären, sondern dann weist er auch zurück auf das Verhältnis zwischen Paulina und ihrem Folterer. Denn dem ging es, wie wir aus dem von Paulina vorformulierten Geständnis erfahren, darum, „die Frau vollständig in der Gewalt zu haben“, alles über ihre Sexualität herauszufinden und sämtliche Phantasien am Opfer auszuleben.140 Es ging in diesen Folterungen also gerade um den – angeblich unmöglichen – Versuch, die Frau vollständig zu besitzen. Gesetzt, das Zitat ist der Satz aus dem Mund eines Täters, ist es also einer, der von möglicher Schuld ablenken soll. Jedoch auch dann, wenn man Robertos Unschuld annehmen möchte oder die Schuldfrage unentschieden lässt, kann der Satz nicht ohne Bedeutung sein. Ein Nietzsche-Zitat ist er jedenfalls nicht, darauf weist auch Sophie McClennen hin. Sie liest den Satz vielmehr als bewusst verstecktes,

137 Vgl. ebd. 138 Vgl. ebd., S. 8. 139 Ebd., S. 14. 140 Ebd., S. 59.

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auffällig getarntes Freud-Zitat.141 Demnach spielt er auf die berühmte Äußerung Freuds gegenüber Marie Bonaparte an: „Die große Frage, die nie beantwortet worden ist und die ich trotz dreißig Jahre langem Forschen in der weiblichen Seele nicht habe beantworten können, ist die: ‚Was will das Weib?‘“142 Mir erscheint dieser Zusammenhang möglich, nicht aber zwangsläufig. Unabhängig davon taugt der Satz als Teil eines klassischen Gesprächs von Mann zu Mann, Frauen in verallgemeinernder Weise zu mystifizieren oder gar zu dämonisieren, sie also aus dem Bereich des Rationalen zu verweisen. Entsprechend ist Gerardo auch nicht bereit, rationale Gründe für Paulinas Handeln anzuerkennen, sondern er sieht vielmehr ihren Wahnsinn als Ursache für eine Wahnsinnstat. Als auch Roberto erklärt „She’s mad. You’ll have to excuse me for saying this, Gerardo, but your wife…“ und eine Therapie empfiehlt,143 verteidigt Gerardo nicht etwa die Zurechnungsfähigkeit seiner Frau, sondern bestätigt vielmehr ihre Unzurechnungsfähigkeit, indem er entgegnet: „To put it brutally, you are her therapy, Doctor.“144 Beide Männer entziehen sich der Auseinandersetzung mit Schuld, der Aufarbeitung jener Schuld und den Möglichkeiten der Wiedergutmachung, indem sie Paulina schlicht und ergreifend für geisteskrank erklären. Doch Paulina ist nicht verrückt, auch dies beweist das Recht, das ihr die Schlussszene gibt. Ihr Kalkül geht auf – sowohl für sie selbst als auch für ihren Mann, dem sie die Rückkehr in die Kommission prophezeite. Die Entmachtung, die die Unzurechnungsfähigkeitserklärung durch die beiden Männer beabsichtigt, scheitert. Jenseits aller vermeintlich augenscheinlichen Beweise für Robertos Schuld, die der Text möglicherweise hie und da liefert und die in der Forschungsliteratur zu Dorfmans Stück meiner Meinung nach meist zu stark gemacht werden, ist die Tatsache, dass Paulinas Berechnungen aufgehen, dass weder Roberto Schritte gegen sie und ihren Mann ergreift, noch dass ihr Übergriff sonstige Konsequenzen hat, der vielleicht tauglichste Beweis für Robertos Schuld. Es erscheint mir jedoch nicht im Sinne des Dramas, diesen Beweis überhaupt anzutreten. Denn gerade in der Unentscheidbarkeit zwischen Schuld und

141 McClennen, Torture and Truth, S. 189. 142 Zitiert nach Jones, Ernest: Das Leben und Werk von Sigmund Freud. Band II: Jahre der Reife 1901-1919, Frankfurt a.M. 20075, S. 493. 143 DaM, S. 43. 144 Ebd.

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Unschuld, Recht und Unrecht, Wahrheit und Unwahrheit liegt eine der wichtigsten Leistungen des Stückes. Als Kommunikationssituation misslingt auch das von Paulina durchgeführte Verhör, um noch einmal die Eingangsüberlegungen des Kapitels aufzugreifen – es ist als solche ergebnislos. Die Machtsimulation der gewaltbasierten Zwangskommunikation dagegen hat ein Ergebnis: Paulinas Foltererzählung. Nichts desto trotz ist die Wahrheit, die Paulina in Form des Geständnisses erzwang, eine verhörtypische Wahrheit – jene Wahrheit, die das Verhör nicht hervorbrachte, sondern die es vielmehr voraussetzte. Im Folgenden möchte ich mich dem Status und den Funktionen von Wahrheit im Folterverhör widmen und hierzu zunächst den Fokus auf Dorfmans Stück belassen.

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1.3 W AHRHEIT I: D IE W AHRHEIT

DES

V ERHÖRS

„I need the truth, Gerardo.“ (Paulina, DaM, S. 11) „… the real real truth is, you want to know the truth?“ (Roberto, DaM, S. 13) „You are exactly what this country needs, to be able to find out the truth once and for all. …“ (Roberto, DaM, S. 15) „And the real real truth is that I am incredibly tired.“ (Roberto, DaM, S. 18) „Among other reasons, yes, that’s so, if the truth still matters to you.“ (Gerardo, DaM, S. 37)

Die Reihe an Zitaten könnte lange fortgesetzt werden. „Wahrheit“ wird in Death and the Maiden inflationär aufgerufen, geradezu beschworen. Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Gebrauch des Begriffs durch Paulina und jenem durch Roberto beziehungsweise auch Gerardo. Es ist Paulina, die konsequent (so auch in dem ersten, beispielhaft angeführten Zitat oben) nach der Wahrheit fragt, während Gerardo und Roberto zwar beständig von ihr sprechen, sie behaupten, sich ihr aber nur selten aus eigener Initiative annähern. Das Stück eröffnet mit einem Dialog zwischen Gerardo und Paulina, in dem Gerardo seiner Frau vormacht, er habe die Teilnahme an der Kommission noch nicht zugesagt, wolle erst ihre Befürwortung. Erst auf Paulinas Einforderung „der Wahrheit“ gibt der Jurist zu, seinen Vertrag bereits unterschrieben zu haben. Roberto schiebt zunächst Vorwände für seinen nächtlichen Besuch vor, bevor er „die Wahrheit“ – er wolle den Juristen Gerardo und seine große Aufgabe durch sein Hilfsangebot unterstützen – sagt, die seine Gründe allerdings nicht klarer erscheinen lässt. Nur Paulina verwendet „die Wahrheit“ nicht als Floskel, sondern als Forderung. Von ihrem Ehemann befragt, wo der gemeinsame Wagenheber abgeblieben sei, ist sie sofort bereit, die kleine, aber für sie unbequeme Wahrheit zu gestehen – sie habe ihn verliehen –, ohne ihr Wahrsprechen extra zu betonen, wie es die beiden Männer in vergleichbaren Gesprächssituationen geradezu manisch tun. Das Stück bietet also mindestens zwei Perspektiven auf die Wahrheit und verhandelt ihren Gebrauch auf mehreren Ebenen, wie sich im Folgenden zeigen wird. Dorfman „inquires into the role of violence in the post-torture quest for truth“,145 benennt Sophia McClennen ein zentrales Anliegen des Autors. Doch mei-

145 McClennen, Torture and Truth, S. 190.

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ner Meinung nach leistet das Stück mehr: Es fragt nach den Möglichkeiten von Wahrheit jenseits ihrer Instrumentalisierung schlechthin. Dabei scheut sein Autor auch nicht davor zurück, kanonische metaphysische und sprachphilosophische Auseinandersetzungen mit dem Wahrheitsbegriff zu berühren. Das wiederholte Aufrufen von Wahrheit gehört offenbar zu den sprachlichen Auffälligkeiten, die dazu beitragen, dass sich Paulina sicher ist, mit Roberto ihren früheren Folterer vor sich zu haben. Ein weiterer solcher Tick ist die häufige und auffällige Zitierung Friedrich Nietzsches.146 So kommt das bereits erwähnte Zitat – „[W]e can never entirely possess that female soul“ – zwar vielleicht Freud näher als Nietzsche, und doch wird letzterer von Roberto an dieser Stelle erstmals ins Spiel gebracht. Von Paulina erfahren wir im Stückverlauf, dass er den Philosophen bereits im Zuge der Folterungen zitierte.147 Für den vorgeblichen Wahrheitsfanatiker Roberto ist Nietzsche in diesem Kontext eine enttarnende, wenn auch absurde Referenz. Nietzsches Wahrheitskritik führt auf direktem Wege zu Robertos eigentlichem Ziel: Macht. In Nietzsches Jenseits von Gut und Böse angesiedelten Überlegungen zur Wahrheit zieht er die Existenz eines wahrhaftigen „Willens zur Wahrheit“ stark in Zweifel.148 Vielmehr sieht er den Menschen als zur und von der Macht getriebenen, denn „Leben selbst ist Wille zur Macht“.149 Die Philosophie selbst sei „dieser tyrannische Trieb“150 hin zur Macht und letztlich ließe sich alle Kraft bestimmen als: „Wille zur Macht. Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren ‚intellegiblen Charakter‘ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben Wille zur Macht und nichts außerdem.“151 In Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne verknüpft Nietzsche diese Skepsis gegenüber der Wahrheit

146 Vgl. zu den sprachlichen Auffälligkeiten Sophia McClennen. Sie widmet sich auch der spanischen Version, die, was die Sprachtics betrifft, etwas von der englischen Version abweicht. McClennen, Torture and Truth, S. 189. 147 Dorfman, DaM, S. 40. 148 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Stuttgart 1988, S. 7. Im Folgenden: Nietzsche, Gut und Böse. 149 Ebd., S. 19. 150 Ebd., S. 14. 151 Ebd., S. 45.

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deutlich auch mit einer allgemeineren, sprachkritischen Position,152 auf die ich weiter unten noch einmal detaillierter eingehen möchte. Die Lieblingsreferenz Robertos, der nicht müde wird, sein eigenes Interesse an der Wahrheit zu betonen,153 ist also ausgerechnet Nietzsche, der längst nicht mehr an Wahrheit glaubt und für den Erkenntnissuche nichts als ein Machtmittel ist. Der der Folter Verdächtigte führt sein Wahrheitsbegehren – vorausgesetzt er kennt den von ihm vielfach Zitierten – damit ad absurdum. Gleichzeitig wird durch die über Nietzsche herbeigerufene Verbindung zwischen Wahrheit und Macht ein Zusammenhang hergestellt, der uns zurückführt zu den Ausgangsüberlegungen dieses Kapitels. Es ist das Begehren nach scheinbarer, vordergründiger Macht, die das Folterverhör motiviert. Michel Foucault nähert sich dem Verhältnis von Macht und Wahrheit in seinen 1973 gehaltenen und unter dem Titel Die Wahrheit und die juristischen Formen zusammengefassten Vorträgen auf einem Weg, dessen Anlage er Nietzsche zuschreibt. Nietzsche breche mit dem „große[n] abendländische[n] Mythos“, nach dem Wissen beziehungsweise eine aus ihm hervorgehende reine Wahrheit und Macht Gegensätze darstellen. 154 Nietzsche habe begonnen, diesen Mythos aufzulösen, indem er zeigte, „dass hinter jedem Wissen, jeder Erkenntnis letztlich ein Machtkampf steckt. Wissen ist nicht frei von politischer Macht, sondern eng mit ihr verwoben.“155 Foucault unterscheidet in seiner Vortragssammlung zwei Formen der Wahrheitsermittlung und damit letztlich zwei Formen von Wahrheit selbst. Beide Wege zur Wahrheit aber stellen bei Foucault Machtmittel dar. Das eine Verfahren ist das der „Wahrheitsprobe“, das jenem, bereits angesprochenen Verfahren der Sklavenfolter im antiken Griechenland

152 Vgl. Ders.: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne, in: Schlechta, Karl (Hg.): Friedrich Nietzsche, Werke in sechs Bänden, Bd. 5, München 1980, S. 314. 153 Dieses Interesse betont Roberto nicht nur in Situationen, in denen eher alltägliche Wahrheiten beschworen werden, sondern insbesondere auch in Zusammenhang mit seinen Erwartungen an Gerardos Untersuchungskommission. Er gibt sich überzeugt „in this country everything finally comes out into the open“. Dorfman, DaM, S. 15. 154 Foucault, Michel: Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt a.M. 2002, S. 51. Im Folgenden: Foucault, WuJ. 155 Ebd.

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gleicht. Die Wahrheit wird „nicht durch Feststellung von Tatsachen, durch Zeugenaussagen, durch Ermittlungen oder Befragungen ermittelt […] sondern durch eine Probe“.156 Diese Form der „Wahrheitsgenese“ wird – so Foucault – im Laufe der Neuzeit durch die Untersuchung abgelöst. Auch diese „allgemeine Wissensform“ basiere jedoch auf „bestimmten Machtverhältnissen, auf einer bestimmten Form der Machtausübung“. 157 Ich möchte Foucaults Darstellung der historischen Ablöse dieser beiden Wahrheitsmittel hier nicht folgen. Innerhalb bestimmter juristischer Rahmenbildungen mag diese Beobachtung zulässig sein, doch gehe ich davon aus, dass die Frage nach der Wahrheit auch außerhalb dieser Rechtsinstitutionen gestellt wurde und wird. Zudem sieht Foucault insbesondere Reste des von ihm später angesetzten Verfahrens, der Untersuchung, „in der berüchtigten Folter, allerdings auch hier schon vermischt, mit dem Ziel, ein Geständnis, also einen Wahrheitsbeweis zu erlangen“.158 Unzweifelhaft geht es Foucault hierbei um jene Verfahren, die ich zu Beginn des Kapitels bereits mit seinen eigenen Worten beschrieben habe – jene also, in denen die Folter „ihren genau bestimmten Platz in einem komplexen Strafmechanismus“ hatte159 und die damit für Texte zur Folter nach 1945 von geringem Interesse sind. Daher möchte ich hier die „archaische“ Form des Wahrheitsverfahrens näher betrachten. Foucault beschreibt eine besondere Form der Wahrheitsprobe als „Machtinstrument“, als „ein Mittel zur Ausübung der Macht: Jemand, der ein Geheimnis besitzt oder über Macht verfügt, zerbricht einen beliebigen, meist aus Keramik gefertigten Gegenstand und behält die eine Hälfte für sich, während er die andere Hälfte jemandem übergibt, der die Botschaft übermitteln oder deren Echtheit bestätigen soll. Fügt man die beiden Hälften zusammen, erkennt man schließlich die Echtheit der Botschaft, die Kontinuität der ausgeübten Macht.“160

Ein „zerbrochener Krug“ also. Das buchstäbliche wie das symbolische Zusammensetzen seiner Scherben ist der Weg der Ermittlung von Wahrheit 156 Ebd., S. 33. 157 Ebd., S. 73. 158 Ebd., S. 75. 159 Ders., ÜuS, S. 54. Das ganze Zitat befindet sich auf S. 30 dieser Arbeit. 160 Ders., WuJ, S. 37f.

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und damit ein Weg zur Macht. Doch bereits das gewaltsame Herstellen der Scherben setzt den machterzeugenden Besitz von Wahrheit voraus. Dass nicht nur die Inbesitznahme von Wahrheit, sondern auch die Möglichkeit zur Wahrheitsverwaltung ein Machtzeichen ist, zeigt Cornelia Vismann am Beispiel von Kleists Drama Der zerbrochene Krug, in dem der verfahrensleitende Dorfrichter Adam nichts tut, um die ihm bekannte Wahrheit aufzudecken und die Ermittlungsergebnisse Stück für Stück buchstäblich zusammenzusetzen. „Er unternimmt vielmehr alles, damit die Wahrheit nicht ans Licht kommt […]“.161 Auch bei Vismann – die dies natürlich anhand von Kleist zeigt – ist der Krug ein Wahrheitsbehältnis. Jedoch spielen die Krugscherben in der Betrachtung bei Foucault und Vismann eine jeweils etwas andere Rolle, deren Vergleich mir interessant erscheint: Der zerbrochene Krug und mit ihm die zersplitterte Geschichte um seine Wahrheit, „kommt in die Gerichts-Welt, weil eine gewisse Marte Rull sagt, dass ein Krug, der ihr gehört, von einem anderen zerbrochen wurde“. Der Gerichtsprozess, das Verfahren der Wahrheitsermittlung, ist also zunächst einmal „der Prozess einer Diskursivierung des Dings“.162 Die Streitsache, das Ding, um das es geht, muss in den Diskurs um die Wahrheit eingeführt werden. Das Gericht waltet – im Zerbrochenen Krug mit Gerichtsrat Walter buchstäblich – „über den Prozess der Versprachlichung des Dings“.163 Ding und Wahrheit werden zu einer Sprache, die sich zum Rechtsprechen eignet und in ihr buchstäblich zusammengesetzt. Bei Foucault stellt sich die Verwendung des Keramikgefäßes umgekehrt dar: Der, der in Besitz der Wahrheit ist, zerbricht den Keramikgegenstand und übergibt einen Teil demjenigen, der die Botschaft übermitteln soll – mitsamt der Scherbe als Wahrheitsgarant. In Besitz der Wahrheit ist weiterhin nur derjenige, der auch den anderen Scherbenteil besitzt, da nur er den Wahrheitsgehalt nachweisen kann, indem er die Stücke zusammenführt. Hier wird also nicht das Ding in den Diskurs, sondern der Diskurs ins Ding überführt. Die Wahrheit gelangt dabei zweimal auf unterschiedliche Weise in „das Ding“; einmal wird es zerschlagen und einmal zusammengesetzt. Beide Male aber ist es ein – dinglicher – Körper, der die Wahrheit birgt, oder verbirgt.

161 Vismann, Cornelia: Medien der Rechtssprechung, hrsg. von Alexandra Kemmerer und Markus Krajewski, Frankfurt a.M. 2011, S. 43. 162 Ebd., S. 48. 163 Ebd., 47f.

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Am Ende steht keine objektive Wahrheit, sondern ein Ding-Körper, der diese Wahrheit verbürgt, also als Wahrheitsprobe fungiert. Es handelt sich um eine „gerichtliche, politische und religiöse Technik, die von den Griechen σύμβολον, Symbol, genannt wird“.164 Was am Ende des Probeverfahrens steht, ist also nicht die Wahrheit, sondern etwas, das für eine Wahrheit außerhalb seiner selbst steht, indem es die Wahrheit seiner eigenen Körperlichkeit, seiner Zusammensetzung beweist und gleichzeitig also für sich selbst steht. Im Folterverhör scheinen sich beide Verfahren – der Diskursivierung und der De-Diskursivierung – im gefolterten Körper zu berühren; ich möchte vorerst bei Dorfmans Drama als Beispiel bleiben. Wie bereits erwähnt ist Roberto Miranda Arzt. Er wurde, sofern der Leser Paulinas Überzeugung folgen will, zu den Folterungen hinzugezogen – beziehungsweise stellte sich vielmehr bereit –, um die Belastbarkeit der Opfer aus medizinischer Sicht zu bewerten.165 Doch nach und nach findet er Gefallen an dem, was er tut und beginnt eigene „Experimente“ an den Opfern durchzuführen. ROBERTO:

A kind of – brutalization took over my life, I began to really truly like what I was doing.166

Roberto wird selbst zum Folterer – mit sehr eigenem Erkenntnisinteresse: ROBERTO:

My curiosity was partly morbid, partly scientific. How much can this woman take? More than the other one? How’s her sex? Does her sex dry up when you put the current through her? Can she have an orgasm under those circumstances? She is entirely

164 Foucault, WuJ, S. 38. Beachte auch die wörtliche Bedeutung von σύμβολον, Symbol, nämlich „etwas Zusammengefügtes“, beziehungsweise ursprünglich: „[…] das abgebrochene Stück einer Sache (z.B. eines Ringes, Würfels, Täfelchens u. a.), das mit seinem Bruchrande zu dem anderen Stücke genau passte, so dass man beide zusammenlegen konnte […]“. Menge, Hermann (Hg.): Langenscheidts Großwörterbuch Altgriechisch unter Berücksichtigung der Etymologie, Berlin u. a. 199729, S. 648. 165 Dorfman, DaM, S. 59. 166 Ebd.

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in your power, you can carry out all your fantasies, you can do what you want with her.167

Was ihn treibt, sind neben der Unterwerfung des Opfers – „sie ist gänzlich in seiner Macht/Gewalt“ – pseudo-wissenschaftliche Erkenntnisse über den weiblichen Körper, überwiegend über seine sexuellen Funktionsweisen. Dabei legt er das Subjekt in Trümmer – zerscherbt bildlich den weiblichen Opferkörper, in den er eindringt, durch den er Strom jagt, den er nahezu buchstäblich ‚sprengt‘. Auch er legt die Wahrheit, die er finden will, zunächst in den weiblichen Körper hinein, setzt sie also voraus – sofern wir davon ausgehen, dass die Wahrheit über weibliche Orgasmusfähigkeit nach der Stromfolter keine von tatsächlichem wissenschaftlichem oder sonstigem Erkenntniswert ist –, ähnlich wie Paulina das mit Roberto und seinem erzwungenen Geständnis tut. Doch Robertos Interesse ist im Gegensatz zu Paulina beschränkt auf den Körper des Anderen, der letztlich für nichts als sich selbst bürgt und damit zum einzigen Ziel der Folter wird. Robertos Folter zielt auf die Wahrheit des weiblichen Körpers, den er zu diesem Zweck zertrümmert und die Einzelteile – allein in seinem Besitz – zu seiner Wahrheit zusammensetzt. Er legt also – um noch einmal die Parallele zu den von Vismann und Foucault beschriebenen Diskursivierungspraktiken zu ziehen – seine eigene Wahrheit in den Körper, den er in einem zweiten Schritt zum Garanten für eine Wahrheit macht, die er wiederum aus diesem Körper herausholt oder über ihn zusammensetzt. Dieser Zirkel lässt die von Roberto bedeutungsvoll beschworene Wahrheit buchstäblich scheitern – sie zerfällt in ihre Einzelteile und bildet kein sinnvolles Ganzes mehr. 168 Auch in J. M. Coetzees Roman Waiting for the Barbarians ist es die Wahrheit des Körpers, auf die die Erklärung des für die Folterungen im Grenzstaat verantwortlichen Oberst Joll zielt: „Pain is truth; all else is subject to doubt.“169 Joll scheint ebenfalls kein anderes Interesse zu verfolgen, als Machtdemonstration nach innen und Unterwerfung nach außen: Er un-

167 Ebd. 168 Der Begriff ‚scheitern‘ hat sich aus ‚zu Scheitern werden‘ gebildet. Die Redensweise wurde auf Fahrzeuge und Schiffe angewendet, die in Stücke (‚Scheite‘) zerbrechen. S. Seebold, Elmar (Hg.): Kluge. Etymologisches Wörterbuch, 25. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 2011, S. 716. 169 Coetzee, WfB, S. 5.

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terzieht die „Barbaren“ brutalen Folterverhören, ohne auch nur deren Sprache zu sprechen. Eine Wahrheit jenseits des gefolterten Körpers kann also auch in diesem Zusammenhang nicht Ziel sein. Coetzees Roman und damit die angesprochene Szene werden im dritten Kapitel einer genauen Analyse unterzogen werden – unter anderem auch im Rahmen der Frage nach der Darstellbarkeit von Schmerz. Bevor ich mich einer weiteren Gemeinsamkeit von Dorfmans und Coetzees Text widme, sei an dieser Stelle noch einmal auf die gendertheoretischen Implikationen des Dramas verwiesen – auch dieses Mal ohne diese Spur, die nicht den Schwerpunkt der Arbeit bildet, bis an ihr Ende zu verfolgen: Page DuBois sieht das Folteropfer generell einer Feminisierung oder Androgynisierung ausgesetzt. Die erfolterte oder, wie DuBois schreibt, „from torture born“170 Wahrheit wird – je nach Perspektive – zur Geburts- oder Ejakulationsanalogie beziehungsweise -fantasie. „The victim of torture is feminized in the process of torture, or rather made androgynous, since the production of truth resembles an ejaculation as much as a giving birth.“171 Im Vergleich der jeweiligen Wahrheitsermittlungsverfahren von Roberto und Paulina ist diese Analogie besonders naheliegend: Die – vor allem – sexuelle Inbesitznahme der Frau, die gewaltsame „Ermittlung“ der Wahrheit des weiblichen Körpers, wie sie Roberto erklärter Weise betrieb, endet mit der männlichen Ejakulation im Rahmen der Vergewaltigungen, die essentieller Bestandteil der Folter an Paulina waren. Es ist der männliche Samen, den die Folter tatsächlich „hervorbringt“. Der Rahmen der Wahrheitsermittlung durch die Folterungen jedoch bleibt Vorwand, da Paulinas Körper nichts preisgibt, als sich selbst. Diese Vorzeichen drehen sich in den Szenen, die das Stück auf der Bühne entwirft, genauso um, wie die Verhältnisse zwischen Paulina und Roberto. Paulina zieht in Betracht, Roberto ebenfalls zu vergewaltigen beziehungsweise vergewaltigen zu lassen, sieht von diesem Vorhaben aber wieder ab: PAULINA:

So when I heard his voice, I thought the only thing I want is to have him raped, have someone fuck him, that’s what I thought, that he should know just once what it is to … […]

170 DuBois, Page: Torture and Truth, New York und London 1991, S. 152. 171 Ebd.

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But I began to realize that wasn’t what I really wanted – something that physical. And you know what conclusion I came to, the only thing I really want?172

Wir kennen die Antwort auf diese Frage bereits: Paulina erzwingt ihre persönliche Wahrheit, die Roberto als Geständnis „hervorbringt“. Sowohl in J. M. Coetzees als auch in Ariel Dorfmans Text spielt die partielle oder vorübergehende Blindheit des Folteropfers eine zentrale Rolle – nicht zuletzt auch für den „Blick“ auf die jeweiligen Wahrheitsermittlungen im Verhör. Ich möchte einer detaillierten Analyse von Coetzees Roman im anschließenden Teil der Arbeit nicht vorgreifen, will aber dennoch kurz die relevanten Umstände für die hier beschriebene Beobachtung schildern. Das gefolterte Mädchen, das eine zentrale Rolle in Waiting for the Barbarians spielt, wurde im Rahmen eines Folterverhörs unter anderem beinahe geblendet; „after that I could not see properly any more. There was a blur in the middle of everything I looked at; I could see only around the edges.“ 173 Paulina war während sie gefoltert wurde „blindfolded. But I could still hear.“174 Die Tatsache, dass sie keine Augen- sondern eine Ohrenzeugin ist, wird „the supplement at the center of the plot“.175 Vor ihrem Mann – einem Musterrepräsentanten der neuen Staats- und Rechtsordnung – scheidet Paulina als Zeugin in eigener Sache aus, weil sie die Täter nicht sehen konnte. Tatsächlich kann sie aber kein Zeugnis ablegen, weil „torture precludes witnessing as such“.176 Wie ich im Laufe der Arbeit noch näher erläutern werde, ist Folter darauf angelegt, die Rede über sie unmöglich zu machen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Paulina nicht in Besitz ihrer Geschichte wäre, sie ist sogar überzeugt davon, ihren Täter zu kennen – als einzige Figur in diesem Stück. Sie, die nicht sehen konnte, ist die einzige, die für die genauen Umstände der Folter steht und bürgt, über die Wahrheit des Ge172 Dorfman, DaM, S. 40f. 173 Coetzee, WfB, S. 41. 174 Dorfman, DaM, S. 23. 175 Vieira, Patrícia: Twists of the Blindfold: Torture and Sociality in Ariel Dorfman`s Death and the Maiden, in: Chasqui: Revista de Literatura Latinoamericana, Tempe (Arizona) 2009, Nr. 38/2:, S. 126-137, hier: 126. 176 Ebd., S. 134.

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ständnisses entscheidet. Auch in Coetzees Roman ist das nahezu blinde Mädchen die einzige Figur, die weiß, was während der Folterverhöre durch Joll und seine Schergen geschah, doch sie widersetzt sich konsequent der Preisgabe dieses Wissens und bleibt damit als einzige im Besitz der „wahren“ Foltergeschichte. Auch Paulina erzählt, wie bereits dargelegt, keine vollständige Wahrheit, sondern sie lässt sie erzählen, von einem, der diese Wahrheit nicht anerkennt. Der Gedanke an Sophokles’ blinden Seher liegt nahe. Foucault stellt diese wissende, aber blinde Figur in Opposition zum ebenfalls blinden – aber scheinbar unwissenden – Machtmenschen. Seher und Philosoph sind die Figuren, die „in Verbindung mit der Wahrheit, den ewigen Wahrheiten der Götter und des Geistes“ stehen.177 Doch – wie bereits erwähnt – bestreitet Foucault, Nietzsche heranziehend, einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Macht und Wissen. Diese Beobachtung lässt sich auch am blinden Opfer in der Foltererzählung nachvollziehen beziehungsweise an deren sehendem Täter. Paulina verfügt in gewisser Weise über die ‚ewige‘, aber unbewiesene Wahrheit der Philosophin. Doch stellt sie sich letztendlich als nicht ohnmächtig heraus – so wenig wie Roberto als vollkommen unwissend. Auch das Mädchen in Coetzees Roman nutzt sein Wissen um die eigene Folter zur letzten, verbleibenden Form von Widerstand, wie ich an anderer Stelle nachweisen werde. Dennoch: Die Wahrheit bleibt – in Coetzees Roman wie in Dorfmans Drama – unteilbar und unvermittelbar. Jenseits ihrer Instrumentalisierung im Sinne der Machtgenese ist sie eine Sache des Glaubens, objektivem Wissen nicht zugänglich. Jene Wahrheit, die Nietzsche so entschieden verwirft, bleibt auch in den beiden Texten unerreicht. „Vor diesem Hintergrund haben wir Nietzsches Allaussagen: ‚Es gibt keine Wahrheit‘ und ‚Alles ist falsch‘ zu verstehen: Sie warnen vor einer metaphysischen Objektivierung der Realität.“178 Beide Texte – in Coetzees Roman hat eine detaillierte Analyse den Beweis erst noch zu erbringen – zeigen, wie der Versuch der Objektivierung, das Überführen von Erfahrung in Erkenntnis, geradezu wegführen von Realität und damit auch von Wahrheit. Die Foltererzählung kennt keine objektive Wahrheit, da die Folter selbst so angelegt ist, dass die

177 Foucault, WuJ, S. 50. 178 Gerhardt, Volker: Friedrich Nietzsche, München 1992, S. 118.

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Wahrheit ihrer Existenz nicht objektiv, allgemeingültig dargestellt werden kann – sie kennt nur selten Zeugen und die Beweiskraft des beteiligten Opfers wird im Vollzug selbst getilgt. Was bleibt, sind jene Glaubenswahrheiten, in deren Besitz das Mädchen und Paulina sind, die sie aber nicht in der Lage sind, durch Mitteilung zu Allgemeingültigkeit zu erheben. Wo die Wahrheit in der Erzählung allein liegt und nicht durch weitere, außersprachliche Beweismittel nachgewiesen werden kann, muss sie Glaubenswahrheit und damit letztlich Privatwahrheit bleiben, denn zwar durchzieht „der Anspruch auf Wahrsprechen unsere Kommunikation“, doch kann „er keinen gesetzlichen Ort haben“.179 Wahrsprechen ist eben nicht erzwingbar und auch die Probe bleibt der Wahrheit immer äußerlich. Das Drama Death and the Maiden zeigt den Widerspruch zwischen diesen beiden Zugängen zu Wahrheit, die – je nach Perspektive – beide misslingen, exemplarisch. Die Unvereinbarkeit von formeller, justizförmiger Wahrheit und der Wahrheit des Opfererlebens offenbart, dass Wahrheit letztlich nur als Näherungswert möglich ist. Die Wahrheit des Stücks und seines Plots entzieht sich auch dem Zuschauer konsequenter Weise; es ist die Unzugänglichkeit der Wahrheit selbst, verbunden mit dem Aufruf, sich dennoch an ihr zu versuchen, die unter anderem den Plot des Stückes generieren. Dass hinter diesen Unzugänglichkeiten auch ein generelles Problem der Darstellbarkeit dessen, was unter der Folter geschieht, steht, soll im nächsten Teil des Buches gezeigt werden. Hier möchte ich mich zunächst einem anderen, wichtigen Element des Verhörs widmen: dem Geständnis. Worum es in diesem Abschnitt allerdings gehen soll, ist tatsächlich jenes Geständnis, das Gegenstand des Folterverhörs ist oder sein soll, und nicht etwa um die Erzählung der Folter schlechthin, die man geneigt sein könnte, in entsprechenden Zusammenhängen ebenfalls als „Geständnis“ zu betrachten und zu bezeichnen. Um dieses Sprechen beziehungsweise um das Spannungsverhältnis zwischen Schweigen, Verschweigen und Erzählen wird es im dritten Teil des Buches gehen.

179 Niehaus, Verhör, S. 12.

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1.4 D ER „ SCHWARZE B RUDER “ G ESTÄNDNIS „Die confessio impliziert nicht die materielle Wahrheit der eingestandenen Tatsache, sondern ihre Gültigkeit; sie soll als wahr gelten.“180 Diese Feststellung bezieht Michael Niehaus auf das antike, römische Recht. Dennoch ist sie gültig auch für jene Form von Geständnis, die im Kontext dieser Arbeit relevant ist, nämlich ein Geständnis außerhalb der Strafprozessordnung. Auch im römischen Recht gehörte die confessio nicht in die Sphäre des Straf- sondern des Zivilrechts, überhaupt siedelte sie „am Rand des Rechts an, an der Nahtstelle, an der sich das Recht und die soziale Umwelt berühren“.181 Selbst im streng geregelten Bereich des Strafrechts, dort, wo Geständnisbereitschaft mit jenen Mitteln hergestellt werden muss, die nach dem Verzicht auf Gewalt bleiben, gilt das Geständnis – auch – für den Gestehenden als Gut. „Möglich ist dies, weil das Geständnis in unserer Kultur (aber auch in anderen Kulturen) als eine kathartische Handlung und das heißt letztlich: als eine Kur gilt.“182 Doch selbst im Gewaltverzicht garantierenden Rahmen der Strafprozessordnung bleibt das Geständnis „ein Akt der Unterwerfung, der aus rationalem Kalkül, aus Resignation oder vor dem Hintergrund seelischer Aufarbeitung erfolgen kann.“183 Seine Voraussetzung ist dann jedoch „der Wille des Beschuldigten zur Wahrheit“. 184 Dort, wo das Geständnis nicht mehr der Verweis auf eine Wahrheit jenseits seiner eigenen Performativität ist, wie das im römischen Recht, aber unter bestimmten Voraussetzungen auch im Folterverhör der Fall ist, kann es auch den Willen zur Wahrheit beim Gestehenden nicht geben beziehungsweise kann er keinen Ausdruck im Geständnis finden. Vielmehr mag er sich gerade in der Weigerung zu gestehen ausdrücken, aber dazu unten mehr. Wie ich in meiner Darstellung des Verhältnisses zwischen Macht und Gewalt im Folterverhör bereits angesprochen habe, steht hinter dem „modernen Folterverhör“, wie Foucault es nennt, nur selten der primäre Wunsch nach ei-

180 Niehaus, Verhör, S. 65. 181 Ebd., S. 66. 182 Reicherts, Jo/Schneider, Manfred (Hg.): Sozialgeschichte des Geständnisses. Zum Wandel der Geständniskultur, Wiesbaden 2007, S. 12. 183 Habschick, Klaus: Erfolgreich Vernehmen. Kompetenz in der Kommunikations-, Gesprächs- und Vernehmungspraxis, Heidelberg u. a. 2010, S. 164. 184 Ebd.

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ner bestimmten Information und nie erschöpft sich das Verhör in diesem Wunsch. Das Geständnis kann im Folterverhör daher verschiedene Funktionen erfüllen. Beinhaltet es tatsächlich relevante Informationen, mag es ein Zu-Geständnis nicht nur an den Verhörenden, sondern letztlich auch an die Wahrheit sein. Immer aber bleibt es Unterwerfungsgeste und ist damit ein weiterer, zentraler Schritt auf dem Weg zum totalen Bruch. Karl Heinz Bohrer beschäftigt sich in seinem Aufsatz Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren mit der Stichomythie als „einem für die Gewaltphantasie der griechischen Tragödie charakteristischen Stilzug“.185 Bohrer sieht in der „sich zur Katastrophe zuspitzenden antinomischen Dialogform“ eine Art „Idealform“. René Girard erkennt in der Stichomythie gar die Verkörperung der „perfekte[n] Symmetrie der tragischen Auseinandersetzung. […] Ein Wortgefecht im wahrsten Sinne des Wortes“.186 Die buchstäbliche Pointe, Ziel und Gipfel des „Wortgefechts“, sehen Bohrer wie Girard im Tod eines der beiden Redner.187 Auch das Folterverhör ist eine Art sich zuspitzende Rede und Gegenrede – zumindest aber Aktion und Reaktion – die ebenfalls in einer Pointe gipfelt, jedoch unter gänzlich anderen Voraussetzungen als die klassische Stichomythie. Dennoch möchte ich deren Modell zunächst beibehalten, da sie prototypisch ist für die Darstellung dynamisch-dramatischer Kommunikationssituationen und sich mit dem Begriff zudem eine Form der kommunikativen Zuspitzung ausdrückt, die auch im Folterverhör stattfindet. Von einem „Gleichgewicht der Kräfte“188 kann hier jedoch keine Rede sein. Erfolgt ein Sprechen – das Geständnis – so ist dies das Ende der Rede und Gegenrede unter Zwang; einhergehend mit der „Pointe“, dem Bruch des „geständigen“ Subjekts. Améry schildert in seiner autobiografischen Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Folter Die Tortur, wie er nur durch zufälliges Nicht-

185 Bohrer, Karl Heinz: Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren, in: Grimminger, Rolf (Hg.): Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität, München 2000, S. 25-42, hier: S. 28. 186 Girard, René: Das Heilige und die Gewalt, übers. von Elisabeth MeinbergerRuh, Düsseldorf und Zürich, 2006, S. 70. 187 Bohrer, Karl Heinz: Stil ist frappierend. Über Gewalt als ästhetisches Verfahren, in: Rolf Grimminger (Hg.): Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität, München 2000, S. 25-42, hier: S. 28. 188 Ebd.

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wissen kein Geständnis ablegen konnte, das gleichzeitig auch einen Verrat dargestellt hätte. Doch, so ist er sich sicher: „Hätte ich statt der Decknamen die wirklichen nennen können, es wäre vielleicht, wahrscheinlich, ein Unglück geschehen, und da stünde ich nun als der Schwächling, der ich wohl bin, und als der Verräter, der ich potentiell schon war.“189

Gestehen wird hier – beispielhaft für zahlreiche Erzählungen von Folter 190 – mit der endgültigen Selbstaufgabe, Verrat an sich auf dem Wege des Verrats am Anderen, gleichgestellt. Dieses Ein-Brechen und Nachgeben unter der gewaltflankierten Macht des Gegenübers, bei Améry als eine Art Schuld des unschuldigen Opfers geschildert, ist für den Autor so zentral, dass er mehr als zwanzig Jahre nach den Ereignissen das Geständnis, das er in der Folterhaft gewissermaßen nur zufällig vermeiden konnte, mit dem „Geständnis“, dass er unter anderen Umständen gestanden hätte, in gewisser Weise nachholt. Améry macht sich „zu dem Schwächling“ und Verräter, der er – in seiner Darstellung „potentiell schon war“. Zu Beginn des Absatzes, in dem sich Améry mit dem Geständnis auseinandersetzt, heißt es: „Damit ich es gleich gestehe: Ich hatte nichts als Glück durch die Tatsache, daß unsere Gruppe gerade im Hinblick auf Informationserpressung recht gut organisiert war. Was man in Breendonk von mir hören wollte, wusste ich einfach nicht.“191 [Hervorhebung T.P.]

Wenn Gegenrede aber, anders als im zitierten Beispiel, tatsächlich auch Gegengewalt sein will, dann ist sie Schweigen oder Verschweigen; die Pointe der Stichomythie kann es nur als Bruch geben, da ein anderer Gipfel, eine Form der Eskalation jenseits der Gewalt des Verhörenden, also ein Umschlagen der Machtverhältnisse, nicht denkbar ist. Dieses entgegengesetzte Schweigen, den Behauptungsakt, der sich damit verbinden kann, schildert Jorge Semprún in seinem 1967 veröffentlichten Roman 189 Améry, Die Tortur, S. 68. 190 Zu nennen wären hier unter anderem Breyten Breytenbachs Confessions of an Albino Terrorist (1983) oder Gillian Slovos Red Dust (2000), die beide im letzten Teil des Buches zur Lektüre herangezogen werden sollen. 191 Améry, Die Tortur, S. 67f.

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L’évanouissement/Die Ohnmacht. Manuel, der Protagonist des Textes, war Widerstandskämpfer, wurde gefoltert und in ein deutsches Lager deportiert. Später setzte er sich für den kommunistischen Untergrund in Spanien ein. In der erzählten Zeit des Romans ruft er den Zustand des ersten Erinnerns dieser Ereignisse wach. Indem ich diesen Roman hier anführe, weiche ich, ähnlich wie mit Amérys Text über die Tortur, ein wenig von den Rahmenbedingungen des Textkanons für die vorliegende Untersuchung ab. Der Text beschäftigt sich großteils mit Ereignissen in und um den Zweiten Weltkrieg. Jedoch ist L’évanouissement keine unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Holocaust, sondern eine aus einer Vielzahl von Erfahrungen gespeiste Annäherung an Schmerz, Folter und Trauma.192 Die Erzählbedingungen in diesem Roman scheinen mir keineswegs unter den Paradigmen des Erzählens von und nach dem Holocaust zu stehen, daher sei mir der ohnehin knappe Rückgriff auf diesen Text hier und im Folgenden gelegentlich gestattet. Semprún beschreibt Folterverhör und Verhörende so: „Es graut ihnen davor, ins Nichts geschleudert zu werden durch das Schweigen derer, die sie verhören. Sie haben das körperliche Bedürfnis, daß man redet, damit sie existieren können, und um euch dann verachten zu können, damit sie doppelt existieren. Wenn ihr redet, haben sie recht gehabt, euch zu foltern, denn ihr wart schwach, ihr verdient es nicht besser.“193

Semprún beschreibt weiter die tödliche Logik, die hinter diesem Schweigen steckt. Um seine Würde und Autorität als Folterer beizubehalten, muss der Verhörende den totalen Bruch letztendlich mit dem Tod des Opfers herbeiführen, was aber „aus Mangel an Zeit“ nicht immer umzusetzen ist. 194 Das

192 Jorge Semprún, Sohn einer republikanischen spanischen Familie, engagierte sich während des Zweiten Weltkriegs in der französischen Résistance, wurde entdeckt und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. In den 50er Jahren war er als „führender Funktionär“ im Untergrund für die Kommunistische Partei gegen das Franco-Regime tätig. Er galt als der meistgesuchte Mann Spaniens. Augstein, Franziska: Von Treue und Verrat. Jorge Semprún und sein Jahrhundert, München 2008, S. 16f, S. 106f. 193 Semprún, Jorge: Die Ohnmacht, übers. von Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 2001, S. 73. 194 Ebd.

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Schweigen wird zum einzig verbleibenden Mittel im Ringen mit der Übermacht des Folterers, der letzte mögliche Ausdruck von Selbstbestimmung: „Jede Minute Schweigen, die man ihnen entreißt, stürzt sie buchstäblich in Verzweiflung.“195 Dieses Widersetzen – die Gegenrede der klassischen Stichomythie – kann dann nur mit dem Tod – der Pointe der klassischen Stichomythie – beantwortet werden. Auch Paulina betont ihre Standhaftigkeit während der Folterverhöre. Sie sieht darin gar die Bedingung dafür, dass Gerardo, dessen Namen sie unter der Folter nicht preisgab, für jene Kommission arbeiten kann, die Paulina auch weiterhin am Sprechen hindern will. Sie wendet sich damit an ihren mutmaßlichen früheren Folterer: PAULINA:

You don’t know anything about Gerardo, do you? – I mean you never knew a thing. I never breathed his name. Your – your colleagues, they’d ask me, of course. ‘With that twat, little lady, don’t tell, you haven’t got someone to fuck you, huh? Come on, just tell us who’s been fucking you, little lady.‘ But I never gave them Gerardo’s name. Strange how things turn out. If I had mentioned Gerardo, he wouldn’t have been named to any Investigating Commission […].196

Aber auch Paulina wäre dann nicht in der Situation, in der sie sich in der Stückgegenwart befindet. Auch sie säße nicht jenem Mann gegenüber, den sie für ihren Peiniger hält. Paulinas Fähigkeit, unter der Folter zu schweigen, wird in Death and the Maiden zur Fähigkeit, Schweigen zu brechen – das Aufbegehren gegen den mutmaßlichen Folterer wiederholt sich. In J. M. Coetzees Roman Waiting for the Barbarians wird das doppelte Schweigen in und über die Folter zur einzigen und letzten selbstbestimmten Geste des verkrüppelten und nahezu blinden Mädchens sowohl gegenüber ihren Folterern als auch gegenüber dem sie aufnehmenden Magistrat. Das Geständnis erscheint in den relevanten Texten als Form der Preisgabe, deren Inhalt zweitrangig, mitunter zufällig ist. Im Fordergrund steht weniger, was gesprochen, als vielmehr, dass gesprochen wird. Nicht erst das Geständnis wird zum möglichen Verrat an anderen, sondern jedes

195 Ebd. 196 Dorfman, DaM, S. 30.

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Sprechen ist immer schon Selbstverrat und Auslieferung an die Überlegenheit des Gegenübers. Schweigen wird dagegen zum letzten möglichen Schritt, die eigene Macht im simulierten Machtraum des verhörenden Folterers zu behaupten. Während das Ziel dieses Kapitels war, die Innenseite des Folterverhörs zu beleuchten, sozusagen Licht in Coetzees „Dark Chamber“ zu bringen, zu zeigen, wie prekär die immer schon von Zersetzung durch Gewalt bedrohten Machtverhältnisse in Verhör und Folterkammer sind, wie paradox die Gleichsetzung von Verhör und Kommunikation ist, welch zentrales Begehren eine dennoch stets ungreifbare Wahrheit darstellt und wie der einzige mögliche Kommunikationsakt, das Geständnis, gleichzeitig die einzige Möglichkeit zu Selbstbestimmung und Widerstand bietet, soll im folgenden Kapitel die Außenseite des Folterverhörs im Zentrum stehen. Es soll um jene gehen, die nicht Teil dieses Verhörs sind, denen seine Gewalt aber dennoch ‚zu Teil‘ wird.

2. Der Dritte: Öffentlichkeit, Schaulust, Scham

Im vorangehenden Kapitel zum Verhör habe ich bereits darauf hingewiesen, dass Jan Philipp Reemtsma einer der jüngeren Gefolgsmänner von Arendts und Luhmanns Gewalt- beziehungsweise Machttheorie ist. Jedoch, auch das wurde bereits erwähnt, folgt er beiden nur bis zu einem bestimmten Punkt. Reemtsma pflichtet in seiner umfassenden Auseinandersetzung mit dem Phänomen Gewalt Vertrauen und Gewalt aus dem Jahr 2009 zwar bei, dass Gewalt insofern einen Kommunikationsabbruch darstellt, als sie Handeln durch Handeln ausschließt. Jedoch ist dies nur das Ende der Kommunikation in der dyadischen Begegnung zwischen Täter und Opfer. Gegenüber ihrem Opfer trifft Gewalt keine Aussage, sie spricht nicht, sondern sie ist: Versehrung bis zur Zerstörung. Das Opfer liest Gewalt nicht, es beobachtet und deutet sie nicht, sondern es erfährt sie. Dies schließt jedoch weder die Beobachtung noch die Deutung und Lektüre von Gewalt aus. Gewalt spricht und zwar zu jenem Dritten, der sie erkennt, ohne sie zu erfahren. Laut Reemtsma hat jeder Gewaltakt letztlich eine einzige, deutliche Botschaft für jenen, der ihn als solchen zu verstehen vermag: „Gewalt als kommunikativer Akt ist Drohung mit Zerstörung.“197 Was aus ihr zu einem Dritten – ihrem Beobachter – spricht, ist ihre autotelische Seite, also jener Aspekt von Gewalt, dessen einziges Ziel die Zerstörung des Körpers des anderen ist.198 Die Beobachtung konstituiert eine wie auch immer geartete 197 Reemtsma, Vertrauen, S. 476. 198 Reemtsma unterscheidet in Vertrauen und Gewalt zwischen lozierender, raptiver und autotelischer Gewalt. Während das Ziel lozierender Gewalt ist, den

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Öffentlichkeit, zu der der Gewaltakt spricht – der beobachtende oder adressierte Dritte kann Teil einer anonymen Menge sein, er kann aber auch jene Instanz sein, die ablehnt, urteilt oder erkennend wegsieht und Gefühle wie Scham hervorruft. Oder es ist der Voyeur, dessen Blick die sprechende Gewalt auf sich zieht, ein Blick, der entblößt, erniedrigt und letztlich wieder beschämt. Jedenfalls steht im Fokus des Beobachters nie nur die Gewalt, sondern auch ihre Medien – Täter und Opfer. Selbstverständlich finden Folter und Gewalt auch in Abwesenheit eines Dritten statt – ohne, dass sich an der Qualität dieses Phänomens etwas ändert. „Nicht jede Gewalttat braucht einen Dritten, aber damit eine Gewalttat einen sozialen Sinn bekommt, braucht es ihn“, räumt auch Reemtsma ein.199 Wo Gewalt also kommunizieren soll, bedarf es eines Zuhörers, eines Zuschauers – eines Zeugen. Insbesondere die Gewalt der Folter tut sich leicht, diesen Zeugen zu finden. Dabei muss dieser Dritte nicht anwesend sein, damit die Foltergewalt ihr kommunikatives Potential entfalten kann – er muss nur um sie wissen.200 Während Jan Philipp Reemtsma die Figur des Dritten insbesondere dazu nutzt, einen Missstand in der Soziologie zu beschreiben – nämlich ihr Zurückschrecken davor, sich der Gewalt als Phänomen mit einem bestimmten Potential zu nähern –, geht es mir im Folgenden darum, einen weiteren Wirkungskreis der Foltergewalt zu erschließen. Ich möchte zeigen, wie sie über den gefolterten Körper hinaus- und an ihm vorbeiweist und gleichzeitig auch jene Kapitel vorbereiten, die sich noch einmal dezidiert dem Zeugen und jenen Instanzen widmen, die sich rückblickend als Dritte mit der Folter auseinanderzusetzen haben – Regierungen, Gerichte, aber auch Leser und Zuschauer ästhetischer Bearbeitungen des ‚Folterstoffs‘.

Opferkörper zu bewegen, als Hindernis zu überwinden, hat raptive Gewalt den Opferkörper selbst zum Ziel – sie will ihn besitzen. Das einzige Ziel autotelischer Gewalt dagegen ist die Gewalt am Opferkörper selbst, Gewalt wird somit zum Selbstzweck. Reemtsma, Vertrauen, S. 108ff. 199 Ebd., S. 470. 200 Vgl. ebd., S. 472.

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2.1 Ö FFENTLICHKEIT Jennifer Ballengee spitzt die Überlegungen zur Sprachlichkeit von Folter, die Elaine Scarry 1985 anstellte,201 in ihrem 2009 erschienenen Buch The Wound and the Witness zu. Folter ist laut Ballengee nicht nur, wie auch Reemtsma beschreibt, Kommunikation schlechthin, sondern ein rhetorisches Werkzeug,202 also eine bestimmte Art und Weise des Sprechens. Damit Folter ihr rhetorisches Potential entfalten kann, braucht sie Beobachter, das Wissen über sie muss irgendwie aus der Folterkammer hinaus gelangen, es muss öffentlich werden. Der Zuschauer sei „the key element in the ‚successful‘ practice of torture […]“.203 Laut Ballengee bedarf es des Zuschauers, damit Folter überhaupt kommunizierbare Bedeutung entfaltet. 204 Mag Folter auch sozusagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, in der bereits mehrfach erwähnten, von J. M. Coetzee beschriebenen „Dark Chamber“ – eine politische Dimension erhält sie erst, wenn sie auch bekannt ist. Dies gilt sowohl für die „Politik“ jenes Systems, in dem sie angewendet wird, als auch für die des Systems, das sich mit ihr auseinanderzusetzen hat. Dabei ist nicht nur an jene Form der Aufarbeitung von Terrorregimen nachfolgenden Regierungen zu denken, sondern genauso an jene Öffentlichkeiten, die mit der Folter anderer Staaten Politik machen. Plakativstes Beispiel jüngeren Datums sind die Folterbilder, die im Frühjahr 2004 aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib, das zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine beachtliche Geschichte als Hort von Folter und Tötungen zurückblicken konnte, an die Weltöffentlichkeit gelangten. 205 Kaum ein

201 Vgl. Scarry, Elaine: The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, New York und Oxford 1985, S. 43. Im Folgenden: Scarry, Schmerz. 202 Ballengee, Jennifer: The Wound and the Witness. The Rhetoric of Torture, New York 2009, S. 1. 203 Ebd., S. 5. 204 Ebd., S. 1. 205 In ihrer umfangreichen Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte Abu Ghraibs schreiben Philip Gourevich und Errol Morris: „Saddams Gefängnisse, Fabriken des Terrors und der Vernichtung, hatten den Rückhalt seiner Macht gebildet. […] In der dreißig Kilometer westlich der Hauptstadt Bagdad gelegenen Haftanstalt Abu Ghraib fanden mittwochs und sonntags die Hinrichtungen statt. […] Abu Ghraib war das größte und das am meisten berüchtigte von

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Medium, das sich im Mai 2004 nicht mit den Bildern von übereinander geschichteten, entblößten Menschenkörpern, flankiert von triumphalen, demütigenden Gesten US-amerikanischer Soldaten beschäftigte206 – in der Folge dieser Schaffung von Öffentlichkeit konnten westliche Regierungen eine Positionierung zu der Frage nach der Zulässigkeit von Folter nur schwer schuldig bleiben. Folter und ihre Bilder wurden hochpolitisch. Die damalige Sicherheitsberaterin des US-Präsidenten Georg W. Bush, Condoleezza Rice, tauchte wenige Tage nach Bekanntwerden der Bilder in der deutschen Talkshow Sabine Christiansen auf, ein erster Stop „auf weltweiter Goodwill-Tour, um im Krieg der Bilder wieder die Oberhand zu gewinnen“.207 Insbesondere in der zu diesem Zeitpunkt hochgradig USAkritischen Bundesrepublik schien diese Intervention angebracht. Im Kontext dieser Arbeit scheint aber zunächst der herrschaftspraktische Aspekt der Öffentlichkeit von Folter relevanter als der politische. Die strategische Kommunikation von und über Folter ist politisch – ihre Konsequenzen erschöpfen sich zumindest in Folterregimen nicht in der Etablierung eines Diskurses. Sie sind auf Terror begründet, also auf ein System, in dem Herrschaft auf unkalkulierbarer Angst basiert. Die Folterpraxis dieser Systeme mutet zunächst paradox an: Die moderne Folter findet hinter verschlossenen Türen statt: „[…] the torture room is a site of extreme human experience, accessible to no one save the participants […]“.208 Wenn sie aber mehr sein soll, als eine brutale Unterwerfungsgeste einer Person A gegenüber einer Person B, in der Literaturfiktion der Figur A gegenüber der

Saddams Gefängnissen, eine Hölle auf Erden […]“; Gourevich, Philip/Morris, Errol: Die Geschichte von Abu Ghraib, München 2009, S. 11. 206 Um nur zwei der zahlreichen Autoren internationaler Medien zu nennen: Hersh, Seymour: Torture at Abu Ghraib, in: The New Yorker, 10. 05. 2004, einzusehen

unter:

http://www.newyorker.com/archive/2004/05/10/040510

fa_fact, zuletzt aufgerufen am 12. 04. 2012; Raulff, Ulrich: Die 120 Tage von Bagdad, in: Süddeutsche Zeitung, 4. 05. 2004, S. 11. 207 Deggerich, Markus: Pommes mit Mayo, in: Der Spiegel, 17. 05. 2011, einzusehen unter: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,300209,00.html, zuletzt aufgerufen am 12. 04. 2012. 208 Coetzee, John Marshall: Into the Dark Chamber: The Writer and the South African State (1986), in: Derek Attwell (Hg.): Doubling The Point. Essays and Interviews, 1992, S. 363.

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Figur B, dann muss sie gewusst werden und bestenfalls wird auch ihre Geheimhaltung gewusst. J. M. Coetzee macht das Bewusstsein um das Dilemma, das sich daraus für den Schriftsteller ergibt, zu einer seiner Kernthesen in dem 1986 erstmals veröffentlichten Aufsatz Into the Dark Chamber, in dem er sich mit der dunklen Faszination der Folterkammer auseinandersetzt. Dieser obskure, unzugängliche Raum, dessen Existenz jedoch nicht übersehen werden kann, sei für jeden Autor eine Herausforderung als „a metaphor, bare and extreme, for relations between authoritarianism and its victims“.209 Gleichzeitig stehe aber jeder Autor vor dem Dilemma, Gefahr zu laufen, jenes System, das auf Repräsentation angewiesen sei, selbst zu bedienen, indem er ihm Raum in der eigenen Fiktion schafft und somit also „den Dritten“ in Form der Leserschaft sogar selbst bereitstellt. Die wahre Herausforderung an jeden Autor, der über Folter schreibt, sei daher „how not to play the game by the rules of the state, how to establish one’s own authority, how to imagine torture and death on one’s own terms.“210 Reemtsma verhandelt in einem anderen Kontext dasselbe Problem: Die Anerkennung des kommunikativen Aspekts von Gewalt ermögliche erst den Umgang mit ihr und möglicherweise ihre Bannung. Eine mögliche dieser „Coping-Strategien“ habe bei den Nürnberger Prozessen Anwendung gefunden und so die kalkulierte Kommunikation der nationalsozialistischen Gewaltakte erfolgreich abgebrochen: „So ersetzte das Nürnberger Verfahren den Dritten durch das Gericht und sprach den Verbrechen ihren kommunikativen Gehalt ab. Die Bedeutsamkeit der zivilisatorischen Intervention, die der Nürnberger Prozess darstellte, lag vor allem in diesem Umstand begründet.“211

Mehr noch als Wissen um mögliche Gewalt schlechthin eignet sich vermeintlich verbotenes Wissen zur Terrorisierung von Gesellschaften. Folter, die in einem System strategisch und systematisch eingesetzt wird, ist Terror schlechthin: „Es handelt sich um die Exekution absoluter Macht, und die Sätze, die diese begleiten, sind Sprechakte, in denen diese Macht noch ein-

209 Ebd., S. 364. 210 Ebd. 211 Reemtsma, Vertrauen, S. 484.

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mal bestätigt wird.“212 Die Schaffung einer Öffentlichkeit für Folter durch ihre Urheber ist demnach die Demonstration absoluter Macht – beziehungsweise, ich erinnere an meine Thesen im vorangegangenen Kapitel: Demonstration der Simulation absoluter Macht. Doch absolut exekutierte Macht bedarf anderer Grundlagen als legitime, begründbare Macht: „Wo Macht absolut wird, zerstört sie die Redeform der Legitimation, denn etwas zu legitimieren bedeutet, mit diesem Sprechakt die Relativität der eigenen Machtposition anzuerkennen.“213

Terror gestaltet sich als grundlagenlose Herrschaft – er entzieht sich jeder Zweck-Mittel-Relation. Er ist permanente Willkür, also das Außerkraftsetzen jeglicher Logik. Die systematisierte Unlogik wird zur ganz eigenen Rationalität des Terrorsystems – Reemtsma bezeichnet dieses Phänomen mit dem treffenden Neologismus „Terroratio“.214 Er verweist zur Erläuterung des Begriffs auf eine Angewohnheit Stalins. Der habe jene Funktionäre, deren Hinrichtung von ihm bereits angeordnet war, am Tag vor ihrer Ermordung angerufen, sie zum Essen eingeladen und ihnen einen Wagen gesandt. Teil der Terroratio des stalinistischen Systems konnte dieses Verhalten aber nur werden, weil es – zumindest ab einem bestimmten Zeitpunkt – bekannt war. Andernfalls hätte sich jeder Eingeladene über die Einladung gefreut und wäre letztlich eben nicht mehr von ihr wiedergekehrt – immerwährende Angst vor einem Anruf, der Kern des Terrors, hätte nicht herrschen können: „Der systemkonforme Sadismus besteht darin, dass sich die Sache herumspricht.“215 Sowohl in J. M. Coetzees Waiting for the Barbarians als auch in Ariel Dorfmans Death and the Maiden weiß man um die Folterkammern. Das Wissen um den Folterterror ist die Grundlage für das Funktionieren des jeweiligen Regimes. Die Terrorherrschaft Jolls in Waiting for the Barbarians bricht erst in jenem Moment zusammen, als aufgrund der katastrophalen Versorgungslage in der Grenzstadt die unmittelbaren Nöte der Bewohner die Angst vor der Bestrafung für Ungehorsam überwiegen. In Dorfmans

212 Ebd., S. 409. 213 Ebd., S. 410. 214 Ebd., S. 411. 215 Ebd., S. 413.

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Drama berichtet Paulina ihrem Mann von ihrer Entführung und erklärt: „I knew that if that happened you’re supposed to scream, so peoble can know who is [sic] […].“216 Paulina wusste bereits vor ihrer eigenen Folterhaft, was im Falle einer Festnahme zu tun sei und geht auch davon aus, dass jene, die ihr Schreien hätten hören können – hätte es denn stattgefunden – die Vorgänge, auf die sie so aufmerksam gemacht worden wären, einzuordnen gewusst hätten. Auch textintern handelt es sich also um ein Regime, dessen Folterpraxis in der Öffentlichkeit bekannt war. Von der anklingenden realen chilenischen Diktatur ist und war stets bekannt, dass sie nicht allzu gut verbarg, wie mit politischen Gegnern verfahren wurde.217 Was dem Magistrat und zuvor den inhaftierten vermeintlichen Barbaren in Coetzees Roman widerfahren ist, weiß nicht nur der Leser. Auch die Frauen in der Grenzstadt sind begierig darauf, Näheres – ‚etwas‘ wissen oder ahnen sie also bereits – zu erfahren und können „barely conceil their eagerness to hear my side of the story“.218

216 Dorfman, DaM, S. 58. 217 Jörg Arnold schildert, dass während der Militärdiktatur in Chile zwischen 1973 und 1990 jährlich rund 350 000 Menschen unmittelbar von Menschenrechtsverletzungen betroffen waren. Diese große Zahl an Übergriffen ließ sich nicht verbergen, weshalb es in Chile „bereits während der Militärdiktatur eine starke Menschenrechtsbewegung als Teil der Opposition gab“. Arnold, Jörg: Ergebnisse im Einzelnen, in: Albin Eser, Ulrich Sieber und Jörg Arnold (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Berlin 2012, S. 74-158, hier: S. 144. Die Angehörigen der Diktatur und ihre Handlanger etablierten ein Repressionssystem, das weit über die Verhörraum hinausreichte: „Einen Schwerpunkt bildet dabei die Folter, die als das Hauptinstrument der Repression galt. Dieses Unterdrückungsmittel existierte in zahlreichen Varianten. Daran beteiligten sich auch Ärzte, Psychologen und sonstige Mitarbeiter des Gesundheitswesens, die ein variables System zur Erzeugung von Schmerz, Angst, Depression, Verwirrung und Erschöpfung entwickelten. Systematisch wurde ferner die Infrastruktur der Folter geschaffen.“ Ebd., S. 145. 218 Coetzee, WfB, S. 126.

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2.2 S CHAULUST Im Folgenden möchte ich mich mit dem Zuschauer einer komplexen Figur oder Position in der Produktion von und im Umgang mit Gewalt zuwenden. Der Zuschauer ist nicht nur ursächlich für die Scham, die jener erlebt, dem Gewalt oder Demütigung geschieht, sondern er kann auch ursächlich sein für diese Gewalt selbst. „[F]rom Ancient Greece to contemporary Iraq, the witness ist complicit in the production of meaning that torture communicates.“ 219 Mit witness/‚Zeuge‘ ist hier noch ein neutraler, da funktionaler Begriff für den Zuschauer und seine Rolle gewählt. Doch was, wenn es einen Zeugen ohne Zeugenschaft gibt, was, wenn die Beobachtung keinen Sinn als ihren Selbstzweck hat, es also lediglich um den Moment des Hinsehens geht? Dann wird aus dem Zeugen ein Voyeur. Einen sinnvollen Vorschlag für eine Unterscheidung zwischen Zeuge und Voyeur machen Philip Gourevich und Errol Morris, die Autoren einer beeindruckenden Dokumentation über Abu Ghraib und die Protagonisten der dortigen Folterskandale, die 2004 publik wurden. Gourevich und Morris dokumentierten die Geschichte(n) in Wort und Bild – auf das daraus entstandene Buch Die Geschichte von Abu Ghraib / Standard Operating Procedure. A War Story werde ich im Folgenden noch näher eingehen. Zunächst aber der Vorschlag dafür, wie anhand eines der berüchtigten Bilder aus dem irakischen Militärgefängnis zwischen Zeuge und Voyeur unterschieden werden kann: Man sieht die Obergefreite Lynndie England mit dem einen Ende eines Stricks in der Hand. Das andere Ende ist einem Häftling um den Hals geschlungen, er scheint England robbend zu folgen. „Ein Bild von Gus [dem Häftling, T.P.] allein, mit der am Boden liegenden Leine, würde es uns erlauben, uns als Zeugen zu fühlen; doch mit England auf der Bildfläche geraten wir in die Rolle von Voyeuren.“220 Mit England als Bestandteil des Bildes sieht der Betrachter nicht mehr nur ein – gewaltsames – Geschehen, sondern er sieht eine Tat. Zwischen Zeuge, Opfer und Ereignis tritt der Urheber des Ereignisses und macht daraus eine Tat. Der Beobachter ist nicht mehr allein mit

219 Ballengee, Jennifer: The Wound and the Witness. The Rhetoric of Torture, New York 2009, S. 1. 220 Gourevich, Philip/Morris, Errol: Die Geschichte von Abu Ghraib, München 2009, S.160.

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dem Ereignis und seinem Opfer, sondern er beobachtet den Vollzug. Die Anwesenheit des Täters nimmt dem Zeugen seine Rolle, beziehungsweise deren Eindeutigkeit, da auch der Täter Zeuge der Tat ist. Der Zuschauer wird zum Voyeur in Bezug auf die Tat, bleibt aber Zeuge in Bezug auf den ansonsten unbezeugten Täter. Natürlich hat diese Unterscheidung Unschärfen – sie vernachlässigt beispielsweise die Bedeutung des Zwecks der Beobachtung. Natürlich erscheint es widersinnig, jemanden, der ein Verbrechen beobachtet, um es anschließend anzuzeigen und entsprechend zu dokumentieren, als Voyeur zu bezeichnen. Gerade die Studie von Gourevich und Morris zeigt aber, dass die Übergänge fließend sind. Ich werde mich im Folgenden daher auf das Beispiel ‚Abu Ghraib‘ konzentrieren. Zum einen, weil die dortigen Geschehnisse im Rahmen der Irak-Invasion der USStreitkräfte im Jahr 2003 noch sehr präsent sind, zum anderen, da diese Geschehnisse – nicht zuletzt durch genannten Band – sehr gut dokumentiert sind. Die Geschichte von Abu Ghraib / Standard Operating Procedure. A War Story ging aus Hunderte von Stunden langen Videointerviews mit in Abu Ghraib stationierten US-Soldaten hervor, die Morris für sein Filmprojekt Standard Operating Procedure führte. Das Transkript umfasst nach Angaben der Autoren zweieinhalb Millionen Wörter und musste für die Publikation in Buchform entsprechend gekürzt werden. „Mit der Arbeit an diesem Buch haben die Autoren entschlossen angestrebt, die Vorgänge von Abu Ghraib so wahrheitsgetreu wie möglich zu schildern.“221 Teilweise griffen sie hierzu auch auf Interviews zurück, die Angehörige der USMilitärstrafverfolgungsdivision mit einzelnen der beteiligten und bereits verurteilten Soldaten unter dem Versprechen der Straffreiheitsgarantie bei weiterer Selbstbelastung führten. Zahlreiche andere Beispiele wären vermutlich ähnlich tauglich wie Abu Ghraib: Zu denken wäre hier an die Fotografien von Lynchmorden an Schwarzen in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Stets sind auch auf diesen Bildern, die – teilweise in Postkartenformat – zur Zirkulation in der Medienöffentlichkeit bestimmt waren, Zuschauer mit abgebildet, die sich in unterschiedlicher Weise in das Geschehen einbringen.222 Jedoch scheint mir

221 Ebd., S. 297. 222 Vgl. Gentz, Annette: Das Lachen der Folterer, in: Karin Harrasser, Thomas Macho und Burkhardt Wolf (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 165-173, hier: S. 170.

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Abu Ghraib das – vor allem zeitlich – nächstliegende Beispiel für den Fokus der Arbeit zu sein. Die noch nicht lange zurückliegende mediale Präsenz der Bilder aus dem Gefängnis im Zentralirak enthebt mich der Aufgabe, sie einmal mehr zu dokumentieren. Ich werde in die Arbeit keine Abdrucke jener Bilder, über die ich im Folgenden schreibe oder die ich bereits erwähnt habe, aufnehmen. Abgesehen davon, dass es mir fragwürdig erscheint, jene Bilder, die immer wieder – je nach Perspektive – fehl- und umgedeutet wurden, ein weiteres Mal zu reproduzieren, erscheint mir dies nicht möglich, ohne den kalkulierten Effekt dieser Reproduktion in diesem spezifischen neuen Kontext in einem ersten Schritt zu verstehen und in einem weiteren zu kommentieren. Dies würde hier zu weit führen und hätte schnell den Beigeschmack eines Selbstversuchs, auf den ich gerne verzichten möchte, zumal sich die Bilder sowohl in den USA als auch in Westeuropa so tief in das kulturelle Gedächtnis eingegraben haben dürften, dass ihre erneute Ausstellung auch aus diesem Grund als unnötig erscheint. In den literarischen Werken, um die herum sich diese Untersuchung bewegt, spielen der Zuschauer und die Dynamik des Zusehens eine eher nebengeordnete Rolle. Eine nennenswerte Bedeutung hat der Zuschauer lediglich in J. M. Coetzees Waiting for the Barbarians, ein Roman, der im anschließenden Buchteil ausführlich zur Sprache kommen wird. Hier sei vorab nur eine Szene herausgegriffen, die illustriert, wie Folter Öffentlichkeit generiert, nicht nur, indem sie sie instrumentalisiert und terrorisiert, sondern auch, indem sie zum Spiel mit den und letztlich auch Geschenk für die Massen, buchstäblich zum Spektakel wird. Vorgeführt als Folteropfer und einer öffentlichen Scheinexekution auf dem Marktplatz unterzogen, erkennt der Protagonist des Romans: „But of what use is it to blame the crowd? A scapegoat is named, a festival is declared, the laws are suspended: who could not flock to see the entertainment?“223 Sowohl Coetzees Roman als auch Dorfmans Drama werden das Kapitel im Folgenden flankieren. Zentrales Analysemittel für die Politik mit und durch den Dritten, die Beobachtung und ihre Konsequenzen, ist jedoch das Gefängnis Abu Ghraib und seine Insassen. Deutlicher als die meisten literarischen Texte legt es das Regime des Blicks und der Beobachtung offen, die zentraler Bestandteil jedweder Folter sind, selten aber so offen zu Tage

223 Coetzee, WfB, S. 120.

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treten wie in diesem Kontext: einem abgeschiedenen Gefängnis in der irakischen Wüste. Unmittelbar nachdem besagte Bilder aus Abu Ghraib ihren Weg in die Weltöffentlichkeit gefunden hatten, schrieb Ulrich Raulff in der Süddeutschen Zeitung: „Mag sein, dass der amerikanische Geheimdienst dort auch auf die übliche Ware aus war, Informationen, Aussagen, Geständnisse. Den Angehörigen der Militärpolizei ging es offenbar um anderen Stoff. Darin finden sich alle Elemente der Folter und ihre bekannten Zirkel: der Schmerz des Gefolterten, der sich in die Lust des Peinigers verwandelt, die Macht des Folterers, die zur Demütigung des Gequälten wird. Aber ein Element im Spiel war neu: das Objektiv. Hier wurde vor der und für die Kamera gefoltert.“224

Damit spricht Raulff einen der zentralen Punkte an, der die Entstehung und die Bedeutung von Bildern extremer Gewalt oder Demütigung bestimmt: Der Beobachter sieht nicht nur zu, er sieht sich buchstäblich in die Ereignisse vor seinen Augen hinein, nimmt an ihnen teil – nicht erst durch das Betätigen des Auslösers an einer Kamera, aber durch ihn zumal. Die Anwesenheit eines Zuschauers, der gar in der Lage ist, festzuhalten, was er sieht, impliziert nicht nur die Möglichkeit, das Geschehen zu bewahren, sondern allzu oft löst er es – buchstäblich doppeldeutig – aus. „Für die Kamera foltern“ heißt, die Kamera gehört zu den Gründen der vor ihr vollzogenen Gewalt, für die der Zuschauer hinter der Kamera und in dessen Verlängerung je nach Umständen auch jener vor dem Bildabzug verantwortlich zu machen ist. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Bilder aus Abu Ghraib genau diese Sprache sprechen. Der Betrachter der Bilder muss annehmen, dass nicht die Kamera zufällig zu den Ereignissen kam, sondern vielmehr die Ereignisse für die Kamera stattfanden. Was auf den Bildern zu sehen ist, wirkt inszeniert; nackte Männerkörper – die Genitalien unverhüllt, die Köpfe dafür unter dunklen Säcken oder Kapuzen verborgen. Dahinter, davor oder daneben Soldaten, die sich meist durch Gesten – zum Beispiel durch martialisch vor der Brust und über ein Gewehr verschränkte

224 Raulff, Ulrich: Die 120 Tage von Bagdad, in: Süddeutsche Zeitung, 04. 05. 2004, S. 11.

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Arme oder den nach oben gereckten Daumen – zu den von ihnen arrangierten Körpern verhalten. Jenes Leid – so kommt der Betrachter nicht umhin zu glauben – wurde diesen Körpern des Beobachters und des Beobachtens wegen angetan: für die Kamera, für den Menschen dahinter und für jeden, der die Bilder schließlich betrachtet. Andere Kriege produzieren ähnliche voyeuristische Situationen, aus denen ähnliche Bilder hervorgehen. In seinem Fotoband Shaped by War dokumentiert der britische Fotograf Don McCullin nicht nur Bilder der Gewalt, die für die Kamera entstanden, sondern auch das damit einhergehende Dilemma für den Kriegsfotografen. Er wird allzu schnell vom Zeugen und Chronisten zum Mittäter, indem seine und die Anwesenheit seiner Kamera erst zum Urheber des konkreten, fotografierten Gewaltaktes wird.225 Jene Bildpolitik scheint vor allem ein Ziel zu verfolgen: Die Potenzierung der Gewalt gegen das Opfer. Da die Folterungen stets mit dem Moment der Demütigung verbunden sind – die Gefangenen sind nackt, werden erniedrigt und/oder (sexuell) missbraucht – muss sich die Wirkung durch die Verbreitung der Bilder beziehungsweise durch das Bewusstsein beim Opfer über eine mögliche Erweiterung des Zuschauerkreises um ein Vielfaches erhöhen. Charles Graner, einer der maßgeblich und in allen „Produktionsbereichen“ an der Entstehung der Folterbilder von Abu Ghraib beteiligten Soldaten, setzte die „Zuschauerin“, wechselnde weibliche Kolleginnen, bewusst als „Kräftevervielfacher“ ein.226 Und dennoch weisen die Bilder eine weitere Dimension auf. Um sie zu erkennen, muss sich der Betrachter zunächst von den eigenen Täter-/ Opferstereotypen befreien, die diese Bilder natürlich gezielt aufgreifen und fortsetzen. Wie nebenbei entsteht in der Dokumentation von Gourevitch und Morris das Soziogramm des Voyeurs und zwar am Deutlichsten am Beispiel der portraitierten Sabrina Harman, Angehörige der 372. Militärpo-

225 McCullin, Don: Shaped by War, London 2010. Die Interaktion zwischen Kamera und Gewaltakt wird besonders deutlich auf den Seiten 58-60, die in den 60er Jahren im Kongo entstanden und die dortigen Massaker an Gefangenen dokumentieren. Die Häftlinge wurden offenbar aus ihren Zellen vor die Kamera geschleppt, die den Moment kurz vor ihrer mutmaßlichen Erschießung festhält. 226 Gourevich, Philip/Morris, Errol: Die Geschichte von Abu Ghraib, München 2009, S. 123.

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lizeikompanie.227 Wir kennen Sabrina Harman von jenen Bildern, auf denen eine blondgelockte, junge Frau in Kampfuniform lächelnd den Daumen in die Höhe hält – unmittelbar neben dem Intimbereich kotverschmierter Iraker oder neben verstümmelten Leichen in zu diesem Zweck geöffneten Leichensäcken. Noch viel öfter aber ist Harman auf den Abu Ghraib Bildern nicht zu sehen, sondern steht hinter der Kamera. Der Traumberuf der zum Zeitpunkt des Irakeinsatzes 25-Jährigen war Gerichtsfotografin. „Fotos hätten sie schon immer fasziniert – das Aufnehmen ebenso, wie das Aufgenommenwerden.“228 Daraus, dass Wunden und Verletzungen sie reizten, habe sie keinen Hehl gemacht. Diese Faszination muss der Grund dafür sein, dass Harman schon in der verhältnismäßig belastungsarmen Zeit in Al Hillah vor der Ankunft in Abu Ghraib damit begann, nicht nur all die exotischen Eindrücke um sie herum fotografisch festzuhalten – Landschaft, irakische Kinder, alte Frauen, Kameraden – sondern auch Leichen in Leichenschauhäusern. „Die Bilder strotzen von forensischen Einzelheiten. Über Harman selbst verraten sie uns allerdings nur, dass sie nicht gerade zimperlich war, ja sie lassen sogar auf eine starke Begeisterung schließen.“ 229 Harman und ihre Kameraden waren in Al Hillah, einer Stadt etwa 100 Kilometer südlich von Bagdad, im Mai 2003 gelandet, als die Hauptkampfhandlungen offiziell für beendet erklärt waren. Sie erlebten eine relativ friedliche Zeit, Harman begriff ihren Einsatz eher als Friedensmission denn als Kampfeinsatz.230 Ihre einstigen Kameraden sagten später in Verneh-

227 Ähnliches gelingt der Journalistin und Essayistin Carolin Emcke in ihrem Aufsatz Anatomie der Folter – der Befehlskörper von Abu Ghraib. Auch sie nutzt den Mikrokosmos von Abu Ghraib, um ein Sozio- und Psychogramm des Folterers und der Umstände, deren Opfer er selbst mitunter ist, zu zeichnen. Emcke porträtiert in ihrem Text den US-Oberfeldwebel Ivan Frederick, der ebenfalls in Abu Ghraib stationiert und an den dortigen Folterhandlungen beteiligt war. Sein Werdegang vom patriotischen, pflichttreuen und gehorsamen Soldaten und Bürger zum entfesselten Sadisten ähnelt massiv jenem der Soldatin Sabrina Harman. Emcke, Carolin: Anatomie der Folter – der Befehlskörper von Abu Ghraib, in: Le Monde Diplomatique, Nr. 7740 (12. 08. 2005), S. 14f. 228 Gourevich, Philip/Morris, Errol: Die Geschichte von Abu Ghraib, München 2009, S. 83. 229 Ebd., S. 85. 230 Ebd., S. 82.

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mungen alle übereinstimmend aus, dass sie sich nicht vorstellen konnten, wie Harman in den Krieg ziehen oder gar in Kampfhandlungen verwickelt werden sollte. „Sabrina wäre wahrscheinlich besser Altenpflegerin als Soldatin geworden“, urteilte ein Soldat aus Sabrina Harmans Kompanie über deren Kampftauglichkeit.231 Sie selbst gab später an, sie sei zur Armee gegangen, da man ihr dort ein Studienstipendium in Aussicht gestellt hatte. 232 Aus dieser Zeit existieren auch andere Bilder von Harman als jene, die es so schnell zu schauriger Berühmtheit brachten: Harman mit einem kleinen irakischen Jungen im Arm, Harman, die Spielzeug an Kinder verteilt, Harman mit einer dunkel gekleideten schwangeren Frau. Sie habe versucht, sich um die Bevölkerung in Al Hillah zu kümmern, habe Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände organisiert und schnell das Vertrauen derer gewonnen, die mit ihr zu tun hatten.233 Doch im Oktober wurde die Kompanie verlegt und kam nach Abu Ghraib. „Man wies die MPs [Militärpolizisten, T.P.] an, sich in einem der ehemaligen Gefängnisblocks Saddams einzurichten, einem von Plünderern verwüsteten und später von der Wüste eroberten Komplex, in dem der Sand stellenweise schon mehrere Zentimeter hoch lag, durchsetzt von verrottenden Abfällen.“234

Die Zellen, in denen sich die Soldaten verschanzten, hatten keine Fenster, nachts wurde es empfindlich kalt und dem Beschuss mit Mörserraketen waren sie mitunter nahezu schutzlos ausgeliefert. Man musste „darauf achten, keine Zielscheibe abzugeben: sich von den Fensterscharten fernhalten, die Lampen dunkel und abgedeckt belassen – um keinen Schatten zu werfen“.235 Wer duschen oder auf die Toilette wollte, musste das schutzlos außerhalb der Mauern hinter einem Bretterverschlag tun. Harman beschrieb den Fatalismus, der bei diesem Alltagsleben in Abu Ghraib aufkam, gegenüber Morris mit den Worten, „[w]enn es dich trifft, trifft es dich eben“. Und ein Kamerad ergänzt: „Wenn du heil zurückkommst, hast du eben Glück gehabt, doch während du da bist, musst du dich als tot ansehen, um all die 231 Ebd., S. 83. 232 Ebd. 233 Ebd., S. 87. 234 Ebd., S.90. 235 Ebd.

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Scheiße machen zu können, die du machen musst, ohne dich aufzuregen“.236 Die MPs waren weder als Justizbeamte noch als Wachpersonal ausgebildet, doch in Abu Ghraib bestand ihre Aufgabe ausschließlich darin, Gefangene – potentielle Terroristen – zu bewachen und Gefängnisalltag im Kriegsgebiet zu improvisieren. Sie waren dieser Aufgabe erklärter Maßen nicht gewachsen. Zunächst wunderten sich die Soldaten über Aufträge, die die Quälerei von Gefangenen beinhalteten, doch irgendwann setzten sie sie einfach um oder griffen auf Techniken wie das „Fesseln in Stresspositionen“ sogar eigeninitiativ zurück, wenn sie widerspenstigen Insassen nicht Herr wurden. Was anfangs noch schockierte, wurde zu einer Routine, zu der es aus Sicht der Kompanieangehörigen keine Alternative zu geben schien. Ein Kamerad von Harman beschreibt seine Konfrontation mit den Folterungen, die ihn zunächst „tief erschütterten“, so: Doch dann […], im Lauf der Zeit – wenn man es tagein, tagaus jeden Tag sah und miterlebte, wie Burschen vom MI [Heeresnachrichtendienst, T.P.] und einige der OGA-Männer [Andere Regierungsbehörden, T.P.] hereinkamen, als ob das [die Folterungen, T.P.] ein Scherz wäre –, nach einer Zeit gewöhnte ich mich genauso daran.237

Harman und ihre Kameraden hatten zunächst Vorbehalte, „aber es war ja seitens der Führung abgesichert und genehmigt“ 238 und man habe sich schließlich – die meisten das erste Mal – im Krieg befunden. Diesen Gewöhnungseffekt am Übergang von der Beobachtung von Gewalt zur Beteiligung an ihrer Ausübung schildern zahlreiche Handlanger in Foltersystemen. Ariel Dorfman greift dieses Phänomen auf und lässt es zur Erklärung für den Folterarzt Roberto werden, der gar von einer „Brutalisierung“ spricht, die ihn nach anfänglichem Widerstand gegen die Folterakte ergriff. Während er schildert, wie er Opfern als beobachtender Arzt zunächst helfen wollte, war es, als man Paulina Salas zu ihm brachte, bereits

236 Ebd., S. 93. 237 Ebd., S. 114f. 238 Ebd., S. 115.

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ROBERTO:

… too late. A kind of – brutalization took over my life, I began to really truly like what I was doing. It became a game. My curiosity was partly morbid, partly scientific. […]239

Auch Harman und ihre Kameraden haben diese Phase durchlaufen: „Also stumpfst Du ab, und nichts ist. Es wurde einfach zur Norm. Du siehst es – es ist Scheiße. Es ist Scheiße in deren Lage zu sein. Und das war’s. Du machst weiter.“240

Die Gefangenen wurden schmerzhaft gefesselt, sie wurden entkleidet, nackt an ihre Zellentüren gekettet, man zog ihnen rosa Damenunterwäsche an oder trieb sie von Kot besudelt mit verbundenen Augen durch die Gefängnisgänge. „The Geneva Convention prohibits torture and any use of ‚violence‘, ‚cruel treatment‘, or ‚humliating and degrading treatment‘ against a detainee“.241 Natürlich verstießen die Soldaten in Abu Ghraib gegen die Genfer Konvention, doch auch gegen sämtliche Konventionen zum Schutz der Soldaten wurde verstoßen. Sie konnten die Gefängnisinsassen nicht – wie es die Genfer Konvention vorschreibt – gegen Raketenangriffe schützen, weil sie sich selbst nicht davor schützen konnten. Statt in einem vorschriftsmäßigen Camp waren die Soldaten selbst in fensterlosen Zellen untergebracht, Büros wurden in abgehängten Teilen von Gefängnisgängen eingerichtet. „Gleich als ich diesen Ort zum ersten Mal betrat, wusste ich: Er ist ein Alptraum“, erklärt der Soldat Ivan Frederick im Gespräch mit Carolin Emcke.242 Um zu vermeiden, dass irgendjemand in der US-Regierung oder -Armee Verbrechen wie Folter bezichtigt werden kann, verordneten die Verantwortlichen „a course of action that would remove the detainees from the protection of the Geneva Convention (by designating them as ‚detain-

239 Dorfman, DaM, S. 59. 240 Gourevich, Philip/Morris, Errol: Die Geschichte von Abu Ghraib, München 2009, S. 115. 241 Ballengee, Jennifer: The Wound and the Witness. The Rhetoric of Torture, New York 2009, S. 141. 242 Emcke, Carolin: „Wir sollten sie demütigen“, Interview mit Ivan Frederick, Der Spiegel, Nr. 36 (30. 08. 2004), S. 102-103, hier: S. 102.

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ees‘ or ‚enemy combatants‘ rather than prisoners of war) […]“.243 Nicht nur durch die terminologische Degradierung (aus Kriegsgefangenen wurden Verbrecher), sondern auch durch die demütigende Vollzugspraxis wurden jene „Anderen“ aus den Häftlingen, derer es bedarf, um Menschen zu foltern. Es ist offenbar nicht schwer, Menschen, die man entblößt und besudelt an Stricken durch Gänge zerrt, bald nicht mehr als Menschen und damit als Seinesgleichen wahrzunehmen. Doch auch aus Sabrina Harman und ihren Kameraden waren andere geworden: Die Soldaten hatten die Wahl – entweder sie gewöhnten sich an die tägliche Allgegenwart von Gewalt und Grausamkeit, von Dreck und Unbill oder sie wurden daran wahnsinnig. Jeder von ihnen schien eine andere Strategie zu verfolgen, die einen wurden zu Mittätern, andere versuchten Schritte gegen die Verantwortlichen zu unternehmen – blieben damit aber ungehört –244 und Sabrina Harman fotografierte. „Harman erklärte, sie habe angefangen zu fotografieren, was sie sah, weil sie es so unglaublich fand.“245 Die ersten Fotos entstanden nach Harmans Angaben aus dem Impuls und Bedürfnis, Beweise zu sammeln. Als klar wurde, dass es sich um alltägliche Praxis handelt, derer es keiner Beweise bedurfte, wurden die Bilder zur Bewältigungsstrategie. In all dem Chaos im Gefängnis konnte Harman (und konnten einige ihrer ebenfalls fotografierenden) Kollegen auf ein geläufiges Ausdrucksmittel zurückgreifen. Mitten in Dreck und Regellosigkeit kam eine zivilisierende Kulturtechnik zum Einsatz. Die Kamera bannte das Chaos im Bild, ordnete die Geschehnisse. Durch das Bild wird es möglich, Eindrücke festzuhalten, auszulagern und die Verarbeitung aufzuschieben. „Indem sie Eindrücke auf Dokumente übertrug, Erlebnisse in Artefakte umwandelte, konnte sie das alles aus ihrem Inneren löschen.“246 Menschen, die die Gewalt, die sie erlebten, zunächst kaum ertrugen, begannen, sie nicht nur festzuhalten, sondern sie für Bilder zu inszenieren – Harman brachte die Gewalt in ihre Gewalt, indem sie sie im Bild bannte. Der Schritt dahin, diese Gewalt für das Bild zu in-

243 Ballengee, Jennifer: The Wound and the Witness. The Rhetoric of Torture, New York 2009, S. 141. 244 Gourevich, Philip/Morris, Errol: Die Geschichte von Abu Ghraib, München 2009, S. 168. 245 Ebd., S. 117. 246 Ebd., S. 124.

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szenieren, ist nicht mehr weit. Insbesondere Harmans und Englands Kamerad Charles Graner wurde Schöpfer demütigender Gewaltakte, deren Beobachtung er mit dem Objektiv festhielt. „Denn er [der Fotograf, T.P.] wird zum Regisseur des ganzen Szenarios der Misshandlung, und so erscheint plötzlich der Akt des Fotografierens selbst als ein Teil des Übergriffs – in dem Maße, dass das Bild selbst und nicht nur das Abgebildete als die Verletzung gelten mag.“247

Doch die in den Folter- und Demütigungsszenen, die geradezu wie Tableaux Vivants wirken,248 mitinszenierten Frauen, sind mehr als beobachtete Zuschauerinnen. Sie wirken, wie bereits angesprochen, als Kräftevervielfacher für die vollzogenen Grausamkeiten. Eine Demütigung, die auch noch unter den Augen einer Frau geschieht, ist für einen irakischen Mann um ein Vielfaches schlimmer als die physische Gewalt allein. Das wussten die Soldaten, man hatte es ihnen – ursprünglich zum Zwecke der Vermeidung – in interkulturellen Trainings beigebracht.249 Die Kräftevervielfachung multiplizierte sich, indem man die Beobachtung der Demütigung durch eine Frau auch noch – mit der Möglichkeit zur Verbreitung – festhielt. Das Beobachten beziehungsweise die Zuschauerin wird so zum kalkulierten Bestandteil des Gewaltaktes selbst – in Abu Ghraib ging diese Logik so weit, dass die Gewalt zum Beiwerk des Bildes wurde und das Bild zur eigentlichen Tat. Auch Lynndie England wurde in Szene gesetzt, als ihr ihr Kamerad Charles Graner den Strick in die Hand drückte, den er zuvor um den Hals des irakischen Häftlings Gus gelegt hatte. Gus war laut gleichlautender Schilderungen der Wachsoldaten kaum beizukommen, der vermutlich geisteskranke Mann griff die Soldaten massiv an. Graner war an dem Tag, an dem das Foto entstand, allein mit England und wusste angeblich nicht, wie er den tobenden Gus mit den vorhandenen Mitteln aus seiner Zelle holen soll. Nach diversen gescheiterten Versuchen habe er dem Mann einen

247 Ebd., S. 159. 248 Vgl. Raulff, Ulrich: Die 120 Tage von Bagdad, in: Süddeutsche Zeitung, 04. 05. 2004, S. 11. 249 Gourevich, Philip/Morris, Errol: Die Geschichte von Abu Ghraib, München 2009, S. 123.

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Strick um den Hals gelegt. Dann sei ihm die Idee zu dem Foto gekommen und er habe England den Strick in die Hand gedrückt, um fotografieren zu können. Selbstverständlich ist Gus unabhängig von dem Bild missbräuchlich behandelt worden. Aber erst im Bild wird Gus zu einem zum Tier degradierten Menschen und England zu seiner triumphierenden Herrin. „Der ultimative Kick liegt nicht in der Ausübung von Taten, die den anderen Menschen zum Tier, zum Paket, zum namenlosen Stück Materie machen, sondern im Bewusstsein, sich vor dem Auge der Kamera gemeinsam mit diesem Tier, diesem Stück Materie in ein Bild zu verwandeln.“250

Doch was Ulrich Raulff zum Zeitpunkt seiner Analyse der Folterbilder von Abu Ghraib noch nicht wissen konnte, war, dass England nicht Urheberin, sondern von Anfang an Teil der Inszenierung von Gewalt war. England war ursprünglich die Zuschauerin einer gewalttätigen Handlung gegen einen Häftling. Indem sie selbst Teil dieser Handlung wird, werden die Betrachter des Bildes zu Voyeuren. Ich erinnere noch einmal an das Zitat vom Anfang des Kapitels: „Ein Bild von Gus allein, mit der am Boden liegenden Leine, würde es uns erlauben, uns als Zeugen zu fühlen; doch mit England auf der Bildfläche geraten wir in die Rolle von Voyeuren.“ Der Betrachter scheint der mitinszenierten England beim Genuss der Gewalt zuzusehen. Doch England ist nicht die Urheberin der Gewalt, zu der sie das Bild macht, sondern sie ist Teil der Szenerie, die uns Betrachter des künftigen Bildes genauso mitdenkt, wie England selbst. Dies scheint mir der Kern des vom Täter kalkulierten Voyeurismus zu sein. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es einerseits nicht nur die Gewalt ist, die den Blick des anderen anzieht, nicht nur der Blick, der diese Gewalt transportiert – durch Medien wie durch einzelne Leben –, es ist mitunter auch ganz konkret das Sehenwollen, das Foltergewalt erst produziert. Und andererseits ist es eben genau dieses Wissen um das Sehenwollen und die Möglichkeiten, die es dem Täter bietet, das den Zuschauer in bestimmten Kontexten bereits im Vollzug der Gewalt mitentwirft.

250 Raulff, Ulrich: Die 120 Tage von Bagdad, in: Süddeutsche Zeitung, 04. 05. 2004, S. 11.

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2.3 S CHAM Versuche, das Gefühl der Scham zu erklären, wurden vielfach und mit teilweise stark abweichenden Ergebnissen unternommen – in einem Punkt aber herrscht weitgehend Einigkeit: Scham entsteht unter dem Blick des Anderen, eines Zweiten oder Dritten, der das versagende Subjekt trifft. Prominent hat Sartre in seiner Auseinandersetzung mit dem Blick in Das Sein und das Nichts den Zusammenhang zwischen Scham und verbotenem Blick hergestellt. Die Szenerie ist simpel: Ein Voyeur blickt durch ein Schlüsselloch auf eine verbotene Szene. Er wird ertappt und schämt sich. 251 Ich werde auf das von Sartre geschilderte Szenario im Folgenden noch einmal zurückkommen, möchte mich aber zunächst möglicher Bedeutungsdimensionen der Scham im Kontext dieser Arbeit widmen, ohne dabei die nicht erst bei Aristoteles252 beginnende Geschichte dieses Gefühls, seiner Äußerungsformen und Definitionen wiederzugeben. Scham gründet in subjektivem Erleben, eine allgemeingültige Beschreibung des Gefühls scheint mir daher wenig sinnvoll und nicht zielführend. Essentiell ist jedoch die Beobachtung, dass Scham an die „Wahrnehmung eines Selbstverlustes“ gebunden ist.253 Der Selbstverlust geht mit der Erfahrung des eigenen Scheiterns einher,254 woran auch immer – im Extremfall dem reinen Selbsterhalt, dem Bewahren von Würde. Auch hier darf im Bezug auf das Thema der Arbeit „scheitern“ wie bereits im Kapitel zur Wahrheit des Verhörs dargelegt, durchaus wörtlich verstanden werden. Der Gefolterte beobachtet das Zerbersten, das buchstäbliche Scheitern seiner Unversehrtheit, seiner körperlichen und seelischen Intaktheit. Es ist diese Scham des Opfers, deren Bedeutung ich im Folgenden ergründen möchte. Gerade am Beispiel Abu Ghraib, an dem ich weiterhin zur Illustration meiner Überlegungen festhal-

251 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 3, hrsg. von Traugott König, Reinbeck 201217, S. 467f. 252 Auch Aristoteles betont die Bedeutung des Blicks einer anderen Person, wenn er in der Rhetorik vom „vor-Augen-liegen der Scham“ spricht; Aristoteles: Rhetorik, II. Buch, München 1993, 1384a. 253 Schäfer, Alfred/Thompson, Christiane: Scham – eine Einführung, in: Dies. (Hg.): Scham, Paderborn 2009, S. 7-36, hier: S. 7. 254 Vgl. ebd.

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ten werde, ließen sich natürlich weitere Dimensionen dieses Gefühls ergründen: beispielsweise wie aus der Scham des Opfers jene der Täter wird – zu denken wäre hier an einen Regimewechsel oder eine Verurteilung der Täter wie im Falle der Soldaten von Abu Ghraib geschehen. Dieser Richtung des Gegenstandes werde ich mich im letzten Kapitel der Arbeit zuwenden. An dieser Stelle möchte ich zunächst bei der Scham des gefolterten Opfers bleiben. Es ist der Blick eines Anderen, der das Individuum bei einem Normverstoß beobachtet und dadurch Scham auslöst255 – im Beispiel Sartres ist dieser Normverstoß das unerlaubte Spähen durch ein Schlüsselloch, im Beispiel Abu Ghraib die (selbstverständlich unfreiwillige) Entblößung und Obszönität. Grundlage für die Entstehung von Scham ist damit aber die „angenommene Gemeinsamkeit von ästhetischen, sozialen oder moralischen Idealvorstellungen“, ohne die „‚Scham‘ nicht vorstellbar zu sein“ scheint, „da es sonst keinen Referenzpunkt gäbe, auf den bezogen ein Scheitern des Individuums von den anderen angenommen werden könnte“.256 Diese gemeinsame Idealvorstellung scheint es letztlich immer zu geben. Wenn sie sich nicht in abstrakten Normen ausdrückt, dann immerhin in der Vorstellung, was ein intaktes Individuum zu sein hat. Entsprechend ist nicht von der Hand zu weisen, wie Jan Philipp Reemtsma bemerkt, „dass es etwas wie eine transkulturelle Neigung gibt, Gewaltopfer als unheimlich, minderwertig oder mitschuldig an dem, was ihnen widerfahren ist, anzusehen […]“.257 Psychologische Experimente beweisen laut Reemtsma, dass der Beobachter dazu tendiert, Opfern die Schuld an dem zu geben, was sie aushalten müssen. Das Opfer entspricht nicht der Idealvorstellung des intakten, autarken Subjekts und wird somit immer schon nicht mehr ganz als solches wahrgenommen. Nicht nur der Subjekt-, sondern auch der Opferstatus wird dadurch in Zweifel gezogen und letztlich entzogen. Das Opfer wird zu jenem Anderen, dessen Anderssein Gewalt gegen ihn zu rechtfertigen scheint. Seine Scham ist die Konsequenz, wird in einem perversen Umkehrschluss aber zum Beleg für eigene Versehrtheit und damit das eigene Scheitern als Individuum und autarkes Subjekt. Diese Logik lässt sich nur durchbrechen, indem man sich bewusst außerhalb des als gemeinsam

255 Ebd., S. 12. 256 Ebd., S. 8f. 257 Reemtsma, Vertrauen, S. 488.

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angenommenen Wertesystems oder entsprechender Idealvorstellungen stellt. Ein beeindruckendes Beispiel auch dafür schildern Philip Gourevitch und Errol Morris in ihrem Abu Ghraib-Bericht. Die Autoren dokumentieren, wie ein von den Soldaten als „Shitboy“ bezeichneter Häftling der Scham-Folter entgeht, indem er das Demütigungssystem der Soldaten unterläuft und die Zwangsmaßnahmen der Nachrichtendienstangehörigen damit ins Leere laufen lässt. „Indem er sich entblößte und dann die Selbstentblößung ins Extrem trieb – sich besudelte und masturbierte –, kehrte er die im Zellenblock herrschende Ordnung der Demütigung um, bedrängte die Wärter, übertrug seine Verzweiflung auf sie. Während die Soldaten über andere Häftlinge lachten, um deren Scham zu verstärken, lachte Shitboy über sie und kannte in seinem verwegenen Streben danach, zuletzt zu lachen keine Grenzen. Während die Soldaten vermummte Häftlinge gegen die Wand laufen ließen, tat Shitboy sich das Gleiche ständig unvermummt und sehenden Auges selbst an.“258

Wenn wir an dieser Stelle noch einmal anhand des Beispiels Abu Ghraib beobachten, wie Scham durch Demütigung gezielt hervorgerufen wird oder auch noch einmal auf Dorfmans Death and the Maiden blicken, wo Paulina ebenfalls entblößt und gedemütigt wird, um ihre Scham sie daran hindern zu lassen, offen über das, was ihr widerfuhr, zu sprechen, 259 dann wird gegenüber der Sartreschen Ausgangsszene eine Verschiebung deutlich. Bei Sartre ist es der Voyeur selbst, der sich – ertappt – schämt. In den Folterszenarien von denen hier die Rede ist, sind die Beobachteten auch diejenigen, die sich schämen, weil sie um die Beobachtung wissen. Säße ein Häftling nackt, aber allein in seiner Zelle, wäre dies, je nach Kontext, zwar eine Misshandlung, der Häftling müsste sich jedoch nicht schämen. „Scham hat ihr Zentrum im Vorgang der Enthüllung.“260 Oder anders gesagt: Sie antwortet „auf das Gesehenwerden bei etwas, das nicht für das fremde Au-

258 Gourevich, Philip/Morris, Errol: Die Geschichte von Abu Ghraib, München 2009, S.154. 259 Vgl. Dorfman, DaM, S. 60f. 260 Schüttauf, Konrad/Specht, Ernst Konrad/Wachenhausen, Gabriela (Hg.): Das Drama der Scham. Ursprung und Entfaltung eines Gefühls, Göttingen 2003, S. 113.

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ge gedacht ist“.261 Der Grund, weshalb es in Abu Ghraib, aber auch in vergleichbaren Foltersituationen, nicht die auf frischer Tat Ertappten – teilweise auch Voyeure hinter der Kamera – sind, die sich schämen, sondern deren Opfer als Ziele ihrer Blicke, ist offenkundig. Der voyeuristische, entlarvende Blick des Dritten ist kalkuliert, er ist, wie bereits nachgewiesen, Teil der Tat oder des Übergriffs selbst. Wenn wir hier nun noch einmal die oben bereits angeführten Möglichkeitsbedingungen von Scham betrachten, werden die Gründe für das Funktionieren dieser Verschiebung zu Ungunsten des Tat- beziehungsweise Blickopfers deutlich: Durch den bewussten Einsatz des Zuschauers, durch die offenkundige Auslieferung des Opfers an den Blick des Voyeurs wird der voyeuristische Übergriff zur (von den Tätern geteilten) Norm erhoben. Der (erzwungene) Normverstoß findet dann auf der Seite des gedemütigten Opfers statt, das diesen Normverstoß wiederum durch seine Reaktion – Scham – zu bestätigen scheint. Der Blick dieses Dritten setzt einen Prozess frei, in dem Scham als das Resultat eines Paradoxons erscheint: der Gleichzeitigkeit von Subjektivierung und Entsubjektivierung, aus der Giorgio Agamben eine Definition der Scham generiert, die den Kontext, in dem sie hier erscheint, treffend erklärt, obgleich sie von Agamben entlang der Erfahrungen entwickelt wurde, von denen Opfer nationalsozialistischer Vernichtungslager berichteten: „[Scham] ist nicht weniger als das fundamentale Gefühl Subjekt zu sein, und zwar in den beiden – zumindest scheinbar – entgegengesetzten Bedeutungen dieses Wortes: Souverän und sub-iectum: Unterworfenes. Sie ist das, was entsteht in der vollkommenen Gleichzeitigkeit einer Subjektivierung und einer Entsubjektivierung, einem Sich-Verlieren und einem Sich-Besitzen, einer Knechtschaft und einer Herrschaft.“262

Das Folteropfer erlebt sich selbst in der Unterwerfung, er wird Zeuge dieses Geschehens und ist somit Subjekt (als Zeuge) und „sub-iectum“ (als Opfer) zugleich. Der Prozess, aus dem die Scham hervorgeht, der Bruch, der in-

261 Meyer-Drawe, Käte: Am Ursprung des Selbstbewusstseins: Scham, in: Alfred Schäfer und Christiane Thompson (Hg.): Scham, Paderborn 2009, S. 37-49, hier: S. 38. 262 Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge (Homo sacer III), Frankfurt a.M. 2003, S. 93.

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mitten durch das gefolterte Subjekt läuft, auf dem der Blick ruht und das sich gleichzeitig unter dem eigenen Blick von sich selbst entfremdet, enthält den perfiden Mechanismus der Folter, der stets die Zerstörung der Subjektivität des Opfers zum Ziel hat, im Kern. Die Erzeugung von Scham wiederholt und erweitert, was Folter an sich immer schon ist: die Entzweiung des Subjekts. Auch dies formuliert Agamben treffend: „Als bräche unser Bewusstsein zusammen und ergriffe in alle Richtungen die Flucht, würde gleichzeitig aber von einem unabweisbaren Befehl zusammengerufen, um der eigenen Auflösung beizuwohnen und mitanzuschauen, wie ihm das Eigentum an seinem Eigensten entzogen wird. In der Scham hat das Subjekt einzig seine Entsubjektivierung zum Inhalt, wird es Zeuge des eigenen Untergangs, erlebt mit, wie es als Subjekt verloren geht. Diese zweifache Bewegung, Subjektivierung und Entsubjektivierung zugleich, ist die Scham.“263

Die Scham seines Opfers ist dem Folterer noch etwas: Garant dafür, dass die von ihm ausgeübte Gewalt kommuniziert. Sartre sieht in der Scham „den eigentlichen Beweis des Gegenübers, das Fundament der Intersubjektivität überhaupt“.264 Laut Sartre ist es „der Andere“, der dem Ich das Ich als Objekt vermittelt. „Und eben durch das Erscheinen Anderer werde ich in die Lage versetzt, über mich selbst ein Urteil wie über ein Objekt zu fällen, denn als Objekt erscheine ich Anderen.“265 Die Scham unter dem Blick des Anderen ist dann laut Sartre die Anerkennung der Entsubjektivierung und Degradierung: „Ich erkenne an, dass ich bin, wie Andere mich sehen.“266 Diese Scham bestätigt aber nicht nur, dass sich das Ich als Subjekt unter den Augen des Anderen scheiternd als Objekt anerkennt, sondern sie bestätigt auch, dass dieses Scheitern als Botschaft bei diesem blickenden Dritten angekommen ist. Die verzweifelte Scham der entblößten Häftlinge

263 Ebd., S. 91. 264 Schüttauf, Konrad/Specht, Ernst Konrad/Wachenhausen, Gabriela (Hg.): Das Drama der Scham. Ursprung und Entfaltung eines Gefühls, Göttingen 2003, S. 10. 265 Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, in: Ders.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 3, hrsg. von Traugott König, Reinbeck 201217, S. 406. 266 Ebd.

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in Abu Ghraib zeugt nicht zuletzt von deren Wissen um den Blick des Anderen, der wiederum allein durch die Tat herbeigerufen wird. „Der Blick des Anderen raubt mir durch die Gewissheit des Gesehenwerdens die zentrale Stellung in meinem Universum.“267 Die „zentrale Stellung“ nimmt ab sofort der Dritte ein – das einzige mögliche Ziel der Kommunikation von Gewalt. Die Scham des Opfers, dem gegenüber Gewalt stumm ist, wie ich oben dargestellt habe, sagt letztlich nichts anderes als: Die Botschaft ist angekommen. Diesen gelungenen Kommunikationsakt bestätigt wiederum die „transkulturelle“ Abneigung gegen das Opfer. Es sagt dem Zuschauer „was ihm widerfuhr, könnte auch mir widerfahren und daran will ich nicht denken“.268

267 Landweer, Hilge: Scham und Macht. Phänomenologische Untersuchungen zur Sozialität eines Gefühls, Tübingen 1999, S. 103. 268 Reemtsma, Vertrauen, S.488.

3. Resümee

Die vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass Folter niemals Macht, sondern im Gegenteil: ihre Abwesenheit ist. Sie ist reine Gewalt und dennoch reicht sie weiter, als an den Körper, der ihr ausgeliefert ist. Sie ist die Auslieferung von Geist und Willen in erzwungenen Kommunikationsakten. Folter ist die totale Unterwerfung des Individuums. Der Folterer ist alles, sein Opfer nichts. Oder, wie es der ehemalige FBI-Agent Ali Soufan in einem indirekten Zitat James Mitchels, Psychologe und ‚Erfinder‘ der „verschärften Verhörmethoden“ der CIA ausdrückt: „He said that he would force Abu Zubaidah [ein in die Anschläge auf das World Trade Center involviertes al-Quaida-Mitglied, T.P.] into submission. His idea was to make Abu Zubaidah see his interrogator as a god who controls his suffering.“269 Das Verhör ist jener Raum, in dem die Gewalt entsprechend erweitert wird, in dem sie zum allumfassenden Zugriff der Folter wird und die Vernichtung des Subjekts vorbereitet. Auch in literarischen Fiktionen – dies galt es in den zugrundegelegten Texten zu zeigen – ist das Verhör Raum und Rahmen, in dem sich diese Zugriffsdynamik entfaltet. Im Drama Death and the Maiden wird das Verhör – mit seinen Potentialen für Täter wie Opfer – auf einer Metaebene buchstäblich dargestellt. Es handelt sich um eine Performance in doppelter Hinsicht: Nicht nur bringt es das Verhör über die Folter zur Aufführung, sondern in einer gekonnt inszenierten mise en abîme lässt Paulina ihren mutmaßlichen Peiniger das einstige Folterverhör als Aussage gleich mitaufführen.

269 Soufan, Ali/Freedman, Daniel: The Black Banners. The Indide Story of 9/11 and the war against al-Quaeda New York 2011, S. 394.

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In Text wie Theorie wird Wahrheit im Folterverhör ebenso zur Fiktion wie Macht. Sie ist Scheinmedium und Scheinziel zugleich, das als solches aber dennoch zur Rechtfertigung und letztlich auch Strukturierung der Folterhandlungen dient. Folter reicht nicht nur über den Körper des einzelnen hinaus, indem sie dessen Geist, Denken und Wollen beherrscht, sondern sie umfasst auch alle Umstehenden, Zuschauer, ganze Nationen. Sie ist Terror und sein Regime. Öffentlichkeit ist nicht nur eine Konsequenz, sondern ein wohlkalkuliertes Instrument von Folter. Ein Mittel, Gewalt in den Anschein von Macht zu überführen. Der Dritte, der Beobachter oder Mitwisser von Folterhandlungen, wird zum Werkzeug, das seine Wirkung nach innen wie nach außen entfaltet – auf den Gefolterten und auf all jene, die von ihm erfahren. Die Botschaft an diesen Dritten ist paradox. Sie lautet: „So könnte es Dir auch ergehen“, und zugleich: „Dies bist nicht Du, dies ist der Andere, ein Wesen, das mit Deinem Menschsein nichts zu tun hat“. Der Gefolterte wird systematisch seines Wesens als Mensch unter Menschen beraubt. „[I]n der Tortur wird die Verfleischlichung des Menschen vollständig: Aufheulend vor Schmerz ist der gewalthinfällige, auf keine Hilfe hoffende, zu keiner Notwehr befähigte Gefolterte nur noch Körper und sonst nichts mehr.“270 Alle menschlichen Attribute werden dem Gefolterten in der Folter systematisch entzogen. Die Binde oder Kapuze über den Augen entledigt ihn des menschlichen Blicks, der Schmerz raubt ihm die Sprache und zwingt ihn zu animalischem Gebrüll, ein „mir fremdes und unheimliches Geheul“, wie Jean Améry die eigenen Schmerzensschreie beschreibt.271 Hundeketten um den Hals und Besudelungen mit Kot, wie sie die Gefangenen in Abu Ghraib erlebten, tragen ihren Teil zur Entmenschlichung des Gefolterten bei, sie sorgen dafür, „dass die muslimischen Opfer schon längst nicht mehr als legitime Gegner in einem konventionellen Krieg anerkannt werden“.272 Die Kluft zwischen Gefoltertem und der sozialen Welt um ihn herum wird auf diese Weise unendlich groß. Folter stellt damit ihre eigenen Voraussetzungen her: Sie macht aus dem Opfer den An-

270 Améry: Tortur, S. 64. 271 Ebd., S. 49 272 Emcke, Carolin: Anatomie der Folter – der Befehlskörper von Abu Ghraib, in: Le Monde Diplomatique, Nr. 7740 (12. 08. 2005), S. 14f.

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deren, Fremden, etwas, das der Vorstellung vom Menschen nicht gleicht, das sich windet und das brüllt wie ein Tier. „Die Depersonalisierung des Menschen ist in den Praktiken der Tortur selbst eingebaut. Bedenken fechten den Schinder nicht an. Weil die Tortur das Opfer seiner menschlichen Vermögen und Gebärden beraubt, bleibt sie für den Täter folgenlos.“ 273 Nicht umsonst sprach die Regierung George W. Bushs von den Festgenommen in der Folge der Anschläge vom 11. September von „gesetzlosen Kämpfern“274 oder „Terroristen“ und nicht von „Kriegsgefangenen“, die unter dem Schutz der Genfer Konvention stünden. In Coetzees Roman Waiting for the Barbarians wird dieses Vorgehen besonders plakativ vorgeführt. Ich greife der Analyse des Romans erneut vor und möchte daher an dieser Stelle nur kurz den Kontext des in diesem Zusammenhang interessanten Textabschnittes schildern. Der für die Folterungen von vermeintlichen Landesfeinden, den „Barbaren“ verantwortliche Oberst Joll bringt diese als Gefangene in eine kleine Grenzstadt: „The Colonel Stepps forward. Stooping over each prisoner in turn he rubs a handful of dust into his naked back and writes a word with a stick of charcoal. […] ENEMY … ENEMY … ENEMY … ENEMY. He steps back and folds his hands. […] Then the beating begins. The soldiers use the stout green cane staves, bringing them down with the heavy slapping sounds of washing-paddles, raising red welts on the prisoners’ backs and buttocks. With slow care the prisoners extend their legs until they lie flat on their bellies, all exept the one who had been moaning and who now gasps with each blow. The black charcoal and ochre dust begin to run with sweat and blood. The game, I see, is to beat them till their backs are washed clean.“275

Teil der ersten Folterhandlungen gegen die Barbaren ist buchstäblich sie „zum Feind zu machen“, sie werden also in der Folter zu dem, was Folter scheinbar rechtfertigt.

273 Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M. 1996, S. 93. 274 Meldung ohne Angabe des Autors, in: Augstein, Rudolf (Hrsg.): Der Spiegel, Nr. 5 (2002), einzusehen unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/bushgenfer-konvention-gilt-nicht-fuer-al-qaida-gefangene-a-181461.html, aufgerufen am 27. 02.2013. 275 Coetzee: WfB, S. 105.

zuletzt

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Mit der Entfremdung von allem Menschlichen geht die Selbstentfremdung einher. Nicht nur zwischen dem gefolterten Individuum und seiner sozialen Umwelt verläuft ein Riss, sondern dieser fährt auch durch das Individuum selbst. Es ist der Körperschmerz der Folter, der den durch den leidenden Menschen gejagten Riss erweitert. Das Wirken dieses mit der Folter untrennbar verbundenen Körpergefühls soll unter anderem im anschließenden Teil der Arbeit untersucht werden.

III. Sprechen – Schweigen – Erzählen Der Foltertext entzieht sich

Pain is truth; all else is subject to doubt. J. M. COETZEE: WAITING FOR THE BARBARIANS

1. Die Sprache der Folter

Mascha Dabic beherrscht die Kunst, Schweigen zu übersetzen. Als Dolmetscherin für Folterüberlebende in österreichischen Behandlungszentren wird sie immer wieder damit konfrontiert, dass Traumatisierte nicht sprechen oder über die Unmöglichkeit zu sprechen sprechen. „Auch das, was nicht gesagt, also verschwiegen oder ausweichend beantwortet wird, kann aufschlussreich sein und Material für die Therapeutinnen liefern. In der Gesprächstherapie müssen Dolmetscherinnen mitunter längere Gesprächspausen ‚aushalten‘ können […].“276

Dabic berichtet, dass Patienten, Menschen, die in ihrer Heimat gefoltert wurden, häufig abgehackt sprechen, Füllwörter verwenden oder schlicht erklären, „darüber möchte ich nicht sprechen“. Auch Alexandra Liedl, auf die Arbeit mit Folteropfern spezialisierte Psychologin, berichtet, es begegne ihr in ihrer Arbeit mit Traumatisierten aus dem arabischen Kulturkreis häufig, dass Betroffene in ihren schriftlichen Berichten eigenes Erleben in „Zeilen oder Sätze aus dem Koran“ hüllen oder mitunter auch ganze Berichte in Gedichtform abfassen.277 Liedl und ihre Kollegen verstehen dieses Schreibund Berichtsverfahren einerseits als Weg, Persönliches in einer unpersönlichen, über die eigene Person hinausweisenden Form auszudrücken. Ande276 Dabic, Mascha: „Darüber möchte ich nicht sprechen.“ Dolmetschen für Folterüberlebende, in: Mirzaei, Siroos/Schenk, Martin (Hg.): Abbilder der Folter: Hemayat: 15 Jahre Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen, Wien 2010, S. 150-160, hier: S. 151, Fußnotentext. 277 Liedl, Alexandra: Interview, Anhang, S. 276.

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rerseits aber auch, als Verfahren, um zu signalisieren, „dass da der Schmerz noch stärker erlebt wurde. Um sich selbst zu schützen und alles zu relativieren“.278 Nicht nur ist dem Patienten damit die Last genommen, Worte für etwas zu finden, was zunächst schlicht nicht in Worte zu fassen zu sein scheint. Er schreibt sich gleichzeitig auch in die Spur derer ein, die diese Erfahrung bereits gemacht haben – die Einsamkeit der extremen Schmerzund Leiderfahrung wird relativiert. Ein besonders anschauliches und gleichzeitig junges Beispiel für die Schwierigkeit, über Folter zu sprechen oder gar zu schreiben, stellt eine Gedichtsammlung mit Texten von Häftlingen des auf Kuba gelegenen USamerikanischen Gefängnisses Guantánamo Bay dar. Die Texte schildern sowohl die Unmöglichkeit, als auch die gleichzeitig offenbar bestehende, unumgehbare Notwendigkeit über die Ereignisse in Haft und unter Folter zu sprechen. Das Spannungsfeld, das daraus im und um den Text entsteht, teilt sich in jedem einzelnen der Gedichte mit. Der mitteleuropäisch geprägte Leser kann nicht umhin, Theodor W. Adorno und sein berühmtes Diktum – „[n]ach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch […]“279 – zu assoziieren, wenn er die in der Anthologie enthaltenen Verse von Sami al Haj liest:280

278 Ebd. 279 Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft, in: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, Berlin und Frankfurt a.M. 1955, S. 7-31, hier: S. 31. 280 Die Gedichte werden im Folgenden immer auf Englisch zitiert. Nicht nur ist dies die einzige Form, in der ich in Ermangelung von Arabischkenntnissen mit den Gedichten arbeiten kann. Die Gedichte wurden ausschließlich in englischer Übersetzung freigegeben. Die arabischen Originalversionen verließen die Haftanstalt nicht, wie die Herausgeber im Vorwort des Bandes erläutern. Auch möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass mir bewusst ist, dass der Band das Resultat einer strengen Zensur durch die US-amerikanischen Behörden ist und damit weder als objektiver Zugang zum Gefängnis von Guantánamo, noch zu dessen Poeten gelten kann. Die Informationen sind gefiltert und es ist davon auszugehen, dass die Behörden mit ihrer Veröffentlichung auch eigene, politische Interessen verfolgten. Dennoch halte ich die Gedichte für ein einzigartiges Dokument, das trotz aller Widrigkeiten von Potential und Macht des Schreibens in totaler Unterwerfung zeugt.

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„ […] I was humiliated in the shackles. How can I now compose verses? How can I now write? After the shackles and the nights and the suffering and the tears, How can I write poetry? […]“281

Al Haj bedient sich des Gedichts als Medium, um die Unmöglichkeit eben dieses – insbesondere in der arabischen Kultur essentiellen – Mediums selbst nach den Ereignissen einer Folterhaft auszudrücken. „Er schreibt, aber sein Gedicht vermag nicht mehr, als den Zweifel an den Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit zu exponieren.“282 In den ersten zehn Strophen des Gedichts schildert al Haj die Demütigungen, die er durch die Soldaten und Wärter in Guantánamo erfährt. Das ganze Spektrum möglicher Grausamkeiten deutet sich an, wird erahnbar, jedoch nicht explizit gemacht. In der zweiten Hälfte des Gedichts wird dann die Möglichkeit des Sprechens auf der Grundlage dieser Entmenschlichung schlechthin hinterfragt. Vor dem Hintergrund dieses selbstreflexiven Sprechens über die Unmöglichkeit zu sprechen, drängt sich die Frage Judith Butlers geradezu auf: „Ist der Körper, der die Folter durchmacht, derselbe, wie der, der auf dem Papier die Worte formt?“283 Ich möchte diese Frage an dieser Stelle unbeantwortet lassen, um sie jedoch gegen Ende dieses Kapitels noch einmal aufzugreifen. Al Haj reiht sich mit den zitierten Versen in die von Adorno begründete Debatte um die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des nachtraumatischen Dichtens ein, ohne dass sinnvoller Weise davon auszugehen ist, dass al Haj diese Debatte kennt: Laut seinen Anwälten ist er ein sudanesischer Journalist, der für den Fernsehsender Al Jazeera über den AfghanistanKonflikt berichtete, als er dort inhaftiert und 2002 nach Guantánamo ge-

281 Al Haj, Sami: Humiliated in the Shackles, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 42-43, hier: S. 43. 282 Butler, Judith: Krieg und Affekt, hrsg. u. übers. von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker, Zürich und Berlin 2009, S. 44. 283 Ebd.

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bracht wurde.284 Die Schwierigkeit, sich nach traumatischen Ereignissen erneut in eine zuvor etablierte Tradition, zumal Kulturtradition, einzureihen, besteht kultur- und nationenübergreifend, vor allem aber auch Traumaübergreifend. Die persönliche Grenzerfahrung ist es, die den Umgang mit den eigenen Traditionen, das Beherrschen der eigenen Werkzeuge zerrüttet und in Frage stellt. Dies zeigen auf eindringliche Weise die Poems from Guantánamo. Die Sammlung entstand auf die Initiative einer Gruppe von Juristen in den USA, die sich ehrenamtlich für die Häftlinge und die Einhaltung ihrer Rechte einsetzten und bis heute einsetzen285 – insbesondere der Genfer Konvention sowie des habeas corpus.286 Bei ihrem ersten Besuch in der kubanischen Haftanstalt im Herbst 2004 erfuhren die Juristen von der Existenz dieser Gedichte oder vielmehr ihrer Dichter. Die Gedichte der ersten Jahre in Guantánamo existierten zum Zeitpunkt des ersten Juristenbesuches auf der Insel nicht mehr, ihre Materialität war buchstäblich flüchtig: Die Häftlinge ritzten ihre Verse in Styropor-Tassen, die bei den Mahlzeiten ausgegeben wurden und das einzige zu beschriftende Material darstellten, das ihnen im Gefängnis zur Verfügung stand. Diese „cup poems“, von denen zwei für den Gedichtband rekonstruiert werden konnten, wurden dann einen Tag lang von Zelle zu Zelle gereicht, bevor sie am Abend mit dem Müll vom Gefängnispersonal eingesammelt wurden.287 Zunächst also waren diese Gedichte aus Guantánamo ein Kommunikationsmedium der Gefangenen unter sich, eine der wenigen Möglichkeiten des Austauschs und des Appells untereinander. Sie sind mehr Aufruf als Dokumentation. Erlebnisse müssen nicht festgehalten und weitergegeben werden – sie werden von allen Gefangenen geteilt. Die cup poems sind vielmehr kurze Parolen, Botschaften des Muts und Zuspruch unter jungen Männern, wie das

284 Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 41. 285 Vgl. http://ccrjustice.org/current-cases, Seite zuletzt aufgerufen am 21. 11. 2012. 286 Ebd., S. 1f. Habeas corpus ist im US-amerikanischen Recht jene Norm, auf deren Grundlage ein Gefangener die Ursache für seine Gefangenschaft erfahren dürfen muss. 287 Ebd., S. 3.

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Cup Poem 2 betitelte rekonstruierte Gedicht von Shaikh Abdurraheem Muslim Dost zeigt: „Handcuffs befit brave young men, Bangles are for spinsters or pretty young ladies.“288

Erst nach über einem Jahr in Guantánamo wurde den Häftlingen Papier und Schreibwerkzeug ausgehändigt. Von da an haben sich Form und Funktion der Gedichte geändert. Teilweise handelt es sich um ausführliche Berichte in Versform, Zeugnisse des Alltags in der Haftanstalt. Die Gedichte sind durchzogen von Selbstvergewisserungen, von Appellen an die internationale Gemeinschaft, an Gott und an die Mithäftlinge. Vor allem stellen sie aber eine Möglichkeit für die Häftlinge dar, sich selbst, die Mit- und Nachwelt mit dem eigenen Schicksal auf mittelbare Weise zu konfrontieren. An keiner Stelle schildern die Gedichte explizit Folter. Dies mag einerseits der Zensur durch die US-amerikanischen Behörden geschuldet sein, der alle Gedichte unterzogen wurden. Andererseits weist Flagg Miller im Vorwort des Bandes auf eine Studie von Susan Slyomovics (2005) hin, die sich mit der Menschenrechtslage in Marokko befasst. Demnach ist es gerade die vermittelte, implizite und auch ästhetisierte Art und Weise in der grausame Tatsachen widergegeben werden, die es Opfern von Folter im arabischmuslimischen Kulturkreis ermöglicht, überhaupt von ihren leidvollen Erfahrungen zu sprechen. „Moroccan victims of torture hold poetry to be a deeply valued medium because it can communicate that which is too humiliating to acknowledge publicly, especially to relatives at home.“ 289 Unbegreifliches wird in vertrauter Form vermittelt, die einen Zugang zu eigentlich Unverfügbarem ermöglicht. Dabei werden nicht die Ereignisse, aber ihre Darstellungsweisen von Dichter und Leserschaft geteilt. Tatsächlich stehen auch die Gedichte aus Guantánamo in der Tradition der Arabischen Dichtung, in der Leiderfahrungen als zentraler Ursprung von Dich-

288 Dost, Shaikh Abdurraheem Muslim: Cup Poem 2, in: Ebd., S. 43. 289 Slyomovics, Susan: The Performance of Hhuman Rights in Morocco, Philadelphia 2005, S. 10f., zit. nach: Miller, Flagg: Forms of Suffering in Muslim Prison Poetry, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 7-16, hier: S. 15.

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tung gilt.290 So werden in den Gedichten nicht nur klassische Genres – beispielsweise habsiyya und qasida – der arabischen Befreiungs- und Leidenslyrik zitiert,291 sondern auch traditionelle Tropen. Ibrahim al Rubaish zitiert in seiner Ode to the Sea mit dem sprechenden, selbst Verse formenden Ozean ein klassisches Bild dieser Dichtung.292 Er fleht das Meer nicht nur um Verse an, die die quälende Ruhe seiner isolierten Gefangenschaft durchbrechen sollen, sondern er bittet es um Kunde von seinen Angehörigen: 1

O Sea, give me news of my loved ones

2

Were it not for the chains of the faithless, I would have dived into you,

3

And reached my beloved family, or perished in your arms.

4

Your beaches are sadness, captivity, pain and injustice.

5

Your bitterness eats away at my patience.

6

Your calm is like death, your sweeping waves are strange.

7

The silence that rises up from you holds treachery in its fold.

8

Your stillness will kill the captain if it persists,

9

And the navigator will drown in your waves.

10

Gentle, deaf, mute, ignoring, angrily storming,

11

You carry graves.

12

If the wind enrages you, your injustice is obvious.

13

If the wind silences you, there is just the ebb and flow.

14

O Sea, do our chains offend you?

15

It is only under compulsion that we daily come and go.

290 Miller, Flagg: Forms of Suffering in Muslim Prison Poetry, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 7-16, hier: S. 7. 291 Ebd., S. 8. 292 Ebd., S. 7.

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16

Do you know our sins?

17

Do you understand we were cast into this gloom?

18

O Sea, you taunt us in our captivity.

19

You have colluded with our enemies and you cruelly guard us.

20

Don’t the rocks tell you of the crimes committed in their midst?

21

Doesn’t Cuba, the vanquished, translate its stories for you?

22

You have been beside us for three years, and what have you gained?

23

Boats of poetry on the sea; a buried flame in a burning heart.

24

The poet’s words are the font of our power;

25

His verse is the salve for our pained hearts.293

Wie das Meer in al Rubaishs Versen der mögliche Verbindungsweg zu seinen Angehörigen und die unüberwindliche Trennung von ihnen zugleich ist, ist es auch jenes Medium, das Sprechen zugleich verhindert und ermöglicht. Im ersten Vers erkennt es das lyrische Ich noch als das naheliegende, vertraute Medium und als Adressaten für den eigenen Appell an. Doch das Schweigen der angerufenen Instanz wird schon in Vers sieben als „Verrat“ (treachery) und einige Verse weiter (18) als „Hohn“ (taunt) gedeutet. Die traditionell beredten Wellen erzeugen mehr und mehr Befremden (your sweeping waves are strange) und führen schließlich zur völligen Entfremdung des lyrischen Ichs von seinem Medium sowie des Subjekts des Gedichts von seiner unmittelbaren Umgebung, die in Guantánamo Bay in erster Linie durch den Atlantischen Ozean bestimmt wird. Am Ende ist es das lyrische Ich als Dichter oder Vertreter der Gemeinschaft von Dichtern in Guantánamo, das sich über das Schweigen des Meeres erhebt. Das Meer wird als untaugliches Medium vorgeführt und suspendiert. Al Rubaishs Gedicht ist Zitat von und Bruch mit einer Tradition zugleich. Das klassische Bild vermag die Ereignisse in Guantánamo nicht zu fassen – aber in der Darstellung seiner Untauglichkeit taugt es dem Dichter, um zu einem eigenen Sprechen – resultierend aus dem Schweigen der alten

293 Al Rubaish, Ibrahim: Ode to the Sea, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 65f.

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Form – zu finden. In der letzten Strophe sind es die Worte des Dichters, die zur Quelle von Macht werden. Es ist also das Sprechen gegen Widerstände, das selbst zum Widerstand und zur Selbstbehauptung wird. Dieses bis zum Bruch verschobene Zitieren kehrt in fast allen Gedichten des Bandes wieder. Ein Mithäftling Al Rubaishs, Osama Abu Kabir, schreibt von seiner Hoffnung, „der Lachs möge wieder stromaufwärts schwimmen“.294 Der „Lachs“, ein ursprünglich fremdes Tier in den Gewässern der arabischen Halbinsel wie in Texten dieser geografischen Herkunft, fand im frühen 20. Jahrhundert Eingang in die Arabische Dichtung – und zwar durch die Feder früher national gesinnter Schriftsteller, die unter europäischer Kolonialherrschaft aufwuchsen und mit deren Autoren vertraut waren.295 Kabir zitiert also nicht nur ein bestimmtes Topos arabischer Literatur, sondern er zitiert ein Zitat, das seinen Ursprung in der westlichen Welt hat und ruft damit eine ganze Tradition von Befreiung und Dekolonisation auf – zugespitzt lässt sich sagen: In der Situation seiner eigenen Gefangenschaft und Unterdrückung kolonisiert er die Sprache der Unterdrücker, indem er sie zur eigenen Tradition erhebt. Martin Mubanga zitiert ebenfalls klassische Elemente arabischer Dichtung, jedoch baut er mit seinem Terrorist 2003 betitelten Gedicht eine Brücke zu einer ganz anderen Tradition als seine Mitgefangenen: Seine Verse sind als Rap – im Rotwelsch des anglophonen Straßenjungen – verfasst. Er zitiert damit ein Genre, das genuin zur zeitgenössischen US-amerikanischen Sub- und später Mainstreamkultur gehört. Insbesondere der Gangsta-Rap der afroamerikanischen Gemeinden war seit seinen Anfängen eine Artikulationsform, um Unterdrückung und soziale Ungerechtigkeit auszudrücken.296 Mubanga wuchs in London auf – Englisch ist seine Mutterspra-

294 Kabir, Osama Abu: Is it True?, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 50. 295 Miller, Flagg: Forms of Suffering in Muslim Prison Poetry, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 7-16, hier: S. 13. 296 Der klassische Rap, Bestandteil der Hip-Hop-Kultur, wurde in den 70er Jahren in den New Yorker Bronx durch den Musiker Klive Cambell (alias „Kool Herc“) etabliert. Er setzt sich aus Elementen traditioneller jamaikanischer Musik zusammen und wurde schnell von anderen Musikern aufgegriffen und zum Beispiel durch das charakteristische Scratching (manuelle Manipulation des

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che.297 Er schreibt sich also als Brite mit zambischen Wurzeln in eine traditionell US-amerikanische Form ein. Mubanga zeigt damit nicht nur, dass er die Kultur seiner Unterdrücker deuten und sich in ihr bewegen kann, sondern er bemächtigt sich ihrer, indem er sie – angereichert mit Koranzitaten und Halbsätzen arabischer Sprache in englischer Transkription – zu seiner eigenen macht. Er setzt sich damit sowohl von dem ab, wofür seine Wärter ihn als schwarzen Moslem mutmaßlich halten, als auch von seinem eigenen westlichen Kulturkreis und findet mit seinem englisch-arabischen Rap ein Medium, das wie er selbst die Lücke zwischen beiden Traditionen besetzt und zu einer völlig neuen Form gerät. Judith Butler hat in den Zitaten dieser Gedichte noch eine weitere wichtige Funktion erkannt: „Wenn ein Dichter spricht, ruft er eine ganze Geschichte von Sprechern auf und etabliert sie sogar, metaphorisch, als seine Gesellschaft.“298 Einerseits erhalten die Häftlinge durch ihre Gedichte ihre eigene Kultur und Tradition aufrecht, andererseits bewahren sie – in der Einsamkeit der Isolationshaft – ihre Gemeinschaft. In einem Gefängnis wie in Guantánamo, jenseits der Sicherheiten der Genfer Konvention und der Vereinten Nationen, darf beides als Akt des Widerstandes und des Selbsterhalts gewertet werden. Eine Einschätzung, die offenbar auch die USAmerikanische Militärführung teilt: Laut den an der Entstehung des Gedichtbandes beteiligten Anwälten untersagte das Pentagon die Veröffentlichung eines Großteils der Gedichte, „arguing, that poetry ‚presents a special risk‘ to national security because of its ‚content and format‘“. 299 Worin aber sollte diese Gefahr bei streng zensierten Gedichten liegen, wenn nicht in dem gemeinschaftsstiftenden Element und Potential zur Solidarisierung, die mit einer Publikation auch über die Mauern der Haftanstalt hinausreichen mögen?

Tonträgers) erweitert. Berlatsky, Noah: Facts about Rap Music, in: Ders. (Hg.): Rap Music, Detroit u. a. 2013, S. 109-113, hier: S. 109. 297 Rose, David: How I entered the hellish world of Guanatánamo Bay, in: The Observer, 06. 02. 2005, S. 4. 298 Butler, Judith: Krieg und Affekt, hrsg. u. übers. von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker, Zürich und Berlin 2009, S. 46. 299 Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 4.

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Ein wiederkehrendes Element in den Gedichten ist die Beschwörung von Bruderschaft – der Aufruf zu Gemeinschaft und Solidarität. Ein Beispiel, anhand dessen dies besonders deutlich wird, ist Othman Abdulraheem Mohammads Gedicht I am Sorry, my Brother: „I am sorry, my brother. The shackles bind my hands. And iron is circling the place where I sleep. I am sorry, my brother, That I cannot help the elderly, or the widow, or the little child. Do not weigh the death of a man as a sign of defeat. The only shame is in betraying your ideals And failing to stand by your beliefs.“300

Das Gedicht setzt ein mit einer Entschuldigung an die Gemeinschaft, deren Anforderungen das lyrische Ich aus der Haft heraus nicht gerecht werden kann. In den letzten Versen aber entwickelt sich diese Entschuldigung zu einem Appell an ebendiese Gemeinschaft, sich und den eigenen Überzeugungen treu und dem oder den Gefangenen solidarisch verbunden zu bleiben, auch über deren Tod hinaus. Die Dichtung wird zu „Zeugnis und Appell – jedes Wort ist letztlich an andere adressiert“.301 Das bereits in Auszügen zitierte Gedicht von Sami al Haj erfüllt beide Funktionen geradezu prototypisch: Wie bereits erwähnt zählen die ersten 20 Verse mit nüchterner Distanz die Versuche auf, das lyrische Ich zu demütigen – „The oppressors are playing with me“.302 Die Verse 23 und 24 stellen dann eine Warnung an den damaligen Präsidenten der USA dar, die zugleich ein Auf- und Anruf der Weltgemeinschaft ist:

300 Mohammad, Othman Abdulraheem: I am Sorry my Brother, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 54. 301 Butler, Judith: Krieg und Affekt, hrsg. u. übers. von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker, Zürich und Berlin 2009, S. 48. 302 Al Haj, Sami: Humiliated in the Shackles, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 42-43, hier: S. 42.

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„Bush, beware. The world recognizes an arrogant liar. “303

Dieser politische Appell und die Klarheit der Verse zerfallen jedoch in der Folge in den bereits zitierten Zweifel an der Fähigkeit, unter den erlebten Umständen überhaupt dichten zu können. Auf das Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit und Schwäche folgt ein Appell an Gott, mit dem das Gedicht endet: „Lord, unite me with my son Mohammed. Lord, grant success to the righteous.“304

Durch die Appelle, insbesondere jene, die sich an die Weltgemeinschaft oder politische Instanzen wenden, werden die Gedichte zu Versuchen, die Sozialität und Solidarität über die Gefängnismauern hinaus auszuweiten, beziehungsweise „die Sozialität der Welt wiederherzustellen“. 305 Auch als Zeugnisse bleiben die Gedichte Appelle an eine Welt außerhalb des Gefängnisses – sie sind die Aufforderung wahrzunehmen, was sich hinter den Mauern der Haftanstalt verbirgt; insbesondere dort, wo sie – Trauma und Zensur geschuldet – vage bleiben. Über den Appell, also die Wiederherstellung der Gemeinschaft innerhalb und außerhalb des Gefängnisses, zumindest in der Fiktion des Gedichts, gelingt auch die Wiederherstellung des Subjekts als sprechendem. Es erschafft sich als lyrisches Ich, das appelliert, zitiert und Zeugnis ablegt und damit dem Schweigen der Isolationshaft und der Unsagbarkeit des eigenen Traumas entgeht. Dass es sich bei dieser Form des Dichtens und bei den entsprechenden Selbstentwürfen als lyrisches Ich um quasi physische Akte handelt, zeigt die verzweifelte Frage, die Shaikh Abdurraheem Muslim Dost nach seiner Entlassung, bei der man ihm nahezu all seine Texte abnahm, an einen Journalisten richtete: „Why did they give me a pen and paper if they were planning to do that?“ Und er erklärt: „Each one was like a child to me – irreplaceable.“306 Die Gedichte 303 Ebd., S. 43. 304 Ebd. 305 Butler, Judith: Krieg und Affekt, hrsg. u. übers. v. Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker, Zürich und Berlin 2009, S. 49. 306 Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 42-43, hier: S. 4.

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stehen für das eigene Fleisch und Blut und gleichzeitig für genealogischen Fortbestand. Was erfahren wurde, soll weitergegeben werden, der geschundene Körper, der in und hinter den Worten liegt, soll fortbestehen und buchstäblich fort-gezeugt, das Wissen um den Körper im Gedichtkörper soll weitergegeben werden. Ariel Dorfman greift im Nachwort des Bandes zu einer Metapher, die die unmittelbare Verschränkung dieser Gedichte mit dem Körper des Gefangenen und seinen Lebens- beziehungsweise Überlebensfunktionen fasst: „What I sense is that the ultimate source of these poems from Guantánamo is the simple, almost primeval, arithmetic of breathing in and breathing out. […] And the written word is nothing more than the attempt to make this breath permanent and secure, carve it into rock or mark it on paper or sign it on a screen, so that its cadence will endure beyond us, outlast or breath, brake the shakles of solitude, transcend our transitory body and touch somenone with its waters.“307

Der Prozess des Dichtens selbst wird zur lebenserhaltenden Maßname, die über den möglichen Tod des Einzelnen hinausreicht. Der Körper, der in der Folterhaft permanenter Vernichtung ausgesetzt ist, atmet sich buchstäblich in das Gedicht und vermag dort zu bestehen – wenn auch nicht fortzubestehen als jener, der er vor der Folter war. Gleichzeitig verweist auch Dorfman auf die Gemeinschaftsstiftung, die diese Gedichte leisten; nicht nur zwischen Häftlingen untereinander, sondern auch zwischen Häftlingen und Folterern – zumindest jenen, möchte man hinzufügen, die jene Poesie zu atmen vermögen: „Poetry as call to those, who breath the same air to also breath the same verses, to bridge the gap between bodies and between cultures and between warring parties.“308 Es ist der „geteilte Atem“, der an sich schon zum Appell, zum Hinweis wird auf den Menschen im Gefolterten wie im Folterer – der atmende Körper selbst wird somit laut Butler zum Aufruf: „Sobald der Atem in Worte

307 Dorfman, Ariel: Where the Buried Flame Burns, in: Falkoff, Marc (Hg.): Poems from Guanatánamo. The Detainees speak, Iowa 2007, S. 69-72, hier: S. 71. 308 Ebd.

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gebracht ist, überlässt sich der Körper in Form des Appells einem anderen.“309 Der hier erfolgte kursorische Durchgang durch den Band mit Poems from Guantánamo kann den Gedichten nicht gerecht werden und endet an dieser Stelle an einem sehr vorläufigen Punkt. Viele sind von einer Qualität und Komplexität, die eine eingehende literaturwissenschaftliche Beschäftigung rechtfertigen, und es steht zu hoffen, dass diese Auseinandersetzungen – auch jenseits von sozial- und politikwissenschaftlichen Ansätzen – noch folgt. Noch hat die knappe Vorstellung des Bandes anhand weniger Beispiele in erschöpfendem Maße gezeigt, welche Formen das Sprechen – das meist zugleich auch ein Schweigen ist – über Folter annehmen kann. Und dennoch taucht in den Gedichten auf, was mir zentral scheint für das Erzählen von und um Folter, weshalb sie mir eine geeignete Hinführung auf die folgenden Kapitel zu sein scheinen. Es ist einerseits ein präzises und zugleich ausweichendes Erzählen (im Fall der Poems „Dichten“) und es ist andererseits schöpferisches Erzählen in doppelter Hinsicht: Nicht nur ist der gefolterte Erzähler Schöpfer seines Textes, in dem der Rückgriff auf Bilder, Metaphern, Parallelerzählungen buchstäblich unerschöpflich scheint und oft die einzige Möglichkeit darstellt, überhaupt Worte für das Unsagbare zu finden. Der Erzähler – Dichter – ist auch der Schöpfer seiner selbst im Textkörper. Er stellt sich buchstäblich her – ob dieses Herstellen auch ein Wiederherstellen ist, muss zunächst offen bleiben. Die folgenden Kapitel werden einige der angesprochenen Aspekte wiederaufgreifen und weiterführen. Zunächst möchte ich mich aber einem der zentralen Widerstände im Erzählen von Folter widmen – dem Schmerz.

309 Butler, Judith: Krieg und Affekt, hrsg. u. übers. von Judith Mohrmann, Juliane Rebentisch und Eva von Redecker, Zürich und Berlin 2009, S. 49.

2. Unsagbare Schmerzen: Zu den Möglichkeiten der Repräsentation von Schmerz

„Der Schmerz war, der er war.“310 Dieser Satz aus Jean Amérys bereits mehrfach erwähntem Aufsatz Die Tortur trifft eine Kernaussage über den Schmerz: Es kann über ihn gesprochen werden, mitgeteilt werden aber kann er nicht. Was Améry seinen Lesern zu verstehen geben kann, ist lediglich, dass Schmerz war, nicht jedoch, wie er war. Folgerichtig verspricht er auch eine „Analyse der Tortur“,311 also eine faktenbasierte Lektüre der Ereignisse, die er in nüchtern-wissenschaftlicher Manier mit der etymologischen Herleitung des Wortes ‚Tortur‘ beginnt. Der zitierte Satz und Amérys Aufsatz führen uns mitten hinein in die Kernproblematik der Auseinandersetzung mit dem Schmerz. Der Text Amérys soll dieses Kapitel daher grundieren – ich möchte dabei sowohl seine poetologischen Implikationen in Hinblick auf die Rede über den Schmerz und insbesondere über den Folterschmerz berücksichtigen, als auch die Bedeutung des Aufsatzes als Text eines gefolterten Subjektes, das um eine Sprache ringt, in der das Erlebte mitteilbar ist. Dass der Text Amérys dabei in jeder Hinsicht eine Zwischenposition bekleidet, ist mir bewusst. Die Bewältigungsversuche eines Überwältigten, so der Titel des Sammelbands, in dem Die Tortur 1966 erstmals veröffentlicht wurde, beziehen sich auf Ereignisse während des Unrechtre310 Améry, Jean: Die Tortur, in: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Stuttgart 1977, S. 63. Im Folgenden: Améry, Tortur. 311 Ebd.

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gimes des Naziterrors. Dennoch ist der Text Amérys kein paradigmatischer Text im Sinne der Holocaust-Zeugenschaft.312 Vielmehr entwirft Améry auf der Grundlage seiner Erfahrungen eine Theorie zu Folterschmerz und Foltertext, die Folter meines Erachtens keineswegs als spezifische Praxis eines konkreten Regimes zu einer konkreten Zeit betrachtet, sondern versucht, sie als Phänomen zu begreifen. Amérys Aufsatz selbst erlangte daher paradigmatische Bedeutung für das Sprechen und Schreiben über Folter und soll im Folgenden deshalb auch in diesem Kapitel näher betrachtet werden. Daneben werde ich den Roman Waiting for the Barbarians von J. M. Coetzee, erneut Ariel Dormans Drama aber auch einen Text des antiken Dichters Lucian von Samosata in die nachstehenden Überlegungen zum Schmerz miteinbeziehen. Zunächst möchte ich jedoch einige Bemerkungen vorausschicken: Dass die Beschäftigung mit Foltererzählungen eine intensive Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Schmerz‘ beinhaltet, erscheint kaum erklärenswert. In unserer Vorstellung ist der Schmerz der Kern des Foltergeschehens, er ist es, der die Dynamik der Folter in Gang bringt und bereits ihre aus einer Drohung resultierende Vorstellung grausam genug erscheinen lässt, dass diese Drohung als strafwürdig erachtet wird. 313 In der Definition von Folter im ersten Artikel der UNO-Erklärung über den Schutz aller Personen vor Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1975 heißt es: „Unter Folter im Sinne dieser Erklärung ist jede Handlung zu verstehen, durch die einer Person durch einen Träger staatlicher Gewalt oder auf dessen Veranlassung hin vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zugefügt werden.“314

312 Ich habe mich mit diesen Texten und ihren spezifischen narrativen Paradigmen bereits in meiner 2008 erschienen Magisterarbeit Der Zeugenschaftsbegriff in der literarischen Holocaust-Debatte beschäftigt. 313 Dies zeigt beispielsweise die Richterentscheidung im Falle Wolfgang Daschners, der dem Kindesentführer Magnus Gäfgen androhte, ihm Schmerzen zufügen zu lassen. Vgl. I. 1 Einleitung. 314 Zit. nach: Kümmel, Jesco: Nötigung durch Folter. Eine rechtliche Betrachtung der Folter als Mittel der Gefahrenabwehr unter besonderer Berücksichtigung des Nötigungstatbestandes, Frankfurt a.M. 2008, S. 52.

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Diese Definition beschreibt den Schmerz nicht nur als essenziellen Kern der Folterhandlung, sondern sie zeigt noch einen weiteren Punkt, zu dem es hier gilt, Stellung zu beziehen: Im Diskurs über den Schmerz ist die Unterscheidung zwischen körperlichem und psychischem – auch: seelischem oder geistigem – Schmerz marginal oder findet schlichtweg nicht statt. Die aktuelle Forschungsliteratur aber auch juristische oder politische Texte beziehen entweder beide Bereiche schweigend in die Rede von ‚dem Schmerz‘ mit ein oder nennen beide unterschiedslos im selben Sinnzusammenhang. Einige Autoren verwahren sich sogar explizit gegen eine Differenzierung: David B. Morris bringt sein Unverständnis für die Frage, ob er sich in seiner Monografie Geschichte des Schmerzes/The Culture of Pain (1991) mit physischem oder psychischem Schmerz auseinandersetze, deutlich zum Ausdruck und etikettiert die Unterscheidung als „Mythos“. Er sei überzeugt, „daß die moderne Zivilisation auf einem unterschwelligen Glauben ruht, der uns mit der Macht eines Mythos umfängt. Nennen wir ihn den Mythos der zwei Schmerzen. Wir leben in einer Zeit, in der viele Menschen die unreflektierte Grundvorstellung haben, daß Schmerzen in zwei Arten auftreten: physisch und psychisch.“315

Als Hauptanliegen seines Buches beschreibt Morris daher, „den Glauben an eine künstliche Aufspaltung des menschlichen Schmerzempfindens in die beiden unabhängigen Kategorien physisch und psychisch zu untergraben“.316 Diese Verweigerung gegenüber einer Unterscheidung wurde in der Folge von zahlreichen Autoren übernommen – so verweist Roland Borgards zwar auf die Unterscheidung der beiden semantischen Bereiche von ‚Schmerz‘ im Film, wo mit jeweils unterschiedlichen darstellerischen Mitteln gearbeitet werde, er selbst nimmt diese Unterscheidung in seiner Einführung zum Thema Schmerz und Erinnerung (2005) jedoch nicht vor. 317 In psychotherapeutisch beeinflussten oder ausgerichteten Auseinandersetzun-

315 Morris, David B.: Geschichte des Schmerzes, Frankfurt a.M. u. a. 1994, S. 19. Im Folgenden: Morris, Schmerz. 316 Ebd., S. 20. 317 Borgards, Roland: Schmerz/Erinnerung. Andeutung eines Forschungsfeldes, in: Ders. (Hg.): Schmerz und Erinnerung, München 2005, S. 9-24, hier: S. 23.

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gen mit dem Thema tritt physischer Schmerz dann sogar gänzlich in den Hintergrund. Die US-amerikanische Poetin und Literaturwissenschaftlerin Judith Harris zieht in ihrer Monografie Signifying Pain (2003), in der sie der Frage des heilenden Effekts der schriftstellerischen Auseinandersetzung mit Schmerzerfahrungen nachgeht, erst gar nicht in Betracht, dass auch physischer Schmerz mit dem Titelbegriff gemeint sein könnte.318 Wolfgang Sofsky beobachtet ebenfalls, dass in der Literatur, dort, wo sie von „Leiden“ spricht, meist von Seelenpein die Rede ist. Den Grund dafür sieht er schlicht darin, dass sich „der Körper im Schmerz […] der sprachlichen Repräsentation“ sperrt.319 Lediglich Elaine Scarry, deren systematische Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Schmerz‘– The Body in Pain (1985) – deutlich vor den zuletzt genannten Werken datiert, bezieht sich in erster Linie und überwiegend auf körperlichen Schmerz. Laut Scarry ist es gerade die körperliche Reaktion auf Schmerz, die unmittelbar zu „sprachliche[m] Unvermögen“ führt.320 Nicht zuletzt der Schrei verhindert Sprache. Ungeachtet der Tatsache, dass Scarry in den vergangenen Jahren in vielen Punkten ergänzt und in einigen sicher auch überholt wurde, möchte ich, was den Gegenstand dieses Kapitels angeht, wieder zu ihr zurückkehren. Ich teile die Auffassung der meisten Autoren seit den 1990er Jahren, die Unterscheidung von physischem und psychischem Schmerz sei unnötig, entschieden nicht. Im Folgenden meint Schmerz ‚physischen Schmerz‘. Dort, wo von psychischem Schmerz die Rede ist, wird dieser auch so benannt. Ich möchte nicht in Abrede stellen, dass die Bezeichnung psychischen Leidens als ‚Schmerz‘ einer gut begründbaren Logik folgt, zumal die Konsequenzen, insbesondere das Sprachversagen in der Auseinandersetzung mit den traumatischen Ereignissen, einander ähneln. Ich bezweifle selbstverständlich nicht, dass Menschen mit seelischen Traumata körperlich leiden. Und dennoch scheinen mir diese Beobachtungen und Beschreibungen im Bereich von Psyche und Geist abgeleitet von jenen des körperlichen Schmerzes. Im Bereich der Psyche fungiert der Begriff „Schmerz“ geradezu als Metapher für etwas, das nicht einmal mehr der Affekt des Schreis zu repräsentieren vermag und

318 Vgl. Harris, Judith: Signifying Pain. Constructing and Healing The Self Through Writing, Albany 2003. 319 Sofsky, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M. 1996, S. 67. 320 Scarry, Schmerz, S. 21.

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dessen Darstellung daher noch aussichtsloser erscheint als jene des gequälten Körpers. Dies zeigt beispielsweise auch Arne Scheuermanns Untersuchung des dramaturgischen Einsatzes von Schmerz im Film: Hier diene der Körperschmerz häufig als Metapher für den ansonsten unsichtbaren Seelenschmerz.321 In der Folter wird es überdeutlich – es ist der Körperschmerz, der jeder weiteren Verletzung vorangeht. Selbst in der verletzenden Folterdrohung, in der Destruktion durch Angst, die bereits zum Bestand der Folter selbst gehört, ist der Schmerz der Motor: Indem er erahnt wird, wird das mögliche körperliche Leiden vorweggenommen, ohne dass der Körper auch nur berührt wurde. Und doch ist es die physische Versehrung, die droht und die psychische erst möglich macht. Auch das Trauma, das die Psyche des gefolterten Subjekts erleidet, ist die Folge der Schmerzerfahrung und der Auslieferung im und an den Schmerz: Zum körperlichen Schmerz „tritt die Erwartungsangst hinzu, die langsam aber sicher die mentale Widerstandskraft des Opfers zerstört.“322 Wer Körperschmerz erleidet, erlebt unbestreitbar anderes, als jener, dessen Psyche leidet. Jenes Erleben, das in der Erzählung repräsentiert wird oder vielmehr nicht repräsentiert werden kann, ist schlicht ein anderes. Hinzu kommt selbstverständlich das anschließende psychische Leid, das die Rede von der erlittenen Qual zusätzlich unmöglich macht. Ein weiterer Hinweis ist an dieser Stelle angebracht: In den folgenden Ausführungen geht es ausschließlich um negative Schmerzerfahrungen. Unbestritten gehören Lust- und Wonneschmerz zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit der Thematik. Schmerz ist beispielsweise „ein fester Bestandteil des ästhetischen (Un-)Wertekanons […] der schwarzen Romantik“323 oder wird, wie etwa in Friedrich Nietzsches Götzen-Dämmerung, als 321 Scheuermann, Arne: Schmerz und Affekttechnik. Versuch über die dramaturgischen Bedingungen von Schmerz im populären Film, in: Borgards, Roland (Hg.): Schmerz und Erinnerung, München 2005, S. 245-257, hier: S. 253. 322 Le Breton, David: Schmerz und Folter. Der Zusammenbruch des Selbst, in: Karin Harrasser, Thomas Macho und Burkhardt Wolf (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 227-242, hier: S. 230. 323 Christians, Heiko: Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen, Berlin 1999, S. 192. Im Folgenden: Christians, Über den Schmerz.

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eine Art Kultschmerz gar zum „Heiligtum“ erhoben.324 Auch die Erotisierung des Schmerzes oder jener schwer einzuordnende Schmerz als „mark of elite masculinity“,325 beispielsweise in Laienbruderschaften der frühen Moderne bis in das 18. Jahrhundert hinein, sind aus einem umfassenden Schmerzdiskurs und -verständnis nicht wegzudenken. Doch steht die Auseinandersetzung mit diesem Diskurs hier im Dienst, den Mechanismus der Folter und der Rede von ihr verständlich zu machen. Eine Annäherung an Phänomene wie die zuletzt aufgeführten, hätte selbst an Schnittstellen wie beispielsweise den Texten des Marquis de Sade keine erhellende Funktion für jene Texte und Zusammenhänge, die Gegenstand dieser Arbeit sind. Der medizinische Schmerzdiskurs wird hier ebenfalls nur am Rande eine Rolle spielen – die neurologischen Grundlagen des Schmerzes erscheinen mir für die Rede des Opfers über ihn nur von sehr eingeschränkter Bedeutung. „Der Schmerz war, der er war.“ Noch einmal: Schmerz gilt als nicht kommunizierbar. Dies ist beinahe schon ein Allgemeinplatz, dennoch soll hier zunächst der Frage nachgegangen werden, warum dies so ist. Denn: Schmerz teilt sich dennoch mit – auch hier stellt sich die Frage: Wie? Zunächst gilt es, eine simple Beobachtung festzuhalten. Der Schmerz ist – immer – an einen und zwar einen bestimmten Körper gebunden. Ein spezifischer Schmerz ist weder übertragbar noch teilbar. Wer seinem Gegenüber zufügt, was er selbst erleidet, leidet darum nicht weniger und das Gegenüber leidet auf seine eigene Art, nicht auf meine. In den Worten Elaine Scarrys ist der Schmerz wohl auch deshalb so widerwärtig, „for it achieves its aversiveness in part by bringing about, even within the radius

324 Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung. Was ich den Alten verdanke, in: Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe in 15 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari, Bd. 6, München 1988, S. 159; vgl. zu Nietzsches Darstellung des Gebärschmerzes als Schaffensprozess: Hermann, Iris: Gewalt als Schmerz, in: Grimminger, Rolf (Hg.): Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität, München 2000, S. 43-61, hier: S. 50. 325 Silverman, Lisa: Tortured Subjects. Pain, Truth, and the Body in Early Modern France, Chicago 2001, S. 129.

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of several feet, this absolute split within one’s sense of one’s own reality and the reality of other persons“.326 Schmerz ist radikal subjektiv, ohne eine Chance auf Objektivierung. Für Morris ist Schmerz „vielleicht ein Archetypus der Subjektivität“. 327 Jede Schmerzerfahrung ist eine durch und durch individuelle Erfahrung, da sie an einen individuellen Körper gebunden ist. Der Körper und das an ihn gebundene Gefühl lassen sich für andere nicht öffnen. Die Unmöglichkeit der Teilhabe führt dazu, dass die Schmerzerfahrung eine einsame Erfahrung ist.328 Wer Schmerzen erleidet, erleidet sie allein – Beistand anderer ist immer äußerlich und oft genug hilflos, was die Beurteilung der Ereignisse angeht: Schmerz ist nur in seinen Konsequenzen sichtbar, in der Verzerrung, die er dem Körper abringt, in dem Blut, das aus der Wunde läuft oder in der Kraftlosigkeit, die den geschundenen Körper zeichnet. Wo diese Körperzeichen ausbleiben, weiß ich nichts von ihm. „So präsentiert der Schmerz sich uns als etwas Nichtkommunizierbares, das einerseits nicht zu leugnen, andererseits nicht zu beweisen ist.“329 Darius Rejali greift in seiner geradezu monumentalen Untersuchung zu Torture and Democracy (2007) diesen Aspekt aus Scarrys Argumentation auf, um ihn zu spezifizieren, aber auch zu korrigieren: „Scarry is right to draw attention to the importance of expression in torture, but this book distinguishes more carefully between different kinds of inexpressibility that follow from torture.“330 Laut Rejali ist auch das Körperzeichen ein Ausdruck, vor allem ein politisch relevanter Ausdruck von Schmerz. Tatsächlich sei das Opfer nur dort zur totalen Ausdruckslosigkeit verurteilt, wo die Folter keine Spuren auf dem Körper hinterlässt – dies sei, so Rejalis zentrale These, insbesondere in Demokratien der Fall. Die eigentliche Entzweiung verläuft laut Rejali also nicht zwischen „brain and tongue, but between victims and their communities“,331 die das Opfer nur als solches wahrnehmen, wenn es Zeichen trägt, die für es als Opfer sprechen. Ein zeichenloser, gefolterter Körper ist in der Tat sprachlos.

326 Scarry, Schmerz, S. 4. 327 Morris, Schmerz, S. 26. 328 Vgl. ebd. S.58. 329 Scarry, Schmerz, S. 12. 330 Rejali, Darius: Torture and Democracy, Princeton 2007, S. 31. 331 Ebd.

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Das leidende Subjekt wird, dafür spricht auch Rejalis Spezifikation der Thesen Scarrys, auf den leidenden Körper, dem es nicht entkommt, reduziert. Schmerz lässt sich für den Leidenden nicht wegdiskutieren, nicht leugnen, oder verheimlichen. Schmerz lässt daher das Verhältnis des Subjekts zu sich selbst prekär werden. Er „zerstört die vom Menschen gelebte Einheit“.332 Es verwundert nicht, dass die Identität des von starken Schmerzen Heimgesuchten in Gefahr ist. Der schmerzbedingten Entfremdung zwischen Subjekt und Welt werde ich mich noch einmal ausführlich widmen, da sie zu den Kernerfahrungen des Gefolterten zählt. Zunächst ist festzuhalten: Physischer Schmerz ist an den Körper in anderer Weise gebunden als beispielsweise ein Gefühl wie Liebe oder Angst. Der Körper ist der alleinige Träger des Schmerzgefühls – von ihm geht sein Anfang und geht sein Ende aus. Es ist die Fixierung an einen Körper, die jede Form der Verbalisierung unzureichend erscheinen lässt: „Wir können nicht anders, als Metaphern zu finden, um uns dem Phänomen Schmerz zu nähern.“ 333 Die Sprache trennt den Schmerz von seinem Körper und verändert damit sein Wesen, sie kann ihm also nicht gerecht werden. Schmerz existiert einzig als Erlebnis. Das heißt, „[d]er Schmerz ist im Augenblick seiner Schilderung eine Konstruktion, ist immer nur als Text kommunikabel.“ 334 Und auch als Text bleibt er voraussetzungsreich, wie sich zeigen wird. So heterogen über das Phänomen Schmerz in manchen Punkten diskutiert wird – was seine „Sprachresistenz“ betrifft, herrscht Einigkeit. Scarry geht in diesem Punkt sogar noch einen Schritt über den Konsens der Debatte hinaus: Der Schmerz entziehe sich nicht nur der Sprache, er zerstöre sie gar. 335 Hier gilt es eine wichtige Unterscheidung zu treffen. Die Sprache scheitert am Schmerz in zweifacher Hinsicht: Einerseits kann sie ihm nicht gerecht werden, andererseits äußert sich der Schmerzaffekt im unartikulierten Schrei, der der Sprache keinen Raum lässt. Wer schreit, kann nicht sprechen. Auch dem Schrei möchte ich mich im Folgenden widmen. Zunächst aber will ich durch die Darstellung einer Diskussion, die meines Erachtens für das Erfassen der Möglichkeiten der Repräsentation von

332 Le Breton, David: Schmerz. Eine Kulturgeschichte, Zürich u. a. 2003, S. 21. 333 Morris, Schmerz, S.9. 334 Christians, Über den Schmerz, S. 20. 335 Scarry, Schmerz, S. 6.

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Schmerz sehr erhellend ist, einen Blick darauf werfen, wie sich uns Schmerzen – insbesondere in fiktionaler Literatur – überhaupt mitteilen. Auch Heiko Christians – einer der Teilnehmer der Debatte, die sich in den vergangenen Jahren mit dem Schmerz auseinandersetzt – ist überzeugt, „[w]as in ganz verschiedenen Bereichen über den Schmerz berichtet wird, folgt ausnahmslos einer bestimmten Metaphorik, die auf den ersten Blick schon eine auffällige Nähe zu den Topoi der Hermeneutik aufweist“. Um diesen Umstand nachvollziehbar zu machen, bedient sich Christians selbst einer aussagekräftigen Metapher: jener des Risses.336 Es ist nicht nur der Schrei, der – analog zur Verletzung der Physis – die Einheit des Menschen zerschlägt, sondern entsprechend begegnet auch in der Sprache der Schmerz „im sehr beschränkten rhetorischen Repertoire irgendwo zwischen Aposiopese und Anakoluth […]“.337 Dieser Riss gibt den Blick frei auf einen Menschen, der uns in seiner Leidentstellung erneut nur als Metapher begreifbar wird: Es ist das „Tier im Menschen“,338 das wir sehen. „An dieser Geschichte der Entblößung, die genau dann eine Geschichte der Schöpfung wird, wenn das Nackte, Unbedingte, Ursprüngliche als das Andere Konjunktur hat, schreibt der Schmerz mit und sichert sich so viele Privilegien.“339

Was der Schmerz uns aber selbst in diesem „beschränkten rhetorischen Repertoire“ mitteilt als „einzige evidente Äußerung“, ist „seine Fähigkeit zu zerreißen“.340 Nichts anderes schien bereits Scarry zu beschreiben: Mit der Auflösung der Sprache des Gefolterten entsteht ein Riss zwischen ihm und der Welt. 341 Ist also tatsächlich alles, was wir über den Schmerz sagen können, dass wir nichts über ihn sagen können – „der Schmerz war, der er war“ und der Mensch wird in ihm zum sprachlosen Tier?

336 Christians, Über den Schmerz, S.9. 337 Ebd., S. 20. 338 Ebd., S. 23. 339 Ebd., S. 23f. 340 Ebd., S. 131. 341 Scarry, Schmerz, S. 57.

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Helmut Lethen pflichtet dem Konsens von der „Sprachnot“342 in der Rede über den Schmerz – Christians ist nur einer in einer langen Reihe, der diesen Standpunkt vertritt – zunächst bei. „Was die überlieferten Formen der Darstellung betrifft, ist dieser Ansatz sicher schwer zu widerlegen.“343 Jedoch sucht Lethen, der dabei zunächst explizit der Argumentation und den Begrifflichkeiten Christians folgt, nach einer alternativen Lesart des von Christians diagnostizierten „begrenzten rhetorischen Repertoires“: Was, so fragt Lethen, wenn es gerade jener Riss durch den Körper, jene Lückenhaftigkeit und Unbeholfenheit der Sprache sind, die den Austausch über den Schmerz und sein Begreifen ermöglichen. „Ist auszuschließen, dass die Sprachformen deshalb so konstant sind, weil sie Empfindungen korrespondieren und deshalb imstande sind, Erfahrungen intersubjektiv abzugleichen?“344 Ist es also vielleicht die immer gleiche Erfahrung und Schilderung der Individualität, des Zurückgeworfenseins auf die reine und eigene Körperlichkeit, die überindividuell ist? Lethen schlägt damit nicht nur einen alternativen Schluss aus der Argumentation Christians und dessen Vordenker – allen voran Scarry – vor, sondern er stellt den literaturwissenschaftlichen Schmerzdiskurs damit in Gänze und in spektakulär einfachen Worten in Frage.345 Schmerz wäre repräsentierbar, er teilt sich uns – sinnvoll – in eben jenen Lücken, Satz- und Sinnbrüchen und dreifachen Punkten mit, in denen wir gewohnt sind, über ihn zu lesen. Es sind also dies die Formen, in denen wir uns über ihn austauschen können und ihn verstehen, soweit wir

342 Lenz, Siegfried: Über den Schmerz, in: Ders. (Hg.): Über den Schmerz. Essays, München 2000, S. S. 7-29, hier: S. 15. 343 Lethen, Helmut: Die Evidenz des Schmerzes, in: Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel (Hg.): Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 674 (2005), S. 491-503, hier: 501. 344 Ebd. 345 Eher am Rande und unter Bezug auf das Wittgensteinsche Sprachspiel kommt beispielsweise auch Ralf Schnell zu einem ähnlichen Schluss wie Lethen: „Die Mitteilung der scheinbar privaten Empfindung Schmerz kann nur gelingen, weil über die Äußerungs- und Bestimmungsmöglichkeiten von Schmerz kontextuell und damit öffentlich Kontext und Konvention hergestellt werden.“ Schnell, Ralf: Gewalt der Sprache – Sprache der Gewalt, in: Weninger, Robert (Hg.): Gewalt und kulturelles Gedächtnis. Repräsentationsformen von Gewalt in Literatur und Film seit 1945, Tübingen 2005, S. 41-54, hier: S. 46.

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eben verstehen, ohne zu erleben. Ich möchte Lethens grundsätzlichem Verständnis von Aposiopesen, Anakoluths und Ellipsen in Schmerzensschilderungen folgen; nicht zuletzt, weil sonst die einzige verbleibende Möglichkeit für dieses Kapitel und letztlich diese Arbeit wäre, es bei Amérys vielzitiertem Satz bewenden zu lassen. Dies hieße dann aber auch konsequenter Weise, auf die Lektüre der Gedichte aus Guantánamo, der Berichte von Folteropfern auf der ganzen Welt und der fiktionalen Texte, die deren Schreibverfahren adaptieren, zu verzichten.

2.1 V OM M ENSCH

ZUM

T IER : D ER S CHREI

Ein einziges Schmerzzeichen gibt es, das den Körper verlässt: Dies ist der Schrei. Als unmittelbare Äußerung des Schmerzaffekts vermag er den Schmerz zu bezeichnen, ohne ihn zu symbolisieren. Der Schrei gibt dem Schmerz keine Bedeutung, er macht ihn lediglich hörbar, wie ihn der zuckende, sich windende Körper sichtbar macht. Der zuckende Leib und der Schrei – es sind dies die einzigen Zeichenverhältnisse, die zwischen „der Schmerzensäußerung und dem Leben bestehen“.346 Dass dem Schmerz durch Verbalisierung nicht beizukommen ist, haben wir bereits gesehen. Doch auch der Schrei erklärt nichts. Auch er zeigt – genau wie Amérys zitierter Satz – lediglich, dass der Schmerz ist, nicht aber wie. Der Schrei ist unfähig dem Schmerz eine Bedeutung zu geben, er hat daher „nie das letzte Wort“;347 es bedarf seiner Deutung, die jedoch nur im Text, in der Sprache, stattfinden kann, und sie ist dem Wesen des Schmerzes nicht eigen. Diese semantische Leere des Schreis, insbesondere als Affektzeichen des Folterschmerzes, thematisierte bereits der spätantike Dichter Lucian von Samosata. Kaum ein Text schildert die Problematik um die Undarstellbarkeit der Schmerzensäußerung derart pointiert, wie dessen fiktive Tyrannenrede Der erste Phalaris.348 Der Tyrann schickt seine Diener nach Delphi, damit diese

346 Borgards, Roland: Poetik des Schmerzes. Physiologie und Literatur von Brockes bis Büchner, München 2007, S. 27. 347 Ebd., S. 179. 348 Lucian von Samosata: Der erste Phalaris, in: Ders.: Sämtliche Werke, übers. und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von Christoph Martin Wieland, Bd. 6, Leipzig 1789, S. 303-318.

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das Volk von seiner Wohlgesinntheit überzeugen und dem Tempel einen Stier stiften, der Phalaris zuvor von einem Künstler als Geschenk überreicht wurde. Hinter dem Weihegeschenk verbirgt sich jedoch ein perfides Folterinstrument. Das Opfer wird in das mit Flöten ausgestattete Gerät eingeschlossen, woraufhin unter dem Bauch des künstlichen Stieres Feuer angezündet wird: „Natürlicher Weise wird die unausstehliche Marter dem Patienten ein entsetzliches Geschrei und Gebrüll auspressen; dieses aber wird vermittelst der Flöten zu einem dumpfen, aber so sanften und melodiösen Brüllen werden, daß man es eher für die Begleitung eines schönen Trauergesangs halten sollte, und so wirst Du, während jener gemartert wird, das Vergnügen haben, eine sehr angenehme Musik zu hören.“349

Phalaris – und dies sei hier nur am Rande bemerkt – lässt, erzürnt über den durch das Geschenk zum Ausdruck gebrachten Zweifel an seinem Gutmenschentum, den Künstler das Kunstwerk an dessen eigenem Leib vorführen. Die Anekdote wird dem Volk von Delphi mit dem Stier gleich mitgeliefert, der anstatt großzügige Opfergabe vielmehr Mahnung für jeden ist, der künftig gedenkt, an Phalaris guten Absichten zu zweifeln, und die als Rechtfertigung gedachte Rede beweist das Gegenteil der eigentlichen Absicht, nämlich die Grausamkeit des Tyrannen. Für unseren Zusammenhang aber zeigt Phalaris’ Rede vor allem Zweierlei:350 Der Schmerz selbst bleibt stumm, sogar im Schrei, da der Schrei

349 Ebd., S. 316. 350 Ähnliches ließe sich beispielsweise auch an W. G. Sebalds Roman Austerlitz (2001) und insbesondere den darin geschilderten Novelli-Szenen zeigen: „Die Reduktion des alphabetischen Codes in den Bildern Novellis auf den Buchstaben ‚a‘, mit dem in vielen europäischen Sprachen ein Schmerzlaut wiedergegeben wird, evoziert die Vorstellung, dass sich die ‚Welt‘ als symbolisches und praktisches Bezugssystem in einem übermächtigen Schmerzempfinden auflöst.“ Dubbels, Elke: Literarisches (Ver-)Sagen des Folterschmerzes, in: : Karin Harrasser, Thomas Macho und Burkhardt Wolf (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 221-226, hier: S. 223. Auch die 1985 erschienene Dystopie Brazil von Regisseur Terry Gilliam passt in diese Beispielreihe: Hier scheitert eine Sekretärin an der Aufgabe, aus einem Mitschnitt von einer Folterung ein Protokoll anzufertigen: Statt eines sinnvollen-

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keine Bedeutung mitbringt. Jedwede Bedeutung, die wir der Schmerzensäußerung verleihen, ist nachträglich und hat mit dem Schmerz selbst nichts zu tun. Anstelle eines Textes, in dem „[d]er Schmerz […] im Augenblick seiner Schilderung eine Konstruktion“ ist, um noch einmal Christians zu zitieren, können wir – mit der Überspitzung des antiken Textes ausgedrückt – genauso einer Melodie lauschen; über die Grausamkeit des Schmerzes und seines Verursachers vermag wenig ausgesagt zu werden. Durch die Verwandlung in eine „angenehme Musik“ erhält der Schrei einen Zweck jenseits aller semantischer Bedeutung. Die Musik bezeugt zwar den Schmerz, sagt aber nicht mehr über ihn, als dass er ist. Dieselbe Funktion hat der Schrei für den Folterer in der Folter: Der Schrei ist das sicherste Zeichen für ihn, dass sein Vorgehen Erfolg hat, dass er sein Opfer ganz in der Hand hat, indem er sieht, wie es gänzlich vom Schmerz vereinnahmt wird, wie es sogar jener Sprache, die es mit dem Folterer teilte, entledigt wird und Schritt für Schritt zum bloßen Körper wird. Zu einem, der nichts mehr mit seinen Folterern teilt. Der Gefolterte wird zu jenem Anderen, der zu sein ihm von den Folterern von Beginn des Übergriffs an unterstellt wurde. Mit dem Schrei, zu dem der Schmerz das Opfer nötigt, wird er seiner Sprache beraubt. Ihm bleibt „kein Ort mehr für Artikulationen, die dem Gefolterten als die eigensten, nicht der Folter unterworfenen erscheinen könnten. Der Schmerz und sein Indiz, der Schrei „fungieren als Hebel zur Etablierung absoluter Macht“.351 Was dem Folteropfer zur Artikulation bleibt, hat immer schon den „Enteignungs- und Transformationsmechanismus der Macht“ durchlaufen. Es ist nicht seine Sprache.352 „[T]orture (even if unconsciously) self-consciously and explicitly announces its own nature of an undoing of civilisation“353 – der Schrei, der der Sprache weder Luft noch Raum lässt, ist ein erstes Indiz für diesen Prozess der Zerstörung von Zivilisation. Wer schreit, kann seinen Schmerz

Textes mit Aussage entsteht eine unlesbare und undeutbare Reihe von Vokalen – die weder den Schmerz noch seine Bedeutung wiederzugeben vermögen. 351 Kramer, Sven: Folterschmerz und Literatur. Überlegungen im Anschluss an Texte aus dem 20. Jahrhundert, in: Karin Harrasser, Thomas Macho und Burkhardt Wolf (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 203-220, hier: S. 208. 352 Ebd. 353 Scarry, Schmerz, S. 38.

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nicht reflektieren, sich nicht mit Worten verteidigen – er hat Schmerzen und schreit sie heraus: „The person enters torture as a human being and is dragged out as an animal […].“354 In Lucian von Samosatas Tyrannenrede verleibt sich das Tier den Menschen buchstäblich ein. Der Rücken des Stieres wird aufgeklappt und das Opfer muss hineinsteigen.355 Der menschliche Schrei kommt – paradoxer Weise – als musikalischer Wohlklang aus den Nüstern des Tiers. Im Text fällt der Blick durch einen Schleier von Anakoluth, Aposiopese und ähnlichen rhetorischen Versuchen, dem Schmerzensschrei beizukommen, auf animalisches Gebrüll. Mit dem Schmerz benagt „das Tier die fragile menschliche Natur“.356 Die „Rhetorik des ‚Tiers‘ im Menschen“ durchbricht im Schmerz „die zivile Oberfläche der Ausdrucksbeherrschung“.357 In der Folter ist der Schrei mehr als ein symbolischer Code, der auf das große „Archiv der Schmerzdarstellungen“358 verweist. Der Schrei ist dem Folterer der endgültige Beweis, dass es kein Mensch ist, der vor Schmerzen brüllt, der diesem Schmerz keine Worte geben kann und nicht mehr jenseits dieses Schmerzes, jenseits seines schmerzenden Körpers existiert. Der Schrei des gefolterten Menschen rückt ihn in unendlich weite Entfernung von seinem Folterer, zeigt diesem, dass es nicht seinesgleichen ist, an den er Hand anlegt. Es ist ein Tier, das brüllt, es ist ‚der Andere‘, der schreit.

2.2 D IE Z ERSETZUNG

DER

W ELT

Zwar versucht Jean Améry gar nicht erst zu beschreiben, wie der Schmerz war, den er erlitt, um nicht verloren zu gehen „im hoffnungslosen Karussell

354 Vetlesen, Arne Johan: A Philosophy of Pain, London 2009, S. 15. 355 Lucian von Samosata: Der erste Phalaris, in: Ders.: Sämtliche Werke, übers. und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von Christoph Martin Wieland, Bd. 6, Leipzig 1789, S. 303-318, hier: S. 316. 356 Christians, Über den Schmerz, S. 20. 357 Lethen, Helmut: Die Evidenz des Schmerzes, in: Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel (Hg.): Merkur. Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 674 (2005), S. 491-503, hier: S. 500. 358 Ebd.

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der Gleichnisrede“,359 jedoch schildert er ausführlich seine Konsequenzen: „Wenn sich nun schon das Wie des Schmerzes der sprachlichen Kommunikation entzieht, so kann ich aber doch vielleicht annähernd aussagen, was er war.“360 Améry nimmt damit wesentliche Gedanken vorweg, die Elaine Scarry fast 20 Jahre später erneut formuliert. Eine dieser von Améry beschriebenen Konsequenzen des Folterschmerzes ist der Verlust dessen, was er „vorläufig das Weltvertrauen“ nennt.361 Scarry verwendet den etwas pointierteren Begriff „Weltverlust“ (unmaking of the world).362 Was mit dem Prozess des Weltverlustes im Schmerz beschrieben wird, hat mehrerlei Dimensionen, die sich bei den relevanten Theoretikern zum Thema im Kern jedoch gleichen: Es geht um die eigene Identität, es geht um soziale und lokale Räume, in denen wir uns bewegen und es geht um Macht. Gerade mit dem letzten Punkt möchte ich an die bereits vorangegangenen Ausführungen zum Thema Macht und Folter anschließen und diese um den hier zentralen Aspekt ‚Schmerz‘ erweitern. „Es gibt keinen körperlichen Schmerz, der nicht in die Beziehung des Menschen zur Welt hineinwirken würde. Nicht der Körper, sondern das Subjekt erleidet Schmerzen“, schreibt David Le Breton.363 Damit deutet Le Breton bereits an, dass der Grenzverlauf der Entzweiung – um hier nicht erneut die Riss-Metapher zu bemühen – zum einen natürlich zwischen dem Gefolterten und der ihn umgebenden Welt verläuft, zum anderen aber auch durch das Subjekt selbst. Mit der Reduktion auf den Schmerz und damit allein auf die körperliche Dimension seines Daseins verliert das gefolterte Subjekt entscheidende Teile seiner Identität und seines Selbstbewusstseins. Der Körper ist dem Schmerz und seinem Verursacher unterworfen, die Sprache wird im Schrei erstickt und dort, wo sie (wieder) zu artikulieren vermag, fehlen ihr die Worte. Was Améry als hoffnungslose „Gleichnisrede“ bezeichnet, heißt bei Scarry „Sprache der Agentschaft“ (language of

359 Améry, Tortur, S. 63. 360 Ebd. 361 Ebd., S. 55. 362 Scarry, Schmerz, S. 23. 363 Le Breton, David: Schmerz und Folter. Der Zusammenbruch des Selbst, in: Karin Harrasser, Thomas Macho und Burkhardt Wolf (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 227-242, hier: S. 227.

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agency).364 Der Schmerz ist nicht zu bezeichnen, sondern verliert sich in einer das Signifikat notwendiger Weise immer und immer wieder verfehlenden als-ob-Struktur.365 Auch sprachlich vermag das Subjekt weder sich, noch die Ereignisse, die sein Dasein im Schmerz bestimmen, zu erfassen. Jener Raum, den der Mensch nicht nur physisch, sondern auch „Kraft seiner Fähigkeit, Worte und Laute in die Welt zu setzen“ bewohnt und sich immer wieder aneignet, ist „in der Folter so gut wie abgeschafft“.366 Doch nicht nur die Grenzen dieses symbolischen Raums werden mit dem „ersten Schlag“, wie Améry beschreibt, verletzt. „Der Gefolterte hört nicht wieder auf, sich zu wundern, daß alles, was man je nach Neigung seine Seele oder seinen Geist oder sein Bewusstsein oder seine Identität nennen mag, zunichte wird, wenn es in den Schultergelenken kracht und splittert.“367

Mit der Versehrung der physischen Grundlagen der menschlichen Identität gerät diese entscheidend ins wanken. Hinzu kommt die Erfahrung, nicht geschont zu werden, ausgeliefert zu sein und keine Erwartungssicherheit gegenüber dem Mitmenschen zu haben: „Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Die Hautoberfläche schließt mich ab gegen die fremde Welt: auf ihr darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will.“368

Der Mitmensch wird zum „Gegenmensch“, der „mir seine eigene Körperlichkeit“ aufzwingt.369 Die körperliche Überwältigung wird, so Améry,

364 Scarry, Schmerz, S. 15. 365 Nur am Rande sei hier die Schmerzschilderung aus Jorge Semprúns Roman Die Ohnmacht / L`évanouissement erwähnt: Der Erzähler beschreibt den Schmerz zwar in der erwähnten „als-ob-Struktur“, der Vergleich seiner Beschreibung sind aber selbst Foltermethoden. Der Schilderung wird also ein „als-Ob“ zwischengeschaltet, das letztlich aber über den Umweg des uneigentlichen Erzählen bei den tatsächlichen Ereignissen ankommt, die als solche zu erzählen auf diesem Wege jedoch vermieden wird. 366 Ebd., S. 75. 367 Améry, Tortur, S. 73. 368 Ebd., S. 56.

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„dann vollends ein existentieller Vernichtungsvollzug, wenn keine Hilfe zu erwarten ist“.370 Der Auslieferung – physisch wie psychisch – ist dann nicht mehr zu entgehen. Sie ist komplett. Die bisherigen Konstanten seiner Lebenswelt – Vertrauen, Unversehrtheit und Kommunikation – werden dem Subjekt sukzessive entzogen. Kurz gesagt: Die Welt kommt ihm abhanden. Gleichzeitig aber wird auch das Subjekt durch die Reduktion auf seinen Körper und dessen physischen Raum zum Rückzug aus der Welt, aus dem symbolischen Raum, den es durch Sprache, Teilhabe an sozialen Prozessen und Interaktion mit dem Gegenüber bewohnte, gezwungen. Das Subjekt geht also auch der Welt verloren – die Entzweiung ist total. Im zweiten Teil dieses Buches habe ich bereits ausführlich dargelegt, warum es sich im Folterverhör immer nur um die Simulation von Macht im Rahmen eines durch und durch gewalttätigen Aktes handeln kann. Gewalt ist das Mittel, das Handeln und Selbstentwurf des Folterers ermöglicht. Was von den Tätern als Gewalt ausgeht, kommt beim Opfer als Schmerz, als Verletzung und psychische wie physische Versehrung an: „Schmerz ist sozusagen das universale Instrument der Gewalt. Gewalt braucht Schmerz oder droht damit, um sich durchzusetzen.“371 Der Schmerz ist die Achse, um die sich auch die Simulation von Macht dreht. Elaine Scarry spricht in diesem Zusammenhang von Machtfiktion: Es gehe in der Folter letztlich stets um die „[…] conversion of absolute pain into the fiction of absolute power in an obsessive, self-conscious display of agency“. 372 Indem der Schmerz den Leidenden und dessen Welt nach und nach zersetzt, weitet sich die Welt des Folterers aus. Er schreitet – Schritt für Schritt – in jenen Raum, aus dem der Gefolterte verdrängt wird. In dessen symbolischen, durch Sprache und Handlungsmöglichkeiten bestimmten, Raum ebenso wie in dessen physischen Raum. Das Ungleichgewicht zwischen Folterer und Gefoltertem verstärkt sich gewissermaßen exponentiell: „The absence of pain is a presence of world; the presence of pain is the absence of world. Across this set of inversions pain becomes power. […]The larger the prison-

369 Ebd. 370 Ebd., S. 57. 371 Morris, Schmerz, S. 257. 372 Scarry, Schmerz, S. 27.

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er’s pain (the smaller the prisoner’s world and therefore, by comparison) the larger the torturer’s world.“373

Nicht nur auf symbolischer Ebene vollzieht sich die Aneignung von Welt durch den Folterer. Es gehört häufig zum systematischen Kalkül von Folter, sie an scheinbar alltäglichen Orten stattfinden zu lassen. In J. M. Coetzees Waiting for the Barbarians werden beispielsweise ehemalige Lager- und Wohnräume zu Folterkammern umfunktioniert. Vor allem aber demonstrieren die Folterer häufig ihren Erfindungsreichtum, indem sie Alltagsgegenstände zu Folterwerkzeugen umfunktionieren. Nicht erst die folternden Soldaten von Abu Ghraib haben die Öffentlichkeit gelehrt, welche Art von brutalem Missbrauch sich mit Besenstilen begehen lässt, wie man das Ertrinken von Gefangenen in Anstaltsbadewannen simuliert oder sie in schmerzhaften sogenannten Stresspositionen an ihre eigenen Betten fesselt. „The room, both in its structure and its content, is converted into a weapon, deconverted, ondone. Made to participate in the annihilation of the prisoners, made to demonstrate that everything is a weapon, the objects themselves, and with them the fact of civilization, are annihilated: there is no wall, no window, no door, no bathtub, no refridgerator, no chair, no bed.“374

Die vertraute Welt richtet sich dadurch buchstäblich gegen den Gefangenen – auf Gegenstände und Orte ist kein Verlass mehr. Ebenso wenig wie auf Institutionen: Der Richter wird zum grausamen Handlanger des Systems, der Arzt, der Leben und Gesundheit bewahren soll, zum Optimierer der Gewaltakte. Die unmittelbare Um-Welt wird damit nicht nur zur elementaren Bedrohung, sondern es wird auch unmöglich, sie sprachlich zu erfassen: Wie heißt ein Besen, der zum Folterwerkzeug wurde? Alltagsgegenstände, die sich als Waffen gegen den Gefolterten richten, sind keine Alltagsgegen-

373 Ebd., S. 37. 374 Ebd., S. 41. Elaine Scarry zählt hier und auf den folgenden Seiten gestützt auf Berichte von Amnesty International im Detail auf, wie Folterer gezielt die zivile und vertraute Umgebung ihrer Opfer in unberechenbare Orte des Terrors verwandeln.

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stände mehr. Die Worte, die sie in der Alltagssprache bezeichnen, gehen zwangsläufig fehl.375 Im Schmerz, der nicht nur den Körper, sondern auch Psyche und Geist zersetzt, ist dem Leidenden jede Handlungsfreiheit genommen. Zumal im Folterschmerz, dem sich das Opfer nicht entziehen und den es nicht lindern kann, sind die einzigen Optionen: den Schmerz zu ertragen oder daran zugrunde zu gehen. Wie bereits ausführlich dargestellt, kann es sich seitens des Folterers mangels Handlungsalternativen des Opfers niemals um den Vollzug von Macht handeln – es ist der totale Zwang und damit absolute Gewalt, die über das Opfer ausgeübt wird. Der Folterer verfügt nicht nur über sein Opfer, sondern auch über dessen Welt und fingiert auf diese Weise totale Macht. Auch Jean Améry schildert, wie der Gefolterte die Ausdehnung des „Gegenmenschen“ in den eigenen Hoheitsbereich bis in den eigenen Körper hinein erlebt: „Mit ganzer Seele waren sie bei ihrer Sache, und die hieß Macht, Herrschaft über Geist und Fleisch, Exzess der ungehemmten Selbstexpansion.“376 Der so seiner selbst Beraubte kann nicht mehr zurückfinden in seine Welt und zu sich selbst. Es bleibt eine „durch keinerlei menschliche spätere Kommunikation auszugleichende Fremdheit in der Welt.“ 377 Améry bündelt diese Erkenntnis in jenem Satz am Ende seines Aufsatzes, der traurige Berühmtheit erlangt hat: „Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt.“378

375 Vgl. ebd., S. 83. Darius Rejali hat darauf hingewiesen, dass diese Art von Pervertierung der Alltagsgegenstände, die einen Folterhäftling umgeben, zunächst der Ökonomisierung der Folter entsprang: „Torturers often choose instruments that are available in the station house or in nearby enterprises (cattle prods from stockyards). In many cases torturers favor devices integrally linked to their routine duties, making it difficult to deprive them of it. Would you really deprive us of field telephones, gas masks and riot control sticks? In other cases they favor devices that are multifunctional, a tub or a hose.“ Rejali, Darius: Torture and Democarcy, Princeton 2007, S. 19. 376 Améry, Tortur, S. 67. 377 Ebd., S. 72. 378 Ebd., S. 73.

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Amérys eigenes Schreiben vermag seine „Fremdheit in der Welt“ zwar zu benennen, aber es kann ihr nicht beikommen. Die zitierten Zeilen lesen sich aus heutiger Perspektive wie eine Vorwegnahme des Suizids ihres Verfassers.379

2.3 V ERSUCHE ZU EINER H ERMENEUTIK DES S CHMERZES Dass und warum die Darstellung, insbesondere die literarische Darstellung, von Schmerz problematisch ist, sollte anhand der vorangegangenen Beispiele nachvollziehbar geworden sein. Wir können jedoch nicht leugnen, dass Schmerz und eben auch Folterschmerz dennoch in zahlreichen literarischen und ästhetischen Zusammenhängen thematisiert wird – auch das zeigen die bisher angeführten Beispiele. Die folgenden Seiten sind daher der Frage gewidmet, wie wir den literarischen Schmerz(-diskurs) deuten und welche poetologischen Implikationen er für die jeweiligen Texte hat. Schmerz ist ein Erkenntnisgegenstand und dies nicht nur für den Leser der Textlücken, in denen der Blick auf ihn frei wird, sowie den Beobachter des Diskurses um den Schmerz und dessen Geschichte, sondern für das Schmerzen leidende Subjekt selbst. In mehrfacher Hinsicht hat der Schmerz „die Funktion des epistemischen Dings“.380 Dieses „epistemische Ding“ ist bei Borgards wie bei zahlreichen anderen Autoren seit den 1950er und 60er Jahren vor allem auch ein kulturelles und anthropologisches Unterscheidungsmerkmal. Schmerz, so begann man damals zu erkennen, ist keinesfalls eine transhistorische und transkulturelle Konstante, sondern die Art und Weise, wie in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten auf ihn geantwortet wird, sagt uns viel über den Kontext, in dem er stattfindet.381 Dies ist ein Aspekt, um den es hier im Zusammenhang mit der Fol-

379 Améry starb im Oktober 1978 von eigener Hand in einem Hotel in Salzburg. Vgl.: Heidelberger-Leonhard, Irene (Hg.): Über Jean Améry, Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte, Bd. 102, Heidelberg 1990, S. 126. 380 Borgards, Roland: Poetik des Schmerzes, München 2007, S. 29. 381 Vgl. ebd., S. 31. Zur Differenzierung des Umgangs mit Schmerz seit den 1950er Jahren vgl. u. a. Zborowski, Mark: Cultural Components in Responses to Pain, in: Journal of Social Issues, Nr. 8/4 (1952), S. 16-30.

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tererzählung naturgemäß weniger geht. Doch auch aus der Perspektive dieser Arbeit auf den Schmerz knüpfen sich verschiedenerlei Erkenntnismomente an ihn. Schmerz ist ein Erinnerungszeichen. Wie Roland Borgards darlegt, beeinflussen sich Schmerz und Erinnerung wechselseitig: „Denn einerseits thematisieren viele Erinnerungstheorien an zentraler Stelle den Schmerz, andererseits schreiben bedeutende Schmerztheorien der Erinnerung eine für die Schmerzwahrnehmung konstitutive Rolle zu.“382 Das heißt, Schmerz dient als Gedächtnis, als Erinnerungsspeicher, setzt sich gleichzeitig aber auch im Gedächtnis fest und erkennt sich gewissermaßen selbst wieder. Borgards unterscheidet drei Arten der Interaktion zwischen Schmerz und Erinnerungsvermögen:383 Zum einen erzeuge Schmerz Erinnerung. Die aktuelle Schmerzerfahrung ist also in der Lage, Vergangenes aufzurufen. Zweitens erzeuge Erinnern Schmerzen, da die Erinnerung ihren Gegenstand stets als Abwesendes, Fehlendes präsentiere – es handelt sich hier also um jenen nicht körperlichen Schmerz, den ich als vom physischen Schmerz abgeleiteten betrachte. Darüber hinaus wird Schmerz selbst erinnert. Als „Medium der Erinnerung“ spiele die Kunst bei diesem Prozess ihre „klassische Doppelrolle“:384 Einerseits transportiert sie den Schmerz und dient damit selbst als Speicherort für den Schmerz und andererseits bearbeitet sie ihn in diesem Speicherprozess natürlich auch. Dies gilt insbesondere auch für Textverfahren. Einerseits wird der Schmerz des Erzählers erkannt und begriffen durch die Einordnung in das eigene Schmerzgedächtnis. Andererseits ist gerade dieser Schmerz auch der Speicherort der schmerzhaften Ereignisse, genauer der Folterhandlungen: Jede Form von Aktualisierung des Schmerzes ist dann zugleich eine Aktualisierung eben dieser traumatischen Ereignisse. Mit dem Text – oder der Erzählung in der Fiktion – wird diese Form des Erinnerns zwar einerseits aus dem eigenen Gedächtnis ausgelagert, ist aber andererseits dadurch uneingeschränkt verfügbar. Hinzu kommt, dass es sich stets nur um ein Erinnerungszeichen handeln kann; die schmerzhaften Ereignisse im Text der Erzählung können dadurch – wie bereits ausführlich dargelegt – weder vollständig erfasst, noch objektiviert werden. Das Subjekt, das den Schmerz erlitten hat, wird also durch

382 Borgards, Roland: Schmerz/Erinnerung. Andeutung eines Forschungsfeldes, in: Ders. (Hg.): Schmerz und Erinnerung, München 2005, S. 9-24, hier: S. 11. 383 Ebd., S. 11ff. 384 Ebd., S. 14.

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den eigenen Text immer wieder aufgerufen, die Ereignisse durch das eigene, nicht verbalisierbare Erinnern zu ergänzen – das Trauma vermag sich so unendlich zu erneuern.385 In Ariel Dorfmans Drama Death and the Maiden findet der nicht endende Aktualisierungsprozess beispielsweise darin Ausdruck, dass das Opfer Paulina die erinnerten Folterereignisse gegenüber ihrem Mann und Roberto, dem ehemaligen Folterer, ausschließlich in der Unmittelbarkeit der präsentischen direkten Rede wiedergibt. Die Erzählung schildert also nicht den Schmerz, der war, sondern einen Schmerz, der ist. In diesem Zusammenwirken von Schmerz und Erinnerung mag einer der Gründe für die Zurückhaltung gegenüber der eigenen Foltererzählung liegen. Der Foltertext schlägt die Wunden neu und gibt – durch die Risse seiner Darstellungsverfahren – den Blick frei auf den Schmerz. Oder, wie es Iris Hermann unter Rückgriff auf Nietzsches Erinnerungstheorie ausdrückt: „Wo er Sprache werden soll, da entzieht sich Schmerz. Man kann ihn nicht sprechen. Das Nichtsprechenkönnen des Schmerzes macht ihn im Text unauffindbar, ist seine Lücke und gerade so präsent als seine Wunde, die, glaubt man Nietzsche, die Erinnerung, die der Text ist, erst ermöglicht.“386

Der Schmerz und seine Ausdrucksformen haben in der Folter jedoch auch noch eine weitere Funktion. Sie sind Evidenzzeichen. Sie beweisen dem Folterer unmissverständlich, dass sein Handeln das Opfer erreicht. Aus dem Schmerz lässt sich der Erfolg des Folterers gewissermaßen ableiten. Das

385 Alexandra Liedl schreibt, wie sich in der ersten Phase ihrer Interapy genannten, netzbasierten Schreibtherapie die Symptome der Patienten zunächst verstärken. In dieser Phase werden die Patienten zunächst über einen von ihnen im Präsens und in Ich-Form abgefassten Text erneut mit den Ereignissen konfrontiert. Angstzustände, Flashbacks und andere Symptome verstärken sich in diesem Therapieabschnitt, weshalb es wichtig ist, diese Phase buchstäblich zu durchschreiten und über diesen ersten, konfrontativen Text hinauszugehen. S. Liedl, Alexandra: Interview, Anhang, S. 273f. 386 Hermann, Iris: Gewalt als Schmerz, in: Grimminger, Rolf (Hg.): Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität, München 2000, S. 4361, hier: S. 45.

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Leiden ist somit „die Funktion der Bedeutung, die der Schmerz annimmt, es verstärkt sich mit der Summe der erlittenen Gewalt“.387 In Coetzees Roman Waiting for the Barbarians fällt ein Satz, den näher zu verorten vorerst nicht notwendig ist – eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Roman folgt unmittelbar im Anschluss an dieses Kapitel. „Pain is truth; all else is subject to doubt.“388 Mit diesen Worten resümiert der Protagonist und Erzähler die Ausführungen eines Folterers zu seinen Verhörmethoden. Auch Kafka, um ein weiteres Beispiel zu nennen, bezeichnet körperlichen Schmerz in einem Brief an Felice als „eigentliche, unwidersprechliche Wahrheit“.389 Vernehmungslogisch sind derlei Sätze sinnlos. Dass Folter kein Wahrsprechen hervorruft, ist ein Allgemeinplatz und wurde auch in dieser Untersuchung in den entsprechenden Kapiteln bereits dargelegt. Schmerz zeigt lediglich, dass der Schmerz wahr ist und dass das im Schmerz gefangene Subjekt nicht mehr länger über die Wahrheit zu verfügen vermag. Wir müssen den Satz also in dem Sinne verstehen, dass Schmerz Wahrheit macht. Was unleugbar wahr ist, ist, dass der Gefolterte Schmerzen hat. Gleichzeitig hat er keinen Zugriff mehr auf Wahrheit. Er ist der Gewalt des Anderen unterworfen und kann somit nicht mehr auf die Macht eigener Argumente vertrauen, wie auch sonst auf keinerlei Konstanten seiner Welt. Der sichtbare Schmerz des Opfers ist also ein Zeichen für den totalen Zugriff des Folterers, dessen private Wahrheit ab sofort alleinige Gültigkeit hat. Der Schmerz des einen verspricht sozusagen die Wahrheit des anderen. Dass und wie Schmerz in Coetzees Roman auch noch in anderer Hinsicht „Wahrheit erzeugt“, möchte ich im Folgenden zeigen. Da die vorangegangenen Seiten mit Ausführungen zu Verhör, Gewalt und Schmerz aber in

387 Le Breton, David: Schmerz und Folter. Der Zusammenbruch des Selbst, in: Karin Harrasser, Thomas Macho und Burkhardt Wolf (Hg.): Folter. Politik und Technik des Schmerzes, München 2007, S. 227-242, hier: S. 227. 388 Coetzee, WfB, S. 5. 389 Kafka, Franz: Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, hrsg. von Erich Heller, Jürgen Born, New York 1967, S. 400; zitiert nach: Neumann, Gerhard: Schmerz – Erinnerung – Löschung. Die Aporien kultureller Memoria in Kafkas Texten, in: Borgards, Roland (Hg.): Schmerz und Erinnerung, München 2005, S. 191.

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etwa die Koordinaten abgesteckt haben, innerhalb derer sich die Foltererzählung bewegt, möchte ich mich nun zunächst den ästhetischen Verfahren dieser Texte widmen und mich hierfür zunächst intensiver Waiting for the Barbarians zuwenden.

3. Foltertexte

Der Roman des Südafrikaners J. M. Coetzee Waiting for the Barbarians steht im Zentrum der folgenden vier Kapitel. Nachdem die voranstehenden Abschnitt auf einige der grundsätzlichen sprachlichen Schwierigkeiten beim Sprechen über Folter hingewiesen hat, möchte ich im Folgenden an einem weiteren literarischen Text zeigen, in welcher Weise dennoch über Folter und Schmerz gesprochen beziehungsweise mit welchen poetologischen Konsequenzen über Folter geschwiegen wird. Der behandelte Text zeigt, wie der Folterschmerz zum Erkenntnisgegenstand nicht nur des Folterers wird, sondern wie sich an ihn das geradezu manische, wenn auch zunächst ungerichtete Erkenntnisinteresse auch des ursprünglich unbeteiligten Protagonisten des Romans richtet. Der Folterschmerz wird zum Geheimnis, das im Körper des Gefolterten verborgen ist wie in jenem Text, der um diesen Körper entsteht.

3.1 D ER F OLTERTEXT ALS O BSESSION : P ENETRATIONSVERSUCHE AM T EXTKÖRPER IN J. M. C OETZEES W AITING FOR THE B ARBARIANS Das produktive Moment in J. M. Coetzees 1980 veröffentlichtem Roman Waiting for the Barbarians ist nicht die Foltererzählung selbst, sondern das im buchstäblichen Sinne leidenschaftliche Begehren des Protagonisten nach ihr, dem Magistrat einer Grenzstadt in einem fiktiven Reich. Der Südafrikaner und englische Muttersprachler Coetzee schrieb seinen dritten Roman während eines Aufenthalts im US-amerikanischen Texas,

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den er als „befremdlich“390 empfand. Eine Lesart des Texts, die die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit – oder, zur Zeit der Entstehung des Werkes: mit der Apartheids-Gegenwart – des afrikanischen Staates ins Zentrum rückt, liegt nahe. David Attwell liest den Roman gar als „Parodie“ auf das Südafrika der 70er Jahre. 391 1977 war Steve Biko, Führer des Black Consciousness Movement (BCM), nach Folterungen in der Haft gestorben. Die Erklärung für den Tod des ersten von Oberst Joll im Roman zu Tode gefolterten Häftlings gleicht der offiziellen Stellungnahme zum Tod Bikos teilweise wörtlich. Auch zum Tod des Bürgerrechtlers hieß es nach Susan VanZanten Gallagher: „During the course of the interrogation contradictions became apparent in the prisoner’s testimony. Confronted with these contradictions, the prisoner became enraged and attacked the investigating officer.“392 Die gespreizte Syntax und die unpersönliche Rede von Biko als „the prisoner“ verschleiern laut Gallagher das Vorgehen der Sicherheitspolizei und negieren jedwede Verantwortung für den Tod des Opfers.393 Der Verhaftung und dem Tod Bikos war 1976 der sogenannte Schüleraufstand von Soweto vorausgegangen, in dem Hunderte von Kindern und Jugendlichen starben, inhaftiert und gefoltert wurden. Nachdem die Regierung die schwarzen Schüler zwingen wollte, Teile ihrer Prüfungen in Afrikaans abzulegen, einer Sprache, die diese nur unzureichend beherrschten, sahen sie ihre Zukunft und die Möglichkeit eines sozialen Aufstiegs in Gefahr und gingen auf die Straße.394 Die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten, denen sich auch mehr und mehr Erwachsene anschlossen, und der Polizei dauerten fast ein Jahr

390 Gallagher, Susan VanZanten: A Story of South Africa. J. M. Coetzee’s Fiction in Context, Camebridge und London 1991, S. 118. 391 Attwell, David: J. M. Coetzee. South Africa and the Politics of Writing, Berkely u. a. 1993, S. 70. 392 Gallagher, Susan VanZanten: A Story of South Africa. J. M. Coetzee’s Fiction in Context, Camebridge und London 1991, S. 119. Vgl. Dazu die entsprechende Stelle in Coetzee, WfB, S. 6. 393 Ebd. 394 Marx, Christoph: Südafrika. Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 2012, S. 264.

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lang an. Dieser Straßenkampf und der Foltertod Bikos gelten als der Anfang vom Ende der südafrikanischen Apartheid.395 In seinem Essay Into the Dark Chamber: The Writer and the South African State (1986) beschreibt Coetzee selbst, wie untrennbar Folterszenarien zum südafrikanischen Alltag jener Jahre gehören: „One can go about one’s daily business in Johannesburg within calling distance (except that the rooms are soundproofed) of people undergoing the utmost suffering.“ 396 Auch ist Waiting for the Barbarians laut Coetzee selbst eine klare Auseinandersetzung mit der Allgegenwart der Folter. Der Text sei „a novel about the impact of the torture chamber on the life of a man of conscience“. 397 In der vorliegenden Untersuchung des Romans soll der koloniale Kontext in den Hintergrund rücken und stattdessen insbesondere nachgewiesen werden, wie Folter zum ästhetischen, textproduzierenden Verfahren wird – im Fall von Waiting for the Barbarians sogar, ohne dass die eigentliche Foltererzählung zustande kommt. Der Magistrat ist ein Textjäger, ein obsessiver Leser, der sich im arbeitsarmen Winterhalbjahr die Zeit mit dem Lesen „der Klassiker“ vertreibt .398 Bereits kurze Zeit nach der Ankunft des von seinen Peinigern gezeichneten „Mädchens“ erkennt der als Ich-Erzähler auftretende Magistrat: „It has been growing more and more clear to me, that until the marks on this girl’s body are deciphered and understood I cannot let go of her .“399 Ähnlich besessen arbeitet der Beamte an der Entschlüsselung der Geschichte der von ihm verwalteten Garnisonsstadt. Straftäter, Gelegenheitsarbeiter und Soldaten werden von ihm verpflichtet, Ruinen außerhalb der Stadt aus dem Sand zu schaufeln, eine Sisyphusarbeit, die die Gräber als „Spleen“ des Magistrats abtun, da der Wüstensand die alten Mauern immer

395 Ebd. 396 Coetzee, John Marshall: Into the Dark Camber: The Writer and the South African State, in: Attwell, David (Hg.): Doubling the Point. Essays and Interviews, Cambridge u. a. 1992, S. 361-368, hier: S. 362. 397 Ebd., S. 363. 398 Coetzee, WfB, S. 38. 399 Ebd., S. 31.

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wieder zudeckt. „But in the course of a few years I have succeeded in uncovering several of the largest structures to floor level.“400 Tatsächlich gelingt es dem Magistrat auf diesem Wege Zeichen einer historischen Schrift freizulegen: „Buried below floor level in a bag that crumbled to nothing as soon as it was touched I also found a cache of wooden slips on which are painted charakters in a script I have not seen the like of. We have found slips like these before, scattered like clothespegs in the ruins, but most so bleached by the action of sand that the writing has been illegible. The characters on the new slips are as clear as the day they were written. Now, in the hope of deciphering the script, I have set about collecting all the slips I can, and I have let the children who play here know that if they find one it is always worth a penny.“401

Doch obwohl der leidenschaftliche Leser so viele Zeichenträger wie möglich sammelt, bleibt ihm ihre Entzifferung auch im weiteren Verlauf der Handlung unmöglich. Auch das Mädchen beginnt er unmittelbar nach seiner Aufnahme zu „lesen“. Ein tägliches Ritual, bei dem der Magistrat den geschundenen Leib des Mädchens – ihre Folterer haben ihr unter anderem die Fußgelenke gebrochen – wäscht und einölt, wird zu einem Abgreifen der Körperoberfläche. Der Körper der jungen Frau wird zum Textkörper. Auch hier legt der Magistrat Zeichen frei, die er zunächst nicht entziffern kann: „One evening, rubbing her scalp with oil, massaging her temples and forehead, I notice in the corner of one eye a greyish puckering as though a caterpillar lay there with its head under her eyelid, grazing. […] Between thumb and forefinger I part her eyelids. The caterpillar comes to an end, decapitated at the pink inner rim of the eyelid. There is no other mark. The eye is whole.“402

Kurz bevor der Ich-Erzähler im Anschluss an die Entdeckung der „Raupe“ im Augenlid einschläft, was im Zuge des Waschrituals regelmäßig ge-

400 Ebd., S. 14f. 401 Ebd. 402 Ebd., S. 31.

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schieht, erinnert er sich „that my fingers, running over her buttocks have felt a phantom criss-cross of ridges under the skin“.403 Für den Magistrat besteht die Körperoberfläche des Mädchens aus Zeichen, die auf ihre Geschichte verweisen: die Geschichte ihrer Folter. Die Intimitäten des alten Mannes gegenüber der jungen Frau zielen nicht auf die Aneignung des anderen Körpers als Lustobjekt, sondern wollen den Körper ausschließlich als Textkörper: Der Magistrat will Text besitzen, nicht einen Frauenkörper. Er will wissen, was mit dem Mädchen unter der Folter geschah: „What he seeks is direct access to the girl's past experience and to the girl’s ‚being‘, unmediated by his own situation in the present.“404 Die Parallele zwischen Sexualakt, beziehungsweise Intimität und Leseakt ist deutlich: Nach einem nächtlichen Besuch bei einer der jungen Angestellten im Gasthaus der Stadt kehrt der Magistrat zurück zu dem Barbarenmädchen in seinem Bett. Er muss „tief Luft holen“, um seine Erregung zu dämpfen und sich völlig „on seeing her through my blind fingertips“ konzentrieren zu können. Doch ist ihm selbst bewusst, dass seine Erregung keine erotische im herkömmlichen Sinne ist: „There is no link I can define between her womanhood and my desire. I cannot even say for sure that I desire her. All this erotic behaviour of mine is indirect: I prowl about her, touching her face, caressing her body, without entering her or finding the urge of do so.“405

Anstatt in das Mädchen einzudringen, das ihm als „reine Oberfläche“ erscheint, „I hunt back and forth seeking entry“. 406 Besonders deutlich wird die Nähe zwischen Textbegehren und Penetrationsversuch anhand der oben bereits zitierten Stelle: „Between thumb and forefinger I part her eyelids.“ Die Augenlider, die hier wie Schamlippen auseinander geschoben werden, legen lediglich die Beschriftung des Körpers frei – ein Zeichen, dessen tatsächliche Durch-Dringung dem Magistrat nicht gelingen wird. Das „Jagen“

403 Ebd. 404 Dovey, Teresa: Waiting for the Barbarians. Allegory of Allegories, in: Graham Huggan und Stephen Watson (Hg.): Critical Perspectives on J. M. Coetzee, New York, 1996, S. 138-151, hier S. 143. Im Folgenden: Dovey, Allegory. 405 Ebd., S. 43. 406 Ebd.

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über eine gezeichnete Oberfläche mit Händen und Augen, das „Sehen durch blinde Fingerspitzen“ ist nichts anderes als der Versuch zu lesen. Mit der obsessiven Lektüre des Körpers, den manischen Versuchen in den Besitz des Textkörpers zu gelangen, rückt sich der Magistrat in auffällige Nähe zu den Folterern des Mädchens. Auch die Peiniger der Abteilung III „jagten einem Geheimnis nach“407, wie der Magistrat erkennt, als sie das Mädchen mit grausamen Methoden verhörten. Obgleich jenes Geheimnis weniger konkret zu sein scheint als das Geheimnis um die Folter selbst, da die vermeintliche Bedrohung durch die Barbaren im gesamten Roman abstrakt und das Vorgehen der Abteilung III dadurch umso mehr ungerechtfertigt bleibt. Bereits unmittelbar nachdem er das Mädchen zu sich geholt hat, erkennt der Magistrat das Machtgefüge zwischen ihm und ihr und damit auch die Dimensionen seines Handelns: „The distance between myself and her torturers, I realize, is negligible; I shudder.“ 408 Sie ist ihm ebenso restlos ausgeliefert, wie ihren Folterern. Die Parallele zwischen dem buchstäblichen Zerbrechen von Körper und Selbstbestimmtheit, also Subjektivität, des Mädchens unter der Folter und dem Aufbrechen des Textkörpers ‚Frau‘ in Bad und Bett des Magistrats geht so weit, dass der Protagonist selbst erkennt, wie er das Handlungsmuster eines Folterers wiederholt: „Is this how her torturers felt hunting their secret, whatever they thought it was? For the first time I feel a dry pity for them: how natural a mistake to believe that you can burn or tear or hack your way into the secret body of the other! The girl lies in my bed, but there is no good reason, why it should be a bed. I behave in some ways like a lover – I undress her, I bathe her, I stroke her, I sleep beside her – but I might equally well tie her to a chair and beat her, it would be no less intimate.“409

„Intimität“, restlose, ungestörte Nähe zum Körper des Anderen ist das Werkzeug sowohl der Folterer als auch des (Text-)Liebhabers. Lediglich durch die erotische Rahmung erhält das Begehren des Magistrats eine andere Prägung als das des Oberst Joll – die Absicht jedoch ist dieselbe: den Widerstand des Opfers zu brechen. Im einen Fall mit dem Ziel eines Pseudogeständnisses oder einer Scheinauskunft und der damit einhergehenden

407 Ebd. 408 Ebd., S. 27. 409 Ebd., S. 43.

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Unterwerfung unter die absolute Macht der kolonialen Besatzer, im anderen Fall mit dem Ziel die Preisgabe der Foltererzählung zu erzwingen, der Ereignisse, die sich in der dunklen Kammer im Kornspeicher der Stadt ereigneten. Intimität wird also zum Weg des Begehrens, ohne – wie beispielsweise bei den erotischen Abenteuern des Magistrats mit einer jungen Frau im Gasthaus – zu ihrem Ziel zu werden. Sex soll den Körper dekodieren, seine Zeichen entziffern und sein Geheimnis ermitteln. Er soll Text produzieren. Doch der Magistrat scheitert mit seinem Begehren, wie sich im Folgenden noch zeigen wird. Auch das Mädchen macht sich die methodische Austauschbarkeit zwischen Sex und Erzählung, die der begehrte Text aus ihrer Perspektive ist, zu Nutze. Sie verweigert Antworten auf die wiederholte Frage des Magistrats nach der Folter: „What did they do?“410 Da sie nicht bereit ist, ihren Text, also ihre Foltererzählung, zu offenbaren, bietet sie ihren Körper an – allerdings nicht als Zeichenträger, sondern als Sexualobjekt. Während einer der abendlichen Massageprozeduren drängt sie den Mann, sie mit der Hand zu befriedigen. Der Erzähler bezeichnet diesen Moment als „most collaborative act“411, während dem er jedoch keinerlei Erregung verspürt. Folgt man Jan Philipp Reemtsmas Machttypologie, die er in seiner Untersuchung von Vertrauen und Gewalt unter diesem Titel aufstellt, so ist die „Zusammenarbeit“ mit einem potentiellen Täter eine Möglichkeit, der eigentlichen Gewalttat zu entgehen. Die von Reemtsma als „raptive Gewalt“ bezeichnete Gewaltform, also jene, die auf den anderen Körper als Objekt zielt, verfügt über ein derartiges gewaltfreies „Komplement“ – den einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. „Im widerstandslosen Auf- oder Sichdreingeben, in der Flucht, in der Verflüchtigung der inerten Eigenschaft der eigenen Körperlichkeit, übernimmt der Mensch, der nicht will, dass ihm Gewalt angetan werde, den Blick des Anderen, in dem er nur ein Hindernis oder ein unselbständiges Werkzeug ist. Als Hindernis schafft er sich fort, um unversehrt bleiben zu können. Als Werkzeug beeilt er sich, zu funktionieren. Als Objekt des Begehrens bietet er sich an.“412

410 Ebd., S. 29. 411 Ebd., S. 44. 412 Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 138.

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Das Mädchen tut genau dies: Sie bietet ihren Körper an, damit sich der Magistrat seiner nicht bemächtigen kann, wie dies zuvor ihre Folterer taten. Doch kommt sie ihm mit ihrer „Zusammenarbeit“ nicht nur entgegen, um Gewalt unmöglich zu machen, sie reagiert auf das falsche Begehren. Sie beantwortet mit ihrem Körper nicht die Frage nach der Foltererzählung, sondern nach einem Sexualakt, der ja gerade nicht das Ziel des Magistrats ist. Das Mädchen bewahrt seinen Körper vor Penetration in jeder Hinsicht. Sie bietet dem Magistrat ihren Körper ohne seine Zeichen, an unversehrter und intakter Stelle an. Daher empfindet er jedoch auch keine Erregung – sein Verlangen gilt den Zeichen dieses Körpers, nicht seiner „unbeschrifteten“ Weiblichkeit. Beide Formen der Aneignung des Mädchenkörpers misslingen. Der Aneignung als Textkörper entzieht sie sich konsequent und der Aneignung als Sexualobjekt entspricht das Begehren des Magistrats nicht. Gerade über dieses sexuelle Versagen wird dem Magistrat bewusst, was er eigentlich von dem Mädchen will und dass ihn sein Interesse an ihr endgültig in unmittelbare Nähe zu ihren (ersten) Folterern rückt: „[…] and with a shift of horror I behold the answer that has been waiting all the time offer itself to me in the image of a face masked by to black glassy insect eyes from which there comes no reciprocal gaze but only my doubled image cast back at me.“413

In der Spiegelung in den „blinden“ Augen des Oberst Joll – er trägt eine in der Provinz bis zu seinem Eintreffen unbekannte Sonnenbrille – begegnet sich der Magistrat selbst. Er spiegelt sich im scheinbar blinden Blick des Folterers, selbst blind, unfähig den Text des geschundenen Mädchenkörpers, aber auch den Sinn seines eigenen Handelns zu entziffern. Auch diesen Moment der Hellsicht verdrängt der Magistrat sofort – „I shake my head in a fury disbelief. No! No! No! I cry to myself “.414 In dem Moment, da sich die entlarvende Antwort auf die Frage nach der Richtung seines Begehrens aufdrängt, beruft sich der Magistrat bewusst auf seine Leseunfähigkeit. Die Erkenntnis, er verhalte sich wie die Folterer des Mädchens, in-

413 Ebd., S. 44 414 Ebd.

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dem auch er sie „bezwingen“, ihre „Oberfläche durchstoßen“ und einen unaussprechlichen Text erzwingen will, schiebt er auf seine eigenen Fehlinterpretationen: „What depravity is it that is creeping upon me? I search for secrets and answers, no matter how bizarre, like an old woman reading tea-leaves. There is nothing to link me with torturers, people who is waiting like beetles in dark cellars. How can I believe that a bed is anything but a bed, a woman’s body anything but a side of joy? I must assert my distance from colonel Joll! I will not suffer for his crimes!“415

Folgt man hier noch einmal Reemtsma, so ist das Bett ein Bett und keine Folterbank, weil sich das Mädchen hineinlegt, um der Alternative hineingezwungen zu werden, zu entgehen. Sie gibt ihren Körper als „Ort der Freude“, um ihn nicht als Text preisgeben zu müssen. Doch bleiben Bett und Körper als Zeichen bestehen, die über sich hinausweisen. Auf den problematischen Umgang des Protagonisten aus Waiting for the Barbarians mit Schrift, Zeichen und Text soll im Folgenden eingegangen werden.

3.2 I MPOTENTER L ESER ODER BLINDER M ANN ? S CHEITERNDES S CHREIBEN UND UNSICHERE L EKTÜREN IN W AITING FOR THE B ARBARIANS Die Leidenschaft des Magistrats ist das Lesen, das er zumindest methodisch beherrscht – mit dem Schreiben hat er dagegen erhebliche Schwierigkeiten. Sein Verlangen nach dem Mädchen zielt einzig auf die Entzifferung der Zeichen, die ihr bereits eingeprägt wurden – davor, sich ihr selbst aufzuprägen, sie zu zeichnen, sowohl in sexueller als auch in peinigender Hinsicht, schreckt er zurück. Von dem Moment an, als er erkennt, dass sein Begehren nach der Barbarin ihn ihren Folterern gleichmacht, nimmt er Abstand, besucht das andere Mädchen in der Gaststube regelmäßiger, wodurch er sogar die Eifersucht der jungen Barbarenfrau heraufbeschwört, der Anerkennung als Frau und weiblicher Körper nach wie vor versagt bleiben. 416 Um der Herausforderung eines ‚authentischen‘ Sexualaktes zu entgehen, 415 Ebd. 416 Vgl. ebd., S. 55.

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schläft der Magistrat bald nach seinem Erkenntnismoment allein und entschließt sich in der Folge auch dazu, das Mädchen zurück zu ihren Landsleuten zu bringen. „Both pen and penis are unable to perform“, fasst Susan vanZanten Gallagher diese Beobachtung zusammen.417 Der Magistrat prägt nichts, er hinterlässt weder auf Körpern noch auf Papier Spuren oder Zeichen. Diese doppelte Impotenz stellt der Magistrat selbst an sich fest: „It seems appropriate that a man who does not know what to do with a woman in his bed should not know what to write.“418 Es ist dies eine Einsicht, die auf einen mehrtägigen Versuch folgt, vor der Abreise mit dem Mädchen die eigene Geschichte schriftlich festzuhalten, doch der Versuch scheitert. Dem Magistrat misslingt es an dieser Stelle und auch im Folgenden ein schriftliches Dokument zu hinterlassen, seine persönliche sowie seine Verwaltungs- oder Stadtgeschichte aufzuzeichnen. Folgt man Georg Wilhelm Friedrich Hegels Philosophie der Geschichte so ereignet sich Geschichte überhaupt nur dort, wo sie auch schriftlich festgehalten wird – Geschichte muss also buchstäblich „geschrieben“ werden.419 In Waiting for the Barbarians schreiben sowohl die „Barbaren“ als auch ihre Folterer Geschichte. Erstere hinterlassen jene Holztäfelchen, deren Entzifferung dem Magistrat zur Lebensaufgabe wird, letztere beschreiben die Körper der Nachfahren jener, die diese Schrift hinterlassen haben. Oberst Joll schreibt sich und die Geschichte seiner Anwesenheit unauslöschlich in den Körper des Mädchens ein. Dem Magistrat gelingt es weder, diese Zeichen zu entziffern – die Geschichte der eigenen Folter verwehrt das Mädchen bis zuletzt – noch kann er dem Textkörper eigene Zeichen hinzufügen; bestenfalls kann er durch die Pflege- und Heilungsversuche die Zeichen auf dem Körper des Mädchens ein wenig verwischen. Der Magistrat verfügt nicht über eine eigene Schrift. Dabei handelt es sich tatsächlich nicht schlicht um einen Widerwillen dagegen, die gleiche Folterschrift zu verwenden, wie Oberst Joll, sondern um ein Unvermögen:

417 Gallagher VanZanten, Susan: A Story of South Africa. J. M. Coetzees Fiction in Context, Camebridge 1991, S. 121. 418 Coetzee, WfB, S. 58. 419 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie der Geschichte. Vorlesungsmitschrift Heimann (Winter 1830/1831), in: Studien und Editionen zum deutschen Idealismus und zur Frühromantik, Bd. 3, hrsg. von Christoph Jamme und Klaus Vieweg, München 2005.

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„Though I cringe with shame, even here and now, I must ask myself whether, when I lay head to foot with her, fondling and kissing those broken ankles, I was not in my hearts of hearts regretting that I could not engrave myself on her as deeply.“420

Im Gegensatz zu Joll und seinen Komplizen ist es dem Magistrat nicht gelungen, einen Zeichenkörper zu hinterlassen. Die Potenz des Magistrats erschöpft sich in Leseversuchen – sexuelle Potenz dagegen verwirklicht er nur dort, wo die Körperoberfläche entweder unbeschrieben ist, also „a woman’s body anything but a site of joy“, 421 wie der Körper der jungen Prostituierten im Gasthaus, oder aber die Zeichen unsichtbar werden. So wie im dunklen Zelt auf der Reise zu den Barbaren, wo der Magistrat mit dem Mädchen erstmals einen penetrierenden Geschlechtsakt vollzieht: „Except that it has not escaped me that in bed in the dark the marks her torturers have left upon her, the twisted feet, the half-blind eyes, are easily forgotten. Is it then the case, that it is the whole woman I want, that my pleasure in her is spoiled until these marks on her are erased and she is restored to herself; or is it the case (I am not stupid, let me say these things) that it is the marks on her which drew me to her but which, to my disappointment, I find, do not go deep enough? Too much or too little: is it she I want or the traces of a history her body bears?“422

Frauenkörper und Zeichenträger schließen einander aus. Der Magistrat dringt nur dort ein, wo es nichts zu lesen gibt und er andererseits auch keine Zeichen oder Spuren hinterlässt. Die Folterer dagegen sind auf das Lesen, also auf die Geschichte(n) anderer nicht mehr angewiesen, sie schreiben ihre eigene(n). Als der Magistrat Oberst Joll im Rahmen seines eigenen Verhörs eine angebliche – tatsächlich aber fingierte – Übersetzung der Schrifttäfelchen bietet und sie als Kommunikation mit den Barbaren ausgibt, bringt Joll sein Desinteresse an den fremden Zeichenträgern deutlich zum Ausdruck: „Candidly, I must tell you I am not interested in these sticks.“ 423 Wer nicht lesen muss, der braucht auch nicht zu sehen, entsprechend ist Oberst Joll mit symbolischer

420 Coetzee, WfB, S. 135. 421 Ebd., S. 44. 422 Ebd., S. 64. 423 Ebd., S. 112f.

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Blindheit in Form seiner die Augen verschleiernden Sonnenbrille geschlagen.424 Joll sieht weder die Unaufrichtigkeit, die sich hinter der PseudoÜbersetzung der angeblichen Kommunikation auf Holztafeln verbirgt, noch die Unfähigkeit des Magistrats. Er hat weder an der Schrift noch an ihrem Interpreten Interesse. Der fortgesetzte Leseversuch des Magistrats ist mit diesem Akt der bewussten Fehlinterpretation zu einem Versuch geworden, Lesen vorzutäuschen – doch auch dieser misslingt. Die an die Missdeutung anschließende Drohung gegen Joll und seine Schergen – „[I]f he comes near me I will hit him with all the strength in my body. I will not disappear into the earth without leaving my mark on them“ – ist nicht mehr als eine lächerliche Farce, die die Impotenz ihres Urhebers unterstreicht, zumal vor der Folie, dass dieser nicht einmal zur Übertragung der Zeichen anderer im Stande ist. Die Unfähigkeit des Magistrats, Text, Zeichen hervorzubringen und gar zu hinterlassen, ist längst bewiesen, sein Körper hat in der Haft und unter der Folter zudem „alle Stärke“ eingebüßt. Zwar mag es wahr sein, dass dieser scheinbare Vorstoß des Magistrats eine Reaktion auf die Autorität Jolls und des Reiches ist, wie David Attwell diese Passage deutet, 425 doch geht der Versuch einer Reaktion, also der eigenen Aktivität vollkommen ins Leere, da er von seinem Adressaten nicht zur Kenntnis genommen wird. Die Szene der scheinbaren Übersetzung verweist auf einen weiteren Problemzusammenhang, der im Roman wiederholt deutlich wird: die hochgradig prekäre und fragwürdige Bedeutung von Zeichen. Immer wieder, und anhand des Übersetzungsversuchs am deutlichsten, wird die Aussagekraft von Zeichen hinterfragt und das unklare Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat unterstrichen. Der Magistrat erklärt: „See, there is only a single character. It is the barbarian character war, but it has other senses too. It can stand for vengeance, and, if you turn it upside down like this, it can be made to read justice.“426

Tatsächlich ist der Interpret selbst völlig ahnungslos, welchen Status die vorliegenden Zeichen haben:

424 Horstmann, Ulrich: Vorhaltungen, Frankfurt a.M. 2005, S. 84. 425 Attwell, David: J. M. Coetzee. South Africa and the Politics of Writing, Berkely u. a. 1993, S. 78. 426 WfB, S. 112.

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„I have no idea what they stand for. Does each stand for a single thing, a circle for the sun, a triangle for a woman, a wave for a lake; or does a circle merely stand for ‚circle‘, a triangle for ‚triangle‘, a wave for ‚wave‘? Does each sign represent a different state of the tongue, the lips, the throat, the lungs, as they combine in the uttering of some multifarious unimaginable extinct barbarian language? Or are my four hundred characters nothing but scribal embellishments of an underlying repertory of twenty or thirty whose primitive forms I am too stupid to see?“427

Die Sinnlosigkeit und Unmöglichkeit des Lesens und Verstehens der Zeichen liegt auf der Hand. Im weiteren Verlauf seiner vorgetäuschten Übersetzungsarbeit aber bezeichnet der Magistrat eine Zeichengruppe als „Allegorie“, die im Folgenden als Zeichenspiel oder Bilderrätsel spezifiziert wird. Dieselben Zeichen können als „Haushaltsbuch“ oder als „Kriegsplan“ gelesen werden. Damit formuliert der Magistrat, der scheiternde Leser, eine Wahrheit und seinen ersten und einzigen Leseerfolg – die Zeichen bilden eine Allegorie, und dies gleich in zweifacher Hinsicht. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal kurz auf die vorangegangenen Überlegungen zum Schmerz und seinen Diskursen zurückkommen. Laut Heiko Christians folgen diese Diskurse in der Moderne nahezu ausnahmslos einer bestimmten Metaphorik, die nicht zuletzt der Darstellungsproblematik eines physischen Phänomens geschuldet ist. Gleichzeitig wird aber auch der Schmerz selbst zur Metapher, sein Diskurs wird symbolisch: „Gemeinsam ist den diskursiven Bemühungen der Glaube an eine angestrebte, intakte Größe (etwa den Leib als einer Ganzheit) und das gleichzeitige Beklagen einer Zersplitterung der tatsächlichen Verhältnisse in unzählige Teile.“428 Wie der Magistrat – vielleicht sinnloser Weise – von einem Sinn der Hölzchen als Zeichenträger ausgeht, wenn man nur ihren Zeichenkörper richtig zusammensetzt, also zur Gänze zusammenführt, glaubt er auch an eine sich erschließende Schmerzgeschichte, wenn er nur die Zeichen auf dem Mädchenkörper zu lesen weiß, indem er dessen vorschriftliche Intaktheit rekonstruiert. Tatsächlich also verbirgt sich hinter der Gier nach der Schmerzgeschichte jener Glaube an den Körper als Ganzen und den darin verborgenen Sinn. Coetzees Roman ruft hier also einen klassischen Diskurs und damit ein diesem Diskurs inhärentes Paradox auf: Während der Schmerz nur durch Meta-

427 WfB, S. 110f. 428 Christians, Über den Schmerz, S. 9.

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phern überhaupt dargestellt werden kann, ist er selbst wiederum Metapher. In der Hölzchenallegorie in Coetzees Roman begegnen wir genau diesem Paradox; der Schmerz verbirgt sich hinter dem zersplitterten Körper und seinen Bildern. Gleichzeitig wird er selbst zum Symbol für den Glauben an einen ihm vorgängigen, intakten Körper und den Sinn, bzw. die Geschichte, die sich mit ihm verbindet. „Die Hermeneutik aber“, schreibt Christians, „ist überall dort schon wirksam wo die Beschreibung der Verhältnisse in diesen Komponenten von Teilen und Ganzem aufgeht“.429 Entsprechend verweist das Scheitern der Rekonstruktionen (von Körper und Hölzchen) auf eine weitere allegorische Dimension: Zusammen mit den fehlgehenden Interpretationsversuchen des Magistrats werden die Hölzchen zur „Allegorie der Unlesbarkeit“, um einen mit Blick auf Paul de Mans Allegorien des Lesens verwendeten Ausdruck Werner Hamachers zu gebrauchen.430 Der Protagonist suspendiert Diskurs und Begriffe, wie Susanne Knaller bemerkt. Übrig bleibt die „Story“ als bezuglose Erzählung, „welche die Verwendung von Begriffen, beziehungsweise diese selbst, die Geschichte selbst als allegorische darstellt“. 431 Die Zeichen und Begriffe können alles bedeuten und führen deshalb nur noch ins Leere, ins Nicht-Verstehen. Sie werden zu Zeichen für ihre eigene Unlesbarkeit. „Der Text der Lektüre ist eine Allegorie […] der Unverständlichkeit der Lektüre selbst“, um noch einmal eine Formulierung Hamachers heranzuziehen. Die Krise des Zeichens, die zugleich eine Krise des Lesens ist, wird an dieser Stelle des Romans überdeutlich formuliert; „the novel traces […] a crisis of interpretation“.432

429 Ebd. 430 Hamacher, Werner: Unlesbarkeit, Einleitung in: de Man, Paul: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 7-26, hier: S. 17. Um eine Allegorisierung der Unlesbarkeit der Vorgänge handelt es sich dabei sowohl in Bezug auf den Magistrat als auch auf Joll. 431 Knaller, Susanne: Zeitgenössische Allegorien – Literatur, Kunst, Theorie, München 2003, S. 118. 432 Dovey, Allegory, S. 141.

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3.3 U NLESBARE Z EICHEN – Z EICHEN DER U NLESBARKEIT : F OLTERALLEGORIEN ? Diese vom Magistrat mehr oder minder selbst konstruierte Allegorie verweist auf die Bedeutung der Allegorie im Roman insgesamt und nicht zuletzt auch auf die allegorische Bedeutung des Romans – wenn nicht allgemein sogar des Folterromans – selbst. Der Text, der Allegorisches derart – im wahrsten Sinne des Wortes – vielgestaltig bündelt, will selbst als Allegorie gelesen werden, wie im Folgenden genauer gezeigt werden soll. Waiting for the Barbarians ist durchzogen von Allegorischem – wenn auch auf einer anderen Textebene als die vom Magistrat beschriebene Hölzchenallegorie. Dennoch: Sämtliche Allegorien verweisen in ihrer Undeutbarkeit konsequent auf dasselbe – die Unmöglichkeit, sie zu entziffern. Da ist zum einen die Ruine. Im Roman liegen Ruinen außerhalb der Mauern der Grenzstadt. „For the dunes cover the ruins of houses that date back to times long before the western provinces were annexed and the fort was built.“433 Wie oben bereits beschrieben, gehört es zu den ‚Hobbys‘ des Magistrats, die mutmaßlichen Gebäudereste freilegen zu lassen oder selbst freizulegen. Was er dabei zu Tage fördert, sind Balken, deren Funktion ihm nicht nachvollziehbar ist, und die bereits erwähnten Holztäfelchen. Bei ihrem ersten Auftauchen im Roman, im Zusammenhang mit ihrer Ausgrabung, wird bereits ihr prekärer Status als Zeichen deutlich – der Magistrat weiß sie weder zu deuten, noch sich Klarheit über die grundsätzliche Möglichkeit ihrer Deutung zu verschaffen. Er vermag nicht einmal zu entscheiden, ob sie in ihrer Zusammenschau semantischen oder graphischen Sinn ergeben: „After I had first counted them and made this discovery I cleared the floor of my office and layed them out, first in one great square, then in sixteen smaller squares, then in other combinations, thinking, that what I had hitherto taken to be characters in a syllabary might in fact be elements of a picture whose outline would leap at me if I struck on the right arrangement: a map of the land of the barbarians in olden times, or a representation of a lost pantheon. I have even found myself reading the

433 WfB, S. 14.

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slips in a mirror, or tracing one on top of another, or conflating half of one with half of another.“434

Die Ausgrabungen sind dem Magistrat Ausgangspunkt zur Rekonstruktion einer Geschichte, die ihm zu seiner eigenen Historie wird, in die er sich eingliedert: „Perhaps when I stand on the floor of the courthouse, if that is what it is, I stand over the head of a magistrate like myself, another grey-haired servant of Empire who fell in the arena of his authority, face to face at last with the barbarian.“435

Jedoch bleibt ihm die Bedeutung des Ausgegrabenen und damit die Geschichte des Grenzortes unter seiner Verwaltung ebenso verschlossen wie die der mitausgegrabenen Zeichen auf den Hölzchen. Er kann nur mutmaßen – „How will I ever know?“436 –, welche Gestalt die Vergangenheit hatte, die seiner eigenen Gegenwart im Fort vorausging. Walter Benjamin widmet der Allegorie in seiner Untersuchung zum Ursprung des deutschen Trauerspiels ein umfangreiches Kapitel, in dem er sich explizit zur Bedeutung der Ruine äußert.437 Er schlägt einen Bogen zwischen Ruine und Allegorie. Die Allegorie sei „im Reiche der Gedanken, was Ruinen im Reiche der Dinge“.438 Die Ruine ist also als Rest, als kleinste noch vorhandene Einheit, der Verweis auf einen scheinbar rekonstruierbaren Gesamtzusammenhang. Doch kann dieser Gesamtzusammenhang nicht aus den Resten zusammengesetzt werden – auch dem Magistrat in Waiting for the Barbarians misslingt dies – er muss gedanklich erschlossen, gedeutet werden. Einen Beweis für die richtige Deutung kann es weder im Fall der Ruine noch in jenem der Allegorie geben. Beides, Begriff und Ding, sind in ihrer Vieldeutigkeit buchstäblich erstarrt und auf sie reduziert.

434 Ebd., S. 16. 435 Ebd., S. 15f. 436 Ebd. 437 Benjamin betrachtet die Ruine vor der Folie der barocken Künste insbesondere der Dichtung. Die Ergebnisse dieser Betrachtung stehen aber durchaus für sich und erscheinen somit als geeignet, in andere Kontexte übertragen zu werden. 438 Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 1978, S. 156. Im Folgenden: Benjamin, Ursprung.

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In diesem Zusammenhang bietet sich erneut eine ergänzende Lektüre de Mans an. In Allegorien des Lesens beschreibt er, wie die Eindeutigkeit, oder wörtlich „Autorität der Bedeutung“, die von einer grammatikalisch eindeutigen Struktur ausgeht, verdunkelt wird „von der Zwieschlächtigkeit, einer Figur, die nach jener Differenzierung schreit, die sie selbst verhindert“.439 Die Bedeutung eines Verses, eines ganzen Gedichts kann durch entsprechende Deutungen rhetorischer Figuren in ihr Gegenteil verkehrt werden. Die Folge jedoch ist Unentscheidbarkeit und damit die Unmöglichkeit einer Deutung. Der Magistrat muss mit seinen Leseversuchen scheitern, weil sich die Zeichen – die Reste alter Bauwerke als Ruine und die darin gefundenen, gezeichneten Hölzchen – in ihrer Vieldeutigkeit entziehen. Auch zwischen der Figur ‚Mädchenʻ und der Ruine bestehen strukturelle Ähnlichkeiten. Als der Magistrat das Mädchen bei sich aufnimmt, ist sie der physisch und psychisch versehrte Rest ihrer früheren Erscheinung. Dieses frühere Bild will der Magistrat – nicht zuletzt über die Erzählung der Vorgänge unter der Folter – wiederherstellen. Stundenlang versucht er, die Erinnerung an das Mädchen bei seinem Eintreffen im Fort, also vor seiner Folterung, heraufzubeschwören: „‚I have been trying to remember you as you were before all this happenedʻ, I say. ‚I find it difficult. It is a pity you can’t tell me.ʻ“440 Das Erzeugen von Erinnerung an das intakte Mädchen scheitert genauso, wie ihre physische Wiederherstellung durch Waschen und Einölen. Die Narben des Mädchens können nur vermindert werden, ihre Schmerzen allenfalls gelindert, aber beides ist der Magistrat nicht in der Lage zu beseitigen und so übergibt er das Mädchen letztlich versehrt an ihre Landsleute – ohne über ihre Geschichte und eine Vorstellung von deren Ursprung, dem intakten Mädchenkörper, zu verfügen. Wie die Ruine können die „Mädchenreste“ alles bedeuten; die Zahl der möglichen Geschichten, auf die sie verweisen, ist grenzenlos – wie oben bereits ausgeführt, scheitert der Magistrat an einer befriedigenden Lektüre des Mädchenkörpers. Der von Benjamin beschriebene Zirkel, den die Ruine als Ausgangspunkt für ReKonstruktion begründet, bewahrheitet sich im Fall der Deutungs-, Einordnungs- und Verstehensversuche des Magistrats also in doppelter Hinsicht:

439 de Man, Paul: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 42. 440 WfB, S. 49.

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„Was ihnen [den barocken Dichtern, T.P.] die Antike hinterlassen hat, sind ihnen Stück für Stück die Elemente, aus welchen sich das neue Ganze mischt. Nein: baut. Denn die vollendete Vision von diesem Neuen war: Ruine.“441 Coetzee geht hier jedoch einen Schritt weiter. Nicht nur gibt es Parallelen in der allegorischen Bedeutung zwischen den versehrten einstigen Gebäuden – den Ruinen – und dem versehrten Körper – dem Mädchen –, sondern beide Bilder transportieren den Bedeutungsgehalt ‚Unlesbarkeitʻ. Die Ruine mitsamt ihrer Bedeutung im „Reich der Dinge“ wird zur Allegorie im Reich der Gedanken beziehungsweise des Texts. Ähnliche allegorische Verweise finden sich vielfach sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene des Texts. Das Gekräusel im Augenwinkel des Mädchens wird als „Caterpillar“, als Raupe, und somit als jenes Tier das für Wandel und Verwandlung schlechthin steht, bezeichnet. Wer eine Raupe sieht, weiß nicht, welcher Phänotyp sich eigentlich hinter dem Tier verbirgt. Ein wiederkehrendes Element sind die Träume des Magistrats. Derselbe Traum wiederholt sich – stets in leicht verwandelter Form, der Inhalt bleibt unverstanden. In etwa ist der Gegenstand jedes Mal ein Mädchen, das im Schnee sitzend eine Burg baut. Schnee ist eine wandelbare, nicht greifbare Form, aber auch die vermeintliche Burg entpuppt sich als das vom Magistrat verwaltete Fort oder an anderer Stelle als Lehmofen. Die als ‚Mädchenʻ identifizierte Traumfigur ändert Form, Geschlecht und Größe, sie erscheint als „Schlüssel zu einem Labyrinth“, das nie betreten, geschweige denn verlassen wird.442 Auch ein Schlüssel, den der Magistrat während seiner Inhaftierung aus einer Speisekammer entwendet, ist ein Schlüssel, der viele Schlösser schließt, aber letztlich nichts „erschließt“. Der Magistrat befreit sich mit seiner Hilfe für einen Tag aus seiner Zelle, verschafft sich Zugang zu verschiedenen Orten in der Grenzstadt und kehrt schließlich, mangels Alternativen, in sein Gefängnis zurück – der Schlüssel führt zu nichts,443 wie auch die Traum- und Zeicheninterpretationen keine neuen Zusammenhänge ergeben. Amorphes, Wandelbares, wie die mal als „Fische“ oder „Kartof-

441 Benjamin, Ursprung, S. 156. Zur Verwendung des Zitats s. FN 413, S. 126. 442 WfB, S. 87. 443 Vgl. ebd., S. 89ff.

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feln“, mal als „Embryos“ bezeichneten Füße des Mädchens,444 ist vor allem Unverstandenes. Folter kann nicht nur nicht mitgeteilt werden, es ist auch unmöglich, sich ihre Geschichte zu erschließen – das wurde und wird im Folgenden in der vorliegenden Arbeit anhand verschiedener Kontexte dargelegt. Sie ist unsagbar. Diese These kann nun erweitert werden: Weder kann Folter erzählt werden, noch ist es möglich, ihre Zeichen adäquat zu lesen, wie auf den vorangegangenen Seiten gezeigt wurde. Jedoch bleibt in Waiting for the Barbarians nicht nur die Foltergeschichte des Mädchens unerzählt und ihre Zeichen unentschlüsselt. Folter selbst wird zum Zeichen für Unlesbarkeit und umgekehrt verweist eine Vielzahl unlesbarer Zeichen auf die Folter, die stumm bleibt. „Der Text der Lektüre ist eine Allegorie der Unverständlichkeit nicht mehr eigentlich der Texte, der die Lektüre sich zuwendet, sondern vielmehr des Akts der Lektüre selbst.“445 Der Magistrat versteht im Sinne de Mans nicht nur die Zeichen nicht, mit denen er sich konfrontiert oder mit denen er konfrontiert wird, er versteht auch seine eigene Leseunfähigkeit nicht. „Die Allegorie des Lesens erzählt von der Unmöglichkeit des Lesens.“446 In Coetzees Roman sind es die Leseversuche, die ihrerseits zur Allegorie werden und zwar für die Unlesbarkeit des Gegenstandes selbst. Die auf diese Unlesbarkeit verweisende Allegorie ermöglicht erst die Lesbarkeit jenes Romans, dessen Gegenstand die Unvermittelbarkeit von Folter und Schmerz ist. Der Leser muss den Ereignissen, denen das Begehren des Magistrats gilt, mit derselben Blindheit und Sprachlosigkeit begegnen, wie die Protagonisten des Romans. Sie teilen sich ihm nicht mit. Was der Roman jedoch erzählt, ist die Unvermittelbarkeit dieses äußersten Akts von Grausamkeit und die Unmöglichkeit, ihn zu verstehen. „Allegory opens up the resistance of reading and this is the function of the allegory of this novel itself.“447 Der Roman wird, wie Bill

444 Ebd., S. 87. 445 Hamacher, S. 17. 446 De Man, S. 111. 447 Ashcroft, Bill: Irony, Allegory and Empire: Waiting for the Barbarians and In the Heart of the Country, in: Kossew, Sue (Hg.): Critical Essays on J. M. Coetzee, New York 1998, S. 100-116, hier: S. 109. Bill Ashcroft liest den Roman – ähnlich wie Teresa Dovey – in erster Linie vor der Folie des Diskur-

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Ashcroft bemerkt, in seiner Gesamtheit zum Zeichen der Unlesbarkeit und erscheint somit als der einzige Weg, Unsagbares sagbar zu machen. Die Folterereignisse bleiben Unausgesprochen, aber in ihrer Stummheit verweisen sie auf sich selbst. Die Unsagbarkeit und Unlesbarkeit von Folter wird zur Allegorie für Folter. Oder, um noch einmal mit Benjamin zu sprechen, ließe sich der allegorische Status des Romans beschreiben: Wie die Vergangenheit durch die Gegenwart der Ruine scheint, scheint die Aussage des Romans durch dessen allegorische Hermetik.

3.4 N ACHERLEBEN UND N ACHERZÄHLEN : S CHMERZIMITATIO Unlesbar ist und bleibt die Foltererzählung auch deshalb, weil ihr Text niemals vollständig sein kann. Das Mädchen weiß, dass eine detailgetreue Nacherzählung der Ereignisse unter der Folter genauso wenig der Realität ihres Schmerzerlebens entspräche wie die maximal knappen und bis zur Verzerrung unvollständigen Antworten, die sie dem Magistrat auf seine wiederholten Fragen gibt. Die Darstellung des Schmerzes bedarf, wie zu Beginn dieses Kapitels ausgeführt, der Ergänzung durch die eigene Schmerzerinnerung. Gleichzeitig bedeutet deren Aktualisierung aber eine Erneuerung des Traumas. Die Zeichen auf dem Mädchenkörper selbst weisen ins Leere, weil das, was sie bezeichnen sollen – der Folterschmerz –, nicht repräsentierbar ist. Das Mädchen schweigt und bringt auch ihren Körper zum Schweigen, indem sie den Magistrat in dessen unbeschriftete Regionen leitet. Der Magistrat bringt das Mädchen zurück, ohne mehr über den „Schmerz als Wahrheit“ oder die Geschichte des Mädchens erfahren zu haben. Unmittelbar nach seiner Rückkehr in das Fort, dessen sich Oberst Joll in der Zwischenzeit buchstäblich bemächtigt hat, wird der Magistrat wegen „[t]reasonously consorting“, also verräterischem Feindeskontakt inhaftiert.448 Der Magistrat ist sich in der Haft zunächst weitgehend selbst über-

ses zum Postkolonialismus. Die primäre Funktion der Allegorie besteht für ihn darin, Widerstand zu leisten (dem Leser, der Kolonialmacht), ohne jene Instanz, gegen die Widerstand geleistet werden soll, mitabzubilden. 448 Coetzee, WfB, S. 77.

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lassen – es geschieht ihm keinerlei Gewalt über den Zwang der Inhaftierung hinaus. Was ihn jedoch quält, ist die erneute Erfahrung, sich den Schmerz, der sich unter anderem in seiner Zelle vor seiner Inhaftierung ereignete, nicht erschließen zu können. „I stare all day at the empty walls, unable to believe, that the imprint of all the pain and degradation they have enclosed will not materialize under an intent enough gaze; or shut my eyes, trying to attune my hearing to that infinitely faint level at which the cries of all who suffered here must still beat from wall to wall.“449

Wieder durchdringt der Blick nichts, bleibt an der Oberfläche (diesmal an der Wand) hängen und bringt nichts hervor, das heißt er erkennt nichts. Zwar ist dem Magistrat seine Inhaftierung zunächst geradezu Grund zur Freude, denn „I have set myself into opposition“.450 Doch, so ahnt der Häftling schnell: „It should not be so easy to attain salvation.“ 451 Die Belanglosigkeit seines Leides, das zunächst allein in Gefangenschaft und einseitiger Ernährung besteht, empfindet er gar als „degrading“.452 Seine Wünsche zielen auch nicht auf Befreiung aus diesen widrigen Umständen, sondern der Magistrat versucht weiterhin geradezu besessen, die Foltersituationen, die in seiner Zelle stattfanden, zu rekonstruieren. Er widmet seine ansonsten leeren Tage der „evocation of the ghosts trapped between these walls of men and women who after a visit here no longer felt that they wanted to eat and could not walk unaided“.453 Insbesondere das Mädchen überzieht er weiterhin mit „one net of meaning after another“ – weiterhin, ohne ihr und ihrer Geschichte näher zu kommen.454 Worin allerdings die vom Magistrat ersehnte Erlösung liegen soll und wovon sie stattfinden soll, bleibt zunächst unklar. Bis er selbst den ersten Schritt auf dem Weg der Erlösung geht: Die Gefangenschaft des einstigen Stadtvorstehers bleibt – abgesehen von der bereits geschilderten Episode, in der er sich selbst ziel- und ergebnislos Ausgang gewährt – monoton, bis ein

449 Ebd., S. 79f. 450 Ebd., S. 78. 451 Ebd., S. 78. 452 Ebd., S. 85. 453 Ebd., S. 80. 454 Ebd., S. 81.

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Trupp von Soldaten von einer Expedition mit „den Barbaren“ im Schlepptau zurückkehrt. Wie diese Menschen zu den dringend benötigten Feinden gemacht werden, wurde bereits geschildert. Im Trubel rund um die Heimkehrer verlässt der Magistrat mit Hilfe des Schlüssels, in dessen Besitz er immer noch ist, ein zweites Mal seine Zelle. Als er Oberst Joll einen Hammer zur Peinigung der Barbaren bereithalten sieht, gerät der sonst so phlegmatische Magistrat in eine Art „Rauschzustand“ (intoxication):455 Er tritt zwischen den Oberst mit seinen prügelnden Vollstreckern und die Barbaren, um zu einer Rede anzusetzen, von der er bereits zu ahnen scheint, dass er sie nicht halten wird. Er gibt Belangloses von sich, während er selbst zum Ziel der brutalen Schläge wird. „The words they stopped me from uttering may have been very paltry indeed, hardly words to rouse the rabble.“456 Der Magistrat weiß von sich selbst, dass er kein Mann des Wortes ist. Sein Leid allerdings hat neben der vermeintlich primär öffentlichen Dimension seiner Zurschaustellung auch eine sehr private. Der Magistrat liefert sich vollkommen freiwillig dem Schmerz der Schläge aus – eine der wenigen Entscheidungen, die er in seiner Situation als Häftling, vor allem aber auch als Gefangener der Umstände im Grenzfort, noch treffen kann. Seine Geste ist von Anfang an untauglich als Schutzgeste für die Barbaren – er ist Gefangener von Oberst Joll und seinen Handlangern wie sie. Aber es ist dennoch ein Schritt aus der „Belanglosigkeit“ seiner Haft in die Bedeutungshaftigkeit des Schmerzes, der schon nach kurzer Zeit zurück in der Zelle „has lost his strangeness. Soon, perhaps, it will be as much part of me as breathing“.457 Tatsächlich wird der Magistrat Recht behalten mit dieser Vermutung. Nachdem er jedwede Kooperation mit Jolls Abteilung III verweigert, wird er selbst zum Opfer von deren Folterprogramm. An ihm kommt ein nahezu vollständiges Grausamkeiten-Repertoire zur Anwendung: Salzwasser wird im in den Magen gepumpt, er wird geschlagen und misshandelt, vor aller Augen nackt vorgeführt und gedemütigt und schließlich einer Scheinexekution unterzogen. Der Magistrat erlebt seine eigene Folter als „nothing ennobling“.458 Das einstige Rätsel Schmerz wird zum Gewohnheitszustand. Auch stellt der Magistrat fest, seine Peiniger „were

455 Ebd., S. 106. 456 Ebd., S. 108. 457 Ebd. 458 Ebd., S. 115.

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not interested in degrees of pain“.459 Was dem Magistrat vorgeführt wird, sind die Grenzen seines Körpers und die Grenzen seines eigenen Menschseins: „They came to my cell to show me the meaning of humanity, and in the space of one hour showed me a great deal.“460 Wie bereits in den Ausführungen zum Schmerz dargestellt, führt auch in der Schilderung des Romanprotagonisten die Auslieferung an den Schmerz zur Reduktion auf die bloße Körperlichkeit. Dennoch versucht er weiter das Rätsel der Folter, die Motivation der Täter zu ergründen. Unmittelbar vor seiner vermeintlichen Hinrichtung wendet sich der Magistrat an deren Vollstrecker, den Offizier Mandel: „[…] I would appreciate a few words from you. So that I can come to understand why you devote yourself to this work. And can hear what you feal towards me, whom you have hurt a great deal and now seem to be proposing to kill.“461

Er bekommt keine Antwort von Mandel, erlebt aber den Schmerz, die Demütigungen und die Unbegreiflichkeit von Folter und Auslieferung buchstäblich am eigenen Leib. Der Schmerz, der nicht nur erinnert oder gemahnt, sondern vergegenwärtigt, hat eine lange Tradition, die sich in der imitatio Christi verdichtet. Die im paulinischen Schriftgut überlieferte Vorstellung der imitatio betrachtet den „durch Christus erlösten Menschen [als] zur Nachfolge und Nachahmung befreit, sowohl zu der Christi als auch zu der Gottes“. 462 In den christlichen Martyriumserfahrungen und -darstellungen wird die imitatio dann überwiegend als Leidensnachahmung verstanden.463 In der jüngeren Theologie, beispielsweise jener Dietrich Bonhoeffers, wird „der Ruf in die Nachfolge selbst als Gnade und die Gnade als diese[r] Ruf“ betrachtet.464 Es geht bei der imitatio also nicht mehr nur um das Erinnern, sondern

459 Ebd. 460 Ebd. 461 Ebd., S. 118. 462 Arndt, Martin: Nachfolge (imitatio) Christi, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Bd. 6, Basel 1971-2007, S. 351-353, hier: S. 352. 463 Ebd. 464 Ebd.

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um das Erfahren von Leid schlechthin. Und es ist die Leiderfahrung, in der die Hoffnung auf Erlösung liegt. Nichts anderes als imitatio lebt der Magistrat. In der Folter lebt er jenen Teil der Geschichte des Mädchens, die ihm verborgen bleiben muss, solange er sie nicht am eigenen Leib nachvollzieht, da sie eine reine Körper-, eine Schmerzgeschichte ist, die sich jenseits des Körpers nicht mitteilen kann. Ulrike Landfester weist darauf hin, dass insbesondere die Selbstgeißelung einen integralen Bestandteil der imitatio Christi darstellt. Der eigene Körper wird mit ihr durch das Subjekt selbst zum Zeichenträger der Dokumentation jenes Nachfolgeprozesses bestimmt.465 Der Magistrat verletzt sich zwar nicht selbst, wirft sich aber buchstäblich unter die Geißel, um genau jene Zeichen der Foltergeschichte am eigenen Körper zu tragen – jene Zeichen, deren Entzifferung ihm am Körper des Mädchens versagt blieb und versagt bleiben musste, weil sie als Schrift beziehungsweise Schmerzzeichen jenseits des beschrifteten Körpers keinen Sinn ergeben können. Entsprechend musste auch das Abtasten der Folterspuren als Ritual der Fußwaschung unter umgekehrten Vorzeichen – der Magistrat wäscht dem Mädchen und damit der Nachfolgende dem Vorausgehenden die Füße, anders als Jesu, der den Jüngern die Füße wäscht – leer laufen. Gleichzeitig wird aber gerade in der vorläufigen Verstellung der Zeichen wiederum die Fußwaschung Jesu aufgerufen und die in ihr enthaltene Verheißung: „Jesus antwortete und sprach zu ihm [Simon Petrus]: Was ich tue, das weißt du jetzt nicht; du wirst es aber hernach erfahren.“466 Auch der Magistrat begreift erst spät. Erst als das Nachfühlen der Wunden zum fühlen des Schmerzes und damit aus Nachfühlen Nachfolgen wird, wird der Magistrat geschichtsfähig: Seine eigene Foltergeschichte wird tatsächlich zur Erlösungsgeschichte: Wieder auf freiem Fuß – man entlässt ihn nicht aus der Haft, sondern Joll und seine Leute verlieren irgendwann schlicht das Interesse an ihm als Häftling und sperren ihn nicht weiter ein – beginnt der Magistrat die Umstände seiner Haft und deren Ereignisse den Fortbewohnern zu berichten.

465 Landfester, Ullrike: Gestochen scharf. Die Tätowierung als Erinnerungsfigur, in: Borgards, Roland (Hg.): Schmerz und Erinnerung, München 2005, S. 8398, hier: S. 84f. 466 Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1999, Joh. 13, 7.

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Der Zusammenhang zwischen Erzählung und Wiederherstellung oder Rekonstitution ist überdeutlich: Der von der Haft ausgezehrte Magistrat wird für seine Geschichte von seinen Nachbarn mit Nahrungsmitteln versorgt: „,… Anyhow, let us hope it is all over. I still have pains‘ – I touch my shoulder – one’s body heals so slowly as one gets older…‘ So I sing for my keep. And if I am still hungry in the evening, if I wait at the barracks gate for the whistle that calls the dogs and slip in quietly enough, I can usually wheedle out of the maids the leftovers of the soldiers’ supper, a bowl of cold beans or the rich scrapings of the soup-pot or half a loaf of bread.“467

Sein Ziel der physischen Wiederherstellung – „I want to be fat again“468 – spricht der Magistrat klar aus. Gleichzeitig aber formuliert er jene Erzählung, der er so lange vergeblich hinterherjagte. Denn nicht nur gegenüber seinen Landsleuten formuliert der Magistrat seine Geschichte von Schmerz und Folter, während sein Körper wieder zu alter Form und darüber hinaus wächst, sondern auch auf der Ebene der Rahmenhandlung in Coetzees Roman ist es der Magistrat, der als Ich-Erzähler die nicht-erzählbare Geschichte des Mädchens ebenso erzählt wie seine eigene. Jene Geschichte, die sich erst aus der Schmerz-Nachfolge des Mädchens ergibt, wird zur ersehnten Erlösung und gleichzeitig zur Hinterlassenschaft. Der Magistrat reiht sich also als Übermittler – als Erzähler, endlich der Worte mächtig – ein in die Reihe der Relikte des Forts; er erzählt nicht nur seine, sondern auch ihre Geschichte und zwar als seine ganz eigene Wahrheit. Was er berichtet, ist, wie er selbst zugibt, „half-truth“,469 die dennoch zu seiner, der einzig überlieferten Wahrheit wird. Der Satz „pain is truth“ erfüllt sich für den Magistrat tatsächlich – er kann den Schmerz zu seiner Wahrheit formulieren, er setzt seinen versehrten Körper in und mit dieser Wahrheit buchstäblich wieder zusammen, indem er sich selbst erzählt. Indem der Magistrat seinen eigenen Körper zum gefolterten Körper und damit zum Zeichenträger für seine Geschichte macht, findet er gleichzeitig auch Erlösung aus der Gefahr der potentiellen Nachfolge der Folterer, in deren Nähe er sich

467 Coetzee, WfB, S. 127. 468 Ebd., S. 129. 469 Ebd., S. 127.

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selbst gegenüber dem Mädchen sah. Er bedarf letztlich keines anderen Körpers als seines eigenen, um Spuren zu hinterlassen.

4. Leibeszeugenschaft

Es ist Jean Améry, der den Begriff ‚Leibeszeuge‘ verwendet – ein scheinbar naheliegender Ausdruck für jene, deren Körper die Spuren der Folter oft allzu deutlich tragen. Dennoch erscheint mir dieser Begriff vielschichtig genug, um ihn hier einer eingehenderen, wenn auch vergleichsweise kurzen Betrachtung zu unterziehen. Zunächst fällt auf, dass Améry diesen Begriff – in einem auf den ersten Blick flüchtigen Nebensatz – für einen ganz bestimmten Leibeszeugen verwendet: Henri Alleg. Améry bezeichnet den 1958 erschienen Text des französisch-algerischen Journalisten, La Question – deutsch: Die Folter (1960) –, als „Bericht eines Augen- und Leibeszeugen, der nur karg, und ohne von sich Aufhebens zu machen, den Horror zu Protokoll gab“.470 Auch Sartre bezeichnet Alleg in seiner Einleitung zu dessen Text mehrfach als „Zeugen“ und La Question selbst als „Zeugnis“.471 Dass Améry auf einen anderen Zeugen, Leibeszeuge wie er selbst, verweist, um den Begriff einzuführen, ist naheliegend – er weist damit von sich und der Bedeutung des eigenen Erlebten weg, eine Bewegung die dem Gesamtgestus seines Essays entspricht. Die Fragen, die mich hier aber beschäftigen, sind: Was macht den Leibeszeugen aus und welche Bedeutung hat es für das Subjekt, wenn dessen Körper zum Zeugen und – auch dies gilt es hier noch einmal zu zeigen – Zeugnis wird? Um dies zu ergründen,

470 Améry, Tortur, 49. 471 Sartre, Jean-Paul: Ein Sieg. Geleitwort zu Henri Allegs La Question, in: Alleg, Henri: Die Folter. La Question, München 1958, S. 7-17, hier: S. 7.

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erscheint es sinnvoll, sich hier zunächst den begriffsgeschichtlichen und semantischen Grundlagen des Ausdrucks zu widmen.472 Etymologisch lässt sich der Begriff ‚Zeuge‘ von mhd. ziuc oder ziug ableiten – beide Begriffe bedeuteten ursprünglich ‚Zeugnis‘.473 Die persönliche Begriffsbedeutung von ‚Zeuge‘ entwickelte sich erst in der frühen Neuzeit, vermutlich aus ahd. ziugon, das zu ‚vor Gericht ziehen‘ wurde.474 Jedoch sind die Einzelheiten um die Etymologie des Begriffes unklar. 475 Semantisch ist der Begriff auf zwei lateinische Wurzelwörter zurückzuführen: testis und superstes. Der erste Begriff geht etymologisch zurück auf *terstis, also „derjenige, der sich in einem Prozess oder Streit als Dritter […] zwischen zwei Parteien stellt“, während der zweite denjenigen bezeichnet, „der ein Ereignis bis zuletzt durchgemacht hat und deshalb Zeugnis davon ablegen kann“476 – in der wörtlichen Übersetzung ein ‚ÜberStehender‘. Giorgio Agamben hat darauf hingewiesen, dass mit auctor ein dritter lateinischer Ausdruck, der semantisch mit ‚Zeuge‘ zusammenhängt, existiert. Die Lexikonliteratur kennt vor allem zwei Bedeutungslinien des Begriffs: Die eine steht in der biblischen, die andere in der juristischen Tradition. Zwar beziehen sich Lexikonartikel zu beiden Begriffsbedeutungen auf die jeweils andere Tradition, doch gibt es keinen einschlägigen Lexikoneintrag, der explizit eine grundlegende andere oder weitere Bedeutung des Begriffs ‚Zeuge‘ behandelt. Auch in der Forschung wird, wenn überhaupt, zwischen diesen beiden Bedeutungsdimensionen unterschieden. So verortet

472 Im folgenden Abschnitt zu den etymologischen und semantischen Begriffsgrundlagen sowie bei der Darstellung von Giorgio Agambens Überlegungen zum auctor-Begriff sind Überschneidungen mit den Feststellungen, die ich bereits 2009 in meiner Magisterarbeit zum Thema Der Zeugenschaftsbegriff in der literarischen Holocaust-Debatte gemacht habe, unvermeidbar. Sie stehen hier allerdings in einem völlig anderen Kontext. 473 Seebold, Elmar (Hg.): Kluge. Etymologisches Wörterbuch, 25. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 2011, S. 1008. 474 Heyne, Moritz, et al. (Hg.): Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 15, Leipzig 1956, Sp. 842. 475 Seebold, Elmar (Hg.): Kluge. Etymologisches Wörterbuch, 25. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 2011, S. 1008. 476 Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt a.M. 2003, S. 14f.

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beispielsweise Cornelia Blasberg den ‚Zeugen‘ zunächst in der Sphäre des antiken Rechts, um dann festzustellen, andere semantische Energien erhalte der Zeugenbegriff aus religiösen Kontexten.477 Zum Begriff ‚Zeugnis‘ selbst vermerken die meisten juristischen Handbücher und Lexika erstaunlich spärliche Erläuterungen beziehungsweise widmen sich meist nur der Begriffsbedeutung als Leistungsbeurteilung. 478 Die deutsche Strafprozessordnung führt zwar unter dem Paragraphen 70 das Schlagwort „grundlose Zeugnisverweigerung“ auf, das ‚Zeugnis‘ kennt der Rechtstext aber nicht. Im Leibeszeugen fallen die unpersönliche historische Bedeutungsdimension – also ‚Zeugnis‘ – und die persönliche – ‚Zeuge‘ – erneut zusammen, denn der Leibeszeuge ist Zeuge und Zeugnis zugleich. Was er erlebt hat, hat er an seinem Leib erlebt, der die Spuren der Folter an sich und in sich trägt und somit selbst zum Beweismittel wird. Gleichzeitig kann sich auch die Zeugenschaft des Subjekts nur über diese körperliche Erfahrung konstituieren. Es ist, wie sich in den Überlegungen zum Thema Schmerz bereits angedeutet hat, vor allem ein physisches Erinnern, das Folter bzw. Folterschmerz wachruft. Zeuge und Zeugnis ist hier also der Körper – noch vor dem Subjekt. Vor allem die Rolle des Zeugen als dritter an einem Geschehen Beteiligter gilt es vor diesem Hintergrund im Folgenden noch einmal zu befragen. Zunächst ist festzuhalten, dass der Zeuge zum Zeugen wird, indem er über etwas, das er erlebt hat und das im Streit zwischen zwei Parteien relevant wird oder aber im allgemeinen, öffentlichen Interesse steht, berichten kann. Diese Definition ist für den Opferzeugen generell, insbesondere aber für das Subjekt, das die eigene Folter bezeugen soll, hochproblematisch. Denn der Körper des Zeugen-Subjekts trägt die Indizien eines Erlebens, beziehungsweise Erleidens, von dem das Subjekt selbst unter Umständen nicht berichten kann. Ziehen wir noch einmal das Beispiel des Barbaren-

477 Blasberg, Cornelia: Zeugenschaft. Metamorphosen eines Diskurses und literarischen Dispositivs, in: Barbara Beßlich et al. (Hg.): Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006, S. 22. 478 Vgl. Gräber-Seißinger, Ute, et al. (Hg.): Recht von A-Z. Fachlexikon für Studium und Beruf, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1054, S. 534.

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mädchens aus J. M. Coetzees Roman Waiting for the Barbarians heran: Während ihr Körper das Foltergeschehen beinahe zweifelsfrei nahe legt – ohne natürlich die näheren Umstände preiszugeben – schweigt das Mädchen selbst beharrlich. Ihr Körper verweist auf ein Geschehen, dessen Zeugin zu werden sich die Barbarin in der wiederholten Befragung durch den Magistrat standhaft weigert. Henri Alleg ist aus etwas anderen Gründen Leibes- und zwar ausschließlich Leibeszeuge. Zwar berichtet er im Gegensatz zu den meisten Folteropfern in seinem Zeugnis La Question von der Folter selbst. Jedoch schildert er die körperlichen Versehrungen, die er am eigenen Leibe erlitt, mit der akribischen Genauigkeit und Sachlichkeit nicht des Opfers, sondern des unbeteiligten Zeugen. Er schildert seinen und die Körper von Mithäftlingen mit der gleichbleibenden Distanz des Berichterstatters: „Er zeigt mir seine zerschnittene Zunge[…]“,479 „Er trägt noch tiefe Brandspuren an beiden Beinen […]“.480 Seine eigene Folter bezeichnet Alleg als „Schauspiel“481, dessen physische Details nüchtern folgen: „Und er öffnete den Wasserhahn. Das Tuch saugte sich schnell voll. Das Wasser floss in meinen Mund, in meine Nase, über mein ganzes Gesicht. Eine Weile konnte ich noch kleine Atemzüge machen. Ich versuchte durch Zusammenziehen der Kehle so wenig Wasser wie möglich zu schlucken und, so lange ich konnte, Luft in meine Lunge zu schöpfen, um gegen das Ersticken ankämpfen zu können.“482

Während sein Körper in Allegs Schilderung zum Opfer und in einem zweiten Schritt zum Zeugnis wird, bleibt Alleg Zeuge und Berichterstatter der Torturen, der er schon vor der eigenen Folterung war – seine Haltung scheint sich nicht zu ändern: Als Journalist der kommunistischen Zeitung Alger républicain berichtete er bereits vor seiner eigenen Inhaftierung und Folterung über die Verhörpraxis der französischen Armeeangehörigen in Algerien.483

479 Alleg, Henri: Die Folter. La Question, München 1958, S. 26. 480 Ebd. 481 Ebd., S. 31. 482 Ebd., S. 35. 483 Zur Selbstdarstellung der Zeitung und ihres einstigen Chefredakteurs und „Vaters“, wie Alleg von den Blattmachern heute genannt wird, s.http://www.algerrepublicain.com/spip.php?rubrique21, zuletzt aufgerufen am 1. 10. 2012.

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Diesen Umstand kehren Allegs Folterer zu einer besonderen Perfidie um. Sie versuchen den Eindruck zu vermitteln, als würde man an Alleg lediglich ausprobieren, was dieser in seinen Artikeln beschrieb: „Du hast Artikel über die Torturen geschrieben, was, Sauhund! Sehr schön. Jetzt ist es die Zehnte Fallschirmjägerdivision, die sie an dir ausprobiert!“484 In der Entscheidung für oder gegen Zeugenschaft wird der gemarterte Leib zum Verräter: Was das Subjekt nicht zu sagen vermag oder nicht sagen möchte, ist seinem Körper längst eingeschrieben. Alleg selbst dient sein Körper als Zeugnis: Da er unter der Folter immer wieder das Bewusstsein verliert, vollzieht er das Geschehen im Nachhinein an seinem eigenen Körper nach. Es ist tatsächlich der Körper allein, der das Ereignis „bis zuletzt“ durchmacht und somit der eigentliche superstes ist. Somit aber kann sich das unentrinnbar an seinen Körper gebundene Subjekt nicht für oder gegen Zeugenschaft entscheiden – der Körper ist als Zeugnis immer schon da. Zwischen Körper – Opfer und Zeugnis zugleich – und den Tätern, die sich an jenem Körper vergingen, kann das Subjekt zu jenem Dritten, dem terstis, werden, den der Begriff ‚Zeuge‘ neben dem superstes aufruft. Das Subjekt ist stets der erste und gewissermaßen exklusive Zeuge seines eigenen Körpers. Vor diesem Hintergrund erscheinen Giorgio Agambens Überlegungen zum auctor als Zeugen interessant. Zunächst verweist Agamben darauf, dass das lateinische Wort auctor, auf das der Begriff „Autorität“ zurückzuführen ist, neben den gängigen Bedeutungen wie ‚Berichterstatter‘ oder ‚Verkäufer‘ die Bedeutung ‚Gewährsmann‘ und schließlich ‚Zeuge‘ haben kann.485 Den Übergang von ‚Verkäufer‘ zu ‚Zeuge‘ stellt Agamben über das Faktum her, das sowohl ein Objekt, als auch – betrachtet man auch den Berichterstatter im übertragenen Sinne als Verkäufer – ein sprachlicher Gegenstand sein kann. Der Verkäufer ist derjenige, der dem neuen Besitzer sein rechtmäßiges Eigentum „gewährt“, also ihm die Autorität als Eigentümer überträgt. Der „Autor“ oder Verkäufer stattet den neuen Besitzer mit etwas aus, das das Faktum allein nicht besitzt: mit Autorität. Somit treten auch Autor- und Zeugenschaft in einen bisher unbeachteten Zusammenhang:

484 Alleg, Henri: Die Folter. La Question, München 1958, S. 33. 485 Agamben, Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt a.M. 2003, S. 129.

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„In dieser Perspektive wird auch die Bedeutung ‚Zeuge‘ durchsichtig und gewinnen die drei Termini, die im Lateinischen die Vorstellung der Zeugenschaft ausdrücken, jeweils ihre eigene Physiognomie. Bezeichnet testis den Zeugen, insofern er als dritter beim Streit zwischen zwei Subjekten beteiligt ist, und superstes denjenigen, der eine Erfahrung bis auf den Grund erlebt, sie überlebt hat und deswegen anderen davon berichten kann, so bedeutet auctor den Zeugen, insofern sein Zeugnis immer etwas voraussetzt – ein Faktum, eine Sache oder ein Wort –, das vor ihm da ist und dessen Wirklichkeit und Gültigkeit beglaubigt oder bestätigt werden muss.“486

Die Autorität des Zeugen geht also über die Tatsachen, die Fakten, hinaus – die Ereignisse in der Folterkammer werden erst durch die Autorität der Zeugenschaft zur Wirklichkeit. Dies lässt sich am Beispiel Allegs und seines Folterberichts besonders deutlich zeigen. Er ist jener, der die Gewähr für seinen Körper als Zeugnis und damit die Ereignisse, die ihn zum Zeugnis machten, bieten kann. Alleg als Zeuge des eigenen Körpers wird auch zum Autor jenes Körpers und damit der Geschichte, die sich durch ihn verrät. Er – nur er – war dabei, als sein Körper der Tortur unterzogen wurde. Erst und gerade durch diese Autorität wird die Textfiktion als ‚Gewähr‘ für das Faktum möglich. Die Autorität dessen, der die Folterkammer er- und überlebt hat, geht über ihre Grenzen hinaus, weshalb er autorisiert ist, ihn – auch vermittelnd – darzustellen, ohne dass er dadurch die Autorität des Zeugen verlöre. Somit wird Alleg, der berichterstattende ‚Verkäufer‘, zum Gewährsmann für seinen gefolterten Körper und die Ereignisse dahinter und ermöglicht auf diese Weise wiederum die Zeugenschaft anderer. Der ZeugnisKörper wird durch den Autor/auctor in einen Bericht transformiert, der in der Lektüre weiterer Dritter zum Zeugnis wird, und jene Leser, Hörer, Juristen und Ärzte werden ihrerseits zu Zeugen. Entsprechend versteht – wie bereits erwähnt – Sartre Allegs Zeugenschaft und Zeugnis, deren Zeuge er als Kommentator des Berichtes wiederum wird. Alleg selbst versteht sich als zeugenden Berichterstatter mit Mission – die in seinem Fall als kommunistischem, politischem Aktivisten und Herausgeber einer kommunistischen Tageszeitung selbstverständlich auch politisch motiviert ist.487 Auf

486 Ebd., S. 130. 487 Vgl. Brogan, B. W.: The Edge of the Abyss: The Question by Henri Alleg, in: The New York Times, 08. 06. 1958, ohne Seitenangabe.

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der letzten Seite seines Texts heißt es: „Es ist notwendig, daß ich alles sage, was ich weiß.“488 Zeugenschaft wird zum Auftrag, aber auch zu jener Form, in der das Erzählen von der Folter für ihn einzig möglich zu sein scheint. Denn Alleg bekennt auch, er habe „niemals […] so mühsam geschrieben“.489 Sein Schreiben wird zum Schreiben auch für jene, die kein Zeugnis mehr ablegen können. Der Journalist ist überzeugt: „Ich schulde es dem ‚verschwundenen‘ Audin [einem Genossen, der von den Militärs umgebracht wurde, T.P.]“.490 Alleg wird zum Zeugen nicht nur für sein eigenes Schicksal und Erleben, sondern auch für jene, die selbst nicht mehr als Zeugen auftreten können. Indem er dies zudem explizit als Motivation für seinen Text nennt, bekommt seine eigene Zeugenschaft eine andere, unpersönliche Dimension, die ihm das „mühsame“ Schreiben ermöglicht. Hinzu kommt, dass er sich in seinem Text zwar als jenes Opfer, das er war, schildert, dabei jedoch überdeutlich die Perspektive eines Beobachters einnimmt – den Geschehnissen gegenüber, aber auch sich selbst. Einerseits ist es die bereits erwähnte Vergangenheit als Journalist, die diese Erzählerposition begründen mag. Andererseits ist der absolut emotionslose, maximal sachliche Stil auch ein entfremdendes Element, das den Autor sich selbst gegenüber die nötige Distanz einnehmen lässt, um überhaupt zum Berichterstatter in eigener Sache werden zu können – der Erzähler geht dem Opfer gewissermaßen voraus. Alleg konstituiert sich also in seiner Erzählung gerade nicht neu, sondern ging ihr als auctor voraus, indem er bereits in Haft seine Beobachtungen und Erfahrungen immer schon dem abzulegenden Zeugnis widmet. Bezeichnungen wie „Schauspiel“491 für die eigene Folterung stellen einen zusätzlichen Realitätsbruch dar. Wo das Erlebte tatsächlich einzigartig und somit unteilbar ist, stellen Realitätsbezeugungen keine Authentizität her. Dass diese Mittel aufgrund der Exklusivität des Erlebten fehlen, wird für den Leser gerade über den expliziten Authentizitätsbruch bezeugt. Der Bruch mit der Realität wird als Mittel eingesetzt, um über jene Vorgänge sprechen zu können, die auch gegenüber dem Alltagserleben des Lesers einen Bruch darstellen. Die Schauspielmetapher macht die Unmög-

488 Alleg, Henri: Die Folter. La Question, München 1958, S. 61. 489 Ebd. 490 Ebd. 491 Ebd., S. 31.

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lichkeit authentischer Darstellung deutlich und ermöglicht gerade dadurch Authentizität.

4.1 D ER BLINDE Z EUGE Agambens semantische und begriffsgeschichtliche Überlegungen zum Begriff des Zeugen sagen vor allem etwas über seine Funktion aus, wenig aber über die Qualitäten, über die der Zeuge verfügen muss, beziehungsweise über den Auftrag, der damit in institutionalisierten Situationen wie zum Beispiel einer Aussagesituation einhergeht. Im deutschen Rechtsverständnis ist der Zeuge die „Person, die in einem Verfahren über eigene Wahrnehmungen aussagen soll (Beweiszeuge).“ 492 Das heißt, Zeuge wird nur, wer über Wahrnehmungen verfügt, über die er auch aussagen kann. Dafür, dass wir ein Geschehen wahrnehmen, sind unsere Sinne verantwortlich, unter denen der Gesichtssinn eine zentrale Rolle spielt. Gerade dies ist aber jener Sinn, dessen Folteropfer oft beraubt werden. „The blindfold or its extension, namely the hood, are often employed as a palpable sign of the debasement of prisoners, who are thereby prevented from looking at and identifying the ones causing them pain.“493 Nachdem ich mich mit der Blindheit der Zeuginnen in einem der voranstehenden Kapitel unter den Aspekten der Wahrheitsermittlung und Wissenspolitik des Opfers bereits befasst habe, möchte ich hier den Schwerpunkt der erneuten Betrachtung dieser Figur auf die Zeugenschaft und ihr Unmöglichmachen selbst legen. In den Texten, Kontexten und Bildern, die ich bislang betrachtet habe, ist Blindheit eine wiederkehrende Eigenschaft des Opfers: Paulina in Death and the Maiden waren während der Folter die Augen verbunden, das Mädchen in Waiting for the Barbarians kehrt geblendet aus der Folterhaft zurück und die Häftlinge aus Abu Ghraib tragen auf den Bildern, die unauslöschlich mit ihnen verbunden sind, blickdichte Kapuzen über ihren Köp-

492 Gräber-Seißinger, Ute, et al. (Hg.): Recht A-Z. Fachlexikon für Studium und Beruf, Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1054, Bonn 2010, S. 533. 493 Vieira, Patrícia: Twists of the Blindfold: Torture and Sociality in Ariel Dorfmans Death and the Maiden, in: Chasqui: Revista de Literatura Latinoamericana 38/2 (2009), S. 126-137, hier: S. 126.

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fen. Die Gründe für das dauerhafte oder vorrübergehende Blenden des Opfers sind zahlreich. Einige wurden in dem oben angeführten Zitat bereits angesprochen: Die Blendung kann Teil der Folter selbst sein, sie kann einen Schutz für den Folterer darstellen oder Mittel zur Dehumanisierung sein. Paulinas Folterer verband ihr die Augen, um später nicht erkannt zu werden. Der Arzt ist ein berechnender, intelligenter Mann, der an eine Zukunft auch unter veränderten politischen Voraussetzungen dachte. In der Diegese des Dramentexts ist die Tatsache, dass Paulina den Täter nicht sehen konnte, die Hauptursache für die Zweifel, die ihr Mann Gerardo an ihrer Schuldbehauptung hegt – der Fortgang der Ereignisse gibt Roberto und seiner Entscheidung, Paulinas Augen zu verhüllen, also Recht. An ihrer Überzeugung hält sie in den Augen ihres Mannes wider besseres Wissen fest – da sie den Täter nicht sah, müsse sie vernünftiger Weise selbst Zweifel an dessen Identität haben. In der Befragung zu ihrem sicheren Wissen, mit dem Arzt Roberto den Täter vor sich zu haben, wird eben diese Sicherheit von ihrem Mann zur „Krankheit“ erklärt: GERARDO:

How do you know?

PAULINA:

The voice.

GERARDO:

But weren’t you – you told me – what you told me was all through these weeks…

PAULINA:

Blindfolded, yes. But I could still hear.

GERARDO:

You’re sick.

PAULINA:

I’m not sick.

GERARDO:

You’re sick.494

Wie wir bereits gesehen haben, wird sich Roberto dieser Unterstellung anschließen, um seine Unschuld zu behaupten – sein Hauptargument bleibt Paulinas angebliche Verrücktheit, die nur vor dem Hintergrund des gemeinsamen Wissens aller am ‚Privatprozess‘ Beteiligter unterstellt werden kann: Paulina hat den Täter nie gesehen. In J. M. Coetzees Waiting for the Barbarians ist ihre Blindheit das erste, was der Magistrat von dem Mädchen erfährt. Als er einen seiner Soldaten nach ihr fragt, antwortet dieser „[t]he woman is blind“.495 Ihre Blindheit

494 Dorfman: DaM, S. 23. 495 Coetzee: WfB, S. 25.

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ist der Vorwand, unter dem sie der Magistrat nur wenige Seiten weiter anspricht – „[t]hey tell me you are blind.“496 Das Mädchen widerspricht; sie könne sehen, jedoch blickt sie in der Art einer Blinden am Magistrat vorbei. Nachdem der Magistrat das Mädchen zu sich geholt hat, häufen sich die Indizien für ihre Blindheit und er wird nicht müde, sie immer wieder danach zu fragen – sie hält zunächst jedoch beharrlich an der Behauptung fest, sehen zu können: „Yes, I can see. […] There is a blur, but I can see out of the sides of my eyes.“497 Das Mädchen „sieht“ also nur, wenn sie vorbeiblickt – denjenigen, dem sie ihren Blick tatsächlich zuwendet, sieht sie nicht. An ihrem Gegenüber – das innerhalb der Kernhandlung ausnahmslos der Magistrat ist – vorbeizublicken, scheint ihrer unabänderlichen Angewohnheit zu entsprechen, an ihm vorbeizureden. Wie bereits erwähnt erhält er auf seine vielfach wiederholte Frage „What did they do?“ zu keiner Zeit eine konkrete oder gar befriedigende Antwort. Die Unfähigkeit, einen Blick zu erwidern, entspricht ihrer Weigerung, zu erzählen. Das gefolterte Mädchen versagt sich jeder Form von Kommunikation, weder gibt sie ihre Geschichte, noch ihren Blick preis. Dabei ist auch bei ihr nicht klar, was sie gesehen hat und damit, was sie weiß. Wurde sie geblendet bevor, als oder nachdem man ihren Vater in ihrem Beisein gefoltert hat? Der Text lässt diese Frage offen. Klar aber wird, dass sich das Mädchen auch während der – partiellen – Blendung weigerte zu sprechen: „The man brought it [eine glühende Gabel, T.P.] very close to my face and made me look at it. They held my eyelids open. But I had nothing to tell them.“498 Auch dem Magistrat hat das Mädchen nichts zu sagen. Auf seine Fragen erwidert sie nichts – weder in Form einer Antwort noch eines Blicks. Das Verhältnis von Mädchen und Magistrat wird – noch einmal mit Paul de Man und unter dem Aspekt der Blindheit betrachtet – selbst geradezu zur Lektüremetapher. Folgen wir de Man, sind die beiden nichts anderes als die Entsprechung von Text und Leser – sich in der gegenseitigen Annäherung unvermeidbar mit den jeweiligen blinden Stellen konfrontierend und nur in wechselseitiger Abhängigkeit existierend. Das Mädchen, der Textkörper, ist blind für seinen Leser und dessen Text- und Sinnbegeh-

496 Ebd., S. 26. 497 Ebd., S. 29. 498 Ebd., S. 41.

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ren. Dennoch aber existiert sie durch ihn. Sein Begehren ruft sie überhaupt erst in sein Haus und damit in die Handlung des Romans, aber auch die physische Abhängigkeit des Krüppels von der Fürsorge des Magistrats greift diese Abhängigkeit auf. Der Magistrat ist blind für sein Begehren, mehr aber noch für die Wege, die es nimmt, die Methoden, derer er sich mit seinen Lektüreversuchen bedient. De Man beschreibt als die unumgängliche Schwäche aller Textinterpretation die Blindheit für die eigene Einsicht, das eigene Eindringen in den Text. Die eigene Lektüre des Textes kann also in die Textlektüre nicht miteingedacht werden – sie ist nicht Teil der Lektüre. Es ist das übliche Problem aller kritischer Beobachtung: Der Beobachter kann sich nicht selbst bei dieser Beobachtung beobachten. Was de Man in Bezug auf den Interpreten allgemein beschreibt, scheint den für sich und seine Interpretations- und Penetrationsversuche am blinden Mädchenkörper blinden Magistrat zu treffen: „A penetrating but difficult insight into the nature of literary language ensues. It seems, however, that this insight could only be gained because the critics were in the grip of this peculiar blindness: their language could grope toward a certain degree of insight only because of their method remained oblivious to the perception of this insight. The insight exists only for a reader in the priviledged position of being able to observe the blindness as a phenomenon in its own right – the question of his own blindness being one which he is by definition incompetent to ask – and so being able to distinguish between statement and meaning.“499

Was die Schmerzgeschichte des Mädchen angeht, deren Zeichen ihr Körper zwar verrät, die sie selbst aber nicht erzählt, entkommt weder der Magistrat als Leser noch der Leser des Romans um den Magistrat der unaufgelösten Unsicherheit. Das Mädchen kehrt zurück zu den Barbaren und mit ihrem Körper verschwindet der Text. Es bleiben die Lektüreversuche des Magistrats, für deren Richtigkeit es keine Anhaltspunkte gibt – nach de Man das

499 De Man, Paul: The Rhetoric of Blindness: Jacques Derrida`s Reading of Rousseau, in: Ders. (Hg.): Blindness and Insight. Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism, Theory and History of Literature Bd. 7, Minnesota 1983, S. 102-142, hier: S. 106.

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Schicksal jeder Lektüre, also auch jener, deren Gegenstand der Magistrat und seine Leserversuche sind: „And since interpretation is nothing but the possibility of error, by claiming that a certain degree of blindness is part of the specifity of all literature we also reaffirm the absolute dependence of the interpretation on the text and of the text on the interpretation.“500

Auch bei den Gefangenen von Abu Ghraib spielt die Tatsache, dass sie den Blick des Betrachters ähnlich dem Mädchen nicht erwidern können, eine zentrale Rolle. Hier handelt es sich jedoch um den Blick der Kamera, dem sie wegen ihrer Zwangsverhüllung nicht begegnen können. Indem ihre Peiniger ihnen die Fähigkeit zurückzublicken rauben, machen sie sie endgültig zu Objekten vor dem Kameraobjektiv. Während die Kamera den Blick des Subjekts (beispielsweise der posierenden Wärter) auffängt, verfügt das Objekt nicht über die Fähigkeit, zu blicken und damit die Kamera zu leiten. Der Betrachter der Bilder kann nur ahnen, dass sich unter den Kapuzen wütende, traurige, selbstbewusste Blicke verbergen. Aber er sieht sie nicht. Die Gefangenen sind abgeschnitten von der sozialen, wahrnehmenden und interagierenden Welt um sie herum. Die Desozialisierung und Dehumanisierung wird durch ihre Blindheit komplett. Texte und Bilder weisen eine zentrale Gemeinsamkeit auf: Die Blindheit des Opfers ist eine Art produktives Moment für alles, was um dieses Opfer herum geschieht. In Death and the Maiden wird die Tatsache, dass Paulina ihre Anschuldigungen nicht beweisen kann, selbst zum Beweis – für ihre Untauglichkeit als Zeugin, aber letztlich auch als ehemaliges Opfer in einem System, das versucht, diesen Opfern einen bestimmten Ort zuzuschreiben. Gleichzeitig etabliert ihre Blindheit eine ständige und unaufgelöste Unsicherheit im Text. Auch für den Leser gibt es bis zum Schluss keine Sicherheit über die Schuld oder Unschuld Robertos. Es ist, wie bereits erwähnt, diese Offenheit, die den Leser Position beziehen lässt – er muss selbst urteilen, denn der Text nimmt ihm dies nicht ab. In Coetzees Roman wird der blinde Fleck im Auge des Mädchens zum blinden Fleck des Textes – auch hier weiß der Leser nicht mehr als der Ma-

500 Ebd., 142.

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gistrat, also letztlich nur Vages über das, was unter der Folter geschah. Vor allem aber wird dieser Fleck zum blinden Fleck des Magistrats selbst. Er weiß eben gerade nicht, was das Mädchen (in ihm) sieht und kennt daher auch nicht seine Rolle, die zwischen Täter und Retter oszilliert, bis er zum Opfer wird und darin endlich Eindeutigkeit erlangt. Bei den Bildern aus Abu Ghraib ist es die Blindheit der abgebildeten Opfer, die den Zuschauer in eine aktive Rolle verweist. Er blickt auf den zum Objekt degradierten Menschen und bestätigt wiederholend diese Degradierung, wissend, dass das blinde Opfer vor der Kamera diesen Blick des Betrachters nie ahnen und sich nicht dagegen wehren konnte. Es war der Appell, Position zu beziehen, der aus diesen Bildern spricht, der maßgeblich als Auslöser der zeitgenössischen Debatte über Für und Wider der Folter fungierte. Die Blindheit des Folteropfers ist für den Leser der Texte oder Betrachter der Bilder einerseits Bestandteil und Beleg für die Opferrolle und damit Zeugenschaft der Gefolterten. Gleichzeitig gehen die blinden Zeugen aus dem Foltergeschehen aber weder als terstis (sie waren nicht dritte Beobachter, sondern blinde Zweite) noch als auctor (Autorität ist gerade das, was man ihnen abspricht) hervor, sondern einzig als superstes. Unter welchen Bedingungen sich diese Zeugenposition ändern kann, soll im Kapitel Dimensionen gezeigt werden. Hier möchte ich mich zunächst noch einem weiteren Aspekt der Zeugenschaft von Folteropfern zuwenden: dem Trauma.

4.2 D ER T RAUMAZEUGE Im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen wird ein traumatisches Ereignis bezeichnet als „das direkte, persönliche Erleben einer Situation, die mit dem Tod oder der Androhung des Todes, einer schweren Verletzung oder einer anderen Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit zu tun hat oder die Beobachtung eines Ereignisses, das mit dem Tod, der Verletzung oder der Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit einer anderen Person zu tun hat oder das Miterleben des gewaltsamen und unerwarteten

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Todes, schweren Leids, oder Androhung des Todes oder der Verletzung eines Familienmitglieds oder einer nahe stehenden Person.“501

Solche Erlebnisse sind unter anderem „kriegerische Auseinandersetzungen, gewalttätige Angriffe auf die eigene Person, […] Gefangenschaft in einem Konzentrationslager […]“.502 Es kann also nicht bezweifelt werden, dass bei Folteropfern beziehungsweise -überlebenden alle Kriterien für eine mögliche Traumadiagnose erfüllt sind. Das Sprechen über die traumatischen Ereignisse, beispielsweise in Form der Aussage gegenüber einem Ermittler oder Juristen oder als Bericht an einen Arzt, wird zum Symptom einer Krankheit und kann gleichzeitig Teil des Heilungsprozesses derselben Krankheit sein.503 Der Ermittler – oder Arzt – wird dabei selbst zum Zeugen, gar zu einer Art „SchlüsselZeuge“:504 Er bringt den Überlebenden durch seine Gegenwart und sein Zuhören zum Sprechen, dazu, Zeugnis abzulegen. Geoffrey Hartmann bezeichnet in diesen Fällen die Beziehung zwischen Fragensteller und Befragtem oder Hörer und Erzähler als ein „Zeugenschaftsbündnis […] in Abwandlung des ‚therapeutischen Bündnisses‘“.505 Obgleich es zu den traumatischen Symptomen gehört, „Gespräche über das traumatische Ereignis […] absichtlich zu vermeiden“,506 sprechen viele Überlebende im Rahmen ihres Berichts explizit von der „Wunschvorstellung nach der Befreiung, jemanden zu finden, der sie ausreden lässt – eine Wunschvorstellung, die in den meisten Fällen nicht erfüllt worden ist“. Immer wieder sagen Überlebende

501 Saß, Henning (Hg.): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, Göttingen 2003, S. 515. 502 Ebd. 503 Vgl. Felman, Shoshana: Education and Crisis, or the Vicissitudes of Teaching, in: Dies. Laub, Dori: Testimony. Crisis of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History, New York, 1992, S. 4f. 504 Ebd. 505 Hartmann, Geoffrey: Die Ethik des Zeugnisses. Ein Interview mit Geoffrey Hartmann, in: Elm, Michael/Kößler, Gottfried (Hg.): Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Frankfurt a.M. 2007, S. 52-79, hier: S. 57. 506 Saß, Henning (Hg.): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, Göttingen 2003, S. S. 516.

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massiver und dauerhafter Gewalt aus, sie haben allein eben jener Aussage wegen überlebt. Dennoch wurde, was die Überlebenden in der Folterhaft erlebten, häufig bis zum Zeitpunkt der Aussage nicht erwähnt, es besaß keine sprachliche Wirklichkeit und war damit in der Lebenswirklichkeit der Zeugen nicht präsent. Diverse traumatherapeutische Methoden setzen genau an diesem Spannungsverhältnis zwischen Schweigen- und Sprechen-Wollen an. Gleichzeitig spielt in der therapeutischen Arbeit mit Traumaüberlebenden507 die Nähe zu juristischer Aussage, Zeugnis und Zeugenschaft eine wichtige Rolle, die teilweise auch bewusst eingesetzt wird. Jene Behandlungsmethode, in der das Zeugnis die Brücke zur Bewältigung des eigenen Traumas darstellt, wird etwa seit den 80er Jahren in zahlreichen Ländern angewendet und firmiert mittlerweile auch unter dem Namen „Zeugnistherapie“ bzw. „Testimony therapy“.508 Einer der bekanntesten und frühesten Vertreter dieser Methode ist der Psychiater und Holocaust-Überlebende Dori Laub. Laub übernahm 1981 ein sogenanntes grassroots-project, in dessen Rahmen auf

507 Obwohl ich in weiten Teilen der Untersuchung bewusst von „Opfer“ (und „Täter“) der Folter spreche – im Zusammenhang mit literarischen Texten zur Folter liegt diese Dichotomie nahe und scheint mir angebracht –, werde ich im Abschnitt zu traumatherapeutischen Ansätzen von „Überlebenden“ der Folter sprechen, da es den Betroffenen ein in der Therapie selbst immer wieder geäußertes Anliegen ist, nicht als Opfer, sondern als Überlebende oder Sieger betrachtet zu werden. Die Gesprächstherapie soll einen Beitrag dazu leisten, die „Handlungsmacht“ des Überlebenden wiederherzustellen. Das Recht auf Selbstbestimmung, insbesondere der eigenen Funktion und Position, gehört essentiell dazu und soll hier selbstverständlich respektiert werden. Vgl. zur Selbstbezeichnung von Folterüberlebenden u. a.: Görling, Reinhold: Wie über Folter sprechen?, in: Karger, André: Vergessen, vergeben, vergelten, versöhnen? Weiterleben mit dem Trauma, Psychoanalytische Blätter, Bd. 30, Göttingen 2011, S. 131-148, hier: S. 142. 508 Perera, Chitral/Puvimanasinghe, Shyamali/Agger, Inger: Giving Voices to the Voiceless. Using Testimony as a Brief Therapy Intervention in Psychosocial Community Work for Survivors of Torture and Organised Violence. A Manual, a Cooperation of People against Torture, Sri Lanka, Asian Human Rights Commission, Hong Kong, and Rehabilitation and Research Center for Torture Victims, Denmark 2011, S. 14. Im Folgenden: Sri Lanka Manual.

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einer Privatinitiative beruhend Überlebende vor laufender Kamera zu ihren Erlebnissen während des Holocaust befragt wurden. Der Psychiater überführte das Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies an die Universität Yale. Im Herbst 2012 hatte es über 4400 Videozeugnisse in seinem Bestand.509 Die Interviewer sind zwar psychologisch geschult, wie es in der Selbstbeschreibung des Archivs heißt, greifen aber nicht gesprächsführend ein, sondern stellen gegebenenfalls lediglich Hintergrundfragen. Aussagemotivation für die Überlebenden ist laut Geoffrey Hartmann, ebenfalls einer der Archivleiter der ersten Stunde, dass ihnen „die Möglichkeit gegeben wird, für sich selbst zu sprechen“.510 Ein Anliegen, das auch in anderen Sprechsituationen über Traumata geäußert wird: Unter dem Titel „Auch wenn Du die Spuren ein Leben lang tragen musst…“ Betroffene erzählen von Folter und Flucht511 fassen zwei Psychotherapeuten Redebeiträge von Folterüberlebenden zusammen, die im Rahmen eines Workshops in Berlin Anfang der 90er Jahre entstanden. Nahezu alle Redner geben als Motivation zur Beteiligung an dem Workshop an, sie wollten zeigen, sie seien „keine Opfer“, sondern hätten unter der Zuschreibung der Opferrolle im gängigen Folterdiskurs zu leiden. 512 Gleichzeitig fällt auf, dass die Redner des Workshops immer abstrakt, politisch und theoretisch über Folter sprechen oder aber über die Folter anderer berichten, nicht aber konkret von eigenen Foltererlebnissen erzählen, oder diese lediglich in Andeutungen umkreisen. Ein aktuelleres Beispiel, das mit ganz ähnlichen Ansätzen arbeitet und zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommt wie das Fortunoff Archive, dabei aber besser in den Kontext „Foltererzählungen“ passt, ist ein Projekt, das Mitarbeiter verschiedener NGOs mit Folterüberlebenden in Sri Lanka

509 http://www.library.yale.edu/testimonies/about/index.html, Seite zuletzt aufgerufen am 15. 10. 2012. 510 Hartmann, Geoffrey: Der längste Schatten. Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust, Berlin 1999, S. 194. 511 Hibbeler, Stefan/Simon, Angelika: „Auch wenn Du die Spuren ein Leben lang tragen musst…“. Betroffene erzählen von Folter und Flucht, in: SchulzHageleit, Peter in Zus. m. Amnesty International (Hg.): Alltag – Macht – Folter. Elf Kapitel über die Verletzung der Menschenwürde, Düsseldorf 1993, S. 84-94. 512 U. a. ebd.

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durchführten. Sie wendeten ebenfalls die Zeugnistherapie an und erstellten auf der Grundlage ihrer Erfahrungen ein Handbuch (2011), das den speziellen kulturellen und sozialen Kontext der Klienten in Sri Lanka berücksichtigt. Im Rahmen einer Zeremonie, die rituelle und spirituelle Bräuche der einzelnen Ethnien in Sri Lanka aufgreift, legen die Traumatisierten ihr Zeugnis ab.513 Im Zentrum dieser Zeugnistherapie, die unter der Anleitung von Psychotherapeuten durchgeführt wird, können primäre, aber auch sekundäre Betroffene stehen – also beispielsweise auch nahe Verwandte oder Freunde eines Menschen, der sich in Folterhaft befand. Der Bericht des Überlebenden oder sekundär Betroffenen wird von einem Protokollanten mitgeschrieben. Innerhalb eines vorher festgelegten Rahmens, der privat oder auch öffentlich sein kann, wird dem Klienten „sein Zeugnis“ überreicht.514 Die Autoren des Manuals berichten über die Schwierigkeiten, die mit dem Aussageprozess einhergehen: Der Traumatisierte muss, während er erzählt, die traumatisierenden Ereignisse erneut durchleben. 515 Er muss jenes Schweigen brechen, mit dem er sich vor dieser Retraumatisierung zu schützen versuchte. Diese Erneuerung des Traumas kann jedoch einerseits dabei helfen, die eigenen Ängste zu verstehen und zu verarbeiten. 516 Andererseits werden die Erlebnisse durch die Einbindung in eine Zeremonie, durch das wörtliche Mit-Teilen, in das kollektive Gedächtnis überführt.517 Es werden nachträglich Zeugen geschaffen für das, was unter der Folter geschah, und der Überlebende ist nicht mehr allein verantwortlich für die Bewahrung der Erinnerung. An diesem Punkt gehen die Therapeuten in Sri Lanka auch einen entscheidenden Schritt weiter als beispielsweise die Initiatoren des Fortunoff Archive: Nach Absprache und Billigung der Klienten sind die Aussagen von Anfang an zur Publikation vorgesehen – beispielsweise in einer zu diesem Zweck etablierten Rubrik in Sri Lankas Tageszeitung Daily Mirror unter dem Titel Giving Voice to the Voiceless –518 und können sogar zur juristischen Verwertung aufbereitet werden.519 Aus der

513 Sri Lanka Manual, S. 18. 514 Ebd., S. 27. 515 Ebd., S. 21. 516 Vgl. ebd. 517 Vgl. ebd. 518 Ebd., S. 14. 519 Ebd., S. 29.

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therapeutischen und rituellen Zeugenschaft kann damit juristische Zeugenschaft werden. Dieses Verfahren, in dem das buchstäbliche Ablegen einer Erzählung im Mittelpunkt steht, schlägt auf einzigartige Weise eine Brücke zwischen individueller und kollektiver Aufarbeitung des Foltertraumas. Durch die Schaffung von – juristischen und sozialen – Zeugen des Zeugnisses wird der einzelne zum einen von der alleinigen Verantwortung für die Zeugenschaft entbunden und zum anderen erhält er auf demselben Weg auch die Möglichkeit juristischer Rehabilitation und Wiedergutmachung. Im Fall des Fortunoff Archives und seiner Zeugen beziehungsweise Zeugnisse, aber auch im Fall der zeugnistherapeutischen Arbeit in Sri Lanka, stehen Aussagen im Mittelpunkt der gemeinsamen Arbeit von Überlebenden und Psychologen. Es sind Worte, die in Zeugnisse transformiert werden. Bei den meisten Folterüberlebenden kommt jedoch, wie bereits dargestellt, der physische Körper des Opfers als entscheidende Zeugnisinstanz hinzu. Das verbalisierte Erinnern beruht auf der Reaktivierung körperlicher Erfahrungen. Doch es geht nicht nur um das Aufrufen von Erinnerungszeichen, deren Ursprung physischer Natur ist; häufig trägt – es wurde bereits mehrfach erwähnt – auch der Körper selbst die Spuren der Gewalteinwirkung. Es ist dann nicht der Psychologe, sondern der Arzt, der zum unmittelbaren sekundären Zeugen der Folterereignisse und zum primären Zeugen des Zeugniskörpers wird. Besonders eindringlich illustriert diese Rolle die Arbeit des Hamburger Radiologen Hermann Vogel, der über dreißig Jahre lang Röntgenbilder von Folteropfern erstellte und sammelte.520 Der Mediziner beleuchtet im buchstäblichen Sinne die Spuren von Gewalt und schafft damit Zeugnisse für Taten, die andernfalls kaum nachweisbar gewesen wären. Die Röntgenbilder „entlarven von außen nicht erkennbare Verletzungen, somit auch Spuren von Folter. Eine gerichtsmedizinische Untersuchung macht Frakturen, eingeführte Fremdkörper, Nadeln sichtbar. Die Aufnahmen ermöglichen eine Plausibilitätsprüfung.“ 521 Der Arzt wird damit zugleich zum Gewährsmann des Opfers. Die Bilder des Radiologen werden als Beweismittel sowohl in Gerichts- als auch in Asyl-

520 Vgl. u. a.: Brogdon, Byron Gilliam/Vogel, Hermann/McDowell, John D. (Hg.): A Radiologic Atlas of Abuse, Torture, Terrorism, and inflicted Trauma, London und New York 2003. 521 Vogel, Hermann: Unter die Haut. Interview von Antje Windmann, in: Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 9 (27. 02. 2009), S. 28-32, hier: S. 32.

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verfahren herangezogen. „Für die Opfer ist es ein weiteres Argument, wenn ein Radiologe ihre Aussagen bestätigt.“522 Der Arzt wird damit nicht nur zum Zeugen des Opferleibes und damit zum Leibeszeugen in einem Sinne, der bereits in der Améryschen Begriffsverwendung mit anklingt, er ist es selbst, der den Körper in das Zeugnis überführt. Durch diese buchstäbliche Herstellung des Zeugnisses schafft der Arzt zusätzlich erst die Voraussetzungen für eine mögliche Aussage – nicht nur im juristischen Sinne; er ermöglicht ein Sprechen über die Ereignisse schlechthin. Wo keine Spuren eines Ereignisses, das nahezu immer physisch gedacht wird, nachweisbar sind, erscheint das bloße Sprechen darüber sinnlos. Unsichtbare Foltermethoden sind daher, wie Darius Rejali bemerkt, in besonderer Weise dafür geeignet, ihr Opfer verstummen zu lassen. „Stealth torture breaks down the ability to communicate.“523 Dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen diesen „verdeckten Foltermethoden“ und demokratischen Systemen gibt, ist ebenfalls eine Feststellung Rejalis, auf die ich im Folgenden noch einmal zurückkommen werde. Die Arbeit Hermann Vogels, aber auch die der Psychologen, die mit zeugnistherapeutischen Ansätzen arbeiten, zeigt auch, dass es sich bei diesen sekundären Zeugen der Folterereignisse um Menschen handelt, die an der Schnittstelle zwischen individueller und kollektiver Traumabewältigung arbeiten. Beide Aspekte verfügen über eine große Schnittmenge, beziehungsweise zeigen, dass die individuelle häufig die Grundlage für die kollektive Bewältigungsarbeit ist. Auf die Bedeutung der institutionellen Aufarbeitung kollektiver wie individueller Traumata werde ich im anschließenden vierten Teil dieses Buches eingehen.

522 Ebd. 523 Rejali, Darius: Torture and Democracy, Princeton 2007, S. 8.

5. Resümee

Nachdem der zweite Teil dieses Buches in das Verhältnis zwischen dem Folterer und seinem Opfer und damit in die Mechanismen von Macht und Gewalt eingeführt hat, lag der Fokus in diesem dritten Teil auf dem Opfer, dessen Möglichkeiten und Unmöglichkeit über die Folter zu sprechen, und hat sich damit hin zum Verhältnis zwischen Folteropfer und dem potentiellen Leser des Foltertextes – auf Körpern, Papier oder Styroportassen – verschoben. Der Lektüre ist dabei Sprechen wie Schweigen in gleicher Weise ausgesetzt. Beide möglichen Haltungen des Opfers – Schweigen oder Schweigen brechen – können letztendlich derselben Intention folgen. Während bei den Poems from Guantánamo der Prozess des Dichtens zur Maßnahme des Selbsterhalts, zum Widerstand schlechthin wird, ist in Waiting for the Barbarians das Gegenteil der Fall. Das Mädchen verweigert sich der Forderung nach der Versprachlichung der Ereignisse unter der Folter und leistet nicht nur Widerstand gegen den erneuten Zugriff, sondern hält damit gewissermaßen der Unsagbarkeit der Schmerzerfahrung die Treue und erhält gleichzeitig jenen Sinn oder Unsinn, den Améry dem Schmerz zuspricht, der ausschließlich für den, der ihn erlebte „war, der er war“. Schmerz erschließt sich einzig in der Aktualität seines Vollzugs und auch der Magistrat kann den Folterschmerz entsprechend nicht aus zweiter Hand erfahren, sondern nur erleben. Der Körper des Gefolterten steht dabei stets im Zentrum als einziges Medium der Schmerzerfahrung und letztlich aber auch als Zeuge und Zeugnis des Folterschmerzes. Die vorangegangenen Kapitel haben nicht nur die Möglichkeiten dieser Zeugenschaft gezeigt, die ebenfalls zu Widerstand, Selbsterhalt und Fortschreiben werden kann, sondern auch die Verfahren, die sie vereiteln wollen, allen voran die Blendung, die damit die Folter gewissermaßen mitgestalten. Gleichzeitig sind die

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Leistungen von Zeugenschaft auch im Nachgang der Folter vielfältig und reichen von traumatherapeutischen Ansätzen über die Herstellung sozialer Verantwortlichkeiten bis hin zu juristischen Verfahren. Der Aspekt der Zeugenschaft weist bereits über den bloßen Text hinaus auf den Kontext, in dem dieser Text entsteht und wahrgenommen wird, und führt damit unmittelbar hin zum vierten Teil dieser Untersuchung, der sich mit den Voraussetzungen unter und Zusammenhängen, in denen Foltererzählungen entstehen, befasst.

IV. Dimensionen: Wer spricht von Folter?

Tell your story! TRC-PLAKATTEXT

1. Nach der Folter – Opfer, Täter und der neue Staat

Das Verfassungsgericht Südafrikas unterhält eine umfangreiche Kunstsammlung, die von dem langjährigen Verfassungsrichter Albie Sachs eingerichtet und kuratiert wurde. Sachs war 1988 während der Apartheid Opfer eines Anschlags geworden, durch den er schwer verletzt und gezwungen wurde, über Jahre ins Londoner Exil zu gehen. In dieser Sammlung Sachs’, die überwiegend aus Spenden von bekannten afrikanischen Künstlern besteht, befinden sich auch Werke der Künstlerin Judith Mason. 524 Die dreiteilige Serie The man who sang and the woman who kept silent besteht aus einem aus Plastik gefertigten Abendkleid, einem Damenhosenanzug und einer Art Schürze, jeweils installiert in einer Glasvitrine. Es ist Masons sehr eigener Beitrag zu Versöhnung und Wiedergutmachung, wie sie in Südafrika seit dem Ende der Apartheid und der darauffolgenden Gründung der sogenannten Truth and Reconciliation Commission (allgemein abgekürzt als TRC) angestrebt wird. Das Werk ist die symbolische Wiederherstellung der Würde einer jungen Widerstandskämpferin, die unter der Apartheid festgenommen und inhaftiert worden war. Im Zuge der „Hearings“, also Anhörungen durch die TRC, zu denen ich mich im Folgenden noch ausführlich äußern werde, war die Geschichte der jungen Aktivistin bekannt gewor-

524 http://concourt.artvault.co.za/index.php?cid=355&pg=1&ob=artists. sname&od =0&filterfield=artist id&filterfi_eld=artistid&filter=_1702, zuletzt aufgerufen am 18. 01.2013.

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den:525 Ein ehemaliger Verhörbeamter erzählte, wie er und Kollegen versuchten, den Willen der Frau in einem ihrer Verhöre zu brechen. Sie leistete Widerstand – und die Männer zogen sie nackt aus. Der Beamte berichtete, wie er sie zwang, sich nackt vor ihn zu knien und er eine Pistole auf ihren Hinterkopf richtete. Er verstärkte die Drohung durch die Ankündigung, er werde sie erschießen. Der Mann erschoss sie tatsächlich – angeblich „aus Versehen“.526 Der Verhörbeamte konnte den Kommissionsmitgliedern die Stelle auf dem Gelände einer Farm nennen, an der man das Opfer verscharrt hatte. Ihre Exhumierung wurde angeordnet und man fand die Leiche tatsächlich: Ein Skelett mit einem Einschussloch im Hinterkopf – und einer Plastikunterhose um die Hüfte, gefertigt aus einem blauen Müllsack. Die Frau hatte sich aus Scham aus dem einzig verfügbaren Stoff – einem Müllsack – eine Unterhose gemacht, um sich wenigstens minimal gegen die Blicke und Übergriffe der Männer zu schützen. Mit dieser Hose hatte man sie begraben und sie stand nun für ihre Geschichte. Eine Geschichte, deren Ende Mason nachträglich umschrieb: Sie fertigt eine ganze Garderobe an für das Opfer, festliche Kleidung und solche, die für gelebten Alltag steht, um die Würde der entblößten Frau wiederherzustellen. Die Werke Masons befinden sich an einem Ort, dem eben diese Erwartung entgegen gebracht wird, die Mason mit ihren Mitteln als Künstlerin zu erfüllen versucht: Die Würde der Opfer auf dem Wege von Recht und Gerechtigkeit wiederherzustellen. Genau dies aber konnte und kann die TRC nicht: Die Kommission hörte zwar Opfer wie Täter – Recht aber sprach sie nicht. Die Gerichte waren nicht in der Lage, die Geschichten der Opfer im Sinne juristischer Gerechtigkeit zu Ende zu schreiben, aber in den Anhörungen hatten die Betroffenen immerhin die Gelegenheit, sich selbst überhaupt Geschichten zu geben. Genau dies übernimmt Mason – symbolisch – für die ermordete Aktivistin. Damit zieht eine Form von Gerechtigkeit in die Mitte des Gerichtes ein – als Gebäude und Institution –, die herzustellen es mit juristischen Mit-

525 Vgl. Goldberg, Denis: Südafrika. Der Übergang zur Demokratie und das Verbot der Folter, in: Görling, Reinhold (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte, München 2011, S. 127-136, hier: S. 133f. 526 Ebd.

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teln selbst nicht in der Lage gewesen wäre: Ein Umstand, der Sachs beim Aufbau seiner Sammlung bewusst gewesen sein dürfte.527 Dennoch ist der Anspruch der TRC ein ähnlicher, wie jener Masons in Bezug auf das Opfer, das für sich selbst nicht mehr sprechen kann. Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission wurde 1995, basierend auf dem National Unity and Reconciliation Act 528 eingerichtet. Die TRC folgte dem Beispiel Südamerikas, insbesondere Chiles, wo Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre vergleichbare Kommissionen eingerichtet worden waren. Während die Verfassung in Chile oder Argentinien neben der Arbeit der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen aber auch rechtsförmige Strafverfolgungen vorsah,529 wurde darauf in Südafrika vollständig verzichtet – vorausgesetzt, die Täter bekannten sich zu den Vorwürfen und trugen zu deren Aufklärung bei. Die südafrikanische TRC sah sich selbst als „alternative to both ‚amnesia‘ and ‚Nuremberg Trials‘“.530 Mit der Etablierung der TRC wurde in Südafrika der sogenannte Transitionsprozess eingeleitet, also der erste Schritt auf dem Weg vom Unrechtsstaat zu einem

527 Albie Sachs hatte sich am bewaffneten Widerstandskampf gegen das südafrikanische Apartheidsregime beteiligt und musste ins Exil nach Mosambik fliehen. In dessen Hauptstadt wurde ein Autobombenanschlag auf ihn verübt, bei dem er ein Auge und einen Arm verlor. 1990 konnte er als Richter nach Südafrika zurückkehren, wo ihn Nelson Mandela an den neu geschaffenen Verfassungsgerichtshof berief. Sachs bezeichnet diesen Umstand als seine persönliche „sanfte Rache“ an den Attentätern: „The whole achivement of our wonderful new democratic constitution is soft vengeance.“ In Interviews hinterfragt er immer wieder die Möglichkeiten und Risiken des Erzählens der eigenen Geschichte und jener seines Landes – insbesondere gegenüber seinem eigenen Sohn. S. unter anderem: Barkham, Patrick: Albie Sachs: ‚I can’ t tell my son everything‘, in: The Guardian (08. 10. 2011), London, S. 1 (family section). 528 http://www.justice.gov.za/legislation/acts/1995-034.pdf, zuletzt aufgerufen am 21. 01. 2013. 529 Eser, Albin/Arnold, Jörg: Einführung in das Gesamtprojekt, in: Albin Eser, Ulrich Sieber und Jörg Arnold (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Berlin 2012, S. 12-33, hier: S. 18. Im Folgenden: Eser/Arnold: Einführung. 530 Ross, Fiona: Bearing Witness. Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa, London 2003, S. 1.

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demokratisch verfassten und gefestigten Staat. Die Transition wird dabei noch vor der eigentlichen Transformation der Staatsform angesiedelt. Unter Transition „wird der unmittelbare politisch-institutionelle Übergang vom diktatorisch und/oder autoritären System zur Demokratie verstanden, unter [Transformation, T.P.] der darauf beruhende Prozess der Herausbildung und Konsolidierung der Demokratie“.531 Grundsätzlich werden drei mögliche, im weitesten Sinne „strafrechtliche“ Reaktionsmodelle auf unrechtmäßige Staatssysteme532 unterschieden: das Schlussstrichmodell, das Strafverfolgungsmodell und das Aussöhnungsmodell.533 In Südamerika existierten – wie bereits erwähnt – Mischformen aus Aussöhnung- und Strafverfolgungsmodellen. Das Mandat der argentinischen Wahrheitskommission CONADEP, die die Verbrechen der Militärjunta zwischen 1976 und 1983 untersuchen sollte, legte die Priorität auf die verschwundenen Opfer. Die CONADEP nahm ein Jahr lang (1984) Anzeigen zu entführten und verschwundenen Personen entgegen. Diese Anzeigen und die dazu angelegten Akten bildeten später die Grundlage für die Anklagen gegen die ersten neun ehemaligen Kommandeure der Militärjunta.534 Darüber hinaus gab es in Argentinien zahlreiche private Initiativen, die sich bemühten, die Schicksale der Diktaturopfer aufzuklären und öffentlich bekannt zu machen.535 In Chile war die 1990 eingesetzte Rettig-Kommission „das bevorzugte Instrument zu Vergangenheitsbewältigung“. 536 Auch hier galt das Ziel, sowohl die gesellschaftliche und politische Aussöhnung als auch die Grundlage für eine künftige juristische Aufarbeitung zu schaffen. Wie im Zuge der Untersuchung des Dramas Death and the Maiden von Ariel Dorfman

531 Arnold, Jörg: Fortentwicklung der Projektkonzeption, in: Albin Eser, Ulrich Sieber und Jörg Arnold (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Berlin 2012, S. 34-73, hier: S. 45. 532 Der Normenrahmen auf den sich „Systemunrecht“ bezieht, bleibt in den meisten rechts- und politiktheoretischen Untersuchungen zum Thema eher unklar, scheint aber in der Regel von den Maßgaben des Internationalen Rechts auszugehen. 533 Eser/Arnold: Einführung, S. 15. 534 Ebd., 342f. 535 Ebd., 343. 536 Ebd., 345.

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bereits erwähnt wurde, durfte die Rettig-Kommission allerdings nur Fälle von Folter mit Todesfolge untersuchen und es war ihr strengstens untersagt, selbst rechtssprechende Funktionen zu erfüllen. Im Folgenden möchte ich mich auf das Beispiel der TRC in Südafrika konzentrieren. Bei der Einrichtung der Kommission konnte bereits auf die südamerikanischen Erfahrungen zurückgegriffen werden. Zudem ist durch die umfassende Dokumentation der TRC auf deren eigenen Internetseiten, wo ein Großteil ihrer Berichte und Dokumente zugänglich ist, aber auch durch die umfangreiche Medienberichterstattung sowie zahlreiche Publikationen, die Forschungslage besonders günstig und transparent. Als Apartheid in Südafrika werden in der Regel die Jahre zwischen 1948 und 1990 bezeichnet. Obwohl auch schon vor 1948 Gesetze erlassen worden waren, die die gesellschaftliche, politische und juristische Ungleichbehandlung von Schwarzen und Weißen festschrieben, wurde dieses System ab 1948 verfestigt und zu einem ständigen Ausnahmezustand, der es ermöglichte, vermeintliche politische Aktivisten bis zu 120 Tage ohne konkreten Tatvorwurf und ohne Rechtsbeistand festzuhalten.537 Allein in den Jahren zwischen 1960 und 1990 wurden etwa 78 000 Menschen festgenommen. 25 000 Festnahmen fallen dabei in die Jahre 1986/87, als das Apartheidregime seinen Höhepunkt an Grausamkeit und Willkür erreichte.538 Der Systemwiderstand organisierte sich vor allem über den African National Congress (ANC), dessen unumstrittener Führer, Nelson Mandela, am 11. Februar 1990 nach über 27 Jahren aus der Haft entlassen wurde.539 Noch im Mai desselben Jahres nahm Mandela für den ANC Verhandlungen mit der Regierungspartei (NP) auf, die jedoch von gewaltsamen Unruhen im ganzen Land begleitet wurden. Mandela und sein Verhandlungspartner, Regierungschef Frederik Willem de Klerk, sahen sich vor die Aufgabe gestellt, den Systemübergang inklusive Verfassungsverhandlungen einzuleiten, dabei aber einen drohenden Bürgerkrieg zu vermeiden. Die einzige Möglichkeit sah man darin, Tätern „schwerer Menschenrechtsverletzun-

537 Eser/Arnold: Einführung, S. 110. 538 Goldberg, Denis: Südafrika. Der Übergang zur Demokratie und das Verbot der Folter, in: Görling, Reinhold (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte, München 2011, S. 127-136, hier: S. 131. 539 Eser/Arnold: Einführung, S. 111.

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gen“ Amnestie einzuräumen, „unter der Bedingung, dass sie ihre Taten gestehen. Ohne Einigung auf Amnestie wäre der vielbeschworene Bürgerkrieg wohl nicht zu vermeiden gewesen.“ 540 Im April 1994 konnten die ersten allgemeinen Wahlen in Südafrika stattfinden, die der ANC klar gewann und in deren Folge Nelson Mandela als Staatspräsident vereidigt wurde.541 Der damit eingeleitete politische Neubeginn „setzt[e] einen Wandel in Staat und Gesellschaft voraus, für den ich keinen treffenderen Begriff gefunden habe als ‚Katharsis‘ […]“.542 Diesen Wandel in allen gesellschaftlichen Bereichen – also bei Tätern wie Opfern – herbeizuführen, war Aufgabe der TRC. Dabei gab man dem Anspruch der Aufklärung von Verbrechen, also dem Wunsch nach „Wahrheit“, klar den Vorzug vor einer möglichen Strafverfolgung. Wenn Täter nachweislich zur Aufklärung von Verbrechen beitrugen, wurde ihnen Straffreiheit zugesagt. In der Vorlage für das Gesetz, auf dessen Grundlage die Einrichtung der TRC verabschiedet wurde, heißt es zu den Aufgaben der Kommission: „The objective of the Commission will be to achieve national unity and reconciliation through the work it is mandated to do, which work will include investigations into gross violations of human rights, the granting of amnesty for acts, omissions and offences associated with political objectives and the recommendation of measures for the restoration of the human and civil dignity of the victims. A gross violation of human rights is defined as the killing, abduction, torture or severe ill-treatment of any person by someone acting with a political objective. It includes, among others, the planning of such acts and attempts to commit them. Amnesty may be given for acts, omissions or offences described as ,acts associated with a political objective’ and which is defined in the Bill. The definition also requires that such conduct must comply with the internationally accepted Norgaard principles (clause 20). Only acts associated with a political objective which were committed during the period from 1 March 1960 (the month of the Sharpeville mas-

540 Ebd., S. 112. 541 Ebd., S. 111. 542 Ebd., S. 411.

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sacre) to the last possible date specified in the interim Constitution (at present 5 December 1993) shall be considered for amnesty. In view of the broad agreement that the Commission should complete its work as speedily as possible, the Commission will focus on gross violations of human rights committed since 1960.“543

In derselben Gesetzesvorlage wird auch die formelle Organisation der Kommission festgelegt: Um ihre politische Unabhängigkeit zu wahren, sollten „people with a high political profile […] not be allowed to serve on the Commission“. Ihr international wohl bekanntestes Mitglied und Vorsitzender war der anglikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu. Die 17 Mitglieder gehörten drei Komitees an: dem Committee on Human Rights Violations, dem Committee on Amnesty und dem Committee on Reparation and Rehabilitation. Beim Committee on Human Rights Violations und dem Committee on Amnesty handelte es sich um jene Gremien, die unmittelbar mit den Betroffenengruppen befasst waren. Das erstgenannte hatte die Aufgabe, Opfer von massiven Menschenrechtsverletzungen oder aber deren Angehörige – indirekt Betroffene also – anzuhören. Der Ausschuss sollte möglichst umfassend die Umstände und Beteiligten der einzelnen Taten aufklären. Zudem konnte das Komitee Betroffenen offiziell den Opferstatus zusprechen. Das Committee on Amnesty hatte die Aufgabe, zu entscheiden, ob Täteraussagen umfassend genug waren, um Straffreiheit zu gewähren. Jede positive Amnestieentscheidung musste dem Präsidenten vorgelegt werden und der Ausschuss hatte außerdem die Aufgabe, die Namen der Antragsteller in der Government Gazette zu veröffentlichen.544 Somit gab es also zwei unterschiedliche Organe für die Opfer- und Tätergruppen, die jeweils unabhängig voneinander die Möglichkeit hatten, Aussagen zu machen. Die Ergebnisse der Anhörungen beider Gremien fanden im Committee on Reparation and Rehabilitation gewissermaßen zusammen: Diesem Gremium wurde von den anderen beiden Bericht erstattet und es hatte die Aufgabe, Empfehlungen an die Regierung auszusprechen, welche konkreten Schritte zur Versöhnung und Wiedergutmachung unternommen werden könnten. Insbe-

543 http://www.justice.gov.za/trc/legal/bill.htm, zuletzt aufgerufen am 21.01.2013. 544 Ebd.

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sondere die Mitglieder des Committee on Amnesty fragten zu diesem Zweck bei Hearings immer wieder konkret nach, welche Erwartungen bei Betroffenen bestünden, was sie sich für sich oder für die Täter wünschten. 545 Insgesamt sagten 21 297 Personen vor der TRC aus. Bei diesen Aussagen wurden 46 696 Verbrechen beschrieben, denen 28 750 Menschen zum Opfer gefallen waren.546 Etwa 2 000 Opfer konnten öffentlich – das heißt vor laufenden Übertragungskameras – sprechen. Sukzessive schrieben sich deren Geschichten, die sich bis dahin in der „Dark Chamber“, in der Uneinsehbarkeit der Folterkammer, abgespielt hatten, so in das nationale Bewusstsein ein. Für die Täter war ihr Beitrag zur Aufklärung dieses Bewusstseins der einzig sichere Weg, sich vor Anklage und Verurteilung zu schützen. Wahrheitskommissionen zu etablieren ist nur ein Weg, dem politischen Bruch, dem nationalen Trauma und den dramatischen Einzelschicksalen nach dem Niedergang eines Unrechtsregimes zu begegnen. Es ist aber jener Weg, der unmittelbar mit dem Erzählen der traumatischen Ereignisse – zumeist und in diesem Kontext insbesondere: der Folter – verbunden ist. Nicht nur wird vor Kommissionen erzählt, sondern auch jene literarischen Produktionen, die entweder von dieser institutionalisierten Form des Erzählens erzählen – und damit auf indirektem Wege von den Ereignissen selbst – oder direkt von der Unterdrückergewalt berichten, vervielfachen sich um die Zeit des Systembruchs herum. Bestehende Werke werden erstmals im eigenen Land oder oftmals überhaupt zum ersten Mal aufgelegt. Zu nennen wäre hier noch einmal Ariel Dorfmans bereits vielfach erwähntes Drama Death and the Maiden im chilenischen post-diktatorischen Kontext, Dos veces junio von Martín Kohan als Beispiel für entsprechende Literatur aus Argentinien und in Südafrika Werke wie Breyten Breytenbachs Confessions of an Albino Terrorist, Indres Naidoos Island in Chains oder Emma

545 Vgl. Ross, Fiona: Bearing Witness. Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa, London 2003, S. 82f. sowie die zahlreichen „Hearing Transcripts“ und der vollständige Kommissionsreport, die unter http://www.justice.gov.za/trc/amntrans/index.htm, zuletzt aufgerufen am 21. 01. 2013, eingesehen werden können. 546 Arnold, Jörg: Ergebnisse im Einzelnen, in: Eser, Albin/Sieber, Ulrich/Arnold, Jörg (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Berlin 2012, S. 74-391, hier: S. 356.

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Mashininis Strikes Have Followed Me All My Live sowie Gillian Slovos Red Dust. Insbesondere auf die bislang noch nicht oder kaum berücksichtigten Texte aus dem post-Apartheid-Südafrika werde ich im Folgenden teilweise noch einmal näher eingehen. Ich möchte an ihnen, mithilfe der vielfältigen Forschungsliteratur, die sich kritisch mit Wahrheits- und Versöhnungskommissionen auseinandersetzt, hinterfragen, in welchem Verhältnis Erzählen und Wiederherstellen insbesondere unter politischen, gesellschaftlichen und juristischen Aspekten stehen. Die konkreten Fragen, die – nebst anderen – hinter diesem Kapitel stehen, sind also: Wo wird erzählt? Wer erzählt? Und: Was wird erinnert? Oder anders: Aus welchen Texten besteht die Zukunft? Im folgenden Abschnitt der Arbeit wende ich mich versuchsweise auch einer Sorte Texte zu, die bisher kaum zu Sprache kam: Autobiografischen Texten von Aktivisten, die nicht immer literarische Autoren sind und waren, Bekenntnisliteratur und stark politisch motivierten Texten – mir scheint dies der richtige Ort in dieser Untersuchung, um auch solchen Texten Raum zu verschaffen, die größtenteils nie in den Kanon der international beachteten Literatur eingingen und vermutlich auch nie eingehen werden. Weil diese Texte nicht nur für ihre Autoren und deren Qualität sprechen, sondern weil sie in ganz besonderer Weise für die Kontexte sprechen, in denen sie entstanden. Sie sind weniger Zeichen für literarische Ambitionen als für die Ambitionen eines Staates und seiner Gesellschaft, Diskurse zuzulassen, die noch bis kurz vor der Entstehung dieser Texte undenkbar waren. Sie sprechen nicht nur von den Fort- und Rückschritten der Wiederherstellung einer Nation, sondern sie sind Anzeichen dafür.

2. Wahrheit II: Die Wahrheit des Verhörten

„The truth hurts: silence kills“547 lautete die Botschaft eines der Plakate, mit denen die TRC in Südafrika auf die von ihr abgehaltenen Anhörungen aufmerksam machte und mit denen auch die Anhörungsorte selbst behängt waren – als sollten die Beteiligten noch einmal an den Sinn ihrer Aussagebereitschaft erinnert werden. Auf anderen Plakaten war zu lesen „Revealing is healing“ oder schlicht die Aufforderung „Tell your story!“. 548 Nachdem ich mich in einer ersten Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Wahrheitsverhandlung bereits der Frage nach der Wahrheit unter der Folter gewidmet habe, möchte ich im Folgenden untersuchen, ob es eine und wenn ja welche Wahrheit es über die Folter geben kann. Auch die plakativen Aussagen, „Wahrheit heilt“, wohingegen „Schweigen tötet“, sollen hier zur Disposition stehen. Am Ende des mit dem Titel Die Wahrheit des Verhörs überschriebenen Kapitels im zweiten Teil des Buches stand bereits die Erkenntnis, dass es nicht nur unmöglich ist, eine objektive Wahrheit zu erfoltern, sondern dass sowohl Coeztees Roman Waiting for the Barbarians als auch Dorfmans Drama Death and the Maiden zeigen, wie der Versuch der Objektivierung, das Überführen von Erfahrung in Erkenntnis, geradezu wegführen von Realität und damit auch von Wahrheit. Dennoch tragen die meisten Institutionen zur staatlichen Aufarbeitung von vorangegangenem Systemunrecht die ‚Wahrheit‘ bereits im Namen. Kann es also gelingen, die private, intime Wahrheit über die Ereignisse der Folter in eine öffentliche Wahrheit zu überführen, zumal zunächst meist zwei ge547 Ross, Fiona: Bearing Witness. Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa, London 2003, S. 79. 548 Ebd., S. 78.

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gensätzliche Instanzen diese Wahrheit verwalten: Täter und Opfer? Letztere erscheinen dabei in einer schwierigen Position: Auch nach dem Ende des Regimes, das die Folter seiner Opfer ermöglichte, wirkt die Folter fort. Sie ist darauf angelegt, die Betroffenen vom Sprechen über die Ereignisse unter der Folter abzuhalten. Entlassungen aus der Haft erfolgten begleitet von der Warnung davor, jene Ereignisse auch nur zu erwähnen. Die Drohung hinter dieser Warnung war stets die Wiederholung der entsprechenden Ereignisse. Emma Mashinini, eine südafrikanische Aktivistin, die sich seit den 70er Jahren für eine Verbesserung insbesondere der Arbeitsbedingungen schwarzer Südafrikaner einsetzte, schildert, warum es für sie so schwierig war, über ihre Haft zu sprechen. Nach einem Nervenzusammenbruch gelingt es mit der Unterstützung von Kollegen und Freunden, sie in ein dänisches Behandlungszentrum für Folteropfer zu bringen. Über die Gespräche mit ihrer Therapeutin dort schreibt Mashinini: „Inge Genefke used to want me to speak out, to tell her what happened during the whole time of my imprisonment and what the torture was. I had to dig it out. I forgot some of the things, but she was so patient. She wanted me to dig and dig and speak about everything. But for me I was speaking to a white doctor, and I had spent so much time with the white police, surrrounded by white people. It was a white woman […] who had put those bracelets on me. And it was hard, very hard to trust her, this new white woman. As well as that, I had been told when I was released never, never to speak about my detention. So whenever I spoke I was leaving something out. I was fearful, terribly fearful, that this would leak out and get to them and I would be rearrested and charged for having spoken about things.“549

Die Tatsache, dass diese Sätze aus Mashininis Memoiren stammen, zeigt bereits, dass es für sie dennoch eine Möglichkeit des Sprechens gab. Ich werde im Folgenden auf Mashininis Text zurückkommen. Das Fortdauern des Zugriffs der Folterer im Schweigegebot ist nur ein Hindernis, das zwischen den Foltererlebnissen und deren Erzählung steht. Ein weiteres ist, dass die Folgen der Folterungen tatsächlich häufig die physischen und psychischen Fähigkeiten der Opfer tilgten, über diese Ereignis-

549 Mashinini, Emma: Strikes Have Followed Me All My Life. A Southafrican Autobiography, New York 1991, S. 92. Im Folgenden: Mashinini, Strikes.

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se zu sprechen. In einem der Hearings schildert Jean Middleton, eines der ehemaligen Opfer, verzweifelt die Unmöglichkeit, vom eigenen Wahn in der Folterhaft zu sprechen, der ebenjenes Subjekt, das in der Lage wäre, über sich selbst Auskunft zu geben, systematisch zerstörte. Auf die Frage eines der Kommissionsmitglieder nach den Auswirkungen der Einzel- und Dunkelhaft antwortet Middleton: „I can’t discribe its effects to you very well because you go slightly crazy and it’s very difficult to describe your own crazyness.“550 Dieser Unfähigkeit zur Aussage über die Folter stehen oft die Aussagen oder ‚Geständnisse‘ unter der Folter gegenüber. Dass es sich dabei in der Regel nicht um relevante Informationen oder wie auch immer geartete objektive Wahrheiten handelt, sondern um die rein subjektive Wahrheit des Folterers, deren Erzwingung lediglich ein weiterer Versuch des Machtbeweises ist, wurde bereits gezeigt. Hinzu kommt, dass mit dem Geständnis oft ein Akt der Selbstdestruktion einhergeht, jener Bruch, auf den die Folter abzielt und von dem bereits im vorausgehenden Kapitel zum Verhör die Rede war. Hier sei noch einmal mit Elaine Scarrys Worten der Kern des Problems zusammengefasst: Im Geständnis „[i]t is only the prisoner’s steadily shrinking ground that wins for the torturer his swelling sense of territory“.551 Das Opfer wird durch die Gewalt der Folter auf seinen Körper reduziert und im Geständnis bemächtigt sich der Folterer zudem dessen Sprechen. Übrig bleibt, was der Folterer übrig lässt. Im Geständnis macht sich das gebrochene Subjekt zu jenem Objekt, als das es der Folterer voraussetzt: „While undergoing repeated demands to confess during their prison experiences, most succumbed, reconstructing themselves in language along the lines demanded by their interrogators.“552 Da Susan VanZanten Gallagher den Bruch des Subjekts von seiner sprachlichen Destruktion ausgehen sieht, nimmt sie konsequenter Weise an, dass dieser Schritt schlicht umgekehrt werden kann und sich das Subjekt entsprechend sprachlich auch rekonstruieren kann:

550 Zitiert nach: Ross, Fiona: Bearing Witness. Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa, London 2003, S. 72. 551 Scarry, Elaine: The body in Pain. The Making and Unmaking of the World, New York and Oxford, S.36. 552 Gallagher VanZanten, Susan: Truth and Reconceiliation. The Confessional Mode in South African Literatur, Portsmouth 2002, S. 82.

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„[T]hey [die Opfer des Apartheidregimes, T.P.] had to recover themselves by making a freely offered, ‚true‘ confession that reclaimed their identity and established the kind of community they needed to exist.“553 VanZanten Gallagher sieht in Hearings wie jenen vor der TRC eine Möglichkeit zum „self-building“, also zur Wiederherstellung des Selbst, das unter der Folter zerrüttet wurde. Im Verhör war das Opfer gezwungen, durch falsche, erzwungene Aussagen die Wahrheit des Folterers zu produzieren – da diese Wahrheit nicht jener des Subjekts entsprach, ging damit ein Akt der Selbstverleugnung und der Selbstzerstörung einher. Das Subjekt entwarf sich – als Unterworfenes – entlang den Maßgaben des Unterdrückers, wie VanZanten Gallagher schreibt. Die Hearings bieten die Möglichkeit, diese falschen Wahrheiten aufzudecken und gegebenenfalls geradezurücken und gleichzeitig die Geschichte der eigenen Unterwerfung bis hin zur Zerstörung zu erzählen. Im Hearing berichtet das einstige Opfer als Erzählersubjekt und zumindest als solches erlangt es buchstäblich die Autorität der Autorschaft über die eigene Geschichte zurück. Sowohl Emma Mashinini als auch Breyten Breytenbach waren in der Haft gezwungen worden, schriftliche ‚Geständnisse‘ abzulegen. Mashinini schildert eindrücklich, wie sie Seite um Seite mit leeren Worten füllte, um jene Wahrheit der Verhörenden herumschrieb, in deren Besitz sie schlicht nicht war – ihre Worte unterscheiden sich kaum von jenen der Folteropfer der in den vorangegangenen Kapiteln untersuchten literarischen Texte, deren Peiniger sie ebenfalls mit ihrem absurden Verlangen nach Pseudowahrheiten quälten: „Always they wanted the truth, when I had no more truth to tell. I don’t think they really understood that in fact there was nothing to give away. But they always tried to find it, this nothing. They’d make me sit down and write, and perhaps in my writing they wanted to say things, but there was nothing I could write that would give anybody away, because I would write about my trade union matters. I would sit and write, and write, and this was better for me.“554

Mashinini gelingt es, bereits im erzwungenen ‚Geständnis‘, diesem Extrempunkt des Verhörs, den Grundstein zur eigenen textlichen Restitution zu

553 Ebd. 554 Mashinini, Strikes, S. 75f.

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legen. Sie schreibt über das, womit sie sich identifiziert: ihre Gewerkschaftsarbeit. Und auf diesem Wege erinnert sie sich selbst an ihre Individualität – an die Persönlichkeit, als die sie außerhalb der dunklen Zelle, in der sie sich selbst „nicht mehr kannte“, existierte. Gleichzeitig scheint dieser Geständnistext auch als eine erste Fingerübung im Schreiben der eigenen Geschichte, die sie erst nach ihrer Haft vollständig niederschreibt. 555 Ihre schriftlichen Erinnerungen stellen für sie eine Möglichkeit dar, diese leeren Wahrheiten, verfasst in monatelanger Isolationshaft, in der sie ständig Gefahr lief, sich ihrer selbst nicht mehr gewiss zu sein („I didn’t think I knew myself any longer.“556), nachträglich zu füllen – mit ihrer persönlichen Wahrheit. Im Vorwort zu Strikes Have Followed Me All My Life schreibt Mashinini: „[…] [b]ut at the end I must say that putting on paper some of these terrible times was therapeutic“.557 Die aussagenden Opfer haben dabei meist einen Autoritätsvorsprung gegenüber den ebenfalls angehörten Tätern: Da die Folterer überwiegend im Verborgenen arbeiteten, darauf bedacht, keine Spuren zu hinterlassen, 558 ist es kaum möglich, andere Wahrheiten als jene der Opfer zu beweisen. Die Kommissionen, die nicht Recht sprechen dürfen, können den Opfern zumindest das Recht an der Wahrheit zusprechen. Und dennoch bleiben auch diese Wahrheiten Glaubenswahrheiten. Mit der Unmöglichkeit, persönlich erlebte Folter in erzählte Realität oder gar objektive Wahrheit zu überführen, setzt sich auch der südafrikanische Autor und bildende Künstler Breyten Breytenbach in seinem bereits 1984 erschienenen autobiografischen Text True Confessions of an Albino

555 Emma Mashininis Memoiren Strikes Have Followed Me All My Life gingen aus einer langen Reihe von Interviews hervor, die die Filmemacherin Betty Wolpert für den Film Mama, I`m crying mit Mashinini führte. Aus den Transkripten der Interviews formulierte Mashinini in Zusammenarbeit mit ihrer Lektorin das Manuskript für ihre Erinnerungen. Mashinini, Emma: Preface, in: Dies.: Strikes, S. xv-xvii, hier: S. xvi. 556 Mashininis, Strikes, S. 87. 557 Mashinini, Emma: Preface, in: Dies.: Strikes, S. xv-xvii, hier: S. xvii. 558 Breyten Breytenbach beschreibt in seinem autobiografischen Text True Confessions of an Albino Terrorist beispielsweise, wie sämtliche Protokolle seiner Gerichtsverhandlungen verschwanden. Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, S. 78.

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Terrorist auseinander. Breytenbach, der aus einer südafrikanischen, regimetreuen Familie stammt,559 unterstützte bereits in frühen Jahren die Antiapartheidsbewegung. Als er 1975 für einen Besuch aus dem französischen Exil nach Südafrika zurückkehrte, wurde er auf der Grundlage des Terrorism Act festgenommen und wegen Hochverrats zu neun Jahren Haft verurteilt. Sieben Jahre verbrachte Breytenbach tatsächlich in verschiedenen südafrikanischen Gefängnissen, die ersten zwei in Isolationshaft. 560 Obgleich ein Ende der Apartheid und eine Einrichtung wie die Truth und Reconciliation Commission am politischen Horizont Südafrikas lange noch nicht absehbar waren, beschäftigt sich Breytenbach in seinen zum Teil in Haft entstandenen autobiografischen Schriften bereits mit jenen Problemen, die unter der TRC später massiv auftreten würden: Der Text sucht nach Wegen aus dem Problem einer „victimization by telling“. 561 Wie kann Erzählen funktionieren, ohne dabei Verrat am eigenen Ich, am eigenen Erleben, zu begehen? Zu Beginn seines Textes markiert Breytenbach diesen ganz deutlich als autobiografischen Text: „The name you will see under this document is Breyten Breytenbach. That is my name.“ 562 Es handelt sich um den Namen des erzählenden, nicht immer aber auch des erzählten Ichs, da der Widerstandkämpfer Breytenbach in der Textfiktion wie in der historisch dokumentierten Realität seines politischen Lebens Pseudonyme verwendete. Verhaftet wurde Breytenbach – in Text und Leben – beispielsweise mit einem Pass, der ihn als Christian Galaska auswies, als der er in Paris lebte.563 Im Verlauf seiner Autobiografie, deren autobiografischer Pakt durch derlei Identitätsspiele bewusst an den Rand des Bruchs getrieben wird, bekennt Breytenbach offen die „invention“, also „Erfindung“ des Erzähler-Ichs – „Brey-

559 Jolly, Rosemary Jane: Colonization, Violence and Narration in White South African Writing: André Brink, Breyten Breytenbach, and J. M. Coetzee, Athens (Ohio) 1996, S. 100. 560 Ebd., S. 61f. 561 Ebd., S. 62. 562 Ebd., S. 13. 563 Ebd., S. 61.

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ten Breytenbach“.564 Nur in der Eliminierung des eigenen Ich, in der jene Eliminierung des Subjekts unter der Folter geradezu mimetisch wiederholt wird, gelingt es zu erzählen, befreit von der Last, über das eigene Erleben wahrsprechen zu müssen, da die Deixis des Pronomen I/Ich ins Leere weist. Zwar wird somit nicht das Ich „Breyten Breytenbach“ abgebildet, wohl aber der Bruch, den dieses Ich unter der Folter erlebte. Im Titel der Vorgängerpublikation von True Confessions of an Albino Terrorist prägte Breytenbach einen Begriff, der dieses narrative Verfahren der sukzessiven Ich-Eliminierung treffend beschreibt. Die ebenfalls weitgehend in Haft niedergeschriebene Textsammlung, die Hohn auf jede Gattungsbezeichnung zu sein scheint, ist mit Mouroir. Mirrornotes of a Novel (1983) überschrieben. Mouroir ist ein aus der Zusammenziehung des französischen Verbs mourir (‚sterben‘) und des Substantivs miroir (‚Spiegel‘) gebildeter Neologismus. Der Begriff legt die Vorstellung nahe, dass die Spiegelung und die damit einhergehende Doppelung des Subjekt(bildes) für dieses tödlich ist. Nichts anderes geschieht in den Confessions. In der Schöpfung des Textsubjekts wird das reale Subjekt gleichsam getötet, buchstäblich überschrieben – damit wird der zerstörerische Akt des Folterverhörs abgebildet, nicht aber das gefolterte Subjekt selbst. Breytenbach erläutert das als mouroir bezeichnete Schreiben: „Es ist eine Frage des Rhythmus, eine Frage der Brüche, der Stille, des Nicht-Gesagten. Das Nicht-Gesagte ist vielleicht in Bezug auf das Problem des Bekenntnisses als Spiegel wichtiger als das Gesagte.“565 Nur das Nicht-Gesagte entgeht dem Tod in der Abbildung. Breytenbachs Bericht von Haft und Folter vertritt damit das Gegenteil des Anspruchs auf Wahrheit – als Bekenntnis kommt der Text nur zustande, indem er das erzählende wie das erzählte Subjekt von Wahrheit und Realität freispricht. Und dennoch begegnet Breytenbach

564 Vgl. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M. 1994. Als „autobiografischen Pakt“ bezeichnet Lejeune die Identität von Autor, Erzähler und erzähltem Subjekt. Eine Autobiografie ist demnach eine „rückblickende Prosaerzählung einer tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit legt“, s.: Ders., S. 14. 565 Breytenbach, Breyten: Die Hand, die singt. Gespräch mit Hans-Jürgen Heinrichs, in: Heinrichs, Hans-Jürgen: Schreiben ist das bessere Leben. Gespräche mit Schriftstellern, München 2006, S. 280-295, hier: S. 291.

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mit seinen Confessions einem unumgänglichen Bedürfnis, der „Notwendigkeit, sich auszudrücken, die ich zum Beispiel auch empfunden habe, als ich im Gefängnis war.“566 Das mit mouroir beschriebene Verfahren, das sich – vielleicht etwas zugespitzt – durchaus als Breytenbachsche Poetik der Foltererzählung bezeichnen lässt, erinnert stark an J. M. Coetzees in Kapitel 3.3 im dritten Teil des Buches beschriebenes Verfahren der doppelten Allegorisieung. Doppelt, da die Ruine nicht nur „im Reich der Dinge“ erscheint, sondern mit samt ihrer Bedeutung im Reich der Dinge als Allegorie in den Text übernommen wird. Hermetischer kann eine Botschaft kaum sein. Wie die Herstellung eines neuen Bauwerks aus den Überresten eines alten dieses ein für alle Mal tilgt und wie die Auslegung einer Allegorie deren zu Grunde liegendes Konkretum ein für alle mal überschreibt, so löscht auch das nach dem Bruch durch die Folter schreibende Subjekt dieses gebrochene Subjekt ein für alle mal aus, indem es sich selbst schreibend erneut zum Subjekt erhebt. Die Bilder, die diese Tilgung zeigen, gleichen sich bei Breyten Breytenbach und J. M. Coetzee: „You who come out are free, and yet there is the you which disappears into the twists of mindless mind-seeking forever. Who comes forth then? Is there really a you? Isn’t there, in the final instance, only an amorphus but all-encompassing investigator? You hover over the red ruins (which look like a childs watered-down sandcastle from up here) and you search for the you, in the same way that it has always been waiting for you. The one is the liberator of the self. I imagine an I.“567

Nicht nur taucht die bei Coetzee ebenfalls so zentrale Ruine auf, sie erscheint aus der Perspektive des Betrachters, die einem traumgleichen überfliegen der Szenerie geschuldet ist, gar als in Auflösung begriffene Sandburg. Dem als „Einfügung“ (Insert) bezeichneten Textabschnitt, aus dem die zitierte Passage stammt, ist ein Motto vorangestellt: „For the dream is saying to some extend that the flying dreamer‘s native land is inaccessible to him“.568 Der Magistrat in Waiting for the Barbarians träumt von einer vom Mädchen errichteten Sand- oder Schneeburg, die sich bei näherer Be-

566 Ebd., S. 293. 567 Ders.: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, S. 238f. 568 Ebd., S. 238.

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trachtung als Lehmofen erweist.569 Von den amorphen Figuren in Coetzees Roman – Raupen, besagter Schneeburg – war bereits die Rede. Auch sie tauchen in True Confessions of an Albino Terrorist auf. 570 Vor allem aber wird hier der mit dem Erzähler-Ich amalgamierte Investigator selbst flüchtig, „amorphus“. Das Ich, das von vornherein in einem ins Leere gehenden Personalpronomen abgebildet wird, verschwindet nun auch noch in einem sich in der eigenen Wandelbarkeit verflüchtigenden Investigator. Auch die beschriebenen Traumszenarien sind weitere Mittel, das Geschehen und die ohnehin flüchtigen Figuren der Realität zu entheben, sie ungreifbar erscheinen zu lassen. Alles was zu beschreiben versucht wird, entzieht sich in vielfacher Weise und letztendlich ist nur dieser Entzug real und das Vakuum, das sich durch ihn mitteilt. Das Ich wird zu einem Gegenstand der Vorstellung und wird damit nicht nur real unerreichbar, sondern das reale, zerstörte Ich wird getilgt, substituiert durch ein Ich, das vorstellbar ist. Die amorphen Bilder sind entsprechend nicht nur Bilder des Wandels, sondern – überdeutlich wird dies am Beispiel ‚Made‘ und eben ‚Ruine‘ – Bilder der VerWesung im buchstäblichen Sinne. Wie die Made so zersetzt die Folter das Wesen ihres Ziels. Etwas anders verhält es sich mit den Aussagen der einstigen Opfer – gleich ob im Rahmen eines Hearings vor einer Kommission oder in Form schriftlicher Erinnerungen. Sie haben noch einen weiteren wichtigen Aspekt, den VanZanten Gallagher im oben angeführten Zitat bereits benennt: Sie stellen nicht nur einen Akt des self-building dar, sondern auch der Gemeinschaftsbildung. Die Geschichten der Opfer, die als solche bis zur ‚Befreiung‘ – individuell und persönlich oder in Form eines Systemwechsels wie beispielsweise in Argentinien, Chile oder Südafrika – unsichtbar waren, finden ihren Weg durch die Aussagen erstmals in verschiedene Öffentlichkeiten: Für Emma Mashinini waren ihre Aufzeichnungen zunächst vor allem ein Weg, sich ihren Töchtern zu offenbaren: „For a long time I didn’t

569 Coetzee: WfB, S. 109. 570 „The moon outside the bars will be curled like a cold white caterpillar […], Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, S. 214; „Isn`t there, in the final instance, only an amorphus but allencompassing investigator?”, ebd. S. 289; „Notwithstanding, I`m sorry that I sometimes forget that it is at the same time the maggots that lay bare the structure. …“, ebd. S. 171.

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talk to my family about my prison experience, […]. [This book] is an opportunity for me to speak to my children.“ 571 Breyten Breytenbach schrieb die endgültige Version der True Confessions of an Albino Terrorist nicht selbst nieder, sondern diktierte den Text zunächst auf Tonband, um ihn von seiner Frau Yolande/Hoang Lien abtippen zu lassen, die so aus dem Mund ihres Mannes und dennoch indirekt auf dem Wege des Textdiktates erfährt, was mit ihm in Haft geschah. In einer seiner Textanmerkungen im Anhang der True Confessions schreibt Breytenbach: „My wife typed the tapes. I used her transcripts as ‚rough copy‘. These I would blacken, add to, delete from, change about – and she would retype a clean version for me to go over again if needed. Therefore I was in the first instance, in all intimacy, talking to her; telling her all which I’d had to hold back over the years.“572

Mashinini und Breytenbach adressieren und generieren auf diesem Wege natürlich zudem beide eine Leserschaft – ebenfalls eine Gemeinschaft, die sie auf diesem Wege herstellen. Auch in den späteren Hearings der TRC in Südafrika wurden Opfer erstmals als solche wahrgenommen, gleichzeitig wurden die Namen jener Täter, die Amnestie beantragten, veröffentlicht. Täter und Opfer bekamen damit erstmals Identitäten. Die Verhältnisse drehten sich um: Während die politischen Häftlinge zur Zeit der Apartheid von den Machthabern als Terroristen und Staatsfeinde dargestellt wurden, erhielten sie nun die Gelegenheit, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und von den Vergehen des Staates gegen sie zu berichten und gleichzeitig die öffentliche Wahrnehmung, die von den Regierungen und Sicherheitskräften, nicht zuletzt mit erfolterten Geständnissen, massiv manipuliert wurde, zu korrigieren: „Coerced confessions that were turned into public discourse by means of publicity played a key role in apartheid South Africa’s elaborate judicial facade.“573 Die Berichte, in denen aus Terroristen Opfer wurden, rissen diese „Fassa-

571 Zitiert nach: Gallagher VanZanten, Susan: Truth and Reconceiliation. The Confessional Mode in South African Literatur, Portsmouth 2002, S. 91. 572 Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, S. 338. 573 Gallagher VanZanten, Susan: Truth and Reconceiliation. The Confessional Mode in South African Literatur, Portsmouth 2002, S. 39.

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de“ buchstäblich ein und schafften die Grundlage für die Errichtung einer neuen, gemeinsamen Wahrheit, vor allem aber auch dafür, die Rollen von Opfern und Tätern neu zu vergeben. In Chile und Argentinien war es, wie bereits erwähnt, eines der obersten Ziele der Wahrheitskommission, die meist ermordeten und verschollenen Opfer der Militärdiktaturen der Anonymität zu entreißen. In Südafrika wurden so viele Opfer-Hearings wie möglich live im Fernsehen übertragen. „The victims were not just talking to the commission but to the whole nation.“574 Die Opfer hatten so die Möglichkeit „to reconstitute themselves publicly“.575 Für die meisten ging bis dato mit der Traumatisierung auch eine Stigmatisierung einher, die durch das Schweigen perpetuiert wurde. In anderem Zusammenhang wurde bereits auf die von Jan Philipp Reemtsma beschriebene „transkulturelle Neigung“ verwiesen, sich von Opfern abzuwenden: „Gewaltopfer sind oft unerfreuliche Leute, verletzt, misstrauisch, bereit, auch Harmloses als neuerliche Attacke aufzufassen.“576 Ihre Aussagen hatten dagegen das Potential, die Opfer in ihre Gemeinschaften wie Familie, Dorf, oder eben Nation zurückzuholen. Selbst jene, denen es nicht gelang, Worte für das zu finden, was ihnen angetan wurde, wurden öffentlich als Opfer anerkannt und erhielten damit eine neue, beziehungsweise überhaupt eine Rolle im gesellschaftlichen Diskurs. Als jemand, der der Gemeinschaft etwas zu sagen hat, kehren sie in diese Gemeinschaft zurück. Gleichzeitig sind die Aussagen Aufforderungen an die Hörer beziehungsweise Leserschaft, Stellung zu beziehen und Positionen zu korrigieren. Mit dem Auftreten der Opfer ändern sich auch auf gesellschaftlicher Ebene bis hinein in Mikro-Gemeinschaften wie Familien, die Machtverhältnisse. Diskurse erhalten neue Autoren und Verwalter: Die TRC sorgte bewusst für die große Öffentlichkeit, die die Hearings letztendlich, auch international, hatten. Während es den Kommissionsmitgliedern versagt war, Urteile zu sprechen, war die Öffentlichkeit durch die Konfrontation mit den neuen Perspektiven auf die jüngste Vergangenheit geradezu aufgefordert, neu zu be-urteilen. Wo Richter ausbleiben, brauchen die Opfer – um wieder handelnde Fürsprecher in eigener Sache zu werden – die Öffentlichkeit: Zu-

574 Ebd., S. 122. 575 Ebd. 576 Reemtsma, Jan Philipp: Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne, Hamburg 2008, S. 489.

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nächst als Adressaten und in einem weiteren Schritt als Urteilsinstanz. Aus der Klage des Opfers wird auf diesem Wege die Anklage eines handelnden Subjekts. Zwar blieb den Opfern im Falle Südafrikas in den überwiegenden Fällen Rechtsprechung versagt, auf diesem Wege wurde ihnen aber zumindest Gerechtigkeit zuteil. Mit der Beurteilung und letztlich auch zivilen, öffentlichen Verurteilung der vergangenen politischen Verhältnisse und ihrer Urheber geht auch die Übernahme von gemeinsamer Verantwortung, wenn nicht für die Vergangenheit, so doch zumindest für ihre Verurteilung, einher. Bestenfalls sind das Urteil und die Verantwortung dafür von Dauer und werden in die Zukunft getragen – so haben die gemeinsam verantworteten Geschichten eine Chance, auch zur gemeinsamen Geschichte zu werden. Aus der Urteils- wird eine Erinnerungsgemeinschaft: Sie teilt eine Erinnerung, die maßgeblich von den früheren Opfern geschrieben wurde. Damit erhalten diese endgültig die Autorität über ihre Vergangenheit zurück und – sofern dies gelingt – konstituieren sich tatsächlich als wort- und geschichtsmächtiges Subjekt. Dieser Prozess und sein Erfolg sind Gradmesser für den „Heilungsprozess“ – wie es im Sprachgebrauch der TRC heißt – auf zwei Ebenen: Jenem des Individuums und jenem des Staates, der durch die eigenen Bemühungen um Systemwandel den Rahmen für diesen Prozess bietet. „[I]t was a civic and moral duty to narrate one’s experiences of violation and pain and thereby bring about both personal healing and healing of the national body. The Commission Report is explicit about the relationship between individual and national healing: „People came to the Commission to tell their stories in an attempt to facilitate not only their own individual healing processes, but also a healing process for the entire nation. Many of those who chose not to come to the Commission heard versions of their stories in the experiences of others. In this way, the Commission was able to reach the broader community.“ (Volume Five, 169) 577

Beide Heilungsprozesse bedingen sich dabei gegenseitig: Während Opfer nur in einem System aussagen können, das sie als solche anerkennt und schützt, entsteht dieses System und die Identität als Opfer, die in einem weiteren Schritt anerkannt werden kann, eben erst durch ihre Aussagen

577 Ross, Fiona: Bearing Witness. Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa, London 2003, S. 79.

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selbst. Die Brücke zwischen diesen beiden, auf den ersten Blick paradoxen, Erfordernissen bildet, zumindest im Falle Südafrikas, die feste Verankerung des Erzählens in der Alltagskultur. Im Bericht der Kommission heißt es in den Kapiteln zu Concepts and Principles klar, dass in Südafrika „value continues to be attached to oral tradition“.578 Die TRC-Mitglieder sind überzeugt davon, dass sie ihre Autorität aus der Tatsache beziehen, dass sie diese Tradition aufgreifen und gezielt einsetzen. Dabei geht es eben weder um justizförmige Geständnisse oder Anklagen, noch um Bekenntnisse, die ein klares Opferbild vermitteln. Während man von den um Amnestie ersuchenden „perpetrators“ in ihren Aussagen brauchbare Beiträge zur Aufklärung von Sachverhalten und Einzelschicksalen erwartete, um Straffreiheit zu gewähren, stand es den mutmaßlichen Opfern nicht nur frei, in welcher Sprache sie aussagten, sondern auch in welchem Umfang und mit welchem Inhalt. Dass die Wahrheit, die am Ende eines solchen „Wahrheits- und Versöhnungsprozesses“ steht und auf deren Basis es gelingt, eine tief gespaltene Nation zu versöhnen und ihr eine Zukunft zu geben, wie bereits angedeutet mehr Glaubenswahrheit als objektive Wahrheit ist, war der TRC bewusst: „By providing the environment in which victims could tell their own stories in their own languages, the Commission not only helped to uncover existing facts about past abuses, but also assisted in the creation of a ‘narrative truth’. In so doing, it also sought to contribute to the process of reconciliation by ensuring that the truth about the past included the validation of the individual subjective experiences of people who had previously been silenced or voiceless.“579

Bereits am Ende der Lektüre von Ariel Dorfmans Drama Death and the Maiden steht die Erkenntnis, dass die Wahrheit über Folter bestenfalls als Näherungswert existieren kann. Einigt sich aber eine breite Öffentlichkeit auf diese gemeinschaftlich ermittelte Wahrheit, bleibt sie ungeachtet ihrer Subjektivität nicht ohne Wirkung: Sie hat das Potential, zur Grundlage für einen politischen und gesellschaftlichen Neuanfang zu werden.

578 Truth and Reconciliation Commission: The Truth and Reconciliation Commission of South Africa. Report, Vol. 1, Kapstadt 1998, S. 115. 579 Ebd.

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Ob aber jedes Individuum, das zu diesem nationalen Heilungsprozess einen Beitrag leistet, in diesem tatsächlich aufgeht und persönliche Heilung erfährt, ist fraglich und auch die Basis für die institutionelle und politische Wiederherstellung des Staates Südafrika konnte die TRC zunächst nicht lückenlos schaffen. Durch die Anwesenheit von Geistlichen und Psychologen hatten die Opferanhörungen einen stark ritualisierten, teilweise religiösen Charakter. Susan VanZanten Gallagher spricht von „öffentlichen AussageZeremonien“.580 Sie schildert ein Hearing, bei dem sie selbst anwesend war, folgendermaßen: „The proceedings were opened with a prayer, recited in Zulu by Commissioner Khoza Mgojo, a Methodist activist. Then Dumisa Ntsebeza, who was chairing the proceedings that day, solemly lit a white candle symbolizing the presence of truth (much like the candle lit in many Christian church services representing the presence of Christ). Next we were asked to rise out of respect for the victims as they filed into the front rows of the hall. In most court settings, spectators rise for the judge; here the most honored people present were the victims. Each victim then testified one by one, often supported by family members, always accompanied by a psychotherapist. Most of the testimony and questioning occurred in Zulu, simultaneously translated into English. After a witness was sworn in, a commissioner would begin by asking about the victims’s family – parents, spouse, children, siblings. Besides putting the witness at ease, this ritual grounded or located as a person in the fullest African sense – with a family, a community, a sense.“581

Dennoch gaben viele der einstigen Opfer bei Befragungen während und nach den Jahren der TRC-Hearings an, „that they felt lost in the process of transition“582 oder, „that the revelations from the truth commission made people angrier and complicated race relationships“.583 Selbst das Resümee zu den Hearings im TRC-Bericht klingt verglichen mit der Schilderung der

580 Gallagher VanZanten, Susan: Truth and Reconceiliation. The Confessional Mode in South African Literatur, Portsmouth 2002, S. 117. 581 Ebd., S. 119. 582 Ross, Fiona: Bearing Witness. Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa, London 2003, S. 75. 583 Chapman, Audrey R./van der Merwe, Hugo (Hg.): Truth and Reconciliation in South Africa. Did the TRC Deliver?, Philadelphia 2008, S. 89.

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eigenen Absichten im ersten Band ernüchtert. Die Berichterstatter räumen ein: „Not all storytelling heals. Not everyone wanted to tell his or her story.“584 Audrey R. Chapman kommt in ihrer Untersuchung Truth and Reconciliation in South Africa (2008) zu dem Schluss, dass die bei allen Einschränkungen in den Berichtbänden der TRC aufgestellten Erfolgsbehauptungen schlicht nicht beweisbar sind.585 Prisicilla Hayner ermittelte gemeinsam mit dem Trauma Center for Victims of Violence and Torture in Kapstadt, „that 50 to 60 percent of those who gave testimony to the commission suffered difficulties after testifying or expressed regret for having taken part“.586 Laut Hayner fehlt es an belastbaren Ergebnissen aus Befragungen, dennoch gehen zahlreiche Untersuchungen zu dem Umstand, dass zwar die TRC als nationaler Erfolg gewertet wird, es den Opfern persönlich aber nach ihrer Aussage oft schlechter ging als vorher, davon aus, dass der Grund dafür in der fehlenden Strafverfolgung der Täter liegt. 587 „Straflosigkeit kann zur Barriere für die Aufarbeitung des Traumas werden“, nimmt Knut Rauchfuss an.588 Aus Sicht der Opfer verliere das Rechtssystem seine

584 Truth and Reconciliation Commission: The Truth and Reconciliation Commission of South Africa. Report, Vol. 5., Kapstadt 1998, S. 351. 585 Chapman, Audrey R./van der Merwe, Hugo (Hg.): Truth and Reconciliation in South Africa. Did the TRC Deliver?, Philadelphia 2008, S. 88. 586 Hayner, Priscilla B.: Unspeakable Truth. Confronting State Terror and Atrocity, New York und London 2011, S. 144. 587 Auch eine Studie des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer (bzfo) in Kambodscha widmet sich dem Tribunal zur Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer und kommt zu dem Ergebnis, dass „im Vergleich zu der Befragung vor dem Tribunal die Bereitschaft zur Versöhnung mit den ehemaligen Roten Khmer nach dem ersten Urteil leicht angestiegen [war]. Die Studie zeigte weiter, dass die Befragten generell zufrieden mit dem Tribunal sind und ihm auch eine positive Wirkung auf den Versöhnungsprozess zubilligen“. Grünberg, Richard (verantwortlicher Redakteur): Jahresbericht des Zentrum Überleben, S. 22. Die Kambodscha-Studie ist einzusehen unter http://bzfo.de// forschung/versoehnung.html, zuletzt aufgerufen am 10. 02. 2013. 588 Rauchfuss, Knut: Der Schmerz geht vorüber, aber die Demütigung bleibt. Die psychosozialen Folgen der Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen, in: Görling, Reinhold (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte, München 2011, S. 137-163, hier: S. 149.

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„Rolle als Garant einer symbolischen Ordnung sowie als gesellschaftliche Vermittlungsinstanz und vermag darüber hinaus seine Funktion symbolischer Genugtuung nicht einzulösen“.589 Rauchfuss’ Überlegungen drängen den erneuten Seitenblick in Foucaults Die Wahrheit und die juristischen Formen geradezu auf. Wenn wir mit Foucault davon ausgehen, dass „[d]ie juristischen Praktiken […] eine Form zu sein [scheinen] in denen unsere Gesellschaft Typen von Subjektivität definiert hat, Formen und Wissen und damit auch Beziehungen zwischen den Menschen und der Wahrheit“, dann ist das Negieren von strafrechtlicher Verfolgung geradezu das Versagen von Subjektivität. Wer vom Recht nicht anerkannt wird, ist kein Rechtssubjekt – ihm wird die symbolische Wiedereinordnung in das Rechts- und die Teilhabe am Strafsystem versagt. Aus diesem Grund fleht Breyten Breytenbach seinen inneren „Investigator“ geradezu an, ihm eine Anklageschrift auszuhändigen und ihn damit zu einem „Fall“ werden zu lassen, der in einem regelgesteuerten, sozialen System sichtbar ist: „What about the case, let’s make the case, come now, give me the charge sheet! Because once I’m given the charge sheet I’m supposed to be allowed to contact lawyers, I’m supposed to be admitted to be alive to the outside world again.“590

Gleichzeitig ist aber zu bedenken, dass für die Mehrzahl der Opfer der Apartheid in Südafrika oder der südamerikanischen Diktaturen dieses System auch vor dem Machtwechsel nicht existierte, dass es also als Garant für eine symbolische Ordnung auch bislang nicht fungiert hat, es den Tätern als solches aber im selben Schritt gleichwohl entzogen wird. Sowohl die Aussagen der Betroffenen – Täter und Opfer – als auch die literarischen Auseinandersetzungen mit dieser Problematik legen die Annahme nahe, dass die Täter mit den rechtsförmigen Verfahren der Kommission besser zurecht kamen und sie daher für sich zu nutzen wussten, wohingegen dies den Opfern, denen derlei Strukturen fremd waren, da sie bis dato keinen Zugang zu ihnen hatten, nicht im selben Maße gelang. Betrachtet man die gängigste deutsche Übersetzung von reconciliation in diesem Kontext – ‚Versöhnung‘ –, dann verdeutlicht allein die Begriffsgeschichte das Problem, das

589 Ebd., S. 142. 590 Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, S. 45.

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mit dem Ausbleiben von Strafverfolgung einhergeht. Versöhnung, auf dem Wege der Wahrheitsermittlung, ist das erklärte Ziel der Truth and Reconciliation Commission. Im ersten Band werden die Möglichkeiten von Versöhnung auf verschiedenen Ebenen diskutiert: „The chapter discusses the promotion of national unity and reconciliation, including reconciliation as a goal and a process and the different levels at which reconciliation takes place – namely, coming to terms with painful truth, reconciliation between victims and perpetrators, reconciliation at a community level and reconciliation and redistribution.“591

Die Etymologie des Wortes ‚Versöhnung‘ offenbart sehr deutlich auch ihre Notwendigkeiten: Der Begriff geht auf mhd. versüenen zurück, das eine Derivation von mhd. süene (nhd. ‚Sühne‘) ist. In süene verbirgt sich das altnordische sóa, das ‚opfern‘ oder ‚töten‘ bedeutet.592 Auch begriffsgeschichtlich betrachtet setzt also Versöhnung die Sühne einer Tat voraus – ein Opfer, das als Beitrag zur Wiedergutmachung anerkannt wird. Dieses Opfer, das eben auch die Tötung des Täters sein kann, wird in der symbolischen Ordnung des Rechtssystems durch die Strafe ersetzt, oft kombiniert mit Wiedergutmachungsleistungen wie Schmerzensgeld. Wo dieses Opfer oder die Strafe systematisch ausbleibt, scheint die Verwendung des Begriffs ‚Versöhnung‘ geradezu absurd. Der Konflikt zwischen Wahrheit und juristischer Gerechtigkeit ist Gegenstand des 2002 erschienenen Romans Red Dust der Südafrikanerin Gillian Slovo. Nicht allein, aber auch, weil Slovos Roman eine der frühesten literarischen Antworten auf dieses „außergewöhnliche Sozialexperiment“ namens TRC darstellt, möchte ich an dieser Stelle einen Blick auf den Text werfen. Red Dust ist, wie in der Korpusübersicht bereits dargestellt, weniger ein Beispieltext für südafrikanische Qualitätsliteratur als vielmehr ein Beleg für das, was der Text selbst zu beschreiben versucht: Für den Versuch, unausgesprochene und unaussprechliche Taten in einen gesellschaft-

591 Truth and Reconciliation Commission: TRC final Report. Summary and Guide to Contents, einzusehen unter www.justice.gov.za/trc/report/execsum.htm, zuletzt aufgerufen am 10. 02. 2013. 592 Seebold, Elmar (Hg.): Kluge. Etymologisches Wörterbuch, 25. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 2011, S. 898 und S. 957.

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lichen Diskurs zu überführen. Ohne eine detaillierte Lektüre des Romans vorzulegen und ihm dadurch eine Tiefenstruktur zu unterstellen, die er meines Erachtens nicht besitzt, möchte ich dieses Anliegen in ein paar Sätzen skizzieren. Der Roman kreist um den ehemaligen ANC-Aktivisten Alex Mpondo, der in der Folterhaft Verrat an seinem Freund und Kombattanten beging und nun vor der TRC über diese Haft aussagen soll, und um die New Yorker Staatsanwältin Sarah Barcant, eine gebürtige Südafrikanerin, die ihn bei diesem Unterfangen juristisch beraten soll, sowie um die mutmaßlichen Folterer, die Polizisten Dirk Hendriks und Peter Muller. Während Hendriks Amnestie beantragt und damit juristisch nicht belangbar ist, soll die Staatsanwältin Barcant im Falle Mullers, der auf einen Antrag zunächst verzichtet, versuchen, ein Strafverfahren in die Wege zu leiten. Im Roman werden mit diesen beiden Erzähl- und Verfahrenssträngen die alternativen Wege der Aufarbeitung, persönliche Wahrheit und juristische Gerechtigkeit, enggeführt. Beide werden zusammengehalten durch das Opfer Mpondo, der in beiden Verfahren aussagen soll – und in beiden Fällen vor demselben Problem steht: Er ist nicht in der Lage, seine Geschichte zu erzählen. Einerseits, weil es sich um eine Geschichte voll vermeintlicher persönlicher Scham handelt, die damit in eine sehr machtvolle südafrikanische Öffentlichkeit gelangt – deren Macht durch den Umstand verstärkt wird, dass Mpondo zum Zeitpunkt des Verfahrens Parlamentsabgeordneter ist: Nicht nur war die Gewalt, die er durch die beiden Polizisten erfuhr, eine zutiefst demütigende und traumatisierende Erfahrung, er hat im Laufe der Folterungen auch seinen Freund verraten, der das Ende des Regimes nicht mehr erlebte. Der Mitstreiter wurde mutmaßlich von Hendricks und Muller zu Tode gefoltert und das Amnestieverfahren soll unter anderem den Ort offenbaren, an dem seine Leiche verscharrt ist, um seinen Eltern nachträglich zu ermöglichen, ihren Sohn zu beerdigen – ein Anliegen, das auch bei den realen TRC-Hearings häufig eine große Rolle spielte. Andererseits ist Mpondo nicht in der Lage, über die Ereignisse in Haft zu sprechen, weil er teilweise seine eigene Geschichte nicht kennt: Dem Widerstandskämpfer hatte man in der Haft nicht nur immer wieder die Augen verbunden, sondern ihn in einem Kofferraum auf eine abgelegene Farm verschleppt, auf der die Folterungen stattfanden, während er offiziell im Gefängnis der Kleinstadt inhaftiert war. In Ermangelung der eigenen Erinnerung wendet er sich während der Anhörung immer wieder an seinen eins-

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tigen Folterer Hendricks: „‚Where were we when you tortured me?‘ Alex repeated.“593 Die Wahrheit über sich selbst zu erfahren, ist zunächst Teil von Alex’ Erwartung an das Verfahren, eine Wahrheit, vor deren möglichen Dimensionen er aber mehr und mehr zurückschreckt. Seinem einstigen Folterer unter veränderten Voraussetzungen gegenübergestellt, bemüht sich Alex Mpondo darum, die Machtverhältnisse umzukehren: Durch seine Fragen versucht er nicht nur, Hendricks als kaltblütigen Täter vorzuführen, sondern er umgeht auf diese Weise auch, seine Geschichte vor der Kommission selbst erzählen zu müssen, eine Strategie, die jener der Protagonistin Paulina in Dorfmans Drama Death and the Maiden ähnelt. Doch Mpondo scheitert: Hendricks wird im eigenen Bericht zwar zum Täter, er selbst aber auf dem selben Weg erneut zum Opfer. Gleichzeitig ist Mpondo den Erinnerungen, die der Bericht seines Peinigers schließlich doch wachruft, nicht gewachsen: „The irony of it [die Anhörung, T.P.]. Having survived what Dirk Hendricks had done to him by deliberately forgetting it, he now found that he could no longer choose to remember.“ 594 Sie stellen nicht nur eine existenzielle Bedrohung für ihn da – als Politiker und politischem Opfer wegen des Verrats, der mutmaßlich zum Tod des Freundes führte, und als Mensch, der mit dem Trauma der Gewalt leben muss –, die Worte des Täters führen zu einem erneuten Durchleben der Folter, wie es Traumatherapeuten vielfach beschrieben haben:595 „I must keep moving, Alex thought. ‚Tell me about the bag,‘ he said. ‚The wet bag you used on me. Where did you get it?‘ […] That dank, foetid stink – the unfolding of his fear. ‚I submerged it in the water before I used it,‘ Dirk Hendricks said. Now that Alex had called up the bag, there was no escaping it. He felt the tug of it, its heavy fabric closing in, filling his mouth, his nostrils, smothering him. He shiv-

593 Slovo, Gillian: Red Dust. A Novel, New York and London 2002, S. 196. Im Folgenden: Slovo: Red Dust. 594 Ebd., S. 135. 595 U. a.: Sri Lanka Manual, S. 14.

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ered. Dark. Too dark. He lowered his head. He could feel the silence, building up around him, bringing with him dread. He looked round wildly.“596

Tatsächlich gelingt es Alex, den Täter Dirk Hendricks als solchen vorzuführen, an den Machtverhältnissen von einst ändert er jedoch nichts – während Hendricks in der eigenen Geschichte Frage um Frage und Stück für Stück das eigene Täterbild zusammensetzt, wird Mpondo wieder zum Opfer – zum Folteropfer von einst, aber auch zum Opfer jenes Verfahrens, das Gerechtigkeit auf dem Wege der Wahrheitserforschung herstellen soll, zu diesem Zweck aber nicht umhin kann, Täter und Opfer in ihren jeweiligen Rollen zu identifizieren und sie ihnen auf diesem Weg erneut zuzuschreiben. In der Aufdeckung dieses Mechanismus, der den Erfolg der TRC maßgeblich bedrohte, sieht auch Tony Eprile in seiner Kritik eine der Hauptleistungen des Textes: „It is also something of a polemic, exposing the weaknesses of the commission and its potentially devastating effect on the lives of the very people it should be helping. In ''Red Dust'', those who have tried to jettison past roles inflicted on them by apartheid are dragged back into those roles by the commission […].“597

Mpondo scheitert letztlich an sich selbst. Er ist dem Täter, den er im Dienste seiner eigenen Wahrheit hinter dem Verfahrensopfer hervorlockt, zu dem sich Hendricks im Laufe der Anhörung selbst stilisiert – „In my own way I believe I am a victim“ –598, nicht gewachsen: „Dirk Hendricks was quite calm. ‚That is correct,‘ he said. ‚And I lay you down on the floor with your hands tied behind your back.‘ ‚And then?‘ Alex heard the quaking of his voice. ‚What happened then?‘ ‚Happened?‘ The other had grown in strength. ‚I tightened the bag, pulling your head back,‘ – that same confident voice, soothing, calming, quietening down Alex’s moaning – ‚cutting off your air supply.‘

596 Ebd., S.190. 597 Eprile, Tony: Settling Scores. Gillian Slovos Red Dust, in New York Times Book Review, 28. 04. 2002, einzusehen unter: http://www.nytimes.com/ 2002/04/28/books/settling-scores.html; zuletzt aufgerufen am 30. 01. 2013. 598 Ebd., S. 221.

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It came again: his own putrid fear filling the void. He forced himself to speak. ‚And then?‘ That’s all it took. When Alex said those two words: And then?, everything was changed. Dirk Hendricks’s tongue flicked out, a snakes lick, bevore it hurriedly withdrew, a lustful, greedy, anticipating move. Watching, Sarah saw another man breaking free of the prisoner’s chrysalis. She saw the narrowing of his eyes and the draining away of their colour. His lips tightened: no longer the Cupid’s bow. His head lifted, his back straightened: he looked somehow more substantial and also much more dangerous. The shift was extraordinary. This was no longer the man who’d sat compliant on the stage ever since the onset of the hearing. […]. That one was gone – replaced by some other being that Alex had conjured up – a dangerous being.“599

Während der Täter auch im Sprechen über die Folter wie einst in der Folter Stück für Stück sein Territorium erweitert – um noch einmal mit Elaine Scarry zu sprechen –, kann die Anhörung für Alex keine Form von „Wiedergutmachung“ bringen. Die Wahrheit bedroht ihn, weil sie den Täter und seine Wahrheit mit einschließt. Damit buchstabiert der Roman eines der Hauptprobleme der Aufarbeitungskommissionen aus. In ihrem Begehren nach Wahrheit, nötigenfalls unter Verzicht auf juristische Verfolgung, kommen sie nicht umhin, den Tätern Raum zu geben. Im Falle von Red Dust können die Täter diesen Raum in Autorität über die Ereignisse, in vermeintliche Wahrheit und damit erneut in Macht – als Einfluss auf die kollektive und individuelle Erinnerung – verwandeln. Da die Erinnerung Alex Mpondos bis zum Ende des Romans Lücken behält, bleibt unklar, ob der Verrat am eigenen Freund auch dessen Tod verursacht hat – die Wahrheit darüber ist im Besitz Hendricks. Mpondos Resümee der ‚Wahrheitsverhandlung‘ ist ein zutiefst resigniertes: „And now, after all the time that had elapsed, when those days where gone, when it shouldn’t even matter anymore, they knew the truth. Not from his own mouth, but from his enemy’s. Now, when next day thought of him, what they would hear was not his version but his torturer’s. He could try telling them what had really hap-

599 Ebd., S. 191.

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pened, but how was he to give them a different version? There was too much he couldn’t remember, and didn’t know.“600

Mit seinem Ende tritt der Roman noch einmal den Beweis dafür an, wie verhandelbar Wahrheit jenseits juristischer Wahrheit ist. Die Juristin Sarah Barcant verzichtet auf jede Form von Beweis, und glaubt zu wissen, dass es sich bei der Erzählung von Mpondos Verrat tatsächlich nur um eine Behauptung handelt. Mit gutem Gewissen – überzeugt von ihrer eigenen Wahrheit – behauptet sie ihrerseits daher gegenüber Mpondo, sein Folterer habe seine Aussage in einem Gespräch außerhalb der Kommissionsanhörungen widerrufen. Während sich Mpondo auf dieser Grundlage mit Barcant auf seine Unschuld ‚einigt‘, bleibt er selbst vom eigenen Verrat und von der Fragwürdigkeit seines eigenen Opferstatus überzeugt. Folgt man den Thesen von Slovos hochgradig politischem Roman, aber auch den Aussagen von Beteiligten und Studien über die verschiedenen Wahrheitskommissionen rund um den Globus, dann sind die Wahrheiten, auf die man sich unter ihrem Dach einigt, hochprekär. Sie mögen zwar eine Art nationaler Einigung erreichen, den Staat in der Rekonstruktion seiner Geschichte und im Bekenntnis zu ihr buchstäblich wiederherstellen – für das gefolterte Individuum scheint dies nicht zu gelingen. Mit den individuellen Wahrheiten dessen, was die Opfer erlebten, hatten die Geschichten, die bei den Kommissionen von Opfern wie Tätern erzählt wurden, oft nur wenig zu tun. Die Opfer blieben nicht nur allein mit ihren Erlebnissen, während sich eine ganze Nation auf Wahrheitssuche begab, sondern sie machten auch die ernüchternde Erfahrung, dass nicht nur Unbeteiligte, sondern auch sie selbst diesen Geschichten kaum beikommen konnten. Fiona C. Ross schildert, wie sich Zahrah Narkedien, eine in der Haft gefolterte Frau, am Ende ihres Hearings buchstäblich verloren gibt: „I had to accept that I was damaged, a part of my soul was eaten away as if by maggots, horrible as it sounds, and I will never get it back again.“601

600 Ebd., S. 206. 601 Ross, Fiona: Bearing Witness. Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa, London 2003, S. 72.

3. Leibeszeuge oder Erzähler – wer hat das letzte Wort?

Paulina, der Protagonistin in Death and the Maiden, ist die Zeugenschaft in eigener Sache versagt – paradoxer Weise, weil sie noch lebt: GERARDO:

[…] I’m talking about the fact that we never made it public, as you never – as we never denounced the things that they – what they…

PAULINA:

Only if the result was death, huh?602

In justizförmiger Weise wurden unter der chilenischen Rettig-Kommission nur jene Fälle untersucht, die letztlich nicht mehr zu bezeugen sind, weil die Kronzeugen fehlen – sie sind tot. Wie bereits erwähnt, schloss „das Mandat der Kommission […] die Untersuchung von Folter ohne Todesfolge aus.“603 Jenseits dieser widrigen politischen Rahmenbedingungen, die Paulinas Erlebnisse erst gar nicht zum Fall machen, im System der Kommission also nicht existieren lassen, würde Paulina vermutlich auch in jedem konventionellen und etablierten Rechtssystem als Zeugin durchfallen: Sie konnte nicht sehen, als die Taten an ihr vollzogen wurden, wie im Kapitel zum

602 Dorfman, DaM, S. 9. 603 Arnold, Jörg: Ergebnisse im Einzelnen, in: Albin Eser, Ulrich Sieber und Jörg Arnold (Hg.): Strafrecht in Reaktion auf Systemunrecht. Vergleichende Einblicke in Transitionsprozesse, Berlin 2012, S. 74-391, hier: S. 346.

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blinden Zeugen bereits dargestellt wurde. Hinzu kommt, dass sowohl ihr Ehemann als auch der Arzt Roberto massive Zweifel an ihrer geistigen Gesundheit haben. Dass die Opfer selbst häufig diese Zweifel hegen, beziehungsweise wissen, dass sie zum Zeitpunkt der Tat nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten waren, wurde im voranstehende Kapitel bereits am Beispiel Jean Middletons und der von ihr beschriebenen Unmöglichkeit vom eigenen Wahn zu sprechen, gezeigt. Elisabeth Weber sieht in Death and the Maiden geradezu eine paradigmatische Inszenierung der Unmöglichkeit des Opfer-Zeugnisses vor Gericht oder auch nur vor einer „investigating Commission“, der beispielsweise Middleton gegenüber stand: „Die Eliminierung des Zeugen [in der Folter, T.P.], die traumatische Unterbrechung der Selbst-Präsenz, der sogenannten Geistesgegenwart, legen die ‚strukturellen Grenzen der Beherrschung‘ offen zutage. Aber gerade diese Geistesgegenwart stellt ja in westlichen Gerichtshöfen traditionell die klassische Bedingung der Verantwortlichkeit und Zurechnungsfähigkeit dar.“604

Paulina ist der Weg zu rechtskonformer Gerechtigkeit also doppelt verstellt. Sie entscheidet sich daher für den Weg der Selbstjustiz: Sie nötigt ihren mutmaßlichen früheren Peiniger zum Geständnis und ringt ihm damit nicht nur eine Aussage über dessen eigene Täterschaft ab, sondern dieselbe Aussage enthält auch sie als Opfer. Am Ende hält sie ein schriftlich abgefasstes Dokument in den Händen – die Geschichte ihrer Folter. Paulina ist keine Zeugin, aber sie ist dennoch Urheberin der Geschichte, die als Resultat der Geständniserpressung in der Welt ist: Sie ist Autorin. Auch Breyten Breytenbach greift in seinen Confessions verschiedene Elemente aus dem Strafrechtsbereich auf. Zum einen verweist der Titel auf das „Geständnis“ im Rechtskontext – natürlich nicht, ohne auch den widerrechtlichen Kontext des Verhörs und des erfolterten Geständnisses sowie das Bekenntnis gegenüber der das Diktat abfassenden Ehefrau und dem Leser mitzuzitieren. Zum anderen wird den ganzen Text hindurch ein „Mr.

604 Weber, Elisabeth: Wie über Folter sprechen? Ansätze der Dekonstruktion, literarische Zeugnisse, in: Görling, Reinhold (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte, München 2011, S. 245-257, hier: S. 253.

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Investigator“ oder „Mr. I.“ adressiert.605 Der Text wird zur Aussage gegenüber einem „Ermittler“, der Breytenbach zwar in Haft befragte, dessen Texte als „Confessions“ aber nicht akzeptierte und der als Adressat eines derartigen Bekenntnistextes auf der politisch-juristischen Bühne im Südafrika der 1980er Jahre keinerlei Realität oder auch nur mögliche Realität besaß. Indem der „Investigator“, der Ermittler, immer wieder auch zum „I“, also ‚ich‘ wird, gerät der Text zur Selbstbefragung, zur Ermittlung in eigener Sache, einer Untersuchung, die niemand als das Ermittler-Ich führt und führen wird. „Mr. I“ wird zum Subjekt und Objekt der Befragung zugleich: „What one has gone through becomes a new corridor outlining the innards of the labyrinth; it’s a continuation of the looking for the minotaur, that dark center which is the I (eye), that Mister I […].“606 Im Folgenden möchte ich mich vor dem Hintergrund dessen, was die vorangegangenen Kapitel zu den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Aussagens über Folter gezeigt haben, noch einmal dem Zusammenhang zwischen Zeugen- und Autorschaft widmen und zu diesem Zweck erneut auf Agambens Begriffsanalysen zurückkommen. In Kapitel III.4 des Buches wurde bereits erläutert, dass mit auctor neben testis und superstes ein dritter lateinischer Ausdruck existiert, der semantisch mit ‚Zeuge‘ in Verbindung steht. Noch einmal sei hier darauf hingewiesen, dass laut Agamben das lateinische Wort auctor, auf das auch der Begriff „Autorität“ zurückzuführen ist, neben den gängigen Bedeutungen wie ‚Berichterstatter‘ oder ‚Verkäufer‘ die Bedeutung ‚Gewährsmann‘ und schließlich ‚Zeuge‘ haben kann.607 Es handelt sich also um eine Art Zeugen, der ein Faktum weniger bezeugt, als seine Gültigkeit verbürgt. „In dieser Bedeutung tritt auctor in Gegensatz zu res […], der Zeuge hat mehr Autorität als das Faktum, von dem er Zeugnis ablegt.“608 Den Opfern, die vor den Kommissionen aussagen, mit denen sich dieses Kapitel hauptsächlich beschäftigt, ist Zeugenschaft verwehrt. Ihre Anhörung erfolgt ausschließlich in eigener Sache, was sie aussagen, hat zunächst keinerlei strafrechtliche Konsequenzen. Gleichzeitig versagen sich auch die eigenen Erlebnisse der Zeugenschaft. Da die

605 Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, ab S. 13. 606 Ebd., S. 87. 607 Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt a.M. 2003, S. 129. 608 Ebd., S. 130.

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einzige Dimension der Aussage der Aussagende selbst ist, er sich also gegebenenfalls einzig selbst bezeugen sollte, steht er vor denselben Schwierigkeiten, die bereits im Kapitel zur Leibeszeugenschaft erläutert wurden. Der einzig wahre Zeuge des Schmerzes, der zentralen Erfahrung der Folter, ist der Körper – eine adäquate Überführung dieses Zeugnis-Zeugen in einen sprachlichen Zeugnisdiskurs scheint daher unmöglich. Solange sich Zeugenschaft lediglich auf das gefolterte Selbst richtet, scheint sie in letzter Konsequenz unmöglich. Unter diesem Aspekt bestätigt sich die Vermutung der Traumaforschung, dass zu einer Aufarbeitung des Foltertraumas die Anklage in einem rechtsförmigen, sanktionierenden System gehören muss. Nur wenn sich die Aussage auf den Anderen, den Täter richtet, kann sie der Sache gerecht werden. Das Subjekt kann denjenigen bezeugen, der den Schmerz zufügte, nicht aber den Schmerz selbst. Es kann die eigene Zersetzung nicht bezeugen, jedoch den, der sie beging. Was den Kommissionen aber gelingt, ist, den Opfern durch die Zuschreibung der Opferrolle auch die Autorität dieser Rolle, die Autorität des Sprechens als und für das Opfer, zu verleihen. „Und wie der Akt des auctor den des Rechtsfähigen vollendet, wie er dem Beweiskraft verleiht, das sie von sich aus nicht besitzt, und Leben dem, das allein nicht leben könnte, so läßt sich umgekehrt sagen, daß der Akt oder das Wort des auctorZeugen überhaupt erst Sinn erhalten durch den unvollkommenen Akt oder die Unfähigkeit, und die sie vervollständigen. Ein Akt des Autors der beanspruchte von selbst gültig zu sein, wäre Unsinn, so wie das Zeugnis des Überlebenden Wahrheit und Existenzberechtigung nur dann besitzt, wenn es das Zeugnis dessen vervollständigt, der nicht Zeugnis ablegen kann.“609

Als Zeuge ist das Opfer unvollständig – es hat sich selbst im Vollzug des zu bezeugenden Faktums eingebüßt, als Autor aber kann es diesen Mangel ausgleichen. Der Bezug zum Faktum ist jedoch ein variabler, wie Agamben festgestellt hat. Der auctor-Zeuge geht wie der Autor dem Faktum voraus – er entwirft es. Das Opfer entwirft sich in seiner Geschichte, die durch die auctoritas/Gewähr des Opfers Gültigkeit erlangt. Natürlich kann nicht darüber hinweggelesen werden, dass das zu vervollständigende Zeugnis, von dem Agambens Text Was von Auschwitz

609 Ebd., S. 131.

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bleibt (2003) handelt, jenes der im Holocaust Ermordeten ist. Das Grauen der Verfolgungspolitik der Nazis kann nicht bis zuletzt bezeugt werden, weil jene, die es bis zuletzt erlebt haben, eben keine superstes sind. Dennoch erscheint mir die oben zitierte Beobachtung auf den Folterzeugen übertragbar zu sein. Auch in den hier untersuchten Kontexten fällt der eigentliche Zeuge aus. Selbst wenn wir uns jene Fälle von Folter vorstellen, in denen es zu einer Strafverfolgung kommt, ist der eigentliche Zeuge der Körper, Zeugnis zugleich, für das das Subjekt dort, wo es nicht mehr für sich selbst spricht, ein unsicherer Gewährsmann ist. Zumal in den bereits angesprochenen Fällen von „moderner Folter“ in Demokratien, die Darjus Rejali untersucht hat, und die darauf angelegt ist, keine Spuren zu hinterlassen. Dann spricht auch der Zeugnis-Körper nicht mehr und es bedarf eines Gewährsmannes wie des Arztes – beispielsweise des bereits erwähnten Radiologen Hermann Vogel – oder wie des Psychologen, die die Spuren in Körper und Seele freilegen. Und dennoch, so schreibt Rejali: „It took hard work for people to learn how to read these bodies […].“ 610 Jene, die vor der TRC oder in ähnlichen Situationen von Folter erzählen oder von ihr schreiben, sind also in der Tat mehr Autor als Zeuge. Als Autoren verfassen sie die Geschichte ihres Leides und entwerfen sich darin selbst, vielleicht als Opfer, vielleicht als Widerständler. Der zum Objekt degradierte Gefolterte gelangt damit nicht nur wieder als Subjekt in die als eigene autorisierte Geschichte, sondern es ist auch ein Autor, also ein mit auctoritas ausgestattetes Subjekt, das diese Geschichte verfasst. Es mag nicht dasselbe Subjekt wie vor der Folter sein, das auf diesem Wege in eine Gemeinschaft, ein Rechts- oder Gesellschaftssystem zurückkehrt, aber es ist ein selbstbestimmtes Subjekt, dem ein Selbstentwurf vorausgeht – ungeachtet der Lücken, die gegenüber der Biografie des Opfers bestehen mögen. Wahrheit ist das, was der Autor sagt, was das Opfer erzählt. Sich darauf einzulassen und zu einigen, ist es, was die TRC und die Kommissionen, die ihr weltweit vorausgingen und folgen, zu leisten versprechen. Die Form des Erzählens von Folter, wie wir sie in verschiedenen Kontexten nach Regimewechseln beobachten können, hat jedoch noch einen weiteren Aspekt, der dieses Erzählen wieder ein wenig mehr in die Nähe der Zeugenschaft rückt. Der Begriff „zeugen“ gehört transitiv verwendet zu einem biologisch-generischen semantischen Feld. Dass es auch für die juri-

610 Rejali, Darius: Torture and Democracy, Princeton 2007, S. 30.

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dische Form des Zeugens eine Schnittmenge mit der biologischgenerischen Bedeutungsdimension gibt, legt bereits die Gleichheit des Wortsstammes nahe. Semantisch unterscheiden sich „bezeugen“ und „erzeugen“ auf den ersten Blick aber doch sehr deutlich. Während „bezeugen“ ‚eine Aussage machen‘ meint, versteht man unter „erzeugen“ ‚hervorbringen, erschaffen, zum Wachsen und Gedeihen bringen‘.611 Durch ihre Aussagen, die besonders im Falle Südafrikas, aber auch in anderen Ländern in möglichst großem Umfang öffentlich stattfanden, schreiben sich die Folteropfer erneut in eine Gemeinschaft ein. Die Rolle, ihre Funktion, die eigene Identität wurden von ihren Unterdrückern und Folterern systematisch zerstört, weshalb sie nun neu entworfen werden muss – insbesondere in Hinblick auf eine Gemeinschaft, die als solche künftig wieder funktionieren soll, in der zu diesem Zweck aber auch jedes Individuum erneut seine Rolle finden muss. Mit der Dehumanisierung der Folter geht eine Dekulturalisierung einher, die Reinhold Görling als Angriff auf die gesamte Gemeinschaft begreift, der das Opfer entrissen wird: Die intendierte Traumatisierung durch den Gewaltakt treffe daher nicht nur „das unmittelbare Opfer, sondern auch die Gruppen, zu denen ein Zugehörigkeitsgefühl besteht“.612 VanZanten Gallagher sieht in der Wiedereingliederung in diese Gemeinschaft eine der Hauptmotivationen für die Aussagen der Opfer. „[T]he basic confessional telos is to construct an identity in order to flourish within community […]“.613 Auf Emma Mashininis Anliegen, das sie mit ihrem autobiografischen Text verfolgt, wurde bereits hingewiesen: Er ist „an opportunity for me to speak to my children“, erklärt sie. 614 Breytenbach erklärt „I was in the first instance, in all intimacy, talking to

611 Heyne, Moritz, u. a. (Hg.): Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 15, Leipzig 1956, Sp. 847f. 612 Görling, Reinhold: Wie über Folter sprechen?, in: Karger, André (Hg.): Vergessen, vergelten, vergeben, versöhnen? Weiterleben mit dem Trauma, Psychoanalytische Blätter, Bd. 30, S. 131-S.148, hier: S. 131. 613 Gallagher VanZanten, Susan: Truth and Reconceiliation. The Confessional Mode in South African Literatur, Portsmouth 2002, S. 23. 614 Zitiert nach: Gallagher VanZanten, Susan: Truth and Reconceiliation. The Confessional Mode in South African Literatur, Portsmouth 2002, S. 91.

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her [seiner Frau, T.P.]“.615 VanZanten Gallagher weist darüber hinaus darauf hin, dass diese Gemeinschaften, an die sich die Aussagen – zumindest auch – richten, je nach Staat und Kultur ihre eigenen Dynamiken und Regeln haben. Insbesondere in Südafrika sind sie besonders stark und einflussreich – selbst persönliche Entscheidungen werden häufig im Kollektiv der „Neighbourhood“ getroffen, wie auch Emma Mashinini schildert. Bei regelmäßig abgehaltenen sogenannten stockvel meetings werden nicht nur aktuelle Probleme der Gemeinschaft und ihrer Mitglieder verhandelt, sondern auch Beiträge in eine Art Sozialkasse eingezahlt, die alternierend besonders bedürftigen Mitgliedern dieser Gemeinschaft zugute kommt. 616 Für ein soziales Überleben ist daher eine feste Rolle in diesen Gemeinschaften unerlässlich. Laut VanZanten, die sich auf Dori Laub und George Yúdice beruft, ist „confessional writing […] first and foremost an act, a tactic by means of which people engage in the process of self-constitution and survival“.617 Dieser Prozess sei besonders dann nötig, wenn das „Du“ an das sich die Gemeinschaft richtet, durch Haft und Folter systematisch seiner Humanität beraubt wurde.618 Durch die Aussage oder das „confessional writing“ entwirft sich das Subjekt buchstäblich in diese Gemeinschaft hinein. Es bezeugt sich als einstiges Opfer und erzeugt sich damit als Mitglied dieser Gemeinschaft – mit einer eigenen Geschichte, mit der Autorität dessen, dem die Erzählung dieser Geschichte zusteht, und mit einer neuen Rolle, die für eine Zukunft in dieser Gemeinschaft sorgen soll – das Subjekt selbst wird erzählend be- und erzeugt.619

615 Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, S. 338. 616 Mashinini: Strikes, S. 17. 617 Ebd., S. 32. 618 Ebd. 619 Auf den generischen Aspekt von Zeugenschaft habe ich bereits in meiner Magisterarbeit unter dem Titel Der Zeugenschaftsbegriff in der literarischen Holocaustdebatte (2008) hingewiesen. Im damaligen Zusammenhang bezog sich jene generische Funktion des Zeugens aber auf das Be- und dadurch gleichzeitig Fortzeugen der Anderen, jener Zeugen, die nicht überlebten. Die Zeugenschaftsliteratur der Überlebenden, Literatur, die versucht, von jenen zu sprechen, die nicht mehr für sich selbst sprechen können, entstand nicht zuletzt aus der Auseinandersetzung mit dem als willkürlich empfundenen eigenen Über-

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leben und der häufig dafür empfundenen Schuld. Im Falle der Zeugenschaft des Folteropfers sind die Voraussetzungen andere – nichts desto trotz zeugt das Subjekt in seiner Aussage von einem selbst, das sich als solches ebenfalls nicht bezeugen kann, aber dennoch das Eigene ist.

4. Resümee

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Sprechen von und über Folter bleibt nicht ohne Wirkung – weder für diejenigen, die berichten, noch für die gesellschaftlichen und politischen, gegebenenfalls auch juristischen Systeme, die dieses Sprechen erlauben. Die südafrikanische Truth and Reconciliation Commission forderte dieses Sprechen bewusst heraus. Ihre Aufgabe war die Herbeiführung eines gesellschaftlichen Wandels, dessen Ziel nicht nur ein Regimewechsel war, sondern der die zutiefst gespaltene und nach dieser jahrzehntealten schwarz-weiß-Spaltung strukturierte und funktionalisierte Gesellschaft zusammenführen und auf eine gemeinsame und gleichberechtigte, zudem gewaltfreie Zukunft vorbereiten sollte. Dabei wurde der Wahrheitsfindung klar der Vorzug gegenüber möglicher Strafverfolgung gegeben. Letzteres fehlte, um die Behauptung „Revealing is Healing“ zu beweisen. Heilen konnte die Kommission in Ansätzen eine Gesellschaft, nicht aber die Individuen, die zu dieser Heilung beizutragen aufgefordert waren.620 Das Resultat der Anhörungen waren persönliche statt objektiver, beweisbarer Wahrheiten – und die Erkenntnis über die Unmöglichkeit, persönliche in objektive Wahrheit zu überführen; eine Schwierigkeit, mit der Texte wie mündliche Aussagen gleichermaßen ringen. Texte wie Hearings erbringen aber dennoch eine spezifische Leistung: Sie geben den Opfern eine Stimme. Gleichzeitig schaffen sie eine Öffentlichkeit, in der die Klage des Opfers das Potential hat, zur Anklage des selbstbestimmten Subjekts zu werden. Dies jedoch nicht in einem System justizieller Gerechtigkeit, sondern im Rahmen eines gesellschaftlichen Diskurses, den

620 Vgl. Liedl, Alexandra: Interview, Anhang, S. 273.

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Texte und Anhörungen in gleichem Maße schaffen, für dessen Einsetzen sie aber zugleich maßgebliche Indikatoren sind. Diejenigen, die von ihrer Folter erzählen, gleich in welchem Kontext, sind keine Zeugen und stehen dennoch für die eigene, autorisierte Geschichte. Was aus diesen Geschichten erwächst, ist ein Subjekt, mitunter ein Autor, der sich zwar selbst zu Autorschaft und Subjektivität verhilft, niemals aber zurückfindet zu jenem Subjekt, das er vor der Folter war. „Schreiben/Sprechen/Zeugnis ablegen, bedeutet immer auch Verrat“ an diesem Subjekt.621 Ich möchte an dieser Stelle noch einmal das oben bereits angeführte Zitat Breyten Breytenbachs wiedergeben – ergänzt um einen Halbsatz: „What one has gone through becomes a new corridor outlining the innards of the labyrinth; it’s a continuation of the looking for the minotaur, that dark center which is the I (eye), that Mister: which is a myth, of course.“ 622 In der Bewegung des Erzählens entdeckt und vernichtet sich das Ich zugleich. Es erzählt oder schreibt sich – im autobiografischen Text – herbei und überschreibt zugleich jenes Ich, das Unaussprechliches erlebt hat. Wie Minotaurus die Jungfrauen, die ihn in seinem Labyrinth entdecken, frisst das neue Ich das alte Ich auf. Ein wahrhaftiges Ich – das sich erzählt und gleichzeitig in dieser Erzählung wiederfindet – existiert nicht mehr: Es ist ein Mythos.

621 Weber, Elisabeth: Wie über Folter sprechen? Ansätze der Dekonstruktion, literarische Zeugnisse, in: Görling, Reinhold (Hg.): Die Verletzbarkeit des Menschen. Folter und die Politik der Affekte, München 2011, S. 245-257, hier: S. 247. 622 Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, ab S. 87.

V. Leben mit den Maden

Who am I? Where and who was I before this time? BREYTEN BREYTENBACH

Fazit und Ausblick

Allen Widerständen zum Trotz gibt es sie – Foltererzählungen. Für diese Feststellung bedurfte es nicht erst des vorliegenden Buches. Entsprechend hat diese Untersuchung auch den Versuch unternommen, nicht nur die Umstände des Auftauchens der Foltererzählung zu untersuchen, sondern vor allem ihre narrativen Verfahren, ihre Methoden, aber auch jene Dimensionen, die über den bloßen Text hinausreichen; häufig ist die Foltererzählung ein Appell an jene, die sie hören oder lesen, ein Aufruf zum Urteilen, manchmal auch Anklage. Folter und ihre Erzählung sind von einem mitunter diffusen Begehren nach Wahrheit umgeben. In der vorliegenden Arbeit habe ich zwei Richtungen dieses Begehrens untersucht. Jenes des Folterers. Es hat sich als ein vorgeschobenes Begehren herausgestellt: Was der Folterer – in den untersuchten Texten – bekommt, ist bestenfalls jene Wahrheit, die er zuvor in den seinem totalen Zugriff ausgesetzten Körper hineingelegt hat. Was er außerdem erreicht, ist, diesen Körper und den Geist, der an ihn gebunden ist, in der vorgeschobenen Wahrheitssuche zu durchdringen, zu zertrümmern und zu zerstören. Auch die Wahrheit des Gefolterten ist prekär. Sie scheitert an den Widerständen, denen das Erzählen von Folter ausgesetzt ist. Was sind diese Widerstände? Einige, sicher aber nicht alle, habe ich untersucht: Es ist die Rede vom Schmerz, die nahezu unmöglich erscheint. Einem Gefühl, das ganz im Körper lebt, in dem es und der in ihm gefangen ist, ist mit Sprache kaum beizukommen. Es ist die Scham, von der eigenen Schwäche, der eigenen Erniedrigung zu erzählen und die Gefahr, sich in der Erzählung von dieser Erniedrigung erneut zu erniedrigen, erneut zum Opfer zu werden. Und es ist die Angst, Schmerz und Demütigung mit den

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eigenen Worten erneut herbeizurufen – eine reelle Gefahr, die sich Therapeuten, wie wir gesehen haben, gezielt zu Nutze machen, um sie ein für alle mal aus dem Leben des Gefolterten zu verjagen. Eine weitere Schwierigkeit, die sich hier in der Beschäftigung mit den Texten Coetzees nur gelegentlich andeutete, besteht darin, von bestimmten, totalen Machtverhältnissen zu erzählen, ohne sie damit zu aktualisieren, sie erneut aufzurufen und zu bestätigen. Der Wahrheit der grausamen Ereignisse ist mit Worten nicht beizukommen und dennoch erscheint diese Wahrheit immer wieder als unerlässliches Instrument und als Motor des Erzählens – nicht nur vor sogenannten Truth Commissions. Was die Erzählungen hervorbringen, sind subjektive Wahrheiten, Glaubenswahrheiten: Ob Paulina und Roberto in Dorfmans Death and the Maiden überhaupt objektive Wahrheiten verhandeln und, wenn ja, wessen, verrät der Text letztlich nicht. Was er aber zeigt, ist, wie Paulina auf dem Boden ‚ihrer‘ Wahrheit in ein Leben findet, das jenem zu gleichen scheint, das ihr vor ihrer Folter erstrebenswert erschien. Bewusst schreibe ich an dieser Stelle nicht „zurück findet“, denn dass die Wege „zurück“ in das Leben vor der Folter meist verstellt sind durch die Folter – auch das hat die Arbeit an den Texten und Kontexten gezeigt. Das Erzählen – schreibend oder sprechend – von der eigenen Folter ist Selbstentwurf und Selbstverwurf zugleich. Wie wir am Beispiel der TRC in Südafrika gesehen haben, geht mit dem Versuch zu erzählen häufig nicht nur die Enttäuschung über dessen Misslingen einher, die Erkenntnis, dass den Ereignissen mit Worten nicht beizukommen ist, sondern auch die Erfahrung, dass sich diese Ereignisse nicht beseitigen lassen mit der Erzählung. In therapeutischen Verfahren versucht man häufig genau dies: Die Ereignisse buchstäblich in der Erzählung zu bannen, sie in einem Dokument ein- und wegzuschließen, über das der Gefolterte verfügen kann.623 In den literarischen Texten, die die Grundlage dieser Arbeit bilden, verhält es sich durchweg etwas anders als in therapeutischen Kontexten. Zwar birgt das Verfügen über die eigene Erzählung ein gewisses Potential zum Selbstentwurf, zur Wiederherstellung als Erzähler und als erzähltes Subjekt zugleich. Dieses Potential, so habe ich nachgewiesen, kann in der Erzählung ebenso wie in deren Verweigerung liegen, wie dies beispielsweise für das Barbarenmädchen in Coetzees Roman zutrifft. Vor allem aber ist der An-

623 Liedl, Alexandra: Interview, Anhang, S. 275; sowie: Sri Lanka Manual, S. 27.

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schluss an das Leben vor der Folter und ihrer Erzählung nie reibungslos, die Wiederherstellung ist nie komplett – es bleiben Lücken im Text und Narben am Körper: Dafür, dass das verstümmelte Mädchen in Waiting for the Barbarians überhaupt in ihr altes Leben zurückkehren kann, muss der Magistrat deren eigene Landsleute bezahlen. Paulina kehrt in Dorfmans Drama auf dem Boden einer skrupellosen Tat und unter gänzlich veränderten Voraussetzungen in ihr Leben an der Seite eines angesehen Juristen im neuen Staat zurück. Und am Ende der Aussagen vor den berühmten Wahrheitskommissionen steht mitunter die Erkenntnis: „I had to accept that I was damaged, a part of my soul was eaten away as if by maggots, horrible as it sounds, and I will never get it back again.“624 Im Erzählen von Folter liegt Rettung und Verderben zugleich. Der Gefolterte schreibt sich herbei und verliert sich gleichzeitig unter Umständen für immer, da er sich im eigenen Text, der dem Erleben nicht gerecht werden kann, nicht wieder findet. Diesen Widerspruch, in dem sich Folter als Motor und Hemmnis des Textes zugleich offenbart, verdichtet Breyten Breytenbach in seiner Autobiographie True Confessions of an Albino Terrorist zu einem treffenden Bild, weshalb ich aus diesem Text zum Schluss noch einmal länger zitieren möchte: „Writing becomes for me a means, a way of survival. […] It is itself a sense which permits me to grasp, to understand, and to some extend to integrate that which is happening to me. […] But at the same time I soon realize that it becomes the exteriorization of my imprisonment. My writing bounces the walls. The maze of words which become alleys, like sentences, the loops which are closed circuits and present no exit, these themselves constitute the walls of my confinement. I write my own castle and it becomes a frightening discovery: it is unbalancing something very deeply embedded in yourself when you in reality construct, through your scribblings, your own mirror. Because in this mirror you write hair by hair and pore by pore your own face, and you don’t like what you see. You don’t even recognize it. It won’t let you out again… Who am I? Where and who was I before this time?“625

624 Ross, Fiona: Bearing Witness. Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa, London 2003, S. 72. 625 Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, ab S. 155f.

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Breytenbach selbst hat das Paradox der Erzählung, in der sich das erzählte und erzählende Ich spiegeln, in das Wort „mouroir“ gegossen: Das Bild, das entsteht, zeigt etwas und tötet das, worauf es verweisen will, damit zugleich. Der Text, der von den Ereignissen unter der Folter handelt, geht immer auch an ihnen vorbei und berichtet doch von jenem Subjekt, das sie erleiden musste. Wie bereits angekündigt, lässt sich die vorsichtshalber in den Untertitel dieses Bandes eingefügte Vorsilbe „(Un-)“ auch am Ende der Untersuchung nicht herauskürzen: Das Erzählen von Folter handelt immer auch von der Unmöglichkeit ihrer Abbildung. Restitution findet statt, auf verschiedenen Ebenen – jener des erzählenden Subjekts und jener des Kontextes, in dem die Erzählung fiktional oder real stattfindet und dennoch scheitert sie gleichzeitig. „Heimisch“ wird jener, der der Folter erlag, in der Welt, in der seine Erzählung zu Hause ist, offenbar nicht mehr. „Restitution“ mag hier vielleicht mehr als ‚Instandsetzung‘ denn als ‚Wiederherstellung‘ verstanden werden. Um noch einmal mit Benjamin auf Coetzees Roman zurückzukommen: Was aus den Ruinen rekonstruiert wird, ist ganz und steht für sich, hat aber mit der Erscheinungsform des ursprünglichen Bauwerks nur wenig zu tun. Der Gefolterte kann sich nur als selbstmörderisches Bild im eigenen Text abbilden – in trügerischer Intaktheit als funktionierender Erzähler anstelle der tatsächlichen Versehrtheit dessen, der er unter der Folter wurde. Denn Folter teilt sich nicht mit, sie versagt sich dem Text, erscheint in ihm in Form der „hoffnungslosen Gleichnisrede“, um noch einmal mit Jean Améry zu sprechen. Damit aber versagt sich – dies scheint naheliegend – nicht nur der Gegenstand dem Text, sondern der Text auch seinem Leser. Folter wird im Text selbst zu einem Zeichen der Unlesbarkeit. Sie wird zum Hinweis für Unergründbarkeit und Hermetik und sorgt gerade deshalb für manisch wiederholte Lese- und Deutungsversuche – innerhalb der Texte, aber auch dieser Texte selbst. Jene Hermetik und mit ihr den Abgrund zu akzeptieren, an den die Lektüre nicht heranreicht, erscheint mir als die einzige Möglichkeit, den Leser und Interpreten jener „Foltererzählungen“ vor einer seinen Lektüren stets drohenden Gefahr zu bewahren: Jene Gefahr, selbst eine große Dekonstruktionsmetapher um das Lesen der Foltererzählung herum zu konstruieren, entsprechend de Mans Leseparadigma

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„deconstruction implies the possibility of rebuilding“.626 Dies wäre eine unverzeihliche Banalisierung der Schrecken, die die Folter für immer bei jenen hinterlässt, die mit ihr in Berührung kamen. Wenn der Foltererzählung ein Neuanfang innewohnt, dann ist es nur bedingt ein schöpferischer. Das Subjekt, das aus ihr hervorgeht, ist aus der Not geboren und es ist niemals frei von den Wunden jenes zerstörten Subjekts, das es in und mit der Erzählung hinter sich zu lassen versucht. Ich habe in der vorliegenden Arbeit sowohl die Kontexte, in denen über Folter gesprochen wird, untersucht als auch die Texte, in denen dies geschieht. Auf den ersten Blick scheint beides nicht vielmehr als thematisch zusammenzugehören – Gesetze, Verordnungen und Politikerreden beschäftigen sich eben mit Folter, so wie es literarische Texte in fiktionaler, autobiografischer oder anderer Weise tun. Die Unterschiede in den Sprechweisen sind mitunter natürlich gravierend – der Folterreport der Vereinigten Staaten kann und will sich nicht der rhetorischen Mittel bedienen, die ein Text von J. M. Coetzee gebraucht. Und dennoch begegnen sich all diese Texte in diesem einen Punkt: Folter, sowohl als Begriff als auch als Gegenstand dieses Begriffs, entzieht sich. Sie zieht sich geradezu zurück in einen Bereich, den ich hier vorläufig als Bereich der Metapher bezeichnen möchte. Diesen Bereich zu erkunden wäre Aufgabe einer eigenen Untersuchung deren möglicher Gegenstand hier nur sehr vorläufig angerissen werden kann. Dass der Begriff „Folter“ mehr ist als der Signifikant für ein dazugehöriges Signifikat, verdeutlicht ein einfacher, bereits zu Beginn der Arbeit dargelegter Umstand: Schon die Androhung von Folter ist der Vollzug der angedrohten Sache selbst. Folter ist also offenbar mehr als nur Begriff – der Begriff selbst wird zur Tat. Hinter ihm verbirgt sich nicht nur das von Judith Butler analysierte verletzende Potential des Wortes, 627 sondern dieses Wort wird – als Drohung ausgesprochen – geahndet, als wäre es selbst be-

626 De Man, Paul: The Rhetoric of Blindness: Jacques Derrida`s Reading of Rousseau, in: Ders. (Hg.): Blindness and Insight. Eassays in the Rhetorik of Contemporary Criticism, Theory and History of Literature, Bd. 7, Minnesota 1983, S. 102-142, hier: S. 140. 626 Breytenbach, Breyten: True Confessions of an Albino Terrorist, New York 1985, ab S. 155. 627 Butler, Judith: Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a.M. 2006, S. 21.

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reits das, was es bedeutet. Was damit offensichtlich wird, ist, dass sich unser Umgang mit Folter selbst in als-ob-Strukturen bewegt. Von Folter zu sprechen, wird in bestimmten Situation verstanden und behandelt wie Folter selbst. Was hinter dem steckt, was wir als Folter bezeichnen, bewegt sich in Bildern und Metaphern und ist doch immer mehr als bloßes Bild. Auch die Texte, in denen von Folter die Rede ist, sind selbst voll von Metaphorischem, wie bereits ausführlich dargelegt wurde. Da tauchen Raupen und Maden auf, Ruinen und Spiegel. Ganz zu schweigen von der Geschichte des Begriffs „Folter“ selbst, die bislang vorenthalten blieb: Der Begriff wurde „mit der Sache entlehnt“ und geht auf das mittellateinische poledrus zurück, das wiederum aus dem griechischen Wort polos erweitert wurde. Diese „Sache“ ist: ein „scharfkantiges Gestell […], auf das der Verdächtige mit beschwerten Füßen gesetzt wurde“ 628 – ein Folterfohlen also. Die Geschichte des Begriffs ‚Folter‘ führt selbst zu einer Metapher – wobei eine doppelte Ersetzung des Eigentlichen stattfindet; zunächst durch eine Metonymie und in einem zweiten Schritt durch eine Metapher. Uneigentlicher kann eine Rede also kaum sein. Zu ergründen, was geschieht, wenn diese Metaphern im Umfeld der Folter in Gebrauch sind – im Gebrauch des Erzählers wie des Lesers – und darüber hinaus sogar Thesen dafür zu entwickeln, warum dies in so auffälliger Weise der Fall ist, wäre mit Scherheit eine gewinnbringende Herausforderung für Literatur- wie Sozialwissenschaften. Eine Auseinandersetzung mit maßgeblichen Metapherntheorien und -theoretikern, insbesondere mit Hans Blumenberg, ist dafür unerlässlich. Die Auseinandersetzung mit der Begegnung zwischen literarischen und medialen Verfahren und Folter steht erst an ihrem Anfang – mein Beitrag zu dieser Auseinandersetzung konzentrierte sich auf den Text der Erzählung. Außen vor blieben dabei narrative Verfahren im Film, aber auch in Medien wie beispielsweise Blogs oder Netzforen, wie jenes der Therapeutin Alexandra Liedl und ihrer Kollegen, dem in der vorliegenden Arbeit zumindest ein Seitenblick zukam. Jenes netzbasierte Erzählen ist schneller und unmittelbarer – Latenzzeiten fallen weg. Eine Analyse dieses Mediums, die sich dann stärker noch an den Schnittstellen von Sozial- und Literatur- beziehungsweise Medienwissenschaften bewegen würde, brächte für

628 Seebold, Elmar (Hg.): Kluge. Etymologisches Wörterbuch, 25. durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 2011, S. 309.

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die beteiligten Disziplinen und vor allem für das weitere Verständnis von Folter als Forschungsgegenstand interessante Ergebnisse. Ähnlich verhält es sich mit Bildmedien, die in dieser Arbeit überwiegend unbeachtet blieben. Zu nennen wären hier vor allem Filme und Serien, die in den vergangenen zehn Jahren geradezu inflationär auf den Markt schwappten – allen voran die US-amerikanische Serie 24 (2001–2010) von Robert Cochran und Joel Surnow, Kathryn Bigelows bereits erwähnter Film Zero Dark Thirty (2012) oder die ebenfalls aus den USA stammende Serie Homeland (2011) von Howard Gordon und Alex Gansa. Daneben ist auch die graphic novel ein Medium, auf das insbesondere Künstler und Autoren aus den arabischen Staaten zurückgreifen, um auf soziale Missstände und persönliches Leid aufmerksam zu machen – auf Deutsch erschien jüngst Ein Iranischer Alptraum (2013) des iranischen Karikaturisten Mana Nayestani. Sich den Verfahren, den Bildpolitiken und -poetiken, die diesen Medien zur Verfügung stehen, gewissenhaft zu widmen und in den Ansatz dieser Arbeit mit einzubeziehen, hätte diesen überbeansprucht und stark erweitert. Daher überlasse ich es künftigen Auseinandersetzungen mit dem Thema „Folter“, diese Arbeit zu leisten. Jedoch glaube ich, auf der Grundlage der Erfahrungen mit dieser Arbeit auch in Bezug auf andere Medien und Darstellungsverfahren sagen zu können: Jener Teil des Gefolterten, den nicht die „Maden“ der Folter, die nagende Erinnerung an sie, gefressen haben, der überlebt im Text der Foltererzählung – als Rest, als Ruine dessen, was der Mensch war, bevor er gefoltert wurde.

Anhang

Anders als in den Sozialwissenschaften, zu deren Methoden das Interview primär gehört, ging es mir mit der Aufzeichnung des folgenden Gesprächs nicht um die Gewinnung von belastbaren, empirischen Daten. Es gibt daher weder einen Interviewleitfaden, noch ein Interviewprotokoll und eine qualitative sowie quantitative Auswertung des Gesprächs findet nicht statt. Der Interviewtext steht in dieser Arbeit als Referenztext neben allen anderen herangezogenen Texten und wird daher in Form des Anhangs auch vollständig zugänglich gemacht. Die Psychologin Alexandra Liedl ist Mitarbeiterin des Berliner Behandlungszentrums für Folteropfer (bzfo) und betreut in dieser Funktion das Projekt ilajnafsy. Dabei handelt es sich um eine Form der „Interapy“, also eine internetgestützte, protokollbasierte Schreibtherapie. Die Therapie wird von einem arabischsprachigen Team von Deutschland aus durchgeführt. Die meisten der Patienten stammen ursprünglich aus Ländern wie Syrien, Jordanien oder Ägypten. Häufigste Traumaursachen sind Vergewaltigungen, häusliche Gewalt, Folter und Unfälle. Im Jahr 2010 meldeten sich mehr als 1000 Betroffene zu einem Eingangsscreening im Rahmen des Projekts an.629

629 Grünberg, Richard: Geschäftsbericht 2010 des Zentrum Überleben, hrsg. vom Behandlungszentrum für Folteropfer, Berlin 2010, S. 23.

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Interview, Projekt ilajnafsy, bzfo Berlin Dr. Alexandra Liedl, Psychologin und Mitarbeiterin bzfo München, 11. Februar 2013

Tanja Pröbstl: Wie kam es dazu, dass das Projekt ilajnafsy etabliert wurde? Hat beispielsweise ein bestimmtes Therapie-Desiderat dazu geführt? Bei der Interapy handelt es ist ja um eine eher neue Methode. Alexandra Liedl: Ganz allgemein gesagt: Die Online-Therapie ist eine Therapie, die immer stärker angewendet wird. In den Niederlanden gab es dazu sehr viel Forschung. Ilajnafsy hat zum Ursprung, dass wir im Behandlungszentrum [bzfo, Anmerkung T.P.] gemerkt haben, nachdem wir Zweigstellen im Irak gegründet hatten, dass es da einen wahnsinnigen Versorgungsengpass gibt. Es gibt fast keine Experten … … also allgemein therapeutisch geschultes Personal im Land? Genau. Viele Ärzte und Therapeuten verlassen das Land, wenn es möglich ist. Der Ursprung des Projekts lag im Irak. Wir wollten für den Irak eine Versorgungsmöglichkeit schaffen, für Menschen, die traumatisiert wurden. Und zwar eine Hilfe, die nicht an Zeit und Ort gebunden ist. Und das Projekt hat sich dann erweitert auf den gesamten arabischen Bereich. Es war also eher eine Notwendigkeit, diese Form der internetbasierten Therapie zu wählen? Eher, als dass man Vorteile vom therapeutischmethodischen Ansatz her gesehen hat? Ausschlaggebend war also, dass man schlicht Raum überwinden musste? Genau. Außerdem gab es die Überlegung, inwieweit man diese westlichen Angebote, die wir jetzt haben und die eine immer bessere Versorgung von Leuten ermöglicht, die ansonsten keine Therapiemöglichkeit bekommen würden, auch in den nicht-westlichen Bereich übertragen kann. Da hat sich die Online-Therapie angeboten. Zumal man eben räumliche Distanzen überwinden kann. Wie finden denn Ihre Patienten zu Ihnen? Das hat sich im Laufe der Zeit entwickelt. Ganz am Anfang wurde das Angebot über unser Zentrum im Irak verbreitet. Es gibt vom Behandlungszentrum für Folteropfer verschiedene Zweigstellen im Irak. Und darüber haben

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wir die Leute erreicht. Natürlich läuft auch vieles übers Internet, dadurch, dass wir in Foren und in Blogs aktiv sind und auch bei Facebook. Und mittlerweile gibt es ein größeres Netzwerk: Wir arbeiten eng mit Organisationen in Ägypten zusammen, zum Beispiel der Caritas, wo es Schulungen für die Leute vor Ort gab und sich die Informationen über uns so weiter verbreiten. Meine Vorstellung ist ja, dass gerade in den Ländern, in denen Sie aktiv sind, der Therapiegedanke nicht unbedingt der naheliegendste ist. Genau. Deshalb erreichen wir die Leute am besten über das Medium, das sie dann auch in anderen Kontexten nutzen, nämlich das Internet. Aber auch über andere Medien. Wir haben immer wieder Fernsehbeiträge gemacht oder in Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht. Aber die meisten kommen übers Netz und über Foren. Es ist ja trotz der notwendigen Form ganz bewusst eine Schreib- und keine Sprechtherapie. Es wäre auch vorstellbar, dass man – obgleich netzbasiert – das ganze mündlich macht. Ist das eine bewusste Entscheidung? Warum schreiben und nicht sprechen? Die Entscheidung ist bewusst und hat unterschiedliche Gründe. Zum einen ist es die Idee, ein Therapieverfahren, das sich in europäischen Ländern als sehr effektiv erwiesen hat, jetzt auf den arabischen Bereich zu übertragen. Und dann wird auch immer wieder deutlich, dass es gerade in dieser schriftlichen Anonymität für die Patienten sehr viel leichter möglich ist, über ihre Erlebnisse zu schreiben, über das, was sie erfahren haben. Weil es in der Regel sehr schuld- und schambesetzte Themen sind und das Schreiben ganz andere Möglichkeiten bietet als ein Gespräch Face-to-Face. Führen denn die Themen, um die es geht, auch zu Vorbehalten gegenüber Therapie insgesamt? Meist ist es so, dass die gemachten Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie zum ersten Mal überhaupt thematisiert werden. Viele Betroffene haben vorher noch nie darüber gesprochen. Und Therapie in dieser westlichen Form ist auch sehr ungewöhnlich für dieses Klientel und es kommt oft die Frage: Gibt es nicht eine Möglichkeit, einfach einen Rat von Ihnen zu bekommen und dann geht es mir besser?

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Die Anonymität spielt eine große Rolle, Sie haben es bereits erwähnt. Ich weiß nicht, ob es dazu Datenerhebungen gibt, aber warum ist die Anonymität so wichtig? Welche Möglichkeiten bietet sie denn für die Patienten? Unterziehen sich die Teilnehmer dieser Therapie denn heimlich? Die Anonymität spielt eine ganz große Rolle. Viele Themen sind sehr schambesetzt. Die Anonymität geht relativ weit. Wir überlassen es den Patienten, was sie von sich angeben, welche Namen. Es sind immer wieder Menschen, die auch politisch verfolgt wurden. Da ist es natürlich entscheidend, dass die Therapie anonym ist und auch, woher wir kommen und wofür wir stehen. Da gibt es sehr große Ängste, verständlicherweise. Fürchten die Patienten, in eine Falle gelockt zu werden? Ja, genau. Da Betroffene auch sehr detailliert von Erlebnissen schreiben. Da ist es besonders wichtig, diese Anonymität zu gewährleisten. Aber auch die Anonymität innerhalb der Familie. Wir haben ganz viele Patienten, die über Gewalt in der Familie berichten, schwerste Gewalt. In diesen Fällen findet die Therapie meist heimlich statt; es ist für Betroffene ganz wichtig, dass niemand davon erfährt. Und das ist schwierig in diesen Ländern. In arabischen Ländern gibt es wenig Privatsphäre und es ist selbstverständlich, dass Telefone, aber auch Räume geteilt werden. Man hat kaum einen Rückzugsort. Das ist natürlich sehr schwer. Da bietet uns die Schreibtherapie eine gute Möglichkeit. Zudem muss man dafür nicht das Haus verlassen, was meist auch gerechtfertigt werden muss. Schreiben kann man – im Gegensatz zu sprechen – auch heimlich, in Anwesenheit anderer. Richtig. Zudem arbeiten wir über ein hochgeschütztes Portal, bei dem stark bedacht wurde, dass es nicht zu durchdringen ist. Das ist zentral und äußerst wichtig für unsere Patienten. Die Tatsache, dass sich Patient und Therapeut nicht begegnen, hat sicherlich bestimmte Vorteile, aber eventuell auch bestimmte Nachteile. Vielleicht auch Einfluss auf Therapieverlauf und Therapiekonzept. Welche Rolle spielt dieser Aspekt? Wir waren selbst erstaunt und überrascht, wie gut die therapeutische Beziehung auch in diesem Kontext ist. Das wurde auch im Rahmen einer wissen-

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schaftlichen Untersuchung erhoben: Im therapeutischen Prozess hatten wir durchweg sehr gute Werte bei der therapeutischen Beziehung. Das zeigt, dass sich die Patienten sehr gut aufgehoben fühlen und ihren Therapeuten als Gegenüber wahrnehmen. Wir merken immer wieder, dass Schwierigkeiten auftreten, wenn die Motivation oder die Sorgen sehr groß sind. Dann versuchen wir schon auch, die Leute telefonisch zu kontaktieren, was für viele sehr schön ist. Viele schätzen es aber auch, dass es das nicht gibt und dass sie weiterhin anonym bleiben dürfen. Es entsteht eine sehr enge therapeutische Beziehung und das macht deutlich: Es muss nicht immer der Face-to-Face-Kontakt sein oder über die verbale Kommunikation gehen. Sie sind Psychologen oder psychologisch geschultes Personal, aber eben keine Literaturwissenschaftler. Wie gehen Sie denn mit diesen Texten um? Haben Sie bestimmte Werkzeuge, um sich über den Text dem Menschen zu nähern? Die Therapie besteht aus unterschiedlichen Schreibaufgaben, die die Patienten bekommen. Im ersten Teil ist es wichtig, dass sie über ihre Erlebnisse schreiben. Im zweiten Teil geht es darum, die negativen Gedanken, die damit verbunden sind, zu verändern. Und im dritten Teil, dem Abschluss, richtet sich der Blick in die Zukunft. Wir nähern uns den Texten aus therapeutischer Sicht. Es wird sehr stark darauf geachtet, ob Patienten gefühlsmäßig involviert waren in das, was sie geschrieben haben. Dass beispielsweise im ersten Bereich, wenn sie über ihre traumatischen Erlebnisse schreiben, sehr stark ihre Gefühle und das Erleben in der Situation zum Ausdruck kommen. Dabei betonen wir, dass es nicht auf die Sprache ankommt. Dass es nicht darauf ankommt, dass es ein schöner Text ist, sondern rein auf die Emotionalität und auf das Nacherleben dieses traumatischen Ereignisses. Es ist durchaus möglich, dass wir beispielsweise einen Text bekommen mit vielen Ausrufezeichen oder auch leeren Seiten. Auch das zeugt von emotionalem Schreiben und so nähern wir uns diesen Texten. Das heißt, es gibt durchaus textliche Signale, auf die Sie achten oder die spezifische Hinweise darstellen? Ja, die Emotionalität wird nicht nur durch Worte deutlich, sondern auch dadurch, dass ein Brief zum Beispiel nur groß geschrieben ist. Oder eben auch eine Seite mit nur einem Wort beschrieben ist. Da wird deutlich, wie stark die emotionale Komponente beim Schreiben war.

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Wie unterscheiden Sie: Was ist wirklich durch die Persönlichkeits- und Erlebnisstruktur bedingt? Und was ist eine Auffälligkeit in der fremden Schrift oder Sprache, die man einfach in diesem kulturellen Kontext in dieser Weise handhabt? Auffällig ist, dass es zum Beispiel unterschiedliche Dialekte gibt. Da profitieren wir davon, dass unsere Therapeuten alle arabische Muttersprachler sind, und alle aus unterschiedlichen arabischen Ländern kommen. Es ist durchaus schon vorgekommen, dass wir gemeinsam Texte gelesen haben, um zu verstehen, was der Betroffene damit gemeint hat. Gibt es auch Fälle, in denen Leute, beispielsweise aus Scheu vor der Therapie, Pro-Forma-Texte schreiben? Kann man das feststellen? Es ist durchaus so, dass Patienten in der ersten Phase der Konfrontation einen zweiten Anlauf brauchen, um sich wirklich mit dem traumatischen Ereignis auseinanderzusetzen. Manchmal schreiben sie erst sehr viel Hintergrundinformation. Das sind aber keine Pro-Forma-Texte, sondern das zeugt von einer starken Angst davor, sich damit auseinanderzusetzen. Zum Teil gibt es auch das Bedürfnis, sich zu erklären. Dennoch ist es erstaunlich, wie schnell es in den Bereich dieser starken emotionalen und sehr traumatischen Ereignisse geht. Wie schnell die Patienten darüber schreiben. Das sind in der Regel die ersten Briefe, in denen es sofort darum geht, das traumatische Ereignis zu schildern. Es ist erstaunlich, wie schnell die Betroffenen da einen Einstieg finden. Ist das vielleicht auch der Versuch, nach dieser Demütigung und Entwürdigung, die Gewalt mit sich bringt, den eigenen Status zu einem gewissen Teil wiederherzustellen? Und sich als Person zu behaupten? Das kann mit Sicherheit auch eine Rolle spielen. Viele der Betroffenen haben ein starkes Mitteilungsbedürfnis, weil es das erste Mal ist, dass sie über sich und über das, was sie erlebt haben, erzählen. Schon allein das Gefühl „ich habe einen Raum nur für mich und kann erzählen was ich möchte“, löst sehr viel aus. Ich denke, das spielt auch eine große Rolle. Psychotherapie, die für uns ja bekannt ist, und in der man Raum für sich hat, ist in diesen Ländern nicht so verbreitet. Deshalb kommen häufig ganz viele Themen, die angesprochen werden.

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Können Sie denn überhaupt sagen: Wer nimmt tendenziell an dieser Form der Therapie teil? Kann man das nach religiösen Zugehörigkeiten aufteilen? Oder eher in Altersgruppen – sind Jüngere geneigter zur Teilnahme oder Ältere, Frauen oder Männer? Es lässt sich kaum sagen, ob es mehr Frauen oder Männer sind. Und was die Altersgruppe betrifft: Wir haben die Einschränkung, Patienten erst ab 18 zu behandeln. Wir haben eine breite Mischung. Es sind sowohl politisch Verfolgte – wir merken immer, wenn es Krisenherde gibt. Wir hatten jüngst zum Beispiel viele Anfragen aus Syrien, Palästina, Ägypten. Es sind aber auch ganz viele Betroffene, die im Familienkreis schwerste Gewalt erfahren haben. Diejenigen, für die diese Therapie vor allem geeignet ist, sind natürlich Menschen, die Zugang zum Internet haben. Das Hauptklientel ist zwischen 20 und 50 Jahren. Und diese Therapie ist besonders geeignet für Menschen mit einem bestimmten Bildungsstatus. Eine bestimmte Kognitionsfähigkeit und Reflexionsfähigkeit ist Voraussetzung dafür, dass diese Therapie erfolgreich ist. Das ist natürlich die Haupteinschränkung. Wir können nicht Analphabeten oder diejenigen, die keinen Zugang zum Internet haben, therapieren. Wir merken auch, dass die Therapie bei denjenigen, die einen höheren Bildungsstand haben, besser angenommen wird. Sie haben gesagt, dass es wichtig ist, dass das soziale Umfeld ausgeschlossen werden kann. Ist es mitunter vielleicht auch so, dass man die Therapie und ihre Ergebnisse in das soziale Umfeld einbezieht? Das gibt es auch, ist aber sehr viel seltener. Es kommt schon immer wieder vor, dass Patienten sagen, sie haben mit ihrem Partner darüber gesprochen und ihm sogar Briefe gezeigt. Ich erinnere mich an eine Patientin, die das Erlebte sehr stark vor ihrer Familie verheimlichen wollte. Es ging um sexuelle Gewalt, die sie erlebt hat. Sie hat dann aber die Briefe so platziert, dass es die Eltern doch gelesen haben. Zunächst fand sie es sehr schambesetzt und hat es dann aber doch als extreme Entlastung empfunden, weil die Familie damit sehr gut umgegangen ist. Die Information ging dann also einen indirekten Weg: Die Patientin hatte nicht die Belastung, dass sie es sagen musste, hatte aber trotzdem die Entlastung der Mitteilung. Das ist in diesen Ländern aber sehr unterschiedlich. Man kann nicht automatisch mit der Unterstützung der Familie rechnen, wenn es um solche

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Themen geht. Meistens versuchen die Betroffenen, allein einen Weg heraus aus dem Trauma zufinden. Das macht es natürlich besonders schwer. Ist es auch so, dass man damit seinen eigenen Opferstatus gegenüber einer Gemeinschaft aufdeckt, wie beispielsweise in den Versöhnungskommissionen, vor denen viele aussagen, um damit auch zu sagen: „Erkennt mich als Opfer an!“ Ziel der Therapie ist vor allem, dass Patienten aus ihrem Opferstatus herauskommen. Dass sie für sich wieder eine andere Sicht auf das Leben bekommen. Das ist zentral in der dritten Phase der Therapie. Dabei geht es darum, die Überzeugung, nur passiv am Leben teilnehmen zu können, zu verändern. Deshalb ist es wichtig, dass der Therapeut in der ersten Phase den Opferstatus ganz klar anerkennt. Genauso wichtig ist es aber auch, dass Betroffene dann aus dieser Phase heraustreten. Viele waren sehr lange Opfer und auch auf eine ganz brutale Weise. Deshalb ist es wichtig, dass sie den Blick öffnen. Hintergrund der Frage war, dass ich durch die Lektüre der Protokolle von Aussagen vor Kommissionen und einer Publikationswelle, die mit diesen Aussagen oft einhergeht, zu der Idee gekommen bin, dass über dieses öffentliche Aussprechen des eigenen Traumas ein Eingliederungsprozess in eine Gemeinschaft stattfindet. Über das Benennen: „Ich bin ein Opfer gewesen.“ Dass man sich über das Annehmen dieser Opferrolle auch wieder davon befreit. Können Sie so etwas feststellen? Bei diesen Kommissionen spielt das eine große Rolle und es gibt unterschiedliche Therapiemethoden, die sich dieser Methode sehr stark zugewandt haben. Die gesagt haben: Es ist wichtig, darüber auszusagen und das niedergeschriebene Dokument bei sich zu haben. Der Ansatz bei Ilajnafsy ist etwas anders. Da geht es in der ersten Phase um die Konfrontation. Es geht darum, dem, was immer so angstbesetzt war, kontrolliert zu begegnen. Das heißt, die bewusste und gezielte Auseinandersetzung damit steht im Vordergrund. Und in der letzten Phase geht es darum, den Blick in die Zukunft zu richten und das Erlebte in die Biographie einzuordnen. Ich denke schon, dass die Punkte, die Sie angesprochen haben, durchaus eine Rolle spielen. Sie sind aber nicht unbedingt die Hauptaspekte.

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Gibt es bestimmte Traumaformen oder bestimmte Traumatisierte, die sich diesem Schreiben komplett versagen? Das ist schwer zu sagen, weil wir diese Leute auch nicht erreichen. Die melden sich einfach nicht. Wir haben Betroffene mit sehr unterschiedlichen Traumatisierungen. Das gilt sowohl für Traumatisierungen, die durch Menschenhand verursacht wurden, als auch für Unfallopfer, die eine schwere Katastrophe erlebt haben. Mehrheitlich sind es Menschen, die wiederholte Traumata erlebt haben, die von Menschenhand verursacht wurden. Es ist schwer zu sagen, ob wir bestimmte Personengruppen gar nicht erreichen. Was die politischen Verfolgungen betrifft, gibt es mitunter große Ängste. Und die sind verständlich, denke ich. Trotzdem melden sich da auch immer wieder Betroffene. Anders gefragt: Gibt es bestimmte Bereiche, die sich in der Therapie diesem Schreiben und dem Erzählen komplett versperren? Machen Sie diese Erfahrung? Oder gibt es eher die Tendenz, dass wirklich alles geschrieben wird? In der Regel ist es so: Wenn sich Betroffene dazu entschließen, die Therapie zu machen und damit beginnen, findet der Schreibprozess auch statt. Trotzdem haben wir auch Patienten, die aussteigen, die abbrechen. Entweder sagen sie uns das oder sie tauchen unter und wir erreichen sie nicht mehr. Dann ist die Schwierigkeit, herauszubekommen, woran das liegt. Wir sind sehr daran interessiert, das mitzubekommen. In der Regel bekommen wir es aber nicht mit. Das hat mit Sicherheit unterschiedliche Gründe. Wir haben auch Patienten, die über Monate weg waren und dann wieder aufgetaucht sind. Die Ursachen sind dann häufig familiäre Schwierigkeiten oder Probleme, ins Internet zu kommen. Wir haben vorher schon darüber gesprochen, wie Sie sich den Texten nähern. Vermutlich ist das verbale Sprechen und auch das Miteinander-Sprechen ein diagnostisches Mittel. Hat es denn auch einen positiven Effekt, dass der Patient bei der Schreibtherapie mehr in der Hand hat, was er von sich preisgibt? Das ist ein bisschen ähnlich wie bei der Face-to-Face-Therapie. Wenn sich Patienten wirklich auf diese Form der Therapie einlassen, sehen wir das auch an den Texten sehr deutlich: Wie zum Beispiel dieses Phänomen, dass nur ein Wort auf einer Seite steht. Patienten bekommen die Anweisung,

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dass sie 45 Minuten schreiben sollen. Diese Zeit ist begrenzt zum Schutz der Betroffenen. Und manche sagen, sie saßen eine Stunde vor dem Computer und konnten nichts schreiben. Sie waren ganz stark mit der Thematik befasst, es war aber nicht möglich, darüber zu schreiben. Für uns ist auch das eine wichtige Information und wir können auch damit umgehen, wenn wir ein weißes Blatt bekommen. Diese Information: „Es war so schwer, das niederzuschreiben, all das, was in mir vorgegangen ist“, das ist therapeutisch wichtig und damit arbeiten wir dann auch. Diese Annahme, dass sich Betroffene eher kontrollieren oder zurückziehen können, hat mit dieser Form der Therapie vermutlich gar nicht so viel zu tun. Das funktioniert auch bei der Face-to-Face-Therapie. Das erlebe ich auch da, dass große Hürden aufgebaut werden, natürlich aus Angst. Das ist ein typisches Vermeidungsverhalten. Über das Schreiben kann die Auseinandersetzung mindestens genauso intensiv stattfinden und natürlich kann sich jemand auch ein Stück weit rausziehen. Aber auch da können wir wieder reagieren. Der Kontakt ist da und deshalb können wir auch mit Informationen wie einem leeren Blatt durchaus diagnostisch arbeiten. Sie haben gesagt, die Zeit ist auch zum Schutz der Patienten begrenzt. Inwiefern schützt das den Patienten? In der ersten Phase geht es darum, dass sie sich mit dem Ereignis auseinandersetzen. Betroffene erleben immer wieder, dass sie von den Bildern überschwemmt werden, dass durch Flashbacks plötzlich alles wieder da ist. Das hat auch die Wirkung, dass Betroffene denken, sie befinden sich wieder in der Situation. Wenn wir eine klare zeitliche Vorgabe machen, dann heißt es auch, es ist eine kontrollierte Zeit, sie bestimmen den Ein- und vor allem den Ausstieg. Und es ist auch wichtig, zu besprechen, was sie nach dieser Zeit der Konfrontation machen. Das Problem ist, dass es schwer ist für die Patienten, wenn sie in dieser Gedankenwelt sind, sich davon zu distanzieren. Die zeitliche Begrenzung und der Plan, was danach getan wird, ist ein Schutz für die Betroffenen, weil sie dann den Abstand wiederbekommen.

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Das heißt, während der Patient schreibt, sind Sie auch virtuell anwesend? Nein, das nicht. Es ist so, dass der Patient schreibt und das Dokument als Anhang über unsere Plattform schickt. Es ist also keine virtuelle Sitzung? Genau. Aber es wird innerhalb von 24 Stunden geantwortet. Es gibt immer mehr Begleitstudien zu diesen Anhörungen in verschiedenen Ländern, wie Südafrika und Chile. Die fallen erstaunlich negativ aus. Es gibt Zahlen, laut denen bis weit über die Hälfte der Betroffenen sagen, es geht ihnen nach der Aussage schlechter als vorher. Zu ihrem Projekt habe ich gelesen, Sie haben eine Quote an Beschwerdefreien von 80%. Wie erklären Sie sich das? Der Unterschied ist, dass unsere Therapie weiter geht, dass es ein therapeutischer Prozess ist. In der ersten Phase merken wir, dass die Symptome mitunter noch zunehmen. Dass es schlimmer wird mit den Schlafstörungen, dass sie noch mehr Probleme haben, überhaupt Gefühle zu kontrollieren. Das ist normal und wir teilen den Patienten mit, dass es eine normale Reaktion ist. Im nächsten Schritt ist es wichtig, dass man nicht stehen bleibt, sondern die Gedanken und Gefühle, die damit verbunden sind, weiter bearbeitet. Dadurch wird es auch möglich wieder eine Zukunftsperspektive für das eigene Leben zu entwickeln. Könnte man dann sagen, dass es ein Problem dieser Anhörungen ist, dass sie in der Phase, die der ersten Phase Ihres Therapieansatzes entspricht, stehen bleiben? Die Frage ist: Was ist das Ziel dieser Versöhnungskommissionen? Es wäre hoch gegriffen, das als therapeutische Einrichtung zu verstehen. Wobei deren Selbstbeschreibungen mitunter so lauten und die Ansprüche das doch auch verfolgen. In Südafrika gab es Plakate, auf denen „Revealing is healing“ stand, und da wurde das Ganze sehr nah an diesen Therapieansatz herangeführt. Ich finde das schwierig. Von unserer Therapie kann ich nur sagen, es ist ganz wichtig, die erste Phase zu haben, die Auseinandersetzungen mit dem

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Ereignis. Aber wichtig ist, dabei nicht stehenzubleiben, sondern weiterzugehen. Oft sind diese Aussagen auch betreut von Psychologen. Danach allerdings steht dem Betroffenen die psychologische Begleitung unter Umständen nicht mehr zur Verfügung. Deshalb der Gedanke, dass es ein entscheidendes Kriterium ist, die eigene Aussage in die Zukunft zu führen. Unsere Therapien sind alle auf eine sehr kurze Zeit angesetzt, es sind nur wenige Briefe, die geschrieben werden. Und jetzt haben wir eine neue Therapie, die noch kürzer ist. Es geht erst einmal um die Konfrontation und dann um dieses starke Abschlussdokument. Da wird ganz entschieden der Blick nach vorne gerichtet. Ich kann dazu noch nichts Wissenschaftliches aussagen, aber von der persönlichen Erfahrung her betrachtet ist es erstaunlich – zumindest bei Patienten, die kognitiv dazu in der Lage sind –, als wie hilfreich das erachtet wird. Wir werden das noch genauer wissenschaftlich untersuchen, auch inwieweit bei Menschen, die unter sehr starken posttraumatischen Symptomen leiden, noch mehr gebraucht wird. Gibt es denn auch in Ihrem Therapiekontext das Phänomen, dass es Leuten, die ihre Erlebnisse augfgeschrieben haben, langfristig schlechter geht? Dass sie bereuen, dass sie das gemacht haben? Wenn ich meine unterschiedlichen therapeutischen Erfahrungen anschaue, dann habe ich das so noch nicht erlebt, dass es jemand bereut, in der Therapie darüber gesprochen zu haben. Ich glaube, das Phänomen, das dahinter steckt, ist: Betroffene haben diese Bilder ständig im Kopf und sie werden ständig damit konfrontiert. Und wenn sie in einem geschützten Rahmen darüber sprechen können, das nach außen bringen können, ist es entlastend. Darüber gewinnen sie die Kontrolle wieder. Er wird so lange darüber gesprochen, bis die Betroffenen eine Art und Weise finden, wie sie darüber erzählen können – und zwar so, dass es für sie in Ordnung ist. Dass sie nicht mehr von ihren Gefühlen und von dieser Ohnmacht überschwemmt werden. Dass sie bestimmen, was und wann und wie sie darüber erzählen. Und dass es in einem therapeutischen Kontext möglich ist, wird meist als entlastend empfunden, zumindest rückblickend.

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Welche Rolle spielt der letzte Brief, der verfasst wird? Ist es dabei auch von Bedeutung, dass ein Dokument entsteht, durch das die Patienten buchstäblich über ihr eigenes Erleben verfügen können? Ja, das spielt eine große Rolle. Und vor allem ist es wichtig, dieses Erlebnis als Teil des Lebens zu sehen – und zwar nur als Teil der eigenen Biografie. Für viele besteht das Leben nur noch aus diesem schrecklichen Erlebnis. Es ist ganz schwer, das Leben davor noch wahrzunehmen. Und an ein Leben danach können viele auch nicht mehr glauben. Der letzte Brief beinhaltet ein Drittel von dem, was passiert ist, ein Drittel von der aktuellen Befindlichkeit und ein Drittel, das in die Zukunft gerichtet ist. Wir sagen den Patienten auch, dass sie dieses Dokument begleiten soll. Und wir bekommen immer wieder Rückmeldungen, nachdem sie die Therapien abgeschlossen haben, in denen sie schildern, wie hilfreich dieses Dokument ist und dass sie es immer wieder lesen. Um selbst nachzulesen: wie geht es weiter? Ja, genau. Dieses Dokument können sie an unterschiedliche Personen richten: an sich selbst, an den Täter, um deutlich zu machen, mein Leben geht weiter. Es ist wichtig, diesen Brief an jemanden zu richten. Ein klares Dokument, das an eine Person gerichtet ist. Kann das die Funktion eines Zeugnisses haben? Vielleicht auch, weil man das für eine Aussage später wieder braucht? Ich würde fast sagen, dass es in diesem Kontext eine weniger große Rolle spielt. Viele haben das auch gar nicht im Blick, öffentlich dagegen vorzugehen. In erster Linie geht es nicht darum, dass es zu einer Öffentlichkeit kommt. Es geht eher darum, das eigene Leben wieder in den Griff zu bekommen. Eine neue Perspektive auf das eigene Leben zu bekommen. Es geht darum, die Perspektivlosigkeit in eine Zukunftsperspektive zu verwandeln. Können Sie auch über die Sprache erzählen? Wie über dieses Trauma geschrieben wird? Werden viele Bilder verwendet oder wird eher konkret über das gesprochen, was passiert ist? Es gibt eine ganz klare Anleitung, wie Patienten darüber schreiben sollen. Sie sollen sich nämlich in dem Moment noch einmal in die Situation hineinversetzen. Sie schreiben in der Regel aus der ich-Perspektive und im

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Präsens, als würden sie es im Moment des Niederschreibens erleben. Diese Aufforderung ist nötig, weil es dadurch möglich ist, dass die Betroffenen sich wirklich mit der Situation auseinander setzen und in die Situation gehen. Das ist notwendig für die Konfrontation. Damit es nicht wieder vermieden wird. Ein starkes Symptom bei der posttraumatischen Belastungsstörung ist, dass alles vermieden wird, was damit zusammenhängt. Das führt nur dazu, dass die Symptome schlimmer werden. Deshalb arbeiten wir mit einer bewussten Konfrontation. Wir merken immer wieder, dass Betroffene in ihrer Sprache in kindliche Züge verfallen. Vielleicht auch, weil sie in der Kindheit erlebt haben, wovon sie schreiben. Oder Sie schreiben in starkem Dialekt, auch wenn sie das sonst nicht machen. Das macht uns auch deutlich, die Betroffenen waren wirklich in der Situation und haben sie nacherlebt. Sie haben diese Situation gespürt in dem Moment. Das ist das Ziel. Wenn es um Schmerzerfahrung geht, bewegen sich literarische Texte häufig in Als-Ob-Strukturen. „Als ob Nadelstiche ins Herz gehen“ und ähnliches metaphorisches, vergleichendes Sprechen. Was häufig der Notwendigkeit geschuldet ist, von physischem Schmerz zu sprechen – wie soll man Schmerz anders beschreiben als in solchen Strukturen und Bildern. Wie gehen Ihre Patienten damit um? Ist das ein sehr faktisches Erzählen oder wird eher umschrieben, was passiert ist? Dann, wenn sie sich wirklich in diese Situation hineinversetzen, schreiben sie meist wenig faktisch, sondern sehr emotional. Oft versehen mit solchen Beispielen. Was wir auch immer wieder lesen können, sind Zeilen oder Sätze aus dem Koran. Die fließen als Versatzstücke ein, um Erfahrungen zu beschreiben? Ja, aber auch, um zu schreiben, dass da der Schmerz noch stärker erlebt wurde. Um sich selbst zu schützen und das alles zu relativieren. In dem Moment geht es aber wenig um faktische Dinge, sondern um die Gefühlswelt und da werden viele der genannten Beispiele benutzt.

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Das ist auch in den Gedichten von Häftlingen aus Guantánamo der Fall. Die Autoren verfallen in überlieferte Formen und Geschichten, um die eigene Geschichte zu erzählen. Das gibt es immer wieder, wie gesagt, der Koran spielt bei vielen Patienten eine große Rolle. Wir hatten aber auch Patienten, die große Teile der Therapie in Gedichtform geschrieben haben. Das ist nicht die Regel, kommt aber auch vor. Das hängt bestimmt auch von der Vorbildung ab. Ganz genau. Ist das auch eine Form, persönlichen Inhalt in einer gleichzeitig unpersönlichen Form über das eigene Erleben zu schreiben? Durchaus. Einige haben Gedichte verfasst, die einen sehr persönlichen Inhalt haben. Können Sie sagen, wie häufig so etwas vorkommt? Die Passagen oder Texte aus dem Koran begegnen uns oft. Dass jemand in reiner Gedichtform schreibt, ist eher selten. Machen Sie die Erfahrung, dass Menschen auf das Schreiben als Medium nicht mehr zurückgreifen können, weil das etwas ist, was sie vor dem traumatischen Ereignis getan haben und das jetzt davon beeinträchtigt ist? Ich glaube, das sind die Menschen, die wir nicht erreichen. Diejenigen, die sich nicht dafür entscheiden. Da findet bei unserer Therapie automatisch von Anfang an eine Selektion statt. Was wir durchaus immer wieder lesen, ist die Aussage, ich kann darüber gar nicht schreiben, weil es so schmerzt. Das beinhaltet aber bereits die Auseinandersetzung mit dem Erlebten. Gibt es Unterschiede im Schreibverhalten von Folteropfern zu Opfern anderer Traumata? Da ist es schwer, etwas Aussagekräftiges zu sagen. Vor allem begegnet uns die Schwierigkeit, sich diesem Thema überhaupt zu nähern und das in Worte zu fassen. Das kommt bei anderen Traumaopfern auch vor. Bei Folterop-

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fern handelt es sich um sehr massive, von Menschen zugefügte Gewalt. Und da gibt es häufig Schwierigkeiten, das in Worte zu fassen. Etwas einfacher ist es bei Menschen, die einen Verkehrsunfall erlebt haben, der auch sehr traumatisch sein kann und das Leben sehr einschränken kann. Bei Folteropfern kommt dazu, dass das gesamte Welt- und Menschenbild völlig verkehrt wird. Es ist schwierig, überhaupt noch Vertrauen in diese Welt zu bekommen und das Leben als lebenswert zu sehen. Es gibt außerdem einen Unterschied zwischen Menschen, die politisch aktiv waren und deshalb Folteropfer wurden und Menschen, die keine aktive Rolle gespielt haben. Weil die ersteren wissen, worauf sie sich einlassen. Da gibt es eine andere Auseinandersetzung mit der Gewalt als bei der anderen Gruppe. Weil die Folter nicht als reiner Willkürakt empfunden wird? Genau. Spielt es eine Rolle, ob während der Folter Informationen preisgegeben wurden? Darum geht es weniger beim Ilajnafsy-Projekt als in meiner anderen Arbeit. Ich stelle fest, dass es da zum Teil große Schuldgefühle gibt, wenn wirklich Aussagen gemacht wurden. Und die erschweren auch das Sprechen darüber. Sie haben vorher erwähnt, dass bei der Aufarbeitung häufig Ängste, in eine Falle zu tappen, eine Rolle spielen. Ist das bei Folteropfern besonders stark? Ja, das ist ein großes Thema. Für die Betroffenen ist es entscheidend, dass sie wissen, was wir genau tun, wo wir herkommen und dass das Portal sicher ist. Es gibt auch Betroffene, die sich einmal melden und dann doch nicht den Schritt in die Therapie gehen. Angst spielt dabei sicherlich auch eine Rolle.

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Dank

Dieses Buch wurde im Sommer 2013 als Doktorarbeit an der LudwigMaximilians-Universität München eingereicht. Die Arbeit entstand im Rahmen einer Doktorandenstelle in der DFG-Gruppe Anfänge (in) der Moderne an derselben Universität. Bei den Mitgliedern dieser Forschergruppe möchte ich mich nicht nur für die Ermöglichung meines Promotionsvorhabens bedanken, sondern auch für alle Anregungen und Einblicke, die ich während der Promotionszeit erhielt. Derselbe Dank gilt dem Promotionsstudiengang Literaturwissenschaft an der LMU (ProLit) – seinen Lehrenden und meinen Kollegen für eine inspirierende Zeit, intensive Gespräche und nicht selten fortdauernde Freundschaft. Vor allem dem Gesicht und der Seele von ProLit – Markus Wiefahrn – danke ich für alle organisatorische Untersützung, unerschüttliche Gelassenheit und ein beglückendes Maß an Ironie. Die Mitarbeiter des Behandlungszentrums für Folteropfer Berlin (bzfo) gewährten mir nicht nur Einblick in ihre unschätzbar wertvolle Arbeit und ihre außerordentlich gut sortierte Spezialbibliothek, sondern Alexandra Liedl stellte sich für ein ausführliches Gespräch zur Verfügung, dessen Kondensat dem Buch als Anhang beigefügt ist: Herzlichen Dank! Von ganzem Herzen danken möchte ich Inka Mülder-Bach für den entscheidenden Impuls zu dieser Arbeit und die Begleitung durch die Promotionsphase, aber vor allem auch für erkenntnisreiche und richtungsweisende Jahre – sie hat meine Studien- und Promotionszeit in unvergleichlicher Weise geprägt. Meinen Eltern danke ich für vorbehaltlose Unterstützung – schon immer. Nelas bedingungsloser Freundschaft, die so manche Schaffenskrise

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gar nicht erst entstehen ließ, ist mit Worten kaum gerecht zu werden. Dennoch: Danke. Unendlich dankbar bin ich Uli Köppen. Für wandfüllende Tafelbilder, die meinen Kopf sortieren, für Gespräche, die keine Grenzen kennen, für ihren Langmut, ihre Übersicht und ihr unermessliches Vertrauen – ohne sie wäre nicht nur diese Arbeit nicht denkbar.

Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 November 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel 2014, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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Lettre Reinhard Babel Translationsfiktionen Zur Hermeneutik, Poetik und Ethik des Übersetzens

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September 2015, ca. 350 Seiten, kart., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-3220-0

Oktober 2015, ca. 154 Seiten, kart., 23,99 €, ISBN 978-3-8376-3246-0

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Sebastian Schmitt Poetik des chinesischen Logogramms Ostasiatische Schrift in der deutschsprachigen Literatur um 1900

August 2015, 332 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3214-9

September 2015, ca. 292 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3247-7

Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.) Kriminalliteratur und Wissensgeschichte Genres – Medien – Techniken

Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900

April 2015, 248 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2887-6

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Toni Tholen Männlichkeiten in der Literatur Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung

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Mai 2015, 224 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3072-5

Julia Catherine Sander Zuschauer des Lebens Subjektivitätsentwürfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Juni 2015, 344 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3127-2

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing November 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

Lars Wilhelmer Transit-Orte in der Literatur Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen März 2015, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2999-6

Sophie Witt Henry James’ andere Szene Zum Dramatismus des modernen Romans Oktober 2015, ca. 380 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2931-6

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)

Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014

Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.

www.transcript-verlag.de

Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2

Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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