Die Schnittstelle von Morphologie und geschriebener Sprache 9783110334760, 9783110336665

An important aspect of the analysis of written language is to explain its relationship to spoken language. The volume fo

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German Pages 264 Year 2013

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Die Schnittstelle von Morphologie und geschriebener Sprache
 9783110334760, 9783110336665

Table of contents :
Einleitung
Das Konzept des morphologischen Prinzips und seine Rolle in einer modularen Schriftsystemtheorie
Die Graphematik-Morphologie-Schnittstelle in der Geschichte des Deutschen
Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen
Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-Komposita: Distribution und Funktion
Gute und schlechte Bindestriche in dreiteiligen Komposita
Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? Strukturmarkierende Schreibungen bei Kontaminationen
Anything goes? SMS, phonographisches Schreiben und Morphemkonstanz
Morphologie lesen: Stammkonstanzschreibung und Leseverstehen bei starken und schwachen Lesern
Register

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Martin Neef und Carmen Scherer (Hrsg.) Die Schnittstelle von Morphologie und geschriebener Sprache

Linguistische Arbeiten

Herausgegeben von Klaus von Heusinger, Gereon Müller, Ingo Plag, Beatrice Primus, Elisabeth Stark und Richard Wiese

Band 551

Die Schnittstelle von Morphologie und geschriebener Sprache Herausgegeben von Martin Neef und Carmen Scherer

DE GRUYTER

ISBN 978-3-11-033476-0 e-ISBN 978-3-11-033666-5 ISSN 0344-6727 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Martin Neef & Carmen Scherer Einleitung 1 Martin Neef Das Konzept des morphologischen Prinzips und seine Rolle in einer modularen Schriftsystemtheorie 9 Nikolaus Ruge Die Graphematik-Morphologie-Schnittstelle in der Geschichte des Deutschen 39 Rüdiger Weingarten Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen 69 Susanne R. Borgwaldt Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-Komposita: Distribution und Funktion 103 Jochen Geilfuß-Wolfgang Gute und schlechte Bindestriche in dreiteiligen Komposita Carmen Scherer Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? Strukturmarkierende Schreibungen bei Kontaminationen

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Christa Dürscheid & Elisabeth Stark Anything goes? SMS, phonographisches Schreiben und Morphemkonstanz 189 Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag Morphologie lesen: Stammkonstanzschreibung und Leseverstehen bei starken und schwachen Lesern 211

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Martin Neef & Carmen Scherer

Einleitung

Die Metapher der Schnittstelle spielt in vielen Bereichen der Wissenschaft eine zentrale erkenntnisfördernde Rolle. Dies gilt auch für die Linguistik. Insbesondere im Kontext des Paradigmas der Generativen Linguistik ist eine reiche Literatur zu diversen Aspekten von Schnittstellen bzw. Interfaces entstanden. Im Kontext einer grundsätzlich derivationellen Konzeption der Generativen Linguistik gewinnen Schnittstellen dadurch an Relevanz, dass die Aufgabe der Analyse des komplexen Systems Sprache auf verschiedene signifikante Teilkomponenten wie z.B. Syntax oder Lexikon aufgeteilt wird. Damit diese Teilkomponenten erfolgreich miteinander kommunizieren können, muss der Datenaustausch explizit geregelt sein, und die Datenstruktur der ausgebenden Teilkomponente muss so beschaffen sein, dass die aufnehmende Teilkomponente damit weiterarbeiten kann. Hier kommt die Schnittstellenproblematik in den Blick dergestalt, dass die Datenstruktur an der Schnittstelle bzw. durch diese modifiziert werden kann. Sie folgt also wissenschaftshistorisch der Gestaltung der Teilkomponenten selbst, gewinnt aber von Zeit zu Zeit an Dominanz, abhängig vom jeweiligen Bearbeitungsstand der gewählten Theorie. Aber auch in nicht-derivationellen oder in weniger technisch-expliziten Ansätzen ist von Schnittstellen die Rede. In diesem Fall werden Beziehungen zwischen Teilkomponenten in allgemeinerer Form thematisiert. Schnittstellen sind also in erster Linie bei der Modellierung der inneren Architektur komplexer Systeme relevant. Da komplexe Systeme zudem im Normalfall in Beziehungen zu anderen Systemen stehen, wird auch hier die Schnittstellenfrage virulent. Die Schnittstellenproblematik ist insofern für die wissenschaftliche Betrachtung der geschriebenen Sprache geradezu konstitutiv, auch wenn in diesem Teilgebiet der Linguistik erstaunlicherweise die in Frage stehende Metapher bislang kaum Verbreitung gefunden hat (siehe aber z.B. Goody 1987, Neijt 2002, Bleses & Thomson 2004, Pandey 2007, DiGirolamo 2012). Grundsätzlich wird nämlich im Kontext der Modellierung von Aspekten der geschriebenen Sprache die Frage diskutiert, in welcher Beziehung die geschriebene Sprache zur gesprochenen Sprache steht. Nun ist die geschriebene Sprache das Produkt eines als dahinterliegend anzusetzenden Schriftsystems. Ebenso ist auch die gesprochene Sprache Produkt eines dahinterliegenden Systems, und zwar des Sprachsystems. Für die theoretische Modellierung erweist sich damit die Frage als ausschlaggebend, in welcher Beziehung das Schriftsystem zum Sprachsystem steht. Hierzu sind verschiedene Vorschläge gemacht worden dergestalt, dass das Schriftsystem als Teil des Sprachsystems konzipiert wird

2 ! Martin Neef & Carmen Scherer (z.B. Eisenberg 2006) oder umgekehrt das Sprachsystem als Teil des Schriftsystems (z.B. Neef 2012), oder es wurde auch vorgeschlagen, dass beide Systeme auf einer Ebene nebeneinanderstehen (z.B. Primus 2003). Wie auch immer die Relation genau gesehen wird, in jedem Fall wird angenommen, dass es einen oder mehrere Berührungspunkte zwischen dem Schriftsystem und dem Sprachsystem gibt. Dies sind die Schnittstellen zwischen den beiden Systemen. Für die Modellierung phonographischer Schriftsysteme kommt der Beziehung des Schriftsystems zur phonologischen Komponente eines Sprachsystems primäre Relevanz zu. Für solche Schriftsysteme wurden einheitliche Schnittstellen zwischen Sprachsystem und Schriftsystem vorgeschlagen, z.B. Wiese (1989) im Rahmen der Theorie der Lexikalischen Phonologie oder Sproat (2000, 2002) in einer computerlinguistisch inspirierten Weiterentwicklung eines solchen derivationellen Grammatikmodells. Der Grundgedanke hierbei ist, dass es in der Derivation sprachlicher Ausdrücke innerhalb des Sprachsystems einen bestimmten Punkt gibt, an dem die schriftsystematische von der sprachsystematischen Derivation abzweigt. An diesem Punkt, den Sproat (2000, 2002) ‚orthographically relevant level‘ nennt, soll hinreichend viel sprachsystematische Information vorhanden sein, um die Erzeugung schriftlicher Formen zu gewährleisten. Das Konzept der orthographischen Tiefe (Katz & Feldmann 1983, siehe auch Neef & Balestra 2011) zielt in allgemeiner Form darauf ab, dass der abzweigende Punkt tiefer oder weniger tief in der Derivation liegen kann. Während eine solche Gesamtkonzeption für die phonologische Komponente grundsätzlich hinreichend sein kann, kommen morphologische Informationen im Schriftsystem gewöhnlich schon zu kurz, und syntaktische Informationen, die, wie die Interpunktion zeigt, für die geschriebene Sprache ebenfalls von Bedeutung sein können, werden bei solchen Herangehensweisen gewöhnlich ausgeblendet, wie z.B. Neijt (2002) moniert. Daraus lässt sich letztlich folgern, dass das Schriftsystem Beziehungen zu diversen Ebenen des Sprachsystems eingeht, dass es also eine Vielzahl von Schnittstellen zwischen dem Schriftsystem und dem Sprachsystem gibt. Für phonographische Schriftsysteme herrscht hier traditionell eine Dominanz der Betrachtung phonologiebezogener Aspekte vor, während morphologische und – noch deutlicher – syntaktische Aspekte nachgeordnet behandelt werden. Der vorliegende Sammelband konzentriert sich im Kontext dieser theoretischen Diskussion auf die Beziehungen von Schriftsystemen zur sprachsystematischen Ebene der Morphologie. Diese Herangehensweise hat eine lange Tradition, auch wenn der Blick hierbei häufig auf die Frage konzentriert wird, wie zu erfassen ist, dass bestimmte morphologische Einheiten (z.B. Morpheme oder – stärker eingeschränkt – Wurzelmorpheme) in Schriftsystemen über konstantere Schreibungen verfügen, als es die entsprechenden variierenden phonologi-

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schen Repräsentationen erwarten lassen. Neben dieser Konstanz können aber weitere originär morphologische Aspekte für das Schriftsystem eine Rolle spielen, insbesondere die morphologische Struktur von Wörtern. Die Wortbrechung im Deutschen beispielsweise folgt nicht allein phonologischen (oder innergraphematischen) Regularitäten, sondern nimmt primär Bezug auf die morphologische Struktur; so liegt etwa vor einem Präfix und vor einem Wurzelmorphem eine designierte Trennstelle (vgl. z.B. Neef 2008). Im Englischen ist die Wortbrechung noch dominierender morphologisch bedingt. Das Zusammenwirken von morphologischen und schriftsystematischen Faktoren zeigt sich weiterhin in der Interpunktion (Verwendung von Wortzeichen), der Getrennt- und Zusammenschreibung (basierend auf einer Definition der Einheit graphematisches Wort) sowie der Verwendung von Binnenmajuskeln. Der Sammelband spiegelt die Vielfalt derzeitiger Herangehensweisen an Fragen der Schriftlinguistik wider. Der erste Beitrag Das Konzept des morphologischen Prinzips und seine Rolle in einer modularen Schriftsystemtheorie von Martin Neef bespricht Geschichte und Systematik des Konzepts orthographischer Prinzipien mit dem Schwerpunkt auf den beiden zentral angenommenen Prinzipien, dem phonologischen und dem morphologischen. Dieses Prinzipienmodell erweist sich als ein weiterer Versuch, die Beziehungen zwischen Schriftsystem und Sprachsystem modellhaft zu erfassen, auch wenn Neef den Ansatz nicht als originäre Theorie, sondern als vortheoretischen Rahmen zur Formulierung spezifischer Theorien einschätzt. Im zweiten Teil seines Beitrags skizziert er (am Beispiel des Schriftsystems des Deutschen), wie Phänomene, die in den Wirkungsbereich der beiden genannten Prinzipien fallen, im Rahmen einer Modularen Schriftsystemtheorie erfasst werden können. In seinem sprachhistorischen Beitrag Die Graphematik-Morphologie-Schnittstelle in der Geschichte des Deutschen liefert Nikolaus Ruge einen detailreichen Abriss über beinahe ein Jahrtausend Schriftgeschichte des Deutschen, wobei er das Prinzipienmodell als Orientierungsrahmen nutzt. Beginnend mit den frühesten Verschriftungen der deutschen Sprache im Kontext der lateinischen Tradition im 8. Jahrhundert zeigt Ruge – methodologische Beschränkungen der historischen Linguistik reflektierend –, wie in der zunächst phonographisch geprägten Verschriftungstradition zunehmend, wenn auch nicht in ungebrochener Linearität, morphologische Einflüsse auf die Schreibungskonventionen prägend werden. Zu nennen ist hierbei an erster Stelle die Auszeichnung der Einheit graphisches Wort durch Spatien sowie die Morphemkonstanz (v.a. im Kontext der Auslautverhärtung), aber auch die Markierung wortinterner Morphemgrenzen durch die Nutzung spezifischer Buchstaben sowie die Einführung von Umlautschreibungen.

4 ! Martin Neef & Carmen Scherer Ebenfalls mit einem historischen Fokus, zugleich aber auch typologisch ausgerichtet untersucht Rüdiger Weingarten in seinem Beitrag Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen, wann und warum sich grammatische (also morphologische und syntaktische) Eigenschaften in den Schriftsystemen des Deutschen und des Niederländischen niedergeschlagen haben. Anhand zweier Fallstudien zur Schreibung von Doppelkonsonantenbuchstaben und zur Schreibung von Buchstaben für wortfinale stimmhafte Obstruenten ergibt sich für das Deutsche für beide Bereiche ein massiver Strukturwandel ab der Mitte des 14. Jahrhunderts, während das niederländische Schriftsystem im ersten Fall nur geringe Veränderungen zeigt und im zweiten Fall Wandel erst ab dem 18. Jahrhundert. Gründe für die stärker ausgebaute Grammatographie im Deutschen vermutet Weingarten sowohl innerhalb als auch außerhalb des Sprachsystems. Die folgenden drei Beiträge widmen sich empirisch fundiert der Frage, inwieweit Schreibungen im Deutschen die wortinterne Morphemstruktur sichtbar machen (können). Susanne R. Borgwaldt hat für ihren Beitrag Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-Komposita: Distribution und Funktion zwei Produktionsexperimente durchgeführt, bei denen neugebildete Nominalkomposita zu schreiben waren, deren semantische Interpretation qua Kontext als determinativ oder als kopulativ ausgewiesen war. Als Ergebnis zeigt sich, dass kopulative Komposita seltener Fugenelemente, aber häufiger Bindestriche enthalten als determinative Komposita. Allerdings lassen sich entgegen der häufig in der Literatur vertretenen Ansicht auch in Kopulativkomposita Fugenelemente finden. Fugen haben insofern nicht die Funktion, Lesarten zu markieren. Wohl aber geht Borgwaldt davon aus, dass Fugen und Bindestriche die gleiche Funktion haben können, nämlich die Markierung der primären Konstituentengrenze in Komposita. Ebenfalls der Verwendung von Bindestrichen im Deutschen wendet sich Jochen Geilfuß-Wolfgang in dem Beitrag Gute und schlechte Bindestriche in dreiteiligen Komposita zu. Bei Komposita wie Lottoannahmestelle stellt sich die Frage, ob eine Interpretation als (AB)C oder A(BC) intendiert ist. Dies kann mit einem Bindestrich verdeutlicht werden. Auf der Basis einer Fragebogenuntersuchung ermittelt Geilfuß-Wolfgang, wie die Befragten die Lesbarkeit dreigliedriger Komposita einschätzen, die entweder keinen Bindestrich enthalten (Lottoannahmestelle), einen an der Grenze der unmittelbaren Konstituenten (LottoAnnahmestelle) oder einen an der Grenze der mittelbaren Konstituenten (Lottoannahme-Stelle). Wie erwartet wird ein Bindestrich an der primären Konstituentengrenze als vorteilhaft eingeschätzt. Allerdings gilt dies überraschenderweise nur für rechtsverzweigende, nicht aber für linksverzweigende Komposita. Geil-

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fuß-Wolfgang vermutet, dass dies mit der generellen Tendenz zur Rechtsverzweigung in deutschen Komposita zusammenhängt. Mit einem Wortstrukturtyp, der verschiedentlich als Unterart der Komposition angesehen wird, beschäftigt sich Carmen Scherer in ihrem Beitrag Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? Strukturmarkierende Schreibungen bei Kontaminationen. Scherer schätzt dabei Kontaminationen wie Eurasien und creHAARtiv als morphologisch binär strukturiert ein. Auf der Grundlage von Korpusdaten untersucht sie, inwieweit die intendierte Wortstruktur in der geschriebenen Sprache – anders als in der gesprochenen Sprache – sichtbar gemacht werden kann. Hierfür stehen diverse graphische und typographische Mittel zur Verfügung (z.B. Syngrapheme (wie Bindestrich und Apostroph), Binnenmajuskel, Binnenspatium, Schriftauszeichnung, Schriftgröße). Für strukturmarkierende Schreibungen von Kontaminationen lässt sich insgesamt feststellen, dass Konstituentengrenzen fast ausschließlich mit einfachen graphischen Mitteln markiert werden, während zur Hervorhebung einzelner Konstituenten überwiegend typographische Mittel genutzt werden. In ihrem Beitrag Anything goes? SMS, phonographisches Schreiben und Morphemkonstanz diskutieren Christa Dürscheid und Elisabeth Stark ausgehend von einem umfangreichen Schweizer Korpus mit standarddeutschen, schweizerdeutschen und standardfranzösischen SMS-Daten die Frage, inwieweit das in den SMS zu beobachtende normabweichende Schreiben phonographische und morphographische Züge zeigt. Dabei erweist sich das morphologische Konstanzprinzip als für alle drei Grapholekte wesentlich; lexikalisch-morphologische und morphosyntaktische Informationen werden auch im normfernen Schreiben graphisch konserviert. SMS-Schreibungen stellen sich insgesamt als keinesfalls regellos heraus, wenn hier auch den angenommenen Prinzipien in anderem Ausmaß gefolgt wird als in der Standardschreibung. Dürscheid und Stark überlegen abschließend, inwiefern die beobachteten Normabweichungen als Anzeichen für Sprachwandel interpretiert werden können. Im letzten Beitrag des Bandes Morphologie lesen: Stammkonstanzschreibung und Leseverstehen bei starken und schwachen Lesern verfolgen Ursula Bredel, Christina Noack und Ingo Plag die Frage, welchen Effekt die Konstantschreibung morphologischer Einheiten in Schreibungen des Deutschen auf das Textverständnis und die Lesegeschwindigkeit erwachsener Leser ausübt. Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, dass schwächere Leser weniger auf morphologische Informationsbestandteile in Schreibungen achten als stärkere. Schwachen Lesern sollten demnach Falschschreibungen, die wie statt rein phonographisch geschrieben sind, weniger Probleme bereiten als starken Lesern. Methodisch gehen Bredel, Noack und Plag experimentell vor. Sie ließen Probanden Lese- und Entscheidungsaufgaben erfüllen, wobei die

6 ! Martin Neef & Carmen Scherer Reaktionszeiten sowie die Qualität der Antwort erhoben wurden. Das Ergebnis zeigt, dass schwache Leser im Unterschied zu starken nicht in der Lage sind, beim Lesen morphologische Informationen auszuwerten. Dieses Buchprojekt ist aus der gleichnamigen Kurz-AG hervorgegangen, die wir am 23. Februar 2011 im Rahmen der 33. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft in Göttingen durchgeführt haben. Von den acht Vorträgen dieser AG haben sechs ihren Weg in diesen Sammelband gefunden. Zudem konnten wir nachträglich Nikolaus Ruge und Susanne Borgwaldt dafür gewinnen, Beiträge für diesen Sammelband beizusteuern, wodurch der Band an neuen Perspektiven gewonnen hat. Wir danken den Teilnehmern der AG für die engagierte und kritische Diskussion. Weiterhin danken wir den zahlreichen anonym bleibenden Gutachtern, deren hilfreiche Kommentare von den Autoren bei ihrer Überarbeitung dankbar aufgenommen wurden, und wir danken den Autoren selbst, die mit ihrem Einsatz und Geduld das Entstehen dieses Sammelbands erst ermöglicht haben.

Literatur Bleses, Dorthe & Pia Thomsen. 2004. The acquisition of spoken forms and written words: An empirical study of opacity in the speech/reading/writing interface in Danish. Written Language and Literacy 7. 79–99. DiGirolamo, Cara M. 2012. The fandom pairing name: Blends and the phonology-orthography interface. Names: A Journal of Onomastics 60. 231–243. Eisenberg, Peter. 2006. Grundriss der deutschen Grammatik. Band 1: Das Wort. 3. Auflage. Stuttgart & Weimar: Metzler. Goody, Jack. 1987. The interface between the written and the oral. Cambridge: Cambridge University Press. Katz, Leonard & Laurie Feldman. 1983. Relation between pronunciation and recognition of printed words in deep and shallow orthographies. Journal of Experimental Psychology 9. 157–166. Neef, Martin. 2008. Worttrennung am Zeilenende: Überlegungen zur Bewertung und Analyse von orthographischen Daten. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 35. 283–314. Neef, Martin. 2012. Graphematics as part of a modular theory of phonographic writing systems. Writing Systems Research 4. 214–228. Neef, Martin & Miriam Balestra. 2011. Measuring graphematic transparency: German and Italian compared. Written Language and Literacy 14. 109–142. Neijt, Anneke. 2002. The interfaces of writing and grammar. In Martin Neef, Anneke Neijt & Richard Sproat (Hgg.), The relation of writing to spoken language, 11–34. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten 460). Pandey, Pramod. 2007. Phonology-orthography interface in Devan"gar# for Hindi. Written Language and Literacy 10. 145–162.

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Primus, Beatrice. 2003. Zum Silbenbegriff in der Schrift-, Laut- und Gebärdensprache: Versuch einer mediumübergreifenden Fundierung. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 23. 3–55. Sproat, Richard. 2000. A computational theory of writing systems. Cambridge: Cambridge University Press. Sproat, Richard. 2002. The consistency of the orthographically relevant level in Dutch. In Martin Neef, Anneke Neijt & Richard Sproat (Hgg.), The relation of writing to spoken language, 35–45. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten 460). Wiese, Richard. 1989. Schrift und die Modularität der Grammatik. In Peter Eisenberg & Hartmut Günther (Hgg.), Schriftsystem und Orthographie, 321–339. Tübingen: Niemeyer (RGL 97).

Martin Neef

Das Konzept des morphologischen Prinzips und seine Rolle in einer modularen Schriftsystemtheorie 1 Einleitung Alphabetische Schriftsysteme basieren grundsätzlich darauf, dass Buchstaben bzw. Grapheme als ihre kleinsten Einheiten in regelmäßigen Beziehungen zu Lauten bzw. Phonemen desjenigen Sprachsystems stehen, dem das Schriftsystem zugeordnet ist. Allerdings sind Orthographien im Teilbereich der LautBuchstaben-Beziehungen niemals so gestaltet, dass ihre Regeln ausschließlich simple isomorphe Beziehungen zwischen Graphemen und Phonemen (in beiden Richtungen) modellieren. Vielmehr bildet eine Orthographie Beziehungen der geschriebenen Einheiten zu verschiedenen Ebenen des Sprachsystems ab. Dieser Umstand wird mit dem Konzept orthographischer Prinzipien angesprochen.1 Beziehungen der Orthographie zur Phonologie werden dann einem phonologischen Prinzip zugeordnet, solche zur Morphologie dem morphologischen Prinzip etc. In diesem Beitrag möchte ich überlegen, welche Qualitäten ein Modell haben muss, das ein morphologisches Prinzip als Kernstück enthält, um als wissenschaftliche Theorie gelten zu können. Eine grobe Übersicht über theoretische Ansätze, die zentral mit dem Prinzipienkonzept arbeiten, zeigt im Anschluss daran, dass eine solche Qualität bislang nicht erreicht wurde. Im letzten Teil möchte ich andeuten, wie in einer modularen Theorie zur Analyse von Schriftsystemen derjenige Bereich, der gewöhnlich dem morphologischen Prinzip zugeordnet wird, rekonstruiert werden kann. Einleitend skizziere ich die Geschichte des linguistischen Konzepts von Prinzipien der Schreibung bzw. Prinzipien der Orthographie, woraus ersichtlich wird, dass der Prinzipienansatz eine vielschichtige Vergangenheit hat. Je nach Ausgestaltung des Prinzipienansatzes hat das morphologische Prinzip einen anderen Zuschnitt und eine andere

1 Diese Sichtweise des Ebenenbezugs ist insbesondere durch die Arbeitsgruppe um Dieter Nerius seit den 1980er Jahren ausgearbeitet worden; vgl. Nerius (2007). Kohrt (1987: 516) charakterisiert den älteren, traditionellen Prinzipienbegriff als „hypothetische interne Norm“. Die beiden Sichtweisen sind freilich miteinander verwandt.

10 ! Martin Neef Relevanz im Gesamtgefüge der jeweils angesetzten Prinzipien; es verstecken sich also diverse unterschiedliche, wenn auch miteinander verwandte Konzepte hinter der Bezeichnung ‚morphologisches Prinzip‘, was durch den historischen Überblick belegt werden soll. Grundsätzlich ist das morphologische Prinzip nur in Abgrenzung zum phonologischen Prinzip zu verstehen, weshalb dieses in den weiteren Ausführungen einen größeren Raum einnehmen muss.

2 Die Geschichte des Konzepts der orthographischen Prinzipien Von Prinzipien der Orthographie wird schon seit langer Zeit gesprochen. Kohrt (1987: 505) führt den Umstand, dass der Ausdruck Prinzip eine zentrale Rolle im Orthographiediskurs spielt, auf Rudolf von Raumer (1855a)2 zurück (vgl. auch Müller 1990: 56). Raumer hat diese Bezeichnung aber nicht selbst in den Diskurs eingebracht. In Raumer (1857) verweist er folgendermaßen auf Karl August Julius Hoffmann (1853): So macht er [=Hoffmann] in der zweiten Auflage seiner Schulgrammatik * einen achtungswerthen Versuch, unsere Orthographie und deren Verbesserung auf Principien zu bringen. Zu den zwei Principien, die wir aufgestellt haben**, dem phonetischen und dem historischen, fügt Hr. Hoffmann noch ein drittes: das grammatische. ‚Dies Princip, sagt er, sucht vorzüglich die Ableitung und Verwandtschaft der Wörter und Wortformen festzuhalten und zum Bewusstsein zu bringen.‘ *** (zitiert nach Raumer 1863: 248–249)

Diesem kurzen Ausschnitt sind drei erläuternde Fußnoten beigegeben. Mit Fußnote * verweist Raumer auf Hoffmanns Neuhochdeutsche Schulgrammatik (1853: 251ff) und erläutert, dass sich der fragliche Abschnitt noch nicht in der ersten Auflage dieses Buchs von 1839 finde. Die letzte Fußnote *** verankert das eingefügte Zitat auf Seite 254 von Hoffmanns Schulgrammatik. In Fußnote ** liefert Raumer einen Verweis auf seinen eigenen Text (Raumer 1837). Dort werden zwar dem Geiste nach die beiden genannten orthographischen Prinzipien entwickelt, ohne dass hier aber schon der Ausdruck Prinzip genutzt wird. Bei dem Text Raumer (1837) handelt es sich um eine Studie zur Lautgeschichte, in der Fragen der Orthographie nur am Rande angesprochen werden. Raumers

2 Dieser Text mit dem Titel Über deutsche Rechtschreibung ist wenig später in Raumer (1855b) unter dem Titel Das Princip der deutschen Rechtschreibung neu abgedruckt worden (lediglich mit geringfügig erweiterten Fußnoten).

Das Konzept des morphologischen Prinzips !

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erster Text zur deutschen Rechtschreibung ist Raumer (1855a). Daraus lässt sich ableiten, dass Raumer für sich den Ausdruck Prinzip als orthographischen Terminus aus Hoffmann (1853) adaptiert hat. Rahnenführer (1989: 291–295) belegt an zahlreichen Quellen, dass der Ausdruck Prinzip freilich schon früher bei der Auseinandersetzung mit der Funktionsweise der Orthographie des Deutschen verwendet wurde, und zwar von diversen Autoren des 18. Jahrhunderts, und dabei durchaus auch, wenngleich nicht immer, in einem Sinne, der der Verwendungsweise Raumers entspricht. Die beiden einflussreichsten Orthographieforscher des 18. Jahrhunderts allerdings, Gottsched und Adelung, nutzten diesen Ausdruck nicht, wobei dies im Falle Gottscheds mit einer generellen Ablehnung des Gebrauchs von Fremdwörtern in Verbindung steht (vgl. Rahnenführer 1989: 294). Rudolf von Raumer hat den Terminus Prinzip also nicht in die Auseinandersetzung um die Gestaltung und Analyse der Orthographie eingebracht, aber weil er ihn in prägnanter Weise benutzt hat und weil seine Schriften besonders einflussreich waren, konnte sich dieser Terminus im linguistischen Diskurs etablieren. Besondere Konjunktur als theoretischer Leitbegriff hatte er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dann wieder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Phänomene, die mittels solcher Prinzipien erfasst werden sollen, werden seit noch längerer Zeit unter anderen Namen angesprochen, z.B. als Regeln höherer Ordnung, Hauptregeln, Generalregeln, Grundregeln, Grundsätze, Gesetze oder Grundgesetze (vgl. Kohrt 1987: 504, Rahnenführer 1989: 292). Zugleich ist die Redeweise von Prinzipien nicht auf den deutschen Wissenschaftsraum begrenzt, sondern international gängig (z.B. Baudoin de Courtenay gemäß Nerius 2007: 59, Nunn 1998, Cook 2004, Rollings 2004, Venezky 2004, vgl. auch Rahnenführer 1980: 243–245 mit einem Verweis auf den polnischen und den russischen Diskurs, Glück 1987: 101 mit einem Verweis auf den russischen und den französischen Diskurs). Gelegentlich wird der Ausdruck ‚Prinzip‘ im Kontext der Schriftsystemanalyse auch für Konzepte anderer Art benutzt. Eine Andersartigkeit solcher Konzepte sehe ich dann, wenn das fragliche Prinzipienmodell nicht eine Version eines phonologischen (bzw. phonetischen) und eines morphologischen (bzw. grammatischen) Prinzips als seinen Kern enthält und insofern nicht an die raumersche Tradition anknüpft. In dieser Tradition sind Prinzipien überdies grundsätzlich nicht sprachspezifisch gedacht. Gelegentlich wird der Ausdruck ‚Prinzip‘ aber für enger gefasste Konzepte genutzt, die auf sprachspezifische Eigenheiten abzielen und die ansonsten eher als orthographische bzw. graphematische Regeln klassifiziert werden. So referiert Mehlem (2010: 34), dass eines „der für das Arabische aufgestellten Prinzipien lautet, dass alle Wörter mindestens aus zwei Buchstaben bestehen.“ Auf der anderen Seite werden auch Kon-

12 ! Martin Neef zepte höherer Ordnung in der aktuellen Literatur verschiedentlich als ‚Prinzipien‘ bezeichnet. In diesem Sinne verfolgt Coulmas (2003: 34) ein andersartiges Prinzipienmodell für die Analyse von Schriftsystemen, das die drei Prinzipien principle of the autonomy of the graphic system, principle of interpretation und principle of historicity umfasst. In ähnlicher Weise stützt Venezky (1999: 6–10) sein Analysemodell für das englische Schriftsystem auf sieben Prinzipien eigener Art (z.B. variation is tolerated oder regularity is based on more than phonology). Die Grenzziehung zwischen für die Diskussion des Konzepts orthographischer Prinzipien relevanten und irrelevanten Verwendungen des Ausdrucks Prinzip ist indes nicht immer eindeutig. Aufgrund der langen und vielfältigen Tradition des Prinzipienmodells wundert es nicht, dass neben dem morphologischen Prinzip noch eine Reihe anderer orthographischer Prinzipien angesetzt werden. Bei einer Durchsicht der einschlägigen neueren Literatur lassen sich gut 100 schriftlinguistische Termini finden, in denen der Ausdruck Prinzip enthalten ist (vgl. Anhang). Die Abgrenzung der einzelnen Prinzipien untereinander ist dabei durchaus unklar; insbesondere ist davon auszugehen, dass manch ein Prinzip unter verschiedenen Namen firmiert, sodass eine ernsthaft zu betrachtende Liste einschlägiger Termini kleiner sein dürfte; ein ‚textuales Prinzip‘ ist wahrscheinlich nichts anderes als ein ‚textuelles Prinzip‘, aber ein ‚phonematisches Prinzip‘ könnte durchaus schon einmal anders verstanden worden sein als ein ‚phonologisches Prinzip‘. Diese terminologische Vielfalt macht die Beschäftigung mit dem Konzept orthographischer Prinzipien schwierig und belegt, dass es in wissenschaftlichen Texten nicht mit einfachen Verweisen etwa auf ein morphologisches Prinzip getan sein kann, solange nicht die spezifisch gemeinte Lesart erläutert wird.

3 Orthographische Prinzipien als wissenschaftliche Theorie Wenn ein bestimmtes schriftlinguistisches Datum mit Verweis auf ein bestimmtes Prinzip für erklärt bezeichnet wird, versteckt sich dahinter die Annahme, bei dem Prinzipienansatz handele es sich um eine gültige Theorie zur Modellierung der Orthographie bzw. des Schriftsystems. In seiner Qualität als Theorie sollten dabei zumindest folgende Fragen eindeutig geklärt sein, damit der Ansatz die üblichen wissenschaftlichen Standards von Explizitheit, Vollständigkeit und Widerspruchslosigkeit erfüllt:

Das Konzept des morphologischen Prinzips !

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Wie sind die einzelnen Prinzipien genau definiert? In welchem Zusammenhang stehen die Prinzipien untereinander, in welcher Art interagieren sie miteinander? Wie ist geregelt, unter welchen Umständen welches Prinzip greift? Welche der rund hundert in der Literatur angenommenen Prinzipien braucht man tatsächlich? Müssen möglicherweise noch weitere angenommen werden? Auf welchen Datenbereich bezieht sich das Prinzipienmodell: Betrifft es das synchrone System der Orthographie, betrifft es die Veränderung bzw. Entwicklung der Orthographie im Laufe der Zeit, betrifft es das Verhalten von Benutzern des Schriftsystems, z.B. beim Schreiben oder beim Lesen, oder genereller: Zielt es auf die Norm oder den Gebrauch? Von welcher Art sind die Daten, die in das Modell eingehen, und von welcher Art sind die Daten, die es ausgibt?

Hilfreich wäre schon, wenn sich die Autoren, die sich auf den Prinzipienansatz beziehen, hierbei auf eine bestimmte, als autoritativ angesehene Ausformung desselben berufen würden. Einen solchen für verbindlich erachteten Referenzrahmen gibt es aber nicht; Bezugnahmen geschehen üblicherweise anonym und unspezifisch. Diese Kritik gilt nicht für die im Kreis von Nerius arbeitenden Forscher, aber das Nerius-Modell (2007) ist kein Prinzipienmodell im eigentlichen Sinne; s.u. Seit sich die deutsche Sprachwissenschaft Anfang der 1980er Jahre (nach vereinzelten Vorläufern seit den 1950er Jahren) ernsthaft für Fragen der geschriebenen Sprache zu interessieren begonnen hat,3 sind Autoren kritisch mit dem Prinzipienmodell umgegangen. Wichtige Texte in diesem Kontext sind Rahnenführer (1980), Eisenberg (1983), Kohrt (1987: 503–518), Glück (1987: 98– 105) und Stetter (1989: 301), wobei für den westdeutschen Diskurs wohl Kohrt (1979: 23) den Anstoß für die Hinterfragung des Prinzipienmodells gegeben hat (vgl. Kohrt 1987: 506–507): „In diesem Sinne ist auch der Terminus ‚Prinzip‘ ein metaphorischer, nurmehr pseudo-analytischer Begriff, der zur Erhellung wenig beiträgt und für eine tiefergehende Analyse eher hinderlich ist“. Dass das Prinzipienmodell hinsichtlich der von mir oben formulierten Eckpunkte der Theoriebildung problematisch ist, ist seit Langem bekannt. So schreibt Kohrt (1987: 513), wobei sich seine Kritik, wie für diese Zeit üblich, vorrangig gegen Prinzipienmodelle in der Sprachdidaktik wendet:

3 Müller (1990: 1) konstatiert auch für die englischsprachige Linguistik einen ersten ‚Publikationsschub‘ zum Themenkomplex ‚Schriftlichkeit‘ Anfang der 1980er Jahre.

14 ! Martin Neef Tatsächlich ist die Feststellung, daß die verschiedenen ‚Prinzipien‘, die man im Zusammenhang mit dem Rechtschreiben für relevant hält, nicht konsistent befolgt werden können, in der orthographietheoretischen Literatur von Anfang an zu finden und inzwischen geradezu topisch.

In die gleiche Richtung zielend formuliert Glück (1987: 98–99): Mit solchen Listen von Prinzipien der Orthographie hat man zwar ziemlich breite Spielräume für die Behandlung schwieriger Fälle geschaffen, weil eines der vielen Prinzipien immer brauchbar sein wird, sich aber gleichzeitig das Problem eingehandelt, daß die Analyse methodisch fragmentiert wird und kein einheitlicher theoretischer Bezugspunkt mehr erkennbar ist. […] Ebensowenig scheinen uns solche Listen von Prinzipien die Formulierung zusammenhängender Theorien über die geschriebene Sprachform zu erlauben, weil die angenommenen Prinzipien, die ja die wesentlichen theoretischen Kategorien liefern müßten, übermäßig heterogen und unzureichend definiert und gegeneinander abgegrenzt sind (in struktureller wie in funktionaler Hinsicht).

Zu einem knappen Fazit aus Sicht der Linguistik kommt Eisenberg (1983: 66): Aus sprachwissenschaftlicher Sicht spricht alles dafür, nicht von den Prinzipien der Schrift zu reden, sondern nur von sprachlichen Ebenen

Aktuellere skeptische Bemerkungen zum Prinzipienmodell, ebenfalls vor allem gegen die Anwendung von Prinzipien bei Sprachdidaktikern gerichtet, finden sich bei Maas (2000): Die dabei herausgestellten Prinzipien haben allerdings eine gewisse Beliebigkeit (in der einschlägigen Literatur ist nie eine systematische Klärung erreicht, meist auch nicht versucht worden); v.a. aber: da sie quasi axiomatisch nebeneinander stehen, führt der Rückgriff auf sie zu widersprüchlichen Ergebnissen […] Wie die Hinweise schon zeigen, leisten diese ‚Prinzipien‘ allenfalls eine Sortierung von Rechtschreibproblemen – den mit ihnen operierenden Darstellungen fehlt ein systematischer Zugang: Weder ist in der Regel geklärt, was genau mit den jeweiligen Prinzipien gemeint ist […], noch ist geklärt, wie im Einzelfall entschieden werden kann, nach welchen der sich widersprechenden Prinzipien denn verfahren werden soll. (Maas 2000: 47–48)

Eine Einschätzung ganz in der Tradition der zitierten Autoren findet sich im Metzler Lexikon Sprache (mit einer für ein terminologisches Wörterbuch ungewöhnlich kritischen Bewertung): Der Sachverhalt, dass Schriftsysteme auf unterschiedliche Systemebenen Bezug nehmen, ist in der Redeweise von den ‚orthographischen Prinzipien‘ oder ‚Prinzipien der Orthographie‘ gemeint (morphologisches Prinzip, syntaktisches Prinzip). Das ist unbefriedigend, denn es geht nicht um Prinzipien, sondern um Netze struktureller Beziehungen. (Glück 2010: 596)

Das Konzept des morphologischen Prinzips !

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Diese Charakterisierung greift angesichts der im Anhang gegebenen Liste angenommener Prinzipien etwas kurz, denn nicht alle sogenannten Prinzipien funktionieren in dieser Weise (vgl. z.B. das ästhetische Prinzip, das historische Prinzip), aber es wird auch hier deutlich, dass das Prinzipiengefüge grundsätzlich nicht als originäre schriftlinguistische Theorie eingeschätzt wird. Unter den aktuellen theoretischen Ansätzen zur deutschen Orthographie ist die ‚Deutsche Orthographie‘ von Dieter Nerius und Kollegen (2007) (deren 1. Auflage von 1987 auf Vorarbeiten mindestens bis Nerius & Scharnhorst 1975 zurückgreift) besonders explizit dem Prinzipienansatz verpflichtet. Dennoch sehen auch Nerius et al. die Prinzipien selbst nicht als ihre eigentliche Theorie, sondern nur als einen Rahmen für diese: Wir verwenden den Begriff des orthographischen Prinzips zur Kennzeichnung der generellen oder grundlegenden Beziehungen der graphischen Ebene zu den anderen Ebenen des Sprachsystems und damit als theoretischen Rahmen für die verschiedenen Arten von orthographischen Regeln. (Nerius 2007: 87) Die Funktion der orthographischen Prinzipien innerhalb des Regelgefüges erweist sich daher primär als eine systematisierende, indem sie Komplexe untergeordneter genereller Regeln konstituieren und die interne Struktur des Regelwerkes durchschaubar machen. (Nerius 2007: 43)

Bei genauerer Betrachtung entsteht also der Eindruck, dass das Prinzipienmodell keine eigenständige Theorie von Schriftsystemen darstellt, sondern lediglich als eine vortheoretische Redeweise gesehen werden kann. Das Modell stellt einen groben Bezugsrahmen bereit, innerhalb dessen man konkrete, formale Theorien entwickeln kann, ohne dass der Prinzipienansatz selbst je als einheitliche Theorie zu verstehen gewesen ist (vgl. auch Nerius 2007: 86). Damit wird es immerhin möglich, sich über Theoriegrenzen hinweg miteinander zu verständigen, indem man sich auf einen gemeinsamen Orientierungsrahmen bezieht. In diesem Sinne ist das Prinzipienmodell eine für die wissenschaftliche Auseinandersetzung sinnvolle Näherung im Sinne eines vortheoretischen Verständigungsbegriffs. Mit dem Verweis auf ein Prinzip allein ist folglich keine wissenschaftliche Erklärung schriftlinguistischer Daten verbunden. Gerade dies wird aber in der aktuellen linguistischen Literatur gerne noch (oder wieder) suggeriert, wie folgende drei Zitate belegen, zunächst aus zwei Einführungswerken für Studienanfänger und dann aus dem Grammatik-Duden: Weiter oben wurde die Frage gestellt, warum man mit zwei

und mit zwei schreibt, wenn es von hallen kommt. Mit dem morphologischen Prinzip kann man erklären, dass die Frage schon die Antwort enthält. (Busch & Stenschke 2007: 66)

16 ! Martin Neef Die Wortschreibung des Deutschen wird durch mehrere, einander überlagernde Prinzipien oder Regelmengen bestimmt. Damit kann man viele Schreibungen regelmäßig erklären. (Lüdeling 2009: 72) Eine Darstellung dieser Art stellt nicht nur fest, wie geschrieben wird, sondern sie beantwortet auch die Frage nach dem Warum. Sie zeigt, welche allgemeinen Prinzipien der Wortschreibung des Deutschen zugrunde liegen. (Eisenberg 2009: 65)

Auch in aktuellen Monographien zeigt sich die Tendenz, den Prinzipien Erklärungskraft zuzusprechen, wie folgendes Zitat illustriert: Doch da es im Deutschen keine 1:1-Entsprechung von Phonemen und Graphemen gibt, reicht allein das phonematische Prinzip […] nicht aus, um die verschiedenen Schreibungen im Deutschen zu erklären. Aufgrund dessen wurden im Laufe der deutschen Orthographiegeschichte weitere Prinzipien entwickelt. In der neueren Orthographieforschung wird oft beklagt, dass unklar sei, was genau die […] Stufe der Prinzipien sein soll und es ist von einem regelrechten Prinzipienwirrwarr die Rede. Man ist sich uneinig über den Umfang der verschiedenen vorherrschenden Prinzipien und deren Ausgestaltung bzw. Wirkungsbereich. Vor allem in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts war die Anzahl und Zweckmäßigkeit dieser Prinzipien umstritten. (Bankhard 2010: 12, Fußnoten ausgelassen)

Auch wenn Bankhard im Anschluss an dieses Zitat die einschlägigen Probleme des Prinzipienansatzes nachzeichnet, bewegt sich ihre eigene spätere Analyse doch vollständig in diesem Rahmen. Dies erweckt den Eindruck, als sähe sie das Prinzipienmodell aktuell als nicht (mehr) umstritten an, ohne dass aber ersichtlich wird, welche Umstände zu seiner mutmaßlichen Rehabilitierung geführt haben könnten.

4 Das phonologische Prinzip und das morphologische Prinzip Bei der zeitgenössischen Analyse von alphabetischen Schriftsystemen wird zwei Prinzipien eine herausgehobene Stellung zugeschrieben. Das eine ist das phonologische Prinzip4 und das andere das morphologische Prinzip. So schreibt Dürscheid (2012: 142): „Das morphologische Prinzip ist konstitutiv für das deutsche Schriftsystem. Es stellt neben dem phonologischen Prinzip die Basis unse-

4 Für Raumer (1855a) ist das phonetische Prinzip das bestimmende Prinzip der deutschen Orthographie, während andere Prinzipien diesem nachgeordnet sind.

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res Schreibens dar“.5 Für alle anderen angenommenen Prinzipien dagegen will Dürscheid (2012: 142) eine solche Konstitutivität nicht gelten lassen (vgl. auch Günther 1988: 92). Das phonologische Prinzip hat den Vorzug, dass es immerhin über einen recht fest etablierten Namen verfügt, das morphologische Prinzip heißt auch Schemakonstanzprinzip und Stammprinzip, wobei die damit verbundenen Konzepte natürlich nicht ganz identisch, aber doch eng verwandt sind. Auch bei gleichem Namen muss sich hinter einer Bezeichnung nicht ein einheitliches Konzept verbergen, wie es sicher für das phonologische Prinzip festzuhalten ist. Erstaunlich selten werden diese beiden zentralen Prinzipien tatsächlich explizit definiert. Vorherrschend ist dagegen ein loses Verständnis, was gemeint sein könnte. Im Folgenden stelle ich fünf Versionen dieser beiden Prinzipien zusammen, um mich dem allgemeinen Verständnis ihrer zu nähern. Die gewählten Ansätze unterscheiden sich vor allem durch ein unterschiedliches Ausmaß an theoretischem Anspruch. Die Regeln zur deutschen Rechtschreibung von 1902 (vgl. Nerius 2007: 43) enthalten eine ‚Erste Hauptregel‘, die als eine Form des phonologischen Prinzips (bzw. für jene Zeit eher eines phonetischen Prinzips) interpretiert werden kann: „Bezeichne jeden Laut, den man bei richtiger und deutlicher Aussprache hört, durch das ihm zukommende Zeichen.“ Dies lässt sich so ausdeuten, dass im Grundsatz in der deutschen Orthographie jedem Laut genau ein Buchstabe zugeordnet ist. Eine solche Isomorphie kann gelegentlich als Idealvorstellung eines alphabetischen Schriftsystems gefunden werden (vgl. Venezky 2004: 141) und bietet eine enge Auslegung eines phonologischen Prinzips, wobei man statt Laut dann eher Phonem sagen müsste. Eine Orthographie, die in idealer Weise einer solchen Version des phonologischen Prinzips folgt, wäre dann eigentlich nichts als eine phonologische Transkription (vgl. Garbe 1981: 536, zitiert nach Müller 1990: 44). Allerdings zeigt Raible (1991), dass alphabetische Schriftsysteme sich historisch eher von solchen Transkriptionen wegbewegen und vielmehr Charakteristika annehmen, die über eine Abbildung der Lautstruktur hinausgehen, wie die Einführung von Wortzwischenräumen, die Unterscheidung von Groß- und Kleinbuchstaben und die Nutzung von Interpunktionszeichen. Solche Abweichungen werden zumindest teilweise gewöhnlich mit einem morphologischen

5 Sehr ähnlich auch Nerius (2007: 95) mit Bezug auf ein phonematisches und ein morphematisches Prinzip. Für das Niederländische analog van den Bosch (2006: 27). 6 Garbe, Burckhard. 1981. Klopstocks vorschläge zur rechtschreibreform. In Ulrich Dzwonek & Harro Zimmermann (Hgg.), Friedrich Gottlieb Klopstock, 45–58. München: edition text + kritik.

18 ! Martin Neef Prinzip in Beziehung gesetzt. Die deutsche Rechtschreibung von 1902 kennt eine Version dieses Prinzips als 2. Hauptregel (vgl. Nerius 2007: 44): „Wo derselbe Laut auf verschiedene Weise dargestellt werden kann, richte dich nach der Abstammung des Wortes, z.B. Totschläger (von tot) – Todfeind (von Tod)“. Wie die gegebenen Beispiele andeuten, ist mit dieser Formulierung der synchrone Bezug auf andere Lexeme gemeint, also die Konstantschreibung von bestimmten Morphemtypen.7 Interessant ist an dieser 2. Hauptregel der Hinweis, dass es für Phoneme konkurrierende Verschriftungsmöglichkeiten geben kann. Welche das jeweils sind, müsste ausgeführt werden. Die aktuelle Amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung folgt dem in vager Form noch heute. Danach gelten für die Schreibung des Deutschen zwei Aspekte (die nicht als Prinzipien bezeichnet werden, sondern in ihrer Art unklassifiziert bleiben): Buchstaben und Sprachlaute sind einander zugeordnet. […] Die Schreibung der Wortstämme, Präfixe, Suffixe und Endungen bleibt bei der Flexion der Wörter, in Zusammensetzungen und Ableitungen weitgehend konstant. (Amtliche Regelung 2006: 1161).

Der Einschätzung der Konstantschreibung von Morphemen als nur ‚weitgehend‘ gültig begegnet man in der einschlägigen Literatur häufig, wobei die Grenzen der Konstantschreibung aber gewöhnlich (wenn nicht immer) unbestimmt bleiben. Ob Endungen auch als Morpheme einzuordnen sind, bleibt unklar. Eine auf den ersten Blick klare und einfach klingende Definition des phonologischen Prinzips bieten Busch & Stenschke (2007: 64) in ihrem Einführungsbuch an: „Schreibe, wie du sprichst“. Im Diskurs zur deutschen Rechtschreibung hat diese Formulierung eine lange Tradition, wird aber heutzutage häufig nicht als ein Prinzip angesehen, sondern als eine Maxime (wobei das theoretische Verhältnis der Konzepte Prinzip und Maxime durchaus ungeklärt ist 8). Nach Eisenberg (1983: 55) ist freilich die „Gleichsetzung des Schlachtrufes ‚Schreibe, wie du sprichst‘ mit dem phonetischen Prinzip […] ebenso alt wie falsch“ – wobei er hier genauso gut ‚phonologisches Prinzip‘ schreiben könnte (vgl. auch Müller 1990: 44). Die Maxime ‚Schreibe, wie du sprichst‘ selbst hat im

7 Nerius interpretiert diese Formulierung aber offensichtlich anders, wenn er bei einer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Prinzipienmodells den deutlich jüngeren Text Steche (1932) als ‚besonders frühen‘ Vertreter eines ‚Grundsatzes der Stammgleichheit‘ anführt (Nerius 2004: 22). 8 Müller (1990: 52) situiert das Aufeinandertreffen dieser beiden Konzepte im 18. Jahrhundert, charakterisiert als „das Zeitalter der normativen Sprachbetrachtung als Hoch-Zeit des orthographischen ‚Prinzips‘ der Aussprache und seiner ‚Verdichtung‘ in dem ‚Schreibgesetz‘ ‚Schreib, wie du sprichst!‘“.

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Diskurs des Nachdenkens über die deutsche Sprache eine lange Geschichte (vgl. Müller 1990) und ist sicher genauso umstritten, wie sie gerne kolportiert wird. Bei genauerer Betrachtung erweist sich die Maxime als alles andere als klar, denn schon die Vergleichsebenen sind problematisch: Gesprochen wird mit Sprechwerkzeugen, geschrieben mit Händen und außerhalb des Menschen liegenden Hilfsmitteln; genutzt wird einmal der auditive und einmal der visuelle Kanal. Eine isomorphe Abbildung ist somit zumindest nicht von selbst gegeben, sondern in ihrer Eigenart im Detail auszuarbeiten, damit die Maxime sinnvoll verstanden werden kann. Überdies sprechen Menschen phonetisch gesegesehen, und dies nicht nur über Dialektgrenzen hinweg, sehr unterschiedlich, womit sich aus der Phonetik keine Basis für eine einheitliche Orthographie ableiten lässt. Schließlich sprechen Sprachbenutzer des Deutschen häufig umgangssprachlich, aber die Orthographie steht in Beziehung zu einer höheren Stilebene, nämlich der Explizitlautung (vgl. Eisenberg 2009), sodass gerade Grundschüler häufig lernen müssen, dass sie nicht schreiben dürfen, wie sie sprechen. Das morphologische Prinzip ist bei Busch & Stenschke (2007: 66) in recht absoluter Weise so definiert, dass „Morpheme in verschiedenen Verwendungen […] immer gleich geschrieben“ werden. Hier fehlt die Andeutung einer Einschränkung der Reichweite, denn tatsächlich werden Morpheme nicht immer gleich geschrieben, wie es die oben genannte Amtliche Regelung durch das Attribut ‚weitgehend‘ andeutet. Bei Nerius (2007), der eine theoretisch fundierte und zumindest ansatzweise explizite Modellierung der Orthographie vorlegt, findet sich erstaunlicherweise keine prägnante Definition der beiden fraglichen Prinzipien. Bei der Einführung der eigenen theoretischen Konzeption wird lediglich beschrieben, dass das phonologische Prinzip die Beziehungen der phonologischen Ebene zur graphischen Ebene betrifft (in dieser Richtung!) und das semantische Prinzip (als einer umfassenderen Version eines morphologischen Prinzips) die Beziehungen der semantischen Ebene zur graphischen Ebene (Nerius 2007: 88–89). Die theoretische Hauptarbeit wird dann der Formulierung der untergeordneten Regeln gewidmet. Eine schlüssige Modellbildung auf der Basis von Prinzipien lässt die Optimalitätstheorie erwarten. Kohrt (1987: 513) muss noch schreiben: Wenn aber die verschiedenen ‚Prinzipien‘ nicht durchgängig miteinander vereinbar sind und somit ihre konsistente Befolgung insgesamt in Frage gestellt ist, können sie nicht als Elemente ein und desselben normativen Gefüges begriffen werden.

Demgegenüber muss man aus Sicht des Stands heutiger Theoriebildung konstatieren, dass eine konsistente Modellierung sprachlicher Daten mittels konfligie-

20 ! Martin Neef render Beschränkungen (constraints) möglich ist, nämlich mit der Optimalitätstheorie (OT), deren definierendes Kennzeichen diese Eigenschaft gerade ist. Vorstellbar wäre es, in einer OT-Analyse eine feste Menge gut definierter Prinzipien in eine hierarchische Ordnung zu bringen mit dem Ergebnis, dass zu jedem Wort die orthographisch korrekte Schreibung bestimmt wird. Eine solche Analyse versucht Wiese (2004).9 Sein knapp umrissenes phonologisches Prinzip ‚one letter – one sound‘ (Wiese 2004: 316) wird in Form von vier unterschiedlichen, einander ergänzenden Beschränkungen rekonstruiert (und insofern dekonstruiert: Das phonologische Prinzip als solches spielt keine Rolle in der Analyse). Genauer ist bei Wiese das morphologische Prinzip definiert: The morphological principle or ‚stem constancy‘ is the preference of keeping the spelling of a stem the same for all of its word forms. That is, a stem will appear with exactly one orthographic form even if the phonological forms are different (Wiese 2004: 319).

Auch dieses Prinzip rekonstruiert Wiese in anderer Form, diesmal als Paar zweier Beschränkungen. Allerdings entwickelt Wiese hieraus kein System, das mit prinzipienbasierten Beschränkungen auskommt, sondern er nimmt spezifische andere Beschränkungen hinzu, die sich auf Detailinformationen zur deutschen Orthographie beziehen. Auch liefert die vorgelegte Analyse bei weitem kein Gesamtbild (und ist meines Wissens auch nicht weiter ausgearbeitet worden), sodass dieser Ansatz als ein vielversprechender, aber nicht über eine Skizze hinausgehender Versuch zu bezeichnen ist. Als verbindendes Element der besprochenen fünf Ansätze zur Verankerung eines phonologischen und eines morphologischen Prinzips lässt sich sagen: Mit dem morphologischen Prinzip wird der Umstand angesprochen, dass sich orthographische Schreibungen oft dahingehend von phonologischen Repräsentationen (bzw. ‚phonetischen Transkriptionen‘) unterscheiden, dass Stämme trotz unterschiedlicher phonologischer Form tendenziell konstant geschrieben werden. Dies ist nur dann möglich, wenn grundsätzlich für Laute (oder Phoneme) im fraglichen Schriftsystem mehr als eine Schreibungsmöglichkeit vorgesehen ist (vgl. 2. Hauptregel der deutschen Rechtschreibung von 1902). Außerdem stößt diese Konstantschreibung an ihre Grenzen, denn die Schreibung von Stämmen (bzw. je nach Ansatz von Morphemen generell) bleibt nur ‚weitgehend‘ konstant, wie es die aktuelle Amtliche Regelung beschreibt. Die Bezeichnung des fraglichen Prinzips als ein ‚morphologisches‘ ist möglicherweise als

9 Einen früheren, skizzenhaften Ansatz im Rahmen der Optimalitätstheorie bietet Primus (2001: Kap. 3). Eine optimalitätstheoretische Rekonstruktion allein des morphologischen Prinzips findet sich in Geilfuß-Wolfgang (2007).

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ungünstig zu bewerten, wenn unter Morphologie ein Regelbereich der Grammatik verstanden wird, sich das ‚morphologische‘ Prinzip aber nur auf die Konstantschreibung von morphologischen Grundeinheiten bezieht. Grundeinheiten einer linguistischen Ebene unterliegen nämlich keinen Regularitäten eben dieser Ebene, sondern sind die Bausteine, auf die die Regeln zugreifen. Tatsächlich unterscheiden manche Autoren explizit zwischen einem Konstanzprinzip und einem morphologischen Prinzip, möglicherweise auf der Basis dieser Überlegung, wie etwa Günther (1988: 91), der betont, dass in seinen Augen „das Prinzip der Morphemkonstanz und das sogenannte morphologische Prinzip (verschiedentlich auch etymologisches oder völlig irreführend semantisches Prinzip genannt) ganz verschiedene Dinge sind.“ Wenn man aber ein loseres Verständnis eines morphologischen Prinzips ansetzt, wonach mit diesem nur Beziehungen zur Ebene der Morphologie angesprochen werden sollen und diese Ebene sowohl Regularitäten wie auch Grundeinheiten umfasst, kann man die Bezeichnung ‚morphologisches Prinzip‘ beibehalten. Zusammenfassend möchte ich auf der Basis der Nachzeichnung der Geschichte des Prinzipienmodells folgende übergreifende Charakterisierung des morphologischen Prinzips anbieten: Das morphologische Prinzip betrifft Eigenschaften von Schreibungen alphabetischer Schriftsysteme, die über die Reichweite eines eng gefassten phonologischen Prinzips hinausgehen. Letzteres bezieht sich auf den Umstand, dass Phoneme in regelmäßigen Beziehungen zu Buchstaben bzw. Graphemen stehen, idealerweise so, dass einem bestimmten Phonem genau ein Buchstabe bzw. Graphem zugeordnet ist. Wenn es Abweichungen von dieser isomorphen Beziehung gibt, die auf morphologische Eigenschaften zurückgeführt werden können,10 wird dies als Auswirkung des morphologischen Prinzips gesehen. Das morphologische Prinzip besagt demnach, dass Schreibungen in alphabetischen Schriftsystemen nicht allein von phonologischen Eigenschaften zu verschriftender Wörter abhängen, sondern dass morphologische Eigenschaften hierzu auch relevant sein können. Die wesentliche morphologische Eigenschaft ist dabei der Status einer Lautfolge als Morphem (bzw. als Morphem eines bestimmten Typs wie Wurzel oder Affix). Unterschiedliche Lautfolgen, die das gleiche Morphem repräsentieren, sollen nach Maßgabe des morphologischen Prinzips in gleicher Weise verschriftet werden.

10 Abweichungen von dieser Isomorphie müssen nicht morphologischer Natur sein, sondern können z.B. auch auf phonologische Eigenschaften bezogen sein, wie z.B. die Korrespondenz des Buchstabens zum Phon [ʃ] im Silbenonset wie bei .

22 ! Martin Neef Eine formale Theorie der (deutschen) Orthographie muss diese beiden Aspekte berücksichtigen, also einerseits die Verschriftungsmöglichkeiten von Phonemen exakt erfassen und andererseits die Grenzen der Konstantschreibung exakt bestimmen (bzw. weitergehend welche morphologischen Eigenschaften in einem bestimmten Schriftsystem überhaupt schreibungsrelevant sind). Wenn diese Aspekte in eine schlüssige Theorie eingearbeitet sind, kann man von einem Modell sprechen, das das morphologische Prinzip beinhaltet.

5 Die modulare Schriftsystemtheorie: Graphematik vs. Systematische Orthographie Im Folgenden wird ein Ansatz zu einer Theorie skizziert, die Aspekte des phonologischen Prinzips sowie des morphologischen Prinzips in unterschiedlichen Theoriekomponenten modelliert. In dieser modularen Schriftsystemtheorie werden die Teilkomponenten Graphematik und Systematische Orthographie unterschieden (Neef 2005a), wobei sich das phonologische Prinzip in erster Linie (wenn auch nicht ausschließlich) der graphematischen Komponente zuordnen lässt und das morphologische Prinzip der Systematischen Orthographie. Der Fokus der Darstellung liegt dabei jeweils auf der Frage, wie das Modell Aspekte des phonologischen und insbesondere des morphologischen Prinzips rekonstruiert.

5.1 Das Rekodierungsmodell der Graphematik Gemäß der genannten Konzeption ist die Graphematik derjenige Teilbereich eines Schriftsystems, der die Beziehungen von graphematischen Repräsentationen zu phonologischen Repräsentationen erfasst. Das Schriftsystem steht gemäß dieser Konzeption damit nicht in unmittelbarer Beziehung zur gesprochenen Sprache, sondern zum Sprachsystem, das seinerseits Bezugsgröße für die gesprochene Sprache ist. Die in Neef (2005a) ausgearbeitete Theorie ist das Rekodierungsmodell der Graphematik; der Terminus Rekodierung ist dabei definiert als „Rekonstruktion des durch [den schriftlichen] Code vermittelten zugrundeliegenden Codes des Sprachsystems“ (Neef 2005a: 5). Rekodierung als systematischer Begriff korreliert aus Anwendersicht mit der Leserichtung.

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Graphematische Repräsentation

Korrespondenzregeln

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Phonologische Repräsentation

Graphematische Beschränkungen Abb. 1: Rekodierungsmodell der Graphematik (nach Neef 2005a: 18)

Die Grundeinheiten der graphematischen Komponente sind Buchstaben. Für jeden Buchstaben eines (alphabetischen) Schriftsystems muss es eine Korrespondenzregel geben; sonst ist der Buchstabe im Schriftsystem nicht funktionsfähig. Diese Regeln müssen aber, anders als es ein eng ausgelegtes phonologisches Prinzip besagt, nicht eindeutig sein, sondern ein Buchstabe kann durchaus mit mehr als einem phonologischen Segment korrespondieren und damit möglicherweise in seinem Korrespondenzpotential unterdeterminiert sein. In der zugrundegelegten phonologischen Theorie (Neef 2005b) – einem deklarativen Ansatz im Rahmen des Paradigmas einer Realistischen Linguistik, die Sprache als abstraktes und nicht als biologisches Objekt ansieht (Katz 1981) – werden die phonologischen Segmente als ‚Phone‘ bezeichnet und definiert als ‚potentiell bedeutungsunterscheidende Einheiten‘. Diese Einheiten sind aber, anders als in generativen Ansätzen zur Phonologie, nicht auf einer zugrundeliegenden oder lexematischen Ebene angesiedelt (diese Einheiten werden weiterhin Phonem genannt, aber nicht auf die Eigenschaft der Bedeutungsunterscheidung bezogen), sondern auf der phonologischen Ebene, die Oberflächenrepräsentationen generativer Provenienz entspricht. Dementsprechend werden Phone in eckigen Klammern notiert. Phonetische Eigenschaften, die nicht bedeutungsunterscheidend sind, haben hier keinerlei Relevanz. Dies betrifft nach der Analyse in Neef (2005b) z.B. Vokallänge, während auf der anderen Seite Wortbetonung und Silbengrenzen sehr wohl phonologisch relevant sind. (1) Graphematische Regeln des Deutschen a. → [t] b. → [!]  [a] c. → [d] (primär) → [t] (sekundär) Im Kern lassen sich zwei unterschiedliche Arten der Unterdeterminiertheit erkennen: Bei einigen Buchstaben gibt es eine grundsätzliche Unbestimmtheit

24 ! Martin Neef wie beim Buchstaben , der gleichermaßen mit dem peripheren (bzw. gespannten) Vokal [!] wie mit dem zentralisierten (bzw. ungespannten) Vokal [a] korrespondieren kann; dabei können in bestimmten graphematischen Kontexten spezifische graphematische Beschränkungen (Dehnung und Schärfung) zu einer Determinierung führen. Die Unterdeterminiertheit kann aber auch bestehen bleiben, was sich besonders deutlich an Heterophonen erkennen lässt. Das sind distinkte Wörter, die gleich geschrieben werden, aber über eine unterschiedliche phonologische Form verfügen: (2) Heterophonie mit dem Buchstaben [ʹ"!.t#$] vs. [ʹlat.#$] ‘Hausschuh’ vs. ‘Krummholzkiefer’

[%!st] vs. [%ast] Verb, 3.Ps.Sg.Präs. vs. Nomen [ʹ#&!’.gel] vs. [ʹ#pa’.g$l] ‘preiswertes Gel’ vs. ‘Gemüsesorte’ Bei anderen Korrespondenzregeln entscheidet die phonologische Komponente des dem Schriftsystem zugeordneten Sprachsystems, welche Alternative gewählt wird, nämlich die als primär gekennzeichnete, wenn dies zu phonologischer Wohlgeformtheit führt, ansonsten die sekundäre. Da das Phon [d] phonologisch nicht zugelassen ist, wenn es ausschließlich in der Position des Silbenreims steht (dies als deklarative Formulierung des als Auslautverhärtung bekannten Phänomens), wohl aber in anderen phonologischen Kontexten, wird bei den Beispielen in (3a) die primäre Korrespondenz aktiviert und bei den Beispielen in (3b) die sekundäre: (3) Determinierung der Korrespondenzen des Buchstabens a. [d] , , , b. [t] , , , In den Korrespondenzregeln der Graphematik des Deutschen ist also angelegt (nicht aber eigens modelliert), dass einige Phone durch verschiedene Buchstaben rekodierbar gemacht werden können; diese Phone können mithin graphematisch regulär in unterschiedlicher Weise verschriftet werden. Dies zeigt sich in (1) für das Phon [t], das sich hier im Rekodierungspotential zweier Buchstaben wiederfindet, nämlich und . Aus der graphematischen Komponente ergibt sich, welche phonologischen Formen jeder beliebigen Folge von Buchstaben (des deutschen Alphabets) zu-

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geordnet sind. Diese Zuordnung kann eindeutig oder mehrdeutig sein.11 Damit ist dem phonologischen Prinzip zumindest in einer Richtung Genüge getan, indem nämlich die Beziehung zwischen Schreibung und Lautung bzw. genauer zwischen graphematischer Repräsentation und phonologischer Repräsentation exakt modelliert ist.

5.2 Der graphematische Lösungsraum Auf dieser Basis allein könnte ein Schriftsystem funktionieren. Die Graphematik definiert nämlich, welches für eine bestimmte phonologische Form eine systematisch (graphematisch) mögliche Schreibung ist, nämlich jede Schreibung, die als die gefragte phonologische Form rekodiert werden kann. Die Summe dieser möglichen Schreibungen bildet den graphematischen Lösungsraum für eine phonologische Repräsentation. Wenn die phonologische Form [h(nt] verschriftet werden soll, stellen u.a. folgende Formen mögliche Schreibungen dar und gehören damit zu ihrem graphematischen Lösungsraum: (4) Einige Verschriftungsmöglichkeiten der phonologischen Form [h(nt] a. b. c. d. e. Sollte ein Schriftsystem nur über eine graphematische Komponente verfügen (die für phonographische Schriftsysteme konstituierend und damit unverzichtbar ist), nicht aber über eine orthographische, kann man folglich sehr wohl systematisch schreiben, dabei aber zwischen einer festgelegten Gruppe von Schreibungen (den Elementen des graphematischen Lösungsraums) frei wählen. Damit ist dem phonologischen Prinzip auch in der anderen Richtung Genüge getan. Eine hierauf basierende Variation im Schreibverhalten einzelner Schreiber innerhalb eines Texts ist charakteristisch für die Nutzung des deutschen Schriftsystems im 16. Jahrhundert (vgl. Voeste 2008).

11 Für viele Buchstabenfolgen ergibt sich freilich gar keine phonologisch lizensierte Rekodierungsmöglichkeit wie für , was ebenfalls theoretisch zu erfassen ist.

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5.3 Die Systematische Orthographie Sobald Wörter, für die es eine graphematische Schreibungsvariation gibt, konstant geschrieben werden, verfügt das Schriftsystem über eine Orthographie. Ich definiere damit die Orthographie über den Konstanzgedanken, womit folglich das morphologische Prinzip angesprochen wird. Mit Orthographie ist dabei aber nicht ein normiertes, konventionelles, durch eine Kommission festgelegtes und niedergeschriebenes Regelsystem gemeint, weshalb ich die Orthographie in meinem Sinne als Systematische Orthographie bezeichne und sie einer Konventionellen Orthographie gegenüberstelle. Für die Systematische Orthographie braucht man eine Theorie, für die Konventionelle Orthographie ein verbindliches Regelwerk. In den Rahmen der Systematischen Orthographie fallende Analysen liegen derzeit in Neef (2005a: Kap 6, 2008, 2010, 2012) vor sowie in Balestra, Dölle & Neef (eingereicht). Aus Sicht der Systematischen Orthographie ist zunächst zu fragen, Einheiten welcher Art konstant zu schreiben sind. Die größte anzunehmende Einheit stellen Wörter (im Sinne von Grammatischen Wörtern) dar, also diejenigen Einheiten, aus denen Sätze aufgebaut sind. Die Konstantschreibung von Wörtern könnte sich für unterschiedliche Flexionsformen des Lexems HUND folgendermaßen zeigen: (5) Konstantschreibung von Wörtern Nominativ Singular [h(nt] immer als Nominativ Plural [ʹ)(n.d$] immer als Diese wortbezogene Art der Konstantschreibung wird in der Literatur nicht notwendig schon auf das morphologische Prinzip bezogen. Ich zähle diese Art der Schreibungsfixierung allerdings schon zur Orthographie, da sie eine über die Graphematik hinausgehende Konstanz demonstriert. Eine Analyse von Daten wie in (5) im Rahmen einer Systematischen Orthographie hat Beschränkungen zu formulieren, aus denen sich ergibt, wie diese Wortschreibungen aus den jeweiligen graphematischen Lösungsräumen der fraglichen phonologischen Formen herausgefiltert werden. Für den betrachteten, spezifischen Fall könnte eine Beschränkung dahingehend angenommen werden, dass primäre Korrespondenz immer Vorrang hat (vorausgesetzt natürlich, die fraglichen Schreibungen befinden sich überhaupt im graphematischen Lösungsraum). Das morphologische Prinzip wird ansonsten zumeist erst bemüht, wenn nicht Wörter als ganze, sondern kleinere Bestandteile von der Konstantschreibung betroffen sind. Konkret geht es dann um Stämme (darauf verweist die

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Bezeichnung ‚Stammprinzip‘), dazu um Affixe bzw. um Morpheme generell (daher die Bezeichnung ‚Morphemkonstanzprinzip‘). (6) Konstantschreibung von Wurzeln Nominativ Singular [h(nt] immer als Nominativ Plural [ʹ)(n.d$] immer als Im Schriftsystem des Deutschen ist es vermutlich eher die Einheit Wurzel, die den Fokus der Konstanzbeschränkung darstellt. Im Sinne des morphologischen Prinzips könnte diese Beschränkung als Bestandteil der Systematischen Orthographie lauten, dass Wurzeln mit einer konstanten Form zu schreiben sind. Festgelegt wäre dann, dass die Wurzel des Lexems HUND am Ende immer mit dem Buchstaben zu schreiben ist, ebenso wie die Wurzel des nicht-flektierenden Lexems UND, wenn es auch für diese Schreibung keine systematische Begründung hinsichtlich des finalen Buchstabens gibt und dieses Datum mithin als zwar graphematisch lizensiert, aber nach Maßgabe der Systematischen Orthographie als unregelmäßig zu bewerten sein dürfte.12 Allerdings gibt es, wie in Abschnitt 3 angemerkt, Grenzen der Konstantschreibung. Für die Wurzel des Lexems HUND zeigt sich dies bei der Verwendung in bestimmten derivierten Lexemen: (7) Grenzen der Konstantschreibung von Wurzeln [ʹ)*nt.ç$n] nicht als , sondern als Der Grund hierfür liegt darin, dass die Schreibung nicht als [h*nt.ç$n] rekodiert werden kann, und zwar weil der Buchstabe im Deutschen nicht mit [*] korrespondiert. Die wurzelkonstante Schreibung liegt also nicht im graphematischen Lösungsraum der fraglichen Lautung und ist damit graphematisch nicht lizensiert. Die Einführung von Umlautbuchstaben stellt eine augenfällige Art der Quasi-Konstanz dar, die aber letztlich nur als konventionell einzuschätzen ist (solange man keine Theorie annehmen

12 Der Hinweis, dass das fragliche Lexem früher geschrieben wurde, genügt synchron nicht als Erklärung der aktuellen Schreibung. Vielmehr ist auf dieser Basis zu konstatieren, dass die Schreibung nicht im graphematischen Lösungsraum der aktuellen phonologischen Repräsentation [(nt] liegt und deshalb nicht als aktuelle Schreibung geeignet ist. Die geringfügig modifizierte Schreibung liegt dagegen sehr wohl im graphematischen Lösungsraum, weshalb eine weitergehende Schreibungsänderung zu graphematisch nicht notwendig ist.

28 ! Martin Neef möchte, die innerhalb von Buchstabenkörpern signifikante Teilmerkmale ansetzt, wie dies z.B. Primus (2004) und Fuhrhop & Buchmann (2009) tun). Die Grenze der Konstantschreibung ist also durch den graphematischen Lösungsraum gegeben. Auf dieser Basis lässt sich das morphologische Prinzip im Rahmen der modularen Schriftsystemkonzeption fassen und insbesondere der Aspekt, dass Wurzeln möglichst konstant zu schreiben sind, präzisieren: (8) Konstanzbeschränkung für Wurzeln In Flexionsformen eines Lexems wird die Wurzel konstant geschrieben, soweit die Schreibungen der betroffenen Wörter graphematisch lizensiert sind. Im Detail genauer zu bestimmen bleibt: – Wie wird die konstante Form der Wurzelschreibung festgelegt? – Welche Form wird gewählt, wenn der Vergleich der Schreibungsmöglichkeiten für ein Paradigma mehr als eine konstante Schreibung bereitstellt? – Wie werden die Schreibungen gewählt, die von der Wurzelkonstanz abweichen müssen (wie die Imperativform des Lexems GEBEN)? – Gilt die Konstanzbestimmung nur innerhalb des Flexionsparadigmas eines Lexems? Die vorgeschlagene Konzeption stellt einen theoretischen Rahmen bereit, innerhalb dessen diese Fragen bearbeitet werden können. Damit ist skizziert, wie Aspekte, die in die Reichweite des phonologischen bzw. des morphologischen Prinzips fallen, in einer formalisierten Schriftsystemtheorie modelliert werden können, ohne dass Prinzipien selbst konstituierende Bestandteile der Theorie darstellen. Rekonstruiert ist dabei die erwähnte, von verschiedenen Seiten getroffene Feststellung, dass das Schriftsystem des Deutschen vor allem durch das phonologische und das morphologische Prinzip geprägt wird. Die beiden in der modularen Schriftsystemtheorie von Neef (2005a) angenommenen Module eines (phonographischen) Schriftsystems lassen sich je einem dieser beiden Prinzipien zuordnen. Den anderen in der Literatur angenommenen orthographischen Prinzipien kommt keine derartige herausgehobene Stellung zu.

6 Fazit Mit orthographischen Prinzipien wird in erster Linie angegeben, dass ein bestimmtes Detail der geschriebenen Sprache auf eine bestimmte Ebene des der

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gesprochenen Sprache zugrundeliegenden Sprachsystems bezogen werden kann. Wesentliche Aspekte dieses Ansatzes sind ungeklärt wie die Frage, welche Prinzipien anzusetzen sind, wie sie zu definieren sind und wie sie miteinander interagieren. Für alphabetische Schriftsysteme ist jedoch unbestritten das phonologische Prinzip dominierend, das im Wesentlichen besagt, dass es phonologische Eigenschaften des Sprachsystems sind, die die Ausgestaltung des Schriftsystems prägen. Insbesondere stehen Buchstaben in einer regelhaften (wenn auch nicht notwendigerweise einfachen) Beziehung zu den Basiseinheiten der Phonologie, die gewöhnlich als Phoneme bezeichnet werden. Das morphologische Prinzip wird dann herangezogen, wenn eine Schreibung Eigenschaften aufweist, die nicht auf die Wirkung des phonologischen Prinzips bezogen werden können, denen aber eine morphologische Motivation zugeschrieben werden kann. Im Kern geht es dann darum, dass bestimmte morphologische Einheiten (z.B. Morpheme) auch dann konstant geschrieben werden, wenn ihre phonologische Repräsentation grammatisch bedingte Variation zeigt. Insgesamt handelt es sich beim Konzept orthographischer Prinzipien um vortheoretische Verständigungsbegriffe, die wesentliche Aspekte von Schriftsystemen berühren, aber bislang nicht in ein geschlossenes formalisiertes Theoriegebäude überführt wurden (und es vermutlich auch nicht können). Um sich über Theoriegrenzen hinweg zu verständigen, ist es sinnvoll, sich hierauf zu beziehen. Wenn man Schriftsysteme analysieren will, bedarf es jedoch einer spezifischen Theorie, die in der einen oder anderen Weise Phänomene erfasst, die in die Reichweite des phonologischen bzw. des morphologischen Prinzips fallen. Der bloße Verweis auf ein bestimmtes orthographisches Prinzip genügt keinesfalls als theoretische Erklärung. In einer modularen Schriftsystemtheorie, die zwischen Graphematik und Systematischer Orthographie unterscheidet, werden die Beziehungen zwischen der Phonologie und dem Schriftsystem in der Graphematik erfasst. Damit wird der Kernbereich eines traditionell angenommenen phonologischen Prinzips rekonstruiert und präzisiert, allerdings in einer bestimmten Blickrichtung, die in der einschlägigen Literatur nicht als die für das phonologische Prinzip dominante angesehen wird, nämlich ausgehend vom Buchstaben und ausgerichtet auf die korrespondierenden phonologischen Einheiten. Grundsätzlich wird bei den Korrespondenzregeln nicht von einer Isomorphie in dem Sinne ausgegangen, dass einem Buchstaben genau ein korrespondierendes Phon zugeordnet ist, ebenso wenig wie umgekehrt für ein Phon genau eine Verschriftungsmöglichkeit gegeben sein muss. Vielmehr besteht in beiden Richtungen grundsätzlich eine eins-zu-viele-Relation. Während die Graphematik im Kern als Regelsystem konzipiert ist, manifestiert sich die Systematische Orthographie als reines Beschränkungssystem, das

30 ! Martin Neef die Menge der durch den graphematischen Lösungsraum der fraglichen phonologischen Form für ein bestimmtes Wort zur Verfügung gestellten Schreibungsvarianten einschränkt. Damit enthält dieses Schriftsystemmodell gerade keine von Phonen ausgehenden Korrespondenzregeln, die üblicherweise als Inbegriff des phonologischen Prinzips angesehen werden.13 Zugleich ist die Systematische Orthographie von einem Konstanzgedanken geprägt, wonach grundsätzlich Wörter konstant zu schreiben sind. Überdies wird für die Systematische Orthographie des Deutschen auch angenommen, dass die Konstanz die morphologische Einheit Wurzel betrifft, allerdings nicht im Sinne absoluter Konstanz, sondern nur soweit es der jeweilige graphematische Lösungsraum zulässt. Damit wird das morphologische Prinzip theoretisch rekonstruiert und zugleich werden die Grenzen der Konstantschreibung grundsätzlich präzise bestimmt. In der modularen Schriftsystemkonzeption spielt also das phonologische Prinzip in einer bestimmten Teillesart die zentrale Rolle, da es der obligatorischen Komponente Graphematik zugrundeliegt. Auch das morphologische Prinzip findet sich in der Konzeption wieder, da es die zweite Komponente des Schriftsystems prägt, nämlich die Systematische Orthographie. Damit folgt die Konzeption, ohne selbst prinzipienbasiert zu sein, derjenigen Traditionslinie der Schriftlinguistik, die diesen beiden Prinzipien eine herausragende Stellung einräumt. Alle anderen in der Literatur angenommenen Prinzipien finden sich auf dieser Ebene der Theoriekonstruktion nicht wieder, sodass ihnen höchstens eine nachgeordnete Rolle zugesprochen werden kann, wenn überhaupt eine. Allerdings wurde die modulare Schriftsystemkonzeption bislang nicht auf syntaktische Aspekte des Schriftsystems angewendet, sodass in diesem Bereich noch Modifikationen zur Einschätzung der Relevanz bestimmter orthographischer Prinzipien möglich sind. 14

13 Freilich lassen sich aus den konstitutiven graphematischen Korrespondenzregeln sehr wohl auch Korrespondenzregeln in umgekehrter Sichtweise ableiten. Diese haben zwar nur einen sekundären theoretischen Status, können aber praktischerweise z.B. dazu genutzt werden, graphematische Lösungsräume zu fixieren. 14 Dieser Text ist entstanden im Rahmen des Projekts ‚Systematische Orthographie des Deutschen‘, das die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unter der Nummer NE 857/2 fördert.

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8 Anhang Die folgende Tabelle führt 102 unterschiedliche Termini auf, die den Ausdruck ‚Prinzip‘ enthalten und die in der einschlägigen neueren Literatur dafür benutzt werden, Konzepte zu bezeichnen, die als orthographisches Prinzip im Sinne der raumerschen Konzeption klassifiziert werden können. Um die Existenz dieser Termini im gegenwärtigen schriftlinguistischen Diskurs (beginnend mit Rahnenführer 1980) zu belegen, ist für jedes aufgeführte Prinzip eine Fundstelle in der einschlägigen Literatur angegeben (ohne tiefergehende Systematik); bei einigen der genannten Autoren werden für die angegebenen Prinzipien weitere Literaturnachweise vermerkt (v.a. bei Nerius 2007). Die Namen der Prinzipien habe ich so weit angeglichen, dass jeder Name mit dem Ausdruck Prinzip endet. So habe ich z.B. das in der Literatur als Prinzip der Homonymieunterscheidung gefundene Prinzip in Homonymieunterscheidungsprinzip umbenannt. Der Schwerpunkt der Textrecherche liegt in der deutschsprachigen Linguistik (die freilich für die Schriftlinguistik eine führende Rolle einnimmt). Sporadisch wurden einschlägige Termini nur in englisch- oder französischsprachigen Texten gefunden. In diesen Fällen habe ich den Namen der Prinzipien ins Deutsche übersetzt und die Originalbezeichnung in Klammern angegeben.

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alphabetisches Prinzip analogisches Prinzip Angleichungsprinzip Anpassungsprinzip ästhetisches Prinzip ästhetisch-ideographisches Prinzip Ausspracheprinzip Bedeutungsunterscheidungsprinzip diakritisches Prinzip differenzierendes Prinzip ein-Phonem-ein-Buchstabe-Prinzip (‚one-phoneme-one-letter principle’) eins-zu-eins-Prinzip (‚one-to-one principle’) etymologisches Prinzip etymologisch-morphematisches Prinzip etymologisch-morphologisches Prinzip eugraphisches Prinzip formal-grammatisches Prinzip formal-syntaktisches Prinzip funktional-grammatisches Prinzip funktional-syntaktisches Prinzip Gebrauchsprinzip Gestaltausgliederungsprinzip Gewohnheitsprinzip grammatisches Prinzip grammatisch-syntaktisches Prinzip graphematisches Prinzip graphematisch-morphologisches Prinzip graphemisches Prinzip graphisch-formales Prinzip graphologisches Prinzip graphotaktisches Prinzip Herkunftsprinzip hervorhebendes Prinzip historisches Prinzip Historisch-etymologisches Prinzip historisch-konservierendes Prinzip historisch-phonetisches Prinzip Homonymieprinzip Homonymieunterscheidungsprinzip ideographisches Prinzip inhaltliches Prinzip intonatorisches Prinzip Klassifizierungsprinzip Korrespondenzprinzip lautliches Prinzip Lautprinzip

Günther (1988: 92) Nerius (2007: 96) Kessel & Reimann (2005: 196) Kessel & Reimann (2005: 263) Nerius (2007: 96) Knapp (2011: 111) Bredel, Noack & Plag (2013: 213) Volmert (2005: 193) Rahnenführer (1980: 236) Rahnenführer (1980: 248) Rollings (2004: 38) Cook (2004: 12) Nerius (2007: 96) Nerius (2007: 96) Nerius (2007: 96) Kohrt (1987: 509) Gallmann (1985: 31) Gallmann (1985: 110) Gallmann (1985: 31) Gallmann (1985: 110) Stetter (1994: 695) Rahnenführer (1980: 236) Busch & Stenschke (2007: 70) Nerius (2007: 96) Nerius (2007: 97) Gallmann (1989: 86) Gallmann (1985: 84) Nerius (2007: 96) Nerius (2007: 96) Kohrt (1987: 509) Böhm (2010: 336) Kürschner (2005: 241) Rahnenführer (1980: 248) Nerius (2007: 96) Rahnenführer (1980: 235) Glück (1987: 98) Rahnenführer (1980: 232-233) Nerius (2007: 96) Siekmann (2011: 28) Nerius (2007: 97) Nerius (2007: 97) Nerius (2007: 89) Gallmann (1989: 86) Gallmann (1989: 86) Siekmann (2011: 29) Nerius (2007: 96)

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36 ! Martin Neef Linearitätsprinzip (‚linearity principle’) lexematisches Prinzip lexikalisches Prinzip lexikalisches phonologisches Prinzip lexikalisch-semantisches Prinzip logisch-differenzierendes Prinzip logisches Prinzip logisch-systematisches Prinzip logographisches Prinzip morphematisches Prinzip morphemindizierendes Prinzip morphemisches Prinzip Morphemkonstanzprinzip morphologisches Prinzip morphologisch-semantisches Prinzip ökonomisches Prinzip orthographisches Prinzip phonematisches Prinzip Phonemkonstanzprinzip phonetisches Prinzip phonetisch-phonemisches Prinzip phonetisch-phonologisches Prinzip phonographisches Prinzip phonologisches Prinzip piktographisches Prinzip pragmatisches Prinzip pragmatisch-morphologisches Prinzip Redundanzprinzip Relationsprinzip rhythmisch-intonatorisches Prinzip Schemakonstanzprinzip Schreibgebrauchsprinzip Segmentierungsprinzip semantisches Prinzip semantisch-syntaktisches Prinzip semiographisches Prinzip (‚semiographic principle’) semiographisch-logographisches Prinzip silbisches Prinzip Silbentrennungsprinzip (‚syllable-division principle’) sprachökonomisches Prinzip Stammprinzip Stammschreibungsprinzip stilistisches Prinzip strukturelles Prinzip syllabisches Prinzip syllabographisches Prinzip syntaktisches Prinzip

Cook (2004: 13) Munske (1984: 251) Nerius (2007: 89) Primus (2001: 56) Nerius (2007: 97) Nerius (2007: 96) Nerius (2007: 96) Rahnenführer (1980: 235) Rahnenführer (1980: 241) Dürscheid (2012: 143) Ewald (1997: 237 ) Nerius (2007: 97) Günther (1988: 87) Nerius (2007: 96) Bergmann, Pauly & Stricker (2010: 69) Rahnenführer (1980: 236) Kohrt (1987: 503) Nerius (2007: 97) Dürscheid (2012: 142) Glück (1987: 98) Nerius (2007: 97) Nerius (2007: 96) Dürscheid (2012: 142) Nerius (2007: 96) Glück (1987: 98) Nerius (2007: 96) Gallmann (1985: 84) Rahnenführer (1980: 236) Fuhrhop (2005: 57) Nerius (2007: 97) Dürscheid (2012: 143) Stegmeier (2010: 26) Gallmann (1989: 86) Nerius (2007: 96) Gallmann (1985: 30) Jaffré (1997: 13) Weth (2010: 140) Lüdeling (2009: 74) Rollings (2004: 33) Knapp (2011: 111) Nerius (2007: 96) Lüdeling (2009:75) Nerius (2007: 97) Rahnenführer (1980: 236) Nerius (2007: 97) Schlieben-Lange (1994: 110) Nerius (2007: 96)

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syntaktisch-morphologisches Prinzip syntaktisch-semantisches Prinzip syntaktisch-strukturelles Prinzip Textprinzip textuales Prinzip textuelles Prinzip textuell-semantisches Prinzip visiographisches Prinzip (‚visiographic principle’) Wortbildungsprinzip Worteinheitsprinzip

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Gallmann (1985: 84) Bergmann, Pauly & Stricker (2010: 69) Gallmann (1985: 30) Kürschner (2005: 244) Nerius (2007: 89) Nerius (2007: 97) Bergmann, Pauly & Stricker (2010: 69) Biedermann-Pasques (1998: 69) Fuhrhop (2005: 57) Römer & Matzke (2010: 6)

Nikolaus Ruge

Die Graphematik-Morphologie-Schnittstelle in der Geschichte des Deutschen1 1 Orthographische Prinzipien in Synchronie und Diachronie Als charakteristisch für das Schriftsystem des Gegenwartsdeutschen gilt aus typologischer Sicht die relative Dominanz „synchron-morphologische[r] Bezüge“ (Eisenberg 1996: 618). Bevor im Folgenden einige Überlegungen zu deren Genese2 angestellt werden, sind zentrale methodische Voraussetzungen zu klären. Eine Operationalisierung der Bezüge des Schriftsystems auf die übrigen sprachlichen Teilsysteme erlaubt das Modell der orthographischen Prinzipien von Nerius (42007). Die Diskussion über deren Status soll hier nicht wieder aufgenommen werden (für kritische Anmerkungen vgl. etwa Kohrt 1979: 22f., Glück 1987: 98–105 und Neef im vorliegenden Band). Gleichwohl ist das Konzept für die Analyse historischer Schriftlichkeit in einem entscheidenden Punkt auf seine Modifizierbarkeit hin zu überprüfen. Im Rahmen der Analyse nichtstandardisierter Schriftlichkeit, wie sie etwa in den mittelalterlichen volkssprachigen Schreibsprachen vorliegt (zur Abgrenzung von Schriftsprache und Standardsprache vgl. Besch 2003), kann von konventioneller Orthographie keine Rede sein. Die Unterscheidung von konventioneller und systematischer Orthographie (vgl. Neef 2005: 203f.) nämlich ist nur sinnvoll, wenn aus der Menge systematisch möglicher Varianten in der Regel genau eine orthographisch richtige Schreibvariante kodifiziert wird (vgl. Neef 2005: 10f.). Die zur Kodifizierung nötigen Instanzen der Grammatisierung (zum Konzept vgl. Auroux 1994) wie Akademien, Grammatiken, allgemeine Schulpflicht etc. sind für die vormodernen volkssprachigen Schreibsprachen nicht vorhanden und aufgrund deren Kleinräumigkeit auch nicht erforderlich. Nun wäre zu fragen, ob sich das Prinzipienmodell für nichtstandardisierte Schriftsysteme adaptieren ließe, deren einzelsprachige Realisierungen keine konventionellen, sondern systematische Orthographien wären.

1 Für wertvolle Hinweise danke ich den Herausgebern sowie zwei anoymen Gutachtern. 2 Einen Überblick von Versuchen, die morphologische Überformung der deutschen Graphie zeitlich zu situieren, gibt Elmentaler (2003: 11f.).

40 ! Nikolaus Ruge Rekapitulieren wir kurz die methodischen Grundannahmen des Prinzipienmodells nach Nerius (42007: 85–88): Es basiert auf dem bilateralen Zeichenmodell und betrachtet die graphische Ebene als Teil der Ausdrucksseite. Die Elemente der graphischen Ebene verfügen über Beziehungen zu Elementen aller sprachlichen Ebenen, einerseits zu Elementen der graphischen Ebene selbst, wodurch diese eine mehr oder weniger große Autonomie erhält, andererseits zu Elementen aller anderen Ebenen, wodurch diese Autonomie mehr oder weniger eingeschränkt wird. Schließlich ist das Prinzipienmodell ausdrücklich für Standardsprachen entwickelt worden (vgl. Nerius 42007: 85f.). Diese unterscheiden sich von Nichtstandardsprachen u.a. dadurch, dass letztere über keine oder nur unzureichende Instanzen zur Abgrenzung von (freier) Varianz (so dass vs. sodass) und Fehlern (so dass vs. *so daß) verfügen. Nun finden sich auch in der vormodernen Schriftkultur entsprechende Belege, auch wenn die Reichweite der zugrundeliegenden Regeln wesentlich geringer ist als im Falle von Standardsprachen und gewöhnlich auf die betroffene Handschrift oder den Schreiber beschränkt ist. Gleichwohl lassen sich in bestimmten Fällen eindeutig Fehler von Varianten trennen. Die Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 61 (bair., 2. Viertel 13. Jh.) enthält einen Text von Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘, der in der einschlägigen Forschung keinen besonders guten Leumund genießt (vgl. Schneider 1987: 127). Hier liegt zugleich die Chance der historischen Graphematik, stützt sich das kritische Urteil der Überlieferungsgeschichte doch u.a. auf die zahlreichen größeren und kleineren Korrekturen, die eine zweite Hand, aber auch der Schreiber selbst am Text vorgenommenen haben. So hat dieser auf fol. 35ra in Vers 250,16 ursprüngliches ir churz(er) zit zu in churz(er) zit geändert, aller Wahrscheinlichkeit nach deswegen, weil er die Graphie für die Präposition in für einen Fehler hielt. Die graphische Varianz dieser Handschrift ging also nicht so weit, dass mit [n] hätte korrespondieren können. Eine zulässige Variante zumindest für postvokalisches [n], der sogenannte Nasalstrich, kommt im Cgm 61 zwar etwas seltener vor als in anderen mittelhochdeutschen Handschriften, im unmittelbaren Umkreis der gerade erwähnten Stelle aber etwa bei [=frouwe(n), fol. 34vb, V. 249,5], [=eine(n), fol. 35va, V. 254,2] und , , treten im 12. Jh. zuerst in bairischen Textzeugen auf, wo sie das Resultat des Sekundärumlauts von /a/, wohl einen besonders offenen e-Laut, bezeichnen. Über Reichweite und phonologischen Status dieser Differenzierung besteht jedoch keine Einigkeit in der Forschung (vgl. Ebert et al. 1993: § L 12, 1 mit weiterer Literatur).

60 ! Nikolaus Ruge monophthongiert wurde (vgl. Moser 1929: 178, Ebert et al. 1993: § L 29). Wenn hier ab dem 16. Jh. Schreibungen mit < u> auftreten, fehlt ihnen eine phonische Grundlage, ihre Interpretation als morphologisch motiviert liegt nahe. Der Korpusbefund bestätigt und akzentuiert die Aussagen der vorgängigen Forschung insbesondere dahingehend, dass die Durchsetzung als morphembezogen interpretierbarer < >/< u>-Graphien langwierig verläuft. Die endgültige Angleichung des Usus in den Regionen, wo < >/< u> der phonischen Basis entbehrt, an den Usus im Oberdeutschen und Westmitteldeutschen lässt sich erst Anfang des 18. Jahrhunderts konstatieren, wobei das Nordoberdeutsche eine vermittelnde Stellung einnimmt. Kontrastiert man die Befunde zum Oberdeutschen mit den Befunden zum Mittel- und Norddeutschen, ergibt sich folgendes Bild: potentiell phonische Basis für < >/< u> (Obd.) 1500 1530 1560 1590 1620 1650 1680 1710

12,25% 14,67% 22,47% 31,25% 75,81% 82,65% 95,10% 97,57%

keine phonische Basis für < >/< u> (Md., Norddt.) nicht belegt nicht belegt nicht belegt 25,16% 70,36% 70,99% 87,37% 97,65%

Tab. 4: Durchsetzung von < >/< u> in Sprachlandschaften mit und ohne phonische Basis

Die Überwindung regionaler Schreibgewohnheiten lässt sich beispielhaft anhand der Entwicklung der Durchsetzung morphologisch gestützter < >/< u>Schreibungen während des Zeitintervalls 1590–1620 verdeutlichen: Vor 1620 sind für den Verlauf der Durchsetzung bei den oberdeutschen Korpustexten Diskontinuitäten prägend: Dies gilt für das Ostoberdeutsche grundsätzlich bis 1590, für das Westoberdeutsche für das Intervall 1560 bis 1590. Danach gewinnt die Durchsetzung, zunehmend lautungsunabhängig, an Kontinuität. Eine Vorreiterrolle nehmen hier die westmitteldeutschen Drucke ein, wo der Anteil an < >/< u>-Schreibungen von 14,04% (1530) über 34,07% (1560), 44,48% (1590) auf 82,61% (1620) steigt. 1650 ist gleichwohl ein letzter, regional begründeter Rückgang auf 71,90% zu verzeichnen22, bis die < >/< u>-Schreibungen 1680

22 Dieser Rückgang reflektiert die schon von Moser (1929: § 70.1) bemerkte, auf Grund der hier gewählten Korpusstruktur aber nicht auf den ersten Blick erkennbare Verzögerung mfrk. Drucke. Alle wmd. Korpustexte des Zeitschnitts 1620 stammen aus Frankfurt/Main, diejenigen des

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(95,87%) und 1710 (98,01%) das Niveau der gegenwärtigen orthographischen Norm erreichen. Eine bruchlose Kontinuität zeigen dann die Korpustexte der nordoberdeutschen Übergangslandschaft. Sie weisen bis 1560 nur peripher < >/< u>Schreibungen auf, der entscheidende Sprung findet hier zwischen 1560 und 1590 statt, wo sich die relative Durchsetzung um den Faktor 6,75 von 2,86% auf 19,32% steigert. Abgesehen von einem späten, vernachlässigbaren Absinken ist ab diesem Zeitpunkt eine kontinuierliche Durchsetzung bis auf 100% (ZS 1680) zu beobachten. Den deutlichsten Einschnitt markiert aber das Ansteigen der Durchsetzung von < >/< u> im Ostmitteldeutschen um den Faktor 7,91 von 1590 (7,35%) bis 1620 (58,19%). Bis einschließlich ZS 1560 hatten die ostmitteldeutschen Korpustexte keinerlei < >/< u>-Schreibungen aufgewiesen, die weitere Steigerung bis auf Normniveau (1710 mit 98,51%) verläuft schleppender. Die mit 42,88% relativ hohe Einstiegsdurchsetzung in KT 107 [Schleswig 1640] schließlich erklärt sich nicht nur durch das Fehlen einer phonischen Basis, sondern weist auch darauf hin, dass die norddeutschen Drucke bereits auf eine relativ konsolidierte Tradition morphologisch motivierter < >/< u>Schreibung zurückgreifen können. Rückblickend lässt sich aber auch feststellen: Was unter den Verhältnissen mittelhochdeutscher Schreibsprachen das Aufkommen graphischen Morphembezugs erheblich behinderte (das durch kopiale Überlieferung bedingte Nebeneinander graphischer Varianten unterschiedlicher regionaler Herkunft), kann unter geänderten kommunikativen Bedingungen Ausgangspunkt für dessen Durchsetzung werden. Betrachtet man das Verhältnis Usus/Norm, so lässt sich zunächst konstatieren, dass < >/< u>, ähnlich wie dies beim graphischen Ausgleich der Plosivalternanzen der Fall war, als Reflex dialektaler Lautung auftreten. Ihre Durchsetzung ist gleichwohl zum Zeitpunkt des Einsetzens grammatischer Reflexion über die Volkssprache keineswegs in vergleichbarem Maße konsolidiert. Je nach sprachlandschaftlicher Verortung der Akteure sind überdies Differenzierungen erforderlich (vgl. Moulin 2004: 44ff.). Wenn der Oberdeutsche J. Kolross 1530 Umlautgraphien für Derivationsprodukte vorschreibt, handelt es sich um eine morphologische Reinterpretation einer phonographisch bis dahin kaum reflektierten und damit funktionalisierbaren Graphie, die sich danach im Westober-

fraglichen Zeitschnitts 1650 sämtlich aus Köln. Zeitschnitt 1680 enthält keine Kölner Drucke, zum Zeitschnitt 1710 erreichen dann alle untersuchten Drucke Werte über 90%.

62 ! Nikolaus Ruge deutschen zwar nicht kontinuierlich, aber am Ende doch durchsetzt (s.o.), hinsichtlich deren morphematischer Motivation jedoch Zweifel angebracht sind. Die ein Jahr später vom Ostmitteldeutschen F. Frangk formulierte, oberflächlich betrachtet mit Kolross’ Vorschrift äquivalente Schreibregel ist hingegen, berücksichtigt man die Herkunft ihres Urhebers, als rein morphembezogen aufzufassen, wenn auch eine Kenntnis der Herkunft des Zeichens < > als Reflex oberdeutscher Aussprache und damit die Diagnose Reinterpretation nicht kategorisch auszuschließen ist. Im Unterschied zur Situation bei Kolross ist aber festzustellen, dass die frangksche Regel keinen unmittelbaren Einfluss auf den regionalen Graphieusus zeitigt. Die ersten ostmitteldeutschen < >-Graphien erscheinen, wie oben herausgearbeitet wurde, erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach der Formulierung der explizit morphematischen Schreibregel.

6 Von der Morphologie in die Graphematik und zurück Das 16. und 17. Jh. bilden den entscheidenden Wendepunkt für die Entwicklung der Graphematik-Morphologie-Schnittstelle im Deutschen. Erstmals lässt sich in diesem Zeitraum eine graphematische Innovation nachweisen, die allein morphologisch interpretiert werden kann (vgl. Voeste 2008). Vor allem erfährt das Deutsche in dieser Zeit einen Grammatisierungsschub, der es erlaubt, auf der Basis metasprachlicher Aussagen die morphographische Reinterpretation ursprünglicher Phonographien zu rekonstruieren. Dabei sind unterschiedliche Konstellationen im Zusammenspiel von Norm und Usus zu beobachten, zunächst im Bereich der Umlautschreibung die mehr oder weniger erfolgreiche, nach 1620 aber irreversible normativ-morphematische Reinterpretation einer Phonographie vor ihrer entsprechenden Durchsetzung im Usus, dann im Fall des graphischen Ausgleichs von Plosivalternanzen die normativ-morphematische Reinterpretation einer Phonographie nach ihrer Durchsetzung im Usus. In der 2. Hälfte des 17. Jh.s finden sich schließlich funktionale Begründungen graphischen Morphembezugs. Schottelius’ ‚Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache‘ (1663) erwähnt erstmals morphembezogene Schreibungen im Zusammenhang mit der Profilierung der Erfassungsfunktion geschriebener Sprache: Es irret auch ferner bey Lesung der Teutschen Sprache die Doppelung sothaner Stammletteren nicht allein gar nicht/ sondern es ist vielmehr dasselbe ein unfehlbares sonderliches

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Zeichen und Erk ntniß der Wurtzel/ oder des Stammwortes/ [...]. (J.G. Schottelius 1663: 194, zit. nach Moulin 2004: 67)

Noch deutlicher fällt die Rechtfertigung der etymologisch wie grammatisch determinierten Orthographie des Französischen durch J.B. Bossuet in den ‚Observations sur l’orthographe de la langue francoise‘ (1673) aus: Si on ecriuoit tans, chan, cham, emais ou émês, connaissais, anterreman, faisaiet, qui reconnoistroit ces mots ? On ne lit point lettre a lettre ; mais la figure entiere du mot fait son impression tout ensemble sur l’œil et sur l’esprit. (Transkription und Faksimile bei Beaulieux 1951: 229, vgl. auch Cerquiglini 1995: 113) 23

Aufschlussreich ist die Formulierung Bossuets aus zwei Gründen. Erstens bringt sie jene kommunikative Spezifik neuzeitlicher gegenüber mittelalterlicher volkssprachiger Schriftlichkeit auf den Punkt, in deren Kontext die Profilierung der Graphematik-Morphologie-Schnittstelle auch im Deutschen zu sehen ist: Das mittelalterliche Ohr der (halb)lauten Lektüre von Texten in scriptio continua oder zumindest mit ambivalentem Gebrauch des Spatiums ist dem neuzeitlichen Auge gewichen, das stumm von Wortbild zu Wortbild gleitet. Zweitens erlaubt sie eine schärfere Konturierung der Entwicklung im Deutschen, wo ja, gerade im Bereich der Flexionsmorphologie, das „Basissystem von GraphemPhonem-Korrespondenzen“ (Eisenberg 1996: 618) dominiert. Historisch ist diese Dominanz u.a. dadurch bedingt, dass ein Teil der deutschen Flexionsmorpheme nach dem Vorbild des Geschriebenen rekonstruiert werden musste, nachdem die Substantivendung -e durch Apokope im 16. Jh. weitgehend abgebaut war. Dieser Befund gilt nur teilweise für das Dativ-Singular-Flexiv (vgl. Wegera 1987: § 41), während das Plural-Flexiv im Oberdeutschen und Westmitteldeutschen völlig, im Ostmitteldeutschen nur teilweise verschwindet. Im 17. Jh. kann von dort aus folglich unter mehrheitlicher Befürwortung der Grammatiker seine schriftsprachliche Wiederherstellung einsetzen (vgl. Wegera 1987: § 72), ohne dass die gesprochene Sprache nach Ausweis der rezenten Mundarten folgen würde (vgl. Schirmunski 1962: 159ff., 414ff.). Anders als im 13. Jh., wo der Schreiber der Corpus-Urkunde Nr. 438 sich nicht zwischen kleinräumiger (kilche) oder großräumiger (kirche) Orientierung entscheiden musste, entsteht aus

23 ’Wenn man schreiben würde tans [statt: temps], chan [statt: chant], cham [statt: champ], emais oder émés [statt: aimais bzw. aimois], connaissais [statt: connoissois], anterreman [statt: enterrement], faisaiet [statt: faisoie(n)t], wer würde diese Wörter dann noch wiedererkennen? [...] Man liest nicht Buchstabe für Buchstabe, sondern das Gesamtbild des Wortes prägt sich als eine Einheit dem Auge und dem Geist ein.’ Für die Tiefe des französischen Schriftsystems werden meist sprachsystematische Gründe angeführt, dagegen jetzt Voeste (2011: 189).

64 ! Nikolaus Ruge dieser Konstellation aber keine Varianz, zumindest nicht „im engeren, systembezogenen Sinne“ (Elmentaler 2011: 18). Die Schnittstelle von Graphematik und Morphologie erscheint im Frühneuhochdeutschen mithin so profiliert, dass nicht allein das graphische Wort nach morphologischen Gesichtspunkten strukturiert wird oder dass ursprünglich phonematische Schreibungen morphologische Uminterpretation erfahren. Geschriebene Morphologie kann nunmehr, gestützt auf eine zunehmend überregionale Schriftsprache und ihre Grammatisierungsagenten, auch dort ausdrucksseitig restituiert werden, wo ihr kein lautliches Pendant entspricht.

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Rüdiger Weingarten

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen 1 Einleitung Die deutsche und die niederländische Schriftsprache haben zahlreiche Gemeinsamkeiten auf unterschiedlichen Ebenen. Zunächst sind die zugrunde liegenden Sprachen genetisch nah verwandt: Sie gehören beide zur westgermanischen Sprachfamilie. Für das hier behandelte Thema sind zwei Aspekte dieser Verwandtschaft wichtig: a. die westgermanische Konsonantengemination, also die phonologische Unterscheidung zwischen langen und kurzen Konsonanten, die in den Anfängen der Schreibtraditionen des Deutschen und des Niederländischen gültig war und von beiden Sprachen mit Beginn der frühen Neuzeit wieder aufgegeben wurde; b. die Entstimmung stimmhafter Plosive, wenn diese durch morphophonologische Prozesse in den Silbenendrand rücken („Auslautverhärtung“). In dieser Hinsicht unterscheiden sich z.B. das Deutsche und das Niederländische auf der einen Seite vom Englischen auf der anderen Seite. (Diese zugrunde liegenden phonologischen Prozesse sind nicht Gegenstand dieser Arbeit; vgl. hierzu z.B. Mihm (2004) und Iverson & Salmons (2007). In der vorliegenden Studie geht es nur um die schriftgeschichtlichen Entwicklungen.) Durch die unmittelbare geographische Nachbarschaft des deutschen und des niederländischen Sprachraums liegt weiterhin eine areale Verwandtschaft vor, bei der man mit Bezug auf den niederdeutschen und friesischen Sprachraum auch von einer ausgeprägten Überlappung sprechen kann. Ein insbesondere für die Schriftgeschichte wichtiger Aspekt eines gemeinsamen Kulturraumes entstand in der Folge des Protestantismus und der damit verbundenen Bibelübersetzungen in die Volkssprachen (erste niederländische Lutherbibel 1648). Schließlich weisen das Deutsche und das Niederländische u.a. in der Morphophonologie auch zahlreiche sprachtypologische Gemeinsamkeiten auf. Verfahren der Derivation und Flexion beider Sprachen folgen weitgehend ähnlich Bauprinzipien, woraus sich für die wortbezogene Grammatographie ähnliche Bedingungen ergeben. Die Schriftgeschichte des Deutschen und des Niederländischen vollzog sich zeitlich weitgehend parallel. Die ersten Verschriftungen des Altniederländischen (600– 1150) (z.B. Malbergsche Glossen (6. Jhd.), das Utrechtsche Taufver-

70 ! Rüdiger Weingarten sprechen (Ende des 8.Jhds.)) liegen etwa auch in althochdeutscher Zeit. Der Buchdruck und damit die Massenproduktion schriftlicher Dokumente setzte in den Niederlanden Ende des 15. Jahrhunderts unmittelbar nach dessen Einführung in Deutschland ein. Die daraus sich ergebenden Zwänge zur Entwicklung jeweils einheitlicher Schriftsysteme können somit für beide Schriftkulturen etwa in gleicher Weise angenommen werden. Die erste orthographische Kodifizierung des Niederländischen erfolgte 1863 und wurde zunächst in Belgien eingeführt, 1883 dann in den Niederlanden. 1980 wurde unter dem Motto Een taal, drie landen! die „Nederlandse Taalunie“ gegründet und in dem Regelwerk „Woordenlijst Nederlandse Taal – Officiële Spelling“ niedergelegt. Diesen Gemeinsamkeiten zwischen dem deutschen und dem niederländischen Sprach- und Schriftraum steht mit ihren unterschiedlichen Größen und damit der größeren sprachlich-dialektalen Vielfalt des Deutschen ein wichtiger Unterschied gegenüber. Zwar waren und sind für die Herausbildung der niederländischen Sprach- und Schriftsysteme auch Ausgleichsprozesse z.B. zwischen altniederfränkischen und altsächsischen Dialekten und heute auch noch zwischen dem Flämischen und dem Holländischen erforderlich, die größere Vielfalt liegt jedoch im deutschen Sprachraum. Am wichtigsten ist dabei die hochdeutsch-niederdeutsche Sprachgrenze, die auf dem Weg zur hochdeutschen Schriftsprache zu umfangreichen Ausgleichsprozessen geführt hat. Vor dem Hintergrund dieser Bedingungen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden soll hier untersucht werden, wie sich Aspekte der Grammatographie im Deutschen und Niederländischen entwickelt haben. Damit in Verbindung steht die weitergehende Frage, welche Faktoren für die Herausbildung von Grammatographie ermittelt werden können. Als grammatographische Einheiten eines Schriftsystems werden Schriftzeichen verstanden, die grammatische Einheiten, Strukturen oder Merkmale der zugrunde liegenden Sprache repräsentieren. Hierzu gehören im Deutschen und im Niederländischen die satzinitiale Großschreibung, die Satzzeichen, das Spatium und die Worttrennung am Zeilenende. Ein wesentlicher Unterschied liegt in der satzinternen Großschreibung, die im Niederländischen, anders als im Deutschen, auf Eigennamen beschränkt ist. Insgesamt stimmt die Grammatographie in beiden Schriftsystemen in vielen Bereichen überein, wobei die Kommasetzung im Niederländischen freier ist. Die Getrennt-/Zusammenschreibung, also die Beziehung zwischen graphemischen und grammatischen Wörtern, ist in beiden Schriftsystemen relativ ähnlich, wobei auch sie im Niederländischen freier ist. Unter dem Einfluss des Englischen werden seit einiger Zeit durch Komposition gebildete grammatische Wörter gelegentlich als zwei graphemische Wörter geschrieben: tuin centrum !Gartenzentrum’ (vgl. van Megen & Nejit

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1998) (Ähnliches kann auch im Deutschen insbesondere in der Werbesprache beobachtet werden). Eine besondere Form der Grammatographie ist die sog. Konstantschreibung, also die gleichmäßige Schreibung von Morphemen oder Lexemen auch dann, wenn sich ihre phonologische Form unter dem Einfluss von Derivation oder Flexion ändert. Zwei dieser Formen sollen hier historisch-vergleichend zwischen dem Deutschen und dem Niederländischen untersucht werden: Die Schreibung von Doppelkonsonantenbuchstaben und die Schreibung stimmhafter Obstruentbuchstaben am Wortende in Fällen, bei denen die phonographische Funktion zum Teil blockiert ist, da die Buchstaben keine stimmhaften Laute repräsentieren. Dabei sollen folgende Fragen untersucht werden: – Wann entstanden im Deutschen und im Niederländischen grammatographische Schreibungen im Bereich der Konstantschreibungen von Morphemen? – Worauf lassen sich die jeweiligen Entwicklungen im graphematischen System zurückführen? Hierzu werden zwei graphotaktische Studien durchgeführt.

2 Studie 1: Zur Graphotaxis doppelter Konsonantenbuchstaben Wenn im Folgenden von Doppelkonsonantenbuchstaben gesprochen wird, so ist ausschließlich ihre intramorphemische Verwendung gemeint. Es geht also nicht um zwei gleiche Konsonantenbuchstaben, die an einer Morphemfuge entstehen wie etwa in wahllos. Im Althochdeutschen und Altniederländischen kamen solche intramorphemischen Doppelkonsonantenbuchstaben fast nur intervokalisch vor. Ursprünglich kennzeichneten sie dort phonologisch lange Konsonanten, die im Rahmen der sog. Westgermanischen Konsonantengemination entstanden waren (vgl. Braune 141987: 91f.). Sie hatten hier also eine segmental phonographische Funktion. Mit dem Verschwinden der phonologischen Unterscheidung zwischen langen und kurzen Konsonanten im ausgehenden Mittelalter entstand die Möglichkeit entweder der Eliminierung der funktionslos gewordenen doppelten Konsonantenbuchstaben oder aber ihrer graphemischen Umnutzung. Ihre Beibehaltung trotz fortdauernder Funktionslosigkeit hätte eine dauerhafte Belastung des Schriftsystems bedeutet.

72 ! Rüdiger Weingarten Doppelte Konsonantenbuchstaben im heutigen deutschen Schriftsystem Auf grammatographischer Ebene zeigen zwei identische, intramorphemische Konsonantenbuchstaben an, dass eine vorliegende graphemische Wortform auf eine morphologisch verwandte graphemische Wortform R (Derivation oder Flexion) verweist (→m), in der intervokalisch steht (X=Vokal- oder Konsonantbuchstabe oder Wortende): (1) →m

→m (Der intervokalische Bezug gilt für die graphemische Wortform; in der lautlichen Form fällt der zweite Vokal häufig weg: ["#$ḅm̩].) Auf segmental-phonographischer Ebene repräsentiert das Digraphem in der WortformR denselben Konsonanten wie ein einfacher Konsonantenbuchstabe: (2) R → /b/ R → /C/ Auf suprasegmental-phonographischer Ebene repräsentiert das Digraphem in der WortformR ein Silbengelenk (vgl. Eisenberg 1998: 129f.): (3) R → /ˈ...VC̣V.../ Bezogen auf die Wortform ist der doppelte Konsonantenbuchstabe segmental inkorrekt, weil der repräsentierte Laut stimmlos ist ["#$pt], und suprasegmental phonographisch ist er ebenfalls nicht motiviert, da er in dieser Wortform kein Silbengelenk repräsentiert. Doppelte Konsonantenbuchstaben im heutigen niederländischen Schriftsystem Eine grammatographische Ebene gibt es bei der Schreibung doppelter Konsonantenbuchstaben im Niederländischen nicht (* kennzeichnet eine graphemisch nicht wohlgeformte Wortform): (4) /h%ḅn̩/ !haben’

→ /h%p/ !habe’, /h%pt/ !hat’ ↳/ *, *

Auf segmental-phonographischer Ebene repräsentiert das Digraphem in denselben Konsonanten wie der einfache Konsonantenbuchstabe:

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

73

(5) → /b/ → /C/ Auf suprasegmental-phonographischer Ebene repräsentiert das Digraphem in dieser Wortform ein Silbengelenk: (6) → /ˈ...VC̣V.../ Die „Woordenlijst Nederlandse Taal – Officiële Spelling“ schreibt dazu in Regel 2.2 (verdubbeling van medeklinkers op het eind van een gesloten lettergreep.): Een medeklinker schrijven we dubbel na een korte klinker als er op die medeklinker nog een onbeklemtoonde lettergreep volgt. !Einen Konsonanten verdoppeln wir nach einem kurzen Vokal, wenn nach dem Konsonanten noch eine unbetonte Silbe folgt.’

Schriftgeschichtliche Untersuchungen zur Konsonantenverdoppelung sind mir nur zum Deutschen bekannt. Rieke (1998) untersuchte die Markierung der Vokallänge in Bibeldrucken aus den Jahren 1522–1797 differenziert nach unterschiedlichen Sprachlandschaften (Druckersprachen). Die Texte wurden danach ausgewertet, inwieweit sie der heute gültigen Norm zur Markierung von Dehnung und Schärfung entsprechen. Eine Querschnittstudie zeigt zunächst, dass in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den unterschiedlichen Sprachlandschaften eine Übereinstimmung mit der heutigen Norm nur zum Teil erreicht wurde. Während in einem Straßburger Text eine nahezu vollständige Übereinstimmung vorliegt, gilt dies für Köln nur in weniger als der Hälfte der Fälle (s. Abb. 1).

74 ! Rüdiger Weingarten

Prozent 100 80 60 40 20 0

Lüneburg 1750 Lüneburg 1750

Köln 1734 Köln 1734

Frankfurt 1718

Nürnberg 1733

Frankfurt 1718

Nürnberg 1733

Ulm 1735 Ulm 1735

Straßburg 1734 Straßburg 1734

Halle 1736 Halle 1736

Abb. 1: Übereinstimmungen mit der heutigen Norm im Bereich der Schreibung von Doppelkonsonantenbuchstaben an unterschiedlichen Druckorten (nach Rieke 1998: 373).

In der Betrachtung des Druckbereichs Wittenberg/Halle/Leipzig, für den bei Rieke die meisten Daten vorliegen, wird eine insgesamt kontinuierliche Entwicklung der Angleichung an die heutige Norm zwischen 1522 und 1797 deutlich (s. Abb. 2). Prozent 100 80 60 40 20 0 1500

1550

1600

1650

1700

1750

1800

1850

Jahr Abb. 2: Übereinstimmungen mit der heutigen Norm im Bereich der Schreibung von Doppelkonsonantenbuchstaben zu verschiedenen Zeitpunkten an den Druckorten Wittenberg/Leipzig/ Halle (nach Rieke 1998: 253).

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75

Rieke (1998: 382) sieht in ihren Daten eine führende Rolle der ostmitteldeutschen Bibeldrucke (Wittenberg/Leipzig/Halle) für die Ausbildung der heutigen Norm, wobei sie im Bereich der Doppelkonsonantenschreibung diese erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausmacht. Mir erschließt sich dies aus ihren Daten nicht, da für den zunächst führenden Ort Straßburg für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts keine Daten vorgelegt werden (sie reichen nur bis 1734) und die Unterschiede zu Ulm nur gering sind (Rieke 1998: 374). Neben der großen lokalen Varianz wird bei Rieke insbesondere der kontinuierlich verlaufende Prozess im Untersuchungszeitraum deutlich und dessen Abschluss etwa um 1800. In einer ähnlich angelegten Untersuchung verglich Günther (1999) in textidentischen Bibelauszügen verschiedene orthographische Entwicklungen, darunter auch die Schreibung von Doppelkonsonantenbuchstaben im Zeitraum von 1545–1961. Aus Abb. 3 wird deutlich, dass Günther das Ergebnis von Rieke, dass der heutige Standard, repräsentiert durch eine Bibelausgabe von 1961, in diesen Texten um 1800 erreicht wird, bestätigt. Prozent 100 90 80 70 60 50 40 1500

1600

1700

1800

1900

2000

Jahr Abb. 3: Schreibung von Doppelkonsonantenbuchstaben in textidentischen Bibelauszügen aus verschiedenen Zeitabschnitten relativ zum Standard von 1961 (=100%). Abbildung erstellt nach Günther (1999).

Abb. 3 berücksichtigt alle Doppelkonsonantenschreibungen in den untersuchten Texten. Bereits der Druck von 1626 weist an sämtlichen, nach Günther echten Silbengelenkpositionen – /'…VC̣V…/ – Doppelkonsonantenbuchstaben auf, also dort, wo sie rein phonographisch, segmental und suprasegmental, begründet sind. Wortformen, in denen die doppelten Konsonantenbuchstaben

76 ! Rüdiger Weingarten nur durch eine morphologische Analyse auf eine Wortform mit Silbengelenk zurückführbar wären ( →m ), werden hingegen erst 1797 vollständig mit Konsonantenverdoppelung geschrieben. Außerdem weist Günther auf relativ zum heutigen Standard unmotivierte Verdoppelungen hin (auff, lieffen), die mindestens bis ins 18. Jahrhundert beobachtet werden können. Ruge (2004) untersuchte die Verwendung von Doppelkonsonantenbuchstaben in den Lexemen sollen, wollen und können im Zeitraum von 1500 bis 1770 in verschiedenen Texten und an verschiedenen Schreiborten. Dabei wurde auch das Maß der Übereinstimmung mit der heute gültigen Norm ermittelt. In Abb. 4 wird der Entwicklungsverlauf wiedergegeben. Prozent 100 80 60 40 20 0 1500

1550

1600

1650 Jahr

1700

1750

1800

Abb. 4: Schreibung von Doppelkonsonantenbuchstaben in den Lexemen wollen, sollen und können in der Silbenendrandposition in verschiedenen Text zwischen 1500 und 1770 relativ zur heutigen Norm (=100%). Abbildung erstellt nach Ruge (2004: 342).

In Abb. 4 wird deutlich, dass erst um die Mitte des 17. Jahrhunderts eine Entwicklung hin zu der heutigen Norm beginnt, die dann relativ schnell nach gut 120 Jahren abgeschlossen ist. Ruge stellt drei Hauptphasen der Durchsetzung der Doppelkonsonantenschreibung nach heute gültiger Norm fest: 1. in der intervokalischen Position (wollen, sollen, können) 2. bei einfachem Silbenendrand (will, soll, kann) 3. bei komplexem Silbenendrand (wollt, sollt, könnt ) In allen drei Positionen gibt es bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine sehr große Varianz, wobei sich kein Einfluss der verschiedenen Sprachlandschaften auf die

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Variantenverteilung zeigte. Zwischen 1740 und 1770 konnte dann ein sprunghafter Anstieg der Schreibung von Doppelkonsonantenbuchstaben in allen Positionen festgestellt werden. Nach 1770 kann man dann von einer vollständigen Durchsetzung der bis heute gültigen Norm mit ihrer morphologischen Konstantschreibung sprechen. Dieser nahezu vollständige Variantenabbau in einem sehr kurzen Zeitraum spricht nach Ruge gegen eine Steuerung des Prozesses aus dem Schreibusus. In diesem Zusammenhang kann man feststellen, dass es unter den Grammatikern eine intensive Diskussion über phonographische und grammatographische Prinzipien gegeben hat (zusammenfassend s. Ruge 2004: 255ff., Ewald 2004). Exemplarisch sei Gottscheds einflussreiche Grundlegung einer deutschen Sprachkunst (1748, 31752) erwähnt, in der er einerseits die phonographische Funktion der Doppelkonsonanten als Kennzeichnung der Vokalkürze betont und andererseits ihre grammatographische Funktion: Die Regel II: Alle Stammbuch&taben, die den Wurzelwoertern eigen sind, mue&&en in allen ab&tammenden beybehalten werden. (Gottsched 31752: 66).

Er hält dies für notwendig, „damit man ihre Verwandt&chaft nicht aus den Augen verliere; &ondern ihre ’hnlichkeit gleich wahrnehmen k(nne.“ (Gottsched 3 1752: 66). Von einem gewissen Beitrag der Grammatiker zur Durchsetzung der Grammatographie kann man wohl ausgehen, auch wenn dieser insbesondere darin bestanden haben mag, im Schreibusus bereits vorfindbare Formen in einer Regel zu systematisieren. Ruge bietet noch eine weitere Erklärung an: Da es für die Schreibung von Doppelkonsonantenbuchstaben keine phonische Motivation gibt, schließt er, „dass ihre morphematische Motivation … zumindest von dem Zeitpunkt an zwingend erscheint, da der Doppelkonsonantenbuchstabe als Silbengelenkschreibung in den Explizitformen konsolidiert auftritt.“ (Ruge 2004: 204). Diesen Schluss halte ich für voreilig. Im Englischen findet man in der intervokalischen Position auch eine systematische Gelenkschreibung (, ), die aber nicht auf das morphologische Paradigma übertragen wurde (*, *).

78 ! Rüdiger Weingarten Prozent 100 80 60 40 20 0 1500

1550

1600

1650

1700

1750

1800

Jahr Günther

Rieke

Ruge

Abb. 5: Zusammenfassung der in den Abb. 3–5 wiedergegebenen Untersuchungen von Günther (1999), Rieke (1998) und Ruge (2004).

Fasst man die drei genannten Untersuchungen zusammen, so kann man eine Übereinstimmung hinsichtlich des Zeitraums der Annäherung an die heutige Norm zweifelsfrei feststellen (s. Abb. 5). Der Prozess der Annäherung an die heutige Norm vollzieht sich etwa bis 1800, wobei der Betrachtungszeitraum nach 1500 beginnt; Abweichungen in den drei Entwicklungsverläufen können auf Unterschiede zwischen den Sprachlandschaften und den jeweils untersuchten Datenausschnitten zurückgeführt werden. Seit 1800 wird das heute gültige System praktiziert. Alle drei hier referierten Studien untersuchen die Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben aus der Perspektive der heute gültigen Norm und stellen dabei fest, wie groß der Grad der darüber definierten Normabweichung ist. Ältere Systemzustände erscheinen hier als mehr oder weniger defizitäre Vorläufer des aktuellen Systems. Dies ist zwar eine zulässige Herangehensweise, aber man darf daraus nicht vorschnell den Schluss ziehen, hier läge ein gerichteter historischer Prozess vor, der seine „Erfüllung“ und seinen Abschluss in der heutigen Norm gefunden hätte. Die Ursachen für Sprachwandel können nicht in einem späteren Systemzustand gefunden werden, vielmehr ergeben sie sich immer aus Gegebenheiten in einem aktuellen Zustand. Die Mechanismen, die zu Veränderungen führen, werden mit einer Analyse älterer Sprachstufen auf der Folie einer späteren Norm also nicht deutlich. Ein zeitlicher Anfangspunkt wird

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in den vorliegenden Untersuchungen allenfalls vage negativ bestimmt als irgendwie relativ weit von der heutigen Norm entfernt. Der betrachtete Zeitraum beginnt in den referierten Untersuchungen ohne weitere Begründung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Beschrieben wird die Ausgangssituation so, dass nach dem Wegfall der phonologischen Unterscheidung zwischen langen und kurzen Konsonanten die Verdoppelung der Konsonantenbuchstaben einen Funktionsverlust erlitten hat und nun frei für eine Umnutzung ist. Damit bleiben mindestens zwei Fragen zur Entwicklung im Deutschen offen: 1. Wann setzte die Entwicklungsdynamik ein, die zu einem System führte, das etwa ab 1800 aus den oben genannten phonographisch-segmentalen und -suprasegmentalen sowie aus der grammatographischen Komponente besteht? 2. Was sind die Ursachen dieser Entwicklung – ihres Anfangs und der sie vorantreibenden Kräfte? Zur Beantwortung dieser Fragen soll im Folgenden zunächst eine graphotaktische Längsschnittuntersuchung zur Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben vorgestellt werden, die eine Bezugnahme auf die heutige Norm bei der Betrachtung älterer Sprachstufen vermeidet.

2.1 Methode Verdoppelungen von Konsonantenbuchstaben können theoretisch in den folgenden Umgebungen vorkommen (zunächst ungeachtet der Frage, ob daraus mögliche Wörter des Deutschen entstehen): (7) (V = Vokal, C = Konsonant, CiCi = zwei gleiche Konsonanten, _ = Wortanfang bzw. -ende) VCiCiV VCiCiC VCiCi_ CCiCiV CCiCiC CCiCi_ _CiCiV _CiCiC _CiCi_ Nur zwei dieser Formen deuten auf eine grammatographische Verwendung von , also auf eine morphologische Beziehung zu einer Wortform, in der sie intervokalisch stehen: (8) VCiCiC

VCiCi_

Wortinitial kommen doppelte Konsonantenbuchstaben im deutschen und niederländischen Schriftsystem nicht vor (außer z.B. in dem aus dem Walisischen übernommenen Namen ): *; postkonsonantische doppelte Konsonantenbuchstaben kamen in der deutschen Schriftgeschichte zwar vor

80 ! Rüdiger Weingarten (z.B. ; heute nur noch in manchen Eigennamen wie z.B. ), sie sind jedoch nicht aus intervokalischen Formen ableitbar. In dieser Studie soll nun ermittelt werden, wie sich die Verteilungen der doppelten Konsonantenbuchstaben über die aufgeführten neun Umgebungstypen in beiden Schriftsystemen geändert haben. Insbesondere geht es dabei um die genannten potentiell grammatographischen Formen. In einem zweiten Schritt wird dann nach Faktoren gesucht, die die Veränderungen in den Verteilungen erklären können. Gegenüber bisherigen Untersuchungsmethoden hat der hier gewählte graphotaktische Ansatz mindestens zwei Vorteile: a. Ältere Stadien eines Schriftsystems werden nicht daraufhin analysiert, inwieweit sie den gegenwärtigen Regeln entsprechen, was eine zielorientierte Entwicklung implizieren würde. b. Die Analyse verbleibt zunächst innerhalb des Schriftsystems und es sind keine speziellen Annahmen über das Verhältnis zum Sprachsystem erforderlich. Insbesondere müssen keine – ohnehin ungesicherten – Annahmen darüber gemacht werden, ab wann doppelte Konsonantenbuchstaben nicht mehr phonologisch lange Konsonanten repräsentieren. Es wird nur angenommen, dass dies zu einem älteren Zeitpunkt der Fall war und heute nicht mehr so ist.

2.2 Material Die Untersuchung wurde an einem deutschen und einem niederländischen Korpus durchgeführt (s. Tab. 1). Zeitraum Deutsch Niederländisch

830–2002 1150–2005

Anzahl Texte

Summe Wörter

17 9

224.986 123.982

Summe Doppelkonsonantbuchstaben 15.489 5.214

Tab. 1: Untersuchte Korpora (bibliographische Nachweise s. Anhang 1).

2.3 Ergebnisse In Abb. 6 wird deutlich, dass Verdoppelungen von Konsonantenbuchstaben in den untersuchten alt- und mittelhochdeutschen Texten praktisch ausschließlich intervokalisch vorkommen. Zu Beginn der frühneuhochdeutschen Zeit, ziemlich genau in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, bricht diese strikte Regularität zusammen und nach einer kurzen Übergangszeit, in den untersuch-

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

81

ten Texten in einem Zeitraum von nur fünfzig Jahren, pendelt sich der intervokalische Anteil dann auf etwa die Hälfte der Vorkommen von ein. Die andere Hälfte verteilt sich auf die übrigen fünf Umgebungstypen , , , und . Diese Verteilung ändert sich dann bis zur Gegenwart auch nicht mehr grundsätzlich. Diese Aussagen gelten natürlich zunächst nur für das hier untersuchte Korpus und bedürfen weiterer Bestätigung. Prozent 100 80 60 40 20 0 800 VCCV

1000

1200 CCCV

1400 Jahr VCCC

1600 CCCC

1800 VCC-

2000 CCC-

Abb. 6: Verdoppelungen von Konsonantenbuchstaben in unterschiedlichen Umgebungen im untersuchten deutschen Korpus (vgl. Tab. 3 im Anhang).

Aus dieser graphotaktischen Perspektive lässt sich vermuten, dass die intervokalische Umgebung in alt- und mittelhochdeutscher Zeit eine notwendige, wenngleich auch keine hinreichende Bedingung für die Verdoppelung ist, da intervokalisch natürlich auch Einzelkonsonanten vorkommen. Hinreichende Bedingungen können nur mit Bezug auf das Sprachsystem gefunden werden. Verdoppelungen von Konsonantenbuchstaben finden sich bereits in den ersten Texten in deutscher Sprache. Im Muspilli kommen sie ausschließlich im Kontext vor und damit auch nicht am Wortende und ohnehin nicht am Wortanfang. Im Hildebrandslied und in der Tatian-Stichprobe (s. Anhang 1) findet man immerhin in über 90% einen -Kontext vor. In den wenigen übrigen Fällen steht links oder rechts von der Verdoppelung ein weiterer Konsonant, während auf der jeweils anderen Seite ein Vokal steht:

82 ! Rüdiger Weingarten (9) Deotrichhe und reccheo In diesen Beispielen aus dem Hildebrandslied kommen in Zusammenhang mit vor, was möglicherweise als komplexes Graphem angesehen werden kann (vgl. Bergmann, Pauly & Moulin 72007: 140f.); daher kann man diese Vorkommen als Sonderfälle interpretieren. Somit lässt sich sagen, dass Konsonantenbuchstaben in den betrachteten althochdeutschen Texten praktisch ausschließlich in vokalischer Umgebung verdoppelt werden (z.B. , Hildebrandslied). Das gleiche Ergebnis wurde im Nibelungenlied und im Annolied gefunden. Besonders auffällig an diesem Verlauf in dem untersuchten Korpus ist der sehr abrupte Wechsel mit Beginn der Frühneuzeit. Die relativ strikte Beschränkung doppelter Konsonantenbuchstaben auf die intervokalische Umgebung scheint nicht mehr zu gelten. Erste Aufschlüsse bietet die Verteilung der Doppelkonsonanten auf die übrigen Umgebungstypen ab dem Ende des 14.Jahrhunderts. Dies wird in Abschnitt 2.4 in einer genaueren Betrachtung der Texte diskutiert. Im Niederländischen zeigt sich eine ganz andere Verlaufskurve als im Deutschen (s. Abb. 7). Prozent 100 80 60 40 20 0 1100 VCCV

1300 CCCV

1500 Jahr VCCC

1700 VCC_

1900 CCC_

CCCC

Abb. 7: Verdoppelungen von Konsonantenbuchstaben in unterschiedlichen Umgebungen im untersuchten niederländischen Korpus (vgl. Tab. 4 im Anhang).

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

83

Die Ausgangssituation ist vergleichbar: Doppelte Konsonantenbuchstaben kommen im Altniederländischen fast nur intervokalisch vor. Im weiteren Verlauf kann man etwa ab dem 15. Jahrhundert eine leichte Variation feststellen, die sich dann ca. ab 1800 wieder zu einer fast vollständigen Beschränkung auf die intervokalische Position zurückbildet. Ein Blick in Texte von ca. 1400–1800 zeigt, dass die auftretenden Variationen nicht grammatographisch zu erklären sind, sondern phonographisch: Auf den Doppelkonsonanten folgt nicht ein neues, konsonantisch beginnendes Morphem, vielmehr bilden und der folgende Konsonant vermutlich ein komplexes Phonographem, d.h. sie repräsentieren ein Phonem: (10) segghen !sagen’ [1600, lamentatie] Im gesamten niederländischen Korpus konnten also praktisch keine Ansätze zur Grammatographie bei Doppelkonsonantenbuchstaben gefunden werden. In Abb. 8 werden die deutschen und die niederländischen Verlaufskurven der intervokalischen Position zur Verdeutlichung der Unterschiede zusammengefasst. Prozent 100 80 60 40 20 0 800

1000

1200

1400

1600

1800

2000

Jahr Deutsch

Niederländisch

Abb. 8: Vergleich der intervokalischen Konsonantenverdoppelungen im Deutschen und Niederländischen.

84 ! Rüdiger Weingarten Der Vergleich zwischen der deutschen und der niederländischen Schriftgeschichte kann nun so zusammengefasst werden: In der deutschen Schriftgeschichte wurden bezogen auf das Untersuchungskorpus drei Phasen der Graphotaxis doppelter Konsonantenbuchstaben identifiziert: 1. 830 – 1340 intervokalisch praktisch nur in der Umgebung . 2. 1340 – 1748 variierend Nach einem abrupten Zusammenbruch dieser Beschränkung kommt in allen theoretisch möglichen Umgebungen vor (außer wortinitial). 3. 1748 – 2002 postvokalisch kommt abgesehen von Eigennamen und Kompositionsgrenzen nur noch postvokalisch (deutet auf Grammatographie) vor. Im Niederländischen dagegen konnten keine Systemumbrüche festgestellt werden: – 1150 – Gegenwart intervokalisch Allerdings können etwa zwischen 1350 und 1900 (bis zu den ersten orthographischen Regelungen) leichte Variationen bei den Umgebungen der Konsonantenverdoppelungen beobachtet werden. Sie sind jedoch erheblich niedriger als im Deutschen.

2.4 Weiterführende Überlegungen Wortfinale doppelte Konsonantenbuchstaben im Deutschen gehen überwiegend auf Apokopierungen zurück (Beispiele (12–13) aus: Engelthal, vor 1350): (11) alt: neu:

wanne, wenne, etwenne, danne, denne, sunne; wann, swann, wenn, swenn, etwenn, dann, denn, sunn.

Dabei traten zunächst auch innerhalb eines Satzes Schreibvariationen auf: (12) sie azz furbaz nimer dann ein erbizwazzer und nam all tag ein disciplin und wacht alle naht vor mitin. !Sie aß künftig nichts als ein Erbsenwasser und machte alle Tage eine Bußübung und wachte jede Nacht bis Mitternacht.’

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

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Präkonsonantische doppelte Konsonantenbuchstaben gehen z.T. auf Synkopierungen zurück (Beispiele aus: 1384 [Durandus]): (13) alt: neu:

ettewaz, offene, innerer ettwas, ettleich, ettwann, ettwenn, offner, offne, innrer

Auch im Niederländischen finden Apokopierungen und Synkopierungen in den Nebensilben statt. Dabei wird dann jedoch auch der Konsonantenbuchstabe nicht mehr verdoppelt; zunächst ein Beispiel zur Apokopierung: (14) 1150 1410

[Roelants-lied]: [Abele spelen]:

ic wille ic wil

!ich will’ !ich will’

Ebenso fällt mit der Synkopierung der zweite Konsonantenbuchstabe weg; dies geschieht auch dort, wo beide Formen parallel in einem Text vorkommen: (15) 1350

[Dat lyden] bekennet – bekent (bekennt)

Hier können also bei vergleichbaren Entwicklungen im Sprachsystem – Verlust der ursprünglichen segmental-phonographischen Funktion (phonologischkonsonantische Länge) (vgl. Harbert 2007: 79) – unterschiedliche Prozesse im Schriftsystem beobachtet werden. Während sich das niederländische Schriftsystem unter Beibehaltung des phonographischen Verfahrens den morphophonologischen Veränderungen im Sprachsystem anpasst, behält das deutsche Schriftsystem eine graphemische Form auch nach dem Verlust der ursprünglichen Funktion bei und refunktionalisiert diese dann nach einer variantenreichen Übergangszeit. Wie kam es zu diesen unterschiedlichen Entwicklungen? Einen ersten Hinweis geben die Häufigkeiten doppelter Konsonantenbuchstaben im Deutschen und Niederländischen (s. Abb. 9).

86 ! Rüdiger Weingarten

Prozent 20

15

10

5

0 800

1000

1200

Deutsch 2 Periode gleit. Mittelw. (Deutsch)

1400 Jahr

1600

1800

2000

Niederländisch 2 Periode gleit. Mittelw. (Niederländisch)

Abb. 9: Vergleich der prozentualen Anteile von Wörtern mit im Deutschen und Niederländischen. Die Punkte geben die tatsächlichen Werte an, die Linien den gleitenden Mittelwert.

Mit Beginn der frühen Neuzeit kann im Deutschen eine deutliche Zunahme von Wörtern mit doppelten Konsonantenbuchstaben festgestellt werden, die mit einer auffälligen Zunahme unsystematischer Varianten einhergeht. Diese Entwicklung gibt es im Niederländischen nicht. Man kann also nach dem Funktionsverlust doppelter Konsonantenbuchstaben im Deutschen und im Niederländischen unterschiedliche Entwicklungen feststellen – im Deutschen: deutlich größere Häufigkeit von bei großer unsystematischer Variation, die schließlich zu dem grammatographischen System führte; – im Niederländischen: geringere Varianz und Beibehaltung des phonographischen Prinzips. Man könnte daraus die Hypothese ableiten, dass die größere Varianz im Deutschen zwar sicherlich nicht zwingend zur Grammatographie geführt hat, dass der damit verbundene chaotische Zustand aber einen Druck in dem System erzeugt hat, der nur durch eine neue Regularisierung ausgeglichen werden konnte. Im letzten Abschnitt dieses Beitrags soll noch einmal die Frage diskutiert werden, woher diese Varianz im Deutschen kam und warum sich danach gerade eine grammatographische Form entwickelte.

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

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3 Studie 2: Zur Graphotaxis stimmhafter Plosivbuchstaben Im heutigen Deutschen wie im Niederländischen können im Silbenendrand außer in Silbengelenken keine stimmhaften Plosivlaute vorkommen. Wenn in der Schrift dennoch im Silbenendrand Buchstaben geschrieben werden, die ansonsten stimmhafte Plosive repräsentieren, können sie nicht phonographisch motiviert sein. Entweder werden sie aus einem früheren Sprachzustand beibehalten und sind damit bezogen auf das aktuelle System irregulär wie z.B. in oder in , was jedoch relativ selten ist, oder sie haben eine grammatographische Funktion. Im zweiten Fall verweist die graphemische Wortform mit finalem stimmhaften Plosivbuchstaben auf eine andere Form im Flexionsparadigma (notiert als →m), in der der repräsentierte Konsonant stimmhaft ist: (16) Niederländisch: Deutsch:

/h)p/ →m /ˈ*)ḅn̩/ /g+ːp/ →m /ˈ,+ː.bn̩/

Phonographische Schreibweisen wären * bzw. *, die aber im Niederländischen unzulässig sind. Eine Regel lässt sich für dieses sog. Stammprinzip für das deutsche und das niederländische Schriftsystem in gleicher Weise formulieren: Wenn in einer Wortform eines Lexems ein stimmhafter Plosiv durch ein entsprechendes Graphem verschriftet wird, so wird diese Schreibung auch dann beibehalten, wenn der Plosiv bei diesem Lexem durch morphophonologische Prozesse stimmlos wird. Man kann nun fragen, in welchem zeitlichen Verlauf sich diese grammatographische Funktion in beiden Schriftsystemen entwickelt hat.

3.1 Methode Die beschriebene grammatographische Funktion gilt für den Silbenendrand. In der vorliegenden Untersuchung wird jedoch nur eine Teilmenge dieser Positionen berücksichtigt, nämlich die wortfinale Position. Diese Einschränkung erfolgt aus methodischen Gründen, da sich das Ende graphemischer Wörter automatisch einfacher ermitteln lässt als wortinterne Silbenendränder und damit

88 ! Rüdiger Weingarten größere Textmengen bearbeitet werden können. In einer späteren Studie wäre zu untersuchen, ob sich die Schreibungen an wortfinalen Silbenendrändern anders entwickelt haben als wortintern (vgl. die oben referierten Überlegungen von Ruge). In den untersuchten Texten wird ermittelt, wieviel Prozent aller Wörter auf , oder enden. Vorausgesetzt, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt in der deutschen und niederländischen Lautsprache im Silbenendrand und damit auch am Wortende stimmhafte Plosive nicht mehr vorkommen, verlieren diese Grapheme dort ihre ursprüngliche phonographische Funktion. (Der Zeitpunkt, an dem dieser Lautwandel erfolgt ist, lässt sich nicht exakt bestimmen. Üblicherweise nimmt man an, dass dieser Prozess in mittelhochdeutscher Zeit erfolgte (Vaught 1984), im niederländischen wahrscheinlich noch etwas früher.) Ein niedriger Prozentwert wird im Vergleich zweier schriftgeschichtlicher Zeitpunkte als Hinweis auf eine insgesamt stärker phonographische Ausrichtung interpretiert; höhere Prozentwerte hingegen werden als Hinweise auf mögliche grammatographische Schreibungen interpretiert. Mit diesem relativ einfachen Maß lässt sich für eine größere Textmenge schnell der Grad der Grammatographie in diesem Bereich ermitteln. Mit Stichproben wurde sichergestellt, dass die der Berechnung zugrunde liegende Annahme einer Grammatographie in den jeweiligen Texten auch berechtigt sind, d.h., dass wortfinale stimmhafte Plosivbuchstaben auf andere Wortformen rückführbar sind.

3.2 Material Die Korpora der zweiten Studie stimmen bis auf folgende Unterschiede mit den Korpora der ersten Studie überein: Im deutschen Korpus wurden zwei althochdeutsche Texte (Tatian und Muspilli) weggelassen, da sich im althochdeutschen Zeitraum das untersuchte Phänomen kaum verändert hat. Hingegen wurde im niederländischen Korpus ein Text aus dem Jahr 1711 zusätzlich aufgenommen, da sich die Lücke zwischen 1600 und 1798 als zu groß erwiesen hat (s. Tab. 1). Zeitraum Deutsch Niederländisch

830–2002 1150–2005

Anzahl Texte 15 10

Summe Wörter 224.986 123.982

Tab. 2: Untersuchte Korpora (bibliographische Nachweise s. Anhang 1).

wortfinale 11.073 2.762

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

89

3.3 Ergebnisse In alt- und mittelhochdeutscher Zeit findet man zwar wortfinale stimmhafte Plosivbuchstaben, jedoch in weniger als 3% der Wörter. Mit dem Ende des Mittelhochdeutschen setzt in dem untersuchten Korpus dann eine Phase ausgeprägter Variation ein, die sich dann etwa ab dem 17. Jahrhundert zwischen 6 und 8% einpendelt (s. Abb. 10). Prozent 12 10 8 6 4 2 0 800

1000

1200

1400 Jahr

1600

1800

2000

Abb. 10: Prozentwerte der Wörter mit wortfinalen stimmhaften Plosivbuchstaben im untersuchten deutschen Korpus (vgl. Tab. 5 im Anhang).

Im Niederländischen kommen bis zum 18. Jahrhundert wortfinale stimmhafte Plosivbuchstaben kaum vor bzw. in deutlich unter 2% aller Wörter. In dem untersuchten Korpus pendelt sich ihr Anteil dann ab 1800 in einem Korridor zwischen 4 und 5% ein, also etwas weniger als im Deutschen (s. Abb. 11).

90 ! Rüdiger Weingarten Prozent 6 5 4 3 2 1 0 1100

1300

1500

Jahr

1700

1900

2100

Abb. 11: Prozentwerte der Wörter mit wortfinalen stimmhaften Plosivbuchstaben im untersuchten niederländischen Korpus (vgl. Tab. 6 im Anhang).

Legt man die deutsche und die niederländische Entwicklungskurve übereinander, so werden die Unterschiede deutlich (s. Abb. 12; aus darstellungstechnischen Gründen wurden die Kurven mit einem gleitenden Mittelwert geglättet – Zusammenfassung zweier benachbarter Werte in einem Mittelwert). Die Ausgangs- und die Endsituationen sind vergleichbar: In beiden Schriftsystemen kommen stimmhafte Plosivbuchstaben zunächst selten vor und am Ende liegt dann eine etwa 4% höhere Häufigkeit vor. Unterschiede findet man im mittleren Abschnitt, der frühen Neuzeit, wo im Deutschen eine ausgeprägte Variation vorlag. Auch hier muss natürlich betont werden, dass diese Ergebnisse zunächst nur für das untersuchte Korpus gelten. Sie können aber durch die nachfolgenden Einzelbetrachtungen plausibel gemacht werden. Je nach Betrachtungsweise könnte man auch einwenden, dass Veränderungen im Bereich von fünf Prozent als nicht sehr hoch erscheinen. Relativ zum Ausgangszeitraum verdoppelt sich jedoch der Anteil wortfinaler stimmhafter Plosivbuchstaben.

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

91

Prozent 12 10 8 6 4 2 0 800

1000

1200

Deutsch 2 Periode gleit. Mittelw. (Deutsch)

1400 Jahr

1600

1800

2000

Niederländisch 2 Periode gleit. Mittelw. (Niederländisch)

Abb. 12: Vergleich der Anteile wortfinaler stimmhafter Plosivbuchstaben an der Gesamtmenge stimmhafter Plosivbuchstaben im Deutschen und Niederländischen. Die Punkte geben die tatsächlichen Werte an, die Linien den gleitenden Mittelwert.

Nach dem hier unterbreiteten Interpretationsvorschlag würden also die grammatographischen Schreibungen in diesem Bereich im Deutschen mit einem sprunghaften Anstieg wortfinaler stimmhafter Plosivbuchstaben ab der Mitte des 14. Jhds. und damit früher eintreten als im Niederländischen im 18. Jahrhundert. Ein Blick in die Texte gibt Hinweise auf mögliche Ursachen für das Aufkommen der Grammatographie. Zunächst verändert sich im Deutschen wie im Niederländischen das Sprachsystem, wodurch stimmhafte Plosivbuchstaben an das Wortende rücken: Die zugrunde liegenden Phänomene gehören zum Bereich der Nebensilbenschwächung, wobei zunächst apokopierte und nichtapokopierte Formen parallel vorkommen: (17) a. Deutsch 1378 [Psalter]: 1384 [Durandus]: b. Niederländisch 1150 [Roelants-lied] 1579 [Bechlach] 1798 [Edipus]

deme munde (2x) dem mund (3x) ic hebbe (9x) ick hebbe (14x) ik hebbe (1x)

ic heb (5x) ick heb (6x) ik heb (31x)

92 ! Rüdiger Weingarten Insbesondere in den niederländischen Beispielen wird deutlich, wie der Anteil der apokopierten Wortformen über die drei Zeitabschnitte zunimmt. Die Apokopierung führt aber zunächst nicht automatisch zur Beibehaltung des stimmhaften Buchstabens, sondern häufig zu Schreibvariation: (18) a. Deutsch 1378 [Psalter]: 1384 [Durandus]: b. Niederländisch 1150 [Roelants-lied] 1410 [Abele spelen] 1579 [Bechlach] 1789 [Edipus]

lop (2x) – lob (1x) lob (13x)

selik (3x) – selig (1x) selig (1x)

vrient (1x) (vriendelyck) vrient (5x) (vriendelijc) vrient (2x) vriend (1x) vriendt (2x) (vriendinne) vriend (2x) (vrienden)

Nachdem die Plosive durch Apokopierung an das Wortende gerückt waren, wurden für einen gewissen Zeitraum phonographische parallel zu grammatographischen Schreibungen verwendet. Diese Variationen werden dann zugunsten der grammatographischen Schreibung ausgeglichen. Weiterhin gibt es aber in geringerem Umfang Schreibungen, die synchron weder phonographisch noch grammatographisch herleitbar sind, insbesondere wohl bei hochfrequenten Wörtern: (19)

1378 1384

[Psalter]: [Durandus]:

vnde (22x) vnd (2x) unde (0x) und (468)

3.4 Diskussion In beiden Schriftentwicklungen sind der phonographische Anfangs- und der grammatographische Endzustand vergleichbar und nur im mittleren Abschnitt ist das Deutsche nach dem hier zugrunde gelegten Korpus durch ausgeprägtere Variation gekennzeichnet. Ob tatsächlich etwa im Althochdeutschen ein Graphem phonographisch zu lesen ist, lässt sich in Ermangelung lautlicher Daten natürlich nicht direkt belegen. Zumindest für die hier untersuchten Grapheme für stimmhafte Plosive nimmt die historische Phonologie dies jedoch an, so dass die aufgestellte These hier gut vertretbar ist (vgl. hierzu Bergmann, Pauly & Moulin 72007: 140). Im Rahmen der im Korpus beobachteten Variationen erscheint auch eine große Anzahl von Schreibungen, die nicht aus anderen Wortformen herleitbar sind. Den Anstoß für die Grammatographie haben die Veränderungen im Sprachsystem gegeben: Apokopierung und Synkopierung, wo-

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

93

durch die wort- bzw. silbenfinalen Positionen entstanden, in der die Plosive entstimmt wurden. Dadurch ergab sich eine neue Situation mit den Alternativen, den apokopierten Vokalbuchstaben in der Schreibung einfach nur wegzulassen und ansonsten keine Veränderung vorzunehmen – damit rutscht der stimmhafte Konsonantenbuchstabe ans Wort- bzw. Silbenende – oder aber die Schreibung an die neuen phonologischen Verhältnisse anzupassen und einen stimmlosen Konsonantenbuchstaben zu verwenden. Nach anfänglicher Entscheidungsunsicherheit setzte sich das Verfahren der einfachen Weglassung des Vokalbuchstabens in einem internen Angleichungsprozess durch.

4 Gesamtdiskussion In beiden hier vorgelegten Studien zur Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben und zu stimmhaften Plosivbuchstaben am Wortende wurde festgestellt, dass im deutschen und im niederländischen Schriftsystem grammatographische Verfahren erst in einem späteren Verlauf der Schriftgeschichte nach einer anfänglich primär phonographischen Schreibung auftraten. In weiteren Untersuchungen wäre zu überprüfen, ob sich diese Beobachtung dahingehend verallgemeinern lässt, dass die Grammatographie grundsätzlich ein schriftgeschichtlich jüngeres Phänomen ist (vgl. dazu Raible 1991). Auch für andere Bereiche der Grammatographie wie die Interpunktion, die Worttrennung am Zeilenende und die Groß-/Kleinschreibung könnte das gezeigt werden. Hieran schließen sich zwei Fragen an: Warum entwickelt sich Grammatographie überhaupt? Und: Warum entwickelt sie sich schriftgeschichtlich später? Ein wichtiger Schritt für die Herausbildung der Grammatographie könnte die Verbreitung des leisen Lesens gewesen sein, das erst allmählich die im Mittelalter immer noch übliche Praxis des lauten Lesens verdrängte (vgl. Saenger 1997). Dadurch wurde die Bedeutung des phonologischen Weges für die Dekodierung eines Wortes geringer und auf der anderen Seite die Bedeutung der graphemischen Form – zumindest im Deutschen – größer, was wiederum die graphemische Konstantschreibung begünstigt haben mag. Für die mit dem leisen Lesen einhergehende höhere Lesegeschwindigkeit könnte auch die graphemische Verdeutlichung grammatischer Strukturen ein gutes Hilfsmittel gewesen sein. Zu der Hypothese, dass das Aufkommen der Grammatographie mit veränderten Leseprozessen zusammenhängt, passt auch der Zeitpunkt ihrer Entstehung: In beiden Schriftsystemen entwickelt sich die Grammatographie zeitgleich mit der vor allem durch den Buchdruck bedingten quantitativen Zunahme des Lesens. Dies betrifft die individuell zu verarbeitende größere Menge

94 ! Rüdiger Weingarten gedruckter Werke sowie die Erweiterung der lesenden gesellschaftlichen Schichten. Für das nicht nur rezitierende, sondern informationsverarbeitende, schnelle, leise Lesen wird die Verdeutlichung sprachlicher Strukturen wichtiger als die phonographische Genauigkeit. Hinsichtlich der beiden hier untersuchten Phänomene zeigen sich aber auch deutliche Unterschiede zwischen dem deutschen und dem niederländischen Schriftsystem. Bei gleichen phonographischen Ausgangsbedingungen und im Wesentlichen gleichen sprachsystematischen Veränderungen (Apokopierung und Synkopierung) hat das Deutsche in beiden Fällen ein grammatographisches System entwickelt und das Niederländische nur in einem Fall. Es stellt sich also die Frage, warum es zu dieser unterschiedlichen Entwicklung kam. In beiden Studien konnte festgestellt werden, dass das Deutsche in der frühen Neuzeit eine ausgeprägte Variation in den Schreibungen aufweist, während das Niederländische im gesamten betrachteten Zeitraum als homogener erscheint. Der größere deutsche Sprach- und Schreibraum und damit die größere dialektale Zersplitterung des Deutschen dürften zu dieser Variantenexplosion geführt haben. Darin könnte auch eine Ursache für die insgesamt ausgebautere Grammatographie im Deutschen liegen: Da das System einer die Sprechsprachen überdachenden Schriftsprache ohnehin weniger der lautlichen Vielfalt der einzelnen Sprechsprachen gerecht werden konnte, es also immer auf die eine oder andere Weise phonographisch defizitär war, erhielt es eine größere Eigenständigkeit gegenüber den Sprechsprachen und es entstand möglicherweise ein Druck, den phonographischen Mangel dadurch auszugleichen, dass andere Strukturen der Sprache, und in diesem Falle dann eben grammatische, in der Schrift verdeutlicht wurden. Folgt man dieser Hypothese, so würde damit zwar die insgesamt weiter ausgebaute Grammatikalisierung des deutschen Schriftsystems erklärt werden, aber immer noch nicht die Beobachtung, dass das Niederländische bei silbenfinalen Plosiven grammatographische Konstantschreibung vornimmt, bei doppelten Konsonantenbuchstaben jedoch nicht. Eine zwingende Erklärung dafür kann in den vorliegenden Daten nicht gefunden werden. Möglicherweise ist sie eher in den Konstruktionen selbst zu finden als in den sprach- und schriftgeschichtlichen Umständen. Dies sei an der Schreibung diskutiert (ˈ*ˈ kennzeichnet eine nicht beobachtete Form, ˈ→/ˈ die Blockade einer möglichen, abgeleiteten Form): (20) hebben

→/ *hep ↳ heb

→/ *hebb

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

95

1. Ein grammatographisches Ähnlichkeits- bzw. Konstanzprinzip blockiert die einem segmental phonographischen Prinzip folgende Schreibung *, was eine Beibehaltung des begünstigt. 2. In der Konkurrenz zwischen und * setzt sich aber ein phonographisches Prinzip durch, nach dem repräsentiert, was in der einsilbigen Wortform aber nicht der Fall ist. Im deutschen Schriftsystem setzt sich hingegen, wie eingangs an dem Wort erläutert, die Grammatographie sowohl gegen das segmentale – * – als auch das suprasegmentale phonographische Prinzip – * – durch. Ordnet man die drei Prinzipien in beiden Schriftsystemen, so kommt man zu unterschiedlichen Rangfolgen: (21) Deutsch 1. Grammatographie 2. Suprasegmentale Phonographie 3. Segmentale Phonographie

Niederländisch 1. Suprasegmentale Phonographie 2. Grammatographie 3. Segmentale Phonographie

Daran wird deutlich, dass im Deutschen im Vergleich zum Niederländischen die Grammatographie höher gewichtet ist. Dies mag mit dem hier größeren Abstand zwischen den frühen Schreib- und Sprechsprachen und der damit größeren Eigenständigkeit der Schreibsprache zusammenhängen.

5 Literatur Bergmann, Rolf, Peter Pauly & Claudine Moulin. 2007. Alt- und Mittelhochdeutsch. Arbeitsbuch zur Grammatik der älteren deutschen Sprachstufen und zur deutschen Sprachgeschichte. 7. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Braune, Wilhelm. 1987. Althochdeutsche Grammatik. 14. Aufl., bearb. von Hans Eggers. Tübingen: Niemeyer. Eisenberg, Peter. 1998. Grundriß der deutschen Grammatik. Band 1: Das Wort. Stuttgart & Weimar: Metzler. Ewald, Petra. 2004. Das morphematische Prinzip bei den Grammatikern des 18. Jahrhunderts. Sprachwissenschaft 29. 75–132. Gottsched, Johann Christoph. 1748 (3. Aufl. 1752). Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst, Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts abgefasset. Leipzig: Breitkopf. Günther, Hartmut. 1999. Entwicklungen in der deutschen Orthographie 1522–1797 – eine Etüde. In Maria Pümpel-Mader & Beatrix Schönherr (Hgg.): Sprache – Kultur – Geschichte. Sprachhistorische Studien zum Deutschen, 171–182. Innsbruck: Inst. für Germanistik. Harbert, Wayne. 2007. The Germanic Languages. Cambridge: Cambridge University Press. Iverson, Gregory K. & Joseph C. Salmons. 2007. Domains and directionality in the evolution of German final fortition. Phonology 24. 1–25.

96 ! Rüdiger Weingarten Megen, Jan van & Anneke Neijt. 1998. Niederländische und deutsche Orthographie im Vergleich. Deutsche Sprache 26. 193–217. Mihm, Arend. 2004. Zur Geschichte der Auslautverhärtung und ihrer Erforschung. Sprachwissenschaft 29. 133–206. Nederlandse Taalunie. 2000–2011. Woordenlijst Nederlandse Taal – Officiële Spelling. http://woordenlijst.org/ Raible, Wolfgang. 1991. Zur Entwicklung von Alphabetschrift-Systemen. Is fecit cui prodest. Heidelberg: Winter. (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Jahrgang 1991, 1). Rieke, Ursula. 1998. Studien zur Herausbildung der neuhochdeutschen Orthographie. Die Markierung der Vokalquantitäten in deutschsprachigen Bibeldrucken des 16.–18. Jahrhunderts. Heidelberg: Winter. Ruge, Nikolaus. 2004. Aufkommen und Durchsetzung morphembezogener Schreibungen im Deutschen 1500–1770. Heidelberg: Winter. Saenger, Paul. 1977. Space between Words. The Origins of Silent Reading. Stanford: Stanford University Press. Vaught, George M. 1984. A study of Auslautverhärtung in Old High German. Ann Arbor. Univ. Microfilms Internat. Weingarten, Rüdiger. 2013. Graphematischer Wandel und Grammatikalisierung. In Grucza, Franciszek & Jianhua Zhu (Hgg.), Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit. Akten des XII. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik (IVG), 113–118. Warschau 2010. Frankfurt/Main: Lang.

Anhang 1: Korpora (Die Zahlen in geschweiften Klammern geben an, für welche der beiden Studien die Texte verwendet wurden. Bis auf den Tatian wurden alle Texte vollständig ausgewertet.)

a. Deutsches Korpus 830 [Hildebrandslied] {1,2} Elektronische Version: http://www.indogermanistik.uni-jena.de/dokumente/Weitere/Hildebrandlied.pdf vor 850 [Tatian] {1} Stichprobe mit 808 Wörtern aus zufällig ausgewählten Seiten aus: Eduard Sievers (Hg.). 2 1961. Tatian. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 870 [Muspilli] {1} Aus: Älteste deutsche Dichtung und Prosa. Ausgewählte Texte, literaturgeschichtliche Einleitung, althochdeutsche und altsächsische Texte, neuhochdeutsche Fassungen. Hg.: Heinz Mettke, Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun. 1982. Elektronische Version: http://www.hs-augsburg.de/~harsch/augustana.html

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

97

1080 [Annolied] {1,2} Das Annolied. 1. Teil (I) Prolog. Bibliotheca Germanica. Mittelhochdeutsche Literatur. Elektronische Version: BIBLIOTHECA AUGUSTANA. http://www.hs-augsburg.de/~harsch/augustana.html vor 1280 [Nibelungen] {1,2} Nibelungenlied Handschrift A (letztes Viertel des 13.Jhd.). Elektronische Version: http://germanistik.univie.ac.at/index.php?id=14531 vor 1350 [Engelthal] {1,2} Der Nonne von Engelthal Büchlein von der genaden uberlast. Textgrundlage: Schröder, K. (Hg.): Der Nonne von Engelthal Büchlein von der genaden uberlast. Stuttgart/ Tübingen 1871 (BLV 108) – Entstanden: vor 1350 (Nachwort Seite 65) – Überlieferung: Pergamenths. des 14. Jhs. Elektronische Version: Thomas Gloning 2/1997. http://www.uni-giessen.de/gloning/tx/1350engt.htm vor 1350 [Predigten] {1,2} Altdeutsche Predigten. 1. Band: Texte. Anton E. Schönbach (Hg.), Graz 1886. Elektronische Version: Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus: Text 141. http://www.korpora.org/Fnhd/. (bei der Auswertung wurden die lateinischen Textteile nicht berücksichtigt). 1352 [Merswin] {1,2} Rulmann Merswin, Mannen, Straßburg 1352. Elektronische Version: Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus: Text 231. http://www.korpora.org/Fnhd/ 1378 [Psalter] {1,2} Zwei Psalter aus dem 14. Jahrhundert (Dresden MS. 287 und Hamburg in SCR. 142) und drei verwandte Bruchstücke aus Schleiz, Breslau und Düsseldorf. H. Eggers (Hg.), Berlin 1962. Elektronische Version: Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus: Text 251. http://www.korpora.org/Fnhd/ 1378 [Buch Köln] {1,2} Dat nuwe Boych. Zünfte und Bruderschaften. Quellen zur Geschichte der Stadt Köln, Bd. I. Leonard Ennen und Gottfried Eckertz (Hg.), Köln 1860. Elektronische Version: Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus: Text 151. http://www.korpora.org/Fnhd/ 1384 [Durandus] {1,2} Durandus’ Rationale in spätmittelhochdeutscher Übersetzung. Das vierte Buch nach der HS. CVP 2765 G.H. Buijssen (Hg.), Assen 1966 (STTHG, Bd. 172), Umfang: 369 S. Elektronische Version: Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus: Text 111. http://www.korpora.org/Fnhd/ 1390 [Heilsbronn] {1,2} Mönch von Heilsbronn, Von den sechs Namen des Fronleichnams. Erster Text der Sammelhandschrift der Stadtbibliothek Nürnberg Cent. IV, 38. (ohne Titel: wir lesen an den puchen daz der formleichnam gotes den er zv ainer speis hat gemachet seinen kindern sehs namen hat (...) Bl. 1ra–39vb.). Elektronische Version: Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus: Text 131. http://www.korpora.org/Fnhd/ 1392 [Mair] {1,2} Das „Buch von Troja“ von Hans Mair. Kritische Textausgabe und Untersuchung Hans-Josef Dreckmann (Hrsg), München 1970. Elektronische Version: Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus: Text 221. http://www.korpora.org/Fnhd/ 1486 [Neidhart] {1,2}

98 ! Rüdiger Weingarten Der Eunuchus des Terenz. Uebersetzt von Hans Neidhart 1486. Textgrundlage: Hermann Fischer (Hrsg), Tübingen 1915 (BLV, Bd. 265). Elektronische Version: Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus: Text 123. http://www.korpora.org/Fnhd/ 1599 [Ralegh] {1,2} Americæ achter Theil / in welchem erstlich beschrieben wirt das maechtige vnd goldtreiche Koenigreich Guiana (...) durch (...) Walthern Ralegh Rittern und Hauptmann vber jrer koen. mayest. auß Engellandt Leibs Guardi (...). Alles erstlich in engellændischer Sprach außgangen / jetzt aber auß der ollændischen Translation in die hochteutsche Sprache gebracht / durch Avgvstinum Cassiodorvm Reinivm (...) an Tag gegeben durch Dieterschen von Bryseligen hinderlassenen Erben. Frankfurt 1599, Druck: Matthäus Becker. Elektronische Version: Das Bonner Frühneuhochdeutschkorpus: Text 123. http://www.korpora.org/Fnhd/ 1748 [Gellert] {1,2} Christian Fürchtegott Gellert. Das Leben der Schwedischen Gräfinn von G***. 1748. Text nach der Erstausgabe, Leipzig 1748. auf der Grundlage der digitalen Ausgabe der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Elektronische Version: BIBLIOTHECA AUGUSTANA (Teil 1.1 und 1.2). http://www.hs-augsburg.de/~harsch/augustana.html 2002 [Krahl] {1,2} Uwe Wesel, Der Krahl (DIE ZEIT, 12. 9. 2002). Elektronische Version: BIBLLIOTHECA AUGUSTANA. http://www.hs-augsburg.de/~harsch/augustana.html

b. Niederländisches Korpus 1150 [Roelants-lied] {1,2} Het Roelants-lied. Aus: C.P. Serrure (red.), Vaderlandsch museum voor Nederduitsche letterkunde, oudheid en geschiedenis (Tweede deel). C. Annoot-Braeckman, Gent 1858. Elektronische Version: http://www.dbnl.org/ 1350 [Dat lyden] {1,2} Dat lyden ende die passie ons Heren Jhesu Christi. Aus: Alfred Holder. J.B. Wolters, Groningen 1877. Elektronische Version: http://www.dbnl.org/ 1410 [Abele spelen] {1,2} Abele spelen. Vanden winter ende vanden somer. Aus: Instituut voor Nederlandse Lexicologie (samenstelling en redactie), Cd-rom Middelnederlands. Sdu Uitgevers/Standaard Uitgeverij, Den Haag/Antwerpen 1998. Elektronische Version: http://www.dbnl.org/ 1516 [doot] {1,2} Jan van den Dale. De wre vander doot. Aus: Jan van den Dale, Gekende werken (ed. G. Degroote). De Nederlandsche boekhandel, Antwerpen 1944. Elektronische Version: http://www.dbnl.org/ 1579 [Bechlach] {1,2} Het Bechlach van Joncheer Jan van Hembyze. Aus: Ph. Blommaert (ed.), Beclach van Joncheer Jan van Hembyse. Z.n., Gent 1839. Elektronische Version: http://www.dbnl.org/ 1600 [lamentatie] {1,2} Een beclach ende lamentatie. Aus: Zegher van Male, Lamentatie behelzende wat datter aenmerkensweerdig geschiet is ten tyde van de Geuserie ende de Beeldenstormerie binnen ende omtrent de stadt van Brugghe (ed. C. Carton). Vanderhaeghen-Hulin, Gent 1859. Elektronische Version: http://www.dbnl.org/

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

99

1711 [Moskovie] {2} Cornelis de Bruyn. Reizen over Moskovie. Aus: Cornelis de Bruyn, Reizen over Moskovie. Een Hollandse schilder ontmoet tsaar Peter de Grote (ed. Kiki Hannema). Stichting Terra Incognita, Amsterdam 1996. Elektronische Version: http://www.dbnl.org/ 1789 [Edipus] {1,2} Willem Bilderdijk. De dood van Edipus. Aus: Willem Bilderdijk, De dichtwerken van Bilderdijk. Deel 3. A.C. Kruseman, Haarlem 1857. Elektronische Version: http://www.dbnl.org/ 1860 [Wijsgeerte] {1,2} Philippus Wilhelmus van Heusde. De Socratische school of Wijsgeerte voor de negentiende eeuw. – Het verband der kunsten en wetenschappen, of onderzoek naar ’s menschen waarheidszin. Aus: Philippus Wilhelmus van Heusde, De Socratische school of Wijsgeerte voor de negentiende eeuw. H. Geertsema, Jr. en J.B. Huber, Groningen 1860 (3de verbeterde druk). Elektronische Version: http://www.dbnl.org/ 2005 [Met Kok] {1,2} Met Kok. Over veranderend Nederland. Moeizaam fietsen met de wind mee. Wim Kok in het politiek bestuur. Henk te Velde. Aus: Piet de Rooy en Henk te Velde, Met Kok. Over veranderend Nederland. Uitgeverij Wereldbibliotheek, Amsterdam 2005. Elektronische Version: http://www.dbnl.org/

Anhang 2: Tabellen Jahr

VCCV

CCCV

VCCC

CCCC

VCC-

830

94,0

3,0

3,0

0

0

CCC0

840 870

94,0 100,0

3,0 0

3,0 0

0 0

0 0

0 0

1080

97,2

0

2,4

0

0,4

0

1270 1340

99,7 88,2

0 1,1

0 0,7

0 0

0,2 10,0

0 0

1340 1352

97,5 99,4

0,5 0,6

2 0

0 0

0 0

0 0

1378 1378

98,5 71,7

1,3 0

0 4,8

0 0,5

0,2 13,1

0 10,0

1384

41,4

3,2

8,8

0,1

44,1

2,4

1390 1392

73,3 46,8

6,9 1,4

0,3 10,1

0 1,9

19,2 38,2

0,4 1,6

1486 1599

46,3 44,3

1,9 0,8

18,1 19,3

2,0 0,6

29,7 34,0

2,0 1,0

1748

48,3

0

17,8

0

33,4

0

2002

53,4

0,3

19,0

1,7

24,8

0,7

Tab. 3: Verdoppelungen von Konsonantenbuchstaben in unterschiedlichen Umgebungen im untersuchten deutschen Korpus.

100 ! Rüdiger Weingarten Jahr

VCCV

CCCV

VCCC

VCC_

CCC_

CCCC

1150

93,4

1

5,7

0

0

0

1350

97,9

0,8

1,3

0

0,07

0

1410

91,9

0

8,1

0

0

0

1516

86,5

7,7

5,8

0

0

0

1579

95,2

0

4,8

0

0

0

1600

83,3

0,2

16,0

0

0

0,2

1789

87,1

4,0

5,9

0,9

0

0,3

1860

97,4

1,5

0,9

0,1

0

0

2005

95,5

2,7

1,2

0

0

0,3

Tab. 4: Verdoppelungen von Konsonantenbuchstaben in unterschiedlichen Umgebungen im untersuchten niederländischen Korpus (vgl. Tab. 4 im Anhang). Jahr

Prozent

830

2,5

1080

2,4

1250

1,4

1300

7,1

1330

5,0

1352

6,9

1378

0,5

1378

8,8

1384

8,3

1390

4,9

1392

11,5

1486

7,7

1599

7,0

1748

7,1

2002

6,2

Tab. 5: Prozentwerte der Wörter mit wortfinalen stimmhaften Plosivbuchstaben im untersuchten deutschen Korpus.

Grammatographische Entwicklungen im Deutschen und Niederländischen !

Jahr

Prozent

1150

0,4

1350

0,2

1410

0,2

1516

0,3

1579

0,4

1600

0,6

1711

1,3

1789

5,1

1860

4,9

2005

4,4

101

Tab. 6: Prozentwerte der Wörter mit wortfinalen stimmhaften Plosivbuchstaben im untersuchten niederländischen Korpus.

Susanne R. Borgwaldt

Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-Komposita Distribution und Funktion

1 Komposition Neben der Derivation gehört die Komposition zu den produktivsten Wortbildungsprozessen im Deutschen. Nach semantischen Kriterien werden oft drei Grundtypen von Komposita unterschieden: Determinativkomposita, Possessivkomposita und Kopulativkomposita. Bei Determinativkomposita, dem häufigsten Kompositionstyp deutscher Nominalkomposita (Ortner 1991: 112), modifiziert die erste Konstituente, das Determinans, die zweite Konstituente, das Determinatum: ein Strandhaus ist eine bestimmte Art Haus, ein Haus, das sich am Strand befindet, eine Kirschtomate ist eine Tomatensorte, nämlich eine Tomate, die einer Kirsche ähnelt. Auch bei Possessivkomposita modifiziert die erste Konstituente die zweite, wie im Beispiel Rotkehlchen. Hier liegt jedoch der Referent außerhalb der Denotation der zweiten Konstituente: ein Rotkehlchen ist ein Vogel, dessen Kehle rot ist und kein Kehlchen. Bei Kopulativkomposita ist das Verhältnis zwischen erster und zweiter Konstituente parataktisch, beide Konstituenten sind semantisch gleichwertig: Mecklenburg-Vorpommern ist ein Bundesland, das durch den Zusammenschluss von Mecklenburg und Vorpommern entstanden ist, süß-sauer schmeckt sowohl süß als auch sauer. Wissen wir, dass ein Kompositum aus den Konstituenten A und B besteht, und liegt uns nur diese Information vor, so ist die Form des Kompositums auf maximal drei Ebenen unterspezifiziert und kann dementsprechend variieren: Bei Kopulativkomposita ist die Anordnung der Konstituenten prinzipiell austauschbar (weiß-blau und blau-weiß), meistens ist jedoch nur eine Reihenfolge lexikalisiert; bei Determinativ- und Possessivkomposita ist sie durch die Semantik vorgegeben und nicht variierbar (Feldsalat vs. Salatfeld). Des Weiteren treten manche Komposita mit unterschiedlichen Fugenelementen auf: Im Kernkorpus des Projekts Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS) an der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften kommt beispielsweise sowohl Bahnhofrestaurant als auch die Variante mit Fugen-s Bahnhofsrestaurant vor, in der linguistischen Fachliteratur findet man Kompositumbildung und

104 ! Susanne R. Borgwaldt Kompositabildung. Bei der Schreibung von Komposita gibt es eine zusätzliche Variationsmöglichkeit, einige Komposita existieren sowohl mit als auch ohne Bindestrich; im DWDS-Korpus findet sich zum Beispiel Fabrik-Gebäude und Fabrikgebäude. Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist die Variation auf den beiden letztgenannten Ebenen, d.h. die Distribution von Fugenelementen und Bindestrichen in neugebildeten Determinativ- und Kopulativkomposita.

1.1 Fugenelemente in Komposita Korpusstudien belegen, dass weniger als ein Drittel der deutschen Nominalkomposita Fugenelemente besitzen (z. B. Wellmann 1991: 69, Krott, Schreuder, Baayen & Dressler 2007: 27); die Form des Fugenelements hängt hauptsächlich vom Erstglied des Kompositums ab (Krott et al. 2007). Teilweise können Lexeme auch mit unterschiedlichen Fugen auftreten, beispielsweise Mann mit Nullfuge in Manndeckung, mit -es in Mannesalter, mit -s in Mannsbild und mit Umlaut und -er in Männerstimme. Diese Variation zeigen nach Augst (1975: 133) aber nur ca. 10% aller Lexeme. Deutschen Muttersprachlern bereitet es im Allgemeinen keine Schwierigkeiten, bei der Bildung neuer Komposita das passende Fugenelement (bzw. eines der potentiellen Fugenelemente) auszuwählen (Libben, Boniecki, Martha, Mittermann, Korecky-Kröll & Dressler 2009). Die Funktion der Fugenelemente wird kontrovers diskutiert: Häufig wird bei einer synchronen Betrachtungsweise von Multifunktionalität ausgegangen (z.B. Michel 2009: 337), die beiden am häufigsten angenommenen Funktionen sind Ausspracheerleichterung (z.B. Donalies 2005: 45, Wegener 2005: 177, Michel 2009: 337) und Markierung der Morphemgrenzen (z.B. Wellmann 1991: 51, Fuhrhop 1996: 530, Eisenberg 2006: 241, Fleischer & Barz 2012: 67). Andere Wissenschaftler (z.B. Bußmann 2002: 228, Neef 2009 und Neef & Borgwaldt 2012) nehmen jedoch an, dass Fugenelemente (synchron) nicht funktional erklärt werden können Dass Fugenelemente die Aussprache eines Kompositums erleichtern können, ist beispielsweise durch den Umstand motiviert, dass ohne Fugenelemente an der Grenze zwischen den Konstituenten eines Kompositums häufig recht komplexe Konsonantencluster auftreten würden, da die phonotaktischen Regeln des Deutschen sowohl komplexe Onsets als auch komplexe Kodas zulassen. Silbische Fugenelemente wie -e (Hundehütte), -er (Kinderwagen) oder -en (Linguistenschwemme) lösen diese Konsonantencluster auf und sorgen für eine trochäische Struktur (Nübling & Szczepaniak 2009: 199). Allerdings haben nicht alle Fugenelemente die Funktion, Konsonantencluster zu vermeiden, beispiels-

Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-Komposita !

105

weise bei Sonnenmilch oder Liebeskummer entsteht das Konsonantencluster ja erst durch das Fugenelement. In der Literatur wird häufig nur mit Einzelbeispielen argumentiert; in Untersuchungen mit kontrollierten Stimuli (beispielweise Varianten von Pseudokomposita, jeweils mit und ohne Fugenelement, wie Patkrolme und Patskrolme) könnte man den vermuteten prosodisch-phonetischen Nutzen von Fugenelementen in Komposita empirisch überprüfen. Eine weitere mögliche Funktion der Fugenelemente besteht darin, die Grenze zwischen den Konstituenten eines Kompositums zu markieren und dadurch beim Lesen das Segmentieren eines Kompositums in seine Komponenten zu erleichtern. Unterstützt wird diese Annahme durch die Distribution der Fugenelemente in dreigliedrigen Komposita: Bei hierarchisch gegliederten dreigliedrigen Komposita wie z.B. Bahnhofshalle oder Hallenhandball wird meistens die Haupttrennfuge durch Fugenelemente markiert (Krott, Libben, Jarema, Dressler, Schreuder & Baayen 2004). Das hilft dabei, die Konstituentenstruktur als linksverzweigend oder rechtsverzweigend zu identifizieren. Diese Information wird zur semantischen Interpretation des Kompositums benötigt. Dressler (2006) wendet jedoch ein, dass Fugenelemente auch das Lesen eines Kompositums behindern könnten, da sie die Identifikation der Konstituenten erschweren und somit die morphologische Transparenz des Kompositums reduzieren. Zusammengefasst: Im Deutschen können Komposita mit wechselnden Fugenelementen auftreten, es ist noch nicht hinreichend geklärt, welche Funktion(en) Fugenelemente besitzen und nicht in allen Fällen ist exakt vorhersagbar, welches Fugenelement in einem bestimmten Kompositum auftritt.

1.2 Bindestriche in Komposita Die Funktion des Bindestriches in Komposita (nach Gallmann (1989) präziser Kopplungsstrich) scheint sich eindeutiger bestimmen zu lassen als die der Fugenelemente: Die amtliche Regelung der Rechtschreibung in der Fassung von 2006 erläutert im Abschnitt C „(1) Der Bindestrich bietet dem Schreibenden die Möglichkeit (...) die einzelnen Bestandteile als solche zu kennzeichnen, sie gegeneinander abzusetzen und sie dadurch für den Lesenden hervorzuheben.“ (Rat für deutsche Rechtschreibung 2006: 45) Die primäre Funktion scheint also die eines Grenzsignals zu sein: Ein Bindestrich markiert Morphemgrenzen und segmentiert so komplexe Wörter in ihre Konstituenten, wie beispielsweise in Erbgut-Müll, Nano-Filter oder Zuschussrenten-Modell, Neologismen, die in der Tagespresse auftreten (Lemnitzer 2012). Diese Funktion, die dem Leser die Interpretation des Kompositums erleichtert, kann auch durch andere Mittel erreicht werden, beispielsweise durch Spatium,

106 ! Susanne R. Borgwaldt Apostroph oder Binnenmajuskel (vgl. Scherer 2012: 66). Neben der Segmentierung drückt der Bindestrich zusätzlich Kohäsion aus, er zeigt, dass die beiden Teile links und rechts des Bindestriches zusammengehören, dass es sich um ein Wort handelt (Nerius 2007: 188), diese Information wird durch das Spatium nicht geliefert. Die Regeln, wann es beim Schreiben eines Kompositums erlaubt ist, einen Bindestrich zwischen die Konstituenten einzufügen, sind in § 45 der amtlichen Regelung der Rechtschreibung recht vage formuliert: „zur Hervorhebung einzelner Bestandteile, zur Gliederung unübersichtlicher Bestandteile, zur Vermeidung von Missverständnissen oder beim Zusammentreffen von drei gleichen Buchstaben.“ (Rat für deutsche Rechtschreibung 2006: 48) Die Verwendung der Bindestriche beim Schreiben von Komposita wird sowohl im öffentlichen Diskurs als auch in der sprachkritischen Literatur diskutiert: Dabei wird kritisiert, dass der Bindestrich im allgemeinen zu häufig verwendet wird (siehe beispielsweise Starke 1993, Heller 2000, Sick 2005, Niederhauser 2006).

1.3 Fugenelemente und Bindestriche in Determinativkomposita und Kopulativkomposita Grundsätzlich könnte eine weitere Funktion von Bindestrichen und/oder Fugenelementen darin bestehen, zwischen Determinativ- und Kopulativkomposita zu disambiguieren. So enthalten Kopulativkomposita nach Wellmann (1991: 57) keine Fugenelemente: Komposita, deren Elemente in parataktischer Beziehung zueinander stehen (Kopulativkomposita), werden – unabhängig von der Art des Erstgliedes – immer ohne Fugenelement gebildet: Gottmensch, Strichpunkt, Prinzgemahl; nasskalt, gelbweiß usw. Das fällt besonders ins Auge, wo sie als Bindestrich graphisch abgehoben sind, wie bei DichterKomponist, bekannt-beliebt, usw.

Natürlich fallen einem zur postulierten Fugenlosigkeit der Kopulativkomposita schnell Gegenbeispiele ein, beispielsweise der Hosenrock, mit Fugenelement -n. Er wird in einigen linguistischen Einführungslehrwerken (z.B. Alber 2004: 71, Ortner 1991: 115, Pörings & Schmitz 2003: 64, Vater 1999: 77) als prototypisches Kopulativkompositum angeführt. Manche Autoren gehen allerdings davon aus, dass Komposita wie Hosenrock parallel eine kopulative und eine determinative Lesart haben können. So argumentiert Elsen (2011: 65): „Hosenrock in der Bedeutung ‘Hose und (gleichzeitig) Rock’ ist ein Kopulativkompositum, in der Bedeutung ‘eine bestimmte Art von Rock, ähnelt einer Hose’ ein Determinativ-

Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-Komposita !

107

kompositum.“ (siehe auch Donalies 2005: 86, Lohde 2006: 38 und Römer & Matzke 2005: 81). Mit diesem Argument kann das potentielle Gegenbeispiel zur angenommenen Fugenlosigkeit der Kopulativkomposita entkräftet werden, indem man einschränkend ergänzt, dass nur Kopulativkomposita mit ausschließlich kopulativer Lesart keine Fugen enthalten dürfen. Eine weitere Variante, mit dem Problemfall Hosenrock umzugehen, ist, ihn – basierend auf semantischen Kriterien oder Akzentmuster – nicht als Kopulativkompositum zu klassifizieren; dazu entschließen sich beispielsweise Hentschel und Weydt (2003: 30), Altmann und Kemmerling (2005: 32) und Altmann und Ziegenhain (2010: 109). Wenn ein Kompositum wie Hosenrock für manche Sprachwissenschaftler als prototypisches Kopulativkompositum gilt, von einer anderen Fraktion als semantisch ambiges Kompositum mit sowohl kopulativer als auch determinativer Lesart klassifiziert wird und für eine dritte Gruppe deutscher Linguisten nicht zur Kategorie der Kopulativkomposita gehört, dann kann die Existenz zweier distinkter Kompositionstypen Kopulativkompositum und Determinativkompositum unter Umständen eventuell angezweifelt werden. Zu einer relativ radikalen Revision des Kompositionstyps Kopulativkompositum gelangen Breindl und Thurmair (1992), die morphosyntaktische, semantische und phonologische Eigenschaften kopulativer Nominalkomposita im Detail studierten und zusätzlich mehrere empirische Studien durchführten, in denen sie untersuchten, wie Kopulativkomposita von Sprachbenutzern semantisch interpretiert wurden. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich Kopulativkomposita weder im Sprachsystem noch im Sprachgebrauch grundlegend von Determinativkomposita unterscheiden, sodass man gar nicht zwei distinkte Kategorien annehmen müsste: „Kopulativkomposita lassen sich damit problemlos unter die (ohnehin weite und heterogene) Klasse der Determinativkomposita subsumieren“ (Breindl & Thurmair 1992: 60). Ein anderer Weg, mit der Kategorie der Kopulativkomposita umzugehen, besteht darin, sie weiter zu differenzieren. Nach Bauer (2008) werden unter dem Begriff Dvandvakompositum, der in der Literatur oft synonym mit Kopulativkompositum verwendet wird (z.B. Katamba & Stonham 2006: 333, Hentschel & Vogel 2009: 470), in der westlichen Linguistik unterschiedliche Kompositatypen zusammengefasst: unter anderem appositionale Komposita (appositional compounds) und Dvandvakomposita im engeren Sinn (siehe auch Bisetto & Scalise 2009). Dvandvakomposita im engeren Sinn bezeichnen Entitäten, die additiv aus den beiden Konstituenten gebildet wurden, beispielsweise MecklenburgVorpommern. Bei appositionalen Komposita hingegen werden durch die zwei Konstituenten zwei Aspekte der Entität hervorgehoben: Kindersoldat: sowohl ein Kind als auch ein Soldat, nasskalt: gleichzeitig kalt und nass. Die Unterglie-

108 ! Susanne R. Borgwaldt derung in appositionale Komposita und Kopulativkomposita im engeren Sinn erlaubt es, differenzierte Vorhersagen über das Auftreten von Fugenelementen in Kopulativkomposita zu treffen: So betrachtet Becker (1992: 27 ff.) appositionale Komposita wie Kinderpilot oder Fürstbischof als eine separate Teilklasse der Kopulativkomposita und klassifiziert sie, wie Breindl und Thurmair (1992), als Unterklasse der Determinativkomposita. Abweichend von Breindl und Thurmair nimmt er jedoch an, dass eine separate Klasse der Kopulativkomposita im engeren Sinn existiert, zu der beispielsweise Nordost oder schwarz-weiß gehören und die keine Fugenelemente besitzen. In Anlehnung an Becker (1992) definiert auch Neef (2009: 396) kopulative Komposita im engeren Sinn folgendermaßen „(...) they lack linking elements. In spelling, they are typically written with hyphens.“ Obwohl eine gewisse Uneinigkeit hinsichtlich der Typologie der Determinativ- und Kopulativkomposita im Deutschen besteht, gehen Autoren wie Wellmann (1991), Becker (1992) und Neef (2009) davon aus, dass Kopulativkomposita häufig mit Bindestrichen geschrieben werden und keine Fugenelemente enthalten. Treffen diese Hypothesen zu, dann könnte man Bindestrichen bzw. Fugenelementen (zusätzlich) die semantische Funktion zuschreiben, zwischen den beiden Kompositionstypen zu disambiguieren. Momentan beruht die Diskussion über Funktionen von Bindestrichen bzw. Fugenelementen vornehmlich auf Analysen lexikalisierter Komposita in Zeitschriftenkorpora, teilweise auch nur auf Einzelbeispielen; relativ selten werden neugebildete okkasionelle Komposita ausgewertet. Im Folgenden werden zwei Experimente vorgestellt, die die Schreibweise neugebildeter NN-Komposita unter folgenden Fragestellungen untersuchen: a) In welcher Distribution stehen Fugenelement und Bindestrich bei der Schreibung von Komposita? b) Unterscheiden sich Determinativkomposita von Kopulativkomposita hinsichtlich der Verwendung von Bindestrichen und/oder Fugenelementen?

2 Experiment 1 Um die Schreibweise von Komposita empirisch zu untersuchen, wurde eine Produktionsstudie durchgeführt, in der aus zwei vorgegebenen Lexemen neue Nominalkomposita gebildet werden sollten.

Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-Komposita !

109

2.1 Material und Versuchspersonen Als Stimuli dienten 20 Lexempaare, die aus jeweils zwei Kohyponymen gebildet wurden, die größtenteils monomorphematisch waren. Die Lexeme enthalten als erste Konstituenten von Komposita häufig Fugenelemente, ein Teil der Lexeme entspricht den in Neef & Borgwaldt (2012) verwendeten Stimuli, mit denen die Autoren Wahl und Variation der Fugenelemente in neugebildeten Komposita untersuchten. Lexem 1

lexikalisierte Komposita mit Lexem 1

Lexem 2

lexikalisierte Komposita mit Lexem 2

Katze

Katzenfutter

Hund

Hundefutter, Hundskälte

Banane

Bananenmilch

Birne

Birn"baum, Birnenkuchen

Pferd

Pferdeweide

Schwein

Huhn

Hühnerei

Gans

Schweinsgalopp, Schweineschnitzel, Schweinøkram Gänseblümchen

Ei

Eiødotter, Eierschale

Erdbeere

Erdbeer"joghurt

Nase

Ohr

Ohrøring, Ohrenarzt

Strauß

Nasenbluten, naseøweis, Nas"horn, Straußenei, Straußøvogel

Pfau

Pfauenschrei, Pfauøhahn

Ratte

Rattengift

Maus

Schaf

Schaføgarbe, Schafskäse

Esel

Mausefalle, Mausøklick, Mäusejagd Eseløtreiber, Eselsbrücke

Elefant

Elefantenjagd

Bär

Bärenfell

Sonne

Sonn"tag, Sonnenbrille

Erde

Erd"beere, Erdenbürger

Schein

Scheinøabgabe

Münze

Birke

Birkenhain, Birk"huhn

Palme

Münz"automat, Münzensammlung Palmenart, Palm"wedel

Sperling

Sperlingsvogel

Papagei

Papageienfisch

Ente

Entenfeder

Schwan

Greis

Greisenalter

Kind

Haus

Hausøschuh, Häuserfront

Buch

Schwanenhals, Schwanøjungfrau, Kindøbett, Kindergarten, Kindesalter, Kindskopf Buchøbestellung, Bücherregal

Nacht

Nachtødienst

Tag

Maler

Malerøhandwerk

Komponist

Tagebuch, Tageslicht, Tagøtraum Komponistenviertel

Anfang

Anfangsbuchstabe

Ende

End"spiel

Tab. 1: Lexempaare und ihre Fugenelementvariation in lexikalisierten Komposita

110 ! Susanne R. Borgwaldt Tab. 1 zeigt die verwendeten Lexeme und die unterschiedlichen Fugenelemente, mit denen diese Lexeme als erste Konstituenten in lexikalisierten Komposita vorkommen. Hier markiert eine subtraktive Fuge, mit ø wird die Nullfuge gekennzeichnet. Für die Komposita, die aus diesen beiden Lexemen gebildet werden sollten, wurden unterschiedliche Kontexte in Form einer fortlaufenden Phantasiegeschichte entworfen (siehe Anhang 2). Ein Lexempaar AB trat in vier unterschiedlichen Kontextversionen auf, die jeweils vier unterschiedliche Lesarten des zu bildenden Kompositums forderten: als Determinativkomposita AB und BA und als Kopulativkomposita AB und BA. Das Paar Banane-Birne trat also in 4 verschiedenen Kontexten auf. Zwei verlangten eine determinative Interpretation des zu bildenden Kompositums: a) „eine ganz besondere Art von Bananen (...) hat die Form einer Birne“ – hier sollte ein Determinativkompositum mit Erstglied Birne und Zweitglied Banane gebildet werden b) „eine ganz besondere Art von Birnen (...) hat die Form einer Banane“ – hier sollte ein Determinativkompositum mit Erstglied Banane und Zweitglied Birne gebildet werden Und zwei Kontexte verlangten eine kopulative Interpretation c) „eine ganz besondere Art von Frucht (...) Kreuzung aus Banane und Birne“ und d) „eine ganz besondere Art von Frucht (...) Kreuzung aus Birne und Banane“ – bei diesen beiden Kontexten sollte ein Kopulativkompositum (genau gesagt: ein appositionales Kompositum) aus den Komponenten Banane und Birne gebildet werden – im Gegensatz zu den obigen Determinativkomposita ist hier ist die Reihenfolge der Konstituenten nicht vorgegeben. Aus den verschiedenen Kontextversionen wurden vier fortlaufende Geschichten zusammengestellt, in denen jeweils 10 Kopulativkomposita und 10 Determinativkomposita vorkamen. Wie Anhang 2, der die Verteilung der Kompositionstypen auf die vier Gruppen abbildet, zu entnehmen ist, sah jede Versuchsperson jeweils nur eine Version des Lexempaars. Dieses Design erlaubte es, die Bildung von determinativen und kopulativen Lesarten eines Kompositums miteinander zu vergleichen. 40 Versuchspersonen nahmen am ersten Experiment teil, zehn Versuchspersonen pro Gruppe. Die Versuchspersonen (33 weiblich, 7 männlich, Durchschnittsalter: 22,6 Jahre, alle deutsche Muttersprachler) studierten an der Universität Erfurt im zweiten bis sechsten Semester Germanistik.

Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-Komposita !

111

2.2 Aufgabenstellung und Versuchsdurchführung Das Experiment wurde mit den Teilnehmern eines sprachwissenschaftlichen Seminars in der ersten Sitzung durchgeführt. Es dauerte ungefähr 15 Minuten. Zunächst führte die Versuchsleiterin vor dem Experiment mit einer Powerpointpräsentation kurz in die Grundlagen des Wortbildungstyps Komposition ein, dabei wurde auch kurz auf den Unterschied zwischen Determinativ- und Kopulativkomposita eingegangen. Die AB-Struktur von Determinativkomposita wurde erklärt als „AB => B bestimmt die Grundbedeutung, A modifiziert sie“ und „AB => B, das irgendetwas mit A zu tun hat“. Dies wurde an Heringers (1984) Beispiel der Interpretationsmöglichkeiten für das Kompositum Fischfrau illustriert. Exemplarisch wurden danach drei Determinativkomposita vorgestellt: „Determinativkomposita:

B aus A (gemacht): B wie A: …

Lederjacke grasgrün Guttenberg-Affäre“

Anschließend wurde der Kompositionstyp Kopulativkomposition erläutert „Kopulativkomposita:

B und A:

Strichpunkt nasskalt Rheinland-Pfalz“

Die Beispiele waren so gewählt, dass weder Determinativkomposita noch Kopulativkomposita Fugenelemente enthielten und bei beiden Arten jeweils eine Schreibung mit Bindestrich auftauchte. Als Nächstes wurde eine Beispielaufgabe gezeigt. Die Versuchspersonen sahen den Text „Mein Nachbar hat für seine Tochter einen Hocker in der Form eines Apfels gebastelt – Wie nennt er ihn wohl?“.

112 ! Susanne R. Borgwaldt Den Studierenden wurde erläutert, dass die richtige Antwort in diesem Fall Apfelhocker lautete, also ein Kompositum aus den beiden Substantiven, und dass das Experiment ähnlich abliefe: Die Aufgabe der Versuchspersonen bestehe darin, die Geschichte zu lesen und an den vorgegebenen Stellen aus den beiden unterstrichenen Lexemen NN-Komposita zu bilden. Die Versuchsleiterin erklärte, sie sei daran interessiert, in welcher Reihenfolge die Versuchspersonen die Komponenten des Kompositums aufschreiben würden und ob sie die Komposita mit oder ohne Bindestrich schreiben würden. Auf den Unterschied zwischen Determinativkomposita und Kopulativkomposita wurde nicht weiter eingegangen. Danach bekam jede Versuchsperson ein Aufgabenblatt mit einer der vier Versionen der Phantasiegeschichte; jede Versuchsperson las daraufhin die Geschichte und schrieb die Komposita per Hand an den vorgegebenen Stellen auf das Aufgabenblatt.

2.3 Resultate Zunächst mussten die Daten bereinigt werden, da die Versuchspersonen teilweise auch NN-Komposita mit anderen als den vorgegebenen Lexemen (z.B. Farbmusiker statt Malerkomponist), VN-Komposita (z.B. Schnurrhund statt Katzenhund) oder Kontaminationen (z.B. Birnane statt Birnenbanane) gebildet hatten oder Phantasiebezeichnungen (z.B. Tschullo statt Endanfang) aufgeschrieben hatten – diese Antworten wurden entfernt. Bei Kontexten der Phantasiegeschichte, die eine determinative Lesart verlangten, wurden auch die Komposita entfernt, die ein falsches Kopfprinzip zeigten. Beispielsweise erfordert der Kontext „eine ganz besondere Art von Bananen (...) hat die Form einer Birne“ die Bildung eines Kompositums mit Erstglied Birne und Zweitglied Banane; wenn hier das Kompositum Bananenbirne gebildet wurde, wurde diese Form, die ein falsches Kopfprinzip zeigt, als „inkorrekt“ bewertet und nicht in die Analyse miteinbezogen. Von den 800 Antworten blieben 597 korrekt gebildete Komposita (74,6%) übrig, davon waren 248 Determinativkomposita und 349 Kopulativkomposita. Der geringere Anteil an Determinativkomposita lässt sich dadurch erklären, dass bei ihnen auch die Bildungen entfernt wurden, bei denen die Reihenfolge von Erst- und Zweitglied vertauscht war; bei Kopulativkomposita war die Reihenfolge der Konstituenten nicht vorgegeben. Insgesamt wurden 21,6% der Komposita (129) mit Bindestrich geschrieben; 72,9% (434 Komposita) enthielten ein Fugenelement.

Fugenelemente und Bindestriche in neugebildeten NN-Komposita !

mit Fugenelement

500

113

ohne Fugenelement

400 391 300 200 86

77

mit Bindestrich

ohne Bindestrich

100 43 0

Abb. 1: Distribution der Fugenelemente und Bindestriche bei neugebildeten NN-Komposita

Abb. 1 zeigt, wie viele Komposita Bindestriche bzw. Fugenelement enthielten. Eine Varianzanalyse ergab eine signifikante Interaktion zwischen der Schreibung mit Fugenelement und der Schreibung mit Bindestrich, F(1,19)=96,20, p‘ steht hier für ‚besser lesbar‘):

9 Die Beschreibung der einzelnen Punkte auf solchen Skalen ist stets ein Problem. Ich habe mich an Cowart (1997: 71) gehalten: „It is generally wiser simply to identify a scale for the informant, and perhaps to describe its end points, without attempting to describe any intermediate scale values.“

Gute und schlechte Bindestriche in dreiteiligen Komposita !

145

(6) a. (AB)-C > (AB)C > (A-B)C b. A-(BC) > A(BC) > A(B-C) Ergebnisse Die Mittelwerte der 31 ausgewerteten Fragebögen scheinen die Hypothesen zu bestätigen. Die Komposita, in denen der Bindestrich zwischen den beiden unmittelbaren Konstituenten steht, werden als am besten lesbar bewertet (5,40 und 5,29), während die Komposita mit dem Bindestrich zwischen den mittelbaren Konstituenten für deutlich schlechter lesbar gehalten werden (3,48 und 3,65). Die Werte für die Schreibweise ohne Bindestrich liegen dazwischen (5,05 und 4,68). Mittelwert linksverzweigend

rechtsverzweigend

(AB)C (A-B)C (AB)-C A(BC) A-(BC) A(B-C)

5,05 3,48 5,29 4,68 5,40 3,65

Standardabweichung 1,35 1,50 1,37 1,50 1,50 1,70

Tab. 4: Lesbarkeit der Komposita

Der Interaktionsplot zeigt, dass die beiden Faktoren Bindestrich und Kompositumstruktur interagieren: Bei linksverzweigenden Komposita vom Typ (AB)C hat die Einfügung des Bindestrichs zwischen den mittelbaren Konstituenten A und B einen negativen Effekt und zwischen den unmittelbaren Konstituenten B und C einen positiven Effekt, bei rechtsverzweigenden Komposita vom Typ A(BC) verhält es sich umgekehrt.

146 ! Jochen Geilfuß-Wolfgang

Abb. 1: Interaktion zwischen Schreibung und Kompositumstruktur

Eine zweifaktorielle ANOVA zeigt, dass die Interaktion tatsächlich signifikant ist, sowohl nach Versuchspersonen (F1(2,60)=40,33, p>‘ steht für ‚stärker‘): (12) Spatium >> Bindestrich, Apostroph >> Majuskel >> Markierung In zweiteiligen Komposita wie Haustür können alle drei Mittel für die Markierung der Grenze verwendet werden, doch in drei- und mehrteiligen Komposita nicht. Denn die Schreibungen drei- und mehrteiliger Komposita folgen einem Prinzip, das die Hierarchie der morphologischen Grenzen und die Hierarchie der Grenzmarkierungen aufeinander bezieht (Scherer 2012: 69):13 (13) Das Prinzip der graphischen Grenzmarkierung: Hierarchisch höhere Grenzen werden stärker markiert als hierarchisch niedrigere Grenzen. Man kann sich leicht davon überzeugen, dass mit diesem Prinzip die beiden Schreibweisen in (14a) vereinbar sind, aber nicht die beiden Schreibweisen in (14b) (die Hierarchie der morphologischen Grenzen wird hier mit absteigenden Indizes notiert). (14) a.

3[2[1Wind 11rad1]2-2Mafia2]3 3[2Schleim2-2[1Feuer11werk1]2]3

b.

3[2[1Wind 1-1Rad1]22mafia2]3 3[2Schleim22[1feuer1-1werk1]2]3

Sowohl in (14a) als auch in (14b) werden die hierarchisch höchsten Grenzen, die hier mit 3 notiert sind, mit einem Spatium markiert. Die nächstniedrigeren morphologischen Grenzen, 2, werden in (14a) mit einem Bindestrich markiert und die niedrigsten Grenzen, 1, werden in (14a) überhaupt nicht markiert. 3 wird in (14a) also stärker markiert als 2 und 2 stärker als 1. In (14b) hingegen werden hierarchisch niedrigere Grenzen stärker markiert als hierarchisch höhere Gren-

13 Es ist naheliegend, wie Scherer (2012: 70ff.) dieses Prinzip in einem optimalitätstheoretischen Rahmen auf die Interaktion entsprechender Beschränkungen zurückzuführen.

152 ! Jochen Geilfuß-Wolfgang zen, denn 1 ist zwar hierarchisch niedriger als 2, wird aber mit dem Bindestrich stärker markiert als 2. Allerdings stellt sich auch bei dem Prinzip (13) die Frage nach dem Warum. Es ist sehr einleuchtend, dass Grenzen, die hierarchisch höher und somit morphologisch stärker sind (sie grenzen mehr Konstituenten ab), auch in der Schreibung stärker markiert werden. Doch damit ist noch nicht geklärt, worin der Vorteil einer solchen stärkeren Markierung liegt, ihre Funktion.

4.4 Warum kein positiver Effekt bei linksverzweigenden Komposita? Nach allem, was ich im Vorangehenden an Erklärungsversuchen herangezogen habe, sollte eigentlich auch in linksverzweigenden Komposita vom Typ Windradmafia durch das Einfügen eines Bindestrichs an der Haupttrennfuge zwischen dem ersten und dem zweiten Teil ein positiver Effekt gegenüber der Zusammenschreibung entstehen. Doch dieser positive Effekt ist nicht feststellbar, weshalb ich die Hypothese H1 verworfen habe. Auch Bertram et al. (2011) haben wie oben erwähnt bei ihren Blickbewegungsexperimenten zu dreiteiligen niederländischen Komposita keine signifikante Verbesserung feststellen können, allenfalls eine tendenzielle. Die Erklärung, die sie dafür anführen, dass nämlich das Einfügen eines Bindestrichs in diese Komposita eine illegale Schreibweise sei, kann für die okkasionellen Komposita nicht gelten. Diese Komposita sind ja nicht mit der Schreibung ohne Bindestrich im Lexikon gespeichert. In der Diskussion ihres Experiments zu dreiteiligen finnischen Komposita erwägen Bertram et al. (2011: 541), ob es möglicherweise eine Präferenz für den Bindestrich zwischen den letzten beiden Bestandteilen wie in Windrad-Mafia gibt, weil Leser linksverzweigende Kompositumstrukturen präferieren; die Resultate ihres Experiments sprechen aber nicht dafür. Vorzuziehen ist deshalb wohl eine Erklärung, die sich in Pollatsek et al. (2010) findet und auch in Bertram et al. (2011): Wie im Niederländischen sind auch im Deutschen linksverzweigende dreiteilige Komposita sehr viel häufiger als rechtsverzweigende, Linksverzweigung ist in solchen Komposita unmarkiert, Rechtsverzweigung markiert.14 Der Bindestrich führt dann in linksverzweigenden dreiteiligen Komposita zu keiner besseren Lesbarkeit, weil der Leser Linksverzweigung erwartet.

14 Genauere Zahlen dazu finden sich bei Krott et al. (2004: 89).

Gute und schlechte Bindestriche in dreiteiligen Komposita !

153

5 Zum Schluss Was folgt aus alledem? Die Empfehlung, in unübersichtlichen Komposita die unmittelbaren Konstituenten durch einen Bindestrich zu trennen, hält bedingt einer empirischen Überprüfung stand. Bei den dreiteiligen Komposita werden zumindest die rechtsverzweigenden Komposita für deutlich besser lesbar gehalten, wenn ein Bindestrich an der passenden Stelle eingefügt wird. Bei den linksverzweigenden Komposita führt das Einfügen eines Bindestrichs zu keiner deutlich besseren Einschätzung der Lesarbeit, aber es ergibt sich immerhin eine tendenzielle Verbesserung. Dass ein Bindestrich an der falschen Stelle, also nicht an der Grenze zwischen den beiden unmittelbaren Konstituenten, einen negativen Einfluss auf die Lesbarkeit hat, zeigt, wie groß der Effekt des Bindestrichs in morphologisch komplexen Wörtern ist und wie der Bindestrich mit der morphologischen Struktur dieser Wörter interagiert.

6 Literatur Bernabei, Dante. 2003. Der Bindestrich. Vorschlag zur Systematisierung. Frankfurt/Main: Lang. Bertram, Raymond, Victor Kuperman, R. Harald Baayen & Jukka Hyöna. 2011. The hyphen as a segmentation cue in triconstituent compound processing: It’s getting better all the time. Scandinavian Journal of Psychology 52. 530–544. Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer. Cherng, Melanie. 2008. The role of hyphenation in English compound word processing. Wesleyan University: BA thesis. Cowart, Wayne. 1997. Experimental syntax. Applying objective methods to sentence judgments. Thousand Oaks: Sage. Duden. 2013. Die deutsche Rechtschreibung. 26. Aufl. Mannheim: Dudenverlag. Engl, Verena. 2005. Orthografie oder Orthographie? Lesen nach der Rechtschreibreform. Freie Universität Berlin: Diplomarbeit. Fiorentino, Robert & David Poeppel. 2007. Compound words and structure in the lexicon. Language and Cognitive Processes 22. 953–1000. Fleischer, Wolfgang & Barz, Irmhild. 2012. Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4. Aufl. Tübingen: Niemeyer. Grainger, Jonathan & Johannes C. Ziegler. 2011. A dual-route approach to orthographic processing. Frontiers in Psychology 2. Art. 54. Gallmann, Peter. 1985. Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Tübingen: Niemeyer. Hillenbrand, Uli. 2010. Interpunktion auf Wort-Ebene: Der Bindestrich. Universität Mainz: Magisterarbeit.

154 ! Jochen Geilfuß-Wolfgang Inhoff, Albrecht, Ralph Radach & Dieter Heller. 2000. Complex compounds in German: Interword spaces facilitate segmentation but hinder assignment of meaning. Journal of Memory and Language 42. 23–50. Inhoff, Albrecht W. & Ralph Radach. 2002. The biology of reading: The use of spatial segmentation in the reading of complex words. Comments on Modern Biology: Part C. Comments on Theoretical Biology 7. 121–138. Jacobs, Joachim. 2005. Spatien. Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im heutigen Deutsch. Berlin: de Gruyter. Jarema, Gonia. 2006. Compound representation and processing: A cross-language perspective. In Libben & Jarema (Hgg.), 45–70. Juhasz, Barbara J., Albrecht W. Inhoff & Keith Rayner. 2005. The role of interword spaces in the processing of English compound words. Language and Cognitive Processes 20. 291–316. Krott, Andrea, Gary Libben, Gonia Jarema, Wolfgang U. Dressler, Robert Schreuder & R. Harald Baayen. 2004. Probability in the grammar of German and Dutch: Interfixation in triconstituent compounds. Language and Speech 47. 83–106. Libben, Gary. 2006. Why study compound processing? An overview of the issues. In Libben & Jarema (Hgg.), 1–22. Libben, Gary & Gonia Jarema (Hgg.). 2006. The representation and processing of compound words. Oxford: Oxford University Press. Namislow, Ulrich. 2008. Reizwörterbuch. Obernburg: Logo. Nerius, Dieter (Hg.). 2007. Deutsche Orthographie. 4., neu bearb. Aufl. Hildesheim: Olms. Pfeiffer, Markus. 2002. Lesen von Komposita. RWTH Aachen: Diplomarbeit. Placke, Lars. 2001. Das Lesen von Komposita. RWTH Aachen: Dissertation. Poethe, Hannelore. 2000. Wortbildung und Orthographie. Muttersprache 110. 37–51. Pollatsek, Alexander, Denis Drieghe, Linnaea Stockall & Roberto G. de Almeida. 2010. The interpretation of ambiguous trimorphemic words in sentence context. Psychonomic Bulletin and Review 17. 88–94. Scherer, Carmen. 2012. Vom Reisezentrum zum Reise Zentrum. Variation in der Schreibung von N+N-Komposita. In Livio Gaeta & Barbara Schlücker (Hgg.), Das Deutsche als kompositionsfreudige Sprache, 57–81. Berlin: de Gruyter.

7 Anhang Linksverzweigende Komposita

Rechtsverzweigende Komposita

Bürostuhlakrobatin Erderwärmungsleugner Energieträgershopping Fingerabdruckprogramm Führerscheintourismus Geruchsprobenspeicher Hartwurstrocker Hochleistungsgetreide Hüftgoldschmied Kniegelenkstoilette Kulleraugensyndrom

Abzockfolgekosten Adoptionsschwarzmarkt Algenmischbrot Armutslandkarte Aushilfsunterwäschemodel Bluttankstelle Erwachsenenregelsatz Informationsrohstoff Lichtbadewanne Medikamentenmüllkippe Motivationsschlipsträger

Gute und schlechte Bindestriche in dreiteiligen Komposita !

Linksverzweigende Komposita

Rechtsverzweigende Komposita

Lebenszeitbesteuerung Mullbindensozialismus Personenvereinzelungsanlage Regenbogenmeeting Rettungsschirmgipfel Schamhaarkonflikt Schwachstrompolitiker Schweinebauchwerbung Stimmviehbildung Tätowierungsmittelverordnung Weltverschwörungssyndrom Windradmafia Zeitgeistverweigerer

Multimonitorbetrieb Netzgrundsatz Paketrasterfahndung Pixelparalleluniversum Raserblitzgerät Schleimfeuerwerk Schuhschneekette Schwindellebensmittel Telefonwarnsystem Urteilsblitzdienst Verdienstsuchmaske Zellbaukasten Zwangspapiergeld

155

Carmen Scherer

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? Strukturmarkierende Schreibungen bei Kontaminationen

1 Einleitung Wörter wie Eurasien, Fortschrott, jein oder Katzenjammertal sind unter vielen Namen bekannt: Manche Forscher bezeichnen sie als Wortkreuzungen (z.B. Reischer 2008, Schulz 2004, Ronneberger-Sibold 2005), andere als Wortverschmelzungen (z.B. Schmid 2003, Windisch 1991) und wieder andere nennen sie Kontaminationen (z.B. Donalies 2005, Friedrich 2008). Ebenso umstritten wie die Benennung des zu behandelnden Phänomens ist die Abgrenzung des zugrunde liegenden Bildungsprozesses. In der Literatur wird die Kontamination einerseits als ein Untertyp (z.B. Donalies 2005) oder eine Sonderform der Komposition (z.B. extragrammatische Komposition bei Ronneberger-Sibold 2005) angesehen. Andererseits klassifizieren Autoren wie Cannon (2000), Friedrich (2008) oder Schmid (2003) die Kontamination als eigenständigen Wortbildungstypus. Diskutiert wird zudem die Abgrenzung der Kontamination von Derivation, Kurzwortbildung und Konfixbildung (vgl. Friedrich 2008: 32–45). Da für die zu behandelnde Fragestellung weder die Bezeichnung, unter der das behandelte Phänomen firmiert, noch dessen Status als eigenständiger Wortbildungstyp oder als Untertyp relevant sind, werde ich im Folgenden Wörter wie jein und Fortschrott in Anlehnung an Donalies (2005) und Friedrich (2008) als Kontaminationen – genauer gesagt: Wortkontaminationen – bezeichnen. Was die Terminologie und Klassifikation angeht, orientiere ich mich weitgehend an Friedrich (2008), deren Belegsammlung dem empirischen Teil dieses Aufsatzes zugrunde liegt. Diese definiert Kontamination als den Prozess sowie das Ergebnis der Verbindung mindestens zweier Basiselemente zu einer neuen ausdrucks- und inhaltsseitigen Einheit […]. Dabei muss an wenigstens einer der Stellen, an denen die Basiselemente aufeinandertreffen (Verbindungsstellen), eine Kürzung erfolgen. (Friedrich 2008: 238)

Bei der Kürzung können Teile von Morphemen oder ganze Morpheme der Ausgangskonstituenten entfallen. Im Fall von Eurasien, das aus den Konstituenten Europa und Asien gebildet wurde, wird die erste Konstituente um die Segmente /o:pa/ bzw. gekürzt, im Fall von Katzenjammertal, bei dem das Ende der

158 ! Carmen Scherer ersten Konstituente (Katzenjammer) und der Anfang der zweiten Konstituente (Jammertal) identisch sind, tritt eine haplologische Tilgung des ursprünglich doppelt vorhandenen Morphems jammer auf. Die meisten Kontaminationen werden ad hoc gebildet, sind also Okkasionalismen. Da Okkasionalismen nicht im Lexikon gespeichert sind, sollten sie besonders transparent sein, um die Verarbeitung zu erleichtern. Gerade dies gilt für Kontaminationen häufig aber nicht: Im Gegensatz zu Komposita und Derivaten können bei der Kontamination „Basiselemente kombiniert werden, die lediglich ‚Wortsplitter‘ darstellen, die keinen Morphemstatus haben wie bei Abent- in AbentEuro. Außerdem treten bei Kontaminationen keine Fugenelemente wie bei Komposita auf.“ (Friedrich 2008: 147) Insofern ist es wichtig, die Adressaten, wo möglich, durch außermorphologische Mittel bei der Dekodierung der Kontamination zu unterstützen. Dadurch, dass über die Verschriftung der einzelnen Segmente hinaus graphische und typographische Mittel wie Bindestrich (Abi-Tour) oder Fettschrift (effektief) eingesetzt werden können, eröffnet das Medium der Schrift Möglichkeiten, die über die Mittel der gesprochenen Sprache hinausgehen, nämlich Informationen über die Wortstruktur zu kodieren. So können beispielsweise die Grenzen einzelner Konstituenten markiert werden, wie im Fall von Abi-Tour, wo der Bindestrich den Beginn der Konstituente Tour anzeigt, oder wie im Fall von effektief, wo eine der beiden Konstituenten, hier die Konstituente tief, hervorgehoben wird. Ziel dieses Aufsatzes ist es, das Potenzial, das die geschriebene Sprache im Hinblick auf die Kodierung wortstruktureller Informationen innehat, und dessen Nutzung am Beispiel der Kontaminationen zu analysieren. Der Aufsatz gliedert sich wie folgt: In Kapitel 2 soll zunächst die Struktur, insbesondere die Wortstruktur von Kontaminationen näher betrachtet werden. Kapitel 3 gibt einen Überblick über strukturmarkierende Schreibungen bei morphologisch komplexen Wörtern und Wortformen. In Kapitel 4 wird diskutiert, welche Möglichkeiten Schreibenden prinzipiell zur Verfügung stehen, um Informationen über die Wortstruktur von Kontaminationen zu kodieren. Es werden drei Hypothesen formuliert, die in Kapitel 5 anhand einer Sammlung von rund 1.400 Kontaminationen überprüft werden. Zentral ist dabei die Frage, welche der Möglichkeiten Schreibende tatsächlich nutzen, um einzelne Konstituenten, Konstituententeile sowie deren Grenzen in der Schreibung zu markieren.

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

159

2 Zur Struktur von Kontaminationen Was die Struktur von Kontaminationen angeht, so ist zunächst zu unterscheiden zwischen der morphologischen, der phonologischen und der graphischen Struktur von Kontaminationen. Morphologisch gesehen liegen den meisten Wortkontaminationen zwei freie Morpheme oder Morphemkomplexe, d.h. Wörter oder Wortstämme, zugrunde. Dies bedeutet, dass Kontaminationen in den meisten Fällen wie Komposita und Derivate eine binäre morphologische Struktur aufweisen, vgl. (1) und (2). Kontaminationen, die auf drei Wörtern basieren, für die somit eine ternäre Struktur anzunehmen ist, sind selten (Abiertour < Abitur+Bier+Tour). Beispiele für Wortkontaminationen, die auf mehr als drei Konstituenten zurückgehen, sind weder bei Friedrich (2008) noch bei Reischer (2008) belegt. (1) a.

Haustür N

N haus (2)

N tür

Eurasien N N N europa asien eur#

asien

b.

häuslich A N häus

ASx lich

Katzenjammertal N N N katzenjammer jammertal katzen jammer tal

creHAARtiv N A kreativ

N haar

kre#

haar

tiv

Anzumerken ist jedoch, dass anders als bei Komposition und Derivation der lautliche (und auch der graphische) Output bei der Kontamination nicht der bloßen Aneinanderreihung der beteiligten Konstituenten entspricht.1 Je nach Kontamination werden Segmente einer oder beider Konstituenten gekürzt und/oder eine Konstituente wird in die andere eingefügt.

1 Zwar bleibt bei Komposition und Derivation der lautliche und graphische Input in der Regel erhalten, insbesondere bei Substantivkomposita, aber auch bei anderen Komposita und Derivaten können zusätzliche Fugenelemente auftreten (Kind+er+garten, ahnung+s+los, hoffen+t+ lich). Die Kürzung von Wortstämmen, z.B. bei Schule > schul-isch oder Kuchen > Küch-lein, ist im Gegensatz zur Kontamination aber die Ausnahme und nicht die Regel.

160 ! Carmen Scherer Der wesentliche Unterschied zwischen Komposita und Derivaten einerseits und Kontaminationen andererseits liegt also nicht in deren morphologischer Struktur, sondern vielmehr in den begleitenden lautlichen und/oder graphischen Veränderungen, die den Adressaten die Identifizierung der beteiligten Konstituenten erschweren. Zu unterscheiden ist einerseits zwischen Kontaminationen, die primär lautliche Veränderungen aufweisen, die sich in der Wortschreibung widerspiegeln (Fortschrott, creHAARtiv), und andererseits solchen, bei denen die Veränderungen auf die Schreibung begrenzt sind, während die Lautung unverändert bleibt (alternatief). Erstere werde ich in Anlehnung an Friedrich (2008) als phonologische, Letztere als graphische Kontaminationen bezeichnen.2 Veränderungen in Lautung und/oder Schreibung führen dazu, dass mindestens einer der Wortstämme lautlich und/oder graphisch defekt in das Wortbildungsprodukt eingeht. Eine wesentliche Voraussetzung für die Dekodierung einer Kontamination ist somit, dass der Rezipient die in der Kontamination enthaltenen Wortstämme erkennen kann. Da die lautliche Gestalt einer Kontamination maßgeblich ist für deren Transparenz und somit für ihre Interpretation (vgl. Ronneberger-Sibold 2005), sollen im Folgenden die wesentlichen lautlichen Charakteristika von Kontaminationen vorgestellt werden. Für eine ausführliche Darstellung verweise ich auf Friedrich (2008) und Reischer (2008). Grundsätzlich lassen sich Kontaminationen wie in (2) nach der Anzahl der Kontaktstellen zwischen den Konstituenten und der Anzahl der vorgenommenen Kürzungen unterscheiden (Reischer 2008: 153–154, 159–160).3 Während im Fall von Eurasien eine Kontaktstelle (Eur-asien) und eine Kürzung (Eur < Europa) vorliegt, weist kreHAARtiv ebenfalls eine Kürzung (kre_tiv), aber zwei Kontaktstellen (kre-haar-tiv) auf. Ein Beispiel für eine Kontamination mit einer Kontaktstelle und zwei Kürzungen stellt Dramödie (Dram < Drama, ödie < Komödie) dar. An den Kontaktstellen können sich die beteiligten Konstituenten überlappen (Katzenjammertal, Spitzenspott), müssen es aber nicht (Eurasien, kreHAARtiv), vgl. die ausdrucksseitig-morphologische Typisierung bei Friedrich (2008).

2 Kontamination, die lautliche Veränderungen aufweisen, bezeichnet Friedrich (2008) als phonetische Kontaminationen. Da in diesen Fällen jedoch bereits die zugrunde liegende, d.h. die phonologische Repräsentation betroffen ist und nicht erst die Oberflächen-, d.h. die phonetische Form, erscheint es angemessener von phonologischen Kontaminationen sprechen. 3 Als weitere formale Charakteristika von Kontaminationen, die für die hier behandelte Fragestellung jedoch nicht zentral sind, nennt Reischer (2008) die Position der Homo- bzw. Heterophonie(n) zwischen den Konstituenten sowie die Art der Verbindung zwischen den Konstituenten.

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

161

Eine detaillierte formale Analyse liefert Ronneberger-Sibold (2005). Ausgehend von einer primär phonologischen Klassifikation unterscheidet sie vier Klassen von Wortkreuzungen, denen sie einen unterschiedlichen Grad an Transparenz zumisst: Vollkreuzungen, Konturkreuzungen, Halbvollkreuzungen und Splitterkreuzungen, vgl. (3). (3) a. b. c. d.

Amtsschimmelpilz, Kamelefant, Kokainszeichen; alternatief Tomoffel, Müllionärin, Konkurz denglisch Cujasuma < Cuba, Java, Sumatra

Bei Vollkreuzungen wie Amtsschimmelpilz in (3a) überlappen sich die beteiligten Konstituenten, etwa Amtsschimmel und Schimmelpilz, haplologisch, d.h. überlappende Segmente können sowohl als das Ende der ersten wie auch als Anfang der zweiten Konstituente interpretiert werden, weshalb Vollkreuzungen den transparentesten Typus der Kontamination darstellen. Zu unterscheiden sind bei den Vollkreuzungen einmal die Teleskop- oder Gelenkkreuzungen, bei denen die gekreuzten Konstituenten wie bei Komposita unmittelbar nebeneinanderstehen, wobei das Ende der ersten Konstituente mit dem Anfang der zweiten Konstituente überlappt. Teleskopkreuzungen sind umso transparenter, je mehr sprachliche Ebenen von der Überschneidung betroffen sind: Besonders hoch ist die Transparenz, sofern die überlappenden Segmente Morphemstatus haben (Amtsschimmelpilz), geringer ist sie, wenn es sich bei den überlappenden Segmenten nur um Teile von Morphemen, also um willkürliche Laut- und Buchstabenfolgen handelt (Kamelefant). Am wenigsten transparent sind Vollkreuzungen, bei denen die überlappenden Segmente lediglich in ihrem Buchstaben-, nicht aber in ihrem Lautwert übereinstimmen (Kokainszeichen). Bei der zweiten Form der Vollkreuzung, den Einschlusskreuzungen wie alternatief, schließt eine Konstituente (alternativ) die andere (tief) als Teil der Lautung ein. Im Gegensatz zu Teleskopkreuzungen sind Einschlusskreuzungen nur in der geschriebenen Sprache erkennbar (vgl. die graphische Kontamination bei Friedrich 2008). Einen geringeren Grad an Transparenz als Vollkreuzungen weisen laut Ronneberger-Sibold (2005) Konturkreuzungen wie Tomoffel auf, vgl. (3b). Bei Konturkreuzungen umschließt die erste Konstituente, etwa Kartoffel, die zweite Konstituente, hier Tomate. Die erste Konstituente, das sog. Matrixwort, stellt die rhythmische Gesamtkontur der Kontamination, d.h. die Silbenzahl und die Position des Wortakzents, bleibt im Regelfall jedoch selbst nicht vollständig erhalten (!!"!; _offel). Darüber hinaus liefert das Matrixwort im Regelfall auch den Tonvokal, d.h. den Vokal der betonten Silbe. Dieser betonte Vokal stellt laut

162 ! Carmen Scherer Ronneberger-Sibold (2005: 216) eine wichtige Grenze zwischen der dem Tonvokal vorangehenden Vorkontur und der den Tonvokal einschließenden Nachkontur dar. Die zweite Konstituente einer Kontamination, das eingekreuzte Wort, wird bei Konturkreuzungen entweder in die Vorkontur (Tomoffel) oder in die Nachkontur (Konkurz) eingekreuzt, wobei die Einkreuzung in die Vorkontur den häufigeren Fall darstellt. Obwohl Konturkreuzungen aufgrund der vorgenommenen Kürzungen weniger transparent sind als Vollkreuzungen, lassen sich beide Konstituenten im Normalfall ohne Weiteres rekonstruieren: Während das Matrixwort an der Verbindung von rhythmischer Gestalt und Tonvokal sowie dem Rest seiner Nachkontur – seltener seiner Vorkontur – identifiziert werden kann, lässt sich das eingekreuzte Wort, sofern es nicht vollständig erhalten ist, anhand seiner Vorkontur – seltener seiner Nachkontur – bestimmen (Ronneberger-Sibold 2005: 217).4 Halbvollkreuzungen wie denglisch in (3c) bestehen aus einem vollständigen Wort (englisch) und Teilen eines weiteren Wortes (oder auch mehrerer) (deutsch). Im Gegensatz zur Konturkreuzung wird die Kontur des gekürzten Wortes aber nicht übernommen, was die Erkennbarkeit des gekürzten Wortes beeinträchtigt. Dennoch sind Halbvollkreuzungen, insbesondere bei umfangreicheren Überlappungen, als transparenter einzuschätzen als Splitterkreuzungen wie Cujasuma in (3d). Bei diesem Typ der Kontamination gehen alle beteiligten Konstituenten in gekürzter Form in das neue Wort ein. Nach Ronneberger-Sibold (2005: 219f) handelt es sich fast ausschließlich um Kreuzungen initialer Splitter wie bei Cujasuma < Cuba+Java+Sumatra oder Kraba < Kramer+ Bagger, in seltenen Fällen auch um Kreuzungen aus initialen und finalen Splittern (Dynaject < dynamisch+inject). Splitterkreuzungen sind als weitgehend intransparent einzuordnen, sie scheinen, so Ronneberger-Sibold (2005: 220), zur „Herstellung von weitgehend opaken Neologismen aus relativ kleinen initialen Splittern der gekreuzten Wörter“ zu dienen.5

4 Ronneberger-Sibold (2005: 217) verweist dabei explizit darauf, dass für die Interpretation einer Konturkreuzung die Distribution der Konstituenten und ihrer Teile wichtiger ist als die Länge der entnommenen Sequenzen. 5 Bei der Analyse von 390 literarischen Belegen aus Grésillon (1984) und 220 Markennamen stellte Ronneberger-Sibold (2006) fest, dass es sich bei der überwiegenden Zahl der literarischen Kontaminationen entweder um Vollkreuzungen (66,3%) oder Konturkreuzungen (30,6%) handelte. Halbvollkreuzungen waren selten (2,6%), Splitterkreuzungen nicht belegt. Im Gegensatz dazu dominierten im Bereich der Markennamen die weniger transparenten Splitter- und Halbvollkreuzungen (25,0% bzw. 26,8%) sowie die Konturkreuzungen (31,8%) gegenüber dem transparentesten Typ der Kontamination, den Vollkreuzungen (16,4%).

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

163

Festzuhalten ist also, dass sich die meisten Kontaminationen als binär verzweigte morphologisch komplexe Bildungen beschreiben lassen, die morphologisch und semantisch eng mit Komposita verwandt sind, deren binäre Struktur jedoch durch formale, insbesondere lautliche Veränderungen, verschleiert wird. Eine Möglichkeit, die morphologische Struktur einer Kontamination für den Adressaten zu verdeutlichen, besteht – zumindest in der geschriebenen Sprache – darin, die interne Strukturiertheit des Wortes oder die Grenzen der einzelnen Konstituenten mithilfe graphischer Mittel zu markieren.

3 Strukturmarkierende Schreibungen bei morphologisch komplexen Wörtern und Wortformen Schreibungen, die Informationen über die Wortstruktur anzeigen, finden sich, in unterschiedlichem Maß, in allen Textsorten.6 Abgesehen von den normgerechten Bindestrichschreibungen stellen strukturmarkierende Schreibungen ein zwar auffälliges, aber doch eher seltenes Phänomen dar. In diesem Kapitel sollen die bisherigen Erkenntnisse über strukturmarkierende Schreibungen morphologisch komplexer Wörter und Wortformen kurz zusammengestellt werden. Untersuchungen zum Deutschen, die sich systematisch mit der Markierung von Wortstrukturen in der geschriebenen Sprache auseinandersetzen, sind selten. Bisherige Arbeiten gehen entweder der Frage nach, in welchen Verwendungskontexten bestimmte graphische Mittel auftreten (Kap. 3.1),7 oder sie untersuchen umgekehrt, wie komplexe Wörter und Wortformen geschrieben werden (Kap. 3.2). Beide Ansätze haben gemeinsam, dass die Frage nach der Funktion dieser häufig gegen die orthographische Norm verstoßenden Schreibungen eine zentrale Rolle einnimmt (Kap. 3.3).

6 Insbesondere normabweichende Schreibungen wie die Schreibung von Komposita mit Binnenmajuskel (GebäudeManagement) oder wortinternem Spatium (Handball Turnier) sowie Pluralapostrophschreibungen (DVD’s) finden sich überdurchschnittlich oft in öffentlichkeitswirksamen Textsorten wie Werbetexten, Produktaufschriften, Plakaten, Flugzetteln usw. (Klein 2002, Barz 1993). 7 Auch das Amtliche Regelwerk beschreibt, wenngleich unter normativen Aspekten, die Verwendungskontexte strukturmarkierender Syngrapheme wie Bindestrich und Apostroph.

164 ! Carmen Scherer

3.1 Mittel zur Markierung wortstruktureller Informationen Die Mittel, die Schreibende verwenden, um Informationen über die Struktur komplexer Wörter zu transportieren, reichen von Wortzeichen wie Bindestrich und Apostroph (4a–b) über die wortinterne Setzung von Majuskeln und Spatien (4c–d) bis hin zur Verwendung verschiedener Auszeichnungsarten wie Majuskelschreibung oder Fettschrift, vgl. (5).8 (4) a. 20-jährig, Büchner-Preis, IT-System, Pazifik-Geschäft, Schweinegrippe-Welle; Buch-Besprechung, Bundesrats-Präsident, Feuerwehr-Fest, Ur-Golf (Hillenbrand 2010) b. Grimm’sche Märchen, Wilma’s Waschmaschine; Bahnhof’s Imbiß, freitag’s, Hit’s, Schlöss’chen (Klein 2002) c. GebäudeManagement, KurzFilmTage, RegionalBahn (Dürscheid 2000) d. Handball Turnier, Programm Entwickler, Bruch Teil (Dürscheid 2000) (5)

High StandART, Ja, SOFORD! (Ewald 1997)9

Während zur morphographischen Funktion von Syngraphemen wie dem Apostroph oder Bindestrich inzwischen mehrere Untersuchungen vorliegen (vgl. zum Apostroph etwa Klein 2002, Bun#$% 2004, zum Bindestrich etwa Bernabei 2003, Hillenbrand 2010), wird die wortinterne Setzung von Majuskeln und Spatien nur selten thematisiert (z.B. Dürscheid 2000; zur Binnenmajuskel in Komposita vgl. Stein 1999). Dies gilt umso mehr für die Verwendung verschiedener Auszeichnungsarten. Lediglich Ewald (1997: 55–57) und Stein (1999: 267–268) verweisen auf typographische Mittel wie Fettschrift, Farbe, Schriftgrad und Schriftart zur Hervorhebung von Konstituenten in Wortbildungsprodukten. Bei der Verwendung von Schriftzeichen – hier (Groß)Buchstaben, Wortzeichen und Spatien – zur Markierung von strukturellen Informationen ist zu unterscheiden zwischen Schreibungen, die der Norm entsprechen, und solchen, die außerhalb der Norm stehen. Während die Setzung wortinterner Spatien und Majuskeln, sofern Letzteren kein Bindestrich vorangeht, in allen Fällen norm-

8 Zu den Auszeichnungsarten zählen neben Fettschrift, Kursivierung und Versalschrift auch die Verwendung von Unterstreichungen, Kapitälchen, Sperrsatz, farbigen Unterlegungen sowie unterschiedlicher Schriftarten und -farben. 9 Beide Belege stammen aus Werbeanzeigen, die erste von Suzuki, die zweite von Ford.

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

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widrig ist, ist die Verwendung von Bindestrich und Apostroph in wortstrukturierender Funktion in bestimmten Fällen normgerecht.10 Zu den normgerechten Schreibungen gehören im Bereich des Bindestrichs insbesondere Schreibungen komplexer Wörter, die Einzelbuchstaben, Abkürzungen, Ziffern (DR §§40–42) oder Eigennamen (DR §§46–52) enthalten, sowie die Schreibung substantiverter Syntagmen (DR §43). Sofern ein komplexes Wort keinen Eigennamen enthält, eröffnet lediglich die fakultative Regel in §45 einen gewissen Freiraum bei der Schreibung. So kann der Bindestrich verwendet werden, um einzelne Wortbestandteile hervorzuheben (dass-Satz, Hoch-Zeit), um unübersichtliche Zusammensetzungen zu gliedern (Arbeiter-Unfallversicherungsgesetz), um Missverständnisse zu vermeiden (Musiker-Leben vs. MusikErleben) oder das Zusammentreffen von drei gleichen Buchstaben in Zusammensetzungen aufzubrechen (Kaffee-Ersatz). Im Bereich des Apostrophs wird die Setzung des Zeichens zur Markierung einer Konstituentengrenze von der amtlichen Regelung nur in Ausnahmefällen, nämlich „zur Verdeutlichung der Grundform eines Personennamens vor der Genitivendung -s oder vor dem Adjektivsuffix -sch“ (DR, Erläuterung zu §97) wie in Carlo’s Taverne oder Einstein’sche Relativitätstheorie toleriert. Schreibungen wie Hit’s, Schlöss’chen, freitag’s oder Bahnhof’s Imbiß in (4b) sind demnach von der Norm nicht abgedeckt. Dies bedeutet, dass die Verwendung von Bindestrich oder Apostroph als wortstrukturierende Zeichen in bestimmten Kontexten von der orthographischen Norm abgedeckt (Bindestrich) oder zumindest toleriert wird (Apostroph). Wie die Literatur zeigt, wird aber sowohl der Bindestrich als auch der Apostroph in einer Vielzahl an nicht normgerechten Kontexten verwendet. Beispiele für den Apostroph finden sich sowohl in der Forschungsliteratur, u.a. Klein (2002), Bun#$% (2004), Bankhardt (2010), als auch in entsprechenden Internetforen, für einen systematischen Überblick vgl. Scherer (2013). Beispiele für die normabweichende Verwendung des Bindestrichs bieten u.a. Bernabei (2003) sowie die Arbeit von Hillenbrand (2010), der nach der Untersuchung von insgesamt 891 Bindestrichschreibungen festhält: „Ein relativ großer Teil der Belege lässt sich weder durch eine obligatorische noch durch eine fakultative Bestimmung der amtlichen Regeln abdecken.“ (Hillenbrand 2010: 105)11 Durch den Verstoß ge-

10 Die Verwendung unterschiedlicher Auszeichnungsarten zur Hervorhebung einzelner Bestandteile eines Wortes wie in SOFORD entzieht sich hingegen dem Geltungsbereich der orthographischen Norm. 11 Hillenbrand (2010) untersucht insgesamt 891 Bindestrichschreibungen aus der Süddeutschen Zeitung (2.11.–9.11.2009). Von diesen lassen sich 440 (49,4%) durch obligatorische Regeln erklären, rund 150 (16,8%) weitere durch die fakultativen Regeln der §§47, 51, 52. Dies

166 ! Carmen Scherer gen bestehende Normen ziehen diese Schreibungen besondere Aufmerksamkeit auf sich.

3.2 Kontexte strukturmarkierender Schreibungen Was die Schreibung komplexer Wörter und Wortformen betrifft, so kann die Schreibung von Komposita als am besten untersucht angesehen werden (z.B. Barz 1993, Scherer 2012). Scherer (2012) etwa diskutiert verschiedene Formen der Kompositaschreibung wie die Bindestrichschreibung, die Schreibung mit Binnenmajuskel und die Getrenntschreibung. Stein (1999), der sich primär mit Binnenmajuskeln in Komposita befasst, nennt als Varianten der Kompositaschreibung unter anderem die Getrenntschreibung wie in Kinder Söckchen oder „die Zusammenschreibung mit Markierung der Konstituentengrenzen durch typographische Mittel“ wie in Euromagazin (Stein 1999: 267–268, vgl. auch Ewald 1997). Hinweise auf strukturmarkierende Schreibungen von Derivaten und flektierten Wortformen finden sich insbesondere in der Literatur zur Apostrophschreibung, etwa bei Ewald (2006), die den Genitiv- und Derivationsapostroph diskutiert, bei Zimmermann (1984) mit Fokus auf dem Genitivapostroph sowie bei Scherer (2013), die das Vorkommen des Apostrophs u.a. bei Flexionsformen von Substantiven (Goethe’s Geist, Pizza’s), bei Komposita (Woll’knäuel, Kalb’s Leber) und Derivaten (DRK’ler, Dienstag’s) untersucht. Systematisch wurden strukturmarkierende Wortschreibungen bislang aber vor allem in Zusammenhang mit Komposita thematisiert. An graphischen Mitteln werden zur Strukturmarkierung bei Komposita sowohl Bindestrich als auch Binnenmajuskel und Spatium verwendet. Bei Derivaten treten vor allem Bindestrich und Apostroph auf, zur Strukturierung von Flexionsformen wird der Apostroph bevorzugt. Zwar thematisiert etwa Altmann (2008) die Schreibung komplexer Wörter im Allgemeinen, aber nur selten, etwa bei Ewald (1997: 56–58), finden sich Hinweise auf strukturmarkierende Schreibungen bei Kontaminationen. Lediglich Friedrich (2008, insbes. Kap. 4.4) behandelt die Rolle der Schreibung im Zusammenhang mit den graphischen Kontaminationen ausführlicher.

bedeutet, dass rund 300 Bindestrichschreibungen unter §45 fallen oder nicht normgerecht sind. Genaue Zahlen nennt Hillenbrand hier leider nicht.

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167

3.3 Funktion strukturmarkierender Schreibungen Sowohl dem Bindestrich als auch dem Apostroph wird in der Literatur – neben anderen Funktionen – die Funktion eines Grenzsignals in morphologisch komplexen Wörtern und Wortformen zugeschrieben (Gallmann 1989: 92, vgl. auch Bun#$% 2004, Ewald 2006). Grenzsignale bieten dem Lesenden „eine Interpretationshilfe, indem sie ihm durch Grenzmarkierung die Arbeit des Segmentierens erleichtern.“ (Gallmann 1985: §85) Dabei steht der Bindestrich als Grenzsignal laut Gallmann (1996: 1465–1466) zwischen den Konstituenten von Wörtern, der Apostroph vor bestimmten Suffixen, nämlich dem Adjektive ableitenden Derivationssuffix -sch und dem Genitivsuffix -s. Wie Scherer (2013) zeigt, wird der Apostroph aber auch über diese beiden Kontexte hinaus verwendet. Jedoch kommt nicht nur den Syngraphemen Bindestrich und Apostroph eine strukturmarkierende Funktion zu. In Hinblick auf die Binnenmajuskel stellt Stein (1999: 275) fest, diese sei „[a]us morphologisch-struktureller Sicht […] ein Ersatz für den Bindestrich: Sie dient als neues Grenzsignal zwischen den Konstituenten von Komposita.“ Fälle wie StandART (Ewald 1997) und Euromagazin (Stein 1999) zeigen jedoch, dass Schreibende sich nicht darauf beschränken, die Grenzen von Konstituenten zu markieren. Vielmehr können typographische Auszeichnungsarten verwendet werden, um vollständige Konstituenten hervorzuheben. Wie Ewald (1997: 55) unterstreicht, finden sich häufig „Veränderungen graphischer Wortformen mit der Funktion, durch Abhebung/Hervorhebung der (unmittelbaren) Konstituenten von Wortbildungskonstruktionen die Bestandteile der Motivbedeutung deutlicher als solche erkennbar zu machen.“ Prinzipiell gibt es somit zwei Möglichkeiten, um die Transparenz der Wortstruktur zu erhöhen und den Lesenden die Verarbeitung eines komplexen Wortes bzw. einer Wortform zu erleichtern: Entweder werden die Grenzen bestimmter Morpheme bzw. Konstituenten (Grimm’sche Märchen, KurzFilmTage) kenntlich gemacht oder einzelne Morpheme bzw. Konstituenten in ihrer Gesamtheit (StandART, Euromagazin), vgl. die Beispiele in (4) und (5).

4 Kontaminationen in der geschriebenen Sprache In diesem Kapitel sollen schriftbezogene Aspekte von Kontaminationen untersucht werden. Geklärt werden soll einerseits, welche Arten von Kontaminationen in der geschriebenen Sprache angetroffen werden können. Andererseits soll

168 ! Carmen Scherer erörtert werden, welche Möglichkeiten die geschriebene Sprache für die Kodierung wortstruktureller Informationen bei Kontaminationen bietet. Dies ist umso wichtiger, als Kontaminationen in den meisten Fällen Okkasionalismen sind, die die Adressaten nicht ohne Weiteres mithilfe einfacher Dekomposition oder ihres lexikalischen Wissens entschlüsseln können: „Sofern den Rezipienten die Ausgangseinheiten nicht bekannt sind, erkennen sie die Bildungen manchmal nicht als Kontaminationen“ (Friedrich 2008: 231). Vielmehr seien Kontaminationen üblicherweise so konzipiert, dass sie für diejenigen Adressaten, für die sie geprägt sind, transparent sind. Häufig wird durch typographische Hervorhebungen (effektief), durch Klammern ((K)Ostbarkeiten) oder durch Durchkoppelungsbindestriche (Safe-O-Mat) eines der Basiselemente herausgestellt und dadurch die Dechiffrierung erleichtert. (Friedrich 2008: 231)

4.1 Graphische und phonologische Kontaminationen Betrachtet werden im Folgenden sowohl phonologische als auch graphische Kontaminationen. Graphische Kontaminationen wie in (6) sind im Gegensatz zu phonologischen Kontaminationen nur in der geschriebenen, nicht aber in der gesprochenen Sprache erkennbar. Bei den graphischen Kontaminationen unterscheidet Friedrich (2008) zwischen orthographischen Mischungen, die sich durch Abweichungen von der Orthographie auszeichnen (6a), typographischen Mischungen, die Abweichungen in der Typographie aufweisen (6b), und Codemischungen, bei denen die Konstituenten unterschiedlichen Zeichenrepertoires angehören (6c). Codemischungen werden im Folgenden von der Analyse ausgeschlossen, da nur eine der beteiligten Konstituenten eine lexikalische Einheit darstellt und insofern keine Wortbildung im morphologischen Sinne vorliegt. (6) a. funtastisch, SÄCHSY, erfräulich b. GENial, HauptSache, GEZahlt, SchreIBMaschine, Gewerbestandort, PORNO c. €rdgas, @rtist, KNEI P E12 Im Gegensatz zu graphischen Kontaminationen sind phonologische Kontaminationen prinzipiell in der gesprochenen Sprache identifizierbar, vgl. die Beispiele in (7). Darüber hinaus können phonologische Kontaminationen auch in der Schreibung kenntlich gemacht werden. Friedrich (2008) unterscheidet nach Art

12 Hinterlegung im Original blau.

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169

und Umfang der Überlappung zwischen den Konstituenten in fusionierte (7a) und sequentielle Zusammenziehungen (7b) einerseits und Sandwichbildungen andererseits, vgl. (7c). (7) a. Arbeitslosgewinn, Kandidatient, Katzenjammertal, Salamini, Spitzenspott b. BIOTRONIK, Eurasien, Familotel, Mensateria, Mieleonär, Senkomat c. aneifeln, angestammelt, einklaufen, Frühaufstücker, Orienterpreßzug Während bei Zusammenziehungen Teile der ersten und zweiten Konstituente aneinandergereiht werden, wird im Fall der Sandwichbildungen eine Konstituente aufgesplittet und eine zweite eingefügt. Unklar ist, warum Friedrich (2008) die Unterscheidung in Zusammenziehungen und Sandwichbildungen auf phonologische Kontaminationen beschränkt, da sich entsprechende Bildungen auch bei graphischen Kontaminationen finden: Phall-Obst vs. WondAir-Bra oder betrOFFEN vs. PostMODErne. Zusammenziehungen verfügen über eine Kontaktstelle zwischen den Konstituenten, Sandwichbildungen über zwei. Dies bedeutet, dass bei Zusammenziehungen nur eine Kontaktstelle (Eur-asien) markiert werden muss, um die morphologische Struktur transparent zu machen, bei Sandwichbildungen hingegen zwei (Orient-erpreß-zug). Sowohl bei Zusammenziehungen als auch bei Sandwichbildungen sind nicht nur Kürzungen (Europa+Asien > Eurasien), sondern auch Überlappungen der Konstituenten (Spitzenspott, Frühaufstücker) möglich, was für Schreibende, die eine Konstituentengrenze markieren wollen, die Frage aufwirft, an welcher Stelle die Markierung erfolgen soll. Als Alternative zur Markierung einer Konstituentengrenze bietet sich, insbesondere bei Sandwichbildungen, die Hervorhebung der gesamten Konstituente an (creHAARtiv).

4.2 Möglichkeiten zur Markierung wortstruktureller Informationen Die erste Möglichkeit für Schreibende, Informationen über die Struktur einer Kontamination zu transportieren, ist für orthographische Mischungen charakteristisch. Sie besteht darin, vorhandene Abweichungen in der Wortschreibung homophoner Konstituenten oder Konstituententeile zu nutzen, vgl. (8). Die Beispiele in (8a) zeigen Fälle, in denen ein identischer Vokal in den einzelnen Konstituenten durch unterschiedliche Vokal- bzw. Konsonantenschreibungen

170 ! Carmen Scherer angezeigt wird, vgl. vs. . Bei den Beispielen in (8b) variiert sowohl die Vokalquantität als auch deren graphische Umsetzung zwischen den Konstituenten, vgl. vs. . Die Schreibungen in (8c) schließlich betreffen die unterschiedliche graphische Realisierung von Konsonanten, etwa in und . (8) a. Bootschafter, Bahnorama, erfräulich, funtastisch, Schlawiener b. Kamikatze, MediKuss, Nasshorn c Coca-Colonialisierung, Ervolks-PC, Hertzschrittmacher, Phall-Obst, Supp-Kultur Eine weitere Möglichkeit, in der Schreibung Informationen über die Wortstruktur zu kodieren, besteht darin, graphische Mittel zu verwenden, etwa Syngrapheme wie in (9a), Spatien wie in (9b) oder einzelne wortinterne Majuskeln, sog. Binnenmajuskeln, wie in (9c).13 (9) a. Abi-Tour, Hartz-Infarkt, Kohl-era; Bistro’Rant, Second-Hand’y, T’Raumlage; (Alp)Traumjob, S(pr)achverhalt, Stadt(Ver)führungen b. Hocus Focus, Maus Oleum c. ChanSong, GenEthik, MathemaTick, nEurotisch Schließlich ermöglicht auch die Verwendung typographischer Mittel wie Majuskelschreibung,14 Kursivierung, Fettschrift, Schriftgröße und -farbe, Informationen über die Wortstruktur zu kodieren, vgl. (10a–e).

13 Darüber hinaus kann die Groß- bzw. Kleinschreibung genutzt werden, um Informationen über die Wortart der Kontamination zu liefern für den Fall, dass die Wortart der Konstituenten differiert. Bei den A+N-Kontaminationen Gernsehabend, Primitiefsinn und Vielharmonie verweist die initiale Majuskel auf die Wortart Substantiv, bei den kleingeschriebenen N+AKontaminationen computent und sautoritär hingegen nicht. 14 Unterschieden wird zwischen der Verwendung einzelner (wortinterner) Majuskeln wie bei GenEthik und der Majuskelschreibung wie bei GENial, bei der eine Buchstabenfolge in Majuskeln wiedergegeben wird. Während die Binnenmajuskel, die lediglich Einzelsegmente betrifft, den graphischen Mitteln zuzurechnen ist, wird die Majuskelschreibung, die mehrere Segmente erfasst, in Analogie zu Kursivierung und Fettschrift den typographischen Mitteln zugeordnet.

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

171

(10) a. FORDSchritt, GENial, TEElefon; betrOFFEN, jAZUBI, KulTOUR; creHAARtiv, MaiGLÜCKchen, konTAKTe; NAToURs b. Mielennium, Omniplus, möglicht c. effektief, Zinsationswoche, ATTRAKTIEFPREIS d. PORNO, Bald ausgebucht? e. KuNstZWeRg, TASTETIVAL, FAIRMEHREN, Philaroma15 Die drei genannten Möglichkeiten – Abweichungen in der Schreibung homophoner Konstituenten bzw. Konstituententeile, die Verwendung graphischer oder typographischer Mittel – transportieren jedoch unterschiedliche Informationen über die Wortstruktur. Während graphische Mittel wie Syngrapheme genutzt werden können, um Konstituentengrenzen zu markieren, und typographische Mittel wie Fettschrift sogar dazu verwendet werden können, Teile einer Konstituente oder eine der beiden Konstituenten in ihrer Gesamtheit hervorzuheben, liefern divergierende Schreibungen der Konstituenten den Lesenden lediglich den Hinweis, dass das betreffende Wort aus zwei Konstituenten besteht. Weitere Informationen über die beteiligten Konstituenten vermögen sie jedoch nicht zu geben. Aus diesem Grund werde ich mich im Folgenden auf die Analyse von graphischen und typographischen Markierungen konzentrieren. Interessant ist nun die Frage, welche Mittel Schreibende im konkreten Fall wählen, um Informationen über die Wortstruktur anzuzeigen. Zu vermuten ist, dass Konstituentengrenzen bevorzugt durch jene Mittel markiert werden, die sich auf das Zufügen oder Verändern eines einzelnen Segmentes an der Kontaktstelle beschränken, d.h. also einfache Syngrapheme, Spatium und Binnenmajuskel. Syngrapheme, die paarig auftreten wie Klammern, eignen sich dazu, beide Grenzen einer Konstituente oder Teilkonstituente gleichzeitig zu markieren. Da hierbei aber nicht die Konstituente bzw. Teilkonstituente in ihrer Gesamtheit fokussiert wird, steht zu vermuten, dass paarige Syngrapheme primär verwendet werden, um überlappende bzw. nicht überlappende Konstituententeile zu begrenzen. Um schließlich Konstituenten oder Konstituententeile in ihrer Gesamtheit hervorzuheben, bieten sich typographische Mittel wie Majuskelschreibung oder Kursivierung an, die auf alle Segmente einer Konstituente gleichermaßen angewendet werden können. Aus diesen Überlegungen lassen sich drei Hypothesen ableiten, die im Folgenden überprüft werden sollen:

15 Im Original: Z in KuNstZWeRg rot, tiefergestellt, Rest: schwarz, Hintergrund: weiß; TASTE in TASTETIVAL weiß, TIVAL orange, Hintergrund: rot; FAIR in FAIRMEHREN weiß, MEHREN schwarz, Hintergrund: orange; Phil in Philaroma rot, aroma hellgrün, Hintergund: weiß.

172 ! Carmen Scherer Hypothese 1: Hypothese 2:

Hypothese 3:

Zur Markierung von Konstituentengrenzen verwenden Schreibende bevorzugt einfache graphische Mittel. Zur Markierung von Konstituenten oder Konstituententeilen in ihrer Gesamtheit verwenden Schreibende bevorzugt typographische Mittel. Zur Markierung überlappender bzw. nicht überlappender Konstituententeile verwenden Schreibende bevorzugt paarige graphische Mittel.

5 Analyse der Daten In diesem Kapitel werde ich die Schreibung von Kontaminationen anhand von konkreten Beispielen untersuchen. Analysiert werden soll, welche strukturmarkierenden Mittel bei der Schreibung von Kontaminationen eingesetzt (Kap. 5.1.) und welche Informationen markiert werden (Kap. 5.2.). Ich stütze mich dabei auf die Belegsammlung von Friedrich (2008), die insgesamt 1.384 Schreibungen von Wortkontaminationen mit zwei Konstituenten umfasst.16 In die Auswertung einbezogen wurden alle phonologischen Wortkontaminationen sowie jene graphischen Wortkontaminationen, die von Friedrich als orthographische oder typographische Mischungen eingestuft wurden. Nicht berücksichtigt wurden Codemischungen, da in Fällen wie €rdgas in (6c) keine Wortbildung vorliegt. Von den insgesamt 1.384 Wortkontaminationen mit zwei Konstituenten weisen 200 (14,5%) Schreibungen auf, bei denen graphische und/oder typographische Mittel Informationen über die Wortstruktur liefern. Bei zehn der Belege werden zwei strukturmarkierende Mittel eingesetzt, vgl. (11).17 Dadurch ergeben sich insgesamt 210 strukturmarkierende Schreibungen, die im Folgenden analysiert werden sollen. Eine vollständige Liste der untersuchten Kontaminationen findet sich im Anhang.

16 Im Gegensatz zu Friedrich (2008) klassifiziere ich die Schreibungen Hocus Focus, Maus Oleum und Mc Lenburg-Vorpommern, die ein Spatium enthalten, nicht als Phrasen-, sondern als Wortkontaminationen, wodurch sich die Zahl der Wortkontaminationen in der Sammlung von Friedrich von 1.381 auf 1.384 erhöht. Zur Methode der Datensammlung vgl. Friedrich (2008: 110–111). 17 Eine wortinterne Majuskel wurde nur dann als Binnenmajuskel klassifiziert, wenn die Majuskel eindeutig nicht durch eine vorangehende Markierung wie einen Bindestrich in N+NKomposita bedingt ist. Insofern wurde die wortinterne Majuskel in Sinn-Fonie als Binnenmajuskel gezählt, nicht aber die Majuskeln in ent-Sorge, FORDSchritt, Lus-Tiger und NaddelStreifen.

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173

(11) AufBASS’d, Ball-Istisch, Care-O-Bot, (K)Ostbarkeiten, „Lamm“-bada, „Maß“-nahme, OHR-ginal, Sinn-Fonie, Statt(!)reisen, ZappIencE

5.1 Mittel zur Markierung wortstruktureller Informationen Wie die Kontaminationen in Friedrichs Sammlung zeigen, verwenden Schreibende sowohl graphische als auch typographische Mittel, um Informationen über die Wortstruktur von Kontaminationen zu markieren. Dabei werden graphische Mittel (80,5% der Fälle) gegenüber typographischen Mitteln (19,5% der Fälle) deutlich bevorzugt, vgl. Tab. 1. An graphischen Mitteln sind neben den Syngraphemen Apostroph, Bindestrich, Punkt, Klammern und Anführungszeichen auch Binnenmajuskel und Spatium belegt, vgl. (12–14). (12)

a. art’otel, AufBASS’d, ENT’LICH, Geh’pflegt!, Liebesmüh’sique, Pfundt’ig, Pub’mheimer b. alter-naiv, Bär-Tiger, ent-Sorge, Kräf-Tiger, medi-zynisch, Peli-Kahn, Neurosen-Kavalier, Phall-Obst, Po-litisch, Supp-Kultur, Woll-Lust, … c. ear.sy, log.buch, log.ruf d. auf(er)stehen, Bon(n)jour, Fi(n)nale, K(l)ick, (K)Ostbarkeiten, Na(ck)tionalspieler, Photoge(h)n, Schlaf(t)raum, S(pr)achverhalt, Stadt(Ver)führungen, … e. „Lamm“-bada, „Maß“-nahme

(13)

AbentEuro, augenKlick, BiRadlon, FairKauf, GenEthik, KloMotion, KauderWebsch, LiteraTour, NatUrlaub, SchwuLesbisch, TransFair, UniVersum, WunderBar, …

(14)

Hocus Focus, Maus Oleum, Mc Lenburg-Vorpommern

In Einzelfällen werden auch Auslassungspunkte (Ei…malig), Schrägstrich (Le e/h re) und das eingeklammerte Ausrufezeichen (Statt(!)reisen) verwendet. Auffällig ist, dass Schreibende vor allem zwei graphische Mittel einsetzen, nämlich Bindestrich (29,5% der Fälle) und Binnenmajuskel (30,5% der Fälle). Interessant ist, dass diese beiden graphischen Mittel, insbesondere der Bindestrich, auch bei der strukturmarkierenden Schreibung von Komposita eine besondere Rolle spielen, vgl. Scherer (2012). Klammern, die im Gegensatz zu den anderen graphischen Mitteln immer paarig auftreten, finden sich in 11,0% der Fälle, sonstige paarig verwendete Zeichen (Anführungszeichen, Bindestriche) in 1,9%

174 ! Carmen Scherer der Fälle. Apostroph, Punkt und Spatium treten nur bei 1,4–3,3% der untersuchten Wortkontaminationen auf, vgl. Tab. 1. graphische Mittel Apostroph Bindestrich Punkt Binnenmajuskel

gesamt

Prozent

7

3,3%

62

29,5%

3

1,4%

64

30,5%

Spatien

3

1,4%

sonstige einfache graphische Mittel

3

1,4%

23

11,0%

Klammer sonstige paarige graphische Mittel

4

1,9%

169

80,5%

Fettschrift

4

1,9%

Kursivierung

3

1,4%

32

15,2%

graphische Mittel gesamt typographische Mittel

Majuskelschreibung sonstige typographische Mittel

2

1,0%

typographische Mittel gesamt

41

19,5%

210

100,0%

gesamt Tab. 1: Strukturmarkierende Mittel bei Wortkontaminationen 18

An typographischen Mitteln wird bei den Kontaminationen in Friedrichs Sammlung vor allem Majuskelschreibung (15,2% der Fälle) verwendet, seltener auch Fettschrift und Kursivierung (1,4–1,9% der Fälle), vgl. (15). Jeweils nur einmal belegt sind die Verwendung von Hochstellung (INDEXCHANGE) und unterschiedlicher Schriftgröße (PORNO). (15)

a. ABIcalypse, AIRmatic, ARTenschutz, betrOFFEN, EURopäischE, FORDSchritt, FUNtastisch, GENial, GLÜCKzisse, jAZUBI, OBärarzt, OHR-ginal, TEElefon, … b. effektief, Gewerbestandort, Hometronic, Zinsationswoche c. Esskapaden, Mielennium, Mieleonär

18 Eigene Auswertung der Belegsammlung von Friedrich (2008).

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175

Es lässt sich also festhalten, dass von den zahlreichen graphischen und typographischen Mitteln, die Schreibenden prinzipiell zur Verfügung stehen, nur einige wenige, nämlich Bindestrich, Binnenmajuskel, Majuskelschreibung und Klammern, in einer größeren Zahl von Fällen verwendet werden. Diese vier graphischen bzw. typographischen Mittel reichen aus, um über 85% aller strukturmarkierenden Schreibungen zu erfassen.

5.2 Markierte wortstrukturelle Informationen Prinzipiell bestehen bei der Schreibung morphologisch komplexer Wörter zwei Möglichkeiten, um Informationen über die Wortstruktur zu markieren: die Markierung von Konstituentengrenzen an der Kontaktstelle und die Markierung von Konstituenten. Da bei einem Teil der Kontaminationen die Konstituenten überlappen, ist zudem denkbar, dass Schreibende die überlappenden oder nicht überlappenden Teile von Konstituenten hervorheben. Wie Tab. 2 zeigt, verweisen mehr als zwei Drittel der strukturmarkierenden Schreibungen auf Konstituentengrenzen. Beispiele für grenzmarkierende Schreibungen werden in (16) angeführt. davon: gekürzte Konstituenten

gesamt

Prozent

141

67,1%

25

Konstituente

43

20,5%

5

nicht überlappende Konstituententeile

24

11,4%

Konstituentengrenzen

überlappende Konstituententeile Markierungen gesamt

2

1,0%

210

100,0%

30

Tab. 2: Markierung von Informationen zur Wortstruktur 19

(16) art’otel, AbiTour, CybErfolg, di-abolisch, Ei…malig , ent-Sorge, KloMotion, kuh-l, Liebesmüh’sique, Maus Oleum, Mo-zart, Neurosen-Kavalier, OBärarzt, Po-litisch, Sinn-Fonie, SonTakte, Supp-Kultur, Weiß-heit, … In jeder fünften Kontamination wird jedoch nicht die Konstituentengrenze, sondern die Konstituente als solche markiert (20,5% der Fälle), vgl. (17). Überlappende Konstituententeile werden nur selten (1,0% der Fälle), nicht überlappende Konstituententeile hingegen in 11,4% aller Fälle markiert, vgl. (18). 19 Eigene Auswertung der Belegsammlung von Friedrich (2008).

176 ! Carmen Scherer (17)

ABIcalypse, beKRENZt, betrOFFEN, effektief, EnterTOONment, Esskapaden, GENial, Gewerbestandort, konTAKTe, „Lamm“-bada, Mieleonär, Wond-Air-Bra, …

(18) a. INDEXCHANGE, unit[e] b. Ba(hn)fög, Fi(n)nale, (h)eilig, K(l)ick, (K)Ostbarkeiten, man(n), mi(e)tnehmen, PORNO, S(pr)achverhalt, Stadtra-t-deln, Tat(sp)ort, …20

5.3 Wortstrukturelle Informationen und Mittel zu deren Markierung Untersucht man die belegten Kontaminationen daraufhin, welche Art von wortstrukturierenden Mitteln verwendet wird, so ergeben sich im Hinblick auf die drei formulierten Hypothesen klare Ergebnisse, vgl. Tab. 3. graphische Mittel einfach paarig Konstituentengrenzen

typograph. Mittel

gesamt

140

1

0

141

Konstituente

1

3

39

43

nicht überlappende Konstituententeile

1

22

1

24

überlappende Konstituententeile

0

1

1

2

142

27

41

210

Markierungen gesamt

Tab. 3: Markierung von Informationen zur Wortstruktur nach verwendeten Mitteln 21

Von insgesamt 141 markierten Konstituentengrenzen werden 140 mithilfe eines einfachen graphischen Mittels angezeigt. Die einzige Ausnahme bildet der Beleg Statt(!)reisen, bei dem die Klammern an der Kontaktstelle zwischen den beiden Konstituenten positioniert sind. Die erste Hypothese wird durch die Belege in Friedrichs Sammlung somit bestätigt. Was die Markierung von Konstituenten angeht, so werden in 39 von 43 Fällen typographische Mittel gewählt. Lediglich bei vier Belegen werden graphische Mittel verwendet: Im Fall von Statt(!)reisen wird die vorangehende Konstituente durch das einfache (eingeklammerte) Ausrufezeichen hervorgehoben, im 20 Im Fall von PORNO wird für die Grapheme eine kleinere Schrifttype verwendet als für . Ich gehe insofern davon aus, dass in diesem Fall eine Markierung der nicht überlappenden Segmente vorliegt. 21 Eigene Auswertung der Belegsammlung von Friedrich (2008).

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

177

Fall von „Lamm“-bada, „Maß“-nahme und Wond-Air-Bra werden paarige Syngrapheme zur Auszeichnung der hervorgehobenen Konstituente verwendet.22 Auch die zweite Hypothese kann anhand des ausgewerteten Materials bestätigt werden. Hypothese 3 muss jedoch angesichts der Beleglage modifiziert werden. Da mit INDEXCHANGE und unit[e] nur zwei Belege vorliegen, in denen überlappende Konstituententeile markiert werden, ist eine Aussage über überlappende Konstituententeile nicht möglich. Zu beachten ist aber, dass einer der Belege, nämlich INDEXCHANGE, nicht in Einklang mit Hypothese 3 steht, da zur Markierung der überlappenden Teile mit der Hochstellung ein typographisches Mittel verwendet wurde. Im Hinblick auf die Markierung nicht überlappender Konstituententeile kann Hypothese 3 jedoch verifiziert werden: In 22 von 24 Fällen werden paarige graphische Mittel eingesetzt. Lediglich bei Le e/h re und PORNO werden einfache graphische bzw. typographische Mittel zur Markierung nicht überlappender Konstituententeile verwendet. Mit der Einschränkung auf nicht überlappende Konstituententeile kann folglich auch die dritte Hypothese bestätigt werden.

6 Fazit Kontaminationen sind bislang vor allem im Hinblick auf die Phänomene der Kürzung und Überlappung untersucht worden, die für Kontaminationen wie Eurasien, Frühaufstücker, Katzenjammertal oder Ostfiesland charakteristisch sind. Diese Prozesse finden auf phonologischer Ebene statt und schlagen sich bei der Verschriftung auf der graphischen Ebene nieder. Kürzungen und Überlappungen beeinträchtigen jedoch die morphologische Transparenz der Kontaminationen, d.h. das Erkennen von und die Segmentierung in Konstituenten – und das, obwohl die Adressaten zur Dechiffrierung von Kontaminationen in hohem Maße auf strukturelle Transparenz angewiesen sind, da die meisten Kontaminationen Ad-hoc-Bildungen sind und sich Art und Umfang von Kürzungen und/oder Überlappungen nicht vorhersagen lassen.

22 Im Fall von Wond-Air-Bra kann man alternativ argumentieren, dass hier der einfache Bindestrich gleich zwei Mal zur Auszeichnung von Wortgrenzen verwendet wird: Während der erste Bindestrich die linke Grenze der eingeschlossenen Konstituente markiert, zeigt der zweite Bindestrich deren Ende an. Diese Interpretation würde die Hypothesen 1 und 2 stärker noch stützen als die Interpretation als paariges Syngraphem.

178 ! Carmen Scherer Zumindest die geschriebene Sprache bietet Schreibenden aber die Möglichkeit, für den Adressaten Informationen zur Wortstruktur von Kontaminationen zu kodieren. Dies kann mithilfe von graphischen Mitteln wie Bindestrichen, Apostrophen oder Majuskeln, aber auch mithilfe typographischer Mittel wie Majuskelschreibung und Kursivierung geschehen. Wie die Auswertung der Belegsammlung von Friedrich (2008) zeigt, nutzen Schreibende bei 200 von 1.384 Belegen (14,5% der Fälle) graphische oder typographische Mittel, um strukturelle Informationen zu kodieren. Am häufigsten verwendet werden Bindestrich (29,5%), Binnenmajuskel (30,5%), Klammern (11,0%) und Majuskelschreibung (15,2%). Allein diese vier graphischen bzw. typographischen Mittel decken fünf von sechs strukturmarkierenden Schreibungen ab. Vereinzelt finden sich zudem Apostroph, Punkt, Anführungs- und Ausrufezeichen, Spatium sowie Fettschrift und Kursivierung. In etwa zwei Drittel aller Fälle (67,1%) markieren die genannten graphischen und typographischen Mittel Konstituentengrenzen (kuh-l, AbentEuro), in jeder fünften Kontamination (20,5%) wird aber keine Konstituentengrenze, sondern vielmehr die Konstituente als solche hervorgehoben (PostMODErne). Nicht überlappende Konstituententeile werden in 11,4% der Belege markiert (Stadt(Ver)führungen). Die Markierung einer Konstituentengrenze hat für die Adressaten den Vorteil, dass sie im Regelfall nicht nur Anfang bzw. Ende der beiden Konstituenten anzeigt, sondern auch die Position, an der eine Kontamination zu segmentieren ist. Bei der Markierung vollständiger Konstituenten wird das Erkennen der hervorgehobenen Konstituente in noch höherem Maß erleichtert als bei der Markierung von Konstituentengrenzen. Die Position, an der segmentiert werden muss, kann in diesem Fall über den Kontrast von hervorgehobenen und nicht hervorgehobenen Bestandteilen der Kontamination ermittelt werden. Was die Markierung nicht überlappender Konstituententeile angeht, so zeigen diese zwar nicht zwangsläufig eine Konstituentengrenze an, können aber genutzt werden, um die beteiligten Konstituenten zu rekonstruieren. Für strukturmarkierende Schreibungen von Kontaminationen kann schließlich eine Korrelation zwischen den graphischen bzw. typographischen Mitteln und den markierten wortstrukturellen Informationen festgestellt werden: So werden zur Markierung von Konstituentengrenzen in 99,3% der Fälle einfache graphische Mittel wie Bindestrich und Binnenmajuskel verwendet. Zur Hervorhebung von Konstituenten werden hingegen bei 90,7% der Belege typographische Mittel, etwa die Majuskelschreibung, genutzt. Nicht überlappende Konstituententeile werden schließlich in 91,7% der Fälle durch paarig auftretende graphische Mittel wie Klammern angezeigt. Zu prüfen ist in einem nächsten Schritt, inwiefern diese Beobachtung durch theoretische Überlegungen zu gra-

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

179

phischen und typographischen Mitteln, wie diese etwa von Bredel (2008) und Jacobs (2005) für Syngrapheme bzw. Spatien vorliegen, untermauert werden kann. Jedoch liegen meines Wissens bislang weder für wortinterne Majuskeln noch für typographische Mittel systematische Untersuchungen zu deren Funktion vor. Aufschlussreich wäre es zudem zu überprüfen, ob sich diese Korrelation auch bei der Untersuchung einer größeren Anzahl von Belegen nachweisen lässt. Problematisch hierbei ist allerdings, dass Kontaminationen im Gegensatz zu Wortbildungsprodukten wie Derivaten und Komposita zum einen deutlich seltener vorkommen und sich zum anderen kaum aus Korpora extrahieren lassen. Eine weitere Frage, die an dieser Stelle leider offen bleiben muss, ist, ob und inwiefern sich die Beobachtungen zu strukturmarkierenden Schreibungen bei Kontaminationen in einen größeren Zusammenhang stellen lassen mit strukturmarkierenden Schreibungen, die sich bei anderen komplexen Wörtern und Wortformen finden lassen, wie etwa die Bindestrich-Schreibung oder die Getrennt Schreibung von Komposita.

7 Literatur Altmann, Hans. 2008. Formale Aspekte bei Wortneubildungen und Probleme ihrer Beschreibung. In Ludwig M. Eichinger et al. (Hgg.), Wortbildung heute. Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache, 17–37. Tübingen: Narr. Bankhardt, Christina. 2010. Tütel, Tüpflein, Oberbeistrichlein. Mannheim: IDS. Barz, Irmhild. 1993. Graphische Varianten bei der substantivischen Komposition. Deutsch als Fremdsprache 30. 167–172. Bernabei, Dante. 2003. Der Bindestrich. Vorschlag zur Systematisierung. Frankfurt/Main: Lang. Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer. Bun"#$, Daniel. 2004. The Apostrophe. A Neglected and Misunderstood Reading Aid. Written Language and Literacy 7. 185–204 . Cannon, Garland. 2000. Blending. In Geert E. Booij et al. (Hgg.), Morphologie. Ein internationales Handbuch zur Flexion und Wortbildung, 952–956. Berlin: de Gruyter. DR = Rat für deutsche Rechtschreibung (Hg.). 2006. Deutsche Rechtschreibung. Regeln und Wörterverzeichnis. Amtliche Regelung. Tübingen: Narr. Donalies, Elke. 2005. Die Wortbildung des Deutschen. 2. Aufl. Tübingen: Narr. Dürscheid, Christa. 2000. Verschriftungstendenzen jenseits der Rechtschreibreform. Zeitschrift für germanistische Linguistik 28. 237–247. Ewald, Petra. 1997. Is’ wat? SparGeld! – Graphostilistika als sekundäre und primäre Stilelemente. In Christine Keßler & Karl-Ernst Sommerfeldt (Hgg.), Sprachsystem – Text – Stil. Festschrift für Georg Michel und Günter Starke zum 70. Geburtstag, 49–60. Frankfurt/ Main: Lang.

180 ! Carmen Scherer Ewald, Petra. 2006. Aus der Geschichte eines Zankapfels: Zur Entwicklung der Apostrophschreibung im Deutschen. In Ursula Götz & Stefanie Stricker (Hgg.), Neue Perspektiven der Sprachgeschichte, 139–161 Heidelberg: Winter. Friedrich, Cornelia. 2008. Kontamination – Zur Form und Funktion eines Wortbildungstyps im Deutschen. Erlangen: Diss. http://www.opus.ub.uni-erlangen.de/opus/volltexte/2008/1174/ Gallmann, Peter. 1985. Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Grundlagen für eine Reform der Orthographie. Tübingen: Niemeyer. Gallmann, Peter. 1989. Syngrapheme an und in Wortformen. Bindestrich und Apostroph im Deutschen. In Peter Eisenberg & Hartmut Günther (Hgg.), Schriftsystem und Orthographie, 85–110. Tübingen: Niemeyer. Grésillon, Almuth. 1984. La règle et le monstre: Le mot-valise. Interrogations sur la langue, à partir d’un corpus de Heinrich Heine. Tübingen: Niemeyer. Hillenbrand, Uli. 2010. Interpunktion auf Wort-Ebene: Der Bindestrich. Mainz: Magisterarbeit. Jacobs, Joachim. 2005. Spatien. Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung. Berlin: de Gruyter. Klein, Wolf P. 2002. Der Apostroph in der deutschen Gegenwartssprache. Logographische Gebrauchserweiterungen auf phonographischer Basis. Zeitschrift für germanistische Linguistik 30. 169–197. Reischer, Jürgen. 2008. Die Wortkreuzung und verwandte Verfahren der Wortbildung. Eine korpusbasierte Analyse des Phänomens „Blending“ am Beispiel des Deutschen und Englischen. Hamburg: Kova". Ronneberger-Sibold, Elke. 2005. Zur Definition und Typologie von Wortkreuzungen. Ein Vorschlag auf der Grundlage ihrer relativen Transparenz. In Gertraud Fenk-Oczlon & Christian Winkler (Hgg.), Sprache und Natürlichkeit. Gedenkband für Willi Mayerthaler, 205–224. Tübingen: Narr. Ronneberger-Sibold, Elke. 2006. Lexical Blends. Functionally Tuning the Transparency of Complex Words. Folia Linguistica. Acta Societatis Linguisticae Europaeae 40 (1–2). 155– 181. Scherer, Carmen. 2010. Das Deutsche und die dräuenden Apostrophe. Zur Verbreitung von ’s im Gegenwartsdeutschen. Zeitschrift für germanistische Linguistik 38. 1–24. Scherer, Carmen. 2012. Vom Reisezentrum zum Reise Zentrum. Variation in der Schreibung von N+N-Komposita. In Livio Gaeta & Barbara Schlücker (Hgg.), Das Deutsche als kompositionsfreudige Sprache. Strukturelle Eigenschaften und systembezogene Aspekte, 57–81. Berlin: de Gruyter. Scherer, Carmen. 2013. Kalb’s Leber und Dienstag’s Schnitzeltag. Zur Funktionalisierung des Apostrophs im Deutschen. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 32. 75–112. Schmid, Hans Ulrich. 2003. Zölibazis Lustballon. Wortverschmelzungen in der deutschen Gegenwartssprache. Muttersprache 113. 265–278. Schulz, Matthias. 2004. Jein, Fortschrott und Ehrgeizhals. Wortkreuzungen in der deutschen Gegenwartssprache. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 32. 286–306. Stein, Stephan. 1999. Majuskeln im WortInnern: Ein neuer graphostilistischer Trend für die Schreibung von Komposita in der Werbesprache. Muttersprache 109, 261–278. Windisch, Rudolf. 1991. Die Wortverschmelzung – ein ‚abscheußliches Monstrum‘ der französischen und deutschen Wortbildung? Romanistisches Jahrbuch 42, 34–51. Zimmermann, Gerhard. 1984. Der Genitivapostroph im Deutschen. Theorie und Praxis seines Gebrauchs in Geschichte und Gegenwart. Muttersprache 94. 417–434.

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

181

8 Anhang Wortkontaminationen in der Belegsammlung von Friedrich (2008), die strukturmarkierende Schreibungen aufweisen Bei Kontaminationen, in deren Schreibung mehrere graphische oder typographische Mittel enthalten sind, wurden die untersuchungsrelevanten Mittel durch Unterstreichung markiert. Abkürzungen: 1. Verwendete Mittel: graph (e) graph (p) typo B-Majuskel Majuskel 2.

einfache graphische Mittel paarige graphische Mittel typographische Mittel Binnenmajuskel Majuskelschreibung

Markierte Informationen: Grenze Konstituentengrenze überlapp überlappende Konstituententeile nicht überlapp nicht überlappende Konstituententeile

Nr. Kontamination

Ausgangseinheiten (Friedrich 2008)

verwendete Mittel

markierte Information

1 AbentEuro

Abenteuer + Euro

graph (e)

Grenze

B-Majuskel

2 ABIcalypse

Abi (Abitur) + apocalypse typo

Majuskel

Konstituente

3 AbiTour

Abitur + Tour

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

4 AbiTours

Abitur + tour(s)

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

5 Ahn-plugged

Ahn(-Trio) + unplugged

graph (e)

Bindestrich

Grenze

6 AirLEBNISBLATT

Airport + Erlebnisblatt

typo

Majuskel

Konstituente

7 AIRmatic

air + automatic

typo

Majuskel

Konstituente

8 alter-naiv

alternativ + naiv

graph (e)

Bindestrich

Grenze

9 AnimaniA 10 ARTenschutz

Anime + mania

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

art + Artenschutz

typo

Majuskel

Konstituente

11 Ar-Tiger

artiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

12 art’otel

art + hotel

graph (e)

Apostroph

Grenze

13 auf(er)stehen

auferstehen + aufstehen graph (p)

Klammern

nicht überlapp

182 ! Carmen Scherer Nr. Kontamination 14 AufBASS’d

Ausgangseinheiten (Friedrich 2008)

verwendete Mittel

markierte Information

aufbassd + Bass

graph (e)

Apostroph

Grenze

typo

Majuskel

Konstituente

15 augenKlick

AufBASS’d Augenblick + Klick

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

16 aveNARIUS!

Ave! + Avenarius

typo

Majuskel

Konstituente

17 baby-chi

Baby + Tamagotchi

graph (e)

Bindestrich

Grenze

18 Ba(hn)fög

Bahn + Bafög

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

19 BallAnceAkt

Ball + Balanceakt

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

20 Ball-Istisch

Ball + ballistisch

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

graph (e)

Bindestrich

Grenze

graph (e)

Bindestrich

Grenze

Ball-Istisch 21 Bar-acca

Bar + baracca

22 Bär-Tiger

bärtiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

23 Bass-Kontrolle

Bass + Passkontrolle

graph (e)

Bindestrich

Grenze

24 BavaRio

Bavaria + Rio

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

25 beKRENZt

begrenzt + Krenz

typo

Majuskel

Konstituente

26 betrOFFEN

betroffen + offen

typo

Majuskel

Konstituente

27 Bibliothe-Karin

Bibliothekarin + Karin

graph (e)

Bindestrich

Grenze

28 BiRadlon

Biathlon + Rad

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

29 Bon(n)jour

Bonn + Bonjour!

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

30 Bors-Tiger

borstiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

31 BrakeMatic

brake + automatic

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

32 Care-O-Bot

to care + robot

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

Care-O-Bot

graph (e)

Bindestrich

Grenze

33 CocoCabana

coconut + Copacabana

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

34 ColorMatic

color + automatic

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

35 ConnecTable

to connect + table

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

36 creHAARtiv

kreativ + Haar

typo

Majuskel

Konstituente

37 CybErfolg

cyber space + Erfolg

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

38 Da-Dandy

Dada + Dandy

graph (e)

Bindestrich

Grenze

39 di-abolisch

graph (e)

Bindestrich

Grenze

40 diVino

(Lady) Di(ana) + diabolisch divino + vino

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

41 ear.sy

ear + easy

graph (e)

Punkt

Grenze

42 EDI-CATION

Edi + education

graph (e)

Bindestrich

Grenze

43 effektief

effektiv + tief

typo

Fettschrift

Konstituente

44 Ei…malig

(Oster-)Ei + einmalig

graph (e)

sonstiges

Grenze

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

183

Nr. Kontamination

Ausgangseinheiten (Friedrich 2008)

verwendete Mittel

markierte Information

45 E-Lite

E-Business + Elite

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

46 EnterTOONment

entertainment + TOON

typo

Majuskel

Konstituente

47 ENT’LICH

Entner + endlich

graph (e)

Apostroph

Grenze

48 ent-Sorge

entsorgen + Sorge

graph (e)

Bindestrich

Grenze

49 ESS-Bahn

essen + S-Bahn

typo

Majuskel

Konstituente

50 Esskapaden

essen + Eskapade(n)

typo

Kursivierung Konstituente

51 EURopäischE

eure + europäische

typo

Majuskel

Konstituente

52 ExorbiTanz

exorbitant + Tanz

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

53 FairKauf

fair + Verkauf

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

54 Fi(n)nale

Finne + Finale

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

55 FORDSchritt

Ford (Fiesta) + Fortschritt typo

Majuskel

Konstituente

56 Ford-Schritt

Ford (Fiesta) + Fortschritt graph (e)

Bindestrich

Grenze

57 FrohnaTour

Frohnatur + Tour

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

58 FruttAmore

frutta + amore

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

59 FUNtastisch

fun + fantastisch

typo

Majuskel

Konstituente

60 geBallt

geballt + Ball

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

61 GegenMASSnahme

typo

Majuskel

Konstituente

62 Geh’pflegt!

Gegenmaßnahme + (eine) Maß Geh’! + gepflegt

graph (e)

Apostroph

Grenze

63 GenEthik

Genetik + Ethik

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

64 GENial

Gen + genial

typo

Majuskel

Konstituente

65 Gewerbestandort

Gewerbestandort + best typo

Fettschrift

Konstituente

66 GLÜCKzisse

Glück + Narzisse

typo

Majuskel

Konstituente

67 HardCora

hardcore + Cora

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

68 HauptSache

Haupt + Hauptsache

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

69 Hef-Tiger

heftiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

70 (h)eilig

heilig + eilig

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

71 Hocus Focus

graph (e)

Spatium

Grenze

72 Hometronic

Hokuspokus + Ford Focus Cmax home + electronic

typo

Fettschrift

Konstituente

73 INDEXCHANGE

index + (stock) exchange typo

sonstiges

überlapp

74 InteracTable

interactive + table

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

75 Jack-Pot

Jack (White) + Jackpot

graph (e)

Bindestrich

Grenze

76 Ja-nus!

Ja! + (M.) Janus

graph (e)

Bindestrich

Grenze

77 jAZUBI

ja + Azubi

typo

Majuskel

Konstituente

78 Juch-Hai!

Juchhei! + Hai

graph (e)

Bindestrich

Grenze

184 ! Carmen Scherer Nr. Kontamination

Ausgangseinheiten (Friedrich 2008)

verwendete Mittel

markierte Information

79 Juhu-biläum

Juhu! + Jubiläum

graph (e)

Bindestrich

Grenze

80 KatWoman

Katrin + Catwoman

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

81 KauderWebsch

Kauderwelsch + Web

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

82 K(l)ick

Klick + Kick

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

83 KloMotion

Klo (Klosett) + Promotion graph (e)

B-Majuskel

Grenze

84 koffe-in

Koffein + in

graph (e)

Bindestrich

Grenze

85 Ko-Librettist

Kolibri + Librettist

graph (e)

Bindestrich

Grenze

86 konTAKTe

Kontakt(e) + Takt(e)

typo

Majuskel

Konstituente

87 (K)Ostbarkeiten

Kostbarkeit(en) + Osten

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

(K)Ostbarkeiten 88 KÖST(ER)LICH

(Gaby) Köster + köstlich

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

89 Kräf-Tiger

kräftiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

90 krrr-iegen

krrr + kriegen

graph (e)

Bindestrich

Grenze

91 kuh-l

Kuh + cool

graph (e)

Bindestrich

Grenze

92 KulTour

Kultur + Tour

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

93 „L-Ähre“

Lehre + Ähre

graph (e)

Bindestrich

Grenze

94 „Lamm“-bada

Lamm + Lambada

„Lamm“-bada

graph (e)

Bindestrich

Grenze

graph (p)

sonstiges

Konstituente

95 Läst-Tiger

lästiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

96 Le e/h re

Leere + Lehre

graph (e)

sonstiges

nicht überlapp

97 LeeMan

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

98 Liebesmüh’sique

(Stephan) Lehman + HeMan Liebesmüh’ + musique

graph (e)

Apostroph

Grenze

99 LiteraTour

Literatur + Tour

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

100 log.buch

to log in + Logbuch

graph (e)

Punkt

Grenze

101 log.ruf

to log in + Lockruf

graph (e)

Punkt

Grenze

102 Lus-Tiger

lustiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

103 määh-chtig

määh + mächtig

graph (e)

Bindestrich

Grenze

104 Mäch-Tiger

mächtiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

105 MaiGLÜCKchen

Maiglöckchen + Glück

typo

Majuskel

Konstituente

106 man(n)

man + Mann

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

Maß nehmen + Maßnahme

graph (e)

Bindestrich

Grenze

graph (p)

sonstiges

Konstituente

108 Maus Oleum

Maus + Mausoleum

graph (e)

Spatium

Grenze

109 Mc LenburgVorpommern

Mc + MecklenburgVorpommern

graph (e)

Spatium

Grenze

107 „Maß“-nahme „Maß“-nahme

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

185

Nr. Kontamination

Ausgangseinheiten (Friedrich 2008)

verwendete Mittel

markierte Information

110 MediKuss

medicus + Kuss

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

111 medi-zynisch

medizinisch + zynisch

graph (e)

Bindestrich

Grenze

112 Mee(h)r

Meer + mehr

graph (p)

Klammern

nicht überlapp nicht überlapp

113 Mich(e)lin

Michl + Michelin

graph (p)

Klammern

114 Mielennium

Miele + Millennium

typo

Kursivierung Konstituente

115 Mieleonär

Miele + Millionär

typo

Kursivierung Konstituente

116 mi(e)tnehmen

mieten + mitnehmen

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

117 Mini-kolaus

mini + Nikolaus

graph (e)

Bindestrich

Grenze

118 MitteMeer

Mitte + Mittelmeer

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

119 M-joy

Milka + to enjoy

graph (e)

Bindestrich

Grenze

120 MosQuit

mosquito + to quit

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

121 Mo-zart

Mozart + zart

graph (e)

Bindestrich

Grenze

122 multi-kultig

multikulti + kultig

graph (e)

Bindestrich

Grenze

123 MusiComedy

music + comedy

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

124 Na(ck)tionalspieler

nackt + Nationalspieler

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

125 Naddel-Streifen

Naddel + Nadelstreifen

graph (e)

Bindestrich

Grenze

126 NAToURs

Natur + tour(s)

typo

Majuskel

Konstituente

127 NatUrlaub

Natur + Urlaub

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

128 NEID-RIDER

Neid + Knight Rider

graph (e)

Bindestrich

Grenze

129 Neurosen-Kavalier

Neurose(n) + Rosenkavalier nicotine + quit

graph (e)

Bindestrich

Grenze

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

130 NiQuitin 131 OBärarzt

Oberarzt + Bär

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

132 OHR-ginal

Ohr + original

graph (e)

Bindestrich

Grenze

OHR-ginal

typo

Majuskel

Konstituente

133 Olymp-ja!

Olympia + Ja!

graph (e)

Bindestrich

Grenze

134 OOHAgfa!

Ooha! + Agfa

typo

Majuskel

Konstituente

135 Orien-Tales

Orient + tale(s)

graph (e)

Bindestrich

Grenze

136 Peli-Kahn

Pelikan + Kahn

graph (e)

Bindestrich

Grenze

137 Pfundt’ig

Pfundt + pfundig

graph (e)

Apostroph

Grenze

138 Phall-Obst

Phallus + Fallobst

graph (e)

Bindestrich

Grenze

139 Photoge(h)n

photogen + gehen

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

140 PlaBla

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

141 Po-litisch

Platengymnasium + Blabla Po (Popo) + politisch

graph (e)

Bindestrich

Grenze

142

Porno + no

typo

sonstiges

nicht überlapp

PORNO

186 ! Carmen Scherer Nr. Kontamination

Ausgangseinheiten (Friedrich 2008)

verwendete Mittel

markierte Information

143 Po-sition

Po (Popo) + Position

graph (e)

Bindestrich

Grenze

144 PositioNet

position + net

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

145 PostMODErne

Postmoderne + Mode

typo

Majuskel

Konstituente

146 Präch-Tiger

prächtiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

147 PreFair

to prefer + fair

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

148 Prêt-à-Po-ter

Prêt-à-Porter + Po (Popo) graph (e)

Bindestrich

Grenze

149 PrimusTronix

primus + electronics

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

150 Pub’mheimer

pub + Pappenheimer

graph (e)

Apostroph

Grenze

151 RAAbits

RAABE + bit(s)

typo

Majuskel

Konstituente

152 RamASTORfer

typo

Majuskel

Konstituente

153 Saf-Tiger

Ramersdorfer + (Willy) Astor saftiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

154 Sa(lz)hara

Salz + Sahara

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

155 Schlaf(t)raum

Schlafraum + Traum

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

156 SchoQuark

Schokoraspel + Quark

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

157 Schwimm-sal-abim

Schwimmbad + Simsalabim Schwulen- + Lesben

graph (e)

Bindestrich

Grenze

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

158 SchwuLen(-) 159 SchwuLesbisch

schwul + lesbisch

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

160 SehSüchte

sehen + Sehnsucht

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

161 SieMatic

(August) Siekmann + automatic Sinn + Sinfonie

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

162 Sinn-Fonie Sinn-Fonie

graph (e)

Bindestrich

Grenze

163 SkulpTour

Skulptur + Tour

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

164 SlugBot

slug + robot

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

165 SonTakte

Sonntag(e) + Takt(e)

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

166 Sport(Ver)führungen Sportführung + Verführung(en) 167 S(pr)achverhalt Sprache + Sachverhalt

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

168 Stadtra-t-deln

graph (p)

sonstiges

nicht überlapp

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

graph (e)

sonstiges

Konstituente

Stadtrat + radeln

169 Stadt(Ver)führungen Stadtführung + Verführung(en) 170 Statt(!)reisen statt + Stadtreise(n) Statt(!)reisen

graph (p)

Klammern

Grenze

171 Stau(t)raum

Stauraum + Traum

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

172 StyLab

style + lab

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

Schreibung als Fenster zur Wortstruktur? !

187

Nr. Kontamination

Ausgangseinheiten (Friedrich 2008)

verwendete Mittel

markierte Information

173 Supp-Kultur

Suppe + Subkultur

graph (e)

Bindestrich

Grenze

174 Tat(sp)ort

Tatort + Sport

graph (p)

Klammern

nicht überlapp

175 TEElefon

Tee + Telefon

typo

Majuskel

Konstituente

176 Tetra-Bag

Tetra Pak + bag

graph (e)

Bindestrich

Grenze

177 ThinkPad

to think + notepad

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

178 TipMatic

to tip + automatic

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

179 TOPjects

top + project(s)

typo

Majuskel

Konstituente

180 TransFair

Transfer + fair

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

181 transporTieren

Transportiere + Tier(e)

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

182 UHR-KNALL

Uhr + Urknall

graph (e)

Bindestrich

Grenze

183 UMMM … rühr’n

umrühr(e)n + mmm

typo

Majuskel

Konstituente

184 unit[e]

to unite + energy

graph (p)

Klammern

überlapp

185 UniVersum

Uni + Universum

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

186 ver.diENEN

ver.di + verdienen

typo

Majuskel

Konstituente

187 Verfer-Tiger

Verfertiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

188 VerHelltnis

Verhältnis + ein Helles

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

189 VitaMiene

Vitamin + Miene

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

190 Wahrhaf-Tiger

wahrhaftiger + Tiger

graph (e)

Bindestrich

Grenze

191 WARum?

war + Warum?

typo

Majuskel

Konstituente

192 Weiß-heit

weiß + Weisheit

graph (e)

Bindestrich

Grenze

193 Woll-Endung

Wolle + Vollendung

graph (e)

Bindestrich

Grenze

194 Woll-Lust

Wolle + Wollust

graph (e)

Bindestrich

Grenze

195 Wond-Air-Bra

Wonderbra + air

graph (p)

sonstiges

Konstituente

196 WONDERBRAthers

Wonderbra + brother(s)

typo

Majuskel

Konstituente

197 Wow-kabel

Wow! + Vokabel

graph (e)

Bindestrich

Grenze

198 WunderBar

wunderbar + Bar

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

199 ZappIencE

zapping + sapience

graph (e)

B-Majuskel

Grenze

ZappIencE 200 Zinsationswoche

graph (e) Zins + Sensationswoche typo

B-Majuskel

Grenze

Fettschrift

Konstituente

Christa Dürscheid & Elisabeth Stark

Anything goes?

SMS, phonographisches Schreiben und Morphemkonstanz

1 Einleitung: ‚Anything goes‘? „ish cool xi mal wieder chli mit dir zplaudere hüt ... und nei ich bin kein stalker ;-)“, beendet Larissa einen Chat im Internet in jugendsprachlichem Neuschweizerdeutsch. Ein Satz wie er heute in Internetforen von jungen Schweizerinnen und Schweizern tausendfach geschrieben wird. Diese Art der schriftlichen Kommunikation lässt zuweilen nicht nur Deutschlehrern die Haare zu Berge stehen. Denn die Sätze spotten meist allen Regeln der orthografischen Kunst.

Liest man diese und andere Medienberichte1 über das Schreiben von SMS, stellt man fest, dass häufig davon die Rede ist, dies sei ein Schreiben, das – vorsichtig formuliert – nicht der standardsprachlichen Norm entspricht. Doch ist es tatsächlich so, dass hier die „orthographische Anarchie“ vorherrscht (wie der Titel des obigen Zeitschriftenartikels lautet), dass alles möglich und das Schreiben regellos ist? Im vorliegenden Beitrag wird anhand eines umfangreichen SMSKorpus aus der Schweiz gezeigt, dass es Schreibregularitäten gibt, die auch in solchen Texten erhalten bleiben, welche gemeinhin dem normfernen Schreiben zugeordnet werden. Dabei steht hier nicht die SMS-Kommunikation als solche (etwa im Vergleich zur E-Mail- oder Chatkommunikation) im Zentrum. Wir ziehen Daten aus der SMS-Kommunikation vielmehr nur deshalb heran, weil es sich bei diesen, wie die Forschung gezeigt hat (cf. Thurlow & Poff 2013), oft um eine Form nähesprachlicher Kommunikation handelt, in der normfern geschrieben wird (d.h. um eine Kommunikation zwischen Personen, die sich gut kennen und dialogisch, meist ohne Themenfixierung, interagieren; zu weiteren Beschreibungsparametern nähesprachlicher Kommunikation in diesem Sinne cf. Koch & Oesterreicher 22011: 7–10). Es wird im Folgenden auch nur um solche Schreibstrategien gehen, die Aufschluss darüber geben können, in welchem Verhältnis morphologische und phonologische Regularitäten im normfernen Schreiben zueinander stehen. Eine Unterscheidung zwischen Tippfehlern und anderen Typen von Abweichungen von der Standardorthographie der einzelnen

1 Das Zitat stammt aus einem Artikel mit der Überschrift „Orthographische Anarchie“ (siehe unter www.unipublic.uzh.ch/archiv/magazin/gesellschaft/2008/3053.html ).

190 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark untersuchten Sprachvarietäten nehmen wir nicht vor, da im Einzelfall nicht zu entscheiden ist, um welchen Typus von Fehler es sich handelt. Auch werden hier nur solche Schreibphänomene thematisiert, die das Verhältnis von Phonologie und Morphologie betreffen, andere, die ebenfalls charakteristisch für das SMS-Schreiben sind (z.B. die Kleinschreibung von Substantiven oder die Verwendung von Akronymen und Smileys), bleiben unberücksichtigt. Ziel des Beitrags ist, die morphologischen Regularitäten zu beschreiben, die sich in der Orthographie einer Sprache bzw. in der Graphie einer ihrer Varietäten beobachten lassen – und dies mit Fokus auf dem Schreiben in SMS. Wir werden der Frage nachgehen, ob in den schweizerdeutschen und den französischen SMS aus unserem Korpus das morphologische Prinzip auch dann umgesetzt wird, wenn auf anderen Ebenen zahlreiche Regelabweichungen (wie z.B. im Bereich der Groß- und Kleinschreibung) vorkommen. Durch die Einbeziehung von zwei Sprachsystemen, die verschiedenen Schriftsystemen und Varietätenräumen angehören – nämlich den schweizerdeutschen Dialekten einerseits und dem Standardfranzösischen andererseits – werden Beobachtungen dazu angestellt, ob und wie sich diese Schriftsysteme in ihrer Sensitivität für morphologische Eigenschaften in normfernen Schriftverwendungskontexten darstellen. Dabei wird sich erweisen, dass das morphographische Prinzip in den von uns untersuchten Fällen das vorherrschende Schreibprinzip ist, nicht das an der Lautung orientierte phonographische Prinzip. Damit stehen unsere Befunde im Gegensatz zu weit verbreiteten Auffassungen von typischen SMSSchreibweisen (cf. etwa Anis 2007 zum Französischen, Dittmann et al. 2007 zum Deutschen). In einem ersten Schritt möchten wir dafür argumentieren, dass das morphologische Prinzip nicht nur die Konstanzschreibung lexikalischer Stämme (vgl. komm in komm-en und komm-t), sondern auch die Konstanzschreibung funktionaler Morpheme erfassen sollte (vgl. frz. les amis, ‘die Freunde’ vs. les femmes, ‘die Frauen’, in denen der pluralische Determinierer konstant mit geschrieben wird, obwohl dieses nur im ersten Fall phonisch realisiert wird: [lezami] vs. [lefam]), um der Schnittstelle zwischen morphologischer und schriftlicher Struktur gerecht zu werden. Dazu ist zunächst eine Klärung des Terminus Morphemkonstanz erforderlich (Abschnitt 2). Im Anschluss daran stellen wir unsere Datengrundlage vor, die auf qualitativen und quantitativen Analysen schweizerdeutscher und französischer SMS aus dem Schweizer SMSKorpus beruht (cf. www.sms4science.ch). Dann wenden wir uns der Frage zu, in welcher Weise das morphologische Prinzip in diesen SMS umgesetzt wird (Abschnitt 3). Dabei legen wir den Schwerpunkt auf das Verhältnis von phonographischem Schreiben und lexikalischer Morphemkonstanz. Danach werden, ausgehend von französischen Daten, nur noch solche Regularitäten betrachtet,

Anything goes? !

191

die sich der – von uns so bezeichneten – funktionalen Morphemkonstanz zuordnen lassen (Abschnitt 4). Abschließend wird dafür plädiert, dass in der Linguistik die graphische Kodierung lexikalisch-morphologischer und morphosyntaktischer Informationen im normfernen Schreiben systematisch berücksichtigt werden sollte (Abschnitt 5). Unserer Datenauswertung legen wir die Hypothese zugrunde, dass auch beim Schreiben im normfernen Raum das morphologische Prinzip die Verschriftung leitet. Zwar kommt in den SMS aus unserem Korpus tendenziell auch das phonographische Prinzip zum Tragen, doch spielen die lexikalische Morphemkonstanz und, wie die französischen Daten zeigen, die funktionale Morphemkonstanz in den untersuchten Fällen die wichtigere Rolle.

2 Das Prinzip der Morphemkonstanz In der Schriftlinguistik wird angenommen, dass sowohl das deutsche als auch das französische Schriftsystem auf dem Zusammenspiel zweier grundlegender Prinzipien beruhen (cf. Meisenburg 1996 für das Französische, Dürscheid 42012 für das Deutsche), auf dem Prinzip der Morphemkonstanz und dem Prinzip der Phonemkonstanz (oder besser: dem phonographischen Prinzip, s.u.). Letzeres besagt nach Günther (1988: 93), dass „lautlich minimal Gleiches [...] durch eine Menge gleichbleibender schriftlicher Formen“ dargestellt wird. Günther bezieht dieses Prinzip nur auf die segmentale Ebene, d.h. auf die Korrespondenz von Phonemen und Graphemen. Doch gibt es, wie andere Arbeiten zeigen (cf. Primus 2010), auch suprasegmentale Einheiten (z.B. die Silbe), die ebenfalls eine Entsprechung zwischen Lautung und Schreibung aufweisen. Darauf werden wir in Abschnitt 3.2 eingehen. Was nun das SMS-Schreiben betrifft, wird das lautnahe Verschriften in der Forschung immer wieder als typisches Merkmal genannt. So listet Anis (2007: 97–101) verschiedene Schreibweisen auf, die er als „phonetic spelling“ bezeichnet (z.B. die Schreibung für frz. , ‘dass/das’, [k!]). Doch geht dieses Schreiben selten so weit, dass eine genaue phonetische Wiedergabe der jeweiligen Lautfolge vorliegt. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn die Anlautsequenz in frz. je t’embrasse, ‘ich küsse/umarme dich’, /"!tãbras/, als geschrieben würde, da hier im Allegro-Sprechen der vorangehende und – nach der Elision des Schwa – mit dem stimmlosen Plosiv [t] direkt in Kontakt stehende anlautende Frikativ durch regressive Assimilation stimmlos wird: [#tãbras]. Solche Schreibungen sind aber selten. Deshalb sprechen wir im Folgenden nur von phonographischem, nicht aber von phonetischem Schreiben. Davon zu un-

192 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark terscheiden ist das morphographische Schreiben, das sich daran orientiert, dass es Morphemformen (und nicht primär Phoneme) sind, die graphisch konstant gehalten werden. Wie Neef (2005: 12) feststellt, ist die Orthographie bestrebt, „konstanten sprachlichen Einheiten konstante Schreibungen zuzuordnen.“ Eine Möglichkeit, diese Konstanz in der Graphie zu gewährleisten, ist es, lexikalische Stämme konstant zu schreiben – und zwar auch dann, wenn der Lautwert dieser Einheiten variiert (cf. als prototypisches Beispiel die Schreibung von dt. , [hunt], und , [hund-!]). Laut Neef wird dieses Bestreben, morphologische Einheiten in konstanter Form schriftlich zu präsentieren, als „morphologisches Prinzip oder Stammprinzip“ (Neef 2005: 214) bezeichnet. Eine ähnliche Formulierung findet sich bei Primus (2010). Die Autorin spricht vom „Prinzip der Morphemkonstanz (auch Stamm- oder Schemakonstanz)“ und stellt fest, dass sich dieses auf den Umstand bezieht, dass „paradigmatisch aufeinander bezogene Morpheme ähnlich oder gleich geschrieben werden“ (Primus 2010: 26). Mit einer solchen Formulierung legt sie nahe, dass es sich bei den Termini Prinzip der Morphemkonstanz und Stammkonstanz um Synonyme handle und dieses Prinzip somit nur die Konstanzschreibung von Stämmen bzw. Wurzeln betreffe. Die Stammkonstanz stellt aber nur einen Teilbereich des morphologischen Prinzips dar. Nerius et al. (2000: 148, siehe auch 42007: 149) halten fest, dass „dieses Prinzip für alle Arten von Morphemen gilt; deshalb ist die traditionelle Bezeichnung Stammprinzip dafür zu eng.“ Dessen ungeachtet illustrieren Nerius et al. (42007: 158–167) die Gültigkeit des morphologischen Prinzips (das sie morphematisches Prinzip nennen) ausschließlich an der Beziehung der lexikalischen zur graphischen Ebene (z.B. an der Schreibung von Stammformen mit Umlaut, cf. , [kalt] – , [k$lt%]). Wir möchten dagegen zeigen, dass dieses Prinzip auch auf grammatisch-funktionaler Ebene, d.h. bei der Kodierung morphosyntaktischer Informationen wirksam ist. Wir unterscheiden also zwischen der Konstanzschreibung lexikalischer Einheiten (=lexikalische Morphemkonstanz) und der Konstanzschreibung grammatisch-funktionaler Elemente (=funktionale Morphemkonstanz). So folgt die Schreibung der Verbflexion im Französischen dem Prinzip der funktionalen Morphemkonstanz (cf. Abschnitt 4) – und das, wie die französischen Daten aus unserem SMS-Korpus veranschaulichen, häufig auch in den Fällen, in denen normfern geschrieben wird und die graphische Realisierung der Morpheme von der lautlichen erheblich abweicht.

Anything goes? !

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3 Phonographisches Schreiben und lexikalische Morphemkonstanz im SMS-Korpus 3.1 Datengrundlage: das Schweizer SMS-Korpus Im Herbst/Winter 2009/2010 führten die Universitäten Zürich und Neuenburg in der gesamten Schweiz, mit Unterstützung der Medien und der Swisscom, eine SMS-Sammelaktion durch: Die Bevölkerung wurde damals dazu eingeladen, Original-SMS in Kopie an eine Gratisnummer zu schicken. Nach Abschluss der Kampagne standen 23.988 SMS zur Verfügung, die anonymisiert, ansonsten aber unverändert (also nicht etwa abgetippt) ins Korpus eingingen. Die SMS stammten von 2.627 Personen (davon 18% aus dem französischsprachigen Teil der Schweiz), von denen 1.311 Personen zusätzlich anonym einen OnlineFragebogen mit Angaben zu soziodemographischen Faktoren (Alter, Geschlecht, Herkunft, Muttersprache(n), Schreib- und Lesegewohnheiten u.a.) ausfüllten. In diesem gaben mehr als 2/3 der Befragten (d.h. 889 Personen) an, ein schweizerdeutscher Dialekt sei ihre Muttersprache, 161 Personen nannten Hochdeutsch, 256 Französisch, 54 Italienisch und 26 Rätoromanisch als Muttersprache, 125 Personen eine andere Sprache (Mehrfachnennungen waren möglich). In einer zweiten Erhebung im Mai/Juni 2011 kamen weitere 1.959 SMS – vorwiegend in den italienischen und bündnerromanischen Varietäten – hinzu, so dass insgesamt 25.947 SMS für die Datenanalyse vorliegen. Zum Zeitpunkt der ersten Datensammlung besaßen nur wenige Personen ein Smartphone; die meisten SMS waren also von einem Handy mit numerischer Tastatur verschickt worden. SMS, die über den Computer verfasst wurden, gingen zwar in das Korpus ein, wurden aber – sofern sie als solche erkennbar waren (z.B. durch den Zusatz sent by xtrazone) – markiert. Dies ist wichtig zu betonen, weil sich das Schreiben von SMS auf dem Handy anders gestaltet als das Schreiben von SMS am Computer (z.B. im Hinblick auf die Rechtschreibprüfung). Die Aussagen, die im Folgenden zu SMS-Daten gemacht werden, beziehen sich denn auch nur auf solche SMS, die aus der ersten Datensammlung stammen und auf dem Handy geschrieben wurden. Andere, von denen man annehmen konnte, dass es am Computer verfasste SMS sind (s.o.), haben wir in der Analyse nicht berücksichtigt. Alle SMS wurden nach ihrer jeweiligen ‘Hauptsprache’ klassifiziert, also nach der Sprache oder Varietät, aus der die Mehrzahl der graphischen Wörter stammte. Dabei zeigt sich eine große Sprachenvielfalt: Die SMS sind in 13 verschiedenen Sprachen verfasst (u.a. in Deutsch, Französisch, Italienisch, Bünd-

194 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark nerromanisch, Englisch, Niederländisch, Schwedisch, Spanisch, Portugiesisch). Das Deutsche hat dabei den größten Anteil: Allein 10.705 SMS (ca. 60% aller deutschsprachigen SMS) wurden in einem schweizerdeutschen Dialekt geschrieben, 7.192 SMS in nicht-dialektalem Deutsch, 4.629 SMS in Französisch, d.h. diese Sprachen bzw. Varietäten sind die häufigsten im Korpus vertretenen und Gegenstand unserer weiteren Analyse. Bemerkenswert ist, dass das Korpus im Vergleich zu anderen, unter ähnlichen Bedingungen entstandenen Korpora (cf. hierzu das internationale SMS-Netzwerk www.sms4science.org) eine ausgeprägte Tendenz zur Sprachmischung (Code-Switching und Code-Mixing) sowie eine starke Dialektpräferenz aufweist (v.a. in den deutschen, bündnerromanischen und italienischen SMS). Auch das werden wir im Folgenden an ausgewählten Beispielen zeigen.

3.2 Phonographisches Schreiben im SMS-Korpus Wie erwähnt sind ca. 60% aller SMS im Korpus, für die das Deutsche als Hauptsprache annotiert werden konnte, in einem schweizerdeutschen Dialekt verfasst. In der Regel folgen die Schreiber dieser SMS den Phonem-Graphemkorrespondenzen des Deutschen (cf. Eisenberg 2009: 69) bzw. setzen diese in ihrer jeweiligen Varietät um, wählen also Schreibvarianten, die im „graphematischen Lösungsraum“ (cf. Neef 2005: 12) ihres Dialekts möglich sind. Es sind dies solche Schreibungen, welche die dialektale Lautung des jeweiligen Wortes am besten abbilden. Dabei können verschiedene Probleme auftreten. So sind nicht alle im Dialekt vorkommenden Phoneme mit Phonemen aus dem Standarddeutschen identisch (cf. dazu Lötscher 1989), das Phoneminventar deckt sich also nicht. Das führt zu verschiedenen Strategien in der dialektalen Verschriftung. Diese Strategien legt Müller (2011) am Beispiel der Aargauer Dialekte anschaulich dar: Das Vokalsystem der Aargauer Dialekte verfügt über eine größere Anzahl Vokale als das Standarddeutsche. Dies führt verschiedentlich zu unterschiedlichen Verschriftungen, je nachdem, ob sich die SMS-Verfasser eher für die lautnahe oder die standardnahe Variante entscheiden. (Müller 2011: 171f.)

Auch in unserem SMS-Korpus kommen für ein und dasselbe Wort verschiedene Schreibvarianten vor – und dies bei ein und demselben Schreiber. Das zeigt die Schreibung des Wortes Mittwoch in den folgenden beiden Beispielen. In (1a) steht eine Variante, in der der Vokal der ersten Silbe, der dialektalen Aussprache als offenes [$] folgend, mit verschriftet wird, in (1b) eine Variante, die –

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von der Substantivkleinschreibung abgesehen – der Standardorthographie entspricht.2 (1) a. hey no wäg em mettwoch...han welle fröge, ob i mini neu ‘bekannschaft’ döf metneh as fest vom teddy ‘Hey, noch wegen Mittwoch: Ich wollte fragen, ob ich meine neue Bekanntschaft ans Fest von Teddy mitnehmen darf.’ b. Hoi du, mir sind jetzt bis mittwoch nid daheim ‘Hallo du, wir sind jetzt bis Mittwoch nicht zu Hause’ Die große Bandbreite solcher Schreibungen hängt aber nicht nur davon ab, welche Strategie in den schweizerdeutschen SMS jeweils gewählt wird, sondern auch davon, welcher Dialekt graphisch umgesetzt wird und wie weit die Schreiber dabei dem phonographischen Prinzip folgen. Zur Variation trägt weiter bei, dass phonetische Realisierungen, die sich über Dialektgrenzen hinweg nur minimal unterscheiden, in ihrer phonographischen Umsetzung verschiedene Möglichkeiten zulassen. Beispielsweise findet man im schweizerdeutschen Subkorpus für die lautliche dialektale Entsprechung der standarddeutschen Sequenz , [h$#], sowohl die Schreibung (430 Mal) als auch (674 Mal), wobei im Einzelfall noch zu prüfen ist, inwieweit diese Schreibungen tatsächlich mit dialektbedingten Lautunterschieden korrelieren. Dass eine Schreibweise wie vorkommt, ist dagegen nicht anzunehmen da diese in keinem schweizerdeutschen Dialekt im graphematischen Lösungsraum liegt. Auch hieran sehen wir: Das normferne Schreiben in den SMS ist durchaus regelgesteuert. Das gilt ebenso für die Wiedergabe fremdsprachlicher Lautungen (cf. die Schreibung von engl. easy, [i:zi], oder engl. cool, [ku:l], als oder bzw. ). So ist in den deutschen SMS unseres Korpus (inkl. aller Varietäten) die Schreibung für engl. cool 183 Mal belegt, daneben kommen aber auch die Schreibweisen (17 Mal) und (12 Mal) vor, die beide im Deutschen im graphematischen Lösungsraum liegen. Damit kommen wir zu den schreibsilbenstrukturellen Regularitäten im SMS-Korpus. Wir betrachten hier nur einen Fall, die Schreibung von Konsonantenbuchstaben-Clustern am Anfangsrand der Schreibsilbe (cf. Straße, [#tr&:s!]). Eisenberg (2009: 71) erläutert zu den Schreibungen und (anstelle von und ), dass auf diese Weise graphische Überlängen vermieden

2 Zum besseren Verständnis werden die schweizerdeutschen SMS ins Standarddeutsche übertragen. Dabei orientieren wir uns am Schweizer Standarddeutschen, lassen in (1a) also beispielsweise die Präposition an (ans Fest) stehen.

196 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark würden. Dabei handelt es um eine phonographische Regularität, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Kontext (d.h. der Silbenanfangsrand am Beginn einer Wurzel) eine Rolle spielt. Eisenberg (2009) erfasst diese Eigenschaft unter dem Stichwort „silbisches Prinzip“; Primus (2010) dagegen subsumiert sie unter dem phonographischen Prinzip. Sie stellt fest: In Einklang mit der neueren Phonologie ist es sinnvoller, das phonographische Prinzip gemäß der phonologischen Strukturhierarchie in mehrere Subprinzipien aufzuteilen, als silbische Schreibungen, wie in den meisten anderen Arbeiten zum Schriftsystem, einem separaten Prinzip zuzuordnen. (Primus 2010: 19)

Was die Umsetzung dieses Prinzips im SMS-Korpus betrifft, so liegt die Vermutung nahe, dass die Schreiber – um Tippaufwand und Zeichen zu sparen, aber auch, weil es sich um eine Schreibroutine handelt – einer Schreibung wie gegenüber den Vorzug geben. Dem ist in der Tat so: In den Dialekt-SMS tritt mehrheitlich (255 Mal) die Variante auf; nur sieben Mal wählen die Schreiber die Variante . So ist in (2a) das phonographische Prinzip auf der Basis kontextbedingter, schreibsilbenstruktureller Regularitäten umgesetzt, in (2b) dagegen kontextunabhängig auf der Basis von Phonem-/Graphemkorrespondenzen des Deutschen. (2) a.

Mir gratulieret eu ganz herzlich zumene stramme bueb! ‘Wir gratulieren euch ganz herzlich zu einem strammen Buben.’

b. Hey schätzeli, häsches schträng?? ‘Hey Schätzeli, hast du es streng [hast du viel Arbeit]??’ Die Tatsache, dass die Schreibung im Korpus dominiert, spricht dafür, dass die Schreiber hier tendenziell diejenige Regularität bevorzugen, die der Standardorthographie des Deutschen entspricht (cf. mit ähnlichem Befund Müller 2011: 169). Das zeigt sich im Übrigen auch dann, wenn Wörter wie Post in den schweizerdeutschen SMS aus unserem Korpus (14 von 18 Belegen) geschrieben werden (vgl. 3a), obwohl sie lautnah als (4 von 18 Belegen) umgesetzt werden müssten (vgl. 3b): (3) a. mer treffet üs am 3 bi de post ‘Wir treffen uns um 3 bei der Post’ b. Mir nämed dich bi de poscht mit! Ok? ‘Wir nehmen dich bei der Post mit! Ok?’

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Die an die Standardorthographie angelehnte Schreibung dominiert selbst dann, wenn ein Wort im Standarddeutschen gar nicht vorkommt. Das ist z.B. bei dem Wort Stäge für Treppe der Fall. Im Korpus gibt es in der Anlautschreibung dieses Wortes acht Treffer für und keinen Treffer für .

3.3 Lexikalische Morphemkonstanz im Korpus Im vorangehenden Abschnitt wurde gezeigt, dass schweizerdeutsche SMS nicht immer so lautnah verschriftet werden, wie man dies erwarten könnte. Und selbst wenn phonographisch geschrieben wird, gilt keineswegs das Motto „Anything goes“, nicht alles ist also möglich. In diesem Abschnitt wenden wir uns nun dem zweiten Prinzip zu, das in der deutschen Orthographie eine wichtige Rolle spielt: der Morphemkonstanz. Zunächst gehen wir auf zwei Typen lexikalischer Morphemkonstanz ein, in Abschnitt 4 beziehen wir uns auf die funktionale Morphemkonstanz. Zur lexikalischen Morphemkonstanz zählen verschiedene Regularitäten, die hier nicht im Einzelnen behandelt werden können (cf. dazu Dürscheid 42012: 140–144 oder Eisenberg 2009: 78–86). Sie betreffen u.a. die Umlautschreibung in Wörtern wie Kälte (< kalt) oder träumen (< Traum), in denen die morphologische Zusammengehörigkeit graphisch angezeigt und in den derivierten Formen nicht etwa ein gesetzt wird. So kommt im schweizerdeutschen Subkorpus die Schreibung träum 100 Mal vor (z.B. Schlaf guet und träum süess!, die Schreibung treum dagegen nur 10 Mal (vgl. ich treum vom fritig; ‘Ich träume von Freitag’). Ein weiterer Typus lexikalischer Morphemkonstanz liegt vor, wenn Konsonantenbuchstabendoppelungen in Wörtern wie schwimmen oder rattern auch dann beibehalten werden, wenn die Konsonanten nicht im Silbengelenk auftreten (cf. Schwimmbad), wenn phonographisch also keine Notwendigkeit besteht, beide Konsonanten zu verschriften. Im Folgenden soll diese Schärfungsschreibung (cf. dazu ausführlich Neef 2005: 124–147) genauer untersucht werden. Wird sie auch dann beibehalten, wenn an vielen anderen Stellen eine Tendenz zur phonographischen Verschriftung besteht? Wir illustrieren dies zunächst an einem Beispiel, an der Konsonantenbuchstabendoppelung von in dem Wort stimmt. Der Befund ist bemerkenswert: In 29 von 30 Fällen bleibt die Doppelkonsonantenschreibung in diesem Wort erhalten, nur ein Mal tritt die Schreibung auf. Die Beispiele hierfür stehen in (4):3

3 Wer weiß, dass in der Schweiz (und in Liechtenstein) das heute nicht mehr verwendet wird, also Schreibungen wie korrekt sind, mag sich wundern, dass es in Beispiel (4b)

198 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark (4) a.

Jo das stimmt ;) ha ab em 6.nov. Feri jetzt schaf i no.. ‘Ja das stimmt ;) habe ab dem 6. November Ferien jetzt arbeite ich noch..’

b. Stimt,daß han mr gar nöd übrleit. ‘Stimmt, das habe ich mir gar nicht überlegt.’ Kommen wir nun zu der Frage, welches Zahlenverhältnis sich ergibt, wenn die Konsonantenbuchstabendoppelung nicht nur an einem Beispiel, sondern im gesamten schweizerdeutschen Subkorpus (=10.718 SMS) überprüft wird. Als Basis für die Auszählung dienen Verben, die im Infinitiv eine Schärfungsschreibung aufweisen (z.B. schaffen), im Korpus aber in einer Verbform ohne Silbengelenk auftreten (z.B. schafft). Wie oft kommen hier noch die Schreibungen , , , , , , , , , vor, wie oft wird nur ein Konsonantenbuchstabe gesetzt bzw. an die Stelle von ein ? In der Suchabfrage beschränken wir uns nur auf solche Fälle, in denen die fraglichen Konsonantenschreibungen vor dem Buchstaben auftreten (wie z.B. in der 3. Pers. Singular, vgl. er kennt).4 Wie die Auswertung zeigt, kommen 1.478 Verbformen vor, in denen – dem Prinzip der Morphemkonstanz folgend – eine Schärfungsschreibung zu erwarten wäre. In 508 Belegen tritt aber nur ein Konsonantenbuchstabe vor auf (z.B. gschaft, pschtelt, klapt), in 970 Belegen wird die Konsonantenbuchstabendoppelung bzw. -Schreibung beibehalten (z.B. ufgstellt, gwüsst, iklemmt, chunnt, heigschickt). Die Anteile liegen also bei 34,37% (ca. 1/3) zu 65,63% (ca. 2/3). Das Ergebnis macht deutlich, dass viele Schreiber selbst dann, wenn sie Tippaufwand und Zeichen sparen könnten, an der Morphemkonstanz festhalten – und damit an einer Schreibstrategie, die der Standardorthographie entspricht. Zwar kann man einwenden, dass die automatische Worterkennung T9 ohnehin dazu führt, dass ein Wort wie stimmt korrekt geschrieben wird, doch wird diese in unserem Korpus häufig deaktiviert, da Dialektwörter nicht erkannt werden. So wissen wir aufgrund der Angaben im Fragebogen, dass von 13.415 deutschen SMS (nicht-dialektal und schweizerdeutsch) nur knapp 1/4 (3.132 SMS) mit T9 geschrieben wurden. In allen anderen Fällen haben die Schreiber

dennoch auftritt. Müller (2011: 169) nennt die Gründe hierfür: „Die Verwendung von ist doppelt ökonomisch: Einerseits spart man gegenüber dem Doppelgraphem ein Zeichen, andererseits vermeidet man bei Handy-/Zehnertastaturen umständliche Tipparbeit.“ 4 Der Regex-Suchbefehl hierzu lautet: [^ ]*[aeiouöäü](mm|ff|rr|ss|ll|bb|nn|pp|dd|gg|ck)t[^ ]* (Abfrage für Doppelkonsonantenschreibung) und [^ ]*[aeiouöäü](m|f|r|s|l|b|n|p|d|g|k)t[^ ]* (Abfrage für die Einzelkonsonantenschreibung).

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also tatsächlich jedes Wort Buchstabe für Buchstabe getippt. Dass sie sich trotz dieses Aufwands am morphologischen Prinzip orientieren, zeigt, wie stark dieses Prinzip in der Schreibroutine verankert ist. Immerhin wird es in unserer Stichprobe in ca. 2/3 der Fälle auch dann befolgt, wenn vieles andere normfern geschrieben wird. Abschließend sei in diesem Zusammenhang noch ein Beispiel aus dem französischen Subkorpus gegeben, wobei die standardorthographische Variante in eckigen Klammern hinzugefügt wird: (5) T’en as d’autres qui sont bien au moins? Moi je1.SG prendø [=prends] l’album comme ca on a les paroles. ‘Hast Du wenigstens noch andere, die gut sind? Ich nehme das Album, so haben wir die Texte.’ Zwar steht hier in der graphischen Nullmarkierung der Verbalflexion das phonographische Prinzip über dem morphologischen (das lautlich immer unrealisierte Flexiv wird nicht geschrieben), doch sieht man auch, dass das Prinzip der lexikalischen Morphemkonstanz eingehalten wird. Dies ist bei der Form in (5) eindeutig der Fall, in welcher der Konsonantenbuchstabe auftritt, der nur im Infinitiv, Futur und Konditional, aber nicht in der in Beispiel (5) vorliegenden Form, auch tatsächlich artikuliert. wird. Diese Stammschreibung ist in der französischen Orthographie fest verankert (cf. Meisenburg 1996: 200f.).

4 Funktionale Morphemkonstanz Dieser Abschnitt ist der Frage nach der Realisierung des tiefen orthographischen Systems des Französischen (cf. Meisenburg 1996) bei der Flexionsmorphologie in unseren SMS gewidmet. Auch hier steht, wie bei der Diskussion der germanophonen Daten, die Frage im Vordergrund, ob und inwieweit das morphographische Prinzip eine Rolle spielt oder ob nicht doch eine lautnähere, stärker phonographische Schreibung vorherrscht. Dies ist umso interessanter, als die Orthographie des Französischen regelhaft funktionale Morpheme realisiert (meist zur Markierung von Kongruenz), die gar keine phonische Entsprechung haben. Dies wird im folgenden Beispiel ersichtlich:

200 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark (6) tu verras ca sera cool et 1x les festivité-s3.F-PL lanc-é-esPART-F-PL tu pensera à rien d’autre ‘Du wirst sehen, das wird cool, und wenn die Feier einmal angefangen hat, wirst du an nichts anderes mehr denken’ In (6) kongruieren das Objekt festivité-s (F-Pl.) und das Partizip lancé-e-s des Verbs lancer (‘werfen’, ‘starten’) in der Small Clause une fois les festivités lancées in Genus und Numerus, was im Französischen am Partizip graphisch durch für [Femininum] und an Objekt und Partizip durch für [Plural] markiert wird. Diese Kongruenz hat allerdings keinerlei phonische Entsprechung bei den Partizipien, die auf bzw. auf [e] enden, d.h. wesentliche Teile morphosyntaktischer Informationen werden hier nur graphisch markiert. Dabei handelt es sich um einen Fall von funktionaler Morphemkonstanz auf syntagmatischer Ebene (cf. Primus 2010: 26). Es stellt sich nun die Frage, ob das Prinzip der Morphemkonstanz – in diesem erweiterten Sinne – auch in relativ normferner Umgebung den Schreibungen zugrundeliegt. Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine „diachrone Morphemkonstanz“ (cf. Meisenburg 1996: 27), da die lautlichen Realisierungen der funktionalen Morpheme z.T. seit dem 13. Jahrhundert verstummt sind, diese aber immer noch (gleich) geschrieben werden. Man könnte also vermuten, dass in SMS auf die Realisierung solcher Graphemsequenzen verzichtet wird. Der Phänomenbereich, der in Bezug auf seine graphische Realisierung im Folgenden exemplarisch diskutiert werden soll, ist die Markierung der SubjektVerb-Kongruenz. Die hier präsentierten Ergebnisse beruhen auf der manuellen Analyse der ersten 400 französischen SMS unseres SMS-Korpus, also etwa 10% aller französischen SMS.

4.1 Hintergrund: Eigenschaften der (französischen) SubjektVerb-Kongruenz Semantisch gesehen ist Kongruenz an sich, d.h. die Kovarianz von Merkmalen bei zwei oder mehr sprachlichen Ausdrücken innerhalb bestimmter syntaktischer Konfigurationen (cf. Steele 1978: 610; s. allgemein auch Corbett 2006), überflüssig, da im kanonischen Fall (Corbett 2006) hochgradig redundant (es handelt sich um die Mehrfachmarkierung eines Merkmals, die an der semanti-

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schen Schnittstelle nur maximal einmal interpretiert werden darf).5 Bei der Subjekt-Verb-Kongruenz, die für Wortstellungsphänomene und Kasusvergabe eine große Rolle spielt (cf. Greenberg 1963, Universale Nr. 33, Chomsky 2000), darf etwa die Numerusmarkierung am Verb semantisch nicht interpretiert werden (und wird daher im Schrifterwerb auch später als der nominale Plural gelernt, cf. Fayol et al. 2006: 719f.; s. auch Jackendoff 2002: 35). Im Französischen ist die graphische Person-Numerus-Markierung am Verb in den meisten Fällen (v.a. in der häufigsten Konjugationsklasse mit dem Themavokal , wie bei chanter, ‘singen’) nicht aus der Lautung ableitbar. Die Flexionsendungen sind etwa im Präsens bei vier Formen lautlich nicht realisiert (Ausnahme: 1. und 2. Person Plural), d.h. Person und Numerus sind in der Lautung sehr häufig nur einmal kodiert, im obligatorischen Subjekt. Sie werden graphisch aber auch am Verb voll realisiert. Synkretismus besteht bei den Verbformen graphisch, wie in (7) dargestellt, nur in der 1. und 3. Person Singular: (7)



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Eine ähnliche Sachlage zeigt sich auch bei der Numerusmarkierung innerhalb der französischen DP und, wie oben gezeigt, bei der Kongruenz zwischen Objekten und Partizipien (cf. Beispiel (6)). Traditionell wird hier von „orthographe grammaticale“ gesprochen. Dies meint den Umstand, dass es eine eigenständige, nicht von der Lautung ableitbare, graphische Flexionsmorphologie des Französischen gibt (cf. Meisenburg 1996: 197), welche historisch als ‘etymologisierende Schreibung’ angesehen werden kann, die die ursprünglich auf das Lateinische zurückgehenden Flexive ohne entsprechenden Lautwert bewahrt. Das führt im Französischen zu einer starken relativen Autonomie und Stabilität der schriftlichen Form. Zum Teil handelt es sich bei der französischen Graphie mit ihrer kanonischen Kongruenzmarkierung und Postdetermination um ein typologisch eigenständiges Flexionssystem, das von der Lautung mit Einfach-

5 Cf. Haiman (1985: 162ff.): Kongruenz wird hier beschrieben als „[…] notoriously dysfunctional […] grammatical agreement seems a clear case of the victory of the indexical aspect of language over its iconic aspect […Agreement is, ES] not only non-iconic, but meaningless.“

202 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark markierung und einer Tendenz zur Prädetermination (cf. Geckeler 1985) stark abweicht.

4.2 Fünf Typen von Kongruenzmarkierung im SMS-Korpus In einer Studie über die Variation in der graphischen Kongruenzmarkierung in den französischen SMS des Schweizer SMS-Korpus (cf. Stark 2011) konnten fünf verschiedene Kongruenzmarkierungstypen identifiziert werden. Die Auszählung ergab 1.059 Fälle von Subjekt-Verb-Kongruenz-Markierung in den ersten 400 französischen SMS des Korpus, davon 986 mit klitischen und 73 mit lexikalischen Subjekten (cf. Stark 2011). Die fünf Kongruenzmarkierungstypen seien zunächst kurz vorgestellt, dann wird der zweite Typ genauer betrachtet: Erstens findet sich die standardorthographische Realisierung der SubjektVerb-Kongruenz am Ziel (dem Verb) wie auch am Kontrolleur (dem Subjekt) der Kongruenz (nach Corbett 2006): (8) La3.SG soirée est3.SG reservée pour toi,chérie!!je1.SG serai-s1./2.SG là.a+ ‘Der Abend ist für Dich reserviert, Liebling! Ich würde da sein. Bis später’ Zweitens gibt es eine ganze Reihe graphischer Abweichungen, die aber auf die eine oder andere Weise dieselben und gleich viele morphosyntaktische Informationen kodieren wie in der standardorthographischen Kongruenzmarkierung (=graphische Kongruenzvarianten): (9) J1.SG’peux1./2.SG lui dire que j’ai subi une opération chirurgicale pour devenir un homme? ‘Kann ich ihm/ihr sagen, dass ich mich einem chirurgischen Eingriff unterzogen habe, um ein Mann zu werden?’ In diesem Beispiel wird ein Füllerzeichen (cf. Bredel 2008, Primus 2010: 28), der Apostroph, verwendet, um anzuzeigen, dass in der verwendeten Form des Subjektklitikons , ["!], der Vokalbuchstabe ausgelassen wurde. Zwar ist in einer Lento-Aussprache des Standardfranzösischen vor konsonantisch anlautendem Verb wie , [pø] – anders als vor einem vokalisch anlautenden6 – keine Elision, d.h. kein Vokalausfall möglich. In der Allegro-Sprechweise findet sich dieser Ausfall im gegenwärtigen Französisch jedoch auch vor konsonan-

6 Cf. etwa standardsprachliches und standardorthographisches j’arrive ‘ich komme an’.

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tisch anlautendem Verb, wobei eine entsprechende graphische Markierung, wie sie in Beispiel (9) vorkommt, standardorthographisch nicht korrekt ist. Die SMSSchreiber bedienen sich also gelegentlich der analogischen Verwendung einer Konvention der Standardorthographie, um die phonetische Realität abzubilden; sie tun dies aber an einer Stelle, an der die Standardorthographie es noch nicht zulässt. Diese und ähnliche für SMS-Schreibweisen typische Verfahren werden in Abschnitt 4.3 genauer analysiert. Drittens kann die Person-Numerus-Markierung nur am Verb erfolgen, wobei das Subjekt entfällt (=Teilkongruenzmarkierung): (10) ...jcomprends pas ce que tu veux annuler...Ø suis1.SG désolée pour ta sale nuit ‘…Ich verstehe nicht, was Du annullieren willst…Bin untröstlich wegen deiner schlimmen Nacht’ Viertens kann umgekehrt nur das Subjekt Person und Numerus markieren, während das Verb keinerlei graphische Flexive trägt (=Teilkongruenzmarkierung) und nur der Stamm geschrieben wird: Dieser ist, wie weiter oben in (7) gezeigt, bei den Verben mit Themavokal im Präsens homophon mit den Formen der 1.–3. Person Singular und der 3. Person Plural und auch homograph mit den Formen der 1. und 3. Person Singular (sowie dem Imperativ der 2. Person Singular). (11) Sinon,fau ke tu2.SG me donne1./3.SG le tel de chez lui. ‘Sonst musst du mir seine Festnetznummer geben’ In einem einzigen Fall der untersuchten SMS ist schließlich gar keine PersonNumerus-Markierung zu verzeichnen: (12) Hey Basto!! On prend un monstre apéro au rosé! Ø3.SG Fais1./2.SG chiée que tu sois pas là!!!! Pompe! ‘Hey Basto! Es gibt einen Riesenapéro im RoSe [=Romanisches Seminar]. Es ist Scheiße, dass du nicht da bist. Sack!‘ Hier fehlt das expletive Subjekt il (‘es’),7 das mit einer Verbform der 3. Person Singular kongruieren müsste () – welche bei dem hier verwendeten Verb

7 Dies ist der häufigste Fall von Subjektellipse im nähesprachlichen Französischen (cf. Koch & Oesterreicher 22011) und auch im SMS-Korpus (cf. Stark 2013).

204 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark faire (‘tun’, ‘machen’) mit den Formen der 1. und 2. Person Singular homophon ist ([f$]), was diesen Beleg sicherlich erklärt. Die statistische Auswertung der 1.059 untersuchten Fälle von Subjekt-VerbKongruenzmarkierung ergibt (cf. Stark 2011), dass die standardorthographische Kongruenzmarkierung der weit überwiegende Haupttyp ist. Mit lexikalischen Subjekten findet sie sich in etwa 90%, mit Klitika immerhin in etwa 67% aller Fälle. Graphische Kongruenzvarianten, also der zweite Typ, kommen am zweithäufigsten vor. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die statistische Verteilung der fünf Kongruenztypen unter den analysierten 1.059 Fällen von Subjekt-Verb-Kongruenz: 1: standardorthograph. 723 (68,27%)

2: graphische Variation 214 (20,21%)

3: nur Verbflexion 45 (4,24%)

4: nur Subjekt 76 (7,18%)

5: keine Markierung 1 (0,66%)

1.059 (100%)

Tab. 1: Fünf Subjekt-Verb-Kongruenzmarkierungstypen in den ersten 400 französischen SMS

Der zweite Typ soll im Folgenden genauer diskutiert werden.

4.3 Abweichungen von der Morphemkonstanz: graphische Kongruenzvarianten Insgesamt liegen 214 Belege (von insgesamt 1.059 analysierten Fällen von Subjekt-Verb-Kongruenz, also 20,2%) vor, die dem zweiten oben beschriebenen Markierungstyp angehören. Davon sind 79 ‚phonographische‘ Schreibungen der Allegro-Formen der Subjektklitika, wie im obigen Beispiel (9) und im folgenden Beispiel (13). Es handelt sich also um Schreibungen, die einen nichtstandardorthographischen Füller für elidierte Vokale enthalten, aber die Initialgrapheme der Subjekte sowie die Verbflexive standardorthographisch markieren, was durchaus als Morphemkonstanz angesehen werden kann. Diese Schreibungen verzichten auf die phonographische Darstellung der tatsächlichen phonetischen Gegebenheiten, denn in Beispiel (13) wird initial das Allomorph [#] für ["!] realisiert, was nach den französischen Phonem-GraphemKorrespondenzregeln mit verschriftet werden müsste (cf. Catach 1980):

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(13) J1.SG’me suis1.SG endormi direct avant. Ouais c’est bien allé! […] Et une fille qui était la hier soir était trop contente pour moi, que t2.SG’étais1./2.SG hyper chou et que t2.SG’avais1./2.SG vraiment l’air sympa:) bisou ‘Ich bin gleich eingeschlafen. Ja, es ist gut gegangen […] Und ein Mädchen, das gestern Abend da war, hat sich sehr für mich gefreut, und dass du supersüß wärst und dass Du wirklich sympathisch wirken würdest :) Kuss’ Wie bei Beispiel (9) bereits angemerkt, liegt hier also graphische Schemakonstanz und Bewahrung der Morphemidentität oder des ‘Wiedererkennungswertes’ durch den Anfangsbuchstaben für vor. Nur in 21 Fällen dieser Untergruppe fehlen die Verbflexive. Im folgenden Beispiel (14) beruht die abweichende Schreibung für standardorthographisch auf einer Homophonie der 3. Person Singular Präsens mit der 2. Person Singular Präsens des Verbs avoir, ‘haben’. (, , beide [a]).: (14) Hello tout va bien avec la colle mais on est en rupture donc si t2.SGaØ des journaux pour notre deuxième couche ce serai cool si tu pouvai les prendre quand tu vien après merci beaucoup ciao zac ‘Hallo, alles läuft gut mit dem Kleber, aber wir haben einen Engpass, also falls du Zeitungen für unsere zweite Schicht hast, wäre das cool, wenn du sie mitnehmen könntest, wenn du später kommst, vielen Dank. Ciao, Zac’ Nur dreimal kommt in den untersuchten französischen SMS tatsächlich eine rein phonographische und von jeglicher Morphemkonstanz absehende Schreibung vor (cf. Beispiel (15). In diesem Beispiel, das die präverbalen Klitika8 zu einem graphischen Cluster vereint und die regressive Assimilation des eigentlich stimmhaften palatalen Frikativs ["] in ["!] zum stimmlosen [#] nach Elision des Schwa abbildet, sind auch die schreibsilbenstrukturellen Regularitäten des Französischen verletzt. Die einzelnen Grapheme entsprechen zwar den tatsächlich realisierten Allophonen der zugrundeliegenden Phoneme: steht in der französischen Orthographie quasi immer für [#], außer in Entlehnungen (cf. Catach 1980: 177f., Meisenburg 1996: 189f.). Dennoch darf im graphematischen System des Französischen nicht geschrieben werden.

8 1. Person Singular als Subjekt und 2. Person Singular als direktes Objekt, beide mit Schwa und potentieller Elision.

206 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark (15) Ch1.SGte rejoin-s1./2.SG! [#’!(!")$*] ‘Ich komme dir gleich hinterher’ Ähnlich wie im obigen Beispiel (14) finden sich schließlich 35 Fälle, in denen die graphische Wortgrenze zwischen präverbalen Klitika, meist Subjekten, und Folgeelementen, präziser nun dem folgenden finiten Verb, aufgegeben worden ist. Dies sehen wir an sogenannten Rebusschreibweisen, die den Lautwert einer Zahl oder eines Buchstabens für ein homophones Zeichen oder eine ganze Zeichenfolge verwenden.9 In all diesen Fällen sind die graphische Wortidentität und auch jegliche Morphemkonstanz aufgegeben worden. So weisen die untersuchten 400 französischen SMS 17 Mal für , ‘ich habe’, beides ["e], aus, weiterhin 15 Mal für , ‘das ist’ (oder homophones , ‘ich weiß/du weißt’), beides [sE], und drei Mal für , ‘du bist’, beides [tE10]: (16) Tcho l’yeti!J’rigole!;-)ca farte?c t [=c’était] super hier!mon voeux ne s’est pas encore réalisé...et toi? ’ai été voir tt les hanna sur facebook […] et g retenu quelks […] ‘Ciao Yeti ! Scherz ! ;-) Geht’s gut ? Das war super gestern ! Mein Wunsch ist aber noch nicht wahr geworden…und deiner ? Ich habe mir alle Hannas auf Facebook angeschaut […] und ich habe ein paar behalten/heruntergeladen/gespeichert’ (17) Jarive a toute,mais c après le pont? ‘Ich komme, bis gleich, aber ist das hinter der Brücke ?’ (18) Alor g [=j’ai] rdv avec 1prof à 17h,j’c pa [=je ne sais pas] tro combien de tmp ca va durer... On peut dir 17h45 à la PP? ‘Also ich habe einen Termin mit einem Professor/Lehrer um 17 Uhr, ich weiss nicht genau, wie lang das dauern wird…Können wir um 17.45 Uhr an der PP sagen ?’

9 In der Schriftgeschichtsforschung bezeichnet der Terminus Rebus den Prozess der Phonetisierung von Zeichen (cf. Schmitt 1980: 9, Dürscheid 42012: 100). In Arbeiten zur computervermittelten-Kommunikation fasst man darunter Schreibweisen wie dt. gute n8 (für Gute Nacht), engl. 2nite (für tonight oder tonite) oder frz. c (für c’est). In der englischsprachigen Literatur wird hierfür auch die Bezeichnung „letter-number-homophones“ verwendet (cf. Thurlow & Poff 2013). Anis (2007) spricht von „syllabograms or rebuslike spellings“ und führt eine Reihe von Beispielen für das Französische an (cf. Anis 2007: 102–105). 10 Da regional unterschiedlich entweder geschlossenes [e] oder offenes [$] realisiert wird, ist hier nur das Archiphonem mit Majuskel, [E], angegeben.

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Beispiel (16) weist mit eine ‚normale‘ Rebusschreibung auf, d.h. hier treten Zeichen (konkret: Buchstaben) mit ihrem Lautwert für einzelne Silben ein ([se.t$]). Allerdings sind die zwei fraglichen Silben auf zwei morphosyntaktische Einheiten verteilt: Der Silbenkopf der ersten, [s-], entspricht dem Subjekt (, ‘das’), der Silbenkern der ersten und Silbenkopf und -kern der zweiten dem kongruierenden finiten Verb (, [et$], ‘war’), natürlich in dieser Schreibweise jeweils komplett ohne Flexive, wie im Phonischen auch. Bei der Schreibung in (16) und in < g rdv> in (18) ist dies noch radikaler umgesetzt: Ein Buchstabe steht mit seinem Lautwert wiederum für eine Silbe, aber diese umfasst komplett das Subjektklitikon der ersten Person Singular und die kongruierende Verbform von avoir, ‘haben’, in . Parallel kann in (17) für analysiert werden, im Unterschied zu in (18), wo der Apostroph als Trennsignal zwischen Subjektklitikon und der in Rebusschreibweise realisierten Verbform fungiert. Allerdings ergeben diese und einige ähnliche Fälle insgesamt nur 65 von 214 von der Standardorthographie abweichende Schreibungen und von allen analysierten Subjekt-Verb-Kombinationen mit klitischem Subjekt (986) nur 6,59%. Das bedeutet, dass auch im Bereich der (diachronen) funktionalen Morphemkonstanz unsere SMS-Daten dem morphographischen Schreiben stark verpflichtet sind und in weiten Teilen sogar der Orthographie folgen.

5 Fazit und Ausblick Insgesamt ist das französische Schriftsystem stärker morphologiebasiert als das deutsche (vgl. Meisenburg 1996). Das ändert aber nichts daran, dass das morphologische Prinzip für beide Schriftsysteme konstitutiv ist – und dies entsprechend unserer Ausgangshypothese auch im ‚normfernen Schreiben‘. So konnten wir auf der Basis unserer SMS-Daten zeigen, dass lexikalische und morphosyntaktische Informationen häufig auch dann graphisch konserviert werden, wenn in anderen Bereichen (z.B. Groß- und Kleinschreibung) normfern geschrieben wird. Das Prinzip der Morphemkonstanz spielt also eine wichtige Rolle, doch darf dieses Prinzip keineswegs nur auf die Stammschreibung bezogen werden. Es entfaltet sich auch im funktionalen Bereich, wie Abschnitt 4 am Beispiel des Französischen gezeigt hat. Abschließend sei die Frage aufgeworfen, ob die hier vorgetragenen Daten Indizien für Sprachwandeltendenzen sein könnten. Diese Vermutung liegt nahe, wenn man davon ausgeht, dass standardfernes Schreiben gewissermaßen ein Fenster darstellen kann, durch das man auf dahinter liegende Regularitäten

208 ! Christa Dürscheid & Elisabeth Stark blickt. Selbstverständlich spielen hier auch Schreibroutinen und ÖkonomieErwägungen hinein, dennoch gilt, dass die Schreiber in normfernen Kontexten die Möglichkeit haben, morphologische Strukturen ihrer Intuition, genauer ihrem impliziten Sprachwissen entsprechend zu verschriften. Und das wiederum kann für die Sprachwissenschaft ein Indiz dafür sein, welche Strukturen fest verankert sind bzw. gerade dabei sind, sich zu verfestigen. In diesem Sinne kann man nur wünschen, dass in linguistischen Arbeiten zum Verhältnis von Morphologie und Schriftstruktur immer wieder ein Blick durch dieses Fenster geworfen wird.

6 Literatur Anis, Jacques. 2007. Neography – Unconventional Spelling in French SMS Text Messages. In Brenda Danet & Susan C. Herring (Hgg.), The Multilingual Internet – Language, Culture and Communication Online, 87–115. New York: Oxford University Press. Bredel, Ursula. 2008. Die Interpunktion des Deutschen. Ein kompositionelles System zur Online-Steuerung des Lesens. Tübingen: Niemeyer. Catach, Nina. 1980. L’orthographe française. Traité théorique et pratique avec des travaux d’application et leurs corrigés. Paris: Nathan. Chomsky, Noam. 2000. Minimalist Inquiries: The Framework. In Robert Martin, David Michaels & Juan Uriagereka (Hgg.), Step by step: Essays on Minimalist syntax in Honor of Howard Lasnik, 89–155. Cambridge, Mass: MIT Press. Corbett, Greville G. 2006. Agreement, Cambridge: Cambridge University Press. Dittmann, Jürgen et al. 2007. Medium und Kommunikationsform – am Beispiel der SMS. Networx 50. 1619–1621. http://www.mediensprache.net/de/networx/docs/networx-50.aspx (13.7.2013). Dürscheid, Christa. 2012. Einführung in die Schriftlinguistik. 4. Aufl. Ergänzt um ein Kapitel zur Typographie von Jürgen Spitzmüller. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dürscheid, Christa & Elisabeth Stark. 2011. SMS4science: An international corpus-based texting project and the specific challenges for multilingual Switzerland. In Crispin Thurlow & Kristine Mroczek (Hgg.), Digital Discourse. Language in the New Media, 299–320. Oxford: Oxford University Press. Eisenberg, Peter. 2009. Der Buchstabe und die Schriftstruktur des Wortes. In Duden, Die Grammatik. Unentbehrlich für richtiges Deutsch, Bd. 4. 8. Aufl., 61–94. Mannheim u.a.: Dudenverlag. Fayol, Michel, Corinne Totereau & Pierre Barroillet. 2006. Disentangling the impact of semantic and formal factors in the acquisition of number inflection: Noun, adjective and verb agreement in written French. Reading and Writing 19. 717–736. Geckeler, Horst. 1985. Zum Verhältnis der Kategorien ‚analytisch/synthetisch‘ und ‚prädeterminierend/postdeterminierend‘ in der Sprachtypologie. In Günter Heintz & Peter Schmitter (Hgg.), Collectanea Philologica. Festschrift für Helmut Gipper zum 65. Geburtstag, Bd. 1, 203–223. Baden-Baden: Koerner.

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Greenberg, Joseph H. 1963. Some Universals of Grammar with Particular Reference to the Order of Meaningful Elements. In Joseph H. Greenberg (Hg.), Universals of Language, 73–113. London: MIT Press. Günther, Hartmut. 1988. Schriftliche Sprache. Strukturen geschriebener Wörter und ihre Verarbeitung beim Lesen. Tübingen: Niemeyer. Haiman, John. 1985. Natural Syntax, Cambridge: Cambridge University Press. Jackendoff, Ray. 2002. Foundations of Language: Brain, Meaning, Grammar, Evolution, Oxford: Oxford University Press. Koch, Peter & Wulf Oesterreicher. 2011. Gesprochene Sprache in der Romania. Französisch, Italienisch, Spanisch. 2. Aufl. Berlin & New York: Mouton de Gruyter. Lötscher, Andreas. 1989. Probleme und Problemlösungen bei der Mundartschreibung des Schweizerdeutschen. Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 56. 273–297. Meisenburg, Trudel. 1996. Romanische Schriftsysteme im Vergleich: Eine diachrone Studie. Tübingen: Narr. Müller, Christina Margrit. 2011. Dialektverschriftung im Spannungsfeld zwischen standardnah und lautnah. Eine korpuslinguistische Untersuchung der Rubrik ‚Dein SMS‘ in der Aargauer Zeitung. In Helen Christen, Franz Patocka & Evelyn Ziegler (Hgg.), Struktur, Verwendung und Wahrnehmung von Dialekt, 156–179. Wien: Praesens. Neef, Martin. 2005. Die Graphematik des Deutschen. Tübingen: Niemeyer. Nerius, Dieter et al. 2007. Deutsche Orthographie. 4., neu bearb. Aufl. Hildesheim: Olms. Primus, Beatrice. 2010. Strukturelle Grundlagen des deutschen Schriftsystems. In Ursula Bredel, Astrid Müller & Gabriele Hinney (Hgg.), Schriftsystem und Schrifterwerb: linguistisch – didaktisch – empirisch, 9–45. Tübingen: Niemeyer. Schmitt, Alfred. 1980. Entstehung und Entwicklung von Schriften. Hrsg. v. Claus Haebler. Köln & Wien: Böhlau. Stähli, Adrian, Christa Dürscheid & Marie-José Béguelin. 2011. SMS-Kommunikation in der Schweiz: Korpusdaten, Literaturüberblick und Forschungsfragen. Linguistik Online 48. http://www.linguistik-online.de/48_11/staehliDuerscheidBeguelin.html (13.7.2013.) Stark, Elisabeth. 2011. La morphosyntaxe dans les SMS suisses francophones: Le marquage de l’accord sujet – verbe conjugué. Linguistik Online 48. http://www.linguistik-online.de/48_11/stark.html (13.7.2013.) Stark, Elisabeth. 2013. Clitic subjects in French text messages: Does technical change provoke and/or reveal linguistic change? In Kirsten Jeppesen Kragh & Jan Lindschouw (Hgg.), Deixis and Pronouns in Romance Languages, 147–169. Amsterdam: Benjamins. Steele, Susan. 1978. Word order variation: A typological study. In Joseph H. Greenberg, Charles A. Ferguson & Edith A. Moravcsik (Hgg.), Universals of Human Language. Vol. IV: Syntax, 585–623. Stanford: Stanford University Press. Thurlow, Crispin & Michele Poff. 2013. Text messaging. In Susan C. Herring, Dieter Stein & Tuija Virtanen (Hgg.), Handbook of the Pragmatics of Computer-Mediated Communication, 163–190.Berlin & New York: Mouton de Gruyter.

Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag

Morphologie lesen

Stammkonstanzschreibung und Leseverstehen bei starken und schwachen Lesern

1 Lesefertigkeit und Lesefähigkeit1 Seit den 1980er Jahren wird, beginnend mit den kognitionswissenschaftlichen Arbeiten von van Dijk & Kintsch (1983), das Lesen als Interaktion zwischen hierarchieniedrigen, das heißt sprachverarbeitenden, und hierarchiehohen, das heißt textverarbeitenden Teiltätigkeiten verstanden. In der didaktischen Literatur wurden diese Teiltätigkeiten als Lesefertigkeit und Lesefähigkeit terminologisiert. Folgt man Richter & Christmann (2002), gehören zur Lesefertigkeit etwa die Worterkennung, die syntaktische Verknüpfung von Wortfolgen sowie die lokale Kohärenzbildung, also die Verknüpfung von Teilpropositionen. Die globale Kohärenzbildung, die Aktivierung von Textsortenwissen oder die Identifizierung argumentativer/rhetorischer Strategien definieren die Lesefähigkeit; in literaturdidaktischen Modellen zählen neben diesen eher auf der Ebene der Informationsentnahme angesiedelten Teilfähigkeiten auch solche Aktivitäten, die ästhetische und subjektive Dimensionen berühren (vgl. z. B. Rosebrock & Nix 2011). Die großen internationalen Vergleichsstudien PISA 2000 und PISA 2009, die die Lesekompetenz von Fünfzehnjährigen untersucht haben, setzen ausdrücklich an der Lesefähigkeit und dort an informationsbezogenen Teilfähigkeiten an. Unterschieden werden die Aspekte „Informationen ermitteln“, „textbezogenes Interpretieren“ und „Reflektieren und Bewerten“ (Artelt et al. 2001: 82ff.). Die Lesefertigkeit wurde ausgehend von der Annahme, dass sie im Wesentlichen bereits im Grundschulalter erworben werde, nicht nur nicht ermittelt, sondern sogar „als gegeben vorausgesetzt“ (Artelt et al. 2001: 70). Während die Literaturdidaktik ihre Kritik an der Vereinseitigung des Lesefähigkeitskonzepts auf die Informationsverarbeitung bereits deutlich formuliert hat (vgl. exemplarisch Hurrelmann 2003), gibt es von sprachdidaktischer Seite bislang nur vereinzelt Kritik an der Reduktion des Lesekompetenzmodells auf

1 Wir danken den anonymen Gutachtern und den Herausgebern dieses Bandes für wertvolle Hinweise und Kommentare zu früheren Versionen dieses Artikels.

212 ! Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag die Lesefähigkeit und die Vernachlässigung der Lesefertigkeit. Jedoch gilt es keinesfalls als ausgemacht, dass alle Fünfzehnjährigen über Lesefertigkeiten im umfänglichen Sinn verfügen, wie PISA es voraussetzt. Studien zur Leseflüssigkeit auch älterer Leser belegen, dass schwache Leser nicht nur mehr Zeit beanspruchen, sondern auch z.T. gravierende Probleme bei der Dekodierung der Schriftzeichen haben (Noack 2006, Schmidt-Barkow 2002). Bisher konnte jedoch noch nicht eruiert werden, wie sich die Verarbeitung wortgrammatischer Strukturen bei schwachen und starken Lesern unterscheidet (vgl. aber Funke & Sieger 2009 zur Großschreibung). Die vorliegende Pilotstudie setzt an dieser Fragestellung an und beschäftigt sich damit, wie starke und weniger starke Leser mit einem wesentlichen Prinzip der deutschen Orthographie umgehen (können), der Stammkonstanzschreibung. Dieses Prinzip führt u.a. dazu, dass homophone Wörter oftmals heterographisch realisiert werden, wie z.B. vs. ; vs. etc. Es stellt sich die Frage, inwieweit stärkere und schwächere Leser überhaupt in der Lage sind, diese orthographische Information zu nutzen, d.h. die in der Schreibung steckende morphologische Information als solche zu dekodieren. Es lässt sich vermuten, dass schwache Leser solche Fälle weniger sicher verarbeiten als starke Leser. Sollte sich unsere Annahme bestätigen, wäre ein erster Nachweis erbracht, dass die Leseschwäche der 20–25% der bei PISA identifizierten Risikoschüler nicht lediglich in der Lesefähigkeit, sondern mindestens auch in der Lesefertigkeit zu lokalisieren ist; dies hätte zugleich erhebliche Auswirkungen auf mögliche Fördermodelle, die neben dem Aufbau der Lesefähigkeit auch Fertigkeitstrainings einbeziehen müssten. In diesem Artikel untersuchen wir dies experimentell mit zwei verschiedenen Gruppen von Lesern, wobei die Probanden Lese- und Entscheidungsaufgaben erfüllen mussten und wir ihre Reaktionszeiten sowie die Qualität ihrer Urteile erhoben haben. Die gewonnenen Daten wurden mit Hilfe von gemischten Regressionsmodellen analysiert. Der Artikel ist folgendermaßen gegliedert: Zunächst stellen wir in § 2 das Prinzip der Stammkonstanzschreibung im Deutschen dar und gehen dann auf die Bedingungen des Schrifterwerbs ein (§ 3). Aus diesen Überlegungen werden dann im folgenden § 4 die zu untersuchenden Hypothesen entwickelt. Anschließend wird das Untersuchungsdesign und die statistischen Methoden vorgestellt (§§ 5 und 6). Es folgt die statistische Auswertung der Daten (§ 7) und wir schließen mit einer zusammenfassenden Interpretation der Ergebnisse (§ 8) sowie einem Ausblick auf die schriftdidaktischen Implikationen (§ 9).

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2 Die Stammkonstanzschreibung im Deutschen Das Prinzip der Stammkonstanzschreibung, das in seiner einfachsten Form besagt, dass ein Stamm in allen Umgebungen so ähnlich wie möglich geschrieben wird, gilt in der Orthographietheorie als relativ gut erforscht, auch wenn es in einigen Aspekten noch Diskussionsbedarf gibt (vgl. z. B. Geilfuß-Wolfgang 2007 zur Frage nach einer Stützform; Primus 2003 zur Interaktion zwischen Graphotaktik und Morphologie; Voeste 2008 zur historischen Entstehung). Gleichzeitig wird in zahlreichen Arbeiten (Maas 2000, Röber 2009, Neef 2002, Neef & Primus 2001) davon ausgegangen, dass die Stammkonstanzschreibung eine Lesehilfe darstellt. Sie macht nicht nur lexikalische Stämme weitgehend identifizierbar2, sondern zugleich die Gesamtstruktur eines Wortes transparent. Im Gegensatz zu anderen Vokalschreibungen wird etwa mit der Umlautschreibung i. d. R. eine morphologische Verwandtschaft zu Wortformen ohne Umlaut indiziert und damit beim Leser das Aufrufen nicht nur eines Wortes, sondern eines Paradigmas aktiviert. Analoges gilt für die Doppelkonsonantenschreibung oder für die Schreibung des Auslauts. Noack (2010: 162) zeigt dies an den Ausdrücken , und , deren Schreibungen sich nicht allein der phonologischen Repräsentation verdanken, sondern auch der Stammkonstanz. Solche Wissensstrukturen sind es, die einen kompetenten Leser selbst Pseudowörter wie oder sofort korrekt als verbale Präteritalformen von und analysieren lassen. Denn sowohl die Doppelkonsonantenschreibung als auch das silbeninitiale indizieren eine Stammgrenze (proff|te, reh|te). Umgekehrt kann ein Ausdruck wie als nicht-präteritale Form identifiziert werden, denn es kann keinen Stamm regeben, auf den diese Form sinnvoll bezogen werden könnte (der Infinitiv hieße dann *). Demgegenüber ist die Form ambig: Sie könnte eine Präteritalform von oder eine Präsensform von oder sogar ein Adjektiv (das profte Haus) sein. Je nach Interpretation würde der Form dann ein langer, gespannter Vokal (Präteritalform) oder ein kurzer, ungespannter Vokal (Präsensform, Adjektiv) zugewiesen. Ohne ein (meist implizit bleibendes) Wissen über diese Strukturmerkmale ist die Interpretation solcher Ausdrücke ausgeschlossen; oder, um es mit einem vielzitierten Satz von von Stechow zu sagen: „Die Form eines Ausdrucks erkennt man natürlich nicht durch bloßes Hinstarren“ (von Stechow 1980: 124).

2 Die eindeutige Identifizierbarkeit wird z.B. dadurch eingeschränkt, dass die Konstanzschreibung nicht dem Ausspracheprinzip widersprechen darf, vgl. und nicht * trotz sowie durch das Vorhandensein von Homonymen (das /er ).

214 ! Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag Die hier vorgelegte Analyse basiert auf einer orthographietheoretischen Konzeption, derzufolge in orthographischen Wörtern bis auf die oben dargestellten, stets kontextuell auflösbaren Ambiguitäten sämtliche Informationen kodiert sind, die der Leser für die Dekodierung benötigt (vgl. Maas 1992; Eisenberg 2004). Dazu gehören phonologisch-segmentale Merkmale, prosodische Merkmale (Fuß-, Silben- und Akzentstrukturen), morphologische Merkmale (Stämme und gebundene Morpheme) sowie zuletzt syntaktische Merkmale (Wortgrenzen, syntaktische Konstituenten), die wir hier nicht eigens darstellen. Normalerweise wird davon ausgegangen, dass sich die Markierungen, die die genannten Merkmale kodieren, gegenseitig überschreiben, wobei dann meist die Phonographie als Ausgangspunkt genommen und gezeigt wird, dass weitere sogenannte Prinzipien intervenieren, die die phonographische Ausgangsstruktur verändern wie etwa bei man  mann (wg. männer)  Mann (vgl. Bredel, Fuhrhop & Noack 2011). Hier wird demgegenüber davon ausgegangen, dass die verschiedenen Markierungen so miteinander interagieren, dass die segmentalen, die prosodischen, die morphologischen und die syntaktischen Merkmale eines sprachlichen Ausdrucks simultan sichtbar gemacht werden. Den Ausgangspunkt bildet dabei nicht das einzelne Segment, sondern die Prosodie (Silbenstruktur und Akzent) und hier der für das Deutsche typische, trochäisch verfußte Zweisilber (Eisenberg 2004: 134ff.). Weil am Trochäus für das Deutsche relevante orthographische Sondermarkierungen (Verdopplung des Konsonantenbuchstabens, silbeninitiales ) ihre Ausprägung erfahren, von dem aus auch die Vokalqualität von Voll- und Reduktionssilben zu definieren sind, bezeichnen wir den damit korrespondierenden orthographischen Zweisilber als orthographische Basisform oder einfach nur als Basisform. Aus den verschiedenen orthographischen Ausprägungen der Basisform können die phonologischen Repräsentationen abgeleitet werden (s. Abb. 1): Eine offene Hauptsilbe indiziert einen gespannten Vokal (), eine mit einem Konsonantenbuchstaben geschlossene Hauptsilbe einen ungespannten Vokal (). Ein verdoppelter Konsonantenbuchstabe repräsentiert graphisch die Schließung der Vollsilbe ohne segmentale Entsprechung auf der phonologischen Ebene und zeigt so Ungespanntheit an (). Mit dem silbeninitialen wird die Grenze zwischen Haupt- und Reduktionssilbe optisch salient gemacht (); sie korrespondiert einem phonologisch nackten Reduktionssilbenonset. Das Dehnungs- hat im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Formen als Basisform den Einsilber, entfaltet also seine Funktionalität in morphologisch komplexen Ausdrücken (, *) und in einsilbigen Formen (, *). Da es uns in unserem Beitrag um die Regularitäten der trochäischen Basisform geht, bleibt die Dehnungsschreibung hier unberücksichtigt.

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"Tr

< < <
> > >

offene Hauptsilbe geschlossene Hauptsilbe Schließen der Hauptsilbe Öffnen der Reduktionssilbe (silbeninitiales )

"Tr = trochäischer Fuß, #st =Hauptsilbe, #sw = Reduktionssilbe, O = Onset, N = Nukleus, K = Koda Abb. 1: Ausprägungen der orthographischen Basisform

Die Stammkonstanzschreibung ist aus der Basisform regelhaft ableitbar. Sie ergibt sich aus der Morphemgrenze, die den Stamm von einem Funktionsmorphem trennt und die regelhaft zwischen dem Onset und dem Nukleus der Reduktionssilbe liegt, wie Abb. 2 zeigt. "Tr

< < <
> > >

ihr lest, lesbar, Lesung, … Feld, Feldstecher, querfeldein, … ihr fresst, Fresssucht, … ihr fleht, angefleht, …

Funktionsmorphem

Morphemgrenze Abb. 2: Morphologische Schreibungen – Stammkonstanz

Dabei dürfte klar sein, dass die hier gezeigten orthographischen Strukturen nicht auf beliebige phonologische Trochäen angewendet werden können. Die Orthographie ist an solchen Trochäen ausgerichtet, bei denen wortintern kein konsonantisches Material interveniert, das morphologisch nicht zum Stamm gehört. Zur Ermittlung der Morphemgrenze müssen Formen wie oder , in denen ein präteritales , oder eine Form wie , in der

216 ! Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag die Superlativmarkierung interveniert, auf ihre Basisformen (, , zurückgeführt werden.3 In dem Modell wird sichtbar, dass die Stammkonstanzschreibung die silbischen Markierungen nicht überschreibt (oder umgekehrt), sondern sie im Gegenteil konserviert. Beide, die silbischen und die morphologischen Ausbuchstabierungen von Wörtern, bleiben für eine regelgerechte Interpretation des Gesamtausdrucks sichtbar: Die orthographisch gestützte Analyse der morphologischen Struktur führt zur Identifizierung des Stammes und diese wiederum zur Identifizierung der zugrundeliegenden Silben- und Akzentstruktur, aus der auch die für die Identifikation der lexikalischen Struktur zentrale Qualität der Vollvokale abgeleitet werden kann.

3 Erwerbstheoretische Vorannahmen Angesichts des erheblichen Potenzials der Stammkonstanzschreibung bei der Identifizierung der Wortstruktur (und damit bei der Worterkennung) verwundert es, dass sie in der Lesetheorie bislang kaum eine Rolle gespielt hat. Insbesondere liegen unseres Wissens keine lesepsychologischen Studien vor, die die Rolle der regelgerechten Interpretation der Stammkonstanzschreibung beim Lesen ermitteln. Stattdessen wird seit Coltheart (1978) am Zwei-Wege-Modell des Worterkennens festgehalten, demzufolge Wörter entweder durch die phonologische (indirekte) Route, also die Übersetzung von Buchstaben in Laute und deren Synthetisierung, oder durch die lexikalische (direkte) Route, also die Erfassung eines Wortganzen (durch Abgleich mit dem orthographischen Lexikon) erfasst werden. Aufbauend auf dem Zwei-Wege-Modell des Worterkennens wird angenommen, dass starke und schwache Leser sich dadurch voneinander unterscheiden, dass die starken Leser die direkte und die indirekte Route bei der Worterkennung routinierter und daher effektiver nutzen: There is some evidence that good readers have automatized the recognition of word and subword units to a greater extent than poor readers [...]. The good reader identifies words automatically and rapidly, whether by direct visual recognition or phonological recoding [...]. (Stanovich 1980: 64).

3 In einigen Fällen wie oder , bei denen ein strukturell erwartbarer Vokalbuchstabe nicht realisiert wird, sind Morphem- und Silbenschnitt systematisch amalgamiert. Kein Problem stellen Ausdrücke wie oder dar, die kein silbeninitiales aufweisen: Bei ihnen fallen Silben- und Morphemschnitt zusammen.

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Angesichts der oben vorgelegten Analyse muss die Beschreibung der kompetenten Worterkennung jedoch weitaus differenzierter ausfallen. Denn es geht nicht einfach um synthetische vs. ganzheitliche Worterfassung, sondern um Sprachanalyse im angegebenen Sinn. Sieht man sich herkömmliche orthographische Lehrwerke an, wird die für die Auswertung von Wörtern erforderliche Sprachanalyse in der Schule kaum systematisch bearbeitet. Die Stammkonstanz wird in der Regel über das Konzept der „Verwandtschaft“ von sprachlichen Ausdrücken (Wortfamilien) vermittelt. Gemeint sind dabei morphologische Verwandtschaften, d.h. Ähnlichkeiten von Form und Bedeutung. Schülern ist aber häufig gar nicht klar, welche Art von Verwandtschaft gemeint ist, d.h. welche Wörter im intendierten Sinne miteinander verwandt sind und welche nicht. In aller Regel ist es die semantische Verwandtschaft, die für viele Schüler im Vordergrund steht. So halten Kinder auch Tisch und Stuhl für verwandt, weil sie miteinander vorkommen und funktional aufeinander bezogen sind; Bett und schlafen gehören für sie zusammen, weil sie szenisch verknüpft sind, Kuchen und Geburtstag wegen der situativen Nähe, Apfel und Birne wegen der konzeptionellen Nähe. Die Ermittlung des Verwandtschaftskonzepts, das gebraucht wird, um die Stammkonstanz zu ermitteln, ist nur dann einfach, wenn das, was damit erreicht werden soll, eben das Erkennen stammgleicher Wörter, bereits erreicht ist. Die Schwierigkeit mit den verwandten Wörtern steckt […] im Konzept der ‚Verwandtschaft‘ selbst: Sind Vogel und *Vlugzeug verwandt, weil sie *vliegen können? Dass es uns als kompetenten Schreibern schon gar nicht mehr in den Sinn kommt, das Konzept der Verwandtschaft zu befragen, haben wir der Schrift zu verdanken, die uns dieses Konzept serviert hat. Die Umkehrung nun, von den Kindern zu erwarten, von der Verwandtschaft auf die Schrift zu schließen, macht wie so oft das Resultat des Lernprozesses zu seiner Voraussetzung. (Bredel, Fuhrhop & Noack 2011: 107)

Ausgehend von dem Befund, dass die Stammkonstanz im Unterricht nicht systematisch bearbeitet wird, und ausgehend davon, dass die Schüler deshalb auf die einfache Formel „Schreib, wie Du sprichst!“ verwiesen sind, gehen wir davon aus, dass schwache Leser sich (auch) dadurch auszeichnen, dass sie kein systematisches Wissen in Bezug auf die morphologischen Regularitäten der deutschen Orthographie aufgebaut haben. Sie werten Schreibungen, so die Annahme, unter Absehung weiterer orthographisch markierter Informationen (Silben-/Fußstruktur, Morphemstruktur), also rein phonographisch aus. Führen zwei orthographische Formen zu identischen phonologischen Formen, wird allenfalls der Kontext (nicht die Orthographie) für eine Desambiguierung genutzt.

218 ! Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag Bei plausiblen inhaltlichen Kontexten ist es für schwache Leser also unentscheidend, ob ein Ausdruck orthographisch korrekt oder abweichend notiert ist. Konstruktionen wie * sind für sie deshalb nicht weniger plausibel als . Zu einem ähnlichen Befund gelangen Jared, Levy & Rayner (1999), die zeigen konnten, dass schwache Leser homophone Heterographien weniger sicher identifizieren als starke Leser. Die Autoren leiten daraus ab, dass „the phonological route plays a greater role in poor readers’ activation of word meanings than it does in good readers.“ (Jared, Levy & Rayner 1999: 258). Mit Bezug auf die Erfassung von Pseudowörtern durch starke und schwache Leser halten Jared, Levy & Rayner (1999: 258) fest: „It appears that good readers have better or more readily available orthographic knowledge to detect novel patterns than do poor readers.“ Über einen weiteren, für unseren Zusammenhang interessanten Befund berichten Daneman & Reingold (2000). Ob sich Leser von homophonen Heterographien irritieren lassen, hängt auch vom Kontext ab, in dem sie erscheinen: Kann ein Zielwort durch den Kontext gut vorhergesagt werden, lassen sich Leser von Fehlschreibungen weniger irritieren als in Fällen, in denen der Zielausdruck weniger antizipierbar ist. Die durch geringe Antizipierbarkeit erforderlich werdende Aufmerksamkeit auf das Zielwort erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die orthographische Abweichung bemerkt wird. Der Schluss, der aus diesem Befund gezogen werden könnte, dass nämlich die Worterkennung generell kontextgebunden ist, wäre allerdings voreilig. Aus verschiedenen Studien wissen wir, dass es die schwachen Leser sind, die auf Kontextinformationen angewiesen sind, um zu lexikalischen Einträgen zu gelangen (vgl. z. B. ScheererNeumann 2003: 559). Im Gegensatz dazu nutzen starke Leser den Kontext flexibel für die Prozessierung des Textverstehens. Wenn sie gebeten werden zu beurteilen, ob eine Schreibung in einem gegebenen Kontext korrekt ist, wird der Kontext zwar für die Entscheidung herangezogen, allerdings nicht für die Worterkennung (die für eine solche Entscheidung bereits vorliegen muss), sondern für die Wortauswahl. Grundlage für die Entscheidung ist die Aktivierung orthographischen Wissens, in unserem Fall die Aktivierung des Wissens über Stämme und ihre Konstanzschreibung.

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4 Hypothesen Unsere Haupthypothese lautet, dass starke und schwache Leser morphologische Schreibungen unterschiedlich verarbeiten. Leser, für die orthographischmorphologische Information aufgrund mangelnder Lesefertigkeit nicht dekodierbar ist, sollten beispielsweise in geeigneten Verhaltensexperimenten keine Unterschiede zeigen zwischen einer Bedingung, in der die Stammkonstanz verletzt wird, und einer anderen Bedingung, in der die Stammkonstanz eingehalten wird. Die Behandlung von Stammkonstanzverletzungen durch verschieden kompetente Leser steht daher im Mittelpunkt unserer Untersuchung. Als experimentelles Paradigma für die Untersuchung von Verarbeitungsunterschieden bietet sich die in der Psycholinguistik weit verbreitete Reaktionszeitmessung bei Entscheidungsaufgaben an. Probanden müssen entscheiden, ob die angebotenen sprachlichen Ausdrücke in ihrer Sprache so korrekt sind oder vorkommen. In derartigen Experimenten können sich, ähnlich wie in klassischen lexikalischen Entscheidungsaufgaben, Verarbeitungsunterschiede bei variabler Stammkonstanzschreibung in zweierlei Form niederschlagen, nämlich in der Variation der Länge der Reaktionszeiten und in der Variation in der Qualität der Urteile in Bezug auf die dargebotenen Stimuli.

4.1 Reaktionszeiten Die jeweils gemessene Reaktionszeit bei der Beurteilung von zu lesenden Stimuli gibt insofern Aufschluss über die Lesekompetenz, als davon ausgegangen werden kann, dass kompetente Leser auf Störungen (bei Verlesungen, Druckfehlern, semantischen oder anderen Anomalien etc.) mit einer Verlangsamung des Lesetempos reagieren. Das zeigen z. B. Stroop-Experimente, bei denen starke Leser durch inkongruente Stimuli stärker beeinträchtigt sind als schwache Leser (Pati & Dash 1990). Wir können daraus ableiten, dass unterschiedliche Reaktionszeiten bei orthographisch abweichenden und nicht abweichenden Stimuli ein Zeichen für hohe Lesekompetenz sind. Wer hingegen durch Abweichungen aufgrund mangelnder Kenntnis gar nicht im Lesen gestört wird, sollte demnach auch keine Verlangsamung seiner Reaktionszeit zeigen. Bezüglich der Reaktionszeit in Bezug auf Verletzung oder Einhaltung der Stammkonstanzschreibung können wir daher folgende Hypothesen aufstellen:

220 ! Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag (1) Hypothese 1 Die Art der Stammschreibung (abweichend oder nicht abweichend vom Prinzip der Stammkonstanzschreibung) wirkt sich bei starken Lesern auf die Reaktionszeit aus, bei schwachen Lesern nicht. a. Hypothese 1a Bei starken Lesern ist die Reaktionszeit bei abweichender Stammschreibung länger als bei nicht-abweichender Stammschreibung. b. Hypothese 1b Bei schwachen Lesern unterscheiden sich die Reaktionszeiten für die hinsichtlich der Stammschreibung abweichenden und nicht abweichenden Items nicht. Aus psycholinguistischer Sicht basiert Hypothese 1a auf der Annahme, dass bei starken Lesern morphologisch abweichende Schreibungen (z.B. starten für starrten) die geschriebene Form zu einer phonologischen Form führt, die, im Falle von existierenden homophonen Formen, einen Lexikoneintrag aktiviert, der im gegebenen Kontext zunächst nicht interpretierbar ist. Die Auflösung dieser Ambiguität führt zu längeren Reaktionszeiten. Mit Hypothese 1b ist die Annahme verknüpft, dass die schwachen Leser die lexikalische Ambiguität nicht bemerken, es also zu keinen Irritationen und somit zu keinen Reaktionsverzögerungen kommt: Schwache Leser lassen sich bei der Worterkennung von der Phonologie leiten (s.o.). Weil homophone Heterographien zu mit dem Zielwort identischen phonologischen Formen führen, liefert dies für schwache Leser hinreichend Evidenz für die Bedeutungszuweisung. Die Irritation, die nur bei Beachtung der Orthographie, d.h. bei Kenntnis des Stammkonstanz-Prinzips entsteht, wird nicht ausgelöst. Zwei weitere Hypothesen lassen sich aufstellen, wenn man an eine verwandte Aufgabe denkt, in der die Probanden zwei Sätze statt nur einen Satz zu beurteilen haben (bei gleichbleibender Länge) und entscheiden sollen, welcher der beiden korrekt ist (z.B. Wir starrten den Bus vs. Wir starrten in die Ferne). (2) a. Hypothese 1c Schwache Leser benötigen für die Satzpaare länger als für die abweichenden Einzelsätze (bei konstanter Länge). b. Hypothese 1d Bei starken Lesern unterscheidet sich die Reaktionszeit für die Bearbeitung der Satzpaare und der abweichenden Einzelsätze nicht (bei konstanter Länge).

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Die Hypothesen 1c und 1d beziehen sich auf den Vergleich der einfachen mit der paarigen Bedingung. Hier erwarten wir ebenfalls einen Reaktionszeiteffekt. Weil schwache Leser, so die Annahme, Stammschreibungen nicht nach dem Konstanzprinzip auswerten können, wirkt sich der Aufgabentyp auf die Reaktionszeit aus: Die Auswahl zwischen Alternativen ist nach Hypothese 1c zeitaufwändiger als eine Entscheidungsaufgabe zu einem Satz, der dem Probanden sowieso unverdächtig vorkommt. Zudem fehlt für schwache Leser das entscheidende Kriterium für die Auswahl des richtigen Satzes, was ebenfalls zu längeren Reaktionszeiten führen sollte. Bei starken Lesern, die morphologische Schreibungen interpretieren können, ist das Entscheidungskriterium hingegen genauso gut verfügbar wie bei Einzelsätzen, so dass kein Unterschied zwischen den beiden Aufgabentypen auftreten sollte. Dies ist in Hypothese 1d formuliert. Die Hypothesen basieren natürlich darauf, dass die beiden Sätze im Satzpaar genauso lang sind wie der gebotene Einzelsatz, da sonst bei den Satzpaaren eine längere Lesezeit in die Reaktionszeit eingerechnet werden müsste.

4.2 Antwortqualität In Bezug auf die Antwortqualität wurden die in (3) aufgelisteten Hypothesen aufgestellt: (3) Hypothese 2 Verletzungen des Stammkonstanzprinzips wirken sich bei schwachen und starken Lesern unterschiedlich auf die Antwortqualität aus. Im Einzelnen gelten die Hypothesen 2a–2c. a. Hypothese 2a Nicht abweichende Items werden von starken und schwachen Lesern gleich gut beantwortet. b. Hypothese 2b Starke Leser beurteilen abweichende Items ebenso erfolgreich wie nicht abweichende Items. c.

Hypothese 2c Schwache Leser geben mehr falsche Antworten bei abweichenden Items als bei nicht abweichenden Items.

Die hinsichtlich der Stammschreibung nicht abweichenden Items sind für starke und schwache Leser gleichermaßen unauffällig und sollten daher in keiner

222 ! Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag der beiden Gruppen eine höhere Fehlerrate erzeugen als in der anderen Gruppe (Hypothese 2a). Demgegenüber ist zur Bearbeitung der abweichenden Items orthographisches Wissen über morphologische Schreibungen erforderlich, weshalb bei den schwachen Lesern eine geringere Lösungssicherheit erwartbar ist (Hypothese 2c), bei den starken Lesern aber nicht (Hypothese 2b). Um die aufgestellten Hypothesen empirisch zu überprüfen, wurde das in § 5 beschriebene Experiment konzipiert.

5 Das Experiment Um die Annahme zu überprüfen, dass schwache gegenüber starken Lesern weniger sensibel auf morphologisch bedingte Schreibungen reagieren, haben wir ein computerbasiertes Leseexperiment entworfen, in dem die Probanden aufgefordert waren, verschiedene morphologische Schreiboptionen zu bewerten. Die Studie hat Pilotcharakter und soll Aufschlüsse darüber geben, ob sich in einem ausgewählten Bereich der deutschen Rechtschreibung überhaupt Leseunterschiede zwischen den genannten Gruppen ausmachen lassen, die auf fehlendes Wissen in diesem Bereich zurückzuführen sind.

5.1 Teilnehmer An dem Experiment nahmen insgesamt 27 Probanden (18 Berufsschüler und 9 Studierende) mit Deutsch als Erstsprache teil. Alle Berufsschüler waren männlich, unter den Studierenden waren acht Frauen und ein Mann. Die Teilnahme erfolgte freiwillig. Die Berufsschüler, die an der Studie teilnahmen, waren uns von der Schule als leseschwach genannt worden. Bei ihnen handelte es sich überwiegend um in der Berufsausbildung befindliche Fachschüler mit Hauptschulabschluss, eine Gruppe also, der auch in der PISA-Studie eine eher niedrige Lesekompetenz attestiert wurde. Drei der Probanden hatten einen Realschulabschluss. Für das vorliegende Experiment wurden also die beiden Untersuchungsgruppen nach ihrem Schulabschluss sowie, im Fall der Berufsschüler, auf der Grundlage der Einschätzung der Leseleistung durch die Schule, in starke und schwache Leser eingeteilt. Innerhalb jeder Gruppe sind natürlich Unterschiede in der Leseleistung zu erwarten, wobei durchaus nicht völlig ausgeschlossen werden konnte (und auch nicht ausgeschlossen werden musste), dass es in der Gruppe der Berufsschüler Probanden gegeben haben mochte, deren Leseleistung besser

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war als das eines Probanden in der anderen Gruppe. Derartige Variation innerhalb und zwischen Stichproben ist der Normalfall in experimentellen Designs und wird insbesondere durch das gewählte Analyseverfahren (gemischte Regressionsmodelle) adäquat adressiert (s. auch die Erläuterungen in § 6). Da die Studie auch Aufschluss darüber geben soll, ob und wie unsere Fragestellung operationalisierbar ist, dienen uns die stark lesenden Studierenden zugleich als Indikatoren dafür, ob das Testdesign grundsätzlich handhabbar, d.h. ob die Aufgaben verständlich sind oder Entscheidungen eindeutig getroffen werden können. Was die starken Leser hier zu leisten imstande sind, ist demnach grundsätzlich leistbar. Die Frage ist, inwieweit schwache Leser von dieser Kompetenz abweichen.

5.2 Stimuli Das Experiment bestand aus drei Teilen, in denen jeweils anders geartete Gruppen von Stimuli zu bearbeiten waren. Mit Hilfe der Stimuli von Gruppe A wurde vor allem die allgemeine Lesefertigkeit der Probanden ermittelt, mit den anderen beiden Gruppen B und C wurde die Verarbeitung der Stammkonstanzschreibung überprüft. Gruppe B bestand aus Einzelsätzen, Gruppe C aus Satzpaaren. Gruppe A: Lesefertigkeit; Einzelsätze Diese Gruppe von Items bestand aus Stimuli mit hinsichtlich der Stammschreibung unauffälligen Schreibungen, bei denen jeweils ein einzelner Satz zur Beurteilung vorgelegt wurde. Die Aufgabe der Probanden bestand darin, eine Grammatikalitätsentscheidung zu dem jeweils gezeigten Satz zu treffen. Dabei wurde die gleiche Anzahl von grammatisch und semantisch korrekten Strukturen und von grammatisch oder semantisch abweichenden Strukturen angeboten. Die grammatischen Abweichungen bestanden in vier Items mit Kasusverletzungen (Ich gebe den Mann einen Kuss), vier Items mit Valenzverletzungen (Ich bringe in die Schule) und vier Items mit Verletzungen der Wortstellung und/oder Verbflexion (Ich hasse die Arbeiten, die ich muss schreiben, um die Prüfung zu bestanden); die ebenfalls vier Items mit semantischen Abweichungen waren vom Typ Wir fliegen zu Fuß. Insgesamt wurden also in Gruppe A 32 Stimuli in vier Blöcken angeboten, wobei ein semantisch-grammatisch korrektes Item wegen eines erst im Nachhinein entdeckten Tippfehlers nicht in die Auswertung gelangte. Mit der Gabe syntaktisch oder semantisch abweichender, aber nicht hinsichtlich der Stammschreibung abweichender Sätze wurde die allgemeine Lese-

224 ! Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag fertigkeit der Probanden ermittelt, indem jeweils die Reaktionszeiten und die Korrektheit des abzugebenden Urteils gemessen wurden. Erwartet wurde hier, dass die Berufsschüler als wenig versierte Leser zwar längere Reaktionszeiten haben als die Studierenden (da sie langsamer lesen), aber in der Beurteilung der semantischen oder syntaktischen Verletzungen keine Unterschiede zwischen den Probandengruppen auftreten. Gruppe B: Abweichende Stammschreibung; Einzelsätze Bei dieser Gruppe von Items handelt es sich um Stimuli mit syntaktisch und semantisch unauffälligen Einzelsätzen, die aber eine Verletzung der Konstanzschreibung enthalten konnten. Auch hier wurden die Probanden aufgefordert, Grammatikalitätsurteile abzugeben, wobei die Sätze korrekte und nichtkorrekte Schreibweisen enthielten. So sollten die Probanden beurteilen, ob Sätze wie FRÜHER KANTE ICH VIELE LEUTE richtig oder falsch sind. Dabei mussten die Items, wenn sie verschiedenen Wortarten angehörten, in durchgängiger Großschreibung angeboten werden, weil die zu beurteilende Wortform (hier: die Kante) und die Parallelform (ich kannte) nicht auf der Grundlage der Groß-/Kleinschreibung unterscheidbar sein sollten.4 Insgesamt wurden 11 korrekte und 11 nicht korrekte Items angeboten. Erfasst werden sollte, ob die Probanden überhaupt auf Verletzungen der Konstanzschreibung reagieren oder ob die Beurteilung solcher Sätze unabhängig davon getroffen wird (siehe die Hypothesen 1a, 1b, 2a, 2b und 2c). Den Probanden stand nur eine (entweder korrekte oder nicht korrekte) Wortform zur Verfügung; die heterographe, homophone Parallelform erschien nicht, so dass es jeweils eine im Satzkontext passende oder eben eine nicht passende, aber orthographisch ebenfalls existente Form gibt. „Abweichend“ bedeutet hier also, dass die geschriebene Wortform zu einem Lexikoneintrag führt, der im gegebenen Kontext nicht passt. Gruppe C: Abweichende Stammschreibung; Satzpaare Bei diesen Stimuli handelt es sich um Satzpaare, bei denen im gegebenen Kontext passende und nicht passende Alternativschreibungen zur Entscheidung vorgelegt wurden. Die Probanden sollten beurteilen, welche Alternative im jeweiligen Satzkontext richtig ist. In diesem Abschnitt des Experiments wurden den Probanden Satzpaare des Typs Wir starrten den Bus vs. Wir starrten in die

4 Um ein möglichst vertrautes Schriftbild anzubieten, haben wir überall dort, wo die Groß-/ Kleinschreibung keine Desambiguierungsfunktion für die Identifikation der Zielwörter hat, auf die durchgängige Großschreibung verzichtet.

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Ferne in Form von einfachen Sätzen oder in Form von Fortsetzungsphrasen präsentiert (Mit weit aufgerissenen Augen … A: … starrten alle zum Festzelt. B: … starten alle zum Festzelt.). Es ging also bei den Items der Gruppe C in Ergänzung zu den Items der Gruppe B darum, herauszufinden, ob die Versuchspersonen die verschiedenen Schreibungen dann unterscheiden und verschieden verarbeiten, wenn sie ihnen als Alternativen vor Augen geführt wurden (siehe die Hypothesen in 1c, 1d, 2a, 2b und 2c). Gruppe C umfasste 14 Items, die in vier Blöcken gruppiert waren. Die Stimuli der Gruppen C waren so konstruiert, dass vier verschiedene Arten der Stammkonstanzverletzung getestet werden konnten: – Varianz der Schreibung bei gleichbleibendem Kontext, gleichbleibender Phrasenstruktur und gleichbleibender Wortart (Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie zum Festzelt vs. *Mit weit aufgerissenen Augen starten sie zum Festzelt). – Varianz der lexikalischen Umgebungsausdrücke bei gleichbleibender Schreibung und gleichbleibender Phrasenstruktur (*Sie weiten die Kirche vs. Sie weiten die Gewänder). – Varianz der lexikalischen Umgebungsausdrücke und der Phrasenstruktur bei gleichbleibender Schreibung (Wir starten das Rennen vs. *Wir starten aufs Meer). – Varianz der Wortart und der Phrasenstruktur bei variierender Schreibung und gleichbleibenden Umgebungsausdrücken (FAST WÄRE ICH GESTÜRZT vs. *FASST WÄRE ICH GESTÜRZT). Für die Stimuli der Gruppen B und C wurden jeweils Parallelformen mit homophoner Lesart gewählt. Es wurden also Wörter aus Paaren wie vs. präsentiert, nicht aber aus Paaren wie vs. , die Unterschiede auch in der Lautung aufweisen. Aufgrund der in § 2 dargestellten Annahmen gehen wir (mit der Literatur) davon aus, dass inkorrekte Stammschreibungen von Homophonen immer noch eine Worterkennung über die phonologische Repräsentation erlauben. Zur Erfassung der Reaktionszeiten und der Antwortqualität wurden die Items in INQUISIT (2010) implementiert, ein Computerprogramm, das die Reaktionszeit eines Probanden vom Erscheinen des Stimulus auf dem Bildschirm bis zum Drücken einer auf einer herkömmlichen PC-Tastatur definierbaren Entscheidungstaste misst und die Korrektheit der Antworten aufzeichnet.5

5 Wir danken Tilo Reißig und Uwe Neugebauer für die umfängliche Unterstützung bei der Einarbeitung der Daten.

226 ! Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag Neben den Antwortoptionen ‚richtig‘ und ‚falsch‘ war auch noch die Option ‚weiß nicht‘ vorgegeben, um eine schnelle Entscheidung auch bei unsicherem Urteil zu ermöglichen. In der Auswertung wurde diese Option dann als nichtkorrekte Antwort behandelt, so dass unsere Kodierung ausdrückt, ob der Proband die richtige Antwort kennt oder nicht. Das Stimulusmaterial bestand damit insgesamt aus 67 Items: 31 Einzelsätze ohne Manipulation der Stammkonstanz (15 korrekte und 16 syntaktisch oder semantisch nicht korrekte), 22 Einzelsätze mit Manipulation der Stammkonstanz (11 korrekte und 11 nicht korrekte) und 14 Satzpaare mit Manipulation der Stammkonstanz (dabei jeweils 1 korrekter und 1 nicht korrekter Satz). Die Stimuli sind in Anhang 1 dokumentiert, und zwar in der Schreibweise, wie sie auch im Experiment dargeboten wurden. Die Versuchsanweisungen finden sich in Anhang 2. Bei der Auswahl der Items der Gruppen B und C wurde darauf geachtet, dass zu jeder orthographisch angebotenen Form eine homophone Parallelform existierte (z.B. PISTE vs. PISSTE); Fremdwörter und Eigenamen wurden nicht verwendet (z.B. KONTEN vs. KONNTEN). Die Kontexte wurden so gewählt, dass die Entscheidungen von kompetenten Lesern eindeutig gefällt werden konnten (vgl. z.B. Die Tauben gurrten sich an vs. Die Autofahrer gurten sich an).

5.3 Durchführung Das Experiment wurde mit den Studierenden in den Räumen der Universität Hildesheim, mit den Berufsschülern in den Räumen des Berufsschulzentrums am Westerberg6 in Osnabrück durchgeführt. Die Teilnehmer saßen jeweils in einem ruhigen Raum vor einem Bildschirm. Die Studierenden arbeiteten einzeln, die Berufsschüler in Fünfergruppen in einem Raum mit weit voneinander entfernten Arbeitsplätzen und ohne Sichtkontakt. Vor der Gabe der Stimuli erschien vor jedem Aufgabenblock eine kurze Aufgabenbeschreibung, in der die Probanden aufgefordert wurden, die jeweils richtige Variante zu wählen (bei Satzpaaren) bzw. zu beurteilen, ob ein Satz richtig oder falsch ist (bei Einzelsätzen). Weitere verbale Anweisungen vom Versuchsleiter wurden nicht gegeben. Mit einem Tastendruck konnte jeder Proband den Zeitpunkt des Beginns jedes Aufgabenblocks festlegen. Auch die Bearbeitung der Aufgaben wurde von den Probanden selbständig gesteuert; eine neue Aufgabe erschien erst dann, wenn

6 Dem stellvertretenden Schulleiter, Herrn Rainer Knippenberg, gebührt unser Dank für die freundliche Unterstützung bei der Durchführung.

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für die vorangegangene eine Entscheidung getroffen worden war. Die Arbeitszeit richtete sich somit an der individuellen Arbeitsgeschwindigkeit aus. Aufgabenbeschreibungen, Aufgaben und Lösungsalternativen erschienen in schwarzer, serifenloser Schrift (Arial) mit weißem Hintergrund. Die Bildschirmaufteilung blieb in allen Aufgabenblöcken identisch: In der oberen Hälfte erschien der zu beurteilende Satz bzw. das Satzpaar; in der unteren Hälfte erschienen die Antwortalternativen, für die jeweils die entsprechenden Tastenbelegungen angegeben waren (z. B. 1: „richtig“, 2: „falsch“, 3: „weiß nicht“). Die Reihenfolge der Blöcke blieb über alle Versuchsdurchläufe hinweg stabil; die Reihenfolge innerhalb der Blöcke war randomisiert.

6 Statistische Auswertung Für die Auswertung der Daten wurden (generalisierte) gemischte multiple Regressionsmodelle mit fixen und zufälligen Effekten verwendet (z.B. Baayen et al. 2008, Baayen 2008: Kapitel 8). Die multiple Regression erlaubt es, gleichzeitig den Einfluss verschiedener Variablen auf die abhängige Variable zu betrachten, indem beim Betrachten einer bestimmten Variablen alle anderen Variablen konstant gehalten werden. Gemischte Modelle sind sehr robust gegenüber unbalancierten Datensätzen wie dem hier vorliegenden (Baayen et al. 2008). Gemischte Modelle berücksichtigen zudem noch die zufällige, d.h. nicht kontrollierte und nicht kontrollierbare, Variation zwischen Versuchspersonen und zwischen Versuchsitems in besonderer Weise, und zwar sowohl durch individuelle Anpassung des Intercepts, d.h. der Basisreaktionszeit eines jeden Probanden und eines jeden Items, von der aus die Effekte gemessen werden, als auch durch individuelle Anpassung der Effektstärke einzelner Parameter (d.h. der Steigung oder des Kontrasts). Für die statistische Analyse kam das lme4Paket (Bates et al. 2011) der Umgebung R zum Einsatz (R Development Core Team 2011). Alle zufälligen Effekte wurden mit Likelihood-Tests überprüft und nur im Falle von signifikanten Verbesserungen der Modelle einbezogen. Bei der Erstellung der finalen Modelle wurden nicht-signifikante Prädiktoren in üblicher Weise schrittweise entfernt (z.B. Baayen 2008). Nach Untersuchung der Residuen wurden Beobachtungen entfernt, die Residuen größer als 2,5 Standardabweichungen aufwiesen (vgl. dazu § 7). Im Folgenden präsentieren wir jeweils die Ergebnisse von zwei verschiedenen Analysen, nämlich der Latenzzeiten und der Antworten. Um die übliche Schiefe in der Verteilung der Reaktionszeiten zu reduzieren und potenzielle schädliche Effekte extremer Werte auf die statistischen Modelle zu minimieren,

228 ! Ursula Bredel, Christina Noack & Ingo Plag wurden die Latenzzeiten logarithmisiert. Dies entspricht der gängigen Praxis (vgl. z.B. Baayen & Milin 2010). Als Prädiktoren wurden folgende Variablen einbezogen: KOMPETENZ (mit den Ausprägungen schwach, stark), MORPHOLOGIE (abweichend, nicht-abweichend, abweichend-Paar), SEMANTIKSYNTAX (für Gruppe A, mit den Ausprägungen abweichend, nicht-abweichend), ANTWORT (korrekt, inkorrekt). Daneben haben wir einige Kontrollvariablen mit in die Analyse einbezogen: die LÄNGE des Items, gemessen an der Wortzahl,7 die Schreibweise (GROSSBUCHSTABEN, ja, nein) und die Reihenfolge der Blöcke (REIHENFOLGE). Insbesondere die Länge ist eine wichtige Kontrollvariable, da von ihr auch die Lesezeit und damit die Reaktionszeit abhängt, und dies unabhängig von anderen Eigenschaften der Stimuli. Unter Konstanthaltung der Länge können alle Effekte der eigentlichen Vorhersagevariablen im Modell abgelesen werden. Dasselbe gilt für die Schreibweise und die Reihenfolge. Ob die Versuchspersonen Stimuli lesen mussten, die in durchgängiger Großschreibung geschrieben waren oder nicht, kann ebenfalls einen Einfluss auf die Lesegeschwindigkeit und Reaktionszeit gehabt haben, ebenso die Reihenfolge der Blöcke, z.B. durch Ermüdungserscheinungen. Durch Einschluss dieser Variablen werden deren mögliche Effekte statistisch kontrolliert.

7 Ergebnisse Bevor wir zu den Ergebnissen der einzelnen statistischen Analysen kommen, wenden wir uns kurz der Verteilung der probandenbezogenen Variablen zu, um einen Überblick über deren Verhalten zu bekommen. Diese Verteilungen sind in Tab. 1 dargestellt. Die Probanden insgesamt geben überwiegend korrekte Antworten ab (79%) und die niedrigen Werte für die jeweiligen Standardabwei-

7 Neben der Wortzahl als Maß für die Länge wurde alternativ auch die Anzahl der Buchstaben als Längenmaß kodiert und in Anwendung gebracht. Erwartungsgemäß korrelieren beide Maße sehr stark (r=0,66, p